Die russische Erzählung [1 ed.]
 9783412506599, 9783412182014

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Die russische Erzählung

Russische Literatur in Einzelinterpretationen Herausgegeben von Bodo Zelinsky

Band 1: Die russische Lyrik Band 2: Der russische Roman Band 3: Das russische Drama Band 4: Die russische Erzählung

Die russische Erzählung

Herausgegeben von

Bodo Zelinsky unter Mitarbeit von Dagmar Klingner

2018 BÖH L A U V E R L A G K Ö L N WEIMAR WIEN

Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte / Neue Folge Begründet von Hans-Bernd Harder (†) und Hans Rothe Herausgegeben von D a n i e l B u n č i ć , R ol a nd M art i , P e t er T h i erg e n , L u dg e r U do l p h u nd B od o Z e l i n s k y Reihe A: Slavistische Forschungen Begründet von Reinhold Olesch (†) Band 40, 4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Alexandra Ber, Köln

ISBN 978-3-412-50659-9

Inhalt

D IE RUSSISCHE E RZÄHLUNG Von Bodo Zelinsky ..............................................................................

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A LEKSANDR P UŃKIN Povesti Belkina Ŕ Die Erzählungen Belkins Von Wolf Schmid ................................................................................ 248 N IKOLAJ G OGOL ř Ńinelř Ŕ Der Mantel Von Bodo Zelinsky .............................................................................. 281 I VAN T URGENEV Veńnie vody Ŕ Frühlingsfluten Von Peter Brang................................................................................. 312 F EDOR D OSTOEVSKIJ Krotkaja Ŕ Die Sanfte Von Jens Herlth.................................................................................. 324 L EV T OLSTOJ Smertř Ivana Ilřiĉa Ŕ Der Tod des Ivan Ilřiĉ Von Birgit Harreß .............................................................................. 341 N IKOLAJ S ALTYKOV -Ń ĈEDRIN Istorija odnogo goroda Ŕ Die Geschichte einer Stadt Von Jochen-Ulrich Peters .................................................................... 356 A NTON Ĉ ECHOV Skripka Rotńilřda Ŕ Rothschilds Geige Von Wolf Schmid ................................................................................ 370 F EDOR S OLOGUB Ņalo smerti Ŕ Der Stachel des Todes Von Ulrich Schmid ............................................................................. 385 L EONID A NDREEV Krasnyj smech Ŕ Das rote Lachen Von Christoph Garstka........................................................................ 394 I VAN B UNIN Gospodin iz San-Francisko Ŕ Der Herr aus San Francisco Von Peter Thiergen ............................................................................. 410

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Inhalt

I SAAK B ABEL ř Konarmija Ŕ Die Reiterarmee Von Nikolaus Katzer ........................................................................... 428 E VGENIJ Z AMJATIN Navodnenie Ŕ Die Überschwemmung Von Rainer Goldt ............................................................................... 454 M ICHAIL Z OŃĈENKO Aristokratka Ŕ Die Aristokratin Von Andreas Guski ............................................................................. 466 M ICHAIL B ULGAKOV Sobaĉře serdce Ŕ Hundeherz Von Jochen-Ulrich Peters .................................................................... 475 V LADIMIR N ABOKOV Pilřgram Von Frank Göbler .............................................................................. 486 A NDREJ P LATONOV Dņan Von Jens Herlth.................................................................................. 496 K ONSTANTIN P AUSTOVSKIJ Sneg Ŕ Schnee Von Daniel Henseler ........................................................................... 515 D ANIIL C HARMS Starucha Ŕ Die alte Frau Von Frank Göbler .............................................................................. 530 V ARLAM Ń ALAMOV Zaklinatelř zmei Ŕ Der Schlangenbeschwörer Von Bettina Kaibach ........................................................................... 541 A LEKSANDR S OLŅENICYN Odin denř Ivana Denisoviĉa Ŕ Ein Tag des Ivan Denisoviĉ Von Dirk Uffelmann ...................................................................................... 557 S ERGEJ D OVLATOV Ĉemodan Ŕ Der Koffer Von Christian Zehnder ........................................................................ 566 LJUDMILA P ETRUŃEVSKAJA Medeja Ŕ Medea Von Karoline Thaidigsmann ................................................................ 583

Inhalt

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E VGENIJ P OPOV Vo vremena moej molodosti Ŕ Zu meiner Jugendzeit Von Christine Engel ............................................................................ 594 T AT ř JANA T OLSTAJA Somnambula v tumane Ŕ Schlafwandler im Nebel Von Urs Heftrich ................................................................................ 609 V LADIMIR S OROKIN Mesjac v Dachau Ŕ Ein Monat in Dachau Von Ekaterina Vassilieva ..................................................................... 620 V IKTOR E ROFEEV Ņiznř s idiotom Ŕ Leben mit einem Idioten Von Christine Engel ............................................................................ 636 V IKTOR P ELEVIN Ņeltaja strela Ŕ Der gelbe Pfeil Von Brigitte Obermayr ........................................................................ 656 L ITERATUR UND A NMERKUNGEN ................................................... 670 N ACHWORT .................................................................................. 797

Bodo Zelinsky

Die russische Erzählung „Unsere Erzählung hat vor kurzer, sehr kurzer Zeit ihren Anfang genommenŖ, schrieb Vissarion Belinskij im Jahre 1835. Bis dahin sei sie nur ein „fremdländisches GewächsŖ gewesen, „weiß und rot geschminkt wie eine russische Kaufmannsfrau, verheult und weinerlich wie ein verwöhntes zimperliches Kind, hochtrabend und aufgeblasen wie eine klassizistische Tragödie, langweilig-belehrend und süßlich-moralisierend wie eine heuchlerische Frömmlerin.Ŗ1 Was der führende russische Kritiker der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hier bildhaft-spöttisch beschreibt, ist der Typus der sentimentalistischen Erzählung, der seit den späten achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der europäischen Empfindsamkeit für längere Zeit in Russland eine Heimstatt gefunden hatte. Dieser Typus war nichts anderes als die Nachahmung von Romanen wie Richardsons „PamelaŖ (1740/41), Rousseaus „Julie ou La nouvelle HéloïseŖ (1761) oder Goethes „Die Leiden des jungen WertherŖ (1744), die, in epische Kurzform übertragen, mehr oder weniger an das heimische Milieu angepasst worden waren. Dennoch hatten die novellistischen Anpassungsversuche der Sentimentalisten um Nikolaj Karamzin (1766Ŕ1826) entwicklungsgeschichtlich eine beträchtliche Bedeutung. In künstlerischer Hinsicht noch unzulänglich, bereiteten sie inhaltlich den Boden für die Entdeckung der inneren Wirklichkeit des Menschen in der russischen Literatur. So konnte Puńkin seine Wendung vom Vers zur Prosa nicht vollziehen, ohne sich ernsthaft mit Karamzin und der Technik des empfindsamen Erzählens auseinanderzusetzen. Erst in dieser Auseinandersetzung fand er sich selbst als Erzähler und gewann damit den Anschluss an die internationale literarische Entwicklung. Nicht zufällig hat auch Belinskij acht Jahre nach seinem vernichtenden Urteil die für eine ganze Epoche stehenden Erzählungen Karamzins differenzierter gesehen und in ihnen zwar „nichts Schöpferisches an sichŖ entdeckt, aber doch viel „Talent, Geist, inneres Leben und GefühlŖ. Zum erstenmal fand er in Russland die „tote Sprache des BuchesŖ durch die „lebendige Sprache der GesellschaftŖ ersetzt.2 Geht man wie Belinskij primär von ästhetischen Kriterien aus und erhebt die Originalität zum obersten Maßstab, dann fällt in der Tat der eigentliche Auftakt der russischen Erzählung auf den Beginn der dreißiger Jahre, markiert durch das kurz nacheinander erfolgende Erscheinen von Puńkins „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ (Die Erzählungen des verstorbenen Ivan Petroviĉ Belkin, 1831) und Gogolřs „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ (Abende auf einem Vorwerk bei Dikanřka, 1831/32). Damit entstanden fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander zwei durch die Prinzipien der Zyklisierung und der Herausgeberfunktion verbundene, thematisch, strukturell und stilistisch konträre Erzählwerke völlig eigenständiger Art. Obwohl scheinbar wie aus dem Nichts erschie-

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nen, gründen diese beiden Sammlungen letztlich auf zahlreichen voraufgegangenen Ansätzen, Versuchen und Lösungen. Verschiedene Traditionslinien treffen in ihnen zusammen und sind aufgehoben in einer jeweils eigenen, ganz und gar persönlichen Poetik. Die bisherigen Werke der russischen erzählenden Literatur waren poetologisch weitgehend ohne spezifisches Profil und unverwechselbare Physiognomie. Gerade in den Jahren vor Puńkins und Gogolřs Hervortreten als Erzähler wurde dies in der zeitgenössischen Literaturkritik, von Somov, Titov, Polevoj, Nadeņdin und anderen, immer wieder beklagt.3 Orest Somov sah deshalb in einer „guten ProsaŖ das „dringendste Bedürfnis für unser lesendes PublikumŖ.4 Puńkin (1799Ŕ1837) und Gogolř (1809Ŕ1852) gelang es, dieses Bedürfnis mit einem Schlag zu befriedigen. Dabei ging es ihnen zunächst einmal darum, den vom Klassizismus begründeten, in den zwanziger Jahren immer noch weithin gültigen Vorrang des Verses zu brechen und die Prosa in den Rang eines gleichwertigen Ausdrucksmediums zu heben. Nachdem Puńkin, als Lyriker in der Poesie des 18. Jahrhunderts wurzelnd, den russischen Vers auf eine zuvor nicht dagewesene Höhe gebracht hatte und Gogolř mit der Versidylle „Ganc KjuchelřgartenŖ, seinem ambitionierten Erstlingswerk, kläglich gescheitert war, wandten sich beide der bislang „verachteten ProsaŖ5 zu. Die Hinwendung zur Prosa verstand Puńkin keineswegs als „Ergänzung zu seinen GedichtenŖ, sondern als „etwas Neues, die lyrische Schaffensperiode AblösendesŖ.6 Diese Entwicklung, die eine epochale Wende in der Geschichte der russischen Literatur einleitete, hatte der Verfasser von „Evgenij OneginŖ im dritten Kapitel seines Ŕ als Zugeständnis an klassizistische Ideale noch in Versen verfassten Ŕ Romans bereits angekündigt7, als er den Ich-Erzähler sagen ließ: Я перестану быть поэтом, В меня вселится новый бес, И, Фебовы презрев угрозы, Унижусь до смиренной прозы.

Aufhören werd ich, in Versen zu dichten. Ein neuer Teufel nimmt von mir Besitz. Und Apollos Drohungen mißachtend, Laß ich mich zur schlichten Prosa herab.

Die Prosa, zu der sich nach dem Scheitern seiner lyrischen Anfänge auch Gogolř „erniedrigteŖ, basierte wie bei Puńkin auf der „Zerstörung der ‚schönen RedeŘŖ (krasnoreĉie)8, gewann jedoch ihre Gestalt in einer Erzählsprache gänzlich anderer Art. Während Puńkin nach äußerster Vereinfachung des Ausdrucks strebte, suchte Gogolř, nicht gewillt, nach Sinjavskij nicht imstande, „seine Gedanken in eine leichte und ungekünstelte Form zu bringenŖ9, die endlose Vielfalt rhetorischer Möglichkeiten auszuschöpfen. Das neue Schöne, das hier wie dort aus der Destruktion des alten Schönen erwuchs, war für die Zeitgenossen Puńkins und Gogolřs so ungewohnt, dass es Jahre, ja Jahrzehnte dauerte, ehe es allgemein akzeptiert und sanktioniert war. Dann aber entwickelten sich aus dem gewonnenen Verständnis im Laufe des 19. Jahrhunderts zwei sprachliche und stilistische Hauptströmungen der russischen Narrativik, die sich durch das ganze 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein verfolgen lassen.

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I. Die Anfänge Betrachtet man die russische Erzählung unter dem Aspekt von Originalität und künstlerischer Qualität, beginnt sie um 1830 im Schaffen Aleksandr Puńkins und Nikolaj Gogolřs. Ihren eigentlichen geschichtlichen Anfang aber nimmt sie weit früher, und zwar nicht erst im Sentimentalismus bei Karamzin und seinen Nachfolgern, auch nicht erst in der klassizistischen Zeit, als sich unter dem Einfluss der nach 1760 sprunghaft anwachsenden Übersetzungsliteratur ein Typus kürzerer und längerer Erzählprosa herausbildete, der Elemente des barocken Abenteuer- und Staatsromans aufnahm und den Konflikt zwischen Pflicht und Gefühl in den Mittelpunkt stellte. Die Frage nach der Herkunft und den heimischen Wurzeln der russischen Erzählung führt noch weiter zurück. Nach gattungsbildenden Ansätzen in der altmoskovitischen Hagiographie kam es zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu ernsthaften Versuchen, die mittelalterliche Praxis des religiösasketischen Schreibens in Gestalt des „HeiligenlebensŖ (ņitie) durch eine neuere, an der alltäglichen Lebenswirklichkeit orientierte Art des Erzählens abzulösen. Deutlich sichtbar wird dieser Prozess der Ablösung bei der als „skazanieŖ bezeichneten Form der „LegendeŖ. Das religiöse Anliegen und die asketische Haltung, die das hagiographische Schrifttum prägen, sind hier keineswegs verschwunden. Selbst das Moment des Wunders und die Figur des Teufels fehlen selten. Doch der Akzent liegt jetzt ganz auf der erzählten Geschichte als einer in sich zusammenhängenden Folge von Lebensereignissen. Es geht explizit um die Biographie einer Person, meist die einer schönen, standhaften Frau, und die Geschichte dieser vorbildhaften Gestalt wird so fesselnd wie möglich dargeboten. Der Leser der Zeit, einer Epoche des gesellschaftlichen wie des kulturellen Umbruchs, sollte nicht nur belehrt, sondern auch unterhalten werden. Unter jenen Texten, die von den Mustern der alten Vita-Schreibung abweichen, ohne sich gänzlich von ihnen zu entfernen, ragt die „Legende von Julianija LazarevskajaŖ (Skazanie Julianii Lazarevskoj) heraus.1 Es ist die Geschichte einer vormals reichen Frau, die, als nicht ohne teuflische Wirkkraft zwei ihrer Söhne ermordet werden, die bisherige Lebensführung radikal ändert, sich ihrem Mann versagt, das Fasten verstärkt, immer länger im Gebet verharrt, auf kantigen Holzscheiten schläft, sich Nussschalen in die Schuhe legt und nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr in die Badstube geht. Indem sie ihr asketisches Leben in ununterbrochener Arbeit und selbstloser Sorge um das Wohlergehen ihrer Leibeigenen verbringt, verkörpert sie einen neuen Heiligentypus, der Gottgefälligkeit und Seelenheil nicht hinter Klostermauern sucht, sondern im Alltag durch tätige Menschenliebe verwirklicht. Der „realistischenŖ Wendung der Geschichte entspricht das Faktum, dass hinter der Protagonistin eine historische Gestalt und ein tatsächlich gelebtes Leben stehen. Das Urbild der fiktiven Heldin, die Gattin eines vermögenden Bojaren, Herrin eines stattlichen Haushalts mit vielen Kindern und Bediensteten, starb 1604 völlig verarmt, nachdem sie als Konsequenz spontaner religiöser Einkehr lange Zeit in rigoroser Enthaltsamkeit und fürsorgen-

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dem Dienst am Nächsten verbracht hatte. Es war dann einer ihrer Söhne, der Hofedelmann Kalistrat Osorřin aus der Stadt Murom, der zwischen 1620 und 1630 die Lebensgeschichte seiner Mutter im Stil der Heiligenlegende aufzeichnete, aber vom traditionellen Muster abwich, indem er, aus der eigenen Familiengeschichte schöpfend, zahlreiche Realien in die Fiktion verwob und sich dabei einer Sprache bediente, die weitgehend frei war von der formelhaften, abstrakten Rhetorik der früheren, wie unbeteiligt wirkenden Chronisten. Vertraut mit Stoff, Milieu und Person, erzählt der um Wahrheit bemühte Biograph, erfüllt von der Liebe zu der Verstorbenen, auf eine neuartig lebendige und anschauliche Weise. Die berichtete Geschichte, der Umschlag von einem herrschaftlichen Dasein zu einem Leben in Armut, in Arbeit und Askese, besitzt ihre eigene Spannung und trägt mit ihren Merkmalen von Konflikt und Wendepunkt durchaus schon novellistische Züge. Von solchen biographisch grundierten Berichten ist es dann nur noch ein kurzer Weg bis zur Herausbildung echter Fiktionsnovellen. Tatsächlich entstanden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, einer Zeit, die allgemein durch eine „starke Entwicklung der ErzählungsliteraturŖ2 gekennzeichnet ist, erste Werke dieser Art. Wie in der Lazarevskaja-Legende oder der „Legende von der Bojarin Feodosija MorozovaŖ (Skazanie o bojaryne Feodosii Morozovoj) geht es in ihnen um das bewegende Schicksal einer bemerkenswerten Persönlichkeit. Das Interesse der Autoren gilt ganz dem menschlichen Einzelfall, dessen Darstellung aber bleibt Ŕ aufgrund des unverändert machtvollen Einflusses der Kirche Ŕ vorerst noch eingebettet in eine das Erzählgerüst tragende religiös-asketische Grundhaltung. Bei der bekannten, um 1660 vermutlich von einem Mönch des Moskauer Ĉudov-Klosters verfassten Geschichte von Savva Grudcyn3 zeigt sich dies darin, dass die Handlung zwar in der Lebenswelt der Zeit angesiedelt ist und nicht nur reale Fakten, sondern auch reale Personen wie den Kaufmann aus dem Geschlecht der Grudcyn-Usovs, den Bojaren Ńein, den Strelitzen-Hundertschaftsführer Jakov Ńilov oder den russischen Zaren Michail Fedoroviĉ (1613Ŕ1645) einbezieht, in ihrer Entwicklung jedoch auf die unerwartete Rettung des Helden durch das Wunder der göttlichen Barmherzigkeit hin angelegt ist. Auf den novellistischen Charakter dieses Textes mit seiner religiösen Behandlung des Stoffs weist bereits der Titel, der eine Wendung enthält, die Goethes Definition der Novelle als „unerhörte BegebenheitŖ vorwegnimmt: „Povestř zelo preĉudna i udivlenija dostojna nekogo kupca Fomy Grudcyna o syne ego SavveŖ (Eine höchst wundersame und des Staunens werte Erzählung vom Sohn des Kaufmanns Foma Grudcyn namens Savva). Wie die weltliche Gattungsform der Novelle ist die „höchst wundersame und des Staunens werte ErzählungŖ auf einen zentralen Konflikt gegründet und folgt in der Entfaltung dieses Konflikts den Aufbauprinzipien des Dramas. Ihre Spannung gewinnt sie auf jenem Weg, der von der Exposition über die Steigerung und den Höhepunkt zur Katastrophe führt, wobei die endgültige Katastrophe hier durch das Wirken himmlischer Kräfte verhindert wird. Savva Grudcyn, der Sohn frommer, würdiger Eltern, ergibt sich, vom Vater in Handelsgeschäften nach Orel geschickt, ju-

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gendlicher Wollust, versinkt dann in tiefe Melancholie und verschreibt sich unwissentlich dem Teufel. Der als Verwandter getarnte Verführer verleitet ihn zu lasterhaftem Leben, reist mit ihm durch die russischen Lande und verhilft ihm als Teilnehmer im Krieg des Zaren gegen den polnischen König zu einer hohen militärischen Karriere. Am Ende schwer erkrankt, wird er, während der Beichte vom Teufel unbarmherzig gequält, nach einer Vision von der Gottesmutter, die ihm Heilung verspricht, im Auftrag des Zaren in die Kazaner Kathedrale gebracht. Dort ereignet sich das Wunder der Genesung. Als Dank verspricht Savva, Mönch zu werden, und er verbringt den Rest seines Lebens in Gebet und Fasten. Die Grundidee der Erzählung ist die Rettung des menschlichen Sünders. Bisheriger literarischer Tradition entsprechend erscheint der Teufel, der am Ende nur durch das Eingreifen höherer Kräfte besiegt wird, als alleiniger Verursacher des Bösen auf der Welt. Narratologisch aber stellt der Text, der auch in sprachlicher Hinsicht erste Neuerungen aufweist4, einen bedeutsamen Entwicklungsschritt dar. Die legendenhaften und phantastischen Elemente entfalten sich vor zeitgeschichtlichem Hintergrund auf einer Ŕ trotz einzelner Ungenauigkeiten Ŕ insgesamt wirklichkeitsnahen Grundlage, bestehend aus realen Personen, Orten und Ereignissen. So ist der Krieg, an dem Savva Grudcyn mit dem Bojaren Ńein teilnimmt, der Krieg von Smolensk, der in den Jahren von 1632 bis 1634 stattfand. Was sich in der Savva-Geschichte ankündigt, setzt sich in anderen Erzählungen wie denen vom Edelmann Frol Skobeev („Istorija o rossijskom dvorjanine Frole SkobeeveŖ)5 oder vom Kaufmann Karp Sutulov und seiner Frau („Povestř o nekotorom goste bogatom i slavnom, o Karpe Sutulove, i o premudroj ņene egoŖ)6 verstärkt fort. Mit der Zurücknahme der religiös-asketischen Merkmale wächst der Realismus der Darstellung, und die Schilderung des Milieus gewinnt zunehmend an Bedeutung. Indem Gott und Teufel als die auf den Menschen einwirkenden und ihn lenkenden Kräfte verschwinden, werden die fiktiven Figuren zu mehr oder weniger selbständigen, ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten entsprechenden Subjekten. Frol Skobeev, der erste der beiden Helden, ist ein verarmter Adliger, der es mittels Schwindeleien und Betrügereien zu Wohlstand, Ehre und Ansehen bringt. Er scheut kein Mittel, weder Bestechung noch Erpressung, um Anuńka, die Tochter des reichen Mundschenks Nardin-Nańĉokin, zu gewinnen. Zunächst verführt er das unerfahrene Mädchen, zu dem er sich über die bestochene Amme Zugang verschafft hat, dann entführt er es in der Kutsche eines befreundeten Kammerherrn, und am Ende gelingt es ihm, den erzürnten Vater zu besänftigen und als Schwiegersohn in den Kreis der Familie aufgenommen zu werden. Der andere Held, Karp Sutulov, ist ein tüchtiger, angesehener Kaufmann, der, mit einer schönen jungen Frau verheiratet, eine glückliche Ehe führt. Tatřjana, seine Ehefrau, ist nicht nur schön, sondern auch klug und standhaft. Als sie einmal während einer längeren geschäftlichen Abwesenheit ihres Mannes in finanzielle Schwierigkeiten gerät, wendet sie sich nacheinander an einen Kaufmann, einen Popen und einen Erzbischof. Alle versprechen ihr je-

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weils eine größere Summe Geldes, wenn sie bereit sei, mit ihnen eine Nacht zu verbringen. Sie willigt zum Schein ein, nimmt von den lüsternen Gläubigern den zugesagten Betrag, versteckt daraufhin jeden der Drei mit den gespielt bedauernden Worten, ihr Gatte sei überraschend zurückgekehrt, in einer anderen Truhe, aus der sie der herbeigerufene Wojewode am Ende befreit, der Lächerlichkeit preisgibt und ihrer gerechten Strafe zuführt. Die beiden novellistisch geschlossenen Erzählungen, die als frivoles Schelmenstück7 angelegte Skobeev-Geschichte und die auf einem alten, aus „Tausendundeiner NachtŖ stammenden Motiv aufgebaute lustige, moralisierende SutulovGeschichte, spiegeln die wachsende Bedeutung der dichterischen Individualität in der Literatur der Zeit. In den Handlungen und Verhaltensweisen der Protagonisten, die, vom Kaufmann über den Bojaren bis zum Mönch und Bischof an feste soziale Positionen gebunden, als aktive Teilhaber einer komplizierter gewordenen Wirklichkeit erscheinen, äußert sich der Beginn jenes einflussreichen Vorgangs, den Dmitrij Lichaĉev die „Emanzipation der menschlichen PersönlichkeitŖ8 genannt hat. Die Akteure, psychologisch glaubwürdig gezeichnet, weniger durch Tugenden als durch Fehler und Schwächen charakterisiert, bestimmen nun selber über ihr Leben. Nicht selten darauf bedacht, jede Gelegenheit zu nutzen, um erfolgreich in der Welt voranzukommen, behaupten sie, sich ihrer geistigen Überlegenheit bewusst, das Recht auf eine bessere gesellschaftliche Stellung. Der Einsatz unlauterer Mittel, ja sogar Verstöße gegen moralische Werte und Normen, früher streng verurteilt, treffen inzwischen auf das Verständnis des Autors, das ebenso bei dem neuen, breiteren Volksschichten angehörenden Leser vorausgesetzt wird. So gelten Skobeevs Schwindeleien und Betrügereien jetzt als Beispiel für Tatkraft und Wagemut. Dementsprechend wird der Held am Ende nicht bestraft, sondern belohnt (durch die Ehe mit der Tochter eines einflussreichen und vermögenden Mannes). Und das Benehmen von Sutulovs Ehefrau gegenüber den drei Lüstlingen demonstriert nicht so sehr gottgefällige weibliche Standhaftigkeit als irdische Klugheit, Geschicktheit und Gewitztheit, kurz, die Fähigkeit, sich mit eigener Kraft erfindungsreich aus einer materiellen Notlage zu befreien. Zugleich bieten die Situationen, in denen die Lebenstüchtigkeit der „zur Erde herabgestiegenenŖ, ihres offiziellen hohen Ranges entkleideten literarischen Protagonisten geschildert wird, immer wieder Anlass zu komischer, Lachen erregender Darstellung. Was in den Erzählungen von Frol Skobeev und Karp Sutulov humoristisch noch auf die Einzelperson zielt, verschärft sich in anderen Texten aus der Ära der beginnenden Säkularisierung zum beißenden Spott auf ganze Gruppen und Institutionen der Gesellschaft. Die Zustände am Gericht, bei Behörden, in Verwaltungen, aber auch in der Kirche und in den Klöstern werden auf vorher unvorstellbar direkte Art und Weise und zuweilen mit geradezu grotesken Mitteln bloßgelegt und angeprangert. Die „Erzählung von Ńemjakas GerichtŖ (Povestř o sude Ńemjaki) stellt am Fall zweier gegeneinander prozessierender Brüder die Mängel in der russischen Gerichtspraxis und Rechtsprechung der zweiten Hälfte

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des 17. Jahrhunderts so satirisch zugespitzt und ins schier Unglaubliche gesteigert dar, dass sie auf Gogolřs „Povestř o tom, kak possorilsja Ivan Ivanoviĉ s Ivanom NikiforoviĉemŖ (Wie sich Ivan Ivanoviĉ und Ivan Nikiforoviĉ stritten, 1835) vorauszuweisen scheint. Der Richter, der in der orientalischen und abendländischen Literatur meist nach dem Vorbild König Salomons das Prinzip der Gerechtigkeit verkörpert, erscheint hier als ungerechter Richter. Nur formal Recht sprechend, tatsächlich aber von persönlichen Interessen und selbstsüchtigen Motiven geleitet, ist er ein Spiegelbild der zeitgenössischen Wirklichkeit Russlands, die in der Direktheit der Milieuschilderung, der Verwendung juristischer Terminologie und der Kennzeichnung des Gerichts als Beamten- und Wojewodengericht, wie es um 1660 eingeführt wurde, zur Geltung gelangt. Die Helden dieser Geschichte, die beiden Brüder, sind Bauern, der eine ist reich, der andere arm. Eines Tages kommt der arme zum reichen und bittet, ihm ein Pferd zu leihen, damit er sich Holz holen könne. Verärgert über die Bitte, stellt der reiche Bruder zwar das Pferd zur Verfügung, aber ohne das notwendige Geschirr. Daraufhin bindet der arme das Holz an den Schwanz des Pferdes, vergisst jedoch, nachdem er das Pferd mit einem Peitschenhieb in Bewegung gesetzt hat, das Hoftor weit genug zu öffnen, so dass der Schwanz des Tieres abgerissen wird. Der reiche Bruder, der sich weigert, das Pferd ohne Schwanz zurückzunehmen, begibt sich in die Stadt, um beim Richter Ńemjaka Klage zu erheben. Der arme folgt ihm, übernachtet unterwegs wie sein Bruder im Haus eines Popen, wo er, die Einnahme des üppigen Abendbrots durch Bruder und Popen beobachtend, vor Erstaunen von der Ofenpritsche fällt und dabei den kleinen, in der Wiege schlafenden Sohn des Geistlichen erdrückt. Nun schließt sich der Pope dem reichen Bruder auf dessen Weg in die Stadt an, um dort den armen des Totschlags anzuklagen. Vom Gericht nichts Gutes erwartend, beschließt der letztere, sein Leben zu beenden. Als er von der Brücke springt, stürzt er auf einen kranken Greis, der gerade von seinem Sohn in die Badstube gefahren wird, und verletzt ihn tödlich. Selber aber bleibt er unverletzt. So macht sich jetzt auch der Sohn als Kläger gegen den Mörder seines Vaters auf den Weg zum Gericht. Angesichts der dreifachen Anklage überlegt sich der arme Bruder, wie er den Richter milder stimmen könne. Er hebt einen Stein vom Wegrand auf, wickelt ihn in ein Tuch und legt ihn in seine Mütze. Im Gerichtssaal zeigt er dann bei jeder Frage des Richters auf den eingewickelten Stein. Ńemjaka, der Richter, glaubt, der Angeklagte biete ihm jedesmal von neuem einen Batzen Gold, und kommt zu einem überraschenden Urteilsspruch: Der arme Bruder darf das Pferd des reichen Bruders so lange behalten, bis dem Tier wieder ein Schwanz gewachsen ist; zudem solle er die Popenfrau zu sich nehmen, bis sie ein Kind von ihm erwartet, und sie dann mit dem Kind zu dem Popen zurückschicken; der Sohn des erschlagenen Greises aber soll sich von der Brücke auf den darunter stehenden Mörder stürzen und ihn erdrücken, so wie dieser seinen Vater erdrückt habe. Die Handlung besteht aus einer langen Kette unglücklicher Vorfälle, die den Helden in eine immer hoffnungslosere Lage bringen. Nur ein die Bestechlichkeit

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des Richters voraussetzender Einfall rettet ihn vor dem Schlimmsten. Aber auch Ńemjaka sieht sich gerettet. Als er erfährt, dass in dem Tuch kein Gold, sondern ein Stein war, ist er froh, ein Urteil gefällt zu haben, das keinen der Kläger befriedigt, sonst wäre ihm, denkt er, der Tod durch den Angeklagten sicher gewesen. Geschildert wird eine verkehrte Welt, in der Ungerechtigkeit anstatt Gerechtigkeit, Eigennutz statt Gemeinsinn, Hartherzigkeit statt Brüderlichkeit herrschen. Hier versucht der reiche Bauer über Jahre, seinem armen Bruder immer wieder Schaden zuzufügen; trotz der allergrößten Anstrengungen kann er aber „dessen Armut nicht vollständig machenŖ, und der Pope tafelt mit dem Reichen, er denkt jedoch überhaupt nicht daran, auch den Armen zum abendlichen Mahl einzuladen. Der anonyme Verfasser der Erzählung, wie die meisten damaligen russischen Autoren inzwischen ganz auf die Erfassung der Alltagsrealität eingestimmt, nimmt sowohl die allgemein menschlichen Schwächen als auch die konkreten gesellschaftlichen Missstände in den Blick, verfällt aber bei ihrer Wiedergabe nicht in planen Realismus. Die novellistischen Elemente von Ereignis, Zufall und Wendepunkt potenzierend, wendet er vielmehr das Geschehen zunehmend vom Wahrscheinlichen ins Unwahrscheinliche, vom Erwarteten ins Unerwartete. Nicht zufällig nannte Adalbert von Chamisso den Text, als er ihn 1832 unter dem Titel „Das Urteil des SchemjakaŖ dichterisch bearbeitete, ein „Russisches VolksmärchenŖ. Weniger an das Märchen als an die Fabel erinnert ein anderer Text, der sich ebenfalls satirisch mit der damaligen Gerichtsbarkeit in Russland auseinandersetzt. Denn die genauso beliebte, in mehreren Redaktionen überlieferte „Erzählung von Erń ErńoviĉŖ (Povestř o Erńe Erńoviĉe)10 spielt, juristische Tatsachen, Verfahren und Termini widerspiegelnd, gänzlich im Tierreich. Hier ist alles so wie unter den Menschen. Das trifft auch auf den Gerichtssaal zu. Es gibt einen Angeklagten, und es gibt Kläger, Richter, Zeugen, Diener, Schreiber. Die Erzählung folgt in ihrer Schilderung des Prozessverlaufs von der Anklage bis zur Urteilsverkündung dem Muster eines Gerichtsprotokolls. Angeklagt ist der Kaulbarsch. Ihm wird von Blei sowie von Weißfisch vorgeworfen, mit Frau und Kindern unberechtigt und räuberisch in ihre angestammten Gewässer, den Rostover See, eingedrungen zu sein. Er aber bestreitet vor dem Hohen Gericht die Vorwürfe und verweist auf seine Macht und das väterliche Recht. Den See habe er vom Großvater geerbt, und in Moskau sei er allen Fürsten und Bojaren und Bojarensöhnen, den Strelitzen, Gerichtsbeamten und Kaufleuten bekannt und werde von allen, ja der ganzen Welt geschätzt. „Sie essen michŖ, brüstet sich der „stachlige GeselleŖ, „in der Suppe mit Pfeffer und Safran, mit Essig und allerlei kostbaren Garnierungen. Sie tragen mich auf Platten zum festlichen Mahl, und viele Leute erholten sich durch mich von ihrem Rausch.Ŗ11 Doch der Kaulbarsch, dieser händelsüchtige Querulant und Rechtsbeuger, wieder eine Art von Schelmenfigur12, nur in die Fabelwelt der Tiere versetzt, kann so wenig wie die Opponenten Blei und Weißfisch seinen Besitzanspruch am Rostover See nachweisen, so dass das Gericht weitere Zeugen aufruft. Der Lodugafisch, der Bläuling und der

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Hering bezichtigen, sich auf den Stör und den Wels berufend, den Angeklagten bösartiger und hinterlistiger Intrigen und nennen ihn einen „Verleumder, Dieb und RäuberŖ. Die Richter beschließen, den Klägern, die in ihrer Beschränktheit, Ungeschicklichkeit und Leichtgläubigkeit nicht besser sind als der Angeklagte, das Besitzrecht über den Rostover See zu verleihen und ihnen den Kaulbarsch zur strafenden Vergeltung auszuliefern. Dieser aber versteht es, sich dank angeborener Frechheit geschickt der Bestrafung zu entziehen. Zu stachelig, um von Blei und Weißfisch verschlungen zu werden, kann er weiterhin sein räuberisches Unwesen treiben. In Russland, so illustriert die gleichnishafte Handlung, sind die Gerichte außerstande, für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Folge sind Egoismus, Willkür, Despotie. Sozialistische Deutungen sehen hier Gesetze am Werk, die der Unterdrückung der Kleinen durch die Mächtigen dienen und den zaristischen Feudalstaat, den reichen Gutsbesitzeradel und die höhere Geistlichkeit zu den eigentlichen Nutznießern machen.13 Ein weiteres Problem von aktueller Brisanz, das in diesen Anfängen säkularisierender Zeit wiederholt erzählerisch-satirisch aufgegriffen wurde, betrifft die Geistlichkeit von den Obrigkeiten der Kirche bis hin zu den Mönchen in den Klöstern. Entlarvt die „Erzählung vom Popen SavvaŖ (Skazanie o pope Save) am Einzelfall jene Moskauer Geistlichen, die ihre kirchlichen Pflichten vernachlässigen und sich bei der Vorbereitung und der Belehrung ungebildeter, unwissender Laien durch Naturalienabgaben bestechen lassen, zielt die „Abschrift von der Klageschrift des Kaljazin-KlostersŖ (Spisok s ĉelobitnoj Kaljazina monastyrja)14 auf das lasterhafte Leben der Mönche in einem Kloster des Bistums von Tverř. Der auf das Jahr 1677 datierte Text ist, dem Titel entsprechend, als Klage- bzw. Bittschrift abgefasst. Wie schon bei der Erzählung vom Kaulbarsch, die sich am Gerichtsprotokoll orientiert, wird auch hier die Form parodistisch verwendet. Die Mönche beklagen sich beim Erzbischof über ihren Abt, den Archimandriten Gavril, dass er die Einhaltung der Ordensregeln verlange, das Verlassen der Klostermauern verbiete, Untätigkeit verurteile und Nachlässigkeiten bestrafe, zu körperlicher, insbesondere landwirtschaftlicher Arbeit anhalte, dabei aber bloß magere Kost gestatte, und so bitten jetzt sie um einen neuen, weniger strengen Vorgesetzten, der mit ihnen wieder ausgelassene Trinkgelage veranstalte und an Fastentagen zu Kaviar, weißem Lachs, feiner Fischsuppe, Pasteten und Pfannkuchen einlade. Schließlich geht die Bitte fast in eine Drohung über: „Bleibt jedoch der Abt im Amt, so ist unseres Bleibens nicht mehr länger, sondern wir, deine Fürbitter, ergreifen den Bettelsack samt Essnapf und Holzlöffel sowie unseren Pilgerstab und ziehen von einem Kloster zum anderen. Wo es Wein und Bier gibt, dort werden wir Rast machen. Haben wir dann alle Vorräte an Wein und Bier ausgetrunken, wandern wir weiter zu einem anderen Kloster und leben in Rausch und Kummer, in Streit und großer Schwermut. Wir werden das Kaljasiner Kloster nur aufsuchen, um uns auf den Getreideböden und im Keller oder in den Nebengebäuden der Klosterbediensteten zu Tode zu trinken.Ŗ15

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Die russische Erzählung

Der Klagebrief, der im Normalfall berechtigt Unrecht zum Ausdruck bringt, erklärt hier eindeutiges Unrecht als vermeintlich verbrieftes Recht. Er wird so zur Selbstentlarvung seiner Verfasser, die nichts mehr mit den zu Heiligen gewordenen Mönchen aus der hagiographischen Literatur gemein haben. Und der Autor dieses Textes versteht es, mit den Mitteln beißender Ironie und bösartiger Komik den in den russischen Klöstern eingetretenen Sittenverfall plastisch vor Augen zu führen. Das geschieht in einer lebendigen, bildhaften, am gesprochenen Russisch orientierten Sprache. Die farblose Literatursprache, die kaum zwischen Figur und Autor differenziert, gehört der Vergangenheit an. In den besten erzählenden Werken dieser Jahre, sei es in der Erzählung von Frol Skobeev, sei es in der Erzählung von Karp Sutulov, ist die Lebendigkeit und Lebensnähe der Sprache bereits so ausgeprägt, dass in der kunstvollen Dialogführung eine weitgehende Individualisierung von Rede und Intonation erreicht ist. Der Individualisierung im sprachlichen Bereich entspricht auf der Handlungsebene die Befreiung der menschlichen Persönlichkeit und die Aufhebung der sozialen Grenzen. In dem erweiterten, das Ganze der Gesellschaft umfassenden Aktionsrahmen kann jeder zum Helden eines literarischen Werkes avancieren, der Kaufmann wie der Bauer, der Gerichtsbeamte wie der Kammerherr, der Landstreicher wie der Zecher oder die Angehörigen des hohen, mittleren und niederen Klerus. Eng verbunden mit dieser Ausweitung ist die Erschließung neuer Stoffe, Themen, Motive und Verfahren.16 Auf diesem Stand der Entwicklung empfing die russische Erzählkunst an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert nachhaltige Anregungen durch den westeuropäischen Abenteuerroman, der, meist aus dem Polnischen übersetzt und in Handschriften verbreitet, nun in großer Zahl erschien, übertragen in eine Sprache, gemischt aus Umgangs-, Kanzlei- und Kirchensprache, durchsetzt mit Neologismen, Fremd- und Lehnwörtern. Unter seinem Einfluss gewann die einheimische Novellistik sichtbar an Welthaltigkeit, erhielt aber andererseits eine betont unrealistisch-märchenhafte Färbung. Im Mittelpunkt der abenteuerlichen, oft in ferne Länder führenden Handlung steht stets ein Liebespaar, dessen Geschichte nach der Überwindung zahlreicher Hindernisse und Schwierigkeiten entweder ein glückliches oder trauriges Ende findet. Es galt, den Leser durch Spannung zu unterhalten und sein Herz in Rührung zu versetzen. So stürzen die beiden Titelhelden der „Geschichte vom russischen Edelmann AleksandrŖ (Istorija o Aleksandre, rossijskom dvorjanine) und der „Geschichte vom russischen Kaufmann Ioann und der schönen Jungfrau EleonoraŖ (Istorija o rossijskom kupce Ioanne i o prekrasnoj deviĉe Eleonore), ein Don Juan der eine wie der andere, gleich mehrere ausländische Damen ins Unglück. Anders der Matrose Vasilij Koriotskij, der Held des bekanntesten Beispiels dieser Art von Erzählung, der „Geschichte vom russischen Matrosen Vasilij Koriotskij und von der schönen Prinzessin Iraklija aus FlorenzŖ (Istorija o rossijskom matrose Vasilii Koriotskom i o prekrasnoj korolevne Iraklii Florenskoj zemli).17 Der Sohn eines verarmten Adligen, aus Not gezwungen, die „MatrosenwissenschaftenŖ zu erlernen, darf als

I. Die Anfänge

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Belohnung für Fleiß und Tatkraft „über die Meere nach HollandŖ reisen, um sich zu bilden und fremde Sprachen anzueignen. Bei seiner Rückkehr in die Heimat kann er sich nach einem Schiffbruch auf eine einsame Insel retten, gerät dort unter die Seeräuber, befreit die schöne florentinische Königstochter Iraklija aus der Gewalt der Bande, führt mit ihr eine Zeitlang ein luxuriöses Leben, umgeben von fünfzig Dienern, in einem prächtigen Haus in der Caesarei, wird danach von ihr getrennt, findet sie jedoch nach langem Suchen am Florenzer Hof wieder, wo er sich durch Gesang und Harfenspiel zu erkennen gibt und am Ende mit der Geliebten vermählt und zum König von Florenz erkoren wird. Texte wie diese spiegeln deutlich den Aufbruch in eine neue Zeit, die sogenannte Petrinische Periode. Die gerade geschaffene Flotte, ein Symbol des unter Peter I. erneuerten Russland, durchquert die Weltmeere wie der Matrose Koriotskij auf seinem Schiff. Koriotskij, dessen abenteuerlicher Lebensweg die Aufstiegsmöglichkeiten eines Tüchtigen in der Epoche der Reformen propagandistisch veranschaulicht, ist wie die Protagonisten der anderen „Petrinischen NovellenŖ18 nicht mehr der derbe moskovitische, sondern jener kultivierte neue russische Held, der über Anstand und Manieren sowie über die Kunst der galantgeistreichen Rede verfügt. Bezeichnenderweise wird jetzt, anders als früher, das Wort „russischŖ, dem Namen des Helden vorangestellt, in den Werktitel aufgenommen. Dabei ist es, ebenfalls bezeichnenderweise, nicht mehr von dem alten Landesnamen „RusřŖ (= russkij), sondern vom latinisierten Reichsnamen „RossijaŖ (= rossijskij) abgeleitet.19 So offenkundig die „Petrinischen NovellenŖ den Zeitgeist reflektieren, in erzählerischer Hinsicht begründeten sie nichts Neues. Stilistisch noch ganz dem Barock verhaftet, den Verlauf der in der Realität angesiedelten Geschichte rasch ins Abenteuerlich-Phantastische wendend, erschließen diese nicht allzu zahlreichen Texte keinen Weg, der zu der unter dem Gesetz von Maß und Regel stehenden klassizistischen Poetik führt, wie sie sich in den dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts herauszubilden beginnt und die russische Literatur dann bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts prägt. Damit brach die Entwicklung der russischen Erzähltradition eine Zeitlang gänzlich ab. Denn auch der Klassizismus hat die unterbrochene Tradition nicht aufgenommen. Sein hierarchisch gegliedertes Gattungssystem kannte keine bindenden Formgesetze für die künstlerische Prosa, so dass die Erzählung ebenso wie der Roman aus dem offiziellen Kanon ausgeschlossen und in den Bereich des Trivialen verwiesen wurde. Das Hauptinteresse richtete sich jetzt, wie zuvor bereits in der Zeit Peters des Großen, auf die Dramatik und die Institution des Theaters. Erst als seit den sechziger Jahren die erzählende Literatur aus Westeuropa Ŕ zum Teil auf dem Weg über Polen Ŕ in Form von Ritter-, Abenteuer- und Schelmenromanen sowie von Liebes-, Familien- und Staatsromanen, wie schon einmal gegen Ende des 17. Jahrhunderts, nur verstärkter und umfassender, nach Russland drängte und das Verlangen nach Übersetzungen wuchs, entstand zugleich auch ein neues Interesse an eigenen Ŕ russischen Ŕ Erzählungen.

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Die russische Erzählung

II. Erzählerische Neuansätze Die Moralischen Wochenschriften1, nach den berühmten englischen Vorbildern „The TatlerŖ (1709Ŕ1711) und „The SpectatorŖ (1711Ŕ1714) von Addison und Steele zu Beginn der sechziger Jahre in Russland eingeführt und dem adligen Publikum die „Botschaft der TugendŖ2 verkündend, bildeten mit ihrem erzieherisch-aufklärerischen Anspruch den natürlichen Nährboden und geeigneten Entfaltungsraum für die verschiedenartigsten Prosaformen: von Brief, Dialog und Essay über Skizze und Porträt bis zur Anekdote und fiktiven Erzählung kürzeren oder längeren Umfangs. Die erste russische Originalerzählung, die 1770 in einer dieser Wochenschriften3, ja überhaupt in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, nachdem die Erzählungen des 16. und 17. Jahrhunderts lediglich in handschriftlichen Abschriften kursiert hatten, stammt von Nikolaj Novikov (1744Ŕ1818), der selber Herausgeber einflussreicher Journale war.4 Der Titel dieser Erzählung, „Istoriĉeskoe prikljuĉenieŖ (Eine historische Begebenheit)5 weist mit dem Substantiv auf den novellistischen Gattungscharakter und mit dem Attribut auf den intendierten Wirklichkeitsgehalt des Textes. Damit setzt sich der Verfasser gegen die so zahlreich übersetzten Romane ab, in denen das Wort „prikljuĉenieŖ in der Regel im Plural und in der Bedeutung von „AbenteuerŖ erscheint.6 Präzise Ortsangaben und zeitliche Fixierungen unterstreichen ebenso die Realitätsfiktion wie die weitgehende Benutzung von Umgangssprache und die Ansätze zu psychologischer Darstellung einschließlich ihrer Erörterung durch den Erzähler. Andererseits stehen der realistischen Fabel, in der sich ein wohlhabender Novgoroder Adliger namens Dobronrav durch allzu große Freigebigkeit und Gastfreundschaft an den Rand des Ruins bringt, konventionelle Mittel wie die Technik der sprechenden Namen sowie eine betonte Lehrhaftigkeit und gewollte Exemplarik des Erzählten gegenüber. Demonstriert werden sollte am Beispiel Dobroserds, des Sohnes von Dobronrav, dass ein Übermaß an Tugend in ein Laster umzuschlagen vermag. Die erklärte Absicht wurde nicht bis zu Ende ausgeführt, da die für das nächste Heft angekündigte Fortsetzung der Erzählung nicht erfolgte und der Text somit Fragment blieb. Novikov sah seine Bestimmung nicht in der Kunst des Erzählens, auch wenn er später unter dem Titel „Poslovicy rossijskieŖ (Russische Sprichwörter, 1782) sechzehn anekdotenartige, satirisch-allegorische Erzählungen verfasste, die jeweils vorgeben, durch ihre Geschichte die Entstehung eines russischen Sprichworts zu erläutern. Für den liberalen Adligen, der, anfänglich als Übersetzer am Petersburger Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten tätig, mit Cheraskov, Sumarokov und weiteren Vertretern der russischen Aufklärung in engem geistigen Austausch stand, bestanden im Rahmen der journalistischen Arbeit die besten Möglichkeiten, seine kritische Einstellung gegenüber Staat sowie Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, vor allem nachdem Katharina II. 1769 die Rede- und Meinungsfreiheit verkündet hatte. Während die Zarin aber Aufklärung auf die Verbesserung der menschlichen Sitten beschränkt wissen wollte, prangerte Novikov in seinen Zeitschriften, zu denen er selber die meisten Beiträge schrieb,

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vornehmlich politisches und soziales Unrecht an. Die Satire galt ihm als die dafür einzige geeignete Methode. So forderte er in der Auftaktnummer von „TrutenřŖ (Die Drohne, 1769), der ersten seiner Wochenschriften, die schreibende Zunft der Zeit auf, „vor allem satirische und kritische WerkeŖ einzusenden. An den Geist von Kantemirs Verssatiren der dreißiger Jahre anschließend, die 1762 erstmals in Russland gedruckt worden waren, wollte Novikov Satire als ein direktes, aggressives und nicht auf ein allgemeines Laster, sondern „auf bestimmte PersonenŖ (kritika, pisannaja na lico) gerichtetes Mittel verstanden wissen.7 An Einzelpersonen, meistens ausgestattet mit sprechenden Namen, exemplifizierte Nikolaj Novikov seine Kritik an der Gesellschaft, insbesondere an den höheren Ständen, deren Mitglieder die Machtpositionen im Staat innehatten. So zeichnet er einmal einen Gutsbesitzer, „BezrassudŖ (Ohneverstand) genannt, der seine Bauern nicht als Menschen, sondern lediglich als Arbeitstiere betrachtet, ein anderes Mal einen hochrangigen Staatsbeamten mit Namen „ZabylĉestřŖ (der Ehrvergessene), der vor dem Dienstantritt sein Gewissen zum Verkauf anbietet.8 Auf diese Weise geißelte Novikov, dem wachsenden Zorn Katharinas II. ausgesetzt, unermüdlich in typisierten Porträtskizzen und in der Form des satirischen Briefs das amoralische wie das asoziale Verhalten der herrschenden Schichten. Dabei entwickelte er speziell den Brief zur „nahezu gattungshaften SelbständigkeitŖ9. Erfundene zeittypische Personen, genauer gesagt, ältere adlige Provinzbewohner, wenden sich in Briefen, die angeblich der Zeitungsredaktion eingesandt wurden, ratgebend an junge, in der Stadt lebende Verwandte. Die gelungene Nachahmung rohester Umgangssprache und eines primitiven, aliterarischen Briefstils suggerieren die Echtheit des Dokuments. Der Schreiber, der die Vorzüge der alten Lebensweise preist und seinen jugendlichen Adressaten auf den rechten Weg seiner Vorväter zurückführen will, bildet die Zielscheibe der Satire; denn das, was er so rühmt, ist das, was in der Sicht des Satirikers Novikov im Argen liegt. Für den fiktiven Verfasser von Novikovs berühmten Briefen eines Landadligen an seinen Sohn bestehen die idealen Zustände in der Zeit, als die mächtigen Bojaren herrschten: „Das waren Männer, nicht nur ihren eigenen, sondern auch fremden Leuten haben sie das Fell über die Ohren gezogen. Sie lebten und herrschten wie die Made im Speck.Ŗ10 Als „UnverstandŖ gilt ihm deshalb, nicht in die eigene Tasche zu wirtschaften, kein Bestechungsgeld anzunehmen und keine überhöhten Zinsen zu fordern, die leibeigenen Bauern nicht zu quälen und schonungslos durchzupeitschen oder dem Nachbarn kein Land wegzunehmen und die Grundstücksgrenzen nicht ständig zu verschieben. Vom Vater mit solchen Lebensregeln versehen, wird dem Sohn empfohlen, aufs Land zurückzukehren und zum eigenen Vorteil an die früheren Zeiten anzuknüpfen. Zwar steht der Adressat bereits für die junge, neue Generation in Russland, die Novikov die Hoffnung auf eine grundlegende Änderung der Verhältnisse gab, doch mit der Nennung dessen, was der rückständige Adel für das Bessere hält, wollte er darauf aufmerksam machen, dass auch nach den Reformen Peters I. und Katharinas II. noch viele kulturelle Mängel und arge gesellschaftliche Übel

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Die russische Erzählung

bestehen, von Aberglauben, Unbildung und Gallomanie über Geldgier und Bestechlichkeit bis zu moralischer Unlauterkeit, sittlicher Rohheit und unmenschlicher Behandlung der Leibeigenen. Die „sanfteŖ Satire der Zarin, die ihrem Ideal einer milden Herrschaft entsprach, verwarf er als ungeeignetes Mittel zur Aufdeckung der Missstände. Überzeugt von der Richtigkeit und Notwendigkeit schonungslosen satirischen Angriffs auf die zeitgenössische russische Gesellschaft, hielt er, dem wachsenden Druck seitens der Obrigkeit trotzend, an seinen Vorstellungen fest und setzte unbeirrt seine verlegerische und publizistische Tätigkeit fort, bis er schließlich 1792 ohne ein Gerichtsurteil festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Als Begründer der Gesellschaftssatire in Russland hatte Novikov einen großen Einfluss auf die russische Literatur. Allerdings gelangte dieser Einfluss erst im 19. Jahrhundert, gipfelnd im Schaffen von Nikolaj Gogolř und Michail Saltykov-Ńĉedrin, zu eigentlicher Wirkung. In seiner eigenen Zeit spiegelt er sich am ehesten in der Komödienkunst Fonvizins, Kapnists und Knjaņnins. Die außerhalb des klassizistischen Gattungssystems stehende erzählende Literatur orientierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, frei von aufklärerischem Interesse, vornehmlich an den aus dem Westen importierten und übersetzten Romanen und Erzählungen, die, obwohl nicht ohne ästhetischen Anspruch, in erster Linie die halbgebildete Leserschaft der Zeit durch eine spannende Handlung fesseln und durch die Versetzung in exotische Räume und die Erweckung erhabener Gefühle in den Bann ziehen wollten. Immer noch vertraute man wie bereits die Verfasser der „Petrinischen NovellenŖ auf die Wirksamkeit überkommener Abenteuer-, Märchen- und Liebesmotivik. Die Geschichten handeln zumeist von Entführungen, Überfällen und Duellen, von schicksalhaften Trennungen und wundersamen Wiederfindungen, von tiefen Leidenschaften und bösen Intrigen, von Treue, Liebe, Verrat und Rache. Durchweg folgt das Erzählte den altbekannten Schemata, Standards und Mustern. An Wahrscheinlichkeit mangelt es ebenso oft wie an einleuchtender Motivierung. Wichtiger als alles andere ist die Steigerung des Unterhaltungswerts. Weniger abhängig von westlichen Vorbildern sind die Erzählungen Michail Ĉulkovs (1743Ŕ1792) und Vasilij Levńins (1746Ŕ1826), diesen beiden produktivsten und bis zum Auftreten Karamzins führenden Prosaisten der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts.11 Jeweils als „skazkiŖ bezeichnet, was soviel wie „GeschichtenŖ, jedoch noch nicht wie später „MärchenŖ bedeutete, enthalten viele ihrer Texte bei aller Neigung zu Allegorik und zu abenteuerlicher Phantastik einen starken Wirklichkeitsbezug. Dieser kommt nicht nur in der sozialen Thematik zum Ausdruck, sondern auch in der satirischen Intention des Autors und in der Benutzung der mit umgangs- und vulgärsprachlichen Wendungen durchsetzten Kanzleisprache. Zu dem vertieften Realitätsgehalt gehört bei Ĉulkov wie bei Levńin die offene Tendenz zur Russifizierung. Sie zeigt sich in Motiven und Themen, in Charakterisierungen, Schilderungen und Beschreibungen. Das Nationale wird, verbunden mit ständiger Polemik gegen die Nachahmungen alles

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Ausländischen, geradezu zum Programm erhoben. Von hier aus versteht es sich, dass Ĉulkov und Levńin ihre Erzählungen, vereint jeweils zu großen Sammlungen, „Slavenskie skazkiŖ (Slavische Geschichten)12 und „Russkie skazkiŖ (Russische Geschichten)13 nannten. Die Sammlung Michail Ĉulkovs erschien, von Nikolaj Novikov in der Akademie-Druckerei hergestellt, zunächst vierteilig unter dem Obertitel „PeresmeńnikŖ (Der Spötter) zwischen 1766 und 1768 und wurde darauf 1789, inzwischen viermal wiederaufgelegt, noch um einen fünften Teil erweitert. Zusammengehalten werden die Texte von zwei im Rahmen eingeführten und sich im Fortgang einander ablösenden Erzähler, beide charakteristische Abwandlungen des Schelms, der Zentralfigur des pikaresken Romans. Der eine, Ladon, ein junger Bursche, der listige Sohn einer Zigeunerin, berichtet heroisch-galante Begebenheiten, der andere, ein vagabundierender Mönch, Bettler und Landstreicher, schwankhaftanekdotische Vorfälle. Ĉulkov war von Anfang an bestrebt, den geschilderten Ereignissen, Figuren und Schauplätzen ein nationales Kolorit zu geben. Das gelang von Teil zu Teil immer mehr und kulminiert dann im fünften und letzten Teil, der über zwanzig Jahre nach den ersten vier Teilen entstand. Hier zeigt sich in der Schilderung der russischen Provinz eine „Treffsicherheit der SatireŖ und eine „Beherrschung des ProsastilsŖ, die nicht nur in Ĉulkovs eigenem Schaffen ohne Vergleich ist, sondern auch „zum BestenŖ zählt, „was die russische Prosa des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hatŖ.14 Eine durch den Ritter- und Schelmenroman, die Märchen aus „Tausendundeiner NachtŖ, die heimische lyrisch-epische Volksüberlieferung und die slavische Mythologie inspirierte Fabulierkunst, die für die ganze Sammlung kennzeichnend ist und die viele Jahrzehnte später noch Puńkin begeisterte, verbindet sich hier am stärksten mit einer direkteren, über das Erzeugen des bloßen Lachens und Verlachens hinausgehende Erfassung der zeitgenössischen sozialen Wirklichkeit. Handeln die beiden anekdotenhaften Erzählungen „Prjaniĉnaja monetaŖ (Das Pfefferkuchengeld) und „Dragocennaja ńĉukaŖ (Der teure Hecht) von der unersättlichen Habgier der Reichen, die durch Umgehung staatlicher Gesetze wie des Verbots von privaten Schnapsbrennereien ihren Reichtum fortwährend vermehren, führt die Erzählung „Gorřkaja uĉastřŖ (Das bittere Los) Ŕ literaturgeschichtlich bedeutsam als „erste Charakterisierung des russischen KulakenŖ15 Ŕ an einem exemplarischen Einzelfall das Schicksal armer Leute vor Augen. Der Bauer Sysoj Fofanov, der eine leidvolle Jugend unter widrigsten Bedingungen verbracht hat, wird mit 25 Jahren von den Großbauern seines Landkreises unter die Rekruten gesteckt, nimmt an drei Feldzügen teil, verliert am Ende einen Arm und kehrt, sich bettelnd durchschlagend, entkräftet und halbverhungert in sein Dorf zurück. Auf dem elterlichen Gehöft angekommen, findet er das Haus verschlossen, und als er es in Gegenwart des Dorfältesten gewaltsam öffnen lässt, sieht er den Vater erhängt, die Mutter erschlagen, die drei Monate alte Schwester mit durchschnittener Kehle in der Wiege und den vierjährigen Bruder angekohlt und erstickt im Ofen liegen.16 Die gerichtliche Untersuchung des Verbrechens wird

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bald eingestellt, weil es dabei um staatseigene Bauern geht. Nie zuvor ist das russische Landleben so entidealisiert dargestellt worden wie hier. Die Zeit schien jetzt dafür reif zu sein. Ein Jahr später entwarf Aleksandr Radińĉev, unter dem Einfluss von Laurence Sterne die Form der romanartigen sentimentalen Reiseschilderung nutzend, in „Puteńestvie iz Peterburga v MoskvuŖ (Reise von Petersburg nach Moskau, 1790) noch weit abstoßendere Bilder vom Leben in der Provinz, fern der beiden Hauptstädte. Erschütternde Szenen auf den Feldern sowie in den ärmlichen Bauernhütten wechseln mit so bedrückenden Vorgängen wie körperlichen Züchtigungen, rücksichtslosen Rekrutenaushebungen und Verkäufen von Leibeigenen. Von so krasser Realistik war das Russlandbild Ĉulkovs allerdings nicht. Kein revolutionär gesinnter Aufklärer wie Radińĉev, verstand sich dieser trotz des Hangs, sein Ungenügen an den Verhältnissen immer wieder mit den Mitteln des Satirikers zur Geltung zu bringen, in erster Linie als passionierter Geschichtenerzähler. Daher fehlt bei ihm die moralische und philosophische Interpretation des Stoffes, die Radińĉev aus seiner Vertrautheit mit aktuellem deutschen, französischen und englischen Gedankengut von Herder über Rousseau und Voltaire bis zu Fergusson und Adam Smith gewann. Näher steht Ĉulkov dem Verfasser der „Russkie skazkiŖ, mit dem er im 19. Jahrhundert öfter verwechselt worden ist. Vasilij Levńin verzichtet ebenfalls auf jegliches Moralisieren und Philosophieren. Auch er will vor allen Dingen auf fesselnde Weise unterhalten und zieht dazu alle Register seines erzählerischen Könnens, wobei er genau wie Michail Ĉulkov darauf achtet, dass das Erzählte, von dem er sagt, es sei stets ein Produkt seiner Phantasie, in der eigenen Zeit und Wirklichkeit verankert ist Ŕ wie merkwürdig, wunderlich oder unglaublich es auch sein mag. Tradierte Sujets wie das von den „rivalisierenden BrüdernŖ in der gleichnamigen Erzählung („Dva brata sopernikaŖ, 1780), alte Charaktertypen aus der Komödientradition wie der Geizige in „Povestř o novomodnom dvorjanineŖ (Erzählung vom neumodischen Edelmann, 1780) oder typische Märchenmotive wie die Wunderkappe und allegorische Gestalten wie Fortuna, die Göttin des Glücks, in „Dosadnoe probuņdenieŖ (Unangenehmes Erwachen, 1783) stehen in unmittelbarem Bezug zu der geschilderten Realität und übernehmen bestimmte Funktionen in den jeweiligen Strategien der Entlarvung. Das groteske Bild des Geizigen, der sich aus Ungeschick mit der Kette erwürgt, die an seinen Geldtruhen befestigt ist, decouvriert einen durch Wucher und Betrug zu Reichtum gelangten Menschen. Die Glücksgöttin, die in Gestalt einer schönen Frau zu nächtlicher Stunde die leere Kanzlei betritt, in der Tag für Tag ein von Natur und Glück benachteiligter Schreiber arbeitet, kommt, um dem „armen BraginŖ ihre Dienste anzubieten. Sie diktiert ihm zunächst eine Bittschrift, die in Form rhetorischer Fragen eine Vielzahl sozialer Missstände zur Sprache bringt, verschafft ihm dann die Möglichkeit, in allen Schenken ohne Bezahlung trinken zu können, und bietet ihm schließlich ihre Hand zur Heirat an. Auf dem Gipfel des Glücks, bei der Hochzeit im Palast der Göttin, entflieht die Braut; Bragin eilt ihr

III. Die Entdeckung des Gefühls

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nach, stürzt zu Boden, sie beugt sich über ihn, er drückt sie an seine Brust Ŕ und erwacht.17 Die äußere Realität meldet sich zurück. Erwacht, liegt der Held betrunken in einer Pfütze vor dem Wirtshaus und versucht, ein Schwein zu fassen, das ihn mit der Schnauze berührt hat. Levńin konfrontiert die reale Welt und die Welt des Traums. Die erstere Ŕ das ist die Welt, in der der Held seine Einkünfte zu vertrinken pflegt und sein Vorgesetzter im Laufe eines Jahres Dutzende ehrbarer Familien ruiniert. Die andere Welt enthebt ihn zwar vorübergehend seiner Not und bringt die Erfüllung sehnlichster Wünsche, wirft ihn aber am Ende umso unerbittlicher in den ursprünglichen Zustand zurück. Hinzu kommt, dass der Traum Ŕ das Genre des „FeenmärchensŖ (skazka o fejach)18 parodierend, in dem die Gaben der Glücksfee nur dem tugendhaften Helden zufallen Ŕ hier eine deutlich satirische Funktion erfüllt, und zwar in der Benennung sozialer Übel im Diktat der Fortuna wie in der spöttischen Zeichnung der Hochzeitsgäste als Abbildung der zeitgenössischen Adelsgesellschaft. Auch Bragin, der kleine unbedeutende Kanzleischreiber auf der Suche nach dem Glück, verkörpert, obgleich nicht tugendhaft, sondern dem Laster der Trunksucht verfallen, zudem lächerlich in der überraschenden, von burlesker Situationskomik bestimmten Schluss-Szene, ein Stück Protest gegen die Ungerechtigkeit der Gesellschaftsordnung. Die städtische Pauperismusthematik mit der exemplarischen Figur des armen Beamten, die im Frührealismus der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts so zahlreich in Erscheinung treten sollte, taucht hier fast unbemerkt zum erstenmal auf. An ihr demonstrierte Levńin die am Ende vom Erzähler formulierte Botschaft, dass es ein Irrtum sei, das „Glück nur im TraumŖ zu suchen. In Wahrheit hänge es allein von der Phantasie und Tatkraft des Einzelnen ab.19 Die Zeit, als der epische Held in die Ferne schweifte und exotische Abenteuer erlebte oder die Handlung in die Tiefen des heidnischen Russlands verlegt wurde, war endgültig vorbei. Das Umfeld des Menschen, sein Alltag, die Welt, in der er lebt und arbeitet, wird nun immer mehr zum bevorzugten Schauplatz, und diese räumliche Begrenzung und Sichtverengung schärfte den Blick der Autoren für die kritikwürdigen Seiten des Daseins. Dafür schienen die kürzeren Formen des Erzählens geeigneter zu sein als die großen Romane. III. Die Entdeckung des Gefühls Ausgangs der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts begannen sich die satirischrealistischen Tendenzen in der russischen Erzählliteratur mit Elementen zu verbinden, die eine neue, unter der Herrschaft des Gefühls stehende Richtung ankündigten. Sich im Prosawerk Nikolaj Karamzins erfüllend, prägte diese aus der europäischen Empfindsamkeit und der Idyllendichtung schöpfende Richtung in Russland für mehr als zwei Jahrzehnte die Entwicklung der narrativen Kurzform und stellte in ihrem vorromantischen Charakter den Anschluss an die Epoche der Romantik dar. Bevor Karamzin mit „Evgenij i JulijaŖ (1789) die erste und mit „Bednaja LizaŖ (Die arme Liza, 1792) die berühmteste Erzählung des

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Die russische Erzählung

russischen Sentimentalismus schuf, hatte Nikolaj Ėmin (1766Ŕ1814), der Sohn des Romanschriftstellers Fedor Ėmin, mit „RozaŖ (1786) und mit „Igra sudřbyŖ (Das Spiel des Schicksals, 1789) bereits versucht, der Liebesgeschichte im Zentrum der äußeren Handlung durch ihre stärkere Verlagerung ins Innere und durch formale Mittel wie Brief, Gespräch und Tagebuch eine größere Bedeutsamkeit zu geben. Obwohl als „werthersche Seelendramen konzipiertŖ1, erreichen beide Texte jedoch nicht jenen Grad an Echtheit, Natürlichkeit und Spontaneität der Emotionen, der das Vorbild, Goethes schwärmerischen, sehnsuchtsvollen Briefroman, zu einem wahren „Roman des HerzensŖ2 machte. Werthers Leidenschaft in der Liebe und Liebesklage, nicht nur Wort, sondern auch Klang und Rhythmus geworden, berührt den Leser unmittelbar. Bei Ėmin haben die Gefühlsäußerungen von Held und Heldin durch den Gebrauch übersteigerter Lexik oft einen Zug ins Pathetische. Fortgesetzt wird hier gestöhnt, geweint, gejammert und geschrien. Milon, der Protagonist von „RozaŖ, der sich selbst als „WertherŖ sieht, fällt in Ohnmacht, will sich in einer Mondnacht erschießen und folgt schließlich seiner Geliebten in den Tod. Seelische Zustände werden mehr durch äußerliche Vorgänge als durch psychologische Analyse erfasst. Die Werke von Karamzins Vorläufern wie Ėmin oder Pavel Lřvov (1770Ŕ1825), der in seiner Dorferzählung „Roza i LjubimŖ (1790) die Geschichte zweier Liebender ins Hirtenmilieu versetzte und mit pastoraler Motivik ausstattete, zeigen, dass eine überzeugende, von Klischeehaftigkeit, Weitschweifigkeit und Umständlichkeit freie Darstellung menschlicher Innenwelt vor allem auch ein sprachliches und stilistisches Problem war. Karamzin war der erste, der über die Mittel verfügte, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Früh begeistert von Gellerts Fabeln, Geßners Schweizer „IdyllenŖ und Marmontels „Contes MorauxŖ, schulte Karamzin, der nach seiner Aufnahme in die Moskauer Universitätspension 1777 die deutsche und französische Sprache zu erlernen begonnen hatte, Stil und Ausdruck durch Übersetzungen der bewunderten Schriftsteller. Sein erklärtes Ziel bestand darin, die Leichtigkeit und Einfachheit, Eleganz und Anmut in der Sprache seiner Vorbilder auf das Russische zu übertragen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang ihm dies zunehmend, als er zwischen 1787 und 1789 für die von Novikov herausgegebene Kinderzeitschrift „Detskoe ĉtenieŖ, die erste ihrer Art in Russland, fünfzehn sentimental-moralische Erzählungen, unter ihnen „Les veillées du châteauŖ (1784) von Madame de Genlis, übersetzte. Auch wenn Karamzin diese Versuche späterhin „schülerhaftŖ nannte, so bildeten sie doch eine wichtige „stilistische SchuleŖ3 und schufen die Voraussetzungen für die Entstehung seiner ersten beiden eigenen Erzählungen. Die eine, „ProgulkaŖ (Der Spaziergang), 1789 gleicherweise in „Detskoe ĉtenieŖ veröffentlicht, ist, einen Spaziergang des Erzählers an einem Frühlingsabend schildernd, mehr eine beschreibend-stimmungshafte Skizze, während die andere, „Evgenij i JulijaŖ, die „traurige GeschichteŖ einer großen Liebe, die der Tod im Augenblick des höchsten Glücks zerstört, den Beginn Karamzins als originalen Erzählers und damit zugleich den Auftakt des russischen erzählenden Sen-

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timentalismus bezeichnet. Bis zum Ende des Jahrhunderts folgten nicht weniger als 58 Originalerzählungen novellistischen Charakters, darunter sieben von Karamzin, in denen wie in „Evgenij i JulijaŖ die Darstellung der menschlichen Gefühlswelt durch ihre Einbindung in die zeitgenössische Lebenswirklichkeit Russlands eine so noch nicht vorhandene Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewann. Karamzin und seinen unmittelbaren Nachfolgern gelang es, im Rahmen dieser Prosa die längstens in der Auflösung befindliche klassizistische Normpoetik mit ihrem rhetorischen Regelwerk durch eine „Poetik der moralisch-emotionalen WirkungŖ4 zu ersetzen. Form, Stil und Sprache sollten wie der Schmuck der Rede durch Bilder, Tropen und Figuren vom Gefühl durchdrungen sein. Sonst wird den Autor, schrieb Karamzin in „Ĉto nuņno avtoru?Ŗ (Was braucht ein Autor?, 1794), sich in den Leser versetzend, „niemals meine Träne, niemals mein Lächeln belohnenŖ.5 Der Wert eines literarischen Werkes bemisst sich jetzt daran, wie weit es imstande ist, das Herz des Lesers zu rühren. Dieses Ziel glaubte Karamzin am ehesten beim weiblichen Publikum zu erreichen. So definiert er sich über das Sprecher-Ich in der poetologischen Versepistel „Poslanie k ņenńĉinamŖ (Sendschreiben an die Frauen, 1796) als Dichter, der für die Frauen schreibt: Um die Anerkennung der Damen zu erringen, strebe er nicht mehr nach kriegerischem, sondern nach schriftstellerischem Erfolg; deshalb habe er das „Schwert in die ScheideŖ gesteckt und „ein Blatt Papier, ein Tintenfass und eine Feder in die HandŖ genommen.6 Solcher „Feminisierung der LiteraturŖ, in der sich schon die Idealisierung des Weiblichen durch die Romantiker anzukündigen scheint, entspricht die „Feminisierung der SpracheŖ.7 Auch dieser so folgenreiche Vorgang ist aufs engste mit dem Wirken Karamzins verbunden. Nachdem die Oberschicht in Russland seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, sich der französischen Kultur zu öffnen und am Hof wie in den Salons des Französischen zu bedienen, hatte diese Orientierung einen Einfluss auf ihren Gebrauch der russischen Umgangssprache. Vor allem die Damen der Guten Gesellschaft (svetskie damy) distanzierten sich aufgrund ihrer Bildungsvoraussetzungen vom schwerfälligen Kirchenslavischen und vom gestelzten Kanzleistil.8 Sie wurden so in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu „Trägerinnen russischer SprachkulturŖ.9 Karamzin, dem das bewusst war, kritisierte 1791 in seiner Besprechung der Übersetzung von Ariosts „Orlando furiosoŖ die Diktion eines Satzes mit dem Hinweis, dass dieser im Mund einer Frau, die nach der Beschreibung des Dichters schöner sei als die Venus, zu kanzleisprachig klinge. An anderer Stelle vermerkte er: „Ein Mädchen mit Geschmack kann ‚kolikoř [wieviel] weder sagen noch in einem Brief schreiben.Ŗ10 Um die Auflösung des damaligen Durcheinander von Kirchenslavisch, Kanzleistil und Umgangssprache, das bereits Lomonosov in seiner Lehre von den drei Stilen für den literarischen Gebrauch regeln wollte, hat sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Russland niemand so bemüht wie Karamzin. Die

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„BuntheitŖ (pestrota), die „UnbestimmtheitŖ (neopredelitelřnostř) und die „VerworrenheitŖ (zaputannostř) in der Lexik und Syntax der vorkaramzinschen Sprache11 wurden in der lyrischen Dichtung wegen ihrer poetischen Freiheiten nicht unbedingt als störend empfunden. Für die Entstehung einer neuen Prosa aber, die sich der Welt und der Gegenwart verschrieb, waren solche Eigenheiten des hohen Stils wie veraltete oder gar unverständliche Wörter und eine komplizierte Satzstruktur mit der Bevorzugung der Hypotaxe und der Häufung von Partizipien weniger geeignet. Sie standen der Ausbildung einer realistischen Erzählhaltung entgegen. Diese erforderte eine größtmögliche Nähe zu der russischen Umgangssprache und zu mündlicher Ausdrucksweise. Karamzin wusste von seinen Erfahrungen als Übersetzer, dass er auch als Verfasser eigener Prosa gezwungen war, sprachschöpferisch produktiv zu werden. „Ausdrücke erfinden und erschaffenŖ, stellte er sich als Aufgabe, „alten Wörtern eine neue Bedeutung geben, sie in einem neuen Kontext verwenden, aber dabei die Leser geschickt täuschen und das Ungewöhnliche der Ausdrücke vor ihnen verbergen.Ŗ12 Gleich in Karamzins Auftakt als Erzähler, der beschreibenden Landschaftsund Stimmungsskizze „ProgulkaŖ und der zu Herzen gehenden Liebesgeschichte „Evgenij i JulijaŖ, die einem durch das Dorf des unglücklichen Paares reisenden empfindsamen jungen Mann zu Ohren gelangt, finden sich Ansätze zu einer grundsätzlichen sprachlichen und stilistischen Erneuerung. Obwohl nicht frei von Kirchenslavismen und Fremdwörtern wie auch von traditionellen Personifikationen, tendieren beide Texte zu einem „mittlerenŖ Wortschatz, in dem Erhabenes und Pathetisches ebenso vermieden wurden wie Niedriges und Vulgäres. Die Syntax ist normiert, der Tempogebrauch konsequent.13 Der Verzicht auf Wortreichtum und der Wille zum „kurzen und klaren StilŖ zeichnen sich schon deutlich ab. In den Erzählungen, die seit Beginn der neunziger Jahre, nach seiner Rückkehr von der Westeuropareise, entstanden, hat Karamzin dann die Bemühungen um Glättung, Vereinfachung und Verknappung des Stils intensiviert. Dies erfolgte im Zusammenhang mit einer weiteren Sentimentalisierung des Erzählens, die weniger durch die Zunahme rührender Szenen zustande kam als durch den verstärkten Einsatz poetisierender Mittel wie Alliterationen, Assonanzen, Inversionen, Anaphern, schmückende Epitheta oder Zärtlichkeitssuffixe. So ausgestattet, erhielt Karamzins Prosa den Charakter jener „AngenehmheitŖ (prijatnostř), die, Erscheinungen syntaktischer und rhythmischer wie auch lexikalischer Art umfassend, nach Skipina das Hauptmerkmal sentimentalistischer Erzählweise bildet.14 Innerhalb weniger Jahre zu voller Entfaltung gebracht, wurde diese wohllautende Wortsprache von anmutiger Leichtigkeit und natürlicher Schlichtheit, bestimmt durch eine gefühlvolle emotionale Lexik, für eine ganze Generation und Epoche zum Vorbild. Ihre stilbildende langanhaltende Vorbildwirkung endete erst mit Aleksandr Puńkin und seiner Wendung vom Vers zur Prosa. Karamzin aber war es durch seine Sprach- und Stilerneuerung gelungen, der Erzählprosa einen der Versdichtung vergleichbaren ästhetischen Rang zu verleihen. Dass dies schon den Zeitgenossen bewusst war, belegen zwei berühmte

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Zeilen aus Derņavins Gedicht „Progulka v Carskom seleŖ (Spaziergang in Carskoe selo, 1798): „Singe, Karamzin. Auch in der Prosa / Hört man die Nachtigall.Ŗ15 So erklärt sich auch der ungewöhnliche Erfolg von „Bednaja LizaŖ nicht in erster Linie aus der Tatsache, dass es sich bei der nach der Erstveröffentlichung 1792 in der Zeitschrift „Moskovskij ņurnalŖ noch viele Male Ŕ in Einzel- und in Werkausgaben Ŕ aufgelegten Erzählung um eine empfindsam-pastorale Liebesgeschichte mit traurigem Ausgang handelt. Entscheidender scheint das hohe, durch die Besonderheiten von Sprache, Stil und Komposition erreichte künstlerische Niveau des Textes gewesen zu sein. Das bestätigt auch eine zeitgenössische Stimme, die von der „schönen GestaltŖ16 der Erzählung spricht. Erst durch sie gewinnt die Realität des Erzählten ihre Glaubwürdigkeit. Diese war offenbar so stark, dass zahlreiche Leser und Leserinnen zu dem unweit des Moskauer Simonov-Klosters gelegenen Teich pilgerten („Lizas TeichŖ), in dem sich die Heldin das Leben nimmt, und sich hier melancholischen Gefühlen und Gedanken ergaben. Auf der schriftstellerischen Seite äußert sich die Begeisterung in der direkten Nachahmung der Geschichte, was sich schon in der großen Zahl von Werktiteln widerspiegelt: von „Bednaja DańaŖ (Die arme Dańa, 1802), „Bednaja MańaŖ (Die arme Mańa, 1803), „Bednaja ChlojaŖ (Die arme Chloja, 1804), „Istorija bednoj MariiŖ (Die Geschichte der armen Marija, 1805) über „Nesĉastnyj M-vŖ (Der unglückliche M-v, 1793), „Nesĉastnyj L.Ŗ (Der unglückliche L., 1803) und „Nesĉastnaja MargaritaŖ (Die unglückliche Margarita, 1803) bis zu „Nesĉastnye ljubovnikiŖ (Die unglücklich Liebenden, 1809) und „Nesĉastnaja LizaŖ (Die unglückliche Liza, 1810).17 Wie bereits diese Titel verraten, legten Karamzins Epigonen den Akzent auf das Rührselige, Larmoyante, Weinerliche. Deshalb klagte Ostolopov, dass jeder nur noch „traurige DingeŖ beschreibe, als ob es im Leben nicht schon genug Kummer gäbe, und Brusilov spottete über den Leser, der vor allem herzzerreißende Situationen erwartete, um eine „zarte TräneŖ vergießen zu können.18 Karamzin hingegen verstand es, allzu starke Übertreibungen in der sentimentalistischen Gefühlsaussprache zu vermeiden. Stattdessen bemühte er sich, unter Verzicht auf allgemeine Kommentare moralischer oder philosophischer Art, ein „Höchstmaß an psychologischer KonkretisierungŖ19 zu erreichen. Das äußert sich am deutlichsten an der Gestalt des Helden, des jungen Edelmanns Ėrast, der das Bauernmädchen Liza verführt und dann verrät. Ėrast ist nicht als ein gewissenloser Verführer dargestellt. Er ist keineswegs ein böser, sondern bloß ein schwacher Charakter mit dem Hang zu Leichtsinn und zu Träumerei. Von hohem Niveau und lebhafter Phantasie, gespeist durch die Lektüre von „Romanen und IdyllenŖ, träumt er, wie später Puńkins Evgenij Onegin des mondänen Lebens seiner Gesellschaftsschicht überdrüssig, von einer Rückkehr zur Natur und von einer idealen Liebe über alle Standesgrenzen hinweg. In Liza glaubt er, seine „SchäferinŖ gefunden zu haben, mit der ein arkadisches Glück im Sinne des Goldenen Zeitalters möglich sei. Doch die Realität holt ihn ein, als er, durch Spielschulden

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seines Vermögens verlustig, den Ausweg in der Heirat mit einer reichen Witwe findet. Dieser Liebesverrat, der Liza aus Kummer in den Freitod treibt, macht ihn, im Bewusstsein, ein Mörder zu sein, lebenslang unglücklich. Ėrast erscheint so als der „erste problematische HeldŖ20 und die Erzählung als die „erste CharakternovelleŖ21 der russischen Literatur. Von ähnlicher psychologischer Konsequenz und innerer Schlüssigkeit sind auch die Zeichnung der Gestalt Lizas und die Schilderung der Beziehung zwischen den Liebenden, die nicht mehr wie früher untergeordneter Bestandteil einer abenteuerlichen Handlung ist, sondern als selbständiges und selbstzweckhaftes Element im Zentrum der erzählten Geschichte steht. Liza, das schöne, tugendhafte Mädchen aus dem bäuerlichen Milieu, träumt wie Ėrast von einem idyllischen Hirtenleben; nur sind ihre Vorstellungen, anders als bei dem gebildeten Adligen, nicht aus literarischer Lektüre erwachsen. Zugleich aber ist sie wie ihre Mutter, die sich einen wohlhabenden Bauern als Ehemann ihrer Tochter wünscht, realistisch genug, um die Unmöglichkeit einer Verbindung mit einem Angehörigen der höheren Gesellschaft zu erkennen. Dennoch glaubt sie den Liebesbeteuerungen Ėrasts, dem von der ersten Begegnung an ihr Herz gehört, weist das Heiratsangebot eines reichen Bauernsohns zurück und erliegt auf dem Handlungshöhepunkt, in der Verführungsszene, der Illusion, dass die Macht der empfindsamen und unschuldigen Seelen stärker sei als alle äußeren Hindernisse. Erst die anschließende Ernüchterung des Verführers angesichts des Verlusts der platonischen Liebe bringt die soziale Unvereinbarkeit der Protagonisten deutlicher zur Geltung, ohne die Zeichnung der Handlung als eines mit großer Einfühlung dargestellten psychologischen Prozesses zu vernachlässigen. Wichtiger als die Standesproblematik ist die Verwurzelung des Konflikts in der Sittlichkeit der Personen, die weniger in ihrer gesellschaftlichen Repräsentativität als in der Verschiedenheit ihrer individuellen Charaktere von Interesse sind. Am Ende manifestiert sich die Überlegenheit Lizas gegenüber Ėrast, der, untreu aus materiellen Erwägungen, die Tiefe ihres Gefühls verkennt und nicht davor zurückschreckt, sie zu demütigen, indem er ihr hundert Rubel zusteckt, ehe er sie von einem Diener vor die Tür setzen lässt. Die unbedingt Liebende reagiert auf den Verrat mit der Konsequenz des freiwilligen Todes. Die Katastrophe aber wird für Liza zu einem Akt der Befreiung. Mit dem Motiv der Erlösung durch den Tod deutet Karamzin ein weiteres Mal auf die Romantik voraus. Aus der Individualisierung und Psychologisierung der Figuren, an der die stufenweise erfolgende Enthüllung der Charaktere im Dialog und die Natürlichkeit der dabei benutzten Sprache einen wesentlichen Anteil hat, erwächst eine Realistik der Darstellung, die durch die Einführung einer Erzählergestalt noch gestützt und intensiviert wird. Der Ich-Erzähler, der die Wirklichkeitsillusion mit dem Hinweis unterstreicht, dass er keinen Roman schreibe, sondern die „traurige WahrheitŖ, bewegt sich auf einer eigenen Zeitebene. In der Erzählgegenwart führt er den wiederholt apostrophierten Leser zu den Schauplätzen eines Geschehens, das sich vor etwa 30 Jahren ereignet hat und das er, in die Vergangen-

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heitsform wechselnd, von der Vorgeschichte über zwei Wendepunkte bis zum tragischen Ausgang chronologisch berichtet, ehe er am Ende in die Gegenwart zurückkehrt und mitteilt, das zuvor Berichtete von Ėrast, ein Jahr vor seinem Tod, auf dem gemeinsamen Gang zu Lizas Grab erfahren zu haben. Realitätsfiktion und eine sentimentalistische Gefühlsdarstellung, die erotische Empfindungen erstmals in der russischen Literatur glaubhaft zu machen weiß22, schließen sich nicht aus, sondern bedingen hier einander. Indem der Erzähler den Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt seiner Geschichte ausdrücklich hervorhebt, kann er sich auch zum Ausdruck starker Gefühle bekennen. „Ich liebe die Gegenstände, die mein Herz berührenŖ, bemerkt er einleitend, „und mich Tränen zärtlichster Trauer vergießen lassen.Ŗ23 Der von dem Geschehen bewegte und bewegende Geschehnisse liebende Erzähler steigert bei aller mitfühlenden und mitleidenden Anteilnahme seine Diktion nicht zu der extremen Emotionalität der Briefsprache Werthers, die sich syntaktisch und grammatisch immer wieder aufzulösen beginnt und der ganz Klang und Rhythmus gewordenen Prosa einen durch und durch lyrischen Charakter verleiht. Durch die Trennung von Erzählergestalt und Protagonisten entsteht ebenso wie durch den großen zeitlichen Abstand zu den Jahrzehnte zurückliegenden Vorgängen eine objektivierende erzählerische Distanz, die eine emotional dämpfende Wirkung auf die sprachliche Vermittlung ausübt. Auch wenn Karamzin mit „Bednaja LizaŖ nicht jene künstlerische Höhe von Goethes „Die Leiden des jungen WertherŖ erreichte, so hatte er doch mit diesem Werk für Russland ein Paradigma empfindsamen Erzählens geschaffen und zugleich die epische Kurzform als selbständiges Genre im literarischen Gattungssystem etabliert. Die an der Umgangssprache der Adelssalons orientierte Sprache, die Kürze und Einfachheit der Fabel, die kompositionelle Ökonomie und strukturelle Geschlossenheit, die Zeitebene des Erzählers als äußerer Handlungsrahmen, die psychologisierende Gefühlsdarstellung ohne moralisierende Kommentierung Ŕ dies und weiteres war wegweisend und hatte eine langanhaltende Vorbildwirkung. Eines der frühesten Belege für diese Wirkung ist Aleksandr Kluńins Erzählung „Nesĉastnyj M-vŖ24, die ein Jahr nach „Bednaja LizaŖ in der Zeitschrift „Sanktpeterburgskij MerkurijŖ veröffentlicht wurde. Im Mittelpunkt der Handlung steht auch hier eine Liebesgeschichte, die sich um einen Konflikt herum auf novellistische Weise in ansteigender und absteigender Linie entwickelt: Der begabte, empfindsame M-v verliebt sich bei einer Schüleraufführung in Sofřja, die Tochter eines reichen Gutsbesitzers (Exposition). Nachdem er als ihr Hauslehrer angestellt worden ist, erwidert sie schon bald seine Gefühle (Steigerung). Der hochmütige, auf standesgemäße Heirat bedachte Vater aber zwingt Sofřja, als er von der gegenseitigen Zuneigung erfährt, einen kühlen Abschiedsbrief zu schreiben (Peripetie). In verzweifelter Stimmung, die noch durch den plötzlichen Tod der Schwester verstärkt wird, nimmt sich M-v das Leben (Katastrophe). Nicht nur das in den katastrophischen Schluss mündende Aufbauschema

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verbindet Kluńins Erzählung mit Karamzins „Bednaja LizaŖ, auch viele Einzelelemente finden sich wieder, so etwa das Motiv der moralischen Läuterung (der Vater Sofřjas bereut seine Härte aus Standesdünkel) oder die Abschwächung der vorhandenen sozialen Problematik, weil Sofřja wie Liza Ŕ oder wie die Heldin in Lřvovs „Bednaja DańaŖ, die nach dem Tod des geliebten „jungen HerrnŖ an einem hitzigen Fieber stirbt Ŕ vor allem ein „Opfer der Liebe und EmpfindsamkeitŖ25 ist. Mit der Verabsolutierung der Leidenschaft und ihrer Erklärung aus der psychischen Eigenart des Charakters, der für seine Handlungen verantwortlich ist, stehen die Protagonisten des russischen Sentimentalismus in der Tradition von Goethes „Die Leiden des jungen WertherŖ. Kluńin betonte dies besonders, indem er seiner Erzählung in der Einzelausgabe von 1802 den Titel „Verterovy ĉuvstvovanija ili Nesĉastnyj M-vŖ (Werthersche Gefühle oder Der unglückliche M-v) gab, lässt er doch bereits im Text von 1793 seinen Helden in „WertherŖ lesen, nach Werthers Vorbild Briefe schreiben und sich wie Werther mit der Pistole erschießen. Noch viel direkter und expliziter ist der „WertherŖ-Bezug nur in Michail Suńkovs „Rossijskij VerterŖ (Der russische Werther).26 Die 1792, also im Erscheinungsjahr von „Bednaja LizaŖ, entstandene, jedoch erst 1802 posthum gedruckte Erzählung des begabten Autors, der mit siebzehn Jahren wie sein Held durch Selbstmord aus dem Leben schied, hebt sich in ästhetischer Hinsicht eindeutig aus der Menge der eklektischen Karamzin-Nachahmungen heraus. Trotz der Reminiszenzen an Karamzin steht sie, wie bereits der Titel verrät, unter dem unmittelbaren Einfluss Goethes. Wie der „WertherŖ-Roman ist auch die Erzählung Suńkovs in Briefen abgefasst, wobei es im Unterschied zu Rousseaus „Julie ou La nouvelle HéloïseŖ (1761) hier wie dort nach dem Muster von Richardsons „PamelaŖ (1740) nicht mehrere, sondern lediglich einen Briefschreiber gibt. So scheint es kein Zufall zu sein, dass dieser von Suńkov als das männliche Gegenstück zur Russischen Pamela, der Heldin von Pavel Lřvovs gleichnamigem Roman aus dem Jahre 1789, entworfen wurde. Im Vorwort „Vom VerfasserŖ (Ot soĉinitelja) wird ausdrücklich darauf hingewiesen: „Ich las die ‚Russische PamelaŘ, und mir kam die Idee zum Russischen Werther.Ŗ27 Mit der Originalgestalt stimmt die Neuschöpfung in den wesentlichen Zügen überein. Auch der sich in seinen Briefen ebenfalls an einen Freund wendende Russische Werther verkörpert den schwärmerischen und zugleich revolutionär gesinnten Jüngling, der erfüllt ist von einem gesteigerten Gefühl für Natur, Liebe und Freundschaft. Bevor er sein Innerstes in einer überschwenglichen, mit dem sachlichen Tonfall des Herausgeberberichts (Ot izdatelja) kontrastierenden Briefsprache zum Ausdruck bringt, beschreibt ihn der Autor als einen „jungen Menschen von leidenschaftlicher Natur und empfindsamen Herzen, der vielleicht schon früh begonnen hat, seinen Verstand durch die Philosophie zu nährenŖ.28 Auf der Folie der Wesensverwandtschaft mit Goethes Werther gewinnt Suńkovs Held dann aber auch eigene Konturen. Rationaler als sein Urbild, frei von dessen religiöser Sehnsucht, entwickelt er eine pessimistische Lebensphilosophie. Von lastender Lan-

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geweile erfasst und unerträglicher „LeereŖ gequält, rechtet er mit der Schöpfung und empfindet die Welt als eine „Schule des LeidensŖ.29 Die unglückliche Liebesgeschichte mit Marija, einem Mädchen aus sehr reichem Hause, das seine Empfindungen teilt und ihn auch Jahre später, inzwischen mit einem alten ungeliebten Mann verheiratet, immer noch liebt, dient ihm als Bestätigung seiner aus Lektüre und Beobachtung erwachsenen Überzeugung von der verfehlten Einrichtung der Welt. So wurzelt die Entscheidung, sich nach einem Abschiedsbrief an seinen Brieffreund wie der Autor selber zu erhängen, nicht primär in seiner ausweglosen Leidenschaft, sondern im Pessimismus, ja Fatalismus seines Denkens. „Weshalb werden wir geboren?Ŗ fragt er einmal, und er antwortet: „Um zu weinen und dann zu sterben.Ŗ30 Es sind immer wieder rhetorische Fragen, die der Briefschreiber stellt: „Wozu sich plagen für ein nicht lebenswertes Leben?Ŗ Oder: „Weshalb soll ich ein mir lästiges Geschenk nicht zurückgeben?Ŗ31 Der Entschluss, die erwogene Tat tatsächlich auszuführen, wird somit eher philosophisch als psychologisch begründet. Und Suńkovs Erzählung in Briefen, die sich sprachlich durchaus auf dem Niveau Karamzins bewegt, erweist sich als „erste belletristische Darstellung des Lebensüberdrusses in der russischen LiteraturŖ.32 Damit weist sie weit über den Rahmen des Sentimentalismus hinaus und eröffnet einen Ausblick auf die folgende Epoche, die Romantik, in der dann der Todesgedanke wie auch die nihilistische Denkweise eine bedeutende Rolle spielen werden. Da Suńkov zudem die Liebesgeschichte mit dem traurigen Ausgang, so wichtig sie in leitmotivischer und spannungerzeugender Hinsicht ist, nicht zur eigentlichen Hauptsache erklärte, sondern sie als Demonstrationsobjekt für ein philosophisch reflektiertes Ŕ sich auf Zenon und Cato berufendes Ŕ persönliches Leiden an der Welt nutzte, beugte er schon früh jener thematischen Einseitigkeit vor, die zu einem der bestimmenden Merkmale sentimentalistischen Erzählens wurde. Karamzin versuchte diesem allgemeinen Manko dadurch zu begegnen, dass er die Schauplätze wechselte (England, Andalusien, Südfrankreich und die Insel Bornholm) oder wie in „Natalřja, bojarskaja doĉřŖ (Natalřja, die Bojarentochter, 1792) das Erzählte in die Zeiten des patriarchalischen Russland verlegte. Solche vereinzelten Versuche vermochten nicht zu verhindern, dass sich der russische Sentimentalismus, nicht anders als die europäische Empfindsamkeit, zusehends in Klischees und Stereotypien erfüllte. Dazu kam, dass die Enge der dargestellten Welt durch eine Konzentration auf das mit idyllisch-pastoralen Zügen gezeichnete ländliche Milieu noch einmal zusätzlich eingeschränkt wurde. Die geringe Personenzahl und die Tatsache, dass die Helden meist dem Adelsstand angehören, verstärken diesen Eindruck. Schematisiert ist auch die von vornherein zum Scheitern verurteilte Liebesbegegnung. Sie endet in der Regel auf eine der drei Weisen: durch ein Unglück, ein elterliches Verbot oder den Verrat des Liebhabers. Andererseits verdankt die russische Literatur dem Sentimentalismus eine Reihe von Neuerungen, die für die weitere Entwicklung der Erzählung von größter

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Bedeutung sind und erst im Laufe der Romantik und des Realismus zu voller Entfaltung gebracht werden. Die Erzählung, von der Handlungsdichte und Figurenfülle des Abenteuerromans befreit, hat eine geschlossene Form gewonnen, in der die einzelnen Formelemente jeweils eine funktionale Verwendung finden. Das zentrale Ereignis und die Gestalt des Erzählers sind zu konstituierenden Gattungsmerkmalen geworden. Erstmals fungiert der Erzähler selbst als Bestandteil der Handlung. Er bildet keine zweite Ebene wie in der Aufklärungsliteratur, auf der er philosophisch oder moralisch argumentiert und kommentiert, vielmehr vermittelt er als personnage, zeitlich und räumlich bestimmt, am Schicksal der Handelnden Anteil nehmend, zwischen Fiktion und Realität. In der Rolle des Erzählers mit seiner der mündlichen Rede angenäherten Sprache ist der Autor wie nie zuvor bestrebt, dem Leser den Wirklichkeitscharakter des Berichteten vorzutäuschen. Karamzin war der erste, der dafür das Kunstmittel der Beglaubigung einsetzte, das in den Herausgeberfiktionen der Erzählzyklen Puńkins und Gogolřs seinen vollendeten Ausdruck finden sollte. IV. Vom sentimentalistischen zum romantischen Erzählen: istoričeskaja, svetskaja und real’naja povest’ Sofern sich das sentimentalistische Erzählen nicht bereits von selbst überlebt hatte, ging das Interesse daran sowohl seitens der Autoren als auch seitens des lesenden Publikums spätestens durch die Ereignisse der Jahre 1812Ŕ1815 weitgehend verloren. Allenfalls blieb es unterschwellig und auf niedrigstem Niveau in Organen wie Ńalikovs „Damskij ņurnalŖ (1823Ŕ1833) bis in die dreißiger Jahre hinein erhalten. Das durch den Einfall Napoleons in Russland geweckte nationale Selbstwertgefühl führte, verbunden mit der Besinnung auf die völkische Eigenart, zu einem neuen Interesse für die eigene Geschichte, das daraufhin, verstärkt durch den Dekabristen-Aufstand 1825, ins Zentrum des romantischen Denkens rückte. Der Verfasser von „Bednaja LizaŖ hatte sich schon 1804 von der Dichtkunst abgewendet und ausschließlich historischen Studien verschrieben. 1816 erschienen die ersten acht Bände seiner „Geschichte des russischen StaatesŖ (Istorija gosudarstva Rossijskogo). Die 1824 folgenden Bände 9 bis 11 dienten Puńkin 1824/25 als stoffliche Grundlage für seine dramatische Gestaltung der Auseinandersetzung zwischen dem Zaren Boris Godunov und dem Falschen Dimitrij. Die „romantische TragödieŖ, wie der Dichter sein Stück nannte, folgte der wissenschaftlichen Vorlage fast Szene um Szene, nur war der Akzent jetzt ganz im Sinne der Romantik auf die aktive Rolle des Volkes verlegt. Bevor Karamzin die russische Geschichtsschreibung begründete und Puńkin zu dem ersten chronicle play der russischen Literatur inspirierte, hatte er selber geschichtliche Stoffe dichterisch verarbeitet und 1792 mit „Natalřja, bojarskaja doĉřŖ die erste historische Erzählung der neueren russischen Literatur verfasst. Der Text führt in die Regierungszeit des Zaren Aleksej Michajloviĉ Romanov (1645Ŕ1676). Doch die Fabel, in deren Mittelpunkt eine Liebesgeschichte steht, ist nicht funktional mit der Ebene der Historie verknüpft. Vielmehr entspricht sie

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dem Muster der sentimentalen Erzählung, nur fehlt ihr der traurige Ausgang: Natalřja, die schöne, tugendhafte Tochter des Bojaren Matvej Andreev, eines engen Beraters des Herrschers, verliebt sich in Aleksej, den Sohn des unschuldig in der Verbannung gestorbenen Bojaren Ljuboslavskij. Nach der heimlichen Trauung in einer kleinen Kirche vor Moskau verstecken sich die Liebenden in den Wäldern, nehmen später am Krieg gegen die Litauer teil und tragen entscheidend zum Sieg der russischen Truppen bei. Am Ende stehen die Verzeihung des Zaren und der Segen des Vaters. Das Personal erscheint sentimentalisiert: Der Zar ist empfindsam, Matvej gütig und weise, das Liebespaar, die Zärtlichkeiten zweier Rotkehlchen (ein altes folkloristisches Symbol der Liebe) beobachtend, voll innigen Gefühls. In sprachlicher und motivischer Anlehnung an die Volksdichtung ist die vom Erzähler entworfene historische Ebene stilisiert und idealisiert. Wenn letzterer die erzählte Geschichte als Bericht seiner Ururgroßmutter beglaubigt und zudem behauptet, er habe den bemoosten Grabstein Aleksej Ljuboslavskijs und die Ruinen jener Kirche gefunden, in der die Liebenden getraut wurden, zugleich aber feststellt, dass er so gern „auf den schnellen Flügeln der PhantasieŖ in die Vergangenheit fliege1, dann wird deutlich: Nicht bloß die Liebeshandlung, sondern auch die Historie entspringt Ŕ im Widerspruch zur Wirklichkeitsvorspiegelung Ŕ der poetischen Einbildungskraft des Dichters. Als sentimentalistische Erzählung in historischem Gewand hat „Natalřja, bojarskaja doĉřŖ zwar einen Anstoß zu der literarischen Darstellung von Geschichte gegeben, aber um den Ausgangspunkt für die Entwicklung eines eigenen Gattungstyps handelte es sich dabei nicht. Weitaus eher trifft das auf die Erzählung „Marfa-posadnica, ili Pokorenie NovagorodaŖ (Marfa, die Statthalterin oder die Unterwerfung Novgorods) zu, die Karamzin elf Jahre danach, 1803, in der Zeitschrift „Vestnik EvropyŖ veröffentlichte und mit dem bezeichnenden Zusatz „Istoriĉeskaja povestřŖ versah. Tatsächlich geht es hier um „eine der wichtigsten Begebenheiten der russischen GeschichteŖ, wie der Erzähler in der Rolle eines Novgoroder Chronisten am Anfang bemerkt2, nämlich um die Unterwerfung der Stadt Novgorod durch Ivan III. in den Jahren zwischen 1471 und 1478. Dementsprechend stehen die geschichtlichen Gestalten nicht mehr am Rand des Geschehens, sie erscheinen jetzt als die Protagonisten, die anstelle des Liebespaars die Funktion der aktiv Handelnden übernommen haben. Im Unterschied zu den nach Vereinigung strebenden Liebenden treten sich Marfa und Ivan als Exponenten einander widerstreitender Kräfte gegenüber: die Statthalterin die Idee von Freiheit und Unabhängigkeit, der Zar das Prinzip der Reichseinheit und den Willen zur Selbstherrschaft verkörpernd. Auf realen Fakten basierend, bildete Karamzins „Marfa-posadnica, ili Pokorenie NovagorodaŖ zunächst einen Einzelfall. Neben die immer noch vorherrschende, sich nach wie vor der Gunst der Leserschaft erfreuende sentimentalistische Erzählung trat seit Beginn des Jahrhunderts ein Typ „historischerŖ Prosa, der wie Nareņnyjs „Slavenskie veĉeraŖ (Slavische Abende, 1809) seinen Stoff der legendären slavischen Vorgeschichte entnahm. Aus literarischen Quellen, Byli-

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nen, Chroniken, Handbüchern der Mythologie, selbst aus der „IgorliedŖ-Ausgabe und Abenteuerromanen des 18. Jahrhunderts schöpfend, stellte dieser Prosatypus eine Art Heldengedicht in epischer Form dar. Das Liebesmotiv verbindet ihn mit der sentimentalistischen Erzählung. In Pavel Lřvovs „PovestŘ o Mstislave I, Volodimiroĉe, slavnym knjaze russkomŖ (Erzählung von Mstislav I., Vladimiroviĉ, dem berühmten russischen Fürsten) aus der Sammlung „Chram slavy velikich RossijanŖ (Ruhmestempel großer Russen, 1822) verliebt sich der Held, Sohn Vladimirs des Heiligen, in Ljubava, die Tochter des Statthalters von Novgorod. Nach dem Sieg über die Litauer wird die Hochzeit gefeiert. In Arcybańevs „Rogneda ili razorenie PolockaŖ (Rogneda oder die Zerstörung von Polock, 1818) wirbt Fürst Vladimir um Rogneda, die Tochter des Fürsten Rogvolřd von Polock. Als Rogneda, die in den litauischen Fürsten Rualřd verliebt ist, seine Werbung zurückweist, erobert er die Stadt Polock, tötet den Nebenbuhler im Zweikampf und entführt das Mädchen. Erzählungen dieser Art, zu denen unter vielen weiteren auch Muravřevs „OskolřdŖ (1819) und Batjuńkovs „Predslava i DobrynjaŖ (1810) gehören, ersetzen historiographisch beglaubigte Wirklichkeit durch den archaischen Zauber der zeitlosen Legende. Die Erzählergestalt vereinigt in sich die Haltung des empfindsamen Zeitgenossen und den heroischen Standpunkt des alten Heldensängers. Elegischen Monolog und rhetorisch-pathetischen Gesang verbindend, tendierte die Prosa dieser Texte, die Geschichte eher dekorativ als objektiv gestaltete, in Sprache und Rhythmus zur Lyrik. Erzählungen, deren Verfasser wie einst Karamzin in „Marfa-posadnica, ili Pokorenie NovagorodaŖ um historische Faktizität bemüht waren, entstanden, wie gesagt, erst dann wieder, als sich das in den Jahren der Napoleonischen Kriege gewachsene Verlangen nach nationaler Selbstbestimmung mit der auf Herder, Tieck und Friedrich Schlegel zurückgehenden Forderung verband, den „Geist des VolkesŖ (duch naroda) zu erkunden und literarisch darzustellen. Von großer inspirierender Wirkung war in dieser Hinsicht auch Karamzins „Istorija gosudarstva RossijskogoŖ. Puńkin ist nicht der erste, der sich mit „Boris GodunovŖ direkt darauf bezog. Das Erscheinen der Bände 1Ŕ8 im Jahre 1816 und der Bände 9Ŕ11 im Jahre 1824 lieferten den entscheidenden Impuls zur Entstehung geschichtlicher Dichtung neuzeitlicher Art in Russland. Dass gerade Karamzins Werk mit seiner vorromantischen, am Staat orientierten Geschichtsdeutung und nicht Nikolaj Polevojs romantische „Geschichte des VolkesŖ (Istorija russkogo naroda, 1829Ŕ1833) zur unerschöpflichen Fundgrube historischer Stoffe wurde, erklärt sich aus dem Stil, in dem es abgefasst ist. Der vormalige Novellist ist auch als Historiker ein Erzähler geblieben.3 Von den spezifischen Bedürfnissen der Dichter ausgehend, war er bestrebt, das aus den Quellen kritisch erschlossene neue Material poetisch nutzbar zu machen. Daher erzählte er, wie früher, anschaulich und spannend, aber immer so, dass das Erzählte den Charakter des wirklich Geschehenen behielt. Noch etwas förderte die belletristische Verwendung des historischen Stoffes. Indem Karamzin die dargestellte Geschichte nicht aus einem einheitlichen Prinzip entwickelte oder einer leitenden Idee unterstellte, sondern als Folge in sich

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geschlossener Teile präsentierte, das heißt in Gestalt selbständiger Episoden und Szenen, erwiesen sich die zwölf Bände seiner bis 1835 bereits viermal aufgelegten Historiographie als äußerst geeignet für direkte isolierte Entlehnungen. Die Dichter nahmen sich dann das Recht zur freien Bearbeitung und subjektiven Deutung der entlehnten Episoden und Szenen, Ereignisse und Figuren. Dazu gehörte auch, dass sie die historischen Personen, von denen der Historiograph nur die wenigen beglaubigten Aussagen zitieren kann, in fiktiven Reden und Gegenreden ausführlicher zu Wort kommen lassen. Puńkin machte davon reichlich Gebrauch, als er in der Tragödie „Boris GodunovŖ, einer Gattungsform, die Handlung und Konflikt wesensmäßig dialogisch entfaltet, die „Zeit der WirrenŖ als Auseinandersetzung zwischen zwei großen Persönlichkeiten sowie zwischen dem Einzelnen und dem Volk gestaltete. Auch in die historische Epik drang das Prinzip der Dialogisierung und begegnet, ehe es sich in Romanen wie Zagoskins „Jurij Miloslavskij, ili Russkie v 1612 goduŖ (Jurij Miloslavskij oder die Russen im Jahre 1612, 1829) oder Puńkins „Kapitanskaja doĉkaŖ (Die Hauptmannstocher, 1836) findet, zunächst bei Aleksandr Bestuņev-Marlinskij (1797Ŕ1837), von dem aus es zu einem Hauptprinzip der Erzähltechnik avanciert. Der spätere Dekabrist, der 1818 gleichzeitig seine Karriere als Offizier in einem Dragonerregiment sowie als Dichter und Schriftsteller begann, schuf einen von lyrischen Ŕ sei es elegischen, balladesken oder heldenliedhaften Ŕ Einflüssen befreiten Erzählungstyp, der, ganz auf Dramatisierung und Spannungserzeugung angelegt, seinen Stoff vornehmlich der Geschichte des russischen und vor allem baltischen Mittelalters entnahm.4 Fast immer geht es wie in Dramen Shakespeares um das Aufeinandertreffen leidenschaftlicher Charaktere. Daraus ergibt sich der Konflikt zwischen dem persönlichen, nicht selten ins Dämonische gesteigerten Egoismus und dem patriotisch-sittlichen Pflichtgefühl gegenüber dem Vaterland. Veranschaulicht wird diese Problematik weniger in der mittelbaren Form des Erzählberichts als in der lebendigen Unmittelbarkeit von Dialog und szenischer Darstellung. Die Aneinanderreihung von dialogisierten Szenen führt zu einer bruchstückartigen Struktur und einer Beschleunigung des Handlungsablaufs, was Puńkin veranlasste, hier von einer „schnellen ErzählungŖ (bystraja povestŘ) zu sprechen. Bestuņev-Marlinskijs Interesse am Baltikum und seiner Geschichte äußerte sich zuerst 1818 in der Übersetzung eines Artikels über die Lage der livländischen Bauern5 und verstärkte sich durch den Aufenthalt in Reval 1820, der auf der Grundlage von Tagebuchnotizen seinen Niederschlag in dem Bericht von der „Reise nach RevalŖ (Poezdka v Revel, 1821) fand. Schon hier wird die enge Vertrautheit des Autors mit der Historie, der Sozialstruktur und dem Volksleben der baltischen Länder deutlich, wie sie dann auch im Anschluss an den Reisebericht den mit der Erzählung „Zamok VendenŖ (Die Burg Venden, 1821) einsetzenden Zyklus von Ritter-Erzählungen prägt. Wurde der deutsche Ritterorden bis dahin vor allem in seiner Funktion als Kulturträger für das Baltikum betrachtet, sieht ihn Bestuņev-Marlinskij als Organ nationaler und sozialer Unterdrü-

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ckung der ansässigen Bevölkerung. Die erzählerische Darstellung der feudalen, auf dem Leibeigenschaftssystem gegründeten Ordensherrschaft bot dem späteren Mitverantwortlichen am Dezember-Aufstand 1825, der dafür zuerst zum Tod und dann zur Haftstrafe in Sibirien verurteilt wurde, die unverfängliche Möglichkeit, Kritik an den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben. Auch in intellektueller Hinsicht lohnte damals ein Blick ins Baltikum. Die dort von 1816 bis 1819 durchgeführte Neuregelung der Beziehungen zwischen den Gutsherren und ihren Bauern regte zu der Frage an, ob ähnliche Reformen auch in Russland möglich seien. Bestuņev-Marlinskij nutzte deshalb in seinen historischen Erzählungen häufig die Form des Dialogs, um darin zeitgenössische Probleme zur Sprache zu bringen und einen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Wenngleich dieser Bezug nicht immer überzeugend motiviert ist und dann in Verbindung mit dem Wechsel der Stilebenen zu Lasten der Geschlossenheit der Komposition geht, erhält der Vergangenheitsstoff auf diese Weise doch einen lebendigen Charakter. Die vom Standpunkt eines politisch interessierten und engagierten Schriftstellers entworfenen Bilder aus der Ära der Ordensritter zeigen eine erstarrte, moralisch verkommene Ritterwelt, die in ihrer Erstarrung und Entleerung ethischer Begriffe Ŕ so suggeriert der Autor den Lesern seiner Zeit Ŕ dem Zustand der russischen Gesellschaft im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts entspricht. Wenn in Bestuņev-Marlinskijs „Zamok EjzenŖ (Die Burg Ejzen), einer Erzählung, die unter dem Titel „Krovř za krovř Ŗ (Blut um Blut) in dem nach dem Dezember-Aufstand konfiszierten Almanach „ZvezdoĉkaŖ veröffentlicht worden ist, der darin dargestellte Tyrannenmord als persönlich motivierte Entscheidung zwar verurteilt, aus sozialen Beweggründen jedoch gerechtfertigt wird, dann handelt es sich dabei nicht nur um die Aufnahme eines romantischen Motivs; vielmehr ließ sich die Tat indirekt auch als eine Handlungsanweisung verstehen, die ihren Ursprung in den Diskussionen über das Für und Wider des Zarenmords unter den Mitgliedern der dekabristischen Geheimgesellschaften hatte. Innerfiktional setzt der revolutionär gesinnte Offizier und romantische Erzähler Bestuņev-Marlinskij meistens eine Liebeshandlung im spätsentimentalistischen Stil als lichten Kontrast gegen die von inneren Spannungen zerrissene, in ihrer Verkommenheit auf die Gegenwart verweisende Welt des baltischen und des russischen Mittelalters. In „Revelřskij turnirŖ (Das Turnier in Reval, 1825), der bedeutendsten Erzählung des livländischen Zyklus, ist die Geschichte zweier Liebender, die wie in Shakespeares „Romeo and JulietŖ gegnerischen Lagern angehören, eingebettet in die blutige Auseinandersetzung zwischen einheimischen Kaufleuten und deutschen Ordensrittern im Jahr 1538: Der junge Kaufmannssohn Edwin, der die Tochter des Ritters Berngard von Burtnek liebt, besiegt im Ritterturnier den stärksten Teilnehmer. Als er das Visier abnimmt und erkannt wird, ruft er die Empörung der Ritterschaft hervor, die seine Bestrafung fordert und die Fehde mit den „SchwarzhäupternŖ, der militärischen Organisation der Revaler Kaufleute, in Gang setzt. Erst das Eingreifen des besonnenen Bür-

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germeisters Fegesak beendet den Kampf, und Berngard löst nach längerem Zögern das einst gegebene Versprechen ein, seine Tochter Minna dem Turniersieger zur Frau zu geben. Die kriegerische Geschichte des Baltikums hat auch andere Schriftsteller der zwanziger Jahre fasziniert und geeignete Stoffe geboten, um mit den Mitteln des romantischen Stils historisches Kolorit und erzählerische Spannung zu erzeugen und vor dem Hintergrund des Allgemeinen und Öffentlichen das kontrastierende Private und Intime einer zu Herzen gehenden histoire d’amour zu entfalten. Dabei diente Bestuņev-Marlinskijs Zyklus als Anregung und Vorbild. Hatte sein Verfasser in „Zamok VendenŖ den unversöhnlichen Streit zwischen dem Erbauer der Burg, dem Magister des Schwertbrüderordens Vinno von Rorbach, und seinem Nachbarn, dem Ritter Vigbert von Serrat, in den Mittelpunkt gestellt, ein Streit, der 1208 in der Ermordung des ersteren durch den letzteren kulminierte, schildert Faddej Bulgarin (1789Ŕ1859) in „Padenie VendenaŖ (Der Fall von Venden, 1827) die Belagerung der Feste, in der sich der livländische König Magnus verteidigt, durch Ivan den Schrecklichen und seine Soldaten. In der Burg befindet sich als Geisel der russische Gefangene Vladimir, der sich in die Tochter des von Magnus hochgeschätzten Pastors Ńreffer verliebt hat. Die mechanisch gegen die geschichtlichen Wirren gesetzte Liebesgeschichte gelangt nicht zu voller Entfaltung. Dafür konzentriert sich der Autor auf die detaillierte Beschreibung des Zaren, der nach der nächtlichen Dunkelheit, die unheilverkündend über der livländischen Burg liegt, im Glanz des Tageslichts erscheint und unter Aufzählung von Insignien der Macht zu einem Größe und Würde ausstrahlenden höheren Wesen verklärt wird. Wurde Bulgarins Erzählstil bereits von der zeitgenössischen Kritik als blass und als kalt bezeichnet, gelangte Vladimir Titov (1807Ŕ1891) in „Monastyrř Sv. BrigittyŖ (Das Kloster der Hl. Brigitta, 1830), wie Bestuņev-Marlinskij in „Revelřskij turnirŖ den ewigen Konflikt der „SchwarzhäupterŖ mit dem katholischen Orden aufgreifend, zu größerer sprachlicher Anschaulichkeit sowie bewegender Emotionalität. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass er den Akzent von der historischen Herrschergestalt auf die fiktive Heldin verschob: Aurora, die Tochter des Revaler Bürgermeisters Antonij Svalřberg, die den Goldschmied Ernest Kruze liebt, tritt nach der Meldung, ihr Geliebter sei bei einem Schiffsunglück ertrunken, ins Kloster ein. Nach einem Jahr aber kehrt der Totgeglaubte zurück und befreit mit Hilfe der „SchwarzhäupterŖ seine Braut aus dem Kloster. Die Befreiung Auroras, einer liebenswerten, von verborgener Leidenschaft erfüllten Mädchengestalt in der Tradition der Karamzinschen Heldinnen, gewinnt in der antikatholischen Sicht Titovs, der wie Bulgarin die Herrschaft Ivans IV. als Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sieht, eine über das Narrative hinausgehende symbolische Bedeutung. Als Absage an den frommen Weg der Vorbereitung auf das Jenseits steht sie für das spontane Bekenntnis zum irdischen Leben und den daraus resultierenden Gewinn gesellschaftlichen Fortschritts.6

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Mit Titov und mit Bulgarin ging das Interesse an der Gestaltung von Themen und Motiven aus der baltisch-russischen Geschichte zurück. Das Ursprüngliche und Lebendige in der Erzählweise Bestuņev-Marlinskijs wich immer mehr klischeehafter Routine. Neue Impulse empfing der Typus der historischen Erzählung erst wieder durch die Zuwendung zu einer anderen Ŕ südlicheren Ŕ Region, die zu der rauheren, an Macphersons Ossianische Landschaft erinnernden nördlicheren Zone der kleinen Ostseeländer in scharfem Kontrast stand: der Ukraine. Statt der ins Mittelalter führenden Auseinandersetzungen der Livländer mit dem deutschen Ritterorden bildete jetzt das Unabhängigkeitsstreben der ukrainischen Bauern und Kosaken, das Ende des 18. Jahrhunderts nach langen Anstrengungen endlich erfolgreich war, den zentralen Konfliktstoff. Bei der literarischen Aneignung des neuen Stoffkreises schöpfte man motivisch wie auch erzähltechnisch vornehmlich aus der ukrainisch-kleinrussischen Folklore, während bei BestuņevMarlinskij, Bulgarin und Titov die Anregungen vor allem aus der hohen Literatur von Karamzin bis zu Walter Scott kamen. Die ersten Muster lieferte Orest Somov (1793Ŕ1833), der 1823 mit dem Traktat „O romantiĉeskoj poėziiŖ (Über romantische Poesie) hervorgetreten war und damit einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung der Romantik in Russland geleistet hatte. In zwei kurzen Prosatexten von 1825 und 1828, die als Vorstudien zu einem geplanten, aber nicht ausgeführten Roman mit dem Titel „GajdamakŖ gedacht waren, griff Somov die legendäre Gestalt des „kleinrussischen RäubersŖ Garkuńa auf, den Vasilij Nareņnyj in seinem gleichnamigen Romanfragment aus dem Jahr 1825 zum Titelhelden gemacht hatte. Nareņnyjs epische Breite ist bei ihm zu anekdotischer Kürze hin verknappt. Im ersten der beiden Texte7 wird der Räuberhauptmann, eine Art von Robin-Hood-Figur, gefangengenommen, nachdem er von dem Juden Gerńko denunziert worden ist, vermag sich aber bei der Überfahrt über einen Fluss zu befreien. Im zweiten Teil8 erscheint er mit Gefolge im Haus des wohlhabenden Pan Gricenko, der an einem der letzten Tage des Jahrmarkts in Korolevec den Namenstag seiner Tochter Evfrozinija feiert. Die Gäste haben sich gerade die Geschichte von seiner wundersamen Befreiung erzählt, da betritt er in der Rolle eines reichen Polen den Raum, begleitet von dem armen Husarenoffizier Demjan Kvetĉinskij, Evfrozinijas Geliebten, der bei ihrem Vater vergeblich um sie angehalten hatte, und erklärt sich am Morgen nach der durchfeierten Nacht zum Brautwerber für den Offizier, dem er überdies eine beträchtliche Geldsumme schenkt. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten verschwindet er wieder und enthüllt in einem zurückgelassenen Brief seine Identität als Räuberhauptmann Garkuńa. In einer Skizze über „KleinrusslandŖ, die den zweiten, stärker als der erste an ein Fabelgerüst gebundenen Text eröffnet, verweist Somov auf den historischen Charakter des Erzählten. Die ukrainische Geschichte mit dem andauernden Kampf der Kosaken gegen die Polen, dem Alltag der jüdischen Händler und Wucherer, dem freien Leben der Landedelleute und dem Leben des einfachen Volkes nach althergebrachten Sitten und Bräuchen ist nicht als Prozess, sondern

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als Zustand dargestellt.9 Statt exakter Daten und konkreter Fakten und Ereignisse finden sich stilisierende Beschreibungen der Natur und der Landschaft sowie detaillierte Schilderungen von Brauchtum, Kostümen und sprachlichen Eigenheiten. Die so dargestellte Welt wirkt eigentümlich entzeitlicht und enträumlicht. Der Blick zurück in die Vergangenheit Kleinrusslands lässt ein Land der Poesie entstehen, das unwillkürlich die Vorstellung von einem verlorenen Paradies evoziert. Ein fabulierender Stil und der humoristische Ton mit der Verwendung von Motiven aus der Verkleidungs- und Verwechslungskomödie tragen gleichfalls zur romantischen Verklärung einer Region bei, die wenige Jahre später in der Wiedergabe durch Nikolaj Gogolř ihren unübertrefflichen künstlerischen Ausdruck finden sollte. Auch Gogolř verfährt, Zustände schildernd, in „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ antichronikal, aber die ukrainische Dorfwirklichkeit, die Lebenssphäre der Kosaken, Bauern und Handwerker, wird hier nicht poetisch verklärt und nostalgisch als Abbild eines äußerst lebendigen, inzwischen unwiederbringlich entschwundenen Volkslebens entworfen. Der „Geist des VolkesŖ ist bei Gogolř höchst präsent. Er zeigt sich in den Figuren, und er tritt aus ihren Handlungen entgegen. Und die Märchen und Legenden, in denen schon die Frühromantiker diesen Geist zu erschließen trachteten, werden nicht einfach nacherzählt; sie entstehen und entwickeln sich in unmittelbarer Anschaulichkeit und Konkretheit vor den Augen des Lesers. Die Welt, in der die Bewohner von Dorf und Steppe in friedlicher Gemeinschaft mit Hexen, Teufeln und Geistern leben, ist eine Welt von handfester Realität. Dennoch: Bei aller immanenten Realistik ist die von Gogolř geschilderte Ukraine keine Widerspiegelung zeitgenössischer Wirklichkeit, sondern der Entwurf eines utopischen Landstrichs, in dem sich die Sehnsucht des Volkes nach Freiheit und Gerechtigkeit sowie nach einem Leben außerhalb von staatlicher und bürokratischer Willkür im ursprünglichen Einklang von Mensch und Natur erfüllt. Erst in den Petersburger Erzählungen, mit denen die russische Romantik seit der Mitte der dreißiger Jahre die Stadt entdeckt, entnahm Gogolř den Erzählstoff seiner eigenen Gegenwart, die er am Beispiel der Kapitale Petersburg aus der unversöhnlichen Sicht des Satirikers darstellt, nachdem er noch kurz zuvor in dem Zyklus „MirgorodŖ die russische Provinz mit den Mitteln des verstehenden Humors porträtiert und in ein idyllisierendes Licht getaucht hatte. Bei dieser Blickverlagerung erkannte er, lange vor Dostoevskij, das Geld als die neue bestimmende Macht und erhob es als Symbol des anbrechenden kommerzialisierten Zeitalters fortan zu einem der Leitmotive seiner epischen wie auch seiner dramatischen Werke. Eingeleitet wurde der Übergang zur Gegenwartsbewältigung bereits zu Beginn der zwanziger Jahre, in zeitlicher Parallelität zur Entwicklung der historischen Erzählung, mit dem Genre der „mondänen ErzählungŖ bzw. der „Erzählung aus der ,Großen Weltʻ Ŗ (svetskaja povestʼ).10 Entstanden im Umkreis der dekabristischen Schriftsteller, insbesondere bei Ryleev und bei Bestuņev-Marlinskij, wurde dieser Typus in den dreißiger Jahren von Panaev, Pavlov, Odoevskij

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und anderen aufgegriffen und weiterentwickelt. In Ryleevs Skizze „ĈudakŖ (Der Sonderling, 1821)11 geht es noch um einen skurrilen Menschen, der sich aus der Abneigung gegen das weibliche Geschlecht der vom Vater geforderten Verheiratung listig entzieht, dann aber steht zumeist der Typ des intelligenten, kritischen jungen Offiziers im Zentrum der Handlung. Als fiktives Spiegelbild jener Gruppe politisch und literarisch gebildeter russischer Offiziere, die im Zeitraum zwischen den Feldzügen gegen Napoleon und dem Dezember-Aufstand den Adelssalon des späten 18. Jahrhunderts als kulturelle Instanz ablösten und aus deren Kreis die Opposition gegen Nikolaj I. hervorging, durchschaut er, ausgestattet mit festen Idealen und Wertvorstellungen, das glanzvolle Leben der aristokratischen Klasse. Dabei gerät er in Konflikt mit der Gesellschaft und zuletzt auch mit sich selbst wie der Oberstleutnant Meĉin und der Kommandeur einer Husarenschwadron Fürst Gremin, die Protagonisten in Bestuņev-Marlinskijs „Veĉer na bivuakeŖ (Ein Abend im Nachtlager, 1823) und „IspytanieŖ (Die Prüfung, 1830), zwei novellenartige, entstehungsgeschichtlich durch Haft und sibirische Verbannung des Autors getrennte Erzählungen. Bestuņev-Marlinskij setzt in beiden Fällen die glänzende Oberfläche und die starre normative Wertordnung der Welt des Adels gegen das Offiziersmilieu und dessen sittliches Verantwortungsbewusstsein. Die Unvereinbarkeit der Moralauffassungen wird durch die Gegensätzlichkeit der Schauplätze unterstrichen und gewinnt somit auf der räumlichen Ebene ihren anschaulichen Ausdruck: hier die glanzvollen Orte der Großen Welt wie Theater, Ballsaal, Boudoir, dort die exotische, aber rauhe Landschaft der kaukasischen Bergwelt, in der sich das harte Soldatenleben und die gefahrvollen militärischen Aktivitäten vollziehen. Metaphern, Allegorien und weitschweifigste Vergleiche, von Bestuņev-Marlinskij oft überreich verwendet, tragen ihrerseits dazu bei, die Dualität auch vom Stil und von der Sprache her zu verwirklichen. In „Veĉer na bivuakeŖ spiegelt sie sich zudem in der Erzählstruktur wider. Im auktorial erzählten Rahmen unterhalten sich russische Offiziere während einer Kampfpause am nächtlichen Lagerfeuer, bis Meĉin mit dem Vorschlag, eine Begebenheit aus seinem Leben zu berichten, aus der Gruppe heraustritt und sich als Ich-Erzähler emanzipiert. Es folgt die Binnenerzählung. Durch sie erfahren die Zuhörer am Lagerfeuer, dass Meĉin eine in Petersburg von allen Kavalieren umschwärmte Frau, Sofija S., die Tochter eines Fürsten, kennen und lieben lernte, sich wegen ihr duellierte und schwer verwundet wurde, nach der Genesung aber von der bevorstehenden Heirat zwischen Sofija und seinem Duellgegner erfuhr. Meĉins Geschichte endet damit, dass der tief Enttäuschte einen militärischen Auftrag übernimmt und von einem längeren Frontaufenthalt zurückgekehrt im Kaukasus seine Geliebte wiederfindet, die inzwischen an Schwindsucht erkrankt ist und ihren Tod erwartet. Mit der kompositionellen Anlage aus Rahmen- und Binnenerzählung, die den Wechsel vom Er- zum Ich-Erzähler impliziert, ist Bestuņev-Marlinskij auf dem Weg zur Entwicklung einer differenzierteren, individuellen Erzählperspektive, um die sich schon Karamzin bemüht hatte und die dann erst Puńkin zur Vollen-

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dung führen sollte. Auch Ryleev experimentierte in dieser Hinsicht, als er in den Rahmen von „ĈudakŖ zwei Briefe einfügte, verfasst von dem Titelhelden, dem „sonderbaren MenschenŖ, und seinem „scherzenden FreundŖ. Der Übergang vom Außen- in den Innenteil Ŕ seien es die Briefe oder die Erzählung Meĉins, die „Geschichte des MedaillonsŖ Ŕ bedeutet, dass jeweils aus der begrenzten Sicht einer am Geschehen beteiligten Person berichtet wird. Oberstleutnant Meĉin versetzt sich in die damalige Lage und erzählt ohne Kenntnis des Gesamtvorgangs und ohne das nachträgliche Wissen um die Wendepunkte und den unglücklichen Verlauf der Liebesgeschichte. Er liebte und fühlte sich auch wiedergeliebt. Aber erst erfuhr er, dass sich Sofija und der Hauptmann, sein Duellgegner, in der Zeit seiner schweren Verwundung verlobt haben (äußerer Wendepunkt), und später begriff er durch das Medaillon mit dem Bildnis Sofijas, das der Hauptmann an seinen Freund Vladov verspielt hatte, dass die Ehe offensichtlich gescheitert ist (innerer Wendepunkt). War im novellistischen Erzählen bisher die zentrale, die Peripetie bewirkende Begebenheit an die Fabel gebunden oder im Dialog enthalten, so schafft Bestuņev-Marlinskij, indem er mit dem Medaillon ein Dingsymbol einführt, eine Dialog wie Erzähler entlastende indirekte Motivierung.12 Das Medaillon, das Meĉin, von Vladov überreicht, auf seiner Brust trägt und das ihn bei den Kämpfen im Kaukasus davor bewahrt hat, von einer feindlichen Kugel getötet zu werden, versinnbildlicht das Scheitern der Ehe und das traurige, in Krankheit und vorzeitigem Tod endende Schicksal der Heldin. Beides braucht daher nicht mehr eigens ausgeführt zu werden. Es ist in dem symbolhaltigen, weite Assoziationsräume eröffnenden Schmuckstück unausgesprochen präsent. Nicht nur die Ansätze zu der Erneuerung der Erzähltechnik, sondern auch der Versuch, die Gestalt des Erzählers und den Handlungsvorgang in einen umfassenderen sozialen und psychologischen Zusammenhang zu stellen, weisen in die Zukunft und werden in der Romantik und später im Realismus weiterentwickelt. Wichtig ist in dieser Hinsicht die Figur Vladovs, die etwas von der Funktion des Räsoneurs in der klassizistischen Komödie hat. Dieser Major im Ruhestand, ein Mann von edler Gesinnung und von leidenschaftlichem Charakter, jedoch kühlem Verstand, warnt seinen Freund Meĉin bereits zu Beginn der Affäre und rät ihm, seine Braut nicht in der „glänzenden WeltŖ zu suchen. Das fürstliche Haus, dem Sofija entstammt, werde für ihn zur „Büchse der PandoraŖ.13 Aber auch die Heldin wird zu einem Opfer der Klasse, der sie selber angehört. Der Arzt, der sie am Ende betreut, als sie im Sterben liegt, sieht die eigentliche Schuld bei einer Gesellschaft, die, gewissenlos und eigensüchtig, junge Mädchen „aus BerechnungŖ verheiratet. Die vornehmlich auf die Aristokratie zielende Gesellschaftskritik der „mondänen ErzählungŖ, bei dem einstigen Dekabristen Bestuņev-Marlinskij in dem Bedürfnis nach moralischer Erneuerung und Selbstvervollkommnung der Nation wurzelnd, entspringt bei Vladimir Odoevskij (1803Ŕ1869), dem bedeutendsten Vertreter des Genres in den dreißiger Jahren, einem spezifisch erkenntnistheoretischem Interesse. Der russische Vermittler Schellings, zusammen mit Vilřgelřm

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Kjuchelřbeker auch der Herausgeber des literarisch-philosophischen Almanachs „MnemozinaŖ (1824/25), fragt als Erzähler nach den Zusammenhängen zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen idealistischem Denken und gesellschaftlicher Realität. Sein Entwicklungsweg führt ihn dabei von den Apologen14, den gleichnishaften Kurzgeschichten, aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre zu jenen großen Gesellschaftsnovellen des folgenden Jahrzehnts. Der typische Held der frühen skizzenhaften Texte ist ein junger Adliger, der, ausgestattet mit deutlich autobiographischen Zügen, die aristokratische Lebensweise an den Idealen von Odoevskijs intellektuellem Zirkel der „WeisheitsfreundeŖ (Ljubomudry) misst und von diesem Maßstab her zu ihrer scharfen Verurteilung gelangt. Meist Arist genannt und wie ähnliche Figurentypen bei Ryleev und Bestuņev-Marlinskij mit dem Attribut „sonderbarŖ (strannyj) versehen, distanziert er sich von einer Klasse, in der er keine höheren moralischen Werte entdeckt und für die er aufgrund ihrer Selbstabkapselung keine Zukunft sieht. Über den Analysen seines Protagonisten, einer Vorform des bei Puńkin und Lermontov in die russische Literatur tretenden „überflüssigen HeldenŖ (lińnij ĉelovek), verlor der Verfasser seinen philosophischen Optimismus. Der durch Schelling genährte Glaube an jene Wirksamkeit des Weltgeists, der die in der Realität gestörte universale Harmonie wiederherstellt, ließ sich schwerlich mit der allgemeinen geistigen Lage in Russland unter der Herrschaft Nikolajs I. und im Besonderen nach der Niederschlagung des Dezember-Aufstands vereinbaren. Die wachsende Skepsis, die Odoevskij erfasste, führte in seinem literarischen Schaffen zu einer immer realitätsnäheren und differenzierteren Betrachtungs- und Darstellungsweise. Dementsprechend erweiterte er in seinen Erzählungen ab 1834 den früheren einfachen Dualismus, das Gegeneinander von Guter Gesellschaft und romantischem Individuum, zu einer komplexeren, zugleich kompositionell anspruchsvolleren und psychologisch vertieften Konstellation. In den Blickpunkt rückt jetzt der Bereich der Familie, mit dem die privaten Interessen und Wünsche des Adels und speziell dessen Hang zur Intrige enthüllt, persönliche Denk- und Verhaltensweisen aus der Klassenzugehörigkeit erklärt werden. Die Liebeshandlung, die bei Bestuņev-Marlinskij noch eine wichtige Funktion in der moralischen Entwicklung des Helden und in den Situationen seiner Bewährung und Entscheidung spielt, kann in diesem Zusammenhang entfallen. Odoevskij zeigt in den beiden, schon vom Titel her miteinander korrespondierenden Erzählungen „Knjaņna MimiŖ (Fürstin Mimi, 1834) und „Knjaņna ZiziŖ (Fürstin Zizi, 1839) am Beispiel der Titelfigur, dass die Entfaltung der Liebe im frühromantischen Verständnis Friedrich Schlegels oder Dmitrij Venevitinovs als Einheit seelischen und sinnlichen Erlebens und als gemeinschaftsbildende Kraft durch die Unterwerfung der Frau unter die familiären und gesellschaftlichen Konventionen verhindert wird. Fürstin Mimi, in der Erwartung einer vorteilhaften Verheiratung erzogen, wird, als sich die Erwartungen nicht erfüllen, zur klatschsüchtigen und intriganten Sittenwächterin. Über die schöne und erfolgreiche einstige Konkurrentin, die Baronesse Dauertalř, lässt sie das Gerücht

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verbreiten, dass diese die Geliebte Granickijs, eines Freundes des Barons, sei. Das führt zum Duell, in dem Granickij fällt, zur Verbannung des jüngeren Bruders, der den Baron vertritt, und zum Tod der Baronesse als Folge nervlicher Zerrüttung. Fürstin Zizi lebt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zusammen in Moskau, als der höhere Beamte Vladimir Gorodkov um Lidija, ihre Schwester, wirbt und sie heiratet. Selbst in Gorodkov verliebt, bleibt sie, die Verkörperung unendlicher Güte, bei der Familie, um die lebensuntüchtige und nach einer Fehlgeburt kranke Schwester zu unterstützen. Als sie jedoch erfährt, dass Gorodkov, der alle Bewerber um ihre Hand fernzuhalten weiß, sie nur wegen des Familienvermögens an sich bindet, prozessiert sie gegen ihn, was die Missbilligung der Gesellschaft findet. Die Rolle der Heldin bleibt ebenso zwiespältig wie die des Helden, der, von seinem Pferd zufällig zu Tode getreten, liebenswerter Ehemann und kaltblütiger Spekulant in einem ist. Die bloße Fabel verdeckt, dass Odoevskij, um Psychologisierung bemüht, den eigentlichen Konflikt in den Innenraum der Figuren verlegt. Geschildert werden Personen, die, im Bann der Konvention, ihre Selbstverwirklichung verfehlen. Die „Große WeltŖ (bolřńoj svet), nach der das Genre seinen Namen trägt, verhindert menschliche Reife, statt sie zu fördern. Damit illustriert der Erzähltypus „svetskaja povestřŖ15, der mehr der intuitiven Gewissheit als der politisch und soziologisch begründeten Erkenntnis seiner Verfasser entspringt, an zentralen Einzelschicksalen die innere Erstarrung einer ganzen, einst tragenden Schicht, die sich inzwischen selbst isoliert und ihre soziale wie kulturelle Funktion verloren hat. Die tieferen Probleme der restaurativen Ära Nikolaj I. sind hier freilich noch nicht erfasst, geschweige denn analysiert und diagnostiziert, aber literarisch ist der Weg geebnet, auf dem der große russische realistische Gesellschaftsroman entsteht, in dem die Biographie des Individuums nicht mehr darstellbar ist ohne gleichzeitige Analyse und Diagnose der gegebenen Verhältnisse. So erscheint es bezeichnend, dass Puńkins Versroman „Evgenij OneginŖ (1833), der die Tradition des Gesellschaftsromans in Russland begründet, in sich auch ein Stück „mondäner ErzählungŖ enthält. Das „Treiben der Großen WeltŖ (volnenře sveta)16, das Held und Heldin, Onegin und Tatřjana, gleicherweise verhasst ist, wird vom realen Autor, der über das erzählende wie erzählte Ich seine ständige Präsenz bekundet, in den Kapiteln I, VII und VIII humoristisch, ironisch und satirisch dekuvriert. Der enge Zusammenhang, in dem Puńkins „Enzyklopädie des russischen Lebens der zwanziger JahreŖ (Belinskij)17 und die „Erzählungen aus der ‚Großen Weltʻ Ŗ stehen, reicht bis zu motivischen Übereinstimmungen. Die Motive Duell und Ball, die in der Handlung des Romans einen entscheidenden Stellenwert und im Hinblick auf die beiden Protagonisten eine wichtige charakterisierende Funktion haben, werden von den Verfassern der Erzählungen durchgängig und auch in der gleichen Bedeutung als Symbole eines erstarrten und entleerten Lebens verwendet. Odoevskij, der im Sinne der romantischen Poetik die Grenzen des Genres immer wieder erweitert und zum Phantastischen hin verschiebt, hat in der Erzählung „BalŖ (Der Ball, 1833) das Motiv des Balls sogar zum Hauptgegenstand des

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Textes gemacht. Szenerie und Atmosphäre des Ballsaals werden zunächst im Stil der „mondänen ErzählungŖ entworfen. Der Ball selbst aber, eine Siegesfeier nach einem blutigen Sieg, wird zunehmend in verfremdender, verzerrender Darstellung wiedergegeben. Die Ballmusik, vom Kapellmeister unablässig beschleunigt, verliert ihr harmonisches Gleichmaß. Wimmernd gleiten die Bögen der Geigen über die gespannten Saiten, das Waldhorn tremoliert mit Grabesstimme, und der Schall der Pauken erklingt wie höhnisches Gelächter. Und in das „Grässlich-BezauberndeŖ der Ballmusik mischen sich tönende Erinnerungen an das Kriegsgeschehen, die den Gästen das Blut in den Adern erstarren und die Haare zu Berge stehen lassen: das „wilde Weinen des JünglingsŖ, das „Wimmern der Mutter, die ihr Kind verloren hatŖ, das „röchelnde Stöhnen des GreisesŖ und „all diese Stimmen des mannigfaltigsten menschlichen SchmerzesŖ. Das Fest wird zum Gegenfest. Die Überlagerung und wechselseitige Durchdringung der Bilder findet ihre letzte Steigerung in der schauerlich-grotesken Metamorphose der sich in Skelette verwandelnden Tanzenden: „Wenn man durch die nebligen Schwaden in die Menge schaut, scheint es, als ob nicht Menschen tanzten. In der schnellen Bewegung fliegen von ihnen die Kleidung, die Haare, der Körper weg, und es tanzen Skelette, die mit ihren Knochen aneinander schlagen. Und über ihnen unter derselben Musik tanzt eine Reihe weiterer Ŕ zerbrochener, verunstalteter Ŕ Skelette, doch im Saal merkt niemand etwas davon. Alle tanzen und vergnügen sich, als ob nichts wäre.Ŗ18 Dieser Tanz der Skelette19, ein in der europäischen Romantik nicht selten begegnendes Motiv, versinnbildlicht hier ein weiteres Mal die Hohlheit und Brüchigkeit des svet, dessen adlige Repräsentanten nicht einmal durch den Krieg aus ihrer Lethargie und Gleichgültigkeit gerissen werden.20 Man tanzt. Aber, daran lässt die Art der Darstellung keinen Zweifel, der Tanz auf der Siegesfeier ist in Wirklichkeit ein Totentanz, in dem nicht nur das Ende einer gesellschaftlichen Klasse, sondern auch die Gefährdung der Menschheit überhaupt bildhaften Ausdruck findet. Odoevskij hat wie kein anderer russischer, ja europäischer Schriftsteller seiner Zeit Ŕ das belegen außer „BalŖ weitere Texte21 Ŕ die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt. Das Motiv des Balls und das Thema Mensch und Katastrophe sind auch in einer anderen, ebenfalls ins Phantastische spielenden „mondänen ErzählungŖ Odoevskijs verknüpft, die ein Jahr nach „BalŖ, 1834, in dem Almanach „DennicaŖ erschien. Die katastrophische Bedeutung, die dort der Krieg hat, übernimmt hier die Überschwemmung. Bereits der Titel „Nasmeńka mertvecaŖ (Das Lächeln des Toten) signalisiert die wechselseitige Übergänglichkeit von Realität und Irrealität. Die Heldin der Erzählung, eine junge Dame aus der höheren Gesellschaft, die mit ihrem Mann, einem Fürsten, auf der Fahrt zu einem Ball ist, begegnet unterwegs einem Leichenzug und erkennt entsetzt in dem Toten ihren einstigen Geliebten. Beim Tanz im Ballsaal steigt ihr dann, als sie an die unerwartete Begegnung denkt, das Blut immer mehr in den Kopf, und die „hölzerne HandŖ ihres Gatten, eines Mannes in mittleren Jahren, gemahnt sie unentwegt

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an die „feurige HandŖ des entflammten Jünglings, den sie verraten und dessen aufrichtige Liebe sie der „guten PartieŖ geopfert hatte. Seine Leidenschaft hatte sie einen „Ausbruch der EinbildungŖ, sein zerquältes Leiden eine „momentane GeisteskrankheitŖ, das Flehen seiner Blicke eine „modische poetische LauneŖ genannt und dabei ihre Berechnung als „TugendŖ und ihre Heuchelei als „VernunftŖ gerechtfertigt.22 Wieder steht die romantische Liebe als schwärmerisches, aber selbstloses hohes Gefühl gegen das kalte, rechnende gesellschaftliche Denken. Der Ballsaal erweist sich als symbolischer Ort. In der Beschreibung der Tanzenden werden zugleich die Gesellschaft und ihre zeitgenössischen Repräsentanten vergegenwärtigt: „Beim lustigen Motiv des Kontretanzes werden tausend Intrigen und Netze gesponnen und wieder aufgelöst; Unmengen schmeichlerischer Aeroliten kreisen um den Eintagskometen; der Verräter verneigt sich demütig vor seinem Opfer; hier ertönt ein nichtssagendes Wort, das einen tiefgründigen langjährigen Plan weiterführt, dort gleitet ein Lächeln der Verachtung über ein wundervolles Gesicht und lässt den bittenden Blick des Gegenübers zu Eis erstarren.Ŗ23 An dieser Stelle, an der die negative Sicht der Aristokratie in einem einzigen großen Bild gipfelt, nimmt der Text eine unerwartete Wendung. Die „mondäne ErzählungŖ wird zu einer phantastischen Erzählung. Das Wasser im Fluss, von dem es eingangs heißt, es trete bereits über die Ufer, dringt plötzlich als sintflutartige Überschwemmung durch Türen und Fenster des Ballsaals und reißt alles, Menschen wie Dinge, mit sich fort. Hereingespült wird auch der offene schwarze Sarg. Die starren Augen des Toten sind voll Vorwurf und Spott auf die junge Schöne gerichtet, die, von Entsetzen gepackt, fast ohnmächtig nach dem Sargrand greift. Sein Kopf berührt ihr Gesicht, und er lächelt, ohne die Lippen zu öffnen. Dann werden beide, allein im Wirbel der Elemente, von den Fluten davongetragen. Kurz darauf erwacht die Heldin im Bett, und das irreale Geschehen enthüllt sich als Traum. Der Traum ist ein Alptraum. Aber er hat keine läuternde Wirkung auf die Träumende. Diese bleibt, was ihr der Tote durch sein Lächeln mitzuteilen scheint: die „vernünftige LizaŖ. Sie entsagt endgültig der romantischen Liebe. Statt junger Männer mit „Träumen, Gefühlen und GedankenŖ will sie jetzt nur noch jemanden empfangen, der „ohne AnspruchŖ ist und ihr von „Klatscherei, Bällen und SoireenŖ zu berichten weiß.24 Die Verwandlung in die Dame von Welt ist am Ende komplett. Der Traum, der die Vergangenheit noch einmal lebendig machte, bot die letzte, jedoch nicht ergriffene Chance der Selbstbefreiung aus der Bindung an Klasse, Vernunft und Nützlichkeitsdenken. Wie die im selben Jahr entstandene Erzählung „Knjaņna MimiŖ versteht sich auch „Nasmeńka mertvecaŖ über die gesellschaftskritische Intention hinaus als novellistisches Gleichnis verfehlten Lebens. Der Einbruch des Irrealen ins Reale, der hier im Unterschied zu „Knjaņna MimiŖ erfolgt, verschärft dabei Ŕ wie schon in „BalŖ Ŕ das für die Romantiker zentrale Problem von Eigentlichkeit und Uneigentlich-

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keit, in dem sich letztlich nichts anderes verbirgt als der alte Gegensatz von Sein und Schein. Die Aufnahme phantastischer Elemente bei Odoevskij belebte das Genre der „svetskaja povestʼŖ zu einem Zeitpunkt, als es sich allmählich zu erschöpfen begann. Mit der satirischen Darstellung der mittleren und höheren Aristokratie, der moralischen Verurteilung des svet, der Vertiefung psychologischer Charakterporträts und der Experimente in Sprache, Stil und Komposition hatte es einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der russischen Erzählprosa geliefert. Seit Mitte der dreißiger Jahre meist nur noch von drittrangigen Autoren wie Mańkov, Emiĉev, Timofeev, Sumarokov oder Marija Ņukova gepflegt25 und von Osip Senkovskij bereits parodiert26, sank es auf die Ebene der Trivialliteratur herab. Eine Ausnahme bildet die Sammlung „Tri povestiŖ (Drei Erzählungen), die Nikolaj Pavlov (1803Ŕ1864) 1835 veröffentlichte und die, von Ĉaadaev als „EreignisŖ gefeiert27, große Aufmerksamkeit bei Kritik und Leserschaft fand. Handelt die erste Erzählung, „AukcionŖ (Die Auktion), an Odoevskij erinnernd, von einem Helden, dem jungen T., der einst von der Fürstin… verlassen worden ist und sich jetzt, empört über die Gefühlskälte der Geliebten, vergeblich an ihr zu rächen versucht, gibt die zweite, „JataganŖ (Der Jatagan), einen Einblick in die Lebensweise der aristokratischen Provinzgesellschaft und verurteilt den überholten Standesdünkel des adligen Offizierskorps, der den Kornett Bronin zu zwei Duellen treibt und anschließend beim Spießrutenlauf zu Tode kommen lässt. Die dritte Erzählung, „ImeninyŖ (Der Namenstag), geht über die Schilderung der „Großen WeltŖ hinaus, indem sie das traurige Schicksal eines leibeigenen Musikers in den Mittelpunkt rückt. Dieses Schicksal beschränkt sich nicht auf den sentimentalistischen Konflikt der am Klassengegensatz scheiternden Liebe des Helden zu der Tochter seines Herrn, eines reichen landbesitzenden Adligen. Vielmehr wird mit seiner Darstellung eine Welt erschlossen, die Leibeigene, wenn sie über künstlerische oder andere besondere Fähigkeiten verfügen, zu „je tausend Rubel pro StückŖ28 verkauft, die also mit Menschen wie mit Waren handelt und Geschäfte macht. „Ich war weniger wertŖ, sagt der Held, inzwischen beim Militär, „als ein getöteter Soldat, als ein vernageltes Geschütz, als ein zerbrochenes Bajonett oder als eine gesprungene Saite.Ŗ29 Deshalb kann ihm auch noch Erniedrigenderes passieren als verkauft zu werden. Er wird verspielt. Nach dem misslungenen Versuch, den neuen Gutsherrn zu töten, muss er fliehen und streift als entlaufener Leibeigener „wie KainŖ durch das Land. Dem Scheitern der Liebe folgt das Scheitern des Künstlerseins. Denn der Umherirrende wird verurteilt, Soldat und das heißt „Diener des Todes, nicht der MenschenŖ30 zu werden. Mit der Darstellung des Leibeigenenschicksals, genauer, des Schicksals der sogenannten krepostnaja intelligencija31, reihte sich Pavlov in eine literarische Tradition ein, die in Russland Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Kapitel „GorodnjaŖ in Radińĉevs „Puteńestvie iz Peterburga v MoskvuŖ (Reise von Petersburg nach Moskau, 1790) eingeleitet und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Erzählungen wie „MarijaŖ (1818) von Nareņnyj oder „Katja, ili Isto-

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rija vospitannicyŖ (Katja oder Die Geschichte eines Zöglings, 1834) von Odoevskij fortgesetzt wurde. Von dieser Tradition hob sich „ImeninyŖ dadurch ab, dass der leibeigene Held jetzt ein Künstler ist. Die Kombination von Leibeigenschafts- und Künstlerthematik war neu in der Romantik. Sie findet sich erst im Realismus wieder. Neben der kleinen Novelle „Krepostnoj chudoņnikŖ (Der leibeigene Künstler) von Nestor Kukolřnik, die 1857 entstand und 1909 posthum erschien, sind hier vornehmlich Gercens „Soroka-vorovkaŖ (Die diebische Elster, 1846) und Leskovs „Tupejnyj chudoņnik (Der Toupetkünstler, 1883) zu nennen, zwei bedeutende Erzählungen, die beide in die spezielle Atmosphäre des Leibeigenentheaters führen. Das außerliterarische Vorbild für den Handlungsschauplatz war hier wie dort das Theater der Grafen Kamenskij. Bei Gercen handelt es sich um eine historisch verbürgte, von dem bekannten Schauspieler Ńĉepkin überlieferte Episode, bei Leskov um eine offenbar ausgedachte Begebenheit, die jedoch an dem dargestellten Ort hätte geschehen können und somit als nicht weniger wahr gelten kann. Um den Wirklichkeitsgehalt und Wahrheitsanspruch der Fiktion geht es auch schon dem Romantiker Pavlov. Deshalb kleidet er, um dies zu unterstreichen, wie Gercen und Leskov die eigentliche Geschichte in einen beglaubigten Rahmen: Ein Ich-Erzähler berichtet, dass er von einem Bekannten, den er N. nennt, ein Manuskript mit der Bemerkung erhielt, darin sei von einem seiner Freunde ein „ziemlich seltsames GeschehenŖ aufgezeichnet. Aufgezeichnet hat der Manuskriptverfasser, der in Wirklichkeit niemand anderes als N. selber ist, was ihm bei einer Übernachtung in einem Rjazaner Gasthof der durchreisende Stabsrittmeister S. mündlich erzählt hat. Diese Erzählung in der Ichform ist der Lebensbericht des leibeigenen Helden von der Herkunft und der musikalischen Ausbildung an über die schicksalhafte Begegnung mit der Geliebten auf der Namenstagfeier ihrer Großmutter bis zur Flucht, zum Soldatendasein und zum Aufstieg in den Offiziersrang. Das Ganze endet, bezeichnend für die Romantik und ihre Freude an der verblüffenden Pointe, mit einer Überraschung: Als Gast von N., der ihn zum Namenstag seiner Frau eingeladen hat, erkennt der Stabsrittmeister in der Frau des Hauses seine ehemalige Geliebte Aleksandrina. Gleichzeitig findet die Frage des Offiziers, ob die Geliebte den Schwur gehalten habe, keinen anderen als ihn zu lieben, eine positive Antwort. Aleksandrinas Erbleichen und Schwanken bei seinem Anblick ist bei aller Indirektheit ebenso eindeutig wie die Bemerkung von N. am Ende seines Manuskripts, dass er einmal sah, wie „sie verstohlen weinteŖ. Letzterer, überzeugt „Für mich... und ihn war kein Platz unter der SonneŖ32, fordert den Stabsrittmeister zum Duell und verletzt ihn dabei tödlich. Trotz so eindeutig romantischer Themen, Motive und Verfahren wie Liebesschwur, Künstlergenialität, Duelltod und schicksalhafter Wendepunkt weist Pavlovs „ImeninyŖ insgesamt einen starken Wirklichkeitsgehalt auf. Handlung und Figuren sind fest eingebettet in einen historisch-konkreten, unter sozialpsychologischen Aspekten dargestellten Kontext. Das rückt „ImeninyŖ, ungeachtet ein-

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zelner Elemente aus der „mondänen ErzählungŖ und der Künstlererzählung, in die Nähe der sogenannten „realen ErzählungŖ (realřnaja povestř)33, jener Form epischer Kurzprosa, die seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre verstärkt den Alltag unterer Volksschichten und die Überschreitung der Klassenschranken als darstellenswert zeigte und auf diese Weise den Weg zum Frührealismus der „Natürlichen SchuleŖ (Naturalřnaja ńkola) der vierziger Jahre bereitete. Bei Pogodin, dann auch bei Polevoj, Velřtman oder Dalř wird Erzählen zu dem, was man in Russland bytopisanie nennt: zu einem Aufzeichnen der Lebensweise einfacher Menschen. Der romantischen Poetik verhaftet, erzählen die bytopisateli dramatische, auf einen Wendepunkt zugeschnittene Begebenheiten aus dem Leben eines Helden niederen Standes. Die Novelle, die Michail Pogodin (1800Ŕ1875), Herausgeber des „Moskovskij vestnikŖ, wie Pavlov leibeigener Herkunft, 1826 in dem Almanach „UranijaŖ unter dem programmatischen Titel „NińĉijŖ (Der Bettler) veröffentlichte, enthält die Lebensgeschichte eines Mannes, der, geboren als Sohn eines nicht unbegüterten Bauern, nach arbeitsreicher, erfüllter Jugend um die Tochter des Dorfältesten freit und der, als seine Braut kurz vor der Hochzeit vom Gutsherrn entführt wird und sein Anschlag auf den Entführer fehlschlägt, zum Strafdienst in der Armee verurteilt wird, dort fünfundzwanzig Jahre dient, sich danach als Knecht bei einem Popen verdingt, um schließlich in Bettelarmut zu enden. Ehe der Bettler selber das Wort erhält, damit er persönlich die Geschichte seiner Glückswendung berichten kann, reflektiert das vermittelnde Ich im Rahmeneingang über die Wirklichkeitsnähe des Erzählten als Legitimation des Erzählens: „Es ist eine alte, liebe Gewohnheit von mir, in der Volksmenge umherzuschlendern, die Gesichter und Gestalten meiner braven Landsleute zu betrachten und ihren Reden und Gesprächen zu lauschen.Ŗ34 Der Erzähler verdankt dabei seinem offenen Blick für die Banalität des Alltagswirklichen die Bekanntschaft mit dem Helden seiner Erzählung und die Kenntnis von einem bewegenden menschlichen Schicksal aus der unteren Schicht der Gesellschaft. Die Zuwendung zur Realität in der Form eines paradigmatischen Einzelfalls erfordert, um der Glaubwürdigkeit willen, eine besondere Beachtung der Realien. So wird die Stelle, wo sich der Bettler täglich aufhält, in der Pokrovka „an der Ecke neben der Auferstehungskirche bei der KaserneŖ topographisch genau bezeichnet, und die ausführliche, detaillierte Beschreibung der äußeren Erscheinung der Gestalt erfasst die grauen Strähnen im dunklen Haar, das Dichte, Buschige der Brauen und das Zerfurchte der Stirn ebenso wie die Fetzen des abgeschabten Schafpelzes unter dem schmutziggrauen Bauernrock, den dicken Strick als Gurt um den Leib und die unter die Achsel geklemmte abgewetzte, farblose Plüschmütze mit Pelzrand. Auch im Monolog Egors, wie der Bettler heißt, der auf einen Knotenstock gestützt, an einer Hausecke lehnt, bleibt das Gegenständliche wichtig, werden einfache und glaubwürdige Tatsachen geschildert, erscheinen Personen und Zustände in klarer, übersichtlicher Ordnung. Der Alte bewahrt im emotionalen Rückblick auf sein trauriges Schicksal immer auch den Blick für den umgebenden Alltag, seine Dinge

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und seine Vorgänge: den Alltag der Arbeit (Mähen, Pflügen, Eggen und Säen) und den Alltag des Feierabends (Liedersingen, Reigentanzen, Fangenspielen, Märchenerzählen, Mit-den-Mädchen-Scherzen). Selbst bei der Schilderung höchster seelischer Anspannung vergisst der zögernd sich öffnende Sprecher, der seinen Schmerz lange in sich verschlossen hatte, nicht das Faktische. So teilt er mit, wie er, zur Tötung des Gutsherrn entschlossen, zuerst das Messer ausprobiert, an einem Stein wetzt und dann in die Kirche geht, um ein Gebet an den heiligen Nikolaus zu richten.35 Wirklichkeit bedeutet in einer Erzählung wie „NińĉijŖ kein abstraktes Schema mehr, sondern einen konkreten, mit dem Realismus der Anschauung gefüllten Rahmen, in dem sich lebendige Menschen handelnd bewegen. Zwar ist die neue Realistik nicht frei von Sentiment, wenn zum Beispiel der alte Bettler, von der Erinnerung an das verlorene Glück überwältigt, mit Tränen in den Augen berichtet und der zuhörende Erzähler ihn voller Mitleid betrachtet und am Ende das Angebot macht, ihn als Kostgänger bei sich aufzunehmen. Aber der seelenkundige Blick des Autors, die Bedeutung der psychologischen Einzelheiten, die Wahrheit des Kleinen, die Verflechtung des Sozialen mit dem höchst Persönlichen, der Entwurf eines Typus des Deklassierten und das Bewusstsein des Deklassiertseins Ŕ all dies weist schon über die Romantik hinaus in die Zukunft. Mit „NińĉijŖ hatte Pogodin der russischen Erzählkunst, ohne den Rahmen der Romantik in motivischer und poetologischer Hinsicht zu sprengen, einen fruchtbaren Weg gewiesen, den er zunächst weiterverfolgte, ehe sich ihm auch andere Autoren wie Polevoj anschlossen. In „Ĉernaja nemoĉřŖ (Die schwarze Krankheit), 1829 als Einzelausgabe erschienen, die vielleicht bedeutendste seiner „realen ErzählungenŖ, verzichtete er, romantisches Charakterbild und sentimentalistische Fabelelemente mit realistischer Milieu- und Dialoggestaltung verbindend, auf die übliche Liebesintrige, erhob aber das Heiratsmotiv zur Ursache der Katastrophe: Der Moskauer Kaufmannssohn Gavrilo, der seiner Tätigkeit als Verkäufer überdrüssig ist und deshalb ein Universitätsstudium anstrebt, nimmt sich das Leben, als er trotz energischen Protests und der Fürsprache eines Popen gezwungen werden soll, die Tochter des reichen Kaufmanns Kuliĉev zu heiraten. Durch die Gedichte Ņukovskijs zur geistigen Beschäftigung angeregt, zieht der Wissbegierige die Befriedigung seines als „schwarze KrankheitŖ diffamierten Bildungsdrangs der von den Eltern bestimmten Kaufmannskarriere vor. Er rebelliert gegen die Geistlosigkeit und den Materialismus seines Standes, scheitert jedoch letztlich an der Starrheit und mangelnden Einsicht seiner Umwelt. Scheiternde sind sie fast alle, die Protagonisten der „realřnaja povestřŖ, der Schauspieler Zareckij in Aleksandr Velřtmans (1800Ŕ1870) „Neistovyj RolandŖ (Der rasende Roland, 1834), der von den Honoratioren eines Städtchens erst für den Generalgouverneur gehalten, dann verhaftet und ins Irrenhaus gesteckt wird, der Provinzbeamte Lirov in Vladimir Dalřs (1801Ŕ1872) „BedovikŖ (Der Pechvogel, 1839), der auf der Suche nach einer neuen Stelle in Moskau oder Petersburg durch Russland reist und, nachdem er mehrmals die Reiseroute geändert

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hatte, erfolglos an seinen Heimatort zurückkehrt, oder der Dorfschreiber in Nikolaj Polevojs (1796Ŕ1846) „Rasskazy russkogo soldataŖ (Erzählungen eines russischen Soldaten, 1834), der, wie der Bettler in Pavlovs „ImeninyŖ den abwechslungsreichen Verlauf seines Lebens selber erzählend, in einer armen Bauernfamilie aufwächst, die Braut eines der Söhne des Dorfältesten heiratet, Frau und Sohn durch eine Pockenepidemie verliert und aus Verzweiflung für seinen Bruder unter die Soldaten geht, an den Napoleonischen Kriegen und der Kampagne gegen die Schweden teilnimmt, wo er ein Bein verliert, und schließlich, als Invalide heimgekehrt, mit Hilfe seines ehemaligen Regimentspopen einen Posten als Schreiber in einem Dorf unweit von Kursk erhält. Solche Erzählungen „realerŖ Art, wie sie sich in den dreißiger Jahren auch noch bei Ivan Panaev (1812Ŕ 1862)36 oder Vladimir Sollogub (1813Ŕ1882)37 und anderen Schriftstellern finden, erschlossen die ganze Spannweite des russischen Volkslebens. Durch Rahmung und Wendepunkte novellistisch geschlossen, durch Alltagsschilderungen, Reisebeschreibungen, Berufsporträts sowie Annäherungen an die Volkssprache mit ihrer Vorliebe für Redensarten, Sprichwörter und Abschweifungen schon die „SkizzeŖ der „Natürlichen SchuleŖ ankündigend, machen sie, in der Regel vom Abstieg und nicht vom Aufstieg eines Menschen handelnd, durch die dargestellten Personen und die Art und Weise der Darstellung unmissverständlich deutlich, welche Mächte das Zeitalter bestimmen. Sie zeigen: Die soziale Bedingtheit steht als Hauptursache dafür ein, dass der Mensch als Mensch missachtet wird und der Mensch über den Menschen verfügen kann. Zwar wird die russische Wirklichkeit als politische, soziale, ökonomische Gesamtwirklichkeit erst im realistischen Gesellschaftsroman der sechziger und siebziger Jahre umfassend gestaltet, dafür war aber die als epische Kurzform flexiblere und anpassungsfähigere Erzählung schon früh in der Lage, auf das Erscheinen der ersten Romane von Stendhal und Balzac um 1830 zu reagieren und die kritische Behandlung der eigenen gesellschaftlichen Situation als neue, zeitgemäße Aufgabe zu empfinden und in wachsendem Maß zu nutzen. Ohnehin war zu dem durch die Kriege gegen Napoleon erneuerten Geschichtsbewusstsein, das sich in der nachkaramzinschen historischen Erzählung niederschlug, spätestens seit dem Dezember-Aufstand von 1825 ein ausgeprägtes Gesellschaftsbewusstsein getreten. Seinen Ausdruck fand es sowohl in der „mondänenŖ als auch in der „realenŖ Erzählung, der Erzählung aus der Großen Welt und der Erzählung aus dem Volksleben. Da das autokratische System Russlands, das über einen ausgeklügelten Zensur- und Polizeiapparat verfügte, offene Kritik, auch im Rahmen der Literatur, nahezu ausschloss, wählte man versteckte Formen des Kritisierens. So schilderte man beispielsweise den besonderen Fall, etwa den Akt gutsherrlicher Willkür, zeigte also das Einzelne, meinte aber das Ganze. Erzählte Wirklichkeit war von nun an immer auch verneinte Wirklichkeit. Die Epik des Realismus hat so hier ihren Ursprung. Zwischen 1820 und 1840, in der Epoche der Romantik, erfuhr die Erzählung insgesamt in Russland einen großen Aufschwung. Im Unterschied zum Roman,

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der in seiner Entwicklung eher stagnierte, gelangte sie jetzt zu voller Entfaltung und wurde zur führenden epischen Gattungsform. Sehr viele Autoren, die in diesen beiden Jahrzehnten debütierten, traten vorwiegend als Verfasser von Erzählungen in Erscheinung. Das gilt für Bestuņev-Marlinskij, Somov und Odoevskij ebenso wie für Pogodin und Pavlov sowie für Velřtman, Dalř und Sollogub. Sie alle erschlossen neue Stoffe und Themen, entwickelten neue Formen, Strukturen und Genres und entdeckten neue sprachliche Möglichkeiten. Was aber bei jedem fehlte, war ein unverwechselbarer eigener Ton und ein jeweils individueller Prosastil. Beides entstand, ohne dass es eine unmittelbare Wirkung auf die schreibenden Zeitgenossen hatte, Anfang der dreißiger Jahre im Schaffen Aleksandr Puńkins und Nikolaj Gogolřs. V. Die Schaffung eines individuellen Prosastils bei Puškin und Gogol’ „Bei uns gibt es noch keinen Erzählstil, nicht für Romane und nicht für ErzählungenŖ, schrieb Orest Somov in seinem „Überblick über die russische Literatur für das Jahr 1828Ŗ1, veröffentlicht in der Zeitschrift „Severnye cvetyŖ. Doch weder er noch die anderen Prosa-Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre, die in den Almanachen „Poljarnaja zvezdaŖ, „MnemozinaŖ und „DennicaŖ und in Zeitschriften wie „Severnye cvetyŖ, wie „Severnaja pĉelaŖ oder „Moskovskij telegrafŖ publizierten, waren in der Lage, den Mangel zu beheben. Obwohl sie in dem Bewusstsein schrieben, dass eine „gute ProsaŖ das „dringendste BedürfnisŖ für das lesende Publikum sei2, und das Handwerk des Erzählens bis zur Perfektion beherrschten, blieben sie doch Exponenten eines übergreifenden Epochenstils. Die Entwicklung eines ausgeprägten Individualstils, der sich ästhetisch wie literarisch deutlich von der allgemeinen Gattungsentwicklung abhebt, war einzig und allein Puńkin und Gogolř vorbehalten. Auf dem Weg zu diesem Stil grenzte Puńkin, deutlicher als Gogolř, von Anfang an Vers und Prosa strikt voneinander ab. „Die Prosa erfordert Gedanken und nochmals GedankenŖ, hatte er schon 1822 notiert, „ohne sie sind die glänzendsten Formulierungen gar nichts wert. Bei Versen ist das ganz anders.Ŗ3 Auch darüber, wie die vom Vers unterschiedene Prosa zu organisieren sei, war sich Puńkin frühzeitig im Klaren: durch die Mittel von „GenauigkeitŖ (toĉnostř), „KürzeŖ (kratkostř) und „EinfachheitŖ (prostota).4 Auf Vorbilder konnte er in dieser Hinsicht nicht zählen. Karamzin hatte zwar dem Wort eine gewisse Leichtigkeit gegeben und die alte schwerfällige Syntax aus den Zeiten der kirchenslavisch geprägten Literatursprache durch Verzicht auf entbehrliche Konjunktionen und umständliche Inversionen überwunden. Doch sein Stil stand insgesamt noch, dem sentimentalen Inhalt entsprechend, unter der Wirkung eines zentralen, dem Rokoko entstammenden Prinzips, das im Französischen „agréableŖ, im Russischen „prijatnyjŖ heißt und soviel wie „angenehmŖ, „anmutigŖ, „gefälligŖ bedeutet.5 So konnte Puńkin sagen, Karamzins Prosa sei die „beste in unserer LiteraturŖ, aber zugleich hinzufügen: „Das ist noch kein großes Lob.Ŗ6

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Puńkin, der das sentimentalistische Grundprinzip der „prijatnostřŖ, das auf der sprachlichen Ebene die Vorherrschaft des Wohlklangs und die bevorzugte Verwendung schmückender Elemente durch größtmögliche Schlichtheit und Natürlichkeit ersetzte, entwickelte seinen Prosastil trotz der scharfen Unterscheidung von Prosa und Vers auf der Grundlage seiner Versstruktur.7 Das bestätigt sich unter anderem darin, dass nicht wenige seiner Gedichte aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine auffällige Tendenz zum genauen und kurzen Satz sowie zur direkten Wortfolge aufweisen.8 Und umgekehrt finden sich in der Prosa des im schöpferischen Herbst des Jahres 1830 entstandenen „BelkinŖ-Zyklus mathematische und architektonische Verhältnisse, die ihren Ursprung offenkundig in Puńkins Verssprache haben.9 So wie dessen Hauptvers, der vierfüßige Jambus, nicht im Lied, sondern in der gesprochenen Rede wurzelt10, basiert seine Prosa, die, lexikalisch und syntaktisch vereinfacht und verknappt, weitgehend ohne rhythmische Raffinessen und ohne rhetorische Kunstgriffe auskommt, auf dem, was er „GeplauderŖ (boltovnja) nannte und was er schon 1825 Bestuņev-Marlinskij als Mittel zur Überwindung des weitverbreiteten deklamatorischen Erzählstils empfohlen hatte.11 Es war dann Puńkin selbst, der die eigene Empfehlung verwirklichte und mit seinen „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ, vorbereitet durch den Versroman „Evgenij OneginŖ und die Versnovellen „Graf NulinŖ und „Domik v KolomneŖ (Das Häuschen in Kolomna), die „geschwollene ProsaŖ12 der Vorgänger wie der Zeitgenossen durch eine neue Art von Prosa ablöste, eine Prosa, die das Postulat der „edlen EinfachheitŖ13 erfüllte. Wusste Puńkin bereits seit Lyzeumszeiten von seinem Rhetoriklehrer Końanskij, dass „jedes überflüssige Wort in der ProsaŖ eine „Last für den LeserŖ ist14, konnte der Verfasser der „DikanřkaŖ-Erzählungen, Nikolaj Gogolř, nicht genug Worte finden, um den Leser in den Bann eines unaufhörlichen Redeflusses zu ziehen, ihn, ständig den Rhythmus wechselnd, auf immer neue Um- und Abwege zu führen und dabei einer Sprache auszusetzen, die, voller Windungen und Höhlungen, von einer eigenen Geräumigkeit15 war, durchtränkt mit Metaphern und Hyperbeln, Grobheiten und Dialektismen, logischen Fehlern, grammatikalischen Verstößen und stilistischen Ungereimtheiten. Diese ornamentale Sprache, die mühelos den Gegensatz des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks vereinigt und sich fortgesetzt zwischen den Ebenen des mittleren, hohen und niederen Stils hin und her bewegt, begründete eine Prosa, in der sich Friedrich Schlegels Begriff der „ArabeskeŖ erfüllte. Als „Indicazion auf unendliche FülleŖ16 bezeichnet und durch Merkmale wie „fantastische Fülle und LeichtigkeitŖ, „absichtliche Verschiedenheit und Einheit des KoloritsŖ und „Sinn für IronieŖ17 beschrieben, weist der von der arabischen Ornamentik hergeleitete Begriff über die Romantik hinaus auf die Moderne und meint das freie Schweifen der Einbildungskraft und das Vordringen der Phantasie in heterogenste Bereiche. Gogolřs arabesker Prosa, die ein ironisches Spiel mit den poetischen Formen treibt und auf die Wirkung von Überraschungsmomenten, Verfremdungseffekten und Sinn- und Stilbrüchen zielt, entsprang ein Erzählen, das nicht weniger intendiert

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als die Erfassung der Ganzheit des Lebens. Daraus erklärt sich auch die topographische Ausweitung des erzählten Kosmos von Zyklus zu Zyklus: zuerst, in „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ, die Welt des Dorfs, dann, im Zyklus „MirgorodŖ, die Welt der Kleinstadt, schließlich, in den Petersburger Erzählungen, die Welt der Großstadt. Der Individualstil Puńkins und Gogolřs, der in seiner Gegensätzlichkeit zuerst in den beiden großen Zyklen „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ18 und „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ zutage trat, hat nicht nur eine sprachliche Seite. Puńkins Einfachheit und Gogolřs Ornamentalität kommen jeweils auch im Stoff, in der Komposition und in der Erzählstruktur zur Geltung. In den fünf, von „A. P.Ŗ herausgegebenen Erzählungen eines fiktiven Autors Belkin, hinter dem sich der reale Autor Puńkin ironisch verbirgt, bildet die erzählte Geschichte keinen kontinuierlichen, lückenlosen Geschehenszusammenhang. Sie erscheint stattdessen in Gestalt einzelner Teile dieses Zusammenhangs: als Auswahl weniger Situationen, Ereignisse, Episoden, die als solche nicht einmal in extenso dargestellt werden. Und zwischen ihnen öffnen sich immer wieder große Leerstellen, in denen die Fortschritte von Zeit und Handlung sowie die Beweggründe der handelnden Personen häufig im Unbestimmten bleiben. Die Vertreter der zeitgenössischen Kritik19 konnten sich dies alles nicht anders als mit einem eklatanten Mangel an „ErfindungŖ erklären. Statt eines erwarteten geschlossenen sinnhaften Ganzen bemerkten sie lediglich „AnekdötchenŖ, „zufällige EreignisseŖ, „figürliche AusschmückungenŖ und vermissten eine verbindende „GrundideeŖ. Puńkins Technik der Aussparung, der Selektion, der Verkürzung war zu ungewohnt und der Zeit zu weit voraus, um sofort verstanden und akzeptiert zu werden. Noch nie wurde in Russland ein so hohes Maß an aktivem Leseverhalten gefordert. Es dauerte daher lange, bis man erkannte, dass die Belkinschen Erzählungen keineswegs inhaltlich dürftig und stilistisch kalt und trocken waren. Lev Tolstoj gehörte zu den ersten, die das Moderne und Beispielhafte dieser Schreibart entdeckten („Wie herrlich! So muss man schreibenŖ).20 Was der große Epiker allen russischen Schriftstellern zur Nachahmung empfahl und Ĉechov dann weiterentwickelte und zur Vollendung brachte, war ein Prosastil, in dem das Knappe, Einfache, Unausgeführte keine künstlerische Unzulänglichkeit ist, sondern die Voraussetzung für gedanklichen Reichtum. Es ist gerade der „paradoxe Zusammenhang von Einfachheit und SinnfülleŖ21, der das Neue und ganz Eigene bei Puńkin bildet. Im winzigen Detail und selbst in jeder Lücke verbirgt sich ein schier unerschöpfliches Bedeutungspotential. Puńkin lässt in seinem Erzählen immer wieder Raum für eine Fülle von Fragen. Dabei handelt es sich um Fragen, die meist keineswegs leicht oder eindeutig zu beantworten sind. So hat zum Beispiel die Frage, die sich bei der Lektüre von „VystrelŖ (Der Schuss), der ersten der fünf „Erzählungen BelkinsŖ, aufdrängt, weshalb der Held Silřvio nicht auf den Grafen schießt, von Anfang an, seit Ĉernyńevskijs Großmut-These, bis heute eine Unzahl von Deutungen und Deutungsvarianten gefunden.22

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Das heißt, der ganzheitliche Sinn einer Geschichte ist ebenso wie das psychische Geschehen, das die Kausalität der Vorgänge erklärt, in dem Zyklus „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ, aber auch in weiteren Prosawerken Puńkins nie direkt, vielmehr Ŕ wie Wolf Schmid treffend formuliert23 Ŕ lediglich „in absentiaŖ vorhanden. Mit dieser Erzähltechnik, bei der die Psychologie in der Implikation und nicht in der expliziten Darstellung liegt und das Prinzip der Selektion nicht nur die unausgeführten, sondern auch die ausgeführten Teile der Handlung betrifft, gelingt es, auf knappstem Raum, innerhalb weniger Seiten, ganze Lebensgeschichten zu vermitteln. „VystrelŖ enthält die Geschichte Silřvios, einer geheimnisvollen Gestalt von finsterer Wesensart, die es in der täglichen Übung des Pistolenschießens zu unglaublicher Kunstfertigkeit gebracht hat. Die Lebensgeschichte dieses ehemaligen Husaren, der eingangs, etwa 35 Jahre alt, eine offene Tafel für die jungen Offiziere eines Provinzregiments führt und von dem im Ausblick gesagt wird, er sei als Anführer einer Abteilung im griechischen Freiheitskampf gefallen, konzentriert sich um ein Duell, das in zwei, durch einen sechsjährigen Abstand getrennten Zeitphasen stattfindet. Der IchErzähler, selber einer der Regimentsoffiziere, berichtet von den Gesprächen mit jeweils einem der Duellanten. Im ersten Gespräch (Kapitel 1) schildert Silřvio den Anfang, im zweiten (Kapitel 2) der Gegner, ein Graf, das Ende des Zweikampfs, in dem Silřvio jedesmal, zuerst vorläufig und dann endgültig auf seinen Schuss verzichtet. Der eine Verzicht dient der Verzögerung und Steigerung des Rachegefühls, der andere wird mit Motiven begründet, die den Leser nicht überzeugen können und deshalb seiner Deutung überlassen werden. Auch die Lebensgeschichte Samson Vyrins in „Stancionnyj smotritelřŖ (Der Stationsaufseher), der vorletzten der fünf „Erzählungen BelkinsŖ, wird durch einen strengen kompositionellen Parallelismus strukturiert und unterliegt in ihrer Wiedergabe gleichfalls der Brechung durch verschiedene Erzählerstandpunkte. Den zwei Gesprächen zwischen dem Offizier und den Duellgegnern in „VystrelŖ entsprechen hier die drei Aufenthalte des Ich-Erzählers, eines empfindsamen Reisenden, auf der entlegenen Station***. Bei seinem ersten Besuch macht dieser die Bekanntschaft Samson Vyrins, eines rüstigen Witwers von etwa fünfzig Jahren, und dessen entzückender vierzehnjähriger Tochter Dunja, die ihn durch ihre Schönheit und Anmut tief beeindruckt. Als er einige Jahre später wiederkehrt, trifft er auf einen sichtbar gealterten, seelisch gebrochenen Mann, der ihm unter Tränen erzählt, dass Dunja mit einem durchreisenden jungen Husaren weggegangen und nie zurückgekommen sei. Beim dritten und letzten Besuch findet der Erzähler die Station geschlossen, erfährt aber, dass der Aufseher inzwischen gestorben sei und dass vor nicht allzu langer Zeit eine schöne Dame sein Grab aufgesucht und sich davor niedergeworfen habe. Die Beschränkung der Handlung auf drei Ŕ in „VystrelŖ auf zwei Ŕ exemplarische Situationen erlaubt eine starke Raffung der Geschichte, aus der sich wiederum eine extreme Verkürzung der Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit ergibt. In diesem Sinne fungiert die Zwei- und Dreizahl auch in anderen Texten

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des Zyklus als bestimmendes Mittel der Kompositions- und Erzähltechnik. Eine duale Struktur wie „VystrelŖ weist „GrobovńĉikŖ (Der Sargmacher) auf, der kürzeste der fünf „BelkinŖ-Texte, dessen zweiter Teil sich am Ende als Traum erweist. Auf der Feier zur silbernen Hochzeit des deutschen Schustermeisters Gotlib Ńulřc stoßen die Gäste, meist Handwerker vom Bäcker über den Schneider bis zum Buchbinder, auf ihre jeweilige Kundschaft an. Das bringt den Sargmacher Adrian Prochorov auf die Idee, seine eigenen ehemaligen Kunden einzuladen (1). Als er am nächsten Tag, nachdem er die Vorbereitungen für die Beerdigung der Kaufmannsfrau Trjuchina erledigt hat, gegen Abend in sein Haus zurückkehrt, empfangen ihn die Verstorbenen, teils bekleidet, teils als Skelett, unter Verbeugungen und Begrüßungen (2). Triadisch konstruiert wie „Stancionnyj smotritelřŖ sind „MetelřŖ (Der Schneesturm) und „Baryńnja-krestřjankaŖ (Fräulein Bäuerin), zwei Erzählungen, die, durch ähnliche Heldinnen, kokette Provinzfräuleins, verbunden, jeweils eine glücklich endende Liebesgeschichte aus dem Milieu des gutsbesitzenden Landadels zum Inhalt haben, wobei sich die eine aus einer Verwechslung, die andere aus einer Verkleidung entwickelt. In „MetelřŖ verlässt Marřja Gavrilova, die Tochter eines Gutsbesitzers, nach gründlicher Vorbereitung in einer stürmischen Winternacht unbemerkt das Elternhaus, um sich mit dem armen Fähnrich Vladimir Nikolaeviĉ heimlich trauen zu lassen (1). Während sie mit ihrer Zofe pünktlich den vereinbarten Ort, eine kleine unweit gelegene Holzkirche, erreicht, wo bereits der Priester und drei Trauzeugen warten, verfehlt Vladimir im Schneesturm den Weg und irrt die ganze Nacht durch die Gegend (2). Inzwischen wird ein zufällig an der Kirche vorbeifahrender junger Offizier für den erwarteten Bräutigam gehalten, hereingerufen und fälschlicherweise mit der halbohnmächtigen Braut getraut (3). In „Baryńnja-krestřjankaŖ verkleidet sich Liza, die Tochter des Gutsbesitzers Muromskij, als Bäuerin und gewinnt in dieser Maskierung das Herz Aleksej Berestovs, des Sohns eines mit ihrem Vater in altem Familienzwist lebenden Gutsnachbarn (1). Damit das Verkleidungsspiel bei Aleksejs Besuch in ihrem Elternhaus nicht durchschaut wird, maskiert sie sich erneut, diesmal als weißgeschminkte Rokokodame à la Madame Pompadour (2). Nachdem die Väter, durch einen unerwarteten Zwischenfall versöhnt, beschlossen haben, ihre Kinder zum gegenseitigen Nutzen miteinander zu verheiraten, löst sich die Verwicklung wie von selbst (3). Innerhalb der dualen und triadischen Konstruktion finden sich in den Belkinschen Erzählungen immer wieder komplementäre Situationen als durchgehendes Prinzip: die Wiederholung des Duells in „VystrelŖ, der Begegnung von Aufseher und Husar in „Stancionnyj smotritelřŖ, des Schneesturms in „MetelřŖ, der Verkleidung in „Baryńnja-krestřjankaŖ, aber auch die Spiegelung von Silberhochzeit und Totenfeier in „GrobovńĉikŖ. Die Zweiheit der komplementären Situationen, die entscheidend zu der narrativen und semantischen Dichte der Texte beiträgt, impliziert die „Aufspaltung der exklusiven Wendepunkt-SituationŖ24, wie sie für das klassische, von der romantischen Poetik übernommene Novellenverständnis charakteristisch ist. Damit entfällt die mähliche Entwicklung von der

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Exposition über die Steigerung zum Höhepunkt und vom Höhepunkt über die Peripetie zum Schluss. Es entsteht dafür die typische Sprung- und Lückenhaftigkeit, in der die Geschichte undargestellt weitergeht, wobei der Leser aufgerufen ist, sie kraft Intellekt und Phantasie zu komplettieren. Puńkin lässt den IchErzähler von „Baryńnja-krestřjankaŖ ausdrücklich darauf hinweisen, dass er bewusst verzichtet, „in allen Einzelheiten die Zusammenkünfte der jungen Leute zu beschreiben, ihre wachsende Zuneigung, ihr Vertrauen zueinander, ihre Interessen und GesprächeŖ.25 Und er schließt die Erzählung mit den folgenden Worten, die wiederum ein Stück immanenter Poetik enthalten: „Die Leser werden mich von der überflüssigen Pflicht entbinden, den Ausgang zu schildern.Ŗ26 Für Gogolř dagegen schien nichts überflüssig zu sein. Weglassen, Abkürzen, Verdichten war nicht seine Sache. Wenn Puńkins Erzähler in „GrobovńĉikŖ dem Leser vermittelt, dass er weder den langschößigen russischen Rock Prochorovs noch die europäische Aufmachung der beiden Töchter des Sargmachers zu beschreiben gedenke und damit von dem „BrauchŖ abweiche, „dem unsere Romanciers von heute huldigenŖ27, demonstriert Gogolř in „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ, dass ihm kein Wort zu viel und kein Detail zu uninteressant ist und dass er in der Wortfülle wie in der Detailgenauigkeit jeden Schriftsteller seiner Zeit zu übertrumpfen vermag. Er war „zu provinziellŖ, wie Sinjavskij wohl nicht zu Unrecht meinte, um „so einfach und so bündig zu erzählenŖ wie der Verfasser der „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ. Geprägt durch die Herkunft aus einem anderen, fremden Sprachmilieu und vom Bewusstsein ursprünglicher sprachlicher Inkompetenz, wird bei ihm das „EinfacheŖ, das bei Puńkin das höchste Stilideal bildet, „in eine für damalige Ohren ungehörige, nicht bloß bäuerliche, sondern mit Dialektismen gewürzte Grobheit umgemünzt, das gemächliche und gelassene Erzählen in die Unfähigkeit, von der Stelle zu kommen, der zwanglos lebhafte Vortrag in verbale ClownerieŖ.28 Diese „ungewöhnliche, outrierte ProsaŖ29 verlangt nach einer Erzählsituation, in der sie sich in ihrer Vielschichtigkeit voll entfalten kann. Deshalb begnügt sich Gogolř in seinem ersten Zyklus nicht mit einer narrativen Instanz, sondern schafft die Fiktion eines Herausgebers, des Imkers Rudyj Panřko, der an langen Winterabenden in seiner Hütte von den verschiedensten Personen die „erstaunlichsten DingeŖ gehört und diese mit eigenen Worten aufgezeichnet habe. Die fiktiven mündlichen Erzähler, mit denen Gogolř die Verwurzelung seines Erzählers in der Oralität thematisiert, unterscheiden sich sowohl standes- als auch bildungsmäßig, und einer von ihnen, der Küster Foma Grigorřeviĉ, pflegt niemals eine Geschichte zweimal auf die gleiche Art zu erzählen, wobei das, was er erzählt, nicht einmal von ihm selbst, sondern von seiner Großmutter stammt. Die Vielzahl der Erzähler, die Staffelung der Perspektiven und die Unterschiedlichkeit der sprachlichen Mittel lässt in den „DikanřkaŖ-Erzählungen eine Komplexität des Textes entstehen, durch die sich die im „Akt des LesensŖ zu realisierende Leserrolle größten Schwierigkeiten ausgesetzt sieht. Diese Schwierigkeiten verstärken sich noch angesichts der Fülle von Gegensätzen und Wider-

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sprüchen in Struktur und erzählter Welt. Es waren die Brüche, Disharmonien, Paradoxien, die Gogolřs Zeitgenossen teils begeisterten, teils irritierten. Selbst Puńkin sprach bei aller Anerkennung für das Ganze von „Zusammenhangslosigkeit und UnwahrscheinlichkeitŖ30 im Einzelnen. Insgesamt aber waren die Zustimmung und das Verständnis für die beiden Bände des Zyklus „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ von Anfang an weitaus höher als für die fünf „Erzählungen BelkinsŖ, zu denen sie in scharfem Gegensatz stehen, jedoch die deutliche Abweichung vom Standard der russischen Erzählprosa in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts gemeinsam haben. Die Erzählungen des verbreitetsten Genres dieser Jahrzehnte, der „svetskaja povestřŖ, spielten meistens in der Hauptstadt Russlands und in der Gegenwart. Gogolř verlegte in seinen „DikanřkaŖ-Erzählungen die Handlung in die zeitlich und räumlich fernere Ukraine, eine romantischem Denken und Fühlen entsprechende volkstümlich-ursprüngliche Welt. Als er sich später selbst der Gegenwart zuwandte und in den Petersburger Erzählungen die Hauptstadt zum Schauplatz erhob, stellte er das isolierte und sich unsicher fühlende Individuum in den Mittelpunkt, doch jetzt zu Beginn seines erzählerischen Schaffens zeigte er der folkloristischen Tradition gemäß den Einzelnen aufgehoben in dem umfassenden Ganzen der dörflichen Gemeinschaft. Allerdings ist auch diese Welt schon wie die spätere hauptstädtische von einem hohen Grad an Phantastik durchdrungen, und ineins mit der Phantastik erfolgte, nicht anders als auf dem Schauplatz Petersburg, der Einbruch des Problematischen und Unheimlichen. Deshalb ist die Charakterisierung der in „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ dargestellten Welt als einer „lebensfrohen, strahlenden, anziehenden WeltŖ, in der im Gegensatz zu der zeitgenössischen Wirklichkeit der Petersburger Erzählungen, „das Gute über das Böse und das Schöne über das HässlicheŖ triumphiere, zumindest einseitig, genauso wie die Feststellung, Gogolř zeichne hier das Bild einer optimistischen, harmonischen Menschengemeinschaft, die sich Natürlichkeit und Menschlichkeit bewahrt hatŖ.31 Zwar spielen alle Geschichten in einem offenbar heiteren, unbeschwerten kleinrussischen Dorfmilieu und gehen auch am Ende glücklich aus. Doch dieser äußere Eindruck täuscht. Das Schöne und Gute hat wie immer bei Gogolř den Charakter des Scheins. So kommt das Happy End in Form der Vereinigung des jungen Paares jeweils durch Lug und Trug zustande: durch finstere Zigeuner und böse Gerüchte in „Soroĉinskaja jarmarkaŖ (Der Jahrmarkt in Soroĉincy), verführerische Nixen und falsche Briefe in „Majskaja noĉřŖ (Eine Mainacht), (scheinbar) dumme Teufel in „Noĉř pered RoņdestvomŖ (Die Nacht vor Weihnachten) oder gar durch einen Mord an Unschuldigen in „Veĉer nakanune Ivana KupalaŖ (Der Abend vor dem Johannistag).32 In „Soroĉinskaja jarmarkaŖ dient die alte Volkssage vom Teufel, der in Gestalt eines Schweins sein rotes Hemd sucht, das allen Besitzern Unglück brachte, dazu, eine List anzuwenden. Zigeuner erschrecken mittels einer furchtbaren Schweineschnauze den einfältigen, gutmütigen Bauern Solopij und seine bösartige, lüsterne Frau Chivrja fast zu Tode und erreichen auf diese Weise, dass

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der Bauernjunge Grycřko seine schöne Paraska, Chivrjas Stieftochter, heiraten kann. Während Chivrja noch wütend keift, segnet Solopij das Paar, und alle tanzen und jubeln. Tanz und Jubel sind jedoch nur der schöne Schein. In Wirklichkeit bekundet sich in ihnen etwas Unheimliches und Bedrohliches. Ein „seltsames, unerklärliches GefühlŖ hätte den Zuschauer beschlichen, wäre er Zeuge der Szene gewesen, kommentiert der Erzähler, „aber ein noch viel seltsameres, rätselhafteres Gefühl hätte sich in der Tiefe der Seele beim Anblick der alten Frauen erhoben, deren verfallene Gesichter den Gleichmut des Grabes atmeten und die sich neben jungen, lachenden und lebendigen Menschen drängten. Die Sorglosen! Ohne jegliche kindische Freude, ohne einen Funken von Mitgefühl, nur von dem Rausch mitgerissen, so wie ein lebloser Automat von einem Mechaniker zu menschenähnlichem Tun gezwungen wird, wiegten sie bedächtig ihre berauschten Köpfe, tanzten hinter der lustigen Menge her und warfen nicht einmal einen Blick auf das junge Paar.Ŗ33 Ein auffällig ernster, gedanklich beschwerter Schluss, der den Ausgang der Handlung im Sinne des üblichen glücklichen Endes einer lustigen Dorfgeschichte deutlich relativiert. Und er findet sogar noch eine Steigerung in den allerletzten Worten des Erzählers, der sich bei der Schilderung einer tanzenden Hochzeitsgesellschaft zu einer verallgemeinernden Aussage über die Situation des Menschen in der Welt veranlasst sieht. So wie der Ton der Geige traurig in der Nacht verklingt, bleibe auch der Mensch von der Freude verlassen allein zurück: „Schon durch das eigene Echo wird er sich seines Kummers und seiner Verlassenheit bewusst, und er lauscht ihm voller Verzweiflung. Verlieren sich die lustigen Freunde der bewegten und ungebundenen Jugendzeit nicht ebenso, einer nach dem anderen, in der weiten Welt?Ŗ34 Schon die erste der acht „DikanřkaŖ-Erzählungen enthält, tiefgründig und melancholisch endend, die Botschaft des ganzen Zyklus: Die schöne Oberfläche der Welt täuscht; Liebe, Glück, Tanz und Fröhlichkeit sind flüchtig; immer gegenwärtig aber ist der Teufel, der jederzeit in Erscheinung treten und den Menschen locken und verführen kann. Der Teufel bildet in der von Gogolř entworfenen Welt der Erzählungen eine feste, unaufhebbare Instanz. Wie in der folkloristischen Literatur erscheint er stets leibhaftig, als konkrete greifbare Gestalt, und damit als handelnder Teil der Geschichte. In der schauerlichen Geschichte „Veĉer nakanune Ivana KupalaŖ, die der Herausgeber vom Küster der Dorfkirche und dieser von seinem Großvater gehört hat, also vor langer, langer Zeit, treibt er sich unter dem Namen Basavrjuk in Gestalt eines unheimlichen Sonderlings im Dorf herum und verspricht dem armen Knecht Petrusř, der die schöne Pidorka, die Tochter eines reichen Bauern liebt und heiraten möchte, für „nur eine TatŖ das benötigte Geld in Form eines vergrabenen Goldschatzes. Um den in der Johannisnacht gefundenen Schatz zu heben, muss er auf Geheiß einer alten Waldhexe dem sich zufällig nähernden sechsjährigen Brüderchen seiner Geliebten den Kopf abschlagen. Nachdem sich die Hexe „an den kopflosen Leichnam festkrallt und wie ein Wolf sein Blut getrunken hatŖ und Petrusř aus einem zweitägigen, die Erinnerung auslöschenden totenähnlichen Schlaf erwacht ist, steht der

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Hochzeit nichts mehr im Wege. Doch das Happy End ist auch hier noch nicht das letzte Wort der Erzählung. Petrusř verfällt in Schwermut und Wahnsinn. Als die durch Beschwörungen heilende Waldhexe von der verzweifelten Pidorka gerufen wird, beginnt er sich wieder zu erinnern Ŕ und geht samt seines Häuschens und seines Goldes in Flammen auf. Pidorka aber zieht sich aus der Welt zurück, indem sie sich in ein Kloster begibt. Die Erzählung, die auf dem alten Mythenthema basiert, dass man, um zu Macht und Reichtum zu gelangen, unschuldiges Blut vergießen müsse, hört hier keineswegs auf. „Doch gestattetŖ, schaltet sich der Erzähler ein, die Geschichte epiloghaft abrundend, „damit ist noch nicht alles zu Ende. Am selben Tag, an dem der Böse Petrusř zu sich geholt hatte, erschien Basavrjuk von neuem, jedoch alle flohen vor ihm. Sie wussten jetzt, was das für ein Vogel war: Er war niemand anderes als der Satan, der Menschengestalt angenommen hatte.Ŗ35 Selbst die jungen Burschen, die ihre Hütten verlassen und sich im Kirchdorf ansiedeln, finden dort keine Ruhe vor ihm. Nicht zur Ruhe kommt auch die Natur; denn jedesmal, wenn Basavrjuk in seiner Kammer aufheult, erheben sich die „erschrockenen Saatkrähen in Schwärmen aus dem nahen EichenwäldchenŖ und schwirren „unter wildem GekrächzeŖ am Himmel umher.36 In dem beunruhigenden Schlussbild der Erzählung wird noch einmal die Unabänderlichkeit der ewigen Präsenz des Teufels beschworen. Von solcher Allpräsenz handelt, auch wenn es mitunter gelingt, den Bösen zu überlisten, die den zweiten Teil dieses Zyklus eröffnende Erzählung „Noĉř pered RoņdestvomŖ. Wenn in „Veĉer nakanune Ivana KupalaŖ der ins Mythische zurückgreifende Stoff Entsetzen erregt, erheitert hier die im Komödienstil gehaltene, mit Märchenelementen durchsetzte Liebesgeschichte. Der Schmied Vakula, ein gottesfürchtiger Mann, der in seinen Mußestunden Heiligenbilder malt, in denen er zuweilen den Teufel verspottet, verliebt sich in Oksana, die Tochter des reichen Kosaken Ĉub. Oksana, die „Schönste im ganzen DorfŖ, aber auch eitel, in sich selbst verliebt und launisch, verspricht dem Schmied, auf der Stelle seine Frau zu werden, wenn er ihr die gleichen Schuhe bringt, die die Zarin trägt. Dem Märchen entlehnt ist nicht nur die Aufgabenstellung, sondern auch der Pakt und die Erfüllung des Wunsches.37 Rittlings auf dem Teufel sitzend, der ihn durch die Lüfte nach Petersburg fliegt, erhält der Schmied von der Zarin die gewünschten Schuhe und bringt sie der Geliebten. Die Bedingungen für die Hochzeit sind damit erfüllt, zumal sich Oksana ihrerseits über Nacht in Vakula verliebt. Diesmal kommt es jedoch nach Überwindung aller Hindernisse und der Vereinigung der Liebenden zu keinem Glücksumschwung wie in „Veĉer nakanune Ivana KupalaŖ. Das erfolgte Happy End wird nicht zurückgenommen. Aber es veranlasst zur Nachdenklichkeit. Erneut kann der Held die angebetete Schöne nur mit Mitteln und Beistand aus dem Bereich des Phantastisch-Bösartigen erringen. Der heitere Ton der Erzählung, die, Liebes- und Teufelsgeschichte in einem, zum Vergnügen des Lesers vorführt, wie derjenige, der andere zu betrügen, zu verführen und zu narren pflegt, selber zum Narren gehalten wird, dieser Ton, der die Schadenfreude des Erzählers nicht verbirgt, ist am Ende deutlich herabgestimmt. Der

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„Feind des MenschengeschlechtsŖ bleibt, auch genarrt, weiterhin anwesend und kann sofort in zerstörerische Aktivität verfallen. Es ist wiederum der letzte Satz, der mit dem Hinweis auf die Ängstlichkeit eines Kindes dieses Wissen in bildhafter Anschaulichkeit zum Ausdruck bringt: „Auf der Seitenwand Ŕ gleich wenn man zur Kirche hineinkommt Ŕ hatte der Schmied den Teufel abgebildet, wie er in der Hölle sitzt, und zwar so abstoßend, dass alle, die vorübergingen, ausspucken mussten; und wenn ein kleines Kind auf dem Arm der Mutter zu heulen anfing und sich nicht beruhigen wollte, dann trug es die Mutter zu dem Bild und sagte: ‚Sieh mal, was da zu sehen ist!Ř, und das Kind schluckte die Tränen hinunter, blickte das Bild von der Seite an und schmiegte sich ängstlich an die Brust der Mutter.Ŗ38 So zeigt sich: Wenn es gelingt, den Teufel zu besiegen, dann ist dieser Sieg in Gogolřs Vorstellungswelt immer nur ein scheinbarer. In ihm verbirgt und enthüllt sich der Sieg des wirklich Bösen. Damit aber wird deutlich, dass selbst die lustigste Geschichte des Zyklus etwas Schreckliches offenbart. „Alles ist Trug, alles ist TraumŖ39, heißt es in „Nevskij prospektŖ (1834). Was in der späteren Erzählung explizit formuliert wird, ist in „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ bereits Text für Text, Geschichte um Geschichte gestaltet. Der Scheincharakter der Welt, als dessen alleiniger Verursacher hier wie dort der Teufel namhaft gemacht wird, wird zunächst erzählerisch adäquat nachgebildet und dann durch Inkohärenzen als solcher aufgedeckt. Gogolř benutzt dazu folkloristisches Material, der kleinrussisch-ukrainischen Lebenswelt entnommen, das er jedoch nicht, so wie seine romantischen Vorgänger Somov, Polevoj oder Bestuņev-Marlinskij historisch-ethnographisch und sprachlich getreu, sondern frei, ja willkürlich bearbeitet und mit Brüchen und logischen Sprüngen versieht, sein Verfahren durch wechselnde Erzählermasken und deren beschränkte Perspektiven begründend. Der Schein, den Gogolř im „DikanřkaŖ-Zyklus demaskiert, ist vor allem der Schein der Schönheit, und dieser wird in dem volkstümlichen Umfeld durch die jungen weiblichen Gestalten verkörpert, die auf der Ebene der Handlung im Kontrast zu den abstoßend-komischen, oftmals mischgestaltigen älteren Männern und Frauen stehen, ihrerseits aber auch, obwohl der Komik entzogen, negativ markiert sind.40 Um den Schein der Schönheit als Tarnung und Lockmittel leiblicher Sinnlichkeit zu entlarven, fügt der Erzähler in den Lobpreis der Heldinnen und ihrer Schönheit bestimmte Wendungen ein, die sowohl durch die Hyperbolik der enthusiastischen Beschreibung als auch durch Verweise auf den Bereich des Bösen aufhorchen lassen. Wenn in „Veĉer nakanune Ivana KupalaŖ die frischen Wangen Pidorkas an eine „Mohnblüte von zartestem RosenrotŖ erinnern, evoziert die symbolische Farbangabe die Vorstellung einer bösen Blume, nicht anders als im Falle des Farnkrauts, das „wie glühende KohleŖ leuchtet und „gleich einer FlammeŖ auflodert, als in der Johannisnacht Petrusř seine Hand ausstreckt, um es zu pflücken.41 Oder wenn in „Noĉř pered RoņdestvomŖ Oksana, von der es heißt, es habe „im Dorf niemals ein schöneres Mädchen gegebenŖ, sich fortgesetzt im Spiegel betrachtet und dabei feststellt, dass sich ihre schwarzen Zöpfe „wie lange SchlangenŖ um ihren Kopf winden und schlingen, dann wird die Eitle durch

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die biblische Symbolik als Verführerin enthüllt: „Wie wird sich der Mann freuen, den ich einmal heirate.Ŗ42 Dass die weibliche Schönheit nicht hinauf-, vielmehr hinabzieht, in die Abgründe sinnlicher Tiefen, und dass das Schöne und das Böse aufs engste miteinander verflochten sind, das eine zum Werkzeug des anderen werden kann, dieses Leitthema des „DikanřkaŖ-Zyklus wird in der Erzählung „VijŖ aus dem Zyklus „MirgorodŖ (1835), mit der Gogolř in das volkstümliche ukrainische Milieu zurückkehrt, noch einmal aufgenommen, dabei aber zugleich abgewandelt. Der Held der Geschichte, die auf einem in mehreren Varianten verbreiteten Märchen beruht, erliegt der Macht der Sinnlichkeit und damit der des Erdgeists „VijŖ, obwohl er im Unterschied zu den Liebhabern in der ersten Sammlung von Anfang an weiß, dass die ihm begegnende Schönheit höllischen Ursprungs ist, und zwar in einer ganz direkten, gestalthaften Weise. Choma Brut, ein Schüler der „bursaŖ, dieser Lehranstalt für orthodoxe Priester in Kiev, gerät auf einer Wanderung in die Gewalt einer alten Hexe und wird von ihr gezwungen, sie wie ein Reitpferd durch die nächtliche Natur zu tragen, bis es ihm mittels Gebete und magischer Formeln gelingt, die Dämonin abzuschütteln und nun seinerseits auf ihr zu reiten. Noch bevor sich die Alte, vor Erschöpfung zusammenbrechend, in ein „schönes Mädchen mit einem zerzausten üppigen Zopf und mit Wimpern so lang wie PfeileŖ verwandelt, spürt er bereits ein „zehrendes, unangenehmes und doch gleichzeitig süßes Gefühl, das sich in seinem Herzen ausbreiteteŖ.43 Dieses zwiespältige Gefühl, das Choma Brut unter der alten Hexe empfindet, und die „schreckliche, glanzvolle SchönheitŖ, die der jungen, durch Choma Bruts Schläge gestorbenen Hexe selbst als Leiche eigen ist, zeigen, dass das Schöne und das Böse als untrennbare Einheit aufgefasst werden. Mit seiner Einbettung in die unheimliche dämonische Atmosphäre der Erzählung „VijŖ ist das Thema der verlockenden weiblichen Schönheit, das den gesamten „DikanřkaŖ-Zyklus durchzieht, im Wesentlichen zum Abschluss gebracht. Nur in „Nevskij prospektŖ, dem Auftakt der Petersburger Erzählungen, klingt es noch einmal nach, wenn der Maler Piskarev der Täuschung seiner Sinne erliegt, als er eine Frau zur „Schönheit der WeltŖ und „Krone der SchöpfungŖ erhebt44, die so Vergöttlichte sich aber als bloße Prostituierte erweist. Stattdessen beginnt in „MirgorodŖ eine im Mantel-Motiv von „ŃinelřŖ (1842) gipfelnde und endende Entwicklung des Gogolřschen Schaffens, in deren Verlauf die Funktion der verführerischen Schönen auf die einfachen Dinge des Alltags übergeht. Der Zyklus „MirgorodŖ, den Gogolř im Untertitel ursprünglich „Erzählungen, die als Fortsetzung zu ‚Veĉera na chutore bliz DikanřkiŘ dienen sollenŖ nennen wollte, unterscheidet sich vom ersten Zyklus weniger durch die Verlagerung des Geschehens vom Dorf in die Kleinstadt (die Ukraine bleibt immerhin der Schauplatz der Handlungen) und die Zurücknahme der heiteren oder grausigen Phantastik als vielmehr durch die Akzentverschiebung vom Schein des Schönen zum Schein des Banalen. Bezeichnenderweise begegnet in „Starosvetskie pomeńĉikiŖ (Gutsbesitzer aus alter Zeit) das Schöne nur noch als Wortform im Namen der

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weiblichen Hauptgestalt: Pulřcherija (von lat. pulcher, schön). Pulřcherija Ivanovna Tovstogubicha, die mit ihrem Mann Afanasij Tovstogub auf dem Familiengut lebt, verkörpert aber nicht das, was ihr Vorname verspricht. Sie ist weder jung noch eine Verführerin. Dennoch verfügt sie über Macht. Diese übt sie ausschließlich im niederen Bereich des Essens und Trinkens aus. Der Tagesablauf der beiden an Philemon und Baucis erinnernden Alten ist völlig durch die kleineren und größeren Mahlzeiten bestimmt. Bei dieser Bedeutung, die der Nahrung und Nahrungsaufnahme vom frühesten Morgen bis in die späte Nacht zukommt, spielt natürlicherweise auch Ŕ wie schon bei den antiken Vorbildern Ŕ die Gastfreundschaft eine zentrale Rolle. Afanasij Ivanoviĉ und Pulřcherija Ivanovna leben, immer das Beste vom Besten auftragend, ganz für ihre Gäste. So führen sie, fest verwurzelt mit dem Ort und umgeben von Bäumen, mehr Vertreter des Pflanzenreichs als geistige Wesen, ein einsames, „weltverlorenes LebenŖ, über das der Erzähler sagt, dass in ihm „nicht ein einziger WunschŖ aufkomme, „der jenen Staketenzaun überfliegt, von dem der kleine Hof umfriedet wird, den Flechtzaun um den Garten, der voller Apfel- und Pflaumenbäume steht, oder die Bauernhütten, die dieses Anwesen umringen, windschief, von Weiden, Holunderbüschen und Birnbäumen beschattetŖ.45 Ein solches eingezäuntes Leben impliziert die tiefe Abneigung gegenüber jeglicher Mobilität. Afananij Ivanoviĉ begibt sich allenfalls kurz auf den Hof, um mit dem Verwalter zu sprechen, oder aufs Feld, um den Mähern und Schnittern bei der Arbeit zuzuschauen, und Pulřcherija Ivanovna, auf deren Schultern die gesamte Last der Verwaltung liegt, äußerte lediglich „ein einziges MalŖ den Wunsch, ihre Wälder zu sehen. Am Beispiel dieses alten Paares, das ein Muster an Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft bildet, aber immer neben- statt miteinander lebt und nur durch das Anbieten und Annehmen von Nahrung verbunden ist, führte Gogolř ein weiteres bleibendes und wiederum in der Erzählung „ŃinelřŖ und der Figur ihres Protagonisten, des ewigen Titularrats und Schreibers Akakij Akakieviĉ, kulminierendes Hauptthema ein. Dass Gewohnheit und nicht Emotion die enge Welt Pulřcherijas und Afanasijs bestimmt, kommt exemplarisch in der Beschreibung des letzteren als eines Mannes zum Ausdruck, „dem das Leben, wie es scheint, niemals auch nur eine einzige heftige Seelenregung beschert und dessen ganzes Dasein offenbar nur darin bestanden hatte, auf einem Stuhl mit hoher Lehne zu sitzen, gedörrte Fischchen und Birnen zu essen und harmlose Geschichten zum Besten zu gebenŖ.46 Das Thema von der Macht der Gewohnheit ist nichts anderes als das Thema vom Schein des Banalen. In dieser Geschichte einer Welt, die von der Banalität und der Gewohnheit regiert wird, ist alles anders, als es zu sein scheint. Die Idylle täuscht. Wie die idyllische Gutsbesitzerwelt, die Gonĉarov später in „Son OblomovaŖ (Oblomovs Traum, 1849) schildert, ist Gogolřs Tableau eines altväterlichen Lebensstils zugleich idealisierend und entlarvend. Zuneigung, Fürsorge, Großzügigkeit erweisen sich als Ersatz für Lebendigkeit und Leidenschaft. Die Fruchtbarkeit der umgebenden Natur enthüllt die Sterilität der Zweisamkeit im Inneren des Hauses.

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In einer anderen berühmten Erzählung des „MirgorodŖ-Zyklus, in „Povestř o tom, kak possorilsja Ivan Ivanoviĉ s Ivanom NikiforoviĉemŖ wird das Thema der trügerischen Idylle, unterstrichen durch zahlreiche Parallelen zu „Starosvetskie pomońĉikiŖ, fortgeführt und bis ins Groteske, ja geradezu Absurde gesteigert. Wieder entwirft Gogolř eine begrenzte, häuslich-familiäre Welt, in der, wie zuvor das alte Gutsehepaar, zwei Personen ruhig und friedlich zusammenleben. Jetzt sind es zwei Nachbarn, verwitwet der eine, unverheiratet der andere, beide „in großer FreundschaftŖ47 vereinte Sonderlinge. Den ganzen Tag herumliegend, von Obstbäumen umgeben, führen sie wie die beiden Alten ein träges, von ritualisierter Nahrungsaufnahme geprägtes, pflanzenhaftes Dasein. Das spiegelt sich auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild wider, das durch Bilder aus der essbaren Pflanzenwelt veranschaulicht wird. So hat Ivan Nikiforoviĉ eine Nase, die an eine „reife PflaumeŖ erinnert, und der Kopf Ivan Ivanoviĉs sieht aus „wie ein Rettich mit der Spitze nach untenŖ, der Kopf von Ivan Nikiforoviĉ dagegen „wie ein Rettich mit der Spitze nach obenŖ.48 Solche pflanzlichen (und auch animalischen) Analogien haben, auf Gogolřs Darstellung des Provinzlebens in seinem Roman „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen, 1842) vorausdeutend, bei aller erheiternden Komik etwas eindeutig Herabsetzendes. Nimmt man die Euphemismen in der Charakterisierung der Helden als „prachtvolle MenschenŖ und als „Freunde, wie sie die Welt noch niemals gesehen hatŖ49, hinzu, dann wird offenkundig, dass das Eingangsbild der Erzählung durchtränkt ist von Ironie. Die heile Welt erweist sich von Anfang an als brüchig, die innige nachbarliche Freundschaft als fragil. So genügt, wie sich mit einsetzender Handlung zeigt, ein belangloser Vorfall und ein nichtiger Anlass, um langjährige Freunde zu erbittertsten Feinden zu machen. Als Ivan Ivanoviĉ an einem heißen Sommertag unter den zum Auslüften herausgetragenen Kleidungsstücken Ivan Nikiforoviĉs ein Gewehr entdeckt und sich, davon begeistert, zu seinem Nachbarn begibt, jedoch vergeblich versucht, das Objekt seiner Begierde gegen ein Schwein und zwei Sack Hafer einzutauschen, da entsteht, gefördert durch das Wörtchen „GänserichŖ, ein stetig anwachsender, nicht endenwollender Streit. Dieser Zwist ist von vornherein sinnlos. Wenn in Nareņnyjs Roman „Dva Ivana, ili Strastř k tjaņbamŖ (Die zwei Ivans oder Die Leidenschaft für Prozesse, 1825), der Gogolř als Anregung diente, ebenfalls ein Gewehr zur Streitursache wird, dann ist es funktionstüchtig und, eine Folge gewaltsamer Akte auslösend, in aktivem Gebrauch. Ivan Nikiforoviĉs Gewehr aber hat keinen Verschluss und ist damit ungeeignet für den Zweck, den sein Besitzer anführt: Er benötige es, um auf Einbrecher schießen zu können. Das Argument wird vollends hinfällig, wenn man durch den Erzähler erfährt, dass es in Mirgorod weder Diebe noch Spitzbuben gibt. Ähnlich widersprüchlich und letztlich grundlos ist die Klage, die Ivan Ivanoviĉ gegen Ivan Nikiforoviĉ einreicht und mit dem „AnschlagŖ auf sein „ererbtes BesitztumŖ und die „Beleidigung von Ehre, Rang, Stand, Namen und VornamenŖ begründet.50 Die Beschreibung des endlosen Weges der Klageschrift infolge der Langsamkeit aller Instanzen und die Schilderung des Dieb-

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stahls der Gegenbeschwerde von Ivan Nikiforoviĉ durch ein flinkes Schwein werden zur sarkastischen, mit einer Fülle grotesker Details angereicherten Satire auf Gerichtswesen und Bürokratie, gehen jedoch letztlich weit über alle zeit- und gesellschaftskritischen Implikationen hinaus. Sie verweisen auf die Absurdität des menschlichen Daseins. Die beiden „FreundeŖ, die sich um einer Nichtigkeit willen („wegen eines Unsinns, wegen eines GänserichsŖ) zerstreiten, werden noch lange auf die erhoffte Gerechtigkeit warten Ŕ wahrscheinlich ewig wie Estragon und Wladimir auf Godot. Mit „Povestř o tom, kak possorilsja Ivan Ivanoviĉ s Ivanom NikiforoviĉemŖ, der letzten Erzählung des „MirgorodŖ-Zyklus, die eine Verbindungslinie zurück zur ersten Erzählung, zu „Starosvetskie pomeńĉikiŖ und darüber hinaus zu „Ivan Fedoroviĉ Ńponřka i ego tetuńkaŖ (Ivan Fedoroviĉ Ńponřka und seine Tante) in der „DikanřkaŖ-Sammlung herstellt, befindet sich Gogolř auf einem Höhepunkt seiner Kunst in der Darstellung des Komischen. Und doch ist auch diese Erzählung keine Komödie. Das zeigt sich schon in ihrem Verlauf und wird am Schluss noch einmal unmissverständlich verdeutlicht: Als der Erzähler zwölf Jahre später wieder durch Mirgorod kommt, begegnet er in der leeren Kirche seinen beiden Helden, zu weißhaarigen Greisen gealtert, mit nichts anderem beschäftigt als mit dem nächsten Schritt in ihrem ewigen Rechtsstreit. Der trübe Herbsttag mit dem „kranken TageslichtŖ, dem „traurig-feuchten WetterŖ, dem „Schmutz und NebelŖ und den „Regentränen an den Scheiben der KirchenfensterŖ reflektiert, mit der heiteren Ausgelassenheit des sonnigen Erzählungsauftakts kontrastierend, die schwermütige, melancholische Stimmung der Szenerie, die der Erzähler, auf alle bildliche Indirektheit verzichtend, in den knappen Schlusssatz fasst: „Langweilig ist es auf dieser Welt, meine Herrschaften!Ŗ51 Am Ende kehrt sich wie in „Soroĉinskaja jarmarkaŖ Ŕ und anderen Erzählungen in „Veĉera na chutore bliz DikanřkiŖ Ŕ der Anfang um, wenn der Erzähler, nachdem Lärm, Gelächter und Gesang des Hochzeitsfests verklungen sind, tiefe Trauer verspürt und mit den Worten schließt: „Schwer und beklommen wird einem ums Herz, und nichts kann einem helfen.Ŗ52 Hier wie dort wandelt sich der Erzähler im Erzählen: Er ist ausgangs nicht mehr jener anfänglich naive Optimist, sondern ein „nachdenklicher, weltverdrossener Beobachter menschlicher TorheitŖ.53 Das aber heißt, er hat sich dem Autor (fast) vollends angenähert. Auch Gogolř ist im Verlauf der Entwicklung vom „DikanřkaŖ- zum „MirgorodŖ-Zyklus immer mehr zu einem von Nachdenklichkeit und Weltverdrossenheit erfüllten Beobachter und Aufzeichner des närrischen Treibens der Menschen geworden. Der Prozess der Annäherung von Autor und Erzähler setzt sich in den Petersburger Erzählungen fort und gipfelt in „Mertvye duńiŖ, dem unabgeschlossenen epischen Hauptwerk Gogolřs, wo der Erzähler, von russischer Herkunft und mittlerem Alter, ohne familiäre Bindung und Neigung zu Sesshaftigkeit, zugleich froh und wehmütig gestimmt, auf Russland blickend, so ausdrücklich wie nie zuvor als alter ego des Autors erscheint.54 Nachdem Gogolř die Folgerungen aus intensiver Menschenbeobachtung und Welterkundung mittels einer autobiographischen Erzählermaske zuerst im dörf-

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lichen Milieu und dann im kleinstädtischen Umfeld zum Ausdruck gebracht hatte, nahm er noch einmal eine Erweiterung seines Blickfelds vor und wandte sich der Großstadt zu, und damit einer Sphäre, die infolge der neuzeitlichen zivilisatorischen Entwicklung wie keine andere prädestiniert war, als pars pro toto für das Ganze von Mensch und Welt zu stehen. In Russland konnte dies am Beginn des 19. Jahrhunderts nur Petersburg sein, die Neugründung durch Peter den Großen, die, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell die Zukunft des urbanen Lebens verkörpernd, die alte Hauptstadt Moskau, das Dritte Rom, in der Bedeutung abgelöst hatte. Mit der Zuwendung zu der Stadt an der Neva als dem Hauptschauplatz, beginnend mit „Nevskij prospektŖ, „PortretŖ (Das Porträt) und „Zapiski sumasńedńegoŖ (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) in der zweibändigen Sammlung „ArabeskiŖ (Arabesken, 1835), gefolgt von „NosŖ (Die Nase) 1836 und „ŃinelřŖ (Der Mantel) 1842, zusammengefasst zu dem nachträglichen, nicht vom Verfasser selbst stammenden Titel „Petersburger ErzählungenŖ, entsprach Gogolř dem wachsenden Interesse für das Phänomen der Großstadt. Die Anstöße dazu waren aus Frankreich gekommen, wo Victor-Joseph Étienne de Jouy, an Merciers „Tableau de ParisŖ (1781Ŕ1789) anknüpfend, das Genre des „Feuilleton de mœursŖ bekannt und zu einer vielgelesenen journalistischen Form gemacht hatte. Seine Sittenfeuilletons aus der „Gazette de FranceŖ, versammelt in dem aus fünf Kapiteln bestehenden Band „LřHermite de la Chaussée dřAntinŖ (1812Ŕ1814), erschienen 1825/26 in russischer Übersetzung und dienten nicht nur Feuilletonisten wie Nikolaj Polevoj oder Faddej Bulgarin als Vorbild, sondern trugen auch zu der Verlagerung der Großstadtthematik von der Ebene der Journalistik auf die Ebene höherer literarischer Ansprüche bei, wie sie außer bei Gogolř vor allem bei Puńkin und Vladimir Odoevskij erfolgte.55 Étienne de Jouy hatte seine schreibenden Zeitgenossen in Frankreich aufgefordert, Paris neu zu entdecken, statt in die Ferne, nach Griechenland, Ägypten oder in den Orient zu schweifen. Für die russischen Romantiker hieß dies in Analogie, sich abzuwenden von den exotischen Schauplätzen in der Ukraine, im Kaukasus oder am Schwarzen Meer, damit zugleich von der Natur, der Geschichte, der Legende, dem Mythos, und sich mit der Gegenwart und der Alltäglichkeit des hauptstädtischen Lebens und Treibens zu beschäftigen. Bei Odoevskij sowie den anderen Vertretern der „mondänen ErzählungŖ erscheint Petersburg, der Aufenthaltsort der Guten Gesellschaft, lediglich als Handlungshintergrund, der nicht weiter konkretisiert und veranschaulicht wird. Unverwechselbares Profil gewinnt die russische Hauptstadt erst in der Darstellung Gogolřs, und zwar zunächst einmal dadurch, dass ihr Gesamtbild, entsprechend der Darstellungstechnik Étienne de Jouys, aus einer ganzen Reihe von Einzelbildern erstellt wird: Ansichten der Straßen und Boulevards, der Höfe, Torwege, Treppen und Dachstuben, der Läden, Schaufenster und „PassagenŖ.56 Gezeigt wird Petersburg darüber hinaus auch noch in mancherlei anderer Hinsicht, unter Aspekten, die ebenfalls dem „Feuilleton de mœursŖ entstammen: dem Aspekt der dem Diktat der Mode unterworfenen Güter, des Wechsels der Tages- und Jahres-

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zeiten, der Aufwertung des Lebens der unteren Klassen und der Aufrisse der Großstadtbilder in „EtagenŖ.57 Von hier aus führt ein direkter Weg zur Stadtdarstellung in der sogenannten „natürlichenŖ Schule der vierziger Jahre und speziell zu dem von Nikolaj Nekrasov herausgegebenen Sammelband „Fizilogija PeterburgaŖ (Physiologie Petersburgs, 1845). Was Gogolř von den physiologischen Richtungen in der Literatur des russischen Frührealismus trennt, die er wie kein anderer Schriftsteller der dreißiger Jahre mitbegründet und mitgeprägt hat, ist die ganz in der romantischen Denkund Vorstellungsweise verwurzelte Auffassung der handelnden Figuren. In der von ihm entworfenen Welt der Großstadt, dieser Welt der sozialen Gegensätze und der ökonomisierten Lebenswirklichkeit, der großen Einsamkeit und menschlichen Kontaktlosigkeit, erscheinen die Ŕ durchweg männlichen Ŕ Träger der Handlung als Exponenten phantastischer, oft unerklärlicher Geschehnisse. Als solche sind sie typische Produkte des Ortes, an dem sie leben. Gogolřs Petersburg ist eine venedigähnliche Stadt zwischen Sein und Schein, wie ihr Prachtboulevard, der Nevskij Prospekt in der gleichnamigen Erzählung, eine einzige „PhantasmagorieŖ.58 Hier ist „alles nicht so, wie es scheintŖ.59 In dieser Welt, die ganz vom Schein beherrscht ist und deren Scheincharakter als Teufelswerk erklärt wird, gewinnen fixe Ideen, wie Gogolř in „NosŖ, „PortretŖ oder „ŃinelřŖ demonstriert, ihre Macht über den Menschen. Hier kann es durchaus auch vorkommen, dass ein Mensch am Morgen aufwacht und beim Blick in den Spiegel seine Nase vermisst. So passiert es dem Kollegienassessor Kovalev, dem Helden der Erzählung „NosŖ. Im Manuskript von 1834 hatte Gogolř diesen „ungewöhnlich seltsamen VorfallŖ, wie die Geschichte vom Erzähler genannt wird, noch als Traum Kovalevs ausgegeben. In der ersten gedruckten Fassung von 1836 sowie in der stilistisch überarbeiteten und Ŕ um ein neues Schlusskapitel erweiterten Ŕ Endfassung von 1842 ist jedoch auf diese Motivierung verzichtet. Dementsprechend wurde die Erzählung in der Forschung als Experiment „im Bereich des phantastischen RealismusŖ60 oder als Werk im Stil der französischen und spanischen Surrealisten des 20. Jahrhunderts61 bezeichnet. Puńkin, der Gogolřs „NosŖ nach der Ablehnung durch die Zeitschrift „Moskovskij nabljudatelřŖ (mit der Begründung: zu „gewöhnlichŖ und zu „schmutzigŖ) 1836 im dritten Band seines „SovremennikŖ veröffentlichte, versah den Abdruck mit einer Anmerkung: „N. V. Gogolř wollte lange Zeit nicht in die Veröffentlichung dieses Scherzes einwilligen62, wir fanden jedoch darin so viel Überraschendes, Phantastisches, Lustiges und Originelles, dass wir ihn überredeten, uns zu gestatten, das Vergnügen, das sein Manuskript uns bereitet hatte, mit dem Publikum zu teilen.Ŗ63 Ein bloßer „ScherzŖ zum reinen Vergnügen des Lesers ist die Erzählung aber keineswegs. Das hieße, sie als zu harmlos zu sehen. Hinzu kommt, dass es in ihr nicht allein um das Verschwinden, sondern auch um das Wiederauftauchen der Nase geht. Und das letztere ist ebenso unwahrscheinlich wie das erstere, ja eher noch unwahrscheinlicher. Wenn die dreimalige Ŕ freudige Ŕ Feststellung „Die Nase ist da!Ŗ, die mit

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dem entsetzten Aufschrei „Die Nase ist nicht da!Ŗ am Anfang korrespondiert, durch die Erzählerworte „Völliger Unsinn geschieht auf dieser WeltŖ kommentiert wird, darf dies nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, die Erzählung sei letztlich ohne Sinn, also Nonsensdichtung, und nur die ursprüngliche Absicht ihrer Einkleidung in einen Traum hätte noch eine „gewisse ErklärungŖ gebracht.64 Richtig ist, dass Gogolř nichts erklärt und nichts auflöst. Im Gegenteil, er tut alles, um das Ganze so sonderbar, so geheimnisvoll, so unglaublich wie möglich zu machen. Und ganz am Schluss, als die Geschichte bereits beendet, und das heißt zu einem glücklichen Ausgang geführt worden ist, geht er auch noch explizit auf sein Verfahren ein und betont durch den Mund des Erzählers die Unwahrscheinlichkeit und die Unverständlichkeit des Erzählten: „Das wäre die seltsame Geschichte, die sich in der nördlichen Hauptstadt unseres weiten Reiches ereignet hat! Erst jetzt, nachdem wir alles überblicken können, stellen wir fest, dass manch Unwahrscheinliches daran ist.Ŗ65 Über der Verwunderung, „dass ein Autor zu einem solchen Gegenstand greiftŖ, und der Empfindung des Abscheus („Es ist einfach peinlich, ungehörig, völlig verfehlt!Ŗ) gelingt es dem Erzähler nicht mehr, seine Sätze zu vollenden.66 Die Sprache gerät ins Stocken, um am Ende gänzlich zu versagen. Damit scheint sie ihre Hauptfunktion, die der Mitteilung, zu verlieren und sinnlos zu werden. In Wirklichkeit steht sie jedoch im Dienst eines höheren Sinns. Sie zeigt an sich selber, dass die dargestellte Welt, die Welt der zuvor erzählten Geschichte, voller „UngereimtheitenŖ67 ist. Erzählung und Sprache der Erzählung gelangen an solchen Stellen zu höchster Übereinkunft. „NosŖ Ŕ das verdeutlicht gerade der erst in der Endfassung von 1842 hinzugekommene Schlusskommentar des Erzählers Ŕ ist zwar auch Literaturparodie, Parodie jener Literatur, die auf Wahrscheinlichkeit, Eindeutigkeit und Nützlichkeit setzt, vor allem aber ist die Erzählung ein vorzügliches Beispiel für das eigene Weltverständnis des Autors. So geht es nach dessen Auffassung zu in der Welt, in der alles trügt und täuscht, in der, weil der Teufel am Werke ist, Dinge geschehen, die sich der Erklärung entziehen. Dass diese trügende und täuschende Welt bereits alle Merkmale der Absurdität trägt, bestätigen die vier anderen Petersburger Erzählungen. Jede hat Ŕ mehr oder weniger Ŕ einen „ungewöhnlich seltsamen VorfallŖ zum Gegenstand. Das (ver)führt Gogolř zu sprachlichen Assoziationen und zu logischen Verrückungen und Widersprüchlichkeiten, die den Text noch stärker prägen als die Ansiedlung der Geschichte im großstädtischen Lebensraum. Bei den Geschehnissen auf dem gemeinsamen Schauplatz, jener „nördlichen Hauptstadt unseres weiten ReichesŖ, lässt sich kaum noch sagen, was real und was irreal ist. Wie schon in den „DikanřkaŖ-Erzählungen wird auch hier das Übernatürliche, der Einbruch des Phantastischen in die Wirklichkeit, so sachlich-nüchtern und so selbstverständlich dargestellt, dass kein Zweifel am Wahrheitsgehalt der Darstellung aufkommt, während umgekehrt die Darstellung der Wirklichkeit immer wieder derart ins Verzerrte und Verfremdete getrieben

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wird, dass Gogolřs Leser aufhört, dieser Art von Präsentation alltäglichen Lebens zu vertrauen. Den Figuren Gogolřs jedenfalls passiert es häufig, dass ihnen das Vertrauen zu der Wirklichkeit, in der sie leben, abhanden kommt. Mit dem Verschwinden seiner Nase, diesem Verlust des schönen Scheins („Das ist schließlich nicht der kleine ZehŖ68), verliert Kovalev, der um der Karriere willen nach Petersburg gekommen ist, das, was ihn bisher getragen hat: die Gewissheit, blenden und so erfolgreich sein zu können. Jetzt fühlt er sich hilflos und ratlos. Der gewohnten Geborgenheit beraubt, erfährt er nun das Trügerische seines bisherigen Wohlbefindens. Von solch einer Erfahrung handelt auch „ŃinelřŖ69, die berühmteste der Petersburger Erzählungen. Dem Verlust der Nase entspricht hier der Verlust des Mantels, und wie jener führt auch dieser, obwohl es sich bei dem Kleidungsstück im Unterschied zu dem Körperteil lediglich um etwas Dingliches handelt, zum Verlust jeglicher Sicherheit. Während jedoch Kovalev nur vorübergehend in Verzweiflung gerät, verliert der Held von „ŃinelřŖ, der glücklich ist in der materiellen und geistigen Beschränktheit seiner montonen Schreiberexistenz, nach dem unerwarteten Mantelraub zunehmend den Boden unter den Füßen und gerät im Zuge der fehlenden Unterstützung und behördlichen Zurückweisungen in eine Ausweglosigkeit, die geradezu zwangsläufig in den Tod mündet. Dementsprechend nimmt der Kollegienassessor in „NosŖ, sobald sich seine Nase wieder an alter Stelle befindet, beruhigt die frühere Lebensweise auf und erscheint, „so als wäre nicht das Geringste geschehen, sowohl auf dem Nevskij Prospekt als auch in den Theatern und überall sonstŖ.70 Akakij Akakieviĉ hingegen wird laut „phantastischem SchlussŖ71 der Geschichte noch im Tod des Nachts auf den Straßen Petersburgs umhergetrieben, in Beamtengestalt, auf der Suche nach dem entwendeten Mantel, den Menschen die Mäntel ausziehend. Indessen sitzt bereits einen Tag, nachdem er gestorben ist, ein „neuer Beamter auf seinem PlatzŖ. Wie in „NosŖ hat sich auch hier nichts geändert. Selbst ungewöhnliche Vorkommnisse vermögen höchstens für einen Moment die Möglichkeit einer Veränderung anzudeuten. Danach zeigt sich alles verfestigter als je zuvor. Die Welt der Petersburger Erzählungen ist eine Welt ohne Wesentlichkeit und stellt als solche eine unentrinnbare Daseinsform dar. Vor Gogolř hat dies in der russischen Literatur noch niemand und nach ihm erst wieder Ĉechov so deutlich vor Augen geführt. Stärker als in „NosŖ und in „ŃinelřŖ tritt die „phantastische Nichtigkeit der WeltŖ nur noch in einer Erzählung Gogolřs zutage: in „Zapiski sumasńedńegoŖ. In den beiden anderen Erzählungen bleibt trotz des Einbruchs der Phantastik die Realität das Bestimmende. Nicht zufällig wurde „ŃinelřŖ häufig als ein Schlüsselwerk in der realistischen Tradition Russlands betrachtet. Während hier wie in „NosŖ sogar das Phantastische so geschildert wird, als sei es real, ist in „Zapiski sumasńedńegoŖ von Anfang an „jede RealitätŖ restlos „aufgehobenŖ, und „ein absolutes Nichts steigt dahinter aufŖ.72 Diese Zuspitzung wird durch die äußerlichen Übereinstimmungen mit „NosŖ und „ŃinelřŖ umso augenfälliger. Der Schauplatz ist wieder Petersburg, wobei der Nevskij Prospekt ebenfalls eine besonde-

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re Rolle spielt, jene grell beleuchtete Bühne also, auf der sich das vom Teufel inszenierte Theater der Phantasmen mit seinen grotesken und arabesken Spielformen entfaltet. Wie der Kollegienassessor Kovalev und der Titularrat Akakij Akakieviĉ gehört auch Poprińĉin, der Held von „Zapiski sumasńedńegoŖ, dem Beamtenstand an. Und nicht zuletzt geht es ein weiteres Mal um einen Verlust gravierender Art. Verliert Kovalev seine Nase, Akakij Akakieviĉ seinen Mantel, so Poprińĉin seinen Verstand. Der arme ältere Beamte erkrankt als Folge eines Minderwertigkeitskomplexes, der sich aus der hoffnungslosen Liebe zu der Tochter seines Abteilungsdirektors erklärt, an Größenwahn (er glaubt schließlich, der König von Spanien zu sein) und endet im Irrenhaus. Die Geistesstörung Poprińĉins wird nicht im Endstadium, sondern in ihrer gesamten Entwicklung gezeigt. Gogolř beschreibt mit einer „nahezu klinischen GenauigkeitŖ73, wie ein Mensch nach und nach dem Wahnsinn verfällt. Dazu verwendete er die Form des Tagebuchs. Das daraus folgende Erzählen in der ersten Person enthebt den Erzähler der Schwierigkeit, sich in die Lage eines anderen versetzen zu müssen. In „ŃinelřŖ weigert er sich daher strikt, das Innere seiner Figur zu enthüllen, und begründet dies mit dem Hinweis „Man kann einem Menschen schließlich nicht in die Seele kriechen, um zu erfahren, was er denktŖ.74 Der Tagebuchschreiber dagegen enthüllt sich selbst. Und diese Selbstenthüllung, von Gogolř mit höchster Einfühlungskraft und bemerkenswerter intuitiver medizinischer Sachkenntnis vorgenommen, überzeugt und verstört zugleich. Zu der in „Zapiski sumasńedńegoŖ bis zur äußersten Grenze getriebenen Psychologisierung gehört auch die Verwendung komischer Elemente, die wie immer bei Gogolř den Ernst der Thematik nicht mindert, sondern eher erhöht. Die Lächerlichkeit, die in „ŃinelřŖ aus dem totalen Weltverlust Akakij Akakieviĉs resultiert, ist hier Ŕ bis hin zu dem Briefwechsel zweier Hunde Ŕ durch die fortschreitende Krankheit motiviert. Mit der Zunahme der Krankheit wächst die Verzerrung der Perspektive, aus der Poprińĉin die Welt wahrnimmt. So wie Gogolř an anderer Stelle das Phantastische als das scheinbar Natürlichste schildert, versetzt er hier das schreibende, sich selbst analysierende Ich in die Lage, seine abwegigen Weltwahrnehmungen in einer klaren, verständlichen und häufig sogar logischen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Das hört erst auf, als der Wahnsinn offen ausbricht, was durch eine Serie ver-rückter Datierungen signalisiert wird: „23. April 2000Ŗ, „Am 26. Martober, zwischen Tag und NachtŖ, „Ohne Datum, der Tag hatte kein DatumŖ, „Im selben Jahr im Januar, der diesmal auf den Februar folgtŖ. In der letzten Eintragung erscheinen dann nur noch Silben und Zahlen, teilweise auf den Kopf gestellt, wahllos durcheinandergewirbelt. Poprińĉins Wahnsinn, der sich am Ende auch in Sprache, Form und Graphik der Aufzeichnungen dokumentiert, ist vor allem anderen eine „IdentitätskriseŖ.75 Dem Schreiber ist dies bewusst und wird vor dem endgültigen Ausbruch seiner Krankheit, die in dem Wahn gipfelt, Philipp II. von Spanien zu sein, unter dem Datum des 3. Dezember hellsichtig formuliert: „Vielleicht bin ich ein Graf oder ein General und scheine nur Titularrat zu sein. Ich weiß vielleicht selber nicht,

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wer ich bin.Ŗ76 Der Ursprung von Poprińĉins Identitätskrise liegt in dem Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit innerhalb der Beamtenhierarchie. Als Titularrat vom gleichen Rang wie Akakij Akakieviĉ, sieht er seinen „AdelŖ in der Fähigkeit, korrekt und schön abzuschreiben. Als der Abteilungsleiter diese „vornehmeŖ Tätigkeit in Frage stellt (aus Neid, wie Poprińĉin vermutet, weil er, im Arbeitszimmer des Direktors sitzend, die Federkiele für Seine Exzellenz beschneidet), sinkt das geringe Selbstwertgefühl des überdies hoffnungslos liebenden Abschreibers auf das Bewusstsein völliger Nichtigkeit herab und kehrt sich am Ende im Zuge der psychischen Erkrankung um in die Vorstellung, der spanische Herrscher zu sein. Gogolřs Versuch, in seiner „gewagtesten GroteskeŖ77 bisherige Grenzen zu überschreiten und in die seelischen Tiefen der Persönlichkeit vorzudringen, führt zu dem Ergebnis, dass die Welt der Psyche ebenso absurd ist wie die phantastische Wirklichkeit der Welt der Erscheinungen. Poprińĉins inneres Selbst evoziert in auffälliger Weise das bizarre Kaleidoskop der Gegenstände, das Gogolř in den Petersburger Erzählungen am Beispiel der Hauptstadt, dieser „PhantasmagorieŖ78, und des Nevskij Prospekts, dieser „Hauptausstellung der schönsten Erzeugnisse des MenschenŖ79, als äußere Realität präsentiert. Bevor sich Gogolř entschloss, den Innenzustand des Wahnsinns, der seine Widerspiegelung in der Bizarrerie der kaleidoskopischen Erscheinungswelt Petersburgs findet, an einem Zivilbeamten von niederem Rang zu exemplifizieren, hatte er zunächst die Absicht, einen Künstler als Demonstrationsfigur zu benutzen. Die Erzählung „Zapiski sumasńedńegoŖ sollte deshalb ursprünglich „Zapiski sumasńedńego muzykantaŖ (Aufzeichnungen eines wahnsinnigen Musikers) heißen. Ob Gogolř bei der Änderung seines Plans, auf „NosŖ und „ŃinelřŖ vorausweisend, den „satirischen GrundgedankenŖ des Textes „vertiefenŖ80 wollte oder ob er vorläufig noch den offenen Wettstreit mit E. T. A. Hoffmann, dem Schöpfer der unsterblichen Kreisler-Gestalt, scheute, mit den Erzählungen „Nevskij prospektŖ und „PortretŖ, wie „Zapiski sumasńedńegoŖ in den Jahren 1833/34 verfasst, realisierte er, worauf er dort verzichtet hatte. Zwar ist der Musiker durch den Maler ersetzt, aber dieser wird genauso wie der Musiker wahnsinnig. Der Wahnsinn, der bei Poprińĉin aus dem fehlenden Selbstbewusstsein und der zunehmenden Verunsicherung infolge der Niedrigkeit seines Ranges erwächst, erscheint hier als Konsequenz der Unfähigkeit von Piskarev und Ĉartkov, das jeweils gesetzte hohe Ideal zu verwirklichen. Mit der Frage nach Ideal, Schicksal und Stellung des Künstlers in der Welt griff Gogolř ein Hauptthema der Romantik auf. Im Zuge der neuzeitlichen Selbstreflexion des Künstlers auf dem Weg über die deutsche Klassik und Frühromantik nach Russland gelangt, war dieses Thema schon in der Lyrik der zwanziger Jahre verbreitet, kam durch Puńkins „Mocart i SalřeriŖ 1830 in die Dramatik und entfaltete sich seit den beginnenden dreißiger Jahren auch in der Erzählungskunst, wo es von Polevoj, Pavlov, Kjuchelřbeker, Timofeev, Karlgof und anderen, vor allem aber von Vladimir Odoevskij gepflegt wurde.81

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VI. Phantasie und Wirklichkeit. Von Gogol’s Petersburger Erzählungen zu Odoevskijs „Russkie noči“ Der Zusammenhang von Künstlertum und Wahnsinn, den Gogolř im Sinn hatte, als er die Aufzeichnungen eines allmählich seinen Verstand verlierenden Menschen plante, um ihn in „Nevskij prospektŖ und „PortretŖ zu anschaulicher Darstellung zu bringen, steht bei Vladimir Odoevskij als zutiefst romantischer Konflikt schon früher im Mittelpunkt. Letzterer verfasste 1830 eine Erzählung, die, „Poslednij kvartet BetchovenaŖ (Das letzte Quartett Beethovens) betitelt und ein Jahr später 1831 in „Severnye cvetyŖ veröffentlicht, neben mehreren weiteren Künstlergeschichten für einen Sammelband unter der Überschrift „Dom sumasńedńichŖ (Das Haus der Wahnsinnigen) bestimmt war. Der Titelheld, keine historisch exakte, sondern eine fiktive, exemplarische Figur, zuerst in einem Salon mit Wiener Musikliebhabern, danach in einem winzigen, stickigen Zimmer mit seiner jungen Begleiterin gezeigt, ist Ŕ vereinsamt, unverstanden, an sich selber zweifelnd, gegen die Taubheit ankämpfend Ŕ körperlich und seelisch erschöpft. „Die Seele ist ausgebrannt, die Kräfte sind geschwächt, der Kopf ist krank.Ŗ1 Mit den Schriften und den Dichtungen Wilhelm Wackenroders und E. T. A. Hoffmanns aufs Beste vertraut, wusste Odoevskij wie alle Romantiker und selbst spätere Schriftsteller wie etwa Lev Tolstoj in „Krejcerova sonataŖ (Die Kreutzersonate, 1890) um die dämonische, ja irrsinnig machende Seite der Musik. Hoffmanns Kapellmeister Johannes Kreisler aus den Erzählungen „Fantasiestücke in Callotřs ManierŖ (1814/15) und aus dem Roman „Lebens-Ansichten des Katers MurrŖ (1820Ŕ1822), einem dichterischen Muster für die Herkunft des Wahnsinns aus der Tonkunst, von Oswald Spengler in seinem symbolischen Gehalt neben Faust, Werther und Don Juan gestellt2, ist solange des Verstands beraubt, wie ihn die musikalische Inspiration umfängt. Anders als bei Odoevskij identifiziert sich der Irrsinnige nicht endgültig mit seiner Rolle; er bleibt fähig, sich selbst gegenüberzutreten und sich als „verrückten Musikus par excellenceŖ zu bezeichnen. Gleich Odoevskijs Beethoven leidet er aber am Kunstunverständnis seiner Umgebung und findet weder Rettung in der Wirklichkeit, aus der er flieht, noch in der „WirklichkeitŖ, in die er flüchtet. Der Künstlerwahnsinn ist also bei Odoevskij keineswegs jene positiv schöpferische Kraft, als die er im romantischen Gedicht so oft besungen und gefeiert wird, vielmehr eine Kraft, die vorhandenes Schöpfertum zerstört. Gogolř bestätigt dies in „Nevskij prospektŖ und „PortretŖ anhand zwei völlig unterschiedlicher Fälle. Anknüpfend an die von ihm wie von Puńkin und Belinskij hochgeschätzte3 Beethoven-Erzählung Odoevskijs, demonstriert er am Künstler wie gleichzeitig am Beamten, das eigene tragische Erlebnis der versiegenden Schaffenskraft ahnungsvoll vorweggestaltend, dass Wahnsinn stets eine seelisch-geistige, zum Tode führende Erkrankung ist. Piskarev, der „junge TräumerŖ in „Nevskij prospektŖ, tötet sich selbst, weil er, irrsinnig geworden, die Desillusionierung einer zur Gottheit verklärten weiblichen Schönheit nicht verkraftet. Vom Erzähler als „Opfer einer wahnsinnigen LeidenschaftŖ4 gedeutet und einer Gruppe

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Die russische Erzählung

von Menschen zugeordnet, von der es heißt, sie gehöre so zu den Bewohnern von Petersburg, „wie eine uns im Traum erscheinende Person zu der wirklichen Welt gehörtŖ5, ist er der typische Repräsentant der entgrenzenden Welt des Gefühls, der Vision, der Halluzination. Dem täuschenden Schein des Schönen fällt auch der Held von „PortretŖ zum Opfer. In einem Bilderladen des Petersburger Ńĉukinhofs6 entdeckt der Maler Ĉartkov inmitten vieler „hässlicher BilderŖ, die sich selbstbewusst „in die Reihen der KünsteŖ stellen, ein Porträt, das unverkennbar die „Spuren der Arbeit eines großen KünstlersŖ trägt. Aber auch dieses Bild täuscht. Nachdem Ĉartkov es zu einem niedrigen Preis erworben hat, stellt er bei genauer Betrachtung fest, dass es bei aller überwältigenden Kraft des Pinsels etwas Unvollendetes hat. Es ist jene „sonderbare Lebendigkeit der AugenŖ des Porträtierten, die die Geschlossenheit und die Harmonie des Kunstwerks durchbricht und die Ĉartkov als das Ergebnis einer „sklavischen, buchstäblichen Nachahmung der NaturŖ7 erkennt. Die suggestive bildimmanente Lebendigkeit wächst und offenbart sich immer mehr und mehr als eine negative verstörende Vitalität. Zuerst ist der Maler ganz irritiert durch den stechenden Blick des dargestellten Greises, darauf fühlt er sich von dessen Augen ständig verfolgt und schließlich, schon im Bett liegend, bemerkt er zu seinem Entsetzen, wie sich der Alte in dem zugehängten Bild bewegt, mit seinen beiden Händen auf den Rahmen stützt und aus dem Bild springt. Was hier so erzählt wird, als sei es reinste Realität, erweist sich zwar im Nachhinein als Traum, doch das zufällig erstandene Porträt und der die Wirklichkeit bruchlos fortsetzende Traum (der seinerseits ebenso bruchlos wieder an die Wirklichkeit anschließt) bilden letztlich die tiefere Ursache für die entscheidende Änderung im Leben des Helden. Die schon im Traum gierig wahrgenommenen Golddukaten fallen am nächsten Tag aus dem Rahmen des Bildes und verleiten Ĉartkov dazu, anstatt sein offensichtliches Talent in Ruhe reifen zu lassen, auf die Wünsche und Forderungen von Auftraggebern einzugehen, um so in kurzer Zeit zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. Auf den rasanten Aufstieg Ĉartkovs zum erfolgreichen Modemaler folgt der Abstieg bis hin zu innerer Zerrüttung und zu „Anfällen von Raserei und WahnsinnŖ. An jenen „schrecklichen DämonŖ erinnernd, „den Puńkin ideal dargestellt hatŖ8, erwirbt und vernichtet der „gefallene EngelŖ9 herrliche Werke der Kunst. Damit ist die Geschichte keineswegs zu Ende; denn es handelt sich nicht nur um eine Künstler-, sondern auch um eine Satansgeschichte. Aufstieg wie Abstieg des Helden verdankt sich dem Wirken eines teuflischen Prinzips. Was sich bereits im ersten Teil der Erzählung ankündigt, wird im zweiten Teil, der gemäß dem Kompositionsmuster mehrerer unheimlicher Novellen E. T. A. Hoffmanns die als Vorgeschichte nachgestellte Lösung bringt, vollends deutlich: Ĉartkov ist lediglich ein Glied in einer langen Kette von Opfern, die irgendwann mit dem geheimnisvollen Porträt in Berührung gekommen sind. Der weitausholende, in eine Zeit längst vor der Ĉartkov-Handlung zurückführende Bericht, erhellt, dass der Schöpfer des Bildes einen Wucherer von asiatischem Aussehen porträtiert

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hat, an dessen „übernatürlicher ExistenzŖ niemand zweifelte. Nachdem der Porträtist, durch den Verlust der Gestaltungskraft bestraft, erkennen musste, „dass sein Pinsel dem Satan als Werkzeug gedient hatŖ10, entsagt er der Welt und zieht sich ins Kloster zurück. Die Erzählung „PortretŖ, die in ihrer letzten Bearbeitung von 1842 zusammen mit „ŃinelřŖ den Abschluss der Petersburger Erzählungen bildet, illustriert noch einmal in voller Deutlichkeit die besonderen Eigenarten dieser Werkgruppe, und sie dokumentiert zugleich das hohe Niveau, auf dem Gogolřs Erzählen als eine Kunst des Phantastischen angelangt ist. Realität und Irrealität, Natürliches und Übernatürliches, Erklärbares und Unerklärbares bilden in „PortretŖ keine Gegensätze. Fortgesetzt gleitet das eine übergangslos ins andere. Aus dem Bannkreis des nächtlichen Erlebnisses entlassen, fragt Ĉartkov, „ob es denn tatsächlich ein Traum und ein bloßer Fiebertraum war oder ob es sich hierbei um etwas anderes, eine Erscheinung, gehandelt hatŖ.11 Überzeugt, „dass mitten im Traum ein schreckliches Stück Wirklichkeit enthalten warŖ, fragt er sich umgekehrt kurz darauf, wie benommen vor dem Gold sitzend, „ob nicht alles ein Traum seiŖ12. Da sich also kaum mit Sicherheit sagen lässt, was noch und was nicht mehr geträumt wird, da das Geträumte als Wirkliches und das Wirkliche als Geträumtes gilt, macht es sich die Behauptung zu einfach, dass das Heraustreten des Wucherers aus dem Bild, das in der ersten Fassung des Textes in der Wirklichkeit oder im Wachtraum geschieht, später eindeutig in den Traum verlegt sei. Diese Sichtweise erklärt sich aus der verbreiteten Meinung, Gogolř habe mit der zweiten Textfassung grundlegend in die Struktur des Werkes eingegriffen, das Sujet umgearbeitet, den ideellen Grundplan verändert und nahezu alles Übernatürliche getilgt.13 Zwar lassen sich durchgehend ein stärkerer Realismus der Anschauung und eine Motivierung von vorher unmotivierten Phänomenen beobachten. So werden jetzt natürliche Erklärungen angeboten wie diejenige, dass die im Rahmen des Porträts entdeckten Dukaten von irgendeinem Großvater für seinen Enkel versteckt worden seien; doch solche Möglichkeiten betreffen nur die Oberflächenschicht des Erzählens. Während sich die Phantastik in der Erstfassung offen als solche zu erkennen gibt und der Wirklichkeit als das Nicht-Wirkliche gegenübersteht, ist sie in der Endfassung in die Wirklichkeit hineingenommen. Das bedeutet nicht, dass sie nur dienende Funktion hat, dass sie dem Realismus14 und dem Ziel einer Widerspiegelung gewöhnlicher Wirklichkeit15 „dientŖ. Das Phantastische ist vielmehr als selbständige, eigenwertige Größe aufgefasst. Im scheinbar Prosaisch-Alltäglichen, dort, wo es niemand vermutet, manifestiert sich eine allseitig wirksame, unfassbare dämonische Aktivität. Mit der Aufhebung des Unterschieds zwischen Realität und Irrealität ist die Wirklichkeit selber phantastisch geworden. Gogolřs virtuose Erzählrealistik besteht darin, das Reale als das Phantastische und das Phantastische als das Reale, kurz, die Welt als das zutiefst Zweideutige und Doppelbödige zu zeigen.

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Diese Sicht der Welt und die Art und Weise ihrer erzählerischen Präsentation, die Gogolř mit so vielen Romantikern, am stärksten mit Vladimir Odoevskij teilt, findet sich auch in einem novellistischen Meisterwerk Aleksandr Puńkins, der meistens, dem Prinzip der clarté verpflichtet, zu einer rationaleren Wirklichkeitsdarstellung neigt. Die um die gleiche Zeit wie „PortretŖ und „Nevskij prospektŖ entstandene, 1834 in der Zeitschrift „Biblioteka dlja ĉtenijaŖ erschienene Erzählung „Pikovaja damaŖ (Pique-Dame) bedeutet nicht bloß einen weiteren Schritt des Verfassers in der Entwicklung seines Prosastils16, sondern auch den Versuch, Wirklichkeit in all ihrer Hintergründigkeit zu offenbaren und somit als phantastisch überhöhte Wirklichkeit darzustellen. Dostoevskij, der Gogolřs Auffassung vertrat, „Das Phantastische sollte sich soweit mit dem Realen berühren, dass man es fast glauben kannŖ, sah in Puńkins „Pikovaja damaŖ den „Gipfel der Kunst des PhantastischenŖ erreicht; denn am Ende sei der Leser kaum noch imstande zu entscheiden, ob die „VisionŖ des Helden „seiner Natur entstammtŖ oder ob der Held einer von jenen ist, die „Kontakt mit der anderen Welt der bösen und uns Menschen feindlichen GeisterŖ haben.17 Puńkin veranschaulicht wie Gogolř in „PortretŖ, dass es verhängnisvoll ist, sich mit übernatürlichen Kräften einzulassen, und wieder spielt dabei das Geld eine große Rolle. In beiden Fällen verliert der Held, der verführerischen Macht des Geldes erlegen, den Verstand. Germann, ein junger Ingenieur deutscher Abstammung, erfährt eines Abends aus einer Anekdote, erzählt am Spieltisch eines Petersburger Salons, dass eine alte russische Gräfin im Besitz des Wissens über eine gewinnbringende Kartenfolge ist. Als er sich mittels der Pflegetochter Liza nächtlichen Zugang zum Boudoir der Gräfin verschafft, um ihr das Geheimnis, ein Vermächtnis des abenteuerlichen Grafen Saint-Germain, zu entlocken, stirbt diese im Schreck über den Eindringling, erscheint jedoch zu der Wiederkehr der Stunde ihres Todes in Germanns Traum und gibt ihm die begehrte Information mit der Auflage, Liza zu heiraten. Daraufhin spielt er in einem neueröffneten exquisiten Klub an drei aufeinanderfolgenden Tagen, gewinnt zweimal und verliert am dritten Abend, als er statt des As irrtümlich eine Dame setzt. Nicht genug, Puńkin fügt noch eine kleine, aber entscheidende Pointe an. Germann entdeckt im Bild der Pique-Dame, die ihm zuzwinkert und spöttisch lächelt, verblüfft und entsetzt eine ungewöhnliche Ähnlichkeit mit der Gräfin, deren Tod er um des materiellen Erfolgs willen provoziert hat. Noch über den Tod hinaus beweist die Gräfin ihre dämonische Kraft, indem sie den Helden in einen Verstandesverlust treibt, der ihn nicht in die Ruhe des Vergessens entlässt, sondern durch das ewige Kreisen der immer gleichen Formel in seinem Kopf an den unverzeihlichen Irrtum erinnert: „Drei, Sieben, As! Drei, Sieben, Dame!...Ŗ18 Mit „Pikovaja damaŖ ist Puńkin Ŕ wie gleichzeitig Gogolř in den Petersburger Erzählungen Ŕ schriftstellerisch auf der Höhe der Zeit angelangt. Nirgendwo kommt dies deutlicher zum Ausdruck als in ihrem Wissen um die eminente Bedeutung, die das Geld inzwischen gewonnen hat, und um die dadurch bedingte Veränderung des Menschen und der Welt. Liza erkennt, dass die leidenschaft-

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lichen Briefe, die ihr Germann geschrieben hat, nicht der Liebe entsprangen: „Geld Ŕ das war es, wonach seine Seele lechzte!Ŗ19 Germanns und Ĉartkovs unstillbares Verlangen nach Reichtum und sozialer Anerkennung führt zu einer sich stetig fortsetzenden Verengung des Bewusstseins.20 Dies lässt die Helden daher dann auch in den Zauberkreis magischer Gewalten geraten. Und hierbei hat der Schauplatz Petersburg eine initiierende Wirkung. Denn er ist es erst, der dafür die Voraussetzung schafft. Nicht zufällig wird die Stadt genau in dem Moment evoziert, als Germann, dessen Bewusstsein ausgefüllt ist vom Gedanken an das Geheimnis der drei Spielkarten, zitternd „wie ein TigerŖ um zehn Uhr abends vor dem Haus der Gräfin wartet, um unbemerkt in ihre Gemächer eindringen zu können: „Das Wetter war schrecklich: Der Wind heulte, nasser Schnee fiel in Flocken; die Laternen leuchteten trüb; die Straßen waren leer. Ab und zu fuhr ein Droschkenkutscher mit seinem mageren Gaul vorüber und hielt Ausschau nach einem späten Fahrgast.Ŗ21 Was hier beschrieben wird, ist Gogolřs Petersburg, eine Stadt, „wo alles feucht ist, glatt, eben, blass, grau, nebeligŖ22 und wo, wenn es dunkel wird, „der Teufel selber die Lampen anzündet, um alles nicht in seiner wahren Gestalt zu zeigenŖ.23 In der Sicht Gogolřs und Puńkins ist die nördliche Hauptstadt ein Phantasma. Noch beim jungen Dostoevskij bringt sie unentwegt neue Träumer hervor. Hier geht nur allzu leicht der logische Verstand verloren, selbst bei einem Menschen wie dem Ingenieur Germann. Zwar in der Tiefe seines Herzens ein Spieler, aber „nicht imstande, das Notwendige zu opfern, in der Hoffnung, Überflüssiges zu erwerbenŖ24, verbringt dieser als Zuschauer oft ganze Nächte am Spieltisch, ohne eine Karte in die Hand zu nehmen. Bis er schließlich doch der Versuchung erliegt, hält er „Berechnung, Mäßigung und ArbeitsfleißŖ für seine „drei sicheren KartenŖ.25 Es sind gerade die „VernünftigenŖ, die planenden und berechnenden, ihr Leben Prinzipien und Vorsätzen unterwerfenden Menschen, die nicht nur bei Puńkin, sondern auch bei Gogolř und Odoevskij von der Begegnung mit dem irrationalen Daseinsgrund Petersburgs am ärgsten getroffen werden. So kommentiert der Erzähler in „NosŖ das Schicksal seines Helden, des Kollegienassessors „MajorŖ Kovalev, der in die Hauptstadt gekommen ist, um Vizegouverneur oder wenigstens Exekutor in einem Department zu werden und eine Braut zu finden, die mindestens zweihunderttausend Rubel in die Ehe einbringt, mit den Worten: „Der Leser vermag jetzt selber zu ermessen, in welcher Lage sich der Major befand, als er anstatt seiner wohlgeformten Nase von normaler Größe eine höchst idiotische, ebene, glatte Stelle erblickte.Ŗ26 Odoevskij schildert weitere Fälle von Personen, die, an die Verfügbarkeit der Dinge glaubend und auf die Macht der Ratio setzend, am Ende zum Opfer des „seltsamen UngeheuersŖ27 Großstadt, sprich: Petersburg, werden, allen voran ein jung verstorbener Nationalökonom, der, schon mit einem trockenen Verstand auf die Welt gekommen, sich früh den positiven Wissenschaften zugewandt hat und, nachdem er in den Dienst des Finanzministerium getreten ist, unaufhörlich „ganze Bögen von Papier mit statistischen BerechnungenŖ bedeckt. Der junge Mann

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scheint eines Tages, so vermutet der Herausgeber seiner nachgelassenen Papiere, auf etwas gestoßen zu sein, was sich nicht in Ziffern und Gleichungen ausdrücken, sondern nur mit dem „Instinkt des HerzensŖ begreifen lässt.28 Der Fund, der alle Berechnungen seines Verstands widerlegt, verkehrt den Sinn seines bisherigen Daseins ins Sinnlose und treibt ihn in eine Verzweiflung, die Beobachter als Anfälle von Wahnsinn deuten. Die Geschichte des „unglücklichen B.Ŗ, der seinen Körper mit dem langsam, aber tödlich wirkenden Gift einseitiger Verstandestätigkeit abtötet, eingekleidet in die Form eines hinterlassenen Fragments aus einem Packen staubiger Manuskripte, trägt den Titel „ĖkonomistŖ (Der Nationalökonom) und findet sich in dem 1844 herausgegebenen Band „Russkie noĉiŖ (Russische Nächte), in den Odoevskij eine größere Zahl seiner Erzählungen der dreißiger Jahre aufgenommen und mit einem verbindenden Rahmen versehen hat. Das kunstvoll komponierte, gedanklich reiche Sammelwerk, eine bedeutende „Manifestation romantischen Geistes in RusslandŖ29, kann in vielerlei Hinsicht als Abschluss und als Summe des Denkens und Erzählens einer ganzen Epoche gesehen werden. Der schon im Vorwort erhobene enzyklopädische Anspruch des Werkes wird vom Autor selbst verkörpert. Odoevskij war Schriftsteller, Publizist, Philosoph, Historiker, Pädagoge, Komponist, Musikkritiker und Naturforscher. Jemand, der sich für Mathematik und Physik, Chemie und Biologie, Medizin und Nationalökonomie, Physiologie und Alchemie interessierte, um die Verbesserung der Zustände von Schulen und Bibliotheken kümmerte, sich als Senator mit Verwaltungsaufgaben und juristischen Angelegenheiten befasste oder als Stadtverordneter um die bauliche Verschönerung von Petersburg bemühte, musste seltsam antiquiert gewirkt haben in einer Welt, die längst an den spezialisierten Menschen und das Prinzip der Arbeitsteilung als die Voraussetzung menschlichen Handelns glaubte. Odoevskij erkannte die mit der fachlichen Aufgliederung einhergehende Horizontverengung und klagte immer wieder über den Verlust der ganzheitlichen Erkenntnis. Goethes morphologischem Denken sehr nahe, nach dem die gesamte Natur als ein einziger Organismus aufgefasst wird, in dem alles mit allem verwandt ist, schloss er sich der aus der Erkenntnis des „lebendigen Zusammenhangs aller WissenschaftenŖ resultierenden Forderung Schellings30 nach einer „universellen AusbildungŖ des Menschen an. Er griff aber über Goethe hinaus, indem er nicht im Bereich der Naturanschauung verblieb, sondern den Begriff des Organismus als einer dynamisch geordneten Ganzheit auf die menschliche Gesellschaft als eines geistigen und kulturellen Gebildes übertrug. Eine Gesellschaft befinde sich im Zustand der Harmonie, das heißt des Gleichgewichts zwischen den Elementen, wenn sich alle drei Grundbedürfnisse des Menschen im Einklang befinden: „erstens, zu wissen (die Wissenschaft); zweitens, zu glauben, dass er wissen darf (die Religion, denn alle Wissenschaft beginnt in Gott); drittens, sein Wissen zu poetisieren (die Dichtung)Ŗ.31 Wissenschaft, Religion und Kunst, die drei Eckpfeiler, auf denen Odoevskijs Weltanschauung gründet32, werden in „Russkie noĉiŖ als Untergangsphänomene beschrieben. Die Wissenschaft

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gehe zugrunde, weil sich Einzeltatsachen und -beobachtungen in so unermesslicher Zahl häufen, dass das Verständnis des Allgemeinen und der Zusammenhang der Teile schwindet, die Kunst, weil sich der Künstler als ohnmächtig erweist und weder er an sich glaubt noch die Menschen an ihn glauben, die Religion, weil die Kirche zur politischen Arena, das religiöse Gefühl zum konventionellen Zeichen kleiner Parteien und die religiöse Sprache zur leeren Dekoration geworden ist.33 Diese zutiefst skeptische Sicht bildet die Grundhaltung in „Russkie noĉiŖ, stellt aber nicht das letzte Wort des Autors dar. Die restitutio ad integrum, die Schiller anfangs auf dem Weg der ästhetischen Erziehung erwartete, erhofft sich Odoevskij von der Kunst und der Wissenschaft gemeinsam. Von diesen einander „entgegengesetzten Enden aller menschlichen TätigkeitŖ34 gelte es, das Leben des Menschen zu durchforschen; denn nur im Ausschreiten der Extreme sei die Lösung der zahllosen ungelösten Probleme möglich. Die Religion als kommende Synthese, in der sich die beiden Pole von Kunst und Wissenschaft als neue Kunst und neue Wissenschaft künftig zusammenfinden werden, bleibt vorläufig noch ausgespart. Die Trias von Wissenschaft, Kunst und Religion kann sich im Denken Odoevskijs auch zur Vierheit erweitern, und zwar dann, wenn die Religion in Liebe und Glaube differenziert erscheint.35 Nach dem ursprünglichen Plan sollte jedes der vier Elemente durch eine Person der im Rahmen versammelten Gesprächsrunde verkörpert werden: die Wissenschaft durch Faust, die Kunst durch Viktor, die Liebe durch Vjaĉeslav und der Glaube durch Rostislav. Dazu sollte das Ich des Verfassers als Vertreter des russischen Skeptizismus treten.36 Diese starre Schematik wurde aufgegeben. Die Rahmenfiguren sind statt abstrakter Ideenträger mehr oder weniger individualisierte Persönlichkeiten geworden, und der Verfasser tritt nicht als eigene Person hervor, sondern verschwindet hinter den fiktiven Gestalten. Am stärksten ist er in Faust, dem vielschichtigsten der vier Charaktere, enthalten. Auf ihn hat er jenen Kosmos von Ideen übertragen, der sein ganz privater ist. Die autobiographische Intention, die der Faustgestalt innewohnt, gilt auch für das gesamte Werk. Dieses stellt nicht weniger dar als die Quintessenz der bisherigen Entwicklung Odoevskijs als Künstler und als Denker. Es ist Zusammenfassung und Bestandsaufnahme, Überblick und Rückblick. Dazu griff Odoevskij auf vorhandene und weitgehend sogar veröffentlichte Erzählungen zurück, die er nach dem Formmuster klassischer Novellensammlungen von Boccaccios „DecameroneŖ bis zu E. T. A. Hoffmanns „SerapionsbrüderŖ zyklisierte und mit einem Rahmen versah, der um die Figur Fausts als Mittelpunkt eine „Schar junger LeuteŖ37 versammelt und zu Gesprächen vereint, wie sie in der Regel nur unter Freunden möglich sind. Die Wiederbelebung des Freundschaftserlebnisses im 18. Jahrhundert hatte in der Romantik zur Erneuerung des echten Freundesgesprächs geführt. Dessen erste gültige literarische Gestaltung durch Platon in dem Dialog „SymposiumŖ findet ihre unmittelbare Widerspiegelung in Odoevskijs „Russkie noĉiŖ. Fausts Freundeskreis tagt regelmäßig zu „gewöhnlicher StundeŖ, und er tagt wie in den

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„SerapionsbrüdernŖ unter Ausschließung der Frauen. Aber ihm eignet nicht die Esoterik des serapionistischen Künstlerklubs mit seinen festgelegten Klubregeln und Aufnahmebedingungen. In Übereinstimmung mit Solgers Behauptung, das beste Philosophieren sei das gesellige38, bedeutet Geselligkeit hier die Fähigkeit zu ernsthaftem und tiefsinnigem Gespräch. Gefördert wird dieses durch die Enge und Identität von Fausts Zimmer, aber auch durch die Nacht, die nach Viktor zum Nachdenken motiviert, nach Rostislav die Aufmerksamkeit des Menschen konzentriert und dessen Seele gesprächiger stimmt. Aus der Bedeutung, die der Nacht zugemessen wird (Faust bezeichnet sie im Sinne Schellings als „das älteste der WesenŖ), erklärt es sich, dass in „Russkie noĉiŖ Nächte statt Kapitel das grundlegende Einteilungsprinzip des Werkes bilden und dem Ganzen seinen Titel geben. Die neun Kapitel-Nächte, denen drei Vorworte voranstehen, in welchen der Autor persönlich spricht, und denen ein Epilog folgt, der im Gegensatz zu den Vorworten zur Werkfiktion gehört, stellen lediglich einen Ausschnitt aus einer größeren Anzahl von Sitzungsnächten dar. Schon vorher hat man „jeden TagŖ über deutsche Philosophie, englische Industrie und europäische Aufklärung sowie über vieles andere diskutiert39, und nichts deutet auf eine Änderung der täglich geübten Gewohnheit. Bereits die erste Rahmennacht entwirft in großartiger Schau die zeitlich-thematischen Extreme des Buches: das „Schicksal der MenschheitŖ von der Urzeit bis zur Gegenwart des 19. Jahrhunderts.40 Rostislav erinnert sich an ein „MärchenŖ, das mit der Erfindung des Feuers beginnt und mit einer Szene endet, die in einem Salon spielt, wo es mehrere Personen lobenswert finden, dass englische Handwerker die Maschinen ihrer Fabrikherren zerschlagen. Die wenig märchenhafte Geschichte lehrt: Der Mensch ist seit der Zeit, da er, in Tierfelle gehüllt, auf nackter Erde um ein Feuer saß, bis ins vermeintlich aufgeklärte 19. Jahrhundert keineswegs glücklicher geworden. In einem unentrinnbaren Kreislauf befindlich, dreht er „gleich einem eingespannten PferdŖ fleißig immer ein und dasselbe „Rad in der Maschine der GesellschaftŖ41 und entwickelt sich, wie die negativen Utopien der vierten und fünften Nacht, „Poslednee samoubijstvoŖ (Der letzte Selbstmord) und „Gorod bez imeniŖ (Die Stadt ohne Namen), vor Augen führen, unaufhaltsam auf sein eigenes Ende hin. Das Thema der ersten Nacht, die Geschichte der ganzen Menschheit, wird in der zweiten Nacht auf die Frage nach der eigenen Situation eingeschränkt: „Was für ein Rad sind wir in dieser wunderbaren Maschine?Ŗ42 Nachdem die Antworten Viktors, Rostislavs und Vjaĉeslavs nicht weitergeführt haben, antwortet Faust mit einer „FabelŖ, die aber ebensowenig eine Lösung bringt und nur die Ausgangsfrage um eine neue Frage erweitert: „Wer sind wir? Sind wir nicht auch solche Taube, Stumme und Blinde von Geburt an?Ŗ43 Deshalb lenkt der letztere das Gespräch auf zwei Jugendfreunde, die einst gleichfalls über das eigene Menschsein nachgedacht haben. Um sich nicht in der „tödlichen Lust am FragenŖ zu verlieren, beschlossen sie, systematisch vorzugehen und unabhängig voneinander den Gegenstand ihres Forschens auf zwei grundlegenden Arbeitsfeldern zu untersuchen. Der eine

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beschäftigte sich mit den Wissenschaften, speziell der politischen Ökonomie, der andere mit den Künsten, insbesondere der Musik. Die Forschungsergebnisse der inzwischen verstorbenen Freunde sind in dem Manuskript überliefert, das Faust „Nummer für NummerŖ44 verliest und das die Innenzone dieses Rahmenwerks bildet. Die in der dritten bis achten Nacht vorgetragenen Hauptteile des Manuskripts sind keineswegs Abhandlungen, sondern längere oder kürzere Erzählungen. Es handelt sich um dichterische, nicht um wissenschaftliche Prosa. Auch der essayartige Erzähleinschub der zweiten Nacht, „DesiderataŖ, und die beiden Nachträge der neunten Nacht und des Epilogs, das „systematische InhaltsverzeichnisŖ und eine „Art von AbschlussŖ, sind in poetischer Sprache verfasst. Die thematische Ordnung des Manuskripts folgt der von den Verfassern vorgenommenen Zweiteilung in Kunst und in Wissenschaft. „DesiderataŖ liefert die theoretische Einleitung in dieses Begriffspaar: Aus den jeweils kurzen Beschreibungen der Medizin, Mathematik, Physik, Chemie und Astronomie wird das Fazit gezogen, dass die scheinbar so vollkommenen Wissenschaften den Menschen entwürdigen, indem sie ihn auf mathematische Ziffern reduzieren, und über die Künste heißt es, dass der Künstler von seinem Richtersitz herabgestiegen sei und mit seiner Zeit die allgemeine seelische und geistige Verarmung teile. Das pessimistische Doppelergebnis, „ein seltsames Schauspiel bietet sowohl die Wissenschaft als auch die KunstŖ45, wird durch die anschließenden Erzählungen an einzelnen Beispielen überprüft und in jedem der Fälle bestätigt. In den Bereich der Wissenschaft gehören „ĖkonomistŖ und „Poslednee samoubijstvoŖ (4. Nacht) sowie „Gorod bez imeniŖ (5. Nacht), in den Bereich der Kunst „Opere del Cavaliere Giambattista PiranesiŖ (3. Nacht), „Poslednij kvartet BetchovenaŖ (6. Nacht), „ImprovizatorŖ (7. Nacht) und „Sebastijan BachŖ (8. Nacht). Die Protagonisten der so unterschiedlichen Geschichten erscheinen in einer kleinen Szene der neunten Nacht nacheinander vor dem Gerichtshof und empfangen sukzessive den Schuldspruch. So erhalten die Zuhörer Fausts, und mit ihnen auch der Leser, das „systematische Inhaltsverzeichnis für das gesamte ManuskriptŖ.46 Nachträglich wird hier noch einmal deutlich gemacht, dass es sich vorher nicht um „irgendwelche ideale Biographien von irgendwelchen SonderlingenŖ handelt, sondern um die Lebensberichte von Personen, die durchaus ihre Bedeutung im Gesamtablauf der menschlichen Historie besitzen, Personen, zwischen denen zudem ein „unauflösbarer, lebendiger ZusammenhangŖ waltet. Dieser Zusammenhang stellt sich als Verbindung von Größe und Wahnsinn heraus. Wahnsinn ist, wie sich schon bei Puńkin und bei Gogolř gezeigt hat, ein „romantisches PhänomenŖ47 par excellence. Daher verwundert es nicht, dass er auch bei Odoevskij eine zentrale Bedeutung besitzt. Fast alle Helden in „Russkie noĉiŖ sind oder werden wahnsinnig. In ihnen spiegeln sich keine persönlichen Züge des Autors wie im Falle E. T. A. Hoffmanns, dessen Tagebuch auf einen täglichen, erlebnismäßigen Umgang mit dem Irrsinn weist.48 Odoevskij näherte sich dem Phänomen nicht allein auf künstlerischem Wege. Um die Mitte der dreißiger Jahre

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verfasste er den Aufsatz „Kto sumasńedńieŖ (Wer sind die Wahnsinnigen). Als Einleitung zu dem niemals zustande gekommenen Erzählband „Dom sumasńedńichŖ gedacht, wurde er 1836, ein Jahr nachdem über das gleiche Thema eine Studie von Guido Görres in der Zeitschrift „Moskovskij nabljudatelřŖ49 erschienen war, gesondert publiziert50 und später leicht abgeändert in „Russkie noĉiŖ aufgenommen. Als Teil des Manuskripts, das Faust seinen Freunden vorliest, basiert der Aufsatz auf der These, dass sich keine wirkliche Trennungslinie zwischen gesundem und geisteskrankem Denken ziehen lasse. Für jeden Gedanken eines Wahnsinnigen lasse sich ohne weiteres eine von allen „normalenŖ Menschen akzeptierte Entsprechung finden. Als erste Veranschaulichung dieser Überzeugung dient die Erzählung „Opere del Cavaliere Giambattista PiranesiŖ. Odoevskijs „PiranesiŖ steht in einer aufschlussreichen Motiv- und Strukturverwandtschaft mit E. T. A. Hoffmanns „Ritter GluckŖ.51 Die motivische Nähe beruht weniger darin, dass beide Titelfiguren irrsinnig zu sein scheinen, als darin, dass sie in dem Wahn leben, ein längst verstorbener großer Künstler zu sein. Der eine hält sich für den italienischen Kupferstecher und Architekten Piranesi, der andere für den deutschen Komponisten Gluck, was im ersten Fall dem Leser von vornherein, im zweiten Fall erst durch die gesperrt gedruckte Schlusspointe des allerletzten Satzes bekannt gegeben wird. Die Identifizierung des Nicht-Identischen ergibt hier wie dort eine Erzählungsstruktur, in der sich zwei Wirklichkeitsbereiche ineinander schieben. Der erste schließt die Präsenz des Verstorbenen aus, der zweite setzt sie voraus. Der die Anwesenheit Glucks und Piranesis ausschließende Wirklichkeitsbereich ist die Welt der beiden Ich-Erzähler mit ihren stimmigen und nachprüfbaren Raum- und Zeibegriffen. Hier hat alles seine äußerliche Richtigkeit. Deshalb kann der Schauplatz geographisch und stadträumlich genau festgelegt werden: ein Gartenlokal an der Heerstraße in Berlin und ein Bücherladen auf der Piazza Nova in Neapel. Deshalb ist bekannt, dass man ein Jahr schreibt, das beträchtlich nach den Todesjahren Glucks (1787) und Piranesis (1778) liegt.52 Der die Anwesenheit von Gluck und Piranesi voraussetzende Wirklichkeitsbereich befindet sich nicht außerhalb, sondern innerhalb jener Welt, in der der Erzähler lebt. Aber hier gilt eine andere Realität und eine andere Wahrheit. Hier gibt es keine Trennung von Innen und Außen, von Sein und Vorstellen. Hier ist der eine tatsächlich Gluck und der andere Piranesi. Beide zeigen unzweifelhaft Größe und schöpferisches Genie. Der unbekannte Musiker spielt zwar die Ouvertüre Glucks „fast ganz dem Original getreuŖ, doch bereits das Allegro ist nur noch „mit dem Hauptgedanken Glucks durchflochtenŖ, und darauf folgen „viele neue geniale WendungenŖ.53 So wie hier Glucks Musik im Geist ihres Schöpfers neu geschaffen wird, so werden Piranesis Originale von dem unbekannten Architekten weitergedacht. Piranesi hat kein Gewölbe entworfen, das Ätna und Vesuv verbindet54, aber er hätte es tun können. Es handelt sich um die ins Phantastisch-Großartige projizierte Konsequenz seiner eigenen kühnen Projekte. So werden hier

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Gluck und Piranesi, obwohl verstorben, in den beiden Unbekannten noch einmal schöpferisch. Es bleibt in der Schwebe, ob die beiden Erzählhelden Genies oder Irre sind. Ihr Irrsinn besteht darin, dass sie sich für jemanden halten, der sie in Wirklichkeit sein könnten. Ihre Genialität gründet in der neuen Kühnheit ihrer Entwürfe, die immer Entwurf bleiben und nie zur Ausführung gelangen. Das Schwebende, Vieldeutige der Gestalten darf nicht aufgelöst werden; es bestimmt die erzählerische Struktur. Während es bei Hoffmann Indizien gibt, die darauf weisen, dass der Ritter Gluck, statt Teil einer objektiven Erzählwirklichkeit zu sein, lediglich in der Phantasie des Erzählers hervorgebracht wird55, besteht bei Odoevskij kein Zweifel, dass „PiranesiŖ außerhalb des Erzähler-Ichs existiert. Der Erzähler, ein leidenschaftlicher Liebhaber alter Bücher, entdeckt in der Ecke eines Neapolitanischen Bücherladens einen wunderlichen alten Herrn, der sich ihm durch seine altmodische Kleidung und seine gepuderte Perücke als ein stadtbekannter Sonderling enthüllt. Dabei erkennt er in keinem Augenblick, dass die gewöhnliche Lebenswirklichkeit, für ihn ruhiger Besitz, für den anderen eine Quelle höchsten Leidens bedeutet und deshalb der Wahn, Piranesi zu sein, zum letzten Asyl geworden ist. Die Wahnsinnsrolle macht das Leid nicht nur ertragbar, sondern zugleich auch darstellbar. Die „furchtbare GeschichteŖ56, die der angebliche Piranesi dem Erzähler erzählt und erzählend zu seiner eigenen macht, wird zum Gleichnis für die ewige Heimatlosigkeit des Künstlers. Nichts kann den auf der Suche nach Aufträgen erfolglos durch Europa, Asien und Afrika Getriebenen eindrücklicher charakterisieren als die Schilderung, wie Türme mit meilenlangen Schritten hinter ihm herjagen, Fenster mit riesigen Rahmen vor ihm herrattern, wie ihn selbstentworfene Kerker umschließen und in seine eigenen Ketten schmieden. Zur ewigen Qual verdammt, erbringt nur der Selbstbetrug, wieder schöpferisch zu sein, einige mildernde Augenblicke. In dieser Situation befindet sich „PiranesiŖ, als er dem Erzähler begegnet. Das erklärt, dass die Analyse des Wahnsinns hier wie in Gogolřs „Zapiski sumasńedńegoŖ vom Wahnsinnigen aus erfolgt. Sieht man die „PiranesiŖ-Erzählung in ihrem Zusammenhang mit der voraufgehenden, von den Manuskriptverfassern stammenden Theorie des Wahnsinns und dem nachfolgenden Gespräch der Rahmenpersonen, so belegt sie vor allem das eine: dass Größe und Wahnsinn bis zur Untrennbarkeit benachbart sind. Odoevskijs „PiranesiŖ ist eine jener Gestalten, die, von einer Idee aufs Tiefste betroffen, nur noch diese Idee sehen und bereit sind, ihr alles auf der Welt zu opfern. Dabei spielt für sie, was auf das Unverständnis des Materialisten Viktor trifft, der Faktor des Nützlichen keine Rolle mehr. Das Nutzlose, das nach Faust den Schlüssel für alle äußeren Handlungen „PiranesisŖ bildet, stellt den eigentlichen Schmuck des Lebens dar. Er ist die „PoesieŖ, ohne die der Mensch nicht sein kann. Von hier aus erhält die Piranesi-Gestalt ihre tiefste Deutung. Sie wird zur Rechtfertigung des Schönen in der Welt. Sie zeugt gleichzeitig von dessen Gefährdung und von dessen Notwendigkeit im Leben des Menschen. Das ist die Botschaft, die Odoevskij im Namen

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der Romantik verkündet und die über die zu Ende gehende Epoche hinaus ihre Gültigkeit behält Ŕ formuliert in einem Werk umfassender Art, das, von romantischer Gleichgültigkeit gegenüber strengen ästhetischen Regeln und Gesetzen, formal zwischen epischer Breite und novellistischer, oft anekdotischer Kürze, inhaltlich zwischen phantastisch-märchenhaften Stoffen und psychologisch-gesellschaftskritischen Darstellungen schwankt. Dieses Schwanken erwächst nicht aus gestalterischer Unentschiedenheit, sondern aus einer neuartigen Ausdrucksfülle und -dichte, in der sich eine in die Moderne weisende Spielfreude produktiver dichterischer Einbildungskraft dokumentiert. VII. Die Entdeckung der „Wirklichkeit, so wie sie ist“ Am 2. November des Jahres, in dem Odoevskijs „Russkie noĉiŖ erschien, genehmigte die Zensur den Druck des ersten der beiden Bände eines Almanachs, der wie der zweite 1845 von Nikolaj Nekrasov unter dem Titel „Fiziologija PeterburgaŖ1 publiziert wurde. Während der Erzählungszyklus in Hoffmannscher Manier mit seiner dialogischen Rahmenstruktur im platonischen Geist eine Epoche abschloss, eröffnete das zweibändige, aus jeweils sechs Texten essayistischer und belletristischer Art bestehende Sammelwerk eine neue literarische Richtung und führte unter dem Einfluss einer aktuellen französischen Entwicklung das Genre der „physiologischen SkizzeŖ (fiziologiĉeskij oĉerk) in die russische Literatur ein. Der Schriftsteller Annenkov hatte, nicht ohne Ironie, aus Paris geschrieben: „Tausende von Broschüren mit Vignetten und Gravüren sind erschienen und überschwemmen jetzt geradezu die Buchhandlungen. Was gibt es da nicht alles für Physiologien! Die eines Handwerkers, eines Abgeordneten, eines Soldaten, eines Flaneurs usw. usw.; die Physiologie eines Handschuhs, die Physiologie eines Droschkengauls. Ich sehe bereits, wie eines Tages, die Physio eines müßigen Slaven, der unbekannte Länder bereist, erscheint Ŕ mit meinem Porträt.Ŗ2 Die Rezeption und Nachahmung der Physiologie im Sinne der skizzenhaften Darstellung einer Klasse durch eine typische Figur setzte in Russland unmittelbar nach dem Erscheinen des Sammelbands „Les Français peints par eux-mêmesŖ (1840Ŕ1842) ein. Aleksandr Bańuckij, der Verfasser eines enzyklopädischen Werkes über die geographischen Gegebenheiten, die geschichtliche Entwicklung und die öffentlichen Einrichtungen der russischen Hauptstadt („Panorama SanktpeterburgaŖ, 1834), kündigte 1841 eine Fortsetzungsserie, betitelt „Nańi, spisannye s natury russkimiŖ (Die Unsrigen, von Russen nach der Natur gezeichnet), mit 22 Physiologien von Autoren unterschiedlicher literarischer und politischer Richtungen an. Nachdem in der ersten Lieferung fünf der angekündigten Beiträge publiziert worden waren, wurde die Serie trotz ihrer Beachtung durch die zeitgenössische Kritik aus unerklärlichen Gründen eingestellt. Da Bulgarins „Oĉerki russkich nravovŖ (Skizzen russischer Sitten, 1843) mehr Sittenschilderungen als Physiologien sind, selbst wenn einmal mit ausführlicher Genauigkeit verschiedene Arten von Droschkenkutschern beschrieben werden, können die zwölf Texte in Nekrasovs „Fiziologija PeterburgaŖ als die erste echte physiologische Dar-

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stellung russischer Wirklichkeit gelten. In ästhetisch überzeugender Weise wurden die Prinzipien der französischen Sammlung auf die Erfassung heimischer Verhältnisse angewandt. Die Aufgabe, die sich die sieben Autoren gestellt haben, besteht, wie Belinskij in der „EinleitungŖ erläutert, vorrangig darin, die Hauptstadt Russlands „von Seiten der Lebensweise und der Besonderheiten ihrer BewohnerŖ vorzustellen.3 Damit grenzt man sich gegenüber Bańuckij ab. Dieser habe zwar die Absicht gehabt, Petersburg ebenfalls nicht nur äußerlich, in topographischer, architektonischer oder klimatischer Hinsicht, sondern unter dem Aspekt der großstädtischen Sitten und Bräuche darzustellen, später jedoch, vor allem durch den Abbruch des Vorhabens, lediglich eine „BeschreibungŖ und „keine CharakteristikŖ der Stadt geliefert, dazu in einem „eher offiziellenŖ als „literarischenŖ Stil.4 Die physiologische Skizze wird also bei allem sachlichen Interesse und dokumentarischen Anspruch von vornherein als eine der Sprachkunst zugeordnete Form verstanden. Dennoch unterscheidet sie sich als solche deutlich von den novellistischen Petersburg-Erkundungen Gogolřs, Puńkins und Odoevskijs. Diese erzählenden Schriftsteller vermitteln mit den Ansichten Petersburgs und seiner Bewohner gleichzeitig ein Bild des russischen Menschen und darüber hinaus des Menschen im Allgemeinen. Dagegen geht es den Verfassern von „Fiziologija PeterburgaŖ in ihren Skizzen ausschließlich um den Menschen, der in der russischen Hauptstadt lebt und arbeitet und der geprägt ist durch Herkunft, Milieu, Beruf und sozialen Status. Dalř beschreibt den Petersburger Hausmeister, Grigoroviĉ den Petersburger Leierkastenmann, Nekrasov den Petersburger Beamten, Panaev den Petersburger Feuilletonisten. Jeder dieser Typen wird meist zu Beginn definiert, anschließend klassifiziert und darauf möglichst ausführlich und anschaulich charakterisiert.5 Manchmal vervollständigt eine knapp gehaltene Biographie das Gesamtbild. Der Lebensweg eines Leierkastenmanns von der Geburt und der armseligen Kindheit an, den Grigoroviĉ schildert, nachdem er eine russische, deutsche, italienische und zusätzlich eine kleinbürgerliche und eine aristokratische Variante des Typs unterschieden hat, dient der Illustration der schlechten Bedingungen, unter denen sich das Dasein einer bestimmten Klasse vollzieht. Mit der physiologischen Skizze tritt das schriftstellerische Interesse für die Niederungen der Gesellschaft in den Vordergrund. So blicken Nekrasov und seine Mitarbeiter an der Sammlung „Fiziologija PeterburgaŖ hinter die prächtigen Fassaden ihrer Stadt und führen den Leser in die einfacheren Viertel, in die „Petersburger WinkelŖ (Peterburgskie ugly) oder auf die „Petersburger SeiteŖ (Peterburgskaja storona), wie zwei der Beiträge überschrieben sind, dorthin, „wo es weder Theater noch Zauberkünstler oder Tiervorführungen gibt, mit einem Wort keine Vergnügungen, die dazu beitragen, für Geld leere Zeit totzuschlagenŖ.6 Einige Zeitgenossen fühlten sich durch die Unmittelbarkeit der Konfrontation mit den „dunklenŖ, „verborgenenŖ Seiten des Petersburger Lebens provoziert und reagierten mit Unverständnis und Ablehnung. Ein Rezensent in der Zeitschrift „Severnaja pĉelaŖ zeigte sich schockiert über die „ekelerregenden und abstoßenden

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BilderŖ; er vermisste „Anteilnahme und MitleidŖ seitens der Schreibenden und verurteilte die Auswahl derart „niedrigerŖ Helden.7 Auch Bulgarin vermerkte geringschätzig, dass er nicht verstehe, „welchen Wert in moralischer und philosophischer Hinsicht die Skizze (esquisse) des gewöhnlichen Lebens eines HausknechtsŖ haben könne.8 Später denunzierte der konservative Kritiker und Schriftsteller die gesamte Richtung, die er im unaufhebbaren Widerspruch zu seinen eigenen ästhetischen und gesellschaftlichen Überzeugungen sah, und prägte den herabsetzend gemeinten, von Belinskij 1846 ins Positive gewendeten Terminus „naturalřnaja ńkolaŖ (Natürliche Schule). Inzwischen wertfrei benutzt, bezeichnet der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Kampfparole verwendete Begriff die frühe Phase des russischen Realismus. Das Erzählen entsprang fortan, wie Dmitrij Grigoroviĉ bemerkte, nicht mehr dem „Wunsch, der Phantasie freiesten Lauf zu lassenŖ, sondern dem „Verlangen, die Wirklichkeit so, wie sie ist, darzustellenŖ.9 Voraussetzung dafür war die Vertrautheit mit den Gegenständen aus der eigenen Anschauung und der eigenen Erfahrung. Bezeichnend ist deshalb die Erinnerung Grigoroviĉs an die Entstehung seiner Skizze „Peterburgskie ńarmanńĉikiŖ: „Etwa zwei Wochen lang schlenderte ich ganze Tage in drei nahe dem Gericht gelegenen Straßen umher, wo sich damals die Leierkastenmänner vornehmlich aufhielten, unterhielt mich mit ihnen, geriet in die letzten Spelunken und schrieb dann alles, was ich gesehen und gehört hatte, bis zu der letzten Kleinigkeit auf.Ŗ10 Ungeschminkte Darstellung der Wirklichkeit, wurzelnd in gründlichem Studium und genauester Beobachtung Ŕ das ist der Weg zum Realismus. Dieser Weg führte über Turgenev. Auch Ivan Turgenev (1818Ŕ1883) begann als Physiologist. Er hatte um die Mitte der vierziger Jahre wie Vladimir Dalř, sein ehemaliger Vorgesetzter im Innenministerium, den er als Meister der kurzen Formen bewunderte, die Absicht, Petersburg und seine Bewohner nach Art der physiologischen Skizze wirklichkeitsgetreu mit größter Detailgenauigkeit und Eindringlichkeit in der Vergegenwärtigung des Lebensumfelds zu erfassen. Dabei dachte er an die Beschreibung und Charakterisierung des Trödelmarkts, des Galeerenhafens, des Nevskij Prospekts, der Menschen auf der Pferdebahn und in den Fabriken, in Wirtshäusern und Armenvierteln. Inspiriert durch neueste erzählende Werke mit den Darstellungen des Provinz-, Volks- und Bauernlebens, sowohl aus Westeuropa wie Balzacs „PaysansŖ (1844), wie Berthold Auerbachs „Schwarzwälder DorfgeschichtenŖ (1843) oder wie die Romane George Sands als auch von russischer Seite wie Gogolřs „Mertvye duńiŖ, Sollogubs „TarantasŖ (Der Reisewagen, 1845) und Grigoroviĉs „DerevnjaŖ (Das Dorf, 1846)11, verlegte Turgenev, einem Trend der Zeit folgend, seine Sittenschilderungen und Milieubeschreibungen vom städtischen in den ländlichen Bereich. Die Besuche, die Ĉiĉikov, von Hof zu Hof fahrend, fünf Gutsbesitzern in der Umgebung der Gouvernementsstadt N. abstattet, um ihnen verstorbene Leibeigene abzukaufen („Mertvye duńiŖ), die Station um Station, Erlebnis für Erlebnis verfolgte Reise Ivan Vasilřeviĉs und Vasilij Ivanoviĉs, zweier befreundeter Gutsbesitzer, von Moskau nach Mordásy zu ihren

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Landsitzen in Zentralrussland („TarantasŖ) und die Lebensgeschichte der Viehtreiberin Akulina in der kontinuierlichen Abfolge der Phasen Geburt, Kindheit, Heirat, Mutterschaft, Krankheit, Tod („DerevnjaŖ) bilden jeweils das Erzählgerüst sowie den Erzählrahmen für die deskriptive Erfassung der Wirklichkeit in Form einzelner physiologischer Skizzen. Da es in den drei Fällen keine Handlungsentwicklung mit einer „IntrigeŖ im Sinne der romantischen Novellistik gibt, bedurfte es eines kompositionellen Elements wie des Reise- oder Vitenschemas, um die aneinandergereihten Bilder, Porträts und Eindrücke zusammenzuhalten. Turgenev konnte hier genauestens studieren, was Vinogradov „naturalřnyj protokolizmŖ nennt.12 Das Verfahren, das dieser Begriff beinhaltet, impliziert nicht nur eine unverklärte, sondern auch eine kritische Darstellung der Wirklichkeit. Weder Gogolř noch Sollogub oder Grigoroviĉ lässt einen Zweifel an den überlebten patriarchalischen Verhältnissen und widrigen, von der Leibeigenschaft bestimmten Daseinsbedingungen auf dem Lande fern vom Glanz der Hauptstadt. Von Belinskij zur Schriftstellerei ermutigt, schloss Turgenev an solche literarischen Vorbilder an und führte sie dann, verstärkt durch Kindheitserinnerungen an das ländliche Leben auf seinem mütterlichen Erbgut unweit der Kreisstadt Mzensk im Gouvernement Kaluga, in ästhetisch zunehmend selbständigerer Art fort. Von „Chor i KalinyĉŖ an, seiner ersten, 1847 in der Zeitschrift „SovremennikŖ veröffentlichten Skizze, der bis 1851 noch einundzwanzig weitere folgten, ehe alle zusammen, unter dem Titel „Zapiski ochotnikaŖ (Aufzeichnungen eines Jägers) vereint, 1852 als Sammlung erschienen, entwickelte er im Rahmen des Genres einen ganz persönlichen Stil. Einerseits hält er sich noch an die physiologische Methode und konzipiert seine Figuren aus den Landkreisen verschiedener Gouvernements im mittleren Russland Ŕ analog zu den Bewohnern der russischen Hauptstadt in Nekrasovs „Fiziologija PeterburgaŖ und dem Fortsetzungsband „Peterburgskij sbornikŖ (1846) Ŕ nicht als Träger einer zielgerichteten dynamischen Handlung, sondern in der Form statischer Porträts von Standes- und Berufsvertretern. Andrerseits präsentiert er die Bauern und Gutsbesitzer, die den Hauptbestand seines Personals ausmachen, zwar im Sinne sozialer Typik, stattet sie aber zugleich bis zu einem gewissen Grad mit deutlich individuellen Zügen aus.13 Dazu benutzt er oft das Mittel des kontrastiven Vergleichs, das sich zuweilen schon in den Titeln seiner Skizzen ankündigt wie im Falle von „Dva pomeńĉikaŖ (Zwei Gutsbesitzer) und „Ĉertopchanov i NedopljuskinŖ und das auch in seinem folgenden erzählerischen Schaffen, in Novellen wie „Dva prijateljaŖ (Zwei Freunde, 1854) und im Roman „Otcy i detiŖ (Väter und Söhne, 1862), zur Anwendung gelangt, ja selbst in seiner Essayistik Ŕ man denke an „Gamlet i Don-KichotŖ (1859) Ŕ in zentraler Funktion begegnet. In „Chor i KalinyĉŖ, der ersten gedruckten und dann auch den Auftakt des späteren Zyklus bildenden Skizze Turgenevs, wird die Unterschiedlichkeit der Titelfiguren, zweier befreundeter Bauern, die sich vom Charakter her „nicht im geringstenŖ ähnlich sind, aus der einleitenden Kontrastierung der Gouvernements Orel und Kaluga hergeleitet.14 Chor, der entsprechend der freieren und großzü-

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gigeren Gestaltung der Kalugaer Dörfer in einem geräumigen Haus mit sauberen Holzwänden und schindelgedecktem Dach wohnt, ist ein „tüchtiger, praktischer Mann, ein administrativer Kopf, ein RationalistŖ; er hat ein „Sümmchen zusammengespartŖ, „gebautŖ, eine „große Familie gegründetŖ und versteht sich „prächtig mit dem gnädigen Herrn und den sonstigen ObrigkeitenŖ. Kalinyĉ dagegen, der wie der kleinwüchsige, untersetzte und finster blickende Oreler Bauer in einer windigen Hütte aus Espenholz haust, gehört zu den „Idealisten und Romantikern, den begeisterungsfähigen und verträumten MenschenŖ; er geht „in BastschuhenŖ und schlägt sich allein, ohne Frau und Kinder, „mit Müh und NotŖ durchs Leben, hat aber, der Natur verbundener als Chor, der den Menschen und der Gemeinschaft nähersteht, eine „glückliche HandŖ in den Dingen des Alltags. Durch die Betonung der Unterschiede in Charakter, Fähigkeiten und Lebensführung von Chor und Kalinyĉ, die beide dem Gutsbesitzer Polutykin gehören, illustriert Turgenev, dass sich der Bauer, wenngleich er keine vollendete Individualität verkörpert, nicht im Typus erschöpft und dass er auch kein unmittelbares Produkt äußerlicher Bedingungen wie Herkunft, Milieu und Leibeigenschaft ist. Von hier aus erklärt sich zudem die relative Unabhängigkeit, die sich Chor und Kalinyĉ gegenüber ihrem Besitzer verschafft haben. Während der eine regelmäßig Pachtzins zahlt und pünktlich seine Abgaben entrichtet, wodurch er so selbständig ist, dass Polutykin ihn nicht ganz ohne Anerkennung als „BestieŖ bezeichnet, geht der andere mit seinem Herrn, vor dem er größte Ehrfurcht empfindet, täglich auf die Jagd und befindet sich so ebenfalls in einer herausgehobenen Stellung. Hatte Vladimir Dalř in „Russkij muņikŖ (Der russische Bauer, 1845) und anderen physiologischen Skizzen, die Turgenev kannte und rezensierte, den russischen Bauern noch als einen engbegrenzten Nationalcharakter gezeichnet, der, dumpf, träge, einfältig, bereitwillig Frondienste leistet15, machte der Verfasser von „Chor i KalyniĉŖ dem Leser in Russland zum erstenmal bewusst, dass auch die Leibeigenen denkende und fühlende Wesen sind und alle über ebenso reiche geistige Anlagen und tiefe Empfindungen verfügen wie freie Menschen, ja darin ihre Herren nicht selten sogar übertreffen. Von Chor heißt es, er „durchschaute Herrn Polutykin völligŖ.16 Belinskij war begeistert vom Bauernbild Turgenevs und rühmte die „AnteilnahmeŖ und „GutherzigkeitŖ, mit der die leibeigenen Helden geschildert und die Leser dazu gebracht werden, „sie von ganzem Herzen zu liebenŖ.17 Seine rhetorische Frage „Was kann an einem groben, ungebildeten Menschen schon interessant sein?Ŗ wird nicht nur durch die erste, sondern auch durch alle folgenden Skizzen, Text für Text, eindeutig beantwortet: „Seine Seele, sein Verstand, sein Herz, seine Leidenschaften, seine Neigungen Ŕ mit einem Wort, alles das, was auch an einem gebildeten Menschen interessant ist.Ŗ18 So verwundert es keineswegs, dass Tolstoj in „Zapiski ochotnikaŖ seine Sicht des einfachen Volkes bestätigt und gestaltend vorweggenommen sah. „Das einfache VolkŖ, vermerkt er 1853, fünfundzwanzigjährig, in seinem Tagebuch, „steht soviel höher als wir in seinem von Arbeit und Entbehrung ausgefüllten Leben, dass es unsereinem ir-

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gendwie nicht zusteht, in ihm das Schlechte zu suchen und zu beschreiben.Ŗ19 Und wenn er hinzusetzt „Es gibt solches Schlechte in ihmŖ, aber es sei „besser, nur Gutes von ihm zu sagenŖ wie Turgenev, dann trifft er exakt dessen Absicht. Turgenev wollte nicht den typischen Bauern im Sinne einer statistischen Durchschnittlichkeit vor Augen führen, er hatte vielmehr den Anspruch, am Beispiel individualisierter, psychologisch interessanter Gestalten die Möglichkeiten aufzuzeigen, die nach seiner festen Überzeugung keimhaft im russischen Bauerntum schlummerten und zur Entfaltung kämen, sobald sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen ändern würden.20 Die idealisierende Zeichnung der Bauern steht in „Zapiski ochotnikaŖ in unmittelbarem Wechselbezug mit dem äußerst negativen Bild des adligen Gutsbesitzers. Aufgewachsen „in einer Atmosphäre, in der Faustschläge, Tritte, Prügel, Ohrfeigen und so weiter an der Tagesordnung warenŖ und in der die eigene Mutter als „grausam-herrische ‚SeelenbesitzerinřŖ agierte, die das Hofgesinde bei den geringsten Verfehlungen schwersten Körperstrafen unterwarf 21, zeigte Turgenev, ohne das Wort „krepostniĉestvoŖ zu benutzen (was offiziell ohnehin untersagt war), in einer Direktheit wie seit Fonvizin kein russischer Schriftsteller die Unmenschlichkeit und den Anachronismus des Leibeigenschaftssystem. Die Ausübung der fast unbegrenzten Verfügungsgewalt der landbesitzenden Herren über ihre Bauern sowie ihr Gesinde im Haus und auf dem Hof bildet so ein durchgehendes Thema und wird in den unterschiedlichsten Varianten veranschaulicht. Mardarij Apollonyĉ Stegunov, einer der beiden Helden in „Dva pomeńĉikaŖ, die in Charakter und Lebensweise so gegensätzlich sind wie Chor und Kalinyĉ trägt die Lust am Auspeitschen bereits in seinem von „stegnutřŖ (peitschen) abgeleiteten Namen. Eine exemplarische Szene22 verdeutlicht in der exponierten Stellung am Ende der Skizze die Menschenverachtung, die sich in dieser für einen ganzen Stand typischen Lust spiegelt. Als der Erzähler, mit Stegunov bei abendlicher Unterhaltung auf dem Balkon des Gutshauses sitzend, plötzlich aus der Richtung des Pferdestalls den Klang schneller, gleichmäßig aufeinanderfolgender Schläge vernimmt und sich ganz erstaunt nach der Ursache erkundigt, erläutert der Gastgeber, während er genussvoll seinen Tee schlürft und „mit gütigstem LächelnŖ unwillkürlich das Echo der Schläge wiederholt: „Dort wird auf meinen Befehl ein ungezogener Bursche bestraft.Ŗ Und als er den Ausdruck des Befremdens auf dem Gesicht seines Gegenüber bemerkt, fügt er ironisch hinzu: „Bin ich denn etwa ein Bösewicht, dass Sie mich so anstarren? Wen man liebt, den muss man züchtigen.Ŗ So selbstverständlich, wie der zynische Herr die Züchtigung betrachtet, wird sie auch von dem betroffenen Diener akzeptiert. Vasja findet sich „zu RechtŖ und „aus gutem GrundŖ bestraft. „Bei unsŖ, ist er überzeugt, „bestraft man niemanden wegen Kleinigkeiten.Ŗ Der Erzähler beschränkt sich als Physiologist, der nur aufzeichnet, wiedergibt, beschreibt, auf ein abschließendes, lakonisches „So ist es, das alte Russland!Ŗ Die Korrektur von Vasjas Äußerung übernimmt ein anderer Text, die frühe Skizze „BurmistrŖ (Der Gutsvogt), in der ein junger Gutsherr, Gardeoffizier im Abschied, Arkadij Pavlyĉ Pe-

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noĉkin, seinen Kammerdiener verprügeln lässt, weil dieser es versäumt hat, den Rotwein vorzuwärmen.23 Ein einziges Epitheton („der arme KammerdienerŖ) genügt dem um Objektivität bemühten Erzähler, wie zuvor das resignative Eingeständnis, dass Russland eben so ist, als Kommentar und moralische Wertung. Dieses despotische Verhalten der russischen Gutsbesitzer in „Zapiski ochotnikaŖ, die der Ich-Erzähler, als Jäger die Gegend durchstreifend, unterwegs oder zu Hause trifft und mit denen er sich häufig bei gastlicher Bewirtung länger oder kürzer unterhält, äußert sich nicht nur in den Maßnahmen körperlicher Gewalt, sondern auch in den Akten seelischer Quälereien. Man verweigert den Liebenden, einmal aus eigener Bequemlichkeit wie in „Ermolaj i melřniĉichaŖ (Ermolaj und die Müllerin), ein anderes Mal aus purer Laune und Gehässigkeit wie in „Petr Petroviĉ KarataevŖ, die Erlaubnis zur Heirat oder steckt nach zwei Söhnen auch noch den dritten außer der Reihe unter die Rekruten und entlässt Bauern aus der Fronarbeit in die Zinsknechtschaft, um auf diese Weise mehr aus ihnen herauspressen zu können („BurmistrŖ). Es gibt nur eine einzige Gestalt in den 22 Texten, die frei ist von den dargestellten vielfältigen Erscheinungsformen der Willkür, Grausamkeit und Launenhaftigkeit des russischen Landadels. Dies ist die fünfzigjährige Witwe Tatřjana Borisovna, die mit wenigen Bediensteten und einem siebzigjährigen belesenen Sonderling, einem ehemaligen Geiger, der Kammerdiener, Haushofmeister und Büfettier in einem ist, zurückgezogen auf einem winzigen Gut lebt. Aus armem Adel stammend, hat sie keine Erziehung genossen, liest nicht, spricht kein Französisch und war nicht einmal in Moskau. „Doch sie benimmt sich, ungeachtet all dieser MängelŖ, wie der Erzähler bei seinem Besuch selber feststellen kann, „so einfach und so gut, fühlt und denkt so frei und ist so wenig von all den üblichen chronischen Krankheiten der Gutsdamen mit kleinem Grundbesitz infiziert, dass es in Wahrheit unmöglich ist, nicht über sie zu staunen.Ŗ24 Um den Haushalt kümmert sich Tatřjana Borisovna kaum; sie liebt es dafür, am Fenster zu sitzen und zu stricken oder im Garten die Pflanzen zu gießen und die Tauben zu füttern; wenn aber einer der jungen Nachbarn vorbeikommt, lauscht sie, ohne viel dabei zu reden, aufmerksam seinen Erzählungen und bietet, falls nötig, Rat und Trost. So unterstützt sie finanziell ihren Neffen, einen gering begabten Maler, und nimmt ihn am Ende sogar in ihr Haus auf, ihm, selbst nachdem er sich als frecher Angeber und undankbarer Nichtsnutz erwiesen hat, auch weiterhin uneingeschränkt Kost und Logis gewährend. Mit dieser schlichten, gütigen, warmherzigen Adelsfrau, die nicht zufällig in den Romanen „Dvorjanskoe gnezdoŖ (Das Adelsnest, 1859) und „DymŖ (Rauch, 1867) als Marfa Timofeevna und Kapitolina Markovna wiederkehrt, hat Turgenev ein positives Gegenbild zu all den anderen Gutsbesitzern und Gutsbesitzerinnen entworfen, die in ihrer Herrschsucht, Gemeinheit und Ignoranz Ŕ durch keine Komik gemildert wie bei Gogolř Ŕ schonungslos bloßgestellt werden. Lange vor Ĉechov wird die russische Aristokratie bei Turgenev als eine absterbende, an sich selber zugrunde gehende Klasse präsentiert. Ihr Niedergang

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vollzieht sich, wie er auf europäischer Ebene schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Robert Burton am englischen Beispiel beobachtet worden ist, als klassenspezifische Entwicklung von der Muße über Müßiggang und Langeweile zur Melancholie. „Keinen Beruf zu habenŖ, schreibt Burton in „The Anatomy of MelancholyŖ (1621), „nicht zu arbeiten, weil sich dieses mit der hohen Geburt nicht verträgt, ein reiner Zuschauer zu sein, eine Drohne, ausschließlich zum Konsum geboren, ohne nötige Beschäftigung in Kirche oder Staat, nichts als Speise und die Tage mit Falknerei, mit Jagden und ähnlichen Vergnügungen verbringen Ŕ das macht gewöhnlich die alleinige Beschäftigung unseres Adels aus.Ŗ25 Was dieser Oxforder Bibliothekar und Archivar aus bürgerlicher Perspektive konstatierte und als eine soziale Krankheit des Adels diagnostizierte, die Angewohnheit, alles durch die Dienerschaft erledigen zu lassen und sich dem Müßiggang und der Vergnügungssucht hinzugeben, bestätigte Turgenev wie zuvor auch die französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts aus der adligen Innensicht. In der Rolle des Ich-Erzählers, eines Gutsbesitzers und Schriftstellers, der als leidenschaftlicher Jäger ebenfalls ein Teil der aristokratischen Mußekultur ist, bringt er in den teils zufälligen und teils beabsichtigten Begegnungen mit gutsbesitzenden Vertretern seines Standes nichts deutlicher zum Vorschein als ihre Lebensuntüchtigkeit und damit ihre gesellschaftliche Überflüssigkeit. Wie Stegunov in „Dva pomeńĉikaŖ sind alle mehr oder weniger desinteressiert an ökonomischen Fragen und unfähig zur ordentlichen Bewirtschaftung des eigenen Besitztums. Der kleine, runde, kahlköpfige Mann, der, ausgestattet mit einem Doppelkinn, weichen Händen und einem gehörigen Bäuchlein, im Sommer wie im Winter denselben gestreiften wattierten Schlafrock trägt, „kümmert sich nur sehr oberflächlichŖ um sein 500-Seelen-Gut. So kauft er, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, bei Butenov in Moskau eine Dreschmaschine, schließt sie aber gleich wieder in den Schuppen ein, wo sie dann zehn Jahre steht. Allein an schönen Sommertagen holt er sie heraus und fährt auf ihr übers Feld, um das Getreide anzuschauen und Kornblumen zu pflücken. Die Szene besitzt exemplarischen Charakter. Sie zeigt, dass die Schicht, der Stegunov angehört, keinen Bestand hat, weil sie im Unterschied zum aufstrebenden Bürgertum die Muße über die Arbeit, die Neigung über die Pflicht setzt. Stegunov pflegt, statt Anordnungen zu treffen, viel lieber wie Gogolřs altväterliche Gutsbesitzer in „MirgorodŖ die Gastfreundschaft („er freute sich aufrichtig über jeden BesucherŖ) und nutzt jede Gelegenheit, um als „großer SpaßmacherŖ in Erscheinung zu treten. Kurz, „er lebt, wie man zu sagen pflegt, sich selbst zum VergnügenŖ.26 Die Dekadenz solch einer Lebenseinstellung spiegelt sich in der unmittelbaren Umgebung Stegunovs wider. Wie Gogolř in den berühmten Gutsbesitzerporträts, die in Form physiologischer Skizzen den ersten Teil des Romans „Mertvye duńiŖ bilden, charakterisiert Turgenev die Person, indem er den Raum und die Dinge im Raum beschreibt. So nachlässig wie im Wirtschaftlichen ist Stegunov auch im privaten Bereich. Sein Haus „von alter BauartŖ, in dem es nach Kwas, Talgkerzen und Leder riecht, weist zahlreiche Spuren der Verwahrlosung und des Verfalls auf.

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Im Esszimmer, das immer voller Fliegen ist, steht ein „verstimmtes KlavierŖ, im Salon hängt neben zwei Spiegeln eine „heisere Wanduhr mit schwarzgewordener Emaille und bronzenen gravierten ZeigernŖ, im Arbeitszimmer befinden sich unter anderem Wandschirme von bläulicher Farbe, beklebt mit vergilbten, aus Druckwerken des vorherigen Jahrhunderts ausgeschnittenen Bildchen, und „Schränke mit übelriechenden Büchern, bedeckt von Spinnen und von schwarzem StaubŖ. Die Tür, die von hier aus in den Garten führt, ist „festvernageltŖ. Das Verschlossene, Verstaubte und Verfallende dieser Welt wird bis in die äußere Erscheinung des in großer Zahl vorhandenen Dienstpersonals hinein vergegenwärtigt. Alle sind „nach der alten Mode gekleidetŖ: in lange dunkelblaue Kaftane mit hohen Kragen und in Hosen von trüber Farbe und kurzen gelblichen Westen.27 Obwohl Turgenev den ruinösen Zustand der ländlichen Adelsgesellschaft und das entbehrungsreiche Leben ihrer Bauern weit schonungsloser enthüllte als seine Vorgänger in der Natürlichen Schule von Gogolř bis Dalř und Grigoroviĉ, erfolgte diese Enthüllung bei ihm nicht in der Weise offener Polemik oder direkter Anklage. Seine Kritik an den Zuständen ist unmissverständlich, aber sie wird nie explizit geäußert, sondern geht allein aus den geschilderten Situationen, Szenen, Handlungen sowie porträtierten Personen hervor. Dass Turgenev die Sachen für sich selbst sprechen lässt, ohne zusätzliche Kommentare oder Stellungnahmen, und dabei „völlig gelassenŖ erzählt und einen „feinen StilŖ benutzt, bewog Aleksandr Gercen, den Zyklus „Zapiski ochotnikaŖ als „poetisch geschriebene Anklageschrift gegen die LeibeigenschaftŖ zu rühmen.28 Gercen, der 1847/48 mit den sozialkritischen Novellen „Doktor KrupovŖ und „Soroka-vorovkaŖ (Die diebische Elster) hervorgetreten war und sich seinerseits zu den Prinzipien der Natürlichen Schule bekannte, sah deutlich, dass Turgenevs Zeit- und Gesellschaftskritik ebenso wie seine humanistische Aussage erst durch die besondere Art der künstlerischen Umsetzung ihre Eindringlichkeit gewinnt und zu überzeugender Geltung gelangt. Der Anteil des Stils an der neuen Wirklichkeitserfassung Ŕ die puńkinsche Einfachheit und Klarheit der Sprache, die Präzision des Ausdrucks, die rhythmische Organisation der Satzgestaltung und die suggestive Melodik des Wortklangs Ŕ ist in diesem Fall nicht hoch genug zu veranschlagen. Noch Maksim Gorřkij, der Turgenev wegen seiner Zuwendung zu den untersten Schichten des Volkes und seiner Anteilnahme an dem schweren Los der Opfer schätzte, betrachtete ihn neben Nikolaj Leskov als einen der großen Sprachschöpfer.29 Die Plastizität, Anschaulichkeit und Musikalität der Turgenevschen Prosasprache findet in den Naturbildern, die zusammen mit den Begegnungen und den Gesprächen des Ich-Erzählers das kompositionelle Schema jeder Skizze bilden, ihren vollendeten Ausdruck. In lyrisch bewegter Rede, die alle klanglichen und lexikalischen Möglichkeiten des Wortes nutzt, beschwört der Verfasser von „Zapiski ochotnikaŖ mit seinem ausgeprägten Sinn für Maß und Harmonie, unter neuartiger Verwendung des malerischen, charakterisierenden Adjektivs um treffende Wahrheit bis in Einzelheiten bemüht, die Schönheit und Reinheit der heimat-

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lichen russischen Landschaft. Die vielfältigsten Erscheinungen von Wald, Feld und Steppe werden im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten vom Blickpunkt des streifenden Jägers mit realistischer Genauigkeit, zugleich aber auch in den Farbund Gefühlstönen, wie sie nur dem echten Dichter zur Verfügung stehen, detailliert und nuanciert wiedergegeben. So wird etwa festgehalten, dass im Orelschen Gouvernement die „letzten Wälder und Dickichte aus Büschen und SträuchernŖ in den nächsten fünf Jahren verschwunden sein werden, während sich im Kalugaschen Gouvernement die „Forste über Hunderte, die Moore über Dutzende von WerstŖ hinziehen: „Der edle Vogel Auerhahn ist hier noch nicht ausgestorben, die gutmütige Sumpfschnepfe kommt reichhaltig vor, und das geschäftige Rebhuhn erfreut und erschreckt mit seinem jähen Aufschwirren sowohl den Schützen als auch den Hund.Ŗ30 Es sind nicht allein die Schärfe der einzelnen Wahrnehmungen und die Vielzahl der konkreten Details, die Turgenevs Landschaftsschilderungen so einmalig machen. Es ist darüber hinaus auch die Kunst, die verschiedenartigen Elemente, aus denen sich die Naturbilder zusammensetzen, einem gemeinsamen Grundton unterzuordnen und eine alles durchdringende, von tiefstem Gefühl erfüllte einheitliche Stimmung und Atmosphäre zu schaffen. Natur wird so zum Spiegel der menschlichen Seele, zu der in den Außenraum projizierten Innenwelt des Dichters im Zustand seines Schreibens. Nie ist sie etwas Fürsichseiendes, sie bleibt vielmehr stets auf den Schreiber und damit auch auf den Leser bezogen, ob nun ein warmer, schwüler Sommertag auf den Feldern und Wiesen oder ob der Übergang von der Abenddämmerung zum Einsetzen der nächtlichen Finsternis im Wald geschildert wird: „Die Vögel schlafen ein, nicht alle zugleich, sondern je nach Art: Jetzt sind die Finken verstummt, nach wenigen Augenblicken schweigen die Rotkelchen, dann folgen ihnen die Ammern. Im Wald wird es dunkler und dunkler. Die Bäume verschwimmen zu großen schwärzlichen Massen; am tiefblauen Himmel treten schüchtern die ersten kleinen Sterne hervor. Alle Vögel schlafen. Einzig die Rotschwänzchen und kleine Spechte piepsen schläfrig vor sich hin... Nun schweigen auch sie. Nur noch einmal erklingt über ihnen die helle Stimme eines Laubsängers; irgendwo ruft klagend ein Pirol, und die erste Nachtigall beginnt zu schlagen. Vor Erwartung klopft Ihr Herz.Ŗ31 Mit seinen meisterhaften Naturbildern32, die in ihrer Harmonie und inneren Geschlossenheit eine Gegenwelt zu der Welt der Menschen mit ihren Grausamkeiten entwerfen, hatte sich Turgenev eine schriftstellerische Ausnahmestellung innerhalb der Natürlichen Schule und in Bezug auf das Genre der physiologischen Skizze im Besonderen verschafft. Ein Meister in der Gestaltung der Natur sollte er zeitlebens bleiben und fand darin Bewunderer von George Sand über Fontane und Thomas Mann bis zu Romain Rolland, Galsworthy, Hemingway und vielen anderen, aber nach zweiundzwanzig Skizzen, denen erst Anfang der siebziger Jahre noch einmal drei (um 1850 begonnene) Nachträge folgten, hatte sich für ihn die typisierende Methode erschöpft. Statt Wirklichkeit zu beschreiben, wollte er jetzt erzählen, das heißt eine Geschichte erfinden, mit durchgängi-

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ger Handlung, novellistisch zugespitzt und mit psychologischer Motivierung der handelnden Figuren. VIII. Auf dem Weg ins Innere. Dostoevskij und Tolstoj Ivan Turgenev hatte, assistiert von den Petersburger Physiologisten, ein Fenster in die Wirklichkeit geöffnet. Seine Wirklichkeit waren die Natur und das Leben auf dem Land und in der Provinz. Dostoevskij und Tolstoj gaben sich mit einem einfachen, vordergründigen Realismus nicht zufrieden. Sie öffneten gleichzeitig mehrere Fenster in verschiedene Räume: Ausblicke ins Freie, aber auch Einblicke in innerste Zonen des Menschen und Durchblicke in die Vielschichtigkeit des Seins. Dabei verkörpern beide ganz unterschiedliche, ja geradezu konträre Arten des literarischen Realismus. Fedor Dostoevskij (1821Ŕ1881), der in jungen Jahren begeistert war von der klassischen und romantischen Literatur, der Homer und Shakespeare, Racine und Corneille, Goethe und Schiller, „den ganzen HoffmannŖ und „fast den ganzen BalzacŖ las, begann seine Karriere als Schriftsteller, anders als der acht Jahre jüngere Lev Tolstoj (1828Ŕ1910), im Kontext der Natürlichen Schule. Bezeichnenderweise erschien sein Erstlingswerk, der Briefroman „Bednye ljudiŖ (Arme Leute), 1846 in dem Sammelband „Peterburgskij sbornikŖ1, dem zweiten Hauptmanifest der Richtung. Die physiologische Skizze als selbständiges Genre fehlt jedoch bei ihm. Seine Nähe zur Natürlichen Schule drückt sich vor allem in jenem starken Interesse für soziale Fragen aus, das durch die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Russland unter Nikolaj I. geweckt worden war. Die persönliche Bekanntschaft mit Belinskij, der sich vom Schellingianer und Hegelianer zum Anhänger des utopischen Frühsozialismus gewandelt hatte, trug dann ihrerseits noch dazu bei. Exponent dieses Interesses ist der kleine Beamte, der zunächst in „Bednye ljudiŖ, und darauf auch in „DvojnikŖ (Der Doppelgänger), der ersten, fast gleichzeitig mit dem Roman erschienenen Erzählung Dostoevskijs, im Mittelpunkt steht. Die beiden Helden, Makar Devuńkin und Jakov Petroviĉ Goljadkin, erschöpfen sich nicht in physiologischer Beschreibung. Bis zu einem gewissen Grad erscheinen sie durchaus als typische Figuren im gewaltigen, seelenlosen Verwaltungsapparat des Nikolajschen Systems. Doch individualisiert und psychologisiert, sind sie zugleich auch ganz eigene, im Charakter wie im Handeln, Denken und Fühlen unterschiedene Personen. Deutlich wird dies besonders vor dem Hintergrund der Gemeinsamkeiten: der gleichen sozialen Situation, die sich aus der Einstufung am unteren Ende der Rangtabelle ergibt, und dem gleichen persönlichen Konflikt, der unerfüllten Liebe zu einem jungen Mädchen. Beide Helden, von Natur aus wie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung ohne großes Selbstbewusstsein, suchen, schamhaft der eine, schüchtern und ängstlich der andere, sich in der Liebe zu bestätigen und zu verwirklichen. Der siebenundvierzigjährige Kanzleibeamte Devuńkin verehrt die weit jüngere Varvara Dobroselova, eine entfernte Verwandte, die nach dem Tod ihrer Eltern und

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der Flucht aus der Obhut ihrer Wohltäterin in einem Petersburger Armenviertel untergekommen ist, offenbart seine Zuneigung jedoch ausschließlich in der Form der Korrespondenz. Er stilisiert sich, sprachlich aus der Lektüre empfindsamer Literatur schöpfend, als väterlicher Freund, der seine Briefpartnerin beschützen und ihr das Leben erleichtern möchte. Während er lediglich über sein Alter klagt, sonst aber völlig genügsam lebt („Ich habe genug zu essen, habe Kleidung und Schuhwerk. Was will ich mehr?Ŗ)2, dabei stolz darauf ist, in der Kanzlei bloß „AbschriftenŖ anzufertigen („Meine Schrift ist sauber und deutlich, man kann seine Freude daran haben, und Exzellenz ist zufrieden.Ŗ)3, strebt der Titularrat Goljadkin, von Ehrgeiz erfasst und von Eigenliebe getrieben, beruflich und gesellschaftlich nach Höherem. Im Zuge seines unbedingten Verlangens nach Aufstieg in der Hierarchie des Beamtentums und seines sehnsüchtigen Wunsches, ein „Mann von WeltŖ zu werden, macht er sich unrealistische Hoffnungen auf die Tochter seines Vorgesetzten, des Staatsrats Berendeev. Es wiederholt sich hier die Konstellation aus „Bednye ljudiŖ. Erneut erregt die jugendliche Heldin die sich aus literarischen Quellen speisende Phantasie des älteren Helden, die von Dostoevskij wiederum als romantisch-sentimentale Schwärmerei entlarvt wird.4 In beiden Fällen, in „DvojnikŖ wie in „Bednye ljudiŖ, ist das Objekt der Liebessehnsucht nicht erreichbar. Varvara, die sich schon zu Beginn des Briefwechsels den erotischen Anspielungen Devuńkins verschließt, folgt am Ende dem Ruf des reichen Herrn Bykov, eines skrupellosen, triebhaften Menschen, und nimmt, um der Armut sowie der eigenen inneren Leere zu entkommen, dessen Heiratsantrag an. Im Falle Klara Olsufřevnas ist der Versuch, die Begehrte zu erobern und durch die Eheschließung mit ihr eine gehobene Position in Amt und Welt zu gewinnen, standesbedingt von vornherein zum Scheitern verurteilt. Goljadkin jedoch wird die unüberbrückbare Kluft zwischen seiner Person und der Guten Gesellschaft erst wirklich bewusst, als er, beseelt vom Willen zu reüssieren, sich über die „HintertreppeŖ Zugang zu Klaras Geburtstagsfest verschafft. Als ungebetener Gast, der es wagt, die „Königin dieses FestesŖ zum Tanz aufzufordern, sorgt er für Peinlichkeit, wird zum allgemeinen Ärgernis und verursacht durch sein weiteres unangemessenes Verhalten einen solchen Skandal, dass man ihn gewaltsam aus dem Saal entfernt. Man zieht ihm den Mantel an, stülpt ihm den Hut bis zu den Augen herab auf den Kopf, und dann findet er sich im Flur, in Dunkelheit und Kälte, und schließlich auf der Treppe wieder. Goljadkin glaubt, in einen „AbgrundŖ zu stürzen. „Völlig außer sichŖ und „total erschlagenŖ, hastet er durch die stürmische Novembernacht, flüchtend vor den „vernichtenden BlickenŖ der Gäste. Am liebsten möchte er „sich selber entfliehenŖ, sich „vor sich selber versteckenŖ. Der kommentierende Erzähler geht sogar noch weiter: „Herr Goljadkin hatte nicht nur den Wunsch, sich selber zu entfliehen, er wollte gänzlich vernichtet werden und sich in Staub auflösen.Ŗ5 In diesem Kommentar wird Dostoevskij, der Psychologe, bereits zum modernen Psychoanalytiker. Er lässt seinen Helden genau das empfinden und durch das Erzählmedium bis in nahezu wörtliche Übereinstimmungen zum Ausdruck bringen, was heutzutage ein Fach-

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psychologe wie Léon Wurmser in seiner „Psychoanalyse von Schameffekten und SchamkonfliktenŖ als ein allgemeines Merkmal des Gefühlphänomens Scham beschreibt: „Wenn man sich schämt, möchte man sich in ein anderes Wesen verwandeln oder sich verbergen Ŕ man will nicht mehr gesehen werden.Ŗ6 Goljadkin erreicht dieses Ziel nicht, indem er sich „in StaubŖ auflöst, sondern indem er sich in ein „anderes WesenŖ verwandelt. Das Schamerlebnis und die daraus entspringende „SchamangstŖ7 sind von einer Intensität, dass sie in ihm eine Persönlichkeitsspaltung auslösen. Als er ziellos im Schneegestöber durch das einsame, finstere Petersburg irrt, begegnet er einem geheimnisvollen Passanten, der sich bald entfernt, bald wiederkehrt und der ihn schließlich, als er seine Wohnung betritt, auf einem Stuhl sitzend bereits erwartet. Jetzt erkennt er auch den Unbekannten: „Sein nächtlicher Gefährte war niemand anderes als er selber Ŕ Herr Goljadkin in eigener Person, ein zweiter Herr Goljadkin, haargenau wie er selber, mit einem Wort, in jeder Hinsicht sein Doppelgänger.Ŗ8 Am nächsten Tag sitzt der neue, der „jüngereŖ Goljadkin dem „älterenŖ als gerade eingestellter Kollege am Tisch in der Kanzlei direkt gegenüber, äußerlich mit ihm vollkommen übereinstimmend wie die Kopie mit dem Original, und Goljadkin, der „ÄltereŖ, fragt wie ein Gogolřscher Held, so wie Kovalev in „NosŖ oder Ĉartkov in „PortretŖ: „Was ist das jetzt, Traum oder Wirklichkeit?Ŗ9 Dostoevskij legt sich nicht eindeutig fest. Er lässt die Antwort in der Schwebe. So erwägt Urs Heftrich die Möglichkeit, das ganze Geschehen vom Auftauchen des „jüngerenŖ Goljadkin (Kap. V) bis zur Ausschaltung des „älterenŖ Goljadkin am Schluss der Erzählung (Kap. XIII/XIV) als Tagtraum aufzufassen.10 Das hieße, dass der letztere seinen schmachvollen Abgang vom Fest akzeptiert, zugleich aber die ganze Situation als Gedankenspiel noch einmal neu entwirft. Das Beschämende und die anschließende Verzweiflung werden dabei ein zweites Mal durchlebt. Doch der Beschämte sieht sich jetzt nicht mehr als Verursacher, sondern als Opfer der Peinlichkeit. Einem bösen Widersacher ausgeliefert, unterliegt er, hilf- und schutzlos, dessen Ränken. Diese „literarischeŖ Lesart von der entgegenwirkenden Phantasie entspricht der Erkenntnis der Psychologie und im Besonderen der zentralen These Wurmsers, dass Schamkonflikte von sich aus nach Maskierung drängen.11 Liest man den Text dagegen aus medizinischer Sicht, verkörpert Dostoevskijs Held einen pathologischen Fall, der die klinischen Merkmale einer schizophrenen Störung aufweist.12 Schon auf dem Weg zum Geburtstagsfest registriert Goljadkin eine auffällige körperliche Schwäche und Taubheit der Glieder Ŕ erste Anzeichen einer psychischen Labilität, die deutlich über die übliche Unruhe und Unsicherheit des ehrgeizigen Beamten hinausgeht. Bei seinem großen Auftritt und vor allem nach dem Eklat treten, angefangen von extremer Nervenerregung über Schüttelfrost und Fiebrigkeit bis zum Verlust des Raum- und Zeitgefühls, Erscheinungen zutage, die in der Medizin der Zeit als manische Symptome gelten. Die mit dem Auftauchen des Unbekannten eintretende, sich immer mehr zum Verfolgungswahn entwickelnde Doppelung resultiert nach heutiger wissen-

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schaftlicher Erkenntnis aus einem fehlgeleiteten Triebmechanismus. Goljadkin, von grenzenlosem Ehrgeiz, unbändigem Machtstreben und erotischem Verlangen erfüllt, verliert die Fähigkeit, seine Wünsche und Begierden in geordnete Bahnen zu lenken. Doch wie man die anfänglich als Freundschaft ersehnte, bald aber in erbitterte Feindschaft umschlagende Begegnung des Helden mit sich selber auch versteht, ob als inszeniertes Gedankenspiel oder als paranoide Depersonalisation, immer handelt es sich um eine Flucht aus der Normalität und um ein ganz persönliches „GegenmittelŖ13 zur Unerträglichkeit der Schamangst. Dass das Doppelgängermotiv damit eine völlig andere ästhetische Funktion und Stellung im Bedeutungsaufbau besitzt als etwa bei E. T. A. Hoffmann, wo es als Traumgestalt, Fieberhalluzination oder Sinnestäuschung aufgelöst wird, oder bei Nikolaj Gogolř, der es in „NosŖ mit allen Mitteln der phantastischen Groteske gestaltet und jeglicher Erklärbarkeit entzieht, wurde von der Mehrzahl der Zeitgenossen Dostoevskijs noch nicht erkannt. Selbst Belinskij, der die Doppelgänger-Erzählung gegenüber unberechtigten Vorwürfen verteidigte, sah in der Wirklichkeitsdarstellung des Textes ein Übermaß an „phantastischem KoloritŖ und somit einen Rückfall in romantisches Erzählen. „Das Phantastische kann in unserer Zeit nur in den Irrenhäusern seinen Platz haben, aber nicht in der LiteraturŖ, spottete er, „es befindet sich in der Obhut der Ärzte und nicht der Dichter.Ŗ14 In Wahrheit hatte Dostoevskij nicht bloß die Romantik, sondern auch schon den Frührealismus der Natürlichen Schule weit hinter sich gelassen. Das gilt für „Bednye ljudiŖ, und das trifft in ungleich stärkerem Maß auf „DvojnikŖ zu. Hier wie dort bilden die physiologischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, die in der Skizzenliteratur von so grundlegender Bedeutung sind, lediglich den Hintergrund, vor dem sich dann die psychologisierende Durchdringung der literarischen Figuren entfaltet und eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft erfolgt. Während in der ersten Erzählung die Wendung vom Physiologismus zur Bewusstseinspsychologie noch an die traditionelle Briefform gebunden ist, kann sie sich in der zweiten, auf keine vorgegebene Struktur und kein bindendes Muster bezogen, „unter Ausnutzung des pathologischen Schizophrenie-DiskursesŖ15 sprachlich und erzählerisch ganz frei entfalten. Sind in „Bednye ljudiŖ Sprach- und Erzählstil auf zwei deutlich getrennte Positionen verteilt, ist diese Aufteilung in „DvojnikŖ ins Innere des Helden verlegt, der nicht mehr in der Lage ist, zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Doppelung Goljadkins, die Spaltung in einen „älterenŖ und einen „jüngerenŖ Goljadkin, und die Entfremdung beider, manifestiert sich insbesondere durch die Technik der inneren Rede und des inneren Monologs, die den Eindruck eines die erzählte Handlung begleitenden Bewusstseinsstroms vermittelt. Dessen Inhalt besteht fast ausschließlich in der Wahrnehmung des paranoiden Helden, der mit der Abnahme seiner reflexiven Fähigkeiten auch zunehmend die Kohärenz und Beherrschung seiner Rede verliert.16

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Wie sich ein gestörtes Bewusstsein unmittelbar in einer gestörten Rede niederschlägt, das hatte schon Gogolř zehn Jahre zuvor in „Zapiski sumasńedńegoŖ demonstriert. Kommt dort das fiktive Ich Tagebuch schreibend direkt zu Wort, schiebt sich in „DvojnikŖ ein vermittelndes Erzähler-Er vor das Ich. Es entsteht jedoch keine Distanz. Denn die Position des Ich wird nicht im auktorialen Erzählen objektiviert, vielmehr löst sich die übergeordnete Instanz in einer extrem personalen Perspektive auf. Und diese personale Perspektive, aus der Goljadkin auf sich und seine Umwelt blickt, dabei alles unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse bewertend, bildet hier die Bedingung der Möglichkeit einer schizophren-pathologischen Schreibweise. Immer stärker dringen im Fortgang des Textes wahnhafte Zustände in den Strom des Bewusstseins und beeinflussen ihrerseits, die Aufmerksamkeit auf die Sprache lenkend, den Erzählfluss, der in seiner Chaotik die Labilität der Seele reflektiert. Psychose erscheint so nicht nur als existentielles, sondern auch als sprachliches und stilistisches Phänomen der „GrenzüberschreitungŖ.17 Im Rahmen der russischen Literatur ist Dostoevskij so der erste, der die Wende zur Moderne vollzieht. „DvojnikŖ präsentiert eine neue Art und Technik erzählender Prosa, darüber hinaus einen neuen Blick auf die Wirklichkeit und ein neues Menschenbild, in dem die gewohnte Trennung von normal und unnormal ebenso aufgehoben ist wie diejenige von gesund und krank. Dostoevskij schien sich der Tragweite seiner Neuerungen nicht im vollen Umfang bewusst gewesen zu sein. Irritiert von der weitgehenden Ablehnung der Erzählung durch die zeitgenössische Kritik18, die, von „Bednye ljudiŖ hellauf begeistert, in „DvojnikŖ nur Langatmigkeit erkennen konnte und die Uneindeutigkeit des Erzählens wie die Unbestimmtheit des Geschehens nicht als gewolltes Prinzip begriff, erwog er schon 1846, dann 1859, die veröffentlichte Textfassung umzuarbeiten. Schließlich beschränkte er sich für die dreibändige Werkausgabe von 1865/66 auf kleinere Änderungen, hielt jedoch noch 1877, vier Jahre vor seinem Tod, das Ganze für „entschieden misslungenŖ.19 Ungeachtet seiner Selbstzweifel und der ausgesprochen negativen Leserrezeption fuhr Dostoevskij nach der Veröffentlichung von „DvojnikŖ fort, das auktorial-personale Erzählverfahren, weiterzuentwickeln. Diese „Vermischung von Erzählertext und PersonentextŖ20, die, von Puńkin in seinem Versroman „Evgenij OneginŖ eingeführt, in der russischen Prosa punktuell auch schon früher begegnet, wird erst von Dostoevskij systematisch eingesetzt und „zur Dominante im Text- und Bedeutungsaufbau erhobenŖ21. So spricht der Er-Erzähler in „Gospodin ProcharĉinŖ (Herr Procharĉin), einer weiteren Beamtengeschichte, die im selben Jahr (1846) wie „DvojnikŖ erschien, selten vom erhöhten alleswissenden Standort. Sein Bericht über einen kleinen Kanzleiangestellten, der, verschüchtert, kommunikationsunfähig und grenzenlos geizig, unter größten Entbehrungen bis zu seinem plötzlichen Tod 2500 Rubel vom mageren Einkommen zusammenspart und unter der Matratze seines Betts versteckt, erfolgt weitgehend über den Personentext. Obwohl sich der Erzähler als „BiographŖ22 bezeichnet,

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verzichtet er darauf, das Berichtete zu erklären, zu kommentieren oder zu bewerten. Stattdessen lässt er immer wieder die dargestellten Personen, vor allem die Vermieterin und die Kollegen Procharĉins, zu Wort kommen, indem er in Form direkter und indirekter Rede ihre Äußerungen, Wahrnehmungen und Meinungen wiedergibt.23 Dabei passt er sich ihrem Bewusstseinshorizont bis hin zur Denk- und Sprechweise an (bei Procharĉin sogar bis in die an Goljadkins inkohärente Stammelrede erinnernde defekte Diktion). Im Vergleich zu „DvojnikŖ, wo sich der Erzählbericht nur mit der Rede einer Person, der des Protagonisten, vermischt, ist die Textinterferenz hier deutlich komplexer geworden. Dazu gehört, dass der Erzähler bei der Schilderung äußerer oder innerer Vorgänge zuweilen fehlendes Wissen vorgibt und es dem Leser überlässt, ob dieser die eine oder andere Möglichkeit für wahrscheinlicher hält. Schildernd, wie Procharĉin sich eines Tages urplötzlich von seinem Arbeitsplatz erhebt, seinen Mantel vom Haken nimmt und auf unbestimmte Zeit verschwindet, bemerkt er deshalb ausdrücklich „Ob er Angst gehabt oder ihn etwas gelockt hatte, wissen wir nicht, jedenfalls ließ er sich eine Weile weder zu Hause noch in der Kanzlei sehen...Ŗ24 Dostoevskij setzt einen aktiven Leser voraus. In „ChozjajkaŖ (Die Wirtin) haben wir nicht nur in einzelnen Fällen die Wahl zwischen mehreren Bedeutungsvarianten wie in „Gospodin ProcharĉinŖ, hier stellt sich vielmehr die grundsätzliche Frage, wie das „seltsame LebenŖ25, das der junge Wissenschaftler Ordynov im erzählten Zeitraum zwischen zwei Wohnungswechseln in Petersburg führt, insgesamt zu verstehen ist. Handelt es sich um Realität oder um Phantastik? Ereignet sich tatsächlich, was der verwaist aufgewachsene, in der Jugend vom „berauschenden GiftŖ26 der Wissenschaft infizierte menschenscheue Sonderling erlebt, oder entspringt alles seiner träumerischen Veranlagung und seinem zwischen Wachheit und Fiebertraum, Klarheit und Halluzination schwankenden Bewusstseinszustand? Eine sichere, begründete Antwort lässt sich nicht geben. Schon Romantiker wie Gogolř und Odoevskij hatten begonnen, die „prosaisch-realistischeŖ und „poetisch-phantasievolleŖ Darstellungsebene27 bis zur Untrennbarkeit miteinander zu verknüpfen. Dostoevskij griff diese Technik auf, gab der Verknüpfung aber eine ins Psychologische und Pathologische gehende Begründung. Aus der Darstellung eines kranken Bewusstseins entsteht ein psychologisch-pathologischer Diskurs und ein gänzlich neuer literarischer Stil. Die Versetzung des Erzählers in die Figur schafft Unbestimmtheiten und Uneindeutigkeiten des Textes, die nicht mehr vollständig auflösbar sind, aber gerade in ihrer das Verstehen erschwerenden Unauflösbarkeit die adäquate erzählerische Struktur für die Entdeckung des Inneren auf der Grundlage der Psychologie bilden. Als maßgebliche psychologische Instanz, die nicht Allgemein-Typisches wie im frührealistischen Physiologismus, sondern spezifisch Eigenes repräsentiert, erscheint in Dostoevskijs Frühwerk die Macht des Unterbewussten. Nicht zufällig sind alle Helden, von „Bednye ljudiŖ bis zu „Belye noĉiŖ (Weiße Nächte, 1848), der letzten Erzählung vor der Verhaftung des Schriftstellers, introvertierte, empfindsame, verletzliche Charaktere, zudem mehr oder weniger träume-

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risch veranlagt. Gänzlich nach innen gewandt, dabei beruflich fest in der Wirklichkeit verwurzelt, sind sie prädestiniert für die Analyse „seelischerŖ Prozesse. Von unfasslicher Angst erfüllt, befinden sie sich, voller Sehnsucht nach Geborgenheit, immer auf der Suche nach einem „geeigneten WinkelŖ28. Ordynov, gezwungen, die alte Stube aufzugeben, sucht einen neuen Rückzugsort in einer hohen, düsteren, von vielen Menschen bevölkerten Mietskaserne. Devuńkin findet ihn, nachdem er zwanzig Jahre bei derselben Wirtin gewohnt und mit ihr denselben Tisch geteilt hat, in der abgetrennten Nische einer Gemeinschaftsküche, und auch Procharĉin lebt bis zu seinem Tod hinter Wandschirmen, die, zwar mit der Zeit schäbig und löcherig geworden, ihn vor den Blicken der anderen Mieter bewahren. Der Fluchtraum Winkel schützt jedoch nur äußerlich. In den engen Grenzen, die er zieht, erstarren seine Bewohner. Sie werden menschenscheu und lebensuntüchtig. In der Zurückgezogenheit entwickeln sich ihre Ängste, Psychosen, Triebe, Obsessionen. Jeder ist völlig auf sich selber konzentriert und verliert so die Fähigkeit zur Integration in die Gemeinschaft und zur Teilhabe am zwischenmenschlichen Lebensalltag. Devuńkin lauscht zwanzig Jahre lang den Märchen seiner Wirtin, altert darüber, ohne etwas zu erleben, und ist am Ende außerstande, Varvara vor der Inbesitznahme durch den rücksichtslosen Triebmenschen Bykov zu bewahren. Procharĉin wehrt jede persönliche Kontaktaufnahme ab und stirbt, ausgezehrt von seinem Geiz, über der Bewachung der Truhe. Goljadkin, mit Schimpf und Schande aus der Öffentlichkeit verjagt, die er bisher gescheut, jetzt aber im unbedingten Willen zum gesellschaftlichen Aufstieg gesucht und provoziert hat, „flüchtetŖ in eine zweite Existenz, die er jedoch nicht aushält, und wird schließlich ins Irrenhaus eingeliefert. Ordynov verpasst, berauscht vom Forscherdrang, in klösterlicher Abgeschiedenheit hinter seinen Büchern das lärmende Leben, wird auf seiner Suche nach einer Ordnung und einem System im Kosmos vom Nervenfieber ergriffen und versinkt in langanhaltender körperlicher und geistiger Zerrüttung. Zeichneten Gogolř und Turgenev von den Gutsbesitzern in „Mertvye duńiŖ und „Zapiski ochotnikaŖ Porträts physiologischer Art, entwirft Dostoevskij aus dem Blickwinkel der Medizin von seinem Petersburger Personal regelrechte Psychogramme. Unterstützt und ästhetisch wirksam werden diese Entwürfe durch eine neuartige Technik der Verlagerung des Erzählstandpunkts vom auktorialen zum personalen Pol. Erzählt wird vorrangig aus der Perspektive des kranken Helden und seines Bewusstseins, wobei der Erzähler zwar in seiner Macht beschnitten, aber nicht völlig entrechtet ist, sondern untergründig als darstellendes, lenkendes und bewertendes Prinzip erhalten und als solches fassbar bleibt. Damit hatte Dostoevskij in thematischer wie in erzähltechnischer Hinsicht die Grundlage für sein gesamtes weiteres Schaffen gelegt. Zur Entwicklung und Vervollkommnung der schriftstellerischen Anfänge kam es jedoch erst, als er nach seiner zehnjährigen Verbannung in Sibirien zu Beginn der sechziger Jahre in die russische Literatur zurückkehrte. Sein Hauptinteresse galt nach wie vor

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den Innenwelten des Menschen, entfaltete sich jetzt aber im Unterschied zum Frühwerk vornehmlich in der Form des Romans. Nicht als was der Held in der realen Welt erscheint, sondern wie dem Helden die Welt und wie er sich selber erscheint29, bleibt für Dostoevskij weiterhin das Wichtigste. Hatte er zu diesem Zweck in den Erzählungen der vierziger Jahre, beginnend mit „DvojnikŖ, die in der russischen Literatur bis dahin ausschließlich oder gar überwiegend auktoriale Darbietungsweise durch ein von Anfang bis Ende auktorial-personal gemischtes Erzählen abgelöst, setzte er in seinen Romanen wieder den Erzähler als feste Instanz ein, fand jedoch vielfältige Möglichkeiten, dessen Perspektive nicht vorherrschen zu lassen. Dazu gehören „filmischeŖ Mittel wie Nahaufnahmen oder Ausschnittsvergrößerungen bei beträchtlicher Dehnung der Zeit, durch die Wahrnehmungen, Erlebnisse und Gedanken der Figuren ohne klärende, kommentierende oder deutende Einschaltungen des Erzählers, und somit für den Leser das Verstehen erschwerend, zur Erscheinung gebracht werden. Durch ein gleichsam „‚photographiertesŘ BewusstseinŖ30 wird in „Prestuplenie i nakazanieŖ (Schuld und Sühne, 1866) der innere Zustand Raskolřnikovs, der die Reihe der großen Romanhelden Dostoevskijs eröffnet, als die Befindlichkeit des Täters nach der Tat verdeutlicht: als ein Zustand akuter Verstörung, fiebriger Erkrankung und nervöser Überreizung, kurz, als die Angst des Mörders vor der Entlarvung. Neben der Personalisierung des Erzählberichts, die in der russischen Epik der experimentierfreudigen zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu einem sehr häufig angewandten Verfahren wird, hat Dostoevskij in der für Neuerungen aufgeschlossenen Form der Erzählung ein weiteres, zukunftsweisendes Mittel der Verlagerung des Schwergewichts von der Wirklichkeitsdarstellung auf die Darstellung des Bewusstseins eingeführt: die Dialogisierung des Erzählmonologs, das heißt des Monologs, den der Erzähler in der Ichform führt und den er dazu benutzt, sich an einen fiktiven Leser zu wenden. Verwirklicht zuerst in „Zapiski iz podpolřjaŖ (Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, 1864), dann in „KrotkajaŖ (Die Sanfte, 1876)31, schuf Dostoevskij mit diesem „Quasi-DialogŖ32 einen ganz neuen Typus des Ich-Erzählens und damit zugleich eine eigene Gattungsform, die erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt aufgenommen wurde und vor allem im Umkreis des Existentialismus und des Absurden Denkens zu mannigfaltigsten Ausprägungen gelangte. Ralph Ellisons „Invisible ManŖ (1952) und Albert Camusř „La ChuteŖ (1956) sind zwei bekannte und repräsentative Beispiele. Die erzählerische Konstruktion der inneren Dialogisierung, die Dostoevskij zukunftsweisend „Zapiski iz podpolřjaŖ und „KrotkajaŖ zugrunde legte, war wie geschaffen für ein Sprecher-Ich, das ausschließlich um sich selber kreist und um Erkenntnis und Selbsterkenntnis ringt, aber auch um Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung bemüht ist. So sind beide Texte zunächst einmal nichts anderes als Beichte, Bekenntnis, Geständnis. Zugleich versuchen die Sprecher, auf die der Begriff „ErzählerŖ nicht mehr so passen will, Bilanz zu ziehen und Rechenschaft abzulegen. Beide, namenlos und nahezu gleich alt, um die vierzig Jahre,

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ehemaliger Beamter der eine, Pfandleiher der andere, stehen in der Tradition des Träumers, insbesondere des idealistischen, intellektuellen Träumers, wie er in Dostoevskijs Frühwerk (1846Ŕ1849), vor allem in „ChozjajkaŖ und in „Belye noĉiŖ, entworfen wurde. Sie stellen jedoch in mehrfacher Hinsicht eine deutliche Weiterentwicklung dar. Der alte Typus ist in der mittleren Schaffensperiode des Schriftstellers (1859Ŕ1865), in der die epischen Helden eine zentrale Stellung in dieser Welt beanspruchen und danach trachten, andere Menschen zu unterwerfen33, komplexer und in sich widerspruchsvoller. Die Selbstlosigkeit und Hingabefähigkeit des romantischen Träumers sind verdrängt durch einen ausgeprägten Egoismus und ein übersteigertes Ichbewusstsein. Der weniger träumerisch als schwärmerisch veranlagte Vertreter dieses neuen Figurentypus fordert vehement seine Rechte. Er will herrschen und beherrschen. Der Wille zur Macht über den anderen ist ein Hauptthema sowohl in „Zapiski iz podpolřjaŖ als auch in „KrotkajaŖ. Er zeigt sich hier wie dort als Demütigung der Frau. Der Sprecher in „Zapiski iz podpolřjaŖ, einst selber gedemütigt, rächt sich an der jungen mittellosen Prostituierten Liza, indem er sich erst in die Idee ihrer Rettung hineinsteigert und ihr seine materielle und seelische Hilfe in Aussicht stellt, bei der nächsten Begegnung dann jedoch alles wieder zurücknimmt und sein Angebot zum Spiel und zur bloßen Laune erklärt. Als die so Gekränkte verständnisvoll reagiert und ihm verzeiht, sieht er zu seinem Ärger die Rollen vertauscht und scheut sich nicht, in einer Mischung aus Scham, Wut und Beleidigtsein die jetzt Überlegene vollends zu erniedrigen: Er umarmt sie begehrlich, zieht sie auf sein Bett und drückt ihr am Ende etwas Geld in die Hand. Noch sechzehn Jahre später, in der Gegenwart des Erinnerns und Erzählens, bewegt ihn im Rückblick die damalige Situation, und er ist beschämt, nicht wegen seiner Gemeinheit, sondern wegen der Reinheit und Überlegenheit Lizas, die ihn intuitiv durchschaut hat. Auch die Titelfigur von „KrotkajaŖ, noch einige Jahre jünger als Liza und ebenso mittellos, ist, vom Pfandleiher zur Heirat genötigt, ihrem Peiniger moralisch überlegen. In Dostoevskijs Spätwerk (1866Ŕ1881) kann von „Prestuplenie i nakazanieŖ an, das Gute auch in den Hauptgestalten verkörpert sein. So sehr der Pfandleiher ein geradezu „wollüstigesŖ34 Vergnügen darin findet, seine Frau zu provozieren, zu kontrollieren und herabzusetzen, es gelingt ihm nicht, sie zu einem völlig hilfslosen Opfer zu machen. Die Sechzehnjährige leistet Widerstand. „Die Sanfte begehrt aufŖ, lautet ein Zwischentitel. Die Ehe wird zunehmend zum Zweikampf, der seinen dramatischen Höhepunkt erreicht, als sie dem Pfandleiher einen Revolver an die Schläfe hält, während er sich schlafend stellt. Danach ist er überzeugt: „Ich hatte gesiegt, und sie war für immer besiegt.Ŗ35 In totaler Verkennung der Situation und des Wesens der Sanften vermeint der Pfandleiher, nun endgültig über seine Ehefrau triumphieren zu können. Die im Bewusstsein seines vermeintlichen Siegs geäußerten Formeln der Selbsterniedrigung („Mach mich zu einem Ding, das dir gehört, zu deinem HündchenŖ)36 bilden in Wirklichkeit nur eine Fortsetzung seiner Demütigungen. Die Sanfte,

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die sich ihrer Schuld bewusst ist, weshalb sie auch zu fiebern, zu phantasieren und schwermütige Lieder zu singen beginnt, hat für ihren Mann, auf den sie bereits seit langem herabsieht, nur noch Verachtung übrig, als er sie nicht von dem Mordversuch abhält, sondern im Gegenteil gerade dazu herausfordert, sich so für alle Zeit seine moralische Überlegenheit sichernd.37 Trotz aller weiteren Verletzungen und Erniedrigungen behauptet sie ihre Würde, bis sie schließlich keinen anderen Ausweg weiß, als sich vom Fenster in die Tiefe zu stürzen. Sie flüchtet, ein Heiligenbild an ihre Brust gedrückt, in der Hoffnung auf göttliche Vergebung in den Tod. „KrotkajaŖ beginnt, wie eine weitere berühmte Todes-Erzählung der russischen Literatur, Tolstojs „Smertř Ivana IlřiĉaŖ (Der Tod des Ivan Ilřiĉ, 1886), mit dem Ausgang: Die Sanfte liegt aufgebahrt auf zwei zusammengerückten Tischen. Der Pfandleiher wandert neben dem Leichnam hin und her und versucht in einem langen, in Wirklichkeit nur wenige Stunden dauernden inneren Monolog das Vorgefallene zu verstehen, für das er zu spät die Verantwortung übernommen hat. Sich in die Vergangenheit versetzend, dabei die furchtbare Gegenwart vergessend, gibt er aus seiner Sicht in geraffter, jedoch streng chronologischer Form die Geschichte seiner Bekanntschaft, seiner Heirat und seiner Ehe mit der Sanften wieder. Dabei ist er stets bemüht, in der Wendung an ein imaginäres, als „RichterŖ38 fungierendes Gegenüber die letztere herabzusetzen, indem er sie direkt oder indirekt beschuldigt, und sich selber von aller Schuld freizusprechen und von möglichen Vorwürfen zu entlasten. Bei allen erzählerischen Unzuverlässigkeiten und Schwierigkeiten, die Stimme der Sanften in der Filterung durch die Rede des Pfandleihers herauszuhören, bildet am Schluss das Eingeständnis des Sprechers „Ich habe sie zu Tode gequält, das ist es!Ŗ39 das unwiderlegbare Ergebnis der Introspektion und die unbezweifelbare Wahrheit der Geschichte. Zu solch resultativer Eindeutigkeit und weitgehender Rekonstruierbarkeit des Geschehens kommt es trotz des gleichen quasi-dialogischen Erzählens in „Zapiski iz podpolřjaŖ nicht. Das hängt in erster Linie mit dem andersgearteten sprechenden Ich zusammen, das, im post scriptum vom „AutorŖ als „ParadoxistŖ40 bezeichnet, sich von Anfang an als „konsequenter Verfechter der UnvernunftŖ41 begreift. Schonungsloser in der Selbstanalyse als der Pfandleiher, von der ersten Zeile an erfüllt vom Hass auf die eigene Person, unterwirft das monologisierende Ich, die Präsenz eines Du (seines alter ego?) voraussetzend, die absatzlos strömende Rede dem Prinzip der Irrationalität. Schon bevor es beginnt, hat es „diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt zertrümmertŖ, und noch im Reden ist es dabei, fortlaufend „all diese Logarithmen zum Teufel zu jagenŖ.42 Der Akzent ist dabei von der Logik ganz auf die Rhetorik verschoben. Von ausgeprägtem Stolz und grenzenloser Eitelkeit erfüllt, formuliert der Sprecher, ein Mensch von hochgradiger Empfindlichkeit, thesenhaft Aussage für Aussage, um diese dann in der Erwartung der Einreden des Gegenübers zu modifizieren, abzumildern oder zu widerrufen. So leitet er seine Aufzeichnungen mit Worten von

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apodiktischer Bestimmtheit ein: „Ich bin ein kranker Mensch... Ich bin ein boshafter Mensch, und ich bin in keiner Weise anziehend.Ŗ43 Nachdem er diese Feststellung noch einmal durch ihre Wiederholung bestätigt hat, korrigiert er sich, über das bisher Gesagte nachdenkend, eine Seite später und relativiert und präzisiert, als wolle er möglichen Fragen und Einwänden zuvorkommen, die so unwiderruflich klingende Selbstcharakteristik des Eingangs: „Aber wissen Sie, meine Herren, was das Entscheidende bei meiner Bosheit war? Die ganze Hinterhältigkeit und das Widerwärtigste lag nämlich darin, dass ich mir ständig, selbst im Augenblick der stärksten Erbitterung, beschämenderweise bewusst sein musste, dass ich nicht echt böse und im Grunde gar kein boshafter Mensch war, sondern nur sinnlos Spatzen schreckte und mich daran ergötzte.Ŗ44 Kurz darauf geht der Räsoneur der Aufzeichnungen noch weiter und entlarvt seine Eingangsaussage als absichtliche Lüge, die ihm zudem noch größtes Vergnügen bereitet habe: „Ich habe vorhin gelogen, als ich sagte, ich sei ein bösartiger Beamter gewesen. Aus Bosheit habe ich gelogen.Ŗ45 Der Behauptung folgt die Rücknahme der Behauptung. Denken und Sprechen bewegen sich im Kreise. Das sich selbst analysierende Ich findet bis zum Ende keine befriedigende Antwort auf die grundlegende Frage „Was bin ich?Ŗ Was es auch über sich sagt, zum Beispiel, dass es weder Held noch Insekt sei, ja nicht einmal imstande wäre, ein Insekt zu sein46, irritiert in höchstem Maß. Der Leser ist zunehmend desorientiert. Was soll er glauben, wenn Aussagen ständig korrigiert werden und die Korrektur häufig noch eine weitere Korrektur erfährt. Handelt es sich lediglich um eine Art Selbstinszenierung? Oder haben wir es mit einem ernsthaften Versuch von aufrichtiger Selbstvergewisserung zu tun? Bei aller Eitelkeit, die hier zweifellos auch im Spiel ist, lässt sich nicht übersehen, dass diese Aufzeichnungen vorrangig ein Ausdruck der Sinnsuche in einer Welt des Werteverlusts und des allgemeinen Relativismus sind. Das Ich ist bestrebt, der Vergeblichkeit zum Trotz einen festen Halt zu gewinnen und etwas Autarkes und Absolutes zu entdecken, während sich rundherum alles aufzulösen und zu zersetzen scheint. Bezeichnenderweise bildet der erste Teil von „Zapiski iz podpolřjaŖ neunzig Jahre nach seiner Niederschrift den Auftakt zu einer Anthologie existentialphilosophischer Texte47 und wird vom Herausgeber die „beste Ouvertüre zum ExistentialismusŖ genannt, „die jemals geschrieben wurdeŖ. Wie für das moderne Subjekt, das in jeglichem objektiven Glauben enttäuscht worden ist und sämtliche Sinngebungen des Lebens in Frage gestellt sieht, bleibt auch für die von Dostoevskij erfasste historische Individualität, die ihr bisheriges idealistisches und romantisches Geborgenheitsgefühl in der Welt verloren hat, nichts anderes als der Rückzug auf das eigene Ich: auf den letzten, von Kierkegaard als Existenz bezeichneten innersten Kern des Menschen. Das bedingt im vorliegenden Fall die Form des „dialogischenŖ Monologs und erklärt, weshalb sich Dostoevskijs Räsoneur, dem die Welt fremd und unheimlich geworden ist, in ein „schlechtes, elendes Zimmer am Rande der StadtŖ48 zurückgezogen hat. Hier stilisiert er sich vollends zum Bewohner des „KellerlochsŖ, einer

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seelischen Verfassung, die er schon während seines einstigen Beamtendaseins in sich trug.49 Das Kellerloch, weniger äußere als innere Wirklichkeit, ist der Ort sowohl schamhafter Beichte persönlicher Normverletzungen als auch der Polemik und des Protests gegen rationalistische und utilitaristische Gesellschaftsentwürfe. Dostoevskij, aus der Verbannung als gläubiger Christ zurückgekehrt, sah sich einer veränderten Welt konfrontiert, in der kapitalistische Wirtschaft, Fortschrittsgläubigkeit und sozialer Utopismus zu gesellschaftlich bestimmenden Faktoren geworden waren. In seinen fünf großen Romanen bezieht er dazu Stellung und gibt eine Antwort auf der Grundlage christlich orthodoxen Glaubens und Denkens. In „Zapiski iz podpolřjaŖ aber, dem Prolog zu diesen Romanen, entwirft er mit dem Kellerlochmenschen eine Kunstfigur, die, gegen den Optimismus und das Perfektionsstreben des „Neuen MenschenŖ Ĉernyńevskijscher Prägung gewandt, noch keine Alternative verkörpert und auch keine Lösung anbietet, jedoch alle Schlagworte der Zeit vom „EigennutzŖ und „FortschrittŖ bis zur „EmanzipationŖ und „psychischen TransparenzŖ destruiert und den Gestus der Negativität, einschließlich des boshaften Sprechens, zur einzig möglichen Lebensform erklärt. Antimodern auf der ideologischen Ebene in seiner Wendung gegen den Rationalismus, Positivismus und Utilitarismus, gehört Dostoevskij im Bereich des Künstlerischen, vor allem auf dem Gebiet der Narrativik, zu den Vorläufern und Mitbegründern der Moderne. Sein starker Einfluss auf die moderne europäische und insbesondere amerikanische Literatur, wie Horst-Jürgen Gerigk50 dargelegt hat, erklärt sich auch von hier aus und nicht bloß durch die Anverwandlung von Charakterbildern, Figurenkonfigurationen, Handlungssituationen oder psychologischen und weltanschaulichen Motiven.51 Um in die Tiefe der menschlichen Seele vorzudringen und eine „prozessuale Analyse des BewusstseinsŖ52 zu liefern, entwickelte Dostoevskij geeignete, erst später gängig werdende Erzählverfahren wie erlebte Rede, innerer Monolog oder Quasi-Dialog und verwendete zu diesem Zweck auch traditionelle Elemente wie die Beichte und den Traum auf neue Art und Weise. Ebenfalls mehr an der inneren als an der äußeren Wirklichkeit des Menschen interessiert war Dostoevskijs Antipode Lev Tolstoj. Nur richtete sich dieser, um eine Unterscheidung Kants53 aufzugreifen, weniger auf das intelligible als auf das empirische Ich. Turgenev und Ĉechov sollten ihm darin folgen. Tolstoj, der in die russische Literatur eintrat, als sich der Realismus als Methode schon weitgehend durchgesetzt hatte und von Annenkov 1849 als Schulbegriff eingeführt worden war54, erhob von Anfang an die Introspektion zum Prinzip seines Lebens und seines Schreibens. Ein zentrales Mittel persönlicher Innenschau waren bei ihm die von frühester Zeit an geführten Tagebücher, über die er noch 1906, vier Jahre vor seinem Tod schrieb: „Für die anderen sind sie vielleicht notwendig, für mich dagegen Ŕ was heißt schon notwendig, sie sind mein Ich.Ŗ55 Das Tagebuch war notwendig für ein Ich, das sich permanent in der Krise56 befand und das diese Form benutzte, um sich zu beobachten, zu analysieren Ŕ und zu verurtei-

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len. Zuerst im Dienst der Selbsterziehung, nach dem Abbruch des Universitätsstudiums außerdem Rechenschaftsbericht über die häusliche Selbstbildung, gewinnt es seit Frühjahr 1851 eine weitere, die vielleicht wichtigste Funktion. Als Mittel analytischer Selbstbeobachtung und intimer Selbstaussprache wird es bis in die Form als Aufzeichnung des Tagesablaufs hinein, Tolstojs schriftstellerische Existenz begründend, zur Anregung und zum Vorbild eigenen belletristischen Schreibens. Der zwischen dem 26. und 28. März 1851 entstandene Text, unter dem Titel „Istorija vĉerańnego dnjaŖ (Geschichte des gestrigen Tages) der erste literarische Versuch Tolstojs, mehr eine Skizze als eine Erzählung, ist sowohl vom Prinzip der schonungslosen Selbstbeobachtung her als auch in der Anlage, der Beschreibung eines Tages vom Aufstehen am Morgen bis zum Schlafengehen am Abend, untrennbar an die Gattung des Diariums gebunden. Die Selbstbeobachtung tritt hier schon als erzählerischer Kunstgriff in Erscheinung.57 „TolstojŖ, formuliert Ėjchenbaum treffend, „erhebt sich in dieser ‚GeschichteŘ über sein eigenes Tagebuch, indem er es verwertet und zusammen mit sich selbst in Material verwandelt. Es entsteht ein Tagebuch über dem Tagebuch Ŕ und ein solcher Bau kann, einmal begonnen, auch weiter wachsen, so dass das Tagebuch völlig seinen intimen, seinen tief persönlichen, bekenntnishaften Charakter verliert.Ŗ58 So entspricht „Istorija vĉerańnego dnjaŖ einerseits strukturell einer typischen Tagebucheintragung Tolstojs wie jener vom 17. Juni 1850 („Bin in der 8. Stunde aufgestanden, habe bis 10 nichts gemacht, von 10 bis 12 gelesen und Tagebuch geführt...Ŗ usw.), andererseits tritt dieses Gerüst aus Zahlen und Fakten in der Skizze ganz zurück; es wird überdeckt durch die Schilderung von Handlung und vor allem durch die Wiedergabe innerer Vorgänge. Es geht kaum um äußeres Geschehen, noch weniger wie in der Form der Novelle, um einen besonderen, einmaligen Fall, dafür aber ganz um die Bewegungen der „SeeleŖ, um die im Verlauf eines beliebigen, nicht eines ausgesuchten Tages auftauchenden „EindrückeŖ und „GedankenŖ. Der zu Lebzeiten Tolstojs nicht veröffentlichte Text ist bei aller handwerklichen Unzulänglichkeit in Komposition, Erzählhaltung, Figurenzeichnung und Sprachgestaltung aufschlussreich als Grundstein eines Schaffens, das im Rahmen des russischen Realismus gleichwertig neben dem Dostoevskijs rangiert. Neben Einzelheiten wie der später in den Romanen „Anna KareninaŖ und „Vojna i mirŖ (Krieg und Frieden) zur Virtuosität ausgebildeten Technik, psychische Vorgänge im äußeren Gehabe eines Menschen zu spiegeln59, enthält die unfertige und letztlich auch unvollendete Ich-Erzählung zwei Hauptmerkmale des Tolstojschen Werks insgesamt. Das eine ist der autobiographische, das andere der moralistische Grundzug. Zusammengefasst erscheinen beide in einer Aussage Mereņkovskijs, die Thomas Mann am Anfang seines großen Essays „Goethe und TolstoiŖ (1925) zustimmend zitiert: „Die künstlerischen Werke L. Tolstois sind im Grunde nichts anderes als ein mächtiges, durch fünfzig Lebensjahre hindurch geführtes Tagebuch, eine endlose, ausführliche Beichte.Ŗ60

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Fortgesetzt wurde die in „Istorija vĉerańnego dnjaŖ begonnene, lebenslang anhaltende „BeichteŖ in „DetstvoŖ (Kindheit). Die erste, 1852, im Erscheinungsjahr von Turgenevs „Zapiski ochotnikaŖ, publizierte Erzählung Tolstojs machte den Verfasser mit einem Schlag berühmt, so wie es Dostoevskij sechs Jahre zuvor mit „Bednye ljudiŖ ergangen war. Die Befreiung von der Struktur des Tagebuchs ist hier vollzogen, ohne dass das autobiographische und moralistische Element verlorengegangen ist. „Ich fand es interessant, die eigene Entwicklung zu betrachtenŖ, schreibt Tolstoj im Vorwort, „vor allem aber wollte ich in der Spur meines Lebens einen Anfang, ein Bestreben, das mich hätte leiten können.Ŗ61 Im Zuge der Umarbeitung erkannte er jedoch, dass die begrenzte, auf sich selber bezogene Absicht in erweiterter Form von allgemeinem Interesse sein könnte, und er begann, die charakteristischen Züge der Kindheit herauszustellen. Es ging ihm fortan um die Kindheit als solche, und zwar in dem Sinn, wie sie eingangs des 15. Kapitels apostrophiert wird: „O glückliche, glückliche, unwiederbringliche Zeit der Kindheit!Ŗ Dabei half, dass er von Anfang an nicht nur aus der eigenen Biographie schöpfte, sondern auch aus der Beobachtung anderer Personen, vor allem der befreundeten Familie Islenřev, was sich in der Namensgebung des Helden (Irtenřev) niederschlug. Dazu kamen fiktive Figuren und frei erfundene Momente. All das erleichterte die jetzige Aufgabe: die Verstärkung der Objektivität. Unverändert blieb die Ichstruktur mit ihrer Aufspaltung in ein erzählendes und ein erlebendes Ich. Durch die Vermischung des fremden und des eigenen Lebensstoffs und verstärkt durch die Lockerung der Bindung an die Tagebuchform ist dieses doppelte, aufgrund des zeitlichen Abstands gleichwohl getrennte Ich deutlich von der Gestalt des Autors abgehoben, während sich in „Istorija vĉerańnego dnjaŖ kaum eine Differenz feststellen lässt. Beschränkt sich die Skizze, das unpublizierte Erstlingswerk, der Eintragung in dem Tagebuch entsprechend, auf die Erfassung eines Kalendertags, geht es in „DetstvoŖ, einer Erzählung von beträchtlicher Länge, um nicht weniger als einen Ŕ den ersten großen Ŕ Abschnitt im Leben eines Menschen. Auch wenn sich die 28 kurzen Kapitel zeitlich auf zwei Tage konzentrieren, einen Tag auf dem Land (Kapitel 1Ŕ13) sowie einen Tag in der Stadt (Kapitel 16Ŕ24), wird nicht nur durch die Zeitsprünge (von neun Monaten zwischen den beiden Tagen und sechs Monaten nach dem zweiten Tag, dem Namenstag der Großmutter) und die Zeitraffungen (das Einerlei der verstreichenden Zeit nach dem Tod der Mutter) das Ganze der Kindheit suggeriert, sondern auch durch die Struktur des einfachen Nacheinanders der Szenen: der Schilderungen von Unterrichtsstunden, Verwandtenbesuchen, Jagdausflügen und Kinderspielen sowie den Porträtierungen der wichtigsten Personen aus dem näheren Umkreis des Kindes, des Hauslehrers, der Mutter, des Vaters, der Großmutter und der Kinderfrau. Auch Inhaltliches zielt über den Tag hinaus auf die größere Zeiteinheit, so die Schilderung der Reise vom Land in die Stadt (Kapitel 14), die Beschwörung der Kindheit als einer geradezu mythischen Zeit, einer Periode des unwiederbringlichen Glücks (Kapitel 15), und die Darstellungen des Sterbens zuerst der Mutter und dann der

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Großmutter, zweier Ereignisse, die das Ende der Kindheit und ihren Übergang in das Knabenalter markieren (Kapitel 25Ŕ28). Aus dem „Journal des DaseinsŖ, einer Bestimmung, die „Istorija vĉerańnego dnjaŖ mit dem Tagebuch teilt, wurde in „DetstvoŖ der „LebensberichtŖ62, der die Gattungsform der Autobiographie konstituiert. Lebensbericht ist das erste veröffentlichte Werk Tolstojs, obwohl gar nicht das gesamte Leben des Helden zur Darstellung gelangt Ŕ auch nicht in den späteren Fortsetzungen, den Erinnerungen an die „KnabenjahreŖ (Otroĉestvo, 1854) und den Erinnerungen an die „(Frühe) JünglingszeitŖ (Junostř, 1857), die zusammen mit den Kindheitserinnerungen eine Trilogie bilden und sogar um einen vierten Teil, den Erinnerungen an die „(Reifere) JünglingszeitŖ (Molodostř), erweitert und unter dem Titel „Ĉetyre poryŖ (Vier Epochen) zusammengefasst werden sollten. Dennoch kann „DetstvoŖ wie die Trilogie insgesamt im Unterschied zu der Tagebucherzählung „Istorija vĉerańnego dnjaŖ als echte autobiographische Erzählung betrachtet werden. Denn das entscheidende Kriterium der Autobiographie, sei diese real oder fiktiv, ist nicht die Länge des erzählten Lebens, sondern die Tatsache, dass die „Geschichte der Gestaltung einer PersönlichkeitŖ erzählt wird.63 Daher kann diejenige Augustins mit seiner Bekehrung oder diejenige Goethes mit seiner Abreise nach Weimar aufhören. Da der Schwerpunkt dieser Form auf dem „Werden des SelbstŖ liegt, gewinnt gerade die Kindheit eine besondere Bedeutung. Der Autobiograph schaut auf sie zurück, um dort, wie Croce formuliert, die „ersten VorzeichenŖ für ein „späteres WachstumŖ wahrzunehmen.64 In diesem Sinne schildert Tolstoj die Kindheitsereignisse nicht bloß, weil sie geschehen sind, sondern auch weil in ihnen die Selbstwerdung des Helden und damit letztlich des Autors zum Ausdruck kommt. Alles, was Nikolaj Irtenřev, zuerst auf dem Lande, danach in der Stadt erlebt, wird zur „Initiation eines JungenŖ65 in so wichtige menschliche Erfahrungen wie Liebe und Tod, Gesellschaft, Natur und Freundschaft. Nikolajs Initiation erscheint nicht als eine Geschichte der Anpassung. Zwar ist der Druck der Erwachsenen und ihrer Welt auf den jungen Helden groß, aber dieser setzt den Forderungen, zu lernen und sich anzupassen, einigen Widerstand entgegen. So erschafft sich Nikolaj immer wieder, wie in der Jagdszene, als er selbstvergessen den Tanz eines gelbflügeligen Schmetterlings um eine weiße Kleeblüte beobachtet, eine Ersatzrealität aus Phantasie und Träumerei. Verstärkt wird der Widerstand im Nachhinein von dem reiferen, wenngleich längst nicht reifen Erzähler. So kommt es, dass die in der Erzählung geschilderte Kindheit keineswegs nur das ist, als was sie im 15. Kapitel beschworen wird: eine Zeit der „FrischeŖ, der „SorglosigkeitŖ, des „Bedürfnisses nach LiebeŖ und der „Kraft des GlaubensŖ, kurz, eine Zeit des unwiederbringlichen Glücks. Dies alles ist die Kindheit hier selbstverständlich auch. Das Moment der Verklärung gehört zum autobiographischen Erzählen und kommt vielleicht in keinem anderen Lebensalter, auf das erinnernd zurückgeschaut wird, so stark zur Geltung. Doch die Phasen des sorgenfreien und gedankenlosen Daseins wechseln in „DetstvoŖ

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mit Zuständen von Trauer, Angst und Zweifel. Charakteristisch ist dabei, dass der Wechsel der Zustände nicht immer als ein Nacheinander, sondern häufiger auch als Gleichzeitigkeit, als Ineinandergleiten der Empfindungen erscheint. „Ich weinte weiterŖ, erinnert sich der Erzähler, seinen schmerzlichen Abschied vom Land schildernd, „und der Gedanke, dass meine Tränen von meinem tiefen Gefühl zeugten, bereitete mir Vergnügen und Genugtuung.Ŗ66 Und beim Gedanken an das Begräbnis der Mutter, verurteilt er sich, weil er „nicht nur das eine Gefühl der TrauerŖ empfand: „Infolgedessen hatte meine Trauer etwas Gekünsteltes und Gezwungenes. Außerdem empfand ich in dem Bewusstsein meines Unglücks eine Art Genuss.Ŗ67 Es war Nikolaj Ĉernyńevskij, der diese paradoxale Vereinigung gegensätzlicher Gefühlslagen als ein neuartiges Verfahren erkannte und in seiner Rezension von „DetstvoŖ in der Zeitschrift „SovremennikŖ (1856) als „Dialektik der SeeleŖ (dialektika duńi)68 bezeichnete. Indem er mit der Wendung von der „Reinheit des moralischen GefühlsŖ (ĉistota nravstvennogo ĉuvstva)69 noch eine weitere Formel hinzufügte, waren Psychologie und Realitätsauffassung Tolstojs schon früh in gültige Begriffe gefasst worden. Mit „DetstvoŖ hatte Tolstoj seinen eigenen Weg als Schriftsteller gefunden, und er hatte zugleich das Kind als erzählwürdigen Gegenstand entdeckt und ein Muster dafür geliefert, wie das innere Leben des Kindes auf künstlerisch adäquate Weise dargestellt werden kann. Vor ihm finden sich in Russland in dieser Hinsicht lediglich zwei bemerkenswerte Versuche. Der eine stammt von Dostoevskij mit den Erzählungen „Malenřkij gerojŖ (Der kleine Held) und „Netoĉka NezvanovaŖ, beide 1849 begonnen, aber infolge der Verhaftung und Verbannung des Autors erst später beendet und publiziert. Der andere besteht in einem umfangreichen Kapitel aus Gonĉarovs „OblomovŖ, das zehn Jahre vor diesem Roman erschien (1849) und in dem der Held im Traum seine Kindheit erzählt. Eine nachhaltige Wirkung gewann das Thema von Kind und Kindheit in der russischen Literatur aber erst durch Tolstojs „DetstvoŖ. Dies beginnt bei Aksakov mit dem Roman „Detskie gody Bagrova-vnukaŖ (Die Kinderjahre Bagrovs des Enkels, 1859), setzt sich fort mit Tanaevs „DetstvoŖ (1876), Kovalevskajas „Vospominanija o moem detstveŖ (Erinnerungen an meine Kindheit, 1890) und Garin-Michajlovskijs „Detstvo TemyŖ (Die Kindheit Temas, 1892). Selbst im 20. Jahrhundert zeigt sich noch ein deutlicher Widerhall, so unter anderem bei Korolenko in „Istorija moego sovremennikaŖ (Geschichte meines Zeitgenossen, 1905Ŕ1921), Gorřkij in „DetstvoŖ (1913), Aleksej Tolstoj in „Detstvo NikityŖ (Nikitas Kindheit, 1922) und Bunin in „Ņiznř ArsenřevaŖ (Das Leben Arsenřevs, 1927Ŕ1939). Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser Wirkungsgeschichte behauptet das Debüt Lev Tolstojs seinen überragenden, die Zeitgenossen begeisternden dichterischen Rang. Bis heute hat es nichts von seiner ursprünglichen Frische und bezaubernden Unmittelbarkeit eingebüßt. Das hat seine Ursache nicht nur darin, dass es sich im Unterschied zu den Autobiographien von Augustinus, Rousseau oder Goethe, den Rückblicken älterer, gereifter Männer, um das Werk eines jungen Mannes handelt, der, dreiundzwanzigjährig, dem Kindesalter

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nahe genug war, um das Fühlen und Denken eines Knaben in seiner Reinheit und Echtheit nachvollziehen zu können.70 Es hängt auch damit zusammen, dass Tolstoj, wie der frühe Dostoevskij konsequent personal erzählend, seinen Erzähler die Perspektive des Helden einnehmen lässt. Dieser ist lediglich als Vermittlungsinstanz anwesend, und das zunächst einmal, um den Erinnerungscharakter des Ganzen, also den zeitlichen Abstand zwischen dem Vorgang des Erzählens (der Gegenwart) und der Ebene des Geschehens (der Vergangenheit), thematisieren und zu Erklärungen, Kommentierungen und Wertungen nutzen zu können. Da Tolstoj im Prinzip nur über das schrieb, was in irgendeiner Weise mit ihm selber zu tun hatte, mussten, nachdem die Kindheit verarbeitet war, zwangsläufig zwei Themen in den Vordergrund treten: das Thema des Gutsbesitzers und das Thema des Kaukasus. Das eine betraf die soziale Stellung, das andere die momentane Situation Tolstojs. Die Lebensumstände hatten den werdenden Schriftsteller weit vom häuslichen Jasnaja Poljana entfernt und in den Süden Russlands geführt, wo er sich als Zivilist einem Truppenteil seines Bruders anschloss. Obwohl er inzwischen über den „Entwurf eines russischen Gutsbesitzerromans mit TendenzŖ71 nachdachte, entschloss er sich, angeregt von der Bergwelt des Kaukasus, die er direkt vor Augen hatte und die mit ihrer wilden Natur und den militärischen Aktionen Russlands gegen die ansässigen Völker täglich neuen Anschauungsstoff bot, das erstere Thema zugunsten des letzteren zurückzustellen. Die Erlebnisunmittelbarkeit verband sich mit dem wachen Sinn Tolstojs für die Aktualität der Kaukasusproblematik. Sein schriftstellerisches Ziel bestand in der Entromantisierung des Kaukasus auf der Grundlage eigener Erfahrung und sorgfältiger Recherche an Ort und Stelle. Darin traf er sich mit der Absicht adliger Offiziere, die bereits begonnen hatten, in ihren Kriegserinnerungen das idealisierte und romantisierende Kaukasusbild aus den Dichtungen der zwanziger und dreißiger Jahre abzubauen.72 Nur war das Verfahren im Unterschied zu dieser Tatsachenliteratur jetzt konsequent belletristisch. In der Einleitung zu dem Fragment „Poezdka v Mamakaj-JurtŖ (Die Fahrt nach Mamakaj-Jurt, 1852) schreibt Tolstoj deshalb, durch Hinweise auf Lermontov und Bestuņev-Marlinskij die alten Kaukasus-Vorstellungen in Erinnerung rufend, er hoffe, neue Vorstellungen zu schaffen, „die wirklichkeitsnäher und dabei nicht weniger poetisch sein werdenŖ.73 Eingelöst wurde diese Erzählabsicht dann aber erst in Gestalt eines abgeschlossenen Werks aus demselben Jahr (1852). Mit „NabegŖ (Der Überfall), wie das Werk heißt, beginnt die Reihe der Tolstojschen „KriegserzählungenŖ (voennye rasskazy). Der Verfasser greift einerseits auf Erprobtes und Bewährtes zurück: die Ich-Struktur mit ihrer Aufspaltung in ein erzählendes und ein erlebendes Ich, die lockere Komposition der Szenen und Personenauftritte ohne feste innere Verknüpfung und die zeitliche Begrenzung auf einen Tag (erzählt wird „der Sonne nachŖ, in chronologischer Reihenfolge vom Morgen an bis zum Abend). Andererseits nimmt sich der Verfasser deutlicher als bisher zurück, in-

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dem er durch die Einkleidung des erzählenden Ich in die Rolle eines Freiwilligen zu einer stärkeren Distanzierung gelangt. „Rasskaz volonteraŖ (Erzählung eines Freiwilligen) lautet deshalb auch der ursprüngliche Titel, der in der Funktion als Untertitel erhalten blieb. Die Rolleneinkleidung signalisiert, dass der Erzähler die Haltung eines unbeteiligten Beobachters einnimmt. Frei von dienstlichen Pflichten und keiner strengen militärischen Disziplin unterworfen, kann er ungestört beobachten, und er kann auch entscheiden, was und wie er beschreibt. Er ist nicht einmal dazu verpflichtet, militärisch und strategisch zu denken. Das ermöglicht Tolstoj, einen eigenen Blick auf den Krieg zu werfen und eine ganz neue Art der Kriegsdarstellung zu entwickeln, die, in den Kaukasus-Erzählungen begründet und danach in den Sevastopoler Erzählungen vertieft, in den großen Schlachtschilderungen von „Vojna i mirŖ ihren Höhepunkt und ihre Vollendung findet. Schon „NabegŖ demonstriert, dass es immer der Mensch ist, sein Erleben und Erleiden, von dem her Tolstoj das Wesen des Krieges zu erhellen sucht. So ist hier nicht die im Titel genannte kriegerische Aktion als solche das Wichtigste. Vielmehr geht es vor allem darum, am Beispiel von vier an dem Überfall auf ein kaukasisches Gebirgsdorf beteiligten Personen die Frage nach einer Kardinaltugend des Menschen, der Tapferkeit, zu stellen und im Platonischen Sinn zu beantworten. Tolstojs Abstand zur Poetik der „Natürlichen SchuleŖ ist hier offenkundig. Die vier Männer von unterschiedlichem militärischen Rang werden nicht als Berufsgruppe vorgestellt, sondern als ganz eigene Charaktere entworfen, deren Individualität im jeweiligen Verhältnis zur Tapferkeit sichtbar wird. Alle sind auf ihre Weise tapfer Ŕ der General in seiner gelassenen Selbstverständlichkeit, mit der er den Krieg als Beruf versteht, der Fähnrich Alanin aus unbesonnener jugendlicher Begeisterung, der Leutnant Rozenkranc nach literarischem Muster als Held à la Bestuņev-Marlinskij und der Hauptmann Chlopov, weil er, gottgefällig, von innerer Kraft beseelt, bescheiden, sachlich und überlegt, Krieg als Pflicht auffassend, seinen Dienst erfüllt. Als wahrhaft tapfer erkennt Tolstoj im Licht seiner Platon-Lektüre des Jahres 1852 allein den Hauptmann, der in seiner „ruhigen ArtŖ, der „gleichmäßigen StimmeŖ, dem „arglosen AusdruckŖ und der „konzentrierten AufmerksamkeitŖ eine Haltung bekundet, die der Sokratischen Definition von Tapferkeit in dem Dialog „LachesŖ sehr nahekommt.74 „ ‚Was nennen Sie denn tapfer?Ř Ŗ fragt der Erzähler den Hauptmann gleich am Anfang. „ ‚Tapfer ist, wer sich so verhält, wie es sein mussŘ Ŗ, lautet die Antwort. „Mir fiel einŖ, entgegnet der Erzähler, „dass Platon die Tapferkeit als die Kenntnis dessen bezeichnet, was man zu fürchten und was man nicht zu fürchten hatŖ, um dann fortzufahren: „Ungeachtet der allgemein gehaltenen, unklaren Begriffsbestimmung des Hauptmanns, schien mir der Grundgedanke der beiden gar nicht so sehr verschieden, wie man hätte meinen sollen; ja ich hielt die Definition des Hauptmanns sogar für treffender als die des griechischen Philosophen; denn wenn er sich ebenso auszudrücken vermocht hätte wie Platon, würde er vermutlich gesagt haben, dass derjenige tapfer ist, der nur das fürchtet,

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was wirklich zu fürchten ist, keineswegs aber das, was man nicht zu fürchten braucht.Ŗ75 Alanin, der hübsche Jüngling mit schwarzen Augen und einer feingeschnittenen Nase, der mit wenigen Soldaten den Feind angreift und dabei tödlich verwundet wird, fehlt solches Differenzierungsvermögen. Er fürchtet sich, im Unterschied zu Chlopov, vor nichts. Deshalb ist er nur kühn, nicht aber tapfer. Das Phänomen der Tapferkeit als einer in der Tugend verwurzelten moralischreligiösen Kategorie fesselte Tolstoj so sehr, dass er es zum durchgehenden Problem seiner Kaukasus-Erzählungen machte und in dem anschließenden „SevastopolřŖ-Zyklus erneut und in verschärfter Gestalt aufgriff. Inzwischen Angehöriger der russischen Donauarmee und damit seit November 1854 auf eigenen Wunsch Teilnehmer am Krimkrieg, schildert er in drei zusammenhängenden Erzählungen Ŕ „Sevastopolř v dekabre mesjaceŖ (Sevastopolř im Monat Dezember), „Sevastopolř v maeŖ (Sevastopolř im Mai) und „Sevastopolř v avguste 1855 godaŖ (Sevastopolř im August des Jahres 1855) Ŕ einen Krieg, der verglichen mit den Operationen im Kaukasus ein tatsächlicher, ein großer Krieg war. Jetzt handelte es sich nicht mehr um Ŕ Abenteuern vergleichbare Ŕ Scharmützel, sondern um ein Ereignis von welthistorischer Dimension, in dem es um Zehntausende von Menschenleben ging und das Schicksal des Landes insgesamt auf dem Spiel stand. Nichts von den Vorgängen zwischen dem Beginn der Belagerung von Sevastopolř am 17. Oktober 1854 durch die türkischen Truppen sowie den englisch-französischen Flottenverband und der Kapitulation der Stadt nach elfmonatiger Verteidigung am 9. September 1855, sei es auf der politisch-diplomatischen Ebene, sei es im Bereich des Militärisch-Strategischen, kehrt bei Tolstoj wieder. Obwohl er mit den Monaten Dezember, Mai und August fast den ganzen Zeitraum des Kriegs erfasst, erhält der Leser keine Auskunft über die entscheidenden Schritte, Maßnahmen und Bewegungen: so etwa die Sperrung der Hafeneinfahrt von Sevastopolř durch die Versenkung von Schiffen, das Aufwerfen und ständige Reparieren von Erdwällen in Ermangelung fester Mauern im September 1854, den Bau einer Eisenbahn durch die Engländer, um Vorräte und frische Truppen heranzubringen, im Winter 1854/55, die Flottenexpedition der Alliierten gegen die Stützpunkte der Russen am Schwarzen und Azovschen Meer im Mai 1855, die Eroberung der Außenwerke am 27. Mai und das Zurückschlagen des Angriffs auf die Hauptbefestigungen von Sevastopolř elf Tage später usw. Tolstoj verzichtet auf solche Fakten, Daten und Namen. Er will, anders als die Verfasser literarischer Geschichtswerke, zum Beispiel Herodot oder Cäsar, anders auch als die Verfasser großer Epen von Homer bis Cheraskov, kein Historiograph sein. Hier zeigt sich die erste Besonderheit der Trilogie. Tolstoj wahrt konsequent den Standort des Beteiligten, der er in Wirklichkeit selber war, und zwar eines Beteiligten, der nicht zu den obersten Rängen gehört und deshalb keinen Überblick über das Ganze hat. Dabei geht er sogar noch weiter, indem er nicht einmal das Wissen nutzt, das er zumindest im begrenzten Umfang besessen haben muss. Ohne das Wort Sevastopolř als einzigen historischen Namen ließe

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sich das dargestellte Kriegsgeschehen kaum lokalisieren, das heißt, es fehlt jede Möglichkeit, die Vorgänge zu identifizieren. Das unterstreicht, worauf es Tolstoj vor allem ankommt: nicht auf das Einmalige eines bestimmten Kriegs, sondern auf das, was jeder Krieg für den Menschen bedeutet, und dies ist nichts Geringeres als die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod. Bildet „Vojna i mirŖ eine Summe der Kriegserfahrungen Tolstojs und der Mittel ihrer ästhetischen Verarbeitung, erscheint die „SevastopolřŖ-Trilogie im Vergleich zu den Kaukasus-Erzählungen, an die sie thematisch und zeitlich anschließt, ihrerseits als deutliche Erweiterung der zuvor erprobten künstlerischen Möglichkeiten. Beschränkte sich Tolstoj dort auf eine Episode wie den Überfall („NabegŖ) oder den Holzschlag („Rubka lesaŖ), das einfache Tageszeitenschema und die Ichform und Ichperspektive mit der geringfügig variierten Rolleneinkleidung des Freiwilligen und des Offiziersanwärters, so benutzt er hier, offen experimentierend, für jeden der drei Texte eine andere Narrations- und Kompositionsweise. Gänzlich neuartig in „Sevastopolř v dekabre 1854Ŗ, jener ersten der drei Sevastopoler Erzählungen, war der Gebrauch der zweiten Person (das heißt der Du- bzw. Sie-Form) im Sprechen des Erzählers. Was einhundert Jahre später bei Michel Butor, so in „La modificationŖ (1957), Teil eines radikalen Romanexperiments ist, des nouveau roman, begegnete bis zu Tolstojs Experiment lediglich außerhalb der Belletristik, in der Form des Reisehandbuchs nach Art des Baedeker. Der Erzähler tritt in der Rolle eines Fremdenführers auf und geleitet den Leser, in der Rolle eines Touristen, über die verschiedenen Schauplätze. Dabei zeigt er zu Beginn ein Sevastopolř, das der gängigen und vom Leser erwarteten Vorstellung von einer heroischen Stadt widerspricht: einer Stadt ohne Anzeichen von Erregung oder Verwirrung, in der die Menschen Ŕ Soldaten, Matrosen, Offiziere, Händler, Bauern, Frauen Ŕ ruhig, ohne Hektik, wie selbstverständlich der Normalität eines Lebensalltags entsprechen. Erst im Anschluss an dieses Eingangsbild wird deutlich gemacht, dass die bisherige Beschreibung nur die Oberfläche wiedergegeben hat. Wenn sich der Erzähler-Führer dann ins Lazarett und von dort auf die vierte Bastion begibt, wird der Leser, durch die wiederholte „SieŖ-Anrede (vy) zur eigentlichen Hauptperson erhoben, zu einem „Touristen des TodesŖ.76 Im Lazarett steht der leidende Mensch, auf der Bastion der kämpfende Mensch im Fokus der Betrachtung. Der Tod ist dasjenige, was die beiden gegensätzlichen Haltungen verbindet. Die entlarvende Ironie von Tolstojs Kunstgriff einer fiktiven Fremdenführung liegt in der Beschreibung des Kriegs als eines Spaziergangs, der die Erwartung „schöner historischer LegendenŖ77 in den hässlichen Anblick Sterbender verkehrt. „Sie betreten den großen Saal des KlubsŖ, beginnt der Erzähler, als er den Leser ins Lazarett führt. „Kaum haben Sie die Tür geöffnetŖ, fährt er fort, „sind Sie sogleich von dem Anblick und Geruch von vierzig oder fünfzig amputierten und schwerverwundeten Kranken betroffen, die zum Teil in Betten, meist jedoch auf dem Fußboden liegen. Geben SieŖ, bemerkt der Erzähler, seine Rolle als Fremdenführer gegen unsere Betroffenheit, um die er genau weiß, weiter

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aufrechterhaltend, „nicht der Regung nach, die Sie auf der Schwelle zaudern lässt Ŕ es ist eine schlechte Regung; gehen Sie weiter.Ŗ78 Aufgefordert, nicht der Regung nachzugeben, auf der Schwelle anzuhalten, sondern uns ins Innere des ehemaligen Adelsklubs zu begeben, werden wir, wiederum nach dem Willen des Erzähler-Führers, mit einer Reihe von Personen konfrontiert: einem alten, ausgemergelten Soldaten, dem ein Bein bis zum Knie abgenommen worden ist, einem blonden, aufgedunsenen Mann, dessen rechter Arm, der nur noch aus einem Stumpf besteht, schweren fauligen Geruch verströmt, einer zarten, totenblassen Matrosenfrau, die, als sie ihrem Mann das Mittagessen auf die Bastion brachte, von einer Bombe getroffen wird. Die Bilder werden zunehmend schrecklicher, folgt man noch weiterhin dem Ŕ ausdrücklich warnenden Ŕ Erzähler („Wenn Sie starke Nerven haben...Ŗ). Dieser bittet uns, nach wie vor ganz der Funktion der Führung verpflichtet, „nun links durch die Tür in den angrenzenden Raum zu gehenŖ: „Dort werden Verbände angelegt und Operationen durchgeführt. Ärzte, ihre Arme blutbespritzt bis zu den Ellbogen, machen sich mit bleichen, finsteren Gesichtern an einer Pritsche zu schaffen, auf der mit geöffneten Augen ein Verwundeter liegt und, vom Chloroform betäubt, sinnlose, mitunter ganz alltägliche und zu Herzen gehende Worte stammelt. Die Ärzte sind mit dem widerwärtigen, jedoch wohltätigen Werk des Amputierens beschäftigt. Sie sehen, wie das scharfe gekrümmte Messer in den gesunden weißen Körper dringt; sehen, wie der Verwundete unter fürchterlichen, herzzerreißenden Schreien und Verwünschungen plötzlich zu Bewusstsein kommt; sehen, wie der Feldscher den amputierten Arm in eine Ecke wirft; sehen, wie ein anderer Verwundeter, der im selben Zimmer auf einer Tragbahre liegt und die Operation seines Kameraden beobachtet, stöhnt und sich krümmt, nicht so sehr vor körperlichem Schmerz als infolge der seelischen Tortur der Erwartung.Ŗ79 Beschreibungen dieser Art kennzeichnet ein für die damalige Zeit neuartiger und bis heute seine Wirkung nicht verfehlender Realismus. Alles wird direkt benannt. Dabei kommt den Details eine wesentliche Rolle zu. In den Kaukasus-Erzählungen noch von geringerer Bedeutung, treten sie jetzt deutlich in den Vordergrund: dingliche genauso wie körperliche und wie seelische Details. Als Folge erscheint der Mensch völlig aufs Kreatürliche reduziert. Jeglicher Selbstbestimmung beraubt, ist er nur noch Opfer, nur noch Objekt. Die Bilder des Liegens und Wartens unterstreichen sein Ausgeliefertsein. Seine totale Verdinglichung aber findet ihren reinsten Ausdruck in der achtlosen Geste, mit der ein Feldscher die amputierten Gliedmaßen zur Seite wirft. Hinzu kommt: Leiden wird geradezu physisch spürbar gemacht Ŕ nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch konkreteste Beschreibung: „Sie sehen, wie das scharfe gekrümmte Messer in den gesunden weißen Körper dringt.Ŗ Die ständig wiederholte Wendung „Sie sehenŖ (Vy uvidete) aktualisiert nicht nur die Situation der Führung und des Geführtwerdens, sondern macht auch die dargestellten Figuren, die Verwundeten und Toten, zu „SehenswürdigkeitenŖ die sie aber in Wirklichkeit so wenig sind

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wie die Opfer in den voyeuristischen Bildern moderner Massenmedien. Was der Leser, der „TouristŖ von Sevastopolř, zu sehen lernt, angeleitet durch Worte des Erzähler-Führers wie „Schauen Sie genauerŖ, „Sie irren sichŖ oder „Trauen Sie nicht dem GefühlŖ, ist weniger die Stadt als er selbst. Die Fortsetzung seines Besichtigungsgangs im Akt des Lesens wird zur Geschichte seiner wachsenden Befangenheit, Verunsicherung, Verstörtheit.80 Bezeichnenderweise heißt es, als sich der Leser-Tourist der vierten Bastion nähert und der Tod aufhört, eine „ferneŖ Möglichkeit zu sein: „Ihr eigenes Ich beginnt Sie mehr zu beschäftigen als alle Beobachtungen.Ŗ81 Wenn der Angeredete, der Leser, jetzt die Kampfhandlungen verfolgt, geht es nur noch um ein Ablenken von der Selbstbeobachtung, und das heißt vom Wissen um die „erbärmliche Stimme, die sich beim Anblick der Gefahr in uns erhebtŖ.82 Doch in die zu erwartenden und scheinbar einzig angemessenen Gefühle von Furcht und Entsetzen mischt sich unvermerkt eine gegenteilige, scheinbar völlig unangemessene Empfindung: „Sie hörenŖ, erläutert der Erzähler, „das gleichmäßige, ganz angenehme Pfeifen der Bombe, mit dem sich nur schwer der Gedanke an etwas Furchtbares verbinden lässt; Sie hören, wie das Pfeifen näherkommt und immer schneller wird, darauf sehen Sie den schwarzen Ball, sie hören sein Aufschlagen auf der Erde und das betäubende, krachende Platzen der Bombe. Zischend und pfeifend fliegen die Splitter umher, wirbeln die Steine durch die Luft, und Sie werden mit Schmutz bespritzt. Bei diesem Krachen empfinden Sie ein eigenartiges Gefühl von Genuss und Furcht in einem.Ŗ83 Es handelt sich um jene paradoxale Vereinigung gegensätzlicher Gefühlslagen, die Tolstoj zum ersten Mal in der Sterbeszene von „DetstvoŖ als Gleichzeitigkeit von Trauer und Freude in der Seele des jungen Helden zur Geltung brachte. Der Genuss, die bedenkliche Seite an der Einheit des Gegensätzlichen, wird als der „besondere ReizŖ bestimmt, der in der „GefahrŖ, im „Spiel mit Leben und TodŖ liegt. Das Wort „SpielŖ deutet auf ein ästhetisches Moment, das nicht nur diese gehobene, faszinierte Stimmung betrifft, die den kämpfenden Menschen (die beobachteten russischen Soldaten) genauso wie den beobachtenden Menschen (Erzähler und Leser) erfassen kann, sondern auch das äußere Bild der militärischen Vorgänge. Das bedeutet, zu der psychologischen Schönheit tritt die Schönheit des Kampfes, und es kommt so zu einer doppelten Ästhetisierung des Krieges, resultierend aus der Wirklichkeitserfahrung des Autors.84 Die Faszination durch die Schönheit des Kampfes hat Tolstoj nicht davon abgehalten, den Krieg schonungslos darzustellen und das ganze Ausmaß seines Schreckens zu beschwören: „Sie sehen den Krieg nicht in seinem geordneten, schönen und glänzenden Gewand, mit Musik, Trommelwirbel, wehenden Fahnen und auf ihren Pferden paradierenden Generälen, sondern in seiner wahren Gestalt Ŕ mit Blut, Qualen und Tod.Ŗ85 Entsprechend dieser programmatischen Äußerung in der ersten der drei Sevastopoler Erzählungen findet auch das genießerische Auskosten der Gefahr eine Antwort auf der Handlungsebene. In dem Moment, da der Leser Ŕ nach Überzeugung des Erzählers Ŕ in dem „Spiel mit Le-

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ben und TodŖ den höchsten Genuss zu empfinden scheint, wird ein Matrose von einer Kugel oder Granate getroffen. Das Geschoss reißt ihm einen Teil der Brust heraus. Der Sterbende, „der, mit Blut und Schmutz bespritzt, ein seltsames, nicht mehr menschenähnliches Aussehen hatŖ86, erscheint als die letzte „SehenswürdigkeitŖ auf dem Gang durch die belagerte Stadt. Seit dem Tod des Soldaten ist das apostrophierte „SieŖ, das sich gewünscht hatte, die Kugeln und Granaten möchten in immer größerer Nähe einschlagen, nicht mehr dasselbe wie zu Beginn und jetzt außerstande, die bisherige ästhetische Befriedigung zu empfinden. Gezwungen, dem Töten zuzuschauen, hat sich sein Bewusstsein erweitert, und diese Erweiterung liegt in der Absicht Tolstojs, dessen Realismus von Anfang an ausgeprägt didaktischer Natur ist. Die Didaktik spiegelt sich auch in der Gesamtanlage der Trilogie wider, in der Tolstoj eine völlig neue Sicht- und Darstellungsweise des Kriegs bietet, die dann nicht nur mit „Vojna i mirŖ einen der größten Kriegsromane der Weltliteratur hervorbrachte, sondern auch namhafte Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts wie Stephen Crane (ŖThe Red Badge of Courageŗ, 1895), Dos Passos (ŖThree Soldiersŗ, 1921), Ernest Hemingway (ŖFor Whom the Bell Tollsŗ, 1940) oder Norman Mailer (ŖThe Naked and the Deadŗ, 1948) inspirierte. „Sevastopolř v dekabre mesjaceŖ hat als Auftakt des Ganzen die Funktion, den Leser einzustimmen und im erzählerischen Sinne „einzuspurenŖ. Vom Erzähler gleichsam an die Hand genommen und über die einzelnen Schauplätze geführt, werden wir, aufgefordert hin-, nicht wegzuschauen, zum genauen Sehen angeleitet und so zum rechten Verstehen der Vorgänge und zum richtigen Lesen des Textes gebracht. Der Leser, in der ersten Erzählung der eigentliche Protagonist, tritt in der zweiten und dritten seine zentrale Rolle an fiktive Helden ab, in „Sevastopolř v maeŖ an eine Gruppe von Offizieren, in „Sevastopolř v avguste 1855Ŗ an ein Brüderpaar. Mit dem Übergang von der offenen zur geschlossenen Struktur wandelt sich auch die Einstellung zum Krieg. In „Sevastopolř v dekabre mesjaceŖ wird der Krieg zwar als etwas Furchtbares und Unmenschliches gezeigt und unter dem Aspekt psychischen Leidens konkretisiert, aber er wird noch nicht an sich desavouiert87, sondern als eine Notwendigkeit akzeptiert. Die Konkretisierung des Leidens dient zugleich der Mythisierung der heldenhaften Verteidiger Sevastopolřs und der Korrektur der falschen Vorstellungen des Lesers vom Bild der Stadt als heroischem Schauspiel. Erst in „Sevastopolř v maeŖ wird der Ŕ infolge der veränderten militärischen Lage Ŕ immer fürchterlicher und letztlich sinnlos gewordene Krieg an sich als absoluter Wahnsinn verklagt und der zuvor noch gefeierte Mythos der Heldenhaftigkeit zum Gegenstand der Polemik. Nach einer einführenden Reflexion des Erzählers über die Grenzenlosigkeit und Unabsehbarkeit von Blut, Qualen und Tod, vorgetragen in einem hochpathetischen Stil und einer durch und durch rhetorisierten Sprache, die im hämmernden Rhythmus anaphorischer Satzkonstruktionen zunehmend an Eindringlichkeit gewinnt, reicht der Realismus der Darstellung nicht mehr aus, wenn es gilt, Schlachtfelder zu schildern, und er nimmt, auf Leonid Andreevs „Krasnyj smechŖ (Das rote

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Lachen, 1904)88 vorausweisend, symbolistische, ja geradezu surrealistische Züge an: „Hunderte frischer, blutbefleckter Menschenleiber, die noch vor zwei Stunden von vielfältigen großen und kleinen Hoffnungen und Wünschen erfüllt waren, lagen mit erstarrten Gliedern in dem taufeuchten blühenden Tal, das die Bastion vom Laufgraben trennte, und auf dem nackten Boden der Totenkapelle von Sevastopolř. Hunderte von Menschen, Flüche und Gebete auf den ausgetrockneten Lippen, krochen umher, wanden sich und stöhnten Ŕ die einen zwischen den Leichnamen im blühenden Tal, die anderen auf Tragbahren, auf Pritschen und auf dem blutbespritzten Fußboden des Verbandsplatzes.Ŗ89 In „Sevastopolř v avguste 1855Ŗ schließlich wird der Krieg, der zuerst akzeptiert und dann verklagt wurde, in einem dritten Schritt aus der Perspektive zweier Einzelfiguren, der Brüder Kozelřcov, als faktische Gegebenheit präsentiert. Alles erscheint als ihr Erleben, ihr Fühlen, ihr Denken. Mit der verwandtschaftlichen Beziehung schafft Tolstoj eine Verbindung und Konzentration, mit der Unterscheidung der Brüder durch Lebensalter und Kriegserfahrung eine Aufspaltung und zweifache Beleuchtung der gleichen Situationen. Da ist auf der einen Seite der ältere Kozelřcov, der als erfahrener Frontsoldat furchtlos seinen Dienst versieht, und da ist auf der anderen Seite der jüngere Kozelřcov, der sich aus Ehrgeiz und patriotischer Begeisterung zu der kämpfenden Truppe versetzen lässt, aber schon unterwegs durch die Berichte eines Kuriers und erst recht an Ort und Stelle durch eigene Beobachtungen in wachsendem Maß verstört wird. Er stirbt allzu früh, um seine Furcht allmählich überwinden zu können und im Durchgang durch „seelische QualenŖ einer „jener ruhigen, geduldigen Menschen in Kampf und GefahrŖ und selbst im Sterben zu werden, die wie sein Bruder den typischen „russischen OffizierŖ verkörpern.90 So erleben wir den Fähnrich Vladimir Kozelřcov nicht im Kampf mit dem Feind, sondern im Kampf mit sich selbst und seiner Furcht. Mit der einlässlichen Beschreibung dieses Kampfes im letzten Teil der Trilogie war Tolstoj auf seinem Weg zur Erfassung menschlicher Innenwelten ein beträchtliches Stück vorangekommen. Nachdem er die ihn mit Dostoevskij verbindende psychologische Vertiefung des realistischen Verfahrens in „DetstvoŖ am Beispiel des Kindes und seines alltäglichen, familiären Rahmens erfolgreich in Angriff genommen hatte, lieferten die Militäraktionen im Kaukasus und vor allem der Krimkrieg, den er als eine Art von anthropologischem und literarischem Experiment91 betrachtete, den Anlass, seine Figuren in extremen „GrenzsituationenŖ zu zeigen. Er beschrieb, wie diese, aus der Normalität des Lebens gerissen, sich mit den Problemen des Todes und der Todesfurcht, der Selbsterhaltung und der Selbstaufopferung, mit den Fragen von Moral, Verantwortung und Gewissen, mit elementaren Instinkten, Trieben und Leidenschaften, mit Konflikten zwischen Egoismus und Gemeinwohl zwischen Tapferkeit und Feigheit auseinandersetzen müssen und zum Nachdenken darüber gezwungen werden. Indem Tolstoj den Menschen im Ausnahmezustand und aus ungewöhnlicher Perspektive wahrnahm und studierte, gelang es ihm, noch stärker als in der Kind-

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heitserzählung bis in tiefste Bereiche des Seelischen vorzudringen. So konnte Efim Ėtkind, einen Begriff Jean Pauls aufgreifend, in seiner „PsychopoetikŖ der russischen Literatur sagen: „In der Prosa Lev Tolstojs erreichte die Literatur vorher unbekannte Tiefen des ‚inneren MenschenŘ (vnutrennij ĉelovek).Ŗ92 Und er betonte, dies gelte im weltliterarischen Maßstab und von den frühesten Werken des Autors an. Inzwischen sich seiner schriftstellerischen Bestimmung sicher, nachdem er Ende 1852, trotz des Erfolgs von „DetstvoŖ, die Literatur noch als bloßen „ZeitvertreibŖ bezeichnet hatte, erhob Tolstoj nach Abschluss der „SevastopolřŖ-Trilogie und dem Abschied vom Militär die Schriftstellerei zur Hauptbeschäftigung („schreiben und nochmals schreibenŖ)93 und setzte dabei den von Anfang an verfolgten Weg konsequent fort, das heißt, die Introspektion blieb sein höchstes Interesse und bildete, von der Selbstanalyse auf die Analyse der anderen verlagert, weiterhin sein wichtigstes Verfahren bei der Erkundung des Menschen und seiner Stellung in der Welt. Wo sich Tolstoj in jener Zeit auch aufhielt, stets machte er jeden Ort, die Salons und Zirkel in Petersburg, die Straßen der französischen Hauptstadt und die Gasthöfe und Restaurants in der Schweiz, den Gutshof und die bäuerliche Umgebung von Jasnaja Poljana, genauso zum Experimentierfeld seines Schreibens wie zuvor die Schützengräben und Unterkünfte auf der Krim. Unentwegt hielt er Ausschau nach neuen Themen, gleichzeitig erprobte er immer wieder verschiedenartigste formale, strukturelle und erzähltechnische Neuerungen. Tolstojs Ziel war schon früh die große Epik, und die Kurzepik diente ihm von der Skizze über die Novelle bis zur Erzählung vor allem als Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Nach über einem Jahrzehnt Ŕ Lehrjahren des Erzählers, in denen nicht wenige Meisterwerke entstanden Ŕ konnte dann mit „Vojna i mirŖ (1863Ŕ1869) die Gattungsform des Romans in Angriff genommen und mit „Anna KareninaŖ (1873Ŕ1877) fortgesetzt werden. Beide Romane basieren kompositionell auf dem Prinzip der dualen Struktur: In „Vojna i mirŖ kontrastiert und alterniert das Private (Salon und Familie) mit dem Offiziellen (Krieg und Politik), in „Anna KareninaŖ die Geschichte eines Ehebruchs (Anna Ŕ Vronskij) mit der Geschichte einer Ehegründung (Levin Ŕ Kitty). Das Dualitätsprinzip hatte Tolstoj mit der Kontrastierung der Brüder, des älteren, furchtlosen und des jüngeren, furchtsamen Kozelřcov, eingeführt, um es später wieder aufzunehmen und zu variieren, zunächst in „MetelřŖ (Der Schneesturm, 1856), bestehend aus einer äußeren, realen Ebene, der Schilderung einer nächtlichen Schlittenfahrt in einem immer heftiger tobenden Schneesturm, und einer inneren, irrealen Ebene, der Wiedergabe der Erinnerungen, Vorstellungen und Träume des vor Erschöpfung in Schlaf und Halbschlaf gesunkenen Helden, danach in „Dva gusaraŖ (Zwei Husaren, 1856), realisiert in Gestalt von zwei selbständigen, jeweils acht Kapitel umfassenden Handlungssträngen, die sich wechselseitig ergänzen und erläutern: Die Handlungsträger, Vater und Sohn, beide Husarenoffiziere, kommen eines Tages, im Abstand von zwanzig Jahren, in dieselbe Provinzstadt, wo sie im begrenzten zeitlichen Rahmen eines Abends

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bzw. einer Nacht ein galantes Abenteuer erleben, der Vater, ein Draufgänger, Duellant und Herzensbrecher, erfolgreich mit einer hübschen jungen Witwe, der Sohn, ein gebildeter, anständiger zurückhaltender Mann ohne Erfolg mit der inzwischen herangewachsenen Tochter dieser Witwe. Wie stark „Dva gusaraŖ bereits zum Epischen tendiert, das verdeutlicht eine Äußerung des Schriftstellers Aleksandr Druņinin. Aus dem Stoff der Erzählung, meinte dieser, ließen sich „ohne Mühe zwei Romane machenŖ.94 So ist es auch kein Zufall, dass Tolstoj hier Verfahren zur Anwendung brachte, die im größeren Rahmen seiner Romane eine wichtige Rolle spielen sollten. Dazu gehören die Kunst der knappen, aus wenigen Strichen bestehenden, stets situationsgebundenen Figurencharakteristik und die Technik des Leitmotivs, jener von Thomas Mann bewunderte Brauch Tolstojs, eine Person mit einem bestimmten körperlichen Merkmal zu versehen und dieses feste Attribut bei den weiteren Auftritten der Person erneut zu erwähnen. Ein junger Gutsbesitzer beispielsweise wird in „Dva gusaraŖ immer dann, wenn er erscheint, als „skrofulösŖ bezeichnet. Allerdings lässt sich für die Attribuierung in diesem Fall noch keine tiefergehende Notwendigkeit erkennen. In den Romanen dagegen hat der Kunstgriff, von Tolstoj inzwischen zur Meisterschaft entwickelt, eine sichtbare Funktion gewonnen, sei es die eines Erkennungsmerkmals in der Figurenfülle von „Vojna i mirŖ, sei es die eines Symbols wie bei Annas energischem Gang oder Karenins Knacken mit den Fingerknöcheln. Die Arbeit an „Dva gusaraŖ hatte den Verfasser, wie ihm Ĉernyńevskij bescheinigte, einen echten „Schritt nach vornŖ gebracht.95 Kein Wunder, dass die kurze erzählerische Form in Tolstojs weiterer schriftstellerischer Entwicklung ihre romanvorbereitende Bedeutung behielt, und dies gilt auch in thematischer Hinsicht. In der Erzählung mit dem programmatischen Titel „Semejnoe sĉastieŖ (Familienglück, 1859) nahm Tolstoj das Thema der Familie auf, das er zuerst in „DetstvoŖ angeschlagen und dann mit dem Brüderpaar in „Sevastopolř v avguste 1855 godaŖ und den Figuren des Vaters und des Sohns in „Dva gusaraŖ weitergeführt hatte, um es jetzt, exemplifiziert an der Geschichte der Liebe und Ehe zwischen einem jungen Mädchen und ihrem wesentlich älteren Vormund, in den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken. Damit ergab sich ein unmittelbarer Bezug zu einer aktuellen Diskussion. Im Anschluss an die vielgelesenen Romane George Sands stritt man in Russland heftig und äußerst kontrovers über die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das Problem der weiblichen Bildung, die Frage der Freiheit der Gefühle, einschließlich der freien Liebe, die These von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Geschlechter usw.96 Die eine Seite vertrat die Prinzipien der Gleichberechtigung und der Emanzipation; die andere betrachtete, gestützt auf die Schriften von Jules Michelet („Lř amourŖ, 1858; „La femmeŖ, 1859) und Pierre-Joseph Proudhon („De la justice dans la révolution et dans lřégliseŖ, 1858), die Gleichberechtigung und Emanzipation als eine Gefahr für Ehe und Familie. Tolstoj offenbarte sich auf literarischem Weg, mit den Mitteln des poetischen, nicht des politisch-sozialen Schriftstellers, als Verfechter der Fa-

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milienidee. Deshalb schildert er das Entstehen und Wachsen der Liebe als einen Prozess, der nach den Jahren des Rausches vor und nach der Heirat im Ehealltag bald „zum StillstandŖ97 kommt und allmählich in einen Zustand übergeht, in dem das „alte GefühlŖ zu einer „kostbaren, unwiederbringlichen ErinnerungŖ wird und das „neue Gefühl der Liebe zu den Kindern und dem Vater der KinderŖ den „Grundstein zu einem zweiten, jedoch völlig andersartigen glücklichen LebenŖ legt.98 Liebe wird wie später am Beispiel von Levin und Kitty in „Anna KareninaŖ als etwas Romantisches gezeigt und in ihrer Unbeständigkeit entlarvt. Wichtiger, stärker und dauerhafter ist für Tolstoj, Argumenten Michelets folgend, die Institution Familie. Sie wird verstanden als ein im Durchgang durch sinnliche Leidenschaft gewonnenes, gereinigtes Stadium, in dem die Liebe, die anfänglich Mann und Frau verbunden hat, auf ein anderes Wesen gelenkt und in ihm, dem gemeinsamen Kind, zu einem neuen, selbständigen Leben und Sein erweckt wird.99 Zugleich tritt hier auch schon der negative Aspekt von Tolstojs Liebesund Eheauffassung so deutlich zutage wie in „Vojna i mirŖ und in „Anna KareninaŖ: In dieser Auffassung entfällt das personale Moment der Liebe, das die Gemeinschaft von Mann und Frau über die erotische Anziehung hinaus als eine die geschlechtliche Trennung aufhebende Verstehensgemeinschaft begründet. Die Wandlung Mańas, der Heldin der Erzählung, vom jungen Mädchen, das apathisch und nutzlos in den Tag hinein lebt, zu der jungen liebenden Frau, der sich die Frage „Wozu leben?Ŗ gar nicht stellt, weil es für sie feststeht, dass sie die Aufgabe hat, den Mann glücklich zu machen, ist mit feinem Einfühlungsvermögen herausgearbeitet, ebenso die zweite Wandlung Mańas von der liebenden Frau zu der Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse entdeckt und den gesellschaftlichen Verlockungen erliegt, bis sie am Ende erkennt, dass die Familie wichtiger ist als alle persönlichen Gefühle. Tolstoj verstärkte die Authentizität der weiblichen Psyche noch, indem er konsequent vom Anfang bis zum Schluss die Heldin selber erzählen ließ. Nachdem er vorher stets männliche Figuren als Protagonisten gewählt hatte, benutzte er die Ichform zum ersten Mal, um die Welt mit den Augen einer Frau zu sehen. Auch wenn der Versuch nicht in jeder Hinsicht gelungen ist, weil sich, insbesondere bei allgemeinen Betrachtungen, weibliche und männliche Sicht vermischen, ist er doch in Tolstojs Entwicklung von grundsätzlicher Bedeutung. Er trug entscheidend dazu bei, den Verfasser von Erzählungen später in die Lage zu versetzen, Romanheldinnen von solch psychologischer Glaubwürdigkeit und innerer Stimmigkeit zu schaffen wie Natańa Rostova, Anna Karenina und Katja Maslova. Im Unterschied zu dem Thema von Liebe, Ehe und Familie war ein anderes zentrales Thema der Tolstojschen Romankunst nicht neu in den Erzählungen aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre: das vom Tod und vom Sterben. Die Kaukasus- und Sevastopolř-Erzählungen hatten zuvor von nichts anderem gehandelt. Dass Tolstoj auf ein Thema zurückkam, das mit dem Ende seiner Militärzeit erledigt zu sein schien, verdankt sich dem persönlichen Erleben einer öffentlichen Hinrichtung auf der Place de la Roquette in Paris am 25. März 1857.

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Gibt der Tagebucheintrag vom selben Tag dieses Erlebnis noch in lakonischer Knappheit wieder, macht ein Brief an Botkin das ganze Ausmaß der Erschütterung durch das mit eigenen Augen Gesehene deutlich: „Ich habe viele Scheußlichkeiten im Krieg und im Kaukasus gesehen, aber wenn man vor mir einen Menschen in Stücke gerissen hätte, wäre das weniger widerlich gewesen als der Anblick dieser kunstvollen, eleganten Maschine, mit der man in einer Sekunde einen kräftigen, frischen und gesunden Mann vom Leben zum Tod befördert.Ŗ100 Noch 25 Jahre später kam Tolstoj in „IspovedřŖ (Beichte, 1882) auf das Pariser Erlebnis zurück und nannte es einen der beiden Wendepunkte in seinem Leben (der andere war der Tod seines Bruders Nikolaj im Jahre 1860, der ihn mehr erschütterte als der Tod seines Bruders Dmitrij vier Jahre zuvor). Am Sterbebett Nikolajs wie vor der „BlutbühneŖ auf der Place de la Roquette gewann für Tolstoj das Wissen um die Tatsache des Todes, die dem literarischen alter ego in „DetstvoŖ beim Anblick der verstorbenen Mutter und Großmutter noch nicht so voll bewusst geworden war, eine gänzlich neue Dimension. Der Tod, erfahren nicht in der Ausnahmesituation des Krieges, sondern unerwartet und unvorbereitet in der Alltäglichkeit des Lebens, wird als etwas Furchtbares, Entsetzenerregendes und letztlich Sinnloses empfunden. Hatte Tolstoj als Autor von Kriegserzählungen den Tod nur von außen beschrieben, wenngleich in krassester Realistik, begann er sich jetzt selber als Person, seelisch und geistig, philosophisch, theologisch und soziologisch, mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Wie alles bei ihm fand dies seinen unmittelbaren Niederschlag im eigenen Werk. So entstand, gleich nach seiner Rückkehr von der Westeuropareise, im Januar 1858 die Erzählung „Tri smertiŖ (Drei Tode). Tolstoj wählte für den kurzen Text eine gleichnishafte Form, was dem didaktischen Grundzug seines Schreibens entgegenkam. „Mein Gedanke war folgenderŖ, erläuterte er Aleksandra Tolstaja, die sich an dem vermeintlich unvorteilhaften Kontrast zwischen dem Tod einer Christin und dem Tod eines rohen Bauern stieß: „Drei Wesen sind gestorben Ŕ eine Adlige, ein Bauer und ein Baum.Ŗ Die Adlige sei „pathetisch und widerlich, weil sie ihr ganzes Leben lang gelogen hat und noch im Sterben lügt. Das Christentum, wie sie es versteht, hat das Problem des Lebens und des Todes für sie nicht gelöst.Ŗ Der Bauer sterbe „friedlich, gerade weil er kein Christ ist. Seine Religion ist anders, obgleich er die christlichen Riten gewohnheitsmäßig vollzieht; seine Religion kommt aus der Natur, mit der er lebt.Ŗ Der Baum schließlich sterbe „friedlich, würdig und schön. Schön Ŕ weil er sich nicht in Szene setzt, sich nicht fürchtet und nicht bedauert.Ŗ101 Der rousseauistische Gegensatz von Natur und Zivilisation bewahrheitet sich für Tolstoj auch im Sterben. Die naturferne Dame der Gesellschaft stirbt qualvoll in der Heuchelei und Unehrlichkeit, der eigenen und der ihrer Umgebung. Der einfache Bauer und der gefällte Baum sterben aufgrund ihrer Naturnähe ruhig und klaglos, der erstere aber ruft kein Mitleid und keine Trauer hervor (die Köchin braucht seinen Platz auf dem Ofen, der Kutscher die Stiefel, die er trägt), der letztere dagegen erzeugt nichts als Freude, Gesang und Glücks-

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gefühl: „Die Vögel regten sich im Dickicht und jubilierten, als verkündeten sie etwas Glückliches. Die saftigen Blätter flüsterten fröhlich und ruhig in den Wipfeln, und die Zweige der lebenden Bäume rauschten gemessen und majestätisch über dem toten, gefällten Baum.Ŗ102 Im Bild des gefällten Baums, der sterbend Leben schafft, indem er anderen Bäumen zu Licht, Luft und Raum verhilft, hatte Tolstoj einen Sinn im Tod gefunden Ŕ vorerst; denn zwei Jahre später sah er den Grundgedanken von „Tri smertiŖ Ŕ der Tod als Phänomen des natürlichen Lebens, das nicht vergeht, sondern sich verwandelt, das heißt die Vorstellung der Harmonie und Einheit von Leben und Tod im ewigen Kreislauf der Natur103 Ŕ durch den realen Anblick seines sterbenden Bruders in Frage gestellt. Jetzt erlebte er den Tod nur noch als Zerstörer des Lebens. Der Gedanke an die Sterblichkeit des Menschen ließ den Autor seitdem nicht mehr los, und das tief Beunruhigende dieses Gedankens sollte einige Jahre später durch eine Wendung ins Persönliche noch einmal eine Steigerung erfahren. Während einer Reise ins Gouvernement Penza überkam Tolstoj nachts in einem Gasthof plötzlich ein „qualvolles GefühlŖ. Es ergriff ihn, wie er sogleich seiner Frau brieflich mitteilte104, eine „solche Sehnsucht, Furcht und Panik wie noch nie zuvorŖ. Lange danach (1883), in der Phase seiner geistigen und schriftstellerischen Krise, hat er das nächtliche Erlebnis vom September 1869, das ihn zutiefst verstört und bis in seine Grundfesten erschüttert hatte, in der Skizze „Zapiski sumasńedńegoŖ (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) literarisch zu rekonstruieren und zu verarbeiten versucht und es dabei als eine visionäre Begegnung mit dem Tod dargestellt. „Wovor fürchte ich mich denn?Ŗ fragt sich der aus dem Schlaf aufgeschreckte, aus der Enge und Dunkelheit des Zimmers in den Flur geflüchtete Ich-Erzähler. „Vor mirŖ, antwortet kaum hörbar eine Stimme, „ich bin hier.Ŗ Erschauernd ist sich das Ich gewiss: „Ja, das war der Tod.Ŗ105 Zugleich jedoch wehrt es sich verzweifelt: „Er naht, er ist schon da, aber das darf nicht sein.Ŗ Angesichts des Todes empfindet das Ich so stark wie noch nie, dass sein „ganzes WesenŖ erfüllt ist von dem „Verlangen nach LebenŖ und das „Recht auf LebenŖ fordert, doch gleichzeitig das „unaufhaltsame Nahen des TodesŖ verspürt.106 Die quälende innere Zerrissenheit des Helden war seit jenem Gasthoferlebnis die eigene Tolstojs. In „Anna KareninaŖ hatte er sie auf den Gutsbesitzer Levin, ein alter ego wie der Held und Erzähler von „Zapiski sumasńedńegoŖ, übertragen. Nach Abschluss des Romans holte sie ihn unerbittlich ein und führte zu der Krise, die in der Bekenntnisschrift „IspovedřŖ ihren Ausdruck findet. Tolstoj, der im Krimkrieg, auf der Place de la Roquette in Paris und in seiner Familie am Fall der Mutter und der Brüder nur das Sterben der anderen kennengelernt hatte, erfuhr als Vierzigjähriger in der nächtlichen Einsamkeit eines Gasthofs, dass es außer dem „man stirbtŖ auch das „ich sterbeŖ gibt. Das Entsetzen über diese Erkenntnis führte zum Zweifel am Sinn des Lebens, der Zweifel am Sinn des Lebens zur Erwägung des Selbstmords. „Sollte ich warten, bis der Tod von allein kam?Ŗ lässt Tolstoj den Erzähler von „Zapiski sumasńedńegoŖ fragen. „Davor graute mir noch mehr. Also am Leben bleiben? Wozu? Um doch nur zu

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sterben?...Ŗ107 Der Ausweg bestand für den Verfasser wie den Helden der Skizze („Von nun an las ich häufig die Heilige Schrift.Ŗ)108 im Versuch zu religiöser Einkehr. Die theologischen Schriften Tolstojs aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre verraten, wie verzweifelt der aufklärerische, antimetaphysisch gestimmte Geist um den Glauben ringt, zu dem Dostoevskij Ŕ unter anderen Umständen Ŕ wie von selbst gefunden hatte. Um die Mitte des Jahrzehnts hatte Tolstoj zwar die Glaubensfrage nicht gelöst, meinte aber, die Furcht vor dem Tod überwunden und den Sinn eines von der Todesfurcht befreiten Lebens (wieder)entdeckt zu haben. Das ermöglichte nach langanhaltender Schreibkrise seine Ŕ triumphale Ŕ Rückkehr zur Literatur: Die zwischen August 1885 und März 1886 entstandene Novelle „Smertř Ivana IlřiĉaŖ (Der Tod des Ivan Ilřiĉ)109 gilt nicht zu Unrecht als die „gewaltigste Sterbegeschichte, die jemals geschriebenŖ wurde.110 In „Zapiski sumasńedńegoŖ hatte Tolstoj seine visionäre Todes- und Todesfurchterfahrung aufgezeichnet, um diesen seelischen sowie geistigen Schock zu bewältigen, der durch sie in ihm ausgelöst worden war. Mehr eine Bekenntnisschrift als ein Werk von ästhetischer Selbständigkeit, wurde der Text, der unverkennbar therapeutische Züge trägt, nicht ohne Grund abgebrochen und blieb so Fragment. Erst als Tolstoj von der eigenen Person absah und in „Smertř Ivana IlřiĉaŖ eine erfundene Person zur zentralen Figur erhob, außerdem die Ichform gegen die distanzierende Erform austauschte, gewann die Darstellung ihre allgemeinmenschliche Gültigkeit. Die neutrale Erzählinstanz mindert nicht die Nähe zum Protagonisten und schließt keineswegs die Identifizierung mit ihm und seinem Schicksal aus. Denn so wie Dostoevskij in „DvojnikŖ den Wahnsinn vom Wahnsinnigen aus zeigt, beschreibt Tolstoj das Sterben vom Sterbenden her. Deshalb erscheint der Tod auch nicht im Licht theologischer, philosophischer oder poetischer Deutung111, sondern ganz konkret als ein medizinisches Phänomen und als peinigendes, ängstigendes Faktum, so also, wie ihn Ivan Ilřiĉ, ein dienstlich und gesellschaftlich erfolgreicher höherer Beamter wahrnimmt und empfindet, nachdem er eines Tages von einer Leiter gestürzt und im Verlauf seiner Erkrankung zu der Gewissheit gelangt ist, dass er sterben wird. Sterben Ŕ das heißt hier Schwinden der Kräfte, leiblicher Verfall, widerlicher Mundgeruch, Unsauberkeit des Körpers, Übelkeit durch Medikamente, Opium- und Morphiuminjektionen und vor allem immer wiederkehrender dumpfer, quälender, unerträglicher Schmerz. Sterben Ŕ das heißt auch und mehr als alles andere: bodenlose Angst, vergebliche Hoffnung, Flucht in haltlose Phantasie, abgrundtiefe Verzweiflung, Hadern mit Gott. Erzählt wird aber von Tolstoj nicht nur die Geschichte vom Sterben, sondern auch die vom Leben Ivan Ilřiĉs. Der Leitersturz markiert die Zäsur zwischen der einen und der anderen. Auf der Ebene der Handlung den novellistischen Glücksumschwung einleitend (die Novelle bekundet so ihre Wesensverwandtschaft mit der Tragödie), symbolisiert er auf der ideellen Ebene den Herausfall des Helden aus seiner bisherigen Lebensordnung. Diese stand unter dem Gesetz des „AngenehmenŖ (prijatnoe) und „SchicklichenŖ (priliĉnoe).112 Alles, was Ivan Ilřiĉ für

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unangenehm oder unschicklich hielt, versuchte er daher zu vermeiden oder, falls nicht möglich, einfach zu ignorieren, sogar wenn es sich um den Tod der eigenen Kinder handelte. Als er im siebzehnten Jahr seines leeren Ehelebens, auf einen höheren Posten im Justizministerium versetzt, bei der Einrichtung seiner neuen Wohnung in Petersburg von der Leiter fällt, ist er zum erstenmal außerstande, eine Störung seines Daseins zu eliminieren. Zwar steigt er, persönlich um die rechte Drapierung der Fenstervorhänge bemüht, die Leiter nicht allzu hoch hinauf, „aber der Fall ist so tief wie der Abgrund des Todes und die Qualen des Bewusstseins vor dem TodŖ.113 Zunächst hat Ivan Ilřiĉ den Eindruck, nicht ernsthaft verletzt zu sein, erst nach einiger Zeit tritt ein gewisses „UnbehagenŖ körperlicher, bald auch seelischer Art auf und beginnt, „seine leichte, angenehme und schickliche Lebensweise zu beeinträchtigenŖ.114 Nach und nach stellen sich echte Schmerzen ein, die sich selbst nach verschiedenen Arztbesuchen, darunter bei einer berühmten Kapazität, nicht verringern, sondern im Gegenteil ständig verstärken und schließlich zum unabänderlichen Dauerzustand werden. „Jetzt gab es für Ivan Ilřiĉ keine Selbsttäuschung mehr: In seinem Inneren vollzog sich etwas Schreckliches, Neues und so Bedeutsames, wie er es nie zuvor erlebt hatte.Ŗ115 Die Krankheit entfremdet ihn seiner bisherigen Welt, der familiären wie der beruflichen, und treibt ihn in die totale Isolation und Vereinsamung. In dem schrecklichen Alleinsein angesichts des nahenden Todes weint er, angewiesen auf die umfassende Pflege durch den Diener, über die eigene Hilflosigkeit und Erniedrigung und klagt bald über die „Grausamkeit der MenschenŖ, bald über die „Grausamkeit Gottes, der ihn im Stich gelassen hatŖ.116 Unter den seelischen Qualen noch stärker leidend als unter den körperlichen, ahnt Ivan Ilřiĉ langsam, dass er sein Leben nicht richtig geführt hat, verdrängt jedoch den Gedanken sogleich wieder. Aber dieser Gedanke holt ihn immer wieder ein und bringt ihn unter dem unablässigen Druck des Schmerzes in einem langen Bewusstseinsprozess zu einer Neubewertung seines Selbst und seines Lebens. Das Bild des „schwarzen SacksŖ, in den er sich hineingestoßen fühlt und in dem er, eingezwängt, um sich schlägt „wie ein zum Tode Verurteilter in den Armen des HenkersŖ117, spiegelt den verzweifelten Kampf, den er führt, um sein Leben zu rechtfertigen. Das Ende dieses Ringens kündigt sich an, als Ivan Ilřiĉ auf dem Grund eines düsteren „SchlundsŖ, in den er, noch im Sack kämpfend, tiefer und tiefer zu fallen glaubt, etwas tröstlich Helles aufleuchten sieht. Das „LichtŖ symbolisiert den Durchbruch zur Wahrheit und zur Erleuchtung. Ivan Ilřiĉ wird auf einmal ganz ruhig. Er akzeptiert, dass er verkehrt gelebt hat und ist sich zugleich sicher, alles wiedergutmachen zu können. In der Erwartung einer Erwiderung auf die Frage, was denn nun „das RichtigeŖ sei, spürt er, wie jemand seine Hand küsst, und er erkennt seinen zehnjährigen Sohn, neben ihm seine Frau, den Mund halb geöffnet, die Wangen tränenüberströmt. Das Mitleid ist gegenseitig und grenzenlos. Ivan Ilřiĉs Hass auf seine Angehörigen und seine Verbitterung über das Lügengewebe in seiner Umgebung verwandelt sich in Liebe.

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Mit der „Öffnung für die LiebeŖ118 haben all die unentwirrbaren Fragen, die Ivan Ilřiĉ so sehr gequält haben, wie von selbst ihre Lösung gefunden. Vor allem aber ist seine „bisherige beständige Furcht vor dem TodŖ verschwunden: „Die Furcht gab es nicht mehr, weil es auch den Tod nicht mehr gab.Ŗ119 Mit dem in der Lichtsymbolik zur Erscheinung gebrachten Erlösungsmotiv am Ende der Novelle scheint sich Tolstoj selber von der Todesfurcht befreit zu haben, die er seit den sechziger Jahren als unaufhörliche Bedrohung seiner Existenz erlebte. Käte Hamburger hat bei aller Bewunderung für die Meisterhaftigkeit eines Textes, der die Wirklichkeit des Sterbeerlebnisses durch ein „geniales Sichhineinversetzen in die Situation des SterbendenŖ zur Anschauung bringt, den Gedanken der Erlösung als „SprungŖ empfunden. Die „Phänomenologie des TodesŖ als der eigentliche Erzählgegenstand werde unvermittelt in eine „Sinndeutung des TodesŖ umgewandelt.120 Tatsächlich ist die Befreiung von der Todesfurcht hier nur sinnbildlich veranschaulicht, empirisch lässt sie sich nicht verifizieren. Tolstoj, für den die Symbolisierung ein fester Bestandteil seines realistischen Verfahrens ist, hat, als er die Botschaft von der unabweisbaren Wirklichkeit der Todesverfallenheit des Menschen und die Forderung nach Überwindung der Furcht vor dem Tod in künstlerische Form brachte, in „Smertř Ivana IlřiĉaŖ zunächst die eine Möglichkeit aufgezeigt: die Überwindung in der Idee, in „Chozjain i rabotnikŖ (Herr und Knecht, 1895) darauf die andere: die Überwindung in der Tat. Hier geschieht de facto, was sich dort bloß gedanklich im Sterbenden ereignet. Der Herr besiegt seine Todesfurcht, indem er sich für seinen Knecht opfert. Der Kaufmann Vasilij Andreiĉ Brechunov, dessen „LieblingsbeschäftigungŖ darin besteht, ein für ihn vorteilhaftes Geschäft abzuschließen121, bricht, um einen günstigen Waldankauf zu tätigen, mit seinem Knecht Nikita im einsetzenden Schneesturm auf, unterwegs alle Warnzeichen der Natur missachtend und zweimal das Angebot eines Bauern, die Nacht besser unter einem geschützten Dach zu verbringen, ausschlagend. Man verirrt sich im Schnee und in der nächtlichen Dunkelheit, fährt im Kreis und ist schließlich gezwungen, völlig entkräftet und halberfroren anzuhalten und den Rest der Nacht schutzlos in Sturm und eisiger Kälte zu verbringen, nicht ohne zuvor noch aus den Deichselstangen des Schlittens ein Erkennungszeichen zu errichten. Während für Nikita die Vorstellung, diese Nacht nicht zu überleben, „weder besonders unangenehm noch besonders schrecklichŖ ist122 (er weiß sich „unter der Obhut des HerrnŖ), denkt Brechunov, unfähig zum Schlaf, darüber nach, „was das einzige Ziel, den Sinn, die Freude und den Stolz seines Lebens ausmachte Ŕ nämlich, welches Vermögen er erworben hatte und wie er es noch vergrößern konnteŖ.123 Das führt ihn zu dem Entschluss, nicht auf den Tod zu warten, sondern sich aufs Pferd zu setzen und davonzureiten, Nikita ohne Skrupel seinem Schicksal überlassend. Nach kurzer Zeit zurückgekehrt, weil er wieder im Kreis herumgetrieben worden ist, befreit er den schon steif gefrorenen Knecht aus dem hohen Schnee, öffnet seinen Pelz und legt sich auf den dem Tode Nahen, um ihn mit seinem Körper zu wärmen. Tränen treten Brechunov in die Augen, sein Unterkiefer zuckt, und seine Schwä-

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che und seine Ängstlichkeit stimmen ihn keineswegs traurig, sondern bereiten ihm eine „noch nie empfundene FreudeŖ: „Furcht empfand er jetzt überhaupt nicht mehr.Ŗ124 Wiederum gestaltet Tolstoj den Tod als Erlösung. „Ich komme, ich komme!Ŗ sind Brechunovs letzte Worte. Der Sterbende ist gerührt und beglückt, weil er sich frei fühlt. Er hat den Nächsten, seinen Knecht Nikita, mit dem er allein ist in der eisigen Schneewüste, als das Du entdeckt.125 Bisher ausschließlich vom Besitzdenken bestimmt, das den Gedanken an den Tod ausschließt, wird er in der äußersten der Grenzsituationen von der Empfindung der Mitmenschlichkeit überwältigt. Für den zuvor nur als Objekt behandelten, jetzt als den Bruder erkannten Knecht gibt er im höchsten Akt liebender Hingabe freiwillig sein Leben. Auch Ivan Ilřiĉ findet am Ende zur Liebe, der Kaufmann Brechunov aber leistet tätige Liebe. Das macht seinen Tod so besonders. Für den Verfasser von „Smertř Ivana IlřiĉaŖ und „Chozjain i rabotnikŖ, dem die frühe Todeserfahrung zur Lebensnot und zum Lebensthema wurde, existentiell, philosophisch, literarisch, bleibt der Tod auch nach der seelischen Beruhigung und der bewältigten Krise ein verstörendes Ereignis, das sich der Beeinflussung durch den Willen entzieht. Er wird jetzt aber nicht mehr als letzte unüberwindbare Grenze gedacht, sondern als die Vollendung der menschlichen Existenz. Und diese besteht für den späten Tolstoj in nichts anderem als in der Liebe: „Die LiebeŖ, formuliert er einmal, „ist das „Gefühl, das alle Widersprüche des Lebens löstŖ 126, und deshalb, so fügt er hinzu, die „einzige vernünftige Tätigkeit des MenschenŖ.127 IX. Meister der russischen Novelle: Turgenev und Leskov Der bewusst lehrhafte Zug, der Tolstojs wie Dostoevskijs Behandlung „letzterŖ moralischer, religiöser und existentieller Fragen innewohnt, fehlt Ŕ zumindest in solcher Direktheit Ŕ bei zwei Schriftstellern, die an der Entstehung und Entfaltung des russischen Realismus nicht weniger maßgeblich beteiligt waren: Ivan Turgenev und Nikolaj Leskov (1831Ŕ1895). In Weltsicht, Menschenbild und Erzähltechnik von Tolstoj und Dostoevskij deutlich unterschieden, verkörpern sie zwei Spielarten der Wirklichkeitsdarstellung, die ihrerseits gleichfalls sehr unterschiedlich sind. Turgenev, formbewusst, kultiviert, europäisch orientiert, von Mereņkovskij als das in Russland neben Puńkin „einzige Genie des MaßesŖ1 gerühmt, pflegt einen maßvollen, poetischen und lyrisch gestimmten Realismus. Damit verwirklichte er, wozu Jahrzehnte später Wilhelm Raabe die deutschen erzählenden Autoren aufforderte: „aus der physiologischen, psychologischen, pathologischen und sozialen Abhandlung heraus wieder in das Gedicht, die DichtungŖ.2 Puńkin gelangte von der Lyrik her zur Prosa, Turgenev greift im Erzählen typische Elemente lyrischen Sprechens auf. Immer um Kürze, Dichte und Genauigkeit des Ausdrucks, aber auch um Leichtigkeit und Flüssigkeit, ja Eleganz des Stils bemüht, die Bewegung der Sätze nach rhythmischen Prinzipien ordnend, jedes Wort bewusst setzend, dabei die klanglichen und lexikalischen

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Möglichkeiten des Wortes nutzend, konzipierte er seine Prosawerke, die längeren wie die kürzeren, in der Art von „Gedichten in ProsaŖ (Stichotvorenija v proze). Der Titel des letzten, ursprünglich „SeniliaŖ genannten Zyklus (1877Ŕ1882), bestehend aus 83 Miniaturen: Erinnerungen, Impressionen, Meditationen, erweist sich als bündige Formel für den Erzählstil und die Arbeitsweise Turgenevs, der sich in einem seiner petits poèmes en prose3 in die Nähe des Goldschmieds rückt. Wie der Goldschmied, der einen kostbaren Pokal „modelliertŖ, „ziseliertŖ und vielfältig „schmücktŖ, versucht er, seinen Texten „Glanz und SchönheitŖ zu geben: „Ich suche Bilder und Vergleiche; ich runde meine Rede, habe Freude am Klang und Zusammenklang der Wörter.Ŗ4 Ein Meister der Sprache ist auch Nikolaj Leskov. Gorřkij, der zu den ersten gehört, der dies erkannte, nannte ihn einen „Wort-ZaubererŖ.5 Wortzauberei enthüllt sich hier aber als Worthandwerk. Während Turgenev ein eher intuitives Verhältnis zur Sprache hatte und seiner Prosa neue lyrisch-musikalische Qualitäten abgewann, sie, mit Atmosphäre und Stimmung füllend, leicht und luftig machte, ging Leskov rational, geradezu philologisch, der Tradition eines Ńińkov, Vostokov, Dalř, Veltřman oder Aksakov verpflichtet, an die russische Sprache heran. Wörter werden gesucht, gesammelt, geordnet und dann bearbeitet: umgewendet, geglättet, zerlegt, zusammengefügt. Boris Ėjchenbaum, mit dem 1925 die Entdeckung Leskovs durch die Wissenschaft begann6, spricht von einem „künstlerischen PhilologismusŖ und meint damit einen Bezug zu Wort und Sprache, der, getragen vom Pathos eines Gelehrten, im Raum des Artistischen entschieden wird. „LeskovŖ, schreibt Ėjchenbaum, „arbeitet an Details der Syntax und Lexik; er betrachtet aufs Genaueste die Nuancen jedes Wortes, er besitzt ein besonderes Wortgehör oder einen besonderen Wortsinn. Er ist weniger Maler als Mosaik-Arbeiter, der die Worte so sammelt und aneinanderreiht, dass die Illusion der lebendigen Rede, die Illusion der Stimme und sogar die Illusion des Gesichts entsteht.Ŗ7 Die Illusion der lebendigen Rede, das heißt die Annäherung an die gesprochene Sprache, bringt gegenüber der Literatursprache als Schriftsprache, bei der im Wesentlichen ein Ton und eine Stillage sowohl Erzähler als auch Erzählfiguren umgreifen, eine Reihe tonaler und stilistischer Ebenen zur Geltung, Ebenen, die verschiedensten Herkunftsbereichen entstammen können: von der Umgangs- und der Vulgärsprache über die Fach- und Fremdsprache bis zur Mundart und zum Jargon. Leskov schöpfte wie kein anderer aus all diesen Bereichen. Im Unterschied zu Turgenev, der zwischen Russland und Europa hin- und herreiste, war er viel in den Weiten seines eigenen Landes unterwegs und wusste daher, wie ein Gutsbesitzer, ein Kutscher, ein Ikonenmaler, ein Ukrainer spricht, wie man auf dem Feld, in der Kadettenanstalt, bei der einen oder anderen Sekte redet. Er hat sich nicht bloß angeschaut, wie das Volk lebt, er hat auch auf die Sprechweise und Aussprache der einzelnen gelauscht und an Redensarten, Sprichwörtern und Ausdrücken zusammengetragen, was sich finden ließ Ŕ in Klöstern, im Gerichtssaal, bei Rekrutierungen, auf Barken. Indem Leskov dies alles in die literarische Rede integrierte, erreichte er, wie er einmal nicht ohne Stolz bemerkte,

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dass seine „Priester geistlichŖ, seine „Bauern bäurischŖ, seine „Nihilisten nihilistischŖ und seine „Emporkömmlinge und Gaukler gedrechseltŖ reden.8 Seine Figuren mit einer „eigenen StimmeŖ9 auszustatten, war von Anfang an Leskovs Ziel, als er sich nach seinen Anfängen in der Journalistik für die Schriftstellerei und die erzählende Literatur entschied. Erreicht wurde das Ziel durch die Verankerung der Erzählsprache in der Mündlichkeit. Das Prinzip der Oralität kann auch lexikalisch, syntaktisch und intonationsmäßig mit der Gestalt und Perspektive eines fiktiven Erzählers, eines Erzählers in der Erzählung, verknüpft werden. Leskov machte davon gerne und reichlich Gebrauch. Diese Art des Erzählens, skaz genannt, konnte er bei Gogolř studieren. In der Anwendung hat er sie dann in ihren sprachlich-technisch-kompositionellen Möglichkeiten weiterentwickelt und Ŕ ausgereift, obgleich noch nicht ausgeschöpft Ŕ ans 20. Jahrhundert, an Autoren wie Remizov, Zamjatin oder Zońĉenko, weitergegeben. Das am mündlichen Redevorgang orientierte Erzählen tendiert, wie sich von Leskov bis zu Zońĉenko zeigt, zur Verwirklichung in den kleineren Formen der Epik. Was beispielsweise bei Zońĉenko die Kurzgeschichte ist, war bei Leskov, einem an stofflicher Spannung und an Handlungsdynamik interessierten Erzähler, die Novelle. Hier trifft er sich wieder mit Turgenev, der, allerdings aus anderen Gründen, die gleiche Gattungsform bevorzugt.10 Kein „uferlos fabulierender ErzählerŖ11 wie Leskov, an Spannungserzeugung und Dominanz der Handlung weniger interessiert, verwendete er zwar das traditionelle Baugesetz der Novelle und hielt an ihrem ereignishaften Charakter fest, verlagerte aber den gattungstypischen Konflikt, um den sich der ansteigende und abfallende Geschehensverlauf bewegt, in das Innere, auf die Ebene des Seelischen. Turgenev verinnerlicht, psychologisiert und lyrisiert die Form Novelle, indem er alle Dramatik zurücknimmt und die Ebene der Emotion ganz in den Vordergrund rückt, dabei, um Ausgleich und Harmonie bemüht, stets mit gedämpfter Stimme sprechend, vieles eher andeutend als direkt mitteilend. Deshalb ist er, wie schon Gorřkij festgestellt hat12, in seinen Texten kaum spürbar. Anders als Leskov, der sich meist unmittelbar neben dem Leser, ganz in dessen Nähe befindet, vermeidet er es, eine persönliche Anteilnahme am Geschick seiner Figuren kundzutun. So benutzt er auch sehr häufig seine poetischen Naturschilderungen als Mittel, innerseelische Vorgänge in den dargestellten Menschen zum Ausdruck zu bringen, auf diese Weise Unsagbares sagbar machend. Während sich Leskov in der Epoche des Romans, dieses Produkts eines vereinsamten und einsam schreibenden Ich, in der Novelle als der „ErzählerŖ im Sinne Walter Benjamins13 verwirklicht, weil er, am gesprochenen, lebendigen Wort orientiert, zum echten, das heißt zum ursprünglichen Erzählen zurückkehrt, entwickelt Turgenev im gleichen Format eine gänzlich andere Kunst: die der intimen, diffizilen Porträtpsychologie und der elegischen Stimmungen in Natur und menschlicher Seele. Romane haben beide, der Forderung der Zeit entsprechend, verfasst, Turgenev äußerst erfolgreich, Leskov mit geringerem Erfolg, ihre wahre künstlerische Meisterschaft aber kommt, ihrer Begabung gemäß, vor allem im

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begrenzteren Raum der Novellistik zur Entfaltung. Turgenev konnte selbst als Romancier nicht verleugnen, dass er der geborene Novellist war. Werken wie „RudinŖ (1856), „Dvorjanskoe gnezdoŖ (Das Adelsnest, 1859) oder „NakanuneŖ (Am Vorabend, 1860) fehlt nicht nur die epische Breite der Romane Dostoevskijs und Tolstojs, sie zeichnen sich auch, der dispositio dramatica folgend, durch kompositionelle Geschlossenheit, Konzentration und Zielgerichtetheit aus, so dass sie vom Verfasser mehr als „verlängerte NovellenŖ (udlinnye povesti)14 empfunden wurden. Die Novelle trat Ŕ meist unter der Bezeichnung povestř oder rasskaz Ŕ seit den dreißiger Jahren in der russischen Literatur verstärkt in Erscheinung, zwar mehr oder weniger noch vereinzelt, aber wie Puńkins „Pikovaja damaŖ oder Gogolřs „ŃinelřŖ belegen, durchaus immer wieder auch in Gestalt herausragender Beispiele. Als „bewusst gepflegte GattungŖ15 findet sich die Novelle jedoch erst bei Turgenev und dann bei Leskov. Turgenev war nach der Veröffentlichung des Zyklus „Zapiski ochotnikaŖ 1852, der Form der Skizze und der typisierenden Methode überdrüssig („Genug-genug!Ŗ)16, fest entschlossen, „einen neuen Weg einzuschlagen, ihn zu beschreiten Ŕ für immer der ‚alten ManierŘ zu entsagenŖ.17 Den Übergang von der skizzenhaft-offenen zu einer geschlossenen, konzentrierten und vertieften Darstellungsweise markiert die 1852 entstandene, 1854 in der Zeitschrift „SovremennikŖ erschienene Erzählung „MumuŖ. Die Geschichte von dem jungen, taubstummen Leibeigenen Gerasim, der sein treues Hündchen, die einzige Freude seines Lebens, in der Moskva ertränkt, weil sich seine Herrin vom Bellen des Tieres im Schlaf gestört fühlt, ist noch eng mit der Welt der Jägergeschichten verbunden. Die Gutsbesitzerin, die bereits die von Gerasim mit rührenden Liebesbeweisen umworbene Wäscherin Tatřjana an einen notorischen Trinker, den Schuster Kapiton, verheiratet hat, verkörpert die Launenhaftigkeit und Willkürherrschaft einer schon in „Zapiski ochotnikaŖ angeklagten besitzenden Schicht. In der Gestalt des Taubstummen aber, eines fleißigen, gutmütigen kräftigen Hünen, der am Ende heimlich sein Bündel schnürt und in zweitägigem Fußmarsch in sein Heimatdorf zurückkehrt, gestaltet Turgenev im stillen Protest des Helden, der sich seines Lebensglücks beraubt und in seiner Menschenwürde verletzt sieht, die letzte Stufe vor dem Erwachen und Handeln einer seit Jahrhunderten unterdrückten besitz- und rechtlosen Klasse. Ivan Aksakov erkannte sofort die Symbolik, die in der erzählten Geschichte liegt, und bezeichnete den Hausknecht Gerasim als die „Verkörperung des russischen Volkes, seiner enormen Kraft und unbegreiflichen Demut, seiner Hinwendung zu sich selbstŖ: „Es wird gewiss mit der Zeit zu sprechen beginnen, auch wenn es jetzt noch taub und stumm erscheinen mag.Ŗ18 Es war nicht nur die Schaffung der „vieldeutigen Gestalt GerasimsŖ, sondern auch der Verzicht auf alle „kleinlichen Effekte in Sprache und DarstellungŖ, die Konstantin Akasakov, nachdem er „MumuŖ im Manuskript gelesen hatte, von einem „entschiedenen Schritt nach vornŖ sprechen ließ.19 In der Tat zeichnen sich in dem straff gegliederten, aus allwissender Perspektive zügig, zugleich episch-

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ruhig und lyrisch-verhalten erzählten Text erstmals jene Prinzipien der „Einfachheit, Ausgeglichenheit und Klarheit der LinienŖ20 ab, die Turgenev im Oktober 1852 zu den neuen Idealen seiner Kunst erhoben hatte. Selber war er allerdings mit „MumuŖ, entgegen vielseitiger Zustimmung bereits vor der Veröffentlichung, „nicht völlig zufriedenŖ.21 Ihm schien, dass er immer noch wie in „Zapiski ochotnikaŖ um der Verdeutlichung willen „jede Linie zweimal nachzeichneŖ. Erst von „Postojalyj dvorŖ (Die Herberge) an, seiner nächsten, ebenfalls 1852 entstandenen Arbeit, war er überzeugt, Mängel dieser Art überwunden zu haben. „Meine ‚Aufzeichnungen eines JägersŘ Ŗ, schrieb Turgenev am 27. Dezember an den Journalisten und Schriftsteller Feoktistov, „scheinen mir jetzt wie von einem anderen Menschen geschrieben. Auch ‚MumuŘ ähnelt ihnen noch Ŕ in meinen neuen Sachen habe ich einen anderen Weg eingeschlagenŖ.22 Worin dieser Weg genau bestand, darüber äußerte er sich einen Tag später gegenüber Ivan Aksakov: „In ‚Die HerbergeŘ gehe ich direkter und einfacher auf das Ziel zu, kokettiere und klügele nicht, sondern versuche das treffend zu sagen, was ich für zutreffend halte.Ŗ23 Durch den konsequenten Verzicht auf Abschweifungen, Kommentare und lange Naturschilderungen erzielte Turgenev eine weitere Straffung im Aufbau sowie eine stärkere Objektivität der Erzählhaltung und eine größere Schlichtheit und Natürlichkeit des Stils. Am deutlichsten aber zeigt sich sein künstlerischer Reifungsprozess in der Vertiefung der Personengestaltung. Schon in „MumuŖ war er über die frühere skizzenhafte und episodische Konturierung der Figuren hinausgegangen. In „Postojalyj dvorŖ gelangte er dann zu einer noch vollständigeren Abrundung des Charakters, indem er Held und Heldin unter verschiedenen Aspekten und mit verschiedenen Mitteln beschrieb: im Einzelporträt wie auch durch die Darstellung des Milieus, die Stellung in der Figurenkonstellation und das Verhalten in den Konfliktsituationen.24 So anrührend das Schicksal Gerasims in „MumuŖ ist, das des leibeigenen Akim Semenov bewegt den Leser noch weit mehr: Akim, der, im Fuhrgeschäft zu Vermögen gekommen, mit Einwilligung seiner Gutsherrin ein Stück Land erwirbt, darauf eine Herberge errichten lässt und das junge hübsche Zimmermädchen Avdotřja heiratet, erlebt nach einer Reihe glücklicher und erfolgreicher Jahre eine unerwartete Glückswendung von tragödienartigem Ausmaß. Er wird das Opfer eines skrupellosen Betrügers. Mit einem Schlag verliert er sein Haus, seine Ersparnisse und seine Frau. Ein durchreisender Handlungsgehilfe, Naum Ivanov, kauft von der Gutsherrin, die zu dem Verkauf gar nicht berechtigt ist, den Gasthof Akims, noch dazu mit dessen erspartem Geld, das er von der in ihn verliebten Avdotřja erhalten hat, und verjagt den Wirt auf der Stelle vom eigenen Grund und Boden. Dieser versucht in seiner Wut und Verzweiflung das ihm auf schändliche Weise genommene Haus anzuzünden, wird aber dabei von dem neuen, unrechtmäßigen Besitzer gefasst und an Händen und Füßen gefesselt im Keller eingesperrt, worauf er, um der Anklage und gerichtlichen Bestrafung zu entgehen, unter Eid auf Rache und alle Ansprüche verzichtet und fortan als Wan-

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derpilger durch das Land zieht Ŕ als solcher den Typ des Gottsuchers verkörpernd, der im Werk Leskovs so große Verbreitung finden sollte. Durch die Kritik am System der Leibeigenschaft und der Willkürherrschaft des adligen Gutsbesitzertums bleibt „Postojalyj dvorŖ mit „MumuŖ und dem Zyklus „Zapiski ochotnikaŖ verbunden (was die Zensur zu entsprechenden Eingriffen in den Text des Erstdrucks veranlasst). Mit Akim, dem patriarchalischen, noch von feudalen Bindungen und Moralvorstellungen bestimmten Kaufmann, und Naum, dem neureichen Kapitalisten, der sich hemmungslos über ethische Werte und menschliche Gefühle hinwegsetzt25, verwies Turgenev auf weitere, für Russland typische gesellschaftliche Erscheinungen. Doch wenn auch das Geschehen in „Postojalyj dvorŖ somit fest in die sozialökonomische Entwicklung des Landes eingebunden ist, der Akzent hat sich insgesamt noch stärker als in „MumuŖ von der Gesellschaftskritik auf die Darstellung des Allgemeinmenschlichen hin verlagert. Das zögernde Eingehen der Gutsbesitzerin auf Naums Vorschlag zu dem rechtswidrigen Kaufgeschäft ist ebenso sorgfältig vorbereitet und psychologisch motiviert wie das plötzliche Entflammen der Liebe Akims zu Avdotřja sowie Avdotřjas zu Naum und der Wandel Akims von Empörung und Rachsucht zu Reue, Versöhnungsbereitschaft und Hoffnung auf göttliche Gnade. Die in „MumuŖ wie auch in „Postojalyj dvorŖ aufgeworfene Frage nach dem menschlichen Glück, insbesondere dem Glück in der Liebe, tritt in den beiden autobiographisch geprägten Briefnovellen „PerepiskaŖ (Ein Briefwechsel, 1856) und „FaustŖ (1856), die den Abschluss von Turgenevs früher Erzählungskunst bilden, noch deutlicher hervor. Sie leitet unmittelbar zu der reifen Schaffensperiode des Dichters über, wo sie dann thematisch und motivisch ganz im Vordergrund steht. Die Mehrzahl der seit Ende der fünfziger Jahre entstandenen Novellen sind, beginnend mit „AsjaŖ (1858), reine Liebesnovellen. In ihnen treten die sozialen Probleme, die vorher so bestimmend waren, weitgehend zurück, ohne jedoch völlig zu verschwinden. Stattdessen gewinnt die Gestaltung psychischer Vorgänge noch größeres Gewicht. Wie schon in seinen Dramen verlagerte Turgenev jetzt auch in seinen Novellen den Konflikt Ŕ bei gleichzeitiger Reduzierung der äußeren Intrige Ŕ gänzlich ins Innere der Charaktere. Besonders der Liebeskonflikt erhält durch diese Verinnerlichung, unterstützt von einer lyrischstimmungsvollen, aber stets klaren und präzisen Erzählweise sowie einer melodischen, geschmeidigen, zu jeder Nachzeichnung feinster und intimster Seelenregungen fähigen Sprache, eine neue Qualität und Intensität. Die Liebe erscheint in „AsjaŖ, aber auch in anderen Novellen wie „Pervaja ljubovřŖ (Erste Liebe, 1860) oder „Veńnye vodyŖ (Frühlingsfluten, 1872) als eine elementare Naturkraft, die unerklärlich und schicksalhaft in das Leben des Menschen einbricht. Als solche ist sie eine ambivalente Erscheinung. Sie kann höchstes Glück verheißen, und sie kann eine Existenz zerstören.26 Nirgendwo hat Turgenev, aus eigenem Erleben schöpfend, dies eindrucksvoller veranschaulicht als in „AsjaŖ und „Pervaja ljubovřŖ. In beiden Werken, die nicht zufällig seinen Ruhm begründeten und ihn für lange Zeit im Ausland zum bekanntesten russi-

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schen Schriftsteller machten, erweist er sich als Meister in der Gestaltung der Psychologie pubertärer LiebeŖ27, in dem einen Fall der eines siebzehnjährigen Mädchens, in dem anderen der eines sechzehnjährigen Jünglings. Der psychologischen Nuancierung entspricht hier wie dort die erzählerische Raffinesse. Turgenev benutzt die Form des erinnernden Rückblicks: Der jeweilige Ich-Erzähler schildert das Erwachen und Wachsen erster, bisher unbekannter (Liebes-)Gefühle aus dem zeitlichen und inneren Abstand des älteren, gereiften Mannes, nimmt aber seine Erfahrung aus dem gelebten Leben ebenso zurück wie seine auktoriale Allwissenheit und versetzt sich, auf Erläuterungen und Erörterungen verzichtend, in die ursprüngliche Situation und die authentischen Empfindungen der jugendlichen Protagonisten. Asja, unehelich geboren und als Waise aufgewachsen, eine mignonartige Gestalt28, rätselhaft, liebreizend, von kindlicher Wildheit wie Goethes Romanfigur, und Volodja, ein romantischer im Park und Garten spazierender, Gedichte rezitierender Jüngling, der sich ohne Eile auf die Universität vorbereitet, werden gleicherweise von einem heftigen, sehnsüchtigen, aber unklaren Verlangen ergriffen. Beide sind erfüllt von einer „nur halb bewussten, schamhaften Vorahnung von etwas Neuem, unsagbar BeglückendemŖ.29 Offen für die Liebe, vollster Erwartung und Bereitschaft, erscheinen sie dann aber, als die Liebe kommt, verwirrt, verunsichert, ja verstört. Asja bedrängt in ihrem Gefühlsüberschwang den Geliebten, der sich aus Willensschwäche und einer durch falsches Ehrbewusstsein gespeisten Unentschlossenheit zu spät für sie entscheidet; Volodja, naiv, träumerisch, introvertiert, unterwirft sich, überwältigt von seinen Empfindungen unfähig zur Entscheidung, den Launen und Machtspielen der fünf Jahre älteren Zinaida, der kokett-kapriziösen Tochter eines verarmten Fürsten, bis er von der Erkenntnis vernichtet wird, dass diese die Geliebte des eigenen Vaters ist. Das „Gefühl der SeligkeitŖ30, das die erste Liebe hervorruft, kehrt im Leben nie wieder, lautet das Fazit der beiden rückblickenden Erzähler. Wer in der Reinheit und Unschuld der Jugend vor der Liebesleidenschaft flüchtet, die nach den Worten des Briefschreibers Aleksej Petroviĉ in „PerepiskaŖ den Menschen „ungefragt, urplötzlich, gegen seinen WillenŖ ergreift, „fast wie die Cholera oder das FieberŖ31, der hat die Chance seines Lebens vertan. So rät in „Pervaja ljubovŖ der Vater, schon vom Tod gezeichnet, in einem letzten Brief seinem unglücklichen Sohn: „Hüte dich vor der Liebe der Frauen. Fürchte dieses Glück, dieses Gift.Ŗ32 Dass das Glück für zwei junge Menschen, die füreinander bestimmt zu sein scheinen, möglich und oftmals sogar ganz nahe ist, jedoch durch ein tragisches Versagen verhindert wird, hat Turgenev nach „PerepiskaŖ und nach „AsjaŖ und „Pervaja ljubovř Ŗ in „Veńnie vodyŖ33, diesem „Prolog zu seinem erzählerischen AlterswerkŖ34, noch einmal zum zentralen Thema erhoben. Wie in „AsjaŖ und „Pervaja ljubovř Ŗ erscheint das verfehlte Liebesglück als ein Ereignis aus „längst vergangenen ZeitenŖ35, das in der Form der Erinnerung eines älteren bzw. alten Mannes wiedergegeben wird. Während in „AsjaŖ und „Pervaja ljubovř Ŗ das sich

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erinnernde Ich zugleich das erzählende Ich ist, das in dem einen Fall unvermittelt beginnt und in dem anderen Fall durch einen Rahmenerzähler eingeführt wird, schiebt sich in „Veńnye vodyŖ eine neutrale Instanz in Gestalt eines allwissenden Erzählers vor den Helden und filtert dessen Erinnerung. Was dabei an Unmittelbarkeit verlorengeht, wird durch einen Gewinn an Objektivität und Verallgemeinerung ausgeglichen. Turgenev variiert seine Erinnerungs- und Liebesnovellen aber nicht nur in erzähltechnischer Hinsicht. Das wiederholte Motiv des schmerzlichen Jugenderlebnisses erhält in „Veńnye vodyŖ eine neue Akzentuierung. In „AsjaŖ bekennt das erzählende Ich am Ende seiner Retrospektion, es habe der unerfüllten ersten Liebe zunächst „nicht allzulange nachgetrauertŖ, dann jedoch in den Bekanntschaften mit anderen Frauen nie wieder „jenes einstige brennende, zärtliche, tiefe GefühlŖ verspürt, so dass er jetzt, „zur Einsamkeit eines alten Junggesellen verurteiltŖ, resigniert, jeglicher Hoffnung verlustig, den Rest seiner „öden TageŖ verbringt.36 Lediglich ein Briefchen Asjas und der leichte Duft einer vertrockneten Geraniumblüte bringen, bewahrt „wie ein HeiligtumŖ, ein wenig Trost in das als abgeschlossen betrachtete Leben („Was ist von mir geblieben, von jenen glückseligen und bewegten Tagen, jenem beschwingten Hoffen und Streben?Ŗ)37. Sanin hingegen, der Protagonist von „Veńnye vodyŖ, der schon zu Beginn der Erzählung, im einleitenden „RahmenŖ, als vereinsamt und vom Leben enttäuscht gezeigt wird, bezieht gerade aus dem erinnerten Liebesereignis seiner Jugend die Kraft zu später Selbsterneuerung. Nachdem er sich, zweiundzwanzigjährig, in Frankfurt am Main, auf der Rückreise von Italien nach Russland, in die reizende junge Italienerin Gemma verliebt hatte, aber noch vor der geplanten Heirat den Verführungskünsten einer reifen, sinnlich-dämonischen femme fatale erlegen war, verfiel er über dem Bewusstsein seiner Schuld zunehmend der „SchwermutŖ, dem „ÜberdrussŖ und der „GereiztheitŖ: „Bitterkeit, so scharf und brennend wie die des Wermuts, erfüllte sein ganzes Gemüt.Ŗ38 Nichts deutet auf die Möglichkeit einer Veränderung von Sanins Gemütsverfassung, bis dieser eines Nachts, als er, körperlich und seelisch erschöpft, vom taedium vitae ergriffen „wie nie zuvorŖ, in einer Schublade seines Schreibtischs eine kleine Schachtel findet und in der Schachtel unter einer doppelten Schicht vergilbter Watte ein winziges Granatkreuz entdeckt. Die zufällige, jedoch als schicksalhaft empfundene Entdeckung ruft ihm „viel längst VergangenesŖ ins Gedächtnis und führt zu einer Lebensbeichte, die in die Erkenntnis mündet, dass das vertane Leben zwar nicht rückgängig gemacht, aber in eine ganz neue Richtung gelenkt werden kann. „Der Kelch war bis zur Neige geleert Ŕ genug jetzt!Ŗ39 Sanin reist ins Ausland, forscht in Frankfurt nach der einstigen Geliebten, und als er in Erfahrung bringt, dass sie verheiratet ist und mit ihrer Familie in New York lebt, verkauft er seine Besitzungen in Russland und bricht nach Amerika auf. Die Erzählung endet offen, aber gerade in ihrer Offenheit zeigt sich, dass sie keineswegs den Auftakt zu Turgenevs Alterspessimismus bildet. Eher spiegelt der Text den Versuch des Autors, sich dem Geist Schopenhauers und Leopardis zu

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entziehen und in einer wachsenden Konfrontation mit den unheilvollen Mächten von Krankheit, von Vereinsamung und Tod nicht der Resignation und dem Fatalismus zu verfallen. „Das Alter ist eine große fahle Wolke, die sich über die Zukunft, die Gegenwart und sogar über die Vergangenheit breitetŖ, schrieb Turgenev 1872, im Erscheinungsjahr von „Veńnye vodyŖ, an Flaubert, und er riet dem Freund: „Man muss sich gegen diese Wolke wehren! Mir scheint, Sie tun das nicht genügend.Ŗ40 Turgenev selbst fand damals Licht und Trost zunehmend im Glauben an das Gute und die Kraft der Liebe. So erscheint es kaum als Zufall, dass die Liebesthematik bei ihm noch nie eine solch breite Ausgestaltung erfuhr wie in „Veńnye vodyŖ. Überhaupt weist dieses Werk trotz des gewohnt hohen Anteils an lyrischen Elementen eine verstärkte Episierung auf, was durch die Wahl der Ŕ im Vergleich mit der Ich-Form in „AsjaŖ und „Pervaja ljubovřŖ Ŕ Distanz und Objektivierung schaffenden Er-Form des Erzählens noch unterstützt wird. Tendierte in Turgenevs Schaffen der Roman schon immer zur Novelle, nähert sich jetzt umgekehrt die Novelle „Veńnye vodyŖ Ŕ nicht nur umfangsmäßig, sondern auch strukturell Ŕ der Form des Romans. In keiner anderen der großen Liebesnovellen dieses Schriftstellers wurde soviel Wert auf die Schilderung des Milieus und die Einbettung der Figuren in den gesellschaftlichen Kontext gelegt. Nie zuvor wurden auch seine novellistischen Charaktere so abgerundet gezeichnet und in Bezug auf ihr Innenleben so sorgfältig und so detailliert analysiert. Sanin entwächst auf diese Weise ebenso seinem autobiographischen Ursprung wie der literarischen Tradition des „überflüssigen HeldenŖ und repräsentiert in seiner Passivität und Willensschwäche einen Grundzug russischer Mentalität. Gemma, in ihrer Natürlichkeit, ihrer Impulsivität und ihrer Aufrichtigkeit der Gestalt Asjas sehr ähnlich, gewinnt durch die Kontrastierung mit der reichen Gräfin Polozova, einer sinnlich-gebieterischen Natur von skrupellosester Verführungskraft, deutlich an Profil. Ebenso wie die Schärfung der charakterlichen Eigenheiten einzelner Personen trägt zudem die realistische Darstellung der Merkmale von Vertretern verschiedener Nationalitäten zu dem epischen Zuschnitt der Novelle bei. Da ist die russische Schwermut des Helden Sanin, da ist die italienische Lebensfreude der Familie Roselli, zu der neben der Heldin Gemma die verwitwete Mutter, der dreizehnjährige Bruder Emilio und der Sänger Pantaleone als Hausdiener gehören, und da ist das deutsche Selbstbewusstsein in den Gründerjahren nach dem Sieg über Frankreich, das, verkörpert in dem bürgerlichen Profitstreben des Handlungsgehilfen Karl Klüber und dem adligen Hochmut der Offiziere aus der Mainzer Garnison, so satirisch zugespitzt dargeboten wird, dass es dem Autor seitens der Presse den Vorwurf des Deutschenhassers eintrug. Was Turgenevs Novellistik in weiten Teilen Ŕ von den Briefnovellen „FaustŖ (1856) und „PerepiskaŖ bis hin zu der Erinnerungsnovelle „Veńnye vodyŖ Ŕ so unverwechselbar macht, das ist die Erfassung der Flüchtigkeit des Liebesglücks. Darin manifestiert sich das vereinzelt bereits in dem Zyklus „Zapiski ochotnikaŖ hervortretende Wissen um die Bedeutung des existentiellen Augenblicks, jenes

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Moments, der, gegenüber der Lückenlosigkeit der Lebensgeschichte abgehoben, sich durch eine besondere Intensität des Erlebens auszeichnet und somit einmalig und unwiederholbar ist. In der russischen Literatur ist bis zu Ĉechov nirgendwo wieder die Wichtigkeit des Augenblicks für das menschliche Bewusstsein so stark empfunden und auf eine so hohe Stufe literarischer Gestaltung gebracht worden.41 Während Turgenev den Augenblick der Existenz in die Vergangenheit verlegt, so dass er erst in der Erinnerung, das heißt im Nachvollzug des Erlebens, zu dem wird, was er eigentlich ist, gewinnt er bei Ĉechov, zum Beispiel in der Erzählung „StudentŖ (Der Student, 1894), eine unmittelbar erlebte, nicht reflektierte Gegenwärtigkeit. Auch Nikolaj Leskov, neben Turgenev der andere große Novellist der sechziger und siebziger Jahre, kennt den besonderen Augenblick, gehört dieser doch seit jeher zur Dichtung, sei es als heroischer Augenblick bei Homer oder Tolstoj, sei es als krimineller Augenblick bei Shakespeare oder Dostoevskij. Eines der bekanntesten Werke dieses Autors, die Novelle „Ledi Makbet Mcenskogo uezdaŖ (Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mcensk, 1865)42, ist mit ihrer Häufung von Augenblicken in der Liebe sowie im Verbrechen ein beredtes Zeugnis. Dennoch: Leskov, der sich nach seiner anfänglichen Neigung zum Roman aufgrund des Misserfolgs bei den Lesern und der Kritik künstlerisch umorientierte und ganz auf die kürzere Form der Erzählung bzw. der Novelle konzentrierte, ist im Allgemeinen weniger an herausgehobenen Lebensmomenten als an zusammenhängenden Lebensverläufen interessiert. „Sein Leben, seine Erfahrungen, seine Aussichten und seine AbenteuerŖ lautete bezeichnenderweise der Untertitel zu der Erstveröffentlichung der Geschichte vom verzauberten Pilger („Oĉarovannyj strannikŖ). Aus der Urquelle allen Erzählens, der Erfahrung, schöpfend, ist es das Leben selbst, das bei Leskov stets im Vordergrund steht. Zur lyrischen Novelle Turgenevs tritt die epische Novelle Leskovs. Bei dem in ihr erzählten Leben handelt es sich vorrangig um erfahrenes, und zwar vom Autor selber erfahrenes Leben. Dies begann, als Leskov, sechs- bis zehnjährig, seine Großmutter bei ihren regelmäßigen Besuchen der Klöster in der Umgebung von Orel begleitete, der Gegend verschiedener Jägergeschichten Turgenevs, wobei er, wie in der ersten größeren Erzählung, „OvcebykŖ (Schafochs, 1863), geschildert, vieles erlebte: Herbergen, Reisende, Kutscher, Einsiedeleien, Messen, Äbte, Novizen, aber auch Faustkämpfe in der Klosterbäckerei, Turnstunden auf der Klostermauer, Fischfänge im Klosterteich, und vieles hörte: von der Großmutter alles über die Klöster, ihre Geschichte, ihre Legenden, ihre Heiligenbilder, und von den Novizen wahre und erfundene Begebenheiten, die von Wallfahrern und Räubern handelten. Das setzte sich fort, als Leskov nach abgebrochener Gymnasialzeit mit sechzehn Jahren ans Oreler Kriminalgericht kam, vom Schreiber zum Gehilfen des Abteilungsleiters aufstieg, um dann, nach drei Provinzjahren, im Besitz eines beträchtlichen kriminalistischen Wissens an das Kiever Oberlandesgericht, Abteilung Wehrdienstaushebung, zu wechseln, und so in eine Stadt, wo sich ihm Neues und Gegensätzliches erschloss: durch Be-

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kanntschaften mit Studenten und mit Professoren, durch Trinkgelage in Kneipen und Besuche in Bordellen, durch die byzantinisch-altrussische Architektur und Malerei und die ukrainische, polnische Sprachwelt sowie durch die Theater, die Salons oder das Haus des Gouverneurs. Diese Lebenserfahrung erfuhr noch eine Steigerung, als Leskov im Auftrag der englischen Handelsfirma Scott und Wilkins zwischen 1857 und 1860 fast ganz Russland, vom Schwarzen bis zum Weißen Meer, von Brody bis nach Krasnojarsk, bereiste und dabei alles kennenlernte, was das riesige Land an Völkern, Klassen und Menschen, an Sitten und Bräuchen, an Glaubensrichtungen und Sekten umfasste. In dieser Weite, „auf den Barken ScottsŖ, wurde Leskov zum Schriftsteller. Seine an den Arbeitgeber gesandten Briefe bezeugen, dass das erfahrene Leben jetzt zum erzählten Leben zu werden begann. Was Leskov auf seinen Reisen erfuhr, sei es selbst erlebt, sei es von anderen gehört, bildet den Grund und den Grundstoff seines fünfunddreißig Jahre umspannenden Schriftstellertums. „Während ich drei Jahre lang kreuz und quer durch Russland fuhrŖ, sagte er im Rückblick, „hat sich in meinem Kopf Material angesammelt, das für das ganze Leben reichte und das man weder auf dem Nevskij Prospekt noch in den Petersburger Restaurants und Kanzleien findet.Ŗ43 Dass Leskov seine Dichtung als Erzählung vom Leben verstand, besagt eine Formel, die, 1869 geprägt, als poetologische Grundlage seines gesamten Schaffens gelten kann: „Literatur ist aufgezeichnetes Leben.Ŗ44 Leben meint hier die ganz unsymbolisch aufgefasste Welt der Dinge und Menschen ringsumher, die Realität des Alltäglichen, in die sich jeder handelnd und leidend, der eine eher handelnd, der andere eher leidend, hineingestellt sieht. Als „Aufzeichner, nicht ErfinderŖ45 benötigte Leskov keine unerschöpfliche Einbildungskraft. Nach eigener Aussage besaß er „wenig PhantasieŖ46, er hat das jedoch nie als Mangel empfunden. Um „lebende GestaltenŖ abzuzeichnen und „wirkliche GeschichtenŖ mitteilen zu können, brauchte er nur, worüber er in hohem Maße verfügte: „BeobachtungsgabeŖ und die „Fähigkeit zu analysieren.Ŗ47 Beides bleibt, verknüpft mit einer deutlich deskriptiven Tendenz, im Erzählvollzug selber gegenwärtig und verhindert, dass das Erzählen jene fabulierende Selbstgenügsamkeit gewinnt, die der Ästhetik des Autors widerspräche, nach der die Kunst, um ihren Sinn zu erfüllen, stets Nutzen bringen müsse. Um das Leben aufzeichnen zu können, wie es sich darstellt, in der Weite seiner Erstreckung und in der Verflechtung und Zufälligkeit seiner Erscheinungen, meidet Leskov die Geschlossenheit, Straffung und Zielgerichtetheit der Handlung und bevorzugt eine mehr oder weniger offene Komposition. Er lasse sich zu „keiner künstlichen und unnatürlichen FormŖ verführen, „die nach Abrundung der Fabel und Konzentrierung des Ganzen um ein Hauptzentrum verlangtŖ, lässt er im Vorwort zu „Bluņdajuńĉie ogonřkiŖ (Irrlichter, 1875) seinen Ich-Erzähler sagen. „Im Leben geht es anders zu. Das Leben des Menschen gleicht einer alten Handschrift, die man entrollt, und so werde ich es auch in meinen Aufzeichnungen wie ein Band entrollen.Ŗ48 Und so wählte Leskov, was ihm in der älteren Forschung oft als Formungsunfähigkeit ausgelegt wurde, eine bandartige Bauform,

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die es erlaubt, homerisch-ruhig, in kurzen geschlossenen Kapiteln, Geschichte an Geschichte, Anekdote an Anekdote, Detail an Detail zu reihen, wobei alles, Geschichte, Anekdote, Detail, ungeachtet der Funktionalität immer auch in hohem Maße eigenwertig und sich selbst verantwortlich ist. Auf diese Weise entstanden Werke wie „Oĉarovannyj strannikŖ (Der verzauberte Pilger, 1873) oder „Smech i goreŖ (Scherz und Ernst, 1871), denen man nachsagt, dass ein anderer Autor daraus mindestens zwanzig Erzählungen gemacht hätte. Das als Stoff vorausliegende und durch die Offenheit der Komposition wie durch die am mündlichen Reden orientierte Sprache hereingeholte Leben konkretisiert sich bei Leskov in der Vielzahl und Vielfalt der Themen und Figuren: „Kein andererŖ, schrieb Josef Hofmiller, „gibt so die Illusion, das Leben selbst darzustellen, seine inkommensurable Mischung von allem, Höchstem und Tiefstem, Erhabenem und Gemeinem, Sagen, Märchen, Volkslied, Volkstanz, Aberglaube, Vagabundentum, Verbrecherwelt, Volksmedizin, Sympathiemittel, Zauberei, Bürokratie, Militär Ŕ nichts, was er nicht kennt. Fürsten und Leibeigene, Heilige und Mörder, Dirnen und Ehebrecherinnen, Bettler und Offiziere, Juden und Kirgisen, Popen, Pilgerinnen, Kupplerinnen, Kaufleute, Roßtäuscher, Einsiedler, Landadlige, Ikonenmaler, Kadetten, Bauern, Zigeuner und Bojaren Ŕ er kennt alle, gestaltet alle, liebt alle gleich.Ŗ49 Wer begegnet nicht alles in ein und demselben Text, zum Beispiel in „SoborjaneŖ (Die Klerisei, 1872). Und jede Figur hat ihren eigenen Stand, ihren eigenen Titel, ihre eigene kleine Geschichte. Das gilt für die Geistlichen (Pope, Protopope, Diakon, Subdiakon, Zellendiener, Glöckner, Oberhofprediger, Bischof) genauso wie für die „BürgerlichenŖ (Lehrer, Postmeister, Bäcker, Akziseeinnehmer, Kolonialwarenhändler, Kreisarzt, Verwalter, Sekretär) oder die Höhergestellten (Schulinspektor, Dirigent, Kirchenmusikdirektor, Rektor, Inspektor, Polizeichef, Konsistorialsekretär, Gutsbesitzer, Gouverneur, Adelsmarschall, Gendarmenoberst, Fabrikant, Major, Invalidenhauptmann, Richter). Zwar handelt es sich im bezeichneten Fall um eine Romanchronik, doch was für „SoborjaneŖ gilt, trifft abgewandelt auch für Leskovs Novellen und Erzählungen zu, zumal diese nicht selten den Umfang von Romanen erreichen. Das riesige Leskovsche Personal verkörpert im Einzelnen wie im Ganzen ein und dasselbe Grundthema, „und zwarŖ, wie der Ich-Erzähler in „Smech i goreŖ sagt, „das folgende: Alle meinen, in Russland sei das Leben wegen seiner Eintönigkeit langweilig, und man fährt ins Ausland, um sich zu zerstreuen, während ich behaupte und die Ehre haben werde, dies zu beweisen, dass nirgendwo das Leben so voller unerwarteter Zwischenfälle ist wie in Russland. Ich jedenfalls fahre ins Ausland, um mich von der kaleidoskopartigen Buntheit des russischen Lebens zu erholen und denke, dass ich nicht der einzige Vertreter dieser Gattung bin.Ŗ50 So brachte Nikolaj Leskov mit dem Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, dem Jahrzehnt der großen Romanentwürfe Turgenevs, Gonĉarovs, Tolstojs und Dostoevskijs, etwas Neues in

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die russische Literatur: die Erzählwürdigkeit auch der entlegensten, absonderlichsten und scheinbar nebensächlichsten Vorgänge. Dazu gehörte, dass er viele seiner Helden mit Zügen ausstattete, die sie unübersehbar als Sonderlinge ausweisen, das heißt als Vertreter eines literarhistorischen Typus, der seit dem Auftreten von Cervantesř Don Quijote die europäische Erzählliteratur in unendlicher Variation durchzieht und der auch in Russland, insbesondere bei Gogolř, Odoevskij, Turgenev, Dostoevskij und Ĉechov, nirgends aber so dicht und so skurril wie bei Leskov zu finden ist. Bereits die so plastische Titelgestalt von Leskovs erster längerer Erzählung, „OvcebykŖ (Schafochs, 1862), ist dafür ein anschaulicher Beleg. Vasilij Petroviĉ Bogoslovskij trägt einen Spitznamen, der von den Eigenheiten seiner äußeren Erscheinung abgeleitet ist: Er erinnert mit seinem missgestalteten Schädel, der auf einem stämmigen, breitschultrigen Körper sitzt und der, hinten kurz geschoren, vorne zwei an den Ohren beginnende, schneckenförmig an den Schläfen anliegende und an den Wangen hornartig gekrümmte Zöpfchen aufweist, an einen „SchafochsenŖ.51 Dies um so mehr, als auch sein Verhalten wie das unerwartete Auftauchen und Verschwinden, seine seltsamen Reden und kuriosen Einfälle und vor allem sein charakterlicher Hauptzug, eine „biblische SorglosigkeitŖ sich selbst gegenüber, die durch das Erscheinungsbild angekündigte Originalität bestätigen. Aus dem Sosein des Charakters ergibt sich die „erkorene IdeeŖ, die Vasilij Petroviĉ trägt und prägt und die seiner Umwelt als das Allersonderbarste an ihm erscheint. Diese Idee heißt grenzenlose Opferbereitschaft. Der Held, „fähig, sein letztes Hemd wegzugebenŖ, setzte die gleiche Fähigkeit „bei jedemŖ voraus, „mit dem er verkehrteŖ.52 Das Problem beginnt, und davon handelt die Erzählung, als sich Vasilij Petroviĉ nicht mehr auf den winzigen Kreis seiner Freunde und Bekannten beschränkt, die daran gewöhnt waren, dass er das, was er benötigte, stillschweigend holte, Tabak oder Tee oder Stiefel, sondern seine bisherige Umgebung verlässt, die Gegend wechselt und kritisch auf die Gesellschaft insgesamt blickt: „Mein Herz kann sie nicht ertragen, diese Zivilisation, die Nobilisation, die Hundsfottisation.Ŗ53 Der Sonderling wird zum „AgitatorŖ, ehrlich und furchtlos Ŕ und bleibt weiterhin ein Sonderling (ĉudak). Er scheitert an den Menschen, die nicht hören wollen, was er zu sagen hat, die, seien es Mönche oder Wallfahrer oder Bauern, ihn ablehnen und sogar anzeigen. Und er scheitert an sich selber; denn er, der nur das Evangelium liest und alle Theorien verachtet, ist kein Propagandist. Die Schlussfolgerung, die der doppelt Scheiternde zieht, der Freitod, erscheint konsequent, erweist er sich doch in diesem besonderen Fall als der einzige Ausweg in einer sonst ausweglosen Zeit. Die Ausweglosigkeit bildet ein Grundthema Leskovs. Nachdem es in „OvcebykŖ zum ersten Mal aufklang, wurde es bald darauf, in „NekudaŖ (ohne Ausweg, 1864) zum Titelwort und Leitmotiv eines ganzen Romans. Für den Helden wird dieses Thema in einem seiner letzten Briefe zum Lebensfazit: „Ja, jetzt habe auch ich endlich etwas begriffen. Ich habe für mich das Rätsel gelöst: ‚Russland, wohin strebst du?Ř Und Sie brauchen keine Angst zu haben: Ich gehe von

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hier nicht weg. Es gibt keinen Ort, wohin ich gehen könnte (Nekuda idti). Überall ist es dasselbe. Die Aleksandr Ivanoviĉs kann man nicht überspringen.Ŗ54 Mit den letzteren sind die Gutsbesitzer gemeint, die der Schreiber in einem anderen Brief die „russischen KrösusseŖ nennt.55 Sie seien schlimmer als „Räuber und FremdlingeŖ; denn sie erweisen sich als der „wahre Feind des VolkesŖ. An einem von ihnen, Aleksandr Ivanoviĉ Sviridov, entscheidet sich das Schicksal des Sonderling-Agitators Schafochs. Als dieser merkt, dass jener seine Bauern und Arbeiter nur speist, damit sie für ihn arbeiten, ehe sie sterben, und dass die Bauern und Arbeiter ihren Herrn dafür noch lieben, erkennt er mit der Notwendigkeit der Änderung zugleich die Unmöglichkeit jeglicher Änderung. Will Vasilij Petroviĉ seine Idee und die an sie geknüpfte hohe Ethik nicht preisgeben, fordert die Anwesenheit Sviridovs, der für ihn die Verkörperung aller Unterdrücker des Volkes ist, seine eigene Ŕ endgültige Ŕ Abwesenheit. „Er wird wenigstens noch von irgend jemandem gebraucht, ich dagegen bin zu gar nichts nutze. Nicht umsonst habt ihr mich nach einem gewissen Tier benannt. Niemand will mich haben, und ich selbst habe erkannt, dass ich zu niemandem gehöre.Ŗ56 Vasilij Petroviĉs Kritik am Zustand der Gesellschaft, ja der Welt überhaupt, an ihrer Ungerechtigkeit, Grausamkeit, Heuchelei, an den Zeitgenossen, die lediglich vom Fortschritt reden, anstatt zu handeln, ist hart und zutreffend, stellenweise so direkt, dass sie vielleicht nur, weil sie einem „wunderlichen KauzŖ in den Mund gelegt wird, die zeitgenössische Zensur passierte. Dieser Kauz, keine abgekapselte, idyllische Existenz wie der schiefnasige Pisonskij in Leskovs „SoborjaneŖ, sondern eine betont zeitbezogene, gesellschaftskritische Instanz, wird gerade, weil er sich einmischt, ausgegrenzt und zuerst in die Isolation und dann in den Tod getrieben. Selber nicht ohne Schwächen und nicht frei von Fehlern, keineswegs eine untadelige, geschweige denn eine ideale Natur (zu sehr erscheint er vereinnahmt vom Dienst an der Idee), eröffnet dieser „freiwillige MärtyrerŖ57 und „neue DiogenesŖ, der „immer auf der Suche nach Menschen des EvangeliumsŖ ist58, zugleich die Reihe der „GerechtenŖ (pravedniki) Ŕ Leskovs ureigenste Figuren-Erfindung. Der „gerechteŖ Held, die positive und religiöse Spielart der tradierten, typologisch übergreifenden Sonderlingsgestalt zeichnet sich vor allem durch das aus, was bereits Vasilij Petroviĉ, der Protagonist von „OvcebykŖ, neben der Opferbereitschaft verkörpert: die tatkräftige Nächstenliebe. Leskov, Moralist wie Dostoevskij und Tolstoj, sieht in ihr die höchste Tugend, und er exemplifiziert sie im Anschluss an Schafochs in zahlreichen Erzählfiguren bis hin zu den Helden seiner „LegendenŖ (1886Ŕ1891)59, den literarisch-novellistischen Bearbeitungen altrussischer Heiligenleben aus den „LesemenäenŖ, den „PaterikaŖ und dem „PrologŖ Ŕ einem Höhepunkt seines erzählerischen Spätwerks. Wie die Geschichten von der Bekehrung des reichen Sklavenhalters Gerasim („Lev starca GerasimaŖ, 1888) oder dem Verzicht der schönen Ägypterin Aza auf eigenen Reichtum („Prekrasnaja AzaŖ, 1888) demonstrieren alle Novellen-Legenden mit ihrer meist kompositorisch dicht verspannten, auf einschneidende Wendepunkte angelegten Handlung, dass sich wahre Tugendhaftigkeit nicht in Aske-

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se, Ehelosigkeit und entsagendem Leben auf Säulen äußert, sondern in den Taten eines praktischen und praktizierten Christentums. Zu dieser Einsicht gelangt auch Danila („Legenda o sovestnom DanileŖ, 1888), der erst Alexandria, Rom, Ephesus, Konstantinopel, Jerusalem, Antiochia passiert und eine Welt verlogenen Christentums befragt, bevor er erkennt, dass er hätte handelnd rühmen müssen, statt redend die Zeit zu vergeuden. In der Ungestalt eines angefaulten Aussätzigen begreift er seine Aufgabe. Sie heißt dienende Liebe, liebender Dienst am Menschen. Ehe Leskov die Liebe als tätigen Vollzug in der Vergangenheit am Beispiel legendarischer Überlieferung nachwies, entdeckte er, der Lebensaufzeichner, Verkörperungen dieser aktiven Tugend in der Gegenwart der russischen Wirklichkeit. In der Entdeckung sah er einen Beweis für die lebendige Existenz seiner Religiosität. Und indem Leskov passende Geschichten ersann und ihre Träger, Gerechte genannt, unter Namen wie Figura, Pygmäe, Großkopf, Eindenker oder Schreckgespenst individualisierte und mit großer Anschaulichkeit versah, begegnete er dem Vorurteil, dass solche Menschen in der Realität äußerst selten vorkämen: „Und ich brach auf, um Gerechte zu suchenŖ, heißt es in dem Vorwort, das er dem Zyklus „Tri pravednika i odin ńeramurŖ (Drei Gerechte und ein Cheramour, 1880Ŕ1886) voranstellte, „wohin ich mich jedoch auch wandte, wen ich auch fragte Ŕ alle antworteten mir, sie hätten noch keine gerechten Menschen gesehen, weil alle Menschen sündig seien; dennoch kannte der eine oder andere gute Menschen. Und ich begann dies aufzuschreiben.Ŗ60 „Ich habe hier nichts hinzugetanŖ, merkte Leskov bestätigend im Vorwort zu einer der Erzählungen seines Zyklus an, „sondern nur aufgezeichnet und geordnet.Ŗ61 In einer stenographischen Mitschrift der Erinnerungen Grigorij Pochitonovs62 (1810Ŕ1882), eines höheren Beamten, an seinen Aufenthalt in der Ersten Petersburger Kadettenanstalt hatte er einen geeigneten Stoff zu dem Zyklusthema gefunden, diesen literarisch bearbeitet, wobei er den Erinnerungscharakter des Materials in der Erzählhaltung und der Erzählstruktur bewahrte, und 1880 unter dem Titel „Kadetskij monastyrřŖ (Das Kadettenkloster) in der Zeitschrift „Istoriĉeskij vestnikŖ veröffentlicht. Zum erstenmal stellte Leskov hier den Gerechten in dem Umkreis des Militärischen dar, einem Bereich, der, personifiziert in dem Hauptdirektor aller Kadettenanstalten, dem Generaladjutanten Demidov, einem erbarmungslosen Frömmler, Gerechtigkeit eher verhindert als ermöglicht. Dass Gerechtigkeit aber auch unter schwierigsten milieubedingten Umständen geübt werden kann, illustriert der Ich-Erzähler gleich an vier Fallbeispielen, und zwar in Form in sich geschlossener Personenporträts, die ohne durchgehende Handlung, episodisch aufgefüllt und durch die Einheit von Ort und Thema verknüpft, im Verhältnis des einfachen Nacheinander stehen. Da ist zuerst der Direktor der Anstalt, Generalmajor Perskij, der sich um die schulische Erziehung seiner Zöglinge kümmert und, statt durch disziplinarische Strafen, durch das Vorbild seines Pflichtbewusstseins, seiner Seelengröße und Charakterstärke erzieht. Da ist dann der Ökonom, Brigadegeneral Andrej Petro-

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viĉ Bobrov, der in seiner Herzensgüte die Kadetten, wenn sie im Arrest sitzen, mit Essen versorgt und, wenn sie als Fähnrich aus der Anstalt entlassen werden, mit Leibwäsche und silbernen Löffeln, vom eigenen Sold finanziert, beschenkt. Da ist drittens der Anstaltsarzt Doktor Zelenskij, ein Hygieniker, tüchtig und großherzig, der alles, von der Zimmertemperatur bis zu den Fingernägeln der Zöglinge, kontrolliert und bei den Kranken im Revier schläft. Und da ist schließlich der Archimandrit, der nicht nach einem vorgefertigten Konzept, sondern aus der Tiefe des Herzens predigt und einen Religionsunterricht hält, in dem jede Frage und jeder Zweifel geäußert werden darf. Diese vier, die die Anstalt nie zu verlassen pflegen, der Direktor, der Ökonom, der Arzt und der Archimandrit, haben gemeinsam, dass sie ihr Leben freiwillig und bedingungslos in den Dienst der Zöglinge stellen und dies durch ihre Existenz, die sich in Taten, nicht in Worten repräsentiert, überzeugen. So gilt für alle, was über einen, Bobrov, dem die nachgestellte „Ergänzung zur Erzählung vom KadettenklosterŖ gewidmet ist, gesagt wird: „Er hielt uns nie lange Moralpredigten, aber er lebte uns vor, was Nächstenliebe und Selbstaufopferung bedeuten.Ŗ63 So sind sie, die Leskovschen Helden, nicht nur die Gerechten, sondern auch die meisten anderen, die Sonderlinge, und etwas Kauziges, Abseitiges, Quijoteskes haben ja alle mehr oder weniger. Wenn Figuren bei Dostoevskij, um große philosophische Ideen ringen und bei Tolstoj verzweifelt nach dem Sinn des Daseins suchen, leben sie bei Leskov einfach diesen Sinn, unreflektiert, aktiv, tätig. Sie fragen nicht, zögern nicht, sondern verhalten sich wie der wachhabende Soldat Postnikov in „Ĉelovek na ĉasachŖ (Der Wachposten, 1887), der entgegen dem Reglement seinen Posten verlässt, um einen angstvoll um Hilfe Rufenden so vor dem Ertrinken in der Neva zu bewahren. Das Besondere liegt weniger in der Rettungstat selber als in dem Entschluss, sie ungeachtet der Folgen, nämlich Kriegsgericht, Spießrutenlauf, Zwangsarbeit, vielleicht sogar Erschießung, durchzuführen. Solche Haltung erscheint durch den Kontrast mit der Reaktion der Kameraden und Vorgesetzten noch in ihrer positiven Menschlichkeit gesteigert. Insbesondere der mit dem Vorfall befasste Bataillonskommandeur Svinřin klammert alles aus, was Postnikov leistete. Sein Handeln und Urteilen ist wie immer auch in diesem Fall von dem Bemühen bestimmt, alle Vorschriften peinlich genau zu beachten, um unter keinen Umständen seine „sorgsam abgesicherte dienstliche LaufbahnŖ zu gefährden. Erst dem Oberpolizeimeister Kokońkin, der für sein diplomatisches Geschick bekannt ist, gelingt es, die Angelegenheit zur Zufriedenheit aller Beteiligten zu lösen, und Postnikov, während der drei Tage im Karzer auf weitaus Schlimmeres gefasst, denkt am Ende: „Zweihundert Rutenschläge bedeuteten in der damaligen harten Zeit sehr wenig, verglichen mit den Strafen, die das Kriegsgericht zu verhängen pflegte.Ŗ64 Leskov stellte der „harten ZeitŖ, in der humane und liberale Beweggründe nichts, Ehrgeiz und Karrieredenken, Zucht und Ordnung aber alles zählen, immer wieder so positive Gestalten wie den wachhabenden Soldaten Postnikov oder die um ihre Zöglinge bemühten Anstaltspädagogen entgegen. Darin besteht sei-

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ne Antwort auf Ĉernyńevskijs utopischen Entwurf vom „Neuen MenschenŖ. Die sich nicht in fernerer Zukunft, sondern im Hier und Jetzt vollziehende vorbildliche Mitmenschlichkeit wird für Leskov zum „Symbol für die Möglichkeit der Erneuerung der russischen NationŖ.65 Deshalb kommen diese Symbolfiguren vorzugsweise immer aus den unteren Schichten des Volkes. Ivan Fljagin etwa, der Held von „Oĉarovannyj strannikŖ, einer Erzählung, die neben „Zapeĉatlennyj angelŖ (Der versiegelte Engel, 1873) den erzählerischen Höhepunkt am Ende des ersten der drei Schaffensjahrzehnte Leskovs bildet, ist der Sohn eines leibeigenen Kutschers. Als „Recke in der MönchskutteŖ66 stößt er eingangs der Handlung zu einer Gruppe Reisender, die auf dem Ladogasee mit dem Schiff von der Insel Konevec nach Valaam fahren, und schildert Ŕ gemäß dem alten Muster einer erzählend die Zeit überbrückenden Gesellschaft Ŕ in unablässigem Redefluss, wie er auf seinen wundersamen Wegen durch Russland die merkwürdigsten Abenteuer zu bestehen hatte. Von hier aus wird verständlich, dass die Erzählung ursprünglich „Telemachos von der SchwarzerdeŖ heißen sollte. Mit der Anspielung auf Fénelons Bildungsroman „Les Aventures de TélémaqueŖ (1699) verwies Leskov auf eines seiner Strukturvorbilder. Diese Funktion übernahm in der Erstveröffentlichung (1873 in der Zeitschrift „Russkij mirŖ) der Untertitel zu dem neuen Titel „Oĉarovannyj strannikŖ: „Ego ņiznř, opyty, mnenija i prikluĉenijaŖ (Sein Leben, seine Erfahrungen, seine Ansichten und seine Abenteuer), der seinerseits auf weitere Werke hindeutete, die für Leskov von grundsätzlicher Bedeutung waren: Laurence Sternes ŖThe Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentlemanŗ (1759Ŕ1767) und Nikolaj Gogolřs „Prikljuĉenija Ĉiĉikova ili Mertvye duńiŖ (Die Abenteuer Ĉiĉikovs oder Die toten Seelen, 1842). Das tragende Gerüst von „Mertvye duńiŖ ist in „Oĉarovannyj strannikŖ genauer ausgefüllt als zwei Jahre vorher in „Smech i goreŖ, weil die Reisen durch Russland, wörtlicher als bei Gogolř selber, als eine Abfolge von Abenteuern erscheinen. Die Abenteuer, nicht addiert, sondern wie die Glieder einer Kette auseinander erwachsend, werden sowohl durch die gleichbleibende Figur des erinnernd zurückblickenden Ich-Erzählers als auch durch die das Leben des Helden bestimmende Grundidee des Gottversprochenseins zusammengehalten. Mit diesem dreifachen Zusammenhang, der Verknüpfung durch die Bauform, die Hauptfigur und die Idee, gelangte Leskov über die Reihungsstruktur bisheriger Erzählungen wie „OvcebykŖ, „VoitelřnicaŖ (Die Kampfnatur, 1866) oder „Smech i goreŖ und des traditionellen Abenteuerromans hinaus. Ihre besondere Wirkung, das heißt ihre hohe Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit, gewinnen die „AbenteuerŖ aus dem Leben Ivan Severřjanyĉ Fljagins in erster Linie dadurch, dass sie von dem Betroffenen persönlich, und dies unter Verwendung von mehr als zwei Dutzend Sprechweisen, erzählt werden. Sei es die Geschichte von der Lebensrettung des Grafen und der Gräfin, von der Flucht aus dem Grafenhaus oder vom Dienst als Kindermädchen, sei es die Geschichte vom Zweikampf mit dem Tataren, von der Gefangenschaft in der Steppe oder von der Flucht aus der Steppe, sei es die Geschichte von der Begeg-

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nung mit dem Magnetiseur, vom Erlebnis in der Zigeunerschenke oder von der Tötung der Zigeunerin, sei es die Geschichte von der Heldenhaftigkeit im Krieg, vom Auftritt als Straßenschauspieler oder von den Versuchungen im Kloster Ŕ alle diese Geschichten werden aus einem einzigen Grund erzählt, der zugleich als zusammenhaltende Klammer in der Aneinanderreihung der Episoden, Situationen und Szenen dient: Sie belegen die Behauptung des Sprechers, dass niemand seiner Bestimmung entgehen kann. Unter den zahlreichen Abenteuern des verzauberten Pilgers heben sich zwei an Umfang und Bedeutung sichtbar ab. Das eine ist die Gefangenschaft bei den Tataren, das andere die Romanze mit der Zigeunerin Gruńa. Da wird im ersten Fall geschildert, wie Fljagin mit Aloe und Galgantwurzel erkrankte Pferde heilt, wie man ihm die Fußsohlen aufschneidet und Borsten einlegt, damit er nicht weglaufen kann, wie man ihn mit der Witwe jenes Tataren verheiratet, den er im Zweikampf erschlagen hat, und ihm ein dreizehnjähriges Mädchen dazugibt, wie ihn ein anderer Stamm entführt, bei dem er weitere Frauen erhält, wie er russische Missionare vergeblich um Hilfe bittet und einen von ihnen tot, mit abgezogener Haut auffindet, wie er einige Tataren durch Feuerwerk erschreckt und bekehrt und wie es ihm auf diese Weise gelingt, aus der Steppe zu fliehen. In dem zweiten Fall wird erzählt, wie Fljagin in einer Herberge von der Schönheit einer jungen Zigeunerin so berauscht ist, dass er ihretwegen sein gesamtes Geld ausgibt, wie er die Schönheit im Haus seines fürstlichen Herrn als dessen Geliebte wiedertrifft und sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, wie er die vom Fürsten Verstoßene leidgeprägt am Ufer eines Flusses findet und diese, durch einen Schwur von ihr gezwungen, tötet, damit sie selbst nicht in die Versuchung gerät, ihre Nachfolgerin zu töten. In beiden Fällen wird eine Welt erschlossen, in der andere Gesetze, andere Moralbegriffe und andere Sitten und Bräuche herrschen als dort, woher Fljagin kommt. Diese Welt, die in ihrer Exotik schon viele russische Schriftsteller fasziniert hatte, war bislang noch nie so eigenwertig und Ŕ nicht einmal bei Tolstoj Ŕ so realistisch geschildert worden wie von Leskov. Die Realistik seiner Schilderung, die sich aus der eigenen Erfahrung und Anschauung erklärt, geht bis in feinste Einzelheiten des Dinglichen und des Sprachlichen hinein. Erst in Leskovs Novellistik gelangt in Russland der Detailrealismus zu höchster Reife. Dem entspricht, dass die Tatarenwelt in „Oĉarovannyj strannikŖ nicht als heile Gegenwelt, als ein Raum erfüllter Sehnsucht und schrankenloser Freiheit entworfen ist. Der romantische Held, und sogar noch Tolstojs Olenin (in „KazakiŖ, 1863), flieht in sie hinein, Fljagin, sobald er kann, aus ihr heraus. Auf die bloße Fabel reduziert, wirkt vieles in den Geschichten keineswegs neu, manchmal sogar märchenhaft, aber in der Art und Weise, wie alles im einzelnen dargestellt, ins Ganze integriert und durch Fljagins Sicht gefiltert ist und wie vor allem das Exotische, hier als das aus seiner natürlichen Umwelt Entfernte, im Alltäglichen gebrochen und das Alltägliche am Exotischen entlarvt wird, das bezeugt die unverkennbar

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eigene, größte Wirklichkeitsnähe suchende und erreichende künstlerische Handschrift Leskovs. Innerfiktional sind die beiden Groß- und Hauptepisoden, die zwei bekannte Motive der russischen Romantik realistisch verarbeiten, das der Gefangenschaft aus Puńkins „Kavkazskij plennikŖ (Der Gefangene aus dem Kaukasus, 1822) und das der Liebesromanze zwischen Peĉorin und Bela aus Lermontovs „Geroj nańego vremeniŖ (Ein Held unserer Zeit, 1840) auch deshalb wichtig, weil aus ihnen, deutlicher als aus anderen Episoden ein Grundzug des Helden hervortritt: seine Empfänglichkeit für das Schöne, sei es im Tier, sei es im Menschen. Fljagins außergewöhnliche Pferdeliebe, ein Leitmotiv der Erzählung, erklärt sich aus dem ihm angeborenen Schönheitssinn. Ein schönes Pferd ist für ihn kein Handelsobjekt, so wie für die Tataren, sondern ein Gegenstand „interesselosen WohlgefallensŖ. Trifft er auf ein solches Tier, dann pflegt er es mit liebender Sorgfalt, widmet sich ihm mit ganzer Seele und ist imstande, wie er selber sagt, Vater und Mutter dafür hinzugeben. Ein solches Verlorensein an das Schöne kehrt, sogar noch gesteigert, in jener Szene wieder, wo er Gruńa zum erstenmal begegnet: „In diesem Augenblick, als sie sich vor mir über das Tablett beugte und ich ihren Scheitel sah, der sich wie ein Silberstreifen durch ihr schwarzes Haar zog und sich dann nach dem Rücken hin verlor, war ich wie berauscht, und um meinen Verstand war es nun geschehen.Ŗ Und Fljagin schließt die Erinnerung an diesen berauschenden Moment mit den Worten: „So also sieht echte Schönheit aus; das Vollkommenste der Natur. Der Magnetiseur hat die Wahrheit gesagt: Das ist etwas ganz anderes als beim Pferd, einem Tier, das man kaufen kann.Ŗ67 Ästhetik und Religiosität gehören somit für Leskov Ŕ spätestens seit der Entstehungszeit von „Oĉarovannyj strannikŖ und „Zapeĉatlennyj angelŖ Ŕ untrennbar zusammen. In der einen Erzählung wird diese Einheit im Hinblick auf die Natur, anhand von Mensch und Tier, und in der anderen im Hinblick auf die Kunst, speziell am Kultobjekt der Ikone, diesem Heiligenbild der Ostkirche, illustriert. Hier wie dort ist das Ganze eingebettet in die Decamerone-Situation, jene Situation einer zufällig versammelten Gesellschaft, die sich durch das Erzählen von Geschichten ihre Zeit vertreibt. Dort: Schiffsreisende, die über den Ladogasee fahren. Hier: Landreisende, „Adlige, Kaufleute und Bauern, Russen, Mordwinen und TschuwaschenŖ68, die vor einem winterlichen Steppensturm in einen abgelegenen Gasthof geflüchtet sind. Aus der Reisegesellschaft sondert sich jeweils ein Erzähler heraus, dort ein hochgewachsener, mönchisch gekleideter Mann, hier ein „kleiner rotblonder Mann mit einem keilförmigen SpitzbartŖ69, ein skaz-Erzähler, was die aufs Mündliche stilisierte Weise seines Sprechens anbelangt, und setzt den Erzählgrund, dort die Überzeugung, der Lebensweg jedes Menschen sei von Gott vorgezeichnet, hier die Gewissheit „Der Gläubige wird nicht vom Bösen geführt, sondern von einem Engel geleitetŖ.70 Der Titel Ŕ auch das haben „Zapeĉatlennyj angelŖ und „Oĉarovannyj strannikŖ gemeinsam Ŕ benennt die Hauptgestalt. Um die Ikone, nicht um den Binnenerzähler, nicht um die zentrale Figur Luka Kirilov, nicht um die Gruppe der Alt-

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gläubigen, geht es in erster Linie. Ein Ding als Held? Auch in Gogolřs „PortretŖ geht es weniger um den Maler Ĉartkov als um das Gemälde, das dieser in einem Bilderladen erwirbt und das zunächst seinen Aufstieg, dann seinen Untergang verursacht. Das Porträt eines alten Wucherers bei Gogolř und die Ikone eines Engels bei Leskov können zum eigentlichen Erzählgegenstand werden, weil sie eine Bedeutung besitzen, die weit über ihr bloßes Dingsein hinausgeht. Sie haben eine ganz eigene Lebendigkeit, vergleichbar der handelnden Lebendigkeit des Menschen. Als lebendig galten und gelten Bilder in allen großen Früh- und Spätkulturen. Die eiszeitliche Höhlenmalerei, die dem Jagd-, Fruchtbarkeits- und Sühnezauber diente, wollte in das Naturgeschehen eingreifen. Die ältesten Götterbilder, sei es bei den Ägyptern, im alten Orient oder bei den Naturvölkern, bieten der Gottheit eine magische Präsenz. Dem mittelalterlichen Reliquienschrein oder der byzantinischen Ikone, also dem christlichen Bildwerk, das die Gottheit nicht mehr magisch in sich enthält, sondern nur noch symbolisch auf sie verweist, wird die Kraft zugetraut, Krankheiten zu heilen und Unglück abzuwenden. Die in die Realität wirkende Macht des Bildes kann auch negativer Art sein. Bei Gogolř ist sie es. Das Bild erweist sich als Aufenthaltsort des Satans, als Gegen-Ikone. Bei Leskov handelt es sich dagegen um eine Gottesmacht. Mit Ikonen teils griechischer, teils Novgoroder oder Stroganover Herkunft lebt in „Zapeĉatlennyj angelŖ ein Trupp altgläubiger Bauarbeiter, der unter Führung Luka Kirilovs von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle zieht, wie mit Heiligen zusammen. Die auf einem speziellen Wagen in zwei großen Flechtkörbern transportierten und nach beendeter Tagesarbeit neben ständig leuchtenden Lämpchen im Gemeinschaftsraum aufgestellten Bilder entzücken durch ihre „SchönheitŖ, sie flößen „unendliche FreudeŖ ein, lindern „jeden SchmerzŖ und nehmen „jede FurchtŖ, vor allem jedoch beschützen sie: „Du betest: ‚Sei mein Schutz!Ř und wirst sogleich ruhig, deine Seele findet Frieden.Ŗ71 Alles, was den Altgläubigen widerfährt, wird der Wirkung dieses „HeiligtumsŖ und dieses „GottessegensŖ zugeschrieben. Dazu gehört im besonderen die Möglichkeit, die eigene Religion ungestört ausüben zu können. So führen die Altgläubigen-Bauarbeiter, wie Ivan Fljagin in „Oĉarovannyj strannikŖ kreuz und quer durch Russland ziehend, unter dem Schutz ihrer Ikonen und im Glauben an die Wirkmacht der heiligen Bilder drei Jahre lang ein glückliches Dasein, bis der durch wiederholte Unheilsvorausdeutungen dunkel angekündigte Umschlag der harmonischen Ausgangssituation erfolgt. Die novellistische Wendung, die, in dem achten der sechzehn Kapitel angesiedelt, die Erzählung in zwei Handlungshälften teilt, besteht in der Versiegelung der Ikonen durch die Vertreter der Staatsbehörde. Dieser Vorgang, ausgelöst durch die private Intrige einer Kiever Dame, wird als Akt der Schändung beschrieben und erreicht seinen Höhepunkt in der Verunstaltung des schönsten und heiligsten aller mitgeführten Bilder, einer Schutzengel-Ikone. Das Aufdrücken der Petschaft wird von den Betroffenen als eine tatsächliche Engelsschändung erlebt: „Er erhitzte den Siegellack und drückte das siedende Harz dem Engel mitten ins Antlitz.Ŗ In der erzählenden Wiedergabe nicht weniger erschüttert als zum Zeit-

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punkt dieses Geschehens verzichtet das sich erinnernde Ich auf die weitere Beschreibung des Vorgangs und hebt nur noch hervor, „dass das erhabene göttliche Antlitz rot und versiegelt war und dass der unter dem heißen Harz geschmolzene Firnis in zwei Rinnsalen herabfloss, so als weine der Engel blutige TränenŖ.72 Auf diesem Tiefpunkt des Geschehens angelangt, ändert sich der Tonfall des Erzählers; denn er schildert jetzt, wie der Schändungsakt nicht lange Anlass zur Klage bleibt und die Klage über die Versiegelung zur Geburt des Gedankens der Entsiegelung wird. Die Planung und die Ausführung des Entsiegelungsgedankens bestimmen den zweiten Teil der Novelle, der unter den Spannungsfragen steht, ob es den beiden Abgesandten der Altgläubigen, dem Ich-Erzähler und seinem Weggefährten, dem „wunderbaren Jüngling LevantijŖ73, gelingt, einen der selten gewordenen Ikonenmeister zu finden, ob es dem gefundenen Ikonenmeister gelingt, eine originalgetreue Kopie der versiegelten Engelsikone herzustellen, und ob es gelingt, die letztere zu entwenden und zu entsiegeln und die erstere, versiegelt, unbemerkt an ihren Platz zu stellen. Spannung reiht sich an Spannung, eine Reihung, die Leskov wie immer durch die so lebendige Art seines Erzählens noch zusätzlich zu steigern weiß. Die Unternehmung der Altgläubigen misslingt. Doch der Engel hat die raskol’niki nicht verlassen; er führt sie vielmehr der Staatskirche zu Ŕ eine Wendung, die durch die Konversion Levantijs (im 11. Kapitel) vorbereitet wird. Das Glück ist zu den vormals Abtrünnigen zurückgekehrt, der Kreis hat sich geschlossen. Am Ende steht die auf die Botschaft der unmittelbar folgenden Erzählung, „Oĉarovannyj strannikŖ, vorausweisende Erkenntnis, dass Gott den Menschen führt, wie und wohin er will, und dass es gut ist, wie und wohin er führt. Der Führende, das ist hier der Engel, der Bote Gottes. Dargestellt im Bild, aber wirkend in der Realität, erscheint er als der Held der Erzählung. Der Held in „Oĉarovannyj strannikŖ ist dann der Geführte, Ivan Fljagin, der verzauberte Pilger, dieser Sonderling, dieser Gerechte, dieser Ästhet, der nach dem Verlassen des Klosters in seinem ewigen Unterwegssein das Volk und das Leben vertritt, genauer gesagt, der das russische Volk und das russische Leben in einer Gestalt konzentriert und durch sie symbolisch repräsentiert. X. Satirisches Erzählen bei Nikolaj Leskov und Saltykov-Ščedrin Gegenüber der offiziellen Kirche, zu der sich der Schluss von „Zapeĉatlennyj angelŖ vom Textverlauf her gesehen so unerwartet bekennt, nahm der ursprünglich fest im orthodoxen Kultus verwurzelte Verfasser während der siebziger Jahre eine zunehmend distanzierte Haltung ein. Die sich unter dem Einfluss seiner Kenntnis des Altgläubigentums und seiner Lektüre von Werken Voltaires, Proudhons, Büchners und Feuerbachs entwickelnde Distanz äußerte sich zunächst in der privaten Sphäre des Briefs. „Mehr als je zuvor glaube ich an die große Bedeutung der KircheŖ, schrieb Leskov im Juli 1875 aus Marienbad, „aber ich sehe nirgendwo jenen Geist, der einer Gesellschaft zukäme, die den Namen Christi trägt.Ŗ1 Bald darauf trat sein Kirchenvorbehalt, zur offenen Kirchenkritik ge-

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worden, in Artikeln und Erzählungen zutage. Er gipfelte, was die satirische Schärfe betrifft, in der Erzählung „Meloĉi archierejskoj ņizniŖ (Kleinigkeiten aus dem Bischofsleben, 1878) und dem Artikel „Popovskaja ĉecharda i prichodskaja prichotř Ŗ (Priesterliches Bockspringen und Gemeindelaunen, 1883), die beide entscheidend zu Leskovs Entlassung aus dem Staatsdienst beitrugen, und er gipfelte künstlerisch in den Legenden der späten achtziger und der frühen neunziger Jahre, einer Zeit persönlicher Vereinsamung, verstärkter religiöser Einkehr und schöpferisch-bewundernder Nähe zu Lev Tolstoj. Mit Tolstoj teilte Leskov die Auffassung, dass wahres Christentum unabhängig von Ritus und Dogma sei und sich in der Praxis des täglichen Handelns zu beweisen habe. Fast parallel zu seiner kirchenkritischen Haltung wuchs bei Leskov auch die gesellschaftskritische Einstellung und gewann eine Schärfe, die den bis dahin Ŕ dem Naturell entsprechend Ŕ eher humoristischen Schriftsteller zu einem echten Satiriker machte. Spott und Ironie, Komik und Karikatur, Groteske und Verfremdung, diese Hauptmittel satirischen Sprechens, fehlten nie gänzlich bei Leskov, traten jedoch hinter der Vorherrschaft einer Darstellungsweise zurück, die einem Menschen entspricht, der, getragen vom Glauben und von der Liebe, der Überzeugung folgt, die Welt sei, wie immer sie sich jeweils darbietet, sinnvoll eingerichtet. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um das letztlich im Religiösen wurzelnde Phänomen des Humors. Der spezifisch Leskovsche Humor zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass er das Werthafte im Banalen, im Entlegenen und Verqueren entdeckt. So entstanden, dient er einem Erzählrealismus, der mit der entsprechenden zeitgenössischen Stilrichtung in Frankreich und Deutschland den Verzicht auf das Ideale und das ungetrübte Schöne teilt, der aber stattdessen weniger das Unvollkommene und Niedrige einsetzt, wie das bei Flaubert und bei Zola geschieht, als das Einfache und Alltagshaft-Triviale wie bei Keller, Raabe oder Fontane. Hier wie dort also das gleiche Wirklichkeitsschema Ŕ nur erscheint es bei Leskov, und auch dies verbindet ihn mit den deutschen Realisten, gegenüber jener puren Sachlichkeit und naturalistischen Tristheit Flauberts und Zolas humoristisch gemildert und verklärt. Die Milderung und Verklärung der Wirklichkeit im Humor leistet vornehmlich der persönlich anwesende Erzähler Ŕ seit Cervantes die wesentlichste Bedingung der Möglichkeit humoristischen Erzählens. Leskov kennt diesen durch Kommentare und Reflexionen hervortretenden Erzählertyp von Anfang an, benutzt ihn in der Funktion als humoristische Instanz weitgehend aber erst seit dem Jahr 1872, in dem die Romanchronik „SoborjaneŖ erschien und die Erzählungen „Zapeĉatlennyj angelŖ und „Oĉarovannyj strannikŖ entstanden. Bei allem Bemühen, eine Identifikation der Leser mit dem verzauberten Pilger zu erzielen, wird der gutmütige russische Recke zugleich in eine lächelnde Distanz gerückt, indem er wie der arme Ritter Don Quijote im unauflöslichen Widerspruch zur Wirklichkeit der eigenen Zeit steht. Der Hauptteil der komischen Wirkung Ivan Fljagins entsteht jedoch nicht aus seinen Handlungen, sondern aus der Originalität seiner

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urwüchsigen, umgangssprachlich gefärbten Rede, in der er die Vielzahl selbsterlebter „AbenteuerŖ verlebendigt und vergegenwärtigt. Wie es Leskov immer wieder schafft, mit Hilfe einer Erzählsprache, die sich durch virtuoseste und oft unübersetzbare Wort- und Satzstilisierung auszeichnet, die Erzählhaltung eines alles ergreifenden und verklärenden Humors zu verstärken, das zeigt sich noch 1881 in „LevńaŖ (Der Linkshänder), einer seiner bekanntesten und beliebtesten Erzählungen. Zugrunde liegt eine alte wandernde Volkslegende, die Zamjatin im 20. Jahrhundert noch einmal, zu der Märchenkomödie „BlochaŖ (Der Floh, 1925), verarbeitet hat. Schon der ursprüngliche Titel, unter dem Leskovs Erzählung in der Zeitschrift „RusřŖ veröffentlicht wurde, „Die Geschichte vom schielenden Linkshänder aus Tula und vom stählernen FlohŖ (Skaz o tulřskom kosom Levńe i o stalřnoj bloche), weist auf den entscheidenden Anteil, den hier die Sprache an der Wirkung des Erzählten hat. Indem sich der anonyme, naive Erzähler eines skaz bedient, der neben allen üblichen Eigenheiten mündlich-umgangssprachlichen Sprechens wie Diminutiva, Interjektionen oder Dialektismen auch eine Besonderheit in der Form von Volksetymologien, Fremdwortentstellungen und ungewollten Missdeutungen enthält, kommt die „verschlagene und übermütige GeschichteŖ2 erst zur vollen Entfaltung ihres Humors und ihrer im Humor freigesetzten Hintergründigkeit. Eine wichtige Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Ŕ allein schon durch die leitmotivische Wiederkehr Ŕ das Wort „MikroskopŖ in seiner entstellten Gestalt von „melkoskopŖ. Als solches bezeichnet es das Instrument, ohne das der Gegenstand, um den sich die gesamte Handlung dreht, ein Nymphosorium, überhaupt nicht wahrnehmbar wäre. Erst als die Engländer, die Aleksandr I. bei seinem Aufenthalt in London mit diesem beweglichen Metallobjekt die Einzigartigkeit ihrer Handwerkskunst demonstrieren wollen, den Zaren auffordern „durchs MelkoskopŖ zu blicken, bemerkt dieser, dass das vermeintliche „StäubchenŖ auf dem silbernen Präsentiertablett ein aus reinem englischen Stahl gefertigter Floh mit einer aufziehbaren Feder im Inneren und einem danebenliegenden Schlüsselchen ist. „Mit großer Mühe gelang es dem Herrscher, dieses Schlüsselchen zu ergreifen, und mit großer Mühe hielt er es in zwei Fingern, mit zwei anderen Fingern jedoch packte er den Floh. Kaum hatte er das Schlüsselchen hineingesteckt, spürte er, wie der Floh seine Fühler bewegte und dann die Beinchen hob, und plötzlich sprang der Floh auf und vollführte im Flug einen Dansé (danse) geradeaus, zwei Veroationen (verojacii) nach der einen, zwei nach der anderen Seite, und im Nu hatte er in drei Veroationen eine ganze Kadrille (kavrilř) getanzt.Ŗ3 Auch Nikolaj I. erkennt erst nach genauester Beobachtung und nur mittels des „stärksten MelkoskopsŖ (samyj silřnyj melkoskop), dass die scheinbar unübertreffliche Arbeit der Engländer von den Tulaer Meistern noch an Kunstfertigkeit überboten worden ist. „Da schaut herŖ, wendet sich der Herrscher entzückt an seine Höflinge, „die Schelme haben den englischen Floh mit Hufeisen beschlagen.Ŗ4 Doch nicht genug. Der Linkshänder, einer der herbeigerufenen Meister, erklärt, die Hufeisen seien gar nicht das „AllererstaunlichsteŖ: „ ‚Denn

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wennŘ, sagte er, ‚das Melkoskop, das schon fünf Millionen mal vergrößert, noch besser wäre, dann würden Sie geruhenŘ, sprach er weiter, ,wahrzunehmen, dass auf jedem kleinen Hufeisen der Name des jeweiligen Meisters verzeichnet istŘ.Ŗ5 Auch das findet noch eine Steigerung. Als der Linkshänder gefragt wird, ob sein Name ebenfalls dabei sei, verneint er dies und erklärt: „Deshalb nicht, weil ich noch Feineres (melřĉe) als die kleinen Hufeisen gefertigt habe. Ich habe die Nägel geschmiedet, mit denen die kleinen Hufeisen festgenagelt wurden Ŕ und diese sind durch kein Melkoskop der Welt mehr zu erfassen.Ŗ6 Eine weitere Steigerung ins eigentlich Unmögliche scheint kaum denkbar. Da erfährt der Leser, wie der russische Herrscher im Text, als ob er wie jener nicht schon zur Genüge verblüfft worden sei, dass der Linkshänder wegen seiner Armut gar kein Mikroskop besessen habe, sondern sich auf die Kraft seiner Augen verlassen musste. Ein humoristisches Prinzip ist hier am Werk, das keine Desillusionierung der dargestellten Wirklichkeit und auch keine explizite Kritik am gesellschaftlichen System zum Ziel hat. Es dient stets ganz der Entdeckung des Menschlichen im Alltäglich-Einfachen, ja Trivialen. Menschliches Sein wird dabei nicht als Schein ironisch entlarvt, vielmehr selbst in all seinen Schwächen lächelnd bestätigt, insbesondere dann, wenn die Erzählhelden, vom Linkshänder bis hin zu dem Zaren, ihre Freude und ihren Stolz auf die Überlegenheit der eigenen Nationalität zum Ausdruck bringen. So lässt Nikolaj Pavloviĉ das beschlagene Nymphosorium sofort durch einen Sonderkurier, begleitet vom Linkshänder, als Geschenk und Beweis hoher russischer Handwerkskunst zu den Engländern bringen, und so lehnt der Linkshänder die Aufforderung, in England zu bleiben, mit der Begründung ab, dass er der russischen Erde aufs Innigste verbunden sei und den russischen Glauben für den richtigsten und gehaltvollsten halte. Auch das „NachwortŖ (Kapitel 20), in dem das zuvor Erzählte „trotz des märchenhaften Stils der Legende und des epischen Charakters ihrer HauptfigurŖ als erinnernswert bezeichnet und der Gegenwart des Erzählens als etwas unwiederbringlich Verlorenes entgegengestellt wird, enthält noch keine Staatskritik, sondern beschränkt sich auf eine allgemeine Zeitkritik. Ins Visier genommen ist im Ausblick die Tendenz einer Zeit, durch „Maschinen, die so segensreich für die Erhöhung des Einkommens warenŖ, die „Ungleichheit der Talente und Begabungen längstens ausgeglichenŖ zu haben, so dass der Entwicklung „solcher Meister wie des sagenhaften LinkshändersŖ der Boden entzogen wurde.7 Erst in den Jahren der Restauration, die das Zarenattentat von 1881 einleitete, verließ Leskov, nach der Kirche nun auch den Staat schärfer in den Blick nehmend, immer mehr die humoristische Basis seines Erzählens. Nachdem er zunächst noch in den frühchristlichen Legendenbearbeitungen, wie zuvor schon in der novellistischen Fassung der Volksüberlieferung von den Tulaer Meistern, eine optimistischer getönte Gegenwelt entworfen hatte, sah er sich gegen Ende des Jahrzehnts veranlasst, unter dem Druck der Verhältnisse ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Russland bot in der Regierungszeit Aleksandr III. inzwischen ein gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich so verheerendes Bild, dass Leskov nicht umhin konnte, stär-

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ker als bisher literarisch darauf zu reagieren. Als Aufzeichner des Lebens hatte er sich im Prinzip nie den düsteren Seiten der Wirklichkeit verschlossen, weder im Bereich des Persönlichen noch im Bereich des Gesellschaftlichen. Nur, sein Verfahren war zuvor eher deskriptiver Art. Jetzt drang die eigene Stellung deutlicher durch die Deskription. Kritik wurde auf einmal unüberhörbar, insbesondere dort, wo sie sich zur Anklage steigerte. Eine „Anklageschrift gegen das LebenŖ8 nannte Leskov Werke wie „ZagonŖ (Der Pferch, 1893 ) oder „Zimnij denřŖ (Ein Wintertag, 1894), die zusammen mit „PolunońĉnikiŖ (Mitternachtsgespräche, 1891), mit „JudolřŖ (Das Tal der Tränen, 1892), „ImprovizatoryŖ (Die Improvisatoren, 1892) und „Zajaĉij remizŖ (Die Hasenremise, 1894) zu den „letzten Werken über die russische GesellschaftŖ9 gehören, in denen bei ihm die Erzählform der Satire zu ihrer vollsten Realisierung gelangt, und zwar in einer für die Entstehungszeit durchaus neuartigen Weise. „So etwasŖ, wusste Leskov, „gefällt dem Publikum nicht wegen seines Zynismus und seiner Offenheit.Ŗ10 Aber er wollte zu jenem Zeitpunkt seinem Publikum auch gar nicht mehr gefallen: „Mag es sich auch durch meine Erzählungen an der Kehle gepackt fühlen, wenn es sie nur liest.Ŗ11 In der Tat schrieb eine zeitgenössische Leserin nach der Lektüre von „Zimnij denřŖ: „Die Erzählung ist in jeder Beziehung ekelhaft. Ich habe Leskov schon früher nicht geliebt, aber jetzt ist er mir noch widerwärtiger geworden.Ŗ12 Was den Autor für russische Leser vorher so anziehend gemacht hatte, war die Art und Weise, in der sein Erzählen bis in Einzelheiten der sprachlichen Gestaltung vom Humor durchdrungen ist. Selbst dort, wo Missstände gesellschaftlicher oder kirchlicher Provenienz deutlicher zur Sprache kommen, wie in „Smech i goreŖ oder „Meloĉi iz archierejskoj ņizniŖ, wird die dargestellte Negativität stets humoristisch gemildert, wenn nicht sogar verklärt. In Leskovs Satiren der neunziger Jahre tritt hingegen der Angriffscharakter erstmals unverdeckt und ungeschönt hervor. Angegriffen wird jetzt, anders als in der moralkritischen Satire des 17. und 18. Jahrhunderts, nicht das Laster des Einzelnen, sondern die Verkehrtheit des Ganzen. Was Leskov empört, ist der Umstand, wie das, was sein soll, durch das, was ist, verunstaltet wird. Verkehrtheit des Ganzen meint somit Verunstaltung des Ideals durch die Wirklichkeit. Diese nicht immer ohne weiteres sichtbare Verunstaltung wird durch den künstlerischen Aufbau einer verkehrten Welt sichtbar gemacht Ŕ einer Kunst-Welt, die aber nur scheinbar das genaue Gegenteil der Alltagswelt ist, in Wahrheit ist sie ihr zerrspiegelartiges Abbild. Die doppelte Wendung gegen die Kirche und die Gesellschaft vollzog Leskov seit dem Ende der achtziger Jahre in engster Verbindung mit Lev Tolstoj, in dem er zunächst nur den Künstler, den Verfasser von „Vojna i mirŖ, danach auch den Moralisten, den Autor von „IspovedřŖ, bewundert hatte. Seit der persönlichen Begegnung im April 1887 verehrte er Ŕ bei allen Differenzen in Bezug auf die Rolle der Frau und die Einstellung gegenüber dem Bösen Ŕ den ganzen Tolstoj. „Alles, was Lev Nikolaeviĉ betrifftŖ, schreibt Leskov nach der Begegnung, „ist mir wertvoll und unbeschreiblich interessant.Ŗ13 So teilte er dem „Weisen von Jas-

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naja PoljanaŖ, dessen Rat und Urteil er schätzte, in einem Brief vom November 1893 mit: „Ich habe etwas für ‚Die WocheŘ geschrieben, und es ist bereits gesetzt; doch irgendwie erschreckt es alle, ich weiß deshalb nicht, ob es wirklich veröffentlicht wird. Es heißt ‚Der PferchŘ, und es handelt sich um eine Art ‚RevueŘ. Alles ist nach der Natur gezeichnet. Doch es geht nicht darum, ob es gut gemacht ist, sondern darum, ob es der Forderung des Tages entspricht.Ŗ14 Tolstoj antwortete: „Mir hat es gefallen, insbesondere aber, weil es Wahrheit und nicht Erfindung ist. Man kann Wahrheit ebenso interessant machen wie Erfindung, ja sogar noch interessanter, und Sie verstehen das ausgezeichnet.Ŗ15 Der von Leskov betonte und von Tolstoj bestätigte Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt der Erzählung, Grundlage jeder Satire, wurzelte bereits in dem, was den Anlass zur Niederschrift lieferte: eine Rede vor der Gesellschaft zur Förderung der russischen Industrie und die russische Ausgabe des Buches „Der isolierte StaatŖ von Johann Heinrich von Thünen. Beide, Rede und Buch, verlangen die Besinnung Russlands auf sich selbst und die Abgrenzung vom Ausland durch eine „chinesische MauerŖ. Gegen diese Forderung verwahrte sich Leskov mit eigenen, das heißt künstlerischen Mitteln, und er verbildlichte seine ablehnende Haltung in dem Wort, das den Erzähltext überschreibt: „zagonŖ. Evoziert wird damit ein Bild, das, einer zeitgenössischen Druckgraphik entnommen, Thünens Werk illustriert. Diese Graphik zeigt den „isolierten StaatŖ als einen von einer Mauer umgebenen Pferch, in dessen Finsternis ein schwacher Lichtstrahl durch einen schmalen Riss dringt. Von hier aus versteht sich das Titelwort von Leskovs Erzählung als Metapher für das zurückgebliebene und sich dennoch gegen alle Neuerungen sträubende Russland. Der in der Metapher enthaltene Vorwurf richtet sich wie in der Erzählung „ImprovizatoryŖ sowohl gegen die Gebildeten als auch gegen die Ungebildeten, gegen die sozial höher wie die sozial niedriger Gestellten, zielt aber vorzugsweise auf die erste Gruppe. Nichts belegt dies deutlicher als das resignierende Urteil des Engländers Scott: „ Ŕ dieses Volk ist böse; aber auch das ginge noch an; das Schlimmste ist, dass man es belügt und ihm weismacht, das Böse sei gut und das Gute böse.Ŗ16 So wäre beispielsweise die Einführung des modernen englischen Pflugs trotz des Misstrauens der Bauern möglich gewesen, hätte nicht der an sich aufgeklärte Gutsbesitzer Perovskij, des Spottes seiner Umgebung überdrüssig, das Projekt fallengelassen. Oder so wäre das neuartige Dorf mit steinernen Häusern, das der philanthropische Gutsherr Vsevoloņskij erbauen ließ, doch noch von den Bauern angenommen worden, hätte nicht der gesamte Landadel, unterstützt von Journalisten, dagegen angekämpft. So wie Perovskij und Vsevoloņskij geht es allen, die sich gegen die alte und veraltete Tradition wenden, um das Neue und Fortschrittliche zu erreichen. Das gilt auch für die Kirchenleute, wie etwa den jungen Priester Aleksandr Gumilevskij, der in eine Krankenhauskapelle strafversetzt wird, „wo er die Sterbenden mit dem Segen versehen und ihnen sagen durfte, was er wollte, da sie den Nutzen seiner Ermahnungen erst in ihrem neuen Dasein zu erkennen vermochtenŖ.17 Nur derjenige scheitert nicht,

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der sich der verkehrten Welt einfügt, indem er ihre immanenten Gesetzlichkeiten akzeptiert. Dann kann es zu so grotesken Karrieren kommen wie der des „HohlkopfsŖ Efim Dmitrieviĉ Volkov, den die Generalsgattinnen in einem Seebad am Finnischen Meerbusen zu ihrem „WunschheiligenŖ erwählen. Die private Wunschwelt der Generalsgattinnen versinnbildlicht wie der Traditionalismus von Adel und Klerus die allgemeine Abkapselung Russlands am Ende des 19. Jahrhunderts. Jede einzelne Episode spiegelt, für sich und durch sich, die Gefährdung des Ganzen. Zwar erscheint das Ganze verzerrt, aber es handelt sich um eine Verzerrung zum Zweck satirischer Entlarvung. Ebenso verfährt Leskov, nur den Ton noch verschärfend, in „Zajaĉij remizŖ, der letzten größeren Erzählung, die, im Dezember 1894 abgeschlossen und von den Redaktionen zweier Zeitschriften als zu „gefährlichŖ zurückgewiesen wurde, in mehrfacher Hinsicht seine vollendetste Satire ist. Die „GefährlichkeitŖ des Textes, die eine Publikation erst 1917, zweiundzwanzig Jahre nach dem Tod des Verfassers, gestattete, besteht in der Kritik an Grundpfeilern des damaligen Staats: an Kirche, Polizei, Verwaltung und Justiz. Diese vierfache Kritik begegnet, wie stets bei Leskov, nie abgelöst von der Konkretheit der Gestalten und der Vorgänge. Kirchen-Kritik: Das ist die Schilderung der Amtsführung der Popen von Peregudy und des zuständigen Bezirksbischofs. Der Pope Prokop bestärkt die Gemeindemitglieder in dem Glauben, Knechte zu sein und der Obrigkeit bedingungslos gehorchen zu müssen, behauptet, es sei der letzte Wille des Gründers von Peregudy, keine Juden und Katholiken im Dorf zu dulden, und bestätigt sich als Geldverleiher, um dabei höhere Zinsen als die von ihm verachteten Juden zu fordern. Der Pope Markel, Prokops Nachfolger, fährt fort, Geld zu verleihen, und schreckt weder vor Züchtigungen noch vor Erpressungen zurück. Der Bischof schließlich zeigt mehr weltliche als kirchliche Interessen und ist weniger aus Berufung als um der Karriere willen Geistlicher. Polizei-Kritik: Das ist im Wesentlichen die Geschichte der Hauptperson der Erzählung. Onoprij Opanasoviĉ Peregud erhält durch Protektion den Posten des Dorfgendarmen, ohne im Geringsten dafür ausgebildet zu sein und irgendwelche Vorstellungen von seinem Aufgabenbereich zu besitzen, was dazu führt, dass er nach anfänglichen Erfolgen in der Verfolgung von Pferdedieben immer unfähiger wird, sein Amt angemessen zu versehen. Verwaltungs-Kritik: Das sind die Beschreibungen der Leitung des Dorfs Peregudy durch seinen Begründer, den Regimentskommandeur und Kosakenältesten Opanas Opanasoviĉ, und später, zu Zeiten Onoprij Pereguds, durch den Gouverneur. Der Begründer versteht es geschickt, die Kosaken zu seinen Leibeigenen zu machen, ihre Befreiungsversuche zu verhindern und ihnen durch die Vertreibung der Juden jegliche Hoffnung auf Beistand zu nehmen. Der Gouverneur duldet es, dass Ämter nach anderen Kriterien als denen der Eignung vergeben werden und trägt durch unklare Anweisungen zur allgemeinen Verwirrung bei. Justiz-Kritik: Das ist die Darstellung der in Peregudy praktizierten Gerichtsbarkeit, die nicht in den Händen eines Untersuchungsrichters liegt, sondern von

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dem Dorfgendarmen ausgeübt wird. Dieser pflegt seine Verhöre statt nach bürgerlichen nach geistlichen Gesetzen durchzuführen, wobei er sich auf das von der Synodaldruckerei herausgegebene Werk „Regeln, verwendbar zum Aufhellen der Wahrheit zwischen zwei Menschen, die miteinander in Streit liegenŖ stützt. Außerdem verwünscht er das neue Verfahren, das dem Angeklagten das Recht auf Verteidigung einräumt. Löst man die vierfache Kritik, die Kritik an Kirche, Polizei, Verwaltung und Justiz, von den konkreten Gestalten und Vorgängen ab, dann wird, was durchaus in der Absicht des Autors liegt, das Dorf Peregudy in seiner Verkehrtheit Ŕ ähnlich wie die „Stadt GlupovŖ in Saltykov-Ńĉedrins Chronikerzählung „Istorija odnogo gorodaŖ (Die Geschichte einer Stadt, 1869/70) Ŕ zum Symbol für Russland, genauer gesagt, für das absolutistische System Russlands. Der symbolische Bezug drängt sich aber keineswegs auf; denn der Reiz der Erzählung liegt in der Privatgeschichte Onoprij Opanasoviĉ Pereguds, die, von ihm selber in lebendigster Sprache und in teils heiterem, teils ernstem Ton erzählt, der Lebenslauf eines naiven, gutherzigen, beschränkten Menschen ist, der nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern immer von anderen, und zwar nie zu seinem Besten, gelenkt wird. Dass Onoprij Gelenkter, nicht Handelnder ist, drückt der ursprüngliche, von Leskov im Manuskript verwendete Erzählungstitel „Das Spiel mit dem TolpatschŖ (Igra s bolvanom) deutlicher aus als der in der deutschen Übersetzung verkürzte Titel „Der TolpatschŖ, deutlicher auch als der im Russischen übliche Titel „Die HasenremiseŖ. Eine so umfassende, zentrale Bereiche der zaristischen Herrschaft betreffende Staatskritik findet sich vor Leskov in der russischen Literatur lediglich bei Saltykov-Ńĉedrin (1826Ŕ1889).18 Als dieser 1889 starb, wurde der erstere aufgrund seiner Entwicklung vom humoristischen zum satirischen Erzähler auf einmal ungewollt zu dessen legitimen Nachfolger. Im Unterschied zu Leskov zeichnete Michail Saltykov, der erst späterhin seinem Familiennamen das Pseudonym Ńĉedrin hinzufügte, von Anfang an Russland als ein makabres Reich der Finsternis. Dieses düstere Bild ist tief in seiner eigenen Biographie verwurzelt. Wie Turgenev einem mittleren Gutsbesitzeradel entstammend und ebenfalls wie Turgenev unter dem Regime einer despotischen Mutter aufgewachsen, begeisterte er sich während seiner Petersburger Lyzeumsjahre für die fortschrittlichen Ideen Belinskijs und schloss sich im Alter von neunzehn Jahren dem Kreis um Michail Petrańevskij an, der sich auf der Grundlage eines utopischen Sozialismus gegen die Alleinherrschaft des Zaren und die aus dieser Herrschaft folgenden gesellschaftlichen Missstände richtete. Schon seine zweite Erzählung, „Zaputannoe deloŖ (Eine verwickelte Angelegenheit, 1848), das eigentliche literarische Debüt, nachdem die erste Erzählung, „ProtivoreĉijaŖ (Widersprüche, 1847) unbeachtet geblieben war, brachte ihn wegen des Vorwurfs der Verbreitung revolutionären, westlichen Gedankenguts eine mehrtägige Haft mit anschließender siebenjähriger Verbannung nach Vjatka ein. Ob im Dienst in der Gouvernementsverwaltung oder nach der Aufhebung der Verbannung durch eine Amnestie Aleksandr II. im Innenmi-

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nisterium, ob als Vizegouverneur in Rjazanř oder in Tverř, ob zuletzt als Vorsitzender des Kameralhofs in Penza, Tula und Rjazanř Ŕ immer übte Saltykov, lebenslang unter Aufsicht der Geheimpolizei stehend, seine jeweilige Verwaltungstätigkeit energisch im Sinne notwendiger künftiger Reformen aus, wobei er den Interessen der Bauern genauso sehr entsprach, wie er den Interessen der Grundbesitzer und der hohen Staatsbeamten widersprach. Beobachtet, angefeindet, mit dem Beinamen eines „Vize-RobespierreŖ versehen, scheiterte er in seinen Bemühungen, den „Liberalismus unmittelbar im Tempel des Antiliberalismus zu praktizierenŖ19: 1868 wurde er auf Drängen der III. Abteilung gezwungen, den Staatsdienst für immer zu quittieren. Lange vorher hatte Saltykov schon begonnen, das, was sich in der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit nicht verändern ließ, auf literarischem Weg aufzuzeigen und bloßzustellen. Dreißigjährig nach Petersburg zurückgekehrt, veröffentlichte er 1856/57 unter dem Titel „Gubernskie oĉerkiŖ (Skizzen aus dem Gouvernement) eine Reihe erzählerischer Texte, in denen er seine Beobachtungen und Erfahrungen in Vjatka zusammenfasste und auswertete. Wie Gogolř Mitte der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre in der Komödie „RevizorŖ und in dem Roman „Mertvye duńiŖ enthüllte er, nur radikaler und schonungsloser, die russische Provinz als eine von Grund auf verdorbene, geistig sowie seelisch verkümmerte Welt. In ihr herrschen Machtgier, Korruption, Bestechung, Prozesssucht, Übergriffe jeder Art. Ob Kaufleute, Beamte oder Gutsbesitzer, alle sind „Künstler der persönlichen BereicherungŖ. Die Gutsbesitzer, ausnahmslos Träumer, Heuchler und Intriganten, erscheinen als Parasiten, die die Bewirtschaftung ihrer Besitztümer grausamen Verwaltern übertragen haben. Nach Turgenevs „Zapiski ochotnikaŖ ist in Russland nie wieder eine so offene Verurteilung des Leibeigenschaftssystems erhoben worden. Auf der anderen Seite verschwieg Saltykov bei aller Sympathie für das einfache Volk keineswegs die Dummheit und Rohheit der Bauern. Mit diesen satirischen Sittenbildern (die Bezeichnung „SkizzenŖ weist auf ihre Herkunft aus der „Natürlichen SchuleŖ) hatte sich Saltykov, der hier noch unter dem Pseudonym „ŃĉedrinŖ schrieb, nicht bloß einen Namen als Schriftsteller gemacht, sondern auch die wichtigsten Mittel seiner Erzählungskunst gefunden. Dazu gehörte zuallererst die Zyklisierung der Einzeltexte. Hinzu kommen dann, und dies verbindet ihn, ebenso wie die starke Einbeziehung der Umgangssprache, insbesondere mit Leskov: die episodenhafte Auflösung der erzählten Geschichte und das wiederum auf die Poetik der „Natürlichen SchuleŖ zurückgehende Verfahren der porträtierenden Figurenzeichnung. Was Saltykov jedoch gegenüber allen russischen Satirikern seiner Zeit, von Gogolř bis zu Leskov, abhob, das ist eine durch beißenden Spott und bitteren Hohn gekennzeichnete kraftvolle Polemik20 und Unversöhnlichkeit in der Anklage der Zustände. Dahinter steht eine streng didaktische Grundhaltung, die, nicht bereit, sich mit den Gegebenheiten abzufinden, im Vertrauen auf die Macht des geschriebenen Wortes die erzählende Literatur als Instrument im Kampf gegen die Reaktion einsetzte. Ihre Fortset-

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zung fand diese Haltung in Saltykovs politischer Essayistik, und sie äußerte sich nicht zuletzt in seiner ständigen Mitarbeit in den Redaktionen der liberalen, von Nekrasov herausgegebenen Zeitschriften „SovremennikŖ und „Oteĉestvennye zapiskiŖ. Den Ruf als unvergleichlicher Schilderer der „historischen Fakten des russischen LebensŖ21, erworben nicht nur aufgrund der Rezensionen Ĉernyńevskijs und Dobroljubovs, bestätigte und verfestigte der Verfasser von „Gubernskie oĉerkiŖ im Fortgang seiner schriftstellerischen Entwicklung mit jedem weiteren Zyklus. Thematisierte Saltykov in den Erzählungszyklen der sechziger Jahre wie „Nevinnye rasskazyŖ (Unschuldige Geschichten, 1857Ŕ1863), „Satiry v prozeŖ (Satiren in Prosa, 1859Ŕ1862) oder „Priznaki vremeniŖ (Zeichen der Zeit, 1863Ŕ1871) die allgemeine Unsicherheit und Ratlosigkeit der russischen Gesellschaft angesichts der nach dem Regierungsantritt von Aleksandr II. eingeleiteten Reformen, speziell der Aufhebung der Leibeigenschaft, der Neuordnung des Justizwesens und der Gründung der Einrichtungen des „ZemstvoŖ, veranschaulichte er in den Zyklen der siebziger Jahre die wachsende Bedeutung der Wirtschaft und das Verhalten der Menschen unter der Vorherrschaft des Kapitals. In „Gospoda TańkentcyŖ (1869Ŕ1872) wird unter der Bezeichnung „Die Herren von TaschkentŖ ein Menschentypus vorgestellt, der, verkörpert durch vier Landjunker nach Art Fonvizins, den Taugenichts Persianov, den Schläger Chmylov, den Beamten Nagornov und den „genialen AutodidaktenŖ Velentřev, nur ans Geschäftemachen denkt. Dem urkapitalistischen Prinzip verpflichtet, „dass die Perle allen Schaffens das Schaffen aus dem Nichts istŖ22, scheuen die Vertreter dieses Schlags auch vor Betrügereien größten Stils keineswegs zurück. In „Blagonamerennye reĉiŖ (Wohlgesinnte Reden, 1872Ŕ1876) werden die „SäulenŖ der neuen Gesellschaft, wie sie sich in den Taschkentern ankündigten, mit dem Pächter, Händler und Herbergswirt Derunov im Mittelpunkt, vollends als Räuber, Ausbeuter und Menschenschinder entlarvt. Einig sind sie sich alle darin, dass das Volk kurzzuhalten sei: „Der Petschenege ist friedlich, solange er nichts bekommt.Ŗ23 Nicht verschont von Saltykovs satirischer Gesellschaftskritik bleiben auch die Liberalen, „WestlerŖ und „BodenständigeŖ, die sich trotz erbitterter Scheingefechte in der Überzeugung treffen, es sei am vorteilhaftesten, weder etwas zu verbieten noch etwas zu erlauben, sowie die grundbesitzenden Adligen, die durch die Befreiung der Leibeigenen ihr früheres Parasitenleben verloren haben und nun unfähig sind, sich eine eigene, zukunftsträchtige Daseinsform zu schaffen, was sie fast zwangsläufig dem unaufhaltsamen Untergang preisgibt. So gelangte Saltykov-Ńĉedrin Ŕ Zyklus um Zyklus Ŕ zu der immer gewisseren Erkenntnis, dass sich die Menschen auch bei einer grundlegenden Veränderung der äußeren Verhältnisse selber kaum noch verändern, vielmehr sich weiter im ewig gleichen, monotonen Kreislauf ihrer persönlichen Interessen bewegen. Auf dem Weg zur endgültigen Gewissheit dieser Erkenntnis bilden zwei Werke chronikalischer Struktur, „Istorija odnogo gorodaŖ (Die Geschichte einer Stadt, 1869/70)24 und „Gospoda GolovlevyŖ (Die Herren Golovlev, 1880), jeweils ei-

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nen Höhepunkt sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch im Ausdruck von Bitterkeit und Bosheit. Das letztere ist die Geschichte des Verfalls einer Adelsfamilie, das erstere die Geschichte einer Stadt in der Abfolge ihrer Oberhäupter, der sogenannten „StadthauptleuteŖ (gradonaĉalřniki). „Gospoda GolovlevyŖ schildert in Romanform sinnbildlich für den Untergang des bestehenden Systems an drei aufeinanderfolgenden Generationen, wie eine einst angesehene, ehrwürdige Familie degeneriert, indem nach und nach ihre wirtschaftliche, physische und moralische Kraft unaufhaltsam schwindet, und letztlich, durch Krankheit und Trunksucht geschwächt, im Wahnsinn endet. „Istorija odnogo gorodaŖ illustriert, ebenfalls von Degeneration handelnd, in Gestalt eines Zyklus aus Episoden, Bildern und Porträts am Beispiel von zweiundzwanzig Hauptleuten, welche Ursachen die gegebene gesellschaftliche Misere hat und weshalb sich die russische Selbstherrschaft überlebt hat. Saltykov lieferte in „Istorija odnogo gorodaŖ dem zaristischen Absolutismus die „erbittertste Schlacht in der Literatur des 19. JahrhundertsŖ.25 Sein satirischer Angriff erfolgte in zweifacher Richtung: in Bezug auf die Herrschenden und in Bezug auf die Beherrschten, die Stadtoberhäupter und die Bewohner der Stadt, einer Stadt, die Ŕ bezeichnenderweise Ŕ den Namen „GlupovŖ trägt, was im Deutschen soviel wie „DummshausenŖ heißt. Dumm sind die Dummshausener jedoch zumeist nur in politischer Hinsicht. Außerstande, ihr Geschick selber in die Hand zu nehmen, fühlen sie sich verwaist und hilflos, wenn sie einmal eine Zeitlang ohne Führung sind, obwohl sie wissen, dass sie ruhiger leben und arbeiten könnten. Geleitet von unsinnigem Legitimitätsdenken ziehen sie eine lokale Stadthauptmannstochter einer von außen kommenden „HerrscherinŖ vor, auch wenn diese mit größerer Nachsicht regieren würde. Ängstlich, immer zu servilem Gehorsam bereit, schwärzen sie Unzufriedene und sich Empörende an, in der Hoffnung, bei eigenen Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit glimpflich davonzukommen. Für die harte Kritik an den Stadtbewohnern fand Saltykov genügend Belegmaterial in der Geschichte seines Landes, und daher stehen auch die im vorangestellten „Verzeichnis der von der russländischen Regierung zu verschiedenen Zeiten über die Stadt Glupov gesetzten Stadthauptleute (1731Ŕ1826)Ŗ namentlich genannten und von 1 bis 22 durchnummerierten Herrschergestalten für bestimmte Abschnitte der geschichtlichen Entwicklung Russlands. Die zeitliche Zurückverlegung des Erzählten bedeutet nicht, dass die einen als das russische Volk und die anderen als die russischen Zaren zu verstehen sind. Allerdings finden sich mehr oder weniger direkte Anspielungen. Der Staatsrat Erast Andreeviĉ Grustilov, der sich durch „Zartgefühl und EmpfindsamkeitŖ auszeichnet und „nicht ohne Tränen Birkhähne balzen sehenŖ kann26 , erinnert, ständig weh- und schwermütig gestimmt, an Aleksandr I., dessen religiös-mystischen Neigungen die Dummshausener Gemeinschaft ebenso nacheifert wie der russische Hofadel nach 1812. Der Narr Paramońa, der unter Grustilov zum Inspektor der einheimischen Lehranstalten aufsteigt, lässt an Personen wie Michail Magnickij, den Kurator der Universität von Kazanř, oder den Grafen Dmitrij Tolstoj, den Erziehungsminister

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in der Regierung Aleksandr II., denken, Personen die dafür bekannt waren, dass sie jeden wissenschaftlichen Fortschritt zu behindern versuchten. Stehen die sechs weiblichen Stadtoberhäupter für die Herrschermanieren russischer Zarinnen von Anna bis zu Katharina, repräsentiert die Mehrzahl der männlichen Vertreter27 das militaristische Denken des Zarismus, wie es unter Aleksej Arakĉeev, dem mächtigen Günstling Aleksandr I., praktiziert und von Nikolaj I., dem „Gendarmen EuropasŖ, fortgesetzt wurde. Die historische Einkleidung der Episoden und Porträts, der Bilder und Szenen verschaffte Saltykov die Freiheit, in einer Mischung von Faktizität und Fiktion am Beispiel individualisierter Figuren typische negative Erscheinungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens seiner Zeit dem Gelächter preiszugeben. Damit das Gelächter laut genug erklang, um Empörung und Protest auszulösen, bediente sich der Autor der grellsten Mittel. Komik ins Groteske, Ironie ins Sarkastische steigernd, verfremdete, verzerrte, entstellte er immer wieder die dargestellte Wirklichkeit und trieb die Darstellung nicht selten noch über das Märchenhafte hinaus bis in die reinste Phantastik. „Was den inneren Gehalt der Chronik betrifftŖ, erläutert Saltykov einleitend in der Rolle eines „HerausgebersŖ, „so ist er überwiegend phantastisch und stellenweise sogar für unsere aufgeklärte Zeit fast unwahrscheinlich.Ŗ28 Bereits die Porträtierung des ersten der in langer chronologischer Reihung vorgestellten Stadthauptleute von Glupov, Dementij Varlamoviĉ Brudastyj, bietet dafür einen anschaulichen Beleg. Der im August 1762 eintreffende, als Heilsbringer sehnlichst erwartete neue Herrscher dämpft von Anfang an die große Vorfreude aller Einwohner und lässt ihre Begeisterung bald in Furcht und Entsetzen umschlagen. Hatte er schon beim Überschreiten der Grenzen des Distrikts eine Vielzahl von Fuhrleuten auspeitschen lassen, zieht er sich, im Ort angekommen, sofort in sein Amtszimmer zurück und schreibt, ohne zu essen und zu trinken, Zwangserlass um Zwangserlass. Pausenlos Polizeistreifen, Polizeirevierchefs, Polizeidiener und Gerichtsbeisitzer beschäftigend, setzt er eine unerhörte Betriebsamkeit in Gang und verändert die Atmosphäre der gesamten Stadt. Schauerliche Gerüchte entstehen (ob der neue Stadthauptmann vielleicht gar kein Stadthauptmann sei, sondern ein Werwolf, der nachts in Gestalt eines Vampirs den schlafenden Ortsbewohnern das Blut aussaugt), und sie steigern sich noch ins Grenzenlose, als allgemein bekannt wird, dass der Uhrmachermeister und Orgelbauer Bajbakov regelmäßig den Stadthauptmann heimlich aufsucht und einmal sogar Ŕ nach zuverlässiger Aussage eines glaubwürdigen Zeugen Ŕ die Wohnung Brudastyjs mit einem in ein Tuch eingewickelten Gegenstand unter seinem Arm verlassen hat. Die Auflösung des Geheimnisses erfolgt durch Bajbakov, der von Brudastyjs Schriftführer dazu gezwungen wird, nachdem dieser eines Morgens beim Eintreten ins Amtszimmer entsetzt gesehen hat, wie der Körper des Hauptmanns, mit einer Uniform bekleidet, an seinem Schreibtisch sitzt und vor ihm auf einem Stapel Steuerrückstandslisten als prächtiger Briefbeschwerer dessen völlig leerer Kopf liegt: Das Oberhaupt der Stadt, so gibt der Uhrmachermeister zu Protokoll, habe ihn eines Tages zu sich gerufen und ihn gebeten, seinen beschädig-

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ten Kopf zu reparieren. Bei der genaueren Untersuchung in der Werkstatt habe er dann festgestellt, dass sich in einer Ecke des Hirnkastens eine kleine Spieldose befand. Auf der Walze dieser Apparatur, die nur zwei Weisen spielen konnte, nämlich „Ich werde euch zerschmettern!Ŗ und „Das lasse ich mir nicht bieten!Ŗ29, seien einige Zapfen gelockert und andere ganz herausgefallen gewesen. Zu vollständiger Reparatur außerstande, habe er vorgeschlagen, in Sankt Petersburg einen neuen Kopf zu bestellen. Ungeduldig erwartet, trifft dieser, obwohl bald angefertigt und rechtzeitig abgesandt, lange nicht in Glupov ein; denn die Beförderung mit dem Postwagen wird einem „jungen Burschen anvertraut, der in Spieldosenangelegenheiten gänzlich unbewandertŖ ist.30 Als der sprechende Kopf, der dem eingeschlummerten Postwagenfahrer unterwegs in die Wade beißt, endlich am Zielort ankommt, sitzt er, „völlig neu und zudem noch lackiertŖ, auf dem Körper eines anderen Stadthauptmanns, nicht auf dem des allen bekannten, gerade aus dem Wagen des Polizeichefs gestiegenen Dementij Varlamoviĉ Brudastyj. Einigen „scharfsinnigen BürgernŖ fällt zu ihrer größten Überraschung sogleich auch auf, „dass das große Muttermal, das der Stadthauptmann wenige Tage vorher auf der rechten Wange getragen hatte, sich jetzt plötzlich auf der linken befandŖ.31 Mit dem ebenso unerwarteten wie unerklärlichen Erscheinen des Doppelgängers sehen sich die glupovcy auf einmal mit zwei „UsurpatorenŖ konfrontiert. Das erklärt, weshalb sie, ehe sie langsam und schweigend auseinandergehen, so sehr vor Schreck erstarren wie die Beamten in Gogolřs „RevizorŖ, als ihnen gemeldet wird, der echte Revisor sei eingetroffen. Nur mittels grotesker Komik schien es Saltykov noch möglich, das ganze Ausmaß der zaristischen Willkürherrschaft und ihrer katastrophalen Auswirkungen auf den Lebensalltag der russischen Bevölkerung sichtbar zu machen. Wenn er einen Herrscher wie Brudastyj porträtiert, bei dem eine Spieldose den Platz des Gehirns einnimmt und diese „merkwürdige EinrichtungŖ32 zur Ausführung seiner Macht genügt, dann ist ein solcher Einfall bei aller Skurrilität und Unterhaltsamkeit eine denkbar bitterste Anklage gegen die Geistlosigkeit und Unmenschlichkeit eines Verwaltungsapparats, wie er als Folge eines autoritären Regimes seit Jahrhunderten in Russland bestand und selbst im Zeitalter der Reformen keine entscheidende Veränderung erfuhr. Saltykov zeigt: Es ist dieser Apparat, der Korruption und Bestechung, Unterschlagung und Begünstigung, Überwachung und Aggressivität wie Ähnliches nicht nur duldet, sondern auch fördert. Es sind vor allem Gewaltakte jeglicher Art, die seine Schilderungen durchziehen und schon in den vorangestellten Kurzporträts33 der verschiedenen Stadthauptleute als kennzeichnendes Element hervorgehoben werden. Da ist der Major Perechvat-Zalichvatskij, der „auf einem weißen RossŖ nach Glupov geritten kam, „das Gymnasium niederbrannte und die Wissenschaften abschaffteŖ. Da ist Ugrjum-Burĉeev, ein ehemaliger Halunke: „Er zerstörte die alte Stadt und errichtete an anderer Stelle eine neue.Ŗ Da ist Ivan Matveeviĉ Velikanov, ein Riese, wie sein Name sagt, der den Einwohnern „zu seinen Gunsten eine Abgabe von drei Kopeken pro KopfŖ auferlegte, „nachdem er vorher den Ökonomiedirektor im Fluss hatte er-

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tränken lassenŖ. „Dazu ließ er viele Kreispolizeichefs bis aufs Blut schlagen.Ŗ Und da ist Vasilisk Semenoviĉ Borodavkin mit seiner „längsten und glänzendsten StadthauptmannsherrschaftŖ: „Im Feldzug gegen die Steuerrückständigen führte er den Oberbefehl, wobei er dreiunddreißig Dörfer niederbrannte und durch diese Maßnahme einen Steuerrückstand von zwei und einem halben Rubel eintrieb.Ŗ Zu Saltykovs satirischem Gesamtbild einer russischen Stadt, die den Zustand Russlands in seiner ganzen Unsicherheit und Widersprüchlichkeit spiegelt, gehört, dass sehr oft auch die Gewalttäter zu Opfern von Gewalt werden. So wird Velikanov, unter der „mildenŖ Zarin Elisaveta einer Liebschaft mit Avdotřja Lopuchina34 überführt, „ausgepeitscht und, nachdem man ihm die Zunge abgeschnitten hatte, in das Gefängnis von Ĉerdynř geworfenŖ. Ein anderer, Amadej Manujloviĉ Klementij, vom Herzog von Kurland „wegen seiner Kunst in der MakkaronizubereitungŖ aus Italien geholt, wird 1734, des Verrats angeklagt, ebenfalls „ausgepeitscht und, nachdem man ihm die Nasenflügel herausgerissen hat, nach Berezov verbanntŖ. Stirbt der Brigadegeneral Ferduńĉenko, einst ein Bursche des Fürsten Potemkin, ein Mann von nicht allzu großem Verstand, der gern Schweinefleisch und Gans mit Kohl isst, an „überladenem MagenŖ, wird Lamvrokakis, ein griechischer Flüchtling ohne Vor- und Vatersnamen und sogar ohne einen Rang, ein Verfechter der klassischen Bildung, der mit Seifen, Badeschwämmen und Nüssen handelt, 1756, „völlig von Wanzen zerfressen, in seinem Bett aufgefundenŖ, während der 2,27 Meter große Brigadegeneral Ivan Matveeviĉ Baklan, der sich damit brüstet, in gerader Linie vom Großen Ivan, dem berühmten Moskauer Glockenturm abzustammen, im Verlauf eines heftigen Sturms 1761 „in zwei Hälften zerbrochenŖ wird. Benutzt Saltykov in diesen Fällen, um der Schärfe willen, das Stilmittel der Groteske, vollzieht er in anderen Fällen, ohne damit seinen Spott abzumildern, die Wendung ins Märchenhaft-Phantastische. So wird vom Marquis de Sanglot, einem gebürtigen Franzosen und Freund Diderots, der sich durch Leichtsinn und eine Vorliebe für unanständige Lieder auszeichnet, gesagt, „er flog im Stadtpark durch die Luft und wäre fast ganz weggeflogen, wenn er nicht mit seinen Rockschößen an der Turmspitze hängengeblieben und von dort mit der größten Mühe heruntergeholt worden wäreŖ. In beiden Fällen bestätigt sich Turgenevs Feststellung in einer Besprechung von „Istorija odnogo gorodaŖ (für die englische Zeitschrift ŖThe Academyŗ im Jahre 1871), dass der Verfasser von den beiden Formen der Satire, entweder die Wirklichkeit zu entstellen oder das Wesentliche herauszugreifen und durch Übertreibung besonders markant in Erscheinung treten zu lassen, die zweite Möglichkeit gewählt und für die russische Literatur entwickelt habe.35 Turgenev sah darin die spezifische Leistung Saltykovs und bescheinigte ihm aufgrund seiner „ernsten und grausigen KomikŖ und seinem bei aller ausufernden Phantasie klaren und nüchternen Realismus die satirischen Qualitäten eines Juvenal oder Jonathan Swift. Mit Saltykov-Ńĉedrin hatte die Satire in Russland seit Nikolaj Gogolř zum erstenmal wieder weltliterarisches Niveau erreicht. Anfang der achtziger Jahre be-

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gann der „unvergleichliche Chronist der ZeitŖ36, der Erfinder der zyklischen Form satirischen Erzählens und Meister in der Beherrschung der phantastischen Groteske als Mittel erbarmungsloser Entlarvung einer unmenschlichen Gesellschaftsordnung, „schrecklich müdeŖ zu werden, wie er im Frühjahr 1882 an Turgenev schrieb.37 Erschöpft von den Anfeindungen durch die Repräsentanten und Befürworter des herrschenden Systems und geschwächt von den nachlassenden Kräften als Folge der 1875 hervortretenden schweren Erkrankung, ließ Saltykov, getragen von innerer Kraft, großer Disziplin und tiefem Glauben an die Wirkungsmacht engagierter Literatur, auch jetzt nicht davon ab, durch anprangernde, aufrüttelnde und bewusstseinsverändernde Texte die selbstgesetzte Aufgabe seines Lebens zu erfüllen: der „Staatsanwalt des öffentlichen russischen LebensŖ und der „Verteidiger Russlands gegen seine inneren FeindeŖ zu sein.38 Unter dem Druck der Verschärfung von Zensur und von individueller Überwachung in den Jahren nach 1882 sah sich Saltykov allerdings zu noch stärkerer Verschlüsselung als der von historischer Einkleidung wie in „Istorija odnogo gorodaŖ gezwungen. Was sich dort als ein Element unter anderen findet, das Märchenhafte, kehrt in einer Sammlung von 32 Texten, deren Großteil zwischen 1882 und 1886 entstand, zu einer eigenen Gattungsform verselbständigt wieder: den „MärchenŖ (Skazki)39. An eine lange russische Tradition anknüpfend, die im Rahmen der Volksdichtung beginnt und ihren letzten Gipfelpunkt in der Romantik, bei Puńkin und Odoevskij, erreichte, gab Saltykov der tradierten Form, die Möglichkeiten der äsopischen Sprache und der Verlagerung von Handlung und Figuren in außermenschliche Bereiche nutzend, eine in solcher Deutlichkeit noch nie dagewesene Wendung ins Politische. So konnte er, wie immer schon, nur weitaus schärfer, seinen satirischen Angriff gleichzeitig in drei Richtungen führen: gegen die eigentlichen Machthaber, gegen die Unterstützer und Nutznießer des bestehenden Regimes und gegen das Volk in seiner an Dummheit grenzenden Duldsamkeit. Mit dem Märchen hatte Saltykov Ŕ wie Lev Tolstoj mit seinen „VolkserzählungenŖ40 Ŕ eine literarische Ausdrucksform gefunden, die auch den einfachsten Menschen verständlich war. Das erhöhte für einen Autor, der im Unterschied zu dem Grafen in Jasnaja Poljana, über eine echte revolutionäre Gesinnung verfügte, die Chance, dem russischen Volk die Botschaft zu vermitteln, sich nicht mehr mit den gegebenen Umständen als etwas Gottgegebenes abzufinden, sondern sich zu erheben und aufzubegehren. Die bekannte, den Märchenzyklus einleitende „Geschichte, wie ein Bauer zwei Generäle ernährteŖ (Povestř o tom, kak odin muņik dvuch generalov prokormil)41 illustriert auf eindrückliche Weise sowohl die einfältige Demut als auch die schlafende Kraft, die nach Saltykovs Überzeugung im eigenen Volk steckt. Zugleich aber suggeriert der Schluss, ohne schopenhauerischen Pessimismus zu beschwören, die Ferne zu der Zeit der Selbstbefreiung. Nachdem der Bauer die beiden Registraturgeneräle, die auf einer unbewohnten Insel, zu keinerlei nützlichen Tätigkeit fähig, verhungert wären, durch seiner Hände Arbeit vor dem Tod gerettet, übers Meer gerudert, dabei mit Heringen gefüt-

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tert und schließlich sicher in Petersburg abgesetzt hat, heißt es: „Die Köchinnen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, als sie ihre Generäle so rund und glatt, so vergnügt und satt ankommen sahen! Die Generäle aber tranken erst einmal gehörig Kaffee und aßen Milchbrötchen, soviel sie nur konnten. Dann zogen sie ihre Uniformen an und fuhren zum Finanzamt, und was sie dort für Gelder scheffelten Ŕ die Zunge stockt, die Feder sträubt sich! Doch auch den Bauern vergaßen sie keineswegs, oh nein! Sie sandten ihm ein Gläschen Schnaps und einen Silberdreier: ‚Tu dirřs mal an, du Rüpel!Ř Ŗ42 Ehe Saltykov-Ńĉedrin mit „Pońechonskaja starinaŖ (Das alte Poschechonien), der Chronikerzählung des Landadligen Nikanor Zatrapeznyj, die noch einmal in die Zeiten der Leibeigenschaft zurückführt, zwischen 1887 und 1889 sein letztes Werk schuf und in ihm die sittliche Überlegenheit des einfachen Menschentums beschwor, hatte er mit seinem Märchenzyklus schon eine „Summe seines SchaffensŖ43 gezogen. Alle wesentlichen Themen, Motive und Kunstgriffe wie in einem Mikrokosmos versammelnd, war er in diesem Zyklus wie noch nie zuvor über die Darstellung der russischen Verhältnisse hinaus ins Exemplarische und Allgemeingültige vorgedrungen. Selbst wenn der „Statthalter BärŖ deutlich auf Aleksandr III. weist, so wie der „LöweŖ und der „EselŖ auf den Vertrauten des Zaren, den Oberprokurator Pobedonoscev, mit den handelnden Tieren jedoch, dem „BärenŖ als Regenten, dem „AdlerŖ als Mäzen oder der „idealistischen KarauscheŖ, die so lange von Tugend und Gerechtigkeit redet, bis der „HechtŖ sie auffrisst, sind zugleich auch Menschheitstypen gemeint. Sogar die Geschichte von den beiden Generälen, die der Bauer vor dem Hungertod rettet, reflektiert Grundsätzliches: die Hilflosigkeit der „GebildetenŖ gegenüber den praktischen Dingen des Alltags, die Angewohnheit, empfangene Wohltaten sofort wieder zu vergessen, die Überzeugung, dass der Knecht für den Herrn da ist und dankbar sein muss, für ihn arbeiten zu dürfen. So stellt sich die Frage, ob für alle diese negativen Erscheinungen, die Saltykov schildert, tatsächlich nur die sozialen Bedingungen in Russland verantwortlich waren. Letztlich gewinnt der Verfasser der Chronik „Istorija odnogo gorodaŖ, des Romans „Gospoda GolovlevyŖ oder des Zyklus „SkazkiŖ seine Größe als Satiriker von Swiftschem Niveau erst dadurch, dass sein Protest humanistischer Natur ist und jeder Art von Willkür, Gewalt, Unterdrückung und Missachtung des Menschen gilt. XI. Aufbruch in die Moderne Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre trat kurz vor dem literarischen Debut Anton Ĉechovs, des größten russischen Schriftstellers an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ein junger hochtalentierter Novellist hervor, der ähnlich wie einige Vertreter der Volkstümlerprosa, etwa Fedor Reńetnikov (1841Ŕ1871), Gleb Uspenskij (1843Ŕ1902) und Nikolaj Zlatovratskij (1845Ŕ1911), anfänglich noch von Saltykov-Ńĉedrin im Rahmen seiner Tätigkeit als Kritiker und Zeitschriftenredakteur gefördert worden war: Vsevolod Garńin (1855Ŕ1888). Obwohl dieser, von einem politisch engagierten, sozial und fortschrittlich gesinnten Hauslehrer1,

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erzogen, die Entwicklungen und Ereignisse seiner Zeit aufmerksam verfolgte, in seiner ersten Erzählung, „Podlinnaja istorija Ėnskogo zemskogo sobranijaŖ (Die wahre Geschichte einer Zemstvo-Versammlung in N., 1876), ein äußerst negatives Bild von der Praxis des Zemstvo entwarf, war sein Erzählstil im Unterschied zu manchen der schreibenden „VolkstümlerŖ (narodniki) nicht an dem dumpfen Realismus und der bissigen Schärfe der Satire Saltykovs geschult. So viel Wert Garńin auch auf das ästhetische Urteil des Verfassers von „Istorija odnogo gorodaŖ und anderen Erzählungszyklen legte, in seiner Schreibweise ging er bei aller Wirklichkeitsnähe wiederholt über die Grenzen der realistischen Schule hinaus und nahm, wie vor ihm nur noch der junge Dostoevskij, ansatzweise Themen und Verfahren der literarischen Moderne vorweg. Deutlich äußert sich dies erstmals in „Ĉetyre dnjaŖ (Vier Tage). Erschienen 1877, ein Jahr also nach der Veröffentlichung der Erzählung „Podlinnaja istorija Ėnskogo zemskogo sobranijaŖ, die durch ihr Interesse an den Zuständen in der russischen Provinz vom Inhalt her noch mit Saltykov verbunden ist, bedeutete dieser knappe, wenige Seiten umfassende Text in einer Zeit der Dominanz großer Epik eine Ŕ Ĉechov ankündigende Ŕ Wendung zur kurzen Form. Turgenev bescheinigte Garńin nach der Lektüre von „Ĉetyre dnjaŖ ein „unbestreitbares eigenständiges TalentŖ und sicherte ihm nach seiner Kenntnis weiterer Werke „endgültig den ersten Platz unter den beginnenden jungen SchriftstellernŖ zu.2 „Ĉetyre dnjaŖ, niedergeschrieben, als Garńin, der sich freiwillig zur aktiven Teilnahme am Russisch-türkischen Krieg gemeldet hatte, verwundet im Lazarett lag, handelt von einem russischen Soldaten, der, schwer verletzt, bis zu seiner Entdeckung und Rettung vier Tage lang neben einem von ihm getöteten, langsam verwesenden Türken liegt. Das eigentlich Neue besteht nicht in der authentischen Darstellung des Kriegs als eine Folge realistisch wiedergegebener Kampfhandlungen („Mit einem Hieb schlug ich ihm das Gewehr aus der Hand und stach mit dem Bajonett irgendwohinŖ)3 oder als Evokation entsetzenerregender Erlebnisse wie die Wahrnehmung des Leichnams, der sich unter der sengenden Sonne nach und nach aufzulösen beginnt: „Ja, er sah entsetzlich aus. Seine Haare begannen auszufallen. Seine Haut, dunkel von Natur, wurde blass und gelb; sein aufgedunsenes Gesicht zog sich so sehr zusammen, dass die Haut hinter dem Ohr platzte. Dort wimmelte es von Würmern.Ŗ4 So, ungeschönt, entromantisiert und erschütternd, hatte schon Lev Tolstoj, zuerst in den Kaukasus- und Sevastopoler Erzählungen, danach in „Vojna i mirŖ, den Krieg vor Augen geführt. Worin sich Garńin jetzt Ŕ auf dem Weg in die Moderne Ŕ von seinem großen Vorläufer unterscheidet, das ist die verstärkte Verlagerung des Schwergewichts vom Stoff auf den Stil, von der Thematik auf die Form, von der äußeren auf die innere Handlung. Es gibt bei ihm nur noch ein Minimum an Ereignishaftigkeit. Darin geht er weit über Turgenev hinaus, der ihn nicht zufällig als einen seiner unmittelbaren „NachfolgerŖ5 empfand. An die Stelle der äußeren Handlung tritt in „Ĉetyre dnjaŖ, unterstützt durch die Ichform des Erzählens, die Bewegung des Bewusstseins. Im Kontrast dazu

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steht die körperliche Bewegungslosigkeit des selbst erzählenden Helden, der, aus der Ohnmacht erwachend, sich seiner Situation zu vergewissern versucht und feststellt, dass er, am Bein verwundet, allein und völlig hilflos ist, in der brennenden Sonne unweigerlich dem Tod ausgeliefert. In der Gewissheit des Sterbenmüssens beschließt er, sich mit seinem Schicksal abzufinden und ruhig liegenzubleiben, doch gegen seinen Willen fängt er an nachzudenken, zu reflektieren, sich zu erinnern, Bilder zu entwerfen. „Wie schön wäre esŖ, wünscht er sich, „wenn man die Arbeit des Gehirns abstellen könnte; aber man kann sie nicht aufhalten.Ŗ6 Die Arbeit seines Gehirns erfährt im Gegenteil noch eine Steigerung und Intensivierung, als er neben sich den eigenhändig erstochenen Fellachen entdeckt, dessen Anblick ihn zu solch quälenden Fragen provoziert wie „Weshalb habe ich ihn getötet?Ŗ, „Worin besteht seine Schuld?Ŗ oder „Und bin ich schuldig, selbst wenn ich ihn getötet habe. Wodurch bin ich denn schuldig geworden?Ŗ7 Die Frage nach der persönlichen Schuld löst dann weitere Fragen allgemeiner und grundsätzlicher Art aus: „Und habe ich, abgesehen von diesem Mord, irgendetwas getan, was für die Kriegsziele nützlich ist? Mord, Mörder... Wer denn? Ich!Ŗ8 In der Form Dostoevskijscher Bewusstseinsdarstellung Ŕ die Erzählung ist ein einziger langer innerer Monolog Ŕ enthüllt sich Garńin als Moralist Tolstojscher Provenienz, zugleich jedoch erweist er sich auch als moderner Existentialist. Seinem Helden, der physisch völlig erschöpft, von beißendem Wundschmerz gepeinigt, von Leichengeruch sowie Leichenverfall angeekelt auf das scheinbar unvermeidliche Ende wartet, das sogar schon die Sträucher ringsherum raschelnd und flüsternd verkünden („Du wirst sterben, sterben, sterbenŖ)9, bleibt nur noch der Rückgang auf das eigene Innere, den letzten, von Kierkegaard als „ExistenzŖ bezeichneten innersten Kern des Menschen. In jener Lage, der das erzählende, mit der persönlichen Existenzerfahrung des Verfassers ausgestattete Ich äußerlich wie innerlich scheinbar rettungslos ausgeliefert ist, entsteht unweigerlich Angst und Verzweiflung. Beide Zustände erwägt der Erzähler-Held in der Möglichkeit des Freitods zu überwinden („Warten bis die Türken kommen und beginnen, mir die Haut von den verwundeten Beinen abzuziehen? Nein, besser schon selber...Ŗ)10, verwirft den erwogenen Fluchtgedanken jedoch umgehend: „Nein, man soll den Mut nicht sinken lassen; ich werde bis zum Ende aushalten, bis meine letzten Kräfte erschöpft sind.Ŗ11 Auch wenn Garńins Held, nicht ahnend, dass die Rettung unmittelbar bevorsteht, am Ende verdurstend den Kampf aufgibt („Tod, wo bist du? Komm, komm! Nimm mich!Ŗ)12, bekundet sich in seinem Entschluss zum Widerstand eine an Albert Camus erinnernde Einstellung. In der Erfahrung der Angst und der Verzweiflung und im Aushalten der Extreme verwirklicht sich für das Individuum die Eigentlichkeit seiner Existenz. Dabei macht es im gegebenen Fall eine völlig neue Zeiterfahrung, das Erlebnis der Wiederkehr des Immergleichen: „Es vergeht der Tag, es vergeht die Nacht. Es ist immer dasselbe. Es wird Morgen. Es ist immer dasselbe. Es vergeht noch ein Tag.Ŗ13 Das viertägige hilflose Liegen des schwerverletzten „IchŖ zwischen den Sträuchern bei Vsevolod Garńin weist voraus auf das Warten von Becketts dramatis personae unter

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einem Baum an einer Landstraße „am AbendŖ und „am nächsten Tag um dieselbe ZeitŖ14, fünfundsiebzig Jahre später. Die Modernität von „Ĉetyre dnjaŖ äußert sich auch im Umgang mit der Gattungsform. Insofern diese Erzählung ein Ereignis berichtet, besitzt sie einen typisch novellistischen Charakter. Da sich das berichtete Ereignis jedoch auf eine Situation beschränkt, nähert sich die Novelle hier zugleich der Kurzgeschichte. Dies bestätigt sich auch darin, dass die der Novelle eigene plastische Figurenzeichnung und sorgfältige Handlungsmotivierung ebenso zurückgenommen sind wie die präzise Bestimmung von Zeit und Raum und die Folgerichtigkeit des inneren Geschehens. Stattdessen wird alles überlagert durch Bewusstseinsströme und Denkprozesse, die sich ineinander und übereinander schieben. Nicht weniger charakteristisch für die Kurzgeschichte, wie sie sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Namen short story vornehmlich vom angelsächsischen Bereich her ausbildete, ist in „Ĉetyre dnjaŖ die Auffassung und Darstellung der Situation als zeitliche und räumliche Begrenzung, als etwas Übergängliches: als ein Zwischen. Das ergibt sich in vorliegendem Fall aus der Tatsache, dass der dargestellte Held ein Soldat ist und zudem noch verwundet wird. Dieser äußeren Situation, von einem Theoretiker der Kurzgeschichte gattungskennzeichnend als „ZwischenzeitŖ und „ZwischenlandŖ benannt15, entspricht die totale Isolierung der Person und die sich damit ergebende weitestgehende Verengung der Welt: „Einige Grashalme, eine Ameise, die an einem von ihnen hinunterkriecht und einige trockene Büschel vorjährigen Grases Ŕ das ist meine Welt.Ŗ16 Dergestalt auf sich selbst zurückgeworfen, befindet sich das zwischen Wachheit und Bewusstseinstrübung monologisierende Ich in einem extremen Ausnahmezustand, der, ins Existentialistische vertieft, zu einer „GrenzsituationŖ im Sinne der Begrifflichkeit Karl Jaspers wird, und zwar der denkbar äußersten: der unmittelbaren Todesnähe. Garńin wurde zu Recht als ein „Dichter der GrenzsituationenŖ17 bezeichnet. Von exemplarischer Bedeutung ist in dieser Hinsicht neben den „Ĉetyre dnjaŖ thematisch weiterführenden Kriegserzählungen wie „TrusŖ (Der Feigling, 1879), „Denńĉik i oficerŖ (Bursche und Offizier), 1880) oder „Iz vospominanij rjadovogo IvanovaŖ (Aus den Erinnerungen des Soldaten Ivanov, 1883) vor allem das novellistische Meisterwerk „Krasnyj cvetokŖ (Die rote Blume, 1883). Was dort die Konfrontation mit dem Tod ist, ist hier die Verrückung des Geistes, die Versetzung des Menschen in den Zustand des Wahnsinns. Im Unterschied zu Gogolřs „Zapiski sumasńedńegoŖ wird der Protagonist nicht auf dem Weg einer wachsenden Verstörung gezeigt, der sich bis ins Schriftbild seiner Aufzeichnungen widerspiegelt. Wir erleben ihn vielmehr von Anfang an als Insassen einer Irrenanstalt, der gerade nach einem heftigen Tobsuchtsanfall, in eine Zwangsjacke gezwängt, mit entzündeten, weit aufgerissenen Augen und krampfhaft zuckender Unterlippe eingeliefert worden ist. Nach seelenloser Behandlung fast besinnungslos in todesähnlichen Schlaf versinkend, wird er sich Ŕ wie der Verwundete in „Ĉetyre dnjaŖ Ŕ erwachend allmählich seiner Lage bewusst. Er weiß, dass er krank ist. Er

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begreift, dass um ihn herum lauter Kranke sind, zugleich aber sieht er in jedem von ihnen eine Person, die er gekannt oder von der er gehört oder gelesen hat, glaubt, das Krankenhaus sei von Menschen aller Zeiten und aller Länder bevölkert. Als der schizophrene Held dann bei seinem ersten Spaziergang im Anstaltsgarten unter den zahlreichen Pflanzen zwei grellrot leuchtende Mohnblumen entdeckt, ist er fasziniert und beunruhigt in einem. Wissend, dass aus Mohn Opium hergestellt wird, kommt er auf den Gedanken, alles Böse der Welt sei in diesen Blumen versammelt, und sein verwirrter Geist steigert sich zu der fixen Idee, die beiden Blüten zu pflücken, um damit ihre Kraft zu zerstören und die Menschheit vor der Macht des Bösen zu bewahren. Das Vorhaben gelingt trotz schärfster Aufmerksamkeit der Wärter, und es gelingt auch im Fall einer inzwischen nachgewachsenen dritten Blüte, allerdings erst mittels eines Täuschungsmanövers, das selbst von einem gesunden Hirn nicht hätte besser ausgedacht und ausgeführt werden können: Der vom Erlösungswahn Getriebene, dem seine bisherigen Verstöße gegen die Ordnung als „HeldentatŖ18 erschienen waren, lässt sich jetzt am Tag freiwillig fesseln, befreit sich in der Nacht mit größter Geschicklichkeit aus der Zwangsjacke, klettert, sich die Glieder blutigschürfend, über die Gartenmauer und steht, endlich vor der gesuchten „Blume mit ihrem noch geschlossenen KöpfchenŖ. „ ,Die letzte!ř flüsterte der Patient. ‚Die letzte. Heute gilt es, Sieg oder Tod.řŖ19 Als er die Pflanze herausgerissen, zerpflückt und zerdrückt hat, kehrt er auf demselben Weg in sein Zimmer zurück und bricht, durch die Kraftanstrengung total erschöpft, bewusstlos zusammen. Am nächsten Morgen findet man ihn tot im Bett liegend. Seine ausgemergelten Gesichtszüge mit den tief eingefallenen, geschlossenen Augen aber drücken ein „großes stolzes GlückŖ aus. Die erstarrte Hand, in der sich die rote Blume befindet, lässt sich nicht mehr öffnen, „und so nahm er seine Trophäe mit ins GrabŖ.20 Noch das Schlussbild, die triumphierende Geste der zur Faust geballten Hand, demonstriert, dass der Verstorbene bis zum letzten Augenblick seines Daseins eine Kämpfernatur ist. Einer feindlichen Umgebung ausgeliefert, realisiert er unter Einsatz des eigenen Lebens seine Vision von der Ausrottung des Bösen. Wie viele Helden Garńins, zum Beispiel der nach dem Sinn des Kriegs fragende Soldat in „Ĉetyre dnjaŖ oder der nach dem Sinn der Kunst fragende Maler Rjabinin in „ChudoņnikiŖ (Die Künstler, 1879), leistet er erbittert Widerstand. Aber genau wie diese kann auch er nicht siegen. Zwar stirbt er glücklich, im Bewusstsein eines vermeintlichen Sieges. Doch so wie weitere Mohnblumen im Anstaltsgarten erst im Keim vorhanden und damit noch nicht sichtbar sind, ist das durch sie verkörperte Böse keineswegs endgültig getilgt. Es ist vielmehr, unausrottbar, der Welt immanent. Die Analogie von Blume und Bösem liegt trotz des Bezugs von Rot und Blut sowie von Mohn und Droge nicht auf der Hand. Der Abstand zwischen Realia und Realiora ist hier sogar beträchtlich. Die Ausdehnung solchen Abstands setzt bei Baudelaire ein und kann sich bei Mallarmé bis zur Unüberbrückbarkeit stei-

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gern. Das dichterische Symbol beginnt seitdem autark zu werden. Garńin, einer der ersten russischen Schriftsteller, der der französischen Entwicklung folgt und zum Vorläufer des Symbolismus21 in Russland wird, bemüht sich, aus der Tradition kommend, noch um eine glaubwürdige Motivierung der Idee. Er lässt die kühne Gedankenassoziation, die später bei Andrej Belyj, „zerebrales SpielŖ genannt, keiner Begründung mehr bedarf, der Wahnwelt eines Irren entspringen. Gleichzeitig aber macht er über die Erzählerfunktion deutlich, dass das, was sich dieser Irre vorstellt, kein Hirngespinst ist, sondern sich als Wahrheit über die Welt an sich und über Russland im Besonderen erweist. Empört und verzweifelt angesichts der Existenz des Bösen, das weder von der Botschaft noch dem Opfertod Christi aus der Welt geschafft werden konnte, erhebt sich der Kranke selber zum Erlöser22 und ist bis zur Selbstaufopferung bereit, dem Wohl der Menschheit zu dienen. Zugleich repräsentiert er das verdrängte schlechte Gewissen der Gesunden, in deren Gemeinschaft er wahnsinnig geworden ist.23 Andererseits ist es jedoch erst der Wahnsinn, der hier zur Revolte führt und die revolutionäre Tat ermöglicht. Saltykov-Ńĉedrin hatte das menschlich und gesellschaftlich Böse mit den Mitteln der Groteske und der Phantastik gebrandmarkt. Garńin verzichtet auf die Verfremdungstechniken des Satirikers und hält sich an das Prinzip der Naturtreue, erreicht seine unverwechselbare künstlerische Eigenart aber dadurch, dass er die betont realistische Darstellung immer auch symbolisch überhöht. So ist der zentrale Raum der Erzählung, das Zimmer mit den Wannen, in das der eingelieferte Held als erstes geführt wird, aufs Sorgfältigste und Genaueste bis in zahlreiche Einzelheiten hinein beschrieben. Der nur durch ein kleines Eckfenster erleuchtete Raum hat ein hohes Gewölbe, der steinerne Fußboden ist glitschig, die Wände und Wölbungen sind mit dunkelroter Farbe angestrichen. Die Ausstattung des Raums beschränkt sich auf zwei ovale steinerne Wannen, die in den vom Schmutz schwarzen Fußboden eingelassen sind, einen riesigen kupfernen Ofen mit einem zylinderförmigen Kessel und einem ganzen System von kupfernen Röhren und Hähnen. In diesem Raum agieren, außer dem Aufseher, einem dicken, schweigenden Ukrainer mit finsterem Gesichtsausdruck, vier Wärter, die den Helden gegen seinen verzweifelten Widerstand entkleiden, an Armen und Beinen packen und ins warme, ihm kochend heiß erscheinende Wasser tauchen, in dem er, Wasser schluckend, krampfhaft mit den Armen wedelnd und den Beinen strampelnd, festgehalten wird, bis man den fast Bewusstlosen aus dem Wasser hebt, auf einen Hocker setzt und ein Pflaster auflegt, das dann ein Soldat samt der oberen Hautschicht wieder abreißt, so dass eine entblößte, rote wunde Stelle zurückbleibt. Es sind gerade die vielen Einzelheiten, die über sich hinausweisen und hinter dem Realismus der Beschreibung eine tiefere Ebene erschließen. Dazu tragen entscheidend die wertenden und kommentierenden Aussagen des Erzählers bei, der die Wannen mit „GrubenŖ vergleicht, den Raum, in dem sich die Wannen befinden, ein „schreckliches ZimmerŖ nennt, das ein „düsteres und phantastisches GeprägeŖ aufweise, und zusammenfassend feststellt: „Schon auf einen gesunden Men-

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schen wirkte es bedrückend, wieviel beklemmender musste es erst auf die Phantasie eines Menschen mit so zerrütteten, erregten Nerven wirken.Ŗ24 Noch deutlicher als der Erzähler wird der Betroffene selber, der mit seinem „verrückten HirnŖ die Situation klar erfasst und scharfsichtig auf den Begriff bringt. „Was soll das? Ist das eine Inquisition? Ein Ort heimlicher Hinrichtung?Ŗ fragt er sich und gelangt am Ende zu der Vermutung „Vielleicht ist es sogar die Hölle selbst?Ŗ25 Der Detailrealismus evoziert die Vorstellung einer Schreckenskammer. Die Wärter, die dem Helden der Erzählung nach der Heilmethode des Chefarztes eine Spanische Fliege auf den Nacken setzen, sind nichts anderes als Folterknechte, und die Ärzte, die, taub gegenüber den Problemen der Patienten, Wert darauf legen, dass diese sie „in strammer HaltungŖ neben ihren Betten stehend erwarten, verkörpern den Typus des unumschränkten Herrschers. „Keine ObrigkeitŖ, bemerkt der Erzähler, der Anwalt des Protagonisten wie auch der weiteren Mitbewohner des Zimmers, „erfreut sich eines solchen Respekts bei ihren Untergebenen wie der Psychiater bei seinen Geisteskranken.Ŗ26 Die Kranken hinter dem vergitterten Fenster, das sind die Untertanen: Eingesperrte, Gefangene, Wehrlose, als solche grenzenloser Willkür ausgeliefert wie bei Saltykov-Ńĉedrin die Bewohner von Glupov unter der Regentschaft der Stadthauptleute. Vorübergehende Befreiung vom Druck seiner Umwelt und der Last seiner Obsession findet der geistig erkrankte namenlose Held, eine Figur, die Garńins eigene Situation und Befindlichkeit reflektiert, im traumlosen Schlaf der Erschöpfung, in schmerzlindernden Morphium-Injektionen und zuletzt im Tod, der die endgültige Erlösung bringt. Erlöst ist am Ende nur die Einzelperson, nicht aber die Menschheit; denn das vom Helden angestrebte hohe Ziel der Verbannung des Bösen aus der Welt bleibt weiterhin unerreichbar. Als Anton Ĉechov (1860Ŕ1904) im Jahr 1892, ein Jahrzehnt nach der Entstehung von „Krasnyj cvetokŖ, in „Palata N° 6Ŗ (Krankensaal Nr. 6) Krankenhaus und Krankenzimmer ebenfalls metaphorisch als Gefängnis fasste, verschob er den Akzent vom Bösen auf das Leiden. Auch Garńin zeigt den Patienten als extrem leidenden, physischer und psychischer Tortur ausgesetzten Menschen, doch Ĉechov konkretisiert das Leiden nicht nur in den Gestalten von fünf Geisteskranken in einem Provinzkrankenhaus, sondern erhebt es auch auf eine abstrakte Ebene und macht es zum zentralen Thema der Gespräche zwischen den beiden Hauptgestalten, den an Verfolgungswahn leidenden Ivan Gromov, und dem leitenden Arzt Dr. Ragin. Schon vorher hatte der Schriftsteller Ĉechov menschliches Leid und Leiden, mit dem er als Arzt von Berufs wegen auf engste vertraut war, am Beispiel bewegender Schicksale veranschaulicht, zum Beispiel in „GoreŖ (Kummer, 1885), in „ToskaŖ (Gram, 1886) oder in „Skuka ņizniŖ (Lebensüberdruss, 1886), ja selbst in seinen frühen Kürzestgeschichten, die oft missverständlich als „humoristische ErzählungenŖ bezeichnet werden. Aber so unmittelbar und in einem solch furchtbaren, den Einzelfall weit übersteigenden Ausmaß lernte er es erst kennen, als er sich 1890, durch ganz Sibirien reisend, auf die berüchtigte Sträflingsinsel Sachalin begab, um die medizinische und soziale Ver-

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sorgung der Verbannten zu studieren. Was er in den drei Monaten seines Inselaufenthalts sah, die primitive Unterbringung und brutale Behandlung der Häftlinge, die katastrophalen hygienischen Verhältnisse, die hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit und die allgemeine Verrohung der Sitten stürzten ihn in eine tiefe Betroffenheit, die er erst, nach Moskau zurückgekehrt, in der erinnernden Rückschau im vollen Umfang begriff. „Solange ich auf Sachalin lebteŖ, schrieb er an den Verleger Suvorin, „empfand ich im Inneren nur eine gewisse Bitterkeit, wie von ranziger Butter, jetzt dagegen, in der Erinnerung, erscheint mir Sachalin als die wahre Hölle.Ŗ27 In einem Brief an Ivan Leontřev-Ńĉeglov wiederholte Ĉechov den Vergleich: „Ich war in der Hölle, auf Sachalin.Ŗ28 Aus diesem Erlebnis speist sich auch „Palata N° 6Ŗ. Obgleich „Ostrov SachalinŖ (Die Insel Sachalin, 1895), eine geographische, klimatische, ethnische und wirtschaftliche Bestandsaufnahme der Insel29, ergänzt durch persönliche Reiseaufzeichnungen, Arbeitsprotokolle und Häftlingsbefragungen, weniger literarischen als dokumentarischen, teilweise sogar fast wissenschaftlichen Charakter trägt, so ist die Erzählung trotz naturalistischer Milieubeschreibung, philosophischen Diskurses und einer für den Autor sonst gar nicht üblichen Eindeutigkeit kritischer Stellungnahme ein durch und durch poetischer Text, ohne littérature engagée im engsten Sinne zu sein. Erreicht wird dies vor allem dadurch, dass Ĉechov das auf Sachalin erlebte und in der Unmenge des gesammelten Materials festgehaltene kollektive Leid in die individuelle Leidensgeschichte zweier, miteinander kontrastierender Protagonisten überführt und so bildhaft anschaulich und emotional nachempfindbar macht. Hinzu kommt eine weitere Übertragung. Die Gegebenheiten der Insel, die Gefängnissituation, die Brutalität und Aggressivität der Aufseher, die seelische und geistige Abstumpfung der Verbannten, kehren in Schauplatz und Personal von „Palata N° 6Ŗ nahezu unverändert wieder. Ĉechov, dessen Blick für die Realitäten des gesellschaftlichen, politischen und alltäglichen Lebens in Russland sich seit dem Sachalin-Aufenthalt ungemein geschärft hatte, was unter anderem zu seinem Engagement bei Hungerkatastrophen oder bei der Cholerabekämpfung führte, erkannte die enormen Missstände in den russischen Krankenanstalten, vor allem der Provinz, und stellte mit dichterischen Mitteln bis in kleinste motivische Übereinstimmungen ihre augenfälligen Parallelitäten zum Lageralltag und zur Praxis des Strafvollzugs dar. Die Analogie wird von Anfang an betont. Das beginnt bereits in den einführenden Sätzen, einer detaillierten Beschreibung der Außenansicht des Handlungsortes: „Von einem ganzen Wald von Disteln, Nesseln und wildem Hanf umgeben, steht im Hof des Krankenhauses ein kleines Nebengebäude. Das Dach ist verrostet, der Schornstein zur Hälfte eingestürzt, die Stufen zum Vorbau sind verfault und mit Gras bewachsen, vom Verputz finden sich nur noch Reste. Die vordere Front blickt zum Krankenhaus, die hintere ins Feld, das jenseits des grauen nägelbespickten Krankenhauszauns liegt. Diese Nägel mit den Spitzen nach oben und der Zaun und das Nebengebäude selber bieten jenen eigentümlichen, trost-

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losen und elenden Anblick, den bei uns nur Krankenhäuser und Gefängnisse haben.Ŗ 30 Jedes der bewusst gesetzten, den Realismus der Beschreibung verstärkenden Details besitzt eine genau kalkulierte symbolische Bedeutung. Die Disteln, die Brennnesseln und der wilde Hanf kündigen die grausame Atmosphäre der Stätte an, die jeden, der sie betritt, umschlingt, jedem den Atem nimmt und niemanden mehr loslässt. Kein Mensch kommt hier freiwillig her Ŕ das drücken die verfaulten, morschen Stufen ebenso aus wie die Nagelspitzen des Zauns, die darüber hinaus die Gleichsetzung von Krankenhaus und Gefängnis sowie die damit verbundene totale Isolierung der Kranken von der Außenwelt suggerieren. Vervollständigt wird dieser Eindruck durch weitere symbolische Details in der Schilderung des Rundgangs, zu dem der Leser nach dem Muster von Tolstojs „Sevastopolř v dekabre mesjaceŖ vom Erzähler in der Rolle eines Führers Ŕ nicht ohne vorherige Warnung Ŕ aufgefordert wird („Wenn Sie nicht fürchten, sich an den Nesseln zu verbrennen, dann lassen Sie uns den schmalen Pfad entlanggehen, der zu dem Nebengebäude führt, und schauen, was es im Inneren gibtŖ).31 Wir treffen zunächst, der Aufforderung des Erzählers folgend, auf den Wächter Nikita, einen alten ausgedienten Soldaten, der, eine Pfeife zwischen den Zähnen, mit düsteren, einem Steppenschäferhund ähnlichen Gesichtszügen, von hagerer, sehniger Gestalt, ausgestattet mit gewaltigen Fäusten, zwischen allerlei unbrauchbarem, fauligen Geruch ausströmenden Gerümpel liegt. Als einer jener biederen, dienstbeflissenen und stumpfsinnigen Menschen, die nichts mehr lieben als die Ordnung, ist er „überzeugt, dass geprügelt werden mussŖ: „Er schlägt ins Gesicht, auf die Brust, auf den Rücken, wohin auch immer.Ŗ32 An Nikita vorbei gelangt man in ein geräumiges Zimmer mit verräucherter Decke und mit Wänden von schmutzig blauer Farbe. Hier riecht es nach Sauerkraut, blakendem Docht, Wanzen und Ammoniak. Die Fenster sind mit „eisernen GitternŖ verschlossen und die Betten „am Fußboden festgeschraubtŖ.33 In diesem inneren Kreis der Hölle, als der das Zimmer Nr. 6 erscheint, leben die Geistesgestörten, fünf an der Zahl, unter ihnen ein dreiunddreißigjähriger Mann adliger Herkunft, Ivan Dmitriĉ Gromov, ein ehemaliger Gerichtsvollzieher und Gouvernementssekretär, der entweder zusammengekrümmt auf seinem Bett liegt oder unruhig, gereizt, angespannt von einer Zimmerecke zur anderen marschiert. Durch Zufall kommt Gromov mit dem Chefarzt Dr. Andrej Efimyĉ Ragin ins Gespräch, einem resignierenden Intellektuellen, der, von seinem Vater zum Medizinstudium gezwungen, sein Krankenhaus nachlässig, ohne Ehrgeiz und ohne Hoffnung auf die Veränderbarkeit der bestehenden Zustände leitet. Die wiederholten Unterhaltungen, in denen es um die gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland, aber auch um existentielle Themen wie Krankheit, Tod oder Unsterblichkeit geht, nehmen immer mehr den Charakter philosophischer Diskussionen an. Schließlich konzentrieren sie sich auf die Auseinandersetzung über die Frage nach der Bedeutung des Leidens im menschlichen Leben. Dabei vertreten Gromov und Ragin gegensätzliche, ja unvereinbare Positionen, die sich nicht zuletzt aus der Unterschiedlichkeit ihrer Lebensverläufe erklären. Gromov, der als klei-

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ner Junge von seinem Vater, einem überarbeiteten Regierungsbeamten häufig verprügelt worden ist, früh seine Familie verlor, finanzielle Not erlebte und Hunger und Kälte erfuhr, hält Leiden für sinnlos und protestiert unentwegt dagegen, was ihn auf Dauer zu einem reizbaren, misstrauischen, einzelgängerischen Menschen gemacht und am Ende in den Verfolgungswahn getrieben hat. Ragin, anders als der blasse, magere, seit jeher kränkelnde Gromov, hochgewachsen, kräftig, kerngesund, hat immer sorgenfrei gelebt, ein angepasster Mensch, der, anstatt eigene Pläne durchzusetzen, stets die Wünsche des Vaters erfüllt hat, behauptet, Leiden sei notwendig. Dazu beruft er sich auf das Denken der antiken Stoiker, die wie Mark Aurel der Ansicht sind, dass Schmerz nichts anderes ist als die lebhafte Vorstellung von Schmerz. Die Berufung auf stoische Theorien, die Ragin dem richtigen, durch alle Einzelheiten der Erzählung bestätigten Empfinden Gromovs von der schrecklichen Realität des Leidens entgegensetzt, führt zum Mangel an ärztlicher Verantwortung und dienstlichem Engagement und erklärt die unübersehbare Zulassung von Schmutz, Unordnung und Korruption im Krankenhausalltag. Der Vertreter dieser „pessimistisch begründeten PassivitätŖ34, der aus der Realität in die literarische und philosophische Lektüre flüchtet und Genuss nur noch im kontemplativen Denken findet, wird zuletzt selber zum Opfer seiner passiven Lebenseinstellung. Der intrigante Assistenzarzt Chobotov benutzt die Gespräche zwischen Ragin und Gromov als Vorwand, um den Chefarzt für geisteskrank erklären und seiner Stellung entheben zu lassen. Es gehört zur inneren Logik der Erzählung mit ihrer Wendung in eine Tolstojsche Moralistik, dass Ragin in dem Raum seiner geistesgestörten Patienten endet und hier, bevor er an einem Schlaganfall stirbt, durch die Schläge des brutalen Nikita jene Schmerzen erfährt, die er im Disput mit Gromov so verachtet und bestritten hatte. Erst als er zusammengeschlagen, aus dem Mund blutend, machtlos und hilflos auf seinem Bett liegt, gelangt er zu der Erkenntnis, dass er den katastrophalen Verhältnissen und unmenschlichen Praktiken hätte Einhalt gebieten und Widerstand entgegensetzen müssen. Die Art und Weise, wie diese entscheidende Stelle, der moralische Wendepunkt der Erzählung, dargestellt ist, zeigt, dass Ĉechov zu Beginn der neunziger Jahre dabei war, den puren Realismus als künstlerisches Verfahren und den Einfluss des Tolstojschen Denkens als Anregung und Herausforderung zu überwinden. Garńin fortführend, setzte er verstärkt Mittel des Symbolismus ein, einer Richtung der Moderne in Dichtung und Theater, Malerei und Musik, die der späte Tolstoj in Traktaten wie „O tom, ĉto nazyvajut iskusstvomŖ (Über das, was Kunst genannt wird, 1896) oder „Ĉto takoe iskusstvo?Ŗ (Was ist Kunst?, 1898) vehement verwarf, weil diese, seiner Überzeugung nach konstruiert, gekünstelt, effekthaschend und deshalb in Form und Inhalt „unverständlichŖ sei35 Ŕ „exklusiveŖ Kunst, die „nur noch von einer ganz kleinen Zahl Auserwählter verstanden wirdŖ.36 Tolstoj, der sich nicht scheute, die Vertreter der „neuen FormŖ von Baudelaire bis Verlaine, von Wagner bis Richard Strauss als „dekadenteŖ Künstler zu bezeichnen, fragte, sich auf Paul Verlaines Gedichtzyklus „Ariettes oubliéesŖ

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beziehend: „Was soll das heißen, dass am kupfernen Himmel der Mond lebt und stirbt und dass der Schnee glänzt wie Sand?Ŗ37 Und er fand keine andere Erklärung als die, dass hier „unter dem Vorwand, eine Stimmung wiederzugeben, falsche Vergleiche und Wörter aneinandergereihtŖ würden. Auch Ĉechov greift zu kühnen Bildern, um den Zustand und die innere Situation Ragins nach der Misshandlung durch den Wärter zu veranschaulichen, immer noch mehr Realist als Symbolist, dürfte er sich jedoch sogar zu seiner Zeit kaum den Vorwurf der Unverständlichkeit zugezogen haben. Das gilt selbst für jenen Vergleich mit der „SichelŖ, die Andrej Efimyĉ in den Leib gestoßen wird und ihm das Gefühl vermittelt, diese werde „mehrere Male in seiner Brust und in seinen Eingeweiden umgedrehtŖ.38 Dieser Vergleich ist von einer Expressivität, wie sie damals selten und vielleicht überhaupt nur bei Tolstoj zu finden war. Von Tolstoj konnte Ĉechov zudem lernen, dass die Ausdrucksstärke solcher Szenen auf dem Verzicht von Farbe, also auf der Betonung des Kontrasts von Schwarz und Weiß, Dunkel und Hell beruht.39 So lässt er die geistesgestörten Insassen des Krankensaals Nr. 6 entkörperlicht als „SchattenŖ im dünnen Licht des Mondes und den Schatten von der „VergitterungŖ des Fensters als ein „NetzŖ auf dem Fußboden erscheinen. In dieser Umgebung steigt in Ragin, der jetzt selber zu den Insassen gehört, während er vor Schmerz in sein Kissen beißt und die Zähne zusammenpresst, ein „entsetzlicher, unerträglicher GedankeŖ auf: „Genau den gleichen Schmerz mussten jahrelang Tag für Tag die Menschen ertragen, die nun im Mondschein wie schwarze Schatten aussahen. Wie konnte es denn geschehenŖ, fragt er sich weiter, „dass er über zwanzig Jahre nichts gewusst hatte und auch nichts wissen wollte?Ŗ40 Es liegt ganz in der Konsequenz Tolstojschen Denkens, wenn Ĉechov seinen Helden die Unmenschlichkeiten empfinden lässt, die dieser vorher anderen zugefügt hat. Wie Ivan Ilřiĉ fühlt er sich niedergedrückt von der moralischen Last der Selbsterkenntnis und der Selbstanklage. Doch während der erstere, erkrankt, genügend Zeit hat, um in einem langen Prozess körperlicher und seelischer Qualen und intensiven geistigen Ringens zu einer neuen Freiheit zu finden und, aller Todesfurcht enthoben, mit sich selbst, seinem Leben und seiner Familie versöhnt zu sterben, stirbt der letztere, ohne jeglichen familiären Beistand, unerleuchtet und unerlöst. Nachdem Ragin in der Absicht, Nikita zu erschlagen, von seinem Bett aufgesprungen ist und nach Luft ringend an Hemd und Kittel gezerrt und beide Kleidungsstücke zerrissen hat, sinkt er, in Ohnmacht fallend, wieder aufs Bett zurück. Am nächsten Morgen schmerzen ihm sein Kopf, seine Ohren und schließlich sein ganzer Körper. Gegen Abend erliegt er dann einem Gehirnschlag. „Zuerst überkam ihn ein furchtbarer Schüttelfrost. Etwas Widerliches schien in seinen Körper einzudringen, sogar in die Finger; es zog vom Magen in den Kopf und erfüllte Augen und Ohren. Vor den Augen schimmerte es grün...Ŗ41 Sieht Ivan Ilřiĉ am Ende eines dunklen Gangs etwas tröstlich Helles aufleuchten, entsinnt sich Ragin, dem zuvor schon „alles egalŖ war, „dass Ivan Dmitriĉ, Michail Averřjanyĉ und Millionen Menschen an die Unsterblichkeit glaubenŖ, und so

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fragt er: „Wenn es sie nun wirklich gibt?Ŗ Die Antwort folgt unmittelbar und in der Form der erlebten Rede: „Aber er wollte keine Unsterblichkeit.Ŗ42 Dass Ragins Tod ein unchristlicher Ŕ „modernerŖ Ŕ Tod ist, wird deutlich in der Sachlichkeit, Neutralität und medizinischen Exaktheit seiner Beschreibung. Verstärkend wirkt in dieser Hinsicht zudem die Modernität des Bilds der Gefangenschaft. Bringt Tolstoj am Ende von „Smertř Ivana IlřiĉaŖ die an sich nicht darstellbare Erlösung des Helden durch die Lichtsymbolik zum Ausdruck, verbildlicht Ĉechov durch die Schatten der Vergitterung, die sich als Netz auf dem Boden ausbreiten, die Ausweglosigkeit des Menschen in einer Zeit schwindender Transzendenz. Damit signalisiert die in der Sachalin-Erfahrung wurzelnde Erzählung „Palata N° 6Ŗ die endgültige Abkehr des Verfassers von Lev Tolstoj, den er als Künstler von seinen schriftstellerischen Anfängen an bewundert und dessen Philosophie ihn „stark berührtŖ und „ 6Ŕ7 Jahre lang beherrschtŖ hatte. „Jetzt aberŖ, schrieb er an Suvorin, „protestiert etwas in mir.Ŗ Anschließend wird Ĉechov noch deutlicher: „Tolstoj ist nicht mehr in meinem Herzen, er ist von mir gegangen mit den Worten ,Siehe, ich verlasse euer leeres Hausř. Ich bin von Einquartierung frei.Ŗ43 Diese Einquartierung begann in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, nachdem Ĉechovs Frühwerk bei aller Selbständigkeit deutliche Einflüsse Gogolřs und Turgenevs aufgewiesen hatte. Ein chef d’œuvre wie „Skuĉnaja istorijaŖ (Eine langweilige Geschichte, 1889) ist kaum vorstellbar ohne die Anregung und Herausforderung durch die drei Jahre zuvor veröffentlichte Novelle „Smertř Ivana IlřiĉaŖ. Beide Erzählungen gestalten die Situation des Sterbens einer Einzelperson, wobei der Tod hier wie dort erwartet und als Erlebnis der Isolation, der Vereinsamung und des Kampfes mit all seinen physischen und psychischen Begleitumständen erfahren wird. Verfasste Tolstoj die vom Ende, vom Tod des Helden her aufgerollte Lebens- und Sterbensgeschichte des höheren Beamten Ivan Ilřiĉ in der dritten Person sowie in der Vergangenheitsform, ersetzte Ĉechov die resümierende Schilderung des Er-Erzählers bei Tolstoj durch einen vergegenwärtigenden, die Distanz verringernden langen Monolog, den „Aufzeichnungen eines alten MannesŖ (Zapiski starogo ĉeloveka), des Medizinprofessors Nikolaj Stepanoviĉ X, dessen eigener Bericht von den letzten Monaten seines Lebens zur Bestandsaufnahme seines gesamten Lebens wird. Die gleiche Grundsituation der Konfrontation mit dem Tod führt zu konträren Ergebnissen. Ivan Ilřiĉ erkennt in seiner Hilflosigkeit, seinen peinigenden Schmerzen und der Grenzenlosigkeit seiner Todesfurcht, was er im Lauf seines Lebens alles versäumt und falsch gemacht hat. Über diese Erkenntnis befreit er sich in der ihm noch verbleibenden Zeit aus seiner typischen Jedermann-Existenz und entdeckt sich als eigene, moralisch zu sich selbst findende Individualität. Das Erblicken des Lichts auf dem Totenbett am Ende symbolisiert nicht nur die mögliche Erlösung, es signalisiert auch den Sieg des Ich über sein bisheriges Selbst. Nikolaj Stepanoviĉ tritt uns dagegen von Anfang an als unverwechselbare Persönlichkeit, als Repräsentant eines bedeutungsvollen, würdigen Lebens entgegen:

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hochgeachtet als Arzt, Wissenschaftler und Universitätslehrer, von Kollegen geschätzt und von Schülern verehrt. Angesichts seines Alters, das sich in Schlafstörungen, Gedächtnisschwächen und mangelhafter Konzentrationsfähigkeit äußert, und vor allem angesichts der Gewissheit des nahenden Todes („Es ist mir wohl bekannt, dass ich nicht länger als ein halbes Jahr zu leben habeŖ)44 sieht er jetzt alles, was ihn bislang ausmachte, in Frage gestellt: „Dreißig Jahre lang war ich ein beliebter Professor, hatte vorzügliche Kollegen und erfreute mich ehrenvoller Berühmtheit. Ich liebte, ich heiratete aus leidenschaftlicher Zuneigung, ich hatte Kinder. Mit einem Wort, wenn ich zurückschaue, erscheint mir mein Leben als eine schöne, talentvoll aufgebaute Komposition. Jetzt bleibt mir nur noch, das Finale nicht zu verderben.Ŗ45 Das Finale zu verderben, fürchtet der um seinen baldigen Tod Wissende, weil er glaubt verloren zu haben, was einem Lehrer, einem Gelehrten, einem Staatsbürger geziemt: Mut und ruhiger Geist. Ĉechov benutzt eine starke Metapher, um die Größe dieses Verlusts zu veranschaulichen. „Ich ertrinkeŖ, sagt Nikolaj Stepanoviĉ zu Katja, der Tochter eines verstorbenen Kollegen, deren Vormund er seit ihrem siebten Lebensjahr ist, „ich flüchte mich zu dir, ich flehe um Hilfe.Ŗ46 Das Bild vom Ertrinken meint nicht die Furcht vor dem Tod und den damit verbundenen Schmerzen wie bei Ivan Ilřiĉ, sondern die Furcht vor dem Verlust jener Ideen und humanistischen Werte, die Nikolaj Stepanoviĉs bisheriges Leben und Denken bestimmt und geleitet haben. Seine Begründung hat dieser Verlust in der Situation des Alters und dem dadurch bedingten biologischen Verfall. Schon auf den ersten Seiten seiner „AufzeichnungenŖ, die weniger eine Erzählung als ein literarisches Tagebuch sein wollen, thematisiert der Sprecher diese Grundfurcht, indem er im halbironischen Ton auf die Diskrepanz zwischen seinem öffentlichen Bild und der Realität seines körperlichen Zustands verweist. „Mein Name ist populärŖ, schreibt er, „in Russland kennt ihn jeder schriftkundige Mensch, im Ausland wird er von den Kathedern herab mit dem Zusatz ,der bekannte und geschätzteŘ genannt.Ŗ Nach der weiteren Beschreibung des Namens, der mit dem „Begriff eines reich begabten und zweifellos nützlichen berühmten MenschenŖ verknüpft ist, folgt die Konfrontation mit der Physis des Zweiundsechzigjährigen: „So glänzend und schön mein Name ist, so dunkel und unförmig bin ich selber. Mein Kopf und meine Hände erzittern vor Schwäche; mein Hals gleicht wie bei einer Heldin Turgenevs dem Griff eines Kontrabasses; meine Brust ist eingefallen, mein Rücken schmal. Wenn ich spreche oder Vorlesungen halte, verzerrt sich mein Mund; wenn ich lächle, bedeckt sich mein Gesicht mit greisenhaften Runzeln. Es gibt nichts Imponierendes an meiner ganzen jämmerlichen Gestalt.Ŗ47 Die Loslösung Nikolaj Stepanoviĉs von dem Bild, das die akademische Welt von ihm hat, sein unübersehbarer, nicht mehr zu verbergender Abbau in Physis und Geist, findet eine treffende szenische Veranschaulichung in der selbstironischen, teils fast komischen Schilderung des Besuchs von einem Arztkollegen. Persifliert durch eine Andeutung tierischen Verhaltens („wir streicheln einander vorsichtig die TaillengegendŖ)48, werden die gegenseitigen Höf-

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lichkeitsrituale bei der Begrüßung wie bei der Verabschiedung auf primitive, entleerte Umgangsformen reduziert. Auch im häuslichen Bereich, wo Nikolaj Stepanoviĉ jetzt öfter die Beherrschung verliert und sich zu „hässlichen GefühlenŖ49 hinreißen lässt, beginnt er zunehmend seine einstige Sicherheit, Überlegenheit und Würde einzubüßen, all das, was ihm gerade im Alter nach als Stütze dienen sollte. Verstärkt durch das Gefühl und den Wunsch, keine Familie mehr zu haben, setzt sich bei Nikolaj Stepanoviĉ der sukzessive Verfallsprozess unaufhaltsam fort, als er sein Universitätsleben gänzlich aufgibt und sich in sein Landhaus zurückzieht. Allein, trotz der Anwesenheit seiner Frau und der regelmäßigen abendlichen Besuche Katjas, vereinsamt er vollends. Das Landhaus wird zu seinem inneren Exil. Was ihm bleibt, ist der Blick in Bücher und durchs Fenster. „Ich lese französische Bücher und schaue durch das offene Fenster. Ich sehe die Spitzen meines Palisadenzauns, zwei, drei dürre Bäumchen und hinter dem Palisadenzaun den Weg, das Feld und dann eine breite Fläche Nadelwald.Ŗ50 Jeder Satz, ja jedes Wort hat metaphorische Bedeutung und bringt auf indirekte, bildhaft anschauliche Weise den inneren und äußeren Zustand des emeritierten Professors zum Ausdruck. Werke der französischen Literatur scheint Nikolaj Stepanoviĉ in der Hoffnung zu lesen, durch sie das Gefühl längst verlorener persönlicher Freiheit zurückzuerlangen, und in dem Nadelwald, der sich am fernen Horizont abzeichnet, scheint er einen Abglanz jener Stärke, Eleganz und Würde zu finden, die er früher verkörpert hatte.51 Doch der Palisadenzaun, Symbol des Gefangenseins, und die dürren Bäumchen, Symbol der Schwäche und der Kraftlosigkeit, sind eindeutig in der Negativität ihrer Aussage. Ĉechov kann seinem Helden im Unterschied zu Tolstoj keinen Trost geben, und er lässt dies Nikolaj Stepanoviĉ auch selber bewusst werden. Denn mit Katja über das Feld und durch den vom Fenster aus sichtbaren Nadelwald fahrend, denkt dieser: „Die Natur kommt mir immer noch wunderschön vor, obwohl mir ein Dämon zuflüstert, dass alle diese Tannen und Fichten, Vögel und weiße Wolken am Himmel nach drei, vier Monaten, wenn ich gestorben bin, meine Abwesenheit nicht bemerken werden.Ŗ52 So folgen „furchtbare NächteŖ53, in denen Nikolaj Stepanoviĉ nach Mitternacht aufwacht, aus dem Bett springt, hastig Licht anzündet, Wasser direkt aus der Flasche trinkt und ans Fenster eilt: „Das Wetter ist prachtvoll. Es riecht nach Heu und nach etwas sehr Gutem. Ich sehe die scharfen Spitzen des Palisadenzauns, die schlafenden dürren Bäumchen vor dem Fenster, den Weg, die dunkle Fläche des Waldes, am Himmel leuchtet ein ruhiger, sehr heller Mond, es ist kein Wölkchen zu sehen. Stille, es regt sich kein Blatt. Mir aber ist, als blicke mich alles an und als höre alles zu, wie ich sterben werde...Ŗ54 Die Panik, in die Ĉechovs Held gegen seinen Willen zunehmend gerät, äußert sich, nachdem er das Fenster geschlossen hat und zum Bett zurückgeeilt ist, in einer tolstojschen Aufmerksamkeit für Körperliches. Nikolaj Stepanoviĉ sucht nach seinem Puls, zuerst an der Schläfe, darauf am Kinn und findet ihn endlich am Handgelenk. Dann betastet er den ganzen Körper, wobei er erschreckt fest-

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stellt, dass jeder Teil seines Körpers kalt und nass ist vor Schweiß. Er spürt zugleich, wie sein Atem schneller und schneller fliegt, wie alles an ihm und in ihm bebt und hat das Gefühl, als ob sich „SpinnwebenŖ über sein Gesicht und seinen kahlen Schädel ziehen.55 Je gewisser für Nikolaj Stepanoviĉ die Todesahnung und Todeserwartung wird, desto mehr verflüchtigt sich die vorher dargestellte Welt, so dass äußere Realität und menschliche Psyche nahezu eins zu werden beginnen. Als der Laut eines Vogels („Kiwi-KiwiŖ) in der nächtlichen Stille erklingt, fragt sich der Schreiber „Woher kommt dies: aus meiner Brust oder von der Straße her?Ŗ56 Wie der Vogellaut, der kein kraftvolles Rufen, sondern eher ein klägliches Piepsen ist, werden alle Elemente der Wirklichkeit im gegebenen Kontext zu Symbolen des Todes: der ruhig und hell am Himmel leuchtende Mond und die Stille, die so groß ist, dass sie in den Ohren dröhnt, ebenso wie die Mondflecken auf dem Fensterbrett, die ihre Lage nicht verändern, so dass sie erstarrt zu sein scheinen, wie die knarrende Pforte im Palisadenzaun, durch die jemand schleicht, einen Zweig von einem der dürren Bäumchen reißt und leise an das Fenster klopft, und wie vor allem die schwarz gewandete, grell vom Mond beleuchtete und aus großen Augen blickende Frau: „Ihr Gesicht ist bleich, streng und wirkt im Mondlicht geradezu phantastisch, so als wäre es aus Marmor. Ihr Kinn zittert. ‚Ich bin es...Ř, sagt sie. ‚Ich... Katja!Ř Ŗ57 Katja, die selber Hilfe und Trost benötigt, wird in ihrer marmorhaft bleichen Schönheit und mit ihrer romantischen, lockenden Geste des Klopfens an die Fensterscheibe mittels eines Zweigs zur Todesbotin und Todeskünderin. Von jetzt an gibt es für Nikolaj Stepanoviĉ keinen Ausweg mehr. So dient die Reise nach Charřkov nur noch dazu, die „letzten TageŖ seines Lebens „wenigstens nach der formellen Seite hin tadellos verlaufen zu lassenŖ.58 Die Eisenbahn transportiert ihn gleichsam aus dem Leben.59 Das Ende steht unmittelbar bevor. In einem kleinen Gasthauszimmer, auf einem Bett mit fremder grauer Bettdecke sitzend, ein billiges Waschgeschirr aus Blech betrachtend und dem lauten Ticken einer Uhr auf dem Korridor lauschend, erfährt der berühmte Professor, die wissenschaftliche Kapazität und der Geheime Rat, sich „examinierendŖ60, den Verlust seines Vertrauens auf die eigenen Werte und Prinzipien und damit letztlich den Zusammenbruch seiner ganzheitlichen Persönlichkeit. Dennoch sind die Aufzeichnungen Nikolaj Stepanoviĉs, dessen letzte Worte, von tiefster Menschlichkeit erfüllt, der im schwarzen Gewand entschwindenden Katja gelten („Leb wohl, mein Kleinod!Ŗ), kein Dokument negativer oder pessimistischer Lebensanschauung. Vielmehr modifiziert der skeptische Realist Ĉechov die philosophische Botschaft Tolstojs von der Notwendigkeit, sich vor dem nahenden Tod „selbst zu erkennenŖ, nicht ohne Ironie zu der sachlich-nüchternen Feststellung: „ ,Erkenne dich selbst!Ř ist ein vortrefflicher und nützlicher Rat, schade nur, dass die Alten nicht gesagt haben, wie man das macht.Ŗ61 Es war nicht zuletzt dieser ständige, sich immer stärker zu programmatischer Auseinandersetzung hin wandelnde Dialog mit Lev Tolstoj, der Ĉechov zu einen im Stil modernen sowie in den Themen und Problemen aktuellen Schriftsteller

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machte. Andere herausragende Beispiele für seinen anhaltenden Tolstoj-Dialog sind neben „Palata N° 6Ŗ, diesem lauten Protest gegen den Aufruf, sich dem Bösen nicht zu widersetzen, Erzählungen wie „DuėlřŖ (Das Duell, 1891), „Moja ņiznřŖ (Mein Leben, 1896), „MuņikiŖ (Die Bauern, 1897) oder „Dama s sobaĉkojŖ (Die Dame mit dem Hündchen, 1899). „Dama s sobaĉkojŖ, Ĉechovs wohl bekannteste Erzählung, endet wie „Skuĉnaja istorijaŖ in der unpersönlichen Sphäre eines schlichten Gasthauszimmers. Dort sitzt der ehemalige Universitätsprofessor, der sich aus dem Beruf, von der Familie und den Freunden und Bekannten zurückgezogen hat, „besiegtŖ62, gleichmütig den Tod erwartend, auf seinem Bett, hier wartet eine junge Frau in einem grauen Kleid, müde von der Reise und dem Warten, seit dem vorangegangenen Abend auf das Klopfen an der Tür. Als dies endlich erfolgt, blickt sie, ohne zu lächeln, ernst auf den Eintretenden, um ihm kurz darauf an die Brust zu sinken. Die beiden Personen, die sich lang und innig küssen, als hätten sie sich zwei Jahre lang nicht gesehen, sind sich an einem schwülen Sommertag auf der Strandpromenade in Jalta begegnet, haben jedoch erst nach einer kurzen, intensiven Urlaubsaffäre, in den familiären Alltag zurückgekehrt, ihre so tiefe gegenseitige Liebe entdeckt. Seit der unverhofften Wiederbegegnung in einem Theater fährt Anna Sergeevna alle zwei bis drei Monate aus der Provinz nach Moskau, wo sie im „Slavjanskij BazarŖ absteigt und von Dmitrij Gurov aufgesucht wird. Beide, unglücklich verheiratet, finden hier ein Asyl63, das ihnen Schutz bietet vor den störenden Einflüssen durch Familie und Gesellschaft. Nur hier können sie sich ungehindert ihrer in der Öffentlichkeit nicht zugelassenen Liebe hingeben Ŕ der ersten echten in ihrem Leben. Doch bereits die Szene des Liebesgeständnisses auf der engen, düsteren Treppe in dem Theater in S., das von zwei rauchenden Gymnasiasten aus höherer Warte beobachtet wird, bietet in gedrängter bildlicher Zusammenfassung einen Ausblick auf die Schwere und Kompliziertheit des künftigen Schicksals von Held und Heldin. Alles, was diese außerhalb ihres momentan gelebten Glücks erwartet, sind fortgesetzte Heimlichkeit, quälende Gewissensbisse, unaufhörliche Furcht vor der Entdeckung und schließlich der Tod. Gurovs ergrauendes Haar und Annas Müdigkeit, als sie auf Gurov wartet, deuten zudem an, dass die Zeit, die den Liebenden bleibt, nicht allzu lang sein wird. Dennoch endet die Geschichte wie in „Skuĉnaja istorijaŖ keineswegs im Pessimismus. Zwar reicht die Vergegenwärtigung eines höchsten Liebesglücks nicht aus, um sie als optimistisch zu bezeichnen, aber im Schlussabsatz der Erzählung wird ihr auf jeden Fall alle Tragik genommen. Der Erzähler weigert sich angesichts der Traurigkeit und der Ratlosigkeit seiner Figuren, die Hoffnung aufzugeben, und schreibt ihnen, die Raummetapher des langen Wegs benutzend, eine Einstellung zu, die den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Zukunft offenhält: „Und es schien, dass nur noch wenig fehlte Ŕ und die Lösung war gefunden, und dann würde ein neues, schönes Leben beginnen; und beiden war klar, dass es bis zum Ende noch weit, sehr weit war und dass das Komplizierteste und Schwierigste gerade erst begonnen hatte.Ŗ64

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Ĉechov antwortete mit „Dama s sobaĉkojŖ auf ein Thema, das Tolstoj in der russischen Literatur Ŕ wie zuvor Goethe in der deutschen und Flaubert in der französischen Literatur Ŕ als erster mit größter Einfühlsamkeit und tiefstem psychologischen Verständnis gestaltet hatte: das des Ehebruchs, genauer, des Ehebruchs von Seiten der Ehefrau. Während Goethe in den „WahlverwandtschaftenŖ (1809) die Lösung in der Entsagung Ottiliens findet, lassen Flaubert in „Madame BovaryŖ (1857) und Tolstoj in „Anna KareninaŖ (1875) ihre Heldinnen durch Selbstmord sterben. Emma vergiftet sich aus Scham und aus Verzweiflung. Das Mitleid des Autors ist ihr gewiss. Anna, die sich zwischen die Räder eines Zugwagens wirft, wird dagegen von Tolstoj, der zunächst ihr elementares Recht auf Liebe und Leben anerkennt, wegen ihres Verstoßes gegen die gesellschaftliche und moralische Konvention schuldig gesprochen. Es ist vor allem das letztere, der Verstoß gegen das Sittengesetz, was bei dem Verfasser von „Anna KareninaŖ wie in der alten Tragödie nach der Bestrafung des Schuldigen verlangt. Solch ein Rigorismus war dem humanistisch gesinnten Schriftsteller Ĉechov von Grund auf völlig fremd. Und „Dama s sobaĉkojŖ, dieser Gegentext zu Tolstojs Roman, wie bereits die Namensgleichheit der Titelfiguren signalisiert, ist nicht die einzige, jedoch eine der eindrücklichsten Erzählungen Ĉechovs, die den festen Glauben an den Wert der menschlichen Liebe bezeugen, indem die Liebe zwischen zwei Personen auch unter den schwierigsten Umständen und gegen die Ansprüche von Gesellschaft und Moral gelebt wird. In der literarischen Polemik mit Lev Tolstoj hatte sich bei Ĉechov, der in seinem frühen und seinem mittleren Schaffen nur die unerfüllbare Sehnsucht nach Liebe kannte, die Überzeugung gefestigt, dass die Liebe als gelebte Wirklichkeit nicht nur möglich, sondern auch existentiell notwendig sei. In „O ljubviŖ (Von der Liebe, 1898) wird deshalb die nicht verwirklichte Beziehung zwischen Alechin und Anna Alekseevna durch Rücksichtnahme auf die Familie Annas und aus Angst der Liebenden vor der Mächtigkeit ihrer Gefühle als ein unwiederbringlicher Verlust gesehen.65 Der Verzicht auf die Liebeserfüllung, bei Goethe und sogar bei Puńkin (in „Evgenij OneginŖ, 1830), noch als sittliches Ideal gefeiert, gilt jetzt als ein schwerwiegender, Seele und Existenz zerstörender Fehler. Ĉechov bringt diese Auffassung durch die Worte seines Helden zum Ausdruck. Alechin, der den Abschied von Anna Alekseevna im Stil der sich erinnernden IchErzähler Turgenevs aus der zeitlichen Distanz schildert, ergänzt die Beschreibung der letzten, tränenreichen Umarmung in einem Abteil des abfahrbereiten Zuges um die im Moment des Abschieds gewonnene schmerzliche Einsicht: „Ich begriff, wie unnütz, wie kleinlich und wie trügerisch all das gewesen war, was uns daran gehindert hatte zu lieben. Ich begriff, dass man, wenn man liebt, in seinen Überlegungen von höheren, bedeutenderen Gesichtspunkten als Glück oder Unglück, als Sünde oder Tugend im landläufigen Sinn ausgehen muss, oder man muss überhaupt nicht überlegen.Ŗ66 Ĉechov stellt in „O ljubviŖ die Ehe Anna Alekseevnas mit Luganoviĉ, mit einem „herzenseinfältigenŖ, greisenhaft anmutenden Menschen, der stets einen „er-

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gebenen, teilnahmslosen GesichtsausdruckŖ hat und mit „langweiliger VernunftŖ über alles urteilt, ebenso in Frage wie in „Dama s sobaĉkojŖ die Ehe Anna Sergeevnas mit dem jungen, backenbärtigen Mann, den sie, gepeinigt von einem bitteren Gefühl, einmal einen „LakaienŖ nennt und der tatsächlich, süßlich lächelnd, „etwas lakaienhaft BescheidenesŖ hat.67 Damit legitimiert Ĉechov wie auch in „ImeninyŖ (Der Namenstag, 1888) und anderen Erzählungen Ŕ seiner Zeit voraus Ŕ den Anspruch der Frau auf persönliches Glück, er geht jedoch noch viel weiter und entlarvt Ehe und Familie als Institution, in der die Erfüllung der Liebe kaum denkbar ist. Ehe- und Familienleben, das zeigt Ĉechov immer wieder, bedeutet Routine, Einerlei, Langeweile. Gurov empfindet nach der Begegnung mit Anna in Jalta seinen Moskauer Alltag als ein „gestutztes flügelloses LebenŖ, aus dem es kein Entfliehen zu geben scheint „ganz so, als säße man „im Irrenhaus oder in der StrafanstaltŖ.68 Und Anna schaut wie der alte Professor in „Skuĉnaja istorijaŖ nach seinem Rückzug ins Landhaus auf einen „langen, grauen Zaun mit NägelnŖ.69 Alles Symbole der Unfreiheit, des Eingesperrtseins, der Gefangenschaft. Die Liebe verleiht Anna Sergeevna und Dmitrij Gurov zwar Flügel, da sie aber verheimlicht werden muss, sehen sich die Liebenden wegen der Notwendigkeit, sich zu verstecken, andere zu betrügen und an verschiedenen Orten zu leben, wiederum in „FesselnŖ von unerträglichster Art. Oder auf andere, ebenfalls symbolische Weise ausgedrückt: „Sie waren zwei Zugvögel, ein Männchen und ein Weibchen, die man gefangen hatte und nun zwang, in getrennten Käfigen zu leben.Ŗ70 Ĉechov vertritt also nicht nur eine neue Ethik, die sich dem widersetzt, was traditionell als richtig und tugendhaft gilt, sondern auch eine neue Anthropologie, nach der das alltägliche Leben in der Gefangenschaft des Menschen besteht, einem Zustand, der nur momentan, dann wenn sich wie in der Liebe leere Zeit zu erfüllter Zeit wandelt, nie aber grundsätzlich aufhebbar ist. Der späte Ĉechov ist damit nicht bloß unterwegs zur Moderne. Er ist längst in ihr angekommen. Das gilt für seine Ethik, für seine Anthropologie, aber auch und nicht zuletzt für seine Poetik mit ihren spezifischen neuen Verfahrensweisen. XII. Modernes Erzählen von Čechov bis Babel’ Die „erstaunliche ModernitätŖ, die Ĉechov zu einer „Integrationsfigur der russischen Moderne von weltliterarischem NiveauŖ macht, gründet nach Maria Deppermann „in seiner demokratischen Grundhaltung und unideologischen Weltsicht, in seiner innovativen Formleistung als Erzähler und Dramatiker, vor allem aber in seinem schöpferischen Credo: ‚Ich möchte ein freier Künstler sein und nichts weiterŘ Ŗ.1 „Unverzichtbar ist das Gefühl der persönlichen FreiheitŖ, meinte Ĉechov am 7. Januar 1889 gegenüber Suvorin, „und dieses Gefühl ist erst vor kurzem in mir entbrannt.Ŗ 2 Damit vollzog er einen Bruch mit der russischen Tradition des kollektiv ausgerichteten „GemeinschaftsdenkensŖ (sobornostř), das dem „gemeinsamen HeilŖ einen Vorrang gegenüber dem „Glück des EinzelnenŖ gab.3 Diese Auffassung von der freien, nur vor sich selbst verantwortlichen Einzelpersönlichkeit, die Ĉechov als Mensch und als Schriftsteller verkörpert und

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die er im individualistischen Menschenbild seiner Werke, der Erzählungen wie der Dramen, exemplarisch gestaltete, ist durch und durch westlich, und sie ist modern, weil sie einem Denken entspringt, das seinen Ursprung in der europäischen Renaissance hat und sich in der „SattelzeitŖ zwischen 1750 und 1850 entfaltete, die als der eigentliche Ursprung der Moderne gilt. Zu einem Vertreter der Moderne des 20. Jahrhunderts wird Ĉechov im Besonderen auch deshalb, weil er im Unterschied zu den christlichen russischen Schriftstellern wie Dostoevskij, Tolstoj oder Leskov die Kehrseite der Freiheit in den Vordergrund stellt: die Langeweile, die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Gottferne. „Wir haben weder Nah- noch FernzieleŖ, erläuterte er im November 1892, „unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an die Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, und ich persönlich habe nicht einmal Angst vor dem Tod.Ŗ4 Obwohl Ĉechov, ein Mensch ohne Glauben, ohne Ziele, ohne Programm, überzeugt war, sich in einer Zeit der Leere zu befinden, begegnete er seinen Figuren mit Anteilnahme, Verständnis, Sympathie. Nie überließ er sie völliger Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er lässt ihnen vielmehr einen gewissen, wenn auch ganz vagen, auf eine ferne, ja fernste Zukunft bezogenen Rest von Hoffnung. Ĉechov war kein unmittelbarer Vorläufer von Camus oder Beckett. Bei aller Modernität geht er nicht so weit, dass er das menschliche Dasein als sinnlos betrachtet. Dazu legt er viel zu hohen Wert auf jene Qualitäten, die nach seiner Ansicht dem Leben des Menschen erst ihre Bedeutung geben: „Gesundheit, Verstand, Talent, Begeisterung, Liebe und die höchste Freiheit Ŕ die Freiheit von Gewalt und LügeŖ.5 So beklagt er zwar immer wieder die Verschwendung von Gefühl, von Anlagen, von Möglichkeiten, aber er entwirft keine völlig negativen, von sich selbst, der Gesellschaft und der Welt entfremdeten Charaktere. Sein Blick richtet sich über den Einzelnen hinaus auf das umfassende Ganze des Daseins, und das erscheint bei ihm in seiner uneigentlichen Form, als gewöhnliche, durchschnittliche Alltäglichkeit. Insofern steht Ĉechov der Existenzphilosophie näher als den Vertretern des absurden Denkens. Interessierte einen Novellisten wie Nikolaj Leskov das Ungewöhnliche, etwa der spektakuläre Fall aus den Oreler Gerichtsakten, der in „Ledi Makbet Mcenskogo uezdaŖ geschildert wird, wurde bei Ĉechov das Gewöhnliche zum Hauptgegenstand des erzählerischen Interesses. Wenn Leskov behauptete, dass das Leben in Russland keineswegs langweilig sei, belegte Ĉechov Ŕ Erzählung um Erzählung Ŕ das genaue Gegenteil. „Was geschieht bei uns in der Provinz nicht alles vor Langeweile, wieviel Unnötiges und UnsinnigesŖ, sagt in der Trilogie von den Menschen im Futteral6 einer der drei Erzähler, der Gymnasiallehrer Burkin. Und Anna Sergeevna klagt in „Dama s sobaĉkojŖ bei ihrer ersten Begegnung mit Gurov auf der Strandpromenade von Jalta: „Die Zeit vergeht schnell, dabei ist es hier so langweilig.Ŗ7 Die russische Literatur kennt seit Puńkins Evgenij Onegin viele Gestalten, die nichts Sinnvolles zu tun haben und deshalb im Grübeln versinken, vor Sehnsucht vergehen, ohne Ziel umhertreiben oder einem falschen Ziel nachjagen. Doch die Reihe der Onegins, Peĉorins, Stavrogins und anderer

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Repräsentanten der untergehenden Aristokratie hat Ĉechov nicht mehr fortgesetzt. Bei ihm ist die Langeweile keine Krankheit großer Einzelner und trotz der Konzentration auf die Angehörigen des intellektuellen Bürgertums kein Merkmal einer bestimmten Schicht. Auch wenn Gorřkij die „bedrückendeŖ, „stumpfsinnigeŖ und „böse LangeweileŖ als die „AllgewaltŖ im Leben der russischen Unterschicht seiner Zeit entdeckt und zu einem Leitmotiv im zweiten Teil seiner autobiographischen Trilogie macht8, für Ĉechov ist sie eine Erscheinung, die alle und alles erfasst. Als solche gehört sie zum menschlichen Dasein, das er, der Aufzeichner des Lebens, jenseits der gestalteten Empirie immer im Auge hat. Dass Ĉechov die Alltäglichkeit zur Totalität erhebt, bedeutet, dass selbst das Faktum des Todes den Charakter des Außergewöhnlichen verliert: Ein Lehrer spricht noch sterbend zwei der Übungssätze, die er seinen Schülern einzuhämmern pflegte9; ein toter Soldat wird an Bord eines Lazarettschiffs in Segeltuch gewickelt, mit Eisenstäben beschwert und als verschnürtes Bündel, einem Rettich ähnelnd, auf ein Brett über der Reling gelegt, von dem ihn der Wachhabende nach der knappen Rede des Geistlichen kopfüber ins Wasser stößt10; ein Weihbischof stirbt an einem Blutsturz, aber am nächsten Tag, dem Osterfest, liegt freudiges Geläute über der Stadt, die Sonne scheint, die Vögel singen, Leierkästen spielen, Menschen lachen, und trunkene Stimmen ertönen.11 Die Banalität der Sterbeworte, das Ritual der Bestattung und die Gleichgültigkeit der Umwelt nehmen dem Tod das Unbegreifliche und Majestätische. In einer Welt, in der es wie bei Ĉechov keine Transparenz gibt, erweisen sich auch die Situationen der Liebe, der Arbeit oder der Krankheit nicht mehr als Möglichkeiten, die bestehende Isolierung und Entfremdung zu überwinden und zu einem wesentlichen Leben zu gelangen. In „ArchierejŖ (Der Bischof, 1902) gelangt sogar der erkrankte Geistliche, Eminenz Petr, am Ende zu der Einsicht von der Uneigentlichkeit des Daseins: „Und jetzt, da es ihm nicht gutging, war er verblüfft über die Hohlheit und Nichtigkeit der Dinge, um die man ihn bat und um die man weinte; die Beschränktheit und die Schüchternheit ärgerten ihn; er fühlte sich bedrückt durch die Masse des Kleinlichen und Überflüssigen, und er glaubte nun, den Eparchialbischof zu verstehen, der einst in seinen jungen Jahren ‚Die Lehre von der Freiheit des WillensŘ geschrieben hatte; inzwischen aber offenbar nur noch mit Bagatellen beschäftigt war, alles vergaß und nicht einmal mehr an Gott dachte.Ŗ12 Dennoch bleibt die Sehnsucht nach Wesentlichkeit. Nikitin, die Titelfigur von „Uĉitelř slovesnostiŖ (Der Literaturlehrer, 1894), notiert in seinem Tagebuch: „Wo bin ich nur, mein Gott! Banalität und nochmals Banalität umgeben mich. Langweilige, nichtige Menschen, Töpfchen mit Rahm, Krüge mit Milch, Küchenschaben, dumme Frauen… Nichts ist entsetzlicher, beleidigender und peinigender als Banalität. Von hier fliehen, heute noch fliehen, sonst werde ich verrückt!Ŗ13 Mit diesen Worten endet die Erzählung. Dass der Wunsch zu fliehen, wie jede Form der Sehnsucht, bei Ĉechov unerfüllbar bleibt Ŕ man denke an den sehnsuchtsvollen, jedoch vergeblichen Ruf der Schwestern in „Tri sestryŖ (Die

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drei Schwestern, 1901) Ŕ, unterstreicht in „Uĉitelř slovesnostiŖ der plötzliche Abbruch Ŕ eines der auffälligsten Merkmale Ĉechovschen Erzählens. Ein neues Welt- und Menschenbild bedingte schon bei Dostoevskij auch eine neue Erzählstruktur. Ĉechovs Überzeugung von der Unaufhebbarkeit der durchschnittlichen Alltäglichkeit findet ihren formalen Ausdruck in der Plötzlichkeit und scheinbaren Beliebigkeit des Einsetzens und Abrechens. Eine doppelte Unverschlossenheit, am Anfang und am Ende, entsteht und gibt dem dazwischen Erzählten den Charakter des Ausschnitts. Der Fluss des Lebens scheint in der Wiedergabe weder angehalten noch verändert zu werden. Das impliziert den Wegfall der anekdotischen Grundlage, mit der zugleich alles andere Künstlerische wie die Geschehnisdichte, die Handlungsdynamik, die Spannungssteigerung und das Vorhandensein von Wendepunkt und Pointe entfällt. Selbst ein Motivationsgefüge, und sei es auch nur auf einen oder mehrere Zufälle gegründet, fehlt in der Regel. Das bedeutet, dass bei Ĉechov die Novelle, zumindest in ihrer klassischen Gestalt mit der Konzentration auf ein Ereignis, dem Vorrang des Geschehens gegenüber den Personen, der Geschlossenheit in der Komposition und der Verwendung des fünfteiligen Aufbauschemas, ans Ende gelangt ist. An ihre Stelle tritt eine Form der Erzählung, durch die Ĉechov neben Edgar Allan Poe zum Begründer der modernen Kurzgeschichte wurde und in dieser Hinsicht zu einer Autorität, auf die sich im 20. Jahrhundert viele Autoren der Weltliteratur von Katherine Mansfield über Ernest Hemingway bis zu Raymond Carver beriefen. Thomas Mann, lange Zeit vor allem ein Bewunderer des „großen WerksŖ und des „langen AtemsŖ, wie er sich in den Romanen Balzacs oder Lev Tolstojs findet, erkannte erst spät, in der Beschäftigung mit Ĉechovs Erzählkunst, dann aber umso klarer, „welche inneren Maße, kraft des Genies, das Kurze und Knappe gewinnen, in welcher Ŕ vielleicht über alles zu bewundernden Ŕ Gedrängtheit es die ganze Fülle des Lebens in sich aufnehmen, sich durchaus zu epischen Range erheben, ja, an künstlerischer Intensität das Große, das Riesenwerk, das unvermeidlich manchmal müde wird und ehrwürdiger Langeweile verfällt, wohl gar übertreffen kannŖ.14 Die „äußerste KürzeŖ, schon eine zentrale Forderung Puńkins an die Prosa, gehörte von Anfang an zu Ĉechovs erzählerischem Programm. Zunächst dadurch bedingt, dass der Medizinstudent aus Gründen des Broterwerbs, seit 1880 für Moskauer Unterhaltungsblätter arbeitete, die ständig und schnell gelieferte Texte im Umfang von wenigen Seiten verlangten, wurde sie später, nach sechsjähriger Schreibpraxis, um Kriterien erweitert wie „absolute ObjektivitätŖ, „Kühnheit und OriginalitätŖ, „Wahrhaftigkeit in der Beschreibung der handelnden Personen und GegenständeŖ und „Abwesenheit langgezogener Wortergüsse politisch-sozial-ökonomischen CharaktersŖ.15 Die Kürze, die Ĉechov fordert, betrifft, wie das letzte Kriterium andeutet, nicht nur den Gesamtumfang des Textes. Seinem schriftstellernden Bruder riet er: „Naturbeschreibungen müssen meiner Meinung nach sehr kurz sein und den Charakter à propos besitzen.Ŗ16 Und an Gorřkij, der ihm im Januar 1899 eine seiner ersten Erzählungen schickte, schrieb er zurück: „Besonders spürt man diese Unbeherrschtheit in den Naturbeschreibungen,

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die Sie zwischen die Dialoge setzen; wenn man sie liest, diese Beschreibungen, so wünschte man sich, sie wären kürzer, kompakter, so 2Ŕ3 Zeilen lang.Ŗ17 Das Postulat der Kürze betrifft bei Ĉechov nicht nur den äußeren Umfang des Textes, wie er in den Seitenzahlen zum Ausdruck kommt, sondern auch den Bau und den Inhalt des einzelnen Satzes. Die Grundbedingung für Ĉechovs kurzen Satz liegt in der extremen Beschränkung der Aussage auf das Wesentliche und Notwendige. Kein russischer Autor hat nach Puńkin, von Ansätzen bei Turgenev abgesehen, die Prinzipien von Kürze und Einfachheit so konsequent und so bewusst zur Kunstform erhoben wie Ĉechov. Vergleichbares findet sich weder unter den spät- und neorealistischen Zeitgenossen, sei es bei Vladimir Korolenko (den Ĉechov als den ihm „Liebsten unter den modernen SchriftstellernŖ bezeichnete)18, sei es bei Kuprin, Bunin oder Gorřkij, noch unter den erzählenden Symbolisten von Andreev und Sologub bis zu Brjusov und Andrej Belyj, sondern erst bei einer jüngeren, nach der Revolution in Erscheinung tretenden Schriftstellergeneration: zunächst bei Isaak Babelř, dann bei den Vertretern der Leningrader Avantgarde wie Michail Zońĉenko, Leonid Dobyĉin und Daniil Charms. Was Babelř in den Entwürfen zu seinem Hauptwerk, dem Erzählungszyklus „KonarmijaŖ (Die Reiterarmee, 1926)19 als Selbstermahnung notiert, „Keinerlei Erörterungen. Ŕ Sorgfältige Auswahl der WörterŖ oder „Sehr einfach, bloße Darbietung von Fakten, ohne überflüssige BeschreibungenŖ20, deckt sich bis ins Wörtliche mit den Empfehlungen, die Ĉechov in seinen Briefen nicht nur literarischen Anfängern, sondern auch anerkannten, erfolgreichen Kollegen zu geben pflegte. Immer wieder kritisiert er das Zuviel an Attributen, an rhetorischen Figuren, an Häufungen von Einzelheiten und erklärenden Einschüben und ermahnte zur Dichte, zur Kompaktheit, zu Schlichtheit und Klarheit. Das Gefühl für Maß galt ihm als oberstes stilistisches Gesetz. Deshalb beklagte er, was er als „Mangel an GrazieŖ21 empfand, und deshalb war er entzückt, wenn er auf ein Werk wie Korolenkos „SokolinecŖ (Der Flüchtling von Sachalin, 1885) stieß, das ihm als eine „schöne musikalische KompositionŖ erschien, verfasst „nach all den Regeln, die einem Künstler der Instinkt eingibtŖ.22 Denn erst im Klang gelangte für ihn der gedankliche Ausdruck zur Vollendung. Peter Urban hat in seinem Essay „Wie Ĉechovs Sätze gemacht sindŖ, aus eigener übersetzerischer Praxis schöpfend, an Beispielen dargelegt, dass der Satz bei Ĉechov nicht nur rhythmisch, sondern auch klanglich von hoher Musikalität und Lebendigkeit ist.23 Bewirkt werde dies durch verschiedenste Mittel wie die kalkuliert eingesetzte Wiederholung bestimmter Begriffe, Bilder und Motive im Gesamtverlauf der erzählten Geschichte, die logische und lautliche Verknüpfung von Sätzen durch die wörtliche Aufnahme des Satzendes am Beginn des folgenden Satzes, die von der Schulgrammatik abweichende, akustisch gliedernde, den Rhythmus der gesprochenen Sprache nachbildende Interpunktion oder die subtile Instrumentierung einzelner Satzteile durch den gleichen Vokal und den gleichen konsonantischen Anlaut.

XII. Modernes Erzählen von Ĉechov bis Babelř

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Dass die Klangstruktur, die einen Text Ĉechovs zur reinsten „TextmusikŖ24 machen kann, dabei aber jede fremdsprachliche Übertragung unweigerlich an ihre Grenzen bringt, auch eindeutige, obgleich nur aufmerksamstem Lesen zugängliche Inhaltsfunktionen erfüllt, hat Wolf Schmid paradigmatisch an „Skripka RotńilřdaŖ (Rothschilds Geige, 1894)25 und anderen Erzählungen des Autors wie „Tolstyj i tonkijŖ (Der Dicke und der Dünne, 1883/86) aufgezeigt. Die von der zufälligen Begegnung zweier ehemaliger Schulfreunde handelnde frühe anekdotische Kurzgeschichte enthält schon im Titel eine auffällige Klangfigur. Bestehend aus dem immanenten Kontrast von phonischer wie grammatischer Similarität und semantischer Opposition, kündigt sie die narrative Entwicklung des Textes von der Gleichstellung der Figuren am Anfang zu der Gegenüberstellung der Figuren am Ende an Ŕ eine Entwicklung, die bedingt ist durch die bis ins Körperliche gehende seelisch-geistige Metamorphose des Dünnen, ausgelöst vom tiefen Erschrecken über den höheren sozialen Status des anderen, und die in der Abkehr des Dicken vom Freund aus Ekel über dessen vollständige Verwandlung kulminiert und endet. Auch in der Geschichte von dem armen jüdischen Flötisten Rothschild, dem der Sargmacher Jakov Ivanov im Angesicht des Todes seine Geige vermacht, nachdem er ihn zeitlebens beschimpft hat, beginnt die klangmalerisch und klangsymbolisch ausgestaltete Sprachkunst Ĉechovs im Titel und entfaltet sich von hier über das Textganze. Denn in dem Namen „RotńilřdŖ steckt mit den Konsonanten „ńŖ einer der als „unschönŖ, „misstönendŖ geltenden Laute (ĉ, ņ, ń, ńĉ), die hier, mit dem Vokal „iŖ kombiniert, in den negativ konnotierten Wörtern enthalten sind, mit denen der Erzähler, der Wertungsposition Jakovs entsprechend, den Namensträger charakterisiert. Indem dieser so als „JudŖ (ņid) tituliert, seine Gestalt als „hagerŖ (tońĉij) und sein Haar als „rötlichŖ (ryņij) beschrieben und sein Gesicht mit einem Netz roter und blauer „ÄderchenŖ (ņilki) verglichen wird, entsteht der „Eindruck, als sei Rothschilds Name nicht vom Geschehen vorgegeben, sondern aus den Klängen des Diskurses erwachsen, als verdanke er sich dem Gesetz der KlangwiederholungŖ.26 Das bestätigt sich an anderen Stellen, wo das Auftreten des Flötisten geradezu der „Realisierung von KlanggestaltenŖ27 zu entspringen scheint. Rothschild taucht am Ende der Erzählung in einem Moment auf, als der sonst so rohe Sargmacher, nachdenklich vor seiner Hütte sitzend, in der Gewissheit baldigen Sterbens seiner Geige ganz neue „klagende und rührende TöneŖ entlockt: „Und je stärker er nachdachte, desto trauriger sang die Geige. Es knarrte der Türriegel ein-, zweimal, und in der Pforte erschien Rothschild.Ŗ28 Dass das traurige Singen von Jakovs Geige eine Konsequenz der Nachdenklichkeit eines Menschen am Ende seines Lebens (zumal eines als „verlorenŖ und „verlustreichŖ betrachteten Lebens) ist, findet auch auf der Ebene des Klangs seinen Ausdruck. Das Wort „krepĉeŖ (stärker) klingt, lautlich zerlegt, in den Wörtern „skripkaŖ (Geige) und „peĉalřneeŖ (trauriger) nach. Und wenn das Wort „skripnulaŖ (knarrte), das den zweiten der beiden scheinbar voneinander unabhängigen Sätze eröffnet, ein Klangecho zu „skripkaŖ (Geige), dem Schlusswort des vorangehenden ersten Sat-

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Die russische Erzählung

zes, bildet, so stellt sich über das Lautliche eine inhaltliche Verbindung her. Das Knarren des Türriegels, das den angsterfüllten Rothschild ankündigt (er kommt mit dem Auftrag, Jakov zum Spiel im jüdischen Orchester einzuladen), erweist sich als Handlungsecho auf die singende Geige. Das aber bedeutet auch: Der Flötist, der bis zu seinem persönlichen Auftreten durch den „knarrendenŖ (skripnula) Riegel vertreten wird so wie der sich an der Schwelle des Todes befindende Sargmacher durch die Geige, wurde gleichsam vom Klang des Wortes „GeigeŖ (skripka) angezogen. Die phonische Ordnung ist bei Ĉechov in der Lage, einen Handlungszusammenhang herzustellen, der als solcher in der erzählten Geschichte gar nicht explizit zum Ausdruck gelangt. Damit trägt auch sie neben den Mitteln der Satzstruktur und Satzverknüpfung sowie der subtilen Motiv-, Bild- und Symboltechnik entscheidend zur Verwirklichung dessen bei, was Ĉechov seine „ManieŖ nannte: „Alles kommt mir nicht kurz genug vor.Ŗ29 Dennoch sollte er gerade darin noch übertroffen werden. Isaak Babelř (1894Ŕ1941) hat von seinen ersten, 1916 in Gorřkijs Monatsschrift „LetopisřŖ publizierten Erzählungen an, wie einst Puńkin eine am Vers geschulte Prosa lyrischer Sparsamkeit entwickelnd, die epische Kurzform auf ein in der russischen Literatur vorher nicht vorhandenes Miniaturmaß reduziert.30 Dazu ging er noch über Ĉechov hinaus und löste die traditionelle Fabel so weit auf, dass es bei ihm keine eigentliche, auf der Dialektik von Verwicklung und Auflösung beruhende Handlung mehr gibt. Für den Leser entsteht der Eindruck der „BruchstückhaftigkeitŖ und „ZusammenhangslosigkeitŖ.31 Am stärksten vermittelt sich dieser Eindruck bei der Lektüre des Zyklus „KonarmijaŖ, dessen stoffliche Grundlage, der Feldzug der Ersten Roten Reiterarmee unter General Budennyj in Galizien und Wolhynien, eine literarische Verarbeitung wie in den Revolutions- und Bürgerkriegsromanen von Serafimoviĉs „Ņeleznyj potokŖ (Der eiserne Strom, 1924) bis zu Ńolochovs „Tichij DonŖ (Der stille Don, 1928Ŕ 1940) eher in großepischer Gestalt als in Form kurzer und kürzester Geschichten erwarten lassen würde. Babelř, als Kriegskorrespondent für die Frontzeitung „Krasnyj kavaleristŖ unmittelbar an Budennyjs Feldzug beteiligt, widersetzte sich nicht nur den Gattungserwartungen, sondern auch den Erwartungen der Partei, des Militärs, der offiziellen Literaturkritik und den Verfechtern einer die Doktrin des Sozialistischen Realismus antizipierenden Poetik. Die Darstellung des Kriegs in „KonarmijaŖ ist gänzlich frei von der in der frühen sowjetischen Literatur obligatorischen Heroisierung. Was der Verfasser von Juni bis September 1820 im Gefolge Budennyjs erlebt hat und in völliger Übereinstimmung mit seinen Tagebuchaufzeichnungen („Dnevnik 1920 godaŖ) bei aller Ästhetisierung streng objektiv, mit nüchterner Sachlichkeit schildert, ist eine Folge entsetzlicher Greueltaten, begangen an Zivilisten, Frauen, Kindern und Greisen und an Angehörigen beider militärischen Lager. Hinzu kommt, dass keine verlässliche Erzählinstanz existiert, die das dargestellte Geschehen in seiner Vielfältigkeit und Gegensätzlichkeit wertend, deutend oder rechtfertigend in einen größeren Sinnzusammenhang einord-

XII. Modernes Erzählen von Ĉechov bis Babelř

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net. Zwar gibt es einen mehr oder weniger präsenten Ich-Erzähler, aber Kirill Vasilřeviĉ Ljutov, wie der am Feldzug teilnehmende Berichterstatter jüdischer Herkunft heißt, wirft, wechselnde Haltungen in der Wahrnehmung der Vorgänge einnehmend (eine faktographische, eine visuelle, eine emotionale, eine ästhetische oder eine reflektierende), einen „oszillierenden BlickŖ32 auf das Ganze und zeigt so das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten (Juden, Kosaken, Katholiken, Gutherren, Kommunisten) in seiner unauflösbaren Chaotik. Babelř evozierte auf diese Weise ein „Neues SehenŖ33 des Revolutions- und Bürgerkriegsgeschehens, das den heftigsten Protest Budennyjs hervorrief und zu einem bleibenden Ärgernis in der sowjetischen Kulturpolitik wurde, jedoch die Poetik des Erzählens in Russland trotz der Vorläuferschaft Anton Ĉechovs auf eine ganz neue Grundlage stellte. Ĉechovs Zurücknahme des Sujets steigert sich zum Verzicht auf narrative Linearität und zum Verlust der Kohärenz des Textes, zumindest an seiner Oberfläche.34 Der Text besteht bei Babelř nur noch aus Einzelheiten: Handlungsrelikten, Situationen, Szenen, Tableaus. Gefördert wird diese Partikularisierung und Fragmentarisierung, die ihren Anfang in der Ersetzung der Romanform durch die zyklische Reihung von 34 Einzeltexten nimmt, mittels einer dem Film, und zwar dem zeitgenössischen Film abgeschauten Montagetechnik. „Während die Montage im alten Film ein verschweißendes, zusammenleimendes Mittel und ein Mittel zur Erhellung von Handlungssituationen, ein an sich nicht bemerkbares, verstecktes Mittel warŖ, schrieb Jurij Tynjanov 1927, „wurde sie im neuen Film zu einem der stützenden, wahrnehmenden Momente Ŕ zum wahrnehmbaren Rhythmus.Ŗ35 Analog verfuhr Babelř. Auch in „KonarmijaŖ dient das Verfahren der Montage nicht einer Verknüpfung der Teile. Anstatt alles Erzählte in fortlaufender Anordnung aufeinander folgen zu lassen, wird durch scharfe Schnitte, abrupte Übergänge und rasche Szenenwechsel nicht nur Dynamik, sondern auch Spannung und Überraschung erzeugt. Verstörende Kontraste entstehen. So bricht in lyrische Naturbilder immer wieder der Schrecken der gestörten Ordnung ein. Unberührt Schönes wird abgelöst durch abgründig Hässliches. Naivität wechselt mit Verdorbenheit, Andächtiges mit Bestialität, Idyllik mit Gewalt und Tod. Jeder Text des Zyklus bewegt sich zwischen diesen Extremen hin und her. Die einführende Geschichte „Perechod ĉerez ZbruĉŖ (Der Übergang über den Zbruĉ) beginnt mit einer poetischen Beschreibung der stillen Landschaft Wolhyniens, ihrer blühenden, vom purpurnen Mohn leuchtenden Felder, des im grüngelben Roggen spielenden Mittagswinds und des sich wie die Mauer eines fernen Klosters erhebenden jungfräulichen Buchweizens, und sie mündet am Ende in das entsetzliche Bild eines Pogromopfers, mit dem der bei einer jüdischen Familie einquartierte Erzähler unwissentlich für eine ganze Nacht die Pritsche teilt. Erst am Morgen, als eine schwangere Frau dem schlafenden Ljutov die Decke wegzieht, erkennt dieser erwachend: „Ein toter Greis liegt neben mir. Seine Kehle ist herausgerissen, das Gesicht in zwei Teile zerschlagen, in seinem Bart liegt blaues Blut wie ein Stück Blei.Ŗ36

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Babelřs Verfahren, mittels filmischer Montagetechnik37 die Kontinuität des Erzählens durch Brüche, Sprünge, Einschnitte, Umkehrungen, Entgegensetzungen und Weiteres aufzubrechen, bestimmt den Text jeweils in seiner Gesamtheit, prägt aber ebenso auch kleinere Texteinheiten, und zwar bis in die Struktur des einzelnen Satzes hinein. Der Satz „Die orangefarbene Sonne rollt über den Himmel wie ein abgeschlagener KopfŖ38 hebt naturschildernd an, um schon bald, eingeleitet durch die Verbmetapher „rolltŖ (katitsja), mit dem metaphorischen Vergleich „wie ein abgeschlagener KopfŖ (kak otrublennaja golova) eine krasse Wendung zu vollziehen: von der friedlichen Natur zu einer Welt, der Welt der Menschen, in der Mord und Totschlag herrschen. Kaum ist der Ich-Erzähler zur Naturschilderung zurückgekehrt, einer Beschreibung der „Standarten des SonnenuntergangsŖ und des „zarten LichtsŖ, das in den „Wolkenrissen aufflammtŖ, da vollzieht sich innerhalb ein und desselben Satzes der gleiche Umschlag ins Gegenteilige: „In die abendliche Kühle tropft der Geruch des Bluts vom Vortag und der getöteten Pferde.Ŗ39 Durch Bilder solch kontrastierender Art suggeriert der nicht aus der historischen Distanz, sondern aus dem Erleben des unmittelbar Beteiligten schildernde Erzähler, dass in der Welt, über die er berichtet, der Tod überall und jederzeit präsent ist Ŕ auch dort, wo er nicht so greifbar und im wahrsten Sinne des Wortes ansichtig wird wie im Schicksal des im Bett erschlagenen und verunstalteten jüdischen Greises, des Telefonisten Dolguńov, der einen Kameraden um den Gnadenschuss bittet, als die Gedärme aus seinem Leib quellen, des Schwadronskommandeurs Trunov, dem durch Flugzeugsalven die Wangen durchlöchert und die Zunge herausgeschossen wurden oder des Sohns eines Rabbis, des Rotarmisten Elia, der in einer Zimmerecke auf einem zerschlissenen Strohsack inmitten von Gedichten, Amuletten und Fußlappen qualvoll stirbt. Die direkten und indirekten Bilder des Sterbens, die bei aller Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit im Einzelfall in der Einheit der emotionalen Befindlichkeit, der moralischen Haltung und der wortkünstlerischen Leistung des erzählenden Ich wurzeln, stellen formal wie thematisch ein wesentliches verknüpfendes Element in der Disparatheit und Mosaikhaftigkeit der Textoberfläche dar. Der Eindruck der Allgegenwart des Todes, der durch sie vermittelt und durchgehend aufrechterhalten wird, so dass „KonarmijaŖ zu Recht als ein „moderner TodesreigenŖ40 bezeichnet worden ist, bildet neben dem Titelmotiv der Reiterarmee und der Instanz des Erzählers das dritte der drei Hauptthemen des Zyklus. Es verbindet und überwölbt die beiden anderen, die sich wechselseitig wie Stimme und Gegenstimme verhalten. Hinzu kommen weitere Ŕ untergeordnete, aber ebenfalls Zusammenhang stiftende Ŕ Themen: die westliche Zivilisation, das katholische Polen, das jüdische Leben in Galizien und Wolhynien, die verheerte Natur und die geschundene Kreatur. So entsteht ein „vielstimmiger ChorŖ41, ein System, das an seiner Oberfläche aufgebrochen, fragmentiert und inkohärent erscheint, aber auf einer tieferen Ebene durch die Wiederkehr von Themen, Motiven, Figuren und Bildern sowie durch Spiegelungen, Äquivalenzen, Symmetrien, Kontrast- und Analogiebeziehungen

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in sich verflochten und verschlungen ist, ein festes Ganzes bildend, das mit einer „bis in Details aufeinander abgestimmten StrukturŖ und einem „musikalisch ausgewogenen RhythmusŖ in der Musik „am ehesten der Fuge vergleichbar wäreŖ.42 XIII. Erzählen im revolutionären Kontext Isaak Babelř zeigt Ŕ darin wie kein anderer russischer Schriftsteller im 20. Jahrhundert Anton Ĉechov folgend und fortführend Ŕ dass Prinzipien der Musik und der modernen Lyrik auf die Prosa übertragen und so gattungserneuernd wirksam werden können. Zweifellos liegt dabei auch ein Einfluss des unmittelbar voraufgehenden Symbolismus vor, mit dem die moderne Lyrik in Russland beginnt und dessen Prosa, bei Andreev wie bei Sologub, bei Brjusov wie bei Belyj, „weitgehend durch lyrische Strukturen geprägtŖ ist. „In ihr findet man kaum episch breites Erzählen, verzweigte Handlungsstränge, detaillierte Milieuschilderungen und psychologisch durchgestaltete Charaktere. Sie lebt vor allem von der Assoziativität ihrer sorgsam gewählten Sprache, in der alle überflüssigen Wörter vermieden und durch rhythmische und klangliche Effekte besondere emotionale Wirkungen erzielt werden.Ŗ1 Eine große Anregung für Babelř dürfte von Aleksandr Blok (1880Ŕ1921) ausgegangen sein, der in Verserzählungen wie „DvenadcatřŖ (Die Zwölf) lyrisches und prosaisches Sprechen zu kongenialer Übereinkunft brachte. Das bedeutendste Werk aus der Anfangsphase der sowjetrussischen Literatur, das sich, im Januar 1918 entstanden, allen Zwecken propagandistischen Gebrauchs entzog, erzählt in zwölf Kapiteln, wie zwölf Männer schreiend, singend, schießend und tötend im Schneesturm durch die Straßen des revolutionären Petrograd marschieren. Am Ende nimmt die erzählte Geschichte eine Wendung ins Mythische: Jesus Christus schreitet, unsichtbar und unerklärlich, mit einer blutigen Fahne an der Spitze des Trupps. Die seltsamen Apostel der Revolution haben ihre realen Vorbilder in den Rotarmisten, die zusammen mit den Soldaten der Roten Armee die Aufgaben der alten Polizei übernahmen und Personen und Fahrzeuge kontrollierten oder öffentliche Gebäude besetzten und bewachten. Der starke Realitätsgehalt, der Bloks Dichtung auszeichnet, betrifft nicht nur das Milieu und das Personal, sondern auch die Sprache. Es handelt sich hier um die Sprache der Zeit, genauer, der Revolutionsmonate, also um den politischen Jargon, wie er auf Plakaten, Spruchbändern und Flugblättern, in Befehlen, Parolen, Dekreten und in der Tagespresse begegnete. Neben einzelnen phraseologischen Wendungen werden ganze literarische Formen übernommen. Diese Formen, Volks-, Zigeuner- und Gaunerlieder, Ĉastuńki, Romanzen, Tänze und Märsche, sind trotz ihres älteren Ursprungs von gleicher zeittypischer Relevanz. Sie wurden damals von vielen Schriftstellern als Kontrast zur hohen Literatur entdeckt. Blok verlieh seinen Versen durch sie wie durch die Wendungen des politischen Jargons eine eigentümliche Vielstimmigkeit. Charakteristisch für „DvenadcatřŖ ist, dass die Stimmen in diesem Text keine chorartige Geschlossenheit gewinnen. Sie stehen neben- und gegeneinander. Ihr Nebeneinander und Gegeneinander er-

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weist sich als die sprachliche Aktualisierung der neuen Epoche, einer Epoche, die Werte wie Harmonie, Gleichgewicht und Einheitlichkeit verachtet und verwirft. Dennoch gibt es bei Blok solche Werte. Nur finden sie sich weniger in der Handlung als in der Komposition.2 Der Widerspruch ist beabsichtigt. In der Handlung herrscht sichtbar das Chaotische der Revolution. In der Komposition waltet, verdeckt und versteckt, das Gesetzmäßige der Tradition. Bloks komplexes Werk, das von seinem Erscheinen an bei Lesern, Kritikern und Schriftstellern auf großes Interesse stieß und zur Auseinandersetzung herausforderte, hatte nach der Dominanz der Lyrik im Symbolismus, im Akmeismus sowie im Futurismus einen mächtigen Einfluss auf die sich gerade neu entwickelnde Erzählkunst. „DvenadcatřŖ demonstrierte beispielhaft, wie sich geschichtliche Gegenwart aus der Unmittelbarkeit des Erlebens und Erfahrens heraus ins dichterisch Gültige transponieren ließ. Insbesondere das Verfahren, die Epoche vornehmlich durch ihre Sprache zu vergegenwärtigen, fand zahlreiche Nachahmer. Die Straße wurde zum bevorzugten Schauplatz der Handlung. Ihre Atmosphäre und ihr Rhythmus bestimmten auch das Erzählen. Erzählen hieß in den ersten Jahren nach den Oktober-Ereignissen von den Schauplätzen der Revolution und des Bürgerkriegs zu berichten. Leid, Unrecht und Gewalt wurden dabei ebensowenig verschwiegen wie bei Blok. Die Verklärung und Verherrlichung der Ereignisse kulminiert in einer späteren Phase der Entwicklung. Zur gleichen Zeit wie Aleksandr Blok beobachtete der junge, vierundzwanzigjährige Isaak Babelř das Geschehen auf den Straßen des revolutionären Petrograd. Was er sah, zeichnete er auf. Das Ergebnis waren sechzehn kurze Prosatexte. Sie erschienen von März bis Juli 1918 unter dem Titel „Peterburgskij dnevnikŖ (Petersburger Tagebuch)3 in der Tageszeitung „Novaja ņiznřŖ, die Gorřkij im Auftrag der Sozialdemokratischen Partei herausgab. Die Texte haben den Charakter von Reportagen. Sie führen den Leser in Paläste, Kirchen, Fabriken, Kanzleien, Schlachthöfe, Fürsorgeheime und Leichenschauhäuser. Geschildert werden Begegnungen mit Müttern, Kindern und Greisen, mit Priestern, Soldaten und Prostituierten, mit Wächtern, Kutschern und Ladenbesitzern. Überall registriert Babelř einen gravierenden Mangel. Die Marktstände sind leer. Stillende Mütter haben zu wenig Milch. In den Fabriken gibt es keinen Stahl, in den Schlachthöfen keine Tiere. Es fehlt an Benzin, an Kohle, an Geld, an Arbeit, an Arznei. Der Mangel ist das eine, die Grausamkeit und Gewalttätigkeit das andere Merkmal der dargestellten Zeit. Menschen verhungern, erfrieren oder kommen bei der Evakuierung um. Invaliden und Kriegsblinde, in Viehwagen aus der Stadt gebracht, kehren zurück und drängen in die überfüllten Heime. Vor den Toren der Schauhäuser türmen sich die Leichen der Erschossenen und Erschlagenen, die unbekannte Helfer jeden Tag zu Dutzenden von den Schlitten werfen. Entflohene Häftlinge werden von kräftigen Männern in knirschenden Stiefeln eingeholt, mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen und hinter geschlossenen Türen liquidiert.

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Babelř berichtet dies alles sachlich, nüchtern und lakonisch. Seine Sicht ist die des unbeteiligten Reporters. Selbst das Schrecklichste wird ohne jegliche Gefühlsäußerung mitgeteilt. Zum Verzicht auf Subjektivität gehört bei Babelř auch schon in seinen schriftstellerischen Anfängen die Sparsamkeit der Mittel. Schon jetzt wird kein Wort zuviel gesetzt. Die Sprache, stets dicht und gedrängt, zeichnet sich bereits durch treffende Direktheit aus, und die Sätze sind, wie später in „KonarmijaŖ von äußerster Knappheit und Einfachheit. „O gruzine, kerenke i generalřskoj doĉkeŖ (Über den Grusinier, den Kerenskij-Rubel und die Generalstochter)4 ist ein Musterfall solcher Stilökonomie. Kurze und kürzeste Hauptsätze, von denen oft nur einer oder zwei einen Absatz bilden, führen stakkatoartig in den Text ein: „Zwei traurige Grusinier gehen ins Restaurant ‚Palmirař. Der eine ist alt, der andere jung. Der Junge heißt Ovanes. Die Geschäfte gehen schlecht. Der Tee ist dünn. Der Junge betrachtet die russischen Frauen. Er liebt Frauen. Der Alte betrachtet ein Orchestrion. Er fühlt sich traurig, aber es ist ihm warm.Ŗ5 Im gleichen Telegrammstil wird dann erzählt, dass der junge Ovanes eine orientalische Konditorei eröffnet, die schöne Gymnasiastin Galiĉka, die Tochter eines zaristischen Generals, erobert und nach einer Weile geschäftlichen Erfolgs durch die Denunziation des Arztgehilfen Buryńkin im Gefängnis endet. Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Grusiniers spiegelt die allgemeine Unsicherheit des Lebens in der Zeit nach der Revolution. Es ist eine Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs. Nichts hat nun Bestand. Glück und Unglück liegen nahe beieinander. Der Grusinier, durch Geschick zu Ansehen und Vermögen gelangt, stürzt über eine scheinbare Nichtigkeit. Er weigert sich, dem Arztgehilfen, der bei ihm Guzinaki kauft, auf einen Kerenskij-Rubel Kleingeld herauszugeben. Als ihn Buryńkin daraufhin fragt, ob er das „Dekret über das WechselgeldŖ nicht gelesen habe, entgegnet er: „Ich spucke auf die Dekrete.Ŗ Und auf die Frage, ob er zur Roten Armee wolle, antwortet er: „Ich spucke auf die Rote Armee.Ŗ6 Der hochmütig gewordene Konditoreibesitzer verkennt, dass freies Unternehmertum ohne Achtung der Dekrete und der Roten Armee nicht möglich ist. Zeittypisch sind auch die anderen Gestalten, von der Generalstochter, die als Kassiererin arbeitet, über den Arztgehilfen, der aus Opportunismus denunziert, und den Kommissar, der fünfzig Mann zur Hausdurchsuchung schickt, bis zu dem Instrukteur, der sich an der Front eine Geschlechtskrankheit holt. Babelř hat die für seine schriftstellerischen Anfänge charakteristische Verbindung, ja Vermischung von Reportage und Erzählung, von Fiktion und Dokumentation später sowohl in den Schilderungen seiner Kindheit in Odessa („Odesskie rasskazyŖ) als auch in dem „großen epischen GesangŖ7 vom Feldzug der „ReiterarmeeŖ beibehalten und zu höchster Perfektion entwickelt. Dagegen setzte Evgenij Zamjatin (1884Ŕ1937), ein anderer führender Vertreter der postrevolutionären russischen Literatur, der schon 1911 mit einer vielbeachteten satirischen Schilderung des „ProvinzlebensŖ („UezdnoeŖ) hervorgetreten war, ganz auf die Fiktion, obwohl er wie Babelř von der erlebten Wirklichkeit ausging und diese nicht weniger scharf beobachtete und kritischer Reflexion und Bewertung unterzog.

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Zamjatins „PeńĉeraŖ (Die Höhle), in ein und demselben Jahr entstanden wie das Hauptwerk des Autors, die Anti-Utopie „MyŖ (Wir, 1920), teilt mit Babelřs „Peterburgskij dnevnikŖ den Handlungsort: Petrograd, die „Stadt des Todes und des ElendsŖ, wie der Schauplatz der Revolution hier und dort genannt wird. Hier handelt es sich um eine geschlossene Erzählung, die keine Übergänge zur Reportage aufweist. Der Entwurf einer Welt tritt an die Stelle des Beobachtens und Beschreibens. Zwei Verfahren, Metaphorisierung und Mythisierung, spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie führten zusammen mit der Dichte der sprachlichen Komposition sowie der Verknüpfung bedeutsamer Details und symbolischer Leitmotive zu dem Ŕ zuvor schon in „MamajŖ (1920) praktizierten Ŕ Modell eines neuen literarischen Verfahrens, das, ehe es durch die offizielle Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus unterbunden wurde, eine große Wirkung auf eine Reihe junger Schriftsteller wie Konstantin Fedin, Vsevolod Ivanov, Veniamin Kaverin und andere ausübte, die zu Beginn der zwanziger Jahre unter dem Gruppennamen „Serapionovy bratřjaŖ (Serapionsbrüder) hervortraten und sich für eine Erneuerung der Literatur und den Primat der Kunst vor der Ideologie einsetzten. Schon die einführenden Sätze von „PeńĉeraŖ metaphorisieren und mythisieren die dargestellte Stadt: „Eisberge, Mammute, Einöden. Nächtliche, schwarze, an Häuser erinnernde Felsen. In den Felsen sind Höhlen. Und man weiß nicht, wer nachts auf dem steinernen Pfad zwischen den Felsen posaunt und, die Spur riechend, den weißen Schneestaub aufwirbelt, vielleicht ein graurüsseliges Mammut, vielleicht der Wind, vielleicht ist auch der Wind das eisige Geheul eines Über-Mammuts.Ŗ8 Bevor die in der Gegenwart des neuen Russland spielende Handlung beginnt, wird Urzeitliches evoziert. Die Stadt erscheint als felsige, menschenleere Schneelandschaft, die, ins Nächtliche getaucht, nur von Mammuten bevölkert und vom Geheul des Windes erfüllt ist. Mit den Höhlen in den Felsen sind die infolge des Brennstoffmangels vereisten Wohnungen der Petrograder Mietshäuser gemeint. Das Leben in Russland ist zum Höhlenleben geworden. In Felle, Decken und Lumpen gehüllt, ziehen die Menschen von Wohnung zu Wohnung, von Zimmer zu Zimmer. Die Hauptpersonen der Erzählung, Martin Martinyĉ und seine kranke Frau Mańa, sind aus dem Arbeitszimmer ins Esszimmer und aus dem Esszimmer ins Schlafzimmer gezogen. Damit haben sie, nachdem das Mobiliar jeweils zerhackt und verheizt worden ist, das letzte Refugium erreicht. „Aushalten oder sterbenŖ, lautet die Alternative. Doch die Alternative besteht in Wirklichkeit nicht. Denn es fehlt das nötige Heizmaterial. Martin Martinyĉ entwendet zwar dem Nachbarn einige Holzscheite, aber diese reichen lediglich für einen Tag, Mańas Namenstag. Beglückt und dankbar wärmen sich die Eheleute an dem eisernen Ofen, dem gierigen „GottŖ ihrer dunklen Höhle. Der Gott „singt lautŖ, dann verlischt er „gleichmütigŖ. Mańa nimmt das Giftfläschchen, das nur für eine Person reicht; Martin Martinyĉ verlässt die Wohnung und begibt sich in die eisige Winterkälte. Die Situation, die Zamjatin beschreibt, ist eine Endsituation. Dazu entwirft er einen eigenen Mythos, mit einem Gott im Zentrum, wie es zu einem echten My-

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thos gehört. Dieser Gott, „kurzbeinig, rostig-rothaarig, untersetzt und gierigŖ, anschaulich also wie die Götter der griechischen Mythologie, ist der „HöhlengottŖ (peńĉernyj bog) Ŕ der „eiserne OfenŖ.9 Die Menschen, die sich um ihn scharen, leben in Felsenhöhlen, dort, „wo Ewigkeiten vorher Petersburg warŖ.10 Wenn er, der Gott, laut singt, sich als „großes feuriges WunderŖ enthüllend, wird es Frühling in der dunklen Höhle Ŕ „auf eine StundeŖ. Dann werfen die Höhlenbewohner ihre „TierfelleŖ ab, dazu die „KrallenŖ und die „HauerŖ, „und durch die vereiste Hirnschale sprießen grüne HälmchenŖ.11 Sobald der Höhlengott verstummt, in sich zusammensinkt, kaum noch glüht, um schließlich ganz zu erlöschen, verwandeln sie sich zurück in Tiere: in Mammute vor allem, riesige Überschuhe und dicke Pelze tragend, aber auch in Vögel und in Eidechsen. Als Martin Martinyĉ hört, wie seine Nachbarn in der Höhle unter ihm mit dem Steinbeil Holz spalten, das von einer Barke stammt (eine Anspielung auf den Totenkahn), spalten sie, wie es heißt, zugleich auch ihn: „Eine Hälfte Martin Martinyĉs lächelt lehmig zu Mańa und mahlt auf der Kaffeemühle getrocknete Kartoffelschalen für Fladen, die andere Hälfte Martin Martinyĉs ist wie ein Vogel, der sich aus der Freiheit in ein Zimmer verflogen hat. Er stößt sich sinnlos und blind an der Decke, an den Fensterscheiben, an den Wänden Ŕ ‚wo könnte Holz sein, wo könnte Holz sein, wo könnte Holz seinŘ.Ŗ12 Und als sich Martin Martinyĉ schwankend und stöhnend mit seinen an der Kette scheppernden Eimern über die vereiste Treppe nach unten zu seinem Nachbarn begibt, bei dem das Wasser noch läuft, heißt es weiter: „Obertyńev selbst öffnet die Tür. In einen Mantel gehüllt, um den ein Bindfaden gebunden ist, seit langem nicht rasiert, ist sein Gesicht eine mit rötlichem, staubbedeckten Gras bewachsene Steppe. Durch das Steppengras sieht man gelbe, steinerne Zähne, und zwischen den Steinen wird wie ein flüchtiges Eidechsenschwänzchen ein Lächeln sichtbar.Ŗ13 Zamjatin mythisiert die Wirklichkeit, um sich so ihres Sinns zu vergewissern. Denn wie Bruno Schulz, der ähnlich verfuhr, als er ein Jahrzehnt später den Niedergang des altjüdischen Lebens in Galizien schilderte, in seinem programmatischen Aufsatz „Mityzacja rzeczywistościŖ (Die Mythisierung der Wirklichkeit, 1936) schreibt: „Jedes Fragment der Wirklichkeit lebt dank der Tatsache, dass es Anteil an einem universalen Sinn hat. Die alten Kosmogonien brachten dies durch die Sentenz zum Ausdruck, dass am Anfang das Wort war.Ŗ14 Ausgehend von der Überzeugung „Das Wort in seiner heute geläufigen Bedeutung ist nur noch ein Fragment und Rudiment einer alten allumfassenden, integralen MythologieŖ, schlussfolgert Schulz: „Deshalb hat es auch die Tendenz, nachzuwachsen, sich zu regenerieren und seinen vollen Sinn wiederzuerlangen.Ŗ15 Die sich von hier aus ergebende Auffassung der Dichtung als „Kurzschlüsse des Sinns zwischen den Worten, jähe Regenerationen der ursprünglichen MythenŖ16 teilte Zamjatin und stellte durch immer neue Kurzschlüsse das Leistungsvermögen der Worte dar. In „PeńĉeraŖ versinnbildlicht er die postrevolutionäre Wirklichkeit Petersburgs, noch bevor er den eisernen Ofen zum Höhlengott erhebt und zum Zentrum dieser Welt erklärt, durch den Bezug zu einem biblischen Mythos: „In

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dem Petersburger HöhlenschlafzimmerŖ Martin Martinyĉs und Mańas „sieht es aus wie in der Arche Noah Ŕ von der Sintflut durcheinandergewirbelte reine und unreine Wesen: ein Schreibtisch aus Mahagoni, Bücher, steinhart gebrannte Fladen, Skrjabin Opus 74, ein Bügeleisen, fünf Kartoffeln mit liebevoll weißgewaschener Schale, die Nickelgitter der Betten, eine Axt, ein Frisiertisch, Brennholz.Ŗ17 Das wirklichkeitmythisierende Bild einer Flut von alttestamentlichem Ausmaß wird in „PeńĉeraŖ, nachdem es zur Beschreibung der Situation gerade erst eingeführt ist, gleich wieder zurückgenommen. An seine Stelle tritt dann das der Höhle (mit dem Höhlengott) und erfüllt entsprechend dem Titel der Erzählung von nun an eine einende und integrierende Funktion. Zamjatin spricht in diesem Fall von einem „integralen BildŖ (integralřnyj obraz) und meint damit eine Art von Bild, das seinerseits ein „ganzes System abgeleiteter BilderŖ hervorbringt, „mit seinen Wurzeln durch Absätze und Seiten wächstŖ und sich so „über den gesamten Text ausbreitetŖ.18 Dergestalt fungiert die Flut in „NavodnenieŖ (Die Überschwemmung, 1930)19, dem letzten in der Sowjetunion veröffentlichten Werk des Autors, das nach „PeńĉeraŖ einen weiteren Höhepunkt seiner Erzählungskunst darstellt. Den Schauplatz des Geschehens bildet jeweils dieselbe Stadt. Jetzt aber handelt es sich, wie gleich der Eingangssatz betont, nicht mehr um das revolutionäre Petrograd: „Um die Vasilřevskij-Insel herum lag die Welt wie ein weites Meer: Dort hatte sich der Krieg abgespielt, dann die Revolution.Ŗ20 Doch wieder einmal befindet sich die Stadt in Aufruhr. Nur das, was vorher von Menschen gemacht war, der für viele in Blut und Tod endende Umsturz der Gesellschaft, ist nun von den gewaltigen, entfesselten Kräften der Natur verursacht. Stellt Zamjatin 1920 die Stadt an der Neva metaphorisch als Felsen- und Höhlenlandschaft dar, zeigt er sie zehn Jahre danach als eine einzige Meereslandschaft. Damit ist zunächst noch nichts Besonderes zur Erscheinung gebracht. Denn die ehemalige Hauptstadt des russischen Reichs wurde seit ihrer Gründung durch Peter den Großen lagebedingt immer wieder einmal mehr oder weniger überflutet. Zamjatin nutzt in „NavodnenieŖ die Naturkatastrophe am Ende der zwanziger Jahre Ŕ wie in „PeńĉeraŖ die Folgen von Revolution und Bürgerkrieg in den Jahren nach 1917 Ŕ, um dem Text eine zweite Ebene zu geben. Die „reale Petersburger ÜberschwemmungŖ wird Ŕ worauf der Verfasser selbst verweist Ŕ zur „Überschwemmung der SeeleŖ.21 Die Person, auf die das im Titel gesetzte integrale Bild, die „mythopoetischorganologische MetapherŖ22 der Überschwemmung, ihre Anwendung findet, ist die weibliche Hauptgestalt Sofřja. Verheiratet mit dem Heizer Trofim Ivanyĉ, fürchtet die fast vierzigjährige kinderlose Frau nicht ohne Grund, dass ihr Mann sie wegen ihrer bisherigen Unfruchtbarkeit eines Tages verlassen werde. Als ihr Nachbar, ein verwitweter Tischler, stirbt, schlägt sie deshalb Trofim vor, die dreizehnjährige Tochter des Verstorbenen an Kindes statt aufzunehmen. Bald übernimmt Ganřka, wie das Mädchen heißt, in der wieder vom Leben erfüllten Woh-

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nung die Rolle der Haus-, ja Ehefrau. Für Sofřja folgen Wochen und Monate der Duldung, der Demütigung, der Verzweiflung. Auch der vorübergehende Umzug in die alte Tischlerwohnung ein Stockwerk höher, bedingt durch ein verheerendes herbstliches Hochwasser, führt zu keiner Wiederherstellung der früheren ehelichen Gemeinschaft. Am Tag der Rückkehr ins Erdgeschoss kommt es zu der erwarteten, durch die Flut und ihre immanente Metaphorik angekündigten Katastrophe. Die äußere Überschwemmung verkehrt sich in eine innere, seelische. So wie sich das unentwegt ansteigende, über die Ufer tretende Wasser nicht aufhalten lässt, so ist auch der Gefühlsüberschuss in Sofřja nicht zu bändigen, als sie sieht, dass Ganřka mit dem Messer Kienspäne schnitzt, um damit den Ofen für eine Liebesnacht mit Trofim anzuheizen. Erfüllt von dem „scharfen, süßlichen Geruch des SchweißesŖ, den die junge Geliebte ihres Mannes verströmt, greift sie wie benommen, keiner rationalen Kontrolle fähig, zu dem auf dem Boden liegenden Beil. Zamjatin entfaltet das „integrale BildŖ des Textes, um die Raserei der Heldin und ihre entsetzliche Tat, die sich psychologischer Erklärung zu entziehen scheint, nachvollziehbar zu machen: „Als Sofřja den Geruch in sich aufnahm, stieg in demselben Moment etwas von unten her in ihrem Leib auf, überschwemmte ihr Herz, ertränkte alles. Sie wollte nach einem Halt suchen, aber sie wurde davongetragen wie damals das Holz auf der Straße und die Katze auf dem Tisch. Von einer Welle erfasst, hob sie ohne etwas zu denken, das Beil vom Boden auf, sie wusste selber nicht warum.Ŗ23 Der Einsatz der Axt als Mordwaffe („Sofřja schlug noch mehrere Male gierig und schnell mit der scharfen Seite des Beils auf Ganřkas KopfŖ)24 erinnert an den berühmtesten Tötungsakt in der russischen Literatur. Die aufgerufene Erinnerung verdeutlicht aber gerade den zentralen Unterschied. Raskolřnikov in Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanieŖ (Schuld und Sühne, 1866) handelt, getrieben von einer Idee, planerisch, überlegt, kontrolliert, Zamjatins Heldin dagegen emotional, unbewusst, rauschhaft. Erst nachdem sie das Beil weggeworfen hat, kommt sie wieder zu sich Ŕ und fühlt sich auf einmal frei, so frei, wie noch nie zuvor. Jeder menschlichen Natur zuwider verspürt sie „weder Angst noch SchamŖ.25 Die Zerstückelung und Beseitigung der Leiche sowie das Verwischen aller Spuren erledigen ihre Hände „völlig unabhängig von ihrŖ.26 Gelöst und glücklich, öffnet sie sich in der Nacht, „zum erstenmal im LebenŖ, ihrem Mann „ganz, bis auf den GrundŖ.27 Dieser wendet sich ihr wieder zu, und bald wächst in ihrem Leib das von beiden sehnlichst erwünschte Kind. Mit dem Wachsen der Leibesfrucht, der Entstehung neuen Lebens, begreift Sofřja langsam, was sie Entsetzliches getan hat, und nach der Geburt einer Tochter wird sie von grenzenlosem Schauder erfasst. Wie bei Dostoevskij holt die Tat den Täter ein. Doch während Raskolřnikov schon bald, von dem Augenblick an, als er in einen fiebrigen Zustand verfällt, zur Erkenntnis seiner Schuld gelangt und über Geständnis und Beichte zu Reue und Sühne findet, bekennt sich Sofřja zwar zu ihrem Verbrechen, spricht sich aber damit noch nicht schuldig. In der Tat, schuldig ist sie nur im religiösen und juris-

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tischen Sinne, nicht jedoch auf der Ebene mythischen Denkens. Der archaischen Logik des Textes folgend, besitzt die Mordtat sogar eine immanente Notwendigkeit. Bereits in einer früheren Erzählung, in „ĈrevoŖ (Der Leib, 1913), hatte Zamjatin die uralte Überzeugung aufgegriffen, dass die Frau über ein weder von der Vernunft noch von der Ethik begründetes, jedoch von der Natur gegebenes Recht auf Mutterschaft verfügt. Afimřja, die gezwungen wurde, den ungeliebten Witwer Petra zu heiraten, um dessen zweijährigen Sohn aus seiner ersten Ehe zu versorgen, bleibt ohne eigenes Kind, bis sie von ihrem Nachbarn schwanger wird. Von ihrem Mann, der daraufhin zu trinken beginnt, immer wieder heftigen Schlägen ausgesetzt, erträgt sie um des werdenden Kindes willen alle Gewalttätigkeiten. Als sie aber durch weitere Brutalitäten am Ende eine Fehlgeburt erleidet, tötet sie Petra mit der Axt und zerstückelt anschließend seinen Körper Ŕ genauso wie es Sofřja in „NavodnenieŖ mit ihrer jungen Rivalin macht. Die Mordtat wird zur mythischen Aufgabe. Zamjatin demonstriert in „NavodnenieŖ an einer scheinbar privaten Geschichte den uralten Wechselbezug von Tod und Leben, von Untergang und Wiedergeburt. Indem er in einer Zeit des geschichtlichen Umbruchs und des Verlusts an Kontinuität und Sicherheit noch einmal an das mythische Denken der Symbolisten anknüpfte, dieses jedoch erzählerisch erneuerte, verlieh er der Privatheit sowohl Aktualität als auch Allgemeingültigkeit. Der Verfasser von „NavodnenieŖ, von „ĈrevoŖ, „MamajŖ und „PeńĉeraŖ war in Russland nicht der einzige, aber der konsequenteste und zudem wirkungsmächtigste Vertreter einer „modernistischen Re-MythisierungŖ28 der Literatur. In einer Welt zunehmender Rationalisierung wurde dem Leser dadurch wieder der Blick für die seelischen Abgründe und die Nachtseiten des Menschen eröffnet. Auch Ivan Bunin (1870Ŕ1953) nutzte das Verfahren, als er im August 1915 innerhalb weniger Wochen die Erstfassung von „Gospodin iz San-FranciskoŖ (Der Herr aus San Francisco, 1915)29, seiner bekanntesten und vielschichtigsten Ezählung, schrieb. Auf diese Weise wurde aus der Geschichte von einem alternden, reichen Amerikaner, der während seiner Europareise in einem Hotel auf Capri stirbt, präsentiert in klassischer Novellenform mit dem dramatischen Aufbau von Exposition, Peripetie und katastrophischem Finale, eine Art moderner „SchicksalstragödieŖ.30 Die fast ausschließliche Namenlosigkeit der Figuren, nicht nur des Helden sowie seiner Frau und seiner Tochter, sondern auch der Gäste und der Besatzung des Luxusdampfers, auf dem der Herr aus San Francisco angereist ist und auf dem er als Leichnam zurückgebracht wird, unterstreicht die allgemeinere, über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung des Erzählten. Als „überindividuelle SchicksalsträgerŖ31 sind die dramatis personae dieser Novelle alle Teilnehmer an der „Comedi vom reich sterbent mannŖ (Hans Sachs)32 und damit Exponenten des teatrum mundi, in dem jeder seine Rolle spielt, wenngleich diese bei Bunin nicht mehr wie bei Calderon und anderen Dichtern des europäischen Barocks, ja wie selbst noch bei Hugo von Hofmannsthal, von Gott zugeteilt wird. Deshalb stirbt der Herr aus San Francisco Ŕ anders als der Protagonist

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von Tolstojs Erzählung „Smertř Ivana IlřiĉaŖ Ŕ ohne göttliche Erlösung. Dennoch gehört Bunins Text zu dem „Schatz von Mythen und Allegorien, die das Mittelalter ausgeformt und den späteren Jahrhunderten übermacht hatŖ33 und auf die sich auch Hofmannsthal in seinen Schau-Spielen von „JedermannŖ (1911) bis zu „Das Salzburger große WelttheaterŖ (1922) bezieht. Diese Generalisierung des vorliegenden Einzelfalls in seiner schicksalhaften Bestimmtheit beginnt damit, dass der „ausgedehnten und komfortablen ReiseŖ, die sich der Held nach den vielen Jahren leistet, in denen er „sich abgeplagtŖ, jedoch „nicht gelebtŖ hat34, von Anfang an der alte, aus der Antike kommende Topos der Schiffsreise im Sinn der Lebensreise mit all ihrer Metaphorik und Symbolik unterlegt wird. Die durch diese Schiffsreise symbolisierte Lebensreise erscheint bei dem Herrn aus San Francisco als Seelenreise. Durchwirkt von christlich-religiöser Motivik, weist sie zurück auf das Bild des Narrenschiffs und seine Darstellung bei Sebastian Brant und Hieronymus Bosch.35 Bunins Held, gezeichnet weniger als Kapitalist aus der Neuen Welt, der er natürlich auch ist (er lässt Tausende von Chinesen für sich schuften), ist ein Nachkomme der fahrenden Narren Brants und Boschs und als solcher seelisch sowie geistig gefährdet durch sinnlichen Genuss und körperliche Befriedigung, durch Müßiggang, Trägheit und Indifferenz. Das Gleiche gilt für alle übrigen Passagiere auf dem Luxusdampfer, die „dekolletierten DamenŖ in ihren eleganten Roben, die „Herren in Frack oder SmokingŖ, die Havannazigarren rauchend und Kognak und Likör trinkend, von „Negern in roten WestenŖ bedient, an der Bar sitzen oder die Paare, die sich im gleißenden Licht des Tanzsaals bei „schamlos-süßerŖ Musik im Tango wiegen oder im Walzertakt drehen.36 In schneidendem Kontrast zum Gehabe dieser neureichen Schiffsgesellschaft, die in ihrer Vergnügungssucht unempfänglich ist für die unheilverkündende mythische Naturgewalt des sturmgepeitschten Meeres steht die unterste Ebene des Dampfers, auf der sich der Maschinenraum befindet. Heidnische und christliche Bilder und Motive werden bei dessen Beschreibung aufgerufen und evozieren, sich durchdringend, die Schrecken verbreitende Vorstellung von Hölle und Hades: „Der unterseeische Bauch des Schiffes glich dem finsteren, heißen Schoß des Infernos, seinem letzten und neunten Kreis: Da schlangen die glühenden Mäuler riesiger Feuerstellen mit dumpfem Gelächter Berge von Steinkohle in sich hinein, die bis zum Gürtel nackte Männer unter Gepolter schaufelten, glutrot vom Feuer und triefend von beißendem schmutzigen SchweißŖ.37 In diese Unterwelt des Schiffes transportiert man den so unerwartet verstorbenen Helden in einer Sodawasserkiste über die Hintertreppe des Hotels. Seine Rückkehr nach Amerika wird dann zu einer den Mysterienkulten entstammenden, von Homer (im 11. Gesang der „OdysseeŖ) erstmals dargestellten katabasis. Unterdessen vergnügt sich auf dem Oberdeck die Klasse des Verstorbenen und bereits Vergessenen in den Ballund Speisesälen, wie einst das Volk Israels um das Goldene Kalb tanzend, weder die Warnung des tobenden Schneesturms beachtend noch den Teufel wahrneh-

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mend, der vom Gibraltarfelsen herab das vorbeifahrende Totenschiff mit seinen Blicken verfolgt, bis es in den Wasserbergen verschwindet. Zwei Jahre vor der Niederschrift von „Gospodin iz San-FranciskoŖ verwendete Bunin die Metaphorik von Wasser und Meer, um mit ihr seine Sicht des Zustands der zeitgenössischen russischen Literatur zu beschreiben. Ihre „wertvollsten KennzeichenŖ, allen voran „Tiefe, Ernsthaftigkeit, Einfachheit, Unmittelbarkeit, DignitätŖ, seien verlustig gegangen: „Wie ein Meer haben sich Vulgarität und ein übler Ton ausgebreitet.Ŗ38 Dem Neorealismus Gorřkijs verhaftet, verwarf Bunin sämtliche modernistischen Ansätze, am ausdrücklichsten die der Symbolisten und der Futuristen. Die Bibelbezüge und die Rückgriffe auf mythische Vorstellungen in der Jedermannsgeschichte vom Tod des reichen Amerikaners stehen so ganz im Dienst eines ausgeprägten Traditionsbewusstseins. Dagegen hat die Re-Mythisierung bei Zamjatin gerade einen entscheidenden Anteil an der Erneuerung des Erzählens insgesamt. Zudem stellt sie eine Möglichkeit dar, sich der komplexer und widersprüchlicher gewordenen Realität auf einem anderen Weg als dem des traditionellen Realismus zu vergewissern. Wie schon einmal, zur Zeit der Romantik, wurde die Gattungsform Erzählung auch anfangs der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu einem bevorzugten Experimentierfeld. Während Zamjatin die dargestellte Wirklichkeit mythisiert, wird sie bei Aleksandr Grin (1880Ŕ1932) ins Phantastische überhöht. Dessen „KrysolovŖ (Der Rattenfänger, 1924)39 führt wie „PeńĉeraŖ in das hungernde und frierende Petrograd der Revolutions- und Bürgerkriegsperiode und zeigt daher die Stadt ebenso als einen Ort von höchster existentieller Bedrohung. Der Held und IchErzähler gerät an einem Frühlingstag des Jahres 1920 in das verlassene Gebäude der Zentralbank, durchschreitet einen Raum nach dem anderen und verliert zunehmend die Orientierung. Alles wiederholt sich: die Türen, die Treppen, die Gänge, die Möbelstücke, die Haufen von Kalk und Papier auf dem Boden. Der Ort wird zum Labyrinth, der Aufenthalt zum Alptraum. Zu dem Gefühl des Gefangenseins kommt die panische Angst vor den Ratten, die, fuchsrot, riesigen Eidechsen gleich, aus einem Schrank mit Lebensmitteln springen und die später in Menschengestalt, lachend, schreiend, quiekend, zischend, zu einem Ball, einem Bankett oder einem Jubiläum versammelt, unter flammenden Lüstern den Hauptsaal der Bank bevölkern. Als sie den Eindringling entdecken, muss der Entdeckte, von allen Seiten gehetzt, um sein Leben laufen. Über knarrende Dielen, endlose Korridore, dunkle Stiegen und das Gerümpel der Mansarden erreicht er, durch das Dachfenster kletternd, mit knapper Not das rettende Freie. Was ihn rettet, ist weniger der Gedanke an sich selbst als der Wille, den gefährdeten Rattenfänger zu warnen. Auch die Liebe zu der Tochter des Rattenfängers trägt zum Gelingen der Flucht bei. Sie vollbringt zuvor schon das Wunder, die Stimmen durch die Apparate des stillgelegten Telephonnetzes zu verbinden. Menschlichkeit und Sittlichkeit sind hier im Gegensatz zu der Welt Zamjatins nicht völlig zerstört. Beides behauptet sich. Von einem Triumph aber kann keine Rede sein. Die Ratten lassen sich nicht, wie in der Sage, aus der Stadt locken und

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im Fluss ertränken. Angezogen durch Krieg, Chaos und Seuchen, haben sie sich offensichtlich auf Dauer eingenistet. Sie leben ganz im Überfluss, wohingegen es den Menschen an allem fehlt. Aus dem Dunkel und dem Luxus heraus erzeugen sie Angst und Schrecken. Ständig ihre Gestalt wechselnd, verkörpern sie das Gefährliche und Unheimliche des Lebens in den Zeiten der Not und des Übergangs. Grin gibt keine Lösung. Er lässt offen, wer am Ende siegt. Indem er die Erlebnisse seines Helden als Fieberwahn, das heißt als Folge von Hunger, Schwäche, Schlaflosigkeit und nervlicher Zerrüttung gestaltet, rückt er selbst den Realitätsgehalt des Textes ins Vieldeutige. Eine eindeutigere Form literarischer Phantastik schuf Efim Zozulja (1891Ŕ 1941) mit der „Geschichte von Ak und der MenschheitŖ (Rasskaz ob Ake i ĉeloveĉestve, 1919). Im Unterschied zu seinem Lehrer Zamjatin glaubte er an die rettende Kraft der Vernunft. Um dies zu veranschaulichen, spielte er das Ungeheuerliche durch: Ein Gremium unter Aks Vorsitz überprüft bei jedem Einwohner einer Stadt das „Recht auf LebenŖ und vernichtet Tausende, die als „wertlosŖ beurteilt wurden, innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Auf dem Höhepunkt der Handlung erfolgt der Umschlag. Während die Maschinerie auf Hochtouren läuft und die Trupps der Urteilsvollstrecker in der Hauptverwaltung ein- und ausmarschieren, verschwindet Ak im Grauen Schrank und denkt, auf den Akten der Vernichteten sitzend, über den bisherigen Verlauf der Unternehmung nach. Am Ende verkündet ein Spruch allen Bürgern, dass das Leben von nun an unantastbar ist. Der Spruch wird wie am Anfang durch Plakate bekanntgegeben. Zozuljas Erzählung handelt von der Diktatur der Ideologie. Die Kritik zielt auf die Führer der Revolution, die im Namen weltanschaulicher Konzepte wie Götter über Leben und Tod entscheiden. Enthüllt wird, dass sich hinter Fortschrittsoptimismus und Glücksverheißung eine totale Menschenverachtung verbirgt. Szenen und Protokolle führen diese Verachtung eindringlich vor Augen. Dabei zeigt sich zugleich die Gefahr des bürokratischen Apparats, der stets zur Verselbständigung neigt: „Es kam vor, dass wenige Spezialisten innerhalb einer Stunde ein gutes Hundert Leute in das Jenseits beförderten. Und in den Grauen Schrank flogen dann hundert Beurteilungen, in denen die Prägnanz des Ausdrucks mit der grenzenlosen Selbstsicherheit der Autoren wetteiferte.Ŗ40 Töten wird zum Verwaltungsakt. Da die normale durchschnittliche Existenz als wertlos gilt, ist ein Ende des Tötens nicht abzusehen. Der Autor aber hält, um der parabelhaften Wendung willen, den Vorgang an. Er lässt seinen Helden zur Besinnung kommen. Ak leitet, nachdem er einige Zeit verschwunden war, die Umkehr ein. Als er eines Tages das Verlangen spürt, die frühere Schreckensherrschaft fortzusetzen, muss er erkennen, dass die neue Ordnung inzwischen so reibungslos funktioniert wie die alte. Diesmal verschwindet er für immer. Zurück bleiben die Menschen, die er zuerst vernichtete, dann bemitleidete und schließlich wieder vernichten wollte. „Sie leben bis zum heutigen Tag immer noch so, als hätte es Ak niemals gegeben und als hätte niemand je die große Frage nach dem Recht auf das Leben berührt.Ŗ41

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Zozulja stellt den wechselnden Theorien von der Veränderbarkeit der Welt seinen festen Glauben an das Ewige und Unveränderbare der Menschheit entgegen. So zeigt er: Sobald niemand mehr Angst hat, auf die Straße zu gehen, und laute Stimmen, Lachen, Musik und Gesang aus den Häusern ins Freie dringen, kommen Selbstbewusstsein und Eigenliebe der Städter wieder zu voller Entfaltung. „Zänkereien und ZusammenstößeŖ sind bald an der Tagesordnung. Kontrahenten rücken einander auf den Leib und versteigen sich zu Äußerungen wie „Sie verdanken Ihr Leben offenbar einem IrrtumŖ.42 Einige billigen sogar den Terror. „Man muss weiter säubern und nochmals säubern!Ŗ, sagt ein Bürger, und ein anderer ergänzt: „Es gibt noch viel überflüssiges Volk.Ŗ43 Was die Erzählung nicht weniger charakterisiert als das Erschrecken über die latente Gewaltbereitschaft der Menschen, die gerade erst dem Automatismus der Vernichtung entgangen sind, ist der bittere Spott über die übergangslose Einrichtung in der Trivialität des Alltäglichen. „Das Leben normalisierte sichŖ, heißt es, „Von morgens bis abends kreischten die Grammophone. Auch Geige, Klarinette und Gitarre wurden gespielt. Die Männer zogen abends die Jacketts aus, saßen mit gespreizten Beinen auf den Balkons und rülpsten vor Wohlbehagen.Ŗ Die satirische, ans Groteske grenzende Beschreibung gipfelt in den Sätzen: „Die Leute kauften Spiegel und besahen sich darin mit Genugtuung. Die Maler und Photographen erhielten Aufträge, Porträts anzufertigen. Die Porträts wurden gerahmt, und dann schmückte man die Wände der Zimmer mit ihnen. Wegen dieser Porträts kam es sogar zu einem Mord, über den in den Zeitungen viel geschrieben wurde. Ein junger Mann, der in einer Wohnung ein Zimmer gemietet hatte, verlangte, dass die Inhaber der Wohnung die Bilder ihrer Eltern aus seinem Zimmer entfernten. Die Wirtsleute fühlten sich gekränkt und brachten den jungen Mann um, indem sie ihn Ŕ vom vierten Stockwerk Ŕ auf die Straße warfen.Ŗ44 XIV. Die Erneuerung der satirischen Tradition Ehe Michail Zońĉenko (1895Ŕ1958), Mitglied der „SerapionsbrüderŖ seit 1921, die nach Saltykov-Ńĉedrins und Leskovs Tod abgebrochene Tradition der Satire aufnahm und zeitgemäß erneuerte, hatte Zozulja mit „Rasskaz ob Ake i ĉeloveĉestveŖ die Entwicklung um einige Jahre vorweggenommen. Er antizipierte 1919 in seiner Erzählung die Besserung der allgemeinen Lage, die die Voraussetzung für die Entstehung der satirischen Erzählform bildete. In Wirklichkeit hatten die Schrecken des Alltagslebens in den Wintermonaten 1919/20 und 1920/21 gerade ihren Höhepunkt erreicht. Erst zu Beginn des Jahres 1921 war der Bürgerkrieg bis auf vereinzelte Kämpfe im Fernen Osten beendet, und die Sowjetregierung konnte sich nun mit der Linderung der größten wirtschaftlichen Not befassen. Lenin, der die Errungenschaften der Revolution gefährdet sah, führte im März 1921 gegen den Widerstand des linken Flügels seiner Partei die „Neue Ökonomische PolitikŖ (NĖP) ein. Privathandel und Privatwirtschaft wurden, wenn auch in begrenztem Umfang, wieder zugelassen. Ein schneller Aufschwung war die Folge. Anstatt der Revolutionäre, Volksredner, Rotarmisten und Partisanen bestimmten

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jetzt die Händler, Geschäftsleute, Fabrikanten, Buchhalter und Bürokraten das Bild der Zeit. Das Funktionieren der Marktgesetze, verbunden mit der Lockerung der staatlichen Kontrollen und Restriktionen, hatte aber auch negative Begleiterscheinungen. Der Erwerb von Geld und Besitz bildete nun eines der erstrebenswertesten Ziele. Materialismus und Utilitarismus verdrängten den Idealismus und Utopismus der Revolutionsepoche. Überall herrschten Eigennutz und Habgier. Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit breiteten sich immer weiter aus. Die Kriminalität wuchs. Zugleich stieg das Ŕ von Zozulja fiktiv vorausentworfene Ŕ Verlangen, sich nach den jahrelangen Entbehrungen zu zerstreuen und zu vergnügen. Eine regelrechte Vergnügungssucht erfasste die Menschen. All dies war ein weites und ergiebiges Feld für kommende Satiriker. So wurde die Satire in kürzester Zeit zur beliebtesten literarischen Ausdrucksweise. Mit ihr gewann die Erzählkunst etwas von ihrer früheren Bedeutung zurück. Allerdings handelte es sich um eine Kunst der kleinen, auf wenige Seiten beschränkte Form. 1923 stellte Majakovskij fest: „Die Zahl und zum Teil auch das Niveau der Satire sind gestiegen.Ŗ1 Und er antwortete auf die Frage, womit das zu erklären sei: „Zuallererst natürlich mit unserem politischen Sieg und mit einer Reihe unserer ökonomischen Siege. Da hat sich die Möglichkeit ergeben, das sowjetische „InterieurŖ ernsthafter zu reinigen.Ŗ2 Mit der Reinigung des sowjetischen ‚InterieursŘ begannen neben Zozulja und Zońĉenko bald auch Bulgakov sowie Ilřf und Petrov, Ėrenburg, Oleńa, Platonov, Ivan und Valentin Kataev und andere fuhren in dieser Hinsicht fort. Ėrdman und Majakovskij beteiligten sich auf dramatischem Gebiet. Fast alle hatten ein und denselben Lehrmeister: Nikolaj Gogolř. Die Erneuerung der Gogolřschen Tradition stieß beim Lesepublikum auf große Resonanz. Zu dem Erfolg trugen auch die Zeitschriften und Verlage bei, die in ständig wachsender Zahl gegründet wurden. Gegen Ende der zwanziger Jahre erhoben sich erste kritische Stimmen. Der einflussreichste Verband, die „Russische Assoziation proletarischer SchriftstellerŖ (Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej), abgekürzt RAPP, nahm die radikalste Position ein und erklärte, die Satire sei als eine Form, die stets die bestehende Ordnung angegriffen habe, für die Entwicklung des Sozialismus „schädlichŖ und „überflüssigŖ. Einige Jahre später lehnte ein Moskauer Verlagslektor den Druck einer satirischen Erzählung mit den Worten ab: „Zum Lachen ist es für das Proletariat noch zu früh. Mögen unsere Klassenfeinde lachen!Ŗ3 Keiner der frühen sowjetischen Satiriker wollte das System prinzipiell in Frage stellen. Jeder verstand Kritik als konstruktive Kritik. Das gemeinsame Ziel war die Entlarvung des inneren Feindes. „Der Feind Ŕ das sind nicht mehr die Heerhaufen der WeißgardistenŖ, erläuterte Lenin 1921, „das ist der graue Alltag der Ökonomik in einem kleinbäuerlichen Land mit einer ruinierten Großindustrie. Der Feind Ŕ das ist das kleinbürgerliche Element, das uns wie die Luft umgibt und sehr stark in die Reihen des Proletariats eindringt.Ŗ4 Das Kleinbürgerliche und der Alltag der Ökonomik bilden wie andere Erscheinungen von der Bürokratisierung bis zur Verplanung des Menschen und des Lebens die hauptsächliche

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stoffliche Grundlage satirischen Erzählens im Russland der zwanziger Jahre. Die wiederkehrenden Themen werden jedoch auf verschiedenste Weise, mit verschiedenen Mitteln und von verschiedenen Aspekten her dargestellt. Auch der einzelne Autor ändert, sich entwickelnd, häufig seine Methoden. So gelangte Michail Bulgakov (1891Ŕ1940) von offenen, lockeren, feuilletonistischen Gestaltungen zu Konzeptionen, die sich durch eine immer stärkere künstlerische Kompaktheit und Geschlossenheit auszeichnen. Zu den typischen Anfängen seiner Kunst gehört ein Text wie „Zapiski na manņetachŖ (Notizen auf Manschetten, 1921), die tagebuchartigen Aufzeichnungen eines Ich-Erzählers, der weitgehend mit dem Verfasser identisch ist. Den Endpunkt der Entwicklung repräsentiert die Traumnovelle „Pochoņdenija ĈiĉikovaŖ (Die Abenteuer Ĉiĉikovs, 1926), in der weniger die Wirklichkeit wie in „Zapiski na manņetachŖ als die Literatur das Material für eine Satire auf die eigene Zeit bereitstellt. Dort ist alles erlebt, hier (fast) alles erfunden. Dort schildert Bulgakov, additiv und dokumentarisch, seine Erlebnisse als Dramaturg und Volksschullehrer in Vladikavkas sowie seine anschließenden Erfahrungen mit dem Moskauer Ämterapparat. Hier lässt er, unerschöpflich an Erfindungsgeist, den Helden von Gogolřs „Mertvye duńiŖ auferstehen und ins zeitgenössische Russland zurückkehren. Die „Neue Ökonomische PolitikŖ ermöglicht es dem alten „ErwerberŖ und „UnternehmerŖ, nachdem er, in Moskau angekommen, die Kutsche mit dem Automobil vertauscht hat, seine dunklen Geschäfte fortzusetzen und noch weit größeren Erfolg zu haben als früher. „Ĉiĉikovs Karriere nahm einen schwindelerregenden Charakter an. Es ist nicht zu fassen, was er alles anstellte. Er gründete einen Trust zur Eisengewinnung aus Sägespänen und erhielt dafür auch ein Darlehen. Er trat als Teilhaber in eine riesige Genossenschaft ein und verpflegte ganz Moskau mit Wurst und Fleisch verendeter Tiere. Die Gutsbesitzerin Koroboĉka, als sie hörte, in Moskau sei jetzt ‚alles erlaubtŘ, wünschte Liegenschaften zu erwerben; daraufhin bildete Ĉiĉikov mit Zamuchryńkin und Uteńitelřnyj eine Gesellschaft und verkaufte ihr die Manege gegenüber der Universität.Ŗ5 Der einstige Seelenaufkäufer, der sich schon immer mit Witz und Pfiffigkeit durchs Leben schlug, durchschaut auch jetzt die Mechanismen der Gesellschaft. Wie damals nutzt er seine Einsicht bedenkenlos zum eigenen Vorteil. Dass er Eisen aus Sägespänen gewinnen will und Wurst aus Tierkadavern herstellen lässt, zählt zu den satirischen Übertreibungen, die über den Einzelnen hinaus auf das Ganze der Zeit, des Volkes und des Staates zielen. Denn Ĉiĉikov ist bei Bulgakov, was er bereits bei Gogolř war: die Inkarnation der Welt, in der er lebt, einer Welt der Banalität, der Gemeinheit und der Hohlheit. Seine Methoden sind im Prinzip die Gleichen geblieben. Gleichgeblieben sind auch die Menschen und ihre Verhaltensweisen. Sogar in dem Gasthaus, in dem Ĉiĉikov vor hundert Jahren gewohnt hat, ist „alles wie früherŖ: „Aus den Ritzen lugten Schaben, und es schienen noch mehr geworden zu sein.Ŗ6 Die wenigen Veränderungen sind äußerlicher Art: „So hing statt des Schildes ‚GasthausŘ ein Plakat mit der Aufschrift ‚Gemeinschaftswohnung Nummer soundsoŘ, und selbstverständlich war da so viel Dreck und

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Müll, dass selbst Gogolř sich das nicht hätte vorstellen können.Ŗ7 Ńulřgins berühmte zeitkritische Formel „Alles dasselbe, nur etwas schlechterŖ wird durch Bulgakovs Satire bestätigt. Auch in einem Werk von so überbordender Phantasie wie „Pochoņdenija ĈiĉikovaŖ ist die Wirklichkeit, auf die sich die satirische Intention richtet, von Anfang an gegenwärtig. Die „erstaunlicheŖ Geschichte, die der Prolog und der Epilog als „wunderlichen TraumŖ enthüllen, spielt unverkennbar während der Aufbauphase der Sowjetgesellschaft. Diese Phase manifestiert sich in der Bedeutung der Betriebe, in der Neigung zu Abkürzungen, in der Wirklichkeit von Stempeln, Formularen und Fragebögen und nicht zuletzt in der Vielzahl und Vielfalt der Ämter, Gremien und Kommissionen. Am deutlichsten tritt die Eigenart der Zeit und des Systems dort zutage, wo die Handlung umschlägt und Ĉiĉikovs Betrügereien ans Licht kommen: „Telefone klingelten, Beratungen begannen... Es tagten die Baukommission mit der Kontrollkommission, die Kontrollkommission mit dem Wohnungsamt, das Wohnungsamt mit dem Volkskommgesund, das Volkskommgesund mit der Hauptverkleinindust, die Hauptverkleinindust mit dem Volkskommaufklär, das Volkskommaufklär mit dem Proletkult und so weiter.Ŗ8 So typisch diese Kommissionen für die Zeit und das System sind, sie besitzen bei Bulgakov keine entscheidende Handlungsfunktion. Als das eigentlich Erzählenswerte erscheint das Unwahrscheinliche im Alltäglichen. Es war Ilřja Ėrenburg (1891Ŕ1967), der die Kommissionen und Institutionen, vor allem das „geradezu poetische MissverhältnisŖ zwischen ihren Projekten und der Realität, zu einem zentralen Thema machte. Er entlarvte die Illusion von der Allmacht der Dekrete und die voluntaristische Vorstellung, der Mensch und das Leben ließen sich exakt berechnen. Der Held seiner Erzählung „UskomĉelŖ (Der VKM, 1921), ein Volkskommissar für die Fragen der Planung und der Koordinierung, entwirft auf seinem Reißbrett den „vervollkommneten kommunistischen MenschenŖ (usoverńenstvovannyj kommunistiĉeskij ĉelovek).9 Das Leben des Idealmenschen soll von der Wiege bis zur Bahre in Planquadrate eingeteilt und vorherbestimmt werden. Doch das Geschöpf wendet sich gegen seinen Schöpfer. Es beginnt ein Eigenleben als Doppelgänger und treibt den Kommissar zuerst in den Wahnsinn und dann in den Tod. Das Gelobte Land ist bei Ėrenburg, der in „UskomĉelŖ und anderen frühen satirischen Texten das Abstrakt-Phantastische der neuen Ideen enthüllt, ebenso fern wie bei Michail Bulgakov, der sich eher auf das Konkrete der alltäglichen Konflikte konzentriert. Gegen die Ideenwelt der Zeit polemisierte Ėrenburg, der sich ähnlich ganz wie Bulgakov immer mehr zum Novellistischen und zum Großepischen hin entwickelte, auch in der Erzählung „Pivnaja ‚Krasnyj otdychŘ Ŗ (Die Bierstube „Zur Roten RastŖ, 1926), einer Fortsetzung und Verallgemeinerung der Doppelgängergeschichte in „UskomĉelŖ. Im Mittelpunkt steht der Kunsttischler Aleksandr Ilřiĉ Sacharov, der sich „Bürger AdamantŖ nennt und nichts mehr liebt als das Analysieren. In der Bierstube, wo er ein häufiger Gast ist, gehen ihm beim Bier, das er zur „Förderung des DenkprozessesŖ trinkt, die kühnsten Gedankenexpe-

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rimente durch den Kopf. Er möchte das Leben auf einen „hohen NennerŖ bringen und durch Tabellen einer „vernünftigen KontrolleŖ unterwerfen. Nicht nur die Bevölkerungszahl und das Verhältnis von Geburt und Tod, sondern auch die Umdrehung der Erde soll „in bestimmte BahnenŖ gelenkt werden. Als eine „gewisse metaphysische Rundung der FormenŖ erkennen lässt, dass die Wirtin Nachwuchs erwartet, ergreift Adamant die Gelegenheit, den „Geist der ForschungŖ in der Praxis zu erproben. Er betrachtet den Embryo als seinen „HomunkulusŖ und bespricht ihn mit Formeln aus dem „Lehrbuch der TrigonometrieŖ. Der Name, den er gegen den Willen der Eltern durchsetzt, lautet deshalb „NumberŖ, was soviel bedeutet wie „Unendlichkeit der ZahlŖ und „endlicher SiegŖ. Die Erwartungen sind groß: „Er wird die Umdrehung der Erde regeln.Ŗ10 Doch das Experiment findet ein schreckliches Ende Ŕ sowohl für Adamant als auch für das neugeborene Leben. Als das Kind nicht einschlafen will und „in seinem Sanskrit oder Zukunftsvolopük etwas von der Summe der Summen und von der vom Wahnsinn seitwärts gedrehten Acht, der vorausgesetzten UnendlichkeitŖ, schreit, reißt ihm der Vater, „als handle es sich um die Stanniolkapsel an einer BierflascheŖ, ganz einfach den Kopf ab. „Wenn die Acht auf der Seite liegtŖ, hatte Adamant zuvor versichert, „dann gibt es kein EndeŖ. Der Erzähler begnügt sich mit einem lakonischen Kommentar: „Die Erde hatte ihren künftigen Regulator verloren.Ŗ11 Die Ironie ist offensichtlich. Aber sie weist auch auf eine tragische Situation. Nur durch verzweifelte Gegenwehr gelingt es dem einfachen Menschen, sich den Versuchen der mathematischen Berechnung des Lebens zu entziehen. Der überzogene Anspruch wird auf grausame Weise von der Wirklichkeit eingeholt. Die reale Lebensdialektik rächt sich triumphierend an der ausgeklügelten Logik eines universalen Geistes. Schritt für Schritt und mit zunehmendem Spott werden im Verlauf der Geschichte die Auffassungen Adamants und seiner „SchülerŖ als Hirngespinste entlarvt. Ėrenburg scheut dabei keine Drastik: „Trotz der Intrigen der AchrowzenŖ lässt er einen Konstruktivisten sagen, „dringen wir in die Produktion ein! Man sagt, auf meinem Stuhl könne man nicht sitzen. Unsinn! Er ist genau berechnet. Es stimmt alles, genau wie in einem mathematischen Lehrsatz. Schuld ist nur der Hintern, der menschliche Hintern, dieses stumpfsinnige, formlose Stück Fleisch. Nicht den Anforderungen des Sitzfleisches müssen wir unsere Konstruktionen anpassen, sondern das Leben in Produktionsvorgänge verwandeln und die Form des schlappen Fleisches umgestalten, den Hintern zu einem dynamischen Dreieck machen!Ŗ12 An der Entlarvung der überspannten Ideen und Ideale, die ein wesentliches Charakteristikum der Anfangsjahre der Sowjetunion sind, war von den aktuellen Schriftstellern neben Ėrenburg keiner so sehr beteiligt wie Michail Bulgakov. Während der erstere sich aber im Laufe der Zeit immer mehr zum Profiteur des Regimes entwickelte, dem er anfänglich durchaus skeptisch gegenüberstand, wurde der letztere wie Zamjatin, wie Pilřnjak, wie Babelř und andere bald zu einem der vielen tragischen Regimeopfer. Die Gesellschaftskritik, die Bulgakov übte, war auch weitaus schärfer als diejenige Ėrenburgs. Das führte im Falle der Er-

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zählung „Sobaĉře serdceŖ (Hundeherz)13 dazu, dass diese bis zur Perestrojka-Periode in Russland ungedruckt blieb, nachdem das Manuskript im Anschluss an eine Lesung im kleinen Kreis bei einer Wohnungsdurchsuchung beschlagnahmt worden war. Der Verfasser wandte sich gegen den Hochmut und die ethische Bedenkenlosigkeit von Forschern, die, anknüpfend an die Entwicklung biopolitischer Utopien zu Beginn des Jahrhunderts, durch Experimente medizinischer und anderer Art in die Naturgesetzlichkeit eingriffen und im Vertrauen auf einen möglichen, ja notwendigen, letztlich aber fragwürdigen wissenschaftlich-technischen Fortschritt glaubten, die Welt positiv verändern zu können. Weltveränderung hieß im Russland der zwanziger Jahre, die Gesellschaft im Geist des Sozialismus umzugestalten. Um dies zu veranschaulichen, konstruiert Bulgakov einen spezifischen Fall, die „unerhörte BegebenheitŖ einer Operation, in der ein Tier, der Hund Ńarik, in einen Menschen, den Proletarier Ńarikov, verwandelt wird. Doch das Produkt wendet sich schon bald gegen seine Erzeuger, den Chirurgen Professor Preobraņenskij und seinen Assistenten Bormentalř. Der künstlich erzeugte Tiermensch, ein Homunkulus ohne geschichtliches und moralisches Bewusstsein und ohne Fähigkeit zu sozialem Denken und Handeln, erweist sich als gefährliches, aggressives, bedrohliches Wesen, das am Ende durch eine zweite Operation in den ursprünglichen Zustand eines friedlichen Hundes zurückverwandelt wird. Der Versuch, einen „neuenŖ Ŕ sozialistischen Ŕ Menschen, wie ihn schon Ĉernyńevskij propagiert hatte, experimentell zu erschaffen, wird als gescheitert vorgeführt. Bulgakovs Erzählung in der Form einer grotesken, ins Phantastische verfremdeten Satire rüttelte mit ihrer Ŕ durch die Steigerungen ins Absurde eher verstärkten als verdeckten Ŕ kritischen Sicht der politischen Wirklichkeit und der utopischen Zielsetzungen der Zeit an den Grundfesten des herrschenden Systems und wurde deshalb von den zuständigen staatlichen Instanzen als bewusste Provokation empfunden, die nach einer Bestrafung des Verfassers verlangte. Ein anderer Hauptrepräsentant der sowjetischen Prosasatire, Michail Zońĉenko, nahm im Unterschied zu Bulgakov weniger die Ideen und Ideale der neuen Macht in den Blick als die zahllosen Mängel des Alltags von der Wohnungsnot über Schlamperei, Korruption und Vetternwirtschaft bis zum allgemeinen Verfall der Sitten. Der Protagonist seiner meist kurzen, nicht selten nur drei Seiten umfassenden Ŕ anekdotisch zugespitzten Ŕ Texte ist entsprechend der sowjetische Normalbürger. Wir treffen auf Boten und Wächter, Verkäufer und Angestellte, Tagelöhner und Werkmeister, Busschaffner und Depotverwalter, Uhrmacher und Messerschleifer, auf Kassiererinnen, Sekretärinnen und Stenotypistinnen. Kaum ein Beruf fehlt. Es begegnen auch Ärzte, Architekten und Künstler. Doch in der Regel geht es um Vertreter der unteren Mittelklasse, die, engstirnig und von mäßigem Verstand, vor allem nach bürgerlichem Wohlstand streben. Die trivialen Missgeschicke, in die der Autor sie stellt, werden von ihnen zu bedeutenden Ereignissen aufgebauscht. Aus der Tatsache, dass ein Schaffner versehentlich zu wenig Wechselgeld herausgibt, entsteht ein Streit, und der Streit endet mit dem Schrei nach Freiheit für alle. Übertreibungen und Verzerrungen verdeutlichen die

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satirische Absicht. Oft erreicht das Geschilderte die Grenze zur Absurdität, die aber nicht, anders als bei Bulgakov oder später bei Daniil Charms, ins Existentielle vertieft wird, sondern im Rahmen des Alltäglichen bleibt. Ein Mann lebt mit Frau und Kind und der Schwiegermutter in einem herrschaftlichen Badezimmer. Abend für Abend muss die Familie so lange im Korridor ausharren, bis sich die zweiunddreißig übrigen Mieter der Kommunalwohnung gewaschen haben. Die „durchschnittlichen UngeheuerlichkeitenŖ sind Zońĉenkos Thema. In ihnen konnte jeder etwas von seiner Situation und seinen Problemen erkennen. In „AristokratkaŖ (Die Aristokratin, 1923)14 dreht sich alles um die Frage, ob ein Cremetörtchen angebissen sei oder nicht und wenn es angebissen worden ist, ob es dann bezahlt werden müsse. Diese Frage, die am Büffet eines Theatercafés viele Gäste interessiert, vor allem aber den Helden, einen echten Proletarier und Mitglied der Hausverwaltung eines Petrograder Wohnblocks, der eine „eleganteŖ Dame aus der Nachbarschaft kennengelernt und zu einem Opernabend eingeladen hat. In der Pause der Aufführung beobachtet der Kavalier, der nur Geld für drei Cremetörtchen in der Tasche zu haben glaubt, mit Entsetzen, wie die Dame, die bereits ein Törtchen nach dem anderen verzehrt hat, nun auch noch ein viertes verlangt. Wie hier genügt Zońĉenko stets ein Minimum an Stoff (und selbst das scheinbar banalste Sujet), um ein Feuerwerk an Witz und Ironie zu entfalten und ein Höchstmaß an zeittypischen Erscheinungs- und Verhaltensweisen zu vermitteln. Fragen, wie sie der Held von „AristokratkaŖ stellt: Ob die Wasserleitung und die WC-Spülung funktionieren15, wirken denkbar trivial, sind aber im Kontext der Alltagskultur des ersten nachrevolutionären Jahrzehnts in Russland von geradezu existentieller Wichtigkeit. Hohe zeitgeschichtliche Aussagekraft besitzt in „Malenřkaja chitrostř Ŗ (Eine kleine Listigkeit, 1929) auch die Verwunderung eines Bürgers darüber, dass keine „Zehn- oder FünfzehnwattbirneŖ im Handel ist. Gezwungen, stattdessen eine „große GlühbirneŖ zu kaufen, „von hundertfünfzig, zweihundert oder vierhundert WattŖ, hat er nicht nur einen enormen Stromverbrauch, sondern auch von dem grellen Licht ständig starke Kopfschmerzen. „Was gibtřs da nicht zu verstehen?Ŗ klärt ihn der Stromableser auf, „Nehmen wir mal an, im Plan steht, sie müssen eine Million Watt erfüllen. Nun stellen Sie sich mal vor, die machen die Million mit kleinen Birnen. Da brauchen sie ja zwei Jahre, die Halunken. Aber mit großen Birnen schaffen sieřs. Ob kleine Birnen, ob große, die Arbeit ist die Gleiche, nur brauchen sie weniger Stück zu produzieren. Darum haben sie sich auf große Birnen verlegt, die Halunken. Die backen sie wie Plinsen.Ŗ16 Die sprachliche Gestaltung verdeutlichte wie im vorliegenden Fall dem Leser der Zeit die „durchschnittlichen UngeheuerlichkeitenŖ und lud ihn zur Identifikation mit den dargestellten Situationen und Problemen ein. Es ist eine Sprache, in der nach Zońĉenkos eigenen Worten der „Mann auf der StraßeŖ denkt und redet. Zu ihr gehören die vertrauliche Leseranrede, der Gebrauch von Floskeln, der Abbruch der Gedanken, die Benutzung vulgärer Wörter, die Nachlässigkeiten in Syntax, Phonetik und Grammatik. In Wirklichkeit sprach niemand so. Aber

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alle hatten den Eindruck von größtmöglicher Authentizität. Es handelt sich um eine kunstvoll stilisierte Mündlichkeit voll komischer Effekte und entlarvender Implikationen. Zońĉenko nahm damit die von Gogolř und Leskov im 19. Jahrhundert zu höchster Meisterschaft entwickelte skaz-Technik wieder auf. In ihrer Verschränkung disparater Sprach- und Stilebenen hat diese Technik, Hochsprachliches mit Folklorismen, Vulgarismen, Bürokratismen sowie Politjargon, Lautmalerei, Fremdwortentstellungen und anderem mischend, einen großen Einfluss auf die satirische Funktion und Wirkung des Textes.17 Der Primitivismus, der in solcher sprachlichen und stilistischen Buntheit zum Ausdruck kommt, ein Resultat des vollendetsten Kunstwollens, spiegelt die Beschränktheit der Menschen und die Wirrnis der Zeitläufte. Eine fiktive Rede Ŕ „V Puńkinskie dniŖ (Puńkins hundertster Todestag, 1937)18 Ŕ sagt in ihren Um- und Abwegen bezeichnenderweise mehr über den aktuellen Redner und seine Zuhörerschaft als über den historischen Gegenstand, den Verfasser von „Evgenij OneginŖ. XV. Gegenstimmen des Erzählens in den Zeiten des Sozialistischen Realismus Mit dem Ende der „Neuen Ökonomischen PolitikŖ begann auch das große Gelächter in der Literatur der zwanziger Jahre zu verstummen. 1928 entschloss sich die Sowjetregierung, die Politik der Kompromisse aufzugeben und die Wirtschaft des Landes zentral zu lenken und zu kontrollieren. Der erste Fünfjahresplan, auf den Zońĉenko in „Malenřkaja chitrostř Ŗ anspielt, trat jetzt in Kraft. Kollektivierung und Industrialisierung bildeten nun die beiden Hauptaufgaben. Sie riefen bei vielen Begeisterung hervor, erforderten jedoch zugleich eine Fülle härtester Maßnahmen. Andersdenkende sahen sich sofortiger Verfolgungen ausgesetzt. Bei der gewaltsamen Einführung der Kolchosen wurden Millionen von Kulaken eingesperrt, verschleppt oder hingerichtet. Das geistige Leben, das sich bislang in relativer Freiheit entwickelt hatte, sollte dem gleichen Mechanismus der Planung und der Überwachung unterworfen werden wie die Produktion von Maschinen, Werkzeugen oder Kleidungstücken. Die „russische Assoziation proletarischer SchriftstellerŖ, die den alleinigen Führungsanspruch auf dem Gebiet der Literaturpolitik erhob, forderte alle Autoren auf, ihr Schaffen in den Dienst des Fünfjahresplans zu stellen, und empfahl dazu, Fabriken, Kolchosen, Baustellen, Staudämme, Kraftwerke und andere Stätten des Aufbaus zu besuchen. Wer sich nicht anpasste und das Erwartete lieferte, hatte kaum noch Möglichkeiten der Veröffentlichung. Einige Autoren zogen sich ins Schweigen zurück. Andere setzten ihren Weg unbeirrt fort. Zu diesen ganz wenigen gehörte Jurij Oleńa (1899Ŕ1960). Oleńa, der ab 1921, in Odessa, Charřkov und Moskau journalistisch tätig, für das Organ des Eisenbahnerverbands „GudokŖ (Die Dampfpfeife) kommunistische Agitationsgedichte verfasst hatte, war 1927 durch seinen Roman „ZavistřŖ (Neid) zu unerwarteter Berühmtheit gelangt. Dieser erste dichterische Versuch, den Kommunismus als ein moralisches Problem zu gestalten, veranschaulicht im Konflikt des Helden, der nach gesellschaftlicher Anerkennung strebt, aber gegen das ausschließliche Nützlichkeitsdenken revoltiert, das typische Dilemma eines

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Großteils der russischen Intelligenz in den Jahren nach der Revolution. So verwundert es nicht, dass eine Gruppe literarisch interessierter Arbeiter 1932 Oleńa vorwarf: „In Ihren Werken, Genosse Oleńa, gibt es immer noch keine Arbeiterklasse. Sie haben bisher unsere Produktion nirgendwo dargestellt.Ŗ Der Schriftsteller gestand in seiner Antwort, dass ihm die Notwendigkeit der Umerziehung bewusst sei, beharrte jedoch auf der Pflicht, zuallererst sich selber treu zu bleiben: „Es gibt für einen Künstler nichts Wichtigeres als seine eigenen Wege.Ŗ1 Zwei Jahre später legte er auf dem Ersten sowjetischen Schriftstellerkongress noch einmal seine Haltung dar. „Ich hätte auf eine Baustelle fahren und in einer Fabrik unter den Arbeitern leben könnenŖ, erklärte er, „aber das war nicht mein Thema. Es war nicht das Thema, das mir im Blut lag und das mir aus der Seele sprach. Ich wäre dabei kein echter Künstler gewesen. Ich hätte nur gelogen und erfunden.Ŗ2 Oleńas Inspiration entzündet sich an den Dingen. Die „Fähigkeit, den Dingen andere Namen zu gebenŖ, bezeichnete der Autor von Erzählungen wie „LjompaŖ (1927), „LjubovřŖ (Liebe, 1928) und „Vińnevaja kostoĉkaŖ (Der Kirschkern, 1929) rückblickend als seine eigentliche Lebensleistung. Diese Fähigkeit, die ein neues Sehen impliziert, teilte er als erwachsener Schriftsteller mit dem Kind und dem Jugendlichen. Beide Altersstufen sind deshalb in seinen Erzählungen, einschließlich „Tri tolstjakaŖ (Die drei Dicken, 1928), einem echten Kinderbuch, von zentraler Bedeutung. In „LjompaŖ fängt ein kleiner Junge gerade an, die dingliche Umwelt bewusst wahrzunehmen: „Er sah die Täfelchen des Parketts, den Staub unter der Fußleiste, die Risse in der Stukkatur. Um ihn herum öffneten und schlossen sich Linien, lebten Körper. Plötzlich entdeckte er einen Lichtfleck und lief darauf zu; doch kaum hatte er einen Schritt gemacht, da löschte die Veränderung der Entfernung den Fleck aus.Ŗ3 Die Dinge, die der Junge aufnimmt, ohne sie schon benennen und einordnen zu können, haben sich dem alten Mann, der todkrank im Bett liegt, bereits weitgehend entzogen. Dieser Entzug begann lange vor der Erkrankung mit zunehmendem Älterwerden. „Eines Tages hatten ihn die Straße, sein Dienst, die Post und die Pferde verlassen. Und dann setzte sich dieses Verschwinden neben ihm, in nächster Nähe, unaufhaltsam fort: Schon war der Korridor seiner Macht entglitten, und im Zimmer selber, verloren Mantel, Türriegel und Stiefel vor seinen Augen, ihre Bedeutung.Ŗ4 Nichts ist ihm geblieben bis auf die Arznei, den Löffel, das Licht und die Tapete. Sterbend begreift der Alte die Vielgestaltigkeit, die der Junge zur gleichen Zeit erstmals voller Staunen erfährt. Der Junge besitzt die Dinge, bevor sie für ihn einen Namen haben. Der Alte besitzt am Ende nur noch die Namen der Dinge. Für den einen erweitert sich das Zimmer zur Welt, für den anderen verkleinert sich die Welt zum Zimmer. Die Sensibilität, die das kindliche Dasein auszeichnet, findet sich, wie Oleńa in „LjubovřŖ zeigt, gesteigert beim verliebten Menschen. Nur erfolgt die Dingwahrnehmung jetzt stärker durch den Filter des reflektierenden Bewusstseins. Ńuvalov, der Held der Erzählung, macht eine Reihe erstaunlicher Entdeckungen,

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während er im Park auf seine Freundin Lelja wartet: „Die Insekten schwirrten. Die Grashalme zitterten. Der Flug der Vögel, Fliegen und Käfer bildete eine imaginäre Architektur, doch es ließen sich feine, punktierte Linien erkennen, Bögen, Brücken, Türme und Terrassen Ŕ eine Stadt, die immer wieder an einen anderen Ort verlegt wurde und alle Sekunden ihre Form veränderte.Ŗ5 Nach Leljas Ankunft verlieren für Ńuvalov alle Naturgesetze ihre Gültigkeit. Der Verliebte sieht an der Stelle, wo der Stein einer Aprikose zur Erde gefallen ist, ein „dünnes, leuchtendes BäumchenŖ wachsen. Später spürt er keinen Boden unter den Füßen und glaubt, „in der LuftŖ zu schweben. Das Gesetz der Schwerkraft hört auf, für ihn zu existieren. In der Nacht fällt die Trennung zwischen Realität und Phantasie. Die „SchnörkelŖ und „KränzchenŖ der Tapete nehmen die Gestalt eines „KochsŖ und einer „ZiegeŖ an. Und am Morgen nach der Liebesnacht hat sich die Welt vollends verändert: „Er erwachte auf einer neuen Erde. Das helle Licht des Morgens erfüllte das Zimmer. Er sah das Fenstersims und darauf die Tontöpfe mit den farbenprächtigen Blumen. Lelja schlief und kehrte ihm den Rücken zu. Sie lag zusammengerollt da, ihr Rücken war gerundet, unter der Haut zeichnete sich die Wirbelsäule ab Ŕ ein dünnes Schilfrohr. ‚Eine AngelruteŘ, dachte Ńuvalov, ‚BambusŘ. Auf dieser neuen Erde war alles rührend und komisch.Ŗ6 Eine ähnliche Erfahrung, wie sie hier beschrieben wird, schildert Boris Pasternak (1890Ŕ1960), der sich mit seinem Band „RasskazyŖ (Erzählungen, 1925), darunter „Detstvo LjuversŖ (Lüvers Kindheit), neben Oleńa als ein weiterer Repräsentant solch neuen intimen, psychologischen Erzählens profilierte, in seiner autobiographischen Prosa „Ochrannaja gramotaŖ (Geleitbrief, 1929): „Veränderte Dinge umgaben michŖ, heißt es im fünften Kapitel des zweiten Teils, „der Morgen erkannte mein Gesicht, er war gekommen, um bei mir zu sein und mich nie mehr zu verlassen.Ŗ7 Voraus ging hier allerdings, im Unterschied zu „LjubovřŖ, eine Liebesenttäuschung. Es handelt sich um die gleiche Enttäuschung, die Pasternaks Gedicht „MarburgŖ aus dem Jahr 1915 zum Ausgangspunkt hat. Auch dort ist von der Veränderung der umgebenden Dinge die Rede. „Jedes Detail lebte.Ŗ8 Die Dinge, vom „glühenden PflastersteinŖ bis zum „Wind, der wie ein Ruderer die Linden durchpflügteŖ, sind aber nur Bilder und Zeichen. Sie symbolisieren die Wiedergeburt des lyrischen Ich, um die es dem Dichter Pasternak in erster Linie geht. Oleńa geht es dagegen um die Dinge selber und ihren Realitätsgehalt. Seine neue Art des Sehens, die Optik des Kindes, des Verliebten oder des „imaginären FernglasesŖ, enthüllt durch vergrößernde Momentaufnahmen die anatomischen, physikalischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten der Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Welt erscheint in einem noch nie gesehenem Licht mit ständig wechselnden Farben und Formen. Dabei geraten wie im Surrealismus die Gegenstände oft in ein traumhaftes Gleiten und beginnen, das aufnehmende Bewusstsein zu beherrschen. Die Sprache, in der dies erfasst wird, hat nichts Unklares oder Verschwommenes. Sie ist präzis, gedrängt und geschliffen, zugleich von geradezu elastischer Nervosität und voll treffender Metaphern und symbolischer Bedeutung.

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Ebenso unzeitgemäß wie Oleńas Prosa war, wenn auch auf ganz andere Weise, die Prosa Osip Mandelřńtams (1891Ŕ1938). Dies gilt insbesondere für die bedeutende Erzählung „Egipetskaja markaŖ (Die ägyptische Briefmarke) aus dem zweiten der beiden Prosabände des Autors, der 1928 erschien und zusammen mit einer Gedicht- und Essaysammlung die letzte Buchveröffentlichung bildet. Dieser Text, der im selben Jahr wie Oleńas „LjubovřŖ entstand, lässt weit weniger als die Erzählungen Pasternaks die Handschrift des Lyrikers erkennen. Stattdessen hat er deutliche Züge des modernen Romans, zu dem er auch vom Umfang her tendiert. Das beginnt mit der weitgehenden Entfabelung. Es existiert lediglich ein Rest erzählbarer Geschichte: Parnok, ein „kleiner Mann mit LackschuhenŖ, stellt am Morgen fest, dass der am Abend über die Lehne des Stuhls gehängte neue Cutaway verschwunden ist. Die Suche führt ihn zum Friseur, danach in die Wäscherei und zum Zahnarzt. Schließlich trifft er auf eine wütende Menschenmenge, die im Begriff ist, einen Lynchmord zu begehen. Sein Versuch, die Polizei zu alarmieren, scheitert genauso wie die Suche nach dem Cutaway. Das noch nicht bezahlte Kleidungsstück, das von dem Schneider Mervis entwendet wurde, ist inzwischen in den Besitz des Rittmeisters Krzyżanowski übergegangen. Diese Geschichte wird nicht lückenlos und kontinuierlich erzählt. Immer wieder verliert die Handlung ihren Vorwärtsdrang. Wie im modernen Roman üblich, dringen Beschreibungen, Reflexionen und Erörterungen ein und lösen das Ganze in eine Vielzahl von Splittern und Bruchstücken auf. Mandelřńtam weist durch den Mund des Ich-Erzählers ausdrücklich auf dieses Verfahren hin: „Ich fürchte weder den Mangel an Zusammenhang, noch fürchte ich Brüche. Ich zerschneide Papier mit einer langen Schere. Ich klebe Zettel wie Fransen an das Manuskript. Ein Manuskript ist immer ein Sturm; es ist zerzaust, zerpickt.Ŗ9 So modern wie die Auffassung, Dichten sei „FlickarbeitŖ, ist die Kommentierung des Dichtens selber. Durchgehend macht Mandelřńtam die Eigenart seiner Erzählung und die der erzählenden Prosa überhaupt zu einem der Themen. Dabei weiß er sich einer Prosa zugehörig, von der es einmal heißt: „Sie ist aller Sorge um Schönheit und Ebenmaß enthoben.Ŗ10 Ein Hauptmerkmal literarischer Modernität ist der Verlust kohärenter Charaktere. Das ergibt sich aus dem Fehlen der Handlung im herkömmlichen Sinn. Auch Mandelřńtams Held ist kein geschlossenes, in sich stimmiges Individuum. Äußerlich nicht näher beschrieben, weder vom Beruf noch vom Wesen her definiert, entzieht er sich der Greifbarkeit. Seine Erscheinung wird auf wenige Kennzeichen reduziert. Das wichtigste ist das der Lackschuhe. In diesen Schuhen huscht Parnok durch das phantasmagorische Petersburg, selber eine Art von Phantasmagorie. Dieser Mann ohne Eigenschaften erweist sich, bei aller Nähe zu berühmten zeitgenössischen Romanfiguren, als Abkömmling jener „kleinen LeuteŖ, die von Gogolř bis zu Ĉechov die russische Literatur des 19. Jahrhunderts bevölkern. Wie sie ist er ein Gekränkter, ein Erniedrigter, ein ewiger Verlierer. Mit Gogolřs Akakij Akakieviĉ, dem Protagonisten von „ŃinelřŖ, hat er sogar noch Weiteres gemeinsam. Er wird ebenfalls zum Opfer eines Raubes. Mit dem Mantel dort und

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dem Cutaway hier kommt jeweils das Gleiche abhanden: ein Objekt, das Fetisch und „GeliebteŖ in einem ist. Parnok verkörpert exemplarisch das Ausgeliefertsein des Einzelnen. Dies drückt auch der Name „ägyptische BriefmarkeŖ aus, den ihm einst spottlustige Schulkameraden nachzurufen pflegten. Mit der Briefmarke teilt er das Schicksal, gestempelt, entwertet und eines Tages weggeworfen zu werden. Umso reicher ist sein inneres Leben. Tagträume, Erinnerungen, Vorstellungen, Assoziationen wirbeln wild durch Parnoks Kopf. „FieberbilderŖ stellen sich ein. In wachsendem Maße ergreift das Fieber auch den Erzähler, und es wird deutlich, dass dieser Zustand die Struktur seines Erzählens bestimmt. Das Zersplitterte, Fragmentarische und Sprunghafte ist eine Folge der entgleitenden Kontrolle beim Schreiben: „Meine Feder gehorcht mir nicht: Sie ist gespalten und spritzt ihr schwarzes Blut nach allen Seiten, so wie die Federn auf dem Postamt, die am Schreibpult angebunden sind.Ŗ11 Erzählend folgt das Ich, „das Thermometer zerbrechendŖ, seiner Feder und bewegt sich „entschlossen durch das InfektionslabyrinthŖ.12 Mandelřńtams „Erzählung ohne Fabel und ohne HeldŖ (povestř bez fabuly i geroja) kommt „aus dem heißen Gestammel von Abschweifungen, aus dem Petersburger InfluenzadeliriumŖ.13 Mandelřńtam war sich bewusst, dass sein Schaffen, nicht nur das lyrische, sondern auch das erzählerische, „gegen den Strom der ZeitŖ gerichtet war. „Ich fühle mich als Schuldner der RevolutionŖ, verkündete er, „bringe ihr jedoch Gaben dar, die sie vorläufig noch nicht benötigt.Ŗ14 Sein „ProsadeliriumŖ von 1928, diese Verschmelzung von Dichtung, Autobiographie, Zeitbild, Literaturkritik und Kulturphilosophie, ist so eine Gabe. Es gehört zu den suggestivsten Erzähltexten in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. „Den Schriftstellern, die im Voraus genehmigte Dinge schreiben, möchte ich in ihr Gesicht spuckenŖ, schrieb Mandelřńtam 1930 in seiner autobiographischen Schrift „Ĉetvertaja prozaŖ (Vierte Prosa)15. Zu Beginn der dreißiger Jahre gab es in der Sowjetunion noch einige, wenngleich wenige Autoren, auf die der Vorwurf nicht zutraf. Aber kaum jemand von ihnen stand so quer zum Zeitgeist wie Oleńa und Mandelřńtam (die aufgrund ihrer Aufrichtigkeit zu Opfern der Geheimpolizei wurden und zuerst ins Gefängnis und dann ins Lager kamen). Dennoch, Ivan Kataev (1902Ŕ1939) und Andrej Platonov (1899Ŕ1951) zum Beispiel, belegen, wie man sich, ohne allzu mächtige Zugeständnisse in moralischer und künstlerischer Hinsicht zu machen, auf die bewegenden Probleme der Epoche einlassen konnte. Im Gegensatz zu Oleńa und Mandelřńtam scheuten sie sich nicht, in Fabriken und auf Baustellen zu gehen, stellten aber dabei den Vorgang der Kollektivierung und den Prozess des sozialistischen Aufbaus keineswegs im verklärenden Licht dar. Kataev entwirft in seiner Erzählung „Leningradskoe ńosseŖ (Die Leningrader Chaussee, 1932) ein realistisches Bild des neuen Russland. Der Makrokosmos erscheint im Mikrokosmos einer Familie. Bei der Darstellung dieser Familie wählte der Verfasser nicht die Form des chronikalischen Berichts, sondern die der tableauartigen Konzentration auf eine Grundsituation. Diese Situation ist das Er-

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eignis einer Beerdigung. Der Tod des Vaters, des alten Savva Panteleev, führt die verstreuten Familienmitglieder für kurze Zeit an einem Ort zusammen. Geschildert wird nichts anderes als die Zusammenkunft. Das sukzessive Eintreffen und der gemeinsame Aufbruch der Trauergäste bilden den Rahmen. Dazwischen stehen die Zeremonie auf dem Friedhof und der Leichenschmaus im Haus, der zum Höhepunkt wird und der mit einem Eklat endet. Die Ausweitung der konkreten Vorgangsschilderung erfolgt zunächst von einer Charakteristik der Personen her. Jede Gestalt wird beim ersten Auftreten mit wenigen Strichen umrissen, ehe sie sich dann später in ihrem Reden, Handeln und Verhalten selber weiter charakterisiert. Bei aller Kürze eröffnen die Porträtminiaturen tiefreichende Einsichten. Sie enthüllen den zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem das Geschehen spielt und dem das Personal der Erzählung in vielfältiger Weise verhaftet ist. Da gibt es den Brigadier in einer Uhrenfabrik und die Ingenieurin in der Chemieindustrie. Da gibt es die Komsomolzin, die gerade die Fachschule für Normtechniker absolviert hat, und da gibt es die Dichterin und Journalistin, die als geschiedene Frau mit einer kleinen Tochter die „biologischen InstinkteŖ und die „gesellschaftlichen PflichtenŖ in Einklang zu bringen weiß.16 Bis auf Aleksej, den ältesten Sohn, der ins Elternhaus zurückgekehrt ist und bei der Bahn als Lokführer arbeitet, sind alle erfolgreich. Am erfolgreichsten ist Sergej, einst Moskauer Rotgardist, Kommissar einer Nachrichtenkompagnie und Hörer einer Arbeiterfakultät, jetzt Ingenieur und Direktor eines Forschungsinstituts. Dieser Karrierist, der, eine „Autorität im Volkskommissariat und im StadtbezirkskomiteeŖ, seine ganze Kraft der „staatlichen und internationalen Existenz seiner KlasseŖ widmet17, demonstriert durch seinen Lebensweg, welche Möglichkeiten die Gesellschaft den Jüngeren bietet. Von hier aus erscheint der verstorbene Vater vor allem als Kontrastfigur zu den Kindern. Der alte Savva, Gerber von Beruf, findet, nach zweimaliger Umsiedlung an den Standrand Moskaus verschlagen, nur noch eine Anstellung als Fabrikwächter. Später lebt er von der kleinen Rente und der Vermietung eines Zimmers. Nutzlos geworden für den Staat, richtet er die verbliebene Energie auf die Instandhaltung des gepachteten Häuschens, das Sammeln, Reparieren und Verkaufen weggeworfener Gegenstände. Die Personen der Erzählung agieren in einem fast bühnenmäßig geschlossenen Raum. Durch den hohen Anteil des Dialogs, bedingt durch die Situation und den Verzicht auf Kommentare und Reflexionen, entsteht die Illusion von Gegenwärtigkeit und unmittelbarer Dramatik. Ihre epische Dimension aber gewinnt die Erzählung, außer im Eingang, vor allem in den Beschreibungen der im Titel genannten Straße. Diese Beschreibungen enthalten eine weitere, über die Personencharakteristiken hinausgehende Verallgemeinerung der dargestellten Grundsituation. Die Leningrader Chaussee besitzt eine reale sowie eine symbolische Bedeutung. Auf ihr kamen einst die Panteleevs. Jetzt kommen und gehen auf ihr die Trauergäste. Und der Trauerzug mit dem Sarg muss sie überqueren, um so vom Wohnhaus zu der Friedhofskirche zu gelangen. Die Chaussee ist außerdem eine Straße, die nach Moskau führt. Schon von ferne sieht man die Stadt, „aufgetürmt

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wie eine GebirgslandschaftŖ18, einige Kilometer weiter ist sie dann erreicht. Gegenwärtiges fliegt vorüber, „Wandflächen eines GroßküchenbetriebsŖ, „viele Lücken aufweisende WohnviertelŖ, „feierlich flatternde rote FahnenŖ, „leere Schaufenster mit Porträts und BüstenŖ.19 Auch Vergangenes wird lebendig: „Stärker als irgendwo sonst begriff man hier voller Schwermut das Nächste: die zerquetschten Leichen von Chodynka im gelben, staubigen Dunst, die letzte Krönungsfahrt durch das Tor des Petrovskij-Schlosses, das, was die heute Lebenden noch gesehen hatten, das dem Untergang Geweihte, aus dessen geschwollenen, von den Manschetten zusammengepressten Händen die Geschichte gerissen worden war.Ŗ „HierŖ, heißt es weiter, „waren die Jahrzehnte des Gründerstils verrauscht, der Grammophonschallplatten der Vjalřceva, der Einfuhr des Kapitals, des KabarettCafés, der Gutsverpfändungen, der fetten Aufträge, der ersten Automobile zum ‚JarŘ, die das Pferdegespann mit seinen Schellen ablösten.Ŗ20 So führt die Leningrader Chaussee, längst zur Jamskaja und Tverskaja geworden, in eine Stadt, die Ŕ neue Hauptstadt und „Mutter RusslandsŖ Ŕ Gegenwart und Vergangenheit verbindet. Sie symbolisiert sowohl die russische Gegenwart als auch die russische Vergangenheit, und zwar beides in seinen positiven wie in seinen negativen Erscheinungsformen. Doch darin erschöpft sich die Bedeutung dieser Straße noch nicht. An der Stelle, wo der Erzähler ihre Überquerung schildert, sagt er von dem „gelben SargŖ, es wirkte, „als schwämme er gegen die StrömungŖ.21 Die Strömung Ŕ das ist die Chaussee. Sie wird deshalb als etwas äußerst Dynamisches und Lebendiges beschrieben. Denn es eilen nicht allein die Autos auf ihrem Asphalt dahin. Die Chaussee selber eilt, läuft, saust, fließt Ŕ ein „rasendes Fließband des LebensŖ.22 Als ein Symbol des strömenden Lebens, entscheidet sie über Schicksale. Wer sich auf sie begibt, wird mitgerissen oder kommt unter die Räder. Sie bringt Aufsteiger wie Sergej oder Versager wie Aleksej hervor. Sie führt ins Leben, und sie führt in den Tod. Das ist die Spannweite eines Textes, der von Zeit, Raum und Geschehen her so begrenzt erscheint. Mit dem Bild einer Familie und einer Straße gibt Kataev ein Bild des menschlichen Daseins zwischen Jugend und Alter, zwischen Leben und Tod. Auf Russland angewandt, bedeutet dies, dass das neue Russland im Grunde nichts anderes ist als das alte. Der Mensch bleibt letztlich unverändert. Das Leben ist eine ewige Wiederkehr des Gleichen. Auch Andrej Platonov, einer der bedeutendsten der nonkonformistischen erzählenden Autoren zu sowjetischer Zeit, war so wie Ivan Kataev Ŕ oder wie Boris Pasternak unter den Lyrikern Ŕ fasziniert von der sich über die gesellschaftliche Ebene erhebende „Idee des LebensŖ. Diese beherrschte von Anfang an sein Denken und sein Dichten. Stärker noch als bei Kataev war sie jedoch eingebettet in persönliche Erlebnisse und Erfahrungen. Und Platonov, der vor seiner journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeit als Gießer, Lokheizer, Elektromonteur und Schlossergehilfe arbeitete, hat viel erlebt und erfahren. Paustovskij nannte ihn einen „Menschen, der Russland wie sein Vaterhaus bis in die verborgensten Schlupfwinkel durchforscht hatŖ.23 Alles ist bei ihm daher konkret und anschau-

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lich. Die Romantik und Phantastik seines Zeitgenossen Aleksandr Grin lehnte er entschieden ab. „Grins MenschenŖ, schreibt Platonov, „müssen in einem ‚besonderenŘ Land leben, das vom ewigen Ozean umspült und von der Mittagssonne beschienen wird, weil der Autor, tief besorgt um die Charakteristik seiner originellen Helden, diesen jegliche widerwärtige Konkretheit der Umwelt fernhalten muss.Ŗ24 Die „widerwärtige Konkretheit der UmweltŖ ist das, was Platonov selber in immer neuer Abwandlung vor Augen führt. Als Demonstrationsobjekt dienen ihm die „kleinen LeuteŖ. Sie werden bei ihren Problemen in Beruf, Alltag, Familie und Liebe gezeigt. Viele der Probleme, so etwa die Geburt eines Kindes, die Impotenz des Mannes, der Prozess des Alterns oder die Tatsache des Sterbens, stehen im direkten Zusammenhang mit der Idee des Lebens. An ihnen begreift der Mensch, dass er ein Teil der Natur und das Glied eines ewigen Kreislaufs ist. Platonov sieht deshalb die Mutter und die Kinder als entscheidende Gestalten. Nicht zufällig demonstriert er den Vorgang der Beerdigung, im Unterschied zu Kataev, am Beispiel einer alten Frau. In der Kurzgeschichte „Tretij synŖ (Der dritte Sohn, 1936) kommen sechs Söhne aus allen Teilen des Landes, um von der verstorbenen Mutter, die ihnen ein so „reiches, gesundes LebenŖ geschenkt hat, Abschied zu nehmen. Der drittälteste bringt sein sechsjähriges Töchterchen mit, das der Großvater bisher noch nicht gesehen hat. Alle sind tüchtige, erfolgreiche Männer. Zwei fahren als Schiffskommandanten zur See, einer ist Physiker, ein anderer Schauspieler in Moskau, der jüngste studiert Agronomie, der älteste hat es bis zum Abteilungsleiter in einem Flugzeugwerk gebracht. Die Trauer um die Mutter, die seit vier Tagen aufgebahrt auf dem Tisch liegt, vereint die „Vertreter der neuen Welt.Ŗ Ihre „Erinnerungen an die Kindheit und an das verlorene Glück der Liebe, das immerwährend und uneigennützig im Herzen der Mutter geboren wurdeŖ, mildern den Schmerz ab und rufen ein Gefühl der Erleichterung hervor. Nach der Totenmesse, die ein alter Pope in Zivil liest, legt der Großvater seine Enkelin in das Bett, in dem vierzig Jahre lang seine Frau geschlafen hat. Dann geht er zu dem offenen Sarg, der in demselben Zimmer steht. Während er Hände, Stirn und Lippen der Verstorbenen küsst, dringt aus dem Nebenzimmer das laute Gelächter der Söhne, die sich wie übermütige Kinder balgen. Das Leben nimmt seinen Lauf. Alles greift auf natürliche Weise ineinander. Am Ende ist der Vater froh bei der Vorstellung, „dass diese sechs kräftigen Männer auch ihn zu Grabe tragen werden und nicht schlechter als im jetzigen FallŖ.25 Eingeordnet in den großen Ablauf des Lebensprozesses, ist der Mensch bei Platonov letztlich frei, nicht determiniert durch Staat und Gesellschaft. Das Gefühl seiner Freiheit und Einzigartigkeit erlebt er selbst in der Härte des Arbeitsalltags. Bei keiner Gestalt Platonovs tritt dies in so exemplarischer Deutlichkeit zutage wie bei dem Lokführer Malřcev. „Malřcev jagte die Lok voranŖ, heißt es in „V prekrasnom i jarostnom mireŖ (In der schönen und grimmigen Welt, 1941), „er hatte den Regler bis zum Anschlag geöffnet und die Steuerung voll ausgelegt. Wir rasten jetzt einer mächtigen Gewitterwolke entgegen, die am Horizont

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heraufgezogen war. Von unserer Seite her strahlte die Sonne das Gewölk an, in dem wilde, gereizte Blitze aufzuckten, und wir sahen, wie sich die Schwerter der Blitze vertikal in die stumme, ferne Erde bohrten. Dieser fernen Erde stürmten wir ungestüm entgegen, als wollten wir ihr zu Hilfe eilen.Ŗ26 Vom gleichen Freiheitsgefühl und Lebenswillen durchdrungen ist auch der Held der großen Erzählung „DņanŖ27, der nach Abschluss eines Studiums an der Moskauer Hochschule für Ökonomie nach Mittelasien, in das Land seiner Kindheit, gesandt wird, um ein hungerndes, darbendes turkmenisches Nomadenvolk vor dem Aussterben zu bewahren. Je weiter sich Nazor Ĉagataev, wie der Protagonist heißt, mit dem Zug von dem „lärmenden, bauwütigen Moskau mit den Bohrhämmern in seinem Schoß und diesem Gezänk in den öffentlichen VerkehrsmittelnŖ entfernt28 und je näher er auf der Fahrt durch die unendliche russische Landschaft der Heimat kommt, die er fünfzehn Jahre zuvor aus Not verlassen musste, desto befreiter fühlt er sich. Als der Zug eines Nachts in der dunklen Steppe anhält, kommt es zu einer symbolischen Szene. Ĉagataev tritt hinaus auf die Plattform des Wagens und lauscht auf das leise Zwitschern eines Vogels. Als dieses verstummt, begibt er sich in die nächtliche Natur, und als er dort einen Strauch entdeckt, ergreift und begrüßt er einen der Zweige, der seinerseits die menschliche Berührung mit sanftem Zittern erwidert. „Nazor ging weiter. Von Zeit zu Zeit regte sich und ertönte irgend etwas, lautlos erschien die Steppe lediglich den entwöhnten Ohren. Der Boden senkte sich, hohes blaues Gras wuchs empor. Erinnerungen hingegeben, schritt Nazor immer tiefer in das Gras hinein. Die Pflanzen um ihn herum erzitterten, von unten her in Unruhe versetzt, wo unsichtbare Wesen davonliefen, kriechend auf Beinchen oder im niedrigen Flug...Ŗ29 Sich mit allen Sinnen einfühlend in den Kosmos der Pflanzen und Tiere, wird der Held, fern der Welt der Großstadt, eins mit der lebendigen Natur und damit auch selber wieder lebendig und gestärkt im Hinblick auf die bevorstehenden Aufgaben. So lässt er den Zug fahren, obwohl er ihn hätte einholen können, und nimmt lieber den siebentägigen Fußmarsch nach Taschkent auf sich. In Turkmenien angekommen, gelingt es Ĉagataev, in aufopferungsvoller Arbeit, unterstützt durch das zehnjährige Mädchen Ajdym, gegen die Widerstände des Verräters Nur-Muchammed, seinen sozialen Auftrag zu erfüllen. Er führt unter Einsatz seines Lebens, wie einst Moses, sein Volk durch die Wüste, um es in einem Tal am Rand des Ustř-Urt Plateaus anzusiedeln. In einer anderen Fassung des Textes30, die heute nicht als die letztgültige betrachtet wird, bricht das Volk, nachdem es sich von den Strapazen der langen Wanderung erholt hat, in kleineren und größeren Gruppen nach allen Himmelsrichtungen hin wieder auf. Ĉagataev ist darüber keineswegs enttäuscht. Ihm genügt das Bewusstsein, seinem Volk zumindest das Überleben gesichert zu haben. „Mochte es nun sein Glück woanders finden.Ŗ31 Die Erzählung ist unabhängig von den Varianten ihres Ausgangs mehr als die Geschichte einer Mission im Dienst des Aufbaus der sowjetischen Gesellschaft und der Lösung der Nationalitätenfrage sowie der Kolonisierung des mittelasia-

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tischen Raums, und der Held ist mehr als ein Beauftragter des Taschkenter Zentralkomitees der Partei, der den fiktiven turkmenischen Stamm Dņan rettet und ihm die Möglichkeit einer glücklichen Zukunft eröffnet. Dņan ist aber auch mehr als die Geschichte vom „Volksführer und LichtbringerŖ Ĉagataev, die durch die Bezüge zu Moses und Prometheus „Mythen in sozialistischer AbsichtŖ montiert.32 Durch die Vergegenwärtigung der mythischen Nähe des Menschen zur Natur in Ĉagataevs Steppenerlebnis, in der kultischen Form der Nahrungsaufnahme oder in der leitmotivisch wiederkehrenden Steppenpflanze „Perekati-poleŖ, die zusammen mit dem Wind den Weg durch die Wüste weist, gewinnt der Text ebenso an Vielschichtigkeit und Tiefendimensionalität. Verstärkt wird dies noch durch die Rückgriffe des personalen Erzählers auf indische, iranische und türkische Mythen und archaische Erzählungen, die vom Kampf des Guten und des Bösen, des Lichts und der Finsternis, des Paradieses und der Hölle, aber auch von dem Verhältnis zwischen Mann und Frau oder zwischen Mutter und Sohn handeln und, poetisch umgeformt, verknüpft werden mit mosaischen und messianisch-eschatologischen Aspekten der Bibel.33 Solche Überhöhung realistischer Wirklichkeitsdarstellung ins Mythische und Gleichnishafte verbindet Platonov mit Evgenij Zamjatin und führte wie bei dem Verfasser der Anti-Utopie „MyŖ34 dazu, dass mehrere Male druckfertige oder wie bei dem Verfasser des Romans „ĈevengurŖ35, einer Schilderung des Scheiterns der kommunistischen Utopie in einem entlegenen Steppendorf, schon gedruckte Werke nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurden Ŕ ein Schicksal, das auch die Erzählung „DņanŖ teilte, obwohl Platonov, schon früh erfüllt von den Idealen des Kommunismus, keine Kritik an der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Situation seines Staates üben wollte wie in „KotlovanŖ (Die Baugrube), dieser aufrichtigen und schonungslosen Beschreibung der Zwangskollektivierung am Beispiel eines russischen Bauerndorfs.36 Als „DņanŖ 1964, fast dreißig Jahre nach der Entstehung, erstmals in Russland publiziert worden war, erkannte die offizielle Kritik rückblickend, das der Verfasser mit der Geschichte von Ĉagataevs Rettung eines Volksstamms durchaus die Absicht gehabt hatte, die „humane Mission des SozialismusŖ37 zu propagieren. Was sich allerdings schwerlich mit den Erwartungen und Forderungen seitens der Partei vereinbaren ließ, war die Akzentuierung der mythischen Suche des Helden nach der eigenen Seele. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Selbstfindung des Einzelnen hier im Zusammenhang und im Einklang mit der Gemeinschaft erfolgt, einer Gemeinschaft, die ihrerseits, selber ihre Seele suchend, diese in der Begegnung und durch die Initiative des Einzelnen findet. Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, das von der Oktoberrevolution an im entstehenden Sowjetstaat zu einem zentralen Problem wurde, bildet in Platonovs Schaffen eines der leitenden Themen. Während „DņanŖ bei aller Offenheit des Ausgangs eine Utopie der Versöhnung beider Ansprüche, der des Individuums und der des Kollektivs, auf sozialistischer Grundlage entwirft, zeigt „Musornyj veterŖ (Müllwind), das „ideelle PendantŖ38 zu „DņanŖ, in Form einer anti-

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utopischen Erzählung, wie die menschliche Seele „verkrüppeltŖ39, wenn das Individuum durch die Totalisierung des Staates unterdrückt und erniedrigt wird. Im Mittelpunkt steht ein arbeitsloser Physiker, der an den menschenunwürdigen Zuständen in einer Diktatur derart leidet, dass er erkrankt und dem Wahnsinn verfällt. Eines Morgens wacht er auf und sieht seine Frau verwandelt: „Anstatt des Flaums wuchsen auf den Wangen BorstenŖ, und „das entblößte Bein war mit den Eiterbeulen eines unsauberen Tieres bedeckt.Ŗ40 Der Fortgang der Geschichte wird wie der Beginn aus der Perspektive des Helden, also der des Wahnsinnigen erzählt. Das Ganze gewinnt damit die Züge eines Alptraums oder einer Schreckvision. Für einen Realisten des konkreten Alltags wie Andrej Platonov erscheint dies ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich ist die Verlegung der Handlung auf einen Schauplatz außerhalb Russlands. Die Erzählung, die 1934 entstand, ein Jahr vor „DņanŖ, spielt in einer süddeutschen Stadt wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers. „Heil-HitlerŖ-Rufe einer jubelnden Menge und die Errichtung eines Führer-Denkmals, „in Essen aus Qualitätsbronze gegossenŖ, beschwören die Atmosphäre der Zeit. Als Albert Lichtenberg, der Held Platonovs, von ohnmächtiger Wut erfüllt, mit seinem Stock das Denkmal zertrümmern will, wird er auf brutalste Art und Weise zusammengeschlagen und landet im Müllhaus eines finsteren Hinterhofs, wo er, sich von den Küchenabfällen ernährend, ein immer tierähnlicheres Aussehen annimmt. „Infolge der Wunden und Verschmutzung zog sich über seinen ganzen Körper ein lupusartiger dunkler Ausschlag, darüber wucherte dichte Wolle und bedeckte alles.Ŗ41 Nachdem die „Abfälle des LebensŖ verbraucht sind, verzehrt Lichtenberg eine Ratte, die zuvor an seinem Bein genagt hat. Später gräbt er sich, ins Lager gebracht, eine Höhle unter den Wurzeln eines Baumes. Wie bei Zamjatin in „PeńĉeraŖ ist der Mensch gleichsam in den Urzustand zurückgekehrt. Was dort jedoch eine Folge zeitbedingter Not war, erweist sich hier als das Ergebnis totalitärer Machtausübung. Allzuviele sind schon durch Leid und Elend in stumpfsinnige Tiere verwandelt. Doch der ehemalige Wissenschaftler wehrt sich gegen solche Metamorphose. Er revoltiert bis in die letzte große Wahnvorstellung und bestätigt damit die Gültigkeit seines Eingangsschwurs: „Er würde für immer, bis ans Grab, ein Mensch bleiben, ein Physiker des kosmischen Raums, und wenn der Hunger seinen Magen bis zum Herzen quälte, höher als der Hals würde er nicht steigen, und das Leben würde sich in die Höhle des Kopfes zurückziehen.Ŗ42 Das „Leben in der Höhle des KopfesŖ, das dem Protagonisten als Einziges verbleibt, entzieht sich dem Zugriff des Machtapparats. Der Müllhaus- und Erdlochbewohner erträgt auch das Schlimmste, weil er, wie einst Descartes43 nach seinem Publikationsverbot, am Denken festhält. Das macht ihn so stark in seiner Schwäche und verleiht ihm Macht in der Ohnmacht. „Lichtenberg wunderte sich, dass man ihm die Zunge gelassen hatte, das war eine Nachlässigkeit des Staats: Das Gefährlichste am Menschen ist nicht das Geschlechtsorgan Ŕ es ist immer ein gleichförmiger, ruhiger Reaktionär Ŕ, sondern das Denken. Das

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ist eine Hure, und was noch schlimmer ist, es treibt sich stets dort herum, wo es gar nicht gebraucht wird, und gibt sich nur dem hin, der ihm nichts zahlt!Ŗ44 Von hier aus gewinnt die Erzählung, die erst 1966 veröffentlicht wurde, ihren stärksten Rückbezug auf die Situation im Land des Verfassers. Auch dort galt zunehmend Lichtenbergs Satz „Denken, das ist verbotenes LebenŖ.45 Stalins Aufmerksamkeit richtete sich nach Abschluss der Kollektivierung verstärkt auf die Intellektuellen. Die Jahre des Terrors und der „SäuberungenŖ begannen. Von führenden russischen Schriftstellern der Zeit kamen Babelř, Mandelřńtam, Charms und Ivan Kataev in Haft und Lager um, während Zamjatin, Oleńa, Zońĉenko und andere unter Repressalien vielfältigster Art zu leiden hatten. Ein weiterer Satz aus Platonovs „Musornyj veterŖ Ŕ „Hitler denkt nicht, er arretiertŖ46 Ŕ beschreibt, tauscht man den Namen des Diktators aus, treffend die Lage der intelligencija während der stalinistischen Gewaltherrschaft. Daniil Charms (1905Ŕ1942), der mehrmals verhaftet wurde, gab im Oktober 1940, anderthalb Jahre bevor er in Leningrad im Gefängnis entkräftet starb, mit der dialogisierten Kürzestgeschichte „PomechaŖ (Störung) das Protokoll einer Verhaftung. Er schildert die Verhaftung als unerwarteten Einbruch in die Alltäglichkeit. Eine ironisierte Liebesszene wird mitten im Ritual des Entkleidens durch energisches Klopfen an der Wohnungstür abrupt beendet. Vom Eintritt eines Mannes in schwarzem Mantel und hohen Stiefeln, dem zwei bewaffnete Soldaten und der Hausmeister folgen, über die Aufforderung „Ziehen Sie Ihren Mantel an. Sie müssen mit uns kommenŖ47 bis zu dem Geräusch der laut ins Schloss fallenden Tür hat der Ablauf des Geschehens etwas Mechanisches und geradezu Selbstverständliches. Es gibt keine Widerrede. Es gibt keine Gefühlsäußerung. Es gibt nur die aufs äußerste reduzierte sprachliche Verständigung. Was die zweieinhalb Textseiten so erschreckend macht, ist die Lakonie, mit der das Furchtbare vermittelt wird. Charms verzichtet auf das Erklären und begnügt sich wie Kafka mit dem bloßen Zeigen und Beschreiben. Und wie bei dem Verfasser des Romans „Der ProzeßŖ erwächst das Unheimliche aus dem scheinbar Natürlichen. Die Realität selbst ist hier wie dort das Bodenlose. In anderen Texten, vor allem den Kurz- und Kürzestgeschichten, die der seinerzeit unpublizierte Prosazyklus „SluĉajŖ (Fälle, 1936Ŕ1939) versammelt, benutzt Charms bittere Ironie, schwarzen Humor und groteske Verzerrung als Mittel, um sich so vor dem eigenen Entsetzen zu schützen und die Grausamkeit und Selbstentfremdung des Menschen zum Ausdruck zu bringen. In dieser Hinsicht weist er bereits auf Beckett und Ionesco voraus. Durch die genannten Stilmittel und durch erzählerische Verfahren wie Verknappung und Aussparung, Verzicht auf Logik und Psychologie, Wegfall von Hintergrundzeichnung und detaillierter Beschreibung, Entpersönlichung der Sprache und Wiederholung gleicher und ungleicher Satzglieder wird eine Atmosphäre von Sinnlosigkeit erzeugt, die Becketts und Ionescos Artikulation des Absurden ganz nahe kommt, dabei aber fest verankert ist in den politischen Gegebenheiten Russlands während der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.

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Ein absurder Text par excellence in diesem Sinn ist Charmsř Erzählung „StaruchaŖ (Die alte Frau, 1939)48, in der Motive und Techniken aus den kurzen Prosastücken des Zyklus „SluĉajŖ aufgegriffen und in einer umfassenderen und komplexeren (deshalb auch als „povestřŖ bezeichneten) Erzählform verarbeitet werden.49 Die von einem Ich-Erzähler präsentierte Geschichte ist trotz eines vagen fiktionalen Rahmens voll von Unbestimmtheiten und Leerstellen, Motivierungslücken und A-Kausalitäten. Die eigentliche Absurdität ergibt sich nicht aus Unerklärlichkeiten wie einer Wanduhr ohne Zeiger, an der sich die genaue Uhrzeit ablesen lässt, oder Phantastisch-Unheimlichem wie einer Leiche, die auf allen Vieren durchs Zimmer zu kriechen beginnt und, ehe sie mit einem Krocketschläger erschlagen werden kann, wieder reglos geworden, in einen Koffer gepackt wird, jedoch samt dem Koffer spurlos verschwindet. Ausschlaggebender ist, dass sich alles, was sich dem Verstand entzieht, in einer familiären Alltagswelt ereignet, in der man isst, trinkt und schläft, sowie in der aktuellen Realität Leningrads mit allen zeittypischen Widrigkeiten der sowjetischen Gesellschaft, angefangen von den beengten Wohnverhältnissen in den Kommunalki bis hin zu den langen Warteschlangen vor den Lebensmittelläden. Aus solcher Konfrontation und Unvereinbarkeit der Sphären, bei der letztlich Nikolaj Gogolř Pate stand, erwuchs ein Realismus, der, nicht an gängiger Logik oder herkömmlichen Gesetzmäßigkeiten orientiert, gegen die Realismusauffassung der offiziellen Kulturpolitik gerichtet war. Um ihn als „neue künstlerische MethodeŖ50 vorzustellen und zu propagieren, gründete Charms 1927 zusammen mit Aleksandr Vvedenskij, Nikolaj Zabolockij und anderen Schriftstellern, die meist von der Lyrik her kamen, die „Gesellschaft für reale KunstŖ (Obėriu). Gemäß der Programmatik dieser letzten avantgardistischen Künstlergruppe in Russland sah er sich auf der Suche nach einer „organisch neuen WeltwahrnehmungŖ und einem dementsprechend „neuen Zugang zu den DingenŖ.51 „Der von allem Literatur- und Gewohnheitsspreu gereinigte konkrete GegenstandŖ, erläutern die Verfasser des oberiutischen „ManifestsŖ an einer zentralen Stelle ihr Verfahren, „wird zu einer Errungenschaft der Kunst. In der Poesie gelangt dieser Gegenstand durch die Kollision sprachlicher Bedeutungen mit der Präzision eines Mechanismus zum Ausdruck. Vielleicht werden Sie entgegnen, das sei nicht der Gegenstand, den man im Leben sieht. Gehen Sie näher an ihn heran und berühren Sie ihn mit dem Finger. Betrachten Sie den Gegenstand mit bloßem Auge, und zum erstenmal werden Sie ihn von der alten literarischen Vergoldung gereinigt sehen. Vielleicht werden Sie auch sagen, unsere Sujets seien ‚nicht realŘ und ‚nicht logischŘ? Aber wer sagt denn, dass die ‚alltäglicheŘ Logik verbindlich sei für die Kunst?Ŗ52 Charms hat diese Verbindlichkeit am konsequentesten abgestreift. Er wusste wie kein anderer: „Die Kunst hat ihre eigene Logik, und diese zerstört den Gegenstand nicht, sondern trägt bei, ihn zu erkennen.Ŗ53 Mit seiner Gleichgültigkeit gegenüber Ordnung und Konvention, die in mancher Hinsicht der spielerischen Freiheit kindlicher Weltaneignung entspricht (wie sie zum Beispiel in seinen um des Lebensunterhalts willen geschriebenen Kinderge-

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dichten zur Geltung kommt), wagte sich Daniil Charms unter seinen Zeitgenossen am weitesten vor, weiter als die ebenfalls nicht gesellschaftskonformen Satiriker Zońĉenko und Bulgakov und Anti-Utopiker Zamjatin und Platonov. XVI. Vom Tauwetter zur Perestrojka 1931 kam Daniil Charms zum erstenmal in Untersuchungshaft. Im Frühjahr 1932 wurde die Gruppe Obėriu wie alle literarischen Vereinigungen in Russland auf Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei aufgelöst und durch einen staatlichen Sowjetischen Schriftstellerverband ersetzt. Auf dessen Eröffnungskongress 1934 erklärte der Regierungssprecher Andrej Ņdanov, dass künftig der „Sozialistische RealismusŖ die grundlegende Methode der Literatur und der Literaturkritik sei. Von allen Schriftstellern verlangte er eine „wahrheitsgetreue, historisch-konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären EntwicklungŖ.1 Im Mittelpunkt der Werke sollten stets die „aktiven Erbauer des neuen LebensŖ stehen: „Arbeiter, Kollektivbauern, Parteifunktionäre, Wirtschaftler, Ingenieure, Komsomolzen und Pioniere. „OptimismusŖ und „EnthusiasmusŖ müssten aus innerer Überzeugung heraus die allein bestimmende Haltung beim Schreiben sein. Die zu einer Formel zusammengefasste Erklärung Ņdanovs galt zwanzig Jahre lang nahezu uneingeschränkt. Sogar ein Autor wie Vsevolod Ivanov, der Verfasser von Partisanengeschichten wie „Bronepoezd 14Ŕ69Ŗ (Panzerzug 14Ŕ69, 1922) der als Mitglied der „SerapionsbrüderŖ für die Freiheit und Autonomie der Künste eingetreten war, bekannte sich jetzt zum Prinzip der Tendenzhaftigkeit. Erst nach dem Tod Stalins 1953 begann eine Entwicklung, die zur kontinuierlichen Ablösung des Sozialistischen Realismus führte. Die Doktrin als solche wurde amtlich nie außer Kraft gesetzt, im Gegenteil, ihre Gültigkeit wurde von Zeit zu Zeit immer wieder bestätigt. In der literarischen Praxis aber zeigte sich, nachdem Pomerancev zurückblickend von der „Lackierung der WirklichkeitŖ gesprochen hatte, seit den späten fünfziger, verstärkt seit den beginnenden sechziger Jahren eine neuartige Breite der Themen und eine wachsende Vielfalt der Formen und Verfahren. 1954 erschien Ėrenburgs Kurzroman „OttepelřŖ (Tauwetter)2, der einer ganzen Epoche den Namen gab. In ihm werden, erstmals nach langer Zeit, weder Kriegshelden noch Helden des industriellen und landwirtschaftlichen Fortschritts geschildert. Stattdessen geht es um die Schicksale normaler Sowjetbürger. Eine Frau bricht aus der langweiligen Ehe mit einem Bürokraten aus. Ein älterer Mann verbirgt seine tiefe Zuneigung zu einer unglücklichen Ärztin. Ein schüchterner Ingenieur wagt nicht, sich der Frau, die er liebt, zu offenbaren. Zwei junge Leute ruinieren einander fast durch eine Folge von Missverständnissen. Immer sind die Personen an moralische und gesellschaftliche Konventionen gebunden. Erst nach der Entscheidung, diese Bindungen abzustreifen, finden sie zu einer Lösung ihrer Probleme. Ėrenburgs Werk hat trotz seiner künstlerischen Schwächen, wie sie in der Fortsetzung „VesnaŖ (Der Frühling, 1956) noch deutlicher zutage treten, eine beträchtliche Signalwirkung gehabt. Die Sphäre des Privaten und Intimen

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trat im Laufe der nächsten Jahre mehr und mehr an die Stelle des Kontexts von Staat und Gesellschaft. Gleichzeitig wurde der idealisierte positive Held durch gewöhnliche Menschen mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten verdrängt. Individuen ersetzten die typisierten, auf kollektive Merkmale reduzierten Figuren. „Mich interessieren CharaktereŖ, entgegnete Jurij Trifonov, als einige Kritiker bei ihm die Darstellung von Typen vermissten, „und jeder Charakter ist etwas Einmaliges und Einzigartiges, ein unwiederholbares Zusammenspiel von großen und kleinen Wesenszügen.Ŗ3 Bevor Trifonov seine Charaktere schuf, meist Angehörige der städtischen Intelligenz, entdeckte eine neue Generation von Schriftstellern den Jugendlichen als selbständige Persönlichkeit. Orientiert an westlichen Vorbildern, insbesondere an Salingers „The Catcher in the RyeŖ (1951), wandten sich Bitov und Aksenov, Gladilin und andere Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre den spezifischen Problemen des pubertären Bewusstseins zu. Aleksandr Flaker hat diese literarische Richtung, die im osteuropäischen Raum längst vor der fundamentalen gesellschaftlichen Veränderung den geistig-moralischen Aufbruch einleitete, unter dem Sammelbegriff „Jeans ProsaŖ4 überblickshaft dargestellt. Um Vorgänge wie die kritische Selbsterforschung des jugendlichen Ich und dessen Auflehnung gegen die Autorität der Erwachsenen glaubhaft zu gestalten, verzichteten auch die russischen Vertreter der Jeans Prosa vornehmlich auf das distanzierte Erzählen in der dritten Person, das der Sozialistische Realismus bevorzugt hatte. Statt des auktorialen Er-Erzählers, der häufig als Sprachrohr des Autors fungierte, verwendeten sie den Ich-Erzähler, der selber zur Welt der Heranwachsenden gehört und sich seiner saloppen, von Slang-, Jargon- und Dialektelementen durchsetzten Umgangssprache bedient. Diese Art des Erzählens, bei der das Ich weniger handelnd als erlebend, erinnernd, beobachtend und reflektierend in Erscheinung tritt, tendiert zu der Form des gesprochenen inneren Monologs. Die Erzählung „Bez delaŖ (Der Nichtsnutz, 1962)5 von Andrej Bitov (geb. 1937) ist der Monolog eines jungen Mannes an der Schwelle zum Berufsleben. Vitja reflektiert über die Schwierigkeiten mit seinem Chef sowie seinen Eltern. Nachdem er mehrere Abschlussprüfungen nicht bestanden hat, flüchtet er vor dem Andrang weiterer Probleme in Träume, Phantasien und den Genuss von Alkohol. Er weiß um seine psychische Labilität. Ihm ist bewusst, dass er einen schwachen Willen hat und außerstande ist, sich zu der erwarteten Lebenstüchtigkeit zu zwingen. Nach und nach erkennt der Leser den Zusammenhang, der zwischen dem äußeren Misserfolg und dem reflektierenden Bewusstsein besteht. Vitja denkt nach Ŕ im Unterschied zu vielen Altersgenossen. Nachdenkend kann er aber keinen Sinn in der Welt der Erwachsenen entdecken. Am Ende seines Monologs erscheint er so zweifelnd und voller Widersprüche wie am Anfang. Bitov begnügt sich mit dem Aufdecken des Mangels und der Widersprüche. Er bietet nirgendwo eine Lösung an. Dieses Ausbleiben der Lösung verstieß deutlich gegen die staatlich verordnete Literaturauffassung, zu der das Aufzeigen einer Perspektive gehörte.

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Seit Mitte der sechziger Jahre begann sich die erneuernde Kraft der „jungen ProsaŖ nach und nach zu erschöpfen. Bitov wie Aksenov, der in seinem Roman „Zvezdnyj biletŖ (Fahrkarte zu den Sternen, 1961) als erster sowjetischer Schriftsteller das Thema der eigenen moralischen Grundsätzen folgenden Jugend angeschlagen hatte, wandten sich jetzt jener Welt zu, gegen die ihre jugendlichen Helden protestierten. Nicht wenige folgten ihnen, darunter vor allem Jurij Trifonov (1925Ŕ1981) und Valentin Rasputin (1937Ŕ2015), der erstere als Hauptvertreter der „StadtprosaŖ (gorodskaja proza) bzw. der „AlltagsprosaŖ (bytovaja proza), der andere als der neben Viktor Astafřev (1924Ŕ2001) wichtigste Repräsentant der „DorfprosaŖ (derevenskaja proza). Sie griffen die literarischen Neuerungen auf und setzten die Wiederentdeckung der Persönlichkeit fort, wobei sie bestrebt waren, die Skepsis gegenüber den autoritären Wahrheiten mit einer prinzipiellen Analyse der menschlichen Daseinsbedingungen zu verknüpfen. Trifonov wandte sich vorzugsweise dem privaten Alltag der Städter zu. Er beschreibt gewöhnliche Menschen in gewöhnlichen Situationen. Darin steht ihm niemand so nahe wie Natalřja Baranskaja (1908Ŕ2004). Auch sie verfasste, nachdem sie erst mit sechzig Jahren schriftstellerisch tätig geworden war, ausschließlich Geschichten aus dem täglichen Leben. Im Mittelpunkt der Handlung und somit auch des erzählerischen Interesses steht bei ihr fast immer eine weibliche Gestalt, und zwar jeden Alters, von der zwölfjährigen Nadja in „Devoĉka u morjaŖ (Das Mädchen am Meer, 1981) bis hin zu der achtundsiebzigjährigen Darřja Ivanova in „Podselenka i końkaŖ (Die Untermieterin und die Katze, 1981). „LjubkaŖ (1977) handelt von einer jungen Fabrikarbeiterin, die von ihren Nachbarn angezeigt wird, weil sie in ihrer Wohnung häufig mit Freunden unter Alkoholeinfluss laute Partys feiert. Das zusammengerufene Hauskollektiv klagt sie mit dem Ziel ihrer Ausweisung aus Moskau an. In der Darstellung der Gründe und Hintergründe des Falles deckt die Verfasserin das Demütigende und Unmenschliche dieses öffentlichen Schiedsgerichts auf, einer Einrichtung des Staates, bei der die Bewohner eines Wohnblocks über eine Person urteilen, die ihrer Meinung nach gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoßen hat. Baranskaja benutzte die Konzentration auf die Frau als zentrale Figur ihrer Erzählungen wie auch ihres einzigen Romans „Denř pominovenijaŖ (Gedenktag, 1989), einer Schilderung der Lebensläufe von sieben alters- und herkunftsmäßig unterschiedlichen Frauen aus verschiedensten Teilen der Sowjetunion, um auf sehr persönliche Art und Weise, in einem nüchternen, differenzierten Realismus die systembedingten Mängel und Missstände gleichsam en passant zur Sprache zu bringen. Sie geht dabei oft noch weiter als die Satiriker der zwanziger Jahre, wenn sie nicht nur die Wohnungsnot, die Geldsorgen, die Warenknappheit, den allgemeinen Schlendrian oder die Herrschaft von Privilegien und Korruption anspricht, sondern auch die Überwachungs- und Bestrafungsorgane, die Verpflichtung zu der Teilnahme an Parteiveranstaltungen oder andere Maßnahmen zur erzwungenen Einbindung des Einzelnen in die sozialistische Gesellschaft.6

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Natalřja Baranskaja gehörte so trotz ihres späten schriftstellerischen Beginns zu den frühesten, nicht allzu zahlreichen sowjetischen Autoren, die Pomerancevs Forderung nach „AufrichtigkeitŖ (iskrennostř)7 aus dem Jahr 1953 beim Wort nahmen und die zudem sofort eine adäquate Form der künstlerischen Umsetzung dieser berechtigten und längst überfälligen Forderung fanden. Zugleich macht sie deutlich, und darin bekundet sich erst ihr Rang als Künstlerin, dass die aufgezeigten Probleme zwar dem System entspringen, aber in vielerlei Hinsicht auch von allgemeiner Gültigkeit sind. In ihrem Debüt, der längeren Erzählung „Nedelja kak nedeljaŖ (Woche um Woche)8, die 1969 in der angesehenen Literaturzeitschrift „Novyj mirŖ erschien und großes Aufsehen erregte, schildert sie Tag für Tag eine typische Woche im Leben ihrer Heldin. Olřga Nikolaevnas Überlastung durch das Hin und Her zwischen Beruf, Familie und Haushalt, das zu einem aussichtlosen Wettlauf mit der Zeit führt, ist nicht nur für die Situation der Frau in der Sowjetunion charakteristisch, sondern auch für die vieler Frauen, in welcher Gesellschaft sie auch leben. Noch tiefer ins Menschliche und Existentielle trifft Baranskaja, wenn sie Personen darstellt, die dem Alkoholismus verfallen sind, die unter der Einsamkeit, den enttäuschten Hoffnungen und der Angst vor dem Altern leiden oder die sich in den Grenzsituationen von Krankheit, Sterben und Tod befinden.9 Selbst der erwogene Freitod, zum Beispiel aus Liebeskummer wie in „Greńnica i pravednicaŖ (Die Sünderin und die Gerechte, 1981), bleibt nicht ausgespart. Wegen der Behandlung solcher Themen, die in der Sowjetunion unerwünscht und vom Standpunkt des Sozialistischen Realismus mit einem Verdikt belegt waren, wurde die Verfasserin von „Nedelja kak nedeljaŖ im eigenen Land immer wieder heftig angegriffen, von der westlichen Kritik jedoch als eine neue, aufrichtige Stimme begrüßt, die einen ungefilterten Einblick in das alltägliche Leben des sowjetischen Volkes bietet. Doch Baranskajas schriftstellerische Bedeutung lässt sich nicht auf ihre Rolle als Zeitzeugin und Zeitkritikerin reduzieren. Ebensowenig ist sie bei aller Vorherrschaft der Frauengestalten in ihrem Werk nur eine „sensible Historiographin weiblichen Sinns in unserer ZeitŖ.10 Das würde sie auf den Begriff „FrauenliteraturŖ (ņenskaja proza) festlegen, gegen den sie sich wie ihre Schriftstellerkolleginnen Viktorija Tokareva, Tatřjana Tolstaja oder Ljudmila Petruńevskaja nachdrücklich gewehrt hat. Ihr ging es immer um den Menschen und das Menschliche überhaupt, unabhängig von jeglicher ideologischen oder gesellschaftlichen Bindung. Deshalb schätzte sie in der russischen Literatur insbesondere die großen Menschenkenner, allen voran Fedor Dostoevskij und Anton Ĉechov. Mit Ĉechov verbindet Baranskaja, die als Sprachkünstlerin bisher noch zu wenig gewürdigt worden ist, außer der Neigung zur kurzen, knappen Erzählform auch der nüchterne, lakonische Realismus und die psychologische Genauigkeit in der Beobachtung der Charaktere und ihrer Handlungen. Unter den schreibenden Zeitgenossen berührt sie sich darin am stärksten mit Jurij Trifonov, dem anderen großen Alltagsschilderer, der zudem ebenfalls meist mit einem Minimum an Geschehens- und Ereignishaftigkeit auskommt. In „ObmenŖ (Der Tausch, 1969)11, der

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ersten der drei berühmten „Moskauer ErzählungenŖ (Moskovskie povesti), mit der der ehemalige Stalinpreisträger zu einer eigenen, unverwechselbaren Handschrift fand, reicht ein Wohnungstausch als Motiv, um das Zerbrechen einer Familie zu illustrieren und die Lebenslüge einer Ehe zu entlarven. Der Prozess der Entlarvung geht bei Trifonov immer leise, fast lautlos vonstatten. Es gibt keine betonten Höhepunkte und keine dramatischen Peripetien. Die Katastrophe stellt sich unbemerkt ein, genauer gesagt, sie ist immer schon da. Denn alles ist Gleichlauf, Wiederkehr, Zuständlichkeit. Hier liegt einer der wichtigsten Berührungspunkte zwischen der Stadtprosa und der ebenfalls alltagsschildernden Dorfprosa. Zuständlichkeit, Wiederkehr, Gleichlauf bestimmen auch das bäuerliche Leben in den Dörfern Sibiriens, die den Schauplatz der Romane und Erzählungen Valentin Rasputins bilden. Dementsprechend steht in „Vasilij i VasilisaŖ (Vasilij und Vasilisa, 1967), einem für den Autor typischen Text, nicht das Einmalige und Besondere im Zentrum der Handlung. Wichtiger als die Szene, in der Vasilij seine Frau im Alkoholrausch mit der Axt bedroht, ist das, was der unerhörte Vorfall auslöst: die Trennung der Eheleute. So beschreibt Rasputin das Leben, das Vasilij und Vasilisa getrennt, aber nebeneinander führen, sie im Haus, er in der Scheune. Vasilij wird beim Trinken mit dem Sohn, bei der Jagd in der Taiga, bei der Heumahd auf dem Mähplatz, Vasilisa beim Aufsetzen des Samowars, beim Melken der Kühe, beim Sortieren der Kartoffeln, beim Gespräch mit der Nachbarin und den Kindern gezeigt. Dreißig Jahre lang führt nur das Ritual des wortlos genommenen Morgentees die Eheleute zusammen. Nicht einmal Vasilijs Rückkehr aus dem Krieg kann Vasilisa dazu bewegen, ihren Mann wieder ins Haus aufzunehmen. Erst am Totenlager Vasilijs kommt es zur Versöhnung. Die Eheleute ziehen das Fazit ihres Lebens: „ ,Wir haben nicht gut miteinander gelebt, VasilisaŘ, flüstert Vasilij, ,und nur ich bin daran schuld.Ř ,Ganz so schlecht war es auch nichtŘ, Vasilisa schüttelt dabei den Kopf. ,Die Kinder sind erwachsen, sie arbeitenŘ.Ŗ12 Rasputins Heldin hält die Aufgabe der Familie und den Sinn ihres Lebens trotz alledem für erfüllt. Sie wirkt starr und stolz Ŕ unfähig zur Vergebung. In Wirklichkeit aber verzichtet sie auf persönliches Glück, um sich in den Dienst eines umfassenden Ganzen zu stellen. Dieses Ganze ist die Natur, nicht die Gesellschaft. Von hier aus erklärt sich die Dominanz der weiblichen Gestalten in Rasputins Schaffen. Rasputin, der diese Dominanz mit Natalřja Baranskaja teilt, sieht die Frau als Bewahrerin der Natur, vor allem in einer Zeit, in der die Natur, zu der nicht nur die intakte Landschaft, sondern auch das intakte menschliche Zusammenleben gehört, auf das Höchste gefährdet ist. Sie ist gefährdet durch Krieg und moderne Technik, und sie ist gefährdet durch den Menschen selber in seiner Unzulänglichkeit. Bei aller Verschiedenheit der dargestellten Lebensbereiche behandeln Dorfprosa und Stadtprosa letztlich die gleichen allgemeinen und zeitlosen Probleme des Menschen: Liebe, Eifersucht, Rivalität, Entfremdung, Angst, Alter, Tod. In dem längeren Prosawerk „Poslednij srokŖ (Die letzte Frist, 1970), das nach den

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beiden kürzeren, Aufsehen erregenden Erzählungen von 1967, „Denřgi dlja MariiŖ (Geld für Maria) und „Vasilij i VasilisaŖ, Rasputins Ruf als einen der besten Erzähler seiner Generation festigte, geht es um eine achtzigjährige Bäuerin, die im Sterben liegt und deshalb ihre Kinder zu sich ruft, um Abschied zu nehmen. Die Liebe zu ihren Kindern ist so groß, dass sie ihren Tod hinauszögert. Während die alte Frau in der knappen Frist, die ihr verblieben ist, Rechenschaft über ihr pflichterfülltes und verantwortungsbewusstes Leben ablegt, warten die künftigen Erben ohne Anteilnahme auf das Ende ihrer Mutter, oder sie verlassen die Sterbende wegen vermeintlich wichtiger Angelegenheiten. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes entwickelte sich fortan zu einem zentralen, Rasputin zutiefst bewegenden Problem. Über diese Frage wurde dem Autor immer bewusster, was im Titel seiner Romanerzählung „Ņivi i pomniŖ (Lebe und erinnere dich, 1974) zum Ausdruck kommt: dass es menschliches Leben nicht gibt ohne Erinnerung. Hierin stimmt Rasputin wiederum voll und ganz mit Trifonov überein. In Verbindung mit dem Zeitbegriff gewinnt die Erinnerung bei Trifonov, einen denkbar hohen Stellenwert 13, den höchsten unter seinen Zeitgenossen, und eine ganz spezifische Bedeutung: Während die Zeit, verknüpft mit geschichtlichen Katastrophen wie Krieg, Terror oder Hunger, eine negative Macht ist, kann die Erinnerung heilen und ein neues Ŕ das eigentliche Ŕ Leben begründen. Trifonov nennt es das „andere LebenŖ (drugaja ņiznř). So lautet auch der Titel eines seiner bekanntesten Werke, das 1975 in der Zeitschrift „Novyj mirŖ erschien. In der knappen, wenige Seiten umfassenden Erzählung „Igry v sumerkachŖ (Spiele in der Dämmerung, 1968)14 beschwört der Ich-Erzähler den Sommer, den er als Elfjähriger auf dem Tennisplatz eines Moskauer Datschenvororts verbracht hat. Hier werden Kindheitserlebnisse erinnert; in anderen Fällen sind es Ehekrisen, Familienprobleme, Berufskarrieren, Kriegsereignisse oder gar ganze Lebensläufe. Die erinnerte Zeit ist stets persönlicher Art. Nie werden fremde Schicksale oder geschichtliche Prozesse und gesellschaftliche Zusammenhänge rekonstruiert. Der Rückschauende versucht, Klarheit über das eigene Ich zu gewinnen. Sein Mittel ist das der schonungslosen Analyse. So dient das retrospektive Verfahren der Hauptabsicht des neuen Erzählens in Russland: der Darstellung des Individuums, das sich selbst entdeckt, erforscht, erkennt und definiert. Trifonov ist ein Meister dieses Verfahrens. Hohes Lob seitens der zeitgenössischen sowjetischen Kritik hat er sich damit zeitlebens nie erworben. Anerkannt wurde zwar die scharfe Beobachtungsgabe und treffende Psychologie in der Personendarstellung wie auch die Echtheit in der Beschreibung des Milieus, aber man vermisste den positiven Helden, den optimistischen Grundton und die erzieherische Funktion und gesellschaftliche Bedeutsamkeit des Erzählten.15 Selbst Vladimir Dudincev, der Verfasser von „Ne chlebom edinymŖ (Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, 1956), einem der im In- und Ausland am meisten diskutierten Werke der Sowjetliteratur, sah in Trifonovs Erzählungen lediglich „AlltagserzählungenŖ, deren Geltungsbereich sich

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auf die „kleinste Zelle der Gesellschaft Ŕ die FamilieŖ reduziere.16 Dass sich das Alltägliche in diesem Fall keineswegs im Trivialen, Belanglosen, Nichtigen erschöpft, sondern in einen übergreifenden geschichtlichen Kontext eingelassen ist, wurde selten wahrgenommen. Vordergründig berichtet Trifonov tatsächlich meistens von „Ehekrisen, beruflichen Schwierigkeiten, verratenen Freundschaften, Intrigen und faulen Kompromissen, Alter und KrankheitŖ, gleichzeitig aber entfaltet er die „wichtigsten Ereignisse der russischen und der sowjetischen GeschichteŖ des 20. Jahrhunderts.17 Diese Methode entspringt seiner Überzeugung, dass kein Mensch geschichtslos lebt: „Die Geschichte ist mit uns, in uns.Ŗ18 Der „Widerschein der GeschichteŖ (otblesk istorii)19, der auf allen Menschen liegt, muss nicht immer so stark sein, dass er jeden mit seinem „heißen, grausamen LichtŖ derart „versengtŖ wie den alten Pavel Letunov im Roman „StarikŖ (1978), dessen Gedanken ständig um die Vergangenheit kreisen. Selbst im engsten Familienkreis, während der schwülen Sommermonate 1974, die er mit Tochter, Sohn und Enkelkindern auf einer Datscha bei Moskau verbringt, kann er sich nicht von den Erinnerungen an seine Erlebnisse in den Bürgerkriegsjahren am Don zu lösen. Das führt bei ihm zum fast vollständigen Verlust der Gegenwart. Auch in allen Erzählungen der Moskau-Trilogie spielt die Vergangenheit, und zwar Text zu Text in zunehmendem Maß, eine große Rolle. In „Dolgoe prońĉanieŖ (Langer Abschied, 1971), dem Abschluss der „TrilogieŖ, beginnt ihre Bedeutung bereits im Aufbau des Textes. Denn die erzählte Gegenwart, die in der Zeit von Juli 1951 bis März 1953 spielende Handlung, ist in einen Rahmen eingebettet, der Moskau im Jahre 1970 als eine inzwischen völlig veränderte Stadt zeigt: „Und Moskau breitet sich immer weiter aus, über die Kreisgrenze, über Schluchten und Felder, häuft Türme um Türme, steinerne Berge mit Millionen entflammter Fenster, reißt die alten Lehmböden auf und rammt dort gigantische Zementrohre ein, schüttet Baugruben zu, trägt ab, richtet auf, überzieht mit Asphalt, vernichtet spurlos Ŕ und morgens auf den Metrobahnsteigen und an den Autobushaltestellen eine Menschenmenge, die, mit jedem Jahr dichter wird...Ŗ20 Die in diesem Zeitrahmen angesiedelte Handlung, die Geschichte der Schauspielerin Ljalja Telepnova und des Schriftstellers Grińa Rebrov, deren langjährige Beziehung durch familiäre und berufliche Zwänge zu unmerklicher, jedoch unaufhaltsamer Entfremdung führt, bleibt nicht durchgehend auf der Ebene der Gegenwart, sondern wird immer wieder durch kürzere und längere Rückblenden zeitlich vertieft. Die Erinnerungen Ljaljas und Grińas sind persönlich-biographischer sowie allgemein-zeitgeschichtlicher Art. Sie beinhalten ihre gemeinsame Schulzeit, die Wiederbegegnung als Erwachsene und die Anfänge ihrer Liebe, aber auch die Zustände und Bedingungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, also den Zeitraum zwischen 1943 und 1951. Doch nicht nur die beiden Protagonisten, alle Neben- und Randfiguren, von den Theaterleuten, dem Direktor Sergej Leonidoviĉ, dem Dramaturgen Smurnyj oder dem Bühnenautor Smoljanov, bis hin zu den Eltern, Freunden und Bekannten Ljaljas und Grińas, werden durch Retrospektionen und Reminiszenzen von oft knappster Form plastischer und in

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Charakter und Verhalten verständlicher. Das Leben einer Gestalt wie des Vaters der Heldin, der, „von Beruf Kesselschmiedemeister, von Berufung GärtnerŖ, zu den „demobilisierten Soldaten der Roten ArmeeŖ gehörte, die nach der Revolution „aus den Hungergebieten in die HauptstadtŖ strömten und in eines der Häuschen einzogen, aus denen die ehemaligen Besitzer vertrieben worden waren21, wird sogar bis ins Jahr 1917 zurückverfolgt. Von hier aus wird es verständlich, wenn Grińa Rebrov, der eigentliche Held der Erzählung, einer der typischen unangepassten Charaktere Trifonovs, in beruflicher wie in privater Hinsicht im Disput mit seinem Gegenspieler, dem erfolgreichen Bühnenautor Smoljanov, Wert auf die Feststellung „Meine Basis Ŕ das ist die historische Erfahrung, all das, was Russland durchgemacht hatŖ22 legt. „Und aus unerfindlichen GründenŖ, heißt es weiter, sprach er dann davon, dass seine Großmutter von verbannten Polen abstammte, dass sein Urgroßvater Leibeigener und sein Großvater in die Studentenunruhen verwickelt gewesen und nach Sibirien geschickt worden war, dass seine andere Großmutter in Petersburg Musikunterricht gegeben hatte; der Vater dieser Großmutter hatte zu den Wehrpflichtigen gehört, und sein eigener Vater hatte den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg mitgemacht, obgleich er ein „friedlicher Mensch war: vor der Revolution Statistiker, dann ÖkonomiefachmannŖ. Jede Figur in „Dolgoe prońĉanieŖ hat wie grundsätzlich bei Trifonov, entsprechend seiner Hinwendung zur „Einzigartigkeit der PersonŖ, ein ganz spezielles Schicksal, darüber hinaus sind jedoch, geschichts- und systembedingt, alle auch feste Glieder einer großen Schicksalsgemeinschaft. Deshalb wird in den Lebenswegen der Figuren, so verknappt und verdichtet diese in oftmals nur wenige Sätze umfassenden „AbschweifungenŖ dargestellt werden, die gesamte gesellschaftliche Entwicklung des Sowjetstaats von den Anfängen bis zu den beginnenden fünfziger Jahren erfasst.23 Manches, wie die Säuberungen und die Schauprozesse, wie die Verhaftungen und die Existenz der Lager, konnte vom Verfasser in der Periode der Stagnation (1964Ŕ1985), den Jahren zwischen dem Ende des Tauwetters und dem Beginn der Perestrojka, höchstens angedeutet werden. Weiteres wie das System der Protektion und der Förderung durch einflussreiche, im Machtapparat verankerte Leute oder die Einflussnahme der Partei auf die Künste ließ sich, hier am Beispiel des Theaterbetriebs, in dem sich der größte Teil des Geschehens ereignet, schon deutlicher zur Sprache bringen. Selbst Rebrov, der Eigenbrötler und Wahrheitssucher, neigt zunächst um des Erfolgs willen dazu, die Themen seiner Stücke an den tagespolitischen Forderungen zu orientieren. Am Ende aber siegt sein Gewissen, und er beschließt, der „universellen HeucheleiŖ24 überdrüssig, sich dem Moskauer Sumpf zu entziehen. Gleichzeitig entzieht er sich der inzwischen als entleert empfundenen eheähnlichen Partnerschaft mit Ljalja, so dass der Titelbegriff der Erzählung einen „langen AbschiedŖ in dem doppelten Sinn des Wortes beinhaltet. Grińa Rebrov gelingt damit, was seinen beiden unmittelbaren literarischen Vorgängern, Dmitriev in „ObmenŖ und Gennadij in „Predvaritelřnye itogiŖ (Zwischenbilanz, 1970), noch nicht gelungen war: sich aus dem alten Ŕ gescheiterten Ŕ Leben zu

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lösen und in ein neues „anderes LebenŖ aufzubrechen. Dass dieser Aufbruch, wie am Schluss bestätigt, erfolgreich sein wird, war anfänglich keineswegs vorauszusehen. Aus dem einst erfolg- und glücklosen Menschen ist ein gefragter, gutverdienender Drehbuchautor geworden. Doch die äußere Glückswendung erfüllt Rebrov noch nicht. Sein Denken und Fühlen dreht sich weiter um das Vergangene: „Er dachte oft über sein Leben nach, bewertete es auf jede Art und Weise Ŕ das war überall seine Hauptbeschäftigung, insbesondere auf Reisen, und es schien ihm, dass jene Zeiten, in denen er in Not lebte, in denen er Sehnsüchte hatte, neidete, hasste, litt und fast betteln gehen musste, die besten Jahre seines Lebens waren; denn um glücklich zu sein, braucht es ebensoviel...Ŗ25 Mit der Erzählung „Dolgoe prońĉanieŖ wurde die „Suche nach dem ‚anderen LebenřŖ26 zu einem Leitthema und zentralen Merkmal von Trifonovs weiterem Schaffen. Was der das Ende eines schlechten, unbefriedigenden und den Anfang eines besseren, authentischeren Lebens bezeichnende Begriff „drugaja ņiznřŖ genau meint, bleibt weitgehend offen und unbestimmt. Offensichtlich liegt dies in der Absicht des Autors, der, ohnehin geneigt, auf den auktorialen Erzählerstandpunkt zu verzichten, sich zu einer näheren Bestimmung noch nicht in der Lage sieht. Bedeutsam scheinen für ihn schon der Aufbruch und die Suche als solche zu sein. Nur so lässt sich die Lebenskrise überwinden, in der Trifonov immer wieder seine Helden zeigt. Grińa Rebrov ist dafür ein exemplarisches Beispiel. Trifonov, der in der Figur dieses Schriftstellers eine eigene Krisensituation widerspiegelt27, demonstriert an ihr zugleich seine Grundüberzeugung von der Macht der Erinnerung. Rebrov denkt auch in seinem neuen Leben ständig über das alte nach, weil nur das sich erinnernde Ich zu Selbstvergewisserung und Wahrheitsfindung gelangt. Die Vergangenheit, darin besteht Trifonovs „BotschaftŖ, ist der Garant der Gegenwart.28 Bei aller Allgemeingültigkeit hat diese Botschaft einen ganz konkreten Bezug. Die Erinnerungen der Figuren, die nicht nur die Gefühle, Gedanken und Lebensumstände, sondern auch den familiären, beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Kontext betreffen, beziehen sich alle auf die stalinistische Periode in der Geschichte der Sowjetunion. Jurij Trifonov gehört damit in der russischen Literatur der sechziger und siebziger Jahre neben Aleksandr Solņenicyn mit seiner epochalen Beschreibung des Lageralltags in „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ (Ein Tag des Ivan Denisoviĉ, 1962)29 zu den ersten Schriftstellern, die den Stalinismus als Gesamterscheinung des Lebens zum Thema der Literatur erhoben. Um publiziert zu werden („Das Wichtigste findet also statt Ŕ die Bücher werden gedruckt.Ŗ)30, legte er sich dabei noch große Zurückhaltung auf und überließ es dem zeitgenössischen Leser, entsprechend seiner Kenntnis und Betroffenheit, aus den Andeutungen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Eine schonungslosere kritische Darstellung der Stalinzeit, insbesondere in ihrem Terror, blieb unpubliziert wie im Fall der Romane von Vasilij Grossman, „Ņiznř i sudřbaŖ (Leben und Schicksal), Anatolij Rybakov, „Deti ArbataŖ (Die Kinder vom Arbat), oder Vladimir Dudincev, „Belye odeņdyŖ (Die weißen Gewänder), und musste warten,

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bis nach den ersten offenen Diskussionen auf dem 8. Schriftstellerkongress im Sommer 1986 und den Neubesetzungen leitender Positionen in Verlagen und literarischen Zeitschriften wie „Novyj mirŖ, „ZnamjaŖ oder „OgonekŖ ab Anfang 1987 die Veröffentlichung bisher verbotener Werke der heimischen und ausländischen Literatur einsetzen konnte. Die Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nun zur Forderung des Tages und stand für einige Jahre im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Auf die Dauer erwies sie sich aber eher als eine notwendige Aufgabe der Geschichtsschreibung und wurde daher auch bald abgelöst durch eine verstärkte Zuwendung der Schriftsteller zu der eigenen Gegenwart mit ihren wachsenden Problemen. Immer häufiger meldeten sich Stimmen, die diese Probleme im direkten Zusammenhang mit Gorbaĉev und seinen beiden politischen Grundprinzipien glasnost’ und perestrojka sahen. Selbst Anhänger und geistige Wegbereiter der Reform wie die Vertreter der Dorfprosa vertraten die Ansicht, dass Kultur, Moral und Ordnung in Russland zunehmend bedroht seien. So wandte sich Rasputin gegen Aerobic, Rockmusik und Diskotheken und verurteilte die „Geschmacklosigkeiten auf der Leinwand des Kinos und auf den Bildschirmen des FernsehensŖ, während Vasilij Belov und Viktor Astafřjev der Frau vorwarfen, sie sei zu freizügig geworden und beginne, ihre „MutterbestimmungŖ zu vernachlässigen. Viktorija Tokareva (geb. 1937), die zu der Zahl von Erzählerinnen gehört, die jetzt verstärkt an die literarische Öffentlichkeit traten und große Aufmerksamkeit erzielten, entlarvt in ihrer Erzählung „Kirka i oficerŖ (Kirka und der Offizier, 1991) nicht nur den moralistischen, sondern auch den nationalistischen Konservatismus dieser Richtung. Der Held schaltet das Fernsehgerät ab, weil Rockmusiker für ihn „BesesseneŖ sind, und als er einen Schauspieler mit angemalten Augen und einem Ring im Ohr sieht, schämt er sich des „unrussischenŖ Verhaltens und spuckt vor Abscheu aus. „Sie schämen sich nicht, und sie fürchten sich nichtŖ, sagt derselbe an anderer Stelle in Gedanken über die sich nun öffentlich treffenden Homosexuellen und ihre Veranlagung, „unter Stalin wurden sie deswegen ins Gefängnis gesperrt.Ŗ31 Der Leiter der Abteilung für politische Aufklärung an einem Militärhospital, gewohnt, in den vorgegebenen Bahnen zu denken, versteht die Welt nicht mehr. Nach wie vor überzeugt vom Führungsauftrag der Kommunistischen Partei, hält er die Politik im Zeichen von glasnost’ und perestrojka für einen einzigen Rückschritt. Was nützt die Wahrheit, fragt er sich, wenn es nichts zu kaufen gibt oder wenn die Eisenbahn streikt wie zur Zarenzeit. Wohin er auch blickt, überall glaubt er Symptome menschlicher Verrohung und allgemeinen Sittenverfalls wahrzunehmen. Das neue Moskau ist für ihn eine Stadt, in der Ŕ wie in New York Ŕ Raub, Mord, Prostitution und Vergewaltigung an der Tagesordnung seien. Die ganze Gefährlichkeit dieser Sicht zeigt sich, wenn Tokareva ihren Helden an das seiner Meinung nach schamlose Auftreten eines Schauspielers denken und dabei feststellen lässt, dass dieser „kein JudeŖ und „auch kein TatareŖ ist.32 Das heißt, für ihn passt zu einem Juden oder Tataren, was sich mit der Würde eines Russen nicht vereinbaren lässt. Hier kommt eine alte antisemitische Grundhal-

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tung zum Ausdruck, wie sie in den Pogromen der Jahrhundertwende gipfelte, zu sowjetischen Zeiten, offiziell verbannt, latent immer vorhanden war und nun im Zuge der freien Meinungsäußerung wieder an die Oberfläche drängte. Die wichtigste Rolle spielte dabei eine Vereinigung, die seit einigen Jahren unter dem Namen „PamjatřŖ (Erinnerung, Gedächtnis) in Erscheinung tritt. Der übersteigerte Patriotismus und Nationalismus dieser Gruppierung gibt sich eine historische Legitimation. Im Anschluss an slavophiles Gedankengut und die Ideologie der Bodenständigkeit aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbinden seine Vertreter, die allen Schichten der Bevölkerung entstammen, den Glauben an die Sendung des russischen Volkes und die Forderung nach der Reinerhaltung der russischen Kultur mit der Verwerfung der modernen Kunst und der westlichen Konsumgesellschaft sowie der Ablehnung von Menschen anderer Rasse, Nation und Volkszugehörigkeit. Sofern sich die Fremdenfeindlichkeit auf die Juden richtet, findet sie alte Argumente in Dostoevskijs fatalem Artikel aus seinem „Tagebuch eines SchriftstellersŖ (Dnevnik pisatelřja, 1877)33, in dem nicht nur die Erscheinung eines jüdischen Kapitalisten und Revolutionärs entworfen, sondern auch die Idee eines jüdischen Staats im Staate entwickelt und die Gefahr einer jüdischen Weltherrschaft beschworen wird. Daran anknüpfend wurde in Zeitschriften des Schriftstellerverbands wie „MoskvaŖ, „Molodaja gvardijaŖ oder „Nań sovremennikŖ wiederholt vor einer kosmopolitischen Verschwörung der Juden gewarnt. Zusammen mit den Freimaurern hätten die Juden das Ziel, Russland durch Alkoholismus, Pornographie und Popkultur von innen her zu zersetzen, und für die verhängnisvolle Zerrissenheit des Landes in der jüngeren Vergangenheit durch Revolution, Bürgerkrieg, Kollektivierung und stalinistische Terrorherrschaft seien sie im hohen Maß mitverantwortlich. Wiederum waren es besonders die Dorfschriftsteller, die solche publizistischen Kampagnen unterstützten. Rasputin distanzierte sich zwar von der Konspirationsthese, rechtfertigte aber „PamjatřŖ als eine „durch geistige Bedürfnisse hervorgerufene Volksbewegung.Ŗ34 Die Gattungsform Erzählung stand schon oft am Anfang einer Epoche. Das gilt für den Sentimentalismus und die Romantik ebenso wie für den Realismus und den Symbolismus. Auch in einer so politischen Zeit wie jener vor und nach dem Fall des „eisernen VorhangsŖ erwies sich ein weiteres Mal, dass die kürzere Form vorzüglich geeignet war, rasch und direkt auf neue Themen, Tendenzen und Strömungen zu reagieren. Unterstützt wurde diese Eignung noch durch die alte russische Tradition, in einer der vielen literarischen Zeitschriften kurzfristig und unkompliziert publizieren zu können. Die Zeitschrift „ZnamjaŖ, die seit der Übernahme der Leitung durch Grigorij Baklanov zu einer der wichtigsten Organe der Literatur in den Perestrojka-Jahren wurde, bot speziell jüngeren und jungen Autoren eine Plattform, von der sie der zeitgenössischen Leserschaft, die so aufgeschlossen und so voller Erwartungen wie nie zuvor war, aktuelle Stoffe in künstlerisch anspruchsvoller Gestalt als Meinungsbeitrag und Anstoß zu weiteren Diskussionen vorlegen konnten. Einer der Autoren heißt Boris Kosvin (geb.

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1955), der nach seiner Berufsausbildung als Bauingenieur in einem Betrieb für Stahlbetonkonstruktionen gearbeitet hatte. Schriftstellerisch noch kaum hervorgetreten, beteiligte er sich mit seinem Erstlingswerk „AssimiljantyŖ (Assimilanten, 1990) an der von der Zensur lange unterdrückten, jetzt vielerorts, zum Teil hitzig geführten Debatte um die Rolle des Judentums und die Stellung der jüdischen Mitbürger in Russland. Zu den bemerkenswertesten Qualitäten der Erzählung gehört es, dass die sich ausbreitende antisemitische Stimmung im Land ganz unpolemisch und unpathetisch dargestellt wird. Kosvin schildert einen Tag im Leben einer jüdischen Familie. Alltagszeichner wie Trifonov, zeigt er, ebenfalls wie dieser, die Gegenwart nicht ohne Blick auf die Vergangenheit. Mittels eines allwissenden Erzählers spannt sich der Bogen der Darstellung von der Zeit der Verfolgungen unter Stalin bis hin zu der Bedrohung durch jene reaktionäre „PamjatřŖ-Bewegung. Der geschilderte Alltag der Familie Bronńtejn, einer weitverzweigten Familie, ist von vorneherein geprägt durch den Umstand, dass acht Personen, von den Großeltern bis zu den Enkelkindern, auf engstem Raum zusammenleben (müssen). Die Probleme beginnen morgens in der zeitlich angemessenen Benutzung des einzigen Badezimmers und setzen sich fort in der Organisation der Mahlzeiten. Am Wochenende, wenn alle Familienangehörigen anwesend sind, wird nach festgelegter Ordnung in drei Schichten an einem kleinen Küchentisch gegessen, wobei die Frauen immer zuletzt an der Reihe sind. Nichts fällt zunächst aus dem Rahmen des Üblichen, weder das auf Raten gekaufte rumänische Doppelbett noch das teure japanische Radiogerät, mit dem der Sohn Michail Isaakoviĉ zum Kummer seines Vaters ausländische Sender hört. Auch die Verselbständigung des Enkels Sańa oder der Ehekonflikt der Enkelin Inna sind völlig normale Erscheinungen. Gezeichnet wird das Bild einer Familie, die nicht besser und nicht schlechter ist als andere Familien im Russland der ausklingenden achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Bronńtejns haben die gleichen Sorgen und die gleichen Probleme wie alle Durchschnittsbürger, und es ist fast nur der Name, der sie als Angehörige einer fremden Religions- und Volksgemeinschaft ausweist. Die alte Fira Lřvovna behauptet zwar noch ihre Rolle als der Mittelpunkt der Sippe und legt Wert auf die Bewahrung jüdischer Traditionen wie der Heirat unter Gleichgläubigen, ihr Mann, der alte Isaak Lazareviĉ, aber hat längst Judentum und Parteigenossenschaft in Einklang gebracht und ist ängstlich bemüht, weder durch Worte noch durch Taten aufzufallen. Der Schwiegersohn Semen Borisoviĉ erzählt, dass er bereits während der Schulzeit gelernt habe, die antisemitischen Spottverse der Klassenkameraden zu überhören und in das Gelächter über die Anekdoten vom ewigen Abraham und seiner Frau Sara einzustimmen. Und von den Jüngsten wird gesagt, sie hätten nie den Talmud in die Hand genommen und beherrschten außer einigen Schimpfworten das Jiddische nicht mehr. Der Prozess der Assimilation schien nahezu abgeschlossen zu sein, als die Familie nach vierzig Jahren weitgehenden Ungestörtseins mit einem Schlag auf ihr Außenseitertum aufmerksam gemacht wird. Die Parole an der Wand neben

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der Wohnungstür, „Prügelt die Juden, rettet Russland!Ŗ, spricht in ihrer Direktheit die Sprache von „PamjatřŖ. „Warum lassen die uns nicht in Ruhe leben?Ŗ, fragt Fira Lřvovna verständnislos. So von außen auf sich zurückgewiesen, wird in den Älteren erneut die Vergangenheit lebendig. Michail Isaakoviĉ erinnert sich, wie ihm vor langer Zeit der Direktor einer Fabrik einmal unter gröbsten Beleidigungen mitteilte, dass die Anweisung bestehe, keine Juden zu beschäftigen, und er deshalb dankbar sein müsse, nicht hinausgeworfen zu werden. Er weiß, es handelt sich hier um keine persönliche Schikane, sondern um eine allgemeine Zeittendenz, die lediglich durch Zufall nicht offener zutage tritt. „Hätte Stalin noch einige Jahre gelebtŖ, davon ist Michail Isaakoviĉ überzeugt, „dann hätte man uns alle in Waggons verladen und nach Sibirien geschickt Ŕ als Futter für die sibirischen Tiger am Usur.Ŗ35 Mit den Erinnerungen kehrt die Angst zurück, und dies in einer Zeit, deren wichtigste Errungenschaft nach Aussage von Gorbaĉevs Außenminister Ńevardnadze gerade die Befreiung von der Angst gewesen sei. Angesichts der Kritzelei vor der eigenen Tür und ähnlicher Vorfälle in der Stadt wird den älteren Mitgliedern der Familie Bronńtejn bewusst, dass sie das Stigma der Andersartigkeit niemals loswerden und weiterhin abseits ihrer Gesellschaft leben müssen. Die Erzählung endet jedoch keineswegs im Pessimismus oder Fatalismus. Sie verklingt in der Hoffnung auf die nachwachsenden Generationen. „Sie heiraten Russen oder RussinnenŖ, meint Semen Borisoviĉ, „Vielleicht hört diese Verwünschung bei unseren Kindern und Enkelkindern auf.Ŗ36 Damit sich diese Hoffnung in der Zukunft erfüllt, erhebt der Verfasser der Erzählung seine warnende Stimme in der Gegenwart. Wie Trifonov, Tokareva, Baranskaja und andere šestidesjatniki, Vertreter der Literatur der sechziger Jahre, die sich in ihrer Schreibweise an Ĉechov orientierten, folgte auch Kosvin dessen Grundsatz, das Leben so zu beschreiben, wie es ist. Nur kommt bei ihm Ŕ zeitbedingt Ŕ ein stärkerer moralischer Anspruch zur Geltung. Im Prinzip gilt dies für alle Autoren, die sich um die Zeitschrift „ZnamjaŖ gruppierten. Das bestätigt Ėduard Rusakov (geb. 1942). In dessen Erzählung „IskusstvovedŖ (Der Kunstkenner) von 1991 wird, analog zum Schicksal der Assimilanten, ein Mensch von der Vergangenheit eingeholt. Steht die jüdische Familie noch für eine ethnische Minderheit, so ist der geschilderte Einzelfall von einer größeren Repräsentanz. Er zielt auf nicht weniger als auf die schweigende russische Mehrheit. Ging es vorher um die Opfer, geht es nun um die Täter. Was Rusakovs Geschichte so interessant macht, ist die Tatsache, dass die Täter nicht in den höheren Rängen der Politik und Gesellschaft gesucht werden. Dort sind die Schuldigen namentlich bekannt und ihre Vergehen sowohl juristisch als auch moralisch eindeutig. Eindeutig ist im vorliegenden Zusammenhang nur die frühere Rolle der Titelfigur. Der „BiĉŖ (Byvńij intelligentnyj ĉelovek), das heißt der ehemalige Intelligenzler, der sich nach dem Verlust von Arbeit und Wohnung euphemistisch „KunstkennerŖ nennt, hatte als Hauptmann der sowjetischen Staatssicherheitsorganisation die Aufgabe, Mitbürger zu Spitzeldiensten anzuwerben. Einer, der seinen Werbeversuchen widerstand, sitzt jetzt als Direktor eines De-

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sign-Unternehmens vor ihm und schaut selbstsicher auf den heruntergekommenen Besucher mit dem blassen Gesicht in dem ungebügelten Hemd und der zerknitterten Hose. Die Selbstsicherheit Kuraevs, der, braungebrannt, sich so locker wie ein Amerikaner gibt, wächst noch, als er von dem Besucher daran erinnert wird, dass er es einst ablehnte, Informationen über seine Kameraden zu liefern. Im Gefühl moralischer Überlegenheit weist er den Wunsch seines Gegenübers nach einer Stelle, auch der niedrigsten, entschieden zurück. Da erzählt der entlassene Hauptmann und frühere Tschekist Ĉernich, wie er Kuraev seinerzeit ein zweites Mal besuchte und eine kleine Samisdat-Ausgabe fand, in der der Name des Besitzers eingetragen war, und wie er erst drei Tage später bei dem Besitzer des Buches eine Hausdurchsuchung vornehmen ließ, und zwar mit Erfolg. Die Schuld, die hier vorliegt, besteht darin, nichts getan und geschwiegen zu haben. An Kuraevs Unterlassung bestätigt sich die Gültigkeit der Feststellung Ĉernichs: „Man kann in unserem Lande nicht vierzig Jahre leben und rein bleiben.Ŗ37 Der erfolgreiche Unternehmer gehört zwar zu denjenigen, die sich nur ein wenig beschmutzt haben, doch wie problematisch sogar das geringste Maß an Beschmutzung sein kann, vornehmlich wenn es aus der Erinnerung verdrängt wird oder gar nicht voll ins Bewusstsein getreten ist, äußerst sich in der Tatsache, dass es unweigerlich auch das gegenwärtige Handeln beeinflusst. So lässt sich Kuraev erpressen, um nicht seinen guten Ruf zu verlieren. Ĉernich aber kann die jetzt angebotene Stelle ablehnen. Ihm genügen die Entlarvung, zu der er erst durch hochmütiges Verhalten provoziert wurde, und die Bestätigung seines Wissens, dass andere seinerzeit auf ihre Weise keinesfalls viel besser waren als er. Hinter allen stand ein System, das die Menschen bis ins Unterbewusstsein hinein korrumpierte und unfähig machte für die Gestaltung und Bewältigung der Gegenwart. So eignete und bewährte sich in der Wendezeit die Erzählung wie kaum ein anderes künstlerisches Ausdrucksmittel bei der Nutzung der neuen Möglichkeit, offen und ohne Furcht vor den Konsequenzen die Wahrheit zu sagen Ŕ die Wahrheit nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über eine Gegenwart, die ohne Kenntnis der Vergangenheit nicht zu verstehen ist. Bei Oleg Ermakov (geb. 1961), dem bekanntesten der jungen „ZnamjaŖ-Autoren, ist es die Wahrheit über ein Ereignis der jüngeren und daher in die unmittelbare Gegenwart hineinragenden Vergangenheit, den Krieg in Afghanistan, an dem der Verfasser im Rahmen seiner Militärdienstzeit 1981/82 selber teilgenommen hat. Bei seiner Darstellung sieht Ermakov ab von der völkerrechtlichen Problematik sowie dem Leiden des betroffenen Volks, um sich ganz auf die Folgen des Krieges im Bewusstsein seiner Generation zu konzentrieren. Zu diesem Zweck stellt er nicht den Kampf in den Mittelpunkt, weder als Schlacht noch als Scharmützel oder als Überfall aus dem Hinterhalt. Wo es dennoch geschieht, wie etwa in „KreńĉenieŖ (Feuertaufe, 1989)38, liegt die Betonung auf dem Verhalten und auf den Empfindungen eines Soldaten bei seinem ersten Einsatz oder wie in „Zimoj v AfganistaneŖ (Winter in Afghanistan, 1989)39 auf der Stimmung eines Trupps zwischen Erleichterung

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und Langeweile, hervorgerufen durch die witterungsbedingte Unterbrechung der Kämpfe. Charakteristischer aber ist für Ermakov die Perspektive der Heimkehrenden. Erst an ihrer Verfassung kann ermessen werden, welche physischen und vor allem psychischen Auswirkungen der Kriegsdienst gehabt hat. In der Erzählung „Pir na beregu fioletovoj rekiŖ (Gelage am violetten Fluss, 1989) wird die Heimkehr an einer kleinen Gruppe exemplarisch beschrieben. Am Anfang steht die Verzögerung der Entlassung. Sie bedeutet für einige noch den Tod auf dem Streifgang. Das nächtliche Kratzen der Schreibfedern signalisiert darauf den bevorstehenden Aufbruch, der am nächsten Morgen vom Appellplatz des Regiments über eine staubige Straße zwischen alten und neuen Bombentrichtern zum Flugplatz in Kabul führt. Dort müssen die Soldaten in Zweierreihen antreten und werden von den eigenen Offizieren gründlich durchsucht. Ein Koran und ein Rosenkranz sind ebenso abzugeben wie ein Satz pornographischer Karten und eine pakistanische Zeitschrift mit Photos von gefolterten Gefangenen. Nach einer Übernachtung im stacheldrahtumzäunten Durchgangslager folgt eine weitere, weniger strenge Kontrolle beim Zollamt, ehe das wartende Transportflugzeug nach Taschkent bestiegen werden kann. Dies sind die Stationen der Rückkehr ins Leben und in die Freiheit. Doch was für ein Leben und eine Freiheit warten auf die fünf Kameraden? Als sie durch die Straßen von Taschkent gehen, der im Schein der Abendsonne überwältigenden Stadt mit den zahlreichen kühlen Springbrunnen und den sorglos und angstfrei blickenden Menschen, wird gesagt, sie fühlten sich „ungefähr so wie die Rekruten im Kabuler DurchgangslagerŖ.40 Von diesen aber hieß es vorher: „Sie witzelten und lachten krampfhaft und fluchten ausgiebig. Doch wie grob und schamlos sie auch fluchten, wie finster sie auch blickten und wie derb sie auch witzelten, es war klar, dass sie Angst hatten.Ŗ41 Genauso ungewiss wie für die Einberufenen Ŕ das verdeutlicht die Schluss-Szene Ŕ ist die Zukunft für die Entlassenen. Die Gruppe, die in jener Nacht am violetten Fluss sitzt, essend, trinkend, rauchend, erzählend, verkörpert eine verlorene Generation wie die jener Amerikaner, die in den sechziger Jahren aus Vietnam zurückkehrten. Auch sie sind kraftlos, enttäuscht und aller Ideale beraubt. Das neue Leben wird wie das alte nur durch betäubende Mittel vom Alkohol bis zum Haschisch zu ertragen sein. Der lakonische Erzählstil aus knappen, präzisen Sätzen und die additive, auf Höhepunkt und Abschluss verzichtende Komposition entsprechen der dargestellten Verlorenheit und Ziellosigkeit. Ein größerer Abstand zum Sozialistischen Realismus mit seinem positiven Welt- und Menschenbild ist kaum denkbar. Von einem Kriegsopfer ganz anderer Art als die der Opfer, von denen bei Ermakov die Rede ist, erzählt Tatřjana Tolstaja (geb. 1951) in „Spi spokojne, synokŖ (Schlaf ruhig, mein Söhnchen, 1987). Ganz anders ist dementsprechend ihre Verfahrensweise in stilistischer, in sprachlicher und in erzähltechnischer Hinsicht. Während sich Ermakov stark an ausländischen, insbesondere amerikanischen Vorbildern orientierte (Hemingway wird häufig genannt), greift die neben

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Tokareva, Baranskaja, Petruńevskaja und Irina Grekova zu den „fünf herausragenden femmes de lettres der zeitgenössischen russischen LiteraturŖ42 gezählte Schriftstellerin eher auf die heimische Tradition zurück, vor allem auf die Romantiker und unter ihnen in erster Linie auf Nikolaj Gogolř. „Der reinste Akakij Akakieviĉ!Ŗ, sagt Sergej, der Held von Tolstajas Erzählung, vorwurfsvoll, als seine Schwiegermutter Marřja Maksimovna „schon zum fünftenmalŖ die Geschichte von ihrem gestohlenen Persianer zum Besten gibt.43 Nicht nur das Motiv des Mantelraubs ist Gogolř entlehnt, sondern auch die Technik, so zu erzählen, dass der Eindruck lebendigster mündlicher Rede entsteht, und die Figur eines Erzählers, der sich ständig selbst ins Wort fällt, immer wieder Abwege und Umwege geht, dabei aber nie die Hauptsache aus dem Blick verliert. Die Hauptsache, das ist hier nicht das Gogolř-Motiv, obwohl dies anfangs in bewusster Ironie suggeriert wird. Je öfter wir die Raubgeschichte hören, desto mehr offenbart sie sich uns als banale Anekdote, überdies mit der Pointe, dass das entwendete „PrunkstückŖ seinerseits entwendet worden ist. Der verstorbene Mann Marřja Maksimovnas, ein hochrangiger Militärarzt und verdienstvoller Wissenschaftler, hatte es während des Kriegs „in einem deutschen Haus vom Haken genommenŖ: „Es gefiel ihm auf Anhieb, und er fackelte nicht lange.Ŗ44 Die Anekdote ist spielerisch in die eigentliche Geschichte, diejenige von Sergejs so traurigem Lebensschicksal, verwoben, wobei ihre Komik zurückwirkt auf die schmerzliche Enthüllung und Selbstenthüllung einer Waisen- und Heimkindexistenz. Sergej, nach einem Luftangriff von Fremden aus einem brennenden Zug gerettet, hat alles verloren, Eltern, Alter, Vornamen, Vatersnamen und Familiennamen. Die Personalien werden für ihn im Heim erdacht. Aber die Kindheit ließ sich nicht ersetzen. Sie ist „verbrannt und zerbomt auf einer unbekannten Bahnstation.Ŗ45 Nicht zu ersetzen sind auch die Eltern. Mit ihnen, insbesondere mit der Mutter, sieht Sergej unlösbar die Frage nach der eigenen Identität verknüpft. „Wer bin ich? Woher bin ich? Wessen Sohn? Denn eine Mutter muss ich doch gehabt haben, jemand hat mich geboren, geliebt und war mit mir irgendwohin unterwegs.Ŗ46 Da Sergej keine Antworten findet, denkt er sich Mütter und Väter aus. Er wird zum Sohn der Lehrerin oder der Köchin und, als er bereits verheiratet ist, der Schwiegermutter und des Schwiegervaters. Mit dem letzteren kehrt die Hauptgeschichte in die Nebengeschichte zurück, und es wird deutlich, dass sich schon die ganze Zeit über die eine in der anderen spiegelt. Nichts ist getrennt in dieser Erzählung, weder das Vergangene noch das Gegenwärtige, weder das Familiäre noch das Politische, weder das Bewusste noch das Unbewusste. Tolstajas Thema ist der Tagtraum. Wie Sergej, der träumend den Verlust seiner Identität überwindet, flüchten die Helden und die Heldinnen Tolstajas, der inzwischen vielleicht populärsten russischen Gegenwartsschriftstellerin, immer wieder aus der Härte des Alltags und der Tristheit des Lebens in die Geborgenheit der Phantasie. Doch der Tagtraum ist hier nicht bloß eine Flucht, er schafft zugleich auch eine Wirklichkeit, die sich selbst begründet und ihre eigenen Rechte beansprucht. Das gilt uneingeschränkt auch für den Helden von „Somnambule

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v tumaneŖ (Schlafwandler im Nebel, 1988)47 Ŕ einen der zahllosen Überflüssigen der russischen Literatur, der, „in der Mitte seines Erdenlebens angelangtŖ48, von einer tiefgreifenden midlife crisis erfasst ist. Er beginnt ein „EinsiedlerlebenŖ49 zu führen, sitzt stunden- und tagelang sinnierend auf dem Sofa, ein später, in die sowjetische Endzeit versetzter Oblomov, und sucht nach Wegen zu persönlicher Verewigung, um nicht wie seine Tante Rita durch ihren Tod während der Blockade Leningrads in spurlose Vergessenheit zu geraten. Denisov, wie der Held ohne Vor- und Vatersnamen heißt, kann sich seinen Träumereien fortlaufend hingeben, „überhaupt nicht belästigtŖ durch seine Verlobte Lora, eine schöne Frau, die „keine ununterbrochene Aufmerksamkeit verlangt und seine Lebensweise nicht beeinträchtigtŖ, sondern „eigenständig etwas unternimmtŖ und „sich in Theatern, Kellervernissagen und Saunen herumtreibtŖ.50 Grenzenlos und ohne Maß, reichen die Phantasien des Tagträumers von dem Wunsch, er und Lora „sollten immer beieinander bleiben, durch eine Klammer zusammengefasst, unzertrennlich, unzerstörbar, unauflöschlich, verschmolzen wie Chorř und Kalinyĉ, wie Leila und Madschnun, wie Zigaretten und StreichhölzerŖ51, über die Vorstellung, „das Haupt einer nicht allzu großen, aber reinen Bewegung zu sein, sagen wir Ŕ für EhrlichkeitŖ52, bis zu der Lieblingsidee, Australien als überflüssigen Kontinent im Meer untergehen und so von der Weltkarte verschwinden zu lassen.53 Die höchste Unsterblichkeit garantierende Auslöschung Australiens erscheint in der Grenzenlosigkeit von Denisovs Vorstellungskraft nicht nur als idée fixe, sondern auch als erfüllte Realität und wird als solche detailliert beschrieben: „Der Ozean ist leer, auf dem Ozean herrscht Sturm, brüllend wälzen sich schwarze Wassergebirge im Hochzeitskranz kochender Gischt; über riesige Weiten haben die Wasserberge zu laufen Ŕ weder Grenzen noch Schranken kennt das stürmische Schäumen; Denisov hatte Australien abgeschafft, unter Geknirsch herausgerissen wie einen Backenzahn: Mit einem Fuß hatte er sich auf Afrika gestützt Ŕ die Spitze brach ab, daraufhin hatte er sich besser abgestützt, gut so; den anderen Fuß auf die Antarktis, die Felsen pieksten, Schnee im Stiefel, einen möglichst sicheren Stand suchen; er packte den fehlerhaften Erdteil mit kräftigem Griff, rüttelte daran, nach allen Richtungen Ŕ Australien war fest im Meeresschoß verankert, im Tang und Schlamm am Grund glitten die Finger ab, die Korallen zerschrammten ihm die Fingerknöchel. Hau ruck! Und nochmal... hau ruck! Geschafft.Ŗ54 Die durch die Zurücknahme der Erzählerstimme und die Vorherrschaft von erlebter Rede und innerem Monolog geförderte Aufhebung aller Grenzen zwischen Wachen und Träumen, Außen und Innen, Realem und Irrealem, die Tatřjana Tolstaja als Erbschaft der Romantik in die russische Gegenwartsliteratur einführte, impliziert eine doppelte Absage: an die Literatur als Alltagsschilderung und Gesellschaftsanalyse à la Trifonov und an die Literatur der Vergangenheitsbewältigung in Form der großen antistalinistischen Enthüllungsromane von Rybakovs „Deti ArbataŖ bis zu Solņenicyns „V kruge pervomŖ (Der erste Kreis der Hölle)55 und „Rakovyj korpusŖ (Krebsstation), die alle in den sechziger Jahren

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verfasst wurden, aber erst unter den Bedingungen der „PerestrojkaŖ in Russland zur Veröffentlichung gelangten. Die Gewissheit, schreibend etwas zu verändern, ist bei Tolstaja ersetzt durch den Glauben an die Kraft des Wortes und die Macht der Imagination. So gewinnen Ironie, Spiel und Parodie eine zentrale Stellung und einen ästhetischen Eigenwert Ŕ Elemente, die einst romantisches Erzählen begründeten und die, im Sozialistischen Realismus nahezu in Vergessenheit geraten, den Texten eine neue Leichtigkeit und zugleich eine neue Vieldeutigkeit verleihen. XVII. Epilog: Die russische Erzählungskunst im Zeichen der Postmoderne Die für Tatřjana Tolstajas Kunst so prägende Kategorie des Spiels beinhaltet auch ein in der stupenden Belesenheit dieser Autorin wurzelndes diffiziles und weitgefächertes Spiel mit Namen, Texten, Ideen, Zitaten, Andeutungen. „Somnambula v tumaneŖ ist vollster literarischer Verweise, die von Gorřkij und Annenskij über Tolstoj, Dostoevskij, Turgenev, Gonĉarov, Lermontov und Gogolř bis zu Dante und dem Prediger Salomo gehen.1 Dabei geht es nicht um Einzelheiten, wie die Parallelisierung von Denisov und Oblomov als Diwan-Träumer zeigt. Sogar die Gesamtanlage der Erzählung deutet über sich hinaus, indem sie in ihrer Bewegung vom Versuch des Aufstiegs aus dem „NebelŖ, diesem Leitmotiv der Verirrung, zu einem „BergŖ, diesem Sinnbild des Lichts, dem Bauplan und der gedanklichen Konzeption der „Divina commediaŖ entspricht. In dem Scheitern Denisovs, seinem Verfehlen des „ParadisoŖ infolge leerer Aktivität sowie seelischer Trägheit wird dem heutigen Leser bedeutet, dass „Dantes Modell der WelterklärungŖ inzwischen „ausgedientŖ hat.2 In der Konstruktion eines Textes aus einer Vielzahl intertextueller Bezüge äußert sich Tolstajas Nähe zur „PostmoderneŖ3, zu einer literarischen Richtung, die sich in Russland während und vor allem nach der Perestrojka-Zeit zu profilieren begann und ihre bekanntesten Repräsentanten in Evgenij Popov, Viktor Erofeev, Vjaĉeslav Přecuch, Viktor Pelevin und Vladimir Sorokin fand. Doch bereits unter den „SechzigernŖ, insbesondere bei Andrej Bitov in „Puńkinskij domŖ (Das Puńkinhaus, 1964Ŕ1971) und Venedikt Erofeev in „Moskva Ŕ PetuńkiŖ (Die Reise nach Petuńki, 1969), und noch weitaus früher bei Vladimir Nabokov in „DarŖ (Die Gabe, 1937/38) und Michail Bulgakov in „Master i MargaritaŖ (Der Meister und Margarita, 1940) finden sich typisch postmoderne Verfahrensweisen. Alle diese Werke sind gekennzeichnet durch eine „fein verästelte IntertextualitätŖ4, die sich als ein dichtes Geflecht über den Gesamttext legt und ihm eine vielschichtige Struktur verleiht. In „Master i MargaritaŖ hat ein ganzer Text im Text kompositionell wie ideell einen zentralen Stellenwert innerhalb der drei nach dem Prinzip der Simultaneität geordneten Handlungsebenen. Es handelt sich dabei um Kapitel aus einem Roman, den der „MeisterŖ genannte Protagonist verfasst hat. Die nahezu unvermittelt in die Ebene der Gegenwart, das Moskau der dreißiger Jahre, eingefügte Vergangenheitsebene des Romans im Roman führt nach Jerusalem zur Zeit der Kreuzigung Christi und greift am Beispiel der Ge-

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stalt des römischen Prokurators Pontius Pilatus das Thema der Politik und ihrer Mechanismen auf, das aus dem episodenreichen, um das phantastische Auftreten des Teufels und seines Gefolges kreisende hauptstädtische Geschehen, einer Satire auf die Alltagsbürokratie und den Kulturbetrieb in der stalinistischen Ära, ausgeklammert ist. Wenn dann am Ende der Jesusjünger Levij Matvej (Matthäus), aus dem „PilatusŖ-Roman kommend, auf einer Moskauer Dachterrasse erscheint und dem Teufel Voland die dem Willen Gottes entspringende Kunde von der Vereinigung Margaritas und des Meisters überbringt, wird die dritte Ebene dieses modernen Welttheaters, die einer mystischen Phantastik, erreicht, und die faustische Botschaft, dass die Kraft der individualisierenden Liebe ein viel direkterer Weg zum wahren Menschentum ist als die Anstrengungen des argumentierenden Intellekts5, hat sich erfüllt. Im Stil ganz der komisch-grotesken Erzählweise Nikolaj Gogolřs verpflichtet, entwirft Bulgakov in seinem Hauptwerk ein Welt- und Menschenbild, das ohne Goethes „FaustŖ als Prä- und Subtext nicht denkbar ist. Hier wie dort geht es um das ewige Aufeinandertreffen des Guten und des Bösen, und hier wie dort endet die Konfrontation mit dem Sieg des göttlichen Prinzips über das Prinzip des Teuflischen. Noch mannigfaltiger als in „Master i MargaritaŖ sind die Quellen, die Nabokov in „DarŖ, seinem letzten russischsprachigen Roman, verarbeitet hat. Ein „umfassendes, sorgsam austariertes System von Nähe und Ferne zu anderen Autoren, neben den russischen Symbolisten und Akmeisten vor allem zu französischen Schriftstellern wie Baudelaire, Flaubert oder Marcel ProustŖ6, konstituiert einen Text, der, durch „vielfach verschachtelte Text-im-Text-StrukturenŖ7 ausgezeichnet, über den dargestellten zeitlich und räumlich engen Wirklichkeitsausschnitt, die Berliner russische Emigrantenszene, weit hinausführt. Welthaltigkeit erfährt „DarŖ durch die in vielfältigster Form präsente Literatur. Nicht zufällig hat der Verfasser diese als den eigentlichen Helden des Romans bezeichnet.8 Um Literatur geht es nicht nur auf der Ebene des Erzählers, der auf andere Autoren und Werke verweist oder poetologische Überlegungen und kulturhistorische Betrachtungen anstellt, sondern auch in der Figur des Protagonisten, eines jungen Schriftstellers, der gerade seinen ersten Gedichtband publiziert hat, aus dem für den Leser zur Veranschaulichung eine Reihe von Versen zitiert wird, der dann an der Lebensgeschichte des Vaters, eines anerkannten Naturwissenschaftlers und Schmetterlingssammlers9, zu arbeiten beginnt, wozu er reichhaltiges Material in Form von Exkursionsberichten, Erinnerungen, Briefen und Belegen aus wissenschaftlichen Quellen zusammenträgt und der schließlich nach dem Scheitern dieses Projekts eine große Biographie des russischen Kulturkritikers Nikolaj Ĉernyńevskij in Angriff nimmt und auch zum Abschluss bringt. Die umfangreiche, aus echten und imaginierten Teilen der schriftlichen Hinterlassenschaft des Hauptvertreters der „revolutionären DemokratenŖ bestehende Schrift bildet den Inhalt des vierten und längsten Kapitels von Nabokovs Roman. Erweitert um fiktive negative Rezensionen aus dem Kreise der russischen Emigranten, die, diesem größten aller Binnentexte angefügt, vom Autor dazu genutzt werden, stilisti-

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sche und ideologische Kriterien realer Literaturkritik parodistisch bloßzustellen und zugleich eigene historiographische Grundsätze zu formulieren, ist die Ĉernyńevskij-Biographie mehr als nur ein Roman im Roman. Den Leser mit Reflexionen über die Literatur und Gedanken zum Vorgang des Schreibens konfrontierend, hat sie hohen Anteil daran, dass „DarŖ zu einem Musterfall des „MetaromansŖ10 wurde, der in Russland lange nichts Vergleichbares finden sollte. Erst zwischen 1964 und 1971 gelang einem jungen Autor, Andrej Bitov, der von Anfang an nach Erneuerung und Erweiterung der Möglichkeiten zeitgenössischen Erzählens strebte, der Versuch, unter schwierigsten kulturpolitischen Bedingungen nach dem kurzen „TauwetterŖ, ohne die geringste Aussicht auf die Genehmigung zur Publikation, mit „Puńkinskij domŖ ein Werk zu schreiben, das wie Nabokovs „DarŖ, gekennzeichnet durch vielfältige Intertextualität und komplexe Metafiktionalität, allen gängigen Vorstellungen von der Romanform widersprach. Seit dem ersten Erzählungsband „Bolřńoj ńarŖ (Die große Kugel, 1963) war Bitov bemüht, die herkömmlichen Grenzen zwischen den Prosaformen aufzuheben, um so Raum für neue Inhalte und Wirkungen zu schaffen. Sein besonderes Interesse galt dabei der Darstellung des reflektierenden und sich selber beobachtenden Bewusstseins. Gegenstand der Reflexion ist keinesfalls das Ungewöhnliche, sondern das Alltägliche und scheinbar Nebensächliche. Gezeigt wird vor allem der schwache, ja haltlose Mensch im schonungslos offenen Selbstgericht. Der Held der Novelle „Ņiznř v vetrenuju pogoduŖ (Leben im windigen Wetter, 1964) ist ein Schriftsteller, der, aus der Stadt in die sommerliche Datscha umgezogen, vergeblich versucht, seine Arbeit am Schreibtisch aufzunehmen, und stattdessen eine aufregende Entdeckungsreise durch die eigene Innenwelt und die Welt der Menschen um ihn herum unternimmt. Wie hier fehlt bei Bitov auch sonst meist jegliche vordergründige Aktion. Die äußere oder innere Reise fungiert häufig als Handlungsgerüst. Leser und Figuren werden in die Erörterung der Probleme und die Suche nach Lösungen einbezogen. In noch weit stärkerem Maße gilt dies dann für „Puńkinskij domŖ, Bitovs bisheriges chef d’œuvre, das, ehe es 1987 in Russland veröffentlicht werden konnte, zum erstenmal 1978 in den USA erschien und rasch in viele Sprachen übersetzt wurde. Schon der Titel, der sowohl auf den Namen des Puńkinhauses in Petersburg als auch auf den des Instituts für russische Literatur an der Akademie der Wissenschaften anspielt, signalisiert, dass es in dem Roman, so wie in „DarŖ und „Master i MargaritaŖ, besonders um Literatur geht und dass dies, da die akademische Institution auf den staatlich gelenkten Umgang mit der Literatur verweist, nicht anders als bei Nabokov und Bulgakov eine umfassende Auseinandersetzung des Autors mit der eigenen Zeit und ihren geschichtlichen und gegenwärtigen Bedingtheiten impliziert. In der Tat ist die erzählte Lebensgeschichte des dreißigjährigen Doktoranden der Literaturwissenschaft Lev Odoevcev, der am 8. November 1961, zur Zeit der Revolutionsfeierlichkeiten tot im Puńkinhaus aufgefunden wird, eingebettet in eine allgemeine, vor allem aber in eine konkret auf die Stalinzeit abzielende Kultur- und Zivilisationskritik. Die Erzählweise folgt nicht den

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Standards biographischen Schreibens. Spielerisch und parodistisch gestimmt wie der Held von „DarŖ, der Schriftsteller Godunov-Ĉerdyncev, bei seiner Abfassung der Ĉernyńevskij-Biographie, erprobt Bitovs Erzähler diverse Möglichkeiten der Wiedergabe einer Vita. Alle wichtigen Abschnitte in der Entwicklung Lev Odoevcevs werden auf ihre Alternativen hin überprüft, indem ständig, den Leser zunehmend verwirrend, eine andere Version des Geschehens angeboten wird. Hinzu kommen Ŕ den narrativen Fortgang unterbrechende Ŕ „AnhängeŖ und „kursivŖ gesetzte Einschübe, in denen handwerkliche Fragen erörtert oder der Standort des Erzählers und seines Verhältnisses zu den handelnden Figuren kommentiert werden. Die Überwölbung der erzählten Geschichte durch literaturästhetische Exkurse wie durch historische, gesellschaftspolitische und existenzphilosophische Betrachtungen, die zu einer stetigen Präsenz des Erzählers als Sprachrohr des Autors und zur Begründung einer eigenwertigen Metaebene führen, machten Bitovs „Puńkinskij domŖ11 zum komplexesten und anspruchsvollsten, aber auch witzigsten Buch seit Nabokovs „DarŖ und Bulgakovs „Master i MargaritaŖ. Ein „perspektivisches wie intertextuelles VexierspielŖ12 von ähnlich unerschöpflicher Aussage und vergleichbarer Ausstrahlungs- und Wirkungskraft auf eine jüngere, im Zeichen der Postmoderne antretende russische Schriftstellergeneration ist ansonsten nur noch Venedikt Erofeevs „Moskva-PetuńkiŖ. Der um 1969 entstandene, als Samizdat-Abschrift kursierende Kurzroman, ein „Kultbuch des literarischen UntergrundsŖ13, das Mark Alřtńuller als das „bedeutendste literarische Ereignis der siebziger JahreŖ14 und sein deutscher Übersetzer Peter Urban sogar als „eines der größten Bücher der neueren russischen Literatur überhauptŖ15 bezeichnet hat, ist bei aller unterhaltsamen Heiterkeit an der Oberfläche eine weitaus rigorosere Abrechnung mit der Epoche der Stagnation unter Breņnev und ihrer bis auf die Oktoberrevolution zurückreichenden Vorgeschichte als Bitovs „Puńkinskij domŖ. Erofeev benutzt die Figur und die Sicht eines Trinkers, um durch die wütenden Auslassungen eines vom Rausch getrübten Bewusstseins, das die Stilmittel der Satire, Groteske und Parodie motiviert, das Bild einer sozial, kulturell und moralisch verkommenen Staats- und Gesellschaftsordnung zu entwerfen. Der Alkoholismus fungiert als „Ekstasetechnik des sowjetischen Outcasts, der seinen Beobachterstandort bewusst außerhalb der Gemeinschaft einnimmtŖ.16 Diese Erlebnis- und Erzählsituation erfährt noch eine Verstärkung sowie Intensivierung durch die Beschränkung des Handlungsschauplatzes auf das Abteil eines Vorortzugs, mit dem der Held, der den gleichen Namen wie der Autor trägt, von Moskau nach Petuńki fährt, aber die Endstation verschläft und daher im selben Zug wieder zum Kursker Bahnhof in Moskau zurückkehrt, wo er von vier Verfolgern durch die Stadt gejagt und in einem dunklen Hausflur ermordet wird. Über dieses Minimum an äußerem Geschehen und die von Station zu Station protokollierte Darstellung der Zugreise legt sich, angereichert durch burleske Episoden, bizarre Dialoge und skurrile Geschichten, ein zunehmend delierender Diskurs über Gott und die Welt, Höchstes und Niedrigstes, Erhabens-

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tes und Trivialstes und ein eng damit verknüpftes dichtes Netz intertextueller Bezüge, die sich auf weiteste Bereiche der Weltgeschichte und Weltkultur von der Antike bis zur Gegenwart erstrecken.17 Die Reise des Helden Venedikt (Veniĉka) Erofeev ist auch eine Reise des Autors Venedikt Erofeev durch eine Fülle klassischer Texte der russischen und europäischen Literatur. Selbst die ausführlichsten Kommentare18 haben noch längst nicht alle Zitate und Anspielungen erfasst und entschlüsselt. Das gilt auch für die Verweise auf den wichtigsten Bezugstext des Romans: das Neue Testament. Erofeev, dem die Bibel so vertraut war, dass er sie auswendig konnte19, konstituiert das Evangelium bis in Sprache und Symbolik hinein als eine eigene Ebene. Die christlich-religiöse Textschicht, die mit der augenfälligsten Ebene, der Oberflächenschicht des ununterbrochenen Redens über Alkohol und Alkoholismus scharf kontrastiert, ist gleichzeitig mit ihr untrennbar verfugt. Die Suche nach Gott erfolgt bei Veniĉka, der aus der sowjetischen Hauptstadt mit ihrem Zentrum, dem Kreml, dieser irdischen Hölle, flüchtet und in Petuńki das Paradies auf Erden zu finden glaubt, von Anfang an ausschließlich über das Trinken. Nachdem im Bahnhofsrestaurant seine Bitte um Sherry oder Korianderschnaps abschlägig beschieden wurde, entwickelt sich im Zugabteil zusammen mit den Mitreisenden ein hemmungsloses Gelage. Bei Kilometer 43 auf seiner Reise monologisiert Veniĉka, an Gott gewandt: „Nein, wenn ich heute heil nach Petuńki komme, werde ich einen Cocktail kreieren, den man, ohne sich schämen zu müssen, in Anwesenheit des Herrn und der Menschen trinken kann, in Anwesenheit der Menschen und im Namen des Herrn.Ŗ20 Während das gemeinschaftliche Trinken und die dabei geführten erhabenen Gespräche unter dem Aspekt, dass sich der Held auf dem Weg in den Tod befindet, eine Anspielung auf das Letzte Abendmahl, „Jesu Abschied von den SeinenŖ (Joh 13Ŕ17), suggeriert, kann die Ankündigung, aus abseitigen Ingredienzien wie Haarshampoo, Schuppenmittel, Brennspiritus oder Bremsflüssigkeit berauschende Cocktails herzustellen, als Analogie zu der Verwandlung von Wasser in Wein durch Jesus gelesen werden. Auch wenn Erofeev immer wieder zu Mitteln greift, die Merkmale der Parodie und Travestie haben, seine Verschränkung von Christentum und Alkohol folgt nie der Absicht, die Religion herabzusetzen oder gar zu verunglimpfen. Die antireligiöse Lesart des Werkes trifft, so sehr sie die karnevalistische Komponente in der Tradition subversiver Lachkultur à la Rabelais21 betont, nicht die eigentliche Intention des Verfassers. Zu deutlich wird der närrische und lästernde Held mit Christus-Attributen wie der Fähigkeit zu höchster Anteilnahme mit den Menschen ausgestattet, die dieser radikale Kritiker des atheistischen Sowjetstaats nicht nur verkörpert, sondern auch öffentlich verkündet: „Als Gott am Kreuz starb, predigte er uns Mitleid, Zähnefletschen aber hat Er uns nicht gepredigt. Mitleid und Liebe zur Welt sind eins.Ŗ22 Es entspricht ganz solcher Haltung, wenn der Lebensweg Veniĉkas, je mehr er sich dem Ende zuneigt, umso offensichtlicher mit der Passionsgeschichte aus dem Evangelien-Geschehen übereinstimmt. Eine von Erofeev konsequent verwendete Zahlen- und Kreuzessymbolik lenkt das Augen-

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merk des Lesers von vorneherein und in immer dichterer Folge auf diese Übereinstimmung der Schicksale. Von den vierzig Stufen in einem fremden Treppenhaus, die Veniĉka im Eingangskapitel bei Tagesanbruch hinabsteigt, nachdem er am Abend davor alkoholisiert auf der vierzigsten Stufe eingeschlafen war, bis zu den vier Unbekannten, die sich ihm am Ende von vier Seiten her nähern, ihn umzingeln, auf ihn einschlagen und ihm schließlich einen Pfriem in den Hals stoßen, stecken die mit der Gestalt Jesu verbundenen sakral konnotierten Zahlen23, Eckpfeilern gleich, Verlauf und Richtung der Handlung ab. Zusammen mit zahlreichen mehr oder weniger offenen Anklängen an Vorgänge, Szenen, Dialoge und Reden im Neuen Testament lässt die Symbolik der Zahlen bei aller Karnevalisierung des Kontextes („Mal trinke ich eine Woche nichts, dann vierzig Tage hintereinander, dann bin ich wieder vier Tage nüchternŖ)24 keinen Zweifel daran, dass der Gesamttext seinen Protagonisten intertextuell auf das Modell des erniedrigten und gekreuzigten Christus ausrichtet.25 Es ist nicht nur die „hochgradige IntertextualitätŖ26, verwirklicht in Bibelreminiszenzen, Klassikerzitaten oder Dekonstruktionen sowjetischer Sprachklischees aus Polit-, Partei- und Propagandarede, die Erofeevs „MoskvaŔPetuńkiŖ zu einem „Meisterwerk der russischen Postmoderne ante remŖ27 machen. Es ist auch die neue Freiheit, unbekümmert um Zensur und Selbstzensur, bestehende Grenzen zu überschreiten und bisher gültige Tabus zu brechen, was ansatzweise erst zehn Jahre später die Herausgeber und Mitarbeiter des Almanachs „MetropolřŖ wagten. Erich Poyntner scheut daher nicht den Vergleich, dass „MoskvaŔPetuńkiŖ für Sorokin, Pelevin, Viktor Erofeev und andere die gleiche Bedeutung haben könnte wie Gogolřs „ŃinelřŖ für die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts: „Die Literatur der 80-er und 90-er Jahre ist auf der Reise von Moskau nach Petuńki entstanden.Ŗ28 Erofeevs Grenzüberschreitungen und Enttabuisierungen, konkretisiert in der Figur des gesellschaftlich geächteten trinkenden, halluzinierenden und träumenden Erzählers, initiierten die für die russische Postmoderne charakteristische Aufhebung der Regeln von Scham und Angst, die bis zum Wegfall der staatlichen Kontrolle von 1986 an die offizielle wie die inoffizielle Kultur in der Sowjetunion bestimmten. Christine Engel hat den „Abbau von Angst- und Schamgrenzen zur Zeit der PerestrojkaŖ29 am Beispiel Evgenij Popovs (geb. 1946) beschrieben, der aufgrund seiner Beteiligung an der nichtgenehmigten „MetropolřŖ-Publikation aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Der Verstoß gegen die Scham besteht bei ihm darin, dass er sich als „SechzigerŖ kritisch gegen das idealisierende Selbstbild seiner eigenen Gruppe, der ehemaligen Tauwettergeneration, wandte. In Erzählungen wie „Vo vremena moej molodostiŖ (Zu meiner Jugendzeit)30, „Billi BonsŖ oder „Duńa patriotaŖ (Das Herz des Patrioten), die zwischen 1980 und 1982 ohne die Chance auf Veröffentlichung entstanden und im Jahre 1989 an verschiedensten Stellen erschienen, wird die inteligencija als eine gesellschaftliche Schicht beschrieben, die nach dem Scheitern aller Hoffnungen auf die Veränderung des Systems zu den alten Denk- und Be-

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wusstseinsstrukturen zurückkehrten, öffentliche Anerkennung und persönliches Wohlergehen über ihre Überzeugungen setzten und damit jegliche Würde verloren. In „Vo vremeni moej molodostiŖ schildert der Erzähler in der Rolle des durak-intelligent31, der, wieder ganz Teil des Sowjetsystems, aufgehört hat, nach Wahrheit und Selbsterkenntnis zu streben, in der Form von Kurzbiographien fast zwanzig Lebensläufe von Personen, die ihre Ideale verrieten, indem sie von der inoffiziellen Kultur in die offizielle wechselten und als Soldat in Afghanistan, als KGB-Mitarbeiter oder patriotische Themen gestaltender Künstler ihre Karriere machten, das heißt den gesellschaftlich vorgezeichneten Weg gingen. Selbst aus den Arbeitslagern zurückkehrende politische Gefangene werden, bereits unterwegs ins Neuland oder zu Großbaustellen in Sibirien, als Garanten für mangelnde Systemkritik und die Überzeugung von der prinzipiellen Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre vorgeführt. „Mein Genosse und ich, zum BeispielŖ, sagt einer von ihnen, „wir haben zusammengenommen 49 Jahre gesessen und uns dennoch den Glauben bewahrt.Ŗ32 Da Popovs Erzähler, hier als durakintelligent, als Intelligenzler, in Erzählungen wie „Kak vse isĉezlo naĉistoŖ (Wie alles endgültig verschwand, 1981) oder „Tolstaja ńkuraŖ (Ein dickes Fell, 1989) als bič, als eine Art sibirischer Hochstapler, „die verlogenen Regeln des Sowjetsystems am radikalsten verinnerlicht hatŖ33 und keine kommentierende oder wertende Instanz darstellt, übernehmen die Montage sprachlicher Automatismen aus politischen Losungen, Agitations- und Propagandaschriften und Wendungen aus bekannten Liedern und Filmen die Funktion der Aufklärung. „Wir fahren ins Neuland. Hurra! Hurra! Ach, wie lang des Weges Strecke bis zum Neuland in der Steppe... Rekordernten werden wir einfahrenŖ, sagt einer der Rückkehrer aus Kolyma, und ein anderer: „Wir fahren in die Stadt K., die am gewaltigen sibirischen Fluss Je. liegt, der ins Nordpolarmeer mündet! Hurra! Hurra! Wir werden den Fluss durch einen riesigen Damm absperren, das verschafft dem Land billigen Strom und bringt Licht in all seine entlegenen Winkel.Ŗ34 Popovs Angriff auf die Angehörigen der Intelligenz, die zwischen Tauwetter und Perestrojka den Anspruch erhoben hatte, das „Gewissen des russischen VolkesŖ zu sein, sich als „Vertreterin des Wahren und SchönenŖ und als „Hüterin der Normen des richtigen Denkens und SprechensŖ empfand35, in Wirklichkeit nur den persönlichen Nutzen suchte und so das System stützte, leitete eine heftige, äußerst kontrovers geführte öffentliche Debatte anfangs der neunziger Jahre ein. Erfolgte dieser Tabubruch, bei dem es um die Frage von Moral, Anstand und Würde ging, auf einer eher geistig-abstrakten Ebene, verlagerte sich eine andere, die Angst- und Schamgrenzen noch weiter hinausschiebende Enttabuisierung ins Physiologische. Seit der illegalen Verbreitung von Erofeevs „MoskvaŔ PetuńkiŖ, wo der Held dem bis dahin in der Regel verschwiegenen Laster des exzessiven Alkohol-Konsums verfallen ist, entwickelte sich bei Autoren im Umkreis von Popov und ab und zu auch bei Popov selber ein regelrechter „KörperdiskursŖ36. Bei Ljudmila Petruńevskaja (geb. 1938) ist dieser Diskurs besonders evident. Aufs engste verknüpft mit der anti-ideologischen Grundhaltung der Au-

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torin, ereignet er sich im Rahmen einer dargestellten Alltäglichkeit, die in ihrer Ausschließlichkeit nur noch bei Jurij Trifonov eine gewisse Vorläuferschaft aufweist. Petruńevskajas Erzählungen sind ausnahmslos Alltagsgeschichten, und der in ihnen erzählte Alltag ist geprägt von körperlichen Vorgängen, handle es sich um ganz normale, regelmäßig wiederkehrende oder um seltenere, beispielsweise krankhafter oder ungewöhnlicher Art. Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass die Hauptfiguren in der Kurzprosa Ljudmila Petruńevskajas überwiegend Frauen sind.37 Das erklärt, weshalb viele Texte um die „biologischen Urgründe des LebensŖ38 kreisen: um Geburt und Tod, Schwangerschaft und Mutterschaft, Sexualität und Abtreibung. Aus der Dominanz des Weiblichen in Handlung und Perspektive ergibt sich auch die Konzentration der Darstellung eines Alltags, der weniger beruflicher als privater, ja intimer Natur ist. Die Protagonistinnen, das sind zum einen naive, sinnliche junge Frauen, unstetig und leicht verführbar, gefangen in Träumereien und in Lebenslügen, auf der Jagd nach kurzfristigem Glück oder auf ausdauernder, jedoch vergeblicher Suche nach Geborgenheit in der Familie, zum anderen verheiratete Frauen, hin- und hergerissen in ihren zwischen Liebe und Hass schwankenden Gefühlen für den Ehemann, oft betrogen und gedemütigt, nicht selten verlassen, aufgerieben in der täglichen Sorge um Kinder und Haushalt, zusammengepfercht in der räumlichen Enge der Kommunalwohnung. Das Familienleben, das Petruńevskaja vorstellt, ist Halt und Hölle zugleich. Ins Extreme gesteigert, mehr Hölle als Halt, erscheint es in den „Aufzeichnungen auf der TischkanteŖ, wie der Untertitel zu der längeren Erzählung „Vremja noĉřŖ (Meine Zeit ist die Nacht, 1990) lautet, und wird dort von der Ich-Erzählerin Anna Andrianovna, die sich „PoetinŖ nennt, detailliert, in schonungsloser Offenheit protokolliert. Dafür steht der Protokollantin bloß die Tiefe der Nacht zur Verfügung. Am Tage ist die Frau, die schon früh von ihrem Mann alleingelassen wurde, vollauf beschäftigt, Mittel und Wege zu finden, um durch Gelegenheitsjobs wie Arbeiten für Zeitschriften und Lesungen in Pionierlagern oder durch „BesorgenŖ, „OrganisierenŖ, „ErtauschenŖ oder sogar „ErbettelnŖ ihre Familie zu unterhalten: die greise Mutter, geplagt von schizophrenen Wahnvorstellungen, die Tochter, die ständig uneheliche Kinder zur Welt bringt, den geliebten, nahezu vergötterten Enkel Tima und den Sohn, einen Trinker und Kleinkriminellen, der nach wiederholten Gefängnis- und Lageraufenthalten immer wieder heimkehrt, begleitet oder besucht von fragwürdigen Freunden Ŕ und das alles ereignet sich in einem „Zimmer von 18 Quadratmetern für vierŖ39. In dieser räumlichen und geistigen Enge einer infernalischen Welt steht jeder im Kampf gegen jeden. Man streitet um Geld, um Wohnrecht, um einen Platz für sich, um ein paar Kartoffeln, um den letzten Rest im Topf. Allein die Protagonistin, die nur schreibend in der Mitteilungsflut ihres kaskadenhaften Redeschwalls ein wenig Erleichterung zu finden und die nötige Durchhaltekraft zu gewinnen scheint, verteidigt jeden gegenüber den anderen, bevor sie schließlich auch noch sich selber gegen alle verteidigt. Dabei ist sie in der Wortwahl keineswegs zim-

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perlich. Als ihre Tochter, diese „ScheißmutterŖ, „dickbusigŖ und „breitschultrigŖ, ihr mit lauter böser Stimme vorwirft, nicht genug Geld für die Ernährung des Kindes, das im Kinderwagen „wie am SpießŖ schreit, zur Verfügung zu stellen („Du guckst dir noch nicht mal deine Enkeltochter an, für sie ist das Geld!Ŗ), reagiert sie gelassen, aber bestimmt: „Ich komme ruhig und lächelnd auf den Kern der Sache, dass doch der ihr das Geld geben soll, dieser Schwanz, der sie gestopft hat und danach abgehauen ist, das ist schon das zweite Mal, dass es mir dir keiner aushält.Ŗ40 Die der Umgangssprache in der Redeweise der Figuren wie der Erzählerin immer wieder als Steigerung ins Negative eingefügten vulgärsprachlichen Wendungen sind hier nicht Ausdruck „brutalisierter MenschenverachtungŖ, sondern ganz im Gegenteil einer „beständig überforderten, auf äußerste angespannten MenschenliebeŖ.41 Im Bewusstsein immer vorhanden, gelangt diese nur selten zu sprachlicher Vergegenwärtigung, sei es in der Formulierung eines raschen und heimlichen Gedankens, wie „meine herrliche TochterŖ42 oder im Dialog mit dem Sohn Andrej, der zu seiner Mutter sagt „Sei still, du alte Sau!Ŗ, was die so Titulierte zu den Worten bewegt: „Ich flehe dich an. Beruhig dich, mein Kind! Meine Sonne ist wieder da! Die Sonne all meines Lebens!Ŗ43 Solch vielstimmiges Sprechen mit dem ständigen Wechsel der Tonarten prägt nicht allein „Vremja noĉřŖ, sondern auch „Svoj krugŖ (Mein Kreis, 1979), den anderen berühmten großen Erzählmonolog der Autorin, sowie ihre zahlreichen ErErzählungen kurzer und kürzester Art. Stets geht es Ljudmila Petruńevskaja, die ein artistisches Spiel mit den Möglichkeiten mündlicher Kommunikation treibt, um das Erleben und Erfahren von Welt durch die gesprochene Sprache.44 Realität wird erschlossen aus Gespräch, Gerede, Meinung, Gerücht, Klatsch... Was sich so innerfiktional ereignet, hat seine Entsprechung im schriftstellerischen Prozess. „Ich höre gerne zuŖ, schildert Petruńevskaja, zu ihrer Arbeitsweise befragt, „wenn sich zwei Leute auf dem Hof oder in der Metro über eine dritte Person unterhalten: ,Haben Sie gehört, was neulich wieder passiert ist?Ř Da berste ich schier vor Neugier. Doch wenn der Vorfall, der ,neulich wieder passiert istŘ, zur Stadtfolklore werden soll, dann muss die Geschichte mehrmals weitererzählt werden, von einem Mund zum anderen. Das Genre setzt voraus, dass das Ereignis kurz und bündig dargestellt wird, es duldet keine Verzierungen und überflüssigen Beschreibungen.Ŗ Ihre eigentliche „QuelleŖ aber, fährt Petruńevskaja fort, noch weiteren Einblick in ihre literarische Werkstatt bietend, sei eine „Vorform der FolkloreŖ: „nämlich das Genre des Klatschs. Eine Person erzählt einer zweiten etwas Ungewöhnliches über eine dritte. Die Intonation ist verworren, rhythmisch, rechtfertigend. Häufig wird eine Wortverbindung wiederholt. Oft wird die Person, über die erzählt wird, eines Vergehens beschuldigt. Die Stimme der Anklage ist lauter als die Stimme der Verteidigung, und die Stimme des Mitgefühls ist immer versteckt. Deshalb beschuldigen mich die Leute oft, ich sei ebenso gleichgültig oder böse und ungerecht wie meine Erzähler.Ŗ45 Von dieser Art ist schon einer der frühen Texte Petruńevskajas, die Erzählung „Takaja devoĉkaŖ (Ein tolles Mädchen), die 1988 in der Zeitschrift „OgonekŖ

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erschien, nachdem sie 1968 vergeblich der Redaktion von „Novyj mirŖ angeboten worden war, immerhin aber das Interesse des Herausgebers Aleksandr Tvardovskijs geweckt hatte. Auch hier gibt es „keine Stimme, die den Helden direkt verteidigtŖ.46 Es bleibt dem Leser überlassen, wenn er will, ihn in Schutz zu nehmen. So lässt Petruńevskaja Ŕ in einem monologischen Wortschwall wie in „Vremja noĉřŖ Ŕ ein weibliches Ich, eine junge Mutter und Ehefrau aus dem Milieu der niederen Intelligenz, die Geschichte ihrer Freundschaft zu der Nachbarin Raisa erzählen, einer sanften und hilfsbereiten, jedoch labilen und verletzlichen, im Grunde lebensunfähigen Frau. Bereits eingangs, zu Beginn des Berichts, ist die Freundschaft beendet: „Für mich ist sie jetzt gestorben.Ŗ47 Doch erst am Schluss, in den allerletzten Sätzen, erfahren wir den Grund. Von Petrov, ihrem Mann, immer wieder hintergangen und dann sogar verlassen, bittet die Erzählerin eines Tages, als sie kein Mittel findet, den vermeintlich endgültig Verschwundenen zurückzuholen, verzweifelt unter Tränen ihre Freundin um Unterstützung. Bald darauf kehrt Petrov nach Hause zurück, ohne indes auf seine regelmäßigen Affären zu verzichten. „Das war jedoch immer noch besserŖ, bemerkt die Erzählerin, „als wenn er ganz weggeblieben wäre.Ŗ48 Kaum hat sie aber erfahren, dass Raisa, um ihr zu helfen, mit Petrov die Nacht verbracht hat, fühlt sie sich „verratenŖ und kündigt augenblicklich, mitleidslos und nicht ohne Selbstgerechtigkeit, die lange Freundschaft auf: „Und sie hörte auf für mich zu existieren, so als wäre sie gestorben.Ŗ49 Die Härte dieser Entscheidung wird erst vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte Raisas völlig verständlich, die der Leser aus den Schilderungen ihres Mannes erfährt. Bereits mit fünf Jahren von einem invaliden Vater zur Kinderarbeit gezwungen, nach dem frühen Tod der Mutter, missbraucht, flüchtet Raisa, noch längst nicht volljährig, aus dem bedrückenden Elternhaus, treibt sich in der Welt herum, gerät in schlechte Gesellschaft, wird verhaftet und ins Arbeitslager gesteckt. Danach, erneut „von Hand zu HandŖ gereicht, holt Sevka sie aus „irgendeinem LochŖ, um sie ohne Zögern zu heiraten.50 Doch innerlich bereits gebrochen, physisch entkräftet, täglich von Weinkrämpfen geschüttelt, ohne jeglichen Selbsterhaltungsinstinkt, vegetiert sie mehr, als dass sie wirklich existiert. Willenlos gibt sie sich in Abwesenheit ihres Mannes jedem hin, der dies wünscht. Dabei verhalte sie sich so Ŕ weiß die Erzählerin von Bekannten Ŕ, „als sei es ihr nicht nur gleichgültig, sondern sogar zuwiderŖ.51 Petruńevskajas Werk ist voll Nachzeichnungen solch trauriger, hoffnungsloser, nicht selten in Wahnsinn, Tod oder Selbstmord endender Schicksale. Es sind keineswegs nur Frauen, die sie erleiden. In „GrippŖ (Die Grippe, 1969) stürzt sich der Held, erkrankt, vereinsamt, zermürbt von anhaltendem Ehezwist, in dem Augenblick aus dem Fenster im siebten Stockwerk eines Hauses, als seine Frau dabei ist, ihre Sachen zusammenzupacken und aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Nicht der Vorfall ist wie stets bei Petruńevskaja das Besondere, sondern die Art und Weise, wie er erzählerisch präsentiert wird: mehr oder weniger indirekt, in der Form des Redens, Nachdenkens, Spekulierens anderer Ŕ der Freun-

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de, Nachbarn, Kollegen Ŕ über Gründe der Tat. Wie in „Takaja devoĉkaŖ wird erst ganz am Ende deutlich, was sich vorher zugetragen hat. Und nicht anders als in dem Ich-Monolog über eine aufgekündigte Freundschaft vollzieht sich auch hier, in einer Krankheits- und Selbstmordgeschichte vom Standort eines in der dritten Person sprechenden Erzählers, die Rekonstruktion des Geschehens in der atemlosen Syntax eines alltagssprachlichen, sich kreisend fortbewegenden vielstimmigen und vielschichtigen Redestroms. In beiden Fällen geht es wie fast immer bei Ljudmila Petruńevskaja, der Virtuosin des Erzählens in der russischen Gegenwartsliteratur, um ein untrennbar verbundenes Doppeltes: die Geschichte eines Ereignisses und die Geschichte, wie das Ŕ meist unerhörte Ŕ Ereignis mit den Mitteln der städtischen Folklore kolportiert wird. Ein Musterfall dieses grundlegenden Verfahrens Petruńevskajas ist „MedejaŖ (Medea)52, ein Prosastück von höchster erzählerischer Brillanz, 1990 erstmals publiziert, noch im selben Jahr wie „GrippŖ in die Sammlung „RekviemyŖ (Requiems) aufgenommen. Die im Eingangssatz angekündigte „GeschichteŖ, von der es heißt, es sei so „schrecklichŖ sie zu erzählen, bildet sich erst ganz allmählich, vermittelt über eine Reihe anderer schrecklicher Geschichten, im Rahmen einer Unterhaltung heraus, die in einem Taxi zwischen dem Fahrer und dem Fahrgast, der Ich-Erzählerin, stattfindet. Nach einem relativ harmlosen Gesprächsbeginn, der Erwähnung eines Alltagsärgernisses, das Nichterscheinen eines bestellten Taxis, worüber sich die Großmutter der Erzählerin furchtbar aufgeregt habe, leitet die Bemerkung des Fahrers, das sei „nicht das SchlimmsteŖ, eine Wende in Ablauf und Inhalt des Gesprächs ein: Das Gespräch gewinnt zunehmend an Ernsthaftigkeit, gedanklicher Tiefe, existentieller Dimensionalität und auf erzähltechnischer Seite zugleich auch an Spannung. Erste Einwürfe deuten an, dass der Fahrer des Taxis weit Schlimmeres erfahren hat, und im Fortgang der Unterredung wird immer deutlicher, dass ihm eine schwere, ja unerträgliche Last auf der Seele liegt, die er wie im Beichtstuhl zur Minderung seiner inneren Not zur Sprache bringen möchte. Doch die gesprächige Mitfahrerin lässt ihn kaum zu Wort kommen. Provoziert durch seine Behauptung, das, was sie für ein „UnglückŖ halte, sei „nichts im Vergleich zu dem, was sonst noch alles passieren könneŖ53, versucht sie, durchaus der gleichen Meinung, erzählend selber Beispiele für schwerstes menschliches Leid zu geben: nicht in Form persönlicher Erlebnisse, sondern Ŕ wie üblich bei Petruńevskaja Ŕ in Gestalt gehörter Geschichten, die Bekannte oder Bekannte von Bekannten erlebt und weitergegeben haben, so etwa die von der Mutter, deren einjähriger Sohn auf der Bahnreise nach Sibirien an einer Lungenentzündung erkrankt und, da es weit und breit kein Hospital gibt, noch im Zug stirbt, oder die von einem zwölfjährigen Jungen, der seine Freunde anruft: „Kommt, ich häng mich auf Ŕ aber keiner kam. So hing er dann. Die Mutter kam später. Sie konnte nicht weinen. Der Vater auch nicht.Ŗ54 Wie hier geht es auch in der Hauptgeschichte um Tod und um Schuld. Mehrere Male wiederholt der Taxifahrer den Satz „Ich bin schuldigŖ. Dieser Satz steht für sich; er bleibt zunächst ohne erklärenden Zusatz. Auch die später

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erfolgende Äußerung „Meine Tochter ist gestorben, mit vierzehn JahrenŖ55 bringt noch keine Aufklärung. Bedingt durch die fortwährenden Einlassungen der Mitfahrerin dauert es noch einige Zeit, bis diese, inzwischen längst am Fahrziel angekommen und nun neugierig geworden im Auto sitzenbleibend, ebenso wie der kaum weniger gespannte Leser endlich den gesamten Vorfall erfährt: Die Frau des Taxifahrers hat im Wahn die gemeinsame Tochter umgebracht. Dass die Verantwortung für die Tat nicht allein bei der Täterin liegt, lässt sich sowohl aus dem mehrfach zum Ausdruck gebrachten Schuldbewusstsein des Ehemanns als auch aus einzelnen seiner direkteren Hinweise wie die Bemerkung „Ich habe mich im letzten Jahr von ihr zurückgezogen. Geliebt habe ich sie überhaupt nicht mehr, nur noch meine TochterŖ56 erschließen. So hat er es versäumt, sich von seiner Frau distanzierend, dieser beizustehen, als sie nach dem Verlust ihrer Arbeitsstelle in wachsende Depression verfiel. Wie komplex die Schuldfrage im gegebenen Fall ist, das verdeutlicht der bereits im Titel der Erzählung angezeigte Bezug zu dem antiken Medea-Mythos. Hier wie dort tötet eine Mutter ihr Kind, und beidemal sind Liebesverrat, Inzest und Wahnsinn oder Rache mögliche, wenn nicht wahrscheinliche Gründe der Tat.57 Der Tod ist in Petruńevskajas Werk vielgestaltig und allgegenwärtig. Er begegnet als Mord und als Totschlag, als Selbstmord und als Selbstmordversuch, als Ergebnis von Alter und von Krankheit. Als solcher setzt er den Endpunkt in der Darstellung jener körperlichen Prozesse, die, im Sozialistischen Realismus unerwünscht, wenn nicht sogar tabuisiert, im kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts zugunsten des Vorrangs seelischer Vorgänge zurückgesellt, jetzt bei Petruńevskaja, aber auch bei anderen Autoren der Zeit, ein so noch nie dagewesenes Gewicht gewinnen. Dazu gehört zum Beispiel die Schilderung einfachster physiologischer Vorgänge wie Essen und Trinken und Verdauung und Ausscheidung. In der Erzählung „GigienaŖ (Hygiene, 1993) wird auf das Genaueste beschrieben, was in dieser Hinsicht bei einem kleinen Mädchen passiert, das von seinem Vater, um es vor der Ansteckung während einer Epidemie zu schützen, in das zur Quarantänestation verwandelte Kinderzimmer eingesperrt wird: „Nikolaj schlug ein fensterähnliches Loch in die Tür und befahl dem Mädchen, für das erste eine Flasche mit Suppe und Brotkrümeln, alles vermischt, am Strick entgegenzunehmen. Das Mädchen sollte in die Flasche pinkeln und diese dann durchs Fenster ausschütten. Doch am Fenster war der obere Riegel verschlossen, das Mädchen kam nicht heran, und auch die Idee mit der Flasche war zu wenig durchdacht. Das Problem der Exkremente musste einfacher gelöst werden. Man sagte dem Mädchen, es solle ein oder zwei Seiten aus einem Buch reißen, sich darauf entleeren und alles aus dem Fenster werfen. Nikolaj baute aus Draht ein Katapult und schoss mit drei Schüssen ein ziemlich großes Loch in das Fenster. Das Mädchen offenbarte aber die Früchte seiner Erziehung und entleerte den Darm unordentlich Ŕ nicht aufs Papier...Ŗ58 Ljudmila Petruńevskaja will mit derartigen Bildern keineswegs provozieren oder sogar schockieren. Körperlichkeit, in welcher Form auch immer, ist bei ihr

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ein natürlicher Teil des menschlichen Lebens und wird deshalb nicht verschwiegen, aber auch nicht eigens herausgestellt, vielmehr wie selbstverständlich dargestellt. Das unterscheidet sie von einigen Schriftstellern aus dem engeren Bereich der russischen Postmoderne. Bei Autoren wie Viktor Erofeev, Vladimir Sorokin oder Jurij Mamleev, die im Anschluss an die historische Avantgarde auf Provokation und auf Schockierung als zentrales ästhetisches Prinzip setzten, erscheint der Körperdiskurs vorzugsweise als ein „GewaltdiskursŖ59. Erofeev (geb. 1947), der sich in seinen Beiträgen zum „MetropolřŖ-Almanach noch auf gemäßigte Tabuverletzungen beschränkt hatte, schien nach dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband literarisch keine Grenzen mehr zu kennen. Seinen Erzählungsband „Telo Anny, ili konec russkogo avangardaŖ (Annas Körper oder das Ende der russischen Avantgarde) aus dem Jahr 1989 kennzeichnet eine auch im Rahmen von glasnost’ unerhörte Freiheit, vornehmlich in Bezug auf die Darstellung von Gewalt und Sexualität. In „Ņiznř s idiotomŖ (Leben mit einem Idioten)60, einem der Texte dieses Bandes, wird einer Familie das Leben zur Hölle gemacht. Ein Schriftsteller und seine Frau, gezwungen einen „IdiotenŖ bei sich aufzunehmen, werden von dem einquartierten Gast, der sich als eine „monströse Verselbständigung der Körperfunktionen: Essen, Notdurft, SexualitätŖ61 erweist, nach anfangs relativ normalem Miteinander zunehmend vereinnahmt und von ihrem intellektuellen Niveau auf dessen animalische Ebene heruntergezogen. Nachdem die Gastgeberin von Vova, wie der Idiot heißt, vergewaltigt worden ist, beginnt dieser sich auch ihrem Mann in unmissverständlicher Intention zu nähern. Eine sadomasochistische menage à trois bildet sich, an der das Ehepaar immer mehr Gefallen findet. In einer Eifersuchtsszene schließlich erfolgt der Umschlag. Vova enthauptet die Frau mit einer Heckenschere, was der dem Idioten hörige, in Infantilität und Irrsinn versinkende Schriftsteller, der gleichzeitig der Erzähler der grotesk-absurden Geschichte ist, in lustvoller Erregung beobachtet. Ist Gewalt hier entschieden sexuell konnotiert, erscheint sie in „PopugajĉikŖ (Der kleine Papagei), einem anderen Text aus dem Erzählungsband „Telo AnnyŖ, in der Form von Tortur und Folter. „Wir haben ihm auch einen von Ameisen wimmelnden Knebel in den Mund gesteckt, die Nasenlöcher aufgeschnitten und die Fingernägel mit Pinzetten herausgerissenŖ, so liest ein nach dem Verbleib seines Sohnes forschender Vater in einem offiziellen Antwortbrief, „Wir haben Nutten herbeigerufen und ihn gebeten, ihre schlimmen Geschwüre abzulecken, vielleicht heilen sie ja...Ŗ62 Ganz offensichtlich bereitet es dem Briefschreiber, einem höheren Staatsbeamten, noch im Nachhinein den größten Genuss, die Folterungen, die mit der skurrilen Anklage begründet werden, der Sohn habe seinen toten Papagei wiederbeleben wollen, bis in das kleinste Detail zu schildern. Die Brutalität und Vulgarität dieser Schilderungen führen den Leser bis an den Rand des Erträglichen. Das Gleiche gilt für die Schlussszene von „Ņiznř s idiotomŖ, in der Vova den Leib der Enthaupteten auseinanderzureißen versucht, sich daraufhin an der Leiche sexuell vergeht und diese schließlich wie eine „große importierte PuppeŖ ins Treppenhaus schleppt, um sie dort in den Müllschlucker zu werfen.63 Den-

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noch findet sich im zeitgenössischen Kontext russischen Erzählens noch eine weitere Steigerung. Keiner hat die Grenzen des Zumutbaren so weit hinausgeschoben wie Vladimir Sorokin (geb. 1955). In seiner Erzählung „Zasedanie zavkomaŖ (Die Sitzung der Betriebsgewerkschaftsleitung, 1992), die Viktor Erofeev 1998 in seine Anthologie „Russkie cvety zlaŖ (Die russischen Blumen des Bösen) aufgenommen hat, verlieren die Mitglieder eines Komitees, vor dem sich ein junger, trunksüchtiger Fabrikarbeiter wegen seiner Disziplinlosigkeit zu verantworten hat, nach dem irritierenden Auftritt eines Milizionärs, mit dem die Handlung ins Absurde umschlägt, zuerst die Fähigkeit zu zusammenhängender Rede und verwandeln sich danach in aggressive, blutrünstige Bestien. Die Putzfrau, die der Milizionär zu Boden geworfen hat, wird aufgehoben, auf den roten Tisch gelegt, entkleidet und mit Stahlrohren voll von lebenden Würmern und von halbverwestem Fleisch durchbohrt. „Piskunov hielt das erste Rohr mit beiden Händen fest. Ĉernogaev begann mit einem Vorschlaghammer auf den oberen Rand zu schlagen. Das Rohr drang durch den Körper der Putzfrau bis in den Tisch. Piskunov nahm das zweite Rohr und stellte es an den Rücken der Putzfrau. Ĉernogaev schlug mit dem Vorschlaghammer auf den oberen Rand des Rohrs. Das Rohr drang durch den Körper der Putzfrau bis in den Tisch. Piskunov nahm das dritte Rohr und stellte es an den Rücken der Putzfrau. Ĉernogaev schlug mit dem Vorschlaghammer auf den oberen Rand des Rohrs. Das Rohr drang durch den Körper der Putzfrau bis in den Tisch. Piskunov nahm das vierte Rohr und stellte es an den Rücken der Putzfrau. Ĉernogaev schlug mit dem Vorschlaghammer auf den oberen Rand des Rohrs. Das Rohr drang durch den Körper der Putzfrau bis in den Tisch. Piskunov nahm das fünfte Rohr und stellte es an den Rücken der Putzfrau. Ĉernogaev schlug mit dem Vorschlaghammer auf den oberen Rand des Rohrs. Das Rohr drang durch den Körper der Putzfrau bis in den Tisch.Ŗ64 Anschließend wird Rohr um Rohr, vom ersten bis zum fünften, wieder aus dem toten Leib der Frau herausgezogen, wobei der Erzähler wie beim Einschlagen der Rohre, abgesehen von einer leichten Variation zu Beginn, immer die gleichen Worte benutzt: „ ,Herausziehen! Herausziehen!Ř schrie Simakova und griff mit beiden Händen nach dem aus dem Rücken der Putzfrau ragenden Rohr. Staruchin begann Simakova zu helfen und zu zweit zogen sie das Rohr heraus. ,Herausziehen! Herausziehen!Ř brüllte der Milizionär. Staruchin und Simakova zogen das zweite Rohr heraus und warfen es auf den Boden. Urgan und Zvjaginceva zogen das dritte Rohr heraus und warfen es auf den Boden. Piskunov und Ĉernogaev zogen das vierte Rohr heraus und warfen es auf den Boden. Urgan und Zvjaginceva zogen das fünfte Rohr heraus und warfen es auf den Boden. Unter dem Körper der Putzfrau hervor floss reichlich Blut.Ŗ65 Die trockene emotionslose Protokollierung eines bestialischen Tötungsakts, die in ihrer Mechanik und Monotonie den Sorokin-Übersetzer Thomas Wiedling an die rituellen Sprechgesänge in der orthodoxen Liturgie erinnert66, schockiert und entsetzt zunächst. Doch der Leser muss erkennen, will er zu einem rechten

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Textverständnis gelangen, dass der Autor hier, wie auch in anderen Werken, den Akzent vom Inhalt auf die sprachliche Ebene verlagert und dass die dargestellten Bestialitäten nicht mehr wie im Fall konventioneller Rezeptionshaltung wörtlich, sondern nur noch „diskursivŖ zu verstehen sind. „So bedient sich die dauernd an der Tabu-Grenze operierende oder transgressive Sprache Sorokins aller denkbaren Signifikanten der Körperlichkeiten im Bereich von Blut und Fleisch, oralen, analen und genitalen Vorgängen, um durch diese somatische Sprache die gewalttätigen Diskurssysteme zu semantisieren.Ŗ67 Seine paradigmatische Ausprägung findet dieses Verfahren in der Erzählung „Mesjac v DachauŖ (Ein Monat in Dachau)68, die 1990 als Ergebnis eines Deutschlandaufenthalts des Verfassers entstand und 1992 in russischer und in deutscher Sprache erschien. Das in vielfacher Hinsicht bislang radikalste Werk Sorokins vereinigt, angefangen mit der Titelreferenz zu Turgenevs „Mesjac v derevneŖ (Ein Monat auf dem Lande, 1855), in sich zahlreiche Text- und Diskursbezüge. Wie die Zugfahrt in Venedikt Erofeevs „MoskvaŔPetuńkiŖ ist die immer unwirklicher werdende Reise des Sorokinschen Ich-Erzählers von Moskau über Brest, Berlin und München nach Dachau und im Konzentrationslager Dachau von Zelle 1 bis Zelle 25 eine Reise durch große Qualen, zugleich aber auch durch vielfältigste Denkmuster69, in denen sich fremde und eigene Rede vermischt. Der Erzähler, der sich schon nach wenigen Sätzen bis ins Geburtsdatum 7. August 1955 mit dem Autor Vladimir Georgieviĉ Sorokin identifiziert, beginnt seine „ReiseschilderungŖ mit einem Bezug zum astrologischen Diskurs („Der Saturn in Opposition zu JupiterŖ) und fährt dann fort, zuerst in Tagebuchform, darauf in Form des unmittelbaren Berichts, indem er Handlungswiedergabe stets mit Bezugnahme auf Diskurse verknüpft: über den Niedergang Moskaus, über den allgemeinen Kulturpessimismus, über die russische Volksfrömmigkeit, über den russischen Nationalcharakter und immer wieder über die vergangene und die gegenwärtige russische Literatur. Nachdem dem aus Russland kommenden Lagerbesucher in der ersten der fünfundzwanzig Zellen, die sich von Anfang an als Folterkammern erweisen, mit der Zange der kleine Fingernagel herausgerissen worden ist, wird er in der zweiten Zelle zu der Unterschrift unter das Geständnis gezwungen, an der Erprobung der Gaskammer beteiligt gewesen zu sein, und in der dritten befiehlt ihm der Folterknecht Kurt „erzähle uns von dostoevskijŖ, was der Erzähler wie folgt darstellt: „ich erzähle ihr esst trinkt bier schaut mich an und hört zu dann danke für den vortrag herr schriftsteller und pisst mir nacheinander ins gesicht genau wie nikolaj petroviĉ.Ŗ70 Unter heftigsten Schlägen wird der Besucher in der fünften Zelle aufgefordert, weiterzuerzählen „von dostoevskij von raskolřnikovs beichteŖ.71 Auch auf seinem weiteren Leidensweg von Zelle zu Zelle bleiben Folterung und literarischer Diskurs auf das Engste verquickt. Verkörpert ist dieser Zusammenhang in der Gestalt der „doppelköpfigen Frau in der schwarzen Gestapo-UniformŖ, die, nicht nur Goethes Gretchen und Bulgakovs Margarita, sondern auch Eigenschaften anderer Protagonistinnen der Weltliteratur von der biblischen Lilith bis zu Doktor Ņivagos Lara und von de Sades Justine bis zu

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Leskovs Lady Macbeth vereinend, in Dachau „aus dem Nebel schräg über den AppellplatzŖ auf den Ankömmling zuschreitet.72 In Gretchen-Margarita entdeckt der Held, der fiktionale Sorokin, der sich als Schriftsteller in einer Schreibkrise darstellt und der Welt des „zynischŖ und „anti-ästhetischŖ genannten Jahrhunderts73 zu entrinnen versucht, die Ausgestaltung der vollkommenen Schönheit, in einem aber auch, was schon die Vergleiche mit Justine und Lady Macbeth oder mit Salome, Brunhilde und Sacher-Masochs Wanda andeuten, die Erfüllung intimer, Gewalt und Genuss verknüpfender Lüste. Das sadomasochistisch ausgelebte Verhältnis zu der „liebsten mit reitpeitscheŖ74 gipfelt in der Trauung, bei der sich die Liebenden „mit blutigen LippenŖ küssen, sowie in dem schauerlichen Hochzeitsmahl, das Ŕ vorbereitet durch den Verzehr von Speisen aus den Körpern des russischen Mädchens Lenoĉka und des „kleinen judenjungen osja bljumenfelřdŖ in Zelle 2075 Ŕ zubereitet ist aus den Opfern des Konzentrationslagers. „Auf dass wir essen von der Speise der GötterŖ, wendet sich der Bräutigam an seine Braut, diese „Höllische GeliebteŖ Gretchen-Margarita, „führe mich, führe mich in das Silber-Kristallene Paradies der Tafel Unseres Neuen Lebens, speise mich, speise mich mit der Brust in Aspik von der Holländerin, dem Hauchzarten Schinken von der Französin, reich mir, reich mir die Purpurrote Blutwurst von griechischen Mädchen, rück näher, rück näher die Schale mit Jüdischer Zunge, gib, gib mir das Glas mit Polnischer Pastete, iss, iss mit mir das zarteste Roastbeef von Engländerinnen, eingefasst in einen Kranz aus Irischen Blüten und Würsten, steck, steck mir in den Mund ein Stück Arabische Niere, eingeweicht in Montenegrinischem Blut, und endlich, endlich, führe, führe mich zum Höchsten und Letzten Gericht Unserer Übereinkunft...Ŗ76 Mit der nicht endenwollenden, absatzlos wie auch interpunktionslos strömenden Schilderung des Hochzeitsmahls als einer maßlosen alle Vorstellungskraft übersteigenden orgiastischen Zeremonie kannibalistischer Handlungen erreicht der Körperdiskurs als Gewaltdiskurs im Text seinen Höhepunkt. Ergänzt wird er nur noch durch einen epilogartigen Abschluss in Form eines Polylogs zwischen Gretchen, Margarita und dem Ich-Helden und Autor-Erzähler. Der sich durch den gesamten Text ziehende, die Folterpraxis begleitende Zerfall der Sprache ist in den Wechselreden der drei Protagonisten bis zum Sinnverfall getrieben, ehe in den Schlussworten des Ich, die in geordneter „ReihenfolgeŖ der Vorgänge einen Ausblick in die Zeit nach der Hochzeit geben, mit der Aufzählung von individuellen und kollektiven Gliederamputationen und -einverleibungen bei aller orthographischen und grammatikalischen Zerrüttung eine Rückkehr zur Verständlichkeit der Aussage stattfindet, so entsetzlich diese auch ist: „1. füllt meines magen darm mit abgenagten kopf gretchens. 2. annäht kopf margaritas an meine linke schult. 3. amutier mein extremität verarbeiten zu leim klebt tapeten. 4. füllt meinen rechtsdarm mit augen deutschrussischer kinder. 5. amputiert mein glid verarbeit zu schuhcreme geschenk an zk. 6. spickt meinen körper golde zähn jüd. 7. schießt meine körper dicke bertha in himmel groß deutschland.Ŗ77

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Die im Kannibalismus kulminierenden Entsetzlichkeiten, die Sorokin in „Mesjac v DachauŖ anhäuft, übertreffen alles, was in der langen, über Dostoevskij bis auf Avvakum im 17. Jahrhundert zurückreichenden Tradition russischer Lager-, Gefängnis- und Verbannungsliteratur78 zur Darstellung gebracht worden ist. Auch die beiden bedeutendsten Repräsentanten dieser Tradition aus neuerer Zeit, Aleksandr Solņenicyn (1918Ŕ2008) und Varlam Ńalamov (1907Ŕ1982), intendierten eine „Ästhetik des Skandals und des SchocksŖ79. Sie entsprang der eigenen Gulag-Erfahrung und war dementsprechend an der Wirklichkeit des Erlebten, des Beobachteten und des Vernommenen orientiert. Als Überlebende, dem Tod Entronnene wollen Solņenicyn und Ńalamov Kunde geben, Bericht erstatten, aufklären und aufrütteln. Ihre stark dokumentarisch geprägte Erzählprosa, bei dem einen von größerer, bei dem anderen von geringerer Distanz zum Beschriebenen, vermittelt den Horror des Lagerdaseins, ohne den Akzent auf die direkte und ins Detail gehende Beschreibung von Grausamkeiten und physiologischen Erniedrigungen des Menschen zu legen. Während Sorokin, an Vorläufer aus den sechziger und siebziger Jahren wie Venedikt Erofeev oder Jurij Mamleev (1931Ŕ2015)80 mit ihren Darstellungen grotesker Leiblichkeit und rauschhafter Bewusstseinszustände anknüpfend, sich immer weiter von der vertrauten Wirklichkeit entfernt und eine eigene, eine alle Grenzen und gültige Kategorien auflösende Welt entwirft, bleiben Solņenicyn und Ńalamov, um maximale Authentizität bemüht, auf dem Boden der Tatsachen und bezeugen, dass die Realität unter bestimmten Bedingungen schrecklich genug sein kann und dass es dann keiner Übertreibungen bedarf, um die Schrecklichkeiten anschaulich und glaubhaft vor Augen zu führen. So verzichtet Solņenicyn in „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ, einen gewöhnlichen Tag im Leben eines gewöhnlichen Strafgefangenen aus „dreitausendsechshundertunddreiundfünfzig TagenŖ seiner Haftzeit auswählend, auf die Wiedergabe auffälliger Vorkommnisse oder sogar ungeheuerlicher Vorgänge, nicht anders als auf die Schilderung interessanter Charaktere und ihrer Lebensschicksale, wie sie Dostoevskij in „Zapiski iz mertvogo domaŖ (Aufzeichnungen aus einem toten Haus, 1865) für so festhaltenswert hielt. Stattdessen steht das tägliche Einerlei im Blickpunkt, die tödliche Monotonie dieses ewigen Kreislaufs vom Aufstehen um fünf Uhr morgens über die Arbeitsroutine, die kärglichen Mahlzeiten und die Beschäftigung mit den banalen, jedoch lebensnotwendigen Bedürfnissen bis zu der nächtlichen Kontrolle in der Schlafbaracke.81 Auch die Gedanken drehen sich immer wieder um das Gleiche: „Wird man die Brotration in deiner Matratze finden? Wird man dich am Abend auf die Krankenliste setzen?Ŗ82 Obwohl an dem dargestellten Tag nichts Besonderes passiert, wirkt er für Ńuchov, den Helden, geradezu ereignisreich: „Ńuchov schlief vollkommen zufrieden ein. Der heutige Tag war für ihn sehr erfolgreich gewesen: Er hatte keinen Arrest bekommen, seine Brigade hatte man nicht zur Sozkolonie geschickt, beim Mittagessen hatte er sich seinen Extrabrei organisiert, der Brigadier hatte gute Prozente für ihre Arbeit herausgeholt, das Mauern hatte ihm Spaß gemacht, beim Filzen hat-

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ten sie das Sägeblatt nicht gefunden, er hatte sich bei Cezarř etwas verdient und etwas Tabak gekauft. Und er war nicht erkrankt, er hatte sich wieder erholt. Der Tag war, durch nichts getrübt, fast glücklich verlaufen.Ŗ83 Sätze dieser Art, die dem Leser suggerieren, dass das Lagerdasein trotz aller Schwere auch erträgliche, fast glücklich machende Seiten hat und der Häftling am Ende, durch Leiden gereinigt, gestärkt und erneuert aus dem Gulag hervorgeht, finden sich bei Ńalamov nicht. Der Verfasser der aus sechs Zyklen bestehenden „Erzählungen aus KolymaŖ (Kolymskie rasskazy), entstanden zwischen 1954 und 1973, hat aus den siebzehn im Gulag verbrachten Jahren, davon vierzehn in der berüchtigten ostsibirischen Verbannungsregion Kolyma, ganz andere Schlussfolgerungen gezogen als Solņenicyn, dem er mangelnde Wahrhaftigkeit vorwarf. Der Aufenthalt im Lager bedeutet für Ńalamov, wie er in der programmatischen Schrift „O prozeŖ (Über Prosa) formuliert und in der kargen, von Abschweifungen und Ausschmückungen freien Sprache seiner Erzählungen zu unmittelbarer Anschauung bringt, eine absolute „NegativerfahrungŖ84. Von den Helden, alles „Menschen ohne eine Biographie, ohne Vergangenheit und ohne ZukunftŖ85, sterben die einen (es sind die meisten) an Kälte, Hunger, Erschöpfung oder an Schlägen, die anderen überleben mit knapper Not, sind aber für immer zerstört. Dieses Zerstörtsein gilt für die Häftlinge und Aufseher im Text ebenso wie für die Leser des Textes. Die Erzählung „Po sneguŖ (Durch den Schnee, 1956), die den ersten „KolymaŖ-Zyklus eröffnet, beschreibt, wie eine Gruppe von Lagergefangenen bis zu totaler Entkräftung, mühsam einen Fuß vor den anderen setzend, für nachfolgende Menschen, Schlittenzüge und Traktoren einen Weg in den metertiefen Schnee tritt, um im allerletzten Satz die faktographische Deskription zu verlassen und sich zu einer poetologischen Selbstaussage zu erheben: „Aber auf den Traktoren und Pferden kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser.Ŗ86 Wie die Gefangenen die Wegspur für den Transport bereiteten, so bereitet jetzt der Autor, der einst selber zu den Gefangenen gehörte, auf der metaphorisch für die weite Schneefläche stehenden leeren weißen Seite die Sinnspur für den Leser.87 Dieser, in der exklusiven Lage, die grauenvolle Lagererfahrung in der ästhetischen Sublimierung durch die Literatur nachzuvollziehen, ja nachzuleben, wird in die Rolle des Häftlings, und das heißt des Leidenden oder, wie Ńalamov sagt, des „MärtyrersŖ88 versetzt. Andrej Sinjavskij (1925Ŕ1997), auch ein Lagerinsasse und -überlebender, sagte einmal treffend, Ńalamov stelle den Leser einem Menschen gleich, der „in die Situation der Erzählung eingesperrt istŖ wie der Gefangene in die Situation des Lagers.89 Die Aufzeichnungen, die Sinjavskij über seine Haftzeit in verschiedenen Lagern Mordviniens verfasst hat, richteten sich ursprünglich nur an einen Leser, an seine Frau Marija Rozanova. Es handelt sich dabei um Briefe, in denen weniger Probleme des Lageralltags geschildert als abstrakt-theoretische Überlegungen angestellt werden. Sie dienten in erster Linie der Selbstbewahrung des Schreibers, der durch sie die Verbindung mit der verlorenen Außenwelt herzustellen versucht.

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Nach der Haftentlassung hat Sinjavskij aus über 1500 Briefseiten eine Auswahl getroffen, die ausgewählten Textpassagen literarisch überformt und, in sieben Kapiteln geordnet, unter dem Titel „Golos iz choraŖ (Eine Stimme im Chor) und dem Pseudonym Abram Terc 1973 in London veröffentlicht. Das locker strukturierte, keiner chronologischen Gliederung folgende collageartige Werk stellt das Bindeglied dar zwischen der traditionellen, das heißt authentischen Lagerliteratur, verfasst von Autoren wie Ńalamov oder wie Solņenicyn, die damit die Jahre ihrer Inhaftierung verarbeiteten und die Bedingungen im Lager dem kollektiven Gedächtnis überlieferten, und der seit den achtziger Jahren unter den Prämissen postmoderner Ästhetik in Russland entstandenen Lagerliteratur, die nicht mehr den persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen der Autoren entspringt und daher auch nicht mehr den Anspruch auf Abbildung von Realität und Vermittlung von Wahrheit erhebt. Der direkte Bezug zur Gulag-Wirklichkeit ist jetzt ersetzt durch den Bezug auf das Bild, das die realistisch-dokumentarische Literatur von dieser Wirklichkeit gegeben hat. Dem Zitatcharakter der Postmoderne entsprechend bildet sich die neue, nichtauthentische Darstellung des Lagers aus einer Vielzahl intertextueller Verweise. Die Spannweite dieser Verweise ist groß. Sie reicht von offenen, expliziten Referenzen wie in Igorř Jarkeviĉs Kurzgeschichte „Solņenicyn, ili Golos iz podpolřjaŖ (Solņenicyn oder eine Stimme aus dem Kellerloch, 2001)90 über Referenzen eher impliziter Art im Rahmen größerer erzählerischer Kontexte bis zu Entwürfen autonomer imaginärer Lagerwelten wie in Sorokins „Mesjac v DachauŖ. Zu der letzteren Kategorie gehören auch Erzählungen wie Sergej Dovlatovs „ZonaŖ (Die Zone, 1982)91, Vladimir Makanins „Bukva ,AřŖ (Der Buchstabe „AŖ, 2000)92 oder Igorř Ńarapovs „Letnij lagerřŖ (Das Sommerlager, 2000).93 Als die Verfasser, ohne jemals Lagerinsassen gewesen zu sein, den literarischen Topos des Lagers aufgriffen, zugleich aber aus dem ursprünglichen Traditionszusammenhang herauslösten, nahmen sie offensichtlich Andrej Sinjavskij beim Wort. Der „Vorreiter des russischen postmodernen DiskursesŖ94 hatte in „Golos iz choraŖ, indirekt sein eigenes Verfahren kommentierend, festgestellt, dass für den Künstler die „Wirklichkeit nie ausreichtŖ: „Er ist gezwungen zu phantasierenŖ.95 Dementsprechend erscheint das Lager in der Wahrnehmung und der Darstellung Sinjavskijs als „erdachte WeltŖ (voobraņaemyj mir).96 Frei von der Last aller persönlichen Erinnerung können dessen Nachfolger, die Abkehr von der realistisch-mimetischen Schreibweise vollendend, die Vergegenwärtigung der Gulagwelt vollends in die reine Fiktion treiben. Dass im Schreiben über das Lager außerliterarische Realität nur noch vorgetäuscht und vorgespiegelt erscheint, ist eine grundlegende Prämisse, die von den Autoren keineswegs verdeckt, sondern ausdrücklich betont wird, beispielsweise durch Strategien wie Theatralisierung, Karnevalisierung oder Ritualisierung. So werden die Folterungsszenen in „Mesjac v DachauŖ vom Ich-Erzähler Vladimir Georgieviĉ Sorokin als große Spektakel inszeniert, unterstützt durch Verweise auf die Welt von Oper und Theater und sprachlich und stilistisch geprägt durch

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Die russische Erzählung

tabuisierte Lexik obszöner und skatologischer Art („wagner wagner mir mir in die mund deine geliebte kotwalküreŖ)97, während die Erzählung „Bukva ‚AřŖ in einer Szene kollektiver Defäkation auf dem Lagergelände kulminiert, die Makanin als eine orgiastische performance beschreibt, in der die Darmentleerung (ein Leitmotiv des Körperdiskurses auch bei Sorokin und Viktor Erofeev) zum rituellen Akt erhoben und als „große GesteŖ gefeiert wird.98 Gewalttaten und Grausamkeiten, Obszönitäten und Perversitäten werden hier wie dort ästhetisiert und damit moralischer Bewertung entzogen. In solcher Wirklichkeit, die, nicht abgebildet, sondern künstlerisch konstruiert, ein „DenkkonstruktŖ99 ohne Authentizität ist, verliert der Held sein Profil, seinen Charakter, seine Identität, und der Autor geht auf in einem Gewebe aus Diskursen, literarischen und kulturellen Zitaten sowie einer Vielzahl und Vielfalt von Schreib- und Ausdrucksweisen. Die Lagerliteratur wird so zum Paradigma postmodernen Erzählens. Das dokumentiert sich auch in der allenthalben anzutreffenden Neigung zu Fragmentismus, Multiperspektivität und Offenheit, zu den Bauformen von Montage und Collage, zum Verzicht auf kausal-logische und chronologische Handlungsentwicklung. Hinzu gesellt sich noch ein weiteres Ŕ auffälliges Ŕ Moment: die zunehmend verbreitete Abkehr von der alten epischen Länge. Schon Ńalamov hatte 1965 im Zusammenhang mit der Lagerthematik, dieser „Kernfrage unserer EpocheŖ Ŕ der „Vernichtung des Menschen mit Hilfe des StaatesŖ, den Tod des Romans verkündet. „Der Roman ist tot (Roman umer), keine Kraft in der Welt wird die literarische Form wiedererwecken.Ŗ100 25 Jahre später beschließt Sorokin ein Prosawerk, dessen Titel, „RomanŖ, den Namen des Helden und die Bezeichnung der traditionellen Gattungsform ineinssetzt, mit den genannten Worten aus Ńalamovs „O prozeŖ: „Roman umerŖ.101 Nur ist die zitathafte Wendung, einen zweifachen Tod benennend, jetzt doppeldeutig, wobei der typische Spielcharakter der postmodernen Schreibweise noch eine zusätzliche Dimension gewinnt, wenn man den Kommentar Sorokins zur Geschichte des Romans über den Autor der „Erzählungen aus KolymaŖ hinaus bis auf Osip Mandelřńtam zurückverfolgt und auf seinen Essay „Konec romanaŖ (Das Ende des Romans) aus dem Jahr 1922 bezieht. War der große Lyriker und Verfasser der Erzählung „Egipetskaja markaŖ von seiner Behauptung, dass die Ära des großen Romans im Sinne der Darstellung einer „menschlichen BiographieŖ102 zu Ende gegangen ist, ernsthaft überzeugt, ist die entsprechende Äußerung bei Sorokin, wie vieles, was er schreibt, nicht ohne Augenzwinkern formuliert, in diesem Fall wissend, „dass er den Leichnam, den er heute zu Grabe trägt, morgen wieder beleben wirdŖ.103 In der Tat haben Vladimir Sorokin und andere Postmodernisten von Evgenij Popov und Viktor Erofeev bis zu Vjaĉeslav Přecuch und Viktor Pelevin weiterhin Romane geschrieben. Doch die kürzere Form der Epik, in die auch Sorokin, Dovlatov und Makanin, wie zuvor bereits Solņenicyn und Ńalamov, die Lagerthematik kleideten, wird in der postmodernen Literatur Ŕ sei es als rasskaz, novella oder povest’ Ŕ insgesamt durchaus bevorzugt, wird ihr doch „aufgrund ih-

XVII. Epilog: Die russische Erzählungskunst im Zeichen der Postmoderne

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res Aus- oder QuerschnittscharaktersŖ am ehesten zugetraut, „die Fremdbestimmung durch die herrschende Ideologie zu unterlaufenŖ: „In der Kurzform, so ist zu vermuten, entstehen die Freiräume, in denen die für die Postmoderne entscheidenden Welt- und Normverschiebungen stillschweigend vollzogen werden können.Ŗ104 Wie schon so oft in der Literaturgeschichte der letzten Jahrhunderte hat sich die Erzählung auch in der unmittelbaren Gegenwart und einer aus der Polemik mit der marxistischen Lehre und der Praxis des real existierenden Sozialismus hervorgegangenen Literatur als die für die Aufnahme neuer Inhalte und Durchführung formaler Experimente offenste und geeignetste epische Gattungsform erwiesen.

Wolf Schmid

Aleksandr Puńkin: Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa Belkina (Die Erzählungen des verstorbenen Ivan Petroviĉ Belkin) Im Herbst 1830 erlebte Aleksandr Puńkin in der Zurückgezogenheit des väterlichen Landguts Boldino im Gouvernement Niņnij Novgorod seine fruchtbarste Schaffensphase. Er hatte nur einen dreiwöchigen Aufenthalt geplant, um aus Anlass der bevorstehenden Vermählung das Dorf Kistenevka zu übernehmen, wurde aber von der sich ausbreitenden Cholera-Epidemie gezwungen, auf dem einsamen Gut fast drei Monate zu verweilen, ohne Gesprächspartner, Bücher und Zeitschriften. In diesem Zeitraum schrieb er auch fünf Erzählungen in Prosa: „GrobovńĉikŖ (Der Sargmacher; abgeschlossen am 9. September), „Stancionnyj smotritelřŖ (Der Stationsaufseher; 14. September), „Baryńnja-krestřjankaŖ (Fräulein Bäuerin; 20. September), „VystrelŖ (Der Schuss; 14. Oktober) und „MetelřŖ (Der Schneesturm; 20. Oktober). Zu einem Zyklus zusammengefasst, dabei in eine neue Reihenfolge gebracht (die beiden Oktober-Erzählungen wurden den September-Erzählungen vorangestellt), und mit einem Vorwort „Vom HerausgeberŖ versehen, erschienen sie im Herbst 1831 anonym unter dem Titel „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ.1 Rezeptionsgeschichte Das erste abgeschlossene Prosawerk des Dichters stieß bei den russischen Kritikern nicht nur der dreißiger Jahre, sondern auch der folgenden Jahrzehnte fast durchweg auf Unverständnis und Ablehnung. Puńkins literarischer und publizistischer Kontrahent, der populäre Prosaschriftsteller und konservative Kritiker Faddej Bulgarin, geißelte in mehreren Artikeln der von ihm herausgegebenen offiziösen Tageszeitung „Severnaja pĉelaŖ den Mangel an „ErfindungsgabeŖ und das Fehlen einer „GrundideeŖ: „Man liest [die „Povesti BelkinaŖ] so, wie man ein Konfekt isst, und danach ist alles vergessen.Ŗ2 Die Kritiker anderer literarischer und politischer Lager warfen den Erzählungen die Nachahmung bekannter Sujets und übermäßige Simplizität in Sprache und Gehalt vor. Nicht viel wohlwollender äußerte sich der Dekabrist Vilřgelřm Kjuchelřbeker, der Puńkin seit den gemeinsamen Tagen im Lyzeum von Carskoe selo freundschaftlich verbunden war. Zwar vermerkte er noch 1833 in seinem Tagebuch des sibirischen Exils, dass die Erzählungen ihn von ganzem Herzen hätten lachen lassen3, in einem Brief des Jahres 1839 jedoch bezeichnete er den Belkin-Zyklus mit Ausnahme von „Stancionnyj smotritelřŖ und der „vergnüglichen ErzählungŖ „GrobovńĉikŖ recht harsch als „Unsinn und Puńkins nicht würdigŖ.4 Die Äußerungen Vissarion Belinskijs, des Literaturpapstes der dreißiger und der vierziger Jahre, stimmen auf

„Povesti BelkinaŖ (Die Erzählungen Belkins)

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überraschende Weise mit den Verrissen Bulgarins, seines politischen Antagonisten, überein. 1835 konzedierte Belinskij zwar, dass die „Povesti BelkinaŖ unterhaltsam seien, dass man sie „nicht ohne VergnügenŖ lesen könne, was auf den „anmutigen StilŖ und die „Kunst des ErzählensŖ zurückzuführen sei, erkannte sie jedoch nicht als Kunstwerke an, sondern bezeichnete sie als „Geschichtchen und HistörchenŖ. Wären sie Produkte Bulgarins, könnte man den Autor als Genie betrachten, jedoch als Werke Puńkins: „Herbst, Herbst, kalter, regnerischer Herbst nach dem wunderschönen, prächtigen, duftenden FrühlingŖ.5 In der Rezeptionsgeschichte der „Povesti BelkinaŖ hat sich freilich ein ganz anderes Urteil über ihren Wert herausgebildet. Man erkannte, dass die fünf Novellen in ihrem kargen thematischen Material eine überaus große Bedeutungsenergie konzentrieren. In dem Maße, wie die Vereinigung von Einfachheit mit hoher Sinnkomplexität erfahrbar wurde, fand der Novellenzyklus Anerkennung als das erste Meisterwerk der russischen Erzählprosa. Eine für diesen Prozess höchst charakteristische und überdies für die Eigenart der Puńkinschen Einfachheit symptomatische Revision einer früheren Wertung findet sich in den Urteilen Lev Tolstojs. 1853 notierte der literarische Debütant, dass Puńkins Prosa in der „DarbietungsweiseŖ „veraltetŖ sei, dass in der neueren Literatur das „Interesse an den Einzelheiten des GefühlsŖ das Interesse an den Ereignissen selbst ersetze und dass in dieser Hinsicht die Erzählungen Puńkins „irgendwie nacktŖ seien.6 Während seiner Schulversuche in Jasnaja Poljana musste Tolstoj zu Beginn der sechziger Jahre die Erfahrung machen, dass die Schüler „GrobovńĉikŖ nicht nacherzählen konnten und die Geschichte als zu langweilig empfanden. Die Schüler habe, so notiert Tolstoj in seinem Bericht, unter anderem die nedoskazannost’ der Erzählungen irritiert (was wir heute als Mangel an expliziter Ausführung der Motive bezeichnen würden). Er verzichtete danach ganz auf Puńkin, dessen Erzählungen ihm Ŕ wie er konstatiert Ŕ „früher, in vorläufiger Einschätzung, in höchstem Maße richtig gebaut, einfach erschienen warenŖ.7 Als er sich jedoch im März 1873 nach längerer Enthaltung von der schönen Literatur unversehens zu einem neuen Roman, der späteren „Anna KareninaŖ, entschloss, diente ihm nach der Erinnerung seiner Ehefrau eine zufällig gefundene Ausgabe der „Povesti BelkinaŖ als Quelle der Inspiration, und er begann „unter dem Einfluss PuńkinsŖ Ŕ wie Sofřja Andreevna in ihrem Tagebuch berichtet Ŕ den Roman zu schreiben.8 In einem Brief aus demselben Monat teilte Tolstoj mit, dass er „mit BegeisterungŖ die „Povesti BelkinaŖ gelesen habe, zum siebenten Mal in seinem Leben. Ein Schriftsteller müsse diesen Schatz unermüdlich studieren.9 Noch im hohen Alter erklärte Tolstoj den Belkin-Zyklus („Wie ist das alles schön, die Erzählungen BelkinsŖ) neben „Pikovaja damaŖ (Pique Dame) zum Besten aus Puńkins dichterischem Schaffen.10 In seiner letzten Äußerung über Puńkin im Jahr 1910 konstatierte er nach erneuter Lektüre von „MetelřŖ: „Das Wichtigste ist bei ihm die Einfachheit und Gedrängtheit des Erzählens. Es gibt nie etwas Überflüssiges.Ŗ11 Damit erkannte er

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Aleksandr Puńkin

den Erzählungen Qualitäten zu, die ihr Autor als „erste Tugenden der ProsaŖ proklamiert hatte: „Genauigkeit und KürzeŖ12, „edle EinfachheitŖ13. Die „Einfachheit“ der Erzählungen und drei diegetische Verfahren Wie aber ist die oft apostrophierte „EinfachheitŖ der „Povesti BelkinaŖ zu verstehen? Sie manifestiert sich zunächst im Ausdruck des Erzähldiskurses, der die in der Prosa der Zeit übliche und von Puńkin kritisierte Periphrastik und Figürlichkeit vermeidet und zur eigentlichen, der unbildlichen und knappen Denotation strebt. Dann betrifft die Einfachheit aber auch und vor allem die erzählte Geschichte und ihre motivische Ausstattung. Diese narrative Einfachheit ist als hohe Selektivität der Geschichte in Bezug auf das ihr zugrunde liegende Geschehen zu erklären. Von den Momenten des zu erzählenden Geschehens sind immer nur sehr wenige ausgewählt, und diese sind nur mit wenigen Eigenschaften ausgestattet. Die Reduktion des Geschehens auf relativ wenige geschichtenbildende Momente ist ein notwendiger Akt jeglichen Erzählens. Aber die Selektivität der „Povesti BelkinaŖ ist von einer besonderen Art; denn sie betrifft gerade Momente höchster Relevanz. So werden in den fünf Erzählungen die zentralen Handlungsmotivationen der Helden nicht expliziert. Warum schießt Silřvio nicht auf den Grafen, warum erschießt er ihn nicht („VystrelŖ)? Ist es nur Zufall oder Fügung der Vorsehung, dass sich diejenigen ineinander verlieben, die, ohne es zu wissen, bereits miteinander verheiratet sind („MetelřŖ)? Warum lädt der Sargmacher zu seinem Einzugsfest die „orthodoxen TotenŖ ein, und warum lässt er, aus dem cauchemare erwacht, erfreut seine Töchter zum Tee rufen? Warum schließlich macht Aleksej der gelehrigen Akulina einen Heiratsantrag, obwohl er sich doch der unüberbrückbaren sozialen Kluft bewusst sein muss, die zwischen ihm, dem Gutsbesitzerssohn, und dem armen Bauernmädchen besteht („Baryńnja-krestřjankaŖ)? Zu solchen Fragen, die auf die Beweggründe der Personen und damit auf die Kausalität ihrer Geschichte abzielen, provoziert auch die, wie es zunächst scheinen mag, am wenigsten rätselhafte der fünf Erzählungen, nämlich „Stancionnyj smotritelřŖ. Warum hat Dunja auf der ganzen Fahrt von der Poststation in die Stadt geweint, obwohl sie, wie der Kutscher bezeugt, allem Anschein nach „ihrer Lust folgendŖ (102) mit Minskij nach Petersburg gefahren ist? Warum folgt Samson Vyrin nicht seinem biblischen Vorbild und bleibt nicht, wie der Vater des Gleichnisses, zu Hause, auf die Rückkehr der „verlorenen TochterŖ vertrauend? Und warum gibt der als guter Hirte nach Petersburg geeilte Aufseher mit einem Mal alle Versuche auf, sein „verirrtes SchäfchenŖ nach Hause zurückzuführen? Und schließlich Ŕ warum trinkt er sich zu Tode? Die Erzählungen suggerieren zwar bestimmte Motivationen. Doch entstammen diese durchweg dem Repertoire der konventionellen Sujets, die Ŕ wie es zunächst scheint Ŕ von den erzählten Geschichten wiederholt werden. Die der Literatur entnommenen Beweggründe, die etwa in „Stancionnyj smotritelřŖ der Held, der Erzähler und der Autor anbieten Ŕ der erste, um vor sich selbst und der Welt seine wahren Motive zu verbergen, der zweite, um seine empfindsame

„Povesti BelkinaŖ (Die Erzählungen Belkins)

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Weltwahrnehmung und seine sentimentalistischen Handlungserwartungen zu bestätigen, und der Autor, um konventionelle Wirklichkeitsdeutungen spielerisch ad absurdum zu führen Ŕ, diese Motive erweisen sich letztlich als nicht geeignet, die Kausalität der erzählten Geschichte schlüssig zu begründen. Sollte der Stationsaufseher etwa wirklich am Kummer über das ihm unausweichlich erscheinende Unglück seiner Tochter zugrunde gegangen sein? Die „Povesti BelkinaŖ erfordern eine aktive Rezeption, welche die im Text entweder gar nicht oder nicht zuverlässig genannten Handlungsgründe rekonstruiert, nahegelegte konventionelle Motivierungen zurückweist, die Lücken der Geschichte ausfüllt und die relevanten Unbestimmtheitsstellen konkretisiert. Die Ausfüllung des Offengelassenen und Konkretisation des Unbestimmten, die bereits in jeder Nacherzählung mehr oder weniger bewusst vorgenommen wird, kann sich auf bestimmte Hinweise stützen, die der Text in seiner Faktur enthält. Als Signale dienen dabei vor allem einige diegetische, das heißt die Bildung der Geschichte betreffende Verfahren, die bei all der thematischen Verschiedenheit der fünf Erzählungen ihre Konstruktion auf ähnliche Weise prägen. Ein solches Verfahren ist die paradigmatische Strukturierung der Geschichte, die Bildung intratextueller Äquivalenz thematischer Einheiten, der Parallelismus von Situationen, die Wiederholung, Spiegelung und Variation von Kernmotiven.14 Die thematische oder formale Äquivalenz der Motive prädeterminiert nicht eine bestimmte Interpretation, sondern ist für den Leser lediglich ein Signal, die äquivalenten Figuren, Situationen und Handlungen zu vergleichen und sowohl Ähnlichkeiten als auch Kontraste zu beachten. Auf diese Weise kann er Anregungen für die Konkretisation des unbestimmt Gelassenen, insbesondere für die Rekonstruktion der nicht explizierten Bewusstseinshandlungen gewinnen. Ein zweites Verfahren, das der Konkretisation Anregungen gibt, ist die Allusion auf fremde Texte. Die „Povesti BelkinaŖ entfalten ein wahres Feuerwerk der Intertextualität. Puńkin spielt auf Texte unterschiedlichster Kulturen an, auf antike, westeuropäische, amerikanische, russische. Und er macht dabei keine Unterschiede im literarischen Rang. Neben Petrarca und Shakespeare stehen russische Epigonen wie Vilřgelřm Karlgof und Antonij Pogorelřskij. Puńkins Intertextualität ist in der älteren Forschung15 auf die Parodie sentimentalistischer und romantischer Sujets reduziert und als Mittel der Durchsetzung des Realismus betrachtet worden. Gegen die Überschätzung der parodistischen Destruktion setzte sich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich die Einsicht in die positive, sinngenerierende Rolle der vergegenwärtigten Prätexte durch. So vertrat Vadim Vacuro (1981) die Auffassung, die „Povesti BelkinaŖ tendierten weniger zur Destruktion konventioneller Sujets als zu ihrer Wiedererweckung und zur Aktivierung der in ihnen enthaltenen Sinnmöglichkeiten. Von dieser neuen Konzeption ausgehend, formulierte Vladimir Markoviĉ (1989) die Idee, dass der Zyklus seine für die „KlassikŖ charakteristische Sinnkomplexität aus der „aktiven Wechselwirkung mit der heterogenen belletristischen UmgebungŖ beziehe.

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Aleksandr Puńkin

Für die Intertextualität der „Povesti BelkinaŖ kann man zwei Grundfunktionen unterscheiden. Die erste besteht in der Kontrafaktur zu bekannten Sujets, denen die Handlung bis zu einem gewissen Moment folgt, um dann einen völlig anderen Verlauf zu nehmen. Die Kontrafaktur deckt die Ungereimtheiten des Prätextes auf und drückt auch eine metapoetische Kritik am Weltmodell des Vorgängertextes aus, aber anders als in der bloßen Parodie wird hier konstruktiv ein neues, differenzierteres Bild von Charakteren und Handlungen entworfen. So wird Karamzins sentimentalem Sujet vom Untergang eines Mädchens aus dem niederen Stande („Bednaja LizaŖ), das in der Literatur der Zeit zur Schablone erstarrt war, die sozial untypische, jedoch psychologisch höchst plausibel motivierte Geschichte vom Aufstieg Dunjas entgegengesetzt („Stancionnyj smotritelřŖ). Puńkin hat für diesen Umgang mit den Prätexten das Rezept vorgegeben, wenn in seinem unvollendeten „Roman v pisřmachŖ (Roman in Briefen, 1829) die literaturbegeisterte Liza das „Sticken neuer Muster auf einem alten GewebeŖ (50) als eine Aufgabe des Literaten bezeichnet. Die zweite Grundfunktion intertextueller Anspielung besteht in der Konkretisation der erzählten Geschichte durch die Prätexte. Für diese Funktion müssen wir zwei Modi unterscheiden. In dem ersten Modus kommt die Konkretisation ex negatione zustande, durch die Abweisung suggerierter Analogien, genauer: durch die narrative Widerlegung falscher Äquivalentsetzungen, die Erzähler und Helden vornehmen. Die Helden und auch die Ich-Erzähler erscheinen ja sämtlich als Leser, und sie neigen dazu, angelesene Schemata in ihrer eigenen Existenz zu verwirklichen oder diese im Leben anderer realisiert zu sehen. Im zweiten Modus wird die lückenhafte Geschichte durch die Expansion der Äquivalenz komplettiert. Das betrifft vor allem die unscheinbaren Allusionen, deren Prätexte in der Geschichte keinerlei narrative Rolle spielen, weder dem Erzähler als Erklärungsmodell vorschweben noch von den Helden existentialisiert oder zu der Durchsetzung ihrer Interessen benutzt werden. Hierzu gehören etwa die expliziten Vergleiche einzelner Handlungsdetails mit entsprechenden Zügen in fremden Werken, aber auch die vielen Allusionen, die die Mottos der Novellen, die Namen von Protagonisten oder verdeckte Zitate signalisieren, ohne dass die Prätexte im Horizont der dargestellten Welt erschienen. Die expandierte Äquivalenz, die tentativ auf nicht besonders markierte Motive der beiden Texte ausgedehnt wird, ergibt immer wieder überraschende, komische Befunde und kann sogar für die in der Geschichte nicht ausgeführten inneren Motive der Helden höchst plausible Ausfüllungen bereithalten. Der Prätext soll also nicht in seiner Differenz zum Sujet des Textes erkannt und als untaugliches, irreführendes Erklärungsschema abgewiesen, sondern als Spender möglicher Motivationen benutzt werden. Ein drittes Verfahren, das die Konkretisation der in manchem so unbestimmten Geschichte anregt, ist die Entfaltung und Realisierung phraseologischer Wendungen, semantischer Figuren (Antithesen, Paradoxa, Oxymora), Tropen (Metaphern, Metonymien) und parömischer Redeklischees (Sprichwörter und Redens-

„Povesti BelkinaŖ (Die Erzählungen Belkins)

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arten). Diese Mikrotexte sind in den Erzählungen auf unterschiedliche Weise präsent, entweder in ausdrücklicher Zitation oder anagrammatisch verborgen in einzelnen Wortmotiven, sprechenden Namen (Vyrin, abgeleitet von vyr’ oder vir’, „WasserstrudelŖ, „WirbelŖ)16 oder in Szenen wie Silřvios Fliegenschießen. Die Realisierung besteht im quasi-primitiven Wörtlichnehmen der in der Fiktion in einem figürlichen Sinne gemeinten Wendung oder Parömie. Die Entfaltung verwandelt die im buchstäblichen Sinne verstandenen Verbalmotive oder die an Details der Geschichte aufscheinenden semantischen Figuren (der blinde Aufseher oder der Rächer, der nur Fliegen etwas zuleide tut) zu ganzen Sujets. In bestimmten Fällen aber ist es nicht die eigentliche Bedeutung von Wortmotiven, die zur Sujetlogik expandiert, sondern ein innerfiktional überhaupt nicht aktualisierter übertragener Sinn. Explizit oder implizit gegebene Sprichwörter, die eine Voraussage enthalten, bewahrheiten sich in einem von ihren Benutzern gar nicht gemeinten und für sie selbst ganz überraschenden Sinn. Poetische Lektüre und unabschließbarer Sinngebungsprozess Der anspielungsreiche Text der „Povesti BelkinaŖ erfordert einen sensiblen Leser, der in „poetischer LektüreŖ17 dem starken Sog dieser hochnarrativen Prosa zum Finale hin widerstrebt und sich „zu FußŖ durch den Text bewegt18, vor- und rückwärts geht, bei einzelnen Motiven verweilt und ihr Allusionspotential wahrnimmt, in die Tiefe der Prätexte hinabsteigt, aber auch wieder zum Text zurückkehrt und die im Intertext gewonnenen Sinnpotentiale tentativ auf die auslösenden Motive des Textes und ihre Umgebung überträgt. Dabei ist der Leser aufgerufen, seine Konkretisation der Helden und ihrer Motive für andere Möglichkeiten offen zu halten und verführerischer Vereindeutigung zu widerstehen. Wichtiger als die Produktion eines bestimmten Sinnresultats ist das Spiel, das Durchspielen verschiedener Möglichkeiten der Konkretisation. Jede neue Äquivalenz, die im Text aufscheint, jede neue verbale Figur, die entdeckt werden kann, jeder neue Prätext, auf den der Text sinnvoll zu beziehen ist, wird die Konkretisation in Bewegung bringen. Auf die kategoriale Unbestimmtheit der von Puńkin erzählten Geschichten kann nur eine Konkretisation adäquat antworten, die die Unabschließbarkeit des Sinngebungsprozesses und die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen akzeptiert. Puńkins Text öffnet freilich nicht einer hermeneutischen Beliebigkeit Tür und Tor. Das Spektrum sinnvoller Leseweisen bleibt begrenzt, und bestimmte Lektüren werden unmissverständlich abgewiesen. Die Akzeptanz von Deutungen bemisst sich danach, wie vollständig sie den Text zur Kenntnis nehmen und in welchem Maße sie imstande sind, die gesamte Geschichte und nicht nur einzelne Motive zu erklären. Um die Kohärenz der Geschichte und die Integration aller Motive besorgt zu sein, scheint aber besonders bei Texten angezeigt, die Ŕ wie „Stancionnyj smotritelřŖ oder „VystrelŖ Ŕ zu verkürzenden, voluntaristischen Sinnzugriffen geradezu einladen und im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte immer wie-

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Aleksandr Puńkin

der in den Dienst moralischer Belehrung und ideologischer Indoktrination genommen worden sind. Das Vorwort Den fünf Erzählungen ist ein Vorwort vorausgeschickt, in dem der mit „A. P.Ŗ signierende „HerausgeberŖ von seinen Bemühungen berichtet, die „Liebhaber der vaterländischen WortkunstŖ mit einer kurzen Lebensbeschreibung des verstorbenen Autors zu versorgen. In diesem Vorwort obwalten unfreiwillige Komik und absurde Details. Die nächste Verwandte und Erbin des Autors konnte über ihn leider überhaupt keine Auskünfte geben; denn ihr war der Verstorbene gar nicht bekannt, und so folgt der Herausgeber ihrem Rat, sich an Belkins ehrenwerten Nachbarn zu wenden. Der Nachbar und Freund, der Belkin in den Gewohnheiten, der Denkweise und im Charakter „größtenteilsŖ nicht ähnlich war, beschreibt ihn bei äußerster Gewissenhaftigkeit in den Details aus extremer Außenperspektive. Der nicht weniger gewissenhafte Herausgeber führt zwar den gestelzten Brief des Nachbarn mit einer Auslassung in seinem vollen Wortlaut an, versäumt es aber uns mitzuteilen, wie er an das Manuskript von Belkins Erzählungen gelangt ist. Züge des Komisch-Absurden finden sich auch in den über Belkin berichteten Einzelheiten: Belkin ersetzt den zuverlässigen Dorfältesten, mit dem die Bauern nicht zufrieden sind, durch die Beschließerin, die sein Vertrauen durch ihre Kunst erworben hat, Geschichten zu erzählen. Die dumme Alte ist freilich nicht einmal imstande, einen Fünfundzwanzigrubelschein von einem Fünfzigrubelschein zu unterscheiden. Im letzten Winter hat sie alle Fenster ihres Hauses mit dem ersten Teil von Ivan Belkins unvollendetem Roman abgedichtet. Belkin stirbt an den Folgen einer Erkältung, trotz aller „unermüdlichen BemühungenŖ des Kreisarztes, eines insbesondere in der Heilung „hartnäckiger KrankheitenŖ wie „HühneraugenŖ und dergleichen äußerst erfahrenen Mannes. Die Beschreibung von Belkins Äußerem ähnelt einem Steckbrief, nähert sich jedoch mit ihren überhaupt nicht charakterisierenden Details einer absurden Nulldeskription: „Ivan Petroviĉ war von mittlerem Wuchs, hatte graue Augen, blonde Haare, eine gerade NaseŖ (61). So deutet die semantische Atmosphäre des Vorworts auf die absurde Groteske voraus, wie sie dann für die narrative Welt Nikolaj Gogolřs charakteristisch wurde, mit dem Puńkin 1831, als er das Vorwort schrieb, in Carskoe selo Umgang pflegte (und mit dem er den Zyklus Ŕ noch ohne Vorwort Ŕ an seinen Verleger schickte). Das Bild, das der unbedarfte Briefschreiber von Belkin, dem fiktiven Autor des Zyklus, entwirft, trägt in manchen Details Züge eines ironischen Selbstporträts des realen Autors.19 Wie Belkin hat Puńkin mit den fünf Erzählungen seinen „ersten VersuchŖ (61) im Prosagenre vollendet. Und wie der fiktive Autor, dem sein naiver Freund einen „Mangel an EinbildungskraftŖ attestiert, hat Puńkin seine Geschichten „von verschiedenen Personen gehörtŖ, das heißt aus heterogenen Motiven der Weltliteratur zusammengesetzt. Wie in Belkins Werken „sind jedoch die Personennamen [...] fast alle von ihm selbst ausgedachtŖ, es wurden nur

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die „Namen der Siedlungen und Dörfer aus unserer Nachbarschaft übernommenŖ; das bedeutet für Puńkins Zyklus: Die aus unterschiedlichen Bereichen der Weltliteratur gesammelten Sujets sind in eine russische Umgebung gebracht. Die mangelnde Erfindungsgabe des Autors und die fehlende Originalität der Geschichten wurden tatsächlich von den zeitgenössischen Kritikern (vor allem von Bulgarin und Polevoj) beklagt. Nach der nicht nur literarischen Kontroverse der späten zwanziger Jahre und des Jahres 1830 hatte Puńkin auch allen Grund, von der Seite der Bulgarins heftige Attacken zu gewärtigen. Somit könnte man in den Ŕ die literarische Begabung Belkins in Frage stellenden Ŕ Worten des Gutsbesitzers von Nenaradovo eine ironische Vorwegnahme der erwarteten Kritikerschelte sehen. Nach dieser Deutung antizipiert die Beziehung des literarisch unbedarften, aber offensichtlich erfolgreich wirtschaftenden Gutsbesitzers zu dem im Praktischen untüchtigen Dichter Belkin das Verhältnis der in literarischen Urteilen inkompetenten, jedoch in Geschäftsdingen durchaus versierten Kritiker zu Puńkin. Um Konzipierung, Entstehung und Niederschrift des Vorworts ist eine textologische Kontroverse entstanden, die aufgrund fehlender paläographischer Daten letztlich nicht entschieden werden kann.20 Deshalb ist unklar, ob Puńkin den Zyklus mit Blick auf Belkin als fiktiven Autor konzipierte oder ob diese Autorgestalt erst nach Abschluss der fünf Erzählungen dem Zyklus nachträglich vorangestellt wurde. Eng damit zusammen hängt die Frage, welche perspektivische Rolle Belkin in den Erzählungen selbst spielt. Über die prismatische Relevanz Belkins und die tatsächliche Reichweite seiner ideologischen und sprachlichen Perspektive gibt es in der Forschung bislang keine auch nur annähernd einhellige Meinung. In der lange anhaltenden und noch keineswegs abgeschlossenen Kontroverse kann man zwei Lager ausmachen. Anhänger der Pro-Belkin-Fraktion, der aus jüngster Zeit Debreczeny sowie Chalizev und Ńeńunova zuzurechnen sind, halten den fiktiven Autor für den zentralen Fokus des gesamten Werks. Eine klassische Formulierung hat diese Position in den Worten Dmitrij Ovsjaniko-Kulikovskijs gefunden: „Alles, wovon in den Erzählungen die Rede ist, ist so erzählt, wie es Belkin erzählen musste und nicht Puńkin [...], alles ist durch die Seele Belkins gegangen und wird von seinem Blickpunkt aus betrachtet.Ŗ21 Gegen die These von Belkins prismatischer Funktion hat sich seit langem Widerspruch erhoben. Stellvertretend für die Anti-Belkin-Fraktion sei Julij Ajchenvalřd (1916)22 mit seiner lapidaren Feststellung angeführt, dass es keine innere und notwendige Verbindung zwischen den Erzählungen und der Persönlichkeit Belkins gebe und dass das Herausgeber-Vorwort eine Erzählung für sich bilde. Einen bedenkenswerten Vorschlag, der zwischen den beiden Parteien vermittelt, hat Jan M. Meijer (1968) unterbreitet. Danach begründet Belkin keine eigene Ŕ dritte Ŕ Ebene zwischen den fiktiven Erzählern der Geschichten und dem Herausgeber A. P., wie sie Viktor V. Vinogradov (1941) in seinem arbeitsteiligen Mehrschichtenmodell unterstellte. Einerseits ist Belkin, für Meijer Held der „sechsten ErzählungŖ, mehr Objekt der Stilisierung als selbst „stilbildende InstanzŖ, ande-

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rerseits aber zeigt er „einige ZügeŖ der „AutorfigurŖ, freilich in „übertriebener FormŖ. Mit der Fingierung der Belkin-Figur hat Puńkin, selbst wenn das Vorwort erst nachträglich geschrieben worden ist, tatsächlich ein Prisma geschaffen, das eine gemeinsame Sinnintention der fünf Novellen suggeriert und ihre Wahrnehmung vereinheitlicht. Die Belkin-Gestalt ist als Erzählinstanz in den fünf Erzählungen allerdings weder durch thematische noch durch stilistische Merkmale angezeigt. Sie gehört deshalb nicht zu ihrer dargestellten Welt und kommt nicht als Subjekt einer zusätzlichen Perspektivierung in Frage. Vinogradovs Postulat einer dritten Ebene zwischen dem abstrakten Autor und den fiktiven Erzählern ist aus dem Vorwort abgeleitet. Ohne das Vorwort wäre niemandem auch nur der Gedanke an eine weitere perspektivierende Instanz gekommen. „Vystrel“ In keiner anderen Novelle des Zyklus organisiert die Äquivalenz von Situationen, Personen und Handlungen die Geschichte so stark wie in „VystrelŖ. Bereits die Makro-Komposition zeigt einen sofort ins Auge fallenden Parallelismus, in dem ein Ich-Erzähler in zwei Kapiteln von Begegnungen mit jeweils einem von zwei Duellanten berichtet, die ihm ihre Geschichte von den beiden Phasen eines unterbrochenen Duells erzählen. Die beiden Kapitel enthalten jeweils zwei Episoden unterschiedlicher Zeitebenen in unterschiedlicher Perspektive (in Berichten des primären Erzählers und der beiden Protagonisten, die als sekundäre Erzähler auftreten). Damit ergeben sich vier inhaltlich, formal sowie positionell äquivalente Episoden: Kapitel I

Kapitel II

Episode 1 (im Bericht des primären Erzählers): langweiliges Militär-Leben des Erzählers, die Freundschaft mit Sil’vio, Silřvios Bericht von Episode 2

Episode 3 (im Bericht des primären Erzählers): langweiliges Land-Leben des Erzählers, das Zusammentreffen mit dem Grafenpaar, Bericht des Grafen von Episode 4

Episode 2 (im erzählten Bericht Sil’vios): glückliches Militär-Leben Silřvios , das Erscheinen des Grafen, erste Phase des Duells, Silřvios vorläufiger Verzicht auf seinen Schuss

Episode 4 (im erzählten Bericht des Grafen): glückliches Land-Leben des Grafen, das Erscheinen Sil’vios, zweite Phase des Duells, Silřvios endgültiger Verzicht auf seinen Schuss

In Episode 1 ist das erzählte Ich ein junger Armeeoffizier. Das eintönige Leben in der öden Garnison wird einzig durch die Gegenwart eines Husaren im Ruhestand erleichtert, der mit 35 Jahren etwa doppelt so alt ist wie die ihn umgebenden jungen Offiziere und der durch rätselhafte Widersprüche die Phantasie der jungen Leute anregt: Er scheint Russe zu sein, trägt aber einen ausländischen Namen (Silřvio), in dem „ärmlichen kleinen OrtŖ führt er ein „zugleich ärmli-

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ches und verschwenderisches LebenŖ, er geht ewig zu Fuß, in einem abgetragenen schwarzen Gehrock, hält jedoch einen offenen Tisch für alle Offiziere des Regiments, wobei das Essen nur aus zwei oder drei Gängen besteht, der Champagner aber in Strömen fließt. Sein meist mürrisches Wesen, sein schroffer Charakter sowie seine böse Zunge üben starken Einfluss auf die jungen Gemüter der Offiziere aus. „Irgendetwas Geheimnisvolles umgab sein SchicksalŖ (65). Die aus rätselhaften Antithesen aufgebaute Figur erinnert an eine Reihe romantischer Figuren, allen voran an den geheimnisvollen Ungarn aus der ungebrochen romantischen Welt von Aleksandr Bestuņev-Marlinskijs „Veĉer na Kavkazskich vodach v 1824 goduŖ (Ein Abend in einem kaukasischen Heilbad im Jahre 1824). Der Erzähler unterstreicht jedoch mit mannigfachen Mitteln die Distanz, die er als erzählendes Ich zu den Bewertungen seines damaligen unerfahrenen, naiven erzählten Ich gewonnen hat. „Von Natur mit einer romanhaften Einbildungskraft begabt, war ich […] stärker als alle anderen diesem Menschen verbunden gewesen, dessen Leben ein Rätsel war und der mir als Held irgendeiner geheimnisvollen Erzählung erschienŖ (67). Daraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Das romantische Wesen Silřvios verdankt sich einerseits der Projektion und Konstruktion des erzählten Ich, andererseits aber scheint Silřvio, der als Leser von Romanen vorgestellt wird, selbst an der Schaffung einer romantischen Aura mitzuwirken und sein Leben nach byronischen Stereotypen zu stilisieren. Was zieht den zivilen Ruheständler überhaupt in den Kreis der jungen Offiziere, die in der öden Garnison ihren Dienst verrichten, wenn nicht die Resonanz, die seine Existentialisierung literarischer Schablonen bei den zwar belesenen, im Leben aber unerfahrenen jungen Männern findet? Silřvio verbringt seinen Tag mit der Lektüre von Literatur und Übungen im Schießen, worin er es zu wahrer Kunstfertigkeit gebracht hat. Er trifft die Fliege an der Wand, und von den fleißigen Übungen sind die Wände seiner Behausung ganz durchlöchert, wie Bienenwaben. Die Gespräche der jungen Leute berühren oft das Thema des Duells, an denen sich der Meisterschütze merkwürdigerweise nie beteiligt. Die jungen Leute vermuten, dass auf seinem Gewissen „irgendein unglückliches Opfer seiner schrecklichen KunstŖ (66) laste, und es kommt ihnen überhaupt nicht in den Sinn Ŕ wie das erzählende Ich unterstreicht Ŕ, „bei ihm etwas zu vermuten, das nach Ängstlichkeit ausgesehen hätte. Es gibt Menschen, deren Äußeres allein einen solchen Verdacht ausschließtŖ (66). Ein Zwischenfall bedroht jedoch die romantische Aura des Meisterschützen. Beim Kartenspiel beleidigt, verzichtet er auf die von allen erwartete Duellforderung, was ihm in der Meinung der jungen Leute außerordentlich schadet. Dem romantisch gestimmten Erzähler, der, ihm enger als alle anderen verbunden, stärker als die anderen enttäuscht ist, erklärt Silřvio den Verzicht auf das Duell, in dem sein Leben wenig gefährdet wäre, mit einer Ohrfeige, die er vor sechs Jahren empfangen habe und um deren Sühnung willen er sein Leben nicht der geringsten Gefahr aussetzen dürfe.

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In seiner Erzählung (die die Episode 2 enthält) berichtet Silřvio von der ersten Phase des Duells. In seiner aktiven Husarenzeit ist seine Vorrangstellung unter den Kameraden, die ihn vergöttert haben, von einem jungen, reichen Grafen erschüttert worden, der in sein Regiment eingetreten ist. In allen Husarentugenden ist dieser Glückspilz ihm überlegen. Der neidische Silřvio provoziert ein Duell. Aufgrund des Loses fällt dem Grafen der erste Schuss zu, und er durchschießt Silřvio jene bonnet de police, die dieser in der Episode 1 zur Einstimmung in seine Erzählung aufgesetzt hat und die er während seines ganzen Berichts auf dem Kopf behält. Silřvio, der, um die Sicherheit seiner Hand fürchtend, seinen ersten Schuss abgetreten hat, wird so sehr vom Gleichmut des Grafen, der Kirschen essend ihm die Kerne entgegenspuckt, in Wut versetzt, dass er auf seinen Schuss vorerst verzichtet. Der Graf versichert, er stehe ihm für seinen Schuss jederzeit zur Verfügung. „HeuteŖ (das heißt am Ende von Episode 1) hat Silřvios „Stunde geschlagenŖ: Er hat einen Brief erhalten, in dem mitgeteilt wird, dass der Graf im Begriffe sei, sich zu verheiraten. Er wolle sehen, ob der Graf vor seiner Hochzeit den Tod ebenso gleichmütig annehme, wie er ihn damals beim Kirschenessen erwartet habe. In der Handschrift folgte auf Silřvios Aufbruch nach Moskau ursprünglich die Bemerkung: „Schluss verlorengegangenŖ (597). Puńkin expandierte die Geschichte dann jedoch, indem er fast jedem Motiv des ersten Kapitels ein Äquivalent im zweiten Kapitel zuordnete. So entstand eine Komposition mit streng spiegelbildlicher Symmetrie. In beiden Kapiteln wird eine statische Ausgangssituation, in der sich das erzählte Ich befindet, durch jeweils einen dieser beiden Duellanten aufgehoben. Wird im ersten Kapitel das eintönige Militärleben des Erzählers durch den rätselhaften Silřvio innerlich organisiert, so wird im zweiten Kapitel das eintönige Landleben des Erzählers durch die Ankunft des Grafenpaares unterbrochen. In den Binnenerzählungen der Duellanten beobachten wir eine Wiederholung dieser Struktur mit umgekehrten Vorzeichen: Eine Situation des Glücks wird durch den unerwartet auftauchenden Gegenspieler gestört. Im ersten Kapitel wird Silřvios „VorrangstellungŖ durch den in allen Husarentugenden überlegenen Grafen bedroht, und im zweiten Kapitel stört Silřvio den „honey-moonŖ des Grafen mit der Forderung seines Schusses. Silřvios Rache wird ausschließlich in der Erzählung des Grafen dargeboten, und es ist der souveränen Objektivität seines Berichts zuzuschreiben, dass es unter den Interpreten höchst umstritten bleibt, ob Silřvio die Rache gelingt oder nicht. Exponent der Pro-Silřvio-Partei ist der russische Literaturkritiker Nikolaj Ĉernyńevskij, demzufolge Puńkins „VystrelŖ „die schreckliche Rache und die für den Gegner erniedrigende Großmut eines düsteren, jedoch edlen SilřvioŖ beschreibt.23 In zahllosen Deutungen vor allem sowjetischer Provenienz sind diese Konjekturen mit Variationen wiederholt worden. Differenzen zeigen sich vor allem in der Akzentuierung von Rache und Großmut. Während die einen Interpreten Silřvios Großmut in erster Linie als Mittel einer diabolischen Rache deuten,

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die den Gegner nur physisch verschont, betonen die anderen, ohne den Gedanken des moralischen Siegs aufzugeben, eher den Verzicht in Silřvios Handeln, die Überwindung blinder Rachsucht und die damit gewonnene Humanität. Die Erzählung des Grafen wird ausgelöst durch das Erstaunen des Erzählers über die Schweizer Landschaft, die das mit aller Pracht eingerichtete gräfliche Kabinett schmückt, jedoch von zwei aufeinander gesetzten Kugeln durchbohrt ist. Im Geplauder über die Übungsbedürftigkeit der Schießkunst erwähnt der Erzähler den Meisterschützen Silřvio, dessen Schießübungen so regelmäßig waren wie das Gläschen Wodka. Entgegen der Bitte seiner Gattin, der die Erinnerung schrecklich ist, erzählt der Graf, wie Silřvio, den er Ŕ wie er es selbst darstellt Ŕ „beleidigtŖ hat, „sich an ihm gerächt hatŖ (73). Im ersten Monat seiner Ehe erscheint auf dem Gut, auf dem er sich niedergelassen hat, ein Fremder, „mit Staub bedeckt und mit einem wuchernden BartŖ (73), in dem er zu seinem Entsetzen Silřvio erkennt. Silřvio fordert seinen Schuss (Der Rächer muss freilich gesäumt haben. Entgegen seiner erklärten Absicht, dem Gegner den Tod „vor seiner HochzeitŖ [70] zu bereiten, Ŕ und im Kontrast zu seinem intertextuellen Pendant de Silva aus Victor Hugos hochromantischem Versdrama „Hernani ou LřHonneur castillanŖ, der das Glück seines Rivalen tatsächlich in dessen Hochzeitsnacht zerstört Ŕ fordert Silřvio sein Recht erst Wochen nach der Eheschließung). Der Graf misst dann in seinem Kabinett zwölf Schritte ab, stellt sich in die Ecke und bittet Silřvio, schnell zu schießen. Silřvio zögert und bittet um Licht. Nachdem man Kerzen gebracht hat und er vom Grafen erneut gebeten worden ist zu schießen, nimmt Silřvio seine Pistole heraus, zielt lange und Ŕ lässt die Hand wieder sinken. Er bedauert, dass die Pistole nicht mit Kirschkernen geladen ist, die Kugel sei zu schwer. Im übrigen erscheine ihm ihr Tun nicht wie ein Duell, sondern wie ein Mord, er sei nicht gewohnt, auf einen Unbewaffneten zu zielen (eine fadenscheinige Begründung; denn bei dem vereinbarten Modus ist es gleichgültig, ob der Graf bewaffnet ist oder nicht. Entscheidend ist, dass er seinen Schuss schon abgefeuert hat). Der Forderung Silřvios entsprechend und gegen den Willen des Grafen wird das Duell von neuem begonnen. Das Los fällt wieder dem Grafen zu. Sein erzwungener Schuss trifft das Bild der Schweizer Landschaft (Der „FehlschussŖ, von dem der Graf spricht, wird freilich erkennbar als eine literarische Allusion auf „Wilhelm TellŖ. Wie sein erster Schuss, der in Silřvios bonnet de police traf, ist sein zweiter auf einen symbolischen Gegenstand gerichtet und signalisiert dem Gegner ein literarisches Duell. Hätte der Graf tatsächlich auf Silřvio gezielt, hätte er, der in guter Übung stand und, wie er bescheiden versichert, kein schlechter Schütze war, ihn in keinem der beiden Fälle auf 12 Schritt Entfernung verfehlt. Es ist aber zu bezweifeln, dass der Romanleser Silřvio das literarische Signal zu erkennen vermag). Nun beginnt Silřvio zu zielen. Die Gräfin stürzt ins Zimmer. Silřvio wehrt den Versuch des Grafen, das Duell zum Scherz zu erklären, mit maliziöser Ironie ab und zielt erneut auf den Grafen (In der Gegenwart einer Frau, was unter den Verstößen gegen den Ehrenkodex des Duells, die sich

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Silřvio zuschulden kommen lässt, der gröbste ist). Die Gräfin wirft sich ihm zu Füßen. Ihr Mann weist sie wütend zurecht und fragt den Rächer mit fast komischer Ungeduld: „Werden Sie nun schießen oder nicht?Ŗ (74). Silřvio wird nicht schießen, und er erklärt das mit der Satisfaktion, die ihm bereits zuteil geworden sei: „Ich habe deine Verwirrung gesehen, deine Ängstlichkeit; ich habe dich gezwungen auf mich zu schießen. Du wirst an mich denken. Ich überlasse dich deinem GewissenŖ (74). Im Fortgehen blickt sich Silřvio um und schießt, fast ohne zu zielen, in das Loch, das der Schuss des Grafen in der Schweizer Landschaft hinterlassen hat. Keines der Motive, mit dem Silřvio seine Satisfaktion begründet, kann überzeugen. Allen Kritikern des Grafen, die mit Silřvio darauf bestehen, dass er „ÄngstlichkeitŖ [robostř] gezeigt habe, muss entgegengehalten werden, dass er, wenn überhaupt, nicht für sich selbst fürchtete. Er hat sich Silřvio ohne Zögern zur Verfügung gestellt und ihn gebeten, schnell zu schießen, bevor seine Frau zurückkehre. Silřvio kann sich eigentlich nur auf den Schrecken berufen, den er dem Grafen und vor allem der Gräfin eingejagt hat. Der Graf hat auch nicht auf Silřvio geschossen, sondern auf symbolische Gegenstände, und er hat damit die Waffen gewechselt, ist vom Pistolenduell zum literarischen Zweikampf übergegangen. Der Graf hat nicht den geringsten Grund ein schlechtes Gewissen zu entwickeln. „ÄngstlichkeitŖ, die Silřvio an ihm zu entdecken glaubt, ist vielleicht dessen eigenes Problem. Das Gemeinsame der acht Situationen, in denen Silřvio in der Novelle einen erwarteten todbringenden Schuss nicht abgibt, ist das Bestreben, lieber den Gegner schießen zu lassen, als selbst zu schießen, ja den eigenen Schuss unter mannigfachen Vorwänden hinauszuschieben. Der Graf will Silřvio nicht erschießen. Silřvio hingegen kann seinen Gegner offensichtlich nicht erschießen. Er ist gar nicht imstande, dies zu vollbringen, worauf er mit dem Anschein von Großmut oder diabolischer Satisfaktion verzichtet. Obgleich wahrer Meisterschütze, vermag er keinen Menschen zu töten.24 Er tut nur Fliegen etwas zuleide. Fliegen sind tatsächlich die einzigen Lebewesen, die die Geschichte als Opfer von Silřvios Schießkunst bezeugt. Fliegenschießen bildet eine Äquivalenz mit Kirschkernespucken. Den Objekten ist die Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit gemein, und ihre Größenordnung wirft einen Schatten auf Silvios Rache. Darüber hinaus erweisen die ballistischen Tätigkeiten der Duellanten ihre Haltungen, und zwar die herausfordernde Lässigkeit des Grafen und Silřvios verbissene, letztlich vergebliche Vorbereitung der Rache. Daneben entfaltet Fliegenschießen ein erhebliches parömisches Potential. „Eine Fliege zerdrückenŖ (razdavitř oder zadavitř muchu) bedeutet im Russischen erheblichen Alkoholgenuss und korrespondiert mit den parallelen Übungen Silřvios in den beiden Künsten. Schließlich wird Fliegenschießen auch erkennbar als eine negative Ausfaltung der russischen Redensart „Er tut keiner Fliege etwas zu LeideŖ (On i muchi ne

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ubřřet). Silřvio, der buchstäblich Fliegen erschießt, tut im übertragenen Sinn keiner Fliege etwas zu Leide. Bei seinem theatralischen Abgang behält Silřvio Recht lediglich mit der Voraussage, dass man an ihn denken werde. Aber die Erinnerung wird kaum dem diabolischen Romantiker gelten, der sich mit einer schwer verwindbaren moralischen Demütigung gerächt hat, sondern eher dem Helden einer Schützenanekdote, der seine Kugel auf eine andere gesetzt hat und dessen „AndenkenŖ, das zweifach durchschossene Bild der Schweizer Landschaft, das Kabinett des souveränen Grafen schmückt. „Metel’“ Die Geschichte vom Schneesturm, die wegen ihrer scheinbaren Konventionalität und ihrer unwahrscheinlichen Zufälle auf die Kritik der Zeitgenossen stieß, bietet in ihrem intertextuellen Spiel25 und in der Ausfaltung von Redeklischees eine brillante Studie zur Psychologie der Liebe und zur Philosophie des Schicksals. Die Novelle ruft zwei Archi-Sujets auf. Sie scheint zunächst dem Schema der Entführung und heimlichen Trauung zu folgen, erweist sich dann aber als Realisierung einer anderen, nicht minder konventionellen Sujetschablone, nämlich der Liebe einander nicht erkennender Ehepartner. Vom einen zum anderen Sujet übergehend, tauscht der Autor auch den Helden aus, der sein Sujet nicht realisieren konnte. Den Wechsel der Sujets überleben nur Marřja Gavrilovna, die weibliche Hauptfigur, und parömische Mikrotexte. Mit knappen Strichen und unüberhörbarer Ironie skizziert der distanzierte Erzähler die Geschichte der eingebildeten Liebe zwischen dem blassen siebzehnjährigen Gutsfräulein und dem „von ihr ausgewählten GegenstandŖ (77), dem armen Fähnrich Vladimir, den ihre Eltern als Bräutigam ablehnen. Der nach literarischen Mustern geschmiedete Entführungsplan scheitert. Nicht dass die Braut zurückgeschreckt wäre. Obwohl sie gewisse Zweifel an dem Unternehmen nicht ganz zurückstellen kann und offensichtlich auch ungern von dem gemütlichen Zuhause und ihren geliebten Eltern scheidet, bricht Marřja Gavrilovna nächtens in den tobenden Schneesturm auf. Und der Kutscher Tereńka bringt sie pünktlich zur Kirche. Auch der Priester und die drei Zeugen sind zur Stelle. Nur der Entführer findet den Weg zur Trauung nicht. Die Entführung wird vom Schneesturm verhindert, der Vladimir als einzige der acht Personen, die sich bei der Kirche verabredet haben, so in die Irre leitet, dass er die Trauung versäumt. Damit erweist sich das tobende Element als Werkzeug eines wohlmeinenden Schicksals, das die beiden Möchte-gern-Liebenden vor einer unglücklichen Ehe bewahrt. Vergleicht man die Novelle mit ihren Prätexten, unter denen vornehmlich der russische Muttertext der Brautentführung und der geheimen Trauung, Karamzins „Natalřja, bojarskaja doĉřŖ (Natalřja, die Bojarentochter, 1792), zu beachten ist, wird deutlich, woran Vladimir scheitert. Der arme Fähnrich scheitert nicht an den sozialen Verhältnissen, wie mancher Interpret postuliert, sondern am Wider-

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spruch zwischen der Poesie des literarischen Sujets, das er sich zu existentialisieren anschickt, und der Prosa seines Charakters. Vladimir hat seinen Plan zwar sorgfältig ausgearbeitet und auch an alles gedacht, aber seine umständlichen Vorkehrungen verraten keine eigentliche Leidenschaft. Der Warnungen der Prätexte uneingedenk, übernimmt Vladimir die Entführung der Braut nicht selbst, sondern überträgt sie seinem Kutscher. Gewiss, Tereńka ist „zuverlässigŖ, und er selbst hat sich an dem Tag um vielerlei zu kümmern und tut dies auch äußerst gewissenhaft, aber hat er nicht die Prioritäten ein wenig verschoben? Hätte er sich nicht in erster Linie um das junge Mädchen kümmern müssen? Konnte er sich dessen so sicher sein, dass die Siebzehnjährige, die lange geschwankt hatte, nicht in letzter Minute anderen Sinnes werden würde? Und hat er nicht bedacht, dass in der Literatur der Zeit Geschichten kursierten Ŕ etwa die „wahre BegebenheitŖ, die unter dem Titel „Kto by ėto predvidel?Ŗ (Wer hätte das vorausgesehen?) 1818 in der Zeitschrift „BlagonamerennyjŖ abgedruckt war Ŕ, in denen die Helfer die zu Entführende betörten. Vladimirs drei Trauzeugen sind dann ja auch so um die hübsche Siebzehnjährige bemüht, dass sie den unversehens aus dem Sturm auftauchenden Burmin für den Bräutigam halten und in die Kirche rufen, wo er sich mit der wartenden Braut, von deren Attraktivität er sich in einem Augenblick überzeugt hat, trauen lässt. Dass er danach sogleich wieder in das tosende Element aufbricht, begründet das zweite Sujet der Novelle, das Wiedersehen und die gegenseitige Werbung vom Schicksal lange getrennter Eheleute. Zwischen den beiden Archi-Sujets vermittelt ein drittes Sujet, das Sujet des sterbenden Bräutigams, das in Marřja Gavrilovnas schrecklichen Traumgesichten in der Nacht vor ihrer Flucht inszeniert wird. Bald scheint dem Mädchen, dass in dem Augenblick, da sie sich in den Schlitten setzt, um zu der Trauung zu fahren, der Vater sie aufhalte, über den Schnee zerre und in ein dunkles, unterirdisches Verlies werfe. Bald sieht sie Vladimir bleich und blutüberströmt im Gras liegen. Sterbend fleht er sie an, sich eilends mit ihm trauen zu lassen. Diese Träume haben, wie oft bei Puńkin, sowohl eine retrospektiv-psychologische als auch eine prospektiv-sujetantizipierende Funktion. Das „dunkle VerliesŖ, in das sie „mit einer unbeschreiblichen Enge in der BrustŖ (78) hinabstürzt, lässt sich in zweifacher Hinsicht als Bild einer Ehe deuten, als Traumreflex der gefürchteten Verbindung mit dem ungeliebten Vladimir und als Antizipation jenes traurigen Zustands, den die mit Burmin in seinem „grausamenŖ Scherz getraute Frau zu durchleben haben wird. Die Träume nehmen in ihrer Symbolsprache die kontrastierenden Geschichten der beiden Männer vorweg, deren Los auf sehr unterschiedliche Weise von dem Schneesturm entschieden wird. In Burmins Sujet werden sich der Tod des Bräutigams und das dunkle Verlies allerdings nur als Durchgangsepisoden auf dem Weg zum finalen Glück erweisen. Der Bräutigam wird wiederauferstehen und die Braut aus ihrem Gefängnis befreien. Das Motiv des sterbenden Bräutigams wird durch ein ganzes Bündel intertextueller Bezugnahmen aktiviert. Es muss zunächst als Anspielung auf Vasilij Ņukovskijs Ballade „SvetlanaŖ (1812) betrachtet werden, der schon das ausführli-

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che Motto der Novelle entnommen ist. Ņukovskij wiederum hat Ŕ nach seiner Ballade „LjudmilaŖ (1808) zum zweiten Mal Ŕ Motive aus Gottfried August Bürgers „LenoreŖ (1773) verarbeitet. Von besonderer Bedeutung für Puńkin war die ironische Kontrafaktur, die der amerikanische Erzähler Washington Irving in seiner Novelle „Spectre BridegroomŖ (1819) Bürgers moralischer Ballade entgegengesetzt hatte. Während bei Bürger der tote Bräutigam die Geliebte in das kühle Brautbett des Grabes führt, teilt Irving die Funktionen des Bräutigams auf zwei Figuren auf. Der Bräutigam wird auf dem Weg zur Trauung von Räubern erschlagen. Sein Freund aber, der der Hochzeitgesellschaft die traurige Nachricht übermitteln muss, ist von der schönen Braut so angetan, dass er sich selbst als den Bräutigam ausgibt (den die Frau noch nicht zu Gesicht bekommen hat). Die explizite Charakteristik der beiden Helden ist imstande, die wenig bestimmten Porträts von Puńkins Helden zu konkretisieren. Vom Bräutigam, dem Pendant Vladimirs, heißt es: ŖThough not the most ardent of lovers, he was one of the most punctilious of men.ŗ Und Burmins Charakter scheint im geistesgegenwärtigen und einfallsreichen Freund vorweggenommen: ŖHe was a passionate admirer of the sex, and there was a dash of eccentricity and enterprise in his character that made him fond of all singular adventure.ŗ26 Nach Jahren der Trennung führt ein wohlwollendes Schicksal Puńkins Eheleute wieder zusammen, die einander erst erkennen, nachdem Burmin seine Geschichte der windigen Trauung erzählt hat. Und gemäß der Liebesdoktrin der comédie larmoyante, die gegen die libertinistische Lebensauffassung des Adels die Vereinbarkeit von Ehe und Liebe demonstrierte, verlieben sich diejenigen ineinander, die, ohne es zu wissen, schon miteinander verheiratet sind. Es bewahrheitet sich damit das zentrale Sprichwort der Novelle, auf das sich die Eltern berufen hatten: „Dem beschiedenen Bräutigam entkommst du auch zu Pferde nichtŖ (Suņenogo i konem ne obřředeńř). Die Eltern hatten freilich Vladimir im Auge, den sie angesichts der Ŕ wie ihnen schien Ŕ vor Liebe kranken Tochter nun akzeptieren wollten. Von der schicksalhaften Begegnung mit Burmin konnten sie Ŕ ebenso wie der Leser Ŕ nichts wissen. Die Verschiebung von einer Figur zur anderen ist ein typisches Verfahren in Puńkins Realisierung von Parömien. Das Sprichwort alludiert überdies auf Nikolaj Chmelřnickijs Vaudeville „Suņenogo konem ne obřředeńř, ili Net chuda bez dobraŖ (Dem Beschiedenen entkommt man auch zu Pferde nicht, oder Jedes Übel hat auch sein Gutes), in dem ein Bräutigam, „der langweiligste und schlaffeste junge MannŖ, von einem vorbeireisenden, im Krieg verwundeten Husarenoffizier ausgestochen wird, der in Abwesenheit der Herren das Kommando über das Schloss der Braut ergreift und die Braut, das „lebendigste und allerfröhlichste MädchenŖ, mit seiner Frechheit im Nu für sich gewinnen kann.27 Als auf Marřja Gavrilovnas Schloss der im Napoleonfeldzug verwundete Husarenoberst Burmin mit dem Georgskreuz im Knopfloch und mit „interessanter BlässeŖ erscheint, verliert die junge Frau, wie Artemisia eine jungfräuliche Witwe, ihre ganze Kühle. Eines beunruhigt sie: „Sie konnte nicht verkennen, dass

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sie ihm gefiel; […] aber aus welchem Grund hatte sie ihn bisher noch nicht zu ihren Füßen gesehen?Ŗ (84). Die finale cognitio und Burmins Fußfall vor Marřja Gavrilovna, mit dem er eine ostinate Figur (se jeter aux pieds Ŕ brosatřsja k nogam) sowohl der comédie larmoyante als auch aus „Natalřja, bojarskaja doĉřŖ zitiert, kommen freilich erst zustande, nachdem die Eheleute in einem wahren Duell die Waffen der Literatur gekreuzt haben, nur um ihr geheimes Ehehindernis zu offenbaren. In diesem Duell werden einerseits verbale sowie situationelle Zitate aus französischen Rührstücken des 18. Jahrhunderts, allen voran PierreClaude Nivelle de la Chaussées „La fausse antipathieŖ (1733) und Michel Guyot de Mervilles „Les époux réunis, ou La veuve fille et femmeŖ (1738) eingesetzt, andererseits operieren die Eheleute mit Reminiszenzen an Benjamin Constants Roman „AdolpheŖ (1815) und zitieren Stellen aus Rousseaus Briefroman „Julie ou La nouvelle HéloïseŖ (1761). In dessen 18. Brief des III. Teils werden Motive der Liebe berührt, die Puńkin durch seine Allusion möglicherweise für die Beziehung zwischen Marřja Gavrilovna und Burmin aktivieren wollte. Es sind dies die Liebe auf den ersten Blick und die natürliche Bestimmung der Liebenden füreinander. Julie erklärt dem Geliebten, dass ihm ihr Herz „vom ersten Anblick anŖ (dès la première vue) gehört habe, dass sie „füreinander gemachtŖ (faits lřun pour lřautre) seien und dass, wenn die menschliche Ordnung nicht die Naturgesetze gestört hätte, sie ihm angehören würde. In einer Fußnote zu dieser Stelle polemisiert Rousseau mit Samuel Richardson, der über „solche Zuneigungen, die gleich beim ersten Anblick entstehenŖ und auf „unerklärbaren ÜbereinstimmungenŖ (conformités indéfinissables) gegründet sind, ganz zu Unrecht spotte.28 Die Liebestheorie des Franzosen kann offensichtlich auch auf Puńkins Novelle angewandt werden. Der flüchtige Blick, den Marřja Gavrilovna und Burmin in der schlecht beleuchteten Kirche aufeinander werfen, ist der Beginn einer schicksalhaften Liebe, und sie gründet auf solchen „unerklärbaren ÜbereinstimmungenŖ, deren Existenz Rousseau gegen Richardson verteidigt hat. Inwiefern aber sind die beiden füreinander bestimmt? Nicht der arme Fähnrich, der die Literatur zu wörtlich genommen hat, sondern der windige, belesene „Sturm-MannŖ erweist sich als der Beschiedene der ebenfalls windigen Liebhaberin der Literatur. Marřja Gavrilovna ist ja nicht so ohne weiteres die Engelsunschuld der Madonna Laura zu attestieren, der die im Text zitierten Worte Petrarcas (aus dem „CanzoniereŖ) gelten: „Sřamor non è, che dunque…?Ŗ Vielleicht hat sie auch ein wenig von der Raffinesse jener Kurtisane Nanna der „RagionamentiŖ des satirisch-frivolen Renaissancedichters Pietro Aretino, an deren Haus die Kavaliere mit einem „Taschen-PetrarcaŖ in der Hand vorbeireiten, die besagte Zeile singend. Wie dem auch sei, Marřja Gavrilovna und Burmin sind bewegliche Helden, sie vertrauen auch den poetischen Schemata nicht blindlings, sondern machen sie sich für die Durchsetzung ihrer Interessen zunutze. Das von beiden Seiten mit den Waffen der Psychologie und der Literatur geführte Duell zeigt, dass sie gleichwertige Partner und füreinander buchstäblich prä-„destiniertŖ sind.

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„Grobovščik“ Die Novelle, die Puńkin als erste geschrieben, aber dann in die Mitte des Zyklus gesetzt hat, präsentiert mit der städtisch-kleinbürgerlichen Welt des russischen Sargmachers Adrijan Prochorov und seiner deutschen Handwerker-Kollegen den prosaischsten Wirklichkeitsausschnitt, ist jedoch in ihrer Faktur und auch in der Klanginstrumentierung des Textes, die am stärksten poetisch organisierte. Sie scheint der künstlerische Reflex eines Paradoxons zu sein, das Puńkin im Spätsommer 1830 nachdrücklich zu Bewusstsein gebracht wurde. Am 20. August war sein Onkel, der Dichter Vasilij Lřvoviĉ Puńkin gestorben, und Aleksandr, dem die Ausrichtung der Bestattung oblag, hatte Gelegenheit, den Geschäftsgeist der Moskauer Sargmacher kennenzulernen. Die Paradoxie vom gewinnbringenden Tod, die auch in Puńkins Briefen dieser Zeit auftaucht, ist die Ausgangsformel für die Novelle. Die Ereignishaftigkeit der Novelle beruht auf einer klaren Opposition. Wir sehen den Sargmacher zunächst bei seinem Umzug in das neue Haus, das seine Vorstellung lange gereizt und das er schließlich für eine beträchtliche Summe erworben hat. Mit Verwunderung spürt er, dass „sein Herz sich nicht freutŖ. Die aller Erwartung widersprechende postoperative Depression (die in Puńkins Werk auch den fiktiven Autor von „Istorija sela GorjuchinaŖ [Geschichte des Dorfes Gorjuchino] und das lyrische Ich der Elegie „TrudŖ [Das Werk] befällt) ist die Ausgangssituation der Novelle. Die Geschichte endet aber mit dem Zustand der Freude. Der „erfreuteŖ Sargmacher lässt am Ende seine beiden Töchter rufen, die er bisher nur gescholten und geschurigelt hat, und lädt sie zum gemeinsamen Teetrinken ein. Was ist geschehen? Halten wir zunächst fest. Prochorov gebricht es am Gefühl für die Besonderheit seiner Profession, und er hat sich nie die Paradoxie bewusst gemacht, dass er vom Sterben lebt. Er transportiert seine Habseligkeiten auf dem Leichenwagen und stapelt seine „WerkeŖ (proizvedenija), die Särge, in der Wohnstube. Weil die Geschäfte schlecht gehen, ist er ständig in düsterer Stimmung. Der Eigenart und Unvergleichbarkeit seiner Waren und Dienstleistungen uneingedenk, möchte es der gewinnsüchtige Handwerker den Kollegen anderer Branchen gleichtun. So bietet das Ladenschild, das Prochorov an dem neuen Haus aufhängen lässt, neben dem Verkauf von Särgen auch ihren Verleih sowie ihre Reparatur an. Das Schild enthält ein ähnliches Angebot wie der Aushang am alten Haus, der besagt, dass das Haus zu verkaufen oder zu vermieten sei. Es stellt sich somit eine Äquivalenz von Sarg (grob) und Haus (dom) her, die in der gesamten Erzählung eine organisierende Rolle spielt. Der Sargmacher lebt auch im neuen Haus, das Gelb, die Farbe der Toten, trägt, wie in einem Sarg. Die düsteren Überlegungen, dass die Erben der schon ein Jahr im Sterben liegenden Kauffrau Trjuchina möglicherweise nun einen näher gelegenen Unternehmer beauftragen könnten, werden durch den Besuch des deutschen Schusters Gottlieb Schulz unterbrochen, der den neuen Nachbarn und dessen Töchter zu seiner Silberhochzeitsfeier einlädt. Natürlich fragt der Sargmacher den Schus-

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ter sogleich nach dem Gang der Geschäfte. Der fröhliche Deutsche antwortet: „He, he, he! Mal so, mal so. Ich kann nicht klagen. Wenn meine Ware natürlich auch nicht mit Eurer zu vergleichen ist: Ein Lebender kommt auch ohne Stiefel aus, aber ein Toter kann ohne Sarg nicht lebenŖ (90). Der Deutsche hat ein Sprichwort benutzt; wie er aber in einem Russisch spricht, „das wir bis heute nicht hören können, ohne lachen zu müssenŖ (90), so hat er auch das Redeklischee ein wenig verballhornt. Richtig sagt man im Russischen: „Ein Lebender kommt ohne Stiefel aus, aber ein Toter kommt nicht ohne Sarg aus.Ŗ29 Da er also offenbar in der russischen Parömiologie nicht ganz firm ist, gibt der Deutsche der Volksweisheit unfreiwillig eine Wendung ins Absurde. Prochorov aber nimmt, der drohenden Ungereimtheit nicht achtend, die figürliche Rede wörtlich und steigert sie unwillentlich zu einer Absurdität, die bloßlegt, dass er von den Toten wie von Lebenden denkt: „Wie wahrŖ, bemerkte Prochorov, „doch wenn der Lebende kein Geld hat, um sich Stiefel zu kaufen, dann Ŕ nimm es mir nicht übel Ŕ geht er eben barfuss; ein Toter, der nichts hat, nimmt sich den Sarg aber umsonstŖ (90). Auf der Silberhochzeitsfeier kommt es zur Peripetie. Nachdem alle Handwerker auf die Gesundheit ihrer „KundleuteŖ30 (91) getrunken haben, wendet sich der Wachmann Jurko seinem Tischnachbarn Prochorov zu und fordert ihn auf, auf die Gesundheit seiner Toten zu trinken. Das Oxymoron des betrunkenen Jurko und die Paradoxie, die es aufdeckt, muss von den Anwesenden sogleich verstanden worden sein; denn alle brechen in lautes Gelächter aus. Prochorov aber wähnt sich Ŕ zu Unrecht Ŕ in seiner Berufsehre gekränkt. Die Deutschen lachen offensichtlich nicht, um sich über Prochorov oder sein Gewerbe lustig zu machen, sondern um sich von dem Druck der Paradoxie zu befreien, die in der oxymoralen Rede Jurkos aufgedeckt wurde. Der Witz führt im spontanen lauten Lachen zu einer kathartischen Entlastung von dem, was alle insgeheim bedrückt. Prochorov aber kann nicht mitlachen; denn er hat, vom absurden Verständnis seines Gewerbes geblendet, keinen Sinn für den Witz seiner Paradoxie. Nach Hause gekommen, beschließt der betrunkene und erzürnte Sargmacher, zu seiner Einzugsfeier nicht die „UngläubigenŖ (92), die deutschen Nachbarn, einzuladen, sondern die, „für dieŖ er „arbeitetŖ, die „rechtgläubigen TotenŖ. Damit aber treibt er sein widersinniges Denken und Reden von den Toten wie von Lebenden bis zur äußersten Konsequenz. Die blasphemische, allen christlichen Todes- und Jenseitsvorstellungen zuwiderlaufende Einladung, die die Bedienerin schaudern macht, ist die letzte Stufe in der Verkehrung des wahren Paradoxen ins falsche Absurde. Was veranlasst Prochorov dazu, seine Toten einzuladen? Er möchte seinen „WohltäternŖ den Dank des erfolgreichen Geschäftsmanns abstatten. Er tut damit ein Gleiches wie der Bäcker und der Buchbinder, die, „das russische Sprichwort ‚Bezahlte Schuld bringt HuldŘ befolgendŖ (92), nach der Silberhochzeitsfeier den volltrunkenen Wachmann Jurko unter den Armen fassen und zu seinem Wachhäuschen schleppen, womit sie all die Dienste entgelten, die Jurko den

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Nachbarn so oft erwiesen hat. Aber die makabre Einladung hat noch ein tieferes Motiv. Die Aufforderung des Gesetzeshüters, auf die Gesundheit seiner Toten zu trinken, rührt an den empfindlichen Punkt im Denken Prochorovs. Der Sargmacher stellt sich ja Ŕ die christliche Dichotomie von Seele und Körper missachtend Ŕ die Toten lebend vor, lebend in den von ihm angefertigten Särgen. Hier kommt aufs Neue die Äquivalenz von Haus und Sarg ins Spiel. Prochorov, der in seinem neuen, gelben Haus wie in einem Sarg lebt, denkt sich die Särge der Toten als Häuser, als Häuser, die er ihnen baut (Deshalb kann es für ihn auch keine unbedeutende Schwindelei sein, wenn er Fichtensärge für Eichensärge verkauft). Nun erkennen wir das entscheidende Motiv der Einladung. Prochorov muss sich an die Toten selbst wenden, aber nicht etwa, damit sie die Ehrenhaftigkeit seines Gewerbes bestätigen, wie viele der Interpreten konjizieren, die den Sargmacher ausgelacht oder seinen Beruf als ehrlos verspottet glauben. Prochorov wird sich von den Toten eine Rechtfertigung seines Denkens erhoffen. Gerechtfertigt aber wäre seine Vermischung von Leben und Tod, seine Realisierung des Sprichworts von den Toten, die ohne Sarg nicht leben können, allein durch die Existenz der lebenden Toten. In Prochorovs Traum, der zur Tageswirklichkeit spiegelbildliche Äquivalenzen bildet, erfüllen sich die beiden Wünsche, die er im Wachen gehegt hat: Er wird mit der Beerdigung der alten Trjuchina beauftragt, und die Toten beweisen, dass sie leben. Der erste Teil des Traums, der, ohne auch nur im geringsten seinen onirischen Status zu signalisieren, irreführend realistisch den Tag darzustellen scheint, zeigt den Sargmacher bei der Arbeit. Ein vom Verwalter der Trjuchina geschickter Bote hat ihm die lange schon erwartete Nachricht gebracht, und Prochorov macht sich sogleich auf den Weg zur Verstorbenen, die, „gelb wie WachsŖ, aufgebahrt ist. Im Gespräch mit dem Erben, der sich in allem auf Prochorovs „GewissenŖ verlässt, ruft der Sargmacher, wie er das immer tut, Gott zum Zeugen dafür an, dass er nichts Überflüssiges berechnet, und wechselt einen vielsagenden Blick mit dem Verwalter. In seinem zweiten, dem nächtlichen Teil nimmt der bislang durchaus realistische Traum in kaum merklichem Übergang phantastische Züge an. Die irrealen Prämissen des im Rausch und Zorn gesprochenen Einladungsworts werden in der makabren Einzugsfeier wahr. Der Sargmacher weiß im Traum jedoch nichts von seinen gotteslästerlichen Worten des Tages. Deshalb wundert ihn, als er sich seinem Haus nähert, dass jemand zu so später Stunde noch durch die Pforte tritt. Beim Anblick der Festgesellschaft, die sich in seinem Haus versammelt hat, versagen ihm die Beine den Dienst, und mit Entsetzen erkennt er unter den Gästen einige, die mit seinen Bemühungen beerdigt worden sind. Bei aller Phantastik bleibt die Welt jedoch so prosaisch wie vordem und bewahrt auch völlig ihre soziale Ordnung. Welch grauenerregendes Bild das durchs Fenster hereinfallende Mondlicht auch beleuchten mag, „gelbe und blaue Gesichter, eingefallene Münder, trübe, halbgeschlossene Augen und spitze NasenŖ, Prochorov sieht die Toten weiterhin für Lebende an. Die „Damen und MännerŖ umringen ihn mit Begrüßungen und „VerbeugungenŖ Ŕ Gesten, die an die

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Ehrenbezeigungen der toastenden Deutschen auf Schulzens Feier erinnern. Nur ein „ArmerŖ, der kürzlich „umsonstŖ beerdigt worden ist, steht, sich seines ärmlichen Aufzugs schämend, bescheiden in der Ecke (Wir erkennen in ihm den „TotenŖ aus Prochorovs Rede wieder, der „nichts hatŖ und sich den Sarg „umsonst nimmtŖ). Die übrigen Gäste sind aber alle „wohlanständigŖ gekleidet, jeder seinem Geschlecht, Beruf und Rang entsprechend. Die Toten benehmen sich, auch wenn die körperliche Verfassung einiges zu wünschen übrig lässt, durchaus irdisch-alltäglich. Sie beweisen zunächst Anstand und Liebenswürdigkeit, und als Prochorov einen der ihren ungebührlich behandelt, treten sie sogar „für die Ehre ihres KameradenŖ (94) ein. Das kleine Skelett Kurilkins hat es trotz seines schlechten Allgemeinzustands (seine Beinknochen schlottern in großen Kanonenstiefeln wie Stößel in Mörsern, und die Fetzen seiner Kleidung hängen an ihm wie an einer Stange) nicht über sich bringen können, „zu HauseŖ zu bleiben. Er wird nicht wiedererkannt und bringt sich deshalb in Erinnerung als derjenige, dem der Sargmacher seinen ersten Sarg verkauft hat Ŕ „und noch dazu einen Fichtensarg für einen EichensargŖ (94). Die Erinnerung an den Betrug ist keineswegs vorwurfsvoll gemeint, vielmehr soll sie Prochorov erleichtern, sein Gegenüber zu identifizieren. Wie wenig nachtragend der Tote ist, beweist er damit, dass er seine knöchernen Arme ausbreitet, um den Sargmacher an sich zu drücken. Aber Prochorov nimmt all seine Kraft zusammen, schreit auf, stößt das Skelett zurück und Ŕ versetzt dem Toten damit einen tödlichen Stoß. Den Sargmacher, der trotz aller absurden Verkehrung seiner Paradoxien und seines Lebens im Sarg sowie seiner Einladung der Toten ein lebendiger Mensch geblieben ist und wie ein solcher empfindet, entsetzt natürlich die Umarmung des blanken Knochengerüsts. Das Grauen, mit dem der lebendige Mensch auf die Liebenswürdigkeit des Skeletts reagiert, straft seine Orthodoxie, seinen wahren Glauben an die lebenden Toten Lügen. Empört über die schlechte Behandlung ihres Kameraden, rücken die Toten ihrem Gastgeber „mit Schmähreden und DrohungenŖ zu Leibe. Prochrorov, betäubt von ihrem Schreien und nahezu erdrückt, stürzt auf die Knochen Kurilkins und verliert das Bewusstsein. Als der Sargmacher bei strahlendem Sonnenschein erwacht, ist er Ŕ anders als viele seiner literarischen Vorläufer Ŕ keineswegs erleichtert; denn er vermag den onirischen Tag noch nicht als Traum zu erkennen. Erst als ihm die Dienerin eröffnet, dass es „gesternŖ keine Beerdigung gegeben hat, ist Prochorov „erfreutŖ. Erst jetzt ersteht er von jenem todesähnlichen Zustand auf, den sein Leben im Sarg bedeutete. Den geschäftlichen Verlust, der ihn gestern noch betrübt hätte, leicht verschmerzend, wendet er sich dem Leben zu. An dem völlig zerfallenen Kurilkin, dem doppelt Gestorbenen, hat er erlebt, was Tod bedeutet. Und am eigenen Leib hat er sich davon überzeugen können, welch unangenehme Konsequenzen es für ihn hätte, wenn die Toten tatsächlich lebten. Mit dem Grauen und der Furcht vor dem Tode hat Prochorov seine Schuld bezahlt, die Schuld vor dem Leben. Mit der Rückzahlung aber wird die Schuld „schönŖ, wie das zentrale Sprichwort der Novelle sagt: „Dolg plateņom krasenŖ (Bezahlte Schuld bringt

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Huld). Die Befriedigung, die die Parömie nicht zu Unrecht verheißt, wird auch ein Teil seiner neuen Freude sein. Mit der Einladung der Töchter zum Tee setzt Prochorov der verhängnisvollen Einladung der Toten zur Einzugsfeier einen lebensbejahenden Kontrapunkt entgegen. „GrobovńĉikŖ ist mit dem Parallelismus von Tag und Traum und der Äquivalenz der Feste in höchstem Maße paradigmatisch strukturiert. Die Entfaltung der Parömien organisiert die gesamte Geschichte. Auch die Intertextualität steuert die Rezeption mit mehr oder weniger expliziten Allusionen. Wir registrieren Anspielungen auf Shakespeare („HamletŖ) und Walter Scott („The Bride of LammermoorŖ) und auf phantastische Erzählungen der russischen Romantik, allen voran die von Puńkin sehr geschätzte Novelle „Lafertovskaja makovnicaŖ (Die Mohnkuchenverkäuferin von Lafertovo) des russischen Hoffmann-Epigonen Alesandr Pogorelřskij-Perovskij. Das absurde Ladenschild, das den eine gesenkte Fackel tragenden feisten Amor darstellt, verweist einerseits auf das Freimaurerritual und andererseits auf funerale Texte und Embleme des 18. Jahrhunderts, besonders auf Texte Derņavins, der auch in der Figur des Kurilkin aufgerufen wird.31 Der Gesetzeshüter Jurko figuriert in der Geschichte als Hermes Pylaios, Beschützer des Tores, als Psychopompos, der Prochorov den Abstieg in das Reich der Toten bereitet, und als der für die Träume Zuständige. Damit ist eine Auto-Allusion Puńkins auf sein frühes Gedicht „Tenř Fon-VizinaŖ (Der Schatten Fonvizins, 1816) verbunden, in dem der tote Dramendichter in Hermesř Begleitung Derņavin, den senilen „Sänger EkaterinasŖ, besucht. Auf der metapoetischen Ebene können wir im cauchemare des Sargmachers eine Autoparodie des Poeten Aleksandr Puńkin sehen, der die Todes- und Jenseitsmetaphorik seiner Lyrik prosaisch verfremdet. Man kann die Novelle auch Ŕ wie Bethea und Davydov32 vorgeführt haben Ŕ als metapoetische Autobiographie lesen. Der prosaische Held mit den Initialen A. P. (im Entwurf A. S. P.) hat die Produktion seiner „WerkeŖ 1799 begonnen. Bei dem Umzug in das neue Haus, in dem er ein „heilloses DurcheinanderŖ vorfindet, seufzt er seinem alten Häuschen nach, „wo achtzehn Jahre lang alles nach der strengsten Ordnung eingerichtet warŖ (89). Puńkin, so dechiffrieren die beiden Autoren, stand 1830 im achtzehnten Jahr seines Schaffens, und die russische Prosa war ein Haus, in dem man streng die Regeln befolgte. „Stancionnyj smotritel’“ Ein empfindsamer Reisender, der in einem sentimentalistischen Prolog die russischen Stationsaufseher gegen ihren schlechten Ruf zu verteidigen sucht (und sich dabei in Widersprüche verwickelt), erzählt von einem Aufseher, dessen Andenken ihm teuer ist, und von drei Begegnungen auf seiner Station. Bei seinem ersten Besuch macht er die Bekanntschaft Samson Vyrins, eines rüstigen Witwers, und dessen liebreizenden Töchterchens Dunja, das einerseits Ŕ wie der Vater stolz hervorhebt Ŕ „so verständig ist, so flink, ganz die selige MutterŖ, das andererseits aber Ŕ was der Erzähler selbst zu bezeugen weiß Ŕ „ohne jede Schüchternheit, wie ein Mädchen, das die große Welt gesehen hatŖ, mit den Rei-

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senden umzugehen versteht, ja sich von dem durchreisenden Erzähler im Hausflur küssen lässt. Nach einigen Jahren führen die Umstände den Erzähler zu der Station zurück. Ihr Aufseher ist auffällig gealtert. Er lebt allein in dem nun verwahrlosten Haus. Die Balsaminen an den Fenstern, die dem Reisenden beim ersten Besuch aufgefallen waren, sind verschwunden, aber an den Wänden hängen noch jene vier Bilder, die das Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellen. Durch einige Glas Punsch gesprächig gemacht, erzählt der Stationsaufseher die traurige Geschichte seiner „armen DunjaŖ, eine Geschichte, die den Erzähler Ŕ wie er unterstreicht Ŕ „damals tief ergriff und rührteŖ (100). Ein junger Offizier, auf den Dunja dieselbe besänftigende Wirkung ausübte wie auf andere ungehaltene Reisende hat sich unter Vortäuschung einer plötzlichen Erkrankung einige Tage von Dunja liebevoll pflegen lassen und die Tochter dann nach Petersburg entführt. Kaum von der Krankheit genesen, die ihn nach dem Schrecken niedergeworfen hat, hat sich der Alte zu Fuß auf den Weg in die Stadt gemacht. Aber alle Versuche, sein „verirrtes SchäfchenŖ heimzuführen, sind gescheitert. Minskij, der Verführer, hat ihn zweimal vor die Tür gesetzt. Vyrin lebt jetzt das dritte Jahr allein und hat von Dunja nie wieder etwas gehört. Als er in Petersburg war, hat er gesehen, dass sie in Luxus lebte, aber man weiß ja, wie es geht in der großen Welt: „Sie ist nicht die erste und nicht die letzte, die ein durchreisender Nichtsnutz erst verführt, dann ausgehalten und schließlich sitzengelassen hatŖ (105). Beim dritten Besuch ist die Station aufgehoben. Der Erzähler erfährt von der dicken Bierbrauersfrau, die jetzt mit ihrem Mann das Haus bewohnt, dass sich Vyrin zu Tode getrunken hat. Ihr zerlumpter, rothaariger und einäugiger Sohn zeigt dem Reisenden Vyrins Grab auf dem verwahrlosten Friedhof, indem er auf einen Sandhaufen springt, in dem ein Kreuz steckt. Im Sommer sei eine schöne Dame vorbeigekommen Ŕ berichtet der Junge Ŕ in einem Wagen mit sechs Pferden, sie sei von drei kleinen Herrchen, einer Amme und einem schwarzen Mops begleitet gewesen. Auf die Nachricht, dass der Stationsaufseher gestorben sei, sei sie in Tränen ausgebrochen, habe sich am Grab, zu dem sie den Weg selbst gefunden habe, auf den Boden gelegt, habe dort lange gelegen und sei wieder weggefahren. Wie dem Vater, dessen Befürchtungen vom typischen Verlauf moralischer Geschichten geprägt waren, so erschien auch den zeitgenössischen Kritikern und vielen späteren Interpreten Dunjas Geschichte als Wiederholung des beweinenswerten Schicksals all der armen Lizas, Mańas und Marfas, die Ŕ nach dem Muster von Karamzins „Bednaja LizaŖ von einem Adligen verführt und ins Unglück gestürzt Ŕ die sentimentalistische Massenliteratur im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bevölkerten. Das konventionelle Schema hielt viele Rezipienten so sehr in seinem Bann, dass sie die entscheidende Abweichung in Puńkins Geschichte gar nicht wahrhaben wollten, nämlich Dunjas Glück und Vyrins Ŕ scheinbar Ŕ tragischen Irrtum. Aber auch dort, wo man die Differenz zur Folie durchaus zur Kenntnis nahm, tendierte man zu einer sozialen Begründung vom Untergang Vy-

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rins. Mehrere Verfilmungen33 haben diese Sicht kanonisiert, und „Stancionnyj smotritelřŖ ist zum Prototyp der in der russischen Literatur paradigmatisch gewordenen Erzählung vom kleinen Beamten avanciert, ja, er markiert für viele den Beginn der den Realismus prägenden Literatur der sozialen Anklage. Die drei diegetischen Verfahren halten jedoch Sinnpotentiale bereit, die die konventionelle Leseweise entschieden in Frage stellen. Betrachten wir zunächst die zentrale Parömie der Geschichte. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Minskij, von der vorgetäuschten Krankheit wieder genesen, zur Weiterreise aufbricht und sich anerbietet, Dunja, die im Begriff ist, zum Gottesdienst zu gehen, in seiner Kutsche „bis zur Kirche zu fahrenŖ. Vyrin redet Dunja, die „unentschlossenŖ dasteht, gut zu: „Wovor fürchtest du dich? Seine Hochwohlgeboren sind doch kein Wolf und werden dich schon nicht fressen. Fahr nur bis zur Kirche mitŖ (102). Ohne es zu wissen, gibt der Vater mit seiner Redensart der ganz gegen ihre Art diesmal seltsam zögerlichen Tochter nicht nur den letzten Anstoß zu einem Handeln, das Minskij möglicherweise mit ihr abgesprochen hat. Die redensartliche Metapher erweist sich auch als Sujetformel, die in nuce die ganze Geschichte enthält. Gegen ihren lokalen, von Vyrin intendierten Sinn entwickelt die unbedachte Rede eine eigene Dynamik und bewahrheitet sich in überregionaler Bedeutung. Minskij ist tatsächlich kein Wolf, er frisst Dunja nicht, sondern macht sie reich und glücklich und führt sie möglicherweise Ŕ das zumindest suggeriert der figürliche Nebensinn dieser väterlichen Ermunterung Ŕ „zur KircheŖ, vor den Traualtar. Nach Dunjas Verschwinden kommt dem Vater die Einsicht in seinen fatalen Fehler: „Der arme Aufseher konnte nicht begreifen, wie er selber seiner Dunja hatte erlauben können, zusammen mit dem Husaren zu fahren, wie diese Blindheit hatte über ihn kommen könnenŖ (102). In der Interferenz von Erzählertext („Der arme AufseherŖ) und Figurentext („diese BlindheitŖ) stellt sich das Oxymoron des blinden Aufsehers her34, eine weitere Sujetformel, die auf den Sinn von Vyrins Handeln in der gesamten Geschichte verweist. Hat Vyrin nicht eine beträchtliche Blindheit für die Beziehung zwischen dem kranken Husaren und dem ihn aufopferungsvoll pflegenden Mädchen bewiesen? Und hat der Alte die Tochter nicht von Anfang an geradezu in die Arme des Entführers getrieben? War der Aufseher über die Station und über die Tochter nicht schon seit je mit Blindheit für die Realität des kecken Mädchens und seine wahren Lebensinteressen geschlagen? Sind ihm die wahren Motive der sich bei ihm länger als nötig aufhaltenden Reisenden entgangen, deren Interesse seiner „EigenliebeŖ schmeichelt? Hier ist noch eine andere, wesentlichere Blindheit im Spiel als jene, die sich in der unbedachten Ermunterung ausdrückte. Lange vor Minskijs Erscheinen handelt Vyrin wie ein Blinder. Doppelter und dreifacher Nutzen, den er aus der „VerständigkeitŖ des schönen Töchterchens zieht, lassen ihn die Augen für ihre eigenen Interessen verschließen. Dunja ersetzt ihm die Hausfrau, hält ihm die zornigen Reisenden vom Leib und ist ihm Gegenstand wohlgefälligen Betrachtens. Sich an ihr „nicht satt sehendŖ, versäumt der „AufseherŖ aber, „nach ihr zu sehenŖ.

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Die intratextuelle Äquivalenz und der Parallelismus von Situationen betrifft in „Stancionnyj smotritelřŖ vornehmlich die rivalisierenden Männer, Vater sowie Liebhaber. Der Verlauf der Geschichte erweckt den Eindruck, als ob Vyrin die drei zentralen Handlungen des Rivalen imitierte: (1) Minskij kommt zur Station. (2) Er täuscht, nachdem er Dunja begegnet ist, eine Krankheit vor, legt sich in das Bett, das ihm der Aufseher abgetreten hat, und lässt sich vom herbeigerufenen deutschen Arzt zum Schein kurieren. (3) Er entführt das Mädchen nach Petersburg. Dieser Sequenz entsprechen Ŕ bei Umstellung der Teile Ŕ die Reaktionen Vyrins geradezu spiegelbildlich: (1) „Der Alte konnte sein Unglück nicht ertragen, er legte sich sofort krank in dasselbe Bett, in dem die Nacht zuvor der junge Betrüger gelegen hatteŖ (102). Als er nach Erwägung aller Umstände errät, dass Minskijs Krankheit nur vorgetäuscht war, befällt ihn heftiges Fieber, und er ruft denselben Arzt, der zum Husaren gekommen ist. (2) Nach seiner Genesung macht sich Vyrin auf den Weg nach Petersburg. (3) Er beabsichtigt, sein „verirrtes Schäfchen heimzuführenŖ. Das Wort vom „verirrten SchäfchenŖ verweist auf die Bibel, die mit beiden Testamenten in weitverzweigten, hochkomplexen Allusionen vergegenwärtigt wird. Der Vorname des russischen Aufsehers ruft die Geschichte des starken Samson im alttestamentlichen Buch der „RichterŖ (13Ŕ16) auf. Wie der biblische Samson verliert Samson Vyrin zunächst seine ganze Kraft und dann sein Leben durch den Verrat einer schönen Frau, die Ŕ wie Delilah Ŕ die verstorbene Ehefrau ersetzen soll. Die Schwächung des verratenen (oder sich verraten glaubenden) Samson konstatiert der Erzähler bei der zweiten Begegnung, wenn er sich nicht genug darüber wundern kann, wie „drei oder vier Jahre einen rüstigen Mann in einen schwächlichen Greis verwandeln konntenŖ (100). Der Vergleich mit der Bibel enthüllt weitere Parallelen. Vyrin trinkt sich zu Tode. Dem biblischen Samson war indessen der Genuss von „Wein und RauschtrankŖ untersagt. Die Profilierung des in der Novelle hochfrequenten Alkoholmotivs scheint folgenden Sinn der intertextuellen Beziehung zu aktualisieren: Indem sich Puńkins verratener Samson dem Trunk ergibt, kündigt er seinem Gott das Vertrauen auf und geht unter. Dunjas Geschichte nimmt einen ganz anderen Verlauf als die zeitweilige Verirrung des verlorenen Sohnes, dessen Gleichnis auf den vier Bildern mit den deutschen Versen die Stube des Stationsaufsehers schmückt. Thomas Shaw35 hat aufgezeigt, dass mit den vier Bildern und den entsprechenden Situationen des Gleichnisses vier „SzenenŖ in Dunjas Geschichte korrespondieren, wobei zwischen Szenen, Bildern und Evangelientext signifikante Kontraste bestehen. Die bedeutendste Abweichung: Die Entsprechung zum dritten Bild (Lk 15, 14Ŕ19), das die „tiefe Trauer und ReueŖ des die Schweine hütenden Jünglings zeigt, existiert nur in Vyrins Vorstellung, und zwar mit einer aufschlussreichen Reduktion Ŕ es fehlt das Motiv der Reue und die Möglichkeit der Rückkehr. Das bedeutet: Vyrins Kummer beruht nicht auf der Erwartung von Dunjas Unglück, sondern auf der geheimen Überzeugung von ihrem Glück, dessen Zeuge er in

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Dunjas luxuriös eingerichteter Petersburger Wohnung werden musste. Nur diese Überzeugung erklärt, warum der Vater, von dem biblischen Vorbild abweichend, nicht an Dunjas Reue und Rückkehr glaubt, seiner Tochter Ŕ wenig väterlich Ŕ das Grab wünscht und nun keinen weiteren Versuch unternimmt, sein „verirrtes SchäfchenŖ heimzuführen. Vyrins Formel vom „verirrten SchäfchenŖ (zabludńaja oveĉka) verweist neben Lk 15 auch auf das Johannesevangelium, dessen Kapitel 10 den unter den Schafen räubernden Wolf erwähnt. Mit der Formel nimmt der Vater nicht nur seine redensartliche Versicherung zurück, dass seine Hochwohlgeboren kein Wolf seien, sondern impliziert noch eine weitere Identifikation: Der zur Rettung des Schäfchens in die Stadt eilende Aufseher setzt sich selbst mit dem guten Hirten gleich, der seine Schafe vor dem Wolf beschützt (Joh 10, 12). Diese Äquivalentsetzung ist Ausdruck einer hybriden Verblendung; denn der gute Hirte ist in der Johanneischen Paroimia immerhin die Allegorie für Jesus. Die Szene in Dunjas Petersburger Salon (das Äquivalent zum dritten Bild) entlarvt den als guten Hirten herbeigeeilten Vater als den biblischen Räuber (Joh 10, 10), und zwar mit Worten, die der ironische Autor jenem Kapitel des Johannesevangeliums entnimmt, auf das sich Vyrin innerlich beruft. Und es ist Minskij, der vermeintliche Wolf, der, ohne es zu wissen, diese Entlarvung vornehmen darf: „Was stiehlst du dich überall hinter mir her wie ein Räuber? Oder willst du mich abschlachten?Ŗ (104). Selbst völlig a-psychologisch, tragen die biblischen Prätexte gleichwohl zur psychologischen Vertiefung der Novelle bei. Das intertextuelle Paradigma hält für den Leser ein differenziertes Charakterogramm der Helden parat. Der Vergleich des Aufsehers mit seinen biblischen Prototypen offenbart: Vyrin ist weder der uneigennützige und großzügige Vater des Gleichnisses vom verlorenen Sohn noch ein guter Hirte. Weder braucht Dunja vor Minskij gerettet zu werden, noch ist Vyrin der Mann, der sie glücklich machen kann. Vyrin benutzt die biblischen Geschichten und die Beweggründe ihrer Aktanten, um seine wahren Motive Ŕ vor sich selbst Ŕ zu kaschieren. Hinter seinen falschen Äquivalentsetzungen enthüllt er sich uns als der blind Eifersüchtige, der sieht, aber nicht sehen will. In zahlreichen Anspielungen auf literarische Werke werden die Motive der Helden konkretisiert und ihr psychologisches Profil vertieft. Die Allusionen auf Karamzins „Bednaja LizaŖ machen deutlich: Dunja ist nicht, wie Liza, die unschuldige Dorfschöne und auch kaum ein Opfer von Verführung und Verrat. Sie scheint eher der selbstbewusste Schmied ihres Glücks zu sein. Nicht die Tochter, sondern der Vater ist das tragische Opfer eines Liebesverrats. Lizas Gang ins Wasser entspricht Vyrins Griff zur Flasche. Ironische Kritik an der Idealisierung der Wirklichkeit ergibt sich aus dem Bezug auf die Erzählung „Stancionnyj smotritelřŖ des sentimentalistischen Epigonen Vilřgelřm Karlgof aus dem Jahre 1826. Puńkin korrigiert die Idylle, indem er ihr eine geradezu spiegelbildlich verkehrte Geschichte entgegenstellt: Samson Vyrin muss auf halbem Weg von der Station nach Petersburg Karlgofs Titelhel-

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den begegnet sein, der mit seiner jungen Frau aufs Land zieht.36 Vor dem Hintergrund der naiven, völlig a-psychologischen Idylle zeigt sich Puńkins Geschichte in ihrer psychologischen Motiviertheit. Karlgofs Lehre folgend, jedoch mit anderen Wirkungen, als der Sentimentalist vorausgesehen hat, lassen sich tatsächlich alle drei Protagonisten Puńkins, auch der Vater, von der „Neigung des HerzensŖ leiten. Dunjas Liebesglück kann sich aber nur in der großen Welt verwirklichen und muss mit der Herzensneigung ihres Vaters kollidieren. Eine besondere Pointe setzt die Ŕ bereits von Anna Achmatova Ŕ angemerkte Allusion auf Honoré de Balzacs „Physiologie du mariageŖ, eine Abhandlung, die, 1829 erschienen, im Entstehungsjahr der Belkin-Erzählungen Gegenstand kontroverser Diskussionen in den russischen Salons war. Die Allusion wird markiert durch das Bild der auf der Lehne von Minskijs Sessel reitenden Dunja und gibt der Konkretisation der Geschichte einige Anregungen: (1) Die Reiterin auf der Sessellehne, die Minskijs schwarze Locken um ihre glitzernden Finger wickelt, ist kaum das Opfer von Verführung und Entführung, sondern Herrin der Lage, die den in Tiergestalt in die Geschichte eintretenden Husaren domestiziert hat. (2) Zu Dunjas und Minskijs Liebesglück sind ähnlich prosaisch-alltägliche Seiten hinzuzudenken, wie sie Balzac in seinem „Traité de politique maritaleŖ mit dem nüchtern analytischen Blick des Psychologen der Geschlechterbeziehung darstellt. (3) Der in der Tür die Sesselszene mit ihrem tête-à-tête von „SchäfchenŖ und „WolfŖ beobachtende Vater ist ein Eifersüchtiger, dem Balzac rät: „Feindre dřignorer tout est dřun homme dřesprit.Ŗ37 Vyrins Verhalten aber ruft den empathetischen Ausruf des empfindsamen Narrators hervor: „Der arme Aufseher! Niemals war ihm seine Tochter so schön erschienen; wider Willen betrachtete er sie mit WohlgefallenŖ (104). „Baryšnja-krest’janka“ Den Zyklus beschließt eine Vaudeville-Novelle, die wegen ihrer vermeintlichen Leichtigkeit häufig unterschätzt wurde. Puńkin hatte eine Vorliebe für das leichte Genre und schätzte es, das Bedeutende spielerisch auszudrücken. Man sollte sich nicht mit der wohlfeilen Erklärung begnügen, Puńkin habe in dieser Novelle die Verkleidungskomödie mit ihrem begrenzten Motivrepertoire, ihren konventionellen Mitteln und ihren Unglaubwürdigkeiten parodieren wollen. Der Prosaautor lässt sich vielmehr ganz auf die leichte Gattung ein und spielt ihre Ausdrucksmöglichkeiten durch, ohne das Lustspielhafte dem Spott preiszugeben. Im spielerisch unglaubwürdigen und gar nicht auf Wahrscheinlichkeit prätendierenden Sujet dennoch glaubwürdige Charaktere darzustellen, das war hier ohne Zweifel Puńkins Absicht. „Baryńnja-krestřjankaŖ ist mit „MetelřŖ sowohl genetisch als auch motivisch verwandt: Beide Erzählungen hat Belkin von „Fräulein K. I. T.Ŗ „gehörtŖ, und in beiden Werken geht es um eine glückliche Liebesgeschichte aus dem russischen Gutsbesitzermilieu, die ihren Ausgang von einer Vertauschung oder einer Verkleidung nimmt. Die Novellen verbindet auch die Ähnlichkeit der Heldinnen, der

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aufgeweckten Provinzfräulein, deren „Gefühle und LeidenschaftenŖ durch „Einsamkeit, Freiheit und LektüreŖ früh entwickelt sind und die sich vor den möglicherweise besser erzogenen Frauen der Hauptstädte durch die „Besonderheit des CharaktersŖ auszeichnen, „durch ihre Eigenart (individualité), ohne die es nach Meinung Jean Pauls keine menschliche Größe gibtŖ (111). Ungeachtet eines alten Familienzwists wünscht Liza Muromskaja, den jungen Nachbarssohn Aleksej Berestov, der nach der Universität nun auf dem Gut des Vaters lebt, überaus gerne zu Gesicht zu bekommen; denn sie hat sehr widersprüchliche Berichte über diesen interessanten jungen Mann erhalten. Die Nachbarinnen, die nur über ihn reden, sind von seiner byronischen Düsterkeit und Enttäuschtheit hingerissen, während ihn die Dienerin Nastja als einen mit den Bauernmädchen ausgelassen herumtollenden „WildlingŖ schildert. Die Bekanntschaft wird ermöglicht durch Lizas glücklichen Einfall, sich als Bäuerin zu verkleiden und als Tochter des Dorfschmieds auszugeben. Damit macht sich das belesene Mädchen die literarische Konjunktur empfindsamer Erzählungen von der Liebe eines Adligen zu einem Mädchen von niederem Stand zunutze. Als Bäuerin Akulina kann sie schnell das Interesse des jungen Mannes gewinnen, und so kommt es zu regelmäßigen Rendezvous im Hain. In deren Verlauf lernt Akulina Lesen und Schreiben, und nach ein paar Lektionen bereichert sie die gemeinsame Lektüre von Karamzins „Natalřja, bojarskaja doĉřŖ mit Bemerkungen, die den gutgläubigen Aleksej wahrhaft in Erstaunen versetzen. Die Literatur der Zeit spielte die Liebe des Adligen zu einem einfachen Mädchen in verschiedenen dénouements durch.38 Die populärste Lösung war der soziale Aufstieg der Heldin. Das sentimentale Muster dafür lieferte Samuel Richardsons Briefroman „Pamela, or Virtue RewardedŖ (1740), den Lizas englische Gouvernante Miss Jackson zweimal im Jahr liest. Wahrscheinlicher als der Aufstieg der Schönen war die tragische Lösung, die Karamzins „Bednaja LizaŖ vorgegeben hatte. Die Erinnerung an diese traurige Geschichte wird in Puńkins Text durch Reminiszenzen, markante Similaritäten und signifikante Kontraste wachgehalten. Am nachdrücklichsten ruft Puńkins Geschichte jedoch eine dritte Sujetschablone auf, wie sie vor allem in der westlichen Komödie gepflegt wurde: die Verkleidung einer Dame als Mädchen von niederem Stand. Mit der Maskerade verfolgen die Damen unterschiedliche Ziele. Entweder suchen sie im Gewand der Bäuerin das Herz eines Mannes mit dem sentimentalistischen Faible für das genre paysan anzurühren, oder sie wünschen herauszufinden, ob sie um ihrer selbst willen geliebt werden, oder aber sie stellen die Treue eines Geliebten auf die Probe. Aus der reichen Tradition dieses Sujets sind verschiedene Texte mit Puńkin in Verbindung gebracht worden, so etwa Pierre A. A. de Piisř Komödie „La fausse paysanne, ou Lřheureuse inconséquenceŖ (1789), Isabelle de Montolieus Erzählung „Le baron dřAldestan, ou Le pouvoir de lřamourŖ (russ. 1820) oder Walter Scotts Roman „St. Ronanřs WellŖ (1823). Die größte Bedeutung für Puńkins Vaudeville-Novelle hat jedoch Pierre Carlet de Marivauxř „Jeu de lřamour et du hasardŖ (1730), jene Verkleidungsko-

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mödie, deren szenischer Psychologismus die russischen Komödienschreiber der zwanziger Jahre begeisterte.39 Silvia und Dorante sind von ihren Vätern zur Ehe bestimmt worden. Da sie einander nie gesehen haben, wird ihnen erlaubt, sich endgültig nach einer ersten Begegnung zu entscheiden. Die beiden Verlobten begegnen einander in den Kleidern ihrer Diener und finden aneinander großes Gefallen. Aber auch nachdem Dorante sich ihr zu erkennen gegeben hat, eröffnet ihm die stolze Silvia ihre Identität nicht. Denn sie verlockt die Aussicht, Dorante werde so weit gehen, der vermeintlichen Zofe seine Hand anzubieten: „Je veux un combat entre lřamour et la raison.Ŗ40 Wenn Liza-Akulinas „EigenliebeŖ durch die „aus Romanen geschöpfte (romaniĉeskaja) HoffnungŖ gereizt wird, „den Tugilovschen Gutsbesitzer zu Füßen der Tochter des Priluĉinschen Schmieds zu sehenŖ (117), dann strebt sie nach eben jenem Sieg der Liebe über die Vernunft, den Marivauxř Heldin bewerkstelligt. Silvia, Marivauxř rationale Analytikerin der Liebe, weiß, dass dieser Sieg keine Wunden hinterlässt, sie spricht sogar davon, dass sich Dorante nie an die Geschichte seiner Niederlage erinnern werde, ohne seine Überwinderin zu lieben. Ahnt nicht auch Puńkins kecke Liza etwas von den Geheimnissen der Liebespsychologie, die Marivauxř Heldin so beredt auseinandersetzt? Und ist andererseits nicht auch Puńkins Heldin so wie Marivauxř stolze Silvia die von der Liebe Besiegte, Opfer ihres mutwilligen Spiels? Die entscheidende Differenz zu Marivaux besteht in der Rolle der Maske. Die Verkleidung der Marivauxschen Helden ist oberflächlich und wenig glaubwürdig. Silvia braucht, wie sie sagt, kaum mehr als eine Schürze, und weder sie noch Dorante verstellen ihre Sprache. Puńkins Liza dagegen ist perfekt verkleidet. Sie schneidert sich das Hemd und den Sarafan einer Bäuerin und lässt sich vom Hirten Trofim Bastschuhe anfertigen. Sie probt vor dem Spiegel die passenden Bewegungen und übt sich zur vollen Zufriedenheit der kritischen Dienerin Nastja im lokalen Dialekt. Während sich Marivauxř Heldin verstellt, um den für sie ausgewählten jungen Mann zu prüfen, wird Lizas Maske zu einem Mittel der Verführung und Ŕ der Bestrafung. Verblüfft von der Vorliebe für Bauernmädchen, die jener zeigt, dem der Ruf eines düsteren Byronisten vorauseilt, arrangiert das gewitzte Mädchen ein Spiel, das von der Literatur inspiriert ist, in dem Aleksej der Part des freienden Sentimentalisten zufällt. Aleksej, der sich in finsteren Posen gefällt, wird somit in eine Rolle gezwungen, die gar nicht zu seinem Repertoire gehört. Wenn er jedoch dem weiblichen Hauspersonal nachstellt und selbstvergessen mit den Nastjas, Tanjas und Pańas Fangen spielt, ist er bereits aus seiner literarischen Rolle herausgefallen. Lizas Spiel trägt ihm eine neue Rolle an, die seinem Alltagsverhalten einen ironischen literarischen Rahmen gibt. Liza, die ihr anglomaner Vater nur Betsy nennt und die Aleksej als braune Akulina kennt, erscheint bei der ihr höchstlich ungelegenen Visite der Nachbarn als weiß geschminktes Fräulein im Aufzug der Pompadour und benimmt sich, während Aleksej den Zerstreuten und Nachdenklichen spielt, auf höfische Weise affektiert und spricht „durch die Zähne, in singendem Ton und nur französischŖ. Die Masken der beiden bedeuten weniger eine Verkehrung ihrer sozialen Rolle,

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mit der die französischen Verkleidungskomödien amüsierten, als vielmehr ein Spiel mit literarischen und kulturellen Stereotypen. Bei Marivaux war die Maske Täuschung, die nur deshalb das finale Glück zuließ, weil Silvia und Dorante schlecht spielten. Bei Puńkin sind Lizas Rollen, die sie ausgezeichnet spielt, nicht Täuschung, sondern enthüllen paradoxerweise etwas von ihrem wahren Wesen, das in ihrer Liza-Betsy-Existenz nicht recht zur Erscheinung kommen kann. Liza hat zugleich etwas von der Bäuerin und vom Fräulein der Louis XIV.-Gesellschaft. Insofern erhält der Titel „Fräulein BäuerinŖ einen neuen Sinn. Er ist nicht mehr als Antithese oder Oxymoron, sondern als Synthese zu verstehen, und er weist auf Puńkins neue Konzeption von Identität und Charakter. In eine Synthese mündet auch die „alte und tief verwurzelte FeindschaftŖ (118) der Familien, die bei Muromskijs Ŕ „durch die Schreckhaftigkeit der kurzschwänzigen StuteŖ verursachtem Ŕ Reitunfall ein überraschendes, der finsteren Prätexte (Shakespeares „Romeo and JulietŖ und Walter Scotts „Bride of LammermoorŖ) spottendes Ende findet. Die Väter versöhnen sich nicht nur, sondern schmieden bald Pläne zur Verheiratung ihrer Kinder. Wie Puńkin das bei Scott schicksalhafte Gewitter durch einen aufgescheuchten Hasen ersetzt, so gibt er auch den übrigen tragischen Motiven eine vaudevillehafte Gestalt. In schönster Ökonomie vereinigt er den von einem Elternteil ausgewählten Ehepartner und das Kind des ehemaligen Erzfeinds in einer Person, und das aufscheinende tragische Ende wird lustspielhaft aufgelöst, wenn Aleksej in der geliebten Akulina jene Lizaveta Grigorřevna Muromskaja erkennt, die zu heiraten ihm der strenge Vater befohlen hat. Die Gesichtsfarben Weiß und Braun markieren nicht nur den sozialen Status der Figuren und Rollen, ihre Opposition nimmt auch jene Anspielung auf, die bereits das Motto der Erzählung enthält, die Zeile aus Ippolit Bogdanoviĉs ironischer Verserzählung „DuńenřkaŖ (Seelchen, 1783): „In allen Gewändern, Seelchen, bist du schön.Ŗ Die kecken Heldinnen der beiden Werke verbindet aber weniger der Wechsel der Kleider als vielmehr das Motiv der Gesichtsfarbe. In Bogdanoviĉs Erzählung, einer klassizistisch-ironischen Bearbeitung von La Fontaines Roman „Les amours de Psyché et CupidonŖ, hat Duńenřka die Göttin Venus damit erzürnt, dass ihre Schönheit das „Rouge herabsetztŖ, den Wert der „weißen Schminke verdunkeltŖ und „jegliche Schönheit allerorten beleidigtŖ.41 Zur Strafe wird sie daher mit Ruß geschwärzt, was Amor jedoch keineswegs abschreckt. Auch Puńkins braunhäutige Akulina ist schön anzusehen, und Aleksej zieht sie allen „weißen FräuleinŖ vor. Bogdanoviĉs ironisches Poem aktiviert in Puńkins Erzählung vor allem die Motivik von Außen und Innen, Maske und Wesen. Aleksej, der Arglose, der sich von jeder Maske täuschen lässt und auch die noch so dick aufgetragene Schminke nicht bemerkt, erläge der Verführung durch das einfallsreiche Mädchen weniger sicher, wenn in ihrem Äußeren nicht etwas von ihrem Inneren zum Ausdruck käme. Aleksej liebt in Akulina nicht einfach die Bäuerin. Seine Schwäche für Bauernmädchen bezieht sich auf das

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Genre, gilt aber nicht dem einzelnen Exemplar. Er kann ja auch selbst nicht begreifen, „auf welche Weise ein einfaches Dorfmädchen in nur zwei Zusammenkünften eine wahre Macht über ihn gewinnen konnteŖ (116). Ihn interessiert, ohne dass er sich dessen bewusst würde, das geistreiche, literaturbeflissene Landmädchen, also eben jenes komplexe Wesen, das der oxymoral scheinende Titel nennt. Liza aber ist, wenn man das Motto der Novelle abwandelt, mit allen Gesichtsfarben schön, weil jede von ihnen eine neue Seite ihres facettenreichen Wesens zeigt. So erfüllt sich auch der überregionale Sinn des Sprichworts aus Aleksandr Ńachovskojs „Erster SatireŖ (1808): „Auf fremde Art gedeiht russisches Korn nicht.Ŗ Es ist nicht die „fremde ArtŖ (ĉuņoj maner), die Verkleidung, die Schminke, der Schein, der das finale Glück möglich macht. Das Maskenspiel führte Liza nicht zum Ziel, wenn es nicht verborgene Seiten ihres komplexen Charakters nach Außen kehrte. Hinter den literarischen und kulturellen Rollen wird deshalb auch kein einfach definierbares Sein sichtbar. Die Masken verkörpern vielmehr einander nur scheinbar ausschließende Seiten jener individualité, von der der Erzähler unter Berufung auf Jean Paul zu Beginn der Geschichte gesprochen hat. Unter der lustspielhaften Oberfläche von Verkleidung und Rollenspiel verbirgt sich eine neue Charakterologie des literarischen Helden. Die allmähliche Aufdeckung seines wahren, komplexen, widersprüchlichen Wesens folgt der Transformation des initialen Oxymorons in eine Synthese. Die Poetik und Philosophie der „Povesti Belkina“ Puńkins „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ verwirklichen in Thema, Durchführung und Textgestalt eine innovative Poetik und, damit verbunden, eine Philosophie: 1. Vor allem in der sowjetischen Literaturwissenschaft hat man den Zyklus als Beginn des Realismus gefeiert. Dieser Begriff, der soziale Repräsentativität und Wahrscheinlichkeit der Handlung voraussetzt, ist für die „Povesti BelkinaŖ ungeeignet (und anachronistisch). Dunjas sozialer Aufstieg in „Stancionnyj smotritelřŖ ist viel weniger repräsentativ als der Untergang der „armen LizaŖ in Karamzins sentimentalistischer Erzählung. Und die unwahrscheinlichen Fügungen des Schicksals in „MetelřŖ sind bereits von den zeitgenössischen Kritikern als Zumutung gerügt worden. Die Logik der Geschichte, die für Puńkin von großer Bedeutung ist, hängt bei ihm überhaupt nicht von der mimetischen Wahrscheinlichkeit ab. Wenn die Pointe der Geschichte unwahrscheinliche Zufälle fordert, ist er immer bereit, diese zu gewähren. Wichtig ist nur, dass die Geschichte interessant ist, die Glaubwürdigkeit der Charaktere nicht mindert, sondern, im Gegenteil, etwas Verborgenes in ihrem Verhalten offenbart. Zugunsten einer überraschenden Wendung des Sujets lässt Puńkin sogar die Einmischung übernatürlicher Kräfte zu. Allenfalls kann für die „Povesti BelkinaŖ von einem Gewinn an Realistik in der Charakter- und Seelendarstellung und besonders in der Motivierung der Handlungen durch das Bewusstsein der Figuren die Rede sein.

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2. Realistische Elemente im Sinne der Realistik enthält die Wiedergabe der Figurensprache. Während Karamzins Bäuerinnen so denken und sprechen wie der empfindsame Erzähler, kommt das einfache Volk in jeder der fünf Erzählungen des Zyklus mit seiner umgangssprachlichen, zum Teil vulgären Rede zur Sprache. Puńkin ist aber nicht an soziographischer Dokumentation oder an der skazStilisierung (die im Vorwort, in dem Brief des Gutsbesitzers von Nenaradovo anklingt) interessiert, sondern benutzt die kurzen Kostproben der Volkssprache vor allem zu komischen und humoristischen Effekten.42 Im Übergang von der Handschrift zur Druckfassung streicht oder reduziert er manche dialektalen und volkssprachlichen Züge (was besonders deutlich an „Baryńnja-krestřjankaŖ zu beobachten ist). 3. Die für den späteren Realismus charakteristische Perspektivität ist im Zyklus nur ansatzweise ausgebildet. Figuraler Zuschnitt der Auswahl und Bewertung der erzählten Welt werden angedeutet (so zum Beispiel in der Binnenerzählung des Stationsaufsehers von der „EntführungŖ seiner Tochter), aber nicht konsequent durchgeführt. Puńkins implizite Narratologie zeigt sich eher in der Sujetologie als in der Perspektivologie. Wo das Erzählen stilistisch merkmalhaft wird, ist weniger Perspektivismus als literarische Allusion auf fremde Texte und Epochenstile im Spiel. 4. Die oben erwähnte Lückenhaftigkeit der erzählten Geschichten und die Unbestimmtheit der Bewusstseinsinhalte ihrer Figuren, die den Leser zur Rekonstruktion der Handlungsgründe im Nachvollzug der drei diegetischen Verfahren auffordert, führen zu einer neuartigen Charakterologie. Wie auch immer der Leser die unbestimmt gelassenen Handlungsmotive unter dem Eindruck von unterschiedlichen Prätexten konkretisiert, werden in den Charakteren Widersprüche aufscheinen. Der Einpoligkeit der in den Prätexten vorgefundenen Typen stellt Puńkin mehrpolige, von gegenläufigen Regungen bestimmte Charaktere entgegen. Von besonders großer Bandbreite ist etwa der Charakter Marřja Gavrilovnas in „MetelřŖ, deren Bild zwischen Petrarcas engelsgleicher Madonna Laura und Pietro Aretinos Kurtisane Nanna schwankt. Die Widersprüchlichkeit des Charakters der Heldin wird in „Baryńnja-krestřjankaŖ schon im oxymoralen Titel angedeutet. Es mag die Widersprüchlichkeit der Bewusstseinsregungen und die Weitung des Charakters gewesen sein, die Dostoevskij besonders beeindruckt haben, einen aufmerksamen und begeisterten Puńkin-Leser und Gestalter eines mehrpoligen, zerklüfteten, paradoxalen Bewusstseins. 5. In den „Povesti BelkinaŖ realisiert Puńkin eine kleine Philosophie des Schicksals, des Zufalls und des Glücks. Die diegetische Ausfaltung der parömischen Mikrotexte, Sprichwörter, Redensarten, Redeklischees sowie semantische Figuren, vermittelt den Eindruck, als würde die erzählte Geschichte nicht ausschließlich durch das Handeln autonomer Figuren bestimmt, sondern auch durch eine abstrakte Konstruktionslogik gelenkt, die sich auf der lebensweltlichen Ebene der Fiktion als Schicksal abbildet, als eine geheime Macht, die dem Wort der Figur, seine magische Kraft entfesselnd, hinter ihrem Rücken zu einer unerwarteten

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Wahrheit verhilft. Dieses Schicksal erweist sich in Puńkins narrativer Welt nicht als blind oder launisch, vielmehr durchaus als weise und gerecht. Die „VorsehungŖ (providenie) kann dem Menschen die günstige „GelegenheitŖ (sluĉaj) bieten, seine Ziele zu erreichen. Der Mensch muss nur den „rechten AugenblickŖ (mig) erkennen und die Gelegenheit beim Schopfe packen. Insofern ist er verantwortlich für sein Geschick. Das Schicksal belohnt und bestraft nicht nach gängigen moralischen Vorstellungen. Tugenden, das sind in Puńkins Welt Beherztheit, Beweglichkeit, Sinn für den Kairos und das in ihm mögliche und erforderliche Handeln. Diese Tugenden beweisen die Glückspilze der Belkin-Erzählungen: der Graf, Burmin, Marřja Gavrilovna, Dunja, Elizaveta Muromskaja. Regelmäßig geahndet, oft mit dem Tod bestraft werden dagegen: Unbeweglichkeit, Inertia, Schematismus. Der Starre ihres Denkens fallen die Pechvögel zum Opfer: Silřvio, Vyrin, Vladimir. Schemata aber lauern allenthalben, am meisten in der Literatur. Puńkins intertextuelle Ironie zielt auf das Schematische der Literatur, auf die ihr unausweichlich innewohnende Fixierung des beweglichen Lebens, auf die Wiederholung der Wahrheit. Die Literatur ist die Doxa. Die Wahrheit aber, die unwiederholbare, unvorhersehbare, ist para-doxal, existiert nur außerhalb des Schemas. 6. Gegenüber seinen literarischen Prätexten relativiert Puńkin sowohl das Glück der Glückspilze als auch das Unglück der Pechvögel. Bei Karamzin waren die Figuren entweder uneingeschränkt glücklich oder sterbensunglücklich. Puńkin mischt die inneren Befindlichkeiten. Dunjas Glück ist erkauft, notwendig erkauft mit dem Leid des Vaters. Dass die junge Frau davon weiß und dass sie darunter leidet, bezeugen ihre Tränen, die sie nach dem Bericht des Kutschers auf der ganzen Fahrt nach Petersburg vergießt. Und dass Dunja die Station so spät besucht, erst nach dem Tod des Vaters (von dem sie nicht wissen kann), ist wohl damit zu erklären, dass diese zartfühlende Frau auf den geliebten Vater Rücksicht nimmt, dem ihr Glück, wie sie weiß, sein Leid nicht lindert. Das Unglück der Pechvögel beruht aber nicht auf widrigen Wendungen des Schicksals, sondern darauf, dass sie in ihrem vermeintlichen Unglück nicht zu erkennen vermögen, wie gut es doch das Schicksal mit ihnen gemeint hat. Der pedantische, phantasielose Möchte-gern-Entführer Vladimir geht unter, weil er nicht erkennen kann, dass der Schneesturm ihn vor einer unglücklichen Ehe mit der aufgeweckten, beweglichen Marřja Gavrilovna bewahrt hat. Und Samson Vyrin trinkt sich zu Tode, weil er sich nicht eingestehen kann, dass sein aufgewecktes Töchterchen in der Stadt sein Glück gemacht hat, das es auf der ländlichen Poststation nicht hätte finden können. Die „BlindheitŖ des Auf-„SehersŖ ist ein Beispiel für das, was das Schicksal in Puńkins Welt am schärfsten bestraft. Die unbeirrte Orientierung an festen Schemata, seien sie nun gebildet nach biblischen Gleichnissen, literarischen Texten oder volkstümlichen Redeklischees, bereitet ihren Verwendern den Untergang.

Bodo Zelinsky

Nikolaj Gogolř: Ńinelř (Der Mantel) „Gebt mir den schöpferischen Leser; dies ist die Erzählung für ihnŖ, rief Vladimir Nabokov aus, als er sich anschickte, in einem seiner Stanforder Kollegs über Meisterwerke der russischen Literatur seiner Zuhörerschaft den „unsterblichen ‚MantelřŖ vorzustellen, diesen „grotesken und grimmen Alptraum, der schwarze Löcher in das farblose Muster des Lebens schneidetŖ.1 Nabokovs Ruf nach dem adäquaten Leser von Gogolřs „ŃinelřŖ Ŕ und auch der wissenschaftliche Interpret ist zuerst ein Leser Ŕ wurzelt in der Hermeneutik der Romantik und ihrer Auffassung vom literarischen Kunstwerk als einem unendlichen Kontinuum der Reflexion. Diese Annahme impliziert, dass ein Text, der alle Bedingungen eines Kunstwerks erfüllt, unerschöpflich ist und damit, wie Friedrich Schlegel folgert, „nie ganz verstandenŖ werden kann: „Eine klassische Schrift muss nie ganz verstanden werden können. Aber die, welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.Ŗ2 Ein Text, aus dem man „immer mehr draus lernenŖ kann, muss von grenzenloser Auslegbarkeit sein. Für „ŃinelřŖ trifft dies in höchstem Maß zu. Feststellungen wie ŖNikolai Gogolřs ŘShinelřŘ is one of the most celebrated and analysed stories in Russian literatureŗ3 gehören in der Gogolř-Forschung zu den häufigsten, meist am Anfang einer Untersuchung stehenden Topoi. Rolf-Dietrich Keil zitiert in seinem Aufsatz mit der bezeichnenden Überschrift „Doch noch Neues zu Gogolřs ‚MantelŘ?Ŗ den englischen Dichter T. S. Eliot, der Shakespeares ŖHamletŗ als die „Mona Lisa der LiteraturŖ bezeichnet hat, und meint dann: „Mindestens ebensoviel Anspruch auf diesen fragwürdigen Ruhmestitel hat sich inzwischen Gogolřs zweieinhalb Jahrhunderte jüngerer ‚MantelŘ erworben.Ŗ4 Als die Novelle 1842 erschien, deutete wenig darauf hin, dass sie einmal eine solche Berühmtheit erlangen und eine solch stetig wachsende, bis heute anhaltende Aufmerksamkeit finden sollte. Das zeitgenössische Interesse hielt sich in Grenzen. Es konzentrierte sich auf den gleichzeitig zum erstenmal veröffentlichten, in derselben Werkausgabe des Autors enthaltenen Roman „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen). Seit dem „Dikanřka-ZyklusŖ (1831/32), mit dem Gogolř debütiert hatte und schlagartig in die vorderste Reihe der russischen Erzähler getreten war, hatte keines seiner Werke wieder eine so starke Resonanz bei Kritik und Leserschaft gefunden wie die Geschichte von dem Hochstapler Ĉiĉikov, der verstorbene Leibeigene aufkauft, um sie wie lebende zu verpfänden. Der Erfolg der Schelmengeschichte überschattete die Rezeption der Beamtengeschichte, als die „ŃinelřŖ zunächst und dann auch noch lange gelesen wurde. Trotz anerkennender, aber beiläufig und eher versteckt geäußerter Worte Vissarion Belinskijs, der kritischen Autorität der romantischen Epoche in Russland, blieb der Zeit verborgen, und zwar verständlicher-, ja sogar notwendigerweise angesichts

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des damaligen allgemeinen Reflexionsniveaus, welch riesiges Sinnpotential in der nicht mehr als 30Ŕ40 Seiten umfassenden „MantelŖ-Erzählung verborgen ist. So vielschichtig und tiefgründig diese von vornherein war, vor allem seitdem sie gedruckt vorlag, im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wuchs ihr wie jedem anspruchsvollen literarischen Text fortgesetzt weitere Bedeutung zu. Immer neue Deutungen stellten sich ein und folgten in immer kürzeren zeitlichen Abständen aufeinander. Peter Thiergen bezeichnete noch 1988 „ŃinelřŖ als eine „crux interpretumŖ5 und fügte, da er eine „gewisse ‚LückeřŖ in der Forschungsgeschichte des Werkes entdeckt hatte, der Äußerung gleich noch eine weitere Lesart hinzu. Seine erhellende, den Text religiös lesende Studie widerlegt schon als solche die wenige Jahre zuvor geäußerte Behauptung von Günther Wytrzens, Gogolřs Novelle sei inzwischen interpretatorisch genug „strapaziertŖ worden.6 Hinter dieser Formulierung steht der Glaube, der Sinngehalt eines Kunstwerks sei irgendwann ausgeschöpft, sein Verständnis somit zum Abschluss gebracht. Doch sowohl die auf Thiergen antwortende kritische Stellungnahme Walter Schamschulas7 zwei Jahre später als auch die Vielzahl und Vielfalt der in den letzten Jahrzehnten publizierten „ŃinelřŖ-Untersuchungen sprechen für die Richtigkeit der gegenteiligen, hermeneutisch begründeten Ansicht. Entstehungs- und Deutungsgeschichte Das niemals endende Verstehen eines Textes wie „ŃinelřŖ beginnt bereits bei der Vorgeschichte. Selbst eine Reihe von Spezialarbeiten konnte bisher längst nicht alle Fragen zum Ursprung des Hauptmotivs sowie zur wechselseitigen Verknüpfung sämtlicher Motive erklären. Lange Ŕ bis in den „ŃinelřŖ-Kommentar im dritten Band (1938) der vierzehnbändigen Werkausgabe8 Ŕ herrschte allgemein die Ansicht, dass Gogolř, wie Pavel Annenkov in seinen „ErinnerungenŖ (Literaturnye vospominanija, 1909)9 meint, eine im Freundeskreis gehörte Anekdote als Ausgangspunkt und Grundlage seiner Erzählung verwendet habe. Diese handelt von einem Beamten, der als leidenschaftlicher Vogeljäger unter großen Entbehrungen die Mittel für den Erwerb eines kostbaren Jagdgewehrs zusammenbringt. Nachdem er das Objekt der Begierde erstanden hat, fällt es ihm schon bei der ersten Ausfahrt ins Wasser und ist nicht wieder auffindbar. Entsetzt kehrt der Unglücksrabe nach Hause zurück, legt sich, vom Fieber gepackt, ins Bett und steht erst wieder auf, als mitleidige Kameraden genug Geld gesammelt haben, um ihm ein neues Gewehr zu kaufen. Was die Gogolř-Forschung mehr interessierte als das Nachdenken darüber, ob die Gelächter hervorrufende Beamten-Anekdote tatsächlich den eigentlichen Anstoß zur Entstehung von „ŃinelřŖ geliefert hatte, war das Problem der Anverwandlung der stofflichen Vorlage durch den Autor, also die Transformation ihrer Hauptelemente: die Ersetzung des Gewehrs durch den Mantel, des Verlusts durch den Diebstahl, der Anteilnahme durch die Gleichgültigkeit, der Komik durch die Tragik. Den Austausch des zentralen Motivs, Gewehr gegen Mantel, beispielsweise sah man10 darin begründet, dass Gogolř im Winter 1830, wie er seiner Mut-

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ter schrieb11, dringend einen neuen, vor der Petersburger Kälte schützenden Mantel (frak) benötigte, dafür aber kein Geld hatte und deshalb weiter den abgetragenen „SommermantelŖ (letnaja ńinelř) benutzen musste. Erst im Laufe der Zeit stellten sich Zweifel an der allgemeinen Annahme ein. 1956 fand Nils Åke Nilsson12, der „wiederholte Hinweis auf Annenkovs AnekdoteŖ sei „nicht genügendŖ. Diese bilde lediglich das „Skelett einer realistischen SkizzeŖ und biete keine Erklärung für die beiden Elemente, die Gogolřs Erzählung ihre unverwechselbare Physiognomie verleihten: das Phantastische und das Sentimentale. Noch skeptischer gegenüber der alten Anekdotentheorie war in neuester Zeit Walter Schamschula. Bezweifelnd, dass Gogolř, als er zwischen dem 8. Juli und dem 8. August 1839 in Marienbad mit der Arbeit an „ŃinelřŖ begann, entgegen üblicher Praxis auf eine schon so viele Jahre vorher gehörte Geschichte zurückgegriffen haben sollte, entwickelte er auf der Grundlage eines bislang unbeachteten Textes eine eigene Theorie zur Entstehung der Erzählung. Das Anfangskapitel der Memoiren des damaligen Erfolgsschriftstellers Nikolaj Greĉ, das 1839 unter dem Titel „Vospominanija junostiŖ (Erinnerungen an die Jugend)13 in dem von Nestor Kukolřnik herausgegebenen Neujahrsband („NovogodnikŖ) erschien, wird von Schamschula als Quelle für „ŃinelřŖ gelesen und sein Verfasser als Muster für Gogolřs berühmtesten Helden Ŕ als „Vorläufer des Akakij Akakieviĉ in SelbstdarstellungŖ.14 Der aus ärmlichen Verhältnissen kommende Memoirist biete, so wie er sich selber darstellt, das „Bild eines rundum kleinen MenschenŖ15 Ŕ eines Menschen, der, in der Schule von den Mitschülern verspottet, sich seiner Halbbildung und seiner geistigen Unzulänglichkeiten durchaus bewusst, nach Abschluss der Junkerschule literarisch debütiert, wegen des Misserfolgs jedoch gezwungen ist, eine niedere Kanzleistelle im Innenministerium anzunehmen, wo er im Kopieren von Akten seine Erfüllung findet, bis er dann in den Lehrerberuf überwechselt. Nicht nur die Liebe zum Abschreiben, sondern auch und vor allem das dreimal erwähnte Motiv des alten Mantels, der in den Jahren der Armut das einzige Stück Oberbekleidung bildet, lassen Schamschula von einer Einwirkung des Greĉschen Lebensberichts auf Gogolřs „ŃinelřŖ ausgehen. Dass in der Schilderung der besseren Zeit vom Erwerb eines dringend benötigten Mantels und seines anschließenden Verlusts keine Rede ist, wird mit der Schlussfolgerung eines „KonzeptionsfehlersŖ erklärt: Der Lebensbericht, ein Mitteilungstext also, der „den Knoten schürzt, aber am Ende nicht löstŖ, könnte Gogolř als erzählenden Autor veranlasst haben, „die Geschichte weiterzudenken und zuende zu konzipierenŖ.16 Überholt ist Annenkovs entstehungsgeschichtliche These damit jedoch noch nicht. Einen „höheren WahrscheinlichkeitsgradŖ17 als die Anekdote kann Greĉs Selbstdarstellung hinsichtlich der Genese von „ŃinelřŖ kaum beanspruchen, zumal eine bestätigende Äußerung, die im Falle der ersteren von Schamschula vermisst wurde, auch für die letztere fehlt. Und die Herkunft des Phantastischen und Sentimentalen lässt sich aus den larmoyant gestimmten Jugenderinnerungen des späteren Erfolgsautors ebenfalls nicht erklären. Die beiden Elemente, die Handlung und Atmosphäre der Erzählung vom Leben und Sterben des Titularrats Aka-

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kij Akakieviĉ so betont prägen und die im Verlauf der Deutungsgeschichte eine herausragende Rolle spielen sollten, sind dem stofflichen Vorwurf offensichtlich nicht immanent, sondern von Gogolř aus rein künstlerischen Überlegungen der Grundsituation hinzugefügt worden. Die Literatur der Zeit bot dafür genügend Anregungen. Das Sentimentale, am Ende des 18. Jahrhunderts von Nikolaj Karamzin unter der neuen Herrschaft des Gefühls in einem eigenen Erzählungstypus, der „sentimentalřnaja povestřŖ, zu poetischer Entfaltung gebracht, bewahrte seine eminente Wirkungskraft noch weit über die Jahrhundertgrenze hinaus und wurde seit den zwanziger Jahren, von der Bindung an das Liebessujet gelöst, im Zuge der romantischen Stadtentdeckung18 zur Schilderung der Lebensweise von Angehörigen der städtischen Unterschicht benutzt. Handelte es sich hierbei zunächst um den Hausknecht, den Ladenverkäufer, den Droschkenkutscher oder um den Bettler wie in Michail Pogodins „NińĉijŖ (Der Bettler, 1826), rückte spätestens seit den dreißiger Jahren der Staatsbeamte mittleren Rangs in den Blickpunkt des darstellenden Interesses. Gogolř folgte also bereits einer literarischen Tendenz, als er mit dem Titularrat Akakij Akakieviĉ Ŕ nach dem Amtsschreiber Poprińĉin in den „Aufzeichnungen eines WahnsinnigenŖ (Zapiski sumasńedńego, 1835) und dem Kollegienassessor Kovalev in „NosŖ (Die Nase, 1836) Ŕ zum drittenmal einen Beamten zur Hauptfigur einer Erzählung machte. Entsprechend den Beamtendarstellungen von Bulgarin und Odoevskij bis hin zu Pavlov und Panaev stattete er seine Helden, auch wenn ihr trauriges Leben wie bei Akakij Akakieviĉ im Tod oder wie bei Poprińĉin im Wahnsinn endete, mit lächerlichen Zügen aus. Selbst wo die Geschichte am Ende noch gut ausgeht wie im Falle des Vogeljägers in Annenkovs Anekdote oder Kovalevs in Gogolřs „NosŖ (der eine erhält sein Gewehr, der andere seine Nase zurück), wird der Beamte in der Literatur der dreißiger Jahre häufig als Pechvogel dargestellt, und damit als eine traditionell komische Gestalt, wie sie im 18. Jahrhundert in der klassizistischen Komödie oder in der Prosa Ĉulkovs und Levńins auftaucht. In Vladimir Dalřs Erzählung „BedovikŖ (Der Pechvogel, 1839)19 bricht der Provinzbeamte Evńej Stacheeviĉ auf, um sich in Moskau oder Petersburg eine bessere Stelle zu suchen, wechselt jedoch unterwegs so oft die Reiseroute, dass er nie in einer der beiden Hauptstädte ankommt, sondern am Ende an den Ausgangspunkt, seinen Heimatort Manilov, zurückkehrt. Dort hofft er nun, Kammersekretär zu werden und eine Gehaltserhöhung zu erhalten. Auf den Typus des lächerlichen Pechvogel-Beamten lässt sich der Held von „ŃinelřŖ nicht reduzieren. Dafür wiegt das Pech in Gestalt eines Raubüberfalls mit seinen tödlichen Folgen viel zu schwer. Näher steht das Porträt Akakij Akakieviĉs der neuen Auffassung des Beamten als Rädchen in einer gewaltigen bürokratischen Maschinerie. Als ein solches erscheint im Unterschied zu Dalř, der das Motiv zugunsten der Beschreibung alltäglicher Vorgänge vom zeitkritischen Gehalt entlastet20, die Hauptfigur von Pavlovs „DemonŖ (Der Dämon, 1839): ein Beamter mittleren Alters, der als Kopist in einem Departement der Regierungsbürokratie in Sankt Petersburg arbeitet. Aus dem Rahmen seines bescheidenen Daseins fällt einzig und allein die junge Ehefrau, eine neunzehnjährige Schön-

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heit mit einem Hang zum Luxus, den er, so gut, wie es seine begrenzten Mittel erlauben, zu befriedigen sucht. Mitte und Sinn seines Lebens aber besteht im Abschreiben von Akten. Die tägliche „Regelmäßigkeit und EinförmigkeitŖ und ein „Gefühl für OrdnungŖ bewahren ihn vor „unrealistischen Wünschen und gefährlichen Vergleichen zwischen sich und anderenŖ.21 Doch eines Nachts wird ihm in einer dämonischen Vision die Ungleichheit zwischen den Armen und den Reichen schmerzlich bewusst, und er fasst daraufhin einen Plan: Über eine Petition verschafft er sich eine Audienz bei einem General, dem er zuerst demütig seinen lebenslangen Pflichteifer beschreibt und darauf, mutiger geworden, mit der Behauptung konfrontiert, dieser habe ihm die Zuneigung seiner Frau gestohlen und damit tief „gekränktŖ. Wütend lässt der verärgerte General den frechen Besucher vor die Tür setzen. Nachdem er jedoch erfahren hat, dass die Frau des Beamten tatsächlich wunderschön ist, findet sich Andrej Ivanoviĉ, wie der Held heißt, wenige Zeit später in einer neuen Wohnung wieder, hat zudem einen Diener und eine Kutsche und trägt einen Anna-Orden um den Hals. Die Figur des Beamten, bei Pavlov vom Pechvogel zum Glückspilz mutiert, steht im Mittelpunkt einer Geschichte, die eine geradezu märchenhafte Wendung nimmt. Diese Wendung, durch die der Autor nicht ohne Ironie die Gültigkeit des Satzes „Wo eine Wille ist, ist auch ein WegŖ demonstriert, kann als Entsprechung zu dem nicht weniger „phantastischen SchlussŖ (fantastiĉeskoe okonĉanie, 169) gelesen werden, den Gogolř in „ŃinelřŖ der „traurigen GeschichteŖ seines Helden anfügt. Darin erscheint Akakij Akakieviĉ als „Toter in BeamtengestaltŖ und raubt nächtlichen Passanten auf den Straßen Petersburgs die Mäntel, und zwar solange, bis er auf die „bedeutende PersönlichkeitŖ trifft, die ihn, wie der General den Helden Pavlovs, so abgekanzelt hat. Die Parallelen zwischen den beiden Erzählungen wirken verblüffend. Die dienstliche Abkanzelung Akakij Akakieviĉs hier und Andrej Ivanoviĉs dort bildet den Höhepunkt der Konfrontation zwischen dem kleinen Mann und dem System, und beidemal wird der Vertreter der Macht, kaum hat sich seine Erregung gelegt, anderen Sinnes. Der General enthebt Andrej Ivanoviĉ seiner untergeordneten Position und versetzt ihn, wenn auch aus eigensüchtigen Motiven, in die Lage eines plötzlichen Wohlstands. Die „bedeutende PersönlichkeitŖ, der Mitleid keineswegs gänzlich fremd zu sein scheint, empfindet Reue und sendet, allerdings zu spät, einen Beamten zu Akakij Akakieviĉ, „um zu erfahren, wie es denn um ihn stehe und ob man ihm nicht doch irgendwie helfen könneŖ (171). Bei aller Gegensätzlichkeit des Ausgangs, des glücklichen Endes in „DemonŖ und des unglücklichen Endes in „ŃinelřŖ, stehen sich diese beiden Beamtengeschichten mit ihren Protagonisten, die in der Monotonie des Abschreibens die höchste Erfüllung finden, so nahe, dass es nicht unbegründet erscheint, wie Elizabeth Shepard22 einen gewissen Einfluss der ersteren auf die Entstehung der letzteren zu vermuten. Sicher belegbar ist dies allerdings so wenig wie im Falle von Greĉs Memoiren. Auch für die bedeutende Rolle, die das phantastische Element in „ŃinelřŖ spielt, bietet Pavlovs „DemonŖ trotz der märchenhaften Schlusswendung noch keine ausreichende Erklärung. Hier sind ohne Zweifel andere Ŕ

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frühere Ŕ Anregungen und Einflüsse maßgeblicher. Das Phantastische, von E. T. A. Hoffmann-Epigonen wie Antonij Pogorelřskij (Lafertovskaja makovnicaŖ, 1825) in Russland eingeführt, wurde, von romantischen Schriftstellern wie Titov, Bestuņev-Marlinskij oder Vladimir Odoevskij aufgenommen, in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einem bevorzugten Erzählprinzip.23 In Odoevskijs „Pestrye skazkiŖ (Bunte Märchen, 1833), einer von Bezglasnyj, dem Pseudonym des Autors, herausgegebenen Sammlung von Erzählungen eines gewissen Irinej Modestoviĉ Gomozejko, konturiert es die Geschichte von einem Beamten, der sehr an Akakij Akakieviĉ erinnert. Der Held dieser Geschichte, der Kollegienrat Ivan Bogdanoviĉ Otnońenře, führt ein „ruhiges, friedliches LebenŖ, das einem streng geregelten Tagesablauf unterliegt. „Jeden Morgen, mit Ausnahme der Feiertage, stand er um 8 Uhr auf; um 9 Uhr begab er sich in die Abteilung, wo er gleichmütig, ohne Gefühl und ohne sich vom Platz zu bewegen, ohne sich aufzuregen und umsonst den Kopf zu zerbrechen, Schriftstücke zur Entscheidung vorbereitete und unterschrieb und Eingänge vermerkte.Ŗ24 Auch seine Untergebenen „schriebenŖ und „kopiertenŖ und „ordnetenŖ, der gleichen Arbeitsmoral verpflichtet, „still und leidenschaftslosŖ, als hätten sie ein „SchweigegelübdeŖ abgelegt. Nur wenn das Jahr zu Ende geht und der jährliche Rechenschaftsbericht erstellt ist, gestattet sich Ivan Bogdanoviĉ ein kleines Vergnügen und lädt seine Lieblingskollegen, zwei Abteilungsleiter und einen Tischvorsteher, zu einer Partie Boston in sein Haus ein. Er befindet sich im vierzigsten Dienstjahr seines eintönigen Daseins von einer geradezu automatenhaften Beständigkeit, als sich etwas Besonders ereignet: An einem Feiertag, einem Tag, an dem er weder zu arbeiten noch Boston zu spielen pflegt (es handelt sich sogar um den Ostersamstag), ist eine dringende Angelegenheit zu erledigen. Gegen Abend, nach getaner Arbeit, bittet Ivan Bogdanoviĉ seine Kollegen, wie sonst nur am Jahresende, zu ihm zu kommen, und sie spielen und spielen, so wie sie zuvor geschrieben und geschrieben haben Ŕ ohne Unterbrechung. Längst ist es schon tiefste Nacht, die Spieler, gequält von Hunger, Durst und Müdigkeit, „krümmen sich, von Krämpfen geschüttelt, auf ihren Stühlen, bemüht nicht herunterzufallen, doch vergeblich...Ŗ. Endlich löschte einer der Spieler die Kerzen, „und in demselben Moment entzündete sich eine schwarze Flamme; von allen Seiten ergossen sich dunkle Strahlen, und ein weißer Schatten breitete sich von den Spielern über den Fußboden aus; die Karten springen ihnen aus den Händen: Die Damen stießen die Spieler von den Stühlen, setzten sich auf ihren Platz, mischten von neuem die KartenŖ, und es beginnt ein „teuflisches SpielŖ.25 Das Irreale wächst hier in einer für Gogolř so charakteristischen Weise wie selbstverständlich aus der Realität des Alltäglichen heraus. Ebenso natürlich erscheint es, dass letztere am Ende wiederhergestellt ist: „Ermüdet und erschöpft, versanken alle Spieler in einen totenähnlichen Schlaf, der eine auf dem Tisch, der andere unter dem Tisch, der Dritte auf dem Stuhl.Ŗ26 So erklärt es sich auch, weshalb der Held, wie der Titel der Erzählung27 ankündigt, nicht dazu kommt, seinen Vorgesetzten am Ostersonntag seine Glückwünsche auszusprechen. Dass sich Realität und Phantastik unerwartet und auf groteske Art durchdringen, gilt

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für Odoevskijs ganzen „SkazkiŖ-Zyklus. In „Skazka o mertvom teleŖ28 hat der Gerichtsbeamte Ivan Sevastřjanyĉ gerade einen Bericht über eine unbekannte Leiche geschrieben, die in seinem Kreisgebiet gefunden worden ist, als in der Nacht die Seele des Toten auftaucht und in einem längeren Gespräch ihren Körper zurückfordert. Es soll nicht behauptet werden, dass zwischen „ŃinelřŖ und den Beamtengeschichten in Odoevskijs „Pestrye skazkiŖ eine unmittelbare Abhängigkeit bestehe, obwohl Gogolř mit einiger Wahrscheinlichkeit den Zyklus gekannt haben dürfte. Dennoch gibt es einen engen epochengeschichtlichen Zusammenhang, der von der satirischen Darstellung des Beamten bis zu der Technik der phantastischen Überhöhung der Wirklichkeit ohne jegliche rationale Auflösung reicht. Nur hat Gogolř dann diese Technik zu höchster künstlerischer Vollendung gebracht. Das geschah nach den dörflichen „DikanřkaŖ-Erzählungen und dem kleinstädtischen „Mirgorod-Zyklus im Rahmen seiner Zuwendung zur Großstadt. Noch ausschließlicher als Puńkin in „Pikovaja damaŖ (Pique Dame, 1834) präsentiert er in den „Petersburger ErzählungenŖ (Peterburgskie povesti, 1835Ŕ 1842) die „nördliche HauptstadtŖ als eine einzige Phantasmagorie.29 Als ein Bewohner Petersburgs erscheint der Held von „ŃinelřŖ vorgeprägt in den Helden von „Nevskij prospektŖ und „PortretŖ, den Künstlern Piskarev und Ĉartkov, sowie in dem Beamten Poprińĉin aus „Zapiski sumasńedńegoŖ. Sie alle verfallen der Unwirklichkeit der Stadt an der Neva, ihrem Glanz und ihrer Schönheit, ihren Verlockungen und Verführungen, erliegen dem Wesen eines Orts des Scheins, des Trugs, der Täuschung.30 Am meisten jedoch lügt und trügt der Nevskij Prospekt, wie es in der gleichnamigen Erzählung heißt, und zwar vor allem, „wenn sich die Nacht wie ein dicker Flor über alles legt und das Weiße und Hellgelbe der Häuserwände heraustreten lässt, wenn sich die gesamte Stadt in Lärm und Geflimmer auflöst, wenn Myriaden von Kutschen über die Brücken fahren, wenn die Vorreiter gellende Schreie ausstoßen und sich aus den Sätteln erheben und wenn der Dämon selber die Lampen anzündet, um alles nicht in seiner wahren Gestalt zu zeigenŖ.31 Das nächtliche Petersburg hat aber für Gogolř noch eine andere, nicht nur eine unwirkliche, sondern auch eine unsichere Seite. Sie klingt erstmals in einigen Erzählfragmenten32 aus der Zeit um 1833/34 an und gewinnt dann in „ŃinelřŖ, den Höhe- und Wendepunkt der Geschichte bildend, eine zentrale Bedeutung. In der Nacht ist der Petersburger ganz konkret gefährdet. Allein unterwegs, sieht er sich jederzeit leiblicher Bedrohung ausgesetzt. So wird Akakij Akakieviĉ, von der Abendeinladung bei dem Stellvertreter des Tischvorstehers zurückkehrend, überfallen und seines neuen Mantels entledigt. Das Ungeheuerliche des an und für sich nicht ungewöhnlichen Vorgangs liegt im gegebenen Fall in den entsetzlichen, ja tragischen Konsequenzen: Durch den Überfall wird ein Mensch nicht nur seines Kleidungsstücks, sondern auch seiner Existenz beraubt. Spätestens hier, an der Peripetie der Handlung, verliert Gogolřs Held das Merkmal des Pechvogels, das von der Annenkov-Anekdote bis zu Dalřs „BedovikŖ die Figur des Beamten zum Objekt des Lachens und Verlachens macht.

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Dem Umschlag von Glück zu Unglück, nach Aristoteles die Grundbedingung für die Entstehung von Tragik, folgt am Ende von „ŃinelřŖ ein zweiter Umschlag, der den ersten nicht aufhebt, aber im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit zu kompensieren sucht. Im Unterschied zum ersten führt er über das Reale hinaus ins Irreale: Der seines Mantels Beraubte beginnt nach seinem Tod selber Mäntel zu stehlen. Die Geschichte eine solche Wendung ins Phantastische nehmen zu lassen, dürfte von Anfang an in Gogolřs Absicht gelegen haben; dafür spricht der Titel des erhaltenen unvollendeten Erstentwurfs, der im Juli 1839 in Marienbad entstanden und in der Handschrift Michail Pogodins verfasst ist. Er lautet, sich eindeutig auf den Schluss der Endfassung beziehend: „Povestř o ĉinovnike kraduńĉem ńineliŖ (Erzählung von einem Beamten, der Mäntel stiehlt)33. Seinen phantastischen Charakter hat das Motiv des Überfalls erst in Gogolřs Verarbeitung gefunden. Denn der eigentliche Ursprung dieses Motivs liegt offensichtlich in der Realität Petersburgs und ihrer nach Einbruch der Dunkelheit beginnenden allgemeinen Unsicherheit. „Die Straßen sind nicht ungefährlichŖ, notierte Puńkin am 17. Dezember 1833 in seinem Tagebuch, „Suchtelřn wurde auf dem Schlossplatz angegriffen und ausgeraubt. Unsere Polizei beschäftigt sich anscheinend mit der Politik, aber nicht mit Dieben und der Straße. Ŕ Bludov hat man in der vergangenen Nacht bestohlen.Ŗ34 Gogolř, der sicherlich nicht auf Puńkins Hinweis angewiesen war, vielmehr eigene Kenntnis von der Gefährlichkeit eines nächtlichen Unterwegsseins in Petersburg gehabt haben wird, gestaltete das von tatsächlichen Vorkommnissen angeregte Motiv literarisch aus und versah es mit schauerlich-spukhaften Zügen nach der Art von E. T. A. Hoffmanns „NachtstückenŖ und der französischen Großstadtnovelle Balzacs oder Jules Janins. Trotz dieser deutlichen intertextuellen Bezüge wurde „ŃinelřŖ bei seinem Erscheinen offensichtlich nicht mehr als romantisches Werk gelesen. Seit den beginnenden vierziger Jahren war die russische Literatur gerade dabei, sich in die Richtung zum Realismus hin zu entwickeln, und das bedeutete, mit den Worten Belinskijs gesagt, „mehr als je zuvor zum Ausdruck gesellschaftlicher ProblemeŖ zu werden.35 Das erklärt, weshalb Gogolřs Erzählung, sofern sie seinerzeit überhaupt Beachtung fand, als wirklichkeitsschildernder Text mit der Figur des armen Beamten im Mittelpunkt aufgefasst wurde. Stepan Ńevyrev stellte sie in seiner Rezension über Nekrasovs „Peterburgskij sbornikŖ (1846) gar in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Pavlovs „DemonŖ, wo der Held, der Schreiber Andrej Ivanoviĉ, als „Opfer gesellschaftlicher BedingungenŖ gesehen und in seiner „ganzen moralischen ErniedrigungŖ gezeigt werde.36 Apollon Grigorřev, der 1847 die erste eingehende „ŃinelřŖ-Besprechung verfasste, setzte diese Betrachtungslinie fort und bezeichnete später unter dem Eindruck der großen Wirkung Gogolřs auf den jungen Dostoevskij, den Verfasser von „Bednye ljudiŖ (Arme Leute, 1846) und „DvojnikŖ (Der Doppelgänger, 1846), die „MantelŖ-Erzählung als Urtext der „Schule des sentimentalistischen NaturalismusŖ.37 Damit etablierte er die These vom „sozialen MitleidŖ, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gängige und zu sowjetischer Zeit Ŕ ideologisch bedingt Ŕ die fast ausschließliche Position der Kritik bildete. Formelhaft konzentriert in Akakij Akakieviĉs

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Ausruf „Warum kränkt ihr mich?Ŗ (143), der, meist als Meinungskundgabe des Verfassers verstanden, in den Ohren eines empfindsamen jüngeren Arbeitskollegen wie ein hilfloses „Ich bin doch dein BruderŖ (144) nachklingt, galt die Mitleidsthese als „ideelles ZentrumŖ38 und als „ideeller Schlüssel der ErzählungŖ39. Ihrer Sogkraft vermochten sich auch einige westliche Forscher wie Heinz Wissemann40 oder F. C. Driessen41, trotz der entschiedenen Zurückweisung durch Dmitrij Tschiņewskij42, der christlichen Akzentuierung wegen nicht zu entziehen. Dabei hatte Vasilij Rozanov bereits 1894, allerdings nahezu unbemerkt, eine entscheidende Wende in der Deutungsgeschichte von „ŃinelřŖ eingeleitet. In seinem Aufsatz „Kak proizońel tip Akakija AkakieviĉaŖ (Wie Akakij Akakieviĉ als Typ entstand) lenkte er das Augenmerk des Lesers vom Inhalt auf die Form, von der humanitären Botschaft auf die künstlerischen „VerfahrenŖ (priemy), und aus der Feststellung, dass die „humaneŖ Stelle, die später eine solche Berühmtheit erlangen sollte, im ersten Entwurf noch fehlt, zog er den Schluss, das sentimentale Element habe gar nicht zum ursprünglichen Plan der Erzählung gehört. Es handle sich lediglich um eine spätere „HinzufügungŖ (vstavka).43 Boris Ėjchenbaum nahm 25 Jahre danach, sich explizit auf Rozanov beziehend, diese Erwägungen auf. In seinem bahnbrechenden Aufsatz „Kak sdelana ‚ŃinelřŘ GogoljaŖ (Wie Gogolřs „MantelŖ gemacht ist, 1919), auf dem die gesamte nachfolgende „MantelŖ-Forschung mehr oder weniger fußt, begreift er die „melodramatische EpisodeŖ, wie er jene „humane StelleŖ nennt, ebenfalls als „zweite SchichtŖ, die den „rein anekdotischen Stil der ursprünglich skizzenhaften Fassung durch Elemente einer pathetischen Deklamation kompliziertŖ.44 Die Pathetik habe Gogolř eingeführt, behauptet Ėjchenbaum, die Überlegungen Rozanovs weiterentwickelnd, um einen starken Kontrast zu der den Text bestimmenden Komik zu schaffen. Dieser Kontrast besitze große Auswirkungen auf das Ganze: Er verleihe der gesamten Komposition einen „grotesken CharakterŖ.45 Das aber bedeutet, dass in „ŃinelřŖ das Sujet, also die Verflechtung der Motive, nicht die traditionell organisierende Rolle spielt. Das Sujet dient nach Ėjchenbaum hier nur noch der Verknüpfung einzelner, und das heißt vor allem komischer Stilmittel, die vom Wortwitz bis zur Wortmimik und Wortgestik aus dem skaz, der Illusion spontanen mündlichen Sprechens, resultieren. Damit rückt der Erzähler in den Vordergrund, und das Schwergewicht der Aussage verschiebt sich deutlich vom Erzählten auf das Erzählen. Von der Feststellung dieser Akzentverlagerung her entwickelte Horst-Jürgen Gerigk eine verblüffende Theorie, die einerseits das Primat des Erzählens anerkennt, andererseits jedoch bezweifelt, „daß deshalb das Erzählte in seiner Bestimmtheit unwichtig seiŖ.46 Gründend auf der Beobachtung Nilssons, der Schluss von „ŃinelřŖ, den der Erzähler selbst als „phantastischŖ bezeichnet, enthalte exakte Petersburger Ortsangaben, während in der vorausgehenden Geschichte Akakij Akakieviĉs jegliche topographische Genauigkeit fehlt47, behauptet Gerigk, diese sei nichts anderes als eine „reine ErfindungŖ des Erzählers: die Fiktion, die die Realität des zum Gespenst umgedeuteten, Mäntel stehlenden riesigen Kerls mit großem Schnurrbart erklärt.

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Die Annahme, dass die phantastische Schilderung des Mantelraubs als Trost posthumer Rache nächtliche Petersburger Wirklichkeit abbildet, die Beamtengeschichte innerhalb der Realität der Fiktion aber etwas Erfundenes, Erdichtetes ist, durch das der Erzähler das „mißglückte Dasein der anonymen Akakijs bedenkt und zu Wort kommen läßtŖ48, kann bei aller Faszination, die sie ausstrahlt, vom Text her weder belegt noch widerlegt werden. Dagegen lässt der Text keinen Zweifel daran, dass Ėjchenbaums auf dem Boden der „Formalen SchuleŖ ruhende Überzeugung, das Werk sei „nicht Ausdruck der Seele des Künstlers als eines Menschen, der diese oder jene Stimmungen empfindetŖ, sondern „etwas Gemachtes, Geformtes, ErfundenesŖ49, zu einseitig ist. Nachdem Ėjchenbaum den Leser vom Mitleid mit dem armen Beamten befreit und dessen Blick auf die Arbeit des Dichters gelenkt hatte, die sich in der Raffinesse der Kunstmittel eines weniger erzählenden als eines mimisch-deklamatorischen skaz erfüllt, war der Weg frei für die Erkenntnis, dass die Kunstmittel längst nicht alles und vor allem nichts Eigenwertiges sind, sondern im Dienst der Vermittlung eines umfassenden Sinngehalts stehen. In den fast hundert Jahren seit der Veröffentlichung von „Kak sdelana ‚ŃinelřŘ GogoljaŖ versucht die Forschung in einem unaufhörlichen Prozess die Weite und Tiefe dieses Gehalts zu erschließen. Dmitrij Tschiņewskij ging dabei in einem Vortrag, gehalten auf dem Berliner Slavistenabend am 4. Mai 1936, von dem Hinweis Ėjchenbaums aus, dass „DetailsŖ einen großen Anteil an der komischen Wirkung der Erzählerrede in „ŃinelřŖ haben. Allerdings sei der Aufmerksamkeit des verdienstvollen Forschers eine ganz „wesentliche lexikalische KleinigkeitŖ entgangen: das Wörtchen „sogarŖ (daņe), dessen ungewöhnlich zahlreiches, dreiundsiebzigmaliges Vorkommen bei einem solch ausgeprägten Stilisten wie Gogolř kein Zufall sein kann.50 Tschiņewskij weist deshalb auch an einem umfangreichen Belegmaterial nach, dass dieses kleine, für mündliches Sprechen typische Wort, das eigentlich eine Steigerung einleitet, in „ŃinelřŖ aber den Abbruch eines logischen Zusammenhangs in Gang setzt, über seine Funktion eines Komik erzeugenden Kunstgriffs hinausgreift und eine weitaus „tiefere BedeutungŖ51 gewinnt. Es trage entscheidend dazu bei, die Lebenssphäre des Helden zu beschreiben und diese in ihrer inneren Leere aufzudecken. Von hier aus sei es auch aufs engste mit dem Sujet und der Idee des Werkes verknüpft: der Versuchung, dem Entflammen und dem Untergang einer menschlichen Seele. Akakij Akakieviĉ, vom „TeufelŖ, dem Schneider Petroviĉ, zu dem Erwerb eines neuen Mantels verführt, wird das Opfer einer Leidenschaft, die nicht hoher, erhabener Natur ist, vielmehr etwas Alltägliches, Triviales, ja Nichtiges zum Gegenstand hat. So veranschaulicht Gogolř am Beispiel eines kleinen Beamten, der keinesfalls als „unser BruderŖ gezeigt werde („Gogolř hätte doch selbst nicht verkennen können, daß niemand von seinen Lesern solch einen Bruder hätte haben wollenŖ), die „Verhängnisse der KleinigkeitenŖ. Es ist der Zwiespalt zwischen der großen Leidenschaft und ihrem untauglichen Objekt, der, vermittelt durch das „sich immerfort wiederholende ‚sogarŘ, das ständige Auffliegen in die Höhe, nur um desto kraftloser herunterzufallenŖ, der für Tschiņewskij die „innere Struktur der KompositionŖ von „ŃinelřŖ bestimmt.52

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Für Ėjchenbaum hing die „Komposition der NovelleŖ noch „in hohem Maß davon ab, welche Rolle in ihr der persönliche Ton des Autors spielt.Ŗ53 So richtig diese Feststellung ist, Tschiņewskij war inzwischen einen bedeutenden Schritt weitergekommen. Er begründete Ŕ im Ausgang von einem vorher unbeachteten sprachlichen Phänomen Ŕ eine über die erzählerische Technik hinausgehende, ins Weltanschauliche führende Betrachtungsweise, die in der Folgezeit vielfältig aufgenommen, variiert, modifiziert oder korrigiert wurde. Insbesondere sein Hinweis, dass die religiöse Vertiefung von Gogolřs Denken (sie setzte genau in der Zeit der Arbeit an „ŃinelřŖ zwischen Mitte 1839 und Ende 1841 ein) den Text entscheidend bestimme, war von großer Anregungskraft und gewann eine enorme forschungsgeschichtliche Bedeutung. In der 1842 veröffentlichten, seitdem unveränderten und deshalb als gültig anzusehenden Textgestalt kommt nach Tschiņewskij im Unterschied zu der Marienbader Erstfassung und den folgenden Fragmenten ein Grundgedanke des späten Gogolř zum Ausdruck: Alles menschliche Sein wurzelt in Gott, und die Sicherheit durch solch eine Verwurzelung schwindet, wenn sich der Mensch zur Hingabe an eine „LeidenschaftŖ (zador), wie wichtig sie auch sein mag, verführen lässt.54 Tschiņewskij hatte die Spur gelegt, die der „MantelŖ-Forschung den Blick für die „Einarbeitung von BiblischemŖ55 öffnete, die sich auch in den parallel zu „ŃinelřŖ entstandenen Werken „Mertvye duńiŖ, „RimŖ (Rom), „Teatralřnyj razŗezd posle predstavlenija novoj KomediiŖ (Aufbruch aus dem Theater nach der Vorstellung einer neuen Komödie) sowie der zweiten Fassung der Erzählung „PortretŖ (Das Porträt) feststellen lässt. So stieß man, um Gogolřs Kenntnisse in der Hagiographie und im Schrifttum der Kirchenväter wissend, auf die Vita des Heiligen Acacius (Akakij Sinajskij), eines im 6. Jahrhundert lebenden und wirkenden Mönchs aus dem Sinai-Gebirge, und war bald überzeugt von deren Einfluss auf Namensgebung, Lebensschilderung sowie Charakteranlage des Helden von „ŃinelřŖ, differierte aber in den daraus gezogenen Konsequenzen bezüglich des Gesamtverständnisses der Erzählung. F. C. Driessen (1955), der die Heiligenlegende als quellenmäßige Erweiterung der Annenkov-Anekdote begreift, folgert, Tschiņewskijs Versuchungs- und Opferthese ins Gegenteil wendend, dass Akakij Akakieviĉ durch die Geschichte einer unglücklichen Liebe, der todbringenden Leidenschaft für den neuen Mantel, nicht zum Selbstverlust, sondern zur Selbstentdeckung und damit zum eigentlichen Leben geführt wird.56 John Schillinger (1972) setzt die Hingabe Akakij Akakieviĉs an seine tägliche Arbeit des Kopierens mit dem demutsvollen, Gott preisenden Dienst des Sinai-Mönchs gleich und liest „ŃinelřŖ daher als Travestie der Acacius-Legende, ja der Hagiographie überhaupt.57 Ähnlich ist Gogolřs kleiner Beamter für Klaus Dieter Seemann (1966) aus der Sicht der Legende zunächst einmal die Karikatur eines heiligen Narren. Entstehungsgeschichtlich jedoch besteht für ihn kein Zweifel daran, dass der Autor durch seine Quelle angeregt worden ist, den Charakter seines Helden dem des Mönchs anzunähern, das heißt, ihn in der Exposition mit den Zügen eines duldenden Gerechten auszustatten und am Ende, nur das Wunder der göttlichen Gnade durch die romantische Wendung ins Phantastische ersetzend, nach seinem Tod

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noch einmal auferstehen und auf andere Menschen läuternd einwirken zu lassen.58 Überzeugender als die in ihren Schlussfolgerungen nicht einheitlichen Versuche, den religiösen Sinn von „ŃinelřŖ durch den Rückgriff auf ein byzantinisches Heiligenleben zu entschlüsseln, ist ein auf einen gänzlich anderen christlichen Text, nämlich „direkt auf die Bergpredigt bezogenes LesemodellŖ, wie es Peter Thiergen 1988 vorgeschlagen und erprobt hat. Rolf-Dietrich Keil hatte zwei Jahre zuvor in seinem Aufsatz „Gogolř im Spiegel seiner BibelzitateŖ hervorgehoben, dass die Bergpredigt nach den Paulus-Briefen der von Gogolř am häufigsten zitierte Text des Neuen Testaments ist.59 Unter Bezugnahme auf Matthäus 5Ŕ7, ergänzt um Augustins Schrift „De vera religioneŖ, entwickelt Thiergen einen Ansatz Ulrich Buschs (1983) weiter, der sein Interesse auf den Erzähler von „ŃinelřŖ gerichtet und dabei erkannt hat, dass dieser als „falscher PredigerŖ konzipiert ist.60 Untätiges Mitleid, von der Autorintention als pseudochristlich entlarvt, ist ein Verstoß gegen den Tat-Auftrag der Bergpredigt, wie Thiergen feststellt, der, den Akzent vom Erzähler auf den Helden verlagernd, bei Akakij Akakieviĉ noch weitere Missachtungen der Bergpredigt-Anweisungen herausfindet: von der unbrüderlichen Versenkung ins Abschreiben über die heidnische Sorge der Fixierung auf den Mantel-Fetisch bis zu der fehlenden Feindesliebe und der Unfähigkeit zur Vergebung.61 Dass es in „ŃinelřŖ am Beispiel eines Menschen, der kein centrum securitas besitzt, um einen prägnanten Fall von Gottes- und Weltverlust geht, hatte schon Tschiņewskij zur zentralen Aussage erklärt. Diese entspricht exakt dem Stand der geistigen Entwicklung Gogolřs im Entstehungszeitraum der Erzählung. Nun ist sie durch Thiergens Betrachtung des Handlungsablaufs und des Handlungsträgers vom biblischen Grundlagentext der Bergpredigt her noch einmal konkretisiert, präzisiert und ergänzt worden. Das, was der narrative Text sagt, und das, was sein Verfasser meint, scheinen zu weitgehender Annäherung gelangt, wenn nicht sogar zu vollständiger Deckung gebracht zu sein. Dies aber bedeutet nun keineswegs, dass Gogolřs „ŃinelřŖ jetzt rundherum verstanden, sein Sinngehalt völlig ausgeschöpft sei. Vielmehr bedarf es auch weiterhin wie bislang der methodisch unterschiedlichsten Deutungen und Deutungsansätze, seien sie formalistischer oder strukturalistischer, narratologischer oder symbolischer, psychologischer oder psychoanalytischer, sozialethischer oder theologischer, intertextualistischer oder komparatistischer Art.62 Der Held Wie unterschiedlich die Zugänge zum Verständnis von Gogolřs „ŃinelřŖ auch sind, immer steht die Hauptgestalt im Mittelpunkt der Betrachtung. Es handelt sich bei ihr um einen literarischen Helden, der so gar nichts Heldisches an sich hat. Der Erzähler betont dies eingangs auch gleich: „In einem gewissen Departement diente ein gewisser Beamter, ein Beamter, von dem man nicht sagen kann, dass er besonders bemerkenswert gewesen wäreŖ (141). Das Bemerkens-

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werte ist im gegebenen Fall nicht der Charakter des Helden, sondern seine Geschichte. Erzählt wird, wozu es eher der Form des Romans bedürfte, das Leben einer Figur von der Geburt bis zum Tod, präsentiert jedoch wird die Lebensgeschichte in äußerst verknappter und verdichteter Art, komponiert in der klassischen Gestalt einer Novelle mit ihren typischen, bis zum Höhepunkt ansteigenden und darauf nach der Peripetie unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuernden Handlungsverlauf. Die Eckpunkte dieser Beamtenvita, ihr Anfang sowie ihr Ende, also Geburt und Tod, sind hingegen geradezu modern, nämlich „groteskŖ dargestellt63 und werden in dieser Hinsicht nur noch durch die an die Pantomime des „RevizorŖ-Schlusses erinnernden Darstellung des Epilogs als einer „effektvollen Apotheose des GroteskenŖ64 übertroffen. Bereits von hier aus wird klar, dass die verbreitete Auffassung, „ŃinelřŖ sei ein Schlüsselwerk in der Entwicklung der russischen Literatur zum Realismus, fragwürdig ist. Sollten in Russland die realistischen Schriftsteller selber geglaubt haben, letztlich aus Gogolřs „MantelŖ hervorgegangen zu sein, wie es das von de Vogüé in „Le roman russeŖ (1886) ohne Quellennachweis zitierte bekannte Diktum65 suggeriert, kann es sich dabei nur um ein Missverständnis handeln. Gogolř verzichtet von vorneherein auf das, was den Realismus als literarisches Verfahren auszeichnet: die direkte Darstellung der äußeren, gesellschaftlichen wie der inneren, bewussten oder unbewussten Wirklichkeit. Wo Tolstoj und Dostoevskij analysieren und kommentieren, zeigt und projiziert er, darin auf Kafka oder Beckett im 20. Jahrhundert vorausweisend. Das Zeigen und Projizieren des Inneren geschieht oft in Analogie zum Traum. Aus diesem Erzählprinzip des traumartigen Verfügens über die Gesetze der Empirie folgt das Dunkle und Rätselhafte, das bei Gogolř nicht nur „ŃinelřŖ, sondern auch allen Petersburger Erzählungen eigen ist. Die eingangs vom Erzähler entworfene Welt ist die gleiche Welt der Seltsamkeiten und Ungereimtheiten, wie sie beispielsweise aus „NosŖ entgegentritt. Beide Male wird diese Absurdität von Beginn an begründet: dort durch den Vorfall, das Verschwinden der Nase aus dem Gesicht des Kollegienassessors Kovalev und ihr Auftauchen im frisch gebackenen Brot des Barbiers, hier durch die Vorstellung des Helden, des Titularrats Bańmaĉkin, die keinen Porträtcharakter im realistischen Sinne besitzt. Statt einer eindeutigen und vollständigen Beschreibung der äußeren Erscheinungsweise wird eine Deskription gegeben, die, rhetorisiert und formelhaft verknappt, von eigentümlicher Unbestimmtheit ist: „Er war klein, ein wenig pockennarbig, ein wenig rothaarig und augenscheinlich sogar ein wenig kurzsichtig; er hatte über der Stirn eine kleine Glatze, Falten in den beiden Wangen und eine Gesichtsfarbe, die man hämorrhoidal nenntŖ (141). Das Einlässliche der Beschreibung täuscht. Der Beschriebene gewinnt keine Anschaulichkeit. Er entzieht sich wie eine Traumgestalt, die nachträglich in der Vorstellung reproduziert werden soll. Bestätigt wird diese Feststellung vom Klanglichen her. Die Beschreibung des Helden, so Ėjchenbaum, ist „weniger die Beschreibung des Äußeren als dessen mimisch-artikulatorische ReproduktionŖ.66

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Auch der anschließende Lebensrückblick, zunächst begrenzt auf zwei Ereignisse, die Namensgebung und die Taufzeremonie, bringt uns die Person, die dann die gesamte Geschichte trägt, nicht näher. Er legt vielmehr den Grund für ihre durchgängige Entindividualisierung. Die Schilderung, wie die Wöchnerin fast ein Dutzend Namen aus dem byzantinischen Heiligenkalender prüft und verwirft, um das neugeborene Kind am Ende einfach nach dem Vater zu nennen, enthält einen ersten Hinweis auf die mangelnde Originalität des späteren Erwachsenen. Dass dieser zudem von Anfang an eine zutiefst lächerliche Existenz verkörpert, signalisiert der ihm aus bloßer Einfallslosigkeit gegebene Vorname Akakij, der schon als solcher leicht komisch klingt und in der Verbindung mit dem Vatersnamen Akakieviĉ an zusätzlicher Komik gewinnt. Als Ergebnis einer „ganz bewussten LautzusammenstellungŖ ist die Namenskombination Akakij Akakieviĉ, vorbereitet durch die Reihung der anderen erwogenen Heiligennamen (Mokkij, Sossij, Chozdazat; Trifilij, Dula, Varachasij; Pavsikachij sowie Vachtisij), nach Ėjchenbaum lächerlich in ihrer „krassen EintönigkeitŖ und wirke daher wie ein „auf dem Prinzip der Klangsemantik beruhender SpitznameŖ.67 Weniger vom Klang als von der „EtymologieŖ her begründet Karlinsky, dass der Name Akakij Akakieviĉ von sich aus „SpottŖ, aber auch „VerachtungŖ hervorrufe. Griechisch Acacius bedeute der „MakelloseŖ oder der „UnbefleckteŖ. Seine russische Version hingegen klinge ausgesprochen so, als ob sie abgeleitet wäre von „okakatřŖ bzw. „obkakatřŖ (mit Exkrementen bedecken).68 Der bereits durch den Namen des Helden hervorgerufene Eindruck des Lächerlichen verstärkt sich weiter, wenn bei der Schilderung des anderen Lebensrückblick-Ereignisses ein Detail wie jene Grimasse, die der Täufling schneidet, das einzige Berichtenswerte an der ganzen Taufe zu sein scheint. In der Grimasse des Kindes, die der Erzähler ironisch als Vorahnung der Bestimmung zum ewigen Titularrat interpretiert, liegt bereits das Verzerrte und mechanisch Erstarrte des künftigen Beamten, der immer „auf demselben PlatzŖ, „in derselben HaltungŖ, „auf demselben PostenŖ sitzt (143). Dementsprechend weist umgekehrt das erwachsene Dasein in die kindlichen Anfänge zurück. Akakij Akakieviĉ Bańmaĉkin wirkt, als sei er „völlig fertig, in Uniform und mit Stirnglatze, auf die Welt gekommenŖ (143). Er scheint dem natürlichen biologischen Entwicklungsprozess des Menschen und damit zugleich den allgemeinen Kategorien von Zeit und Raum entzogen zu sein. Die im Erscheinungsbild beginnende und sich im Lebenslauf fortsetzende Reduktion gipfelt in der Art und Weise, wie Akakij Akakieviĉ die Beamtenposition ausfüllt. Der Umfang der Aufgaben, die ein Titularrat, übernehmen kann, ist bei ihm auf das Schreiben im Sinne des reinen Abschreibens (von Schriftstücken) eingeengt. Für eine anspruchsvollere Tätigkeit fehlen ganz offensichtlich die Voraussetzungen. Das Fehlen wird jedoch ebensowenig bedauert wie die daraus folgende Unmöglichkeit des beruflichen Aufstiegs. Denn der monotone Dienst am Stehpult erscheint als äußerst angenehme Beschäftigung. Das Vergnügen, das diese Beschäftigung bereitet, steigert sich zum höchsten Genuss, sobald Akakij Akakieviĉ auf einen seiner „LieblingsbuchstabenŖ trifft. „Dann lächelte

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er, zwinkerte mit den Augen und half mit den Lippen nach, so dass man an seinem Gesicht gleichsam jeden Buchstaben, den seine Feder ausführte, ablesen konnteŖ (144). Völlig glücklich in dieser zärtlichen Zuwendung zu den Buchstaben, reagiert er äußerst gekränkt, wenn ihn übermütige Kollegen bei der Arbeit stören. Deshalb nimmt er nach Dienstschluss stets einige Akten mit, schlingt, zu Hause angekommen, hastig sein Essen herunter und kopiert dann begeistert bis zum Schlafengehen. Deshalb schläft er auch niemals ein, ohne bereits an die Schreibarbeit des folgenden Tages zu denken und bei diesem Gedanken freudig zu lächeln, und deshalb hat er sogar auf der Straße das Gefühl zu schreiben, bis ihm eine feuchte Pferdeschnauze bewusst macht, dass er sich „nicht in der Mitte einer Zeile, sondern eher in der Mitte der StraßeŖ befindet. (145). Die konsequente Komik in den Worten, mit denen Akakij Akakieviĉ vorgestellt und sein Beamtenalltag beschrieben wird, „verhindernŖ von vornherein „jede ernsthafte realistische Darstellung des HeldenŖ.69 Von Absatz zu Absatz, von Satz zu Satz wird die Komik verstärkt und unter Verwendung vielfältigster Mittel rhetorischer, stilistischer, syntaktischer und lexikalischer Art bis ins Groteske getrieben. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der hohe Anteil des konkreten Details und seines starken visuellen Gehalts. Von Akakijs Hals heißt es, dass dieser, obwohl eigentlich viel zu kurz, wegen des schmalen Hemdkragens so „ungewöhnlich lang erschien wie bei jenen mit dem Köpfchen wackelnden Kätzchen aus Gips, die russische Straßenhändler fremder Nationalität zu Dutzenden auf dem Kopf herumtragenŖ (145). Immer wieder schimmert durch die Porträtierung des „MantelŖ-Helden jene alte Tradition der „CharakterskizzenŖ, die seit Theophrastos skurrile, karikaturistische Abweichungen vom normalen Menschentum zeigen. So erscheint Akakij Akakieviĉ einmal als der Pechvogel: „Immer blieb irgend etwas an seiner Uniform hängen, sei es etwas Heu, sei es ein Fädchen; außerdem besaß er dieselbe Gabe, auf der Straße immer dann unter ein Fenster zu kommen, wenn von dort aus gerade irgendwelcher Unrat hinausgeworfen wurde, und deshalb trug er ständig Schalen von Wasser- und Zuckermelonen oder ähnlichen Abfall auf seinem Hut herumŖ (145). Ein anderes Mal erscheint Akakij Akakieviĉ als der Zerstreute: „Wenn er nach Hause kam, setzte er sich sogleich an seinen Tisch, löffelte hastig seine Kohlsuppe und aß ein Stück Rindfleisch mit Zwiebeln, ohne das Geringste vom Geschmack zu merken; das alles schlang er samt der Fliegen und der übrigen Zutaten herunterŖ (145). So traditionell diese Art von Komik ist, sie erfährt eine eigentümliche, kein herzhaftes Lachen erzeugende Vertiefung, weil sie sich in Situationen entfaltet, die im engsten Zusammenhang mit Akakij Akakieviĉs beruflicher Konzentration stehen und seinen völligen Rückzug aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln. Das unaufhörliche Abschreiben, das subjektiv zu größter Befriedigung führt, ist das Komische, der dadurch objektiv entstehende totale Weltverlust das Tragische. Akakij Akakieviĉs Weltverlust beginnt in harmlosen Dingen wie etwa in der Vernachlässigung des Äußeren: „Um seine Kleidung kümmerte er sich überhaupt nichtŖ (145). Dann aber äußert er sich vor allem in der vollkommenen Kon-

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takt- und Sprachlosigkeit. Gogolřs Titularrat, der, buchstäblich in eine Schreibfeder verwandelt, in gewisser Weise Kafkas Käfermenschen Gregor Samsa zu antizipieren scheint, unterhält keinerlei Beziehungen außer rein funktionellen wie zu Kollegen und Vorgesetzten, zum Schneider und Schuster, zur Näherin, Wäscherin und Zimmerwirtin. Er hat weder Frau noch Kinder, weder Freunde noch Bekannte oder Verwandte. Er macht keine Besuche, nimmt keine Einladung an, gibt sich keinen Zerstreuungen hin. Da er jeden Kontakt meidet, hat er auch die Herrschaft über die Sprache verloren. Dem Schreiber treibt bereits die Aufgabe, eine Überschrift zu ändern oder einige Verben von der ersten in die dritte Person zu setzen, den Schweiß auf die Stirn (144). Deshalb bittet er, nur noch abschreiben zu dürfen. Im Alltag erschöpfen sich seine sprachlichen Möglichkeiten oftmals im Gebrauch von Partikeln, Adverbien und Präpositionen, von zusammenhanglosen Silben, abgebrochenen Ausrufen und verstümmelten Sätzen. Wenn eine Sache schwierig wird, beginnt er stammelnd mit Worten wie „Das ist, in der Tat, völlig ... ja ... ebenŖ (Ėto pravo soverńenno togo ...) und ist dann außerstande, das Angefangene zu beenden (149). Als er die Stube des Schneiders betritt, antwortet er auf die Frage Petroviĉs, was er denn bringe: „Ich komme nämlich, Petroviĉ ... ja ... eben ... dieser Mantel hier, das Tuch ... siehst du?Ŗ (A ja vot togo, Petroviĉ ... ńinelř-to, sukno ... vot vidińř, 150).70 Wo Worte nur noch isoliert und sinnentleert verwendet werden, haben sie ihre Funktion als Instrumente der Weltaneignung und damit der zwischenmenschlichen Kommunikation eingebüßt. Das bedeutet, dass Akakij Akakieviĉ, wie die Szenen mit dem Schneider und später mit der „bedeutenden PersönlichkeitŖ zeigen, demjenigen, der noch über die Sprache verfügt, hilflos ausgeliefert ist. Das Stottern und Stammeln lässt Akakij Akakieviĉ komisch erscheinen Ŕ da sich jedoch darin das aus seinem Weltverlust resultierende totale Ausgeliefertsein in der Konfrontation mit einem Gegenüber äußert, gewinnt die Komik zugleich einen tiefen, existentiellen Ernst. Auf ähnlich groteske Art wie der Held selbst ist auch dessen Ŕ behauptete Ŕ Armut dargestellt.71 Sie erscheint als solche ganz und gar nicht glaubwürdig. Akakij Akakieviĉ hat keine Familie zu versorgen. Er leistet sich keinerlei Extravaganzen, nicht einmal irgendwelche Vergnügungen. Dabei steht er keineswegs am untersten Ende der Beamtenhierarchie, vielmehr gehört er als Titularrat zur 9. Klasse der 14 Klassen umfassenden Rangordnung der Zivil-, Militär-, Verwaltungs- und Kirchenbehörden.72 Dass er bei solcher Position, die er zudem bereits seit langem innehat, nicht bzw. nur unter unsäglichen Anstrengungen in der Lage ist, sich etwas so fundamental Notwendiges wie einen Wintermantel als Schutz gegen den Petersburger Frost zu leisten, entbehrt jeglicher Wahrscheinlichkeit. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die Komik in der Beschreibung, wie der schon immer Sparsame seine Sparsamkeit noch einmal extrem steigert, um das Ziel, den Erwerb einen neuen Mantels zu erreichen: „Akakij Akakieviĉ überlegte lange hin und her und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass er seine täglichen Ausgaben mindesten ein Jahr lang einschränken müsse. Das hieße, auf den abendlichen Tee zu verzichten und am Abend keine Kerze anzuzünden und,

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falls es nötig sein sollte, noch etwas zu tun, ins Zimmer seiner Wirtin hinüberzugehen und bei ihrem Kerzenlicht zu arbeiten; auf der Straße möglichst leicht und vorsichtig auf den Steinen und Platten aufzutreten, fast auf den Zehenspitzen, um so die Schuhsohlen nicht vorzeitig abzuwetzen; die Leibwäsche so selten wie möglich zum Waschen zu geben, um sie zu schonen, beim Heimkommen sofort auszuziehen und nur im Schlafrock aus Baumwolle zu bleiben...Ŗ (154). Die äußere Armut Akakij Akakieviĉs, die schon durch die komische Darstellung als falsche Behauptung des Erzählers entlarvt wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Metapher für die geistig-seelische Armut des Helden.73 Letztere hat ihre Ursache nicht in den finanziellen und auch nicht in den sozialen Verhältnissen. Es ist die Obsession des Abschreibens, die Akakij Akakieviĉ in die gesellschaftliche und mitmenschliche Isolierung treibt und innerlich völlig verarmen lässt. Diese Verarmung drückt sich zudem darin aus, dass ihm das unentwegte Kopieren nicht bloß Genuss ist, sondern zugleich als einziger Genuss genügt. Seine Kollegen dagegen haben nach Dienstschluss nichts eiliger zu tun, als sich, gerade ein wenig erholt von dem „Kratzen der Schreibfedern in den DepartementsŖ und der „Erledigung der eigenen und der fremden unabdingbaren AngelegenheitenŖ, in der restlichen Zeit dem „Vergnügen zu widmenŖ: „Wer etwas unternehmungslustig ist, eilt ins Theater; ein anderer begibt sich auf die Straße, um sich der Betrachtung verschiedener Damenhütchen hinzugeben; ein Dritter verschwendet auf einer Abendgesellschaft seine Zeit damit, einem hübschen Mädchen, dem Stern eines kleinen Beamtenkreises, seine Komplimente zu machen, ein Vierter, und das kommt am häufigsten vor, sucht einfach seinen Freund im dritten oder im zweiten Stockwerk auf, der in zwei kleinen Zimmern mit Diele oder Küche wohnt...Ŗ (146). Die fast eine ganze Druckseite umfassende, kunstvoll in sich verschlungene und verschachtelte, immer wieder Um- und Abwege einschlagende Satzperiode, ein Musterfall der Meisterschaft Gogolřscher Prosarhetorik, mündet in ein Fazit, das jene Gegensätzlichkeit zwischen Akakij Akakieviĉ und seinen Amtskollegen noch einmal ausdrücklich betont: „Selbst dann, wenn alle bestrebt sind, sich zu zerstreuen, gab sich Akakij Akakieviĉ nicht der geringsten Zerstreuung hinŖ (146). Schon von hier aus wird deutlich und viele weitere direkte und indirekte Hinweise74 bestätigen dies: Der Held von „ŃinelřŖ ist kein typischer Beamter. Im Unterschied zur „physiologischen SkizzeŖ (fiziologiĉeskij oĉerk), als deren Begründer Gogolř seit frühester Zeit in missverstandener Weise gilt, geht es in dieser Novelle nicht darum, den Protagonisten als Repräsentanten eines Berufsstandes zu zeichnen. Dass der Titularrat Akakij Akakieviĉ Bańmaĉkin etwas anderes verkörpert als einen Standesvertreter und eine weite, ins Allgemeinmenschliche und Allgemeingültige weisende Bedeutung besitzt, gewinnt von der Stelle an seine Unabweisbarkeit, wo novellistischer Gesetzmäßigkeit entsprechend die Exposition als Vorstellung der zentralen Figur beendet ist und das Motiv des Mantels als dynamisierendes, die Handlung in Gang setzendes Element eingeführt wird.

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Motiv und Symbol des Mantels Der Mantel, der im strengen Petersburger Winter am Rücken und an den Schultern den „nördlichen FrostŖ durchlässt, zwingt Akakij Akakieviĉ, sich wider Willen mit der Welt einzulassen. Diese Einlassung stellt den Kontakt- und Sprachlosen vor unerwartete und letztlich unlösbare Probleme. Bereits die Tatsache, dass Petroviĉ die Ausbesserung des alten Mantels mit dem Hinweis ablehnt, er eigne sich nur noch zur Herstellung von „FußlappenŖ, und die Anfertigung eines neuen Mantels als eine unausweichliche Notwendigkeit bezeichnet (150 f.), bringt ihn gänzlich aus der Fassung. Er schreit, „vielleicht zum erstenmal seit seiner GeburtŖ, entfernt sich, „vollkommen am Boden zerstörtŖ, und geht, „ohne dies zu merken, statt nach Hause in eine ganz entgegengesetzte RichtungŖ (151 f.). Ähnlich, nur noch gesteigerter, reagiert er in der parallelen Szene mit der „bedeutenden PersönlichkeitŖ.75 Abgekanzelt, weil er wegen seines geraubten Mantels vorzusprechen wagt, „erstarrtŖ er, zittert „am ganzen KörperŖ, schwankt und muss, „unfähig, sich aufrecht zu haltenŖ, von mehreren Bürodienern aufgefangen werden (167). Als der kontaktlose Mensch merkt Akakij Akakieviĉ hier wie dort nicht, dass sein Gegenüber lediglich sich selbst inszeniert. Von der „bedeutenden PersönlichkeitŖ, die ihre schneidende Stimme „vor dem SpiegelŖ eingeübt hat, heißt es, „zufrieden, dass die Wirkung alle Erwartungen übertroffen hatte, und ganz berauscht von dem Gedanken, dass ihr Wort einem Menschen sogar die Stimme rauben kann, blickte sie von der Seite her auf den Freund, um festzustellen, wie dieser das Ganze beurteile, wobei sie nicht ohne Wohlgefallen registrierte, dass sich der Freund in einem unbestimmbaren Zustand befand und sogar seinerseits Furcht zu empfinden begannŖ (167), und von Petroviĉ, der seine Lippen „bedeutungsvollŖ zusammenzupressen verstand, wird gesagt, „er liebte sehr die starken Effekte, liebte es, jemanden plötzlich irgendwie in Verlegenheit zu bringen und dann aus den Augenwinkeln zu beobachten, was für ein dummes Gesicht der Verlegene machteŖ (151). Als der sprachlose Mensch findet Akakij Akakieviĉ beide Male keine Worte, um seinen Standpunkt zu vertreten, und so muss er den Verlust des Mantels genauso hinnehmen wie vorher die Anfertigung des Mantels.76 Nach der Kapitulation beim Schneider und der Überwindung des Schocks entwickelt Akakij Akakieviĉ, mit der schwierigen Frage der Finanzierung beschäftigt, unmerklich eine positive Einstellung zu dem Erwerb eines neuen Mantels. Der Wandel in der Einstellung bleibt als solcher unerklärlich. Es geht, wie so oft bei Gogolř, um die Tatsache an sich und nicht um deren psychologische Erklärbarkeit. Wissemanns Deutung, die „Idee vom künftigen MantelŖ (154), die Akakij Akakieviĉ jetzt zunehmend ergreift, sei der „einzige AuswegŖ, um nach den „menschenunwürdigen EinschränkungenŖ die „SelbstachtungŖ wahren zu können77, entspricht in ihrer Rationalität nicht dem Charakterbild des Helden und wird auch durch keine Aussage des Erzählers, der nach eigenen Worten ohnehin nicht in die Seele seiner Figuren zu blicken vermag (159), gestützt oder sogar bestätigt. Mit Sicherheit sagen lässt sich nur, was der Erzähler als persönlichen

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Eindruck festzustellen meint: „Von nun an schien seine ganze Existenz irgendwie ausgefüllter zu sein, so als ob er geheiratet habe, als ob ein anderer Mensch anwesend sei, als ob er nicht allein wäre, sondern eine angenehme Lebensgefährtin sich bereit gefunden hätte, mit ihm gemeinsam den Lebensweg zu gehen, und diese Gefährtin war niemand anderes als jener Mantel, dickwattiert, mit festem, unverwüstlichem FutterŖ (154). Das erotische Vokabular78 weist auf Akakij Akakieviĉs starke seelische Bindung an den Ŕ vorerst nur als Idee existierenden Ŕ neuen Mantel und entlarvt als Mittel der Ironie die tiefe Fragwürdigkeit dieser Bindung. Bleibt die Ironie unbeachtet, kommt es zu einer Auffassung wie der von der Vermenschlichung des Helden durch den Mantel. So ist Gukovskij der Ansicht, in dem Schreiber, der vorher lediglich eine „Maschine und kein MenschŖ gewesen sei, beginne, „das Menschliche zu erwachenŖ79, und Günther meint, an Gukovskij anschließend, Akakij Akakieviĉ überwinde „dank dem Mantel die totale Beschränktheit und Unmenschlichkeit seiner SchreiberexistenzŖ.80 In Wirklichkeit verhält es sich umgekehrt: Ein triviales Objekt, als solches Gegenstand des täglichen Gebrauchs, wird aus seiner Dingsphäre herausgelöst und erhält die Qualität eines menschlichen Wesens. An die Stelle einer nichtigen Leidenschaft, der Liebe zu den Buchstaben, die geistige Inhalte als kalligraphische Formen begreift, setzt sich eine noch nichtigere. Die Erhebung des Mantels zum Fetisch81 führt zu einer weiteren Zunahme der Entmenschlichung. Akakij Akakieviĉ erscheint verengter und verzerrter als je zuvor. Ebensowenig ändert der Mantel etwas an dem Weltverlust des Helden. Allerdings wird zunächst bewusst der Eindruck erweckt, Akakij Akakieviĉ gewinne noch eine nie besessene Soziabilität. Am Tag des Mantelempfangs beim Schneider lässt er sich, in glücklicher Stimmung, dazu bewegen, die Einladung zu einer Abendgesellschaft anzunehmen. Unterwegs zu dem Gastgeber, dem Stellvertreter des Tischvorstehers, nimmt er erstmals seine Umwelt wahr: „gutgekleidete DamenŖ, „Herren mit BiberkragenŖ, „Kutscher mit himbeerfarbenen Samtmützen auf lackierten Schlitten mit BärenfelldeckenŖ (158). Im Hause des Kollegen angekommen, freut er sich über die Aufmerksamkeit, die ihm und seinem Mantel zuteil wird. Er registriert den „Lärm, die Gespräche, die vielen MenschenŖ, begibt sich „zu den SpielernŖ, blickt „in die KartenŖ und schaut „diesem und jenem ins GesichtŖ (160). Der Erwerb des Mantels scheint seinem Träger eine völlig neue Lebensperspektive zu eröffnen: die Teilhabe an der Geselligkeit, das Interesse für die Mitmenschen, die Freude am leiblichen und sinnlichen Genuss, sogar die Bereitschaft für ein erotisches Erlebnis. Schon auf dem Weg zum Fest bleibt Akakij Akakieviĉ „neugierigŖ vor einem erleuchteten Schaufenster stehen, „um ein Bild zu betrachten, auf dem eine schöne Frau dargestellt war, die gerade ihren Schuh ausgezogen und dabei ihr ganzes, keineswegs übles Bein entblößt hatteŖ (159). Bei der Betrachtung lächelt er, ohne zu wissen warum. „VielleichtŖ, mutmaßt der Erzähler, „weil er auf etwas ihm ganz und gar Unbekanntes gestoßen war, für das aber jeder Mann ein unbestimmtes Gefühl in sich trägtŖ. Trotz solcher Andeutungen, dass der Held aus seiner Isolierung herausfinden und innerlich wie äußerlich zum Leben erwachen könnte, finden sich deutliche,

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wenngleich indirekte Hinweise auf das Gegenteil dieser Möglichkeit. Verwirrt, aber auch beeindruckt von dem festlichen Rahmen der Abendgesellschaft und durchaus erfreut, zunächst im Mittelpunkt zu stehen, beginnt Akakij Akakieviĉ nach geringer Zeit zu „gähnenŖ und sich „gelangweiltŖ zu fühlen. Zu zwei Glas Champagner muss er erst gedrängt werden, und als es Mitternacht wird, vergisst er bei aller Fröhlichkeit um ihn herum nicht, „dass es höchste Zeit ist, nach Hause zu gehenŖ (169). Es gelingt ihm nie, den Status des Beobachters zu überwinden. Er bleibt der Außenstehende. Der Mantel, der bei seinem vorzeitigen Weggang unbeachtet am Boden liegt, deutet zeichenhaft auf die letztliche Unaufhebbarkeit der Isolierung. Damit ist an zentraler Stelle der Erzählung, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, der Umschlag der Handlung vorbereitet. In der Nacht am „allerfeierlichsten TagŖ seines Lebens (156) führt der Weg den aus dem Lichterglanz bei Champagner und fröhlichem Treiben Heimkehrenden Ŕ konkret wie symbolisch Ŕ vom Hellen ins Dunkle, so wie ihn umgekehrt der Hinweg vom Dunklen ins Helle geführt hat. Vorher ging der stolze Besitzer des neuen Mantels zuerst durch „öde Straßen mit spärlicher BeleuchtungŖ, erreichte allmählich eine Gegend, die „besser beleuchtetŖ war, blieb für kurze Zeit vor einem „erleuchteten SchaufensterŖ stehen, gelangte, seinen Weg fortsetzend, schließlich zu jenem Haus, in dem die Abendgesellschaft stattfand, und betrat über eine Treppe, auf der eine „LaterneŖ brannte, die von zahlreichen „KerzenŖ erhellte Wohnung des Gastgebers (158 f.). Jetzt geht er die Treppe hinunter und betritt die Straße, auf der es „immer noch hellŖ ist, passiert geöffnete Läden und geschlossene, durch deren Türspalt ein „LichtstrahlŖ fällt, bis die Gegend wieder verlassener wird: „Laternen tauchten immer seltener auf Ŕ Öl wurde hier offenbar weniger bewilligt; es kamen Holzhäuser und Zäune; nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen; lediglich der Schnee glitzerte auf den Straßen, und in traurigem Schwarz ruhten die schlafenden niedrigen Hütten mit den geschlossenen FensterlädenŖ (160 f.). Die Zwangsläufigkeit dieses Rückwegs, der in seiner Symbolik immer offener zutage tritt, wird nur einmal, durch das retardierende Moment einer „Dame, die wie ein Blitz vorüberhuschte und bei der jeder Körperteil von ungewöhnlicher Bewegung erfüllt warŖ (160), unterbrochen. Einen Augenblick lang läuft Akakij Akakieviĉ der ins Licht strebenden Verkörperung weiblicher Reize nach. Indem er dann die weitere Verfolgung aufgibt, verzichtet er auf die Teilhabe an der Welt. Und so setzt sich der Gang ins Dunkle, das heißt in die Katastrophe, mit der Unerbittlichkeit und Unausweichlichkeit einer Tragödienhandlung fort. Je unbeleuchteter die Straßen werden, und je stiller und je einsamer, desto mehr schwindet die Heiterkeit, die den nächtlichen Heimkehrer bis dahin erfasst hat. Äußeres und Inneres gelangen zusehends zur Deckung. Am Ende ist das Seelische nur noch in der Form des Räumlichen vorhanden. Der „endlose PlatzŖ, der einer „furchtbaren WüsteŖ gleicht, erweist sich als Projektion der Leere, von der Akakij Akakieviĉ ergriffen wird. In diese Leere bricht die Angst ein. Die Angst lähmt. Derjenige, der auf dem Hinweg seine Umgebung so interessiert wahrgenommen hatte, schließt jetzt bei der Rückkehr ins alte Leben die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen, und geht mit „geschlos-

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senen AugenŖ weiter (161). Er verhält sich hier, wie er sich immer verhalten hat. Statt die Herausforderung der Realität anzunehmen, weicht er zurück und flieht in den Schutz des eigenen Ich. Diesmal ist diese Flucht vergeblich. Der „ewige TitularratŖ (veĉnyj tituljarnyj sovetnik, 141) hat sich zu weit von seinem so eng begrenzten Lebensbereich entfernt. Als plötzlich „irgendwelche Leute mit SchnurrbärtenŖ (161)82 vor ihm stehen, ist er der Gefahr hilflos ausgeliefert. Er vermag weder wegzulaufen noch um Hilfe zu rufen. In der surrealistischen Szenerie des Platzes, der an die Kälte und Unheimlichkeit der verlassenen Stadtlandschaften de Chiricos erinnert, verliert der Überfall seinen Realgehalt. Der Überfallene, nach einem Fußtritt wie ein Käfer „rücklings im SchneeŖ (161) liegend, ist der seiner Hülle beraubte, das heißt entblößte, ausgesetzte Mensch.83 Hier am Wendepunkt der Handlung erfüllt sich das Motiv des Mantels, das zunächst nur ein dramaturgisches Mittel ist, in seiner Funktion als das zentrale Symbol der Erzählung, womit sich zugleich seine exponierte Stellung als Titelwort rechtfertigt. Während andere Ŕ charakterisierend auf den Helden bezogene Ŕ symbolhaltige Wörter wie „SchuhŖ (bańmak)84, von dem der Erzähler den Familiennamen Akakij Akakieviĉs ableitet (142), oder wie „FliegeŖ (mucha), von der es heißt, Akakij Akakieviĉ teile mit ihr die Nichtbeachtung seitens aller im Raum Anwesenden (143), eindeutig herabsetzend sind, scheint der neue Mantel seinen glücklichen Besitzer in „ŃinelřŖ sichtlich zu erhöhen und mit einer vormals nicht gekannten Beachtung zu versehen. Damit gewinnt er den Rang eines Statussymbols, wie er ihn, wenn auch in prachtvollerer und kostbarerer Gestalt, das „vornehmste Stück Kleidung, ja des Mannes bester BesitzŖ85 bildend, bei hochgestellten Personen wie Königen und Fürsten, Kardinälen und Bischöfen besitzt. Dementsprechend wird die Übergabe durch den Schneider Petroviĉ, auf dessen Gesicht ein „solch bedeutsamer AusdruckŖ liegt, wie ihn Akakij Akakieviĉ bei ihm noch nie gesehen hatte, so geschildert, als ob es sich um einen Krönungsakt handle: „Nachdem er den Mantel ausgewickelt hatte, hielt er ihn mit beiden Händen hoch, betrachtete ihn voller Stolz und warf ihn Akakij Akakieviĉ ganz geschickt auf die Schultern; dann zog er ihn von hinten mit einer Hand nach unten und rückte ihn zurechtŖ (156). Der stolze Träger überprüft den richtigen Sitz des „herrschaftlichenŖ Gewandes, bezahlt dann und bedankt sich bei Petroviĉ, um sich anschließend unverzüglich ins Amt zu begeben. Dort wird er von all denjenigen, die seinen alten Mantel immer als „KapotteŖ (kapot) verspottet haben, so aufmerksam und höflich wie niemals zuvor empfangen. Bewundert aber wird Akakij Akakieviĉ nicht als Mensch, nicht einmal als Kollege, sondern als Besitzer eines Objekts von statussymbolischer Bedeutung. Petroviĉ trägt in seinem Schneider-Ehrgeiz noch dazu bei, dieses prächtiger aussehen zu lassen, als es in Wirklichkeit ist. So wählt er das Futter für einen Stoff, der „besser als SeideŖ ist und der „viel GlanzŖ verbreitet, und für den Kragen verwendet er ein Katzenfell, „das man aus der Ferne durchaus für Marder halten konnteŖ (155). Der neue Mantel ist wie vieles in Gogolřs Petersburger Welt nicht das, was er zu sein scheint. Sowohl die Kollegen als auch Akakij Akakieviĉ selber lassen

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sich von dessen falschen Glanz blenden. Vom Tag der Stoffauswahl an, die er zusammen mit dem Schneider trifft, steigert sich der Held während der Wartezeit in eine obsessive Züge tragende Leidenschaft für den künftigen Mantel, die die bisherige leidenschaftliche Liebe zum Abschreiben zwar nicht ersetzt, aber doch deutlich in den Hintergrund rückt. „So hätte er einmal beim Kopieren eines Aktenstücks fast einen Fehler gemachtŖ (155). Die Blendung von der Schönheit des Mantels erreicht ihren Höhepunkt, als Idee und Vorstellung mit dem Mantelempfang übergehen in die Realität des Besitzes. Angelangt auf dem Gipfel des Glücks erfolgt mit dem nächtlichen Überfall der tiefe Absturz, der sich schon in der rasch nachlassenden Aufmerksamkeit der feiernden Kollegen und in dem eigenen Gefühl des sozialen Nichtdazugehörigseins ankündigt. Das „armselige MäntelchenŖ, das zuletzt so löcherig ist, dass es am Rücken und an den Schultern einem „FliegennetzŖ gleicht (147), stellt für Akakij Akakieviĉ etwas völlig Vertrautes dar, weshalb ihm auch die Ausbesserung der schadhaften Stellen genügt hätte. Die „KapotteŖ birgt und schützt, nicht allein vor der winterlichen Kälte. Der Text weckt, unauffällig, jedoch unabweisbar, Assoziationen religiöser Art. Akakij Akakieviĉs alter Mantel, der, zumindest nach Petroviĉs fester Meinung, so geschäftlich diese auch begründet sein mag, nicht zu reparieren ist, evoziert das Bild der Schutzmantel-Madonna aus der mittelalterlichen Tafelmalerei oder die Idee des Schutzes durch ein Gewand, die in der slavisch-orthodoxen Liturgie einen bedeutenden Stellenwert besitzt.86 Der eher aufgezwungene als anfänglich gewollte, dann aber zum Gegenstand höchster Lust gewordene neue Mantel lockt Akakij Akakieviĉ aus der selbst geschaffenen Schreibwelt heraus, die trotz ihrer Banalität und ihrer Lächerlichkeit vor allem Geborgenheit bedeutet und führt ihn für einen Moment auf den Gipfel des Glücks, um ihn anschließend desto unbarmherziger ins Bodenlose zu stürzen. Keine der offiziellen Instanzen, an die sich der Stürzende hilfesuchend wendet, unternimmt etwas. Ganz im Gegenteil. Die drei Stationen vom Wachmann über den Polizeirerviervorsteher bis zu der „bedeutenden PersönlichkeitŖ formulieren in stetiger Steigerung eine immer entschiedenere Zurückweisung. Der vor seinem Schilderhäuschen auf eine Hellebarde gestützte Wachmann behauptet, nichts bemerkt zu haben und empfiehlt, sich am nächsten Morgen an den Reviervorsteher zu wenden. Dieser Vorsteher, der erst nach vielen Stunden und mehreren Vorsprachen um die Mittagszeit erreichbar ist, fragt, statt sich über den Vorfall zu informieren, den verwirrten Hilfesuchenden inquisitiv, weshalb er nachts auf den Straßen unterwegs sei und wo er sich wohl herumgetrieben habe. Die „bedeutende PersönlichkeitŖ schließlich, in ihrer Ungreifbarkeit und Unheimlichkeit eine kafkaeske Figur87 par excellence, wirft dem über fünfzigjährigen Bittsteller, der vor Befangenheit fast im Boden versinkt, den rebellischen Geist der heutigen Jugend vor und weist ihn, jegliche Unterstützung verweigernd, zurück auf den Gang durch ein bürokratisches Labyrinth, wie es auch Kafka in seinen Romanen und Erzählungen entwerfen wird: „Kennen Sie nicht die Vorschriften? Wie kommen Sie überhaupt hierher? Kennen Sie nicht den Dienstweg? Sie hätten zuerst eine Eingabe bei der Kanzlei machen müssen; diese wäre von dort zum Tischvor-

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steher und dann zum Abteilungsleiter gegangen, von hieraus hätte sie der Sekretär erhalten, und der Sekretär hätte sie danach mir zugeleitet...Ŗ (166). Nach der so lautstarken Abkanzelung durch die „bedeutende PersönlichkeitŖ läuft Akakij Akakieviĉ mit „weit aufgerissenem MundŖ (167) durch den Petersburger Schneesturm, holt sich eine Angina, schwillt am ganzen Körper an, verbringt einige Tage im Fieberwahn Ŕ und stirbt. Er stirbt, wie manch ein Protagonist des modernen Theaters, einen grotesken Tod. Der weit aufgerissene Mund, ein anschauliches Bild für das schutzlos Preisgegebene desjenigen der die Welt nicht mehr versteht, ist als Todesursache so lächerlich wie die im Hals steckenbleibende Gräte, an der in Gombrowiczs „Iwona, księżniczka BurgundaŖ (1935) die Titelheldin erstickt. Das Lächerliche verdeutlicht, dass sich der Untergang, dem Sinn und Notwendigkeit fehlen, letztlich jeder Erklärung entzieht. Auch der Erzähler gibt keine Erklärung, sondern beschränkt sich auf die lapidare Feststellung „Ein Wesen, das niemand beschützte, das niemanden interessierte, war verschwunden und verschollenŖ, um dann fortzufahren, dabei zugleich auf die Doppelsymbolik des Mantels als Schutz und als Verhängnis weisend: „Ein Wesen, das die Spötteleien in der Kanzlei geduldig ertragen hatte und das ohne eine außergewöhnliche Tat ins Grab gegangen war, dem aber wenigstens, wenn auch erst kurz vor Lebensende, ein lichtvoller Gast in Gestalt eines Mantels erschien, der für einen Moment das armselige Leben erhellte, worauf dann allerdings unerbittlich ein Unglück hereinbrach, wie es sonst auf Zaren und andere Große der Welt hereinzubrechen pflegtŖ (169). Der Nachruf des Erzählers, der in konzentriertester Form und nicht ohne Ironie, aber auch nicht ohne ein anteilnehmendes Verständnis eine Summe des erzählten Lebens zieht, bestätigt, was bereits die voraufgegangene Handlung gezeigt hat: dass die Wendung vom Glück zum Unglück im vorliegenden Fall nur formal dem tragischen Geschehen auf der Bühne oder in der Wirklichkeit entspricht. Beim Helden von „ŃinelřŖ fehlt die Fallhöhe, die bei einer Herrschergestalt von Natur aus gegeben ist. Der banale Tod ist der Ausdruck einer banalen Existenz. Zu der banalen Existenz gehört die sofortige Ersetzbarkeit: „Und bereits am nächsten Tag saß auf Akakij Akakieviĉs Platz ein neuer Beamter, der viel größer war und die Buchstaben nicht mehr so gerade setzte, sondern weit schräger und schieferŖ (169). Die Erzählergestalt Wenn der Erzähler am Ende den Helden der Geschichte als einen Menschen beschreibt, der zu seinen Lebzeiten „niemanden interessierteŖ und der dann mit seinem Tod so spurlos aus Petersburg verschwand, „als hätte es ihn dort niemals gegebenŖ (169), scheint er der durchgängigen spöttischen Grundhaltung zum Trotz im Leser noch einmal Mitleid erregen zu wollen, nicht anders als an einer früheren Stelle, wo er die demütigenden Späße schildert, die junge Beamte mit Akakij Akakieviĉ treiben und die dieser solange schweigend erduldet, bis sie unerträglich werden und ihn so bei der Arbeit behindern, dass er verzweifelt ausruft: „Lasst mich doch in Ruhe, warum kränkt ihr mich?Ŗ Diesen Ausruf interpretiert

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der Erzähler als einen eindeutigen Mitleidsappell des Helden. Als wäre dies nicht bereits deutlich genug, wird der gefühlvolle Gehalt der Szene vom Erzähler durch eine episodische Erweiterung verstärkt. Einer der jungen Beamten, der, erst seit kurzem im Amt, mit den anderen seine Scherze auf Kosten Akakij Akakieviĉs getrieben hat, gelangt plötzlich, unter der Wirkung einer „übernatürlichen MachtŖ, zu Einsicht und Umkehr. Nicht genug, „noch lange danach kam ihm manchmal in den fröhlichsten Augenblicken der kleinwüchsige Beamte mit der Stirnglatze in den Sinn, und er hörte die bewegenden Worte ‚Lasst mich doch in Ruhe, warum kränkt ihr mich?Ř Und in diesen bewegenden Worten klangen andere mit: ‚Ich bin doch dein BruderřŖ (144). Diese Passage, die auch nach Ėjchenbaums Korrektur für lange Zeit als Aufruf zu sozialem oder christlichem Mitleid und damit als Ausdruck der eigentlichen Botschaft der Erzählung verstanden wurde, bildet zusammen mit der korrespondierenden Passage des Nachrufs auf den verstorbenen Helden in ihrem sentimental-melodramatischen und pathetisch-deklamatorischen Charakter einen scharfen Kontrast zu dem sonst vorherrschenden spöttischen Plauderton. Die Auffassung, dass es sich bei dem Kontrast um einen Kunstgriff handelt, der die gesamte Komposition von „ŃinelřŖ zur Groteske macht88, reduziert den Erzähler auf einen Formkünstler, der einen Text „konstruiertŖ und dabei „keinen Raum für die Widerspiegelung seelischer EmpirieŖ lässt.89 So virtuos letzterer mit Worten, Klänge, Stilen umzugehen weiß, er ist keineswegs nur der Sprachartist, der ein unverbindliches Spiel mit seinem Leser treibt. Gewiss hat er auch etwas von einem „DarstellerŖ, ja einem „KomödiantenŖ90, wenn er bewusst auf Wirkung setzt und mit sichtlicher Freude darauf zielt, Verblüffung zu erzeugen. Das geschieht auf der Grundlage souveränen Verfügens über die Mannigfaltigkeit der künstlerischen Mittel. Durch die Wahl des skaz auf der sprachlich-stilistischen Ebene zu größerer Freiheit legitimiert, bedient sich der Erzähler, der uns von Beginn an suggeriert, dass er selber dem Beamtenstand angehört oder zumindest mit dem Beamtenmilieu vertraut ist, einer Sprache von höchster, sich zwischen Standard-, Umgangs- und Buchsprache hin und her bewegender Flexibilität. Erstreckt sich die Umgangssprache bis in die Niederungen des prostorečie91, konzentriert sich die Buchsprache auf einen milieugerechten Kanzleistil mit seinen lexikalischen und syntaktischen Besonderheiten.92 Ebenso beweglich ist der Erzähler auf der Ebene des Erzählens. Er wechselt Rolle, Haltung, Standort und Perspektive. Einmal verknappt er seine Ausführungen bis zum Abbruch, ein anderes Mal beschreitet er Um- und Abwege und scheint vor Weitschweifigkeit kein Ende zu finden. Obwohl er seinen Erzählbericht vornehmlich auktorial anlegt, scheut er sich nicht vor der Integration erlebter Rede oder sogar innerer Monologe.93 Ähnlich flexibel und völlig unbekümmert im Hinblick auf irgendeine Widersprüchlichkeit zeigt er sich, wenn er erst betont, er könne nicht in die „SeeleŖ seines Helden „kriechenŖ (159), dann aber ohne Begründung oder Rechtfertigung genau weiß, was Akakij Akakieviĉ denkt und fühlt.94 Wenn solche Verfahren nicht nur „KunstgriffeŖ im Ėjchenbaumschen Sinne sein sollen, um ihrer Wirkung willen betriebene Spiele eines großen Selbstdar-

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stellers, so muss sich in ihnen ein tieferer Sinngehalt verbergen. Das gilt auch für die netzartig über den ganzen Text verstreuten Elemente einer etwas steifen Amtssprache, die, wie von Vinogradov beschrieben95, in ihrer Mischung mit einer lockeren Umgangssprache dem Milieu der mittleren und niederen Schreiber im bürokratischen Apparat zur Zeit Nikolaj I. entstammt. Von Gogolř, der durch eigene Schreibertätigkeit mit diesem Milieu vertraut war, parodistisch verwendet, tragen die kanzleisprachlichen Einfügungen entscheidend dazu bei, den wiederholt als bedauernswerte Person ausgegebenen Helden karikaturistisch herabzusetzen. Ein eklatantes Beispiel ist die Stelle, wo sich Akakij Akakieviĉ die wichtige, ihn zutiefst beunruhigende Frage stellt, „von welchem GeldŖ (na kakie denřgi) er den Mantel denn jetzt eigentlich anfertigen lassen soll. Natürlich könnte man sich, denkt er, „auf die zu erwartende Gratifikation verlassenŖ (poloņitřsja na buduńĉee nagraņdenie). Doch das „GeldŖ (denřgi) sei schon lang vorher „eingeplant und verteiltŖ (razmeńĉeny i raspredeleny): „Es war nötig (trebovalosř) neue Hosen „anzuschaffenŖ (zavesti) und alte Stiefelschäfte zu bezahlen, und „man mussteŖ (sledovalo) bei der Näherin drei Hemden „bestellenŖ (zakazatř), dazu zwei Stück jener Wäsche, die „in gedruckter FormŖ (v peĉatnom sloge) zu nennen unschicklich ist, kurz, „das Geld wäre restlos verbrauchtŖ (vse denřgi soverńeno dolņny byli razojtisja). Obwohl es in dem Monolog (153) um ganz Privates, ja Intimes geht, kommt darin keine einzige persönliche Konstruktion vor. Eine Diskrepanz von Inhalt und Form entsteht, die durch längere, schwer verständliche, in sich verschachtelte Sätze noch verstärkt wird. Die Trivialität der aufgezählten Alltagsdinge und die zu ihrer Beschreibung herangezogene gehobene Sprachebene konstituieren einen Kontrast, dem hier wie an vielen Stellen des Textes eine im Dienst der satirischen Absicht des Autors stehende „bivalente KomikŖ entspringt: „die Parodierung der Kanzleisprache und die Ironisierung der Probleme von Akakij AkakieviĉŖ.96 Es sind nicht nur kanzleisprachliche Elemente, sondern auch Ausdrücke aus dem religiösen Sprachgebrauch, die Gogolř um der komischen Wirkung willen kontrastierend, und dies heißt inadäquat, verwendet. So bezeichnet der Erzähler die einzige Rettung, die es für die Petersburger Beamten mit vierhundert Rubel Jahresgehalt vor dem „mächtigen FeindŖ, dem „nördlichen FrostŖ, gibt (nämlich in ihren dünnen Mänteln schnellstmöglich die fünf bis sechs Straßen zum Amt zurückzulegen), auf biblische Terminologie zurückgreifend als „ErlösungŖ (spasenie, 147). Bei der „bedeutenden PersönlichkeitŖ, die durch ihr so schroffes, abweisendes Verhalten mitverantwortlich ist am Tod des Helden, meint er am Ende um der Gerechtigkeit willen ein aufrichtiges „BedauernŖ feststellen zu können; denn Mitleid (sostradanie) im christlichen Sinne, so ist er überzeugt, sei dieser grundsätzlich keineswegs fremd, nur hindere der „RangŖ daran, Rührungen des Herzens im Dienst zu bekunden (171). Und wenn Akakij Akakieviĉ, der einen zu seiner herabsetzenden Eingangscharakteristik wenig passenden Heiligennamen trägt, von seinen Amtskollegen derart in der Arbeit gestört wird, dass er Ŕ wie bereits erwähnt Ŕ hilf- und machtlos nur noch ein „Warum kränkt ihr mich?Ŗ zu äußern vermag, dann identifiziert sich der Erzähler spontan mit dem zutiefst Ge-

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kränkten und hört aus dessen Stimme „etwas SeltsamesŖ heraus: „In ihr erklang etwas, was zu Mitgefühl geneigt machteŖ (V nem slyńalosř ĉto-to takoe preklonjajuńĉee na ņalostř, 143). Es sind die kanzleisprachlichen Anklänge in der emotionalen, Religiöses assoziierenden Passage, die den Sprecher entlarven. Dessen Mitgefühl ist nicht echt, auch wenn er es durch die Gestalt eines ähnlich empfindenden jungen Mannes zu beglaubigen versucht. Das Gleiche gilt für den Nachruf, dieser zweiten explizit „humanen StelleŖ im Text, wo der Verstorbene als ein „WesenŖ bedauert wird, das so unscheinbar existiert hat, dass es nicht einmal die „Aufmerksamkeit eines NaturforschersŖ erregte, „der es doch nie versäumt, auch noch die gewöhnlichste Fliege aufzuspießen und im Mikroskop zu betrachtenŖ (169). Es ist die mitschwingende Ironie, die die ungewollte Selbstentlarvung des Erzählers übernimmt. Der Erzähler von „ŃinelřŖ ist von Anfang an nicht bereit, seinen Helden ernstzunehmen. Deshalb zeigt er ihn auch an keiner Stelle als Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes. Man spürt geradezu sein Vergnügen, Akakij Akakieviĉ in all seiner Beschränktheit, Hilflosigkeit und Erbärmlichkeit bloßzustellen. Viel stärker scheint ihn das Mantelmotiv zu interessieren, wofür auch dessen Titelsetzung spricht. Das aber bedeutet, dass er die Geschichte vor allem als eine anekdotische „Erzählung von einem Beamten, der Mäntel stiehltŖ versteht. In dieser „MantelŖ-Anekdote gibt er sich als Humanist, kennt in Wirklichkeit aber keine Humanität. So hat Gogolřs Erzähler, wie Ulrich Busch erkannt und überzeugend aufgezeigt hat, ein „durchweg verkehrtes, inhumanes, unbrüderliches SeinsverständnisŖ.97 Und so falsch wie seine Mitleidsbekundungen sind, ist häufig auch sein Sprachgebrauch. Für eine profane Situation wählt er einen religiösen Ausdruck, für einen emotionalen Zustand eine kanzleisprachliche Wendung. Er bietet unpassende Vergleiche an oder suggeriert eine Steigerung, die aber nicht eintritt oder gar durch einen logischen Bruch ins Nichtige, ja ins Nichts führt, was dann eine höchst groteske Wirkung entfaltet. Eine wesentliche Funktion erfüllt dabei, wie schon sehr früh, so von Brjusov, Gippius und Slonimskij, entdeckt und später von Tschiņewskij98 ausführlich analysiert, das Wörtchen „sogarŖ (daņe). Als der Erzähler eingangs den Familiennamen seines Helden, den er zuvor mit herablassendem Spott als klein, pockennarbig, rothaarig und „sogar ein wenig kurzsichtigŖ (141) vorgestellt hat, von dem Wort „bańmakŖ ableitet, weckt er im Leser die Ŕ an sich schon komische Ŕ Annahme, alle Ahnen Akakij Akakieviĉs hätten Schuhe getragen. Doch dann enttäuscht er die geweckte Annahme, indem er die Schuhe durch die Stiefel ersetzt, wobei er einem ersten Gedankengang, dem des Übergangs vom Großvater zum genetisch gesehen überhaupt nicht zur Familie gehörenden Schwager, einen zweiten, die Abschweifung über das Besohlen der Stiefel, folgen lässt, die nicht das Geringste mit der Namensgebung zu tun hat: „Sowohl der Vater als auch der Großvater und sogar der Schwager sowie ohne Ausnahme sämtliche Bańmaĉkins gingen in Stiefeln, die sie nur etwa dreimal im Jahr neu besohlen ließenŖ (142). Die den Text von Anfang bis Ende, von der Exposition bis in den Epilog, durchziehenden Alogismen, objektiv ein Kunstgriff des Autors zur Erzeugung

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von Komik, subjektiv ein Zeugnis für die Inkompetenz des Erzählers, erfassen alles und alle, den Helden wie die „bedeutende PersönlichkeitŖ, den Schneider Petroviĉ wie seine Frau, die jungen Kollegen Akakij Akakieviĉs wie die nicht namentlich genannten Beamten der verschiedenen Ränge. Der Erzähler, der so fest an die Unerschütterlichkeit der russischen Rangtabelle glaubt, dass er vermeint, die Natur und das Schicksal wären höhergestellten Beamten gegenüber milder gestimmt als tiefer stehenden, muss erkennen: Der Petersburger Winter kann derart kalt sein, dass „sogar denen, die höhere Ämter bekleiden, die Stirn vor Frost schmerzt und Tränen in die Augen tretenŖ (147), und es gibt Katastrophen, die nicht nur auf dem Lebensweg eines Titularrats lauern, sondern sogar auf dem von Geheimen Räten, Wirklichen Räten, Hofräten und allen möglichen Räten, ja sogar auf dem von jenen, die niemandem einen Rat geben und selber von niemandem einen Rat annehmenŖ (146 f.). Alogisches Sprechen, unangemessene Wortwahl, Vermischung der Stilebenen Ŕ das sind Elemente eines verkehrten Erzählens, in dem eine verkehrte Welt, eine Welt der inneren Leere, der fehlenden Demut, des Mangels an Mitgefühl und tätiger Liebe, zur Erscheinung kommt. Hier verfügt keine der Figuren, der Held, das vermeintliche Opfer, ebensowenig wie der Erzähler, die vermeintliche Autorität, über ein „centrum securitatisŖ.99 Das „ganze BeamtenvolkŖ hat nach Dienstschluss nichts eiliger zu tun, als nach vielfältigsten Zerstreuungen Ausschau zu halten und sich dabei dem reinen Vergnügen hinzugeben (146). Petroviĉ, der „einäugige TeufelŖ, sieht in Akakij Akakieviĉ nicht den Hilfsbedürftigen und in der Anfertigung des Mantels nicht die Schaffung einer schützenden Hülle, sondern vor allem die Möglichkeit, in der Kunst des Schneiderns zu glänzen und mit dieser Kunst möglichst viel Geld zu verdienen (149). Die „bedeutende PersönlichkeitŖ, die Strenge im zwischenmenschlichen Umgang zu ihrem obersten Prinzip erhebt, liebt es, sich in Szene zu setzen und merkt in ihrer Selbsterhöhung nicht, wie sie auf diese Weise andere zutiefst erniedrigt. Nach der Abkanzelung Akakij Akakieviĉs ist sie höchst „zufrieden damit, dass die Wirkung sogar ihre Erwartungen übertroffen hatte, und völlig berauscht von dem Gedanken, dass ihr Wort einem Menschen sogar die Sinne rauben kannŖ (167). Jeder verhält sich in der Erzählung „ŃinelřŖ auf seine eigene Weise „unbrüderlichŖ. Diese bereits von der verwendeten Begrifflichkeit her ins Christliche weisende Feststellung bestätigt, dass der Text im Anschluss an Busch und Thiergen auch „im Lichte des späteren religiösen GogolřŖ100 gelesen werden kann, ja gelesen werden muss. Der Erzähler versucht bei aller Lust an der Schilderung der Verkehrtheit im privaten wie im öffentlichen Bereich menschliches Fehlverhalten gleichzeitig zu verstehen, zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Er ist Satiriker und Prediger in einem, als letzterer allerdings ein „falscher PredigerŖ.101 Und dies bleibt er auch über das Ende der eigentlichen Geschichte hinaus, einer Geschichte, die mit dem Tod ihres Helden bereits abgeschlossen zu sein scheint. Gerade hat er mitgeteilt, dass auf dem Arbeitsplatz des Verstorbenen tags darauf ein Nachfolger sitzt, da fährt er unvermittelt fort: „Wer aber hätte sich vorstellen können, dass hier noch nicht alles über Akakij Akakieviĉ gesagt ist, dass es ihm

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beschieden war, noch einige Tage nach seinem Tod stürmisch weiterzuleben, gleichsam als Belohnung für sein von niemandem beachtetes Leben?Ŗ (169). Die Erklärung, die der Erzähler für die Wiederkehr Akakij Akakieviĉs als „Toter in Gestalt eines BeamtenŖ anbietet, es handle sich um eine „BelohnungŖ, das heißt eine Art berechtigter Entschädigung für ein nicht gelebtes Leben, ist so verkehrt wie vieles, was er zuvor im Laufe der Erzählung geäußert hat. So wird der Epilog nicht nur zum letzten Auftritt des Helden, sondern auch zur letzten, ihren Gipfel erreichenden Selbstinszenierung des Erzählers und zur abschließenden Gewissheit von seiner Unzuverlässigkeit, Unglaubwürdigkeit und Inkompetenz. Der Epilog Nicht wenige Interpreten sind im Vertrauen auf die traditionelle Rolle der erzählenden Instanz, die Verkörperung von Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit, der Erklärung des „MantelŖ-Erzählers gefolgt und verstehen das im Epilog geschilderte Geschehen als einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit. „It is Akakijřs posthumous vengeance and posthumous triumphŖ, formuliert Leon Stilman repräsentativ für viele.102 Der Geist des toten Akakij Akakieviĉ räche sich aber „nicht nur persönlichŖ, so ergänzt Maximilian Braun, er handle darüber hinaus auch im Namen einer höheren Gerechtigkeit, indem er die Schuldigen bestraft und die gestörte moralische Ordnung wiederherstelltŖ.103 Der im doppelten Sinne des Wortes „armeŖ Beamte erscheint nach diesem Verständnis am Ende als „SiegerŖ, aber nicht ohne zugleich ein „warnendes BeispielŖ zu sein: In ihrer Eitelkeit und Überheblichkeit sollten die „VorgesetztenŖ, allen voran die „bedeutende PersönlichkeitŖ, niemals vergessen, dass die „kleinen LeuteŖ, wenn sie nicht als Menschen behandelt werden, zur Verzweiflung und vielleicht sogar zur Rebellion getrieben werden könnten.104 In der sowjetischen Gogolř-Forschung hat schon lange vorher dieser Gedanke zu der Überzeugung geführt, dass die von Akakij Akakieviĉ praktizierte Ŕ gleichsam die Große Revolution antizipierende Ŕ Rebellion einen gerechtfertigten Protest darstellt und nicht nur moralisch, sondern auch gesellschaftlich geboten ist.105 Damit wird der Epilog als eine Verschärfung des satirischen Gehalts der Erzählung verstanden. Für andere wie etwa Leonard J. Kent besteht der posthume Triumph des Helden darin, dass dieser nach seinem trivialen Leben wenigstens im Tod noch zu einer „gewissen BedeutungŖ (some meaning) gelangt106, während er für James B. Woodward darin liegt, dass Akakij Akakieviĉ zu Lebzeiten verweichlicht, ja verweiblicht107, als Geist, „befreit von der Last seines kraftlosen KörpersŖ, seine Männlichkeit entdeckt: ŖThe ghost, therefore, presents itself as the herořs resurrected masculine spirit.ŗ108 Der Auffassung vom Helden als Triumphator genau entgegengesetzt sind die Meinungen, die das Epiloggeschehen negativ beurteilen und die gespenstische Auferstehung des Verstorbenen als Strafe für nichtige Leidenschaften verstehen. Hauptvertreter dieser Denkrichtung ist Dmitrij Tschiņewskij, der das Thema von „ŃinelřŖ in dem „Entflammen einer menschlichen SeeleŖ sieht, das nicht durch „etwas Großes und ErhabenesŖ, sondern etwas Alltäglich-

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Banales, das „untaugliche ObjektŖ eines Mantels, hervorgerufen wird.109 Die Ursache des Entflammens, das wie öfter in Gogolřs Werk eine „eigentümliche Abart der LiebeŖ110 ist, gründet nicht im Ich, sondern in einer übermenschlichen Macht: Akakij Akakieviĉ erliege der „VersuchungŖ durch den Teufel111, der in der Wirklichkeit der erzählten Geschichte durch den Schneider in Erscheinung trete. Diese Dämonisierung des Helden, von der auch andere „MantelŖ-Interpreten überzeugt sind, reicht über dessen irdisches Dasein hinaus und kulminiert auf der Zeitebene, die der Epilog gestaltet. ŖAt deathŗ, schreibt Toby W. Clyman, Ŗthe petty government clerk is finally possessed by the devil.ŗ112 Und Paul Evdokimov: „Der Sieg der Dämonen über die Seele Akakijs ist stärker als der Tod, nichts vom Himmlischen ist geblieben.Ŗ113 Auch Tschiņewskij ist überzeugt (und er formuliert diese Überzeugung noch deutlicher), dass Akakij Akakieviĉ als Strafe für seine Verfehlung, die ewige Verdammnis erwarte: „Indem Akakij Akakieviĉ auf der Suche nach seinem Mantel in die kalte Petersburger Nacht zurückkehrt, verzichtet er freiwillig auf seine Ruhe im Grab, die er verdient hätte, ja er verzichtet sogar auf das Himmelreich.Ŗ114 In der Tat, Akakij Akakieviĉ hat gefehlt. Er ist gewiss nicht nur eine banale, sondern auch eine sündige Existenz. So besessen wie zunächst vom Abschreiben erscheint er danach von seinem neuen Mantel, den er, statt ihn als notwendiges, gegen die Winterkälte schützendes Kleidungsstück zu betrachten, fetischisiert, ihn liebend, verehrend, anbetend, zum Abgott erhebt. Hat die Leidenschaft für das Abschreiben den Helden nur in die Vereinsamung, die totale Entfremdung von der Welt und Umwelt getrieben, treibt ihn die Leidenschaft für den Mantel fast umweglos in den Tod. Auf diesem Weg wird er schuldig. Er verhält sich auf der Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit infolge seiner Dingfixierung und Hingabe an eine niedere Leidenschaft, wie er sich immer verhalten hat, asozial und unsolidarisch und verstößt auf der höheren religiösen Ebene, die Gogolř während der langen Entstehungszeit von „ŃinelřŖ mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Blick hatte, gegen einige Gebote der „BergpredigtŖ, insbesondere gegen das „Postulat der Feindesliebe und des RechtsverzichtsŖ.115 Der Verstoß in der letzteren Hinsicht ist doppelter Art. Überfallen und beraubt, ist Akakij Akakieviĉ nicht bereit, seinen Mantel den Räubern zu überlassen und wendet sich von Instanz zu Instanz. Bereits tot, und jetzt erreicht der Text den Gipfel gogolesker Technik, kehrt er als Geist an den Schauplatz des Verbrechens zurück und beraubt, weiter auf der Suche nach seinem Mantel, seinerseits die Petersburger Nachtspaziergänger ihrer Oberbekleidung. Akakij Akakieviĉ handelt nach der Methode „Auge um Auge, Zahn um ZahnŖ. Das ist alttestamentarisch, aber nicht christlich. Der Beraubte wird selbst zum Räuber. Das unterstreicht der Erzähler dadurch, dass er Akakij Akakieviĉ das Aussehen jener Männer verleiht, die ihm seinen Mantel von den Schultern gerissen und ihn mit einem Fußtritt in den Schnee gestoßen hatten. Wie sie trägt er einen „riesigen SchnurrbartŖ (174), und die Faust, die er zeigt und die bei den anderen „so groß wie ein BeamtenkopfŖ war (161), ist bei ihm von einer Größe, „wie man sie nicht einmal bei Lebenden findetŖ (174). Das Bild der Faust, ein Symbol brutaler Gewalt, wird zum

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Schlussbild des Epilogs und somit der ganzen Erzählung. Es verdeutlicht noch einmal, ehe das „GespenstŖ, wie es im allerletzten Satz heißt, für immer „in der Dunkelheit der NachtŖ verschwindet und mit ihm die Serie der nächtlichen Manteldiebstähle endet, dass der Held, nachdem er selber überfallen worden ist, sich vom Opfer zum Täter gewandelt hat. Akakij Akakieviĉ hat sich also eindeutig, im Leben wie im Tod, schuldig gemacht. Das aber erlaubt nicht, seine posthume Wiederkehr als Strafe und die Strafe als notwendig und berechtigt zu betrachten (negative Deutung). Ebensowenig darf Akakij Akakieviĉ das Recht auf Rache zugesprochen werden (positive Deutung). Denn das eine ist so unchristlich wie das andere. Beides widerspräche der Haltung Gogolřs in der Zeit seiner religiösen Vertiefung. Wenn dieser dennoch den Erzähler von „ŃinelřŖ den zweiten, das Verhalten des Helden rechtfertigenden Standpunkt einnehmen lässt, dann zeigt sich darin die prinzipielle Trennung zwischen Autor und erzählerischem Medium. Der Erzähler hat dem Helden in seiner Hilflosigkeit immer wieder beigestanden. Das kulminierte in den beiden berühmten „humanen StellenŖ des Textes, die jetzt am Ende durch eine dritte Stelle dieser Art ergänzt und übertroffen werden. Nachdem es dem Erzähler nicht gelungen ist, dem „armen BeamtenŖ innerhalb der erzählten Realität Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen116, verlässt er die Wirklichkeitsebene und erfindet im Gewand romantischer Phantastik und mit dem Mittel der Groteske eine Geschichte, die der Erzählung schließlich doch noch eine glückliche Wendung zu geben scheint. Der Epilog, eine Fiktion in der Fiktion, ist ein Gedankenspiel des Erzählers, das dem Leser suggeriert, die Störung der Weltordnung sei wieder aufgehoben. Doch es handelt sich um eine Scheinlösung wie im Falle der Komödie „RevisorŖ, der Erzählung „NosŖ oder des Romans „Mertvye duńiŖ. Versöhnlichkeit ist nicht Gogolřs Sache. Wenn sie hier in der Form von Mitleidsbekundungen und eines Gefühls für Gerechtigkeit auftritt, dann entspringt sie dem verkehrten Seinsverständnis (Busch) des Erzählers und seinem dementsprechenden verkehrten Erzählen, das den Text insgesamt bestimmt und am Schluss noch einmal eine letzte Aufgipfelung erfährt.117 In der Verkehrtheit von Erzähler und Erzählen aber spiegelt sich auch die Verkehrtheit des Erzählten. Alle Personen der dargestellten Welt sind so beschränkt, so hilflos und so erbärmlich wie der Protagonist. Jeder ist, nur auf je eigene Weise, banal in seiner Lebensweise und sündig in seiner Unbrüderlichkeit. Anders gesagt: Was uns Gogolř zeigt, das sind lauter Akakij Akakieviĉs, auch wenn diese im Unterschied zum Helden nicht untergehen, weil sie fester in der Oberflächlichkeit der Welt verwurzelt sind. Sie haben alle die gleichen nichtigen Leidenschaften. So wie sich Akakij Akakieviĉ zuerst in der Konzentration auf das Abschreiben und dann in der Bindung an den Mantel verliert, flüchten sie in leere Zerstreuungen und eitle Selbstinszenierungen. Darin verdrängen sie, existentialistisch weitergedacht, jene Angst, die Akakij Akakieviĉ beim Betreten des wüsten, lichtlosen, schneebedeckten Platzes befällt: die Angst vor dem Tod. Aber im Augenblick der Entblößung, ja selbst in den Gerüchten von dem nächtlich umgehenden Gespenst holt auch sie das Verdrängte ein Ŕ vorübergehend.

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So sind in Gogolřs „ŃinelřŖ alle Menschen, vom Helden bis zur unscheinbarsten Randfigur, Teile einer im „ManŖ erstarrten Welt, einer Welt, die keine Wesentlichkeit kennt. Das allgemeine Thema der Novelle ist die Uneigentlichkeit des menschlichen Daseins. Die Modernität besteht darin, dass diese Daseinsform als unentrinnbar dargestellt wird. Gogolř behandelt das Thema auch in anderen Werken, aber nirgendwo hat er dafür ein so eindringliches und konzentriertes Symbol gefunden wie hier: den Mantel. Der Mantel schützt und entblößt, verdeckt und entlarvt, erhöht und vernichtet.

Peter Brang

Ivan Turgenev: Veńnie vody (Frühlingsfluten) „Je veux vous dire que jřai lu ,Les Eaux printanièresʻ Ŗ, schrieb Gustave Flaubert am 2. August 1873 an Turgenev, „jřen ai été troubléŖ, und er fügte noch hinzu: „Ah! voilà un roman dřamour, sřil en fut!Ŗ1 Die von Flaubert hochgeschätzte Novelle entstand 1870/71 und erschien 1872 im Januarheft der Zeitschrift „Vestnik EvropyŖ. Es handelt sich um eines der längsten Werke des Autors. Umfangsmäßig übertrifft es den frühen Roman „RudinŖ um ein Sechstel. Turgenev bezeichnete „Veńnie vodyŖ daher in Briefen und Gesprächen mehrfach als einen Roman oder gelegentlich auch als eine „RiesenerzählungŖ (bolřńuńĉaja povestińĉa).2 „Veńnie vodyŖ ist die letzte von Turgenevs lyrischen „ErinnerungsnovellenŖ (povesti-vospominanija). Diese Erzählungen, insgesamt neun an der Zahl, sind in der Zeit von Mitte der fünfziger Jahre bis etwa 1870 entstanden. Viele ihrer Motive und Themen werden in „Veńnie vodyŖ noch einmal aufgenommen: so das unwiederbringlich verlorene Glück, die bittere und fruchtlose Reue, der Lebensüberdruss des alternden Menschen, die Gegenüberstellung eines schwachen Mannes und einer starken Frau, das Verhängnis der Liebessklaverei und anderes. Mit „AsjaŖ hat „Veńnie vodyŖ auch den Schauplatz Deutschland gemeinsam. Bei den übrigen 31 Novellen und Erzählungen Turgenevs ist die Handlung fast immer in ein russisches Milieu eingebettet. Nur „ŅidŖ (Der Jude, 1847) führt den Leser nach Danzig, „Pesnř torņestvujuńĉej lubviŖ (Das Lied der triumphierenden Liebe, 1881) in das Italien des 15. Jahrhunderts und „SonŖ (Der Traum, 1876) in eine traumhaft irreale Landschaft. Die Fabel Ungeachtet des Umfangs von knapp zehn Druckbogen, der diese Erzählung der Form des Romans nähert, entspricht „Veńnie vodyŖ den gattungspoetischen Erfordernissen der Novelle.3 Sanin, ein zweiundzwanzigjähriger russischer Adliger, verwendet, bevor er sich in das „Joch des StaatsdienstesŖ (9 f.) begibt, im Frühling 1840 einen Teil seines nicht eben bedeutenden Vermögens für eine Reise nach Westeuropa. Auf der Rückreise von Italien macht er in Frankfurt am Main halt. Wenige Stunden vor der Abfahrt der Diligence betritt er eine italienische Konditorei, gerade rechtzeitig, um der bildhübschen Tochter der Besitzerin, der neunzehnjährigen Gemma, bei dem Bemühen zu helfen, ihren dreizehnjährigen Bruder Emilio aus einer kurzen Ohnmacht zu erwecken. Sanin lernt Gemmas verwitwete Mutter Signora Roselli kennen sowie den ehemaligen Sänger und Schauspieler Pantaleone, der zugleich ein enger Freund der liebenswerten kleinen Familie und ihr Hausdiener ist. Gemma macht ihrem Namen alle Ehre: Sie ist ein wahrer Edelstein. Sanin verliebt sich in sie. Diese ist jedoch mit Karl

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Klüber, dem wenig sympathischen Chefkommis eines großen Frankfurter Tuchgeschäfts verlobt, den sie auf das Drängen ihrer Mutter hin heiraten soll. Während eines gemeinsamen Ausflugs der jungen Leute nach Bad Soden am Taunus wird sie in einem Wirtshausgarten von dem angetrunkenen deutschen Offizier von Dönhof angepöbelt. Während Klüber den Schauplatz des Geschehens mit Gemma eilig verlässt, fordert Sanin den Beleidiger zum Duell. Dieses findet zwei Tage später in einem Wäldchen bei Hanau statt, zeitigt jedoch keine tragischen Folgen. Sanin findet bei den Rosellis „FamilienanschlussŖ (16), man spricht über Literatur, man singt und musiziert, unterhält sich über allgemeine Lebensfragen. Binnen weniger Tage kommen sich Gemma und Sanin immer näher, Gemma erwidert Sanins Liebe und löst, als dieser ihr einen Heiratsantrag macht, zum anfänglich großen Kummer ihrer Mutter, die Verlobung mit Klüber. Der Held befindet sich „auf dem Höhepunkt menschlicher GlückseligkeitŖ (97). Diesen Gipfel erreicht die Handlung nach zahlreichen Peripetien und Retardierungen im 31. der insgesamt 44 meist recht kurzen Kapitel: Dort ist sie an jenem Wendepunkt angelangt, den Ludwig Tieck in seiner Novellentheorie für die Gattungsform fordert. Jetzt ereignet sich die „unerhörte BegebenheitŖ, wie Goethe 1827 in den Gesprächen mit Eckermann den Wendepunkt bezeichnete. Um Gemma heiraten zu können, will Sanin sein kleines Erbgut in Russland verkaufen. Der Zufall will es, dass er in Frankfurt seinem ehemaligen Schulkameraden Polozov begegnet, einem trägen und feisten fünfundzwanzigjährigen Russen. Polozov ist mit einer jungen und schönen steinreichen Gräfin verheiratet, der aus plebejischen Verhältnissen stammenden Marřja Nikolaevna Kolyńkina, einer dämonisch-verführerischen, erlebnis- und machthungrigen Frau. Sie hat den Trottel Polozov nur geheiratet, um frei zu sein, „ganz frei, wie die Luft, wie der WindŖ (135). Nachdem sie Sanin das Geheimnis seiner Liebe zu Gemma und seiner Heiratspläne entlockt hat, schließt sie mit ihrem Mann die Wette, dass es ihr gelingen werde, diesen zu verführen. Unter immer neuen Vorwänden Ŕ sie ist bereit, Sanin sein Gut abzukaufen, erklärt aber, das Geschäft erst nach gründlicher Kenntnis des Verkäufers tätigen zu können Ŕ nötigt sie ihn, zwei Tage in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Sie nähert sich ihm während eines von ihr arrangierten Theaterbesuchs in Wiesbaden und vollendet ihr Verführungsvorhaben während eines Spazierritts in die Wälder des Taunus. Ihre Verführungskünste verdanken sich zum einen ihren körperlichen Reizen, zum anderen ihrer überlegenen und erbarmungslos zudringlichen Gesprächsführung. Sanin ist verzaubert. Gehorsam und unterwürfig, „ohne einen Funken von Willen im erstorbenen HerzenŖ (147), folgt er ihr in das Walddickicht. Dann schreibt er Gemma, ohne sie wiedergesehen zu haben, einen kläglichen Rechtfertigungsbrief und begleitet die Polozova, als einer unter ihren vielen Liebhabern nach Paris, bis sie ihn, den völlig Versklavten, fallen lässt „wie ein abgetragenes KleidŖ (150). Sanin kehrt nach Russland zurück, erniedrigt und gebrochen. „Veńnie vodyŖ ist eine Rahmenerzählung. Der allwissende Erzähler berichtet, wie an einem Winterabend des Jahres 1870, nach dem zufälligen Wiederfinden eines Granatkreuzleins, die Bilder der Erinnerung an lange zurückliegende

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Geschehnisse in der Seele des vereinsamt alternden, ganz seinem taedium vitae hingegebenen Sanin aufsteigen: „Er erinnerte sich an das FolgendeŖ (9). Die Gestaltung dieser Erinnerung mittels der meisterlichen Handhabung erzähltechnischer Verfahren übernimmt freilich der Erzähler. Im Epilog des Rahmens wird berichtet, wie die lebendige Erinnerung den Helden dazu bewegt, Gemmas Spur zu suchen: Er siedelt nach Amerika über, wo sie mit ihrer Familie lebt. Wie bereits zeitgenössische Kritiker feststellten, erinnert die Fabel der Erzählung an die Figurenkonstellation und an den Handlungsablauf der Liebesepisode in dem Roman „DymŖ (Rauch, 1867), die Turgenev eigentlich in novellistischer Form gestalten wollte.4 Das Verhältnis Sanin Ŕ Gemma Ŕ Polozova wandelt dasjenige zwischen Litvinov Ŕ Tatřjana Ŕ Irina ab. Freilich vermag Litvinov, anders als Sanin, sich rechtzeitig freizumachen. Er ist nicht bereit, die Rolle des heimlichen Liebhabers zu spielen, und kehrt zu Tatřjana, die ihm verzeiht, am Ende zurück. Autobiographik Turgenev hat an der Erzählung „Veńnie vodyŖ, die sich zum Roman ausweitete, recht lange und mit Feuereifer gearbeitet, zeitweise „wie ein OchseŖ. „Diesen Roman habe ich mit echtem Vergnügen geschrieben, und ich liebe ihn, wie ich unter meinen Werken alle diejenigen liebe, die auf gleiche Weise entstanden sind.Ŗ5 Das Bekenntnis meint, dass er hier aus eigenem Erleben schöpfen konnte: „Das ist meine eigene Geschichte. Die Frau Polozova Ŕ das ist die Fürstin Trubeckaja, die ich gut kannte […]. Die italienische Familie ist gleichfalls aus dem Leben genommen. Ich habe nur Einzelheiten verändert und umgestellt […]. So war zum Beispiel die Fürstin ihrer Herkunft nach eine Zigeunerin, ich habe aus ihr den Typ der mondänen Russin plebejischer Herkunft gemacht.Ŗ6 Pantaleones Prototyp war ein Italiener, der im Haushalt der Fürstin lebte. Turgenev ist ein „autobiographischerŖ Dichter katexochen. In „Veńnie vodyŖ ist die Autobiographik mit Händen zu greifen. Wie Sanin war auch Turgenev 1840, im Alter von 22 Jahren, auf der Rückreise aus Italien in einer Frankfurter Konditorei von einem schönen Mädchen um eilige Hilfe für ihren Bruder gebeten worden. Allerdings stammte diese nicht aus einer italienischen, sondern aus einer jüdischen Familie. Turgenev bekämpfte die aufkeimende Liebe zu der Schönen durch schnelle Abreise. Als die Nichte Flauberts Kritik am zweiten Teil der Erzählung übte, entschuldigte er sich mit der Bemerkung: „Je me suis laissé entraȋner par des souvernirs.Ŗ7 Autobiographisch ist auch die Problematik des Alterns in der Rahmenhandlung. Turgenev war zur Zeit der Niederschrift 52 Jahre alt, wie sein Held am Ende der erzählten Zeit, und damit weit über dem Durchschnitt der damaligen Lebenserwartung. Mit seinem Helden teilte er das Schicksal des einsamen Altwerdens ebenso wie die pessimistische Wahrnehmung der Eitelkeit des menschlichen Daseins. Das „genug!Ŗ am Ende von Sanins Erinnerungen verweist unmittelbar auf die mit diesem Ausruf betitelte, 1865 erschienene Skizze des Autors. In der Liebesklaverei, der Sanin verfällt, hat die Kritik gelegentlich eine versteckte Dar-

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stellung von Turgenevs Verhältnis zu Pauline Viardot sehen wollen Ŕ einen „karthartischenŖ Hinweis auf sein jahrzehntelanges „Leben am Randes eines fremden NestsŖ. Indes hatte die berühmte Sängerin mit Marřja Nikolaevna Polozova doch wohl nur den starken Charakter gemeinsam.8 Und die Auffassung der Liebe nicht als einer Harmonie gleichberechtigter und freier Seelen, sondern als einer Krankheit, als Knechtschaft des einen Partners und der Herrschaft des anderen Ŕ ein Motiv, dem wir in sehr vielen Werken Turgenevs begegnen, beispielsweise in „PerepiskaŖ (Ein Briefwechsel), „Pervaja ljubovřŖ (Erste Liebe) oder „Mesjac v derevneŖ (Ein Monat auf dem Lande) Ŕ, hätte auch der „Metaphysik der Geschlechtsliebeŗ des hochgeschätzten Schopenhauer entnommen werden können. Turgenev betrachtete seine Erzählung, wie er dem Dichter Jakov Polonskij Ende 1871 mitteilte, als eine „ausführlich erzählte Liebesgeschichte, in der es weder irgendeine soziale noch eine politische oder eine zeitgenössische Anspielung gibt.Ŗ9 Tatsächlich werden soziale Fragen, soweit sie Russland betreffen, und solche erwartete man vom Verfasser des Zyklus „Zapiski ochotnikaŖ (Aufzeichnungen eines Jägers) und des Romans „Otcy i detiŖ (Väter und Söhne), in diesem Werk nur am Rande berührt. Der Erzähler berichtet, „jene beunruhigenden Gefühle, die den besten Teil der [russischen] Jugend damals so heftig ergriffenŖ (37), seien Sanin fremd geblieben. Gemeint sind hier natürlich die auf Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Zarenreichs zielenden Bestrebungen der vierziger und fünfziger Jahre, insbesondere das Ringen um die Aufhebung der Leibeigenschaft. Um Gemma heiraten zu können, zeigt sich Sanin entgegen seinen Überzeugungen sogar bereit, die eigenen Bauern zu verkaufen Ŕ wenn auch „nur an einen guten MenschenŖ (95). Später erwirbt er ein bedeutendes Vermögen und integriert sich in die bestehende Gesellschaft. Und doch ist die Erzählung kein völlig unpolitisches Werk. Die italienische Familie, in die Sanin einheiraten will, wurzelt in einer starken politischen Tradition, und im Schlusskapitel wird berichtet, dass Emilio in Sizilien für die Freiheit seines Vaterlands gefallen sei. Die Ereignisse der Jahre 1867 und 1870 hatten Turgenevs alte Sympathie für die italienische Befreiungsbewegung wiederbelebt. Die handelnden Figuren Politische Aspekte sind jedoch auch insofern gegenwärtig, als das Problem der Nationalcharaktere bei der Darstellung der handelnden Figuren eine bedeutende Rolle spielt. Es gibt kein anderes Turgenevsches Werk, in dem so viele Aussagen über die Charaktere verschiedener Völker zu finden sind. Deshalb war Vojtech Jasny, der Regisseur des 1971 in Deutschland mit Senta Berger gedrehten Fernsehfilms, gut beraten, als er großen Wert darauf legte, dem Aufeinanderprall der nationalen Temperamente bei der Rollenbesetzung Rechnung zu tragen.10 Sanins wesentlichste Züge sind seine Weichheit und seine Willensschwäche; die Polozova nennt ihn „seidenweichŖ (130) und fügt hinzu, seine Frau werde es mit ihm leicht haben. Leitmotivisch ist davon die Rede, dass er ein schwacher Mensch sei. Die mangelnde Entschlusskraft wird hier nun jedoch nicht, wie bei

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jenen „überflüssigenŖ Helden in Turgenevs früheren Werken, den sozialen Verhältnissen des Zarenreichs angelastet, die einem intelligenten Menschen keinen Raum für sinnvolle Tätigkeit bieten; sie wird vielmehr als ein allgemein-russischer Charakterzug bezeichnet. Es heißt von Sanin, er sei, wie jeder echte Russe, froh gewesen, den „ersten besten Vorwand zu benutzen, um nur nicht selbst etwas tun zu müssenŖ (37). Wenn man ihn anblickt, lächelt er wie ein Kind. Knabenhaft ist seine Bereitschaft zum Steinewerfen und Bockspringen mit Emilio, und wie er hinter der Theke der Konditorei aushilft, das erinnert an kindliches Kaufladenspiel.11 Unerfahren in kommerziellen und administrativen Angelegenheiten, besonders in Aufgaben der Gutsverwaltung, muss er sich durch die Polozova beschämen lassen. Er fühlt sich dann examiniert. Gemma, ihr jüngerer Bruder Emilio, Frau Roselli sowie Pantaleone erscheinen geradezu als Verkörperung Italiens. Sie werden in ihrer Unmittelbarkeit und Spontaneität, in ihrem Temperament, ihrem angeborenen Gefühl für das Schöne, ihrem Stolz sowie ihrer Freiheitsliebe durchweg positiv gezeichnet. Wenn sich Gemma an ihre Mutter schmiegt, so geschieht das nicht katzenartig, auf französische Art, sondern „mit jener italienischen Grazie, in der man immer die Anwesenheit von Kraft spürtŖ (31). Als sie einmal vorlesen will, hebt sie ihren Finger: „ ,Schweigen bitteʻ Ŕ eine rein italienische GesteŖ (22). Sie „führt den Finger vor ihren Augen hin und her… Gleichfalls eine italienische GesteŖ (72). Gemma ist in jeder Hinsicht ein Mensch des Südens; sie besteht darauf, dass man bei sommerlich warmem Wetter im Freien speist. Bei den zahlreichen Gesprächen über Kunst, Literatur, Malerei sowie Musik erweist sich, dass sie E. T. A. Hoffmann deshalb nicht allzu sehr schätzt, weil das „phantastisch-neblige, nördliche Element seiner ErzählungenŖ, wie es heißt, „ihrer südlichen, hellen Natur kaum zugänglichŖ ist (34). Sie versteht es aber, vortrefflich vorzulesen, ganz „wie eine echte SchauspielerinŖ, sie ließ ihre ganze Mimik spielen, „ein Erbteil ihres italienischen BlutsŖ (23). Nur Liebesszenen mögen ihr nicht gelingen. Umso mehr gelingt die Darstellung von Liebesgefühlen dem Erzähler: „Gemmas Lachen war ein ganz besonders angenehmes, ununterbrochenes, stilles Lachen, das von einem kleinen Aufschrei begleitet war. Sanin geriet ganz außer sich über solches Lachen. Er hätte sie küssen mögen für diesen Aufschrei!Ŗ (36). Pantaleone weist schon durch seinen Namen auf die Commedia dellřarte hin. Er spricht denn auch fortgesetzt von seinem früheren Theaterleben und parodiert Theaterrollen. Sein schwarzer Pudel Tartalřja ist nach der Komödienfigur des stotternden Beamten (Tartaglia) benannt. Lobend wird berichtet, dass sich Pantaleone als langjähriger Diener in Gegenwart der Herrschaft setzen durfte Ŕ „die Italiener halten überhaupt nicht streng auf EtiketteŖ (30). Die deutschen Figuren, vor allem Klüber und Dönhof, kommen bei Turgenev nicht sonderlich gut weg. Offensichtlich war der Dichter 1870/71, unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg, trotz seiner bekannten Germanophilie bereit, gewisse deutsche Gewohnheiten satirisch zu kommentieren, auch wenn er dabei einige Klischees bekräftigte. „Die Deutschen,Ŗ lesen wir, „stehen

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früh auf.Ŗ Sie sind stets überaus pünktlich: Als Emilio vor der verabredeten Zeit bei Sanin erscheint, bemerkt der Erzähler: „Pünktlicher hätte er kaum sein können, selbst wenn er von deutschen Eltern abgestammt hätteŖ (79). Klüber wird als ein „korrekt veranlagter DeutscherŖ (45) bezeichnet, was im Kontext der Erzählung fast wie ein Pleonasmus klingt. Der Erzähler macht zunächst einige anerkennende Bemerkungen, schränkt danach aber ein: „Man erkannte auf den ersten BlickŖ, dass „dieser vortrefflich reine und herausgeputzte junge Mann gewohnt war, seinen Vorgesetzten zu gehorchen und seinen Untergebenen zu befehlenŖ (26). Im Fortgang wird Klüber fast durchgehend abschätzig beschrieben: „Der wohlgestaltete Kommis hatte sich stutzermäßig herausgeputzt und parfümiertŖ (38). Als Gemma wünscht, nicht im Salon, sondern im Garten zu speisen, heißt es, dass Klüber sich „herabließ, der ,Kaprice seiner Brautʻ nachzugebenŖ (40). Die Schilderung des Menus, das man im Sodener Gasthaus vorgesetzt bekommt, ist sarkastisch. Sie hätte dem Verfasser eine Klage deutscher Gastronome wegen geschäftsschädigendem Verhalten einbringen können: „Wer weiß nicht, was ein deutsches Mittagessen ist? Eine wässerige Suppe mit unförmigen Klößen, strohtrockenes, mit weißem Fett durchwachsenes Rindfleisch mit schleimigen Kartoffeln, roten Rüben und geschnittenem Meerrettich, blaugesottener Aal mit Kapern und Essig, Braten mit Konfitüre und die unvermeidliche Mehlspeise, etwas wie Pudding mit einer sauren roten Soße; dagegen Wein und Bier vortrefflich!Ŗ (41). Von Dönhofs Sekundant, der den sprechenden Namen Richter trägt, kann sich auf Französisch nur mangelhaft ausdrücken Ŕ im Unterschied zu Turgenev, der wie die meisten Angehörigen des russischen Adels diese Sprache vorzüglich beherrschte. Auch für die Engländer gibt es einen kleinen Hieb: Klüber hat sich zwei Jahre in England aufgehalten, was seine „etwas steifen und verhaltenen ManierenŖ (26) erklärt. Während die meisten der nationalen Charakterisierungen den gängigen Vorstellungen entsprechen (und dabei, wie gewöhnlich, einen Kern von Wahrheit besitzen), finden sich auch einige wenige, die mangelhaft motiviert und nicht unbedingt glücklich zu nennen sind Ŕ wenn der Erzähler zum Beispiel sagt, Sanin habe Neugier gezeigt, „eine schlechte Gewohnheit, die allen Russen eigen istŖ (121), oder wenn es von der Polozova heißt, sie habe zu erzählen verstanden, „eine seltene Gabe bei einer Frau… noch dazu bei einer Russin!Ŗ (128). Manche Klischeevorstellungen werden aber auch Ŕ durch Übertreibung Ŕ als solche entlarvt. Der Erzähler lässt Frau Lenore versichern, dass sie sich Russland immer so vorgestellt habe: „Ewiger Schnee, alle Leute gehen in Pelzen und gehören zum Militär Ŕ aber ungewöhnliche Gastfreundschaft, und die Bauern sind sehr gehorsamŖ (19). Die Polozova-Handlung im zweiten Teil der Erzählung nimmt weniger als halb so viel Raum ein wie jene Partien, die Gemma und ihrer Familie gewidmet sind. Und doch erweist sich die Gräfin als die eigentliche Heldin der Erzählung. Sie ist keine erfreuliche Gestalt, jedoch das „überzeugendste und gewiss kühnste Porträt einer bei Turgenev nicht seltenen Figur: der femme fataleŖ.12 Die Verführung des Helden, seine immer stärkere Verstrickung in die Liebesnetze, wird

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psychologisch glaubhaft beschrieben. Von Anfang an ist es die Verführerin, die die Dialoge führt und bestimmt, was geschieht. Zu ihrer Strategie gehören vor allem Zweideutigkeit und Ironie. „Sie gefallen mir sehr. Wir wollen Freunde seinŖ, sagt sie bald nach dem Beginn ihrer Bekanntschaft mit Sanin. „Sie sagen, dass sie [Gemma] Ihre Braut ist. Aber… war das tatsächlich notwendig?Ŗ Sanin versteht den eigentlichen Sinn der Worte nicht. „Er ist wirklich reizend. Ein wahrer Ritter! Da glaube einer den Leuten, die behaupten, dass die Idealisten ganz ausgestorben sind!Ŗ (114). Nach diesem ersten versteckten Hinweis auf ihr libertines Denken in Fragen der Sexualmoral bringt die Polozova immer wieder Gemma ins Spiel, sie „zerredetŖ seine Beziehung zu ihr: „Sie können doch zwei Tage von Ihrer Braut getrennt sein?Ŗ (117). Oder: „Geben Sie mir Ihren Arm. Fürchten Sie sich nicht. Ihre Braut ist nicht hierŖ (118). Bereits im Voraus weist sie, wiederum in der Form des distanzierenden „ErŖ, den Vorwurf der Einmischung von sich: „Er hat eine Braut wie eine antike Statue Ŕ und ich sollte mit ihm kokettieren!Ŗ (119). Sanin spürt bald: Diese Frau spielt offenbar mit ihm und umstrickt ihn auf jede Weise. „Was soll das? Was will sie? Ist das wirklich nur die Laune einer verwöhnten, reichen und nahezu schon unmoralischen Frau?Ŗ (126). Aber er hat nicht die Kraft sich zu wehren. Die Polozova spricht vorzugsweise in Anspielungen, die eine vorausdeutende Funktion haben. So beteuert sie, Sanins finanzielle Notlage nicht ausnützen zu wollen. „Wenn sich die Gelegenheit bietet, bin ich schonungslos, Ŕ jedoch nicht auf diese WeiseŖ (116). Das heißt, in anderen Belangen, in Liebesdingen nämlich, wird sie schonungslos sein. „Ich verspreche Ihnen, Sie [durch die Verhinderung einer möglichst schnellen Rückkehr zu Gemma] nicht allzu sehr zu quälenŖ (117). Als sie vorgibt, sie befürchte, dass Sanin ihr zürnt, fragt er: „Warum sollte ich Ihnen zürnen?ŗ Darauf sie: „Weil ich Sie gequält habe. Warten Sie, das ist noch gar nichtsŖ (124). Und dann: „Länger als zwei Tage werde ich Sie nicht gegen ihren Willen zurückhalten Ŕ ich gebe Ihnen mein EhrenwortŖ (117), und sie hält es Ŕ insofern, als der in Liebessklaverei gefallene Sanin gar keinen Willen mehr haben wird. Doppeldeutig ist zudem die Bemerkung: „Wir werden uns schon einigenŖ (Ja polagaju, ĉto my sojdemsja). Denn das Wort für „sich einigenŖ (sojtitřsja), das sich hier auf den Kauf des Gutes bezieht (124), heißt im Russischen auch „geschlechtlich miteinander verkehrenŖ. An anderer Stelle deutet die Polozova durch Verweise auf Vergils „AeneisŖ auf künftiges Geschehen voraus: „Eine langweilige Geschichte, es sind aber schöne Stellen darin… Erinnern Sie sich, wie Dido mit Aeneis im Wald…Ŗ (131). Später heißt es noch einmal: „Auch jene wurden im Wald von einem Gewitter überfallenŖ (147). Zufälle lässt die Polozova als schicksalhaft erscheinen, so etwa die Tatsache, dass sie und Sanin beide zweiundzwanzig Jahre alt sind. Sanin wird klar, dass sie in ihrem Alter sehr viel mehr erlebt hat als viele ihrer Altersgenossinnen; aber, so hätte er hinzufügen müssen, das gilt auch für ihn selbst. Ihre Rede ist reich an volkssprachlichen, derben Elementen, farbig und kraftvoll. Sie gibt vor, nicht lesen zu können, spricht indes ein ausgezeichnetes Französisch.

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Mit der Gestalt der Polozova aufs engste verbunden ist das Motiv der Schlange. Der „SchlangennameŖ, den die Gräfin seit ihrer Verheiratung trägt („polozŖ bedeutet „Boa constrictorŖ) hängt mit dem Verbum „polztiŖ (gleiten, kriechen) zusammen; auch der Mädchenname Kolyńkina erinnert an ihr schlangenhaftes Wesen („kolyńkaŖ bezeichnet unter anderem die „Windung bzw. Biegung eines StricksŖ). Ihre grauen, raubgierigen Augen und ihre „schlangenförmigen ZöpfeŖ beginnen für Sanin hinter den „fast göttlichen Zügenŗ Gemmas aufzuscheinen (126). „Eine Schlange, ach, sie ist eine Schlange!Ŗ denkt er, „aber was für eine schöne Schlange!Ŗ (136). Später, als er sich bereit erklärt hat, ihr überallhin zu folgen, heißt es von der Polozova: „Sie selbst hatte sich hoch aufgerichtet, auf ihren Lippen schlängelte der Triumph und ihre Augen drückten nichts als mitleidlose Stumpfheit und Sattheit des Sieges aus. Ein Habicht, der einen kleinen Vogel in den Fängen hält, hat solche AugenŖ (148). In seiner 1881 verfassten Novelle „Pesnř torņestvujuńĉej ljubviŖ, die sich mit der geheimnisvollen Macht einer Verstorbenen über den einstigen Geliebten befasst, hat Turgenev das Schlangenmotiv erneut mit dem Habichtsmotiv verknüpft: Как змея, река блестит… Друг проснулся, недруг спит Ŕ Ястреб курочку когтит…

Wie eine Schlange glänzt der Fluss, Der Freund ist wach, es schläft der Feind, Der Habicht hält das Hühnchen in den Krallen.

Der Erzähler Die Erzählerfigur, der Er-Erzähler, bringt dem Leser die Gedanken und Gefühle Sanins nicht zuletzt dadurch näher, dass er reichen Gebrauch vom inneren Monolog macht („Wenn seine Frau sehr reich ist, kauft sie mir vielleicht mein Gut ab?Ŗ, 99) und sich auch immer wieder der „erlebten RedeŖ bedient: „Er brauchte Ruhe, musste sich von all diesen neuen Bekanntschaften, Begegnungen, Gesprächen erholen, von dem Dunst, der in seinen Kopf, seine Seele gestiegen war Ŕ von diesem unerwarteten und unerwünscht engen Kontakt mit jener Frau, die ihm doch so fremd war. Und wann geschieht das alles? Kaum einen Tag, nachdem er erfahren hat, dass Gemma ihn liebt, und da er ihr Bräutigam geworden ist! Das ist ja eine Entheiligung!Ŗ (125).13 Mitunter benutzt der Erzähler auch eine Art „partiell erlebter RedeŖ, bei der fremdes Wort und Urteil mit ins Spiel gebracht werden, so wenn gesagt wird, Emilio „begnügte sich damit, jede Bewegung seines edlen russischen Freundes aufmerksam mit den Augen zu verfolgenŖ (44).14 Hier spricht der „sich erinnernde SaninŖ, das Adjektiv „edleŖ aber nimmt die Perspektive Emilios auf. Nicht selten hilft der Einfühlung in Sanins Gedanken auch der Wechsel in das Präsens. Die Sprache der Erzählung ist insgesamt ungewöhnlich bunt, bedingt durch das Zusammentreffen russischer, italienischer, deutscher und französischer Elemente. Das ergibt viel Raum für Sprachspiel und Sprachkomik, etwa durch Verballhornungen. Von Herrn Klüber ist als „ferroflukto KluberioŖ oder „quel ferroflukto TedescoŖ die Rede, Sanins Name wird zu „de ZaniniŖ. Pantaleone protestiert gegen das Duell: „Che bestialità! Deux zeunřommes comme ça qué ç si

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battano Ŕ perchè ? Che diavolo? Andate a casa.Ŗ Nicht selten erscheint im Text neben der russischen Fassung einer Wortgruppe das italienische oder deutsche Original in Klammern hinzugefügt. Wenn Pantaleone aufgefordert wird, zu Ehren des Gasts Sanin etwas zum Besten zu geben, vorher aber erst über die „klassische Epoche des GesangsŖ und den „berühmten Tenor GarcìaŖ spricht, mit dem er einst zusammen in Rossinis Oper „OthelloŖ gesungen habe, klingt das so: „ ,Das war ein Mann!ʻ rief er aus. ,Nie hat sich der große García Ŕ il gran García Ŕ dazu erniedrigt, Falsett zu singen, so wie die heutigen Tenörlein Ŕ tenoracci. Er hat immer nur mit Bruststimme gesungen, jawohl, mit Bruststimme Ŕ voce di petto, siʻŖ (21). Zur Textstruktur Die Erzählung ist zweigeteilt. Indes sind die beiden Teile, die Gemma-Handlung des ersten und die Polozova-Handlung des zweiten Teils, durch zahlreiche Spiegelungen, sei es in Form des Gegensatzes, sei es in Form der Übereinstimmung, miteinander verbunden. Während es beispielsweise von Gemma heißt, sie habe sich nicht auf Katzenart an ihre Mutter geschmiegt, wird über die Polozova gesagt, sie sei mit „katzenartigem GangŖ neben Sanin hergeschritten (120). In beiden Liebeshandlungen greift die Natur bestimmend in das Geschehen ein. Ein Wirbelwind führt Sanin mit Gemma zusammen, im zweiten Teil begünstigt das Gewitter die Vereinigung Sanins mit der Polozova (148). Und wie die Polozova mit verschiedenen Vorausdeutungen auf ihr Vorhaben den Helden verunsichert, so prophezeit Gemma unbewusst dessen Schicksal, indem sie eine eigene Version des Schlusses von E. T. A. Hoffmanns Novelle „Die IrrungenŖ (1821) bietet: „Die Schöne ist ihm für immer entschwunden Ŕ und er ist nicht imstande, ihren flehenden Blick zu vergessen, und wird von dem Gedanken verfolgt, dass er vielleicht sein Lebensglück aus den Händen gleiten ließŖ (34). Ahnungsvoll sagt sie wenig später: „Es scheint mir, solche Begegnungen und solche Trennungen kommen im Leben viel häufiger vor, als wir denkenŖ (34 f.). Korrespondenzen dieser Art gibt es viele, der Text der ganzen Erzählung ist durchwirkt mit einem dichten Netz wiederkehrender Motive und Symbole, von Anspielungen und Vorausdeutungen. Im Dienste solcher Verdichtung steht die Art und Weise, wie wesentliche Lebensbereiche in diese Erzählung einbezogen werden: die Kunst (Literatur und Theater, Malerei und Musik) genauso wie die Natur (die Elemente, die Landschaft, die Tiere und Pflanzen). Dass der Text sehr symbolträchtig ist und reich an Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Passagen, haben neuere Studien gezeigt.15 Dem Leser legt das eine besonders wache, eine aufmerksame Lektüre nahe. Vor allem die Kunst spielt in „Veńnie vodyŖ eine größere Rolle als in irgendeinem anderen Werk Turgenevs Ŕ dreiundzwanzig Künstler bzw. ihre Werke werden namentlich erwähnt, weitere erscheinen, wie zum Beispiel Gogolř und Griboedov, in Anspielungen oder versteckten Zitaten.16 Der Erzähler verwendet den Vergleich mit Kunstwerken zur Beschreibung des Äußeren seiner Protago-

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nisten. Der wellige Glanz von Gemmas Haaren erinnert Sanin an die Judith von Allori im Palazzo Pitti Ŕ zudem an das herrliche Land, aus dem er soeben zurückgekehrt ist. Die Schönheit ihrer Hände ruft das Bildnis der Raffaelschen Fornarina in Erinnerung. Wiederholt charakterisieren sich die Figuren durch ihr Verhältnis zur Kunst. So wird im Zusammenhang mit dem Wunsch Frau Lenores, Gemma solle eine Versorgungsehe mit Klüber eingehen und Emilio sich bei diesem zum Kaufmann ausbilden lassen, über die Beziehungen zwischen Kunst und Kommerz diskutiert, unter anderem über die Frage, ob man in der Kunst nicht der erste sein muss, um ein rechtes Auskommen zu haben. Auch das Verhältnis der Helden zur Natur dient, wie so oft bei Turgenev, der Offenbarung ihres Wesens. Herr Klüber begegnet der Natur mit einer gewissen Herablassung. So übt er unbedarfte Kritik an dem vermeintlich zu geraden Lauf eines Flusses oder an dem zu eintönigen Gesang eines Finken. Polozov äußert keinerlei Interesse für malerische Gegenden. Gemma liebt die Natur, ebenso die Polozova: Die herrlichen Berge und der Wald verheißen für beide Freiheit. Vergleiche mit Tieren und Pflanzen werden sowohl zur Charakterisierung der Figuren wie auch ihres wechselseitigen Verhältnisses eingesetzt. Die „BlumenspracheŖ zeigt sich schon in Gemmas Namen, der nicht nur „EdelsteinŖ, sondern auch „KnospeŖ bedeutet. Von Gemma heißt es, ihr Kopf „verschwand ganz unter ihrem Hut; man sah nur noch ihren Hals Ŕ biegsam und schlank, wie der Schaft einer großen BlumeŖ (73). Der Umgang mit der Rose definiert Sanins, Klübers und Dönhofs Haltung gegenüber Gemma.17 Die Polozova ruft Sanin zu, dass sie beide frei wie die Vögel seien, später sagt der Erzähler über sie: „Wie ein Vogel schwang sie sich in den SattelŖ (147). Eine bedeutsame Rolle spielt die Symbolik der Bäume. Als Sanin kurz vor dem Duell auf eine junge Linde trifft, die vom Sturm gebrochen ist, zuckt ihm der Gedanke durch den Kopf, dies könnte ein schlechtes Vorzeichen sein, doch dann springt er über sie hinweg: Es handelt sich um eine Vorausdeutung Ŕ auf seinen Verrat an Gemma.18 Die Sterne scheinen ihn schicksalhaft zu begleiten. Ihr Licht zittert und strömt während der ersten Liebesberührung. Als Liebender glaubt er sich von den Sternen beschützt, und als er Polozov begegnet, meint er, sein „SternŖ sei tätig, und so kommt es ihm ein weiteres Mal vor, als sich wenig später die Möglichkeit eröffnet, das Gut zu verkaufen (97).19 Doch offensichtlich trügen die Sterne. Symbolcharakter hat in der Erzählung auch das Wasser. Schon der Titel und das Motto verweisen auf den Lebensstrom, dessen gleichmäßig-ruhiger Verlauf große Reize birgt, der aber auch als fröhlich brausender mächtiger Strudel den Menschen bis in den Untergang mitreißen kann. Die Polozova greift das Thema auf, indem sie das Heiraten mit einem Sprung ins Wasser vergleicht und später den Ritt durch eine Pfützenlandschaft verherrlicht. Die Schilderung dieses gemeinsamen Ritts ist von unerhörter Sprachkraft: „Das Pferd sprang hinüber Ŕ aber Marřja Nikolaevna verlor dabei ihren Hut vom Kopf, und ihre Haare fielen auf die Schultern herab. Sanin wollte vom Pferd steigen und den Hut aufheben, aber sie rief ihm zu: ,Rühren Sie ihn nicht an, ich hol ihn mir selber zurück.Ř

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Tief beugte sie sich vom Sattel herab, mit dem Griff ihrer Reitgerte hakte sie in den Schleier und tatsächlich: Sie angelte den Hut, setzte ihn auf, befestigte jedoch ihre Haare nicht und sprengte jauchzend weiter. Sanin stürmte neben ihr dahin, setzte neben ihr über Zäune, Gräben und Bäche, sank ein und arbeitete sich wieder heraus, jagte bergauf, jagte bergab und blickte ihr fortwährend ins Gesicht. Was für ein Gesicht! Alles in ihm scheint geöffnet zu sein: offen die Augen, unersättliche, helle, wilde Augen; der Mund steht weit offen, die Nasenflügel blähen sich und saugen gierig die Luft ein; gerade, starr blickt sie vor sich hin, und es will scheinen, diese Seele wolle von allem Besitz ergreifen, was sie sieht, von der Erde, vom Himmel, von der Sonne und selbst von der Luft, und als bedauere sie nur eins Ŕ dass es zu wenig Gefahren gibt Ŕ alle würde sie überwinden! ,Sanin!ʻ Ŕ ruft sie, ,das ist wie in Bürgers Lenore! Nur dass Sie nicht tot sind, nicht wahr? Sie sind doch nicht tot? Ich lebe!ʻ Ihre ganze Kühnheit und Kraft ist entfesselt. Nicht eine Amazone ist es, die das Pferd zum Galopp antreibt Ŕ ein junger weiblicher Zentaur sprengt daher, Ŕ halb Tier, halb Gott, und es staunt das artige, wohlerzogene Land, mit Füßen getreten von ihrem rasenden ÜbermutŖ (143 f.). Die Rezeption Die Erzählung ist ein Musterbeispiel dafür, wie das Urteil des Publikums und das der Kritik auseinanderklaffen können. Das Publikumsinteresse war so groß, dass die Januar-Nummer der Zeitschrift „Vestnik EvropyŖ nachgedruckt werden musste; die Urteile der Kritik waren zumeist unfreundlich, teilweise sogar gehässig. Konservative russische Kritiker beanstandeten, dass Turgenev die Ausländer als feinfühlige kluge Menschen dargestellt, die Russen dagegen schlechtgemacht habe. Nicht nur die Polozova mit ihren maßlosen Ausschweifungen und ihr „viehischerŖ Gatte, auch Sanin galt einem Kritiker als ein völlig „wertloser MenschŖ. Die liberale Kritik tadelte den Verzicht auf die Behandlung „staatsbürgerlicher MotiveŖ, das Fehlen von Tendenzen des Zeitgeistes: Turgenev beschränke sich schon seit einigen Jahren auf seine „ästhetischen BagatellenŖ. Die radikalen Kritiker lehnten, wie fast jedes Werk seit „Otcy i detiŖ, auch diese Erzählung ab. D. D. Minaev meinte in der Zeitschrift „DeloŖ: „Alle Welt liest jetzt ‚Veńnie vodyŘ, und man muss gestehen, diese Erzählung ist ärgerlich-gut geschrieben. Ärgerlich ist das, weil man sieht und fühlt, wieviel künstlerisches Talent da vergeudet wird Ŕ und wofür? für die Apotheose eines nervösen Schluckens angesichts des jungen und üppigen Körpers einer bourgeoisen Aristokratin.Ŗ20 Selbst Annenkov, Turgenevs arbiter litterarum, war nicht zufrieden: „Es ist eine hinsichtlich des Kolorits, der Kraft des Pinsels, der fesselnden Einpassung aller Einzelheiten des Sujets und hinsichtlich der Darstellung der Figuren glänzende Sache herausgekommen, wenn auch die Grundmotive alle nicht ganz neu sind und der Hauptgedanke bereits in Ihren eigenen Romanen [gemeint ist vor allem der Roman „DymŖ] begegnet.Ŗ21 Annenkov kritisierte vor allem, dass Sanin „sowohl göttliche Ambrosia zu schmatzen als auch rohes Kalmückenfleisch

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zu verzehrenŖ wisse.22 Turgenev stimmte ihm zu und versprach, er werde in der Buchfassung Sanin bis zu einem gewissen Grad rehabilitieren.23 Aber auch in den späteren Ausgaben änderte er nichts am Text. Denn dass in der Brust des Helden zwei Seelen wohnen und weshalb sein Schicksal sich so gestaltet, wird in der Erzählung glaubhaft begründet. Auch in Deutschland war das Publikumsinteresse groß, die Kritik aber glaubte, eine antideutsche Tendenz zu erkennen. Überaus freundlich wurde „Veńnie vodyŖ dagegen in Frankreich aufgenommen.

Jens Herlth

Fedor Dostoevskij: Krotkaja (Die Sanfte) An keiner Stelle der Erzählung „KrotkajaŖ erfahren wir den Namen der Titelfigur. Sie wird ganz und gar auf eine Eigenschaft reduziert. Das Wort „sanftŖ fällt bereits in Dostoevskijs Kommentar zu einer Zeitungsnotiz über den Selbstmord einer jungen Näherin, die sich am 30. September 1876 aus einem der Fenster im Dachgeschoss eines sechsstöckigen Hauses im Zentrum von Sankt Petersburg geworfen hatte. Die aus Moskau stammende junge Frau, die in Petersburg über keinerlei Familienanschluss verfügte, hatte sich, so der Bericht, vorher immer wieder über die schlechte Bezahlung ihrer Tätigkeit und über das Schwinden ihrer aus Moskau mitgebrachten finanziellen Mittel beklagt. Ausdrücklich wurde festgehalten, dass die junge Frau eine Ikone der Gottesmutter in der Hand hielt, als sie sich aus dem Fenster stürzte.1 Dieses Detail frappierte Dostoevskij: Er sah hier einen „sanften, demütigen SelbstmordŖ.2 Dostoevskij schöpfte für seine literarischen Texte vielfältige Anregungen aus den faits divers der Zeitungen. Er war selbst auch Journalist und verfolgte intensiv die Berichterstattungen über alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens. Die Nachricht vom Tod der mittellosen Näherin beschäftigte ihn. Ende Oktober findet sich eine erste Notiz in seinem Arbeitsjournal, die darauf hindeutet, dass er sich mit dem Gedanken trug, das Motiv „Mädchen mit HeiligenbildŖ künstlerisch zu verwenden.3 In der ersten Novemberhälfte arbeitete er dann intensiv an der Erzählung. Er bediente sich dabei auch weiterer Sujetfragmente aus geplanten oder früher begonnenen und dann liegengebliebenen literarischen Projekten sowie aus seiner Zeitungslektüre.4 Die Beschäftigung mit dem „sanften SelbstmordŖ verdrängte schließlich vollständig die Arbeit an den tages- und den gesellschaftspolitischen Texten für das „Tagebuch eines SchriftstellersŖ: Die Novembernummer des Jahres 1876 bestand allein aus der Erzählung „KrotkajaŖ. Das „Tagebuch eines SchriftstellersŖ war zuerst im Jahr 1873 als regelmäßige Kolumne in der Wochenzeitung „GraņdaninŖ (Der Bürger) erschienen, deren Herausgeber Dostoevskij von Januar 1873 bis April 1874 war. 1876 und 1877 publizierte er es in eigenständigen monatlichen Ausgaben. Anders als der Titel andeutet, handelt es sich hier um ein ganz und gar unprivates Schreibprojekt, das zudem monatlich getaktet war. Dostoevskij betrachtete es als seine Aufgabe, der Gesellschaft „den Puls zu messenŖ5 und aus der Vielzahl der Beobachtungen ein geordnetes Panorama des russischen Lebens aufzubereiten. Dabei versuchte er, einen direkten Zugriff auf die „WirklichkeitŖ zu nehmen. Das „TagebuchŖ verstand er ausdrücklich als „Bericht über das Gesehene, Gehörte und GeleseneŖ6, was ihn nicht davon abhielt, immer wieder auch kleine Skizzen und Erzählungen einzuschalten, also fiktionale Texte, die jedoch meist in einem engen Zusammenhang mit dem journalistischen Material standen. Der Autor des „Tage-

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buchsŖ trat als „Freund und RatgeberŖ7 seiner Leser auf. Er operierte bewusst an der Grenze zwischen Gedrucktem und Nicht-Gedrucktem, zwischen Öffentlichem und Privatem. So publizierte er etwa Ausschnitte aus Briefen, vor allem von Leserinnen8, die ihm als Autor des „TagebuchsŖ zugingen, und unterstrich dabei eigens, dass diese eigentlich nicht zu einer Veröffentlichung bestimmt gewesen seien.9 Anhand der zitierten Meinungsäußerungen wollte er charakteristische Tendenzen der Zeit aufzeigen, stets auf der Suche nach einem unverfälschten, authentischen Verständnis der Wirklichkeit. Im Kontext dieses journalistischen Projekts müssen wir die Ŕ so der Untertitel Ŕ „fantastischeŖ Erzählung „KrotkajaŖ lesen10, auch wenn sich der „AutorŖ in einem Vorwort bei seinem Leser dafür entschuldigt, dass er im Novemberheft „anstatt des ‚TagebuchsŘ in seiner gewöhnlichen Form diesmal nur eine ErzählungŖ liefere (5). Doch diese Entschuldigung ist nur eine ironische Irreführung des Lesers. Natürlich handelt die Erzählung von Fragen, die der Journalist Dostoevskij auch sonst in seinem öffentlichen „TagebuchŖ diskutierte: von der Frage nach der Realität von Fakten, nach dem Risiko, das jede Reduktion der Wirklichkeit auf Schemata und Kategorien mit sich bringt, und ganz generell von der Frage nach der Verantwortung desjenigen, der es auf sich nimmt, aus „FaktenŖ eine „ErzählungŖ zu machen. Die erzählerische Konstruktion Der „AutorŖ führt in seinem Vorwort weiter aus, dass er die Erzählung als „fantastischŖ betitelt habe, obwohl er sie für „im höchsten Maße realŖ halte. „FantastischŖ im Wortsinne sei jedoch ihre „FormŖ: Die Leser werden angehalten, sich einen Ehemann vorzustellen, der bei seiner durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Frau Totenwache halte. Während er dasitze und schließlich auch auf und ab gehe, versuche er sich in einem für sich gesprochenen Monolog klar zu werden über das, was geschehen ist. Der fiktive Monolog, so solle man sich vorstellen, sei von einem Stenografen notiert und dann von ihm, dem „AutorŖ, überarbeitet worden: Diese Konstruktion müssten die Leser akzeptieren, um die Erzählung verstehen zu können. Doch zugleich handelt Dostoevskijs Erzählung noch von einer anderen „FantastikŖ: „Die Reihe der aufgerufenen Erinnerungen führt ihn [den Ehemann] unweigerlich zur Wahrheit; die Wahrheit erhebt unweigerlich seinen Verstand und sein HerzŖ, so umreißt der „AutorŖ die Zielsetzung der von ihm konstruierten erzählerischen Versuchsanordnung. Der Fluchtpunkt der ganzen Erzählung ist die „WahrheitŖ und sogar mehr als das: Von der faktischen Wahrheit (pravda) geht es zu der idealen und umfassenden Wahrheit (istina), die sich am Ende eröffne Ŕ „zumindest für ihn selbstŖ, den trauernden Ehemann, wie der „AutorŖ einschränkend vermerkt (5). In dem Kapitel „Zwei SelbstmordeŖ aus dem Oktoberheft des „TagebuchsŖ hatte Dostoevskij von der Konkurrenz zwischen Realität und Fiktion gesprochen und betont, dass die Fiktion dabei immer nur den Kürzeren ziehen könne: Was ein Schriftsteller auch ausmale, es komme doch stets schwächer heraus als

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in der Wirklichkeit. Immer wenn ein Autor überzeugt sei, dass er in einem Werk „das Komischste in einer bekannten Erscheinung des LebensŖ oder „ihre hässlichste SeiteŖ erfasst habe, werde ihm die Wirklichkeit sogleich eine solche Variante präsentieren, die alles übersteige, was seine Beobachtungsgabe und seine Fantasie je hervorbringen könnten. Daher, so unterstreicht Dostoevskij, bedürfe es künstlerischer Begabung nicht nur zum Schreiben literarischer Werke, sondern auch schon allein zum „BemerkenŖ eines „FaktumsŖ. Diese Problematik, aus der es kein Entrinnen gebe, habe ihn seit seinen schriftstellerischen Anfängen beschäftigt. Für den „einen BeobachterŖ stellten sich die Erscheinungen des Lebens in „rührender EinfachheitŖ dar, er verschwende deshalb auch keinen weiteren Gedanken daran. Ein „anderer BeobachterŖ wiederum werde durch dieselben Erscheinungen aufs Höchste eingenommen, schaffe es aber nicht, sie „zu verallgemeinern, zu vereinfachen, auf eine Linie zu bringen und sich damit zu beruhigenŖ. Deshalb greife er zu einer „anderen Art der VereinfachungŖ und schieße sich eine Kugel in die Stirn, um den „gequälten Verstand gemeinsam mit allen Fragen auszulöschenŖ. Zwischen diesen beiden Extremen bewege sich der für den Menschen greifbare Sinn; niemals sei es möglich, eine Erscheinung in ihrer ganzen Fülle auszuschöpfen. „Uns ist nur das auf der Hand liegende Sichtbar-Gegenwärtige bekannt, und selbst das nur flüchtig; die Anfänge und Enden aber Ŕ das ist vorerst für den Menschen das Fantastische.Ŗ11 Einer der beiden Selbstmorde, die Dostoevskij in diesem Kapitel des Oktoberhefts als bemerkenswerte Fakten behandelt, ist derjenige der jungen Näherin aus Moskau, der andere derjenige der „23- oder 24-jährigenŖ Tochter eines nur „allzu bekannten russischen EmigrantenŖ (der Name Aleksandr Gercens bleibt ungenannt), die sich laut Zeitungsberichten mit Chloroform vergiftet hatte. Ihre Abschiedsnotiz, deren Wortlaut Dostoevskij im französischen Original mit russischer Übersetzung zitiert, ist in einer spöttisch-herausfordernden Tonlage gehalten. Falls der Selbstmord nicht gelinge, solle man ihre „AuferstehungŖ mit Champagner feiern. Außerdem bittet sie, dass man sich vor der Grablegung vergewissern möge, ob sie wirklich tot sei. Denn es sei einfach „pas chicŖ, in einem Sarg unter der Erde aufzuwachen.12 Gercens Tochter Elizaveta war 17, als sie sich 1875 in Florenz das Leben nahm. Dostoevskij hatte aus der Zeitung davon erfahren. Die Formulierung „pas chicŖ, die ihn besonders frappierte und empörte, entnahm er einem Brief von Konstantin Pobedonoscev, der sich wiederum auf eine mündliche Mitteilung Ivan Turgenevs berief. Sie findet sich nicht in dem tatsächlichen Abschiedsbrief Elizaveta Gercens13. Es war der Zusammenhang zwischen diesen beiden Selbstmorden, der Dostoevskij interessierte: der Gegensatz zwischen der „in vollkommenem Materialismus und UnglaubenŖ erzogenen Tochter Gercens14, die mit ihrem Tod gegen die Geradlinigkeit der ihr vermittelten Weltanschauung protestierte, ohne diese je in Zweifel gezogen zu haben, und der „sanften SeeleŖ der Näherin, die ganz ohne Vorwurf und Aufbegehren ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.15 Hier sah er ein „FaktumŖ des ge-

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sellschaftlichen Lebens, dessen „Anfänge und EndenŖ er auf künstlerischem, und das heißt für ihn hier „fantastischemŖ Wege offenlegen wollte. Wenn wir dem Vorwort des „AutorsŖ Glauben schenken, dann gelangt der Erzähler am Ende zur „WahrheitŖ. Das Problem aber ist, dass wir ihm nicht glauben dürfen. Der „AutorŖ der Erzählung ist eben „nurŖ der Publizist des Tagebuchs, eine durch ihre historische und biographische Konkretion beschränkte Instanz, und keine über den Dingen schwebende „ÜberstimmeŖ, die die Fäden von Wahrheit und Moral zuverlässig in der Hand hält. Die Erzählung selbst überantwortet er seiner Hauptfigur, die als Ehemann einer soeben durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Frau von vornherein kompromittiert ist. Der namenlose Pfandleiher, die Erzählerfigur in „KrotkajaŖ, ist eine Abwandlung des „Untergrund-MenschenŖ aus der Erzählung „Zapiski iz podpolřjaŖ (Aufzeichnungen aus dem Untergrund) von 1864.16 Mit seinen 41 Jahren ist er ein Jahr älter als sein Vorgänger. Wie letzterer ist auch er sozial isoliert, fühlt sich ins Unrecht gesetzt und lebt sein Leben vor allem schweigend (14). Der Grund für seine zurückgezogene Lebensweise ist eine etwa viereinhalb Jahre zurückliegende Geschichte aus seiner Zeit als Stabshauptmann eines glänzenden Regiments: Ein Husar soll sich vor Publikum despektierlich über einen Offizier des Regiments geäußert haben. Der Erzähler war als einziger Angehöriger des Regiments Zeuge der Szene. Deshalb verlangten die Offiziere seines Regiments, dass er den Husaren zur Rechenschaft ziehe, was er aber ablehnte: Wie er angibt, habe die ganze Sache auf Gerüchten und letztlich einem Missverständnis beruht. Gleichwohl habe er sich gezwungen gesehen, seinen Abschied aus dem Militär zu nehmen. In der Folgezeit lebte er drei Jahre lang in extremer Armut und übernachtete zeitweise im Obdachlosenasyl. Eine kleine Erbschaft ermöglicht ihm schließlich, ein Pfandleihkontor zu eröffnen. Unter seinen Kundinnen ist ein mittelloses junges Mädchen, die seit drei Jahren Vollwaise ist und bei zwei Tanten Unterschlupf gefunden hat. Er ist von ihr fasziniert, stellt Nachforschungen über ihren Hintergrund an und nötigt sie zur Heirat. Seine Vorgeschichte verschweigt er. Also unternimmt sie selbst Erkundigungen, er jedoch kommt ihr dabei auf die Schliche. Das führt zum Zerwürfnis zwischen beiden. Er macht sich noch Hoffnungen, die Situation retten zu können und träumt von einem Haus auf der Krim und einer Reise nach Boulogne-sur-Mer. Doch schließlich bringt sich die gerade Sechzehnjährige durch einen Sprung aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung um. In seine Erzählung flicht Dostoevskij Anspielungen und Hinweise auf Werke der Weltliteratur wie Hugos „Dernier jour dřun condamnéŖ, Goethes „FaustŖ oder Lesages „Gil BlasŖ ein. Hugo dient als Vorbild für die erzählerische Konstruktion17; mit „FaustŖ-Zitaten schindet der Pfandleiher Eindruck bei seiner jungen Kundin; von ihrer „Gil BlasŖ-Lektüre erzählt die „SanfteŖ dem Pfandleiher in einem der seltenen unbeschwerten Momente ihres gemeinsamen Lebens. Im Theater schauen die Eheleute leichte Kost wie Petr Jurkeviĉs Drama „Pogonja za sĉastřemŖ (Die Jagd nach dem GlückŖ) und Jacques Offenbachs Ope-

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rette „PericolaŖ. Der kulturelle Horizont der Figuren ist beschränkt. „BoulogneŖ als letzter Ausweg ist genauso eine Trivialität wie der Traum von einem Haus аm Südufer der Krim Ŕ übrigens der Ort, an dem schon in Gonĉarovs „OblomovŖ (1859) eine Ehefrau in Depression fällt. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich der Erzähler einmal kurz an die Lektüre von John Stuart Mills frauenrechtlichem Traktat „The Subjection of WomenŖ (1869) erinnert (15). Die kulturellen Referenzen, die auch vor Kitsch nicht Halt machen, fügen sich in das Konzept, eine alltägliche Geschichte zu erzählen, die in einem historisch und sozial präzise umrissenen Raum angesiedelt ist. Die Stimme des Pfandleihers Die Rede des Pfandleihers sollen wir so verstehen, als richte er sie „an einen unsichtbaren Zuhörer, an eine Art RichterŖ (6). Er formuliert immer wieder rhetorische Fragen an fiktive Zuhörer. Dabei ist er sich bewusst, dass er der einzige Zeuge des Geschehens ist, der hier zu Wort kommen wird und der also die Darstellung monopolisiert. Daher sieht er es zumindest in der rhetorischen Selbstdarstellung als seine Verantwortung, die eine wie die andere Seite zu Wort kommen zu lassen, „pro und contraŖ zu sprechen (11). Auf den ersten Blick mag es absurd scheinen, nach der „StimmeŖ des Pfandleihers zu fragen, wenn doch die ganze Erzählung von ihr getragen wird. Allerdings ist sie zwar dominant, aber zugleich in sich widersprüchlich und inkonsistent. Immer wieder durchbrechen unwillkürliche Einschübe, Apostrophen, Selbstapostrophen und Korrekturen den Fluss der Erzählung. Diese Brüche sind es, an denen, wenn wir der erzählerischen Konstruktion vertrauen wollen, die authentische, unverstellte, nicht durch Rechtfertigungsstrategien verschleierte Stimme des Pfandleihers erklingt. Gleich in den ersten Worten der Erzählung bricht sie durch, als dieser davon spricht, dass seine Frau auf zwei zusammengestellten „LombertischenŖ aufgebahrt liegt und der Sarg „morgen mit weißem, weißem Gros de NaplesŖ ausgekleidet sein werde. „Doch darum geht es nicht…Ŗ (6), korrigiert er sich an dieser Stelle und legt damit offen, dass es unter anderem genau darum geht: Dass die Beziehung zu seiner Frau daran krankte, dass er die Welt mit den Augen des Pfandleihers sieht und alles nach ökonomischen Maßstäben taxiert. Seiner Frau ist wiederum gerade die ökonomische Dimension fremd. Sie lässt sich ganz offensichtlich nur sehr widerwillig auf ein Spiel ein, bei dem es gilt, Dinge in Geld zu übersetzen und bei dem letztlich auch die persönliche Würde zu einem konvertiblen Gut wird. Auch dies wird sehr früh in einer weiteren unwillkürlichen Aussage des Pfandleihers deutlich: Bei ihren Besuchen im Leihkontor habe sie ihn überrascht, weil sie immer sofort die angebotene Summe genommen habe und dann gegangen sei: „Andere streiten, bitten, feilschen um mehr Geld; diese jedoch nicht, was man ihr gab… Ich glaube, ich bin durcheinander gekommen…Ŗ Und dann erläutert er, dass die Dinge, die das junge Mädchen in die Pfandstube bringt, von geringem Wert sind, für sie selbst aber „KostbarkeitenŖ darstellten, weil es sich um Erinnerungsstücke handelt (6 f.).

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Der Titel der Erzählung greift die Worte des Pfandleihers auf, der sich erinnert, gleich zu Beginn der Bekanntschaft mit seiner späteren Frau „erratenŖ zu haben, dass sie „gut und sanftŖ sei (8). Im Titel „KrotkajaŖ zitiert der „AutorŖ also eine Annahme des Pfandleihers und autorisiert sie dadurch. Ähnlich verhält es sich mit den Kapitelüberschriften wie „Wer ich war und wer sie warŖ, „Pläne über PläneŖ oder „Die Sanfte rebelliertŖ. Auch hier handelt es sich um resümierende Zitate aus dem Diskurs des Erzählers.18 Gerade in der Lakonie, mit der der „AutorŖ, der sich in seinem Vorwort dazu bekennt, die Erzählung künstlerisch gestaltet zu haben (6), die Worte des Pfandleihers übernimmt, liegt aber auch eine feine Distanzierung. Wir sollen wissen, dass der „AutorŖ mehr weiß als sein Erzähler. In der subtilen Vorführung dieser Differenz liegt die Ironie des Dostoevskijschen Erzählens. Der Pfandleiher verschweigt bewusst Details, fasst zusammen, rückt zurecht. In seiner Rede wird die Problematik des Erzählens als einer nachträglich konstruierten logischen sowie chronologischen Abfolge von Ereignissen oder Geschehensmomenten problematisiert. Im Besonderen die zahlreichen Anakoluthe der Erzählerrede stoßen den Leser auf das Kernproblem des Erzählerdiskurses: An den Bruch- und Leerstellen artikuliert sich die verschwiegene Gegenrede der „SanftenŖ. Einmal, so bemerkt der Pfandleiher, habe er angesichts eines besonders erbärmlichen und wertlosen Objekts nicht an sich halten können, und der „SanftenŖ gegenüber „irgendеtwas so in der Art einer spitzen BemerkungŖ fallen gelassen („ĉto-to, vrode kak by ostrotyŖ). Der Schlüssel liegt hier im „ĉto-to, vrode kak byŖ (7): In der sprachlichen Ungelenkheit, mit der der Erzähler im Nachhinein seine Worte bagatellisiert, hören wir das Unbehagen gegenüber dem offensichtlich zu scharf gewählten Wort und können uns die beleidigte Reaktion der „SanftenŖ erklären. In der Erzählerrede geht es ganz offensichtlich vor allem um eine Kontrolle. Sie spiegelt die Motive des Pfandleihers in der Anbahnung der Beziehung zur „SanftenŖ Ŕ diese sind nicht zuletzt erotisch-sadistischer Natur: Das junge, offensichtlich so mittel- wie schutzlose Mädchen zieht ihn an, vor allem, als er bemerkt, dass sie ihren eigenen Willen und ihren Stolz hat. Es geht ihm darum, Macht und Kontrolle über sie auszuüben. Der „strenge TonŖ, in dem er ihr die Geschäftsgrundlage der Ehe darlegt (freie Kost und Logis, dafür aber zunächst keinerlei „festliche Kleider, Theater, BälleŖ) bereitet ihm Vergnügen (11). Gern provoziert er sie und delektiert sich an ihren empörten Reaktionen. Besonders die Momente, in denen sie sich ungeschützt aufrichtig zeigt, faszinieren ihn. Als er sicher ist, sie unter Kontrolle zu haben, empfindet er dies als einen „höchst wollüstigen GedankenŖ („presladostrastnaja ėto myslř Ŗ, 10). Und als die Ehe längst zerrüttet und er sich sicher ist, die „SanfteŖ moralisch erniedrigt und besiegt zu haben, da tut sie ihm zwar leid, doch ihm gefällt auch die „Idee ihrer ErniedrigungŖ (25). Dabei geht der Erzähler durchaus mit sich und seinen Motiven ins Gericht: Er streicht seine Eitelkeit heraus und merkt an, an welchen Punkten der Be-

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ziehung er bestimmte Hinweise übersehen oder falsch gedeutet hat. Bei allem, was er sagt, müssen wir aber die möglichen strategischen Motive in Rechnung stellen. Denn bei aller zur Schau gestellten Offenheit in der Selbstanklage gibt es doch immer wieder Signale im Text, die darauf hindeuten, dass der Pfandleiher noch im Modus der Konfession eine ganz andere Schuld bekennt als die, die er wirklich auf sich geladen hat. Die Selbstanklage dient nur der Selbsttäuschung. Das zeigt sich vor allem am Ende der Erzählung, als sein Diskurs, der eigentlich darauf ausgerichtet war, Ordnung in das Geschehen zu bringen, jede narrative Konsistenz verliert.19 Offensichtlich ist der Pfandleiher nicht dazu in der Lage, die Ereignisse „auf eine Linie zu bringenŖ und sich dadurch zu beruhigen. Die Stimme der „Sanften“ Der Pfandleiher ist sehr daran interessiert, seiner Sicht über den Ablauf der Geschehnisse und die Motive der „SanftenŖ Geltung zu verschaffen. Er hat alle Mittel dazu in der Hand; denn es ist nur er, der spricht. Von allen anderen Stimmen vernehmen wir allenfalls die Spuren, die zuvor durch seine Rede gefiltert wurden. Wir können jedoch versuchen, diese Stimmen zu rekonstruieren. Nur so sind wir in der Lage, die Sichtweise des Pfandleihers zu korrigieren; nur so können wir im Teppich seiner Worte die feingewebten Fäden gegenläufiger Intentionen ausmachen, die uns ein vollständigeres Verständnis des Geschehens erlauben. Denn Dostoevskij hat seine Erzählung ganz bewusst so angelegt, dass die Stimme der Titelfigur hinter den Worten des Pfandleihers lediglich erahnt werden kann. Wir wissen von der „SanftenŖ nur das, was der Pfandleiher von ihr erzählt. Wie also sollen wir ihre Stimme rekonstruieren? Natürlich könnte man, wie es verschiedentlich unternommen wurde, reale Suizide, mit denen sich Dostoevskij zur Zeit der Abfassung der Erzählung auseinandersetzte, heranziehen.20 Das hieße, die Grenze zwischen Fiktion und historischer Wirklichkeit zu durchbrechen Ŕ eine solche Lektürehaltung entspräche wohl der Intention des Autors des „Tagebuchs eines SchriftstellersŖ recht genau. Wir können auch in die verworfenen Notizen und Varianten blicken, die die Werkausgabe im Anhang bereit hält, und hier etwa lesen, wie die „SanfteŖ in einem seltenen Moment der Harmonie ihrem Ehemann vom gemeinsamen Leben mit ihren längst verstorbenen Eltern erzählt (363). Das hieße, die Grenzen des autorisierten Werks zu überschreiten und es als Manifestation einer Welt von Möglichkeiten zu begreifen. Beides sind literaturwissenschaftlich nicht unproblematische, aber doch produktive und für Leserinnen und Leser auf jeden Fall legitime Ansätze. Die fiktionale Erzählung wächst so über ihre Grenzen hinaus und greift auf die Wirklichkeit über. Dostoevskij, der sich wie kein anderer russischer Autor des 19. Jahrhunderts für Informationsflüsse, für Kontamination der Kommunikation, für das Machtbestimmte und Interessegeleitete des zwischenmenschlichen Austauschs interessierte, provoziert mit seinem Werk eine Lektürehaltung, die nach dem unge-

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sagten, dem angedeuteten, dem nur in verzerrter Spiegelung zugänglichen Wort sucht. Das moralische Problem dieser erzählerischen Konstruktion ergibt sich bereits aus der oben erwähnten Skizze zu den „Zwei SelbstmordenŖ. Diese hatte Dostoevskij mit der Frage, welche der beiden „SeelenŖ, die Näherin oder die Tochter des Emigranten, „auf der Erde mehr gelitten habeŖ, beschlossen und gleich einschränkend angefügt: „wenn eine derart müßige Frage überhaupt statthaft und zulässig istŖ.21 Er problematisiert hier den Voyeurismus des Journalisten und Zeitungslesers. Wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, wirft er damit auch das Problem der Diskursmacht auf, die es ihm im Zusammenspiel mit Turgenev und Pobedonoscev erlaubte, den Wortlaut der Abschiedsnotiz Elizaveta Gercens so zu entstellen, dass er skandalöser und somit für journalistische Zwecke geeigneter erschien. Das erste Mal vernehmen wir die Stimme der „SanftenŖ in höchst mittelbarer Form: Am Anfang, erläutert der Erzähler, sei sie „einfachŖ gekommen und habe Dinge versetzt, um Geld für ein Inserat in der Zeitung „GolosŖ (Die Stimme) zu bekommen, in dem sie annonciert habe, „dass sie, nun ja, nämlich, so und so, eine Gouvernante sei, auch bereit zum Ortswechsel und zum Hausunterricht usw. usw.Ŗ (6). Er zitiert danach wörtlich weitere Annoncen, die die „SanfteŖ aufgegeben habe, nicht ohne auch hier ein lapidares „usw.Ŗ anzufügen. Dabei gibt er an, dass er von den Annoncen „und allemŖ erst „späterŖ erfahren habe (8). Er hat Nachforschungen über das private Umfeld und die Hintergründe der „SanftenŖ angestellt, um sich dieses Wissen zunutze zu machen. Er weiß, wie er sie unter Druck setzen kann, damit sie seinen Heiratsantrag annimmt. Die Konstruktion der Erzählung formt ein moralisches Dilemma: Wir Lesenden empören uns über die zynische Strategie, mit der der Pfandleiher sich der „SanftenŖ annähert, wie er sie als „gut und sanftŖ kategorisiert (8), ihre Schwächen ausnutzt, um sie moralisch zu erpressen. Vor allem möchten wir zu ihrer wahren Stimme vordringen, sammeln sorgsam Indizien zusammen, die es uns erlauben, die Version des Pfandleihers gegen den Strich zu lesen Ŕ und wir wählen dabei zwangsläufig dieselbe Strategie wie er: Wir suchen Informationen, stellen sie zusammen, machen uns ein Bild. Die Paradoxie der Lesehaltung, die Dostoevskijs Erzählung uns aufzwingt, liegt darin, dass wir genauso vorgehen wie der Pfandleiher selbst: Wir rekonstruieren den Charakter der Titelfigur aus sehr dürftigen und kaum verlässlichen Informationen. Wir sind genauso voyeuristisch an der „SanftenŖ und auch an den Manifestationen ihrer Körperlichkeit interessiert wie der Pfandleiher Ŕ bis hin zur „Handvoll BlutŖ, die nach den aufgeregten Worten eines zufällig anwesenden Kleinbürgers nach dem Sturz aus ihrem Mund wich (33). Die Stimme der „SanftenŖ erklingt auch im Modus der Spekulation: Im Bemühen, das Geschehene zu verstehen, malt sich der Erzähler aus, was sie in bestimmten Situationen gedacht haben könnte. Als er ihr den Heiratsantrag unterbreitet und von ihrer Zustimmung mehr als überzeugt ist, da es doch für sie darum gehen müsse, die von den Tanten angebahnte Ehe mit einem dicken fünfzigjährigen Kaufmann, der zuvor schon zwei Frauen zu Tode geprügelt hatte, zu

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vermeiden, da ist er höchst verwundert, als sie nicht sofort freudig zustimmt, sondern sich Bedenkzeit erbittet. Doch aus der Distanz kann er sich vorstellen, dass sie damals vielleicht erwogen habe, lieber gleich den Kaufmann zu heiraten, auf dass er sie möglichst bald im Suff zu Tode prügele Ŕ wenn das Unglück ohnehin unausweichlich sei. Diese Vermutung ist im Text als wörtliches Zitat ihrer Gedanken markiert (9). Eine wertvolle Quelle für den Pfandleiher bildet das Hausmädchen Lukerřja. Sie war ursprünglich bei den beiden Tanten der „SanftenŖ angestellt. Der Pfandleiher hatte sie bestochen, um Informationen über die „SanfteŖ zu erhalten, und sie schließlich abgeworben. Seitdem steht sie in seinen Diensten. Und nach dem Selbstmord seiner Frau ist er entschlossen, Lukerřja „auf keinen Fall gehen zu lassenŖ, weil diese den ganzen Winter über alles miterlebt habe und ihm „alles erzählenŖ werde (32). Die Worte dieser Lukerřja übermitteln uns in wörtlicher Rede ein letztes Gespräch mit der „SanftenŖ: „Schon längst, Barynja, hätte der Barin sie um Verzeihung bitten sollen… Gott sei Dank haben sie sich versöhntŖ (32). In den hier zitierten Worten artikuliert sich eine andere Bewertung der Geschehnisse: Die Schuld liegt beim Pfandleiher; er weiß dies und kündigt deshalb an, dass er nun alles daran setzen werde, Lukerřja bei sich zu behalten, damit er die volle Kontrolle über die „WahrheitŖ behalten kann. Die Rede der „SanftenŖ wird zitiert, resümiert und möglicherweise auch bewusst in der erzählerischen Wiedergabe verändert, ausgeblendet. Wir können nur versuchen, sie zu rekonstruieren und wissen doch dabei, dass alle Rekonstruktion nur Hypothesen hervorbringen kann. Doch dies ist der entscheidende Kunstgriff der Erzählung: Man könnte meinen, Dostoevskij zeige hier, wie die Macht des Mannes die Stimme der schwächeren und unterdrückten Frau nach Belieben zum Verstummen bringen kann. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Text zeigt ja gerade, dass es nicht gelingt, die Stimme der „SanftenŖ komplett auszublenden.22 Das wird dort klar, wo diese Stimme nicht länger irgendeine Semantik transportiert, sondern ganz für sich erklingt: Ganz am Ende der Erzählung, kurz vor dem Selbstmord, hört der Erzähler plötzlich, wie seine Frau eine Romanze vor sich hin singt. Auf Nachfrage bestätigt ihm Lukerřja, dass die „SanfteŖ in seiner Abwesenheit bisweilen singe: Er konnte sie also nur singen hören, weil sie ihn momentan vergessen hatte (27). Dieser Umstand wird ihm plötzlich klar. Und als er daraufhin zum ersten Mal in echter Liebe zu ihr entbrennt, ihr von einem gemeinsamen Leben, einer Reise nach Boulogne-sur-Mer zu sprechen beginnt, da ist sie konsterniert. Obwohl sie schweigt, meint er in ihren Augen die Frage „Also willst du jetzt auch noch Liebe? Liebe?Ŗ lesen zu können (28). Doch schließlich bricht ein Satz aus ihr heraus, ohne dass sie es wollte und vielleicht sogar ohne dass sie es bemerkte, und dieser Satz, den der Erzähler in wörtlicher Rede zitiert, „schnitt ihm wie ein Messer ins HerzŖ: „Und ich hatte gedacht, dass Sie mich in Ruhe lassen würdenŖ (28). Hier sind wir ganz nah am Inneren der Protagonistin; denn es gibt keine Indizien und auch kein Motiv dafür, dass der Erzähler diesen Satz willkürlich abgeändert, interpretiert oder

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aus ihrem Blick herausgelesen hätte. So ist die Stimme der „SanftenŖ am Ende präsent Ŕ als Gesang und als schneidendes Messer. Die Ironie des Namens, den der „AutorŖ Dostoevskij seiner Hauptfigur gibt, tritt hier zutage: Eigentlich von Anfang an fügt sich die „SanfteŖ nicht restlos in das Bild, das der Pfandleiher und mit ihm der Titel der Erzählung von ihr vermitteln.23 Die Struktur dieses Textes und die klaren Machtverhältnisse, vor allem auch unser Einblick in die Abgründe der Seele des Pfandleihers nötigen uns zur Identifikation mit der „SanftenŖ. Indem wir aus dem Diskurs des Pfandleihers ihre Stimme herauspräparieren, rekonstruieren wir ihre Gestalt als das „reineŖ, „unschuldigeŖ und „authentisch-natürlicheŖ Gegenbild zu der berechnenden und in ihrer Selbstbezogenheit unmoralischen Gestalt des Pfandleihers, der uns bereits im Vorwort als „geborener HypochonderŖ vorgestellt wird (5). Der Pfandleiher ist von erblichem Adel, während der Vater der „SanftenŖ lediglich das persönliche, nicht vererbbare Adelsrecht besaß (10). Er ist 25 Jahre älter als die „SanfteŖ und besitzt die Kontrolle über alle ökonomischen Ressourcen. Er besitzt sogar eine Waffe, deren Zugänglichkeit für seine Ehefrau er kontrolliert. Die „SanfteŖ hat dagegen nichts als ihre Würde. Doch diese behauptet sie bis zum Schluss gegen die Widrigkeiten ihrer Situation und vor allem gegen die Widerstände der erzählerischen Konstruktion. Sie erscheint zwar als das moralische und charakterliche Gegenbild zu ihrem Mann, doch sie ist kein hilfloses Opfer. Der Widerstand ihrer Stimme klingt auch noch in den letzten verzweifelten Worten des Pfandleihers am Ende der Erzählung durch. Geld In „KrotkajaŖ ist das Geld ein dominanter Faktor in Handlung und Struktur.24 Der Pfandleiher und seine spätere Frau begegnen sich zuerst im Leihkontor; ihre Kommunikation steht von Anfang an im Zeichen von Geldtransfer und Taxierung. Die ganze Erzählung ist im Grunde in einem „PfandleiherdiskursŖ gehalten.25 Der „PlanŖ, den der Pfandleiher mit seiner Ehe und mit der spartanischen Ökonomie des eigenen Haushalts verfolgt, lässt sich wiederum genau mit einer Geldsumme beziffern: 30.000 Rubel braucht er, um sich ein Landhaus auf der Krim zu kaufen und sich in den Weinbergen des Südens zur Ruhe zu setzen Ŕ fern von den Menschen, die ihm Unrecht getan haben (16). Die Beziehung zu seiner Ehefrau bahnt er über den ökonomischen Code an, auch das Verhältnis zur Dienstbotin Lukerřja wird durch Geld begründet, wie überhaupt die Beziehungen des Pfandleihers ausnahmslos vom Geld bestimmt oder von finanziellen Erwägungen durchsetzt sind. Als die „SanfteŖ schwer erkrankt ist, engagiert er eine „ausgebildete Pflegerin aus dem KrankenhausŖ und hebt eigens hervor, dass es ihm um das Geld nicht leid getan habe (22 f.), ja, dass er in diesem Fall sogar ganz bewusst Geld für sie, die „SanfteŖ, habe „ausgebenŖ wollen (23). Alle seine Handlungen und Motive übersetzt er in ökonomische Erwägungen, und selbst dort, wo er sich als euphorisch Liebender wahrnimmt, wie bei der Planung der Reise nach Boulogne, formuliert er die Kosten und Aufwendun-

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gen: das Kontor an den Konkurrenten Dobronravov übergeben, alles Geld den Armen schenken, bis auf 3000, die für die Reise gebraucht werden (30). Das Geld steht für die Ratio: Der Pfandleiher möchte glauben, dass er sich nichts vorzuwerfen habe, weil er alle seine Motive klar auf den Tisch gelegt habe und weil er immer wieder Geld aufgewendet hat, um der „SanftenŖ entgegenzukommen. Seine Verunsicherung beginnt gleich am Anfang, als er von seinen Prinzipien abweicht und das ökonomische Kalkül zurückstellt, um die „SanfteŖ für sich zu gewinnen. Normalerweise nimmt er wie alle Pfandleiher „nur Gold und SilberŖ (7), doch bei ihr macht er Ausnahmen. Die beiden treffen sich in einem Zwischenbereich. Hier kommt er nicht gut zurecht, weil er gezwungen ist, mit emotionalen, religiösen, nicht-pekuniären Wertsetzungen zu rechnen. Sie ihrerseits fühlt sich unwohl, weil sie sich nicht auf die Übersetzung von solchen symbolischen Werten in ökonomische Größen einlassen will. Der Pfandleiher experimentiert mit einem Ausflug in die Welt der Gefühle, und er rechnet minutiös aus, was ihn das kostet: „Sollte dieser Triumph über sie wirklich zwei Rubel wert sein? […] Ich erinnere mich, dass ich gerade diese Frage zweimal stellte: ‚Ist er es wert? Ist er es wert?Ř Und lachend beantwortete ich die Frage für mich positivŖ (7). Am augenfälligsten wird der Gegensatz zwischen ökonomischem und emotionalem Wert in dem Dingsymbol des Bildes der Muttergottes mit Kind, das die „SanfteŖ dem Pfandleiher bringt, als sie offensichtlich all ihre übrigen Habseligkeiten bereits versetzt hat: Der Pfandleiher schlägt ihr vor, die aus vergoldetem Silber bestehende Einfassung von der Ikone zu lösen und nur sie allein zu verpfänden. Auf diesen Gedanken war sie nicht gekommen, weil das Bild für sie einen hohen symbolischen Wert besaß. Er wiederum reduziert es auf seinen Ŕ geringen Ŕ Materialwert. Als sie später verheiratet sind, äußert sich die Revolte der „SanftenŖ in ihrer Handhabung der Geschäfte26: Sie gewährt den Kunden zu hohe Summen für in Zahlung gegebene Objekte, woraufhin er sie zurechtweist und aus der geschäftlichen Tätigkeit ausschließt (17). Insgesamt haben wir es hier mit einer raffinierten erzählerischen Reflexion über eine unauflösliche Verquickung von Liebeskommunikation und ökonomischem Kalkül, von Macht und Sexualität zu tun. Der Erzähler notiert exakt Preise und Zeitangaben Ŕ und bleibt bis zum Schluss dem Paradigma der Mess- und Planbarkeit verhaftet. Duelle und Rätsel Im Zentrum der Erzählung steht die Frage nach der Macht über dem anderen: Der Erzähler will die „SanfteŖ beherrschen und definiert die Beziehung von Anfang an als einen Zweikampf. Die „SanfteŖ geht darauf nicht eigentlich ein, jedoch lässt sie sich provozieren, zeigt ihren Widerwillen und ihren Stolz, wodurch sie dem Lustgefühl des Pfandleihers Nahrung gibt. Sie funktioniert in einer anderen Werteskala. Der „StolzŖ, der ihr eigen ist, ist eine Manifestation ihrer Würde. Und diese Würde aufzugeben, ist sie nicht bereit. Für den Pfand-

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leiher ist es irritierend, dass die „SanfteŖ nicht wie er selbst manipulativ, sondern authentisch und natürlich agiert und dabei auf eine intuitive und machtlose Weise ihre Macht zeigt. Zu Beginn erklärt er ihr, dass er nicht freiwillig die schlecht beleumundete Tätigkeit des Pfandleihers aufgenommen habe, dass er in der Vergangenheit gelitten habe Ŕ damit möchte er sich eine Aura des Geheimnisvollen geben, rätselhaft auf sie wirken. Sie jedoch zerstört mit einer spöttischen Bemerkung, die er wörtlich zitiert („Sie rächen sich also an der Gesellschaft? Ja?Ŗ, 9), die romantisierende Maskerade. In seiner Rede nimmt er ihre Worte später noch einmal bestätigend auf (11). Er muss konzedieren, dass sie ihn durchschaut hat. In der Logik der Kontrolle, der der Pfandleiher verpflichtet ist, bedeutet dies eine Niederlage, umso mehr als sie für ihn bis zu ihrem Tod und darüber hinaus ein Rätsel bleiben wird.27 Sein Plan besteht darin, die „SanfteŖ durch Zurückhaltung von Informationen zu dominieren: Während sie ihm in den ersten Wochen, noch vor der Hochzeit, voller Liebe „im bezaubernden Geplapper der UnschuldŖ von ihrer Kindheit und Jugend erzählt und sich ihm gegenüber ganz öffnet, löscht er diese ganze Begeisterung sofort „mit kaltem WasserŖ ab (13), um ihr zu vermitteln, dass er selbst ein „RätselŖ sei und bleiben werde. Empört ist er vor allem darüber, dass die „SanfteŖ von „niederträchtigen Menschen EinzelheitenŖ über ihn in Erfahrung gebracht habe und überzeugt gewesen sei, dass sie damit „allesŖ über ihn wisse, obwohl doch das Kostbarste in seiner Brust verschlossen geblieben sei (14). Seine Empörung, die auch nach dem Tod der „SanftenŖ noch vorhält, ist offensichtlich die Erklärung dafür, dass er sie eben nicht um Vergebung bittet, dass er nicht aus dem Paradigma des Machtkampfs ausbricht und sie somit in den Tod treibt. Denn er war es schließlich gewesen, der sie durch sein Schweigen dazu gezwungen hatte, sich die Informationen zur Auflösung des von ihm so sorgsam konstruierten Rätsels von anderer Stelle zu holen. Dass sie damit jedoch geglaubt habe, „allesŖ über ihn zu wissen, ist wiederum nur die hilflose Unterstellung eines Mannes, der „VerstehenŖ nur als feindlichen Akt des Kontrollgewinns und der Machtausübung sehen kann. Weil sie nach der brüsken und zynischen Zurückweisung ihrer ersten emotionalen Annäherung einen spöttischen Blick auflegt, sieht er in ihr „einen unerträglichen Tyrann und QuälgeistŖ (16) Ŕ und schreibt ihr damit Eigenschaften zu, die eigentlich seine eigenen sind. Von einer der Tanten seiner Frau erfährt der Erzähler, dass die „SanfteŖ im Zuge der Nachforschungen über die rätselhafte Vergangenheit ihres Mannes ein Treffen mit dessen früherem Regimentskollegen Efimoviĉ ausgemacht hat. Mit einem Revolver bewaffnet, lauscht er hinter einer Tür versteckt im Nebenzimmer und kann sich davon überzeugen, wie souverän seine Frau sich der schlüpfrigen Anmaßungen Efimoviĉs erwehrt. Er beschreibt die Szene als ein „DuellŖ, aus dem die „SanfteŖ mit Glanz als Siegerin hervorgeht (19).28 Am Ende des Gesprächs öffnet er die Tür, beschämt dadurch seine Frau und fordert den Spott Efimoviĉs heraus. Eine weitere Duellszene schließt sich an: Als der Pfandleiher

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am nächsten Morgen erwacht, bemerkt er, wie die „SanfteŖ ihm den Revolver an die Schläfe hält. Für einen kurzen Moment treffen sich die Blicke der beiden Eheleute, dann aber schließt er sofort wieder die Augen, um sie glauben zu lassen, er habe nur kurz den Blick gehoben, ohne wirklich wach zu werden. Doch in genau diesem Moment schießen weitere Gedanken durch seinen Kopf: „Es lebe die Elektrizität des menschlichen Denkens!Ŗ ruft der Erzähler aus, während er sich daran erinnert. Falls die „SanfteŖ nun aber doch verstanden hätte, dass er wach war und bewusst die Augen wieder geschlossen hatte, also ganz wissentlich das Risiko eingegangen wäre, von ihr erschossen zu werden, dann hätte er sie dadurch „geschlagenŖ (21 f.). Noch die Erinnerung des Pfandleihers an die Konfrontation mit seiner Frau am Morgen nach dem belauschten Gespräch ist ganz offensichtlich durch die Formeln des Duellkodex geprägt: Er spricht von einem „schrecklichen Duell auf Leben und Tod, einem Duell eben dieses gestrigen Feiglings, der von seinen Kameraden wegen seiner Feigheit verjagt wurdeŖ (21). Zentral für das Duell ist bekanntlich nicht die Tötung des Widersachers, sondern der symbolische Sieg, den der davonträgt, der gezeigt hat, dass er dem eigenen Leben weniger Wert beimisst als der moralischen Unbeflecktheit. Der Pfandleiher, der durch die Folgen seiner Ablehnung des Duells im Regiment traumatisiert ist, erzählt sich und den fiktiven Zuhörern hier die morgendliche Szene als reenactment eines Duells, das nie stattgefunden hat Ŕ als wollte er die eigene Schande damit abwaschen. Wieder wird deutlich, dass seine junge Frau ihm nur als Material dient, um sich an der eigenen „dunklen Vergangenheit zu rächenŖ (24), das eigene Trauma zu besiegen. 45 Grad Gefälle: narrative Beschleunigung In der Beschreibung der Revolverszene findet sich eine Bemerkung des Erzählers, die man als Schlüssel zu der erzählerischen Organisation seiner Rede verstehen kann: „Viele Selbstmorde und MordeŖ, so führt er aus, geschähen nur deshalb, „weil der Revolver schon zur Hand genommen wurdeŖ: „Da gibt es einen Abhang von 45 Grad Gefälle, auf dem nicht auszurutschen kaum möglich ist, und irgendetwas veranlasst einen unwiderstehlich dazu, den Abzug zu ziehenŖ (21). Die Art und Weise, in der der Pfandleiher die Geschehnisse für seine imaginierte Zuhörerschaft erzählerisch aufbereitet, lehnt sich an diese Vorstellung eines Abrutschens mit zunehmender Geschwindigkeit an. Der „AutorŖ hatte in seiner Vorrede noch den fiktiven zeitlichen Rahmen markiert, indem er darauf hinwies, dass der „Prozess der Erzählung einige Stunden dauertŖ (6). Doch dann bestimmt der fiktive Erzähler die narrative Ordnung und Geschwindigkeit. Er widmet sich recht ausführlich seinen ersten Begegnungen mit der „SanftenŖ im Leihkontor, schildert die Anbahnung der Ehe und erzählt dann die sich zuspitzenden Konflikte mit dem Höhepunkt in der Revolverszene. Daraufhin schaltet er einen Rückblick auf die unselige Geschichte im Regiment ein und präzisiert, dass er danach zunächst drei Jahre lang praktisch auf der Straße gelebt und

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schließlich, eineinhalb Jahre vor dem Zeitpunkt des Erzählens, durch eine kleine Erbschaft in die Lage gekommen sei, die Leihstube zu eröffnen. Die Beziehung zur „SanftenŖ ist chronologisch nicht klar fixiert. Wir erfahren jedoch, dass ihr anfangs noch drei Monate zur Vollendung des 16. Lebensjahrs fehlen (7). Nach der „KatastropheŖ der Revolverszene schaltet der Erzähler auf eine präzise zeitliche Markierung des Ablaufs um. Die Intervalle der einzelnen Zeitangaben werden immer kleiner, was den Eindruck einer fatalen Beschleunigung erzeugt: „Sechs WochenŖ liegt die „SanfteŖ nach ihrem Zusammenbruch im Fieber (22); es folgt „der ganze WinterŖ (23, 25). Danach schreitet die Erzählung innerhalb eines Absatzes vom Anbrechen des Frühlings über die Angabe „Mitte AprilŖ bis hin zur präzisen Notation „am Vorabend, etwa um fünf Uhr, nach dem MittagessenŖ (26) voran. Zu diesem Zeitpunkt nämlich hört der Pfandleiher, während er Abrechnungen macht, wie seine Frau, vertieft in die Handarbeit, mit schwacher, noch von der Krankheit gezeichneten Stimme eine Romanze vor sich hin singt. Ab dieser Szene kehrt der Erzähler den Zeitvektor um: Zwar wird die ganze Geschichte von ihrem Schlusspunkt aus erzählt29, doch die Geschehnisse seit der Gesangsszene „am vergangenen DienstagŖ (29) präsentiert der Erzähler als gegenwärtig. Er schaut nun auf die vergangenen fünf Tage und markiert wie einen Countdown die Zeit bis zum Selbstmord seiner Frau. Am Morgen des Tages, an dem sich die „SanfteŖ umbringt, geht der Pfandleiher kurz aus dem Haus, um die Auslandspässe für die Fahrt nach Boulogne abzuholen. Von Lukerřja erfährt er, dass diese die „SanfteŖ zwanzig Minuten vor seiner Rückkehr betend vor ihrem Heiligenbildchen vorgefunden habe. Zehn Minuten später sei Lukerřja erneut in das Zimmer getreten und habe gesehen, wie sich die „SanfteŖ aus dem Fenster stürzte. Der Pfandleiher kommt nur wenige Minuten nach dem Sturz zurück, und er sieht dies als ein Argument für seine These eines „einfachen, barbarischen, stumpfsinnigen ZufallsŖ (34).30 Doch wird aus seiner Beschreibung der letzten Gespräche mit der „SanftenŖ deutlich, dass er es war, der sie mit seinem Anspruch auf (auch körperliche) Liebe zu dieser Entscheidung brachte (31 f.). Es gibt eine ganze Reihe von Hinweisen, die darauf deuten, dass sie sich ihren Schritt in den Abgrund wohl überlegt hatte. Er führt zwar ins Feld, dass sie keine Abschiedsnotiz hinterlassen habe. Doch erzählt er kurz davor, wie sie ihn am Morgen vor seinem Weggang plötzlich durch ihre Ruhe frappiert und angekündigt habe, ihm künftig eine „treue Frau zu seinŖ und ihn zu „achtenŖ (32). Von Lukerřja erfährt er wiederum, dass die „SanfteŖ das Hausmädchen eigens bat, stehenzubleiben, zu ihr ging und sie küsste. Alles dies sind Signale für eine sorgsam überlegte und gereifte Entscheidung. Das wiederholte Lamentieren über die „fünf MinutenŖ Verspätung (32) und den blindwütigen „ZufallŖ wird dadurch als erneuter Versuch der Selbstexkulpation entlarvt. Als wäre nicht das Ende seiner Frau das Ergebnis seines eigenen sorgfältig entwickelten und systematisch umgesetzten „PlansŖ gewesen. Der Pfandleiher möchte den ungerechten Ausschluss aus dem Reglement als Urkatastrophe seines Lebens darstellen und sich damit von aller Schuld rein-

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waschen. Doch zugleich erklärt er, dass er im Regiment wegen seines „schwierigenŖ und „vielleicht lächerlichen CharaktersŖ unbeliebt gewesen sei, ja dass ihn überhaupt nie in seinem Leben irgendjemand gemocht habe (23). Trotzdem sieht er in dem Vorfall, der zu seinem Ausschluss geführt hat, einen reinen „ZufallŖ (23). Und er spricht von der „zufälligen Hilfe der schrecklichen Katastrophe mit dem RevolverŖ, da sie ihm erlaubt habe, seiner Frau vor Augen zu führen, dass er kein Feigling sei (24). Spätestens durch die grenzenlose Ichbezogenheit und Vermessenheit, mit der der Pfandleiher auch noch diese fatale emotionale Aggression gegenüber seiner Frau als legitime Selbstverteidigung darstellt, wird klar, dass wir seinen Worten nicht trauen dürfen. Nichts an der „Katastrophe mit dem RevolverŖ ist zufällig; vielmehr ist alles eine Folge seines Kalküls und der von ihm arrangierten Vorkehrungen.31 Den Revolver hatte er zu Hause vor den Augen der „SanftenŖ provozierend aus der Tasche gezogen und auf den Tisch gelegt. Zu Beginn seiner Ehe hatte er sie sogar einmal damit schießen lassen (20). Alle Handlungen und Geschehnisse der Erzählung gehen ursächlich auf von ihm unternommene Vorkehrungen zurück, und trotzdem laufen sie seinem „PlanŖ grundsätzlich zuwider. In der Weltsicht des Pfandleihers und in der erzählerischen Konstruktion dieses Textes bedingen sich Planmäßigkeit und Zufälligkeit: Dem Zufall spricht der Pfandleiher nur deshalb einen so entscheidenden Wert zu, weil er eine Abweichung vom „PlanŖ darstellt, weil er „barbarischŖ Ŕ anders gesagt: irrational, unplanmäßig, „unmenschlichŖ Ŕ sei. Die ganze Persönlichkeit des Pfandleihers basiert auf Kalkül und Planung, seine Weltsicht ist eindimensional und „linearŖ.32 Auch sein Beruf beruht darauf, Ausfallrisiken durch Kalkulation aufzufangen. Dies funktioniert in der Sphäre des Ökonomischen, doch nicht darüber hinaus. Die Erzählung „KrotkajaŖ demonstriert, dass eigentlich der „PlanŖ das „BarbarischeŖ ist. Die „WahrheitŖ liegt woanders Ŕ, und zwar in der einfältigen, offenen, unschuldigen und authentischen Haltung der „SanftenŖ. In einer ironischen Umkehrung aller Planung ist es am Schluss der Pfandleiher selbst, der zu spät kommt, um sein „PfandŖ auszulösen.33 An der Schwelle zur Wahrheit Die hier vorgeschlagene Deutung der Erzählung hat ein Problem: Sie deckt sich nicht mit der Ankündigung des „AutorsŖ im Vorwort. Dostoevskij, der Publizist, hatte doch angekündigt, dass der Pfandleiher am Ende zur „WahrheitŖ komme, „zumindest für sich selbstŖ (5). Es ist aber sehr schwer, in diesen verzweifelten Anklagen gegen „GesetzeŖ, „LebenŖ, „StaatŖ und „GlaubenŖ, in denen die Erzählung ausklingt, eine „WahrheitŖ auszumachen, die mit jener gesellschafts- und staatspolitischen Mission zu vereinbaren wäre, welche Dostoevskij mit seinem Projekt des „TagebuchsŖ zweifellos verfolgte. Nein, der Pfandleiher wird hier nicht in der Wahrheit, sondern nur an der Schwelle zur Wahrheit gezeigt. Gegen Ende immerhin erkennt er sein Verfehlen, klagt den eigenen „teuflischen StolzŖ an und verwendet mehrfach die Formel von dem „SchleierŖ, der zunächst vor

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seinen Augen lag und dann „plötzlich abfielŖ (26, 27, 29). Der Ausdruck geht auf die Apostelgeschichte und die Bekehrung des Saulus zurück34, ruft also die Situation einer Konversion zur „WahrheitŖ auf. Doch der Erzähler zeigt sich uns vorerst nur als derjenige, der sich plötzlich von früherer Täuschung befreit, ohne eine neue Gewissheit gewonnen zu haben. Noch kurz vor Ende seines Monologs schiebt er die ganze Verantwortung dem „ZufallŖ zu; dann aber bricht es in einem Moment aus ihm heraus: „Zu Tode gequält habe ich sie Ŕ das ist es!Ŗ (35). Er ist so allein, wie er trotz seiner isolierten Lebensweise noch nie zuvor gewesen ist. Die Bildlichkeit seiner Schlussworte wird dominiert von dem apokalyptischen Bild der „toten SonneŖ aus der Offenbarung des Johannes.35 Denn er hat auch den Glauben an sich selbst verloren. Das wäre die Voraussetzung zu einer Neuausrichtung seiner Haltung zur Welt. Diese wird aber allenfalls nur angedeutet in dem Wort aus dem Johannesevangelium, das der Erzähler zitiert, an dessen Quelle er sich aber nicht erinnern kann: „‚Menschen, liebet einanderŘ Ŕ wer hat das gesagt, wessen Gebot ist das?Ŗ (35). Hier mischt sich eine fremde Stimme in den Diskurs des Pfandleihers, eine Stimme, die zwar er selbst nicht, die aber der Leser identifizieren kann.36 Diese unwillkürliche Öffnung seines zuvor geschlossenen Bewusstseins ist das Entscheidende: Die Wahrheit transzendiert die Binnenperspektive des Erzählerbewusstseins. Die Worte des Herausgebers des „Tagebuchs eines SchriftstellersŖ haben wir ihrerseits als perspektiviert und implizit dialogisch gebrochen zu lesen. Man verkürzt das ästhetische sowie ethische Potential des Textes, wenn man sie einem übergeordneten Autorwillen zuschreibt, wie es Bachtin tut, indem er postuliert, dass die „WahrheitŖ hier nur die innere Wahrheit des Pfandleihers sein könne37, weil der „AutorŖ dies nun einmal in seinem Vorwort so formuliert hat. Wenn es eine „WahrheitŖ gibt, müsste diese dann nicht eher bei der „SanftenŖ liegen? Machen wir sie nicht erneut zum Opfer, wenn wir, angeleitet durch den „AutorŖ des „Tagebuchs eines SchriftstellersŖ, unsere ganze Aufmerksamkeit auf das moralische Drama des Pfandleihers richten? Was wäre das letzte Wort aus der Sicht der „SanftenŖ? Sie ist authentisch und kindlich-offenherzig, wie es der Pfandleiher nie sein wird, und hält noch im Tod ein Heiligenbildchen in der Hand. Allerdings begeht sie am Ende Selbstmord. Das ist aus christlicher Sicht eine schwere Sünde.38 Doch es scheint so, als habe der Autor seine Heldin in Schutz nehmen wollen: Nach der Revolverszene lag diese sechs Wochen im Fieber und erholte sich danach nur langsam. Das Wort „gorjaĉkaŖ (22) für Fieber ist recht unspezifisch: Es konnte im Sprachgebrauch des späten 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe schwerwiegender Infektionen bezeichnen.39 Vieles spricht dafür, dass das Fieber das Nervensystem erfasste; denn die „SanfteŖ verliert im Verlauf der offensichtlich lebensbedrohlichen Erkrankung das Bewusstsein (23). Auch noch im Frühling ist sie „dünn, mager, mit blassem Gesicht und bleichen LippenŖ (26), doch der herbeigeholte Arzt stellt nur eine allgemeine Schwäche „oder so etwasŖ fest und rät zu einem Klimawechsel (26). Wieder können wir lediglich Symptome lesen, und wieder lesen wir sie mit den

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Augen des Pfandleihers. Wir sind geneigt, die nachdenkliche Haltung, die ihn frappiert, der inneren Entfremdung vom Ehemann zuzuschreiben. Aber es bleiben die sichtbaren Zeichen ihrer Krankheit. Noch fünf Tage vor ihrem Tod erleidet sie einen „schrecklichen Anfall von HysterieŖ, so dass er sie ins Bett tragen muss (28). Dasselbe wiederholt sich am Vorabend ihres Todes (32). All dies sind deutliche Hinweise auf eine krankhafte seelische Zerrüttung. Wer in einem solchem Zustand Selbstmord begeht, ist für seine Tat nicht verantwortlich. Dies sind jedoch nur Andeutungen. Wir wissen nicht, was im Kopf der „SanftenŖ vor sich geht. Und es dürfte auch nicht im Interesse des Autors gewesen sein, ihre Entscheidung zu relativieren. Denn das hätte dem „sanften und demütigen SelbstmordŖ, diesem Aspekt, der ihn so interessierte und der den Ausgangspunkt der ganzen Erzählung bildete, seine Schärfe genommen. Die Signale sind eher äußerlich zu deuten: Wer sich an dem Gegensatz zwischen einer schweren Sünde und dem Heiligenbild stört, der mag auf die „HysterieŖ verwiesen sein. Wer sich an diesem Gegensatz delektiert Ŕ wie ganz offensichtlich der Autor Dostoevskij Ŕ für den sind die Zeichen der Krankheit vor allem Effekte der Unterdrückung und moralischen Nötigung der „SanftenŖ durch ihren Ehemann. Ob es nun der Titel der Erzählung ist, die erzählerische Konstruktion oder die Ebene der dargestellten Geschehnisse: Alles spricht für die Entmündigung der „SanftenŖ. Dass diese dann am Ende nicht eintritt, ist das Wunder, das Dostoevskij mit seiner Erzählung realisiert. Er gibt der „SanftenŖ gerade dadurch eine Stimme, dass er ihre Stimme fast komplett ausblendet. Der verzweifelte Versuch des Erzählers, den Informationsfluss zu kontrollieren, in der Ehe wie im erzählerischen Diskurs, führt am Schluss zum kompletten Kontrollverlust in beiden Sphären. In diesem Zusammenbruch des Paradigmas der Planbarkeit und „LinearitätŖ, das hier so eng mit der patriarchal-männlichen Macht zusammengeführt wird, liegt die „WahrheitŖ der Erzählung „KrotkajaŖ.

Birgit Harreß

Lev Tolstoj: Smertř Ivana Ilřiĉa (Der Tod des Ivan Ilřiĉ) Tolstoj konzipiert in seinem Werk einen natürlichen Kosmos, der sich im Kreislauf des Stirb und Werde offenbart. Sein Schöpfer ist Gott. Wirkliches MenschSein heißt in dieser Welt, sich in den Kreislauf einzufügen und dem Leben mit der Kraft zu dienen, in der sich Gottes Macht am nachhaltigsten manifestiert: in der Liebe. Der Mensch kann lieben, weil sich ihm Gott bedingungslos zuwendet. Er kann Gott lieben, sich selbst lieben, seinen Nächsten lieben. Tolstojs poetische Anthropologie Von seinem frühen Schaffen an zeigt Tolstoj Menschen, die sich nicht von ihrem Ego leiten lassen, sondern von einer grenzenlosen Hingabe beseelt sind. Sie scheinen immer reicher zu werden, je mehr sie geben. In „DetstvoŖ (Kindheit, 1852) wird die Kinderfrau Natalřja Savińna als eine Person vorgestellt, deren ganzes Sein von „Liebe und ZärtlichkeitŖ getragen ist.1 Und in „Vojna i mirŖ (Krieg und Frieden, 1868/69) erscheint der Bauer und einfache Soldat Platon Karataev dem seines Lebens überdrüssigen Grafen Pierre Bezuchov als etwas „Angenehmes, Beruhigendes und AbgerundetesŖ.2 Mit seinem freundlichen Lächeln und seinem liebevollen Wesen bringt er Licht in die Gefangenenbaracke Ŕ und Leben: „Jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen war die Kundgebung einer ihm unbekannten wirkenden Kraft, die sein Leben war. Doch sein Leben, wie er es selber sah, hatte als Einzelleben keinen Sinn. Es hatte nur Sinn als Teil des Ganzen, das er immer erspürte.Ŗ3 In „Smertř Ivana IlřiĉaŖ ist der Diener Gerasim ein solcher Mensch. Tief davon überzeugt, dass alles Gottes Wille sei, hilft er seinem kranken Herrn in der Not. „Gesundheit, Kraft und FrischeŖ prägen sein natürliches Dasein und tun Ivan Ilřiĉ wohl (97). Figuren wie diese lassen sich in jedem Werk Tolstojs finden. Sie sind die Repräsentanten eines Volkes, in dem der Autor eine hochentwickelte sittliche Kraft sieht. Anders verhält es sich mit den Vertretern des Adels, die das Gros der gezeigten Weltbewohner darstellen. Sie integrieren sich nicht in die natürlich-göttliche Ordnung, sondern setzen ihr Ego absolut. Vom Ursprung des Seins losgerissen, definiert es sich über Besitz und Leistung. Sein Gegenüber ist nicht Gott, sondern der andere Mensch. Doch der wird benutzt, nicht aber geliebt. Nichts erscheint dem Egozentriker bedrohlicher als der Tod, weil dieser den irdischen Gütern den Garaus bereitet. Der Tod bedeutet das Ende der fortwährenden Lüge, mit deren Hilfe sich der Egozentriker zeit seines Lebens auf der Siegerseite wähnt. Dass der Mensch in der Lüge existentiell abstirbt, zu einer „toten SeeleŖ im Sinne Gogolřs wird4, ist die Konsequenz einer solchen Weltsicht. Denn nichts kann für die Existenz todbringender sein als eine vorgegaukelte Identität.

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Mit dem Druck des comme il faut setzt sich der Adel selber Grenzen, die ihn seiner ursprünglichen Identität berauben und zu einer Seinsweise zwingen, die Heidegger unter dem Begriff des „ManŖ zusammengefasst hat: „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als „die ÖffentlichkeitŖ kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den „DingenŖ, nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens „auf die SachenŖ.5 Ständig präsent, ist das Man „ein ExistentialŖ, das den eigentlichen Weltbezug verdeckt.6 Der Mensch wird in seinem Selbst-Sein erschüttert, wenn er zwischen „Man-selbstŖ und „eigentlichem, das heißt eigens ergriffenem SelbstŖ hin- und herdriftet, und das umso mehr, als er das Man-selbst schließlich für wahr nimmt. Carl Gustav Jung nennt dieses Phänomen „PersonaŖ und meint, es handle sich dabei nur um eine „Maske der Kollektivpsyche, eine Maske, die Individualität vortäuscht, die andere und einen selber glauben macht, man sei individuell, während es doch nur eine gespielte Rolle ist, in der die Kollektivpsyche sprichtŖ.7 Die Exposition Tolstojs Held, Ivan Ilřiĉ Golovin, ist ein Mensch, der im Sinne von C. G. Jung ganz in der Persona aufgeht. Dass wir sein Leben als Verfehlung der natürlichgöttlichen Weltordnung und seiner selbst verstehen müssen, macht uns der Satz deutlich, mit dem der Erzähler die Exposition der Voraussetzungen (Kapitel 2Ŕ 3) einleitet: „Der Lebensweg des Ivan Ilřiĉ war der allereinfachste, allergewöhnlichste und allerfurchtbarsteŖ (65). Mit enormer Zeitraffung präsentiert Tolstoj ein immerhin fünfundvierzig Jahre währendes Leben, das durch Anpassung an das comme il faut geprägt ist. Als Sohn eines „unnötigen Mitglieds verschiedener unnötiger BehördenŖ wird Ivan Ilřiĉ in die Rechtsschule geschickt, wo er schnell lernt, all das für seine Pflicht zu nehmen, „was von hochgestellten Persönlichkeiten als solche hingestellt wurdeŖ (66). Er gewöhnt sich deren Umgangsformen an und teilt deren Ansichten über das Leben, bleibt stets freundlich und schicklich und sucht sich als Freunde nur solche Menschen aus, die ihm nützen können. Perfekt angepasst durchmisst er die Rangordnung des Russischen Kaiserreichs und blickt auf die Karriereleiter mit der Hingabe, mit der einst Jakob von der Himmelsleiter träumte.8 Mit der Karriereleiter steht und fällt für Ivan Ilřiĉ alles. Tatsächlich kommt er aber ins Straucheln und erlebt 1880 als das „schwerste JahrŖ in seinem Leben (74). Als er übergangen und nicht zum Gerichtspräsidenten befördert wird, als die Vorgesetzten seinen Ärger mit Kühle quittieren und selbst sein Vater nicht bereit ist, ihm zu helfen, gerät er in Verzweiflung. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass Ivan Ilřiĉ weder besser noch schlechter ist als die übrigen Vertreter der russischen Intelligencija, die uns zu Beginn des Erzählvorgangs in ultimas res vorgestellt werden. Jeder dieser Honoratioren hat den vorgeschriebenen Ausbildungsweg zurückgelegt, mehr oder weni-

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ger leicht Karriere gemacht und bekleidet nun ein Amt, über dessen wirkliche Bedeutung er sich keinerlei Gedanken macht Ŕ solange das Jahresgehalt stimmt. Auch Ivan Ilřiĉ ist bei seiner letzten Position nur darauf fixiert, dass er fünftausend Rubel verdient: „Er hielt sich an kein Ministerium, an keine Richtung, an keine bestimmte Tätigkeit mehr. Er brauchte nur einen Posten, einen Posten mit fünftausend Rubeln Gehalt, sei dies in einer Administration, in einer Bank, in einer Eisenbahnverwaltung, in den Stiftungen der Kaiserin Marija oder selbst im Zollwesen, aber es musste damit unbedingt ein Gehalt von fünftausend Rubeln und die Versetzung aus dem Ministerium, wo man es nicht verstanden hatte, ihn zu würdigen, verbunden seinŖ (75). Wie der Exposition zu entnehmen ist, tragen Ivan Ilřiĉs Bemühungen Früchte: Er erhält einen höheren Posten im Justizministerium sowie das Gehalt in gewünschter Höhe und gelangt auf der Karriereleiter in eine Stellung, die um zwei Ränge besser ist als die seiner Kollegen. Sein Befinden, nun „restlos glücklichŖ zu sein (76), hält allerdings nicht lange vor. Kaum hat die Familie die neue Wohnung bezogen, treten schon wieder Mängel auf. Mit dem Hinweis des Erzählers, dass eine „KleinigkeitŖ fehlt, „so an die fünfhundert RubelŖ (78), wird signalisiert, dass Ivan Ilřic mit dem Stillen seiner Habgier nie ans Ziel gekommen wäre. Es ist anzunehmen, dass sich die Spirale des Begehrens bis zu seiner Pensionierung unentwegt weitergedreht hätte, wäre nicht das unvermutete Ereignis eingetreten. Als indirektes Bonmot erscheint der Erzählerkommentar, dass sich der Held zu Beginn seiner Karriere ein Medaillon mit der Aufschrift respice finem zulegte (67). Ähnlich wie im Berufsleben erfolgt die Maskierung im Privaten. Als sich Ivan Ilřiĉ beruflich zu etablieren beginnt, lernt er Praskovřja Fedorovna Michelř kennen, „das anziehendste, klügste und glänzendste junge Mädchen jenes Kreises, in dem er sich bewegteŖ (70). Geheiratet wird nicht aus Liebe, sondern aus der Räson des Man-selbst: Einerseits kann man sich mit einer hübschen Frau schmücken, um die auch andere geworben haben, andererseits tut man das, „was die höchstgestellten Persönlichkeiten für richtig hieltenŖ (70). Es sollte sich jedoch zeigen, dass die Seelenmaske im Privaten äußerst fragil ist, dann nämlich, wenn sie auf Leben und Tod geprüft wird. Sie bekommt ihre ersten Sprünge in der Schwangerschaft Praskovřja Fedorovnas, die Ivan Ilřiĉ als dem Träger der Seelenmaske nur Unannehmlichkeiten bereitet: Es erscheint „etwas Neues, Unerwartetes, Unangenehmes, Schweres und Unziemliches, das man nicht erwartet hatte und das man nicht abzuschütteln vermochteŖ (71). Was für den Helden völlig unverständlich ist und über ihn wie eine Heimsuchung hereinbricht, ist die Ausnahmesituation, in der sich seine Frau befindet. Als zwei der Kinder sterben, wird das Familienleben für ihn „noch unangenehmerŖ (73), ein Euphemismus, gemessen an der Lage, in der die Mutter der toten Kinder ist. Der Tod eines weiteren Kindes bleibt dann schon unkommentiert. Ivan Ilřiĉ, der den Tod in der eigenen Familie als Unannehmlichkeit betrachtet, flüchtet vor dem häuslichen Unfrieden in die Arbeitswelt, in der er die entsprechende Würdigung erfährt, und ins Whistspiel, das für ihn zum angenehmen Zeitvertreib wird. Wenn er gezwungen

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ist, zu Hause zu sein, sorgt er für die Anwesenheit von Gästen, vor denen auch seine Frau die Seelenmaske anlegt, um den Anstand zu wahren. Kennzeichnend für das Eheleben der Golovins ist die Langeweile. In dieser Befindlichkeit tut sich die namenlose Leere auf, die der selbstverlorenen Existenz des Paares zugrunde liegt.9 Walter Rehm sieht den metaphysischen Ursprung der Langeweile darin, „dass sie dem Tod, dem Tod der Seele benachbart ist und im letzten nur dort entsteht, wo Gott scheinbar aus dem Lebensganzen gewichen ist und den Menschen verlassen hat, nachdem der Mensch Gott verlassen hatŖ.10 Die natürlichen Einbrüche in die Seelenmaskerade, das heißt die Schwangerschaften seiner Frau und den Tod dreier Kinder, hat Ivan Ilřiĉ, um den Anstand des Manselbst bemüht, nicht in sein Leben integriert, sondern entschieden abgewiesen. Zusammenfassend lässt sich für die Exposition sagen, dass Tolstoj in die Welt Ivan Ilřiĉs zwei Varianten des Todesbegriffs eingeführt hat: den physischen und den existentiellen. Während der physische Tod den Leib betrifft, betrifft der existentielle Tod das Selbst. Das fünfundvierzig Jahre währende Leben des Helden ist von einem anwachsenden Selbstverlust gekennzeichnet, der billigend in Kauf genommen wird. Auf diese Weise ist Ivan Ilřiĉ schon zu Lebzeiten abgestorben, eine tote Seele. Da der Held entindividualisiert ist und eine Stellvertreterfunktion einnimmt, genügt es dem Erzähler, die Vita auf Eckpunkte zu reduzieren und im Bericht knapp zusammenzufassen. Das weitgehend personale Erzählen verengt dabei die Perspektive auf die eingeschränkte Sicht des Helden. Nur indirekt können wir aus dem Bericht erschließen, was beispielsweise in der Ehefrau vor sich geht. An das gesellschaftliche Leben angepasst wie ihr Mann, hat auch Praskovřja Fedorovna ihr Selbst eingebüßt. Gezeichnet durch die Ausnahmesituationen in jungen Jahren, versteift sie sich nun darauf, möglichst viel aus der Situation herauszuholen, in die sie geraten ist. Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung sind ihr zu wichtig, als dass sie zu sich käme und über sich nachdächte. Die Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten können zu keiner Kollision führen, weil beide zu stark mit ihrer Seelenmaske verwachsen sind. Die eigentliche Kollision, die zur Handlung führt, muss von einem Phänomen ausgehen, dem die Seelenmaske nicht gewachsen ist: dem physischen Tod. Die Erschütterung der Seelenmaske durch das Übel Existentiell abgestorben hätte Ivan Ilřiĉ sein „allerfurchtbarstesŖ Dasein noch lange fristen können, wenn ihn nicht der Ausbruch einer Krankheit daran gehindert hätte. Was mit einem seltsamen Geschmack im Mund beginnt und sich im Gefühl einer fortwährenden Schwere in der Seite manifestiert, entwickelt sich zu einer Erscheinung, die bei dem Helden eine schlechte Stimmung auslöst. War es bisher seine Frau, die in ihrem physischen Ausnahmezustand den „AnstandŖ verletzte, ist es nun er selbst, dessen Unpässlichkeit die „Annehmlichkeit des leichten und anständigen LebensŖ stört (81). Dem existentiellen Tod ebenso verfallen, beginnt Praskovřja Fedorovna ihren Mann zu „hassenŖ, was in dem heimlichen Wunsch gipfelt, er möge sterben (82). Nicht Mitgefühl, sondern der Gedanke an

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das ausbleibende Gehalt und den damit verbundenen Verlust ihres gewohnten Lebensstandards verbietet ihr, dies zu wünschen. Ganz in ihrer Egozetrik gefangen, geraten die Golovins fortwährend in Streit, bis Praskovřja Fedorovna beschließt, das Lügen den Fachleuten zu überlassen: „Nach einem Streit [...] sagte sie ihm, dass er sich behandeln lassen müsse, wenn er krank sei, und verlangte, dass er einen berühmten Arzt aufsucheŖ (82). Jetzt setzt das ein, was Philippe Ariès den „Beginn der MedikalisierungŖ genannt hat.11 War der Arzt bisher ein „Spender von Pflege und freundlichen WortenŖ, verwandelt er sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einen Mann der Wissenschaft, der wie ein deus ex machina erscheint, um das Unmögliche möglich zu machen: „Der Mediziner scheint damals eine Art letzte, den Reichen vorbehaltene Zuflucht gewesen zu sein.Ŗ12 Für Ivan Ilřiĉ beginnt ein Leidensweg. Er konsultiert mehrere Ärzte, die widersprüchliche Diagnosen Ŕ vom Blinddarm bis zur Wanderniere Ŕ stellen, ihm aber letztlich nicht helfen können. Die „blöde WichtigtuereiŖ, die sie dabei an den Tag legen, erinnert den Kranken an sein eigenes berufliches Gebaren: „Alles war genauso wie bei Gericht. Der berühmte Arzt setzte ihm gegenüber dieselbe Miene auf, die er im Gericht dem Angeklagten zu zeigen pflegteŖ (82). Obwohl ihm diese Parallele auffällt, denkt er nicht daran, dass diese Art Verhalten durch die Seelenmaske verursacht ist. Die Ärzte spielen ebenso eine Rolle, wie er es getan hat Ŕ und immer noch tun würde, wenn ihn nicht die Krankheit daran hinderte. Was Tolstoj den Medizinern anlastet, ist nicht, dass sie außerstande sind, dem Kranken zu helfen, sondern dass sie ihm vorgaukeln, es zu können. Dieses makabre Possenspiel kann aber bloß funktionieren, solange der Kranke mitmacht und die „SpielerŖ für ihren fragwürdigen Einsatz bezahlt. Nicht nur Ivan Ilřiĉ und seine Frau sind existentiell tot, sondern auch jeder, der mit der Seelenmaske verschmolzen ist, also auch der Arzt. Dem Helden erscheint es leichter, sich dem Possenspiel auszusetzen, als seinen Tod überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ariès beschreibt dieses paradoxe Verhalten mit den folgenden Worten: Ivan Ilřiĉ „hält sich den Tod vom Leibe, indem er ihn mit der Krankheit maskiertŖ.13 Anstatt sich das respice finem auf dem Medaillon in Erinnerung zu rufen, ist der Held vollauf damit beschäftigt, die Vorschriften hinsichtlich der Hygiene, der Einnahme von Medikamenten und der Beobachtung aller organischen Funktionen zu beachten. Diese Konzentration auf sein Ego schadet ihm allerdings mehr als das Gewahrwerden seines Zustands. Schließlich zwingt ihn der sich verstärkende Schmerz, begleitet von dem „ekelhaften MundgeruchŖ und dem Schwinden seiner Kräfte, zum Abrücken von der Lüge: „Er durfte sich nicht mehr selbst betrügen; etwas Furchtbares, Neues und so Bedeutungsvolles, wie es Ivan Ilřiĉ noch nie in seinem Leben widerfahren war, ging in ihm vorŖ (86). Da Praskovřja Fedorovna fest in das Spiel integriert ist, die Ärzte in ihrer Rolle und den Ehemann in seiner Rolle bestärkt, hat der Held keinen Menschen, dem er sich anvertrauen könnte. Ariès sieht in der Maskierung eine Gefangenschaft: „Er ist der Gefangene der Rolle, die er sich hat aufzwingen lassen und die er sich selbst aufgezwungen hat. Die Maske ist ihm durch Gewohnheit festgewachsen,

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er kann sie nicht mehr herunterreißen. Also ist er zur Lüge verdammt.Ŗ14 Weder die Wut auf seine Angehörigen noch die Qualen des physischen Schmerzes können in Ivan Ilřiĉ die Gewissheit hervorlocken, dass er unmittelbar mit dem Tod konfrontiert ist. Erst ein Außenstehender, der zu Besuch kommende Schwager, enthüllt den maskierten Tod. Zwar hält sich dieser zurück, als er den Hausherrn sieht, verrät mit seinem Blick jedoch „allesŖ (88). Als der Besucher aber mit seiner Schwester allein ist, lässt er von seinem Takt ab und bezeichnet Ivan Ilřiĉ als „toten MannŖ (89). Der Held, der das Gespräch belauscht hat, flüchtet sich zu einem der Ärzte und ergeht sich darauf zu Hause in inneren Monologen, um den Krankheitsverlauf nachzuvollziehen. Doch das Wiedereinsetzen des Schmerzes veranlasst ihn zum ersten Mal, eine niederschmetternde Bilanz zu ziehen: „Wenn ich nicht mehr bin, was wird denn dann sein? Nichts wird sein. Wo werde ich denn sein, wenn ich einmal nicht mehr bin? Ist das am Ende der Tod? Nein, ich will nichtŖ (91). Durch die Geräusche fröhlichen Beisammenseins, die Ivan Ilřiĉ von seinem Schlafzimmer aus vernimmt, fühlt er sich provoziert. Er wird sich bewusst, dass jeder sterben und daher den Tod des anderen ernstnehmen muss: „Ihnen ist alles egal, und doch werden auch sie sterben. Die Dummköpfe. Mich trifft es früher, sie später, aber es wird auch sie treffen. Und sie freuen sich. Diese Bestien!Ŗ (91). Der Held verschwendet keinen Gedanken daran, dass er nicht besser ist als die anderen, weil er vom Tod der eigenen Kinder kaum Notiz nahm und sich damals nur über die Störung des Hausfriedens mokierte. Seine Frau ließ er in ihrem Leid allein. Das ihm jetzt selbst drohende Ende erfüllt ihn mit „VerzweiflungŖ (92). Was Ivan Ilřiĉ nicht sieht, ist, dass er sich bereits früher, als die Seelenmaske des Karrieristen so wunderbar zu passen schien, im Zustand der Verzweiflung befunden hatte. Sören Kierkegaard nennt ein solches weltliches Dasein die „Verzweiflung der EndlichkeitŖ, die so normal sei, dass man sie in der Öffentlichkeit gar nicht wahrnähme.15 Gefangen in der niedrigsten Form, „verzweifelt kein Selbst sein zu wollenŖ16, zwingt der Schicksalsschlag der Krankheit Ivan Ilřiĉ dazu, ein Selbst zu sein. Vorläufig lässt ihn aber die Aussicht erstarren, dem Tod geweiht zu sein: „Er [...] legte sich hin und blieb wieder allein mit ihm. Auge in Auge mit ihm, und er konnte nichts mit ihm machen, nur auf ihn blicken und erstarrenŖ (95). Die leidvolle Vereinsamung des Helden wird gerade durch das aufgebrochen, was ihn so peinlich berührt: den „schmutzigen TodŖ, der laut Ariès die „Maskierung des Todes durch die KrankheitŖ und dieses „Lügengewebe im Umkreis des SterbendenŖ begleitet.17 Denn gemeinsam mit dem Feingefühl, sprich: Lüge, ist die „Reinlichkeit zu einem bürgerlichen Wert gewordenŖ.18 War der ekelhafte Mundgeruch schon nicht comme il faut, so wird der Stuhlgang zur Qual: „Eine Qual wegen der Unsauberkeit, der Unziemlichkeit und des Geruchs und wegen des Bewusstseins, dass ein anderer Mensch daran beteiligt sein mussteŖ (95). Die Exkremente sind wohl am wenigsten dazu geeignet, die Seelenmaske zu wahren. Insofern wird Ivan Ilřiĉ verlegen, als ihm sein Diener, der junge Bauer Gerasim,

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bei der Notdurft hilft. Als sich der Kranke für diese Unannehmlichkeiten entschuldigt, winkt Gerasim ab. Sein Herr sei ein Kranker, darum wolle er sich auch um ihn bemühen. Obwohl der junge Mann vor Kraft und Gesundheit strotzt, fühlt sich Ivan Ilřiĉ nicht provoziert, sondern getröstet. Ganz selbstverständlich stützt Gerasim seinen gebrechlichen Herrn, umsorgt ihn und tut alles, um seine Schmerzen zu lindern. Ivan Ilřiĉ, dessen Schlafzimmer zu einer Isolierstation geworden ist, fühlt sich wohl in der Nähe dieses Menschen. Doch trotz solch beruhigender Nähe leidet er entsetzlich an der Lüge als der schrecklichsten Erscheinungsform der Seelenmaske: „Die größte Qual Ivan Ilřiĉs war die Lüge Ŕ jene von allen anerkannte Lüge, dass er nur krank, aber nicht dem Tode nahe sei und dass er nur ruhig zu sein und sich behandeln zu lassen brauchte, um wieder gesund zu werden. Er aber wusste es besser: Was man auch tun mochte Ŕ es konnte kein anderes Ereignis erreicht werden als noch größere Leiden und der Tod. Und diese Lüge quälte ihn; es quälte ihn, dass niemand das eingestehen wollte, was alle wussten und was auch er wusste, dass sie ihn über seinen schrecklichen Zustand täuschen wollten und ihn selber veranlassten, an der Lüge teilzunehmenŖ (98). „Er sahŖ, heißt es weiter, „dass der schreckliche, furchtbare Vorgang seines Sterbens von allen, die ihn umgaben, auf die Stufe einer zufälligen Unannehmlichkeit erniedrigt, teilweise sogar als unziemlich angesehen wurde (in der Art, wie man einen Menschen behandelt, der in einen Salon kommt und einen schlechten Geruch verbreitet), dass er durch denselben ‚AnstandŘ erniedrigt wurde, dem er sein ganzes Leben gedient hatte; er sah, dass niemand ihn bemitleiden würde, weil niemand seine Lage auch nur verstehen wollte; nur Gerasim erfasste diese Lage und bemitleidete ihnŖ (98). Doch so sehr ihm der treue Diener wohl tut, weil er nicht lügt und voller Mitleid ist, so sehr belügt Ivan Ilřiĉ sich selber. Die „SeelenangstŖ setzt ihm derart zu, dass er seiner Pein kein Ende bereiten möchte: „Nein, nein. Alles ist besser als der Tod!Ŗ (100). In seiner Seelenangst geht der Held sogar dazu über, sich Gott zuzuwenden, von dem er sich so lange abgewandt hatte. Doch es sind eher „Klagen über die Grausamkeit GottesŖ als ein Gebet (106). Auf seine zornigen Vorwürfe hin hört er eine innere Stimme, die ihn fragt, was er wolle. Als er den Wunsch zu leben äußert, fragt die Stimme nach: „Wie leben?Ŗ Als Ivan Ilřiĉ ergänzt, so leben zu wollen wie früher, „gut, angenehmŖ (107), hinterfragt die Stimme diese Kategorien. Und an dem Kranken zieht sein Leben vorüber, das ihm plötzlich nichtig und hässlich erscheint, je weiter es sich von der Kindheit entfernt hatte. Es ist nicht allein die zufällig ausgewählte Frau, die sein Leben überschattet, sondern auch die Arbeit, die ihm bisher so wichtig war. Auf einmal entdeckt der Schwerkranke, dass er schon lange gestorben ist: „Und dieser tote Dienst, diese Sorgen ums Geld, und so ein Jahr und zwei und zehn und zwanzig Jahre Ŕ immer ein und dasselbe. Und je weiter, desto tötenderŖ (107 f.). Aber die Seelenmaske hält: Wann immer ihn die Wahrheit erschüttert, flüchtet sich der Held in die Lüge. Dann ruft er sich die „KorrektheitŖ seines Lebens ins Gedächtnis und verjagt die bedrohlichen Gedanken (108). Sie kehren aber zurück.

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Synchron mit der Lüge erhebt sich Ivan Ilřiĉs Hass auf all diejenigen, die ihn nicht so bemitleiden, wie er sich das wünscht, allen voran seine Frau, der er Ŕ gemäß der Psychologie der Übertragung Ŕ die Hauptschuld an seinem missglückten Leben gibt: „Ihre Kleidung, ihre Gestalt, der Ausdruck ihres Gesichts, der Klang ihrer Stimme Ŕ alles sagte ihm nur das eine: ‚Dein Leben war und ist nicht das Richtige, alles ist Lüge, Betrug, der das Leben und den Tod vor dir verbirgt.Ř Und kaum hatte er das gedacht, erstand der Hass von neuem, und gleichzeitig mit dem Hass begannen die qualvollen körperlichen Leiden und mit den Leiden das Bewusstsein des unentrinnbaren nahen VerderbensŖ (113). Ivan Ilřiĉs Hass ist deshalb so groß, weil ihn diese Menschen spiegeln, weil er sich in ihnen sieht und erkennt, dass der Inhalt ihres Lebens nichts als ein „furchtbarer, riesengroßer BetrugŖ war (112). Dieser Betrug kulminiert in der Kommunion, die er mit den Sterbesakramenten erhält. Als Praskovřja Fedorovna ihn gerührt beglückwünschen möchte, wirft er mit letzter Kraft alle Anwesenden aus dem Zimmer. Sein Wutausbruch geht in einen drei Tage währenden Schrei über, der die Seelenmaske des Anstands von innen her aufsprengt. Das Abfallen der Seelenmaske als Katharsis Der gewaltige Hass, der die Seelenmaske von innen her aufsprengt, entspricht ihrer Essenz. So wie die Angst vor dem Nichts dazu zwingt, mittels der Seelenmaske die eigene Nichtigkeit zu überspielen, bricht das Nichts dann um so heftiger hervor, wenn eine Grenzsituation die Illusion von Absolutheit aufhebt. Das bisher so gepflegte Für-sich-Sein hindert die Mitwelt daran, ihre Anteilnahme zu zeigen. Allen positiven Regungen seiner Frau unterstellt Ivan Ilřiĉ nur Heuchelei. Folglich ist er nun einem Gefühl ohnmächtigen Für-sich-Seins ausgesetzt, das ihm wie ein „schwarzer SackŖ vorkommt, in den er immer tiefer eindringt (106). In den drei Tagen des unausgesetzten Schreiens „schlug er in jenem schwarzen Sack um sich, in den ihn eine unsichtbare, unüberwindliche Gewalt hineinzwängte. Er schlug um sich, wie ein zum Tode Verurteilter unter den Händen des Henkers um sich schlägt, wenn er weiß, dass es keine Rettung mehr für ihn gibt; und mit jedem Augenblick fühlte er, dass er trotz aller Anstrengungen des Kampfes dem, was ihn entsetzte, näher und näher kam. Er fühlte, dass seine Qual nicht nur darin bestand, dass er sich in dieses schwarze Loch hineinzwängte, sondern auch darin, dass es ihm nicht gelingen wollte, sich hineinzuzwängen. Diese Rechtfertigung seines Lebens behinderte ihn und ließ ihn nicht vorwärts kommen und quälte ihn am allermeistenŖ (114). Tolstojs Held, der sich bis zuletzt an der Seelenmaske festklammert, wird vom Tod selbst dazu ermutigt, von ihr abzulassen. Zwei Stunden vor seinem Ende zieht der Sterbende Bilanz: „Ja, es war alles nicht das Rechte, [...] aber das tut nichtsŖ (114). In dem Moment, als Ivan Ilřiĉ in ein „LochŖ zu fahren meint, an dessen Ende er ein Licht sieht, küsst ihm sein zehnjähriger Sohn die Hand. Ivan Ilřiĉ erkennt ihn und ebenso seine Frau. Beide weinen. Wo bisher Hass war, erwacht Liebe: Der Sterbende fühlt mit seinen Angehörigen tiefstes Mitleid. Ihm

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wird plötzlich klar, dass er aufhören muss, sie zu quälen. Mit der Öffnung für die Liebe fällt alles von ihm ab, was ihn bisher beschwert hat, „von beiden Seiten, von zehn Seiten, von allen SeitenŖ (115). Der Schmerz ist noch da, aber der Tod ist nicht mehr: „Wo war er? Was für ein Tod? Es war keine Furcht mehr vorhanden, weil auch der Tod nicht mehr vorhanden war. Anstatt des Todes sah er ein helles Licht. ‚Also so ist es!Ř sagte er plötzlich laut. ‚Welche Freude!Ř Ŗ (115). Nach einer zwei Stunden währenden Agonie hört Ivan Ilřiĉ über sich die Worte: „Es ist zu Ende.Ŗ Und er sagt sich: „Der Tod ist zu Ende. [...]. Er ist nicht mehr daŖ (115). Damit durchlebt er die paradoxe Situation, dass er im Leben den Tod, im Tod hingegen das Leben findet. „Wenn das Leben einen Sinn hat Ŕ dann muss auch das Leiden einen Sinn habenŖ, sagt der Psychiater Victor Frankl, und er fügt hinzu: „So sehr ist das Leiden eine schlechthin menschliche Angelegenheit, zum menschlichen Leben als solchem irgendwie schon dazugehörend, dass unter Umständen gerade das Nichtleiden Ŕ Krankheit sein kann.Ŗ19 Die Welt, in der Ivan Ilřiĉ lebt, ist eine in diesem Sinne kranke Welt. Und Tolstojs Held ist der Jedermann, der das existentiell tote Dasein repräsentiert. Weder seine Kollegen, die am Tag der Aufbahrung Whist spielen, noch seine eigene Frau, die sich um die Aufbesserung der Pension bemüht, oder sein ältester Freund, der kein wahres Mitgefühl aufzubringen versteht, sind besser oder schlechter als Ivan Ilřiĉ. Und sie sind auch nicht besser oder schlechter als die Leserschaft, an die sich der Autor wendet. Doch was will uns dieser eigentlich sagen: Dass wir alle sterblich sind und an den Tod öfter denken sollten im Sinne des respice finem? An Ivan Ilřiĉ, dem drei Kinder starben, war zu erkennen, dass dem Tod dann kein Platz im Leben eingeräumt wird, wenn es nicht der eigene ist. Zu viel an Sicherheit schenkt die Seelenmaske, als dass man sich das Nichts vergegenwärtigt, das jeden Menschen bedrohlich umfängt. Das Vertreiben der Angst durch Vergnügungen (Kartenspiel) sowie Sorgen (Pension, Rollenspiel als Trauernde) wird von Tolstoj aus gutem Grund an den Beginn des Erzählens gestellt. Wir erfahren als erstes, wie die Mitwelt mit dem Tod eines Menschen aus ihren Reihen umgeht. Sie bilden nicht die „Brüderschaft des TodesŖ, von der Friedrich Nietzsche in seiner „Fröhlichen WissenschaftŖ (1882) spricht20, sondern werden von dem Triumph beflügelt, dass es einen anderen getroffen hat: „Außer den durch den Tod hervorgerufenen Erwägungen seiner Kollegen über die Versetzungen und möglichen Veränderungen im Dienst löste die Tatsache des Todes eines sehr nahen Bekannten in allen, die davon hörten, wie immer ein Gefühl der Freude darüber aus, dass er gestorben war, und nicht ichŖ (58). Ein Wettstreit bricht aus um den Posten, den der Verstorbene bekleidet hat, sowie um den Platz auf der Erde, den man selbst immer noch einnimmt. Nur kurz lässt sich der älteste Freund Golovins, Petr Ivanoviĉ, von dem Gedanken anrühren, den Emmanuel Levinas als Verantwortung gegenüber dem anderen beschreibt.21 Als er den Toten betrachtet, dessen Gesicht „schöner und wesentlich bedeutenderŖ ist als bei dem Lebenden, vermeint Petr Ivanoviĉ einen „VorwurfŖ oder eine „MahnungŖ an die Lebenden wahrzunehmen. Doch sie ficht ihn nicht

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an: „Diese Mahnung schien Petr Ivanoviĉ nicht am Platz zu sein oder Ŕ wenigstens ihn Ŕ nichts anzugehenŖ (60). Näher als der Tod geht ihm da schon das Sterben seines alten Freundes, der, wie ihm die Witwe berichtet, drei Tage vor seinem Ende unausgesetzt geschrieen hat. Erinnerungen kommen in Petr Ivanoviĉ hoch und Mitleid: „Der Gedanke an die Leiden eines Menschen, den er so nahe gekannt hatte, erst als fröhlichen Knaben, dann als Schüler, darauf als erwachsenen Kollegen, entsetzte Petr Ivanoviĉ plötzlich, trotz des unangenehmen Bewusstseins seiner eigenen Heuchelei und der Heuchelei dieser Frau [...]. ‚Drei Tage furchtbarer Leiden und dann der Tod. Das kann gleich, jeden Augenblick, auch bei mir eintretenŘ, dachte er und empfand einen Augenblick lang FurchtŖ (63). Doch „sofortŖ kommt ihm der „gewohnte GedankeŖ zu Hilfe, dass dies alles Ivan Ilřiĉ widerfahren sei Ŕ mit ihm selbst aber nichts zu tun habe (63). Als Petr Ivanoviĉ dann zwei Menschen begegnet, die den Tod ernst nehmen, nämlich dem Sohn Golovins und dem Diener Gerasim, ist er nahezu immun gegen jede Erinnerung daran, dass auch er sterben wird. Er beschließt, den Tag beim Kartenspiel ausklingen zu lassen. Keinem der sogenannten Trauergäste geht der Tod eines Menschen aus ihrer Mitte so nah, dass sie freiwillig die Seelenmaske ablegen. Während der Diener Gerasim keine Maske trägt und den Tod als „Willen GottesŖ für sich akzeptiert hat (65), schämt sich der Sohn des Verstorbenen bereits seiner Trauer. Der verweinte Knabe runzelt „streng und schamhaftŖ die Stirn, als er sich von Petr Ivanoviĉ angeschaut fühlt (65).22 Die Tochter hingegen ist schon so weit entwickelt, das heißt in der Maskierung gefangen, dass sie im Tod ihres Vaters nur ein Störmanöver sehen kann. Sie ist verlobt, wollte eigentlich heiraten, kann das nun aber nicht, weil der Anstand es gebietet. Folglich begegnet sie den Kondolenten mit einer „beinahe zornigen MieneŖ (64). Praskovřja Fedorovna schließlich, die den Tod ihres Mannes persönlich miterlebt und seinen Ausruf „Also so ist es! [...] Welche Freude!Ŗ (115) gehört hat, hat nichts für sich gelernt, sondern die Seelenmaske der trauernden Witwe angelegt, die Mitleid und Zuwendung seitens der Trauergäste erheischt. Tränenfluss und Zittern der Stimme scheinen wohl kalkuliert. Von der Weltordnung her bleibt als Trost, dass alle diese Menschen dereinst ihre Seelenmaske ablegen werden und auf das Licht zugehen, das Ivan Ilřiĉ so freudig begrüßt. Für Tolstoj selbst stellt sich allerdings die Frage, ob ein Mensch tatsächlich so lange warten muss, bis er vom „allerfurchtbarstenŖ Leben ablässt. Tolstojs poetologisches Prinzip Auch wenn wir Tolstoj bereits als einen der großen Autoren des Todes bezeichnet haben, gilt es doch festzuhalten, dass das physische Ende eines Menschen etwas Inkommunikables ist. Anders sieht es mit dem existentiellen Tod aus, dem der Mensch hinter der Seelenmaske erliegt. Diese Verlorenheit, dieser Selbstverlust bei gleichzeitiger Egozentrik dominiert das gesamte Schaffen des Autors. Mit der großen Kehre, die Tolstoj nach „IspovedřŖ (Die Beichte, 1882) vollzieht, entschließt er sich zugleich, die Dialektik des Todes theologisch zu fundieren. In

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seinem letzten großen Werk, dem Roman „VoskresenieŖ (Auferstehung, 1899), geht es ausschließlich darum. Auferstehung findet für Tolstoj nicht im Jenseits statt. Er verneint diese Vorstellung explizit und mit ihr die Heiligen Sakramente. Damit distanziert er sich von einem Kernstück des christlichen Glaubens, den er in seiner orthodoxen Form nicht akzeptiert, eine Eigenwilligkeit, an der er auch um den Preis der Exkommunikation festhielt.23 Auferstehung findet für ihn allein in der Gegenwart statt. Getreu den Propheten des Alten Testaments ist der Mensch tot, der sich aus der Gemeinschaft mit Gott entfernt. Er erwacht aber zu neuem Leben, wenn er sich von Gott anrühren lässt.24 Auch in den Evangelien wird das Reich Gottes auf Erden durch die Botschaft Jesu begründet. Wenn ein Mensch sich dieser Botschaft öffnet, wird er bereits jetzt und hier der neuen Welt Gottes teilhaftig.25 Was Jesus den Menschen in der Bergpredigt zusagt, gilt unmittelbar, ist also keine Vertröstung auf die Endzeit. In seiner Schrift „V ĉem moja vera?Ŗ (Woran ich glaube, 1883) bringt Tolstoj diese Vorstellung mit seiner an Schopenhauer orientierten Überzeugung, dass der Tod die große „GelegenheitŖ sei, „nicht mehr ich zu seinŖ26, in eine Synthese: „Christus stellt dem persönlichen Leben nicht ein Leben nach dem Tod entgegen, sondern ein allgemeines Leben im Verein mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der ganzen Menschheit, das Leben des Menschensohnes. [...] Jede Sinngebung eines persönlichen Lebens, wenn sie nicht auf dem Verzicht auf das Ich um des Dienstes am Menschen, an der Menschheit, am Menschensohn willen beruht, ist eine Täuschung, die bei der ersten Berührung mit der Vernunft in Stücke geht.Ŗ27 In der drei Jahre später publizierten Novelle „Smertř Ivana IlřiĉaŖ wird die Ergebenheit in den Willen Gottes von den Weltbewohnern ganz an den Rand gedrängt. Haben Kirche und christlicher Glaube in Ivan Ilřiĉs Leben bisher keine nennenswerte Rolle gespielt, erwartet er sich von Beichte und Kommunion ein Wunder. Sein Verhalten ist typisch für ein an Äußerlichkeiten orientiertes Dasein, das völlig außer Acht lässt, dass die Hingabe an Gott die Voraussetzung für das Seelenheil ist. Wieder ist das Wollen die Triebfeder von Ivan Ilřiĉs Denken: „Als der Geistliche kam und ihm die Beichte abgenommen hatte, wurde er milder gestimmt, fühlte gleichsam eine Erleichterung von den Zweifelsqualen und infolgedessen auch von seinen Leiden, und ein Augenblick der Hoffnung überkam ihnŖ (112 f.). Die Eucharistie erscheint in diesem Kontext als ein sinnentleertes Ritual, als „BetrugŖ, der Leben und Tod gleichermaßen verbirgt (113). Geradezu verfremdet wird die Institution der Kirche bei der Seelenmesse für den Verstorbenen. Ivan Petroviĉ, der Freund Ivan Ilřiĉs und wie dieser ein Vertreter der gebildeten Mittelschicht, hegt „gewissen Zweifel, was er dort werde tun müssenŖ. Er denkt jedoch, „dass es bei solchen Gelegenheiten niemals schaden konnte, sich zu bekreuzigenŖ (59). Der Erzähler fasst die Seelenmesse dann in einem Satz zusammen, „Kerzen, Stöhnen, Weihrauch, Tränen, SchluchzenŖ (65), und macht so deutlich, dass die Kirche den Hinterbliebenen ihrerseits eine Seelenmaske anbietet, damit alle sich verhalten können, wie es sich gehört.

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Der existentielle Tod in der Seelenmaske ist so vorherrschend, dass der Tod zum Subjekt des Titels wird. Nicht das Sterben (umiranie) steht im Zentrum des Geschehens, obgleich der Prozess, der zum Tod hinführt, Ivan Ilřiĉ zwingt, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sterben ist immer noch Leben, das Kämpfen des Organismus gegen das drohende Nicht-Sein. Es ist verbunden mit dem Grauen vor dem, was jenseits der Schwelle kommt, mit der Sorge, alles verlieren zu müssen, was bisher im Leben Sicherheit versprach. Das drohende Ende zwingt den Menschen, Abstand von seinem bisherigen Leben zu nehmen und zugleich Bilanz zu ziehen. Die Unumkehrbarkeit des Weges legt das Wesen des Betroffenen frei. Wie der Mensch stirbt, so ist er im eigentlichen Leben. Tolstoj zeigt, dass der existentielle Tod des Ivan Ilřiĉ den gesamten Sterbeprozess überlagert. Deswegen wird sein Leben vom Erzähler als das „allerfurchtbarsteŖ bewertet (65). Und das Erzählen in ultimas res verstärkt den Eindruck, dass der existentielle Tod von den Repräsentanten der russischen Intelligencija Besitz ergriffen hat. Ohne Kommentar sieht sich hier die Leserschaft ermahnt, von der Seelenmaske abzulassen, die den Menschen am Leben wie am Sterben hindert. Der mit ihr einhergehende Hass friert den Einzelnen im Für-sich-Sein ein und treibt sein jämmerliches, ichbezogenes Dasein in die schlechte Unendlichkeit. Hier würde sich dieses am liebsten für immer einrichten. Tolstoj konzipierte dementsprechend einen Helden mit einem ausgeprägt statischen Charakter. Ivan Ilřiĉ Golovin ist von sich aus zu keiner Wandlung fähig, weil er das Wunder des Stirb und Werde nicht wahrnimmt. Weder die Schwangerschaften seiner Frau noch der Tod dreier Kinder gehen ihm nahe, zu sehr ist er auf seine Annehmlichkeit bedacht. Es bedarf schon der eigenen Krankheit, des Bangens um das eigene Leben, den bisherigen Lebensweg zu revidieren. Tolstoj hat seine Figuren allesamt entindividualisiert, um ihre repräsentative Funktion herauszustellen. Die erwachsenen Vertreter der Oberschicht, seien es Juristen oder Ärzte, sind derart mit ihrer Seelenmaske verwachsen, dass man lediglich insofern von Individuen sprechen kann, als sie die Welt vereinzelt wahrnehmen. Nur scheinbar gegenübergestellt wird ihnen der kleine Sohn Ivan Ilřiĉs, der um den Vater bangt und weint. Als Kind, das schon „seine Unschuld verloren hatŖ (65), ist er bereits dabei, ein Gesellschaftsmensch zu werden. Als die Trauergäste im Haus eintreffen, bemüht er sich, sein Leid zu verbergen, sprich: zu maskieren. Folgerichtig sieht Petr Ivanovic in ihm den „kleinen Ivan IlřiĉŖ, wie er seinen verstorbenen Freund von der Rechtsschule her kannte (65). Die Frauengestalten wiederum sind derart in der Rolle des Gefallen-Müssens gefangen, dass sie allen Lebensmut verlieren, sobald die Bestätigung ausbleibt. Praskovřja Fedorovna, das einst so anziehende und kluge junge Mädchen, ist nach mehreren Schwangerschaften und Todesfällen in der Gegenwart eines Mannes vereinsamt, der nur an sein Vergnügen dachte. Die einzige erbärmliche Bestätigung erfährt sie nach neunzehn Jahren Ehe in gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen sie der Stellung ihres Mannes entsprechend nachkommt. Die Tochter Liza wiederholt das Leben der Mutter, nur um einige Jahre versetzt. Sie soll lukrati-

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ven Bewerbern gefallen, und sie erfüllt diese Erwartungen. Dem (Heirats-) Marktwert wird dadurch entsprochen, dass sie eine gute Partie in Aussicht hat. Ihr Verlobter Fedor Dmitriĉ ist ein erfolgreicher junger Mann, der ihr wohl ebensoviel bieten wird wie einst ihr Vater ihrer Mutter. Die Fixierung auf das eigene Ich hat Ivan Ilřiĉ ihr vorgelebt. Umso unwilliger reagiert sie auf seine Krankheit, die ihrem fragwürdigen Glück im Wege steht. Die einzig wahrhaft kontrastive Figur ist der Diener Gerasim. Mit ihm führt Tolstoj einen Repräsentanten des russischen Dorfes in die todesvergessene Welt des Werkes ein. Fest verankert in dem Naturgesetz des Stirb und Werde, das sich seinem Glauben gemäß in den göttlichen Heilsplan einfügt, ist Gerasim seinerseits darauf bedacht, dem Leben zu dienen. Obgleich die Nachteile der Zivilisation auch ihn erreicht haben (in der „herrschaftlichen KostŖ ist er dick geworden), bleibt er „immer lustig und strahlendŖ (96). Allerdings versucht er, in Gegenwart des Kranken seine Lebensfreude zurückzuhalten, um diesen nicht zu verletzen. Lebensbejahend zeigt sich Gerasim auch am Tag der Trauerfeier. Als ihn Petr Ivanoviĉ fragt, ob es ihm leid tue, antwortet er nur, alles sei der Wille Gottes. Sie kämen alle einmal „dorthinŖ. Dabei zeigt er seine „weißen, festen BauernzähneŖ (65). Gemäß dem Vorhaben, den Tod hinter der Seelenmaske quälend lang zu gestalten, wählt Tolstoj über weite Strecken ein personales Erzählen. So wie der Großteil des Geschehens aus der Sicht des sterbenden Helden dargestellt wird, orientiert sich der Beginn in ultimas res an der Sicht Petr Ivanoviĉs, der von seiner Einstellung her dem Verstorbenen durchaus ähnelt. Diese Form des personalen Erzählens kann man als maskiertes Erzählen bezeichnen, weil sich die Seelenmaske verdunkelnd zwischen An-sich-Sein und Für-sich-Sein schiebt. Der Erzähler ist auktorial. Er weiß nicht nur um den Verlauf des Geschehens, sondern auch um die Weltordnung und die Möglichkeit eines verfehlten Daseins. Mit dem Satz „Der Lebensweg des Ivan Ilřiĉ war der allereinfachste, allergewöhnlichste und allerfurchtbarsteŖ (65) spurt er die Leserschaft unmissverständlich in das Verstehen ein. Der Erzähler weiß um die Lüge, in der die zivilisierte Welt gefangen ist, doch er hält sich mit Kommentaren und Wertungen zurück. Der Leser selbst soll diese Lüge entdecken Ŕ an den Figuren, aber auch an sich selbst. Der Erzähler bietet ein Korrektiv für den Fall, dass sich verschiedene Perspektiven überlagern. Wenn jemand im Sterbezimmer mitteilt, dass Ivan Ilřiĉ verstorben ist, erfährt diese Feststellung eine Korrektur. Ivan Ilřiĉ hört diese Worte und stellt für sich fest: „Der Tod ist zu Ende. […] Er ist nicht mehr daŖ (115). Die Überlagerung der Perspektiven von auktorialem und personalem Erzählen ermöglicht zu zeigen, wie ein Mensch mit dem eigenen bzw. dem fremden Tod umgeht. Die Dialektik des Todes kann nur in der Gattungsform Novelle zum Ausdruck kommen. Nicht das leibliche Ende des Helden ist die „unerhörte BegebenheitŖ, auf die sich das Erzählen hin ausrichtet28, sondern das Licht, auf das der Sterbende zugeht und das in ihm Freude auslöst. Für Tolstoj, der sich, von Schopenhauer angeregt, seit 1884 mit dem Buddhismus beschäftigte, ist die Lichtvision der Moment der Erleuchtung, den ein Sterbender erfährt.29 Die Freude, die Ivan Ilřiĉ

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zum Ausdruck bringt, bedeutet im Zeitalter des maskierten Todes eine wahrhaft unerhörte Begebenheit. Der Held, der so viele Wochen lang gekämpft und sich in beständiger Verzweiflung befunden hat und der angstvoll meinte, alles wäre besser als der Tod, erfährt nun tiefen Frieden. Als er aufhört, handeln zu wollen, und die Sinnentleertheit der Dinge erkennt, vermag er mit dem Licht zu verschmelzen. Ivan Ilřiĉ agiert nicht, sondern reagiert. Die Handlung geht vom Leben selbst aus: Ein organischer Prozess wird freigesetzt, in dem die Krankheit ein Leben beendet. Dem Helden widerfährt etwas, was Hegel als minderwertige Kollision einstufen würde.30 Spannungsvoll ist dabei, wie der Held damit umgeht. Der Aufbau des Geschehens ist dramatisch. Die Exposition liefert die Vorgeschichte der Ereignisse (Kapitel 2Ŕ3). Erzählt wird hier, wie Ivan Ilřiĉ seit der Kindheit dem Leben abstarb, indem er Karriere machte und sich von außen vorgeben ließ, wie man zu leben hat. Auf dem Gipfel seiner Karriere erreicht er im wahrsten Sinn des Wortes seine Fallhöhe: Beim Einrichten der neuen Wohnung rutscht er von einer Sprosse der Leiter ab und stößt mit der Seite an den Fenstergriff. Während die Golovins zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Wohlstand nicht ausreicht, und anfangen, sich zu zanken und über Scheidung nachzudenken, setzt sich in Ivan Ilřiĉ die Krankheit frei und beginnt, an der Seelenmaske zu nagen. Auf diesen Vorgang folgt die Protasis mit dem erregenden Moment (Kapitel 4Ŕ5). Die ausgebrochene Krankheit ist zunächst nur lästig, danach quälend und schmerzhaft. Nachdem der Kranke und seine Angehörigen das wahre Ausmaß des Leidens ummäntelt haben, reißt ein Außenstehender, der zu Besuch kommende Schwager, die Maske ab, indem er Ilřiĉ als einen toten Mann bezeichnet. Dieser erschrickt, nimmt die Gewissheit aber nicht an. Die Epitasis (Kapitel 6Ŕ8) besteht in dem Gewahrwerden des Helden, todkrank zu sein. Das entscheidende Geschehen besteht in der Konfrontation mit Gerasim als einem Menschen, der Krankheit und Sterben nicht aus dem Weg geht, sondern seinem Herrn liebevoll beisteht. Im Gegensatz dazu haben sich die Angehörigen und die Ärzte der Lüge verschrieben. Unter ihr leidet der Held in den letzten Lebenswochen am allermeisten. Die Lüge verstärkt den Hass auf seine Ehefrau in geradezu unerträglichem Maße. Die Peripetie (Kapitel 9Ŕ11) besteht in einer wochenlang dauernden Bilanz seines Lebens. Der Aufschrei zu Gott lässt ihn eine Stimme hören, die seine bisherige Existenz hinterfragt. Ivan Ilřiĉ geht in seinen Erinnerungen weit zurück. Während ihm die Kindheit wie ein heller Punkt erscheint, kommt ihm sein darauf folgendes Leben immer finsterer vor. Schrecklicher als die körperlichen Qualen sind die seelischen, die sich aus der Einsicht entwickeln, falsch gelebt zu haben. Nur diese Qualen lassen den Wutausbruch verstehen, mit dem sich der Todkranke an die Menschen richtet, die das verlogene Dasein verkörpern, allen voran die verhasste Ehefrau Praskovřja Fedorovna. Ivan Ilřiĉ wirft alle Menschen, die ihn so feierlich bei der Letzten Ölung umstehen, wutentbrannt aus dem Zimmer, was einer völligen Missachtung der Seelenmaske gleichkommt. Die Katastrophe (Kapitel 12) bringt die Lösung des Kon-

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flikts. Die Spannung des Erzählvorgangs besteht nicht darin, ob Ivan Ilřiĉ dem Tod entgeht oder nicht. Um dieser Erwartung vorzubeugen, wird der Beginn in ultimas res eingesetzt, der keinen Zweifel daran lässt, dass der Held verstorben ist. Die Spannung liegt vielmehr darin, wie der Tod sich zeigt. Die Liebe befreit den Geplagten vom seelischen Tod, indem sie ihn mit den anderen Menschen versöhnt und ihn das Licht sehen lässt. Die „unerhörte BegebenheitŖ besteht in dem Satz: „Der Tod ist zu Ende. […] Er ist nicht mehr daŖ (115).

Jochen-Ulrich Peters

Michail Saltykov-Ńĉedrin: Istorija odnogo goroda (Die Geschichte einer Stadt) Innerhalb des russischen Realismus nimmt Saltykov-Ńĉedrins erzählende Prosa sowohl in gattungs- als auch in stilgeschichtlicher Hinsicht eine auffällige Sonderstellung ein. Während sich Autoren wie Turgenev, Gonĉarov oder Dostoevskij kontinuierlich von dem eher begrenzten poetischen und politisch-ideologischen Programm der sogenannten „Naturalřnaja ńkolaŖ (Natürliche Schule) entfernen, ist der Satiriker Saltykov-Ńĉedrin dieser ursprünglichen Orientierung auch noch in seinen weiteren literarischen Texten sowie seinen gesellschaftskritischen Essays stärker verpflichtet geblieben. Die auf die Deskription einzelner sozialer Typen ausgerichtete „physiologische SkizzeŖ, die komisch-ironische Erzählung und die zeitkritisch-publizistische Abhandlung sind die Formen, auf denen auch noch seine späteren Erzählzyklen basieren, so dass sich seine satirische Prosa weder der Skizze noch der Erzählung oder dem Gesellschaftsroman eindeutig zuordnen lässt.1 Selbst sein einziger, stärker in sich geschlossener Familienroman „Gospoda GolovlevyŖ (Die Herren Golovlev) aus dem Jahr 1880 weist eine ungewöhnlich offene, additive Struktur auf, die sich vornehmlich aus der auch in ihm dominierenden gesellschaftskritischen Gesamtintention erklärt. Saltykov-Ńĉedrin beschränkt sich hier nicht darauf, den tragischen Untergang einer ausschließlich auf die Mehrung ihres Besitzes fixierten Gutsbesitzerin und ihrer Kinder und Enkel in möglichst krassen Farben zu beschreiben. Es kommt ihm vielmehr darauf an, die wichtigsten ideologischen Fundamente der zaristischen Herrschaft und Gesellschaft wie die Kirche, das Besitzdenken und die patriarchalische Ordnung des Staates und der Familie als bloße „TrugbilderŖ (prizraki) zu entlarven. Deshalb wird der unaufhaltsame Niedergang der Familie exemplarisch an den Abscheu und Schrecken erregenden Handlungen und Verhaltensweisen des Heuchlers und Blutsaugers Porfirij Golovlev vorgeführt, mit dessen Selbstmord die düstere Familienchronik abschließt.2 Allerdings spielt in diesem zeitkritischen Werk die satirisches Lachen hervorrufende Komik der Darstellung eine eher untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu dem 1869/70 in der Zeitschrift „Oteĉestvennye zapiskiŖ publizierten Zyklus „Istorija odnogo gorodaŖ entlarven sich jetzt die Figuren gleichsam selbst durch ihr abstoßendes egoistisches Handeln und Verhalten. Hingegen beschränkt sich der auktoriale Erzähler auf relativ wenige zusätzliche Kommentare und Reflexionen, um die sozialpolitischen Voraussetzungen und Motivationen für das so fragwürdige Handeln und Verhalten der Protagonisten herauszustellen. Demgegenüber lässt sich an dem zehn Jahre zuvor entstandenen Zyklus die nachhaltige Wirkung von Gogolřs Prosa, die bereits die frühen Texte Saltykov-Ńĉedrins stark geprägt hatte, sehr viel deutlicher ablesen.3 In „Istorija odnogo gorodaŖ werden die poetischen Prinzipien und die Intentionen der „Natürlichen SchuleŖ einerseits aufge-

„Istorija odnogo gorodaŖ (Die Geschichte einer Stadt)

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griffen und andererseits weiterentwickelt. Die satirische Beschreibung, die sich damals noch auf relativ deutlich abgegrenzte und gleichsam der unmittelbaren gesellschaftlichen Realität entnommene Typen oder Phänomene bezog, erscheint nun bewusst ins Phantastisch-Groteske gesteigert, um die Geschichte der fiktiven Stadt Glupov und das Leben ihrer Bewohner in einem ebenso Furcht und Schrecken erregenden wie komisch gebrochenen Licht zu zeigen. Damit weist gerade dieser Text nicht nur durch seine ungewöhnliche Gattungsstruktur, sondern auch stilistisch weit über die poetischen Prinzipien und ästhetischen Normen des russischen Realismus hinaus, wie sie bereits in den vierziger Jahren von Belinskij formuliert wurden und selbst noch die Literatur und Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachhaltig bestimmt haben.4 Da es Saltykov-Ńĉedrin in „Istorija odnogo gorodaŖ darauf ankam, wie die historische Vergangenheit auch die zeitgenössische Realität in möglichst abschreckender und zugleich ins Absurde getriebener Form zu schildern, bietet der fiktive literarische Text eher ein provozierendes Gegenbild als eine „realistischeŖ, in sich schlüssige und glaubwürdige Darstellung der russischen Geschichte und Gegenwart. Insofern lässt sich, an die Überlegungen Rainer Warnings über die „Phantasie der RealistenŖ anschließend, gerade im Hinblick auf die literarische Phantastik und die groteske Hyperbolik in den Schilderungen der Stadt Glupov und seiner Bewohner feststellen: „Die Fiktion wird so zum Raum, in dem die Realität und Imaginäres einander durchdringen. Der Akt des Fingierens irrealisiert die eingezogene Wirklichkeit; und er realisiert die Unvordenklichkeit des Imaginären.Ŗ5 Ging es doch Saltykov-Ńĉedrin Ŕ im Sinne der Satire-Definition Friedrich Schillers Ŕ darum, die „Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten RealitätŖ gegenüberzustellen, ohne dass dieses ausgesprochen werde.6 Es bleibt deshalb der Imagination des Lesers überlassen, die im Erzählen evozierte verfremdete Welt durch ein utopisches Gegenbild zu ergänzen oder zu erweitern. Nur in dieser von der Darstellung selbst ausdrücklich ausgesparten Welt der fernen Freiheit sollten die unbegrenzte Machtausübung und die durch sie bedingte Unterwerfung und Passivität des Menschen nicht länger existieren, die in der dargestellten Stadtgeschichte wie ein Thema mit immer wieder anderen Variationen durchgespielt werden. Zwischen Satire und Groteske In einem Artikel zur Satire aus dem Jahr 1940, der ursprünglich für Lunaĉarskijs „Literaturnaja ėnciklopedijaŖ bestimmt war, aber erst 1996 nach dem erhaltenen Manuskript veröffentlicht werden konnte, hat Michail Bachtin Kategorien entwickelt, die manche Ergebnisse und Einsichten der späteren Satire-Forschung vorwegnehmen und sich auch für eine differenziertere Analyse der narrativen Struktur von „Istorija odnogo gorodaŖ nutzen lassen.7 So hebt Bachtin bereits völlig zu Recht hervor, dass sich die literarische Satire keineswegs auf bestimmte Gattungsformen wie die griechische menippeische Satire, die römische Vers-Satire oder die auch in der russischen Literatur seit Ende des 18. Jahrhunderts so

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wichtige satirische Komödie beschränken lasse. Die Satire sei vielmehr als eine gattungsübergreifende Schreibweise anzusehen, die ganz unterschiedliche literarische Textsorten überformen und in bestimmter Weise funktionalisieren könne. Deshalb betont Bachtin neben der Heterogenität und Polyphonie der Darstellung die enge Beziehung der Satire zu Parodie und Travestie und hält die Komik der Darstellung und das durch sie evozierte Lachen für eine unerlässliche Eigenschaft satirischer Texte, um sie vom Pamphlet oder von der gesellschaftskritischen Erzählung abzugrenzen. Auch wenn er sich Ŕ wie in der Einleitung zu seinem gleichzeitig entstandenen Rabelais-Buch Ŕ vornehmlich auf die folkloristische Lachkultur des europäischen Mittelalters und der Renaissance bzw. die griechische Satire-Tradition bezieht, übersieht er nicht, dass die Satire seit dem 18. Jahrhundert eine weitaus gezieltere Tendenz auszeichnet und sich damit zugleich das Verhältnis zwischen Satire und Groteske grundlegend verändert. Das in der Renaissance, vor allem bei Rabelais, so stark entwickelte groteske Lachen, durch das die bestehende Welt negiert, dabei aber eine grundsätzlich andere, befreite Welt imaginiert werde, sei seit der Aufklärung gleichsam reduziert und weitaus stärker auf eine dezidiert kritisch-negierende Tendenz ausgerichtet. Die Reduktion und Funktionalisierung des früheren karnevalistischen Lachens bestimmt indessen noch ungleich stärker und konsequenter die satirischen Texte Saltykov-Ńĉedrins aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aufgrund der so stark ausgeprägten sozialkritischen Orientierung lassen sie sich nicht länger mit den komisch-grotesken Texten von Rabelais oder auch von Gogolř vergleichen, in denen noch das befreiende, universale Lachen bzw. die moralisch-religiöse Fundierung der phantastischen Groteske im Zentrum stand. Allerdings schließt zumindest in „Istorija odnogo gorodaŖ der kritische Bezug auf bestimmte konkrete Phänomene der historischen wie zeitgenössischen Wirklichkeit die phantastischgroteske Präsentation einer absurden, zum Untergang verurteilten Welt keineswegs aus. Es ist gerade die Kombination satirischer, grotesker und phantastischer Verfahren, die dazu führt, dass sich dieses Werk nicht auf eine karikaturartige Schilderung der russischen Autokratie und ihrer wichtigsten Repräsentanten beschränkt, sondern immer wieder weit darüber hinausweist. So lässt sich „Istorija odnogo gorodaŖ gleichzeitig als Allegorie der russischen Geschichte und als Darstellung einer von Unterdrückung und blindem Gehorsam beherrschten Welt lesen, die bereits auf die späteren negativen Utopien von Zamjatin, Huxley oder Orwell vorausdeutet. Im Unterschied zu der von Bachtin so ausführlich beschriebenen Groteske des Mittelalters und der Renaissance und ihrer „karnevalesken Welterfahrung, die die Welt von allem Schrecklichen und Bedrohlichen befreien und angstlos werden lassen sollteŖ, dominiert bei Saltykov-Ńĉedrin ein „ernsthaftes und didaktisches LachenŖ8. Dieses Lachen sollte den Leser in erster Linie zu einer kritisch-distanzierten Einstellung gegenüber einer von brutaler Machtausübung und sklavischer Unterwerfung bestimmten Welt verhelfen. Insofern trifft gerade auch auf „Istorija odnogo gorodaŖ und die diesem Werk zugrunde liegende Geschichtsphiloso-

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phie des Verfassers folgende Feststellung Bachtins zu: „Für den Satiriker zerfällt das Gegenwärtige in das Vergangene und das Zukünftige, irgendein neutrales und selbstgenügsames Gegenwärtiges kann es nicht geben. Die zeitgenössische Wirklichkeit stellt einen Prozess vom Tod des Vergangenen und von der Geburt eines Zukünftigen dar. Allerdings ist in der Epoche Ńĉedrins das Zukünftige noch kaum greifbar. Deshalb dominiert in seinen Werken das Bild des Todes und der Auflösung der ökonomischen, sozialen und politischen Ordnung Russlands und der sie stützenden Ideologien.Ŗ9 In der Tat ändert der offene Schluss der Stadtgeschichte, auf den noch genauer einzugehen sein wird, nichts daran, dass die Bewohner von Glupov als hilflose Opfer jahrhundertelanger Unterdrückung beschrieben werden, deren Ursachen sie kaum zu durchschauen vermögen. Das satirische Lachen und die komisch-grotesken Schilderungen der Stadthauptleute und ihrer Helfershelfer sollten indessen den Leser dazu veranlassen, die ihm nur zu vertrauten Folgen autokratischer Herrschaft nicht länger als ein unabänderliches Schicksal zu betrachten und dieses bereitwillig oder fatalistisch hinzunehmen. Parodie der Chronik und der offiziellen Geschichtsschreibung Die Offenheit und die utopische Dimension, die „Istorija odnogo gorodaŖ ungeachtet der so deutlich zu erkennenden sozialpolitischen Tendenz auszeichnet, verdankt sich zweifellos in erster Linie ihrem phantastischen, auf die biblische Apokalypse Bezug nehmenden Abschluss. Sie resultiert jedoch ebenso aus der Kombination bzw. Vermischung ganz unterschiedlicher Gattungs- und Stiltraditionen, die Bachtin nicht nur der Menippea und dem polyphonen Roman Dostoevskijs zuschreibt, sondern auch der satirischen Schreibweise als solcher attestiert. In „Istorija odnogo gorodaŖ ist es die parodistische Verarbeitung und Funktionalisierung unterschiedlicher Prätexte und die gleichzeitige Verteilung der Schilderung auf verschiedene Erzählinstanzen, durch deren Vermittlung die komischgroteske Welt immer wieder aus einer anderen Perspektive dargestellt wird. Dabei hatte bereits Dmitrij Lichaĉev mit Recht darauf hingewiesen, dass sich die unbeholfen-naive Erzählweise der „vier StadtarchivareŖ (266) scheinbar ganz an dem Stil der mittelalterlichen Chroniken orientiert, nur eine unter vielen anderen „StimmenŖ ist. Denn Saltykov-Ńĉedrin sei es keineswegs nur darauf angekommen, die altertümliche Berichterstattung aufzugreifen und ironisch zu parodieren. Vielmehr richte sich seine Satire vornehmlich gegen die offizielle nationalistische Geschichtsschreibung, wie sie etwa in den Arbeiten von Pogodin, Ĉiĉerin, Kavelin vorliege.10 Saltykov-Ńĉedrin sei es vor allem darum gegangen, ein konservatives Geschichtsbild in Frage zu stellen, das auch noch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und nach den Justizreformen die Unterordnung der bäuerlichen Bevölkerung unter die Herrschaft des Zaren und der Adligen begründen und legitimieren sollte. So hatte etwa Pogodin, auf dessen Darstellung der russischen Geschichte sich der fiktive Herausgeber von „Istorija odnogo gorodaŖ in seinem Vorwort ironisch bezieht, den fundamentalen Unterschied zwischen der

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historischen Entwicklung in Russland und in Westeuropa folgendermaßen zu begründen versucht: „In der Tat, wir verfügen über den zuverlässigen Bericht der Chronik, dass unser Staat nicht durch Eroberungen, sondern durch den Ruf nach Unterstützung seinen Anfang genommen hat. Hierin liegt die Quelle aller Unterschiede! […] Unser Herrscher war ein herbeigerufener friedlicher Gast, ein erwünschter Helfer, der Herrscher im Westen jedoch ein unerwünschter Eindringling, ein mächtiger Feind, von dem das Volk vergeblich erhoffte, Schutz und Unterstützung zu erhalten.Ŗ11 Die unkritische Übernahme der Warägerlegende aus der Nestor-Chronik, wie sie in verwandter Form auch in der Einleitung zu Karamzins monumentaler „Geschichte des russischen StaatesŖ (Istorija Rossijskogo gosudarstva) erscheint, wird in dem Kapitel „Über Ursprung und Herkunft der Einwohner von GlupovŖ in komisch-ironischer Form parodiert und zurückgewiesen. Der Fürst, der nach langem Zögern schließlich dazu bereit ist, unter den ebenso streitsüchtigen wie uneinsichtigen Stadtbewohnern für Ruhe und Ordnung zu sorgen, erweist sich gerade nicht als ein „friedlicher GastŖ oder gerechter Herrscher. Er fordert vielmehr die bedingungslose Unterwerfung der Stadtbewohner, die, sich selbst als „golovotjapyŖ (Dickschädel) bezeichnend, von ihm in „glupovcyŖ (von „glupyjŖ, dumm) umbenannt werden, da sie weder jetzt noch in Zukunft in der Lage seien, nach ihrem eigenen freien Willen und ihren eigenen Vorstellungen zu leben (275). So gelingt es Saltykov-Ńĉedrin, schon in der „VorgeschichteŖ zur eigentlichen Stadtchronik sowohl das naive Geschichtsbild der Stadtarchivare als auch das staatstreue Denken der offiziellen Historiker zu verspotten und zu entmythologisieren. Bereits die Herrschaft des ersten Machthabers wird als ein Zwangssystem gezeigt, das keinesfalls den Interessen und Bedürfnissen der Stadtbewohner entsprochen habe, aber gleichwohl von den alten Archivaren und den späteren Historikern zur Idealisierung und Legitimierung der zaristischen Autokratie verwertet worden sei. Auch die sich unmittelbar an diese legendäre „VorgeschichteŖ anschließende katalogartige Auflistung der einzelnen Stadthauptleute macht nur zu deutlich, wie auch die späteren Nachfolger des ersten Fürsten ausschließlich ihre eigenen materiellen Interessen und unbegrenzten Machtansprüche verfolgen, wobei deren Herrschaft allerdings in den meisten Fällen mit einem gewaltsamen oder unerklärlichen Tod endet. Wenngleich im Verlauf der Stadtgeschichte selbst Aufstände und Rebellionen der Bevölkerung relativ schnell unterdrückt oder niedergeschlagen werden, erweist sich die Herrschaft der Stadthauptleute somit letzten Endes als durchaus begrenzt und instabil. Saltykov-Ńĉedrin begnügte sich nicht damit, die „StimmenŖ der Chronisten und der Historiker miteinander zu vermischen und zu parodieren. Um dem Leser klar zu machen, dass sich die satirische Stadtgeschichte keineswegs nur auf die Vergangenheit, die Jahre 1731 bis 1825, bezieht, schaltet sich der Erzähler als eine dritte und insgesamt zuverlässigere „StimmeŖ immer wieder ein. So weist er den Leser zum Beispiel auf offensichtliche Anachronismen und entsprechend

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unglaubwürdige Aussagen des jeweiligen Chronisten hin, oder er stellt mit ironischem Unterton fest, dass dessen Bericht leider nicht vollständig überliefert sei. Schließlich muss auch er Ŕ vermutlich nicht zuletzt aus Zensurgründen Ŕ seine eigene stadtgeschichtliche Darstellung, mit dem Jahr des Dekabristenaufstands (1825), abrupt abbrechen. Damit bleibt die besonders gewaltsame und repressive Herrschaft des Zaren Nikolaj I. und seiner Minister und Berater ausgespart. Der Erzähler wird damit zum Kommentator der angeblich aus früheren Quellen möglichst genau rekonstruierten und nachgezeichneten Stadtgeschichte, und er kann auf diese Weise auch die aktuellen, aus seiner Sicht ebenso gefährlichen wie illusorischen Ideen und politischen Programme der französischen Sozialisten oder der russischen Narodniki-Bewegung in seine Ŕ wie er behauptet Ŕ streng historisch ausgerichtete Darstellung einbeziehen und verspotten. So erscheint ihm die „Verbindung der Idee der Gradlinigkeit mit der Idee einer allumfassenden Beglückung der MenschheitŖ (403) als genauso wenig erstrebenswert wie die von ihm so ausführlich geschilderte gewaltsame Herrschaft der wechselnden Stadthauptleute unter der Herrschaft der verschiedenen Zaren. Denn durch diese Ideen werde das individuelle Leben und die persönliche Freiheit der Stadtbewohner erneut einer nicht zu kontrollierenden kollektiven Instanz unterworfen, womit sich die autokratische Herrschaft, nur unter einem anderen Vorzeichen und mit einer anderen ideologischen Begründung, fortsetzen würde. Durch solche Interventionen oder Kommentierungen des Erzählers ergibt sich eine raffinierte, immer wieder ironisch gebrochene Schilderung einer erfundenen Stadt, die ebenso auf die russische Vergangenheit und damalige russische Gegenwart wie auf die nicht mehr als solche beschriebene Zukunft verweist. Insofern lässt sich Saltykov-Ńĉedrins „Istorija odnogo gorodaŖ aus heutiger Sicht durchaus auch auf die spätere sowjetische und postsowjetische Geschichte beziehen, in der solche „StadthauptleuteŖ wie Lenin, Stalin oder Putin über eine eher noch größere Machtfülle verfügen als ihre Vorgänger oder Vorbilder im 18. oder im 19. Jahrhundert. Eben diese Generalisierung war vom Verfasser durchaus intendiert, als er versuchte, durch die ausdrückliche Begrenzung der Darstellung auf die Zeit vor 1825 die Zensurbehörden über seine wahren Absichten hinwegzutäuschen oder durch die mehrfachen, zweifellos ironisch gemeinten Hinweise auf den Vergangenheitscharakter des Erzählten alle behördlichen Einwände von vornherein zu entkräften. Dass ihm dieses Kunststück durchaus gelungen ist, zeigt die Publikations- und Rezeptionsgeschichte von „Istorija odnogo gorodaŖ, von der noch die Rede sein wird. Denn auch an ihr bestätigt sich die Offenheit und universale Bedeutung einer auf die russische Geschichte bezogenen, aber diese durch die Verknüpfung komisch-grotesker und phantastischer Elemente sowie durch ironische Kommentare des auktorialen Erzählers immer wieder transzendierende chronikartige Darstellung der Geschichte einer Stadt.12

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Karikierte Zaren und seelenlose Puppen Der abrupte „Wechsel disparater DarstellungsebenenŖ, der sowohl für Gerhard Mensching13 als auch für Hans Günther14 die literarische Struktur der Groteske bildet, prägt in starkem Maße den Hauptteil von „Istorija odnogo gorodaŖ. In ihm werden in chronologischer Abfolge einzelne Stadthauptleute und ihre Handlungen sowie ihre Verhaltensweisen veranschaulicht, an denen die schon in der Einleitung ironisch hervorgehobene und gerühmte „rührende EntsprechungŖ zwischen den Inhabern der Macht und der ihnen schutzlos ausgesetzten Bevölkerung (268) exemplarisch aufgezeigt und verspottet wird. Allerdings ist es Saltykov-Ńĉedrin, wie mir scheint, nicht immer ganz gelungen, die Repräsentanten dieser brutalen Willkürherrschaft überzeugend zu gestalten und gleichzeitig zu demaskieren. Viele Herrscherporträts sind so direkt an den auch aus geschichtlichen Darstellungen bekannten Eigenarten bzw. Verhaltensmustern einzelner Zaren und Zarinnen orientiert, dass die satirische Präsentation nicht über eine leicht zu durchschauende Karikatur der historischen Prototypen hinausreicht. Das gilt vor allem für die sechs weiblichen Stadthauptleute, die für die Zarenherrschaft zwischen Peter dem Großen und Katharina II. stehen und deren Beschreibung sich weitgehend in der pamphletartigen Verspottung weiblicher Machtausübung erschöpft. Aber auch die verschiedenen Projekte Katharinas II. und Alexanders I., das rückständige Russland durch westliche Ideen und Programme der Aufklärung zu modernisieren, werden zu knapp und zu undifferenziert wiedergegeben, als dass sich an ihnen die ungleich komplexeren Probleme einer autoritär von oben verfügten Bildungsund Kulturpolitik ablesen ließen. Da in allen diesen Fällen die Satire der historischen und sozialen Realität möglichst stark angenähert wird, verliert sie zugleich an ästhetischer und politischer Überzeugungskraft. Diese kritischen Einwände betreffen aber weder das erste noch das letzte Kapitel des Werkes. So bezieht sich die Gestalt des Dementij Brudastyj, der „die SpieluhrŖ (Organĉik) genannt wird, in dem ersten, die Chronik eröffnenden Kapitel gerade nicht auf einen bestimmten Zaren oder einen seiner mächtigen Berater oder Minister. Und auch das Furcht und Schrecken erregende Porträt von Ugrjum-Burĉeev, mit dem die Chronik abschließt, reicht über eine bloße Karikatur Nikolajs I. und seines verhassten Kriegsministers Aleksej Arakĉeev weit hinaus. Die satirische Groteske nimmt in beiden Fällen so abstrakte und phantastische Züge an, dass schon Vasilij Gippius die Figuren Saltykov-Ńĉedrins mit mechanischen Puppen verglichen hat, die sich gerade nicht in der Verspottung oder Demaskierung einzelner, auch unabhängig von ihrer literarischen Darbietung in ähnlicher Weise geschilderten Machthaber erschöpften.15 Die Primitivierung oder, anders gesagt, Verfremdung der Figuren ist in allen diesen Fällen so weit getrieben, dass die komisch-grotesken Porträts in der Tat eher an Puppen oder Marionetten als an lebendige Menschen erinnern und damit an die phantastischen Erzählungen der russischen und westeuropäischen Romantik. So wird zum Beispiel der Anfang der Herrschaft Brudastyjs ausdrücklich auf das Jahr 1762 datiert, in dem die Krönung Katharinas stattfand. Doch zwischen

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dem Stadthauptmann und der historischen Zarin gibt es keinerlei Parallelen oder Übereinstimmungen. Überdies reicht das Porträt des Stadthauptmanns, der statt eines Gehirns nur über eine Spieluhr in seinem Kopf verfügt, weit über eine allegorische Darstellung der mechanischen Primitivität seines Denkens und seiner Herrschaft hinaus; denn das ganze Kapitel ist von der Phantastik bestimmt. Auch der in Petersburg nach langer Wartezeit schließlich zurückgebrachte neue Kopf Brudastyjs beschränkt sich weiter auf die stereotypen Drohungen „Ich dulde das nichtŖ und „Ich vernichte allesŖ (282). Am Schluss des Kapitels taucht dann ein Doppelgänger auf, dessen Kopf sich nur dadurch von dem des Originals unterscheidet, dass sich bei ihm ein Muttermal auf der rechten statt auf der linken Gesichtshälfte befindet. Aber auf solche minimalen Unterschiede kommt es offensichtlich keineswegs an. Die eingeschüchterten Bürger der Stadt erstarren auch bei dem unerwarteten Erscheinen des Doppelgängers und gehen, so wie das Volk in Puńkins „Boris GodunovŖ, schweigend auseinander, ohne sich gegen die ungewöhnliche Doppelherrschaft von zwei Stadthauptleuten aufzulehnen oder auch nur zu empören. Indem Saltykov-Ńĉedrin von Anfang an die demütige und ängstliche Haltung der Stadtbevölkerung mit der komisch-absurd geschilderten Herrschaft der „SpieluhrŖ konfrontiert, gelingt ihm eine Darstellung, die sich durchaus mit den komisch-ironischen Gutsbesitzer-Porträts und der Schilderung ängstlicher Einwohner einer seelenlosen Provinzstadt in Gogolřs „Mertvye duńiŖ messen kann. Allerdings bezieht sich diese Darstellung im Unterschied zu Gogolř viel direkter und intensiver auf die sozialen und politischen Verhältnisse und die sie legitimierende Ideologie des autokratischen Staats und seiner Repräsentanten. Denn Saltykov-Ńĉedrin kam es vor allem darauf an, die Passivität und Anpassungsbereitschaft der Bevölkerung als eine direkte Folge der jahrhundertelangen Unterdrückung und Disziplinierung durch die Autokratie herauszustellen. So kommentiert der Erzähler die Bereitschaft der Menschen, sich auch noch dem brutalen Brudastyj so bereitwillig zu unterwerfen und seine sinnlosen, Angst und Schrecken einflößenden Anordnungen zu befolgen, mit der ebenso mitfühlenden wie gleichzeitig ironisch-sarkastischen Feststellung: „Lesen wir heute in der ‚ChronikŘ die Beschreibung eines so unerhörten Vorgangs, so können wir, Zeugen und Teilnehmer anderer Zeiten und anderer Vorkommnisse, natürlich diesen durchaus kaltblütig gegenüberstehen. Versetzen wir uns jedoch in Gedanken hundert Jahre zurück, an die Stelle unserer bewundernswerten Vorfahren, so begreifen wir leicht den Schrecken, der sich ihrer bemächtigen musste beim Anblick der rollenden Augen sowie des weit geöffneten Mundes, aus dem nichts als ein Zischen und ein sinnloser Laut herauskamen, der nicht einmal dem Schlagen einer Uhr ähnelte. Aber eben darin erkennt man die Hochherzigkeit unserer Vorfahren, dass sie sich trotz ihrer Einschüchterung durch das oben beschriebene Schauspiel weder von den um diese Zeit verbreiteten revolutionären Moden noch von den Versuchungen der Anarchie beeindrucken ließen, sondern ihrer Liebe zu ihren Vorgesetzten treu blieben und sich höchstens erlaubten, ihren mehr als seltsamen Stadthauptmann zu bemitleiden und sich über ihn lustig zu machenŖ (285).

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Durch diesen ironisch-sarkastischen Kommentar, den der Erzähler zu der von ihm selbst aus den Berichten des Chronisten zusammengestellten Stadtgeschichte gibt, wird noch einmal explizit das zentrale Thema des Kapitels und die doppelte Zielrichtung der gesamten satirischen Intention verdeutlicht und auf den Begriff gebracht. Stellt doch die defekte und zugleich so bedrohlich und einschüchternd wirkende Spieluhr im Kopf des Stadthauptmanns nur eine besonders eindrucksvolle Metapher dar, durch die die Mechanismen der unbegrenzten Macht der Stadthauptleute bloßgelegt und deren Konsequenzen für das öffentliche und private Leben der schutzlosen Bevölkerung verdeutlicht werden. Durch die Mittel von Phantastik und Groteske wird bereits im ersten Kapitel der angeblich rein historische Bericht zu einer ironischen Demaskierung unbegrenzter und unsinniger Machtausübung erweitert, von der die Herrschenden wie die Beherrschten in gleicher Weise betroffen sind und an einem freien, selbstbestimmten Leben gehindert werden. Während in Brudastyj noch die komisch-spielerische Satire dominiert, wird in dem die Chronik abschließenden Porträt Ugrjum-Burĉeevs die abstoßende Grausamkeit und Brutalität autokratischer Herrschaft in den Mittelpunkt gerückt. In ihm zwingt der sowohl auf Ivan den Schrecklichen als auch auf den Zaren Nikolaj I. und den Kriegsminister Arakĉeev verweisende Stadthauptmann die Einwohner am Ende dazu, die eigene Stadt zu zerstören, weil sie schon durch die bloße Anordnung der Häuser nicht den eigenen Vorstellungen von Ordnung und absoluter Disziplin entspricht. Allerdings wird noch zuallerletzt die Herrschaft des Ugrjum-Burĉeev in ihrer Begrenztheit und Scheinhaftigkeit aufgedeckt, wenn die Bewohner der Stadt Glupov zumindest die maßlose Dummheit und Borniertheit ihres Oberhaupts erfassen, ohne sich jedoch zu einer Rebellion gegen den Tyrannen durchzuringen und auf diese Weise dessen Herrschaft zu beenden. Stattdessen schließt das Kapitel und damit die gesamte fiktive Stadtgeschichte mit einem an der biblischen Apokalypse orientierten Szenarium eines Weltuntergangs ab, dem schließlich auch Ugrjum-Burĉeev zum Opfer fällt: „Eine Woche späterŖ, so vermerkt der Chronist, „versetzte ein unerhörtes Schauspiel die Bewohner von Glupov in Angst und Schrecken. Der Norden verdunkelte sich und bedeckte sich mit Wolken. Aus diesen Wolken bewegte sich etwas auf die Stadt zu: halb Wolkenbruch, halb Orkan. Voll Wut jagte Es heran, die Erde aufwühlend, krachend und stöhnend und von Zeit zu Zeit dumpfe, krächzende Laute ausstoßend. Obwohl Es noch nicht ganz nahe war, begann die Luft in der Stadt zu wirbeln und zu toben, die Glocken der Kirchtürme begannen von allein zu läuten, die Bäume schwankten, die Tiere waren von Sinnen und rasten über die Felder, ohne einen Weg in die Stadt zu finden. Es kam näher, und sobald es näher kam, blieb die Zeit stehen. Schließlich bebte die Erde, die Sonne verfinsterte sich… Die Menschen fielen zu Boden. Ein unbeschreiblicher Schrecken bedeckte die Gesichter, erfüllte alle HerzenŖ (423). Mit der ebenso lakonischen wie vielsagenden Feststellung, dass damit „die Geschichte ihren Lauf beendeteŖ (423), schließt die Darstellung ab, wobei sich

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dieser knappe Hinweis am Schluss offensichtlich nicht nur auf die geschilderte Geschichte der Stadt Glupov, sondern auch auf die ganze bisherige Geschichte der Menschheit beziehen sollte. Damit erlangt die Chronik eine zusätzliche symbolische bzw. mythologische Dimension, deren Bedeutung allerdings auf sehr unterschiedliche Weise verstanden und interpretiert worden ist. Das offene Ende Wenngleich durch den abrupten phantastischen Abschluss des Ganzen jede reale Hoffnung auf eine Rebellion der Stadtbewohner gegen die jahrhundertelange Unterdrückung ausdrücklich ausgeschlossen zu sein scheint, hat die sowjetische Forschung darin Ŕ zumindest indirekte, gegenüber der Zensur bewusst verschleierte Ŕ Hinweise auf eine Revolution sehen wollen.16 Diese Deutung, die auch von der späteren sowjetischen Forschung nicht mehr durchgehend vertreten worden ist, erscheint jedoch wenig plausibel. Denn in der kurzen Übersicht über die Abfolge der Stadthauptleute, wird mit Perechvat-Zalichvatskij ein weiterer Stadthauptmann aufgeführt, und von ihm heißt es, dass er die Herrschaft von Ugrjum-Burĉeev übernehmen und noch entschiedener fortführen sollte. Perechvat-Zalichvatskij verweist noch direkter als Ugrjum-Burĉeev auf den Zaren Nikolaj I. und die von ihm unmittelbar nach dem Dekabristenaufstand eingeleitete Periode der Unterdrückung aller freiheitlichen Hoffnungen hinsichtlich einer Liberalisierung von Staat und Gesellschaft. Insofern spricht schon ein solcher, wenn auch nur knapper Hinweis auf eine Fortsetzung der Stadtgeschichte eher für die Hypothesen Ivanov-Razumniks17 und Boris Ėjchenbaums.18 Denn beide gingen in ihren Kommentaren zu den Einzelausgaben von „Istorija odnogo gorodaŖ im frühen 20. Jahrhundert davon aus, dass durch die Erwähnung der Regentschaft Perechvat-Zalichatskijs eine weitere, nicht weniger grausame Periode der russischen Geschichte angedeutet werden sollte, auf deren eingehendere Beschreibung Saltykov-Ńĉedrin aber schon aus Zensurgründen verzichten musste. Die sich diametral gegenüberstehenden und einander ausschließenden Interpretationen bleiben allerdings insofern einseitig und wenig überzeugend, weil durch sie der phantastisch-groteske Stil der Erzählung nicht hinreichend berücksichtigt wird. In beiden Fällen wird der Text zu sehr auf eine Ŕ wenn auch komisch-satirisch gebrochene Ŕ Darstellung der russischen Geschichte reduziert, auf die am Ende ausdrücklich nur mit einigen wenigen, eher rätselhaften Andeutungen Bezug genommen wird. Dagegen hat Saltykov-Ńĉedrin den Herausgeber der Zeitschrift „Vestnik EvropyŖ Aleksandr Suvorin, ebenso wie den Historiker Aleksandr Pypin, mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass er sich in „Istorija odnogo gorodaŖ vorrangig auf die politischen und sozialen Verhältnisse des zeitgenössischen Russland beziehe und durch die Verlagerung der Schilderung in eine nicht zu ferne Vergangenheit nur die Zensurbehörden täuschen wollte. In Wirklichkeit richte sich seine Satire gegen die immer noch wirksamen „Folgen der Willkür und der Verwilderung der Sitten, die alle ehrlichen Menschen empörtenŖ, und damit gegen eine „bestimmte Ordnung der DingeŖ, die das öffentliche wie das private Leben der Menschen

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bestimme und negativ beeinflusse.19 Da Saltykov-Ńĉedrin in seinem ausführlichen Schreiben an Pypin überdies ausdrücklich dessen Vorwurf zurückweist, das russische Volk wegen seiner Gleichmütigkeit und seiner Passivität verspottet zu haben, und betont, er habe vielmehr im Leser ein „bitteres GefühlŖ gegenüber dem auch diesem nur zu vertrauten Unrecht zu evozieren versucht, sollte gerade der phantastische Schluss nicht zu einseitig historisch gelesen und auf eine positive oder negative Perspektive festgelegt werden. Die ausdrückliche Hervorhebung der Scham am Schluss der Stadtgeschichte deutet zusätzlich an, dass der Chronist gegen Ende seiner so stark auch auf die Gegenwart bezogenen phantastisch-grotesken Darstellung nicht nur die Stadtbewohner, sondern vor allem sein lesendes Gegenüber zu einer kritischen Reaktion auf die geschilderten Ereignisse und Verhaltensweisen veranlassen wollte. Das rätselhafte offene Ende wäre dann in erster Linie als eindringlicher Appell an die Leserschaft zu betrachten, sich nicht länger mit den bewusst überzeichneten Ereignissen und Gegebenheiten abzufinden, auch wenn weder der Chronist noch der dessen Darstellung kommentierende und ergänzende Erzähler eine Lösung der dargestellten Probleme und Konflikte in Aussicht stellt. Die wenigen spontanen, aber allzu wenig koordinierten Rebellionen gegen einzelne Stadthauptleute werden von Saltykov-Ńĉedrin Ŕ vermutlich nicht zuletzt wegen seiner eigenen Erfahrungen mit der Narodniki-Bewegung Ŕ zwar erwähnt, jedoch gerade nicht als Erfolg versprechende Aktionen gegen das bestehende autokratische Herrschaftssystem geschildert.20 Die kaum zu übersehenden Verweise auf die biblische Apokalypse lassen eher den Schluss zu, dass mit dem mehrfach erwähnten rätselhaft-bedrohlichen „EsŖ eine überirdische Instanz apostrophiert wird, durch die der bisherigen Geschichte der Macht und der grenzenlosen Unterdrückung ein plötzliches Ende gesetzt wird. Anders als Dostoevskij in dem Roman „IdiotŖ verzichtete Saltykov-Ńĉedrin indessen darauf, eine christlich-eschatologische Lösung auch nur anzudeuten, wie dies der Rückgriff auf die Apokalypse durchaus nahegelegt hätte. Ihm kam es vielmehr bis zum Schluss darauf an, die dialektische Verknüpfung von unbeschränkter Machtausübung und passiver Unterwerfung in immer wieder anderen Varianten vorzuführen, um auf diese Weise eine sich bis in die Gegenwart erstreckende Grundstruktur autokratischer Herrschaft aufzudecken. Für den Aufklärer Saltykov-Ńĉederin erweist sich Ŕ wie für seine Vorgänger im 18. Jahrhundert Ŕ der Fluss, ein Symbol der freien unbezwingbaren Natur, als die einzige Größe, die sich der Herrschaft des Menschen über den Menschen zu entziehen vermag. Dessen nie ganz aufzuhaltende Bewegung wird deshalb auch nicht in komisch-ironischer Form geschildert. Am Ende stehen sich vielmehr mit dem nicht zu bezwingenden Fluss und dem eingeschränkten Leben der Menschheit unter den Bedingungen unbegrenzter autokratischer Herrschaft zwei Bereiche gegenüber, die der satirischen Groteske ihre Universalität, ihre Offenheit und ihre abschreckende Wirkung sichern. Stehen doch die Stadthauptleute zugleich für die Bürgermeister, die Gouverneure sowie die russischen Zaren, die zudem

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nicht nur als Repräsentanten, sondern auch als Opfer des von ihnen geschaffenen und aufrechterhaltenen Machtsystems gezeigt werden. Durch die Bezüge zur Apokalypse wird ein Ende dieses von menschlicher Dummheit, von Brutalität und von sklavischer Unterwerfung beherrschten Systems angedeutet, womit die Satire letztlich in eine Art von negativer Utopie übergeht, die sich immer wieder über die historische Faktizität der erzählten Welt erhebt, ohne diese deshalb aus dem Blick zu verlieren. Rezeption und Wirkung Die komplizierte Verknüpfung historischer Fakten und Sachverhalte mit fiktiven, stark hyperbolisierten phantastischen Schilderungen ist von der zeitgenössischen Literaturkritik nicht erkannt oder aber als grundsätzliche Schwäche der Satire bewertet worden. Allerdings hat gerade die weitreichende Verfremdung den Zensor M. E. Lebedev dazu veranlasst, einer Veröffentlichung von „Istorija odnogo gorodaŖ zuzustimmen. Die „Administratoren in der ProvinzŖ, so begründete er seine Entscheidung, seien in einer so unrealistisch-märchenhaften Form geschildert worden, dass sich niemand von den jetzt amtierenden Gouverneuren oder Staatsbeamten betroffen fühlen müsse.21 Dagegen sind dem einflussreichen Verleger Suvorin und dem Historiker Pypin die Anspielungen auf bestimmte Zaren und Zarinnen keineswegs entgangen. Allerdings haben sie die ebenso schwer zu übersehenden Bezugnahmen auf das zeitgenössische Russland entweder nicht erkannt oder bewusst verschwiegen. Ihre Kritik richtet sich deshalb ausschließlich gegen die aus ihrer Sicht einseitige oder absichtlich verfälschende Darstellung der russischen Geschichte und insbesondere gegen die tendenziöse Schilderung des einfachen russischen Volkes, für dessen tragisches Schicksal der Verfasser ihrer Meinung nach weit größeres Verständnis oder Mitgefühl hätte aufbringen müssen. Diesem Vorwurf, der auch von anderen Kritikern erhoben wurde, hat Saltykov-Ńĉedrin entgegengehalten, dass er dem von jahrhundertelanger Unterdrückung geprägten „historischen VolkŖ das von ihm durchaus respektierte, wenn auch in keiner Weise idealisierte wahre russische Volk als Fundament jeder echten Liberalisierung von Staat und Gesellschaft gegenüberzustellen versucht habe. Doch die nachträgliche Rechtfertigung konnte nichts daran ändern, dass sich die ganz unterschiedlichen politischen Lagern zugehörigen Kritiker Ŕ von den Slavophilen bis zu den Anhängern der Narodniki-Bewegung Ŕ durch die sarkastische und desillusionierende Darstellung der verängstigten und wehrlosen Stadtbevölkerung am stärksten provoziert fühlten, war diese doch mit ihren eigenen politischen und ideologischen Überzeugungen oder Hoffnungen kaum zu vereinbaren. Dagegen hat Turgenev in einer Rezension für die englische Zeitschrift „AcademyŖ die aufklärerische Intention und die poetische Wahrheit der satirischen Darstellung Saltykov-Ńĉedrins schon früh erkannt und außerordentlich positiv bewertet: ŖThere is something of Swift in Saltykoff; that serious and grim comedy, that realism Ŕ prosaic in its lucidity amidst the wildest play of fancy Ŕ and, above all, that constant good sense Ŕ I may

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Michail Saltykov-Ńĉedrin

even say that moderation Ŕ kept up in spite of so much violence and exaggeration of form. I have seen audiences thrown into convulsions of laughter by the recital of some of Saltykoff´s sketches. There was something almost terrible in that laughter, the public, even while laughing, feeling itself under the lash.ŗ22 Diese Einschätzung wird der Struktur der Satire bei Saltykov-Ńĉedrin in hohem Maße gerecht. Gerade durch dessen bewusste Konzentration der Darstellung auf frühere Jahrhunderte ist es ihm gelungen, jene Dialektik von Macht und Unterwerfung zu enthüllen, die auch noch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu seiner Zeit so nachhaltig prägte. Durch den Rekurs auf die russische Geschichte wird die Autokratie und ihre Folgen in zugleich komischer wie ernster Form geschildert und dabei ständig mehr oder weniger direkt an das kritische Urteilsvermögen des Lesers appelliert. Der auch noch im 19. Jahrhundert weit verbreitete Mythos vom gerechten Zaren und die nicht weniger mythische Vorstellung von einem Volk, das sich freiwillig dessen göttlich inspiriertem Willen zu fügen habe, werden ad absurdum geführt. Und es ist das provozierende, auf das kritische Bewusstsein des Rezipienten bezogene Lachen, von dem sich Turgenev wie der Verfasser von „Istorija odnogo gorodaŖ einen Impuls zu einer grundlegenden Veränderung von Staat und Gesellschaft versprachen, in der nicht länger unfähige und brutale Stadthauptleute, sondern die Stadtbewohner selber über ihr Leben und Denken bestimmen sollten. Zur Zeit der „PerestrojkaŖ hat Vjaĉeslav Přecuch den nicht unproblematischen Versuch unternommen, Saltykov-Ńĉedrins Stadtchronik bis in das Jahr 1988 fortzuschreiben, ohne dabei die Gesamtkonzeption wesentlich zu verändern.23 Allerdings wird dabei die für den Originaltext so entscheidende Differenz zwischen Historisierung und Verfremdung durch phantastisch-groteske Verfahren stark zurückgenommen. Dadurch verweisen die satirischen Porträts allzu direkt auf Stalin, Breņnev und Gorbaĉev, während Lenin bezeichnenderweise ganz ausgespart und durch eine Vielzahl wenig kompetenter Kommissare ersetzt ist, die die radikale gesellschaftliche Veränderung auf ebenso autoritäre wie abenteuerliche Weise durchzusetzen versuchen. Da auch noch die Massenvernichtungen in stalinistischer Zeit auf eine bloße Laune des Vorsitzenden Kazjulin zurückgeführt werden, verliert die Satire nicht nur an geschichtlicher, sondern auch an literarischer Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Wie teilweise bereits bei Saltykov-Ńĉedrin erscheinen die handelnden Figuren häufig vornehmlich als reine Karikaturen ihrer historischen Prototypen bzw. Vorbilder, und auch die ironischen Kommentare des Erzählers gehen in den meisten Fällen nicht über eine publizistische Abrechnung mit der von Gorbaĉev eingeleiteten, aber unzureichend vorbereiteten und durchdachten „PerestrojkaŖ hinaus. Im Hinblick auf das offene Ende unterscheidet sich jedoch Přecuchs Fortführung in auffälliger Weise von ihrer literarischen Vorlage. In dem der eigentlichen Erzählung hinzugefügten Dokument eines anonymen Autors wird zwar die utopische Auffassung vertreten, dass ein Volk ohne jede Abhängigkeit von einem Herrscher ein freies und selbstbestimmtes Leben führen könne, wie dies die Re-

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volution von 1917 exemplarisch gezeigt habe, doch es ist kaum davon auszugehen, dass Přecuch oder auch nur der fiktive Herausgeber der aktualisierten, jetzt unmittelbar auf die Gegenwart bezogenen Stadtgeschichte diese abstrakte Utopie eines herrschaftsfreien Zusammenlebens ernsthaft propagieren wollte. Denn auch in Přecuchs „Istorija goroda Glupova v novye i novejńie vremenaŖ (Die Geschichte der Stadt Glupov in neuer und neuester Zeit, 1989) werden, wie bei Saltykov-Ńĉedrin, sogenannte anarchistische Phasen von umso härteren und länger anhaltenden Perioden diktatorischer Machtausübung abgelöst. Die Position des Verfassers entspricht eher der des Gottesnarren Paramonov, der jeden Dialog mit einem der verschiedenen, ihm in gleicher Weise verhassten Stadthauptleuten konsequent verweigert und im Jahr 1986 unerwartet stirbt, noch bevor die Fortsetzung der Geschichte der Stadt Glupov drei Jahre später erscheinen wird. Es ist aber vermutlich diese noch weit über Saltykov-Ńĉedrins pessimistische Geschichtsauffassung hinausgehende Skepsis gegenüber jeder Art von einschneidender Veränderung, die Přecuch bewogen hat, seine fortgeführte Stadtgeschichte nicht länger mehr mit einem abrupten, auf die biblische Apokalypse verweisenden Schluss zu versehen. Er scheint vielmehr die ewige Wiederkehr des Gleichen für so wahrscheinlich, ja sogar für so unaufhaltsam zu halten, dass er seine Schilderung mit der lakonisch-resignierenden Feststellung abschließt: „Als wenn sich nichts ereignet hätte, setzte die Geschichte ihren Lauf fort.Ŗ24 Gerade durch das offene Ende ist es Saltykov-Scedrin insgesamt überzeugender gelungen, dem Leser die Konsequenzen und zugleich die Grenzen jahrhundertelanger Einschüchterung und Unterdrückung anschaulich vor Augen zu führen. Die kühne Phantastik und die oft bis ans Absurde reichende Groteske geben der fiktiven Chronik eine Bedeutung, durch die sie nicht bloß auf die Entwicklung des russischen Staats und der russischen Gesellschaft im 20. und im 21. Jahrhundert vorausweist, sondern in mancher Hinsicht auch die Anti-Utopien von Zamjatin, Orwell oder Huxley vorwegnimmt. Ungeachtet ihrer viel stärkeren politischen und ideologiekritischen Orientierung an der Geschichte und der eigenen Gegenwart verfügt die Satire bei Saltykov-Ńĉedrin über eine Offenheit und eine Universalität, die sie mit den voraufgegangenen satirischen Texten Nikolaj Gogolřs verbindet.

Wolf Schmid

Anton Ĉechov: Skripka Rotńilřda (Rothschilds Geige) „Skripka RotńilřdaŖ (1894) ist nicht die bekannteste Erzählung Ĉechovs. In der Zeit ihrer Entstehung von der Kritik wenig beachtet1, erlangte sie später jedoch außergewöhnliche Anerkennung als ein perfekt gebautes Meisterwerk. Der russische Dichter und Kritiker Kornej Ĉukovskij nannte sie die „Quintessenz des Ĉechovschen StilsŖ: „In ihr sind alle Grundzüge der Weltanschauung Ĉechovs sowie die Besonderheiten seines Künstlertums konzentriert, und zwar in ihrer stärksten Verkörperung.Ŗ2 Die hinterlassene Geige „Skripka RotńilřdaŖ erzählt die Geschichte des russischen Sargmachers Jakov Ivanov, genannt „BronzaŖ, der auf der Schwelle des Todes dem armen jüdischen Flötisten Rothschild, den er zeitlebens beschimpft und bedroht hat, seine Geige vermacht. Mit dem Gesinnungswandel des groben und gefühllosen Sargmachers gestaltet diese Erzählung ein Ereignis.3 So figuriert „Skripka RotńilřdaŖ in der Forschung als Beispiel für ein Sujet des prozrenie (des plötzlichen Begreifens)4, als Geschichte einer „seelischen WiedergeburtŖ oder einer „Verschiebung im Bewusstsein des HeldenŖ.5 Damit scheint die Erzählung eine Ausnahme unter den Werken des Postrealisten zu bilden, der sonst große Skepsis gegenüber der Veränderungsfähigkeit des Menschen und der Ereignisfähigkeit der Welt zeigt.6 Die Übergabe der Geige ist für den Sargmacher keine unbedeutende Handlung. Das Instrument liegt in der Nacht neben ihm auf dem Bett, und wenn ihn die Gedanken an die riesigen Verluste in seinem Beruf überkommen, die etwa daher rühren, dass die Menschen allzu selten sterben, berührt er die Saiten, und die Geige gibt einen Ton von sich, von dem ihm leichter wird. Dem sterbenden Sargmacher krampft sich das Herz zusammen, nicht weil er sterben muss, sondern weil er die Geige nicht ins Grab mitnehmen kann und sie als „WaiseŖ zurückbleibt. Im Geigenspiel zeigt der grobe Sargmacher eine sonst verborgene Seite. Er spielt „sehr gut auf der Geige, besonders russische LiederŖ (297). Und wegen seines guten Spiels wird er manchmal zu Hochzeiten in das jüdische Orchester eingeladen, obwohl er die Juden hasst und beschimpft und insbesondere den Anblick des hageren rothaarigen Rothschild „mit dem ganzen Netz von roten und blauen Äderchen im GesichtŖ (297) nicht ausstehen kann. Rothschild ist allerdings die einzige Figur der Geschichte, die ausdrücklich Jakovs Begabung würdigt. Er hätte seinen Beleidiger, wie er in hilfloser Empörung ausruft, längst aus dem Fenster geschmissen, wenn er ihn nicht wegen seines Talents achtete.7

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Auf der Geige kann Jakov Gedanken ausdrücken, für die ihm die Sprache fehlt. Und während er auf der Schwelle seiner Hütte sitzend in Gedanken an das „verlorene verlustreiche LebenŖ die Geige singen lässt, „selbst nicht wissend wasŖ, so kommt es „klagend (ņalobno) und rührendŖ heraus (304). Die Töne, die die Geige jetzt singt, haben eben jenen klagenden Charakter, der Jakov am Flötenspiel Rothschilds im jüdischen Orchester zur Weißglut gereizt hat: „Dieser verdammte Jude brachte es fertig, sogar das Allerfröhlichste klagend (ņalobno) zu spielenŖ (298). Rothschild, der sich dem auf der Schwelle sitzenden Jakov genähert hat, um ihn erneut zum Spiel ins Orchester einzuladen, ängstlich, neuer Beleidigungen gewärtig, hört aufmerksam zu, sein „erschrockener und staunender GesichtsausdruckŖ weicht einem „gramvollen und leidendenŖ Ausdruck, er zeigt „schmerzhaftes EntzückenŖ (305), und er bricht in Tränen aus, dem Beispiel des weinenden Geigenspielers folgend. Jakovs Spiel auf der Schwelle ist die Schlüsselszene der Erzählung. Die im Text durch verbale Äquivalenz hervorgehobene Ähnlichkeit von Jakovs klagendem Geigenspiel mit Rothschilds klagendem Flötenspiel ist nicht so zu interpretieren, dass Jakov die Spielweise Rothschilds imitierte, sondern eher so, dass er als Sterbender, Erinnernder und Erkennender jene Erfahrungen macht, die die Klage des Juden ausgelöst haben. Rothschilds empathetische Reaktion zeigt: Er versteht die Klage des Russen im Singen der Geige. Die Übergabe der Geige, die das mentale Ereignis nach außen manifestiert, ermöglicht die Pointe der Erzählung: Wenn der Flötist Rothschild auf der Geige zu wiederholen versucht, was der sterbende Sargmacher auf der Schwelle in Gedanken an das verlustreiche Leben gespielt hat, dann „kommtŖ bei ihm etwas so Trauriges und Kummervolles „herausŖ, dass die Zuhörer weinen. Und diese „neue WeiseŖ gefällt in der Stadt so sehr, dass die Kaufleute und Beamten ihn um die Wette zu sich einladen und ihn die Weise zehnmal spielen lassen. Der arme Flötist realisiert somit den „riesigen GewinnŖ, den der Geige spielende Sargmacher in seinem Leben nicht hat erwerben können und der die im Namen „RothschildŖ liegende Verheißung bewahrheitet. Das Finale der Erzählung ist durchaus unterschiedlich gedeutet worden. Die meisten sowjetischen Deuter nehmen, einer geläufigen sozialphilologischen Interpretationsfigur folgend, im Ausgang der Geschichte die „progressive Weltanschauung des AutorsŖ8 wahr und rechnen Jakovs Klage zu Ĉechovs Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen9 hoch. Auch im Westen ist der Geschichte meistens ein uneingeschränkt positives Finale zugesprochen worden. Gary Rosenshield nennt diese Erzählung eine der wenigen Darstellungen der „VersöhnungŖ (reconciliation) zwischen Russen und Juden in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts.10 Donald Rayfield spricht gar von einem „harmonious end of almost schmalzy sentimentalityŖ.11 Nur wenige Rezipienten erkennen die im Finale anklingende Ironie. Zu den am radikalsten deutenden gehört N. Mamaeva, die im letzten Absatz eine „bittere Negation des PathosŖ sieht, das die Erzählung von Jakovs letzten Tagen geschaffen hat. Jakov Ivanovs Umbewertung

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der existierenden Realität sei „individuell und völlig hoffnungslosŖ. Die Ironie der letzten Sätze zeige, dass die Menschen nicht fähig sind, Jakovs Entdeckung zu verstehen.12 Wie man die ironischen Töne des Finales auch verstehen mag, sie übertönen keineswegs die in Jakovs prozrenie angeschlagenen Töne des Erkennens und der Empathie. Für die Poetik Ĉechovs charakteristisch ist die Simultaneität widersprüchlicher Stimmungseindrücke. Tod, Erinnerung und prozrenie Die Übergabe der Geige ist mit einem zweiten Sujet verknüpft, das im Notizbuch von 1893 unter dem Titel „Grop [sic!] dlja OlřgiŖ (Sark für Olga) skizziert ist. Einem Sargmacher stirbt die Ehefrau. Er nimmt das Maß für den Sarg von der noch Lebenden und trägt die Kosten für den Sarg in sein Ausgabenbuch ein. (Der vorgesehene Titel mit dem orthographischen Fehler gibt die Eintragung des Sargmachers wieder, ist also Figurentext.) Die Sterbende erinnert ihren Mann daran, dass sie vor dreißig Jahren ein Kind hatten mit blonden Härchen und dass sie am Fluss saßen. Nach dem Tod der Frau geht der Sargmacher an den Fluss, und er nimmt wahr: In den dreißig Jahren ist die Weide erheblich gewachsen.13 In „Skripka RotńilřdaŖ führt das Sterben der Ehefrau Marfa den Sargmacher zu einer neuen Sicht seines Lebens und seines Verhaltens. Der Prozess des Erkennens und Umdenkens vollzieht sich in fünf Stufen.14 1. Marfa erkrankt schwer und vollbringt mit letzter Anstrengung ihr häusliches Tagewerk. Währenddessen spielt Jakov auf der Geige. Gegen Abend legt sich Marfa krank ins Bett. Jakov zieht aus Langeweile in seinem Ausgabenbuch die Jahresbilanz und errechnet einen Verlust von mehr als tausend Rubel. Der in seine absurden Rechnungen vertiefte und ob der überall entstehenden Verluste verzweifelte Sargmacher hat keinen Blick für seine todkranke Frau und achtet ihrer erst dann, als sie ihn unerwartet anspricht: „Jakov! Ich sterbe!Ŗ (299). Nun erst schaut er auf seine Frau: „Ihr Gesicht war rosafarben vor Hitze, ungewöhnlich klar und frohŖ (299). Jakov versteht, dass sie stirbt und dass sie froh ist, endlich aus dieser Hütte, von den Särgen und von Jakov loszukommen. Die Sterbende hat einen glücklichen Gesichtsausdruck, so als sähe sie den Tod, ihren Befreier, und flüsterte mit ihm. Im Blick auf seine Frau erinnert sich Jakov „aus irgendeinem GrundeŖ daran, dass er sie in seinem ganzen Leben kein einziges Mal freundlich behandelt oder bedauert hat. Kein einziges Mal ist ihm in den Sinn gekommen, ihr ein Tüchlein zu kaufen oder ihr von einer Hochzeit etwas Süßes mitzubringen. Er hat sie nur angeschrien, wegen der Verluste gescholten und sich mit Fäusten auf sie gestürzt. Und um die Ausgaben zu mindern, musste sie anstatt des Tees heißes Wasser trinken. „Und er begriff, warum sie jetzt so einen seltsamen, frohen Ausdruck hatte, und ihm wurde unheimlich zumuteŖ (299).15 Am nächsten Morgen bringt Jakov seine Frau ins Krankenhaus. Der grobe Feldscher, den Jakov mit unterwürfiger Rede zu irgendeiner Behandlung (Schröpfköpfen, Blutegeln) zu überreden sucht, macht ihm keine Hoffnung und gibt ihm zu verstehen, dass die Neunundsechzigjährige lang genug gelebt habe.16

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2. In die Hütte zurückgekehrt, nimmt Jakov mit der eisernen Elle von der noch Lebenden Maß, da nun vier Tage bevorstehen, an denen er nicht arbeiten kann, und beginnt mit der Anfertigung des Sarges. In sein Ausgabenbuch trägt er ein „Sarg für Marfa Ivanova Ŕ 2 Rubel 40 KopekenŖ. Gegen Abend spricht Marfa ihn ein zweites Mal an: ob er sich erinnere, dass sie vor 50 Jahren ein blondgelocktes Kindchen hatten und dass sie zusammen am Fluss saßen und unter der Weide Lieder sangen.17 Aber ihr Mädchen sei gestorben. So sehr Jakov sein Gedächtnis auch anstrengt, er vermag sich weder an das Kind noch an die Weide zu erinnern. „Das kommt dir nur so vorŖ, erwidert er. Bei der Beerdigung liest Jakov, um Ausgaben zu vermeiden, selbst das Psalterium und nimmt kostenlose Hilfe seiner Bekannten in Anspruch. Und er ist zufrieden, dass alles würdig, anständig und billig abläuft. Sich von der toten Marfa verabschiedend, fasst er an den Sarg: „Eine gute Arbeit!Ŗ. Als er aber vom Friedhof zurückkehrt, überkommt ihn ein Unwohlsein, die Beine werden ihm schwach und ihn dürstet Ŕ die ersten Anzeichen des Typhus, der auch ihn ergriffen hat. Er erinnert sich nun erneut daran, dass er Marfa in seinem ganzen Leben kein einziges Mal freundlich behandelt oder bedauert hat, und er vergegenwärtigt sich, wie sie in den 52 Jahren gemeinsamen Lebens die Hauswirtschaft geführt und ihn umsorgt hat. Und er hat in dieser ganzen Zeit kein einziges Mal an sie gedacht, hat ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt, als ob sie eine Katze oder ein Hund gewesen wäre. Dem Sargmacher kommt Rothschild entgegen, der ihn zum Spiel ins Orchester einladen soll. Das Keuchen des Juden, sein Blinzeln und die Sommersprossen stoßen Jakov ab, und ihm ist es zuwider, den grünen Gehrock mit den dunklen Flicken und die ganze gebrechliche, schmale Figur zu sehen. Er herrscht den Juden an: „Geh mir aus den Augen! Es ist ja nicht auszuhalten mit Euch Gesindel!Ŗ (302), und Rothschild stößt wieder eine seiner unrealisierbaren Drohungen aus: Wenn Jakov nicht innehalte, werde er ihn über den Zaun schmeißen. Der Jude läuft vor Jakovs Fäusten davon, wird von den Gassenjungen mit „Jid! Jid!Ŗ verhöhnt und von den Hunden mit Gebell verfolgt. Ein Hund muss Rothschild gebissen haben. Jakov nimmt einen verzweifelten Schmerzensaufschrei wahr. In der Begegnung mit Rothschild zeigt Jakov, der sich kurz zuvor sein schändliches Verhalten zu Marfa bewusst gemacht hat, noch keine Spur des prozrenie. Es ist hier aber nicht von einem „RückfallŖ zu sprechen.18 Jakovs Umdenken betrifft hier erst nur sein Verhalten zur Ehefrau und hat noch nicht den Kreis weiterer Personen erreicht. 3. Offensichtlich von Marfas Frage nach seiner Erinnerung geleitet, geht Jakov zum Fluss. Auf dem Weg verfolgen diesmal ihn die Gassenjungen „Bronza kommt! Bronza kommt!Ŗ (Der arme Sargmacher ist also in der Gesellschaft des Städtchens ebensowenig geachtet wie der arme Jude). Am Fluss sieht Jakov eine breite alte Weide mit einer riesigen Höhlung, deren Anblick ihm die tief vergessene Vergangenheit vergegenwärtigt. Und in seinem Gedächtnis ersteht der Säugling mit den blondgelockten Haaren und die Weide, von der Marfa gesprochen hat. „Ja, das ist dieselbe Weide Ŕ grün, still, traurig. Wie alt sie geworden

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ist, die Arme!Ŗ (303). Jakov fragt sich, warum er in den vergangenen vierzig oder fünfzig Jahren kein einziges Mal am Fluss war, und er stellt sich vor, welchen Gewinn man aus Fischfang, Bootsbetrieb und Gänsezucht hätte ziehen können. Und er hat das alles versäumt, nichts davon hat er unternommen. „Welche Verluste! Ach, welche Verluste!Ŗ (303). Und wenn man alles das zusammen mit dem Geigenspiel gemacht hätte, welches Kapital hätte das ergeben? Das Leben war ohne Nutzen, ohne jedes Vergnügen vergangen, es war vertan, für nichts und wieder nichts. Blickte man voraus, so war nichts geblieben, blickte man zurück, so gab es nichts als Verluste, solch schreckliche, dass es einen schauderte. In einer merkwürdigen Expansion weitet Jakov in seinem Prozess des prozrenie seinen eigentümlichen Begriff des Verlustes, den er, nicht getätigte Geschäfte einschließend, schon in einem sehr weiten Sinne gebraucht hat, vom Merkantilen auf die Natur und die zwischenmenschlichen Beziehungen aus: „Und warum kann der Mensch nicht so leben, dass es diese Einbußen und Verluste nicht gibt? Es fragt sich, wozu hat man den Birkenwald und den Kiefernwald abgeholzt? Wozu bleibt die Viehweide ungenutzt? Wozu machen die Menschen immer gerade nicht das, was nötig wäre? Wozu hat Jakov sein ganzes Leben geschimpft, gebrüllt, ist er mit Fäusten losgegangen, hat er seine Frau gekränkt und, so fragt er sich, wozu war das nötig, dass er vorhin den Juden erschreckt und beleidigt hat? Wozu überhaupt lassen die Menschen einander nicht leben? Welche Verluste man davon hat! Welche schrecklichen Verluste! Wenn es keinen Hass und keine Bosheit gäbe, hätten die Menschen voneinander einen riesigen NutzenŖ (304). 4. Am nächsten Tag begibt sich Jakov ins Krankenhaus und versteht, dass auch ihm nicht mehr geholfen werden kann. Auf dem Nachhauseweg dreht sich die Spirale seiner Überlegungen um eine Windung weiter: „Vom Tod hat man einzig und allein einen Nutzen: Man braucht nicht zu essen und zu trinken und Steuern zu zahlen und Menschen zu kränken, und da der Mensch nicht nur ein Jahr im Grab liegt, sondern Hunderte, Tausende von Jahren, ergibt sich, wenn man alles zusammenzählt, ein riesiger Nutzen. Vom Leben hat der Mensch Verluste und vom Tod NutzenŖ (304). 5. In diesen Gedanken an das verlorene, verlustreiche Leben lässt Jakov auf der Schwelle seines Hauses und seines Lebens die Geige die traurige Weise singen, und den sich mit allen Zeichen der Furcht nähernden Rothschild ruft er diesmal freundlich heran. Als der Geistliche ihn in der Beichte nach einer besonders schweren Sünde fragt, erinnert sich Jakov wieder an das unglückliche Gesicht Marfas und den verzweifelten Schrei des Juden, den der Hund gebissen hat, und er trägt dem Beichtvater kaum hörbar auf: „Die Geige geben Sie RothschildŖ (305).

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Paradoxien und Absurditäten Ĉechovs Erzählung repliziert unübersehbar auf einen ganz prominenten Text: auf Puńkins „GrobovńĉikŖ (Der Sargmacher, 1831).19 Adrijan Prochorov, der Held dieser Novelle, ist ein ähnlich düsterer Charakter wie Jakov Ivanov. Gewöhnlich mürrisch und nachdenklich, bricht er sein Schweigen nur, um seine Töchter zu schelten oder um für seine Produkte einen überhöhten Preis zu verlangen. Im Gegensatz zu den Totengräbern bei Shakespeare und Walter Scott, die fröhliche und zu Scherzen aufgelegte Menschen waren, ist Puńkins Sargmacher von einer Wesensart, die seinem düsteren Gewerbe völlig entspricht. Er ist normalerweise in traurige Überlegungen an die unvermeidlichen Ausgaben versunken. Ähnlich wie dann Jakov Ivanov betrachtet er eine entgangene Beerdigung als Verlust. Ĉechovs Held hat einen Verlust von mindestens 10 Rubel erlitten, als der schon zwei Jahre kranke Polizeiaufseher zur Behandlung in die Gouvernementsstadt fuhr und dort „mir nichts dir nichtsŖ starb. Die beiden Helden sind sich der Besonderheiten ihres Gewerbes nicht recht bewusst und wollen vornehmlich erfolgreiche Geschäftsleute sein. Uneingedenk dessen, dass sie vom Sterben leben, verwandeln sie das wahre Paradoxon ihres Berufs in eine Absurdität. So kann Puńkins Sargmacher nicht verstehen, dass die deutschen Handwerker auf Schulzens Silberhochzeitsfeier über die Aufforderung, wie alle anderen auf die Gesundheit seiner Kunden zu trinken, laut auflachen. Es ist das bewusst gemachte Paradoxon, das das spontane Lachen auslöst. Prochorov, der zu Unrecht seinen Beruf verlacht wähnt, ist verstimmt und lädt zu seiner Umzugsfeier nicht die deutschen Nachbarn, die „UngläubigenŖ, sondern die „rechtgläubigen TotenŖ ein. Ĉechovs Held beklagt sich darüber, dass die alten Leute in seiner Stadt zu selten sterben, und seine Bilanzen, die einen Verlust auch dort ausweisen, wo gar kein Geschäft stattgefunden hat, sind nicht anders als absurd zu nennen. Ja, er zählt zu seinen Verlusten sogar noch die Zinsen für die nicht gemachten Einnahmen aus nicht zustandegekommenen Beerdigungen. Auf der dritten Stufe seines prozrenie rechnet Jakov zu den merkantilen Verlusten auch die Einbußen in der Natur und in den zwischenmenschlichen Beziehungen, und auf der vierten Stufe zieht er schließlich die radikale Bilanz, dass der Mensch einzig vom Tod einen Nutzen habe. Die Schlussfolgerung ist absurd und paradox zugleich; absurd, insofern sie merkantil gedacht ist, paradox, das heißt scheinbar widersinnig, in Wirklichkeit aber tief wahrheitshaltig, insofern Jakov als Sterbender tatsächlich den moralischen Verlusten, die sein Leben begleitet haben, ein Ende setzt und zum erstenmal einen (materiellen und moralischen) Gewinn erzielt: Er übergibt dem verhassten Juden sein „WaisenkindŖ, die Geige. Die Erzählperspektive Der Erzähleingang führt unmittelbar in den Wertehorizont des Sargmachers ein: „Das Städtchen war klein, mieser als ein Dorf, und es lebten in ihm fast nur alte Leute, die so selten starben, dass es ärgerlich war. Ins Krankenhaus aber und in

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das Gefängnis wurden nur sehr wenige Särge bestellt. Mit einem Wort, die Geschäfte liefen miserabelŖ (297). Das ist nicht erlebte Rede (NPR, „nesobstvenno-prjamaja reĉřŖ), als die die vorliegende Form der Interferenz von Erzählerund Figurentext häufig bezeichnet wird.20 Die figuralen Wertungen der Sätze sind nicht Inhalte des aktuellen Figurenbewusstseins, ja die Figur hat die Bühne der Erzählung noch gar nicht betreten.21 Es handelt sich hier um eine verwandte Form der Textinterferenz, die im Russischen als „nesobstvenno avtorskoe povestvovanieŖ (NAP), „uneigentliches AutorerzählenŖ22 bezeichnet wird. Für das Deutsche bietet sich der von Johannes Holthusen eingeführte Terminus „uneigentliches ErzählenŖ23 an. Die erlebte Rede gibt in der Gestalt der Erzählerrede mit geringerer oder größerer narratorialer Transformation den Text der Figur, aktuelle Inhalte des Personenbewusstseins wieder. Das uneigentliche Erzählen ist dagegen authentische Rede des Erzählers, die in variabler Dichte charakteristische, nicht aber unbedingt aktuelle Wertungen und Benennungen aus dem Figurentext übernimmt.24 Dieses uneigentliche Erzählen organisiert in „Skripka RotńilřdaŖ die Darbietung der Handlung, die mit Marfas Erkrankung am „6. Mai des vorigen JahresŖ einsetzt, und die Präsentation der Vorgeschichte. Zur Vorgeschichte gehört auch die Beschreibung des jüdischen Orchesters und die Wahrnehmung seiner Musik als Kakophonie. Hier wird deutlich, dass der Erzähltext in den Wertungen (also in der ideologischen Perspektive) ganz dem Horizont des Helden folgt: „Wenn Bronza im Orchester saß, so schwitzte und rötete sich sogleich sein Gesicht; es war heiß, es roch stickig nach Knoblauch, die Geige kreischte auf, am rechten Ohr krächzte der Kontrabass, am linken weinte die Flöte, auf der der rothaarige, dürre Jude mit dem ganzen Netz roter und blauer Äderchen im Gesicht spielte, der den Namen des bekannten Reichen Rothschild trugŖ (297). Ein großer Teil des Erzähltextes dient der Darstellung von Jakovs Innenwelt, seiner inneren Reden, Gedanken und Wahrnehmungen. Der Figurentext, der die mentalen Handlungen des Helden umfasst, wird sowohl in der Schablone der direkten Rede als auch der indirekten und erlebten Rede wiedergegeben. Die direkte Rede erscheint nicht selten ohne graphische Markierung und fällt, wenn Personalpronomina fehlen, mit erlebter Rede zusammen: „Ja, das ist dieselbe Weide, grün, still, traurig… Wie alt sie geworden ist, die Arme!Ŗ (303). Die indirekte Darstellung der Reden, der Gedanken und Wahrnehmungen findet sich durchweg in ihrer figuralen Variante, folgt also axiologisch und sprachlich dem Figurentext und geht häufig in erlebte Rede über, die meistens in der im Russischen möglichen Variante mit dem Tempus des Figurentextes, in der Regel also im Präsens, erscheint: „Auf dem Weg nach Hause überlegte er, dass man vom Tod einzig und allein Nutzen habe: Man braucht nicht zu essen, nicht zu trinken, keine Steuern zu zahlen, nicht Menschen zu kränkenŖ (304). Wir nehmen Jakov, seine Vorgeschichte und seine Verwandlung also ganz aus seiner axiologischen oder ideologischen Perspektive wahr. Der objektive Erzähler versagt sich eigene Wertungen und wertende Akzente wie etwa ironische

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Intonation. Er passt sich auch in der Lexik und Syntax dem sprachlichen Horizont des Helden an. Ebenso ist die räumliche Perspektive figural. Die Außenwelt wird nur in dem Maße erfasst, wie sie in das Wahrnehmungsfeld des Helden fällt. Die zeitliche Perspektive ist indes narratorial. Der zeitliche Nullpunkt des Erzählens liegt nach Marfas und Jakovs Tod, die beide dem „vergangenen JahrŖ zugewiesen werden. Der temporale Standpunkt des Erzählers wird im letzten Absatz markiert: „Und jetzt fragen alle in der Stadt: Woher hat Rothschild eine so gute Geige? […] Er hat schon lange die Flöte aufgegeben und spielt jetzt nur noch auf der GeigeŖ (305). Thematische Äquivalenzen Die thematischen Äquivalenzen, also Similarität und Kontrast zwischen thematischen Einheiten, bilden das Sinngerüst einer Geschichte. Die Merkmale, die in ihnen aktualisiert sind, bestimmen die kategoriale Struktur der fiktiven Welt und fungieren im Bedeutungsaufbau des Werks als Träger sekundärer, symbolischer oder konnotativer Bedeutungen.25 „Skripka RotńilřdaŖ bezieht wesentliche Kategorien für den Aufbau der erzählten Welt aus den Merkmalen Form und Material von Gegenständen. Der Sargmacher lebt in, von und mit hohlen Holzkörpern, er lebt in „einer alten kleinen HütteŖ (izba), die nur aus einem Raum besteht, er lebt von den Särgen, und er lebt mit der Geige, auf der er manchmal für Geld auf Hochzeiten spielt und die nachts neben ihm auf dem Bett liegt. In diese Reihe, die im übrigen auch phonisch etabliert ist (skripka ≈ grob), gliedert sich ein weiterer Hohlkörper aus Holz ein, die Kähne (bark-i, phonisch eine anagrammatische Umkehrung sowohl von grob-y als auch von s-kripka), die sich Jakov, am Ufer des Flusses sitzend, in der Erinnerung an eine längst vergessene Vergangenheit als Mittel leichteren Broterwerbs vorstellt: „Man hätte wieder versuchen können, Kähne fahren zu lassen, das ist besser, als Särge zu machenŖ (303). Der Gegenstand, der, von der sterbenden Marfa gleichsam als Inbegriff einer glücklichen Vergangenheit erwähnt, in Jakov die unversehene Vergegenwärtigung des tief Vergessenen auslöst, ist ebenfalls ein hohler Holzkörper, dessen Name sich auch phonisch in die Reihe eingliedert: die „breite alte Weide [verba] mit der riesigen HöhlungŖ (303). Der Weg, den Jakovs Vorstellung von der alten verba der Gegenwart zu den barki der Vergangenheit und zur jungen berezka („BirkeŖ) der Gegenwart zurücklegt, ist in der Geschichte durch thematische Äquivalenz markiert (Merkmal: hölzern) und in dem russischen Original durch die phonische Äquivalenz der die Gegenstände bezeichnenden Wortlaute unterstrichen: „Und da war eine breite, alte Weide mit einer riesigen Höhlung und auf ihr Krähennester... Und mit einem Mal erwuchs in Jakovs Gedächtnis, wie lebendig, der Säugling mit den blondgelockten Haaren und die Weide, von der Marfa gesprochen hatte. Ja, das war dieselbe Weide Ŕ grün, still, traurig... Wie alt sie geworden ist, die Arme! Er setzte sich unter sie und begann sich zu erinnern. Auf dem anderen Ufer, wo jetzt eine Schwemmwiese war, hatte damals ein großer Birkenwald gestanden, und dort, auf dem kahlen Berg, der am

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Horizont zu sehen war, hatte damals ein uralter Kiefernwald geschimmert. Auf dem Fluß waren Kähne gefahren. Und jetzt war alles eben und glatt, und auf dem anderen Ufer stand einzig und allein eine Birke, jung und schlank wie ein vornehmes Mädchen, und auf dem Fluß waren nur Enten und Gänse, und es sah nicht danach aus, als wären hier einmal Kähne gefahrenŖ (303). Die Reihe der hölzernen Gegenstände, in die vermittels der hohlen Weide, eines lebenden Holzes, auch noch der Birkenwald, der Kiefernwald und die Birke einbezogen werden, teilt sich nach den von der Geschichte aktualisierten Merkmalen in unterschiedliche oppositionelle Gruppen auf: Nach dem Merkmal der Zeit ergibt sich die Opposition Vergangenheit (junge Weide, Birkenwald, Kiefernwald, Kähne) vs. Gegenwart (alte, hohle Weide, einzelne Birke, Särge), eine Opposition, die Verlust an Lebensfülle konnotiert. Unter dem Aspekt des Modus steht der nicht realisierten Möglichkeit („Fische fangen, auf der Geige spielen, Kähne fahren lassen, Gänse schlachtenŖ; 303) die schlechte Realität (Anfertigung von Särgen, seltenes Spiel auf der Geige) gegenüber. Diese Opposition konnotiert Verlust an Erwerbsmöglichkeiten. Das Merkmal organisches Leben scheidet das tote Holz (Kähne, Geige, Särge) von den lebenden Bäumen, und nach dem Merkmal Beseeltheit stehen den unbeseelten Kähnen, Särgen und Wäldern die anthropomorphisierten Hölzer alte Weide, junge Birke und „singendeŖ Geige gegenüber. Diese Teilreihen kann man nun in vielfältige Relationen bringen und erhält dadurch sehr unterschiedliche Konnotate. Wenn man die rezeptive Sinnlinie auf das Bewusstsein bezieht, in dem die hölzernen Gegenstände zur Anschauung gelangen, dann bringen die Oppositionen die widersprüchlichen Seiten in Jakovs Wesen zum Vorschein, wobei sich die Antinomien bei ihrer Projektion auf die Achse der Zeit und das Spektrum der Modi auflösen. Als Produzent der Särge, das heißt als jemand, der vom Tod sowohl des lebenden Holzes als auch der Menschen profitiert, ist Jakov ein Mann der schlechten Gegenwart, die durch Verlust an Lebensfülle charakterisiert wird. Als Betreiber der Kähne gehört er zur sowohl lebensvollen als auch gewinnträchtigen Vergangenheit oder zur potentiellen, aber nicht realisierten Gegenwart. Als Spieler auf der Geige ist er sowohl der verlustreichen realen Gegenwart zugeordnet (vor dem Tode macht er auf der Geige keinen nennenswerten Gewinn) als auch der potentiellen Gegenwart und der Zukunft nach seinem Tode: Der „riesigeŖ Gewinn, den er, der vortreffliche Geigenspieler, hätte machen können, wird nach seinem Tod von Rothschild realisiert, dem er die Geige übergeben hat. Der hölzernen Reihe steht eine metallene gegenüber. Sie wird einerseits durch die „eiserne ElleŖ etabliert, mit der der Sargmacher von vornehmen und weiblichen Kunden Maß nimmt, während er Särge für Männer nach seinem eigenen Maß anfertigt und Kindersärge („LappalienŖ), ohne Maß zu nehmen, andererseits durch den Spitznamen Bronza (Bronze) selbst.26 Die Opposition Holz vs. Metall konnotiert in dem hochkomplexen Netz von Bezügen unter anderem die Bedeutungen organisch vs. anorganisch, geformter

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Körper vs. ungeformte Materie, weich vs. hart. Jakov, der an beiden Reihen teilhat Ŕ er ist „BronzeŖ, misst mit der eisernen Elle, lebt aber in, von und mit den Holzkörpern Ŕ, wird wiederum antinomisch charakterisiert: Als Sargmacher ist er Metall, harte, ungeformte, anorganische Materie, als Geigenspieler ist er weicher, organischer, geformter Körper. Betrachtet man die Metallreihe (Bronze Ŕ Eisen) für sich, dann erhält Bronze die zusätzliche Konnotation archaisch; denn es repräsentiert die primitivste Stufe in der Folge der metallenen Kulturzeitalter. Diesen Bedeutungswert aktiviert die Integration eines weiteren Glieds in die Metallreihe, nämlich des von Jakov gepeinigten Juden, dessen Name mit dem des Sargmachers funktional und lexikalisch äquivalent wird: Während Jakov, der mit Nachnamen Ivanov heißt, von den Gassenjungen mit „Bronza! Bronza!Ŗ verhöhnt wird, heißt der, dem sie „Jid! Jid!Ŗ nachrufen, Rothschild. Wenn man die äquivalenten Namen Bronze und „Rot“(h)-„Schild“ im Wortsinn versteht, scheint in ihnen die Opposition von primitiv vs. fein, roh vs. geformt sowie arm vs. reich und friedlos vs. friedfertig auf: Der Name der sprichwörtlich reichen Rothschilds konnotiert das friedliche goldene Zeitalter des Mythos, während Bronze für das unfriedliche, ärmere eherne Zeitalter (russ. bronzovyj vek) steht. Die Opposition der von Bronza und Rotšil’d konnotierten Bedeutungen geht schließlich eine äußerst komplexe Beziehung mit der in der Geschichte dominierenden Opposition von „VerlustŖ und „NutzenŖ ein. Der „VerlustŖ, die Grundkategorie in Jakovs Denken, wird an unterschiedlichen Objekten und mit verschiedenen Bedeutungen durchgespielt. Zunächst bezeichnet er den nicht realisierten Gewinn des Sargmachers, dann das Kapital, das Jakov aus Fischfang, Geigenspiel, Betrieb von Kähnen und Gänsezucht hätte ziehen können. In der Szene am Fluss, unter der Weide, scheint dann zum ersten Mal ein „VerlustŖ ganz anderer Art auf: der Verlust an Natur und Lebensfülle. Schließlich wird der „VerlustŖ zur moralischen Kategorie, die die Inhumanität des menschlichen Zusammenlebens bezeichnet. Vor seiner Erinnerung und dem sie begleitenden prozrenie hat Ivanov trotz seines schönen Geigenspiels keinen Gewinn erzielt, weil er archaisch, primitiv, eben Bronze war; als Sterbender erzielt er einen Gewinn, indem er sein Kostbarstes Rothschild schenkt. Der zur Vergebung fähige Jude, der die beklagenswerten Verluste, die die Menschen einander zufügen, buchstäblich am eigenen Leibe spüren musste, bringt den Sieg des beseelten Holzes über das harte Metall, der sich in der inneren Umkehr des sterbenden Sargmachers ereignet, als dessen Erbe zur sinnfälligen, musikalischen Erscheinung. Deshalb heißt die Novelle zurecht „Rothschilds GeigeŖ. Phonische Äquivalenzen Ĉechovs ornamentalisierendes Erzählen erweckt gelegentlich den Eindruck, als wäre der Zusammenhang der thematischen Einheiten nicht nur durch das Geschehen bestimmt, sondern auch von phonischen Ordnungen des Diskurses ge-

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steuert.27 Man kann sogar beobachten, dass der Name Rothschild, genauer: der zweite Teil seines Klangbilds -šil’d (phonetisch [ńylřt]) durch die Lautgestalt jener figuralen, die Wertungsposition Jakovs kundgebenden Wörter motiviert wird, die Rothschilds Beschimpfung als „JidŖ (žid), seine hagere (toščij) Gestalt, seine rötliche (ryžij) Haarfarbe und die in seinem Gesicht hervortretenden Adern (žily) bezeichnen. Dieses spezifisch wortkünstlerische Verfahren der thematischen Überdeterminierung phonischer Äquivalenzen zeigt sich deutlich am Kulminationspunkt der Geschichte von „Rothschilds GeigeŖ.28 Der sterbende Jakov sitzt auf der Schwelle seiner Hütte. In Gedanken an das „verlorene, verlustreicheŖ Leben entlockt er seiner Geige eine ganz neue, „klagende und rührendeŖ Weise, die ihm, dem rohen Sargmacher, Tränen entlockt: „I ĉem krepĉe on dumal, tem peĉalřnee pela skripka. Skripnula ńĉekolda razdrugoj, i v kalitke pokazalsja RotńilřdŖ (Und je stärker er nachdachte, desto trauriger sang die Geige. Es knarrte der Türriegel ein-, zweimal, und in der Pforte erschien Rothschild; 304 f.). Der erste Satz bringt dieses traurige Singen der Geige nicht nur thematisch, vielmehr auch phonisch in eine Abhängigkeit von Jakovs tiefem Nachdenken: krepče [„stärkerŖ] erscheint in skripka [„GeigeŖ] und pečal’nee [„traurigerŖ] in seine lautlichen Bestandteile zerlegt. Durch diese Isotopie thematischer und phonischer Beziehungen sensibilisiert, wird der Leser danach auch den zweiten Satz sowie seine Anknüpfung an den ersten aufmerksam wahrnehmen. Die Wörter an der Nahtstelle der Sätze, skripka („GeigeŖ) und skripnula („knarrteŖ), die Ŕ grundsätzlich kombinierbar Ŕ hier gleichwohl Agens und Actio zweier ganz unterschiedlicher Handlungen bezeichnen, bilden eine Paronomasie. Sie wiederum suggeriert einen mehr als nur zufälligen Zusammenhang der Handlungen. Die phonische Ordnung des Diskurses stiftet also einen Handlungsnexus, der in der Geschichte selbst nicht ausgeführt ist. Voraussetzung dafür ist freilich, dass der Leser das Prinzip der Äquivalenz von der Klang- auf die Handlungsebene projiziert. Das aber fordert die tendenzielle Ikonizität des ornamentalen Erzählens. Wenn im Diskurs skripnula wie ein verbales Echo auf skripka klingt, so erscheint in der Geschichte das mehrmalige Knarren des Türriegels, das den ängstlich zögernden Rothschild ankündigt, als Folge, als Handlungsecho der singenden Geige. Man wird noch weiter gehen können: Rothschilds Auftreten ist sowohl durch die Geschichte als auch durch den Diskurs motiviert. Und in der Geschichte ist es auf doppelte Weise begründet: Rothschild soll den Auftrag des Orchesterleiters erfüllen, nämlich Jakov zum Spiel bei einer Hochzeit einladen, aber er scheint auch dem Klang der Geige zu folgen. Und das phonische Ornament des Diskurses suggeriert: Rothschild, den metonymisch die knarrende (skripnula) Türklinke vertritt, ist auch vom Klang jenes Wortes (skripka) ‚herbeigerufenŘ, das metonymisch den auf der Schwelle des Todes neue Gedanken denkenden Jakov Ivanov bezeichnet.

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Das jüdische Thema Im Zentrum der Erzählung „Skripka RotńilřdaŖ steht nach dem Urteil Efim Ėtkinds das jüdische Thema.29 Der Gegensatz des Sargmachers mit dem geläufigsten russischen Namen Ivanov und des Flötisten mit dem bekanntesten jüdischen Namen Rothschild werde im gemeinsamen Empfinden der Musik und in den gemeinsamen Tränen aufgelöst. Jakovs Verhältnis zu Rothschild entwickle sich vom Hass zur Liebe. Das ist zu unkritisch gesehen oder zu einfach ausgedrückt. Ĉechov beschreibt in der Entwicklung seiner Figuren immer nur den Augenblick, stellt die innere Befindlichkeit seiner Figuren in einem durch äußere wie auch innere Faktoren bestimmten Moment ihrer Geschichte dar und schließt Hochrechnungen auf den nächsten Moment oder gar auf Allgemeingültiges aus. In einem Moment ihrer gemeinsamen Geschichte sind Ivanov und Rothschild gewiss in der Musik und in den Tränen miteinander „verschmolzenŖ, wie Ėtkind emphatisch konstatiert, aber ihr Gegensatz ist dadurch noch nicht aufgehoben.30 Jakov Ivanovs Antisemitismus ist von besonderer, selektiver Art. Er richtet sich hauptsächlich gegen den schwachen, furchtsamen und sensiblen Rothschild, merkwürdigerweise nicht aber gegen Moisej Ilřiĉ Ńachkes, den Leiter des jüdischen Orchesters. Dessen Beruf Verzinner bringt ihn in die Reihe der metallischen Motive. Sein Name geht auf hebräisch śạhạr „anwerben, kaufen, bestechenŖ zurück, das auch dem deutschen Wort Schacher zugrunde liegt.31 Die Berufsbezeichnung ludil’ščik ist von dem Verb ludít’ abgeleitet, das nicht nur „verzinnenŖ bedeutet, sondern auch „betrügen, Spitzbübereien treibenŖ.32 Mit dieser zweiten Bedeutung von ludít’ wird in ludil’ščik ein thematisches Merkmal aktiviert, das, mit der Bedeutungspotenz des Namens Šachkes konvergierend, den geldgierigen Orchesterleiter charakterisiert, der mehr als die Hälfte des jeweils eingespielten Gewinns für sich behält. Dieses Verhalten, das dem antisemitischen Klischee des geldgierigen Juden entspricht, wird vom Judenhasser Jakov Ivanov merkwürdigerweise gleichmütig hingenommen. In Rothschild, der in der Geschichte ohne Vornamen und Patronym bleibt (während sein Orchesterleiter mit beidem ausgestattet ist), verkörpert sich für Jakov offensichtlich das Judentum. Jakov reizt sicher die Schwäche und Hilflosigkeit des Flötisten, der ihm als ein geeignetes Opfer seiner Aggressionen erscheint, während er ganz offensichtlich vor dem „VerzinnerŖ und Orchesterleiter Respekt hat, nicht zuletzt zweifellos auch, weil dieser einen ordentlichen Gewinn macht. Gegen Lija Levitan, die auch dem schimpfenden Rothschild Grobheit, Feindschaft und Erniedrigung unterstellt33, ist einzuwenden, dass diese absurden Drohungen des Flötisten lediglich die hilflose Empörung des grundlos Beleidigten, aber keine Aggression ausdrücken. Bei der Überarbeitung der Erzählung für die zweite Ausgabe im Band „Povesti i rasskazyŖ in einer Zeit der in Russland tobenden Pogrome und des offiziellen Antisemitismus hat Ĉechov die antisemitischen Akzente Ivanovs noch verstärkt, indem er dort, wo der Erzähltext sprachlich Jakovs Position reproduziert, evrej durch žid, die neutrale russische Bezeichnung des Juden durch die

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pejorative, ersetzt, in narratorialen Partien dagegen evrej belassen hat. Außerdem wird Rothschild in der zweiten Ausgabe sprachlich durch Schtetl-Formen des Russischen charakterisiert (ńvadřba, záraz, celovek, vi).34 Antisemitische Klischees klingen auch in den misstrauischen Fragen der Bewohner des Städtchens nach der Herkunft von Rothschilds guter Geige an: „Hat er sie gekauft oder gestohlen, oder ist sie ihm vielleicht als Pfand zugefallen?Ŗ (305). Im Singen am Fluss unter der Weide, das Marfa dem erinnerungslosen Jakov vergegenwärtigt, erkennt Robert Louis Jackson35 eine Anspielung auf den 137. Psalm, der in der Übersetzung von Martin Luther mit den Versen beginnt: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind.Ŗ Ĉechov mag durchaus an den Psalm gedacht haben, zumal der lateinische Name der eigentlichen Trauerweide, Salix babylonica, an die babylonische Gefangenschaft erinnert, aber es lässt sich keine prägnante intertextuelle Äquivalenz zwischen den Figuren und Situationen herstellen.36 Mit den an den Flüssen Babylons sitzenden Juden, die, von ihren Unterdrückern bedrängt, sich zu singen weigern, ist weder das vor 50 Jahren am Fluss singende Sargmacherpaar zu vergleichen noch der am Fluss nun die Vergangenheit erinnernde Jakov Ivanov. Einen Kontakt zwischen den Texten stellen allenfalls zwei Motive her, die Bedrängnis der Juden im fremden Land und das Thema des Vergessens und Erinnerns. Relativierte Ereignishaftigkeit Wie weit reicht Jakov Ivanovs prozrenie? Welcher Grad von Ereignishaftigkeit kommt ihm zu?37 Sowjetische Deutungen tendieren dazu, Jakovs prozrenie, vornehmlich in der Verallgemeinerung der Rede von den „VerlustenŖ, als Aufruf Ĉechovs zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu deuten oder zumindest in Jakovs „neuen Gedanken über das LebenŖ einen „Sieg über den TodŖ zu sehen.38 Die jüdische Thematik wird dabei auffällig ausgespart. Und im Westen spricht Gary Rosenshield in hochreligiösen Formeln von Jakovs „epiphany and awakeningŖ, „resurrection from the deadŖ und „spiritual rebirthŖ.39 Wir haben jedoch eine Reihe von Einschränkungen zu machen, die die Ereignishaftigkeit der Erzählung relativieren. Zunächst ist zu bedenken, dass Jakovs prozrenie für sein Leben zu spät kommt. Das reiht die Geschichte in die Gruppe der Ĉechov-Erzählungen vom zu spät eintretenden Ereignis ein, deren prominenteste „ArchierejŖ (Der Erzpriester, 1902) ist. Selbst wenn Jakovs neues Denken resultativ ist, mangelt es ihm in jedem Fall an Konsekutivität, die ein Kriterium für volle Ereignishaftigkeit darstellt. Die Ereignishaftigkeit steigt in dem Maße, wie die Zustandsveränderung Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts hat.40 Jakovs prozrenie kann für sein Leben keine Folgen mehr haben. Und seine „neue WeiseŖ, die Rothschild auf Jakovs Geige wiederholt, rührt zwar die Kaufleute und Beamten in der Stadt, wird aber nicht die Welt verändern. Wie wenig

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die Bewohner des Städtchens von Jakovs prozrenie und der neuen Weise berührt sind, erweisen ihre misstrauischen Fragen nach der Herkunft von Rothschilds guter Geige. Es steht zu befürchten, dass sich die Wirkung der neuen Weise in der Rührung der Hörer und in Rothschilds kommerziellem Gewinn erschöpft. Das bringt in das Finale dieser tiefernsten Erzählung eine ironische Note, die nur von wenigen Interpreten konstatiert wird. Dann erfährt das prozrenie eine Relativierung dadurch, dass Jakov das merkantile Denken in den Kategorien von Verlust und Nutzen, auf das er fixiert ist, auch als Sterbender nicht überwinden kann. Die ethischen „VerlusteŖ, die er nun beklagt, bringt er ja mit den kommerziellen in eine Reihe. Diese Gleichsetzung stellt die Reichweite seines Umdenkens nicht unwesentlich in Frage. Wenn Jakov die Verluste in der Umwelt feststellt, scheint ihm weniger an der Erhaltung der Natur als solcher gelegen zu sein als an ihrer wirtschaftlichen Nutzung („Wozu bleibt die Viehweide ungenutzt?Ŗ). Er will ja am Fluss den Fischfang wieder einführen und Gänse züchten, um sie zu schlachten und nach Moskau zu verkaufen. Allein der Verkauf der Daunen würde im Jahr zehn Rubel ergeben. Dieser nüchtern-merkantile Plan prosaisiert sein Traumbild von den weißen Gänsen, das ästhetisches Vergnügen an der Natur zu signalisieren schien. In der Szene am Fluss hieß es: „Jakov schloss die Augen, und in seiner Vorstellung zogen riesige Scharen weißer Gänse vorüberŖ (303). Der eigentliche Durchbruch zu einem neuen Denken zeigt sich weniger in Jakovs inneren Reden und Visionen als darin, dass er den Geistlichen anweist, die Geige Rothschild zu übergeben. Aber auch diese Handlungsweise zeigt eine gewisse Einschränkung der Ereignishaftigkeit. Hätte Jakov Rothschild die Geige nicht selbst geben können? Was hat Jakov überhaupt dazu bewogen, die Geige Rothschild geben zu lassen? Rothschild ist ja Flötist und nicht Geiger. Und von einer besonderen musikalischen Begabung ist bei ihm nicht die Rede. Den Gewinn bei den gerührten Kaufleuten und Beamten macht er nur mit dem Versuch, das zu wiederholen, was Jakov auf der Schwelle gespielt hat. Nicht zu Unrecht bezeichnet Viktor Ńklovskij ihn als „gutmütigen, verstehenden, ergebenen und kraftlosen SalieriŖ.41 Unmittelbar bevor er dem Geistlichen aufträgt, Rothschild die Geige zu übergeben, hat sich Jakov an das unglückliche Gesicht Marfas und den verzweifelten Schrei des vom Hund gebissenen Juden erinnert. Darin scheint Empathie und das Motiv der Reue, vielleicht auch der Versuch einer Wiedergutmachung auf. Aber es fragt sich, ob das Vermächtnis nicht auch der väterlichen Sorge um das zurückbleibende „WaisenkindŖ, die Geige, entspringt, die Jakov bei Rothschild gut untergebracht weiß. Wenn das zuträfe, dann wäre sein Auftrag an den Geistlichen viel weniger eine „grand gesture of magnanimityŖ42, als er zunächst scheinen mochte. Es bleibt auch unentschieden, ob die Fürsorge für die Geige an dem, der von der sterbenden Frau daran erinnert werden musste, dass sie einmal ein Kind hatten, ein neues Denken zeigt oder nur wieder die alte Fixierung auf den Gegenstand, der den Menschen ersetzen soll.43

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„Skripka RotńilřdaŖ ist also die Geschichte eines nicht perfekten Ereignisses und als solche charakteristisch für das Spätwerk des Novellisten, der an unterschiedlichen mentalen Situationsveränderungen, denen die Helden unterliegen oder zu unterliegen glauben, einen Mangel an Ereignishaftigkeit erkennen lässt.

Ulrich Schmid

Fedor Sologub: Ņalo smerti (Der Stachel des Todes) Das Werk des Symbolisten Fedor Sologub weist eine hohe ideologische und stilistische Geschlossenheit auf. Sein gesamtes Schaffen lässt sich als eine Art Makrotext lesen, der in den einzelnen Gedichten, Dramen, Erzählungen, Romanen und Essays unterschiedliche, aber doch deutlich zusammenhängende literarische Ausprägungen gefunden hat. Sologub ist kein gesellschaftskritischer Autor, sein Schreiben unterscheidet sich grundsätzlich vom fiktionalen Diskurs, der im psychologisierenden Roman des 19. Jahrhunderts vorherrscht. Seine Texte sind moderne Mythen: Sie bilden die Wirklichkeit nicht mimetisch nach, sondern gehen ihr deutend voraus. Hans Blumenberg betrachtet diese Qualität als konstitutiv für den Mythos: Mythisches Erzählen übersteigert das Vorhandene zu notwendig Bedeutsamem und reduziert gleichzeitig das übermächtige Weltgeschehen auf den geordneten Ablauf dessen, was in der von dem Mythos entworfenen Vorstellungswelt überhaupt möglich ist.1 Sologub hat selbst in seinem späten Essay „Poėty Ŕ vajateli ņizniŖ (Dichter Ŕ Bildhauer des Lebens, 1922) den Mythos als letzte Konsequenz dichterischen Schaffens und Erschaffens bezeichnet: „Man kann nicht nichts sehen Ŕ man muss das erschaffen, woran sich unsere Wahrnehmung später gewöhnt. Erschaffen und dann benennen. Einen Gegenstand zu benennen, heißt aber auch, über ihn ein Märchen zu erzählen, einen auch nur noch so elementaren Mythos über ihn auszudenken.Ŗ2 Letztlich präsentiert sich Sologubs Gesamtwerk als privater Mythos, der sich in den einzelnen Texten immer aufs Neue aktualisiert. Diese Besonderheit wurde bereits von Sologubs Zeitgenossen bemerkt. Mit Nachdruck hat etwa Vladislav Chodaseviĉ auf die Synchronizität von Sologubs Lyrik aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass in ihr keinerlei Evolution feststellbar sei.3 In der Tat hat Sologub auch selbst gefordert, das Gesamtwerk eines Schriftstellers als „ein großes BuchŖ zu betrachten.4 Unter seinen Notizen findet sich folgende Aufzeichnung: „Die Methode ist ein unendliches Variieren von Themen und Motiven.Ŗ5 Nicht alle Leser haben diese Einheitlichkeit geschätzt: Aleksandr Blok etwa beklagt sich bei Brjusov darüber, dass Sologub zu den „sich unermüdlich wiederholenden DichternŖ gehöre, Nikolaj Gumilev bezeichnet Sologub als „raffinierten StilistenŖ, dessen Gedichte sich allerdings kaum voneinander unterscheiden, Kornej Ĉukovskij schließlich drückt Sologubs Werk das boshafte Etikett „Konserven vergangener InspirationenŖ auf.6 Der Erzählung „Ņalo smertiŖ kommt eine paradigmatische Funktion in Sologubs poetischem System zu. Zentrale Motivkomplexe finden hier eine repräsentative literarische Gestaltung. Die konsequent dekadente Ausrichtung dieses Systems kollidierte allerdings schon früh mit den zeitgenössischen Geschmackspräferenzen. Die Veröffentlichung von „Ņalo smertiŖ gelang erst im zweiten An-

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lauf. Am 15. April 1903 schrieb der Redakteur F. Batjuńkov an Sologub: „ ‚Ņalo smertiŘ eignet sich überhaupt nicht für eine Veröffentlichung in der Zeitschrift ‚Mir BoņijŘ. Verzeihen Sie mir, dass ich so offen bin, aber ich kann die Darstellung einer solch verdorbenen Natur wie ihres kleinen Helden Vanja und seines beklagenswerten Opfers nicht gut finden.Ŗ7 Erst durch Fürsprache von Zinaida Gippius konnte die Erzählung in Septembernummer 1903 der Zeitschrift „Novyj putřŖ erscheinen. Sologub maß „Ņalo smertiŖ eminente Wichtigkeit bei Ŕ 1904 stellte er sie an den Anfang eines Erzählbands mit gleichem Titel. Die Handlung ist einfach strukturiert: Als Protagonisten treten die beiden Knaben Vanja Zelenev und Kolja Glebov auf. Vanja ist nicht nur äußerlich verunstaltet (die Dorfkinder des Petersburger Datschenvororts verspotten ihn als „DreibrauigenŖ), sondern gibt sich vorfrüh den Sinnesgenüssen der Erwachsenen hin: Er raucht Zigaretten, trinkt Alkohol und masturbiert. Sein Freund Kolja verfügt zu Beginn der Erzählung über einen entgegengesetzten Charakter: Er lacht viel, liebt die Natur und ist seiner Mutter herzlich zugetan. Vanja verführt ihn jedoch bald zum Rauchen und Trinken. Als Vanja deswegen von seinem Vater geprügelt wird, beschließt er sich zu rächen und Kolja umzubringen. Allerdings gerät Vanja selbst immer mehr in den Bann des Todes, als er Kolja von den Tröstungen des unbekannten Jenseits vorschwärmt. In einer stillen Mondnacht ertränkt sich Kolja im Fluß, Vanja folgt ihm nach. Die Erzählung ist trotz ihres knappen Umfangs in 20 kurze Kapitel gegliedert. Diese starke Parzellierung des Textes unterbricht immer wieder die Narration und führt dem Leser die Handlung gewissermaßen szenisch vor. Unterstützt wird dieser Eindruck durch eine sich sorgfältig einbringende Erzählinstanz, die keine individuelle Psychologisierung der Gestalten vornimmt, sondern die dargestellte Welt auf ein dekadentes Setting hin stilisiert. Die zweiseitige mythische Grundstruktur Viele Interpreten begehen den Fehler, Sologubs poetisches System auf eine einfache Dichotomie zu reduzieren, in der sich Leben und Tod, Sonne und Mond, Sexualität und Erotik als negative bzw. positive Pole gegenüberstehen. Das Klischee des erotischschwülen „Sänger des TodesŖ haftete Sologub zeitlebens an. So überreichte ihm etwa Anna Achmatova ihren ersten Gedichtband im Jahr 1921 mit folgender lyrischer Widmung: „Deine Leier sang über der leisen Welt / Und fand ein geheimnisvolles Echo in der Stimme des Todes, / Ich aber war unwillkürlich angezogen und berauscht / Von deiner süßen Grausamkeit.Ŗ8 Eine solche Deutung liegt zwar gerade im Fall von „Ņalo smertiŖ nahe, führt allerdings nicht zu einem adäquaten Verständnis des Textes. Ein ähnliches Deutungsproblem weist auch Sologubs Roman „Melkij besŖ (Der kleine Dämon, 1907) auf, in dem der sadistische Protagonist Peredonov oft kurzschlusshaft als Inkarnation des Bösen verstanden wird. Sologub selbst hatte sich immer gegen solche eindimensionalen Reduktionen gewehrt, am deutlichsten im Vorwort zur englischen Übersetzung des Romans aus dem Jahr 1916: ŖI would be glad if my new rea-

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ders should appraise not only the detestable sinfulness and perversity of a soul warped by the force of evil, but also the great yearning of this soul Ŕ the evil will atones to a certain degree in this truly human feeling; and in this feeling the afflicted man also communes with each of us.ŗ9 Viel adäquater ist eine Deutung, die für Sologubs poetisches System eine zweiseitige mythische Struktur annimmt, die je nach Aktualisierungsmodus eine positive oder negative Ausprägung annehmen kann. Exemplarisch lässt sich diese Besonderheit an der Figur des Vanja aus „Ņalo smertiŖ vorführen. Zunächst verfügt Vanja offensichtlich über eine dämonische Natur, die durch eine Reihe von intertextuellen Signalen angezeigt wird. Immer wieder taucht der Hinweis auf den „unreinen BlickŖ auf; Vanja wird zunächst über seinen Familiennamen („Der GrüneŖ) und schließlich auch explizit mit einer Rusalka, einem Verderben bringenden Wasserwesen, verglichen. Die Selbstmordszene am Ende der Erzählung verweist deutlich auf die Versuchung Christi: Vanja hält den mit Steinsäcken beschwerten Kolja vor dem Sprung ins Wasser davon ab, ein Kreuz zu schlagen, und weist ihn darauf hin, dass Gott die Steine in den Säcken zu Brot verwandeln könne, im Falle er Kolja retten wolle. Damit nimmt Vanja die Rolle des Teufels ein, der Christus zum selben Wunder auffordert (Lk 4,4). Schließlich verwendet Sologub für die Darstellung von Vanjas Verführungskünsten zweimal eine Formulierung, die er bereits 1902 in einem satanistischen Gedicht eingesetzt hatte: И верен я, отец мой Дьявол, Обету, данному в злой час, Когда я в бурном море плавал И ты меня из бездны спас.

Und, Teufel, treu bin ich dem Schwur, Den ich in böser Stund gemacht, Als ich auf stürmischem Meere fuhr Und du mich nahmst in deine Macht.

Тебя, отец мой, я прославлю В укор неправедному дню, Хулу над миром я восставлю, 10 И, соблазняя, соблазню.

Dich, Vater, will ich ewig rühmen, Mein ist nun Rache und Vergelt, Verfluchen werd ich Ŕ und verführend 11 Verführe ich die ganze Welt.

Die so auffällige figura etymologica aus der Schlußzeile dieses Gedichts findet sich auch zweimal im Erzähltext von „Ņalo smertiŖ: „Von Vanjas Verführungen verführt, rauchte er manchmalŖ (158). Die zweite Belegstelle überbietet diesen Kunstgriff in doppelter Weise: Das Etymon „soblaznŖ erscheint sogar dreimal, und die figura etymologica wird noch in einer weiteren Wendung eingesetzt („otravlennyj otravitelřŖ): „Während er [Vanja] Kolja verlockte, verlockte er sich selbst mit der tödlichen Verlockung; er war wie ein Giftmörder, der sich mit seinem eigenen Gift vergiftetŖ (165). Vanja ist aber nicht nur der satanische Verführer, er ist auch in der Tat der Erlöser, für den er sich ausgibt. Für beide Kinder bedeutet der Tod nämlich die Befreiung von einer unerträglichen Wirklichkeit: Vanjas Eltern werden als grob und lieblos geschildert, Koljas Vater ist als Flottenoffizier abwesend, die Hauptbeschäftigung seiner Mutter besteht im Laienschauspiel. Die Theatermetapher stellt sich hier offensichtlich in den Dienst einer geläufigen Gesellschaftskritik: Die Menschen leben nicht ihr authentisches Leben, sondern spielen eine Rolle.12

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Sowohl Vanja als auch Kolja finden im Entschluss zum Selbstmord ihre Identität. Im letzten Kapitel wird Vanjas Gesicht vom Mondschein grün angeleuchtet. Damit erreicht er sein eigentliches Wesen, das im Familiennamen Zelenev angelegt ist: „ ‚Du bist ganz grünŘ, sagte Kolja. ‚Ich bin, wie ich binŘ, antwortete VanjaŖ (167). Kolja wechselt seine schauspielernde und wechselhafte Mutter gegen die ewige Erde ein. Bevor er in der Todesnacht aus dem Bett steigt, denkt er kurz an seine leibliche Mutter, folgt dann aber dem Ruf der „feuchten Mutter ErdeŖ. Solchen rhetorischen Parallelführungen kommt höchste Bedeutung zu: In Sologubs poetischem System realisieren Vanja und Kolja die Metapher des Übergangs von der lebendigen Kindheit ins tote Erwachsenenalter. In einem Gedicht aus dem Jahr 1897 spricht Sologub diesen Gedanken direkt aus: Живы дети, только дети, Ŕ 13 Мы мертвы, давно мертвы.

Es leben die Kinder, nur die Kinder, Wir sind tot, schon längst tot.

Der Ausdruck „Nur die Kinder sind lebendigŖ findet sich wörtlich als Selbstzitat auch in der Romantrilogie „Tvorimaja legendaŖ (Eine Legende im Werden, 1907) und in dem Essay „Mudrostř MeterlinkaŖ (Maeterlincks Weisheit, 1915).14 Es ist kein Zufall, dass Sologub immer wieder Kinder als Protagonisten seiner Werke auftreten lässt. Dabei kombiniert er in der Regel die Kindheit mit dem Todesmotiv: Die Kinder begehen entweder Selbstmord, in „UteńenieŖ (Tröstung), oder werden von Erwachsenen umgebracht, in „Roņdestvenskij malřĉikŖ (Der Weihnachtsknabe), „ElkiĉŖ (Der Tannerich) oder „Otrok LinŖ (Der Jüngling Linus). Im Tod finden die Kinder die Erlösung und können sich ihre Unschuld bewahren. Allerdings ist auch dieses Mythologem bei Sologub in einer doppelten Ausprägung vorhanden: In seinem Roman „Tjaņelye snyŖ (Schwere Träume, 1895) dressiert ein sadistischer Adelsmarschall seine Kinder darauf, sich tot zu stellen.15 Der Tod der Kinder wird hier zur Farce; er ist nachgerade Ausdruck der Perversionen des Erwachsenenalters. In „Tvorimaja legendaŖ hingegen steht der Alchimist Trirodov einer Kolonie „stiller KinderŖ vor, die sich in einem glückseligen Zustand absoluter Leidenschaftslosigkeit befinden. Die „toteŖ Kindheit wird hier als virtuelle Präsenz aller Lebens- und Handlungsmöglichkeiten begriffen. Trirodov erklärt den Zustand eines seiner Kinder als reine Potenzialität: „Das ist ein unbefleckter Jüngling, der noch nicht gelebt hat. Im Körper finden sich alle seine Möglichkeiten und keine einzige Realisierung. Er ist geschaffen für die Aufnahme jeglicher Energie, die ihm zuströmen will. Vorläufig schläft er, vergraben im Grab in einem engen Sarg. Er wird zu einem Leben ohne Leidenschaften und Wünsche erwachen, zum hellen Sehen und Hören, zur Wiederherstellung des einen Willens.Ŗ16 Die Anklänge an Schopenhauer sind in dieser Passage unüberhörbar. Auch die Handlungsstruktur von „Ņalo smertiŖ lässt sich adäquat in Schopenhauerschen Begriffen fassen. Vanja und Kolja unterliegen einem Quietiv des falschen Willens zum Leben. Sie ersticken alles Wollen und begrüßen den Tod als „die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seinŖ.17 Schopenhauers Philosophie führt noch auf eine weitere Deutung: Vanja und Kolja gehören als zwei Aspekte eines übergeordneten Charakters zusammen. Im Leben

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sind sie im Gefängnis ihrer unveräußerlichen Individualität eingesperrt, der Tod erlaubt ihnen, die Grenzen ihrer leiblichen Existenz zu überschreiten und zu einer höheren Einheit zu finden. Dieses Motiv, das in „Ņalo smertiŖ nur anklingt, bildet die tragende Struktur der Erzählung „Soedinjajuńĉij duńiŖ (Der Seelenvereiniger, 1906): Zwei Menschen wollen ihre Seelen in einem neuen Leben vereinigen, dazu müssen sie aber erst sterben. Kurz vor der Verschmelzung bekommt es jedoch einer der Beteiligten mit der Angst zu tun und klammert sich an seiner individuellen, aber unvollständigen Existenz fest. Unter diesem Gesichtspunkt wird auch die metaphysische Dimension von „Ņalo smertiŖ erkennbar Ŕ im Selbstmord überwinden die Knaben die Grenzen der Individuation und gehen in eine glücklichere Existenz ein. Die lunare Utopie Es ist bezeichnend, dass sich Koljas und Vanjas Selbstmord unter dem Zeichen des Mondes vollzieht. Das Lunare erscheint bei Sologub immer wieder als ästhetisierte Lebensalternative. Auch in der Schluss-Szene der Erzählung taucht dieses Motiv des Lebens auf dem Mond auf Ŕ allerdings als bereits verspielte Möglichkeit eines besseren Lebens. Vanja beschreibt Kolja das verlorene Paradies, in dem auch Sologubs erotischer Fetisch des nackten Fußes18 auftaucht: „Schau, wie hell der Mond ist. Auch dort hat es einst Menschen gegeben, sie sind aber alle gestorben. Damals war unsere Erde noch eine Sonne. Auf dem Mond war es warm; es gab dort Luft und Wasser; Tage und Nächte wechselten ab; es wuchs auch Gras, und über das taubedeckte Gras liefen lustige, barfüßige JungenŖ (167). Dieser Mythos eines glücklichen Urzustandes impliziert eine Aitiologie für die Abwertung des irdischen Lebens, aus dem Vanja und Kolja fliehen: Auch die Erde war früher eine Sonne, die in Sologubs Lyrik meist als „böser und rachedurstiger DracheŖ19 apostrophiert wird. Der Selbstmord in „Ņalo smertiŖ ist deshalb nichts anderes als eine Metapher für die Reise auf den Mond, die auch in Sologubs Romanen immer wieder auftaucht. Angedeutet ist diese Möglichkeit bereits in „Tjaņelye snyŖ, als Motiv ausgebaut wird die lunare Alternative allerdings erst in der Romantrilogie „Tvorimaja legendaŖ. Der Protagonist Trirodov will nicht nur auf den Mond emigrieren, er hat diesen Mond sogar selbst erschaffen.20 In der deutschen Übersetzung des Romans ist eine Stelle erhalten, die Sologub aus der russischen Fassung später wieder entfernt hat: „Ja, ich will, wenn es nötig sein wird, nach dem Monde übersiedeln. Sollte mich der Traum betrügen, dann werde ich mich einem anderen zuwenden. Mir genügt das eine Leben nicht, ich will mir viele andere schaffen.Ŗ21 Auch die Schlussszene von Sologubs letztem Roman „Zaklinatelřnica zmejŖ (Die Schlangenbeschwörerin, 1921) spielt sich in einer Mondnacht ab. Im Filmdrehbuch, das Sologub zu diesem Roman verfasst hat, findet sich sogar eine Tabelle mit den genauen Zeiten von Mondaufgang und -untergang. Die Sichtbarkeit des Mondes wird so präzise mit dem Fortschreiten der Handlung synchronisiert.22

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Fedor Sologub

Die dekadente Umwertung christlicher Theologeme Sologub unterlegt seiner Erzählung einen privaten Mythos, der die anthropologischen Kategorien „KindheitŖ, „IndividuationŖ und „TodŖ in einen neuen narrativen Zusammenhang bringt. Dabei bedient er sich einer christlichen Terminologie, die er aber radikal im Sinne seines eigenen Entwurfs umdeutet. Bereits der Titel der Erzählung „Ņalo smertiŖ ist als Zitat aus dem Neuen Testament zu erkennen. Wie zur Verdeutlichung nennt Sologub im Motto die genaue Quellenangabe, nämlich 1. Kor 15, 56: „Der Stachel des Todes ist aber die Sünde.Ŗ Im Originalzusammenhang des biblischen Textes begründet dieser Satz die christliche Auferstehungslehre. Allerdings wäre es falsch, „Ņalo smertiŖ aufgrund dieses Zitats als literarische Gestaltung der verheißenen Auferweckung der Toten zu deuten. Sologub hat sich in mehreren Stellen seines Werkes polemisch gegen die christliche Überwindung des Todes ausgesprochen. So heißt es in einem Gedicht aus dem Jahr 1900: Я воскресенья не хочу, И мне совсем не надо рая, Ŕ Не опечалюсь, умирая, 23 И никуда я не взлечу.

Für mich gibt es kein Auferstehn, Das Paradies, ich will es nicht Ŕ Ich sterbe ohne Trauer, schlicht, 24 Und werd dem Nichts entgegengehn.

Bereits in einem frühen Gedicht aus dem Jahr 1895 hatte Sologub die Auferstehung als Albtraum gedeutet: Мне страшный сон приснился, Как будто я опять На землю появился 25 И начал возрастать.

In bösem Traume hab ich Gar Schreckliches gesehn: In kühlem Grabe lag ich 26 Und musste auferstehn.

Sologub gewinnt der christlichen Auferstehungslehre eine dekadente Pointe ab: Erst wenn die Kategorie der Sünde überhaupt in das menschliche Leben eingeführt wird, kann der Tod seine perhorreszierende Wirkung entfalten. In diesem Sinne inszeniert die Erzählung „Ņalo smertiŖ eine Umkehrung der bürgerlichchristlichen Werthierarchie. Vom Rauchen über den Rausch bis zum Selbstmord steigert sich die Missachtung der gesellschaftlichen und religiösen Verbote. Damit bestätigen die Kinder ihre wachsende Autonomie von den Regeln der Gesellschaft, die Ŕ in den Rang von „SündenŖ erhoben Ŕ über eine falsche metaphysische Legitimation verfügen. Sologub verkehrt so die traditionell negative Wertung der Sünde in ihr Gegenteil. In einer seiner handschriftlichen Notizen wird die Sünde nachgerade zum Garanten der anthropologischen Innovation: „Was gemeinhin als Sünde bezeichnet wird, ist ein wesentliches Element des Fortschritts. Wenn es sie nicht gäbe, würde die Welt verschimmeln, veralten, farblos werden. Durch ihre Neugier bereichert die Sünde die Erfahrung der Rasse. Durch ihre hartnäckige Bestätigung des Individualismus bewahrt sie uns vor der Einheitlichkeit der Typen.Ŗ27 Als unfehlbares Anzeichen für das falsche Sündenbewusstsein wertet Sologub das Aufkommen von Schamgefühlen. Das bedeutet letztlich, dass die Moral selbst der Sündenfall ist. In dem Drama „Meĉta-pobeditelřnicaŖ (Der Traum be-

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siegt alles) formuliert die Protagonistin: „Nur die sündlose Schamlosigkeit erfreut das menschliche Herz. Wir müssen wie die Kinder sein, unschuldig, rein und ohne Scham.Ŗ28 Vanja und Kolja bewahren sich ihre Unschuld, weil sie ihre Handlungen nicht in den Kategorien von Sünde oder Laster wahrnehmen. Die letzte Steigerung solcher Unschuld ist der Selbstmord. Indem sich die Kinder ertränken, entziehen sie sich der unausweichlichen Eingliederung in die Erwachsenenwelt mit ihren schambelegten Tabus und religiös begründeten Verboten. Der Tod erscheint aus dieser Perspektive als letzter Glückszustand, der gar nicht mehr durch eine Auferstehung überwunden werden muss. Poetizität der Prosa Zu den Konstanten in Sologubs künstlerischem Schaffen gehört die Schilderung einer anfänglich realistisch konstruierten Situation, die allmählich von einer ästhetischen Traumwelt überformt wird. Die innere Spannung zwischen diesen beiden Polen gravitiert oft zu einer Auflösung im Tod. Die Traumwelt kann Ŕ je nach gewählter mythischer Durchführung Ŕ befreiend oder verdammend wirken. Die Doppeldeutigkeit des Mythos lässt sich paradigmatisch an Sologubs Roman „Melkij besŖ beobachten: Sowohl Ljudmila Rutilovas „künstliches ParadiesŖ als auch Peredonovs brutale Wahnvorstellungen sind letztlich nichts anderes als zwei Seiten desselben Phänomens Ŕ die subjektive Einbildungskraft deformiert die Welt zu einem persönlichen Mythos, der für die einzelnen Figuren handlungsrelevant wird. Bereits Ivanov-Razumnik hat darauf hingewiesen, dass Vanja und Kolja zwei Seiten in Sologubs privatem Mythos repräsentieren.29 Ihr gemeinsamer Tod kann als Versöhnung der beiden Ausprägungen gedeutet werden. Allerdings gelingt die Flucht vor den Zumutungen des Erwachsenendaseins nur um den Preis des totalen Weltverlusts. Dieser Übergang spiegelt sich auch in der Sprache des Erzählers. Während der Anfang in unmodellierter Prosa geschrieben ist, tauchen in den späteren Kapiteln immer öfter poetisch organisierte Passagen auf, in denen Rhythmus und Lautgestalt die mimetische Funktion der Sprache in den Hintergrund drängen. Wenn man einen Absatz (167) mit dem lyrischen Zeilensprung gliedert, wird die Gedichtstruktur deutlich erkennbar: Полная луна, светло-зелѐная и некрасивая, стояла в небе. Казалось, что она прячется за веринами деревьев, и подсматривает.

Der Vollmond, hellgrün und unschön, stand am Himmel. Er schien hinter den Baumwipfeln zu lauern und zu beobachten.

Zwar läßt sich hier kein festes Versmaß feststellen, die einzelnen Zeilen entsprechen sich jedoch weitgehend in ihrer Silbenzahl und der assonantischen Wechselbeziehung der Vokale. Gerade der Wechsel von langen und kurzen Verszeilen darf als eine Art Markenzeichen von Sologubs Lyrik gelten: Звезда Маир сияет надо мною, Звезда Маир,

Der Stern Mair steht strahlend über mir, Der Stern Mair,

392 И озарѐн прекрасною звездою 30 Далѐкий мир.

Fedor Sologub Und durch des Sternes Leuchten wird erhellt 31 Die ferne Welt.

Sehr oft verliert die lyrische Sprache bei Sologub ihr direktes Denotat und nähert sich in ihrer Diktion einer hermetischen Onomatopoesie an. Geschickt überführt Sologub russische Satzstrukturen durch extreme Instrumentalisierung in eine agrammatische Lautmelodie, die eine eigene Realität schafft. Eine Strophe aus dem Gedicht „Ljubovřju legkoju igrajaŖ (Mit leichter Liebe leise spielend) zeigt diesen Übergang auf paradigmatische Weise: И два глубокие бокала Из тонко-звонкого стекла Ты к светлой чаше подставляла И пеню сладкую лила,

Zwei tiefe Kelche, schimmernd, schillernd, Aus singend-klingendem Kristall, Sah ich mit hellem Wein dich füllen, Dich perlend fiel in leichtem Fall.

Лила, лила, лила, качала Два тельно-алые стекла. Белей лилей, алее лала 32 Бела была ты и ала.

Er fiel und fiel, liebkoste fallend, Zwei lichte Gläser, rosig-bleich, Wie Lilien weiß, licht wie Kristalle, 33 Warst weiß und rosig du zugleich..

Diesen Kunstgriff wendet Sologub bisweilen auch in seiner Prosa an. Ein Märchen aus dem Jahr 1913 beginnt mit dem Satz: „Es lebten Guli, gossen Kugeln, aßen Birnen. ņili Guli, lili puli, eli duli.ŗ34 Sologub hat solche Paronymien systematisch gesammelt. In seinem persönlichen Archiv ist ein Briefumschlag mit der Aufschrift „sozvuĉijaŖ (Klangübereinstimmungen) erhalten, in dem er Zettel mit ähnlich lautenden Wörtern aufbewahrte.35 Sologubs Prosa ist die Prosa eines sorgfältig komponierenden Lyrikers. Deshalb stehen seine erzählenden Texte außerhalb der Mimesis. Bereits sehr früh, im Jahr 1886, hielt Sologub in einer Arbeitsnotiz fest, dass Literatur nicht realistisch sein dürfe: „Die Wahrheit, das Seiende, ist vor uns verborgen, und das Vorübergehende ist eine Lüge Ŕ das ist unsere Welt. Unser Idealismus ist eine Verirrung, aber der Realismus ist eine doppelte Verirrung.Ŗ36 Der Wirklichkeitsbezug der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wird bei Sologub von einem ästhetisierenden Konzept abgelöst: Literatur bildet nicht Wirklichkeit ab, sondern erschafft sie erst. Besonders prominent ist dieses Motiv in Sologubs spätem Roman „Tvorimaja legendaŖ ausgebildet. Der Text beginnt mit einem poetologischen Programm: „Ich nehme ein Stück rohes und armseliges Leben und schaffe daraus eine süße Legende; denn ich bin ein Dichter. Erstarre dumpf und alltäglich in der Dunkelheit oder lodere in hellem Brand Ŕ über dir, Leben, errichte ich, der Dichter, eine Legende im Werden über das Bezaubernde und Schöne.Ŗ37 Die Grundproblematik der Erzählung „Ņalo smertiŖ kann im Licht dieser Aussage gedeutet werden. Koljas und Vanjas Selbstmorde wären demnach keine tragischen Ereignisse, sondern Ausdruck einer künstlerischen Transformation des Lebens der beiden Jungen, die im Akt des Todes ihr Ziel findet. Diese zunehmende Ästhetisierung der menschlichen Existenz, die paradoxerweise in die Nichtexistenz mündet, spiegelt sich auch im Bewusstsein der kindlichen Selbstmörder. Kolja nimmt die Schönheit der dunklen Seite der

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Natur wahr, bevor er sich ins Wasser stürzt: „Kolja bemerkte über seinem Kopf einen feinen Zweig mit kleinen Blättchen, der sich vom dunkelblauen Himmel als zierliche schwarze Silhouette abhob. Wie hübsch!, dachte sich KoljaŖ (168). In „Ņalo smertiŖ sind mithin zahlreiche Elemente eines poetologischen Systems angelegt, das Sologub in seiner Lyrik und in seinen Romanen weiter ausgearbeitet hat. Gerade die dekadent-ästhetisierende Richtung dieser Literatur wurde indes von zahlreichen Kritikern abgelehnt, die noch in der Tradition einer moralisch engagierten, realistischen Literatur standen. Aleksandr Izmajlov äußerte sich sehr negativ über Sologubs Erzählung: „Nehmen Sie den Erzählband ‚Ņalo smertiŘ von F. Sologub. Das ist ein Buch über kranke Kinder, über Kinder mit einem früh erwachten, seltsamen Sehnsucht nach dem Tod, mit einer ewig fixen Idee, mit Schlaflosigkeit im Alter von zehn Jahren, mit einer abnormalen Devianz, mit einer verdorbenen und verbrecherischen Willenskraft, mit einer krankhaften Neugier zum Laster und zum Bösen.Ŗ38 Begrüßt hingegen wurde der Erzählband von Vjaĉeslav Ivanov, der besonders die mythenschaffende Seite von Sologubs Erzählkunst hervorhob: „Eine mythologische Weltanschauung kann religiös oder nicht sein; im letzten Fall wird sie rein dämonisch. Dies ist die Atmosphäre der seltsamen Seelen, die von F. Sologubs Schaffen ins Leben gerufen werden. Sie sind Wanderer, die mit einem außerweltlichen Mal auf der Stirn durch die Welt gehen.Ŗ39 Sologubs Privatmythos spielt mit verschiedenen Elementen, die in abgewandelter Form in seinem ganzen literarischen Schaffen immer wieder auftauchen. „Ņalo smertiŖ bietet ein repräsentatives Beispiel für eine narrative Aktualisierung dieses Mythos, der über eine inhaltliche (Dekadenz), eine utopische (Mondreise) und eine stilistische (Poetizität) Dimension verfügt.

Christoph Garstka

Leonid Andreev: Krasnyj smech (Das rote Lachen) Zwei Monate vor der Niederschrift seiner Antikriegserzählung „Krasnyj smechŖ schrieb Leonid Andreev am 6. August 1904 an Maksim Gorřkij: „Hast Du ‚Die Welt als Wille und VorstellungŘ gelesen? Ich stehe zur Zeit gänzlich unter dem Banne dieses großartigen Buches Ŕ es ist so vernünftig, so faszinierend und logisch. In ihm gibt es nichts Mystisches, Unklares oder Verschlagenes, hier arbeitet das kühne, starke und mutige menschliche Denken offen und ehrlich wie in einem Laboratorium.Ŗ1 In dem Hauptwerk des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer konnte Andreev eine aussagekräftige Definition des Lachens und eine „Theorie des LächerlichenŖ finden, die unter dem Begriff der „InkongruenztheorieŖ bekannt geworden ist. Schopenhauer schreibt im ersten Teil von „Die Welt als Wille und VorstellungŖ: „Das Lachen entsteht jedesmal aus nichts Anderm, als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgend einer Beziehung, gedacht worden waren, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz.Ŗ 2 Bewertet man vor diesem Hintergrund das Lachen nicht allein als einen Effekt des Komischen, sondern auch als Ausdruck einer erfahrenen Disharmonie zweier zuvor zusammengedachter Ebenen und als intuitive menschliche Reaktion auf eine erkannte Diskrepanz zwischen Denken und Anschauung, so lässt sich vielleicht verstehen, weshalb Andreev das universelle Lachen als umfassendes Symbol für die im Krieg erlebbare Inkongruenz zwischen zivilisatorisch-menschlichem Anspruchsdenken und offensichtlicher grausam-gewalttätiger Barbarei gewählt hat. In demselben Brief des sich in Jalta erholenden Autors findet sich ein weiterer Hinweis darauf, wie Andreev auf das äußerst expressive Bild des „roten LachensŖ für die durch den Krieg verursachten Schrecken gestoßen ist. Er berichtet von einem schrecklichen Unfall, dessen Zeuge er war: „Heute Abend sind in der Nähe unserer Datscha durch eine Explosion zwei Türken schwer verletzt worden, einer davon, so scheint es, tödlich, ein Auge wurde ihm herausgerissen […]. Er war zusammengefallen wie ein Lappen, sein Gesicht komplett mit Blut übergossen, und er lächelte mit einem ganz absonderlichen Lächeln, so als ob er seinen Verstand verloren hätte. Irgendwie hatten sich wohl seine Muskeln verkrampft, und das führte dann zu diesem widerwärtigen roten Lächeln.Ŗ3 Im Februar 1904 begann mit dem japanischen Angriff auf die gerade erst durch Russland gepachtete Hafenstadt Port Arthur (heute China) am Pazifik ein Krieg zwischen dem russischen Zaren- und dem japanischen Kaiserreich, der in militärgeschichtlicher Hinsicht als Vorläufer des technifizierten und menschenverachtenden Stellungs- und Grabenkampfs im Ersten Weltkrieg gilt. Über die noch nicht ganz fertig gestellte Transsibirische Eisenbahnlinie wurden hunderttausende russischer Soldaten in den Fernen Osten geschickt. Während der den ge-

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samten Sommer 1904 über andauernden Belagerung von Port Arthur durch die Japaner von der Land- und der Seeseite her hatten sich die russischen Bataillone in einem weiten System von Bunkern und Schützengräben verschanzt, und der erstmalige Einsatz von Maschinengewehren, Stacheldrahtverhauen und schwerster Artillerie in großer Stückzahl führte zu enormen Verlustraten in beiden Armeen. In dem europäischen Teil des russischen Imperiums wurde die Unzufriedenheit mit dem autokratischen Regierungssystem und seiner Unfähigkeit zu Reformen immer spürbarer. Die Nachrichten von verheerenden Niederlagen der russischen ‚KulturmenschenŘ gegen den „gelben AffenŖ, wie Zar Nikolaj II. die Japaner genannt haben soll, wurden in dieser Situation ein gewichtiger Auslöser für Unruhen und Streiks, die in die Revolution von 1905 mündeten.4 Obgleich der eigentliche Kriegsschauplatz viele tausend Kilometer von beiden Hauptstädten entfernt lag, war die russische Öffentlichkeit durch ein dichtes Korrespondentennetz der Presse sehr gut informiert und diskutierte teilweise höchst aufgeregt und polarisierend die Konsequenzen dieses Krieges für die russische Staatsund Gesellschaftsform.5 Auch Leonid Andreev war durch die Vorgänge im Fernen Osten zutiefst aufgewühlt und entschloss sich, zum Krieg Stellung zu beziehen, jedoch nicht auf publizistischem, sondern auf künstlerischem Weg in einer kürzeren Prosaerzählung. Und bei diesem Vorhaben offenbarte sich schon früh eine spezifische Problematik: die Schwierigkeit, gesellschaftliches und politisches Engagement und ästhetischen Anspruch, moralische Empörung und künstlerisches Kalkül abzuwägen und in eine gültige Form zu fassen. Von dieser Mühe gibt bereits ein Brief Andreevs an den Kritiker Nevedomskij aus dem Spätsommer 1904 ein beredtes Zeugnis: „Ich arbeite weiter am ‚KriegŘ6 Ŕ doch es gerät mir nur schlecht: Es ist fade, blass und matt. Es gibt Fragen, bei denen scheint es unmöglich, ein Künstler zu bleiben, zumindest wenn es um den Krieg geht. Ich beginne edel, ganz künstlerisch: ‚Es stand ein wunderbarer Sommertag bevor …Ř, und ich ende wie ein Droschkenkutscher mit Flüchen: ‚Schufte und Schurken, MörderŘ usw. Und tatsächlich: Diese Teufel leben schon fast eine Million Jahre, und sie haben es immer noch nicht hingekriegt, dass sie sich nicht gegenseitig schlagen. Was für ein Unsinn aber auch.Ŗ7 Anfang Oktober schließlich schreibt Andreev nach diesen Vorüberlegungen die Erzählung in nur neun Tagen bzw. Nächten nieder und sendet sie dann an Gorřkij. Dieser nimmt die Erzählung in den Anton Ĉechov gewidmeten Almanach des Znanie-Verlags für das Jahr 1904 auf, der in Petersburg Anfang 1905 Ŕ immerhin in einer Auflage von 60.000 Exemplaren Ŕ erschien.8 Reaktionen Die Sorgen Andreevs um die adäquate künstlerische Ausgestaltung des brisanten Kriegsthemas in seiner Erzählung sollten sich fortan durch die Kritikerstimmen bestätigen, auch wenn diese aus den unterschiedlichsten ideologischen Positionen heraus argumentierten. Gorřkij selbst forderte noch vor der Publikation Än-

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derungen. Er glaubte einerseits künstlerische Mängel zu entdecken Ŕ ihm war nicht klar, ob es sich um einen oder zwei Ich-Erzähler handelte Ŕ, andererseits vermisste er den direkten Bezug zur politischen Situation; denn in „Krasnyj smechŖ bleiben die kriegführenden Nationen anonym, und der konkrete zeitgeschichtliche Bezug ist verdeckt.9 Ebenfalls noch vor der Publikation hatte Andreev seine Erzählung auch an Lev Tolstoj geschickt und diesem als ‚Lehrmeister gegen den KriegŘ gedankt. Er bezog sich dabei direkt auf den Artikel „OdumajtesŘ!Ŗ (Besinnt Euch!) des Autors von „Vojna i mirŖ (Krieg und Frieden), den dieser anlässlich des Kriegsausbruchs publiziert hatte Ŕ allerdings nicht in der russischen Presse, wo er der Zensur zum Opfer fiel, sondern in der Londoner „TimesŖ.10 Hier konnte Andreev unter anderem folgende Zeilen lesen: „Erinnert man sich nun an all dies [die Errungenschaften des menschlichen Geistes] und blickt jetzt auf das, was um einen herum passiert, dann empfindet man Schrecken (uņas) nicht nur vor dem Schrecken des Krieges, sondern auch vor dem, was schrecklicher als all diese Schrecken ist, vor dem Eingeständnis der Machtlosigkeit der menschlichen Vernunft (razum).Ŗ „UņasŖ und „bezumieŖ, Schrecken und Wahnsinn, sind die Schlüsselworte in „Krasnyj smechŖ. Wie Andreev nach ihm hatte Tolstoj in seinem Artikel den Krieg von einem übernationalen Standpunkt aus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebrandmarkt, seinen Pazifismus allerdings begründete er mit der religiösen Lehre und Überzeugung, sowohl der des Christentums als auch der des Buddhismus. In Andreevs Text jedoch fehlen religiöse Argumente gegen den Krieg. Der große Romancier konnte deshalb auf die Zueignung nur verhalten dankbar antworten mit den Worten: „In der Form, wie sie jetzt ist, ist die Erzählung, denke ich, vielleicht nützlich. […] Ihre Schwächen liegen in der übergroßen Künstlichkeit und Unbestimmtheit.Ŗ11 In den öffentlichen Lesungen der Erzählung Ende 1904 stieß Andreev zudem größtenteils auf Ablehnung und auf den zu erwartenden Vorwurf des mangelnden Patriotismus. Wie könne jemand, der selbst nicht am Krieg teilnehme, ihn beschreiben und derart anmaßend verurteilen? Der Autor konnte sich also schon vor dem Druck seines Textes die kommenden Kritiken ausmalen. Er war aber zu ‚VerbesserungenŘ der künstlerischen Mängel Ŕ deren er sich bewusst war Ŕ nicht bereit, sondern hielt geradezu trotzig zu seinem Werk in der Gestalt, wie er es in den ‚fiebrigenŘ neun Nächten verfasst hatte, weil in ihm, wie er sagte, vielleicht „viel zu wenig ‚ErzählungŘ ist, aber dafür viel SchmerzŖ.12 Politische Empörung und Willen zum Engagement bilden im Allgemeinen keine guten Voraussetzungen für das Hervorbringen eines dichterischen Kunstwerks. Doch im Falle von „Krasnyj smechŖ sind die Kritikerstimmen und die Zweifel des Autors unbegründet. Denn Andreev gelingt es hier, die einseitige Tendenz und unmissverständliche politische Botschaft in eine derart innovative und mitreißende ästhetische Form zu fassen, dass sich auch heutige Leser kaum ihrer Suggestivkraft entziehen können.

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Aufbau, Inhalt und Erzählform Die Erzählung „Krasnyj smechŖ hat den Untertitel „Fragmente einer aufgefundenen HandschriftŖ. Sie ist in insgesamt 19 solcher Fragmente mit unterschiedlicher Länge Ŕ von nur wenigen Zeilen bis zu 6-8 Druckseiten Ŕ unterteilt, die scheinbar von einem fiktiven Herausgeber zusammengestellt wurden. Der fragmentarische Charakter wird durch Satzauslassungen zu Beginn sowie am Ende der jeweiligen Stücke und teilweise durch Handlungssprünge innerhalb derselben angezeigt. In einem ersten Teil, bestehend aus 9 Fragmenten, werden dem Leser aus der Innensicht eines dreißigjährigen Mannes, der als Offizier in der Armee dient, dessen Kriegserlebnisse bis zur Heimkehr als Krüppel geschildert Ŕ ihm wurden nach einer Verwundung beide Beine amputiert. Ein zweiter Teil, der die restlichen 10 Fragmente umfasst, berichtet dann aus der Sicht des jüngeren Bruders von den letzten Tagen des älteren, die dieser bis zu seinem Tod in einem wahnhaften Schreibrausch verbracht hatte. In tagebuchartigen Aufzeichnungen präsentiert der zweite Teil anschließend den langsamen Verfall des jüngeren Bruders in der Heimatstadt, der an den nur mittelbar erlebten Schrecken des Krieges zerbricht und wie der ältere Bruder im Wahnsinn endet. Diese Erzählung ist gänzlich ‚anonymisiertŘ. Es gibt keine Eigennamen, die Personen werden nahezu durchgängig mit ihrem Familien- oder Dienstverhältnis bezeichnet, es gibt zudem keine Orts- oder Zeitangaben, die Rückschlüsse auf eine bestimmte Situation in der Realität zuließen.13 Erzählt wird durchgängig in der Ich-Perspektive, allerdings hat Andreev einen erzähltechnischen Kniff eingebaut, der schon Gorřkij verwirrt hatte und den Rolet mit dem scheinbar paradoxen Begriff einer „doppelten IcherzählungŖ14 belegt: Nach dem 9. Fragment als Abschluss des ersten Teils wechselt übergangslos die Person des Ich-Erzählers. Hat der Leser zuvor den Eindruck, die Aufzeichnungen des ersten Teils seien vom älteren Bruder verfasst worden, stellt sich nun heraus, dass der jüngere nach den Schilderungen und Berichten des am Krieg teilnehmenden Bruders die ersten Fragmente ebenfalls verfasst hatte, dass es sich insgesamt also eigentlich um einen einzigen Erzähler handelt. Dieser bemerkt im 10. Fragment: „Alles, was ich hier über den Krieg geschrieben habe, habe ich den Worten meines verstorbenen Bruders entnommen, die häufig sehr verwirrt und unzusammenhängend waren; nur einige einzelne Bilder haben sich so tief und unauslöschlich in sein Hirn eingeprägt, dass ich sie fast genauso wiedergeben konnte, wie er sie geschildert hatteŖ (52 f.). Der fragmentarische Charakter hat zur Folge, dass eine novellistische Handlungskonzentration und -entfaltung nicht ausgemacht werden kann. Die einzelnen Teile sind episodisch aneinandergereiht, untereinander kaum verbunden und allein durch das erlebende und besonders im zweiten Teil zunehmend reflektierende Bewusstsein zusammengehalten.15 Wirkung erzielt diese Erzählung nicht durch eine ‚spannende HandlungŘ, sondern durch detaillierte Schilderungen von Kriegsgrausamkeiten in isolierten Szenen einerseits und durch den expressivexaltierten Stil der Aussage andererseits, der ein beständig zunehmendes Gefühl

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von Bedrohung und Wahnsinn auch im Leser zu erwecken vermag. Ein weiterer ‚LehrmeisterŘ bezüglich der Kriegsschilderung war für Andreev neben Tolstoj mit seinem dreiteiligen Zyklus „Sevastopolřskie rasskazyŖ (Sevastopoler Erzählungen, 1855) vor allem Vsevolod Garńin, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen bildeten dessen Anti-Kriegserzählungen, etwa „Ĉetyre dnjaŖ (Vier Tage, 1877) oder „TrusŖ (Der Feigling, 1879), eine Grundlage für die psychologische Behandlung des Kriegsthemas. Zum anderen lieferte die bereits von ihrer Titelgebung her an Andreev erinnernde Erzählung „Krasnyj cvetokŖ (Die rote Blume, 1883) ein Beispiel für die literarische Gestaltung von Wahnsinn, die innerhalb der russischen Literatur letztlich auf Nikolaj Gogolřs „Zapiski sumasńedńegoŖ (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, 1835) zurückgeht.16 Zwar ist die Handlungsstruktur der Gesamterzählung locker komponiert, die größeren Fragmente lassen jedoch durchaus eine straffe Handlungsführung erkennen, die sich manchmal in einer Art Höhepunkt entlädt.17 Die nun schon wiederholt erwähnten Schlüsselworte „Wahnsinn und SchreckenŖ (bezumie i uņas) leiten das erste Fragment ein. Der Erzähler ist Teil einer sich auf dem Rückzug befindlichen Armee, die vor dem sie verfolgenden Feind durch eine glühend heiße Steinwüste flieht. Die Szenerie gleicht einer wahren Höllenbeschreibung, alles Sinnliche und Lebendige ist aus ihr verbannt: Die Natur besteht nur aus Felsen, am Himmel steht die Sonne als „blutroterŖ (22) Feuerball, der die Körper der Soldaten zu verbrennen droht. Die Menschen sind in ihrer Sinneswahrnehmung reduziert, sie scheinen stumm, taub und blind zu sein. Das Bild mündet schließlich in einen direkten Verweis auf das Jenseits: „[…] als würden dort keine lebendigen Menschen marschieren, sondern eine Armee körperloser SchattenŖ (23). Der Erzähler hat sogleich mit seiner einleitenden Bemerkung, „Das erste Mal spürte ich es (ėto)Ŗ (22), einen Spannungsbogen aufgebaut. Dieses „ėtoŖ wird allerdings erst erläutert, nachdem die Höllenbeschreibung mit einer idyllischen Szenerie konfrontiert worden ist. Im Trancezustand erinnert sich der Offizier an sein Heim und seine Familie. Er sieht sich in seinem Zimmer, Frau und Sohn nebenan, auf dem Tisch eine staubige Wasserkaraffe. Die Vision ist durch Farbgebung („blaue TapeteŖ, 23) sowie Stimmung der friedliche Gegenpol des zivilen Familienlebens zum gespenstischen Rückzug der geschlagenen Armee. Sie führt dazu, dass sich der Erzähler von der Truppe absondert, auf einen Stein hinkauert und nun das Geschehen in einer klassischen Denkerposition von einem erhöhten Standpunkt aus betrachtet. Und erst jetzt wird auch die anfänglich angedeutete Erkenntnis näher ausgeführt: „Und dort spürte ich es (ėto) zum ersten Mal. Ich sah ganz klar, dass diese vor Erschöpfung und Hitze ausgezehrten Menschen, die schweigend in der Sonnenglut marschieren, taumeln und hinfallen, Ŕ dass das Wahnsinnige sind. Sie wissen nicht, wohin sie gehen, sie wissen nicht, warum die Sonne auf sie niederbrennt, sie wissen gar nichts. Sie haben keine Köpfe auf den Schultern, sondern seltsame und grausige KugelnŖ (23). Man kann vermuten, dass Andreev mit diesem Schauerbild genauso die Institution des Militärs kritisiert, die fühlende und denkende Menschen in erbar-

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mungslose Tötungsmaschinen verwandelt. Dass er sich in diesem Punkt auf Tolstoj und dessen Kritik der Institutionen bezieht18, wird besonders zum Ende des ersten Fragments deutlich, als die Soldaten ihre eigentliche Aufgabe erfüllen müssen: Plötzlich sind die Rückzügler vom Feind eingeholt, und der Kampf beginnt. Jetzt aber sind die vorherigen Schatten zum Leben erwacht, sie handeln ab sofort wie Hauptmann Tuńin in „Vojna i mirŖ. Der Schrecken und Wahnsinn ist trotz der nun realen Todesgefahr vergessen. In einem kurzen Abschnitt taucht dreimal das Wort „freudigŖ auf, die Soldaten zeigen wieder „munter belebteŖ, „freudige GesichterŖ, sie treiben ihre Scherze, und die Granaten fallen mit einem „freudigen PfeifenŖ nieder (25), selbst die Sonne hat sich zurückgezogen, um die Kämpfenden nicht zu stören. Doch dieser kurze Rausch, so belegt es das zweite Fragment, ist schnell vorüber. Das Gefecht hat schreckliche Opfer gefordert, die der Erzähler nüchtern und sehr exakt beziffert. Auffällig ist eine Häufung von Zahlenangaben zu Beginn des zweiten Fragments: „In der achten Batterie war es genauso. In unserer, der zwölften, waren am Ende des dritten Tages nur noch drei Geschütze übrig, die anderen waren zerstört. Nur noch sechs Mann waren dienstfähig und ein Offizier, ichŖ (25).19 So wird die Kriegseuphorie durch die kühle und sachliche Analyse ihrer Folgen in Frage gestellt.20 Zwischen Realismus und Expressionismus: Stil und Motivverarbeitung Besonders in der sowjetischen Forschung wurde die Frage nach Andreevs Stellung in der literarhistorischen Tradition und im Rahmen zeitgenössischer Stilformationen intensiv diskutiert.21 Im Wesentlichen ging es dabei immer um die Frage, ob Andreev als Überwinder des Realismus zu betrachten sei, indem er einen neuen, vorwiegend expressionistisch interpretierten Stil geschaffen habe, oder ob er die Möglichkeiten des Realismus erweitern und vertiefen wollte, also in die Tradition des 19. Jahrhunderts eingeordnet werden könne.22 In der angelsächsischen Forschung hat James B. Woodward in mehreren Arbeiten aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die seitdem gültige Feststellung getroffen, dass Andreev einen ganz eigenen, unverwechselbaren sowie äußerst expressiven Stil erfunden habe, um dem Unfassbaren und Unsagbaren Ausdruck zu geben, zugleich habe er jedoch gewusst, dass er diesem Anspruch nie ganz gerecht werden konnte. Und gerade „Krasnyj smechŖ sollte diese These der Einzigartigkeit am eindrücklichsten belegen können. Woodward meint: ŖIn general, ŘThe Red Laughř presents perhaps the most revealing examples of the various ways and means by which Andreevs contrives to emphasize and amplify the effects produced by pivotal images and motifs.ŗ23 Wenn demnach also der Narrationsbogen in der Erzählung nicht sehr straff gespannt ist, dann legt sich doch gleichsam ein dichtes Netz von Wiederholungen, Variationen, Amplifikationen und Parallelismen zentraler Motive über sie, wodurch die Kernaussage „Wahnsinn und Schrecken des KriegesŖ stets präsent bleibt.24 So entspricht beispielsweise die Fluchtbewegung des älteren Bruders in dem ersten Fragment dem Davonrennen des jüngeren vor vermeintlichen Verfolgern im letzten. In beiden Fällen scheitert die

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Flucht, man kann dem „Wahnsinn und SchreckenŖ nicht entkommen. Es handelt sich bei diesen Korrespondenzen jedoch seltener um einzelne mehr oder weniger feststehende Begriffe und Wendungen, sondern eher um ganze Komplexe oder Bündel von Motiven, die sich nach Capellmann zu „VorstellungskreisenŖ, wie zum Beispiel Sonnenglut, Dürre, Hitze, Feuer, zusammenschließen lassen.25 Dieses Netz wird gleich im ersten Fragment geschnürt. So taucht zwar erst im zweiten Fragment das titelgebende Bild des roten Lachens auf, seine Einführung ist allerdings zuvor bereits sorgfältig vorbereitet worden: Die „blutrote SonneŖ, die der Erde scheinbar immer näher zu rücken droht, ist sofort zu Beginn der erste Hinweis. Die weitere Vorbereitung des Symbols besteht im Übergang von der unbelebten zu der belebten Natur. Es ist ein wildgewordenes Pferd, das erstmals die Maske des roten Lachens erkennen lässt: „Dort bäumt sich über der Menge der Kopf eines Pferdes auf mit roten wahnsinnigen Augen und einem breit gefletschten Maul, das andeutet, dass aus ihm ein schrecklicher Schrei dringtŖ (23). Das Pferd erhält den Gnadenschuss. Danach geht das Bild der verzerrten Züge in Verbindung mit der Farbe Rot auf den Menschen über Ŕ noch auf einen Toten Ŕ, den der Erzähler von seinem Stein aus erblickt (24). Und schließlich kommt auf den letzteren selbst ein Soldat direkt zu, offensichtlich mit einem Sonnenstich, der sterbend mit einem entsetzlichen Blick auf ihn niederfällt. Nach diesem Vorlauf ist der Weg für das erstmalige Auftauchen des roten Lachens geebnet. Ein junger Freiwilliger übermittelt nach einem gefährlichen Meldegang dem Offizier eine Nachricht des Generals. Noch während er strammsteht, durchschlägt eine feindliche Kugel seinen Kopf, und als das Blut herausströmt, sieht der Erzähler im Gesicht seines Gegenübers erstmals das rote Lachen (27). Die Szene ist höchst aufschlussreich für das so kalkulierte Schwanken Andreevs zwischen realistischer und phantastischer Darstellungsart. Einerseits findet das Bild vom roten Lachen seine natürliche Erklärung in der von der tödlichen Gewehrkugel zerschmetterten Physiognomie, andererseits ist durch seine ausführliche Vorbereitung eine Atmosphäre des Unheimlichen und Beklemmenden geschaffen worden, in der das rote Lachen durchaus als substantielle, personifizierte Erscheinung des Bösen auftreten mag. In der über weite Strecken vorherrschenden somnambulen Stimmung („Wir waren wie SchlafwandlerŖ, 25) ist die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum derart verschwommen, dass auch logisch herleitbare Ereignisse den Anschein des Phantastischen besitzen.26 Nachdem sich das Bild vom roten Lachen auf der Grundlage eines konkreten Erlebnisses formiert hat, erfährt es eine vertiefende Ausgestaltung, um seinem Anspruch gerecht zu werden, als universelles Symbol für Wahnsinn und Schrecken des Krieges zu gelten (worauf der Erzähler gleich nach dem ersten Auftauchen verweist, 28). Zunächst stößt der Offizier noch auf Unverständnis, als er einem verletzten Kameraden davon berichtet (29). Die eigentliche Sinngebung als kosmisch-apokalyptisches Zeichen erfährt das rote Lachen dann im sechsten Fragment in jener gewaltigen Vision des Doktors, der dem Offizier die Beine

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amputiert hat. Schließlich breitet sich das Schreckensbild wie eine Infektion aus und überwindet die räumlichen Grenzen: Der Krüppel bringt es vom Kriegsschauplatz mit in die Heimat (48). Hier wird der Bruder davon befallen (56). Und schließlich überwindet es am Schluss der Erzählung auch die Grenzen der physikalischen Zeit und dringt in eine mythische Dimension vor. Was der jüngere Bruder im letzten Fragment in seinem Wahn erlebt, ist nichts anderes als eine schreckliche Vision des Weltgerichts am Ende aller Zeiten, zu dem die Erde die Leiber der Toten wieder ausspuckt und die Lebenden (die gesamte Familie ist plötzlich anwesend, 72) ebenso wie die Toten gerichtet werden. Das rote Lachen steht da an der Stelle Gottes „in purpurrotem, regungslosen Licht in eigener GestaltŖ (73) als strafender Richter über die Verbrechen der Menschheit. Ein weiterer Motivkomplex, der in einer engen Verbindung zum roten Lachen steht, aber eine eigene Entwicklung über mehrere Stationen hinweg erfährt, ist das der Augen, aus denen der Wahnsinn scheint. Sieht man die Augen als Spiegel der Seele, dann ist der in ihnen sich offenbarende Wahnsinn die natürliche Reaktion der Seele auf die Schrecken des Krieges. Anfangs marschieren die Soldaten mit geschlossenen Augen. Nach mehreren Stunden erst (22) öffnet der Erzähler die Augen, und was er sieht, erscheint ihm als „wilde Phantasie einer im Delirium irrsinnig gewordenen ErdeŖ (22 f.). Hier besitzt das Motiv noch eine kritisch-appellative Funktion. Die Menschen sollen ihre Augen nicht vor den negativen Folgen eines Krieges verschließen. Dann erfolgt jedoch eine Weiterentwicklung. Das sehende Auge zeigt die Erschütterung der Seele angesichts des vernunftmäßig nicht zu bewältigenden Grauens im Krieg. Auf den sitzenden Erzähler kommt ein scheinbar trunkener Soldat zu: „ ‚So setz dich dochŘ, sage ich. Aber er steht nur da, ungelenk, schweigt und starrt mich an. Und ich erhebe mich unwillkürlich von meinem Stein und blicke, selbst schwankend, in seine Augen Ŕ und ich sehe in ihnen einen Abgrund von Schrecken und Wahnsinn. Bei allen anderen sind die Pupillen äußerst schmal, bei ihm aber waren sie extrem geweitet und füllten das ganze Auge aus: Was für ein Feuermeer muss er durch diese großen, schwarzen Fenster sehen!Ŗ (24 f.). Über den Medizinstudenten und Lazarett-Pfleger in dem fünften Fragment, der sich später erschießt, heißt es: „Er blickte mich an, und in seinen Augen lag derselbe starre und wilde Ausdruck voll kalten Schreckens, wie bei jenem Soldaten, den ich am Sonnenstich hatte sterben sehenŖ (35). Auch die Verwundeten, die der ältere Bruder im gleichen Fragment vom Schlachtfeld aufsammelt, haben diesen Blick in ihren Augen (37). Fortgeführt wird das Motiv schließlich im elften Fragment, als der jüngere Bruder auf seinem Weg in den Wahnsinn einen Gefangenentransport beobachtet, der in der Heimatstadt ausgeladen wird. Er blickt einem feindlichen Offizier in die Augen: „Und da sah ich in seinen schwarzen, großen Augen, in denen Pupille und Iris eins schienen, ein solches Leid, einen solchen Abgrund an Schrecken und Wahnsinn, als ob ich in die unglücklichste Seele der Welt hineingeblickt hätteŖ (54). Es mag überraschen, aber Andreev, der bis dahin nie an einem Krieg teilgenommen hatte, hat hier exakt eines der psychosomatischen Diagnosekriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) geschildert, das seit dem Zwei-

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ten Weltkrieg als „Two Thousand Yard StareŖ bekannt ist: der ausdruckslose, scheinbar gleichgültige Blick in die Ferne mit erweiterten Pupillen.27 Für den jüngeren Bruder, der selbst ja nur sehr unzuverlässig durch die Berichte des älteren und durch Zeitungslektüre über den Krieg informiert ist, stellen die Blicke in diese Gesichter die direkte Konfrontation mit dem Kriegsgrauen dar, das sich ihm dadurch intuitiv erschließt. Über eine Begegnung mit einem Transport von verrückt gewordenen Soldaten wird gesagt: „Sie [die Gesichter der Soldaten] waren furchtbar anzuschauen, besonders das eine. Übermäßig langgestreckt, gelb wie eine Zitrone, mit weit geöffnetem schwarzen Rachen und starren Augen, so glich es derart stark der Maske des Schreckens, dass ich mich von ihm nicht abwenden konnteŖ (55). Die Entwicklung dieser Motivreihe erfährt dann einen Höhepunkt, als das Gesicht im letzten Fragment mit dem roten Lachen in Zusammenhang gebracht wird. Der jüngere Bruder nimmt an einer pazifistischen Demonstration teil, die Sicherheitskräfte mit Gewalt auflösen. Dabei kommt es zu Schießereien, neben dem jüngeren Bruder fällt ein Mann zusammen, „und aus einem roten Loch an der Stelle des Auges quoll das Blut hervorŖ (69). Das Auge kann nun nicht mehr Spiegel der Seele sein, aus dem Antlitz des Grauens, der Maske des Schreckens und der Grimasse des Wahnsinns ist die Fratze des roten Lachens geworden.28 Zwischen Traum und Wirklichkeit: Krieg und Wahnsinn Die „klassischenŖ Schauplätze der Kriegsliteratur sind allesamt auch in dieser nicht sehr umfangreichen Erzählung präsent: der Marsch (hier als Rückzug), die Schlacht, die Etappe, das Lazarett, die ‚HeimatfrontŘ. Besonders hervorzuheben unter diesen Raumbeschreibungen ist in ihrer Eindringlichkeit die Schilderung des Schlachtfelds nach einem zehntägigen Kampf im fünften Fragment. Der Erzähler nähert sich diesem Ort mit einem Lazarettzug, um Verwundete einzuladen. Zusammen mit einem Doktor und mit einem Studenten als Sanitäter steigen sie aus und gehen in der durch ferne Feuer erhellten Nacht neben dem Zug her, als sie etwas hören: „Von überallher Ŕ die Richtung war nicht auszumachen Ŕ vernahm man ein gleichmäßiges, scharrendes Stöhnen, seltsam ruhig in seiner Breite und nahezu schon monoton. Wir hatten bereits viel Geschrei und Stöhnen gehört, doch dieses hier war von ganz anderer Art als alles bisher Gehörte. Auf der in einem trüben rötlichen Schein gehüllten Ebene konnte das Auge nichts erkennen, und deshalb schien es, als stöhnte die Erde selbst oder der von der Röte der noch nicht aufgegangenen Sonne erhellte HimmelŖ (36). Die Erde ist bedeckt mit zahllosen Toten und Verwundeten, die in ihren Schmerzen grauenhaft stöhnen. Diese an den Römerbrief des Paulus erinnernde Passage29 verweist auf das letzte Fragment, in dem der jüngere Bruder in seinem Wahnsinn glaubt, die durch das verbrecherisch vergossene Blut geschändete Erde speie ihre Toten wiederum aus. Je näher die Helfer dem Schlachtfeld kommen, umso lauter wird das Stöhnen. Aus dem Dämmerlicht tauchen schließlich die ersten Verwundeten auf, grausam entstellt und vor Schmerzen fast wahnsinnig; es sind ihrer so viele,

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dass der Zug sie gar nicht alle aufnehmen kann und der größte Teil zurückbleiben muss. Das ‚Feld der EhreŘ ist zu einer Schlachtstätte geworden. Die Annäherung an den Ort des Grauens ist zugleich als sinnliche Überwältigung gestaltet: Erst hören die Helfer das Seufzen, dann sehen sie die Verwundeten und Toten, schließlich fühlen und schmecken sie sogar deren Blut, das so reichhaltig fließt, dass sie regelrecht darin waten müssen. Die überaus plastisch aufbereitete Szenerie erinnert an Darstellungen der „Schrecken des KriegesŖ, wie sie sich bei Goya oder Callot finden. Tatsächlich plante Andreev eine dann nicht zustandegekommene Ausgabe der Erzählung, die mit Bildern Goyas aus seinen beiden Serien „CaprichosŖ und „Desastres de la guerraŖ illustriert werden sollte.30 Den Ich-Erzähler lässt das erlebte Grauen jedoch merkwürdig kalt, er hat seine Fähigkeit zum Mitleiden verloren: Als sich der Student direkt vor ihm stehend erschießt, nimmt er nur seine Zigarette in die andere Hand und betastet die Wunde, um dann ganz lapidar dem Doktor mitzuteilen: „Der Student da hat sich eben erschossen, ich glaube aber, er lebt nochŖ (38). Die Abstumpfung des älteren Bruders ist ein wichtiger Hinweis auf den unterschiedlichen Weg, den beide Brüder zum Wahnsinn gehen. „Krasnyj smechŖ zeigt zwar auf beeindruckende Weise, dass die ‚natürliche ReaktionŘ des denkenden und fühlenden Menschen auf den Krieg nur im Verrücktwerden bestehen kann; aber auch wenn das Ergebnis das Gleiche ist, so verläuft doch der Prozess dahin im ersten und zweiten Teil gegensätzlich. Ausgangspunkt für den Weg in den Wahnsinn ist beide Male eine dissoziative Störung. Es offenbart sich eine nicht zu überbrückende Kluft zwischen Bewusstsein und Sein, eine Inkongruenz des Denkens, der Ideen und Vorstellungen einerseits und der Erscheinungen in der tatsächlichen Lebenswelt andererseits. Doch dieser Riss ist bei beiden Brüdern jeweils ganz unterschiedlich motiviert. Der jüngere Bruder verkörpert den passiven Teil, er geht stets vom Denken aus. Seine Einblicke in Zerstörung und Grauen basieren nur auf Vorstellungen, viele seiner Informationen erhält er aus Zeitungen, die, wie zuvor erwähnt (40), das Unwahre schreiben. Der jüngere Bruder sieht Menschen, die sich friedlich versammeln, und denkt, sie fallen gleich übereinander her, er hört auf der Straße Schreie und denkt, das Blutbad hat begonnen (48). Spielende Kinder werden in seinen Träumen zu einer blutdürstigen Schar hungriger Ratten, die ihn von allen Seiten bedrängen (60). Die Welt scheint vor seinen Augen ein Theater der heilen Welt zu spielen und sich hinter den Kulissen vor dem wahren Schrecken zu verstecken. Deshalb kann der Theaterbesuch im fünfzehnten Fragment als Schlüsselszene für das Verständnis seiner Innenwelt gelten. Das, was er sieht, will er mit dem, was er denkt, in Einklang bringen. Er will mitten in der Aufführung „FeuerŖ rufen, aber nicht, um seine Umgebung wach zu rütteln, vielmehr stellt er sich vor, wie sich in der danach aufkommenden Panik das wahre gewalttätige und egoistische Wesen des Menschen offenbaren wird: „Denn sie sind alle immer schon Mörder gewesen, und ihre Ruhe und ihre Würde Ŕ das ist lediglich die Ruhe des satten Tieres, das sich sicher fühltŖ (58). Es gibt jedoch kein Feuer, sein verdunkeltes Bewusstsein glaubt nur durch den Schleier der Erscheinungen die wahre Bestie Mensch zu

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erblicken. Er versteht also die tatsächliche Lebenswelt nicht richtig, weil sein Denken von Beginn an verdorben ist. Seine Lebenswelt ist die Zivilisation, sein Bewusstsein ist aber durch die Berichte aus zweiter Hand (und wohl auch durch eine gewisse Prädisposition) schon so gestört, dass er sie nicht bewältigen kann. Dieser Befund lässt sich auch in einer geänderten Darstellungsweise im zweiten Teil gegenüber dem ersten nachweisen. Sind zu Beginn die Grenzen zwischen Traum und Realität noch klar getrennt und entspringt das Traumbild hier psychologisch motiviert aus der Wirklichkeit, so ‚überwältigtŘ im letzten Teil das wahnsinnige Bewusstsein des Bruders zunehmend die Realität, wobei die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit immer mehr verschwimmen. Anfänglich ist das Erscheinen des toten Bruders noch als klare „HalluzinationŖ gekennzeichnet (55), dann aber taucht dieser unvermittelt als Gesprächspartner auf, und die verrückte Einbildung wird zur phantastischen Realität (61). Die Entwicklung des älteren Bruders zum Wahnsinn hin ist dagegen konsequenterweise gegenläufig gestaltet. Er ist das sehende und nicht das sprechende Bewusstsein. Im fünfzehnten Fragment macht der Autor dies explizit klar, als der Tote dem Lebenden die Erscheinung des roten Lachens erschließt, wobei der scheinbare Dialog natürlich nur im Fiebertraum des jüngeren Bruders stattfindet: „ ‚Das ist das rote Lachen. Wenn die Erde den Verstand verliert, beginnt sie derart zu lachen. Du weißt doch, dass die Erde den Verstand verloren hat. Auf ihr gibt es keine Blumen und Lieder, sie ist rund, glatt und rot geworden, wie ein Kopf, von dem man die Haut abgezogen hat. Siehst du sie? [!]Ř ‚Ja, ich sehe sie. Sie lacht.Ř ‚Schau doch [!], was mit ihrem Gehirn geworden ist. Es ist rot, wie eine blutige Grütze, und ganz verrührtŘ Ŗ (61). Der ältere Bruder ist durch das unmittelbare Sehen der Erscheinungen im Denken gestört. Der Offizier befindet sich von Beginn an im Krieg, in der Barbarei. Er hat sich als ehemaliger Rezensent schöngeistiger ausländischer Literatur (49) allerdings anfangs noch sein ästhetisches Bewusstsein von „Blumen und LiedernŖ (51) bewahrt; denn er hat noch die Vision einer heilen Welt (vgl. die zweimalige Erinnerung an seine Familie), die sein Bruder nicht kennt. Beim älteren ist es also die schreckliche Außenwelt, die sich nicht in Übereinstimmung bringen lässt mit seiner feingeistigen Innenwelt. Während der Weg in den Wahnsinn beim jüngeren Bruder über eine Hypersensibilisierung läuft, so dass ihm nun alles, was ihm begegnet, als etwas anderes scheint, verläuft der des älteren Bruders über Abstumpfung und Infantilisierung. Deutlich wird das ebenso in dem Gespräch der beiden Brüder im neunten Fragment, bei dem der ältere in der Badewanne sitzt. Der Krüppel ist die gesamte Zeit seit seiner Rückkehr in einem Zustand von angestrengter Heiterkeit, sehr häufig fallen die auf ihn bezogenen Worte „ńutkaŖ (Scherz), „ńutlivyjŖ (scherzhaft), „veseloŖ (fröhlich) und immer wieder „ja ulybnulsjaŖ (ich lachte). Und schließlich wird der Gegensatz direkt ausgesprochen: „ ‚HohohoŘ, gackerte ich los und plätscherte herum. ‚Was ist mit dir?Ř fragte mich mein Bruder erschrocken und erbleichte. ‚Nichts weiter. Ich freue mich nur, dass ich zuhause bin.Ř Er lächelte mich an wie ein Kind, wie den jüngeren Bruder, obwohl ich

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doch drei Jahre älter war als er, und dann blickte er nachdenklich, wie ein Erwachsener, wie ein alter Mann, den schwere, tiefe und sehr alte Gedanken ergriffen habenŖ (49). Und auf eine perverse Art stimmen die beiden Brüder im Wahnsinn schließlich wieder überein: Die Spaltung zwischen Bewusstsein und Sein ist aufgehoben, und es kommt zu einem Einklang zwischen ihren Vorstellungen und ihrer Lebenswelt. Der ältere Bruder erfüllt sich seinen Traum im Arbeitskabinett. Völlig zurückgezogen schreibt er dort ausschließlich über „Blumen und VögelŖ. Sein Paradies war die Poetenstube, in die er sich zurückziehen und in der er sich allein der hohen Kunst widmen konnte. Doch nach dem Krieg ist dieses Paradies „verlorenŖ, wie der Verweis auf Milton nahelegt (50). Das Glücksempfinden der Harmonie von Außen- und Innenwelt kann nur mehr im Wahn wiedergewonnen werden (52), es bleibt dann jedoch fruchtlos: Sein Werk besteht aus wirren Zeichen, die niemand entziffern kann (52). Der jüngere Bruder erlebt im letzten Fragment einen tatsächlichen Aufruhr, und die Bestie Mensch offenbart sich in der so brutal niedergeschlagenen Demonstration. Was er daraufhin in seinem Wahnsinn erblickt, ist eine Welt, die der entspricht, die er sich zuvor vorgestellt hat (vgl. den Theaterbesuch). Der Schleier der Zivilisation ist von ihr weggerissen, und die Welt zeigt sich so, wie Ŕ das glaubt er Ŕ sie tatsächlich immer schon war: beherrscht vom roten Lachen. Das ‚rote Lachen‘ und die Inkongruenztheorie Schopenhauers Andreev hat in seiner Erzählung Schopenhauers „Theorie des LächerlichenŖ konsequent weitergedacht und das rote Lachen als Zeichen dafür eingesetzt, dass sich die im Krieg potenziert erlebte Inkongruenz von Bewusstsein und Erscheinung ganz allein im Wahnsinn zur Deckung bringen lassen kann.31 Er führt dies äußerst nachdrücklich und plastisch in jener unheimlichen Vision des Doktors im sechsten Fragment vor, die den universellen Triumph des roten Lachens beschreibt. Zuvor berichtet der Erzähler von seiner Verwundung aus einem widersinnigen Kampf heraus. Er wird das Opfer eines „Friendly FireŖ. Obgleich die aufeinander zustoßenden Armeeteile sich erkannt haben, schießen sie aufeinander. Die Tatsache, dass der Offizier, der sich fast als einziger von seinen Kameraden körperlich unversehrt aus den schlimmsten Gemetzeln retten konnte (25), ausgerechnet von seinen eigenen Leuten zum Krüppel geschossen wird, ist eine zynische Pointe. An dieser Stelle befindet sich der erste Hinweis auf die Inkongruenztheorie: „Und als sie anfingen zu schießen, konnten wir zuerst nicht verstehen, was das bedeutete, und wir lächelten nochŖ (40). Die Verwirrung bleibt. War es der Feind oder hatten die eigenen Leute ihre roten mit den feindlichen orangefarbenen Uniformen verwechselt?32 Nichts ist sicher, allein die Zeitungskorrespondenten kennen Eindeutigkeit, und sie berichten der Heimat von einer „echten SchlachtŖ (40). Im Lazarett findet der Offizier anschließend in dem Doktor, der ihm die Beine amputiert hatte, endlich den ersten Menschen, der das Phänomen des roten

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Lachens genau so begreift wie er selbst. Doch der Doktor, der bei seinen Ausführungen „beständig durch seinen gelb-grauen dünnen Schnurrbart über irgendetwas lächelteŖ (41), ist auf seinem Weg in den Wahnsinn bereits einen Schritt weitergegangen als sein Patient. Auch bei ihm wird das Unvermögen, die Vorgänge verstehen und begreifen zu können, hervorgehoben. So war er wohl Teilnehmer am letzten europäischen Krieg vor einem Vierteljahrhundert und berichtete gerne darüber: „Aber diesen jetzt verstand er nicht, ich bemerkte sogar, dass er sich vor ihm fürchteteŖ (41). Seine Schlussfolgerung aus solchem sinnlosen Gemetzel, die sich in einer phantastischen Negativ-Utopie ausdrückt, zeigt dann einerseits den wahnsinnig gewordenen Geist des Doktors, sie korrespondiert allerdings auch mit dem Schluss der Erzählung, indem sie das dort erlebte apokalyptische Weltende vorwegnimmt und erläutert. Die Unterhaltung mit dem Doktor, die in dessen blutige Vision mündet, könnte man schließlich als Veranschaulichung von Schopenhauers Inkongruenztheorie in der Perspektive Andreevs deuten. Der Offizier reagiert auf die anscheinend wirren Reden des Arztes noch ganz konventionell im Schema des ‚normal DenkendenŘ: „Sie haben den Verstand verloren, Doktor!Ŗ (41). Dieser leitet ihn daraufhin zum Blick auf die Erscheinungen an. Sie blicken auf die Massen verstümmelter Menschen in den sie umgebenden Betten, und der Doktor fragt: „Und das verstehen sie?Ŗ (42). Der Ich-Erzähler antwortet mit dem Begriff „VerwundeteŖ, ein Begriff, der das furchtbare Bild anscheinend logisch erfassen und rational bewältigen soll. Und um seinem Patienten die absolute Diskrepanz zwischen diesem Begriff und der tatsächlichen Erscheinung deutlich zu machen, spielt der alte Doktor jetzt den Hanswurst: „Mit einer Gewandtheit, die man ihm in seinem Alter nicht mehr zugetraut hätte, überschlug er sich und stand auf den Händen, wobei er mit den Beinen in der Luft balancierte. Der weiße Kittel glitt nach unten, aus dem Gesicht entwich das Blut, und während er mich mit seinen seltsam rollenden Augen anstarrte, keuchte er mühsam die Frage heraus: ‚Und das … hier dieses, das verstehen Sie?Ř Ŗ (42).33 Das zivilisatorische Bewusstsein lässt sich nicht mehr mit der blutigen Realität in Übereinstimmung bringen. Von dieser Position aus Ŕ als ‚weiser NarrŘ Ŕ entfaltet der Doktor nun seine gewaltige Vision vom Untergang der menschlichen Zivilisation und von dem Triumph des roten Lachens. Er selbst werde die Verrückten des Krieges sammeln, anführen und mit ihnen die Weltherrschaft übernehmen: „Wer hat denn gesagt, dass man nicht morden, sengen und rauben dürfe? Wir werden morden und rauben und sengen. Als eine fröhliche, sorglose und tapfere Schar werden wir alles zerstören: ihre Gebäude, ihre Universitäten, ihre Museen; und als fröhliche Kinder werden wir mit vollem feurigen Lachen auf den Trümmern tanzen. Das Irrenhaus erkläre ich zu unserem Vaterland […]; und wenn ich mich dann als der große, unbesiegbare und fröhliche Herrscher und Gebieter zum Weltenkaiser kröne Ŕ welch ein gewaltiges Lachen wird dann im All widerhallenŖ (44). Dieses dystopische Wahnbild funktioniert innerhalb der gesamten Erzählung wie ein Scharnier. Zum Abschluss der Fragmente, die auf dem Kriegsschauplatz spie-

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len, sammelt und konzentriert es alle zuvor erlebten entsetzlichen Einzelbilder der Empirie, der Realität des Krieges, wie zum Beispiel die blutrote Sonne, die Kriegsverrückten, die zuckenden Leiber in den Stacheldrahtverhauen, die grässlich anzuschauenden Verstümmelten usw., und transponiert sie in einen grauenerregenden Mythos, der von hier aus seine Wirkung auch in der Heimat entfalten kann.34 Einzelne Elemente, wie die „fröhlichen Kinder, die von feurigem Lachen erfüllt sindŖ (44, 60), oder den Zusammenbruch der Zivilisation (44, 58), wird der Bruder ebenfalls erfahren, bevor der Mythos dann Ŕ zumindest in seinem Fieberwahn Ŕ abschließend Realität wird. „Krasnyj smech“ als Antikriegserzählung: „užas i bezumie“ Es mag, gemeinsam mit dem apokalyptischen Schlussbild, vor allem diese Szene gewesen sein, die Aleksandr Bloks Ahnungen einer nahenden Katastrophe bestärkten. Er übernahm das Bild vom „roten LachenŖ als drohendes Menetekel für die „SattenŖ (Sytye) in seinem gleichnamigen Gedicht aus dem Jahr 1905. Und in seinem literarischen Porträt Andreevs, das er nach dessen Tod für das von Gorřkij initiierte Erinnerungsbuch beisteuerte, schreibt er: „Ich wusste, dass die Dinge nicht gut verliefen, dass es überall zum Schlechten stand, dass die Katastrophe nahe bevorstand und der Horror an die Tür klopfte, das wusste ich schon lange zuvor, noch vor der ersten Revolution, und ich spürte, wie dieses ganze Wissen sich in mir wiederum verstärkte bei der Lektüre von ‚Das Leben des Vasilij FivejskijŘ und ‚Das rote LachenŘ.Ŗ35 Im Verlauf der unmittelbar mit der Erstpublikation einsetzenden ersten russischen Revolution konnte das drohende Bild vom triumphierenden roten Lachen als ein griffiges Symbol für die Schrecken von Krieg und Revolution umgedeutet werden Ŕ zumal nach 1917, als die „rotenŖ Bolschewisten das Land in Bürgerkrieg und Stalinismus mit einer unvergleichlichen Gewaltorgie überzogen. „Krasnyj smechŖ ist jedoch zunächst einmal vorwiegend eine Antikriegserzählung, in der eine parteipolitische Stellungnahme nicht zu finden ist. Als ein konsequent pazifistisches Manifest hat sie deshalb auch Bertha von Suttner interpretiert, die im Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe schreibt: „Mit Entsetzen und Jubel habe ich diese gewaltige Dichtung in mich aufgenommen. Mit Jubel, weil mir scheint, dass noch nie eine schärfere und glänzendere Waffe für den Kampf geschmiedet worden, dem mein Leben geweiht ist, als dieses rote Lachen. Es wird der Friedensidee die Geister in Scharen gewinnen.Ŗ36 Im Fokus auf die deutsche Literatur ist ein möglicher Vergleich der Erzählung mit den kriegsverherrlichenden Schriften eines Ernst Jünger nicht uninteressant; denn manche Stellen bei Andreev lesen sich wie eine vorweggenommene direkte Widerlegung der Thesen des Autors von „In StahlgewitternŖ. Dies sei an zwei Szenen kurz veranschaulicht: Für Andreev ist der Kriegsschauplatz die ‚verkehrte WeltŘ und kein Ort, an dem sich der wahre Wesenskern des Menschen Ŕ besser: des Mannes Ŕ offenbart. Im vierten Fragment wird von einer Feier berichtet, die im Kreis der Offiziere veranstaltet wurde. Doch eine Feststim-

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mung will nicht aufkommen. So heißt es: „Und alles war fremd. Der Baum war fremd, der Sonnenuntergang war fremd, und das Wasser war fremd, mit einem merkwürdigen Geruch und Geschmack, als ob wir gemeinsam mit den Toten die Erde verlassen hätten und in irgendeine andere Welt gegangen seien, in eine Welt geheimnisvoller Erscheinungen und unheilvoller, düsterer SchattenŖ (30).37 Männerphantasien über den Kameradschaftskult sind nicht zu finden, gerade in dieser Szene bleibt jeder allein und vereinsamt. Die Gesichter bekommen keine Namen, sondern werden nur mit Indefinitpronomen bestimmt. Der einzige Offizier, der, wenn auch lediglich mit dem Spitznamen „StiefelchenŖ, individualisiert wird, ist an dem Morgen gefallen (31 f.). Ebenso ließe sich in dem achtzehnten Fragment der unheimliche letzte Brief eines gefallenen Offiziers an den ebenfalls schon gestorbenen älteren Bruder, mit dem er befreundet war, als eine vorausgeeilte Jüngerparodie interpretieren. In ihm finden sich viele der kruden Ingredienzien, die für Jünger das Besondere des Krieges ausmachen: der heroische Mannesmut, die Blutsucht und der Rausch des Tötens, der instinktive Überlebenswille, der Alkoholexzess, die ‚WeibergeschichtenŘ (66 f.). Doch Andreevs Briefschreiber ist tot, und die erklärenden Worte des jüngeren Bruders, „Er liebte Bücher, Blumen und Musik, scheute sich vor dem Rohen und schrieb GedichteŖ (67), wirken nur wie ein zynischer Kommentar zum Ableben des sadistischen Schlächters, als der er sich in seinem Brief offenbart hat. Das Rätsel des modernen Krieges lässt sich für Andreev nicht sinnvoll auflösen, der denkende Mensch kann nur auf zwei Arten adäquat darauf reagieren: im Horror und im Schrecken (uņas), so dass er selbst zu einer Bestie wird wie der befreundete Offizier, oder er wird verrückt (bezumie).38 Der heutige Leser wird vielleicht erstaunt sein, wie viele der drastischen Bilder, die Andreev zur Illustration des Schreckens anführt, ihm in visualisierter Form bekannt vorkommen dürften. Der Autor baut nämlich in der weiterentwickelten Tradition des Schauerromans Schreckensszenarien auf und schildert sie in einer derart naturalistischen Detailfreude, wie man sie gegenwärtig vor allem im Genre des Horror- oder sogar Splatterfilms findet: der Doktor, der den Menschen die Haut abziehen und ihr Blut trinken will, die abgehobene Schädeldecke, die das nackte Gehirn zeigt, blutdürstige Kinder, die wie hungrige Ratten die Wände hochklettern, Tote, die sich auf die Lebenden legen, ausgerissene Augen, abgeschlagene Gliedmaße und Köpfe usw. Eine genauere Inventarisierung der vorgeführten exzessiven Gewalttaten in Andreevs Erzählung ergäbe eine umfangreiche Liste mittlerweile gängiger Elemente dieses Genres. Aber Andreev setzt die affektorientierten Mittel nicht um ihrer selbst willen zur Erforschung ästhetischer Grenzbereiche ein. „Krasnyj smechŖ will die humanistische Botschaft „Nie wieder KriegŖ vermitteln und bedient sich dafür einer unmissverständlichen Bildsprache. Und deshalb hat diese Antikriegserzählung, die ja noch vor den ungeheuren Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts verfasst wurde, bis heute nichts von ihrer provokativen und visionären Kraft verloren. Die Anerkennung der PTBS beispielsweise als psychische Krankheit in unmittelba-

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rer Reaktion auf ein im Krieg erlebtes schreckliches Ereignis hat sich erst in den letzten dreißig Jahren durchgesetzt. Im Fall von „Krasnyj smechŖ eilte das Gespür des Künstlers der medizinischen Diagnosefähigkeit um Jahrzehnte voraus.

Peter Thiergen

Ivan Bunin: Gospodin iz San-Francisko (Der Herr aus San Francisco) Ivan Bunin war der erste Literatur-Nobelpreisträger Russlands. Die nach jahrelanger Nominierungskampagne im Jahre 1933 erfolgte Auszeichnung erhielt er für die „strenge künstlerische Meisterschaft, mit der er die klassische russische Traditionslinie in der Prosadichtung weitergeführt hatŖ.1 Im Vorfeld der Nominierung war immer wieder von Bunins stilistischer Vollendung, klassisch-maßvoller Komposition, seinen zeitlos existentiellen Themen mit moralischer Tiefe und seiner vor allem an Tolstoj orientierten Erzählweise die Rede. Zu den am häufigsten genannten Referenzwerken für die Auszeichnung hatte von Anfang an die auch von Thomas Mann bewunderte Novelle „Gospodin iz San-FranciskoŖ gehört.2 Bunin stammte aus altem, aber verarmtem russischen Adel, war verwandt mit Autoren wie Vasilij Ņukovskij oder den Brüdern Kireevskij, wuchs in der zentralrussischen Provinz auf (Gebiet Orel), erhielt Haus- sowie (unabgeschlossenen) Gymnasialunterricht und zeigte früh Interesse an Sprache, Lesen und Literatur. In Vielem war er Autodidakt. Homers „OdysseeŖ gehörte zu seinen ersten Lektüreerlebnissen. Seit 1887 publizierte er. Der prekäre Familienstatus, vor allem aber Weltneugier führten früh zu einer unsteten Wanderexistenz ohne „festen SitzŖ im Dasein. Seit 1900 unternahm er regelmäßig Auslandsreisen (Europa, Ägypten, Palästina, Ceylon, Konstantinopel). Zeit seines Lebens sollte er als Berufsschrifsteller und Privatgelehrter in Pensionen, Hotels, Mietquartieren oder „als GastŖ wohnen. Sesshaftem Besitzbürgertum konnte er mit Sarkasmus begegnen. Nach missglückten Bindungsversuchen fand er ab 1906 in Vera Muromceva (1881Ŕ1961) eine gebildete, tatkräftige Lebensbegleiterin. Früh erhält er Literaturpreise, und 1909 wird er Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Mit zahlreichen Vertretern der russischen Literatur- und Kunstszene steht er in Verbindung. Besondere Anerkennung, ja Bewunderung bringt er Tolstoj und für einige Zeit sogar den Tolstojanerkolonien entgegen. Hinzu kommen freundschaftliche Kontakte zu Ĉechov und Gorřkij. Nach der Oktoberrevolution lebt Bunin zunächst in Odessa, ab 1920 dauerhaft bis zum Tode in Frankreich (zuerst in Paris, dann in Grasse bei Cannes). Viele Beziehungen zu Kollegen, die in der Sowjetunion blieben, brechen ab, und der Umgang mit anderen russischen Exilautoren gestaltet sich schwierig. Bunin galt nicht wenigen Zeitgenossen als streitbar und animos. Bunin beginnt als Lyriker, wendet sich aber alsbald auch der Kurzprosa zu, wird Literaturkritiker und später Memoirist. Zu Autoren wie Byron, Longfellow, Tennyson, de Musset oder Mickiewicz veröffentlicht er anerkannte Übersetzungen. Über die von ihm geschätzten Schriftsteller Tolstoj und Ĉechov schreibt er späte Abhandlungen. Einen großen Roman oder Dramen verfasst er nicht. Kol-

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legen wie Thomas Mann, der Bunin 1926 in Paris traf und sich eine „EventualkameradschaftŖ vorstellen konnte, wie Rilke, Alexander Eliasberg oder Romain Rolland kennen und schätzen ihn. Zu Lebzeiten erhält er in der Sowjetunion Ŕ im Unterschied zur Zarenzeit Ŕ keine Werkausgabe. Dies auch deshalb, weil er bewusst nicht gesellschafts- oder sozialkritisch, sondern im weiteren Sinn menschen- und kulturkritisch schreibt. Von Bauern- oder Arbeiterklassensentimentalität ist er weit entfernt. Er ist ein Autor der Vanitas, Vergänglichkeit und Todesthematik, aber auch der ewigen Naturschönheit und der Macht des Eros. Seine Figuren sind ‚Wanderer des UnterwegsŘ, manchmal Irregeleitete oder gefährdete Sucher und manchmal Zweifler fast in der Nähe des Existenzialismus. Manche Kritiker, zum Beispiel Aleksandr Blok, warfen ihm deshalb eine „monotone WeltanschauungŖ vor. Thomas Mann hingegen sprach, vornehmlich mit Blick auf den „Herrn aus San FranciscoŖ, von „moralischer WuchtŖ. Ĉechov meinte, Bunin schreibe in seiner Vorliebe für das Konkrete und Plastische „zu kompaktŖ. Als hoch belesener Autor bewegt sich Bunin zwischen zahlreichen Literaturen und „PrätextenŖ von der Bibel bis zur Höhenkammliteratur Russlands und der Welt. Realismus- und klassikfeindlichen Strömungen wie dem Symbolismus, Futurismus und Absurdismus stand er zum Teil militant ablehnend gegenüber. Im Jahre 1913 konstatierte er für Russland: „Verschwunden sind die wertvollsten Kennzeichen der russischen Literatur: Tiefe, Ernsthaftigkeit, Einfachheit, Unmittelbarkeit, Dignität [...], wie ein Meer haben sich Vulgarität und ein übler Ton ausgebreitet Ŕ aufgeblasen und maßlos verlogen. Verdorben ist die russische Sprache.Ŗ3 Diesem vermeintlichen Verfall in kulturloser Dekadenz wollte er als Schriftsteller ein Korrektiv entgegensetzen. Gorřkij nannte ihn 1912 den „besten Stilisten unserer ZeitŖ. Eines der Hauptbeispiele für Bunins Literaturprogramm ist die als Erstfassung innerhalb weniger Tage im August 1915 niedergeschriebene, dann erheblich überarbeitete und Ende 1915 als Erstdruck erschienene Ŕ sowie später immer wieder stilistisch modifizierte Ŕ Novelle „Gospodin iz San-FranciskoŖ. Sujet Ein alternder, reicher Amerikaner Ŕ von manchen Interpreten gerne „MillionärŖ, „KapitalistŖ oder „YankeeŖ genannt Ŕ begibt sich mit Frau und Tochter per Luxusliner nach Europa, um von da aus eine Weltreise über den vorderen Orient, Ägypten und Indien nach Japan sowie zurück nach Amerika zu unternehmen. In Europa gedenkt er während mehrerer Monate das Pflichtprogramm einer Sightseeing-Tour für Neureiche zu absolvieren (Monte Carlo, Sevilla, Paris, englischer Badeort, Venedig, Rom, Athen). Die Familie bleibt namenlos, während der Liner „AtlantisŖ heißt. Hauptanliegen des „HerrnŖ ist, sich vordergründigen Lebensgenuss zu verschaffen (einschließlich der „Liebe junger NeapolitanerinnenŖ, 309) und möglichst seiner Tochter zu einem Bräutigam zu verhelfen. Durch die Meerenge von Gibraltar geht es nach Neapel, wo Ŕ wie schon zu Beginn der Reise Ŕ übles Wetter herrscht. Die Familie setzt in der Hoffnung nach Capri über, dort angenehmere Bedingungen anzutreffen. Doch schon die Überfahrt bei Ne-

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bel und Seegang verursacht Übelkeit und Ängste. Dem „HerrnŖ, im Hotel angekommen, „schwankt der Boden unter den FüßenŖ (318, 320), so dass er ein zweimaliges „Das ist ja schrecklich!Ŗ ausruft. Vor dem abendlichen Diner begibt sich der „HerrŖ, ausstaffiert mit Smoking, Ballschuhen und Kneifer, in den Leseraum, wo er in einer Zeitung vom Balkankrieg liest (ein Hinweis auf die Handlungszeit). Bei der Lektüre ereilt ihn, dem Wendepunkt-Bau der Novelle folgend, ein letaler Infarkt. Sein Tod wird vom Hotelpersonal so gut es geht verheimlicht. In einem abgelegenen Zimmer bleibt der Tote über Nacht weggesperrt, um am nächsten Morgen, bei herrlichem Sonnenschein, in einer Sodawasserkiste von der Insel abtransportiert zu werden. Am Ende wird der Leichnam zur Rückkehr nach Amerika in eben jenes „berühmte Schiff AtlantisŖ verfrachtet, das den „HerrnŖ aus San Francisco vor wenigen Tagen nach Europa gebracht hatte. Auf dem Gibraltarfelsen sitzt der Teufel und schaut dem ‚TotenschiffŘ nach, das durch heulende Sturmböen und Wasserberge zurück in Richtung „Neue WeltŖ stampft. Der allwissende Erzähler präsentiert eine letztlich ereignisarme „So ist esŖ-Geschichte, ohne grundsätzlich relativierende Ernstminderung oder Angebote an Deutungsoffenheit. Titel, Personen, Welttheater Die ursprüngliche Titel-Idee lautete „Der Tod auf CapriŖ (Smertř na Kapri). Dabei spielte Bunins Erinnerung an den Tod eines Amerikaners auf der Insel eine Rolle. Außerdem war ihm Thomas Manns Erzählung „Der Tod in VenedigŖ mindestens dem Titel nach bekannt.4 Wolfgang Koeppen wird 1954 den Roman „Der Tod in RomŖ veröffentlichen. Deutsche Titel dieser Art könnten auch mit unbestimmtem Artikel formuliert werden: „Ein Tod in VenedigŖ. Die artikellose russische Sprache gestattet, „Gospodin iz San-FranciskoŖ im Deutschen sowohl mit „Der HerrŖ als auch mit „Ein HerrŖ wiederzugeben. Die Fügung mit bestimmtem Artikel betont den konkreten Einzelfall, ohne allerdings eine paradigmatische Generalisierung auszuschließen. Die Unbestimmtheit („Ein HerrŖ) kann erst recht auf ein Allgemeines verweisen. Ohnehin dominiert in der Novelle die Strategie einer überindividuellen Suggestion, da nahezu alle Personen namenlos bleiben. Die Titelfigur wird durchgängig als „Herr aus San FranciscoŖ oder als Mister bzw. Sir benannt. Frau und Tochter figurieren als Ehefrau, Missis, Madame oder „gospoņa iz San-FranciskoŖ (315) bzw. als Miss oder Tochter. Alle zusammen heißen sie „die FamilieŖ oder „die ReisendenŖ oder „Gäste aus San FranciscoŖ. Andere Personen tragen ebenfalls bloße Funktionsnamen: Kapitän, Prinz, Hotelier, Arzt, berühmte Schönheit, Maître etc. Den Schlusspunkt setzt der Teufel. Nur niedere Chargen wie eine Tänzerin (Carmella), ein Hoteldiener (Luigi) oder ein Bootsführer (Lorenzo) erhalten (Vor)Namen. Hinzu kommt eine Fülle anonymisierender Pluralbildungen: Chinesen, Neger, Passagiere, Touristen, Ladies und Gentlemen, Heizer, Kellner, Portiers, Stubenmädchen, Kutscher, Amerikaner, Russen, Deutsche. Wiederholt begegnet das Wort „tolpaŖ (Menge, Masse). Als Sterbender wird der

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Titelheld „jemand anderesŖ (323), und als der Tote in der Sodawasserkiste abtransportiert wird, ist er nur noch „irgendein Herr aus San FranciscoŖ (325). Zuvor hatte der Hotelier beschwichtigt, es handle sich nur „um eine kleine Ohnmacht eines Herrn aus San FranciscoŖ. Der asiatische Prinz wiederum reist „inkognitoŖ. Bunin liebte, wie er Petr Bicilli und anderen brieflich mitgeteilt hat, sogenannte „SammelfigurenŖ (sobiratelřnye figury). Eine später „Kazimir StanislavoviĉŖ betitelte Erzählung (erschienen 1916 und ebenfalls dem Todesthema gewidmet) sollte ursprünglich „NeizvestnyjŖ (Der Unbekannte) heißen.5 Die Leserlenkung in „Gospodin iz San-FranciskoŖ zielt auf Vermittlung von subjektloser Verallgemeinerung und bloßem Rollenspiel. Wir alle sind nicht mehr als bekannte Unbekannte bzw., wie es 2. Korinther 6 heißt, „Unbekannte, und doch bekanntŖ. Vor dem Tod und letzten Richter sind alle Menschen Jedermänner, selbst wenn sie den finalen Ausgang des Exitus unterschiedlich hinnehmen müssen. Hugo von Hofmannsthal hatte mit seinem „Spiel vom Sterben des reichen MannesŖ (Uraufführung Berlin 1911) das Everyman-Thema wenige Jahre vor Erscheinen von Bunins Novelle, unter Rückgriff auf Hans Sachsř Parabel vom „reich sterbent mannŖ, erneut aktuell gemacht. Bunin besaß von Hofmannsthal Kenntnis. Wie weit diese ging, wissen wir nicht. Von Hans Sachsř und Hofmannsthals Rettungsangebot durch Glauben Ŕ der Mammon, Buhlschaft und Tod überwindet Ŕ ist Bunin allerdings weit entfernt. Dem „Herrn aus San FranciscoŖ bleibt noch nicht einmal Zeit, sich auf den Gang zum „himmlischen HerrnŖ vorzubereiten. Ihm wird die Möglichkeit einer Katharsis, wie sie Tolstojs Ivan Ilřiĉ erhält, rigoros verwehrt. In Bunins Gedicht „Bez imeniŖ (Namenlos, ca. 1910) lautet der Schluss: Но имя Смерть украла И унеслась на черном скакуне.6

Aber der Tod stahl den Namen Und jagte auf einem schwarzen Ross davon.

Das deutsche „JedermannŖ kann russisch mit „ImjarekŖ wiedergegeben werden (vgl. „n. n.Ŗ = nomen nominandum). Marina Cvetaeva zählte Hofmannsthal zu ihren Lieblingsautoren. Ein jüngster Nachfahre zum Jedermann-Thema ist Philip Roth mit seinem Roman „EverymanŖ aus dem Jahre 2006. San Francisco – Lissabon – Neapel: Breitenkreise des Todes Bunin wählt eine amerikanische Hauptfigur, nichtrussische Schauplätze und ein Thema ohne spezifisch russische Bezüge. Das war in Russland unüblich. Bunins Interesse gilt der existentiellen, supranationalen Fragestellung des „Memento mori!Ŗ. Allerdings kennt die russische Literatur durchaus eine Art Amerika-Motiv. Gonĉarov lässt den Arzt in „OblomovŖ empfehlen, der Held solle zur Mobilitätstherapie „nach Amerika gondelnŖ (Teil 1, Kap. 8). In Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanieŖ (Schuld und Sühne) spielt Amerika als mögliches Fluchtziel und bei Svidrigajlovs „Reise in den TodŖ eine Rolle. Ebenso in Tolstojs „Krejcerova sonataŖ (Kreutzersonate). Seit 1867 gab es Diskussionen über Russlands Verkauf von Alaska an die USA. Durch die aufkommende Aviatik, Atlantikschifffahrt und Technikbegeisterung mit Scientific Management (Taylorismus) war Amerika

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nach 1900 besonders nahegerückt.7 1906 ging Gorřkij nach New York ins Exil, wo er unter anderem Marc Twain und H. G. Wells traf, um von dort im Oktober des gleichen Jahres nach Capri überzusiedeln.8 Vor ihm waren schon Vladimir Korolenko (1893) und Konstantin Balřmont (1905) in Amerika gewesen. Amerika wies nach 1881 eine beträchtliche Zahl russisch-jüdischer Einwanderer auf, und heute ist sogar von einem „russischen San FranciscoŖ die Rede.9 Das Mitund Gegeneinander von Neuer und Alter Welt war auch für russische Autoren präsent geworden. San Francisco, Lissabon und die Region Neapel liegen ungefähr auf denselben Breitengraden. 1906 wurde die amerikanische Stadt durch ein Erdbeben fast völlig zerstört. Die Zerstörungskraft des Vesuv und der Phlegräischen Felder ist seit dem Untergang Pompejis bekannt. Karl Brjullov hat 1830Ŕ1833 dazu ein berühmtes Monumentalgemälde geschaffen.10 Ende 1908 vernichtete ein Erdbeben mit Flutwelle Messina auf Sizilien. Über 80 000 Menschen fanden den Tod. 1755 hatte ein verheerendes Erdbeben weite Teile Lissabons zerstört. Es war die erste weltweit kommentierte Katastrophe dieser Art. Die Parallelkreise San Francisco Ŕ Neapel können in literarischer Projektion als Höllenkreise verstanden werden, welche die Gefängnisinsel Alcatraz und den nach römischer Vorstellung bei Neapel liegenden Eingang zur Unterwelt verbinden. Heutige Kulturkritik sieht in San Francisco mit Silicon Valley und neureichen Millionären ein Menetekel, ebenso im Mafiasumpf der Region Neapel, deren Weltkulturerbe-Status bedroht ist. Der Neapel-Capri-Komplex: Zwischen Arkadien und Toteninsel Ein italienisches Sprichwort sagt: „Vedi Napoli e poi muoriŖ. August von Platen eröffnete 1827 sein Gedicht „Bilder NeapelsŖ mit den Versen: Fremdling, komm in das große Neapel, und siehřs, und stirb! [...] Ja, hier lerne genießen, und dann, o Beglückter, stirb!

Doch das ist nicht nur ersehnter Glückstod, denn neben dem Wunderbaren samt Capri-Panorama und „Himmel des GlücksŖ steht für den lyrischen Neapel-Besucher Platens heilloser Illusionsverlust: Käuflich Alles, die Sache, der Mensch, und die Seele selbst.11

Der Neapel-Capri-Komplex bezeichnet spätestens seit der Romantik (1826 wurde die „Blaue GrotteŖ wiederentdeckt) die Identität von Sehnsuchts- und Todesort, von Fascinosum und Tremendum. Diese Ambivalenz haben zahlreiche Italienreisende und Künstler zum Ausdruck gebracht. Die lieblichsten oder erhabensten Natur- und Kulturwerke stehen dem jeweils neuen Betrachter am Ende doch nur mit Indifferenz gegenüber, wie die Sphinx im Axel Munthe-Park in Anacapri. Ihre Ewigkeit und Schönheit überdauert sogar im Katastrophischen die Flüchtigkeit des menschlichen Einzelschicksals. Die Gerippe umgekommener Fischer im Ufersand können, wie es in Bunins Gedicht „S korabljaŖ (Vom Schiff,

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1907) heißt, weder die Heiterkeit des türkisblauen Himmels noch die gelassene Wahrnehmung des menschlichen Auges trüben. Zu den Besuchern, ja Bewohnern von Capri und Anacapri gehörten auch Bunin und Vera Muromceva. Längere Aufenthalte erfolgten im Frühjahr 1909 und 1910 sowie im Winter 1911/12, 1912/13 und 1913/14. Zu Gorřkij gab es enge Beziehungen und mit Besuchern wie Lunaĉarskij, Leonid Andreev oder Ńaljapin gelegentliche Treffen. Von Capri aus unternahmen Bunin und seine Frau Ausflüge zu weiteren Destinationen wie Amalfi, Salerno, Vesuv, Pompeji, Ischia oder Sizilien. Das vom Erdbeben zerstörte Messina hinterließ tiefe Bedrückung. Die Zeiten auf Capri, der „märchenhaften InselŖ, so V. Muromceva, waren zumeist Arbeitsaufenthalte. Bunin las wie immer viel (schöne Literatur, Reiseberichte, Geschichtliches)12, schrieb aber auch zahlreiche eigene Gedichte und Prosatexte. Nicht wenige Ŕ zum Teil erst später veröffentlichte Ŕ Gedichte wählten süditalienische Schauplätze, darunter Pompeji, Kalabrien, die Falernerwein-Region, Messina (Gedicht über das Erdbeben, 1909) oder das Grabmal Vergils in Neapel.13 Im Oktober 1916 erschien in unregelmäßigen Anapästen ein Gedichttext mit der Überschrift „KapriŖ (Capri), dessen Entstehung auf den 30. August 1916 datiert ist. Einen Tag zuvor, am 29. August 1916, schrieb Bunin ein Gedicht mit dem Titel „ArkadijaŖ (Arkadien).14 Im Jahre 1932 wurde eine Prosaskizze ebenfalls mit dem Titel „KapriŖ veröffentlicht. Sie erhielt in späteren Ausgaben die Überschrift „Ostrov SirenŖ (Sirenen-Insel).15 Diese ca. sechs Seiten umfassende Skizze ist eine Art kulturgeschichtliches Feuilleton über die Insel, die in verstörender Ambivalenz gezeigt wird: auf der einen Seite die betörend schöne, Ruhe ausstrahlende Natur mit „balsamischer LuftŖ, Blauer Grotte und unvergleichlichen Ausblicken über das Meer, auf der anderen Seite die Ruinen des Tiberius-Palastes mit Erinnerungen an Sklavendasein, schöne Mätressen und an Tiberiusř Schreckensherrschaft mit „MenschenopfernŖ. Zum Schluss wird Tiberiusř Tod auf dem Festland in Misenum beschrieben. Eingangs der Skizze war auf den „SkandaltodŖ des berühmt-berüchtigten ‚KanonenbaronsŘ und kurzzeitigen Capri-Bewohners Friedrich A. Krupp hingewiesen worden.16 Dieser Doppelblick auf den Gegensatz von Dauer der Natur und Vergänglichkeit in Kultur und Menschengeschichte ist auch in „Gospodin iz San-FranciskoŖ allgegenwärtig. Capri und Italien sind hier zunächst ein „heiteres, herrliches SonnenlandŖ, umgeben vom „märchenhaften BlauŖ des Meeres, und voller Berge, deren „Schönheit das menschliche Wort nicht auszudrücken vermagŖ (326). Nachdem die Familie aus San Francisco mit dem Toten abgereist ist, „stellten sich auf der Insel von neuem Frieden und Ruhe einŖ (325). Doch genau an dieser Stelle lässt Bunin den Erzähler hinzufügen, dass eben auf dieser Insel der „widerliche MenschŖ Tiberius gelebt und „Grausamkeiten über jedes MaßŖ begangen habe, was die Touristenmasse nicht davon abhalte, bis heute den Monte Tiberio mit den Ruinen des Kaiserpalastes zu besuchen. Während es eingangs der Novelle heißt, „niemand erinnerte sichŖ an den Namen des „HerrnŖ (308), wird jetzt konstatiert, dass „sich die Menschheit auf ewig an ihn [Tiberius] erinnert hatŖ (325). Als sich die Unwetter in Neapel häufen, wollten sich selbst die ein-

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heimischen Portiers „an ein solches Jahr nicht erinnernŖ (314). In allen diesen Fällen wird das Verbum „zapomnitřŖ (im Gedächtnis behalten) verwendet. Jeder einzelne Anonymus, jeder Gewaltherrscher, jeder naturreligiöse Erdenbewohner lebt in gleichgültiger Naturunendlichkeit „auf dieser bösen und herrlichen WeltŖ (326). In der Skizze von 1932 wird auch Arnold Böcklin erwähnt, zu dessen bekanntesten Bildern der Zyklus „Die ToteninselŖ gehört. Im November 1900 schrieb Bunin an seinen Bruder Julij Bunin aus München: „Die Bilder Böcklins sind vortrefflich.Ŗ17 Ein Jahr später hielt er in Moskau sogar einen Vortrag über Böcklin.18 Es versteht sich also, dass Bunin die „ToteninselŖ gekannt hat. Das Bild zeigt mittig ein Boot, das einen mit weißem Tuch bedeckten Sarg in Richtung der Insel mit ihren tiefdunklen Zypressen fährt. Rechts und links der Zypressen stehen Felsen mit von Menschen geschaffener, feierlich-symmetrischer Architektur. Den eingesargten Leichnam scheint weder ein aufnehmender Schoß der Natur noch eine religiöse Auferstehung zu erwarten. Böcklin kannte Neapel und die vorgelagerten Inseln von mehreren Aufenthalten. Auf Ischia hat er 1879/80 Badekuren gemacht. In dieser Zeit entstand die erste Fassung der „ToteninselŖ. Es gibt vereinzelte Deutungen, die in dem Bild einen Bezug zu Ischia oder sogar Capri erkennen wollen. Auf Böcklins Grabmal in/bei Florenz (Bunin kannte die Stadt gut) steht der Horaz-Spruch „Non omnis moriarŖ.19 Ein solcher Triumph über die Zeitlichkeit wird dem „HerrnŖ aus San Francisco nicht zuteil. Unterwelt, Hölle und Totentanz Böcklins Toteninsel-Bilder mit Boot, Fährmann und Sarg evozieren die mythische Vorstellung von Charon und Hades. Bunin als einem Kenner Homers und Vergils dürften die berühmten Katabasis-Darstellungen in „OdysseeŖ (Gesang 11) und „AeneisŖ (Gesang 6) sowie natürlich bei Dante bekannt gewesen sein.20 Der Hades-Strom Lethe ist der Fluss des Vergessens. Gleich im ersten Satz der Novelle wird Ŕ wie schon erwähnt Ŕ mitgeteilt, dass sich niemand in Neapel oder Capri an den „HerrnŖ aus San Francisco erinnerte. Die Bilder von Hölle und Unterwelt gehören geradezu zu der Entstehungsgeschichte von „Gospodin iz San-FranciskoŖ. Nach einem Zeugnis von Vera Muromceva soll Bunin Ŕ mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen als Schiffspassagier, der auch die Unterdecks kannte Ŕ im April 1909 gesagt haben: „Wenn man einen Dampfer vertikal aufschneidet, sehen wir: Wir sitzen da, trinken Wein, plaudern über verschiedene Themen, die Maschinisten aber sind in der Hölle, kohlrabenschwarz, sie arbeiten usw. Ist das gerecht? Und vor allem: Die, die oben sitzen, halten diejenigen, die für sie arbeiten, noch nicht einmal für Menschen.Ŗ21 Muromceva vermutet hier einen ersten Anstoß für Bunins Novelle.22 Die „AtlantisŖ wird in der Tat wie ein Höllenschiff beschrieben, auf dem die Jedermann-Menschheit einen Tanz auf dem Vulkan aufführt. Das Höllische bildet einen regelrechten Rahmen des Textes. Nachts leuchten die Decks bei An- und Abreise der San Francisco-Familie mit „unzähligen feurigen AugenŖ über den

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sturmgepeitschten Ozean (310, 327), mit „höllischer DüsternisŖ heult eine Sirene „in TodeswehŖ (310 f., 327) und im untersten Deck lodern die riesigen Kessel der Feueröfen (311, 327 f.), so dass der unter Wasser befindliche Schiffsleib dem „finsteren und glühend heißen Inneren der Hölle, ihrem letzten, dem neunten KreisŖ gleicht (311). Die ganze Novelle wird zudem in leitmotivischer Dominanz von der ‚HöllenfarbeŘ Rot beherrscht. Kein Reisender der menschlichen Daseinsfahrt kann angesichts solch infernalischer Bilderdominanz die erlösungshoffende Frage stellen: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?Ŗ (1. Kor. 15,55).23 Kein „HerrŖ aus San Francisco oder sonstwoher kann dem Tod ein „Go away! Via!Ŗ entgegenstellen (313). Der Tod als Endpunkt einer Via mala-Wanderung beansprucht vielmehr ein unabänderliches „Yes, come in ...Ŗ (319, 324). Und das erst recht bei einem „HerrnŖ, dem jede „mystische EmpfindungenŖ (318) fremd geworden sind. Der „HerrŖ aus San Francisco stirbt in Smoking und „BallschuhenŖ (320, 322). Das Tanzmotiv kann als Variante zur Totentanztradition bzw. zum Dansemacabre-Motiv gesehen werden. Auf der „AtlantisŖ und im Hotel drehen sich anonyme Paare im Tanz. Die Reederei hat sogar als Animationstrick ein professionelles Tanzpaar als vermeintliches Liebespaar engagiert, um den Passagieren „bezauberndesŖ Glücklichsein vorzuspielen (311, 328). Doch der Tod ist allgegenwärtig. Im Totentanz werden alle dahingerafft, gleich welchen Alters, Geschlechts oder Standes. Die als „TotentanzŖ berühmt gewordene Bilderfolge „Imagines MortisŖ von Hans Holbein d. J. (1538) präsentiert unter anderem das Todesexemplum eines „reichen MannesŖ, wobei als Motto hinzugefügt ist: „Du Narr! Noch diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du aufgehäuft hast?Ŗ (Lukas 12,20).24 Das ist der spiegelbildliche Tod des reichen Mannes aus San Francisco. Hotelier und Hotelgäste reagieren auf den Tod konsterniert und verdrängend, weil „die Menschen um keinen Preis an den Tod glauben wollenŖ (322). Die unmittelbar auf den „reichen MannŖ folgenden Holzschnitte Holbeins zeigen, höchst passend zu „Gospodin iz San-FranciskoŖ, vom Seehandel zurückgekehrte Kaufleute und todbedrohte Schiffsinsassen.25 Bunin wird das alles gekannt haben, zumal die Totentanztradition um 1900 nach wie vor verbreitet war. 1910, im Todesjahr Tolstojs, publizierte Valerij Brjusov einige von Holbein inspirierte Totentanz-Gedichte, darunter „Pljaska smertiŖ.26 Navigatio vitae: Schiff, Lebensfahrt und Atlantis Russland war lange telluro-, nicht thalassokratisch orientiert. Flussschifffahrt hatte Vorrang vor Meeresschifffahrt, weshalb in den russischen Künsten, trotz Ajvazovskij, navigatorische Bildvorstellungen nachrangig sind. Der ‚typischsteŘ aller russischen Helden, Oblomov, fürchtet nichts so sehr wie Ströme und Ozean. Bunin hingegen kannte und liebte wie kaum ein anderer russischer Klassiker Schiffe und Meeresfahrt. Nicht wenige seiner Texte haben entsprechende Themen und Schauplätze. Über seine Reisen durch „MeeresstilleŖ und „phosphoreszierenden WellenglanzŖ, aber auch durch „SeestürmeŖ und „WasserwüstenŖ hat er auf der

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Fahrt nach Ceylon Anfang 1911 ein „MeerestagebuchŖ (Morskoj dnevnik) geführt, das in heutigen Ausgaben den Titel „Vody mnogieŖ (Gewaltige Wasser) nach Psalm 28 bzw. 29 trägt.27 Vor dem Ozean und dem „Herrn über den WassernŖ verschwindet alle Menschenhybris im Nichts Ŕ so wie am 15. April 1912 die „TitanicŖ, deren Untergang alsbald den Rang einer „ModellkatastropheŖ der technizistischen Moderne erhielt.28 Nicht nur Eisberge, auch Unterseeboote versenkten selbst die mächtigsten Schiffe (vgl. den Untergang der „LusitaniaŖ im Mai 1915), so dass „Lost LinersŖ alsbald ein Thema von sinnbildlicher Kraft wurden.29 Max Beckmann schuf, nachdem er schon den „Untergang von MessinaŖ gemalt hatte, ein Monumentalgemälde „Untergang der TitanicŖ (1912/13). Mancher Zeitgenosse des Ersten Weltkrieges dachte an Géricaults Monumentalgemälde „Floß der MedusaŖ, das hundert Jahre zuvor entstanden war, oder an die Krakatau-Katastrophe von 1883, die eine gigantische Flutwelle zur Folge hatte. Die Lebensfahrt als drohender Schiffbruch gehörte, als Bunin seine Novelle schrieb, zu den zentralen Bildmustern seiner damaligen europäischen Gegenwart.30 Ebenso wie der Totentanz ist das Narrenschiff (navis stultifera, navicula stultorum) fester Bestandteil der Lehrmetaphorik ridiküler Verfallenheit an Vanitas. Sebastian Brant ist nur ein Beispiel dafür. Das Reiseziel der Schiffer mit ihrem „NarrengelächterŖ (risus stultorum) konnte „ad NarragoniamŖ (gen Narragonien, Richtung Schlaraffenland) lauten. Dahinter standen regelmäßig biblische Bezüge (zum Beispiel auf Psalm 106), satirische Konnotationen liturgischer Ordnungen und travestische Anspielungen auf ekklesiologische Schiffssymbolik.31 Als der „HerrŖ sich zum Diner begeben will, betrachtet er sich Ŕ herausgeputzt und gleichsam kostümiert Ŕ wiederholt im Spiegel: Es ist die Selbstbespiegelung des Lackaffen im Narrenspiegel (320). Nach dem Tod plappert im Hotel-Vestibül ein Papagei (322). Bei Heinrich Heine, von dem Bunin früh mindestens ein Gedicht übersetzt hat32, gibt es eine Ballade mit dem Titel „Das SklavenschiffŖ.33 Der „Superkargo Mynheer van KoekŖ, ein Sklavenhändler, transportiert Neger als „schwarze WareŖ. Als unterwegs zu viele der unter Deck Eingesperrten wegsterben, werden die Überlebenden, um sie bei Laune zu halten, zu einem nahezu infernalischen Bordfest „mit tobender LustŖ geholt, „wo Tanzmusik spektakelt [...] Es nehmen kein Ende die TänzeŖ. In einem perversen Schlussbild fleht Mynheer von Koek um seine „schwarze WareŖ zu Gott: Verschone ihr Leben um Christi willřn, Der für uns alle gestorben! Denn bleiben mir nicht dreihundert Stück, So ist mein Geschäft verdorben.

Auf Bunins „AtlantisŖ müssen Neger in den Tiefendecks schuften, während sich auf dem Oberdeck trügerischer Tanz und Lüsternheit präsentieren. Für den „HerrnŖ aus San Francisco, der sich einst Chinesen wie Arbeitssklaven hielt, ist am Ende das gesamte Lebensgeschäft „verdorbenŖ.

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In Heines Gedichtzyklus „Die NordseeŖ begegnet jene doppelwertige Sicht des Meeres zwischen Thalatta-Preis und Todeszone des realen wie symbolischen Schiffsbruchs, wie sie auch Bunin in „Gospodin iz San-FranciskoŖ dargestellt hat. Da ist bei Heine die Rede von Charon und von dem „Armen, lustigen Schifflein, / Das dort dahintanzt den schlimmsten Tanz!Ŗ Angesichts der „todkalten HimmelswölbungŖ und des „hochaufrauschenden MeeresŖ können die Okeaniden dem vermeintlich titanischen Prometheus-Menschen nur zurufen: „O Tor, du Tor, du prahlender Tor!Ŗ, und die Rufe der Möwen klingen „wie kaltes, ironisches KichernŖ. Heines Gedicht „FragenŖ schließt mit der illusionslosen Auskunft: „Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt, / Und ein Narr wartet auf Antwort.Ŗ34 Alle sind Passagiere des Narrenschiffs. In dem Gedicht „SeegespenstŖ evoziert Heine den Topos bzw. den Utopos der versunkenen Stadt, die tief „im MeeresgrundeŖ ruht.35 Dies ist eine Anspielung auf den Atlantis-Mythos, der seit Platon überliefert wird.36 Platons fiktives Inselreich liegt im Atlantik vor der Straße von Gibraltar, die Bunins „HerrŖ zweimal durchquert. Bei Platon sind die Bewohner dieser Insel in Überfluss und Göttermissachtung „entartetŖ, weshalb Zeus ihr Reich untergehen lässt. Atlantis war also zunächst und primär eine „negative Utopie par excellenceŖ, ausgestattet mit der Funktion eines „TodesspiegelsŖ.37 Seit Tertullian erscheint Atlantis dann auch im christlichen Schrifttum als Exemplum im warnenden Katastrophenkatalog.38 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielte der Atlantis-Mythos sogar in der Theosophie und im Okkultismus eine Rolle, etwa bei der umtriebigen Elena Blavatskaja (1831Ŕ1891).39 Vieles davon wird Bunin gekannt haben. 1911 spricht er in seinem Gedicht „ZovŖ (Der Ruf) vom „verheißenen AtlantisŖ, das aufs Meer hinaus und in Todesträume „rufenŖ kann.40 Einige Jahre zuvor hatte er in einem „AtlantŖ (Atlas) betitelten Text das Hochgebirge und den Ozean, den Teufel, das Titanische und das „weite Rauschen der EwigkeitŖ zusammengebracht.41 Atlas, Atlantik und Atlantis bilden ein geografisch-etymologisches Wortfeld, das weitaus bedeutungsschwerer ist als der von Bunin in Erwägung gezogene Schiffsname „Prinzessin IreneŖ. Im Jahre 1912 erschien ein Roman Gerhart Hauptmanns mit dem Titel „AtlantisŖ. Das Buch fordert zu einem mindestens typologischen, vielleicht sogar genetischen Vergleich mit Bunins Novelle geradezu heraus, auch wenn es charakteristische Unterschiede gibt.42 Es geht um eine umgekehrte Amerikareise von Europa nach New York und zurück. Erotisches Begehren, Lebenskrise, höllische Seestürme, Schiffbruch als Daseinsgleichnis, Todesschicksale bei gleichzeitigem Showgeschäft, Sozial-, Technik- und Kapitalismuskritik vermischen sich, wobei am Ende Ŕ anders als in „Gospodin iz San-FranciskoŖ Ŕ mit der Rückkehr in die „Alte WeltŖ Europas eine Art Auferstehung des Zentralhelden verbunden ist. Wiederholt werden Verweisautoren wie Schopenhauer oder Darwin genannt. Bibelbezüge sind dagegen weniger offensichtlich als bei Bunin. Hauptmanns Roman wurde nicht zuletzt wegen des Untergangs der „TitanicŖ im gleichen Jahr 1912, als Hauptmann zudem den Literatur-Nobelpreis erhielt, ein beträchtlicher Erfolg.43 Bunin hatte Hauptmann selbstverständlich als zeitgenössischen Autor wahrge-

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nommen und unter anderem mit Ĉechov über das Schauspiel „Einsame MenschenŖ diskutiert.44 Als die Familie aus San Francisco nach der schrecklichen Überfahrt auf Capri gelandet ist, befällt die Tochter das „Gefühl furchtbarer Einsamkeit auf dieser fremden, dunklen InselŖ (318). Auch Kafka arbeitete ab 1912 an einem Amerika-Roman, von dem aber zunächst nur im Jahre 1913 das Eingangskapitel „Der HeizerŖ erschien. Das unvollendet gebliebene Buch sollte wahrscheinlich den Titel „Der VerscholleneŖ tragen. 1927 veröffentlichte es Max Brod posthum unter dem Titel „AmerikaŖ. Virginia Woolf wiederum publizierte Anfang 1915 den Roman „The Voyage OutŖ, dessen Reiseziel Südamerika der zentralen Heldin den Tod bringt. Jede „AusfahrtŖ hat ein offenes Ende. Weitere Bibel- und Warnbezüge Die bisherigen Ausführungen haben bereits mehrfach auf biblische bzw. religionsmoralistische Zusammenhänge hingewiesen. Das Gleichnishafte der Novelle liegt ohnehin auf der Hand. Schon der Titel verweist auf Franz von Assisi, über den auch der von Bunin übersetzte H. W. Longfellow (1807Ŕ1882) geschrieben hatte. Die Franziskaner als Bettelmönche und „MinderbrüderŖ mit dem Tugendideal von Armut, Demut und Keuschheit sind das Gegenmodell zum „HerrnŖ aus San Francisco, zu dem demonstrativer Reichtum, Herrenmentalität und Konkupiszenz gehören. Die Bettelmönche gehen barfuß, der „HerrŖ trägt Ballschuhe. Die Kirchen der Franziskaner liegen zumeist in den Armenvierteln der Städte. Die Signalfarbe der Mönche ist das Braun der Kutte, nicht das teuflische Rot der „GospodinŖ-Geschichte. Zu Franziskus gehört der Visionsberg Alverna, nicht der Verderben speiende Vesuv. Franziskus soll nackt in seiner Zelle gestorben sein, der „HerrŖ aus San Francisco fährt in Gala- und Ballmontur in die Grube. Er trägt die Stigmata des verfehlten Lebens, Franziskus hingegen die Stigmatisation der Wundmale Christi. Das Gewand des Heiligen zeigt auf Bilddarstellungen eine Fenestella (ein Fensterchen), um die Seitenwunde sichtbar zu machen. Die „AtlantisŖ aber blickt mit „feurigen HöllenaugenŖ auf den Ozean. Jederzeit können aus der Stadt des Heiligen Franziskus unheilige Protagonisten hervorgehen, die in ein ebenso dekonstruierbares Capri gelangen. Das Menetekelkonstrukt wird auch in dem Motto evident, das Bunin zunächst verwendet und späterhin weggelassen hat: „Wehe dir, Babylon, du große Stadt!Ŗ (Off. 18).45 Der Lasterkatalog der Apokalypse kehrt in den Lebensverfehlungen des „HerrnŖ und seiner Umgebung wieder: das Schiff als Sünden-Babel, Hybris, Götzendienst (der rothaarige Kapitän als „idolŖ und „jazyĉeskij bogŖ: 310, 313, 327), Tanz ums Goldene Kalb (vgl. das Leitmotiv der „goldenen PlombenŖ des „HerrnŖ), Buhlschaft, Höllenbilder, technischer Gigantismus wie beim Turmbau usw. In der Apokalypse Jesajas wird, nach dem Eintritt von Naturkatastrophen, die frevelnde Hoffart gestürzt und „hingeworfen ohne GrabŖ, so dass am Ende „auch der Name getilgt wirdŖ. Auf Ewigkeit wird man „des Stammes der Bösen nicht mehr gedenkenŖ (Jesaja 14). Der Namensverlust des „HerrnŖ aus San Fran-

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cisco und seine Depossedierung im Sodawasserkisten-Sarg sind hier vorgezeichnet. Das ‚falsche LebenŘ des „HerrnŖ wird auch sonst durch eine Fülle von Defizit- und Täuschungsmotiven illustriert. Er hat bisher „nicht gelebt, sondern nur existiertŖ (308), der Smoking macht ihn jünger als er ist (während ihn der anginöse Hemdkragen regelrecht stranguliert), er trägt falsche Zähne und hat Gicht und Plattfüße, die Vergnügungsreisenden sind wie bei einer Maskerade gepudert und geschminkt, das gemietete Tanzpaar spielt geheuchelte Liebe und Luigi geheuchelte Ehrerbietung, der Wein ist gepanscht, das schreckliche Wetter unterläuft alle Klischeeerwartungen, das „wahre ItalienŖ (316) kennt Gestank, Schimmel und Elend, auch in Hotels mit Namen „RoyalŖ oder „SplendidŖ wird gestorben46, das Hotelpersonal persifliert wie im Fastnachtsspiel den Tod des „HerrnŖ, der Wagen mit dem Sarg wird von einem Pferdchen mit Schellen und Federbusch gezogen wie im Narrenspiel, und auf dem Leichentransporter „AtlantisŖ werden Tanzbälle gefeiert inmitten des wie eine „TotenmesseŖ (327) dumpf rauschenden Ozeans. Auf der „TitanicŖ hatte die Bordmusik bis kurz vor dem Versinken gespielt. Petr Bicilli hat festgehalten, dass Bunins stärkster moralisch-literarischer Antrieb im „Abscheu gegen alles Verlogene und FalscheŖ liege und damit letztlich ein Plädoyer für das ewig Gute, Wahre und Schöne intendiere.47 Das Disharmonisch-Bedrohliche reicht bis ins Monströse. Der rothaarige Götzen-Kapitän ist von „monströser GrößeŖ (310), und die gewaltige Kurbelwelle der „AtlantisŖ arbeitet wie ein „lebendiges MonstrumŖ (328). Aleksandr Radińĉev hatte seiner „Reise von Petersburg nach MoskauŖ als Motto vorangestellt: „Ein Ungetüm, plump, wild, riesig, hundertmäulig und bellendŖ. Bulgakovs „Sobaĉře serdceŖ (Hundeherz) wird den Untertitel „Eine monströse GeschichteŖ erhalten. Nicht monströs, jedoch irritierend beunruhigend sind in „Gospodin iz San-FranciskoŖ die wiederkehrenden Verweise auf Unheimlich-Asiatisches. Die „AtlantisŖ bietet ihren Passagieren „orientalische BäderŖ (309) und „krummbeinige Chinesen-SchiffsboysŖ (312), das gelbliche Gesicht des „HerrnŖ zeigt „etwas MongolischesŖ (311), der inkognito reisende Prinz kommt aus einem „asiatischen StaatŖ, hat „SchlitzaugenŖ und sieht „wie ein ToterŖ aus (312). Im namenlosen TodesHotel auf Capri ertönt ein „chinesischer GongŖ (317). Der „HerrŖ, wir wissen es, hatte „tausende ChinesenŖ für sich arbeiten lassen (308). So schließt sich der Kreis. Afrikanisches wird assoziiert, wenn die Ŕ ursprünglich als „SpanierinŖ annoncierte Ŕ Tänzerin Carmella wie eine „MulattinŖ aussieht (320). Die ChinesenMotivik erinnert an Fontanes „Effi BriestŖ, wo Chinesenspuk und Sündenfall eng zusammengehören. Das Chinesensyndrom wird für Effi zu einer Art Gewissensanruf. Auch Fontane verwendet die biblischen Bilder vom Sünden-Babel, vom Götzen und vom Götzendienst, vom Teufel und vom Jüngsten Gericht.48 Bunins Schreckensbild einer von gottlosen Zwängen beherrschten „neuenŖ Gesellschaft kann durchaus typologisch mit Fontanes „tyrannisierendem Gesellschafts-EtwasŖ verglichen werden. Gleich im Auftaktsatz der Novelle wird mitgeteilt, dass der „HerrŖ in die „Alte WeltŖ reist. In den Schlussabschnitten des Textes kehrt sein Leichnam „zu den

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Ufern der Neuen WeltŖ zurück (327). Der Luxusliner und Technikgigant „AtlantisŖ wurde, so der kommentierende Erzähler, geschaffen „von der Hybris des Neuen Menschen mit dem alten HerzenŖ (327). Die Benennung der Reiseziele und des „Neuen MenschenŖ hat Bunin durch Initialen-Großschreibung hervorgehoben. Diese Hervorhebung hat er auch sonst gelegentlich bei der Verwendung von biblischem Vokabular vorgenommen (Bog usw.). Je nach Textfassung der Novelle war nicht nur von der Hybris (gordynja) des „Neuen MenschenŖ, sondern auch vom „stolzen AmerikaŖ die Rede.49 Die Betonung und Entgegensetzung des Neuen und Alten verweist auf mehrere Deutungshorizonte: auf den (kultur)geografischen Gegensatz Amerika Ŕ Europa, auf den Sozialstatus des Aufsteigers als homo novus50 und insbesondere auf die biblische Unterscheidung des „altenŖ und „neuen MenschenŖ, wie sie explizit in den Paulus-Briefen entwickelt wird. Die paulinische Lehre vom alten und neuen Menschen wird in den Bibeleditionen (Röm. 6, Eph. 4, Kol. 3) durch entsprechende (Zwischen)Überschriften angezeigt: „Der alte und der neue MenschŖ (Otloņite vetchego ĉeloveka... oblekitesř v novogo). Diese Abschnitte bieten einen höchst nützlichen Kommentar zu Bunins Novelle. Paulus mahnt, der „neue MenschŖ als christusgetragenes Ebenbild Gottes solle den „alten AdamŖ mit seinem „GötzendienstŖ ablegen: Habgier und Menschenmissachtung, Hochmut, Ausschweifung, hässliche Worte und jeglichen Egoismus. Die Idolatrie des „alten MenschenŖ sei Teufelswerk gewesen (Eph. 4,27). Wer weiterhin in diesseitiger Genussverfallenheit lebe und die Menetekel nicht erkenne (vgl. Daniel 5), werde vom Zorn Gottes in Finsternis und Untergang gestürzt. Der „erneuerte MenschŖ solle Ŕ jenseits aller nationalen oder sozialen Schranken Ŕ nur noch demütiger Christ sein (Kol. 3,11): „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, nicht Barbar, Skythe, Sklave oder Freier, sondern alles und in allen Christus.Ŗ Hier liegt die Erklärung für Bunins Ansatz, in „Gospodin iz San-FranciskoŖ so zahlreiche Vertreter aus allen Erdteilen paradieren zu lassen, ohne ihnen individualisierende Namen zu geben. Mit „anti-bourgeoisenŖ bzw. anti- oder postkolonialen Botschaften, wie manche Interpreten seit Sowjetzeiten glauben, hat das wenig zu tun. Ob die Menschen in der „Neuen WeltŖ Amerikas oder in der „Alten WeltŖ Europas, ob sie im asiatischen oder afrikanischen Raum leben, spielt keine Rolle, solange sie sich nicht vom „alten HerzenŖ zu trennen vermögen. Gelingt ihnen das nicht, hat der Teufel leichtes Spiel und kann vom Hochsitz des Gibraltarfelsens gelassen die Fahrt der Jedermann-Narrenschiffe verfolgen. Bunin gibt der Befürchtung Ausdruck, dass diese Welt weder auf den „Felsen PetrusŖ gegründet ist noch vom Kirchenschiff sicher geleitet wird. Die Hoffnungen dieser Welt sind womöglich doch nur eingesargt wie der „Herr aus San FranciscoŖ im Tiefendeck der „AtlantisŖ, weil die Menschen allzuoft keinen Weg zwischen „Altem und Neuem BundŖ mit dem Erlöser-Gott finden (Mt. 26, 28, 1. Kor. 11,25). Die ‚UmkehrŘ des „HerrnŖ besteht in einer bloß äußerlich-geografischen Rückreise, nicht in einer inneren Läuterung durch rettende via purgativa. Bunin hat nicht nur die Grundtexte verschiedener Religionen studiert (die Bibel, den Koran, buddhistische Quellen), sondern auch Kommentare zu ihnen. Er hat sich so-

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gar mit Gelehrten wie Konstantin von Tischendorf (1815Ŕ1874) befasst, einem der damals berühmtesten Neutestamentler und Entdecker des Codex Sinaiticus. „Von den Dingen zum Wort“: Stil und Komposition Bedeutende Literatur, so Petr Bicilli, entstehe durch die Bewegung „vom Ding zum WortŖ, nicht umgekehrt. Hierfür sei Bunin ein unübertreffbares Beispiel.51 Das Studium der Dinge müsse Vorrang haben vor dem Studium der Wörter. Nicht das effektvolle Wort als solches, sondern die unprätentiöse Betrachtung und Wiedergabe der Außenwelt und ihrer Zusammenhänge sei die erste Pflicht des Autors. Mit dieser Vorgehensweise sei Bunin allen modernistischen Strömungen und zumal dem Symbolismus überlegen gewesen. Auch wenn man Wertungen dieser Art nicht unbedingt folgen muss, hat Bicilli doch Bunins literarische Methode treffend charakterisiert. Bunin war ein exzellenter Beobachter mit außerordentlichem Gespür für Detailreichtum und scheinbar Beiläufiges im Gesehenen und Gehörten, mit bewahrendem Gedächtnisblick für die Dingwelt, ihren Kontext und die sich in ihr bewegenden Menschen, mit klarer Erfassung von Strukturen in Material-, Moral- und Sozialwelt. Autoren wie Valentin Kataev oder Konstantin Paustovskij haben ihm daher eine „stereoskopischeŖ Welterfassung zugesprochen, und Ulla Hahn konstatiert „Bunin schreibt mit den AugenŖ.52 Die Registratur des Faktischen verband sich vor allem im mittleren und späteren Werk mit der Konzentration auf das thematisch Wesentliche und dabei manchmal auch mit einem gewissen Reduktionismus im Personenensemble und -konzept, wobei relativ selten Wert auf psychologische Vertiefung sowie raffinierte Dialoggestaltung gelegt wurde. Der „HerrŖ aus San Francisco und seine Familie werden ohne nähere Vorgeschichte präsentiert, und ihr Innenleben während der Reise wird nur holzschnittartig dargeboten. Was aus Frau und Tochter wird, erfahren wir nicht, sie sind bloße Staffage. Bunin kommt ohne die Ensemblebildung, Handlungsfülle und Epilogvorliebe eines Dostoevskij oder Tolstoj aus. Moderne Literaturverfahren wie komplizierte Psychodynamik, innerer Monolog, perspektivische Relativierungen und Botschaftsverhüllung, unzuverlässige Erzähler, änigmatische Bildlichkeit oder raffinierte Montagetechnik liebte er nicht. Das muss man von einem Lyrik- und Novellenautor auch nicht unbedingt erwarten. Bunin beherrscht dafür die Kunst, Literatur zu schreiben, welche die Balance zwischen „gemachtŖ und „erlebtŖ enthält. Bunins Erzählweise beruht auf „Nüchternheit, Klarheit des Denkens und gesundem MenschenverstandŖ des klassischen Literaturverständnisses ohne „OriginalitätsgehabeŖ.53 Das Nüchterne wird allerdings kompensiert durch seltene Vielfalt in Wortschatz, Wortverbindung und Wortstellung. Kaum ein russischer Autor kennt so viele Epitheta, Adjektivzusammensetzungen und adverbielle Varianten wie Bunin, was ihm auch im Erfassen von Realphänomenen „lyrische IntonationenŖ ermöglicht.54 Seine „abbildende DarstellungskunstŖ bewahrt im subjektiven Wahrnehmen stets den Reichtum der Realerscheinungen, so dass seine Beschreibungen meist durch plastische Reliefgebung, Fülle von Sinneseindrücken,

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unverrätselte Dingsymbole und ebenso zahlreiche wie ungekünstelte Sprachnuancen gekennzeichnet sind. Die Textorganisation kennt natürlich gezielte Wortfelder und Leitmotivtechnik, rahmende Fernbezüge mit Voraus- und Rückverweisen, antizipatorische Allusionen und Korrespondenzen mit anderen Texten und Künsten. So wichtig „die DingeŖ auch sein mögen, literarisch unsterblich bleibt allein „das WortŖ, das Objekträume zu Bedeutungsräumen machen kann.55 Das Wort müsse zunächst, so Bunin, unbedingt eigenhändig (nicht maschinell) niedergeschrieben werden, um seine poetisch-geistige „IndividualitätŖ zu bewahren.56 Schon von einem „einzelnen WortŖ könne ein „anrufender KlangŖ ausgehen, der unmittelbar den Schreibprozess auslöse, ohne dass der Autor eine „fertige FabelŖ im Kopf haben müsse.57 Bunin ist zumal in „Gospodin iz San-FranciskoŖ bei aller „DingorientierungŖ ein poeta doctus mit kultivierter Sprache und einem „synkretistischenŖ Stil, dessen scheinbar harmlose Denotationen wie bei Ĉechov stets eine Konnotationsdimension erlangen können. In dieser sprachlichen wie allusiven Vielfalt liegt der Grund, weshalb Bunin keineswegs leichthändig übersetzt werden darf. Zu den Gegebenheiten der „DingeŖ gehören nicht nur die gegenständliche und menschliche Welt, sondern auch bewährte Kompositionsmuster. „Gospodin iz SanFranciskoŖ ist zwar linear erzählt, hat aber in den motivischen und handlungsmäßigen Rahmenelementen zugleich eine zirkulare Anlage. Die Linearität wird durch einen novellistisch-dramatischen Bau unterstrichen, der dem äußerlich ungegliederten Text eine innere Struktur verleiht. Es gibt fünf Erzählabschnitte wie bei einem fünfaktigen Drama: Anreise und Ankunft in Neapel als Exposition mit ersten Todesanspielungen, der desillusionierende Aufenthalt in Neapel und die unheilvolle Überfahrt nach Capri als eine Art Intrigenherstellung gegen die Lebensgiererwartungen des „HerrnŖ, dann als gleichsam vierter Akt der Aufenthalt auf Capri mit der Infarkt-Peripetie, schließlich die katastrophische Rückkehr als Hadesfahrt mit endgültigem Würdeverlust. Die Finalität im Todesschicksal entspricht dem tektonischen Drama. Die zirkularen Strukturen (dasselbe Schiff „AtlantisŖ, der abermals unheilvolle Wetterumschlag, die Höllenbilder, der GötzenKapitän, das gemietete Tanzpaar und anderes) verweisen auf atektonische Komponenten und den ewigen Kreislauf scheiternder navigationes vitae. Das Einzelschicksal mag enden, das Gattungsschicksal der Menschheit wird perpetuiert. Über beiden steht das Menetekel des Untergangs in anonymer Verlorenheit. Pyramidaler und zyklisch-zirkularer Bau überlagern sich. Deadline-Denken: Zwischen Grinsen und Grausen? Man kann die Novelle „Gospodin iz San-FranciskoŖ, wie jedes bedeutende Literaturwerk, allein oder primär aus sich heraus interpretieren. Das haben gelungene Deutungen auch immer wieder versucht. Zusätzliche Verständnismöglichkeiten sind zu gewinnen, wenn der Text in prä- und kontextuelle Zusammenhänge gerückt wird. Das ist die Intention des vorliegenden Beitrags. Er nimmt ernst, was Bunin im Jahre 1921 zur Aufgabe der Dichter erklärt hat: „Was müssen sie

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besitzen? Die Fähigkeit, besonders stark nicht nur ihre eigene Zeit zu erfassen, sondern auch eine fremde, nicht nur ihr eigenes Land, sondern auch andere Länder, nicht nur sich selbst, sondern auch die übrigen Menschen.Ŗ58 Zu Valentin Kataev sagte Bunin, er wolle ein „übernationalerŖ Dichter mit einer „allgemeinmenschlichen WeltseeleŖ sein, und darum habe er sich besonders in „Gospodin iz San-FranciskoŖ bemüht.59 In der Aufzeichnung von 1921 hält er außerdem fest: „Ich stehe mein ganzes Leben lang unter dem furchtbaren Zeichen des Todes, ich fürchte ihn unsagbar.Ŗ60 Die Vorstellung, dass im Jedermann-Schicksal unerlöster Tod drohen kann und auf der Lebensreise keine rechtzeitigen Sinnwege zu finden sind, hat eine existentialistische Dimension: „Und ein Narr wartet auf AntwortŖ, lautete Heines oben zitiertes Fazit, das wie eine Vorwegnahme des Absurden bei Camus oder Sartre erscheint. So wie die Wellen des Ozeans kleine und große Schiffe hin und her werfen, so steht der Mensch in permanenter „GeworfenheitŖ vor der schweigenden Welt. Die Todesmoralistik hat unzählige Formeln gefunden: Media vita in morte sumus; mors certa hora incerta; vita somnium breve (vgl. Böcklins gleichnamiges Gemälde); et respice finem usw. Der fiedelnde Tod ist unser grinsender Lebensbegleiter, doch die Menschen setzen ihr Rollenschauspiel unbeirrt fort: „Wir spielen weiterŖ, heißt es in Rilkes mit Capri verbundenem Gedicht „Todes-ErfahrungŖ. Als sich der „HerrŖ ins CapriHotel begibt, schreitet er „wie auf einer BühneŖ gleichsam über einen „OpernplatzŖ (317). Im Hotel spielt er „mit hochgelegten BeinenŖ (311) den lässigen Weltmann, im Todeskampf aber schlagen die Absätze seiner Ballschuhe nur noch den Teppichboden der Lesehalle (321). Danach hält sich der Papagei mit einem „unschön gekrümmten FußŖ an der Käfigstange fest (322). Das jeweils verwendete Verbum „zadratř/zadiratř Ŗ taucht in der russischen Wendung für „hochnäsig seinŖ (zadiratř nos) wieder auf. Man denke auch an die derb-volkssprachliche Wendung „sygratř v jańĉikŖ: das Spiel ist aus = sich in die Kiste legen. Die Sodawasserkiste wird als „dlinnyj jańĉikŖ bezeichnet (323, 324). Rilkes Verstörung wegen der Todes-Präsenz inmitten traumhafter Capri-Naturherrlichkeit kehrt bei Bunin wieder. Es geht um den Doppelsinn des „Et in Arcadia egoŖ: Kann der Mensch, und sei es nur vorübergehend, Arkadienbewohner sein oder verbirgt sich hinter dem „egoŖ doch nur die Omnipräsenz des Todes?61 In Monte Carlo findet das erbärmliche Amüsement des Taubenschießens „vor dem Hintergrund des vergißmeinnichtblauen MeeresŖ statt (309). Die in der Novelle immer wieder beschriebenen Naturschönheiten des „blauen MeeresŖ, des „blauen HimmelsŖ, der „blauen SterneŖ, der „blauen BergeŖ erinnern an den Sehnsuchtsentwurf der „Blauen BlumeŖ, der das Wirkliche zu transzendieren sucht. Auch für den „HerrnŖ verschwimmen gelegentlich in seltsam-beunruhigender Weise „Traum und WirklichkeitŖ (318). Wirklich ist auch, wie der Erzähler mitteilt, dass die Gesichtszüge des Helden nach Eintritt des Todes „sich zu verfeinern und zu leuchten begannenŖ (323). In anderen Textvarianten stand als Nachsatz, dass „diese Schönheit ihm schon lange zugestanden hatteŖ.62 Bringt das Todesschicksal Erlösung von irdischer Last und Verfehlung? Ist der Tod der Gerechtigkeitsspruch der Natur? Verleiht er am Ende doch allen Sterblichen eine

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gleiche Würde? Natur- und Menschenwelt kann durchaus, wie der Erzähler in vereinzelten Beobachtungen mitteilt, selbst angesichts des Todes mit „sorgloser UnbekümmertheitŖ (324 f.) reagieren. Zweimal ist im Text von Bergbewohnern aus den Abruzzen die Rede, die in naiver Fröhlichkeit das Lob der Jungfrau Maria und der ewig schönen Natur singen (315 und 326). Die Mutter Gottes ist ihnen die „unbefleckte Beschützerin all jener, die leiden auf dieser bösen und schönen WeltŖ (326). Zur gleichen Zeit aber ist mit Bezug auf den „HerrnŖ von einer „alten PalmeŖ (321) und einem „absterbenden BananenbaumŖ (323 f.) die Rede, sind die Museen in Neapel „leblos-sterilŖ, und „kalte KirchenŖ präsentieren sich mit „glitschigen GrabplattenŖ und „gewaltiger LeereŖ (314). Zu dem Plan der Vergnügungsreise des „HerrnŖ gehören die Karwoche in Rom und das „MiserereŖ. Verlässliche Gewissheiten gibt es nicht, und dass „schöne NaivitätŖ nicht nur mit großen, aber einfachen Gefühlen, sondern durchaus mit Indifferenz zu tun haben kann, weiß die Modernekritik durchaus. Gustaw Herling-Grudziński hat seiner Capri-Erzählung „WyspaŖ (Die Insel), die wiederum an die Novelle „LřArrabbiataŖ (1855) von Paul Heyse erinnert, eine ganz ähnliche Ambivalenz unterlegt.63 Capri ist der ideale Transitraum zwischen Schönheit und Schrecken, Ewigkeit und Todesende, Diesseits und Jenseits. Wenn in Dunst und Nebel alle Konturen verschwimmen, stellt sich sogar die Frage, ob Capri „jemals existiertŖ hat (315). Der Tod ist nicht lokalisierbar, für ihn gibt es weder ein Irgendwo noch ein Nirgendwo. Bunins Düsternis ist von Gorřkijs sogenannter Hymne an den Menschen im Schauspiel „Na dneŖ (Nachtasyl, 1902) meilenweit entfernt. Dort heißt es: „Der M-ensch! Das ist großartig! Das klingt... so erhaben! M-men-sch! Man muss den Menschen achten! Nicht bemitleiden.Ŗ64 Diese geradezu vitalistische Emphase des Gorřkijschen Anthropozentrismus kann Bunin nicht teilen. In seiner Novelle wird selbst Ĉechovs futurische Zeit abgewiesen, die auf ein „BesserwerdenŖ in Hunderten von Jahren hoffte. Dieser Infinitheit setzt Bunin die Finitheit der „verlorenen ZeitŖ mit Todes-Peripetie entgegen, die geschlossene Handlung, geschlossene Räume (Sodawasserkiste, Sarg, Unterdeck) und definitive Botschaften kennt.65 Hier zeigen sich nicht die Möglichkeiten einer offenen Zukunft, sondern ein rigoroses Deadline-Denken. Es geht um Tolstojs Frage „Wieviel Erde braucht der Mensch?Ŗ bzw. um das Monitum der Evangelien „Wer ist unter euch, der seiner Lebensdauer auch nur eine einzige Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?Ŗ (Mt. 6,27; Lk. 12,25). Wenn der Mensch nicht mehr „sub gratiaŖ lebt, helfen auch keine Reisen in Neue Städte oder Welten: Neapel (= Nea polis) ist kein „Neues JerusalemŖ. Alles Heitere ist in „Gospodin iz San-FranciskoŖ an den Rand gedrängt oder ins Zwielicht gerückt, einschließlich der unberechenbaren und selbst im Glanz gleichgültigen Natur66, in der auch die Farben Rot oder Blau keine Glücksgarantien liefern können. Die Omnipräsenz der vier Elemente Wasser, Erde, Feuer, Luft könnte darauf verweisen, dass alles Natur-Elementare weit über dem Ephemären des menschlichen „Leid-WesensŖ liegt. Hier wäre ein Anknüpfungspunkt an die Theorie, Bunin sei mit dem Buddhismus vertraut gewesen. Auch die human-

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souveräne Ironie eines Thomas Mann fehlt, der in seinem Ĉechov-Essay gesagt hat, alle Lebenswahrheit sei „von Natur ironischŖ. Das kichernde Grimassieren eines Luigi, der dem toten „HerrnŖ ein hämisches „partenza!Ŗ hinterherruft (324), hat damit nichts zu tun. Nicht zufällig haben Bunin-Interpreten einen Schopenhauer oder Oswald Spengler als Vergleichsautoren herangezogen.67 Für Schopenhauer war das Dasein nur ein „allgemeiner Schiffbruch der WeltŖ und jeder Mensch lediglich ein „Tropfen im MeerŖ. Letztlich büße jedes Individuum die grundsätzliche Erbsünde, nicht aber seine „PartikularsündenŖ ab, so dass kein literarischer Held „poetische GerechtigkeitŖ beanspruchen könne.68 Weder Schopenhauer noch Bunin könnten sich Sisyphos als „glücklichen MenschenŖ vorstellen. Jurij Malřcev bezeichnet entsprechend die „VerzweiflungŖ als den „wahren HeldenŖ der Novelle.69 Bunin hat, um ein treffendes Wortspiel von Karlheinz Stierle aufzunehmen, wie Dante „hermenautische ErkundungenŖ vorgenommen im „großen Meer des SeinsŖ (gran mar dellřessere: Par. 1,113), ohne jedoch im „großen Meer des SinnsŖ zum Paradies zu finden.70 Bunin verkörpert den fundamentalen Gegenentwurf zu modernistischen Experimentierformen und zum Ästhetikspiel pathophiler Literaturvorlieben der „schönen DekadenzŖ um 1900.71 Auch wenn er zahlreiche Themenspuren des seriell-traditionellen „Memento mori!Ŗ aufnimmt und, wie er selbst sagte, in synkretistischem „SymphonismusŖ zusammenführt72, bleibt seine Novelle doch ein Solitär von eigener Wucht und Zeitbezogenheit.

Nikolaus Katzer

Isaak Babelř: Konarmija (Die Reiterarmee) Unter den Rätseln der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts bildet Isaak Babelř eines der beunruhigendsten und irritierendsten. Auf zahlreiche Fragen geben weder seine Werke noch seine Briefe und sonstige Lebenszeugnisse eindeutige Antworten. Stets aufs Neue lotete Babelř aus, wie das sowjetische Zensursystem unterlaufen werden konnte, mit dessen Aufbau, Wandelbarkeit, Willkür und Unberechenbarkeit sein Aufstieg als Schriftsteller parallel verlief. Er schulte seine sprachliche Kunstfertigkeit, experimentierte mit Stilmitteln und spielte mit Genres. Damit forderte er nicht nur die Behörden, sondern auch Kritiker aus Partei und Literaturbetrieb heraus. Ihn durch Zensur zügeln zu wollen oder durch Verbot zum Schweigen zu bringen, erwies sich als vergeblich. Zu ambivalent waren die Charaktere, zu offen der Verlauf der Handlung, zu stark die Wirkung seiner Bilder. Sie stehen für sich und bedürfen nicht der Beglaubigung durch die Biographie des Schriftstellers. Und doch gewinnen sie an Tiefe, wenn die Merkwürdigkeiten von Babelřs Lebensweg mitbedacht werden. Sie lassen Biographen verzweifeln, weil wichtige empirische Daten fehlen.1 Vielleicht bedingt aber gerade die teils gewollte, teils unverschuldete Unschärfe seiner Vita auch den existentialistischen Wesenszug seines Schaffens. Babelřs Œuvre ist relativ schmal. Es besteht im Kern aus drei Erzählzyklen, von denen „KonarmijaŖ den fulminanten Beginn setzt, gefolgt von den eher lose verbundenen „Odesskie rasskazyŖ (Geschichten aus Odessa) und der nur fragmentarisch erhaltenen Sammlung von Texten über die Kollektivierung. In einigen der späten Erzählungen werden Themen variiert wie die gewaltsame Getreidebeschaffung, die auf Erfahrungen sowohl der Bürgerkriegszeit als auch der späten zwanziger Jahre beruhen. Für sich zu betrachten sind die frühen Werke und nicht zuletzt die Theaterstücke, die neuerdings wieder auf internationalen Bühnen zur Aufführung kommen. Dieses gesamte Schaffen ist in Etappen bekanntgeworden, wurde verboten und verschwiegen, dann wiederentdeckt. Dabei ist es über die Jahrzehnte in der Wertschätzung der Wissenschaft wie beim Publikum stetig gewachsen. Bis heute geht von ihm eine ungebrochene Faszination aus, obgleich eine historisch-kritische Ausgabe der Werke nicht in Sicht ist.2 Gerade in jüngerer Zeit hat sich die Forschung stark belebt, erweitert sich das Deutungsspektrum, gewinnen die Erzählungen an überzeitlicher Gültigkeit.3 Rätselhaft sind auch manche Hintergründe der posthumen Rezeption, angefangen mit der Neu- bzw. der Wiederentdeckung Babelřs seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Selten lassen sich die Motive von Entscheidungen, einzelne Werke erscheinen zu lassen, zweifelsfrei aufklären. Außerdem taten sich viele Interpreten und Rezensenten schwer, Babelřs expressive, exotische und drastische Sprachschöpfungen mit seinem vermeintlichen Naturalismus in Einklang zu

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bringen. Verallgemeinerungen waren ohnehin schwierig, weil das Gesamtwerk für lange Zeit nicht verfügbar war. Um die verwickelten Entstehungsbedingungen und lebensgeschichtlichen Kontexte musste sich hingegen nicht sorgen, wer die Erzählungen von „KonarmijaŖ ausschließlich als Wortkunstwerke betrachtete.4 Bekanntermaßen liebte es Babelř, extensiv am Redefluss seiner Texte zu feilen, während ihm die Präzision der inhaltlichen Aussage gleichgültig zu sein schien. Indessen war er sich sehr wohl bewusst, auf einem ganz schmalen Grat zwischen realistischem und modernistischem Anspruch zu wandern: „Was hält meine Sachen zusammen? Welcher Zement? Sie müssen doch beim ersten Stoß auseinanderfallenŖ, fragte er sich. Sehr oft beginne er am Morgen, eine Kleinigkeit, ein Detail, eine Besonderheit zu beschreiben. Gegen Abend habe sich dies dann in ein „ebenmäßiges ErzählenŖ (strojnoe povestvovanie) verwandelt. Babelř sprach nicht gern darüber; denn wer werde schon glauben, „dass eine Erzählung allein vom Stil leben kann, ohne Inhalt, ohne Sujet, ohne Intrige? Der blanke UnsinnŖ.5 Ungeachtet dessen beharren nicht wenige Kritiker darauf, dass jenseits aller Ausschmückungen die faktische Substanz überwiege und der Wert der Erzählungen in ihrem semantischen Gehalt bestehe. Sie fühlen sich durch Selbstzeugnisse bestärkt, die, wie „Dnevnik 1920 godaŖ (Tagebuch 1920), sukzessive bekannt wurden und den Nachweis zu erbringen schienen, dass Babelřs narrativer Gestus autobiographisch und wesentlich empirisch sei.6 Bei näherer Betrachtung erweisen sich die beiden Deutungsansätze Ŕ „SujetlosigkeitŖ vs. „WahrheitŖ Ŕ als keineswegs exklusiv. Weder behaupten die einen, es gebe in „KonarmijaŖ keine Tatsachen, noch leugnen die anderen formale Verfremdungseffekte. Ihre Interpretationen nähern sich Babelř lediglich von verschiedenen Enden her an. Insofern liefert auch „Dnevnik 1920 godaŖ Argumente in beide Richtungen. Das Tagebuch reflektiert tatsächliche historische Begebenheiten, offenbart aber zugleich die Intention des Autors, sie literarisch zu fassen. Zahlreiche Begebenheiten sind offener, drastischer und kritischer beschrieben als in „KonarmijaŖ. Unverkennbar arbeitet Babelř jedoch bereits als Tagebuchschreiber daran, eine unverwechselbare Sprachkunst zu entwickeln. Nur schwer lassen sich der Chronist und der Stilist, der Realist und der Modernist voneinander trennen. So erlaubt es das unverhofft geborgene Rohmaterial, noch tiefer in Babelřs geheimnisvolle Gedankenwelt vorzudringen. Der Erzählzyklus „KonarmijaŖ machte Babelř 1926 über Nacht berühmt. Er steht exemplarisch für das Schicksal von Werk und Autor, bildet das Herzstück eines außerordentlichen Schaffens und gleichzeitig den Fluchtpunkt einer tragischen Biographie. In der Sowjetliteratur erhielt Babelř dafür spät einen bescheidenen, ephemeren Platz zugewiesen. Da jedoch von den „roten ReiternŖ eine gewaltige Faszination ausging, löste sich das Motiv allmählich von seinem künstlerischen Schöpfer, wurde unter Stalin zu einem Heldenmythos umgeschrieben und verselbständigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Vita des Reitergenerals Budennyj. Welcher Rang Babelř hingegen in der Weltliteratur gebührt, ist eine noch junge Frage, deren Antwort aussteht. Knapp zwanzig Jahre nach den Ereignissen in Galizien im Sommer 1920, die in „KonarmijaŖ die Grundstruktur

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der Handlung bilden, wurde der Schriftsteller am 27. Januar 1940 in einem Verließ der Lubjanka ermordet. 1920 und 1940 stehen in einem sachlichen, werksgeschichtlichen und biographischen Zusammenhang. Textgestalt Babelřs Gesamtwerk ist in mehrfacher Hinsicht fragmentarisch. Zum einen sind größere Teile davon verschollen. Bei der Verhaftung des Schriftstellers am 15. Mai 1939 wurden Mappen mit Manuskripten beschlagnahmt. Sie geben bis heute Anlass für Spekulationen, weil sie vermutlich alles Wesentliche enthielten, woran Babelř in seinem letzten Lebensjahrzehnt gearbeitet hat. Die Texte durften entweder nicht publiziert werden, oder sie wurden nicht reif für die Veröffentlichung gehalten. Da der Briefwechsel lückenhaft überliefert ist, fehlt eine wichtige Quelle, die Auskunft über die Arbeitsvorhaben, jedoch auch über das Leben des Schriftstellers geben könnte.7 Zum anderen kennzeichnet viele Werke ein Zug zum Fragmentarischen. Sie sind episodisch, beginnen und enden unvermittelt, entbehren einer geschlossenen Handlung. Schließlich ist es im Einzelfall schwer, Eingriffe der Zensur zweifelsfrei nachzuweisen, namentlich dann, wenn Originalmanuskripte nicht erhalten sind. Überdies liegen von einigen Texten Druckfassungen in mehreren Varianten vor.8 Im Erzählzyklus „KonarmijaŖ sind die meisten dieser allgemeinen Merkmale der Überlieferung erstmals und gleichsam paradigmatisch versammelt. Insofern liegt hier der Schlüssel zu Babelřs künstlerischem Schaffen. Sein Tagebuch des Jahres 1920, das während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs verfasst wurde, haben Freunde in Kiev aufbewahrt und vor der Konfiskation gerettet. Als es 1965 in wenigen Auszügen, 1989 in einer noch immer stark gekürzten Version sowie 1990 schließlich zum ersten Mal vollständig veröffentlicht werden konnte, war dies eine literarische Sensation.9 In der Tat hat es die Forschung ungemein beflügelt. Die erste Buchausgabe des ganzen Zyklus war 1926 unter dem Titel „KonarmijaŖ im Staatsverlag in Moskau mit einer Startauflage von 7000 Exemplaren erschienen. Sie umfasst 34 Erzählungen, den klassischen Kern, an dem alle späteren Editionen zu messen sind. Auf ihr beruhen nicht alle der frühen Übersetzungen in andere Sprachen; denn manche Herausgeber griffen auf Vorabveröffentlichungen in Zeitschriften zurück und stellten Texte eigenmächtig zusammen.10 Seit 1923 hatte Babelř einzelne Erzählungen in Zeitungen und Zeitschriften Moskaus und Odessas veröffentlicht. Einige erschienen in Sammlungen vermischter Kurzgeschichten aus seiner Feder. Gelegentlich verwies dann der Zusatz „Aus dem Buch ,Konarmijaʻ Ŗ auf den thematischen Zusammenhang. Diese Voraus-Publikationen sind in manchen Fällen nicht identisch mit dem Wortlaut der Buchausgabe von 1926. Spätere Editionen wiederum weichen von dieser ersten Sammlung in Bestand und Anordnung der Erzählungen ab und zeigen darüber hinaus weitere sprachliche Varianten. So wurde etwa Ŕ wohl nicht auf Wunsch des Autors Ŕ einer Ausgabe von 1933 ein anderer Schluss hinzugefügt.11 Da die Hintergründe dieser Veränderungen im Einzelnen nicht ermittelt bzw. zweifels-

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frei Isaak Babelř selbst zugeschrieben werden können, beruht die folgende Analyse auf der Ausgabe von 1926.12 Verstreut in Zeitschriften finden sich weitere Geschichten, die thematisch dem Zyklus nahe stehen, vom Autor aber in keine der publizierten Sammlungen aufgenommen wurden. Es darf angenommen werden, dass Babelř ursprünglich den Plan zu einem erweiterten Zyklus hegte, diesen aber letztlich nicht realisierte.13 Immerhin gibt es von diesem Vorhaben mehr als Titelüberschriften oder Konturen des Inhalts. In der Frontzeitung „Krasnyj kavaleristŖ erschienen von Mitte August bis Mitte September 1920 sechs Kurzgeschichten mit einem unmittelbaren Bezug zu „KonarmijaŖ. Bekräftigt wird dies durch das Pseudonym „Kirill Vasilřeviĉ LjutovŖ (von russ. „ljutyjŖ, grausam, wild), der auch im Zyklus von 1926 als Ich-Erzähler auftritt. Hinzu kommen fünf weitere Erzählungen, die zwischen 1923 und 1937 an verschiedenen Stellen in der Sowjetunion publiziert wurden, sowie eine, die erstmals posthum 1969 in einer Zeitschrift der russischen Emigration erschien. Seit Ende der fünfziger Jahre gelang es Fürsprechern, unter ihnen Ilřja Ėrenburg, einige kleinere Sammlungen von Babelřs Erzählungen herauszubringen. Alle nicht zensierten Ausgaben von „KonarmijaŖ standen noch bis 1973 in der Sowjetunion auf dem Index. Erst ab 1989 kann von einer regelmäßigen, zunehmend um eine vollständigere Erfassung des Gesamtwerks bemühten Publikationstätigkeit gesprochen werden. 1990 erschien eine zweibändige Werkausgabe. Sie beruhte weitgehend auf einem 1936 erschienenen Erzählungsband, dem letzten zu Lebzeiten Babelřs. Die meisten Zensureingriffe waren allerdings in ihr immer noch nicht getilgt. Erst die vierbändige Ausgabe von 2006 ebnete den Weg zu einer umfassenden Würdigung, obwohl sie in mancher Hinsicht hinter den Stand der Textforschung zurückfällt und allzu spärlich kommentiert ist. Erzählte Zeitgeschichte? Als der Polnisch-Sowjetische Krieg im April 1920 mit einer polnischen Offensive gegen Kiev ausgelöst wurde, waren die entscheidenden Schlachten des Bürgerkriegs in Russland bereits geschlagen. Deshalb konnten nun größere Verbände der Roten Armee an die Westfront verlagert werden. Sie stießen rasch bis an die Tore Warschaus vor. Die Soldaten der Ersten Roten Reiterarmee unter Semen Budennyj blieben indessen an der Südwestfront im Gebiet von Galizien und Wolhynien stecken. Zuvor hatten sie gegen Verbände der Weißen Armee gekämpft, wechselten jetzt vom innerem zum äußeren Krieg.14 Babelř verarbeitete in „KonarmijaŖ also einen hochaktuellen Stoff, der zusätzlich historisch aufgeladen war, weil er Assoziationen zu älteren Epochen der Geschichte Russlands und Polens bzw. der Geschichtslandschaften „dazwischenŖ weckte. Auf den Leser konnte das Werk daher wegen seiner zeithistorischen Nähe ebenso anziehend wirken wie wegen seiner symbolischen und patriotisch-mythischen Bezüge. Als literarische Bearbeitung eines historischen Stoffs nimmt der Erzählzyklus aber nicht zuletzt deshalb eine Ausnahmestellung ein, weil ihm mit „Dnev-

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nik 1920 godaŖ ein Text zur Seite steht, der aufgrund seiner zahlreichen sprachlichen Interferenzen Literaturwissenschaftler und Historiker gleichermaßen herausfordert. Es lag zunächst nahe anzunehmen, dieses Zeugnis werde allen Spekulationen um die Authentizität von „KonarmijaŖ ein Ende bereiten: Bezeugten nicht die Übereinstimmungen nachträglich die Augenzeugenschaft des Autors? Was Babelř als Tagebuch-Schreiber empirisch einfing, so die Schlussfolgerung, musste er als Schriftsteller lediglich noch in Fiktion verwandeln. Doch irritieren die Interferenzen eher, als dass die vermeintlich idealtypische Personalunion aus Chronist und Erzähler Klarheit schaffte. Das „TagebuchŖ ist nur ganz bedingt ein literarisches Skizzenbuch, in dem beiläufig Stichworte und Textbausteine für ein späteres sprachliches Kunstwerk notiert sind. Es reflektiert vielmehr reale, teils verifizierbare Geschehnisse eines tatsächlichen Feldzugs in einem konkreten zeitlichen und räumlichen Zusammenhang. Gerade die minutiös verzeichneten grausamen Akte gegen Frauen, Kinder und Greise, aber auch gegen den militärischen Feind oder sogar die eigenen Kameraden legen nahe, dass der autobiographische Gehalt von Babelřs „Dnevnik 1920 godaŖ linear in „KonarmijaŖ übertragen worden sei. Belegen aber wörtliche Übernahmen aus einem nicht-fiktionalen Text den dokumentarischen Charakter des Erzählzyklus?15 Dies setzt voraus, dass das „TagebuchŖ eine „WirklichkeitŖ abbildet, die „objektivŖ ist und es bleibt, selbst wenn sie mehr oder weniger modifiziert in ein anderes Genre wechselt. Doch Babelřs „Dnevnik 1920 godaŖ bezieht seine Glaubwürdigkeit und Plausibilität nicht zwangsläufig aus seiner Faktizität. Interferenzen erhöhen deshalb nicht den Grad an „WahrheitŖ in „KonarmijaŖ. Sie repräsentieren kein Geschehen an sich, sei es nun historisch verbürgt oder nicht, sondern sind Ausdruck einer spezifischen Wahrnehmung und individuellen stilistischen Formung durch den Ich-Erzähler. Das „TagebuchŖ bestätigt also nicht die These, dass der Zyklus wie eine historische Quelle zu lesen sei. Vielmehr erbringt eine textkritische Analyse, dass hier ein Autor seine Rolle als Kriegskorrespondent dreifach ausübt. Er notiert für sich, wie Krieg, Soldatenalltag und Terror gegen die Zivilbevölkerung auf ihn wirken und erfüllt zugleich seine Pflicht als professioneller militärischer Kriegstagebuchschreiber bzw. als Berichterstatter für die Frontzeitung „Krasnyj kavaleristŖ.16 Diese fixieren schriftlich, was der Kriegsmaler, dessen eigene Zeit sich überlebt hat, mit dem Pinsel in farbliche Bilder oder sein technisch avancierter Erbe, der Kriegsphotograph, in zeitgleiche monumentale Momentaufnahmen bannt. Babelř ließ sich von beiden Professionen inspirieren, mehr aber noch von den Vordenkern jenes Mediums, das zur Entstehungszeit seiner Erzählungen einen beispiellosen Aufstieg erlebte Ŕ des Films. Vom Kino lernte er, dass Handlung durch wenige, häufig symbolhafte Details vermittelt werden kann, im Krieg somit ein Säbel unter unbewaffneten Zivilisten Schrecken verbreiten, eine versprengte Reitergruppe apokalyptische Visionen auslösen oder ein subalterner, vor Ort jedoch selbstherrlicher Unterführer wirkungsvoller in Szene gesetzt werden können als ganze Waffengattungen, Armeeformationen oder Kommandostäbe. Während letztere bloß die Illusion von übergreifender Ordnung erzeugen, reprä-

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sentieren erstere, was unmittelbar erlebt und erfahren wird. Weder in „Dnevnik 1920 godaŖ noch in „KonarmijaŖ strukturieren Feldherren oder Massenheere die Geschehnisse. Sofern sie überhaupt von Belang sind, indizieren sie, dass Krieg herrscht und mit höheren Zielen befrachtet ist, sie steuern ihn aber nicht. Jeder Versuch, „KonarmijaŖ als dokumentarisch verdichtete Zeitgeschichte zu lesen, stößt unweigerlich an Grenzen. Topographische Angaben, historisches Personal und ein kleinteiliges Zeitschema täuschen die Akkuratesse eines Chronisten vor. Unstrittig ist, dass der Zyklus als Ganzes wie jede einzelne Erzählung für sich genommen die Erinnerung an ein historisch verbürgtes Geschehen, das des Polnisch-Sowjetischen Krieges 1920 bzw. des darin eingebetteten Feldzugs von Budennyjs und Vorońilovs Erster Reiterarmee, wachrufen können. Ansonsten ergibt eine Überprüfung des Faktengewebes wenig Greifbares. Für Babelřs Erzählstil sind konkrete Einzelheiten unverzichtbar, ihre historische Verlässlichkeit jedoch nachrangig. Insofern ist es müßig, die dokumentarische Kargheit der Geschichten zu beklagen oder sogar fehlerhafte historische Angaben zu monieren.17 Was aktenkundig geworden ist, spielt auf einer gänzlich anderen Ebene als das Drama von Babelřs Figuren. Sie agieren auf einer gleichsam entrückten Bühne, überzeitlich, typisiert und räumlich transzendiert. Obwohl die konturlose Außenwelt, in der die Figuren von „KonarmijaŖ sich bewegen, ohne zusätzliche Quellen kaum verifizierbar ist, genügten ganz wenige Anhaltspunkte, um den zeitgenössischen Leser in eine noch frische Vergangenheit zu versetzen und sie zu vergegenwärtigen. Je mehr jedoch dieses Erfahrungswissen mit den Jahrzehnten verschüttet wurde, desto mehr Erläuterungen waren notwendig, das Erleben des Erzählers zu historisieren. Ohne sie taucht der Leser unmittelbar in eine hermetische Innenwelt ein. In ihr herrschen eigene Regeln, verlieren Raum und Zeit ihre ordnende Funktion.18 Städte, Lager, Wälder, Hügel markieren Punkte auf einer imaginären Lagekarte des Krieges, der sich aus fragmentarischen Episoden zusammensetzt, gedehnte Momentaufnahmen zeigt, ansonsten zeitlos erscheint. Höhere Instanzen lassen sich allenfalls erahnen. In diesem geschlossenen Raum sind es allein die anwesenden Akteure, die über Leben und Tod, Gnade oder Erbarmungslosigkeit, Bewahrung oder Zerstörung entscheiden. Der Erzähler von „KonarmijaŖ erweckt den Eindruck, als berichte er unmittelbar von laufenden Ereignissen. Er macht den Leser zum Zeugen, zwingt ihn zur teilnehmenden Beobachtung. Doch nicht darin liegt die Hauptwirkung des sprachlichen Gestus. Vielmehr ist es der atemlose Rhythmus, der den Leser gefangen nimmt. Das erzählende Subjekt wird in immer neue, extreme Entscheidungssituationen geworfen. Es muss beständig um sein physisches Überleben besorgt sein, ist verzweifelt oder resigniert. Dieser unausgesetzten Bedrohung und seelischen Strapaze standzuhalten, heißt, den stetigen Kampf als Existenzform anzuerkennen. Da Babelřs Zeitgenossen den konkreten Kontext oder vergleichbare historische Kontexte kannten und spontan erinnerten, fand „KonarmijaŖ auch dann eine große Resonanz bei den Lesern, wenn sie das sprachliche Kunstwerk nicht zu

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schätzen wussten. Dies erklärt zudem die Irritation, die die Erzählungen bei politischen und militärischen Zeitzeugen auslöste. Sie beklagten fehlende oder verfälschte Tatsachen und unterstellten dem Autor mangelnde Einsicht in das militärische Geschehen. Gerade weil „KonarmijaŖ keine Geschichtserzählung ist, hat der Zyklus die frühe Mythenbildung um den russischen Bürgerkrieg und den ersten auswärtigen Krieg der Sowjetmacht überdauert. Das unterscheidet ihn von den meisten zeitgenössischen historischen Erzählungen und Romanen, die bereits längst in Vergessenheit geraten sind. Es war kein Historiker-Skandal, der um das Werk herum inszeniert wurde, sondern ein politischer Konflikt um Darstellung und Deutung der jüngsten Vergangenheit. Begriffe, Symbole und Metaphern des jungen Sowjetstaates standen zur Verhandlung. Schriftsteller waren in der Lage, einem realen Geschehen Sinn zu verleihen. Sie waren unmittelbar, in mancher Hinsicht sogar führend, an der Konstruktion der vergangenen und gegenwärtigen Wirklichkeit beteiligt. Wie sie über Revolution und Ordnung, Bürgerkrieg und Wandel schrieben, hatte in den zwanziger Jahren wesentlichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs.19 Babelř trug wenig zur offiziellen Rhetorik staatlicher Mobilisierung und Allgegenwart der Partei bei. Wo immer Symbole der Macht bei ihm auftauchten, waren sie ein Element unter vielen. Gelegentlich simulierten sie eine Moderne, die im Alltag der Bevölkerung wie ein Fremdkörper wirkte. Anstelle von heldenhaften und politisch überzeugten Roten Kosaken beherrschten Gauner wie Afonřka Bida, der Heiligenmaler Pan Apolek oder der rachsüchtige Rotarmist Pavliĉenko die Szenerie. Über einen Agitationszug, den es wie den Erzähler selbst in die Welt der Chassiden mit ihren traditionellen Klängen, Ritualen und Werten verschlagen hatte, sinniert der Erzähler von „KonarmijaŖ: „Ich gab dem Alten [Rabbi Motale] Geld und trat auf die Straße. Gedali und ich trennten uns, ich ging zu mir nach Hause auf den Bahnhof. Dort, auf dem Bahnhof, im Agitzug der I. Reiterarmee, erwartete mich das Strahlen Hunderter von Lichtern, der Zauberglanz der Radiostation, der unermüdliche Lauf der Maschinen in der Druckerei und der nicht zu Ende geschriebene Artikel für die Zeitung ‚Roter KavalleristřŖ („RabbiŖ, 46). Nicht allein Literaturkritiker reagierten auf die Publikation einzelner Erzählungen in führenden Journalen. Den lauten Ton gaben Redakteure konkurrierender linksradikaler Zeitschriften an. Sie schoben Veteranen des Bürgerkriegs vor, um in der hitzigen Debatte die Führungsrolle zu gewinnen. Sicherlich bescherte diese Kampagne Babelř beträchtliche Aufmerksamkeit. Mehr noch aber verschaffte sie dem Feldzug der Ersten Roten Reiterarmee eine Popularität, die weit über seine militärische Bedeutung hinausreichte. So spektakulär er erschien, so wenig entscheidend war er für den Krieg gegen Polen. Für sich genommen war er nicht einmal sonderlich erfolgreich. Von der jetzt einsetzenden mythischen Überhöhung profitierte nicht zuletzt Budennyj, unter dessen Namen einige Polemiken gegen Babelř erschienen.20 Obwohl seine militärischen Verdienste auch in späteren Funktionen überaus umstritten blieben, verfestigte sich sein Ruf als ein verwegener Reiter und Held des Bürgerkriegs. Hingegen stigmatisierten die scharfen Attacken Babelř als literarischen Außenseiter und politischen Abweich-

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ler. 1928 eskalierte der Streit, als Gorřkij den Schriftsteller in Schutz nahm und Budennyj bzw. der Verfasser seines Briefes darauf scharf antwortete.21 Seither stand der Autor von „KonarmijaŖ im Kreuzfeuer. Für mehrere Jahrzehnte wurde wenig später sein Werk aus Bibliotheken und Buchläden, Enzyklopädien und Bibliographien verbannt. Der Zyklus „KonarmijaŖ ruft uns eine verheerende Periode der jüngeren Geschichte Russlands und Ostmitteleuropas ins Gedächtnis. Babelř schrieb weder in dokumentarischer Absicht, noch strebte er danach, als Geschichtsschreiber anerkannt zu werden. Geschichte ist abwesend, sie vollzieht sich gleichsam jenseits des Horizonts seiner Figuren, die mit sehr konkreten, subjektiv wahrnehmbaren Ereignissen konfrontiert sind. Es sind nur Bruchstücke aus einem größeren Geschehen, die hinter der schillernden Vielfalt alltäglicher Ereignisse einen Zusammenhang erahnen lassen. Sinnlich erfahrbar ist allein das menschliche Verhalten. Vor der Projektionsfläche der anonymen großen Geschichte beobachten Babelř und sein Erzähler Individuen, erkennen sie als vielschichtige Wesen, gleichgültig, ob allein oder in Gruppen auftretend. Bereits in „Dnevnik 1920 godaŖ sind es nicht ein Gegenstand, sondern sein Begriff, nicht historische Figuren, sondern anthropologische Typen, nicht datierbare Schlachten, sondern dramatische Szenen, die Sinn stiften. Darauf beruht das Babelřsche Universum, das der tatsächlichen Welt enthoben scheint. Ein Intellektueller liest den Krieg und übersetzt ihn in eine neue Sprache. Spuren solch eines suchenden Schreibens und ambivalenten Empfindens prägen den Ich-Erzähler von „KonarmijaŖ ebenso wie den Verfasser von „Dnevnik 1920 godaŖ. Letzterer zeigt sich aber unter dem Eindruck frischen Erlebens tiefer geschockt von der Grausamkeit der Kämpfer als ersterer, der seinen Schrecken bezähmt oder verbirgt. Einzig im nächtlichen Traum quält ihn das Gesehene oder das von der schwangeren Tochter eines bestialisch ermordeten Juden Gehörte, neben dessen verstümmelter Leiche er unwissend einschläft („Perechod ĉerez ZbruĉŖ, 4 f.). Was beide Ŕ Chronist und Erzähler Ŕ sehen, notieren und berichten, wirkt vorläufig und lässt das Ende offen. Die Fiktion nimmt eine dokumentarische Struktur an, und das Dokument löst sich in Assoziationen auf. Zahlreiche Einträge im „TagebuchŖ zeigen den Schreiber als leidenschaftlichen Stichwortsammler, der nichts außer Acht lassen will, jedoch vieles noch nachprüfen muss. Immer wieder fordert er sich selbst auf, eine Person oder einen Charakter, ein Utensil oder ein Gebäude, eine Landschaft oder eine bestimmte Witterung, eine Stimmung oder ein Gefühl, eine Verhaltensweise oder eine Überzeugung „zu beschreibenŖ. Bemerkenswerterweise hat Babelř die selbst gesetzte Aufgabe nicht ausgeführt. Er schreibt nicht extensiv, sondern gedrängt, malt nicht aus, sondern verfeinert. Deshalb wurde „KonarmijaŖ keine Sammlung langer Erzählungen, jedoch auch kein historischer Roman.

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Krieg, durch die Brille betrachtet Was tut eigentlich der Ich-Erzähler in „KonarmijaŖ? Seine Anwesenheit unter den Kriegern ist durch seine Tätigkeit als Korrespondent einer Frontzeitung motiviert. Tatsächlich beschränkte er sich nicht auf das Beobachten und Aufzeichnen. Trug er Uniform, war er kaum von den anderen zu unterscheiden. Falls er eine Waffe besaß, würde er sie wohl auch einsetzen. Er hatte sich zum Dienst gemeldet, um vom Krieg zu berichten. Ein förmliches Kriegstagebuch gehörte zu seinen Pflichten. An keiner Stelle vermerkt er aber eindeutig, dass er in seiner Einheit tatsächlich regelmäßig Kladden mit nüchternen Angaben über Tagesmärsche, Truppenbewegungen, Gefechte und Verluste füllte.22 Als bloßer Kriegsberichterstatter drang er nicht zwangsläufig in die Mitte der Kämpfer vor oder durfte sie überallhin begleiten. Dem hinterlassenen persönlichen „TagebuchŖ jedenfalls fehlt ein dienstlicher Zweck. Aus ihm spricht der Wunsch eines Intellektuellen, außergewöhnliche Erfahrungen zu sammeln, unter „wildeŖ Menschen zu gehen, sich in das Leben zu stürzen.23 Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Babelř 20 Jahre alt. Er gehörte damit einer Generation an, die als junge Erwachsene mit Krieg und Revolution konfrontiert wurde und das Imperium in einer schweren Krise erlebte. Ihre Gegenwart war von Gewalt geprägt, soziale Gegensätze brachen auf, die Fundamente der geistigen Kultur wurden erschüttert. In der großen Umwälzung, als jeder auf sich selbst zurückgeworfen wurde, versuchte Babelř, sich als Autor zu etablieren und Stoffe zu finden. Nichts Geringeres schwebte ihm vor, als diese aus den Fugen geratene Welt mit literarischen Mitteln zu entziffern und sich einen Weg durch das Dickicht von Eindrücken, Nachrichten und Gerüchten zu bahnen. Auf der Höhe der Zeit zu schreiben, bedeutete für ihn schließlich, sich in Gefahr zu begeben. Doch ging dem wohl eine längere Zeit des Schwankens voraus. Als Student war Babelř 1914 vom Kriegsdienst freigestellt. Im Oktober 1917 wurde er aber offenbar eingezogen und kurzzeitig an die Rumänische Front geschickt. Demzufolge stand seine Sehschwäche der Tauglichkeit nicht im Wege. Ob er wirklich freiwillig an die Front ging, ist unbekannt.24 Unscharf und karg sind auch die Angaben, er habe als Übersetzer bei der Ĉeka gedient und sich im Sommer 1918 an der gewaltsamen Requisition von Getreide in den Anbaugebieten an der Wolga beteiligt.25 Es scheint eher so, als habe sich Babelř bis 1920 von den Ereignissen treiben lassen. An dem Entschluss aber, das Schreiben zum Lebensinhalt zu machen, hat er unbedingt festgehalten.26 Über seine Unternehmungen gibt die „AutobiographieŖ wenig Auskunft. Sie überdeckt die Zeit des Suchens mit einem Schleier des Rätselhaften, belässt die Dinge im Ungefähren. In dem Chaos von Krieg und Revolutionen sondierte Babelř die Lage in Odessa, Kiev, Saratov und Petrograd, bevor er jenen Tatort zwischen Ņitomir, Rovno, Zamość und Brody findet, der seinen weiteren Lebensweg als Schriftsteller und Zeitgenosse bestimmen wird. Stets sind es unsentimentale Draufgänger wie Galin, der Agitator des schlichten, klaren Wortes und ebenfalls Mitarbeiter der Zeitung „Krasnyj kavaleristŖ,

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der dem kränkelnden, isolierten, sich selbst bemitleidenden „VieraugeŖ, wie die Kosaken den Brillenträger hämisch nennen, Respekt abverlangt. „Sie sind ein SchlappschwanzŖ, ereifert sich Galin, „und wir müssen euch Schlappschwänze ertragen… Die ganze Partei geht in Schürzen, beschmiert von Blut und Kot, und wir säubern für euch den Kern von der Schale. Und es wird nicht mehr lange dauern, und ihr werdet diesen gesäuberten Kern sehen, dann werdet ihr den Finger aus der Nase nehmen und das neue Leben in ungewöhnlicher Prosa besingen; und solange bleibt ruhig sitzen, Schlappschwanz, und jammert nicht herum…Ŗ („VeĉerŖ, 99). Parteigänger wie er hatten sich durch die Statuten der Partei „bekehrenŖ lassen, sie teilten eine fraglose Leidenschaft für die Ausbreitung ihrer Überzeugungen unter den kampferprobten Kosaken. „Die Reiterarmee ist ein sozialer ZaubertrickŖ, verkündet Galin, „vorgeführt vom ZK unserer Partei. Die Kurve der Revolution hat die mit vielen Vorurteilen getränkten freien Kosaken (kazaĉřja volřnica) in die erste Reihe geworfen, aber das ZK manövriert und wird sie mit eisernem Besen durchfegen…Ŗ („VeĉerŖ, 100). Hier treffen unterschiedliche Verhaltensnormen und moralische Postulate aufeinander. Sie werden innerhalb des Kollektivs verhandelt und durchgesetzt. Abweichler, Grübler und Zweifler geraten unter massiven Druck, sich den Zwängen eines idealen Ziels zu beugen. Ihre inneren Konflikte sind marginal im Angesicht der Revolution. Streit wird offen, unmittelbar und brachial ausgetragen. Ein Rückzug in die Einsamkeit ist weitgehend versperrt, Unentschlossenheit stößt auf Verachtung, und nicht-konforme Individualisten werden verspottet oder angefeindet. Die Innenwelt der „ReiterarmeeŖ ist nicht weniger dramatisch als das äußere Kampfgeschehen und kennt kaum spannungsfreie Momente. Sogar in den Kampfpausen kommen die Figuren nicht zur Ruhe, tragen Händel aus, rivalisieren um Frauen, Proviant und Pferde. Ein Leben ohne Höhepunkte ist für sie nicht vorstellbar. In dieser eigengesetzlichen Umgebung durchläuft der Ich-Erzähler Ljutov einen gedrängten Reifeprozess. Er wird sich seiner Persönlichkeit in Etappen bewusst, die wie Knotenpunkte den Zyklus strukturieren. Die erste, die achte und die letzte Erzählung, „Perechod ĉerez ZbruĉŖ (Die Überschreitung des Zbruĉ), „Moj pervyj gusř Ŗ (Meine erste Gans) und „Syn rabbiŖ (Der Sohn des Rabbi), markieren Ljutovs Initiation: seinen Eintritt in die Welt des Krieges, den Augenblick des Innewerdens als Mittäter und schließlich die Entlassung in eine zwiespältige Zukunft jenseits der Armee. Als der Novize den Soldaten über den Fluss folgt, quert er eine konkrete geographische Grenze. Doch hinter dieser Linie endet sein bisheriges Leben. Er betritt einen geschlossenen Raum, das Kampfgebiet. Nicht die Koordinaten auf der Landkarte, mögen sie auch ungefähr bestimmbar sein, entscheiden darüber, was fortan geschieht. Es sind die Menschen, die darin handeln oder erdulden, die eindringen und zerstören oder überfallen und getötet werden, die demütigen und verletzen oder erniedrigt und geplündert werden („Perechod ĉerez ZbruĉŖ). Solchermaßen abrupt mit den Regeln einer Welt des Schreckens konfrontiert, sucht der überrumpelte Mitläufer Ljutov die Flucht nach vorn. Nur so kann er

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hoffen, als Mitglied des inneren Kreises der professionellen Kriegshandwerker, der Kosaken, anerkannt zu werden. Voraussetzung seiner Initiation ist es, das bisherige Leben bewusst und sichtbar hinter sich zu lassen, sein altes Selbst zu überwinden und sich einem neuen zu öffnen. In einem brutalen, blutigen Akt passiert Ljutov die Hemmschwelle zum Töten. Das inszenierte, ungleiche Duell mit einem wehrlosen Tier macht den Intellektuellen zum Komplizen. Sein rituelles Opfer findet die Gunst der Kriegerkaste („Moj pervyj gusřŖ). Sie akzeptiert den Sonderling „mit Brille auf der NaseŖ als einen der Ihren, weil seine Tat sinnbildlich für jene vorbehaltlose Gewaltbereitschaft steht, die sie selbst auszeichnet. Gewöhnlich nämlich würden Schwächlinge seiner Art kurzerhand „geschlachtetŖ (39). Nichts kann den Erzähler fortan noch schrecken. Er verroht wie ein gemeiner Kosak. Mit stoischem Gleichmut zeichnet er auf, was die Bannerträger der Revolution an Gewaltakten verüben und welche Phantasie sie dabei entwickeln. Schamlos und grausam schänden sie Frauen jeglichen Alters, metzeln Kinder und Greise in den Dörfern nieder, die sie durchqueren („GedaliŖ, „Ņizneopisanie Pavliĉenki, Matveja RodionyĉaŖ, „PrińĉepaŖ, „SolřŖ, „Afonřka BidaŖ, „BeresteĉkoŖ). Sie verhöhnen Gefangene und ermorden diese willkürlich („PisřmoŖ, „KonkinŖ, „Ėskadronnyj TrunovŖ). Das Gesetz des Handelns liegt immer bei denen, die in die schutzlose Zone konkurrierender Herrschaft oder umstrittener Zugehörigkeit einfallen. Ziehen sich die einen zurück, folgen andere nach. Die letzte Erzählung des Zyklus skizziert und bilanziert in stärkster Verdichtung, wie das unmittelbare Erleben dieses hermetischen, archaischen Raums die Persönlichkeiten formt und verändert. Ljutov begegnet gleichsam einem Doppelgänger, dessen individuelles Schicksal ihm als Variante des eigenen Weges erscheint. Im Sterben bekennt Ilřja, der noch junge Sohn des Rabbi Motale, er sei insgeheim der Partei beigetreten und für die Sache der Revolution in den Krieg gezogen. Er, „der letzte Prinz der DynastieŖ, hat angeblich mit der jüdischen Tradition des Vaters gebrochen. Vor der Mutter, die er zuerst nicht unbeschützt zurücklassen wollte, um ihr schließlich doch den Rücken zu kehren, verbirgt er den Gesinnungswandel. Er will vermeiden, dass Zweifel an der Endgültigkeit seiner Entscheidung entstehen. „Die Mutter ist in der Revolution nur eine EpisodeŖ, beharrt er gegenüber Ljutov. Dieser erkennt in dem Bekenner einen „BruderŖ („Syn rabbiŖ, 166, 168). Des Rätsels Lösung ist das nur insofern, als diese Seelenverwandtschaft auf der Einsicht gründet, seine Herkunft niemals vollkommen gegen ein radikal anderes Leben eintauschen zu können. Unter den Habseligkeiten des jungen Rotarmisten findet der Erzähler die Zeugnisse einer gespaltenen Existenz: „Die Haarlocke einer Frau lag gepresst in der Broschüre mit den Beschlüssen des sechsten Parteikongresses, und auf den Rändern kommunistischer Flugblätter drängten sich die schrägen Zeilen althebräischer VerseŖ („Syn rabbiŖ, 168). Ein Porträtbild Lenins liegt neben dem des Maimonides, einzelne Seiten des Hohelieds neben Revolverpatronen. Vom Leben des jungen Adepten bleiben nur unverbundene Zeugnisse der Treue und der Tradition, des Bruchs und der Utopie. Inmitten der Gemeinschaft überzeugter oder selbsternannter, jedenfalls

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verrohter Kämpfer der Revolution versuchte Ilřja, die Ideale von Gerechtigkeit und Freiheit zu bewahren. Linie – Farbe – Montage In einer anekdotischen Erzählung, die 1923 außerhalb des Zyklus in einer Zeitschrift erschien, kreist ein Gespräch um die Unterscheidbarkeit von Konturen. Während eines Spaziergangs bedauert der Ich-Erzähler seinen Begleiter wegen dessen Kurzsichtigkeit, die seiner Auffassung nach fast einer Blindheit gleichkommt, weil ein Wesenselement des Sehens fehle Ŕ die Fähigkeit, „LinienŖ zu erkennen: „Denken Sie nur, Sie sind nicht bloß blind, Sie sind beinahe tot. Die Linie, die göttliche Grenze, Gebieterin der Welt, ist Ihnen für immer entglitten.Ŗ27 Ihm entgingen alle Reize des winterlichen Waldes, die vereisten Ränder des Wasserfalls, „das japanische SchnitzwerkŖ der Trauerweide, der Schneestaub auf den Kiefern, die „körnigeŖ Firnis der Fläche. Schwärmerisch spricht er von der „Linie LeonardosŖ, die sich „an einen Baum schmiegtŖ, oder von dem Seidenstrumpf am Bein einer anmutigen Passantin auf Skiern. Der Kurzsichtige will aber nichts von einer Brille wissen, und er will auch nicht bedauert werden. Sein Blick auf den „ZaubergartenŖ ist ebenso enthusiastisch, wenngleich ganz anders: „Ich brauche nicht Ihre Linie, flach wie die Wirklichkeit.Ŗ Wer sich mit den Augen eines Lehrers der Trigonometrie umschaue, werde die „WunderŖ seiner Umgebung nicht wahrnehmen können. Wofür solle er einzelne Wolken am Himmel unterscheiden, wenn er doch über sich einen „brandenden OzeanŖ erahne. „Was soll ich mit Linien, wenn ich Farben habe? Für mich ist die ganze Welt ein gigantisches Theater, in dem ich der einzige Zuschauer ohne ein Opernglas binŖ, meint er. Die Bühne erscheine ihm so „fern wie im TraumŖ, beherrscht von Purpur und Violett, nicht vom „falschen BartŖ des Romeo.28 Babelř manifestiert in dieser Erzählung ein zentrales Stilelement, das prägend für „KonarmijaŖ sowie für andere Werke war. Linie und Farbe werden vordergründig als gegensätzliche Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit vorgestellt.29 Tatsächlich aber legt sich der Erzähler nicht auf eine fest. Vielmehr zieht er den Leser in ein dialektisches Spiel zwischen scharfer Beobachtung und einfühlender Betrachtung hinein. Was auf den ersten Blick so klar und unmissverständlich erscheint, verliert sich bei näherem Hinsehen im Ungefähren und Entgrenzten. Im übertragenen Sinn wetteifern eindeutige Bekenntnisse und kompromissloses Auftreten mit ambivalenten Einstellungen und sensiblem Verhalten. So nimmt ein junger, zweiundzwanzigjähriger Schwadronskommandeur einem Kosaken das Pferd weg, überlässt es dem unbeholfenen Ich-Erzähler, einem schlechten Reiter, und schickt den zutiefst gedemütigten Besitzer in den Tross: „Baulin war hart, wortkarg, eigensinnig. Der Weg seines Lebens war beschlossene Sache. Zweifel an der Richtigkeit dieses Weges kannte er nicht. Entbehrungen fielen ihm leicht. Er konnte im Sitzen schlafen.Ŗ30 Der eingeschüchterte, verunsicherte Erzähler, der soeben erst unter die Kosaken gegangen und unverhofft Besitzer eines fremden Pferdes geworden ist, bewundert insgeheim skrupellose Typen vom

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Schlage dieses Schlossers. Ihnen schreibt er das Verdienst zu, dass die Revolution gesiegt habe. Das Experiment mit Linie und Farbe erweitert Babelř um eine Montagetechnik mit überraschenden Effekten. Er spielt mit Schnitten und mit Farbkontrasten, die der Komposition Bewegung und Rhythmus verleihen.31 Rasche Wechsel zwischen dem Geschehen an der Oberfläche und tieferen Dimensionen, die dem Blick entzogen sind, erinnern an Verfahren des Films. Scharfe Schnitte trennen Szenen realistisch-klaren Inhalts von schemenhaften, ornamentalen Impressionen.32 Farben leuchten und flimmern, sie kontrastieren belebte und unbelebte Natur, lassen Mensch, Landschaft und Firmament miteinander korrespondieren. Striche wiederum unterbrechen solche Kongruenzen, segmentieren unwillkürliche Erscheinungen und bewusstes Handeln der Figuren. So entsteht der Eindruck von Montage-Existenzen, die das Erbe der autonomen Persönlichkeit angetreten haben. Auf diese Weise erzielt Babelř innerhalb der einzelnen Erzählungen des Zyklus einen paradoxen Effekt: Es scheint, als fügten sich lose zusammengestellte Stücke zu einem eingefassten Mosaik und, umgekehrt, als zerfiele die Geschichte in aufgesprengte Partikel. In „KonarmijaŖ gelingt dieses Kompositionsverfahren in größter Vollendung. Babelř arrangiert Motive aus Realien, lebensgeschichtlichen Versatzstücken kurz eingeblendeter Figuren, zeichnet extrem verknappte Stimmungsbilder aus Wolken, Blüten und wie mit der Kamera fokussierte körperliche Details, eine Ferse, ein Augenlid oder ein Geschwür am Hals: „Gebeugt steht Galin, begossen vom Mond, der dort, oben, ragt, wie ein dreister Splitter […] durch die schwarzen Schlingpflanzen des Himmels, schleppen sich Sterne, die Waschfrau döst, bekreuzigt ihren geschwollenen MundŖ („VeĉerŖ, 98). Virtuos spielt Babelř mit den Gesetzen der materiellen Welt, den Regeln der Natur und dem Orientierungssinn. Inmitten eines dramatischen, blutigen und entsetzlichen Geschehens behaupten sich Augenblicke der Schwerelosigkeit, löst sich der Horizont auf, wenn das Morgenlicht „einen Strich an den Rand der Erde ziehtŖ („VeĉerŖ, 99). Wiederholt mündet dieses Verfahren in Ironie, Travestie oder albtraumhafte Sequenzen. In fehlerhafter Sprache beklagt sich etwa Nikita Balmańev, ein „Soldat der RevolutionŖ, in einem Leserbrief an die Parteizeitung über das „falsche BewusstseinŖ von Frauen. Er wisse vieles zu berichten, wolle sich aber auf das beschränken, was seine „Augen eigenhändig gesehen habenŖ („SolřŖ, 92). Ein Eisenbahnzug mit Salzladung und Mannschaftswaggons wird bei einem Halt auf der Strecke geplündert. Eine Frau erschleicht sich das Mitleid der Kosaken, um mitreisen zu dürfen. Ihr angebliches Brustkind auf dem Arm erweist sich jedoch als ein eingewickelter Sack Salz. Grotesk überzeichnet der Briefschreiber die folgende Tat als Sieg über das „HamsterkapitalŖ. Der verwilderte Trupp von Kämpfern habe sie, die aufgenommene „BürgerinŖ, verschont, obwohl sie üblicherweise „in ihrer Not Mädchen vergewaltigen, die ihnen über den Lebensweg laufen.Ŗ Zwei lagen mit im Waggon und weinten, „weil sie unter uns gelitten haben diese NachtŖ („SolřŖ, 95). Die Diebin aber habe das Vertrauen der „RepublikŖ und der Führer Lenin und Trockij, die das Land „auf eine freie Lebens-

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bahn herausziehenŖ, verwirkt. Sie sei eine noch schlimmere „KonterrevolutionärinŖ als die weißen Generäle. „SchonungslosŖ gingen die Kämpfer gegen „VerräterŖ vor, „die uns in die Grube ziehen und den Bach zurückdrehen wollen in die umgekehrte Richtung und die Russland bedecken mit Leichen und mit totem Gras.Ŗ Erbost wirft Balmańev die „unbeschädigte FrauŖ aus dem Wagon und erschießt sie, weil sie sich „in dem unsäglichen Russland um sie herumŖ wieder aufrichtet („SalzŖ, 96). Beständig variierte Bilder und Motive verstärken die zyklische Struktur von „KonarmijaŖ. So ist der Tod allgegenwärtig, aber immer individualisiert und unterscheidbar. Seine Facetten sind vielfältig, einmal kündigt er sich an, ein anderes Mal erahnt man ihn, er geschieht verdeckt oder kommt abrupt, wird demütig ertragen, ist grausam, unzeremoniell, beiläufig, dramatisch oder inszeniert. Ihn begleiten grausige Einzelheiten: Augen werden ausgestochen, fallen aus den Höhlen, sind gläsern oder blind. Das vermeintlich stets Gleiche wechselt die Erscheinungsform und verleiht jeder Erzählung unverwechselbare Merkmale. Entwürfe zu „KonarmijaŖ und Varianten einzelner Erzählungen zeigen, wie Babelř um feinste Abstufungen in Farbe und Tönung, Tempo und Rhythmus rang, um die Hauptmotive stilistisch zu variieren und den Zyklus durch wiederkehrende, aber nicht stereotype Bildelemente zusammenzubinden. Bereits in der ersten Erzählung löst er spielerisch die Zentralperspektive auf. Nicht die Totale nimmt den Blick gefangen, sondern ein segmentiertes Sichtfeld. Spontan assoziiert der Erzähler das minimalistische Schwarze Quadrat Kazimir Maleviĉs, allerdings löst es sich unter dem Eindruck des chaotischen Geschehens am Fluss auf und büßt seine elementare Konsistenz ein: „Der Fluss ist übersät mit den schwarzen Quadraten der Wagen, er ist erfüllt von Stimmengewirr, von Pfiffen und Liedern, die über die Mondschlangen und glitzernden Mulden hinwegdröhnenŖ („Perechod ĉerez ZbruĉŖ, 3 f.). Neben den Stilmitteln aus Kunst und Film ist es vor allem die virtuose Handhabung unterschiedlicher Sprachebenen, mit denen Babelř ungewöhnliche Effekte erzielt.33 Sechs Erzählungen des Zyklus sind nahezu ausschließlich im Modus des skaz verfasst („PisřmoŖ, „Solnce ItaliiŖ, „Ņizneopisanie Pavliĉenki, Matveja RodionyĉaŖ, „KonkinŖ, „SolřŖ und „IzmenaŖ). Offizielle sowie inoffizielle Sprachen bestehen nicht bloß nebeneinander, sie interagieren, und zwar derart, dass letztere, also die spezifische Mischung aus Redeweisen ungebildeter städtischer Arbeiter und Bauern die erstere entlarvt und Lügen straft.34 Entscheidend sind jene Phrasen, die die Empfindung hervorrufen, das sprechende Subjekt sei anwesend. Charakteristisch für Babelř ist, dass die skaz-Figuren nicht ein kulturelles Ideal verkörpern, sondern zügellos und grausam sein können. Sie stehen nicht für ein volkstümliches Ethos, das dem intellektuellen Erzähler als Prisma einer positiven Weltsicht dienen könnte. Eher begründen sie eine anti-ästhetische Wirklichkeit, die ihn erschreckt oder belustigt, jedenfalls zwischen die Fronten der durch Sprache repräsentierten Positionen geraten lässt.35 Gleichwohl verhindert der skaz eine zu dominante Ich-Erzähler-Präsenz, erlaubt es, die Eigensicht der

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Kosaken zu simulieren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Ansichten auf wechselnde Personen zu projizieren. Pferde und Menschen In der fremden Welt der Kosaken und des Krieges trifft der Ich-Erzähler auf eine Gemeinschaft, in der Tier und Mensch eine symbiotische Einheit bilden. Eine hierarchische Ordnung ist für ihn auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Zwischen Pferd und Reiter besteht eine eigenartige, exklusive Beziehung. Sie leben zusammen, ziehen zusammen in die Schlacht und sterben zusammen. Der Tod nur eines von beiden erzwingt die Gründung eines neuen animalisch-humanen Treueverhältnisses. Denn das Reitpferd ist nicht allein Ergebnis einer anspruchsvollen Zähmungsleistung. Über Jahrhunderte bestimmte es eine überlegene Kriegsführung und gab Auskunft über den Status des Kriegers. Der Zyklus „KonarmijaŖ bezieht zu großen Teilen seine Faszination aus diesem archaischen Relikt in der Moderne. Selbst in den Jahrzehnten, als Babelř ein verfemter, an den Rand gedrängter oder vergessener Autor war, wirkte der frühe Ruhm dieser Erzählungen fort. Er hatte sich gleichsam vom Autor gelöst und verselbständigt und war dann auf andere übergegangen, namentlich auf Budennyj, den Anführer der Ersten Roten Reiterarmee. Seine Vita stattete die staatliche Mythenfabrik unter Stalin mit legendären Schlachtbeschreibungen aus und reihte den Haudegen in die Ikonen-Galerie des Revolutionskrieges ein. Budennyj zehrte bis zu seinem Tod 1973 von dieser arrangierten Popularität.36 Wie real waren Babelřs Kosaken, diese Reiter, die ihre Pferde oft besser behandelten als Menschen? Vieles verdanken die Helden der „ReiterarmeeŖ einer Mythologie, die in kosakischen Selbstbeschreibungen, nicht zuletzt aber in literarischen Mustern des 19. Jahrhunderts wurzelt. Babelř hat nur sporadisch Auskunft über Vorbilder und Einflüsse gegeben. Wenig ist insbesondere über seine Wertschätzung der frühen Erzählungen Gogolřs mit explizit kosakischen Motiven bekannt. Sie seien, meinte Babelř 1916, durch die berühmten Petersburger Erzählungen überlagert worden und in Vergessenheit geraten. Es sei an der Zeit, dass ein Autor den Geist jener „Leben schaffendenŖ Bewohner des Südens wiedererwecke.37 Zweifellos war dies auch als Appell an sich selbst zu verstehen. Dennoch ist keineswegs ausgemacht, dass deshalb in die Kosaken aus „KonarmijaŖ tatsächlich überwiegend mythische Elemente des „Taras BulřbaŖ und seiner literarischen Zeitgenossen einflossen und weniger solche, die Babelř im Gefolge des Anführers Budennyj und seiner Roten Reiter aus eigener Anschauung kannte.38 Im Ersten Weltkrieg hatte die Kavallerie eine letzte große Bewährungsprobe als Waffengattung erlebt. Zumal an der Ostfront mit ihren langgezogenen beweglichen Kampflinien erwies sie noch einmal ihre herausragende taktische und strategische Bedeutung. Ein letztes Mal in ihrer langen Geschichte konnten die Kosaken ihre Stärken als Reiterverbände in einem großen Bewegungskrieg ausspielen. Mehr noch galt dies im nachfolgenden russischen Bürgerkrieg, der das

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gesamte Territorium des alten Zarenreichs erfasste. Hier war moderne Militärtechnik unter den Kombattanten noch weniger als im Weltkrieg verbreitet.39 In den ausgedehnten und kaum erschlossenen Weiten des Landes bestimmten häufig überkommene Kampfformen das Geschehen. Lediglich punktuell markierten einige wenige Panzerzüge einen Übergang zwischen konventionell-traditioneller und technologisch-moderner Kriegsführung. Sie erlaubten es, Streitkräfte rasch zu verlegen und gewährleisteten einen relativ sicheren Nachschub. Immer wieder konzentrierten sich Kämpfe deshalb entlang dem grobmaschigen Schienennetz oder an dessen Knotenpunkten. In der Fläche aber dominierten die Reiter. Hier konnten sie urplötzlich heranstürmen und schlagartig Siedlungen überfallen. Den Bewohnern erschienen sie wie in die Gegenwart verschlagene Apokalyptische Reiter. Sie brachten Tod und Verwüstung und stürzten die Welt der Dörfer und Kleinstädte ins Chaos. Herausgefallen aus dem regulären Krieg, brechen sie wieder und wieder in das zivile Leben ein, das aufhörte, friedlich zu sein. Wegen ihrer Mobilität und Disziplin hatte man Kosaken schon vor dem Ersten Weltkrieg bei inneren Unruhen eingesetzt. Als dann das Zarenreich zusammenbrach, waren sie im allgemeinen Chaos am ehesten in der Lage, zunächst ihre eigenen Territorien gegen den rapiden Verfall der Ordnung zu schützen. Hier tobten alsbald separate Bürgerkriege zwischen der einheimischen Reiterelite und zugezogenen unterprivilegierten Bauern. Verzweifelt versuchten die Kosaken, ihr tradiertes Selbstbild als „Ritterorden der SteppeŖ in die Moderne zu retten. Aber ihre elitäre Verfassung besaß nur noch in den räumlich weit verstreuten heterogenen Gemeinschaften („HeerenŖ) relative Gültigkeit. Als Keimzellen einer größeren staatlichen Ordnung eigneten sie sich schon deshalb nicht, weil sie nicht einmal untereinander zu gemeinsamem Handeln fähig waren.40 Viele Kosaken-Einheiten kämpften außerhalb ihrer heimatlichen Gebiete. Sie waren erst gar nicht von der Weltkriegsfront dorthin zurückgekehrt. Im Bürgerkrieg traten sie überwiegend auf die Seite der weißen Freiwilligen-Armee im Süden. Doch gelang es schließlich auch den Bolschewiki, Reiterverbände auf ihre Seite zu ziehen und erfolgreich einzusetzen. Kriegskommissar Trockij spielte die Autonomie-Bestrebungen der unterschiedlichen Kosaken-Heere gegeneinander aus, indem er auf deren Unvereinbarkeit mit der Einheitsstaatsidee der Weißen verwies.41 Unter diesen „rotenŖ Kosaken ragte die Erste Reiterarmee Budennyjs hervor, die neben der Zweiten Reiterarmee des Donkosaken Filipp K. Mironov42 die Halbinsel Krim gegen Wrangel zurückeroberte, nachdem sie an der polnischsowjetischen Front im Einsatz gewesen war. Der Sieg im Süden überstrahlte die Niederlage im Westen. Babelř, der Städter, ließ sich vom Kult um das Pferd einnehmen, spielte zeitweise mit ihm und wurde schließlich ironisch mit ihm verwoben. Als „Jude zu PferdeŖ apostrophiert, schrieb man ihm die Identität eines Grenzgängers zwischen unterschiedlichen Kulturen zu. Er synthetisierte demnach sonst getrennte Traditionen und repräsentierte ein Phänomen, das im Bürgerkrieg allenthalben zu beobachten war Ŕ dass nämlich Juden in kosakischen Einheiten dienten.43 So ungewöhnlich dies erscheinen mochte, verhinderte es nicht antisemitische An-

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feindungen. Solche sind auch gegen Babelř als Autor zu verzeichnen. Sein Werk hat nicht zuletzt deshalb eine wechselvolle Editions- und Rezeptionsgeschichte erlebt. Wie in Urzeiten die Reiternomaden lebten viele Kosaken weiterhin in der eurasischen Steppenzone, als wenn ihre Gemeinschaften und ihre Herden noch immer die offenen Räume für eine mobile Lebensweise benötigten. Ihre Familienverbände waren patriarchalisch, die Gesellschaft insgesamt straff militärisch geprägt.44 Trotz dieser Unterordnung unter die Zarenherrschaft und der Eingliederung in die reguläre Armee pflegten die Kosaken Erinnerungen an ein einstmals ungebundenes, in heftigen Kämpfen gegen übergeordnete Mächte gezähmtes Leben. Ihre zunehmend sesshafte Lebensweise blieb insofern mobil, als sie ausgedehnte Grenzsäume sichern mussten. Dazu unternahmen sie von Zeit zu Zeit Beutezüge in Nachbargebiete.45 In diesen Übergangszonen sesshafter und mobiler Lebensweise von der Ukraine und Süd-Russland bis in die Mongolei und nach Nordostchina brachen periodisch gewaltsame Konflikte aus. Als seit Mitte des 19. Jahrhunderts Bauern aus übervölkerten und von Hunger bedrohten Getreidegebieten einwanderten oder durch staatliche Kolonisierungskampagnen dorthin gelenkt wurden, gerieten die Kosaken in ihren autonomen Territorien selbst unter Druck. Ästhetik und Ethik Leitmotivisch durchzieht den Zyklus die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tradition und Revolution. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern utopische Ziele die Anwendung von Gewalt rechtfertigten. Neben dem moralischen Konflikt trieb Babelř jedoch vor allem um, wie der Stoff künstlerisch zu bewältigen war, welche Form am besten passte, wie Erzähler und Figuren sprechen sollten. Er wollte ein vollkommenes Werk schaffen. Für das, was sein alter ego Ljutov in den Wäldern, den Kleinstädten und Dörfern Galiziens sah, musste eine Sprache gefunden werden, die jenseits der konventionellen Norm lag. Hier geschahen unerhörte Dinge. Wer von ihnen berichtete, stand vor einem Dilemma: alles aufzuschreiben, sich ständig zu wiederholen, oder auszuwählen, das Unverwechselbare markieren. Dies galt erst recht, wenn sich die Gewalttaten häuften, zur Regel wurden, die Gemüter abstumpfen ließen. Wie nebenbei beschreibt der Erzähler noch die hemmungslosesten Exzesse. Er formt gleichsam ruhende Wortbilder für ein meistens hektisches Geschehen. Schrecken und Schönheit, das sind die binären Attribute des Lebens an der Peripherie und durchziehen die inneren Monologe.46 Sie oszillieren und scheinen gelegentlich Brutalität zu ästhetisieren, diese schön zu schreiben, zumal dann, wenn sich Ljutov so offen zu denen bekennt, die sie verüben.47 Babelř erprobte unterschiedliche Verfahren, um eine Balance zu halten. Eines bestand darin, die Schuld für die Gewalttaten dem „wahnsinnigenŖ, „vertiertenŖ Gegner anzulasten. Auf diese Weise entzieht sich der Beobachter einer möglichen Mitverantwortung und rechtfertigt sich vor seinem Leser, auf dessen Voreingenommenheit er zählt. Über den polnischen Gegner etwa schreibt er in einem Zeitungsbericht: „So richtet die

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Szlachta zugrunde, sich selbst. So verreckt ein böser tollwütiger Hund. Erschlagt ihn, rote Kämpfer, erschlagt ihn, koste es, was es wolle, erschlagt ihn auf der Stelle, noch heute! Keine Minute verliert.Ŗ48 Von dieser einseitigen Festlegung auf die Wahrnehmung der Rotarmisten ist in „KonarmijaŖ nur noch ganz wenig zu spüren, es fehlt jedoch auch eine vorbehaltlose Identifikation mit den jüdischen Opfern beider Kriegsparteien. Ljutov rührt einerseits ihr grausames Schicksal, sie wecken Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit: „Am Abend vor dem Sabbat peinigt mich immer die dichte Trauer der Erinnerungen. Früher streichelte an diesen Abenden mein Großvater mit seinem gelben Bart die Bände Ibn Esras. Meine Großmutter im Spitzenhäubchen beschwor mit knorrigen Fingern über der Sabbatkerze die Zukunft und schluchzte süß. Das Kinderherz schaukelte an diesen Abenden, so wie ein Schiffchen auf verzauberten WogenŖ („GedaliŖ, 34). Andererseits blickt er überheblich und hochmütig auf ihre altertümliche Lebensweise herab. Die „vermoderten TalmudbücherŖ der Kindheit sind ihm fremd geworden, seit er die Heimatstadt verlassen hat. An einem anderen Ort ihnen so unvermittelt wieder ausgesetzt zu sein, verunsichert ihn oder stößt ihn sogar ab. Ein betagter Rabbi entwaffnet den selbstgefälligen Agitator mit der verblüffend-schlichten Idee, die Revolution mit dem Sabbat zu versöhnen. Seine „Internationale der guten MenschenŖ gründet auf der Hoffnung, Anhänger durch Einsicht zu gewinnen und nicht mit Gewalt. Doch auch der weise Alte ist nicht frei von Rachegelüsten, freut sich, dass es den Peinigern der Juden, den Polen, „der KonterrevolutionŖ, heimgezahlt wird. „Das ist die RevolutionŖ, meint er. Von den vermeintlichen Befreiern erwartet der Rabbi nicht, dass sie selbstlos handeln. Sie fordern Tribut und nehmen ihn. Sein Wahlspruch „Gute Taten begeht ein guter MenschŖ findet in der Wirklichkeit keine Bestätigung. Denn „böse MenschenŖ bedrohen ihn von allen Seiten, auch von der Seite der Roten, die ohne Rücksicht auf ihn seine Feinde bekämpfen (36). Während er die Welt nicht mehr versteht, hält ihn der Erzähler für den „Begründer einer unerfüllbaren InternationaleŖ (37). Babelř befindet sich, als er „KonarmijaŖ zu einem Zyklus vereinigt, in einer schwankenden Mittellage zwischen den Extremen. In den folgenden Jahren versucht er, sie weiter auszubalancieren, ohne indessen den Stand von 1926 übertreffen zu können. Der Kunstgriff bedingter Teilnahmslosigkeit nach allen Seiten hin erzeugt eine besonders eindringliche Wirkung. Er zwingt den Leser, sich der Gewaltszenerie sehenden Auges und unbefangen zu stellen, sie aber weder zu billigen noch ihr ohnmächtig und sprachlos zu erliegen. Auf diese Weise erschließen sich ungeahnte geistige Räume, wirft das Schicksal dem Erzähler „ein der Welt verborgenes Evangelium vor die FüßeŖ („Pan ApolekŖ, 19). Pan Apollinarius (Apolek), ein weiser Sonderling, malt skurrile Ikonen für die Häuser der Gläubigen und verziert die Wände der Kirche von Novograd-Volynsk mit Fresken. Sie zeigen Episoden aus apokryphen Schriften, die er selbst erfunden hat. Skandalös sind sie aber aus einem anderen Grund. Sie zeigen heilige Figuren, deren Gesichter unverkennbar denen ortsbekannter Personen ähneln. In den Zügen Johannes des Täufers, dessen Haupt auf einer Schüssel liegend zu sehen

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ist, erkennt der Erzähler den Gehilfen des geflohenen Geistlichen; über dem Ehebett der Haushälterin ist eine „rotwangige GottesmutterŖ zu sehen, die der Wirtin verblüffend gleicht; Jesus geht eine Ehe mit einer gefallenen Frau ein. Pan Apolek visualisiert eine Einstellung, die in der russischen und der jüdischen Kultur gleichermaßen verankert ist: die Ethik der Schande.49 Seine blasphemischen Motive finden regen Zuspruch unter den Kirchgängern, den erbosten Emissären der Amtskirche zum Trotz. Es fehlt nicht viel, und der „HeiligenschänderŖ wäre „Begründer eines neuen KetzerglaubensŖ geworden („Pan ApolekŖ, 23). Im sakralen Subtext in „KonarmijaŖ ist dieses fröhliche Spiel mit der Blasphemie eher seltener. Weitaus häufiger bestimmen rohe Gewalt und Sakrileg das Aufeinandertreffen der Roten Krieger mit den Bewohnern der religiösen Übergangszone zwischen Orthodoxie, Judentum und Katholizismus. „SündeŖ fasst begrifflich nicht mehr, was hier an Verbrechen und Übeltaten geschieht. Die Welt der Gläubigen wird durcheinandergewirbelt. Es scheint, als sei „Gott ein PensionärŖ („GedaliŖ, 37), als habe sich der Himmel in ein Bordell verwandelt.50 Das Firmament löst sich in ein Meer aus Farben und Tönen auf. Aus einst verbindlichen strengen Geboten wird ein Gewirr aus Stimmen, Geräuschen und Effekten. Der Kanon der Heiligen Bücher ist gesprengt, an seine Stelle treten apokalyptische Bilder und groteske Legenden, geschaffen, um die verkehrte Welt noch rätselhafter zu machen. Der Enthusiasmus der vorwärts stürmenden Reiter kennt keine Moral im herkömmlichen Sinne. Sie setzen sich durch den revolutionären Auftrag ins Recht, sei er vom Armeekommandeur oder von dem Politischen Kommissar vorgegeben oder auch selbst formuliert. Es ist an dem Intellektuellen, das Schöne in dieser Ansammlung hässlicher Begebenheiten zu erkennen. Der gute Mensch ist unter die Räuber gefallen und nun im Begriff, sein Unterscheidungsvermögen zu verlieren. Zyklus und Roman Babelřs Werk steht beispielhaft für Bestrebungen in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, die Grenzen zwischen den literarischen Gattungen und Genres neu auszuloten. Viele glaubten, die Möglichkeiten des großen realistischen Romans seien erschöpft.51 Die Welt der Fabriken, Automobile und Dampfschiffe wandelte sich rasant, traditionelle Milieus lösten sich auf. Um die soziale Umwälzung zu verstehen, bedurfte es eines analytischen Blicks, nicht monumentaler Nachbildung. Die modernistischen Strömungen und Gruppen nahmen die Herausforderung am schnellsten an, wollten der komplexen Gegenwart mit neuen Formen, mit Sprachexperimenten, Wortschöpfungen und einer unverbrauchten Metaphorik nachspüren. Doch machten auch sie nur einen Bruchteil der sich weit verzweigenden Kulturszene aus, deren Kennzeichen nun ihrerseits war, ein loses Netzwerk organisatorisch mehr oder weniger gefestigter Gesellschaften, Zirkel, Salons und privater Treffpunkte zu knüpfen.52 Lyrik, offenes Drama, Kurzgeschichte und kleine Mischformen waren beweglich und konnten spontan eingesetzt wer-

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den, um den Menschen in der Hektik und Unübersichtlichkeit des modernen Alltags zu zeigen. Anstelle epischer Breite wählten zumal junge Autoren eng begrenzte Zeiträume, wenn sie das Leben mehrdimensional, in gesteigerter Komplexität und multiperspektivisch darstellen wollten. Isaak Babelř steht von Anbeginn seiner schriftstellerischen Laufbahn in diesem Grenzbereich experimenteller Literatur, ohne dass er sich explizit dazu geäußert hätte. Frühzeitig und offenbar intuitiv wählte er die kleine Form als die seinem Talent gemäße. Auf sie verlegte er einen Großteil seiner schöpferischen Energie und Fabulierfreude. Hier konnte er seinen Willen zur Originalität und Innovation am besten entfalten, einen unverwechselbaren Stil entwickeln und die so überbordenden Stoffe seiner chaotisch-revolutionären Zeit dicht beschreiben. Wiederholt bekannte er, es seien Gedichte in Prosa, die er schreibe. Zu diesem Schluss kam 1927 auch Aleksej Kruĉenych, als er „KonarmijaŖ mit Werken anderer Autoren verglich. Ĉechov habe von Erzählungen aus wenigen Zeilen geträumt. Babelř komme der Verwirklichung dieses Ideals sehr nahe; denn seine Erzählungen seien eigentlich schon nicht mehr Prosa, sondern Poesie.53 In der Tat finden sich in „KonarmijaŖ keine Abschweifungen in historische, politische, soziale oder ökonomische Umstände. Alle Erzählungen beziehen ihre „WahrhaftigkeitŖ aus der unmittelbaren Beschreibung von Personen und Gegenständen, aus dem pointierten Ausdruck, aus gewagten, minimalistischen Bildern und einer Empathie, die gleichwohl um ein Mindestmaß an Distanz bemüht ist. Mit diesen Eigenarten erzeugt Babelř einen neuen Gestus, der ihn von Vorbildern unterscheidet. Seine metaphorische Sprache ist expressiv. Vor allem aber komponiert er Geschichten, die auf unterschiedlichen Ebenen ablaufen. Sie beziehen ihre Unverwechselbarkeit aus den dort versteckten Spuren, die jeweils eigene Horizonte eröffnen. Ungeachtet ihrer Kürze vermittelt solche Schichtung und Verknotung den Eindruck von Tiefe und Unerschöpflichkeit. Das zyklische Erzählen reifte in einer mehrjährigen Erprobungsphase und entwickelte dabei ein hohes produktives Gestaltungspotential. Denn die frühen Erzählungen ergaben bei all ihrer Originalität noch keine Einheit. Für den Aufstieg zum Erfolgsautor, der Babelř vorschwebte, waren sie zu disparat. Wären die Erzählungen von „KonarmijaŖ lediglich einzeln in Zeitschriften erschienen, hätte der Durchbruch wohl noch länger auf sich warten lassen, ungeachtet dessen, dass namhafte Kritiker bereits aufmerkten. Der Knoten löste sich erst, als der Schritt zu der thematischen Sammlung getan war. Den Unterschied machten vor allem die Anordnung der von Babelř überarbeiteten Fassungen aus den Zeitschriften sowie neu aufgenommene Episoden. Die Erstausgabe von 1926 weist unter allen anderen Editionen die größte Geschlossenheit auf.54 Babelř überlegte sehr genau, welche Erzählungen er auswählte und wie er sie fügte. Von der einführenden Erzählung „Perechod ĉerez ZbruĉŖ (3Ŕ5) über die kompositorische Zäsur in der Mitte, „Kladbińĉe v KozineŖ (76), bis hin zum dramatischen Finale, das einer offenen Deutung jedoch nicht entgegensteht, „Syn rabbiŖ (166Ŕ168), spannt sich ein weiter Bogen mit raschen Szenenwechseln, emotionalen Wechselbädern und rational begründeten Umkehr-

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wenden des Erzählers.55 Ungeachtet allen Wankelmuts ringt dieser sich zunehmend zu aktiver Anteilnahme durch. So kritisiert er blasphemische Ausfälle der Kosaken, setzt sich für eine humane Behandlung der polnischen Kriegsgefangenen ein oder zeigt pazifistische Anwandlungen, die bei den Kriegern auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Sie treibt der Wunsch nach Revanche, sie üben selbst untereinander grausam Rache. Noch nach Jahren verzeihen sie nicht und steigern sich bei ihrer Abrechnung mit einem Rivalen in einen Blutrausch: „Da trat ich mit den Füßen ein auf meinen Herrn Nikitinskij. Ich trat und trat ihn eine Stunde oder mehr als eine Stunde, und in dieser Zeit habe ich erfahren, was das Leben ist, und zwar vollständig. Mit einer Kugel Ŕ sag ich mal Ŕ wird man einen Menschen einfach los, die Kugel ist für ihn eine Gnade, für dich selber istřs eine widerliche Leichtigkeit, mit einer Kugel kommst du nicht bis an die Seele, wo sie beim Menschen sitzt und wie sie aussieht. Aber manchmal, da bin ich mir selber nicht zu schade und trete mit den Füßen, manchmal, auf den Feind ein, eine Stunde oder mehr als eine Stunde, ich will das Leben sehen, unser Leben, wie es ist…Ŗ („Ņizneopisanie Pavliĉenki, Matveja RodionyĉaŖ, 75). In nachfolgenden Ausgaben wurde der innere Zusammenhalt des Zyklus gestört, selbst wenn nur eine andere Erzählung ans Ende gesetzt worden war oder kleinere Eingriffe in Texte erfolgten, deren Urheberschaft nicht zweifelsfrei zu klären ist.56 Somit setzt die Edition von 1926 einen Standard, der die Absichten des Autors am klarsten erkennen lässt. Weitere Erzählungen, die zu „KonarmijaŖ gerechnet werden können bzw. in diesem Kontext entstanden sind, liefern zusätzliche Stoff-Fragmente, ohne für den Original-Zyklus unverzichtbar zu sein. Sie geben Auskunft darüber, dass Babelř Material für eine umfänglichere Fassung besaß, sie möglicherweise auch plante, aber letztlich nicht verwirklichte. Dies ist für die Interpretation des Zyklus insgesamt von größter Bedeutung. Wiederholt werden in Erinnerungen oder in anderen Zeugnissen Äußerungen Babelřs angemerkt, er plane einen Roman bzw. arbeite bereits daran.57 Da die konfiszierten persönlichen Akten unauffindbar bleiben, lässt sich selbstverständlich nicht mit Sicherheit sagen, ob es dabei tatsächlich um ein Roman-Manuskript im konventionellen Sinn geht. Nach allem, was Babelř Ŕ neben seinen Bühnenstücken Ŕ an erzählenden Texten hinterlassen hat, scheint weitgehend gesichert, dass er in der zyklischen Form „seinŖ Genre gefunden hatte. Der Zyklus ersetzte ihm den „RomanŖ, er war es für ihn. Wie bei „KonarmijaŖ fügen sich auch „Istorija moej golubjatkiŖ (Die Geschichte meines Taubenschlags), der Kernbestand von „Odesskie rasskazyŖ und einzelne Gruppen von Geschichten aus dem Jahrzehnt von 1913 bis 1923, darunter auch die zu einem „Petersburger TagebuchŖ gerechneten, zu thematischen Sammlungen.58 Erst recht gilt diese Feststellung für zwei Bruchstücke, die von einem geplanten Buch über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, „Velikaja KrinicaŖ (Große Quelle), erhalten sind.59 Babelř zeigt sich auch hier als Meister der Kleinform, die größere Zusammenhänge repräsentiert. Er fängt in der Figur eines Bauern, der sein trächtiges Pferd tötet, um es den Konfiskationsbrigaden nicht überlassen zu müssen, auf wenigen Seiten und mit eindringlicher Bildsprache die Tragik des epochalen

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Umbruchs unter Stalin ein. Neben technischen Großbauten waren auch „Mammut-WerkeŖ der Literatur gefordert, solche, die die gigantischen Aufbauleistungen des sozialistischen Staates rühmten oder die prinzipiell dem sowjetischen Historismus Genüge taten, indem sie soziologische Makrobegriffe über die postrevolutionäre Wirklichkeit legten.60 Gerade umgekehrt arbeitete Babelř. Mikroskopisch nahm er konkrete Personen und Umstände in den Blick. Die dabei entstehenden, teils grell überblendeten Bildmotive zeigten die Ereignisse sozusagen vom anderen Ende der Realität. Da sie in den dreißiger Jahren nicht mehr gefragt waren, schwieg er lieber. Mit „RedensartenŖ, „GeschwätzŖ und „Gymnasiasten-UnsinnŖ wollte er sich nicht hervorzutun.61 Trotz der Vielstimmigkeit der Figuren und rasch wechselnder Schauplätze besitzt „KonarmijaŖ also eine sinnstiftende Symmetrie und geschlossene Struktur. Alle Details haben ihren Platz. Ihre Anordnung erzeugt einen abwechselnd beschleunigten oder retardierenden Rhythmus. Ihr Zweck ist nicht, ein Panorama vorzuführen oder Revolution und Bürgerkrieg in enzyklopädische Wortbilder aufzugliedern. Fast unmerklich halten feine Fäden den Zyklus zusammen. Auch der Ich-Erzähler Ljutov verharrt oft dezent im Hintergrund oder scheint sogar abwesend zu sein. Doch ist er es, der alles verbindet, sein Blick auf den schnellen Szenenwechsel verklammert die Episoden. In den Kleinräumen dieser Begebenheiten sind nur wenige Stimmen und unterschiedlich stark vernehmbar. Vereint werden sie zu einer melancholischen Klage-Melodie über die Unerbittlichkeit der marschierenden Revolution. Kontrapunktisch erklingen die Stimmen der Krieger und ihrer Opfer, der zivilen und der militärischen. Von allen Seiten geraten insbesondere die jüdischen Bewohner unter tödliche Gefahr, werden ausgeplündert und drangsaliert. Nur dem Erzähler ist es zu verdanken, dass etwas aus dem hermetischen Kampfgebiet nach außen dringt.62 Ein Thema von dieser Größenordnung wäre eines Romans würdig. Doch kein Epos über den Bürgerkrieg reicht an die Ausdrucksstärke der mosaikartig gefügten Fragmente von „KonarmijaŖ heran. Sie gewähren unerhörte Einblicke in die Innenwelt einer Kleinarmee, die zum Angriff übergeht, leuchten das individuelle Verhalten der Kosaken, Freischärler, Agitatoren und Kommissare in permanenten Ausnahmesituationen aus, zerlegen diesen anonymen Krieg in blitzende Einzelbilder vom schrecklichen Alltag der Zivilbevölkerung, konfrontieren die hehren Losungen von einer besseren Zukunft mit der brutalen Realität der Gegenwart. Jede Episode deutet über das lokale und regionale Geschehen hinaus, Details transzendieren den Augenblick. Nicht der Polnisch-Russische Krieg als ein Konflikt um Grenzen und nicht der Versuch, die russische Revolution mit der Macht von Säbeln und Maschinengewehren zu exportieren, also historische Ereignisse, treiben Babelř um. Indem er das empirische Material verfremdet, verallgemeinert er es. Auf dem Schlachtfeld und in den jüdischen Siedlungen stoßen Kräfte aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die von den Polen repräsentierte abendländische Kultur, die archaisch-kriegerische Tradition der Kosaken, die religiös durchdrungene Welt des Shtetl und der moderne Messianismus der bolschewistischen Revolutionäre. Ihr erbittertes, ungleiches Ringen

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beschwört ein apokalyptisches Inferno herauf. So wird aus dem Feldzug der Ersten Roten Reiterarmee ein einzigartiges Lehrstück über Krieg und Frieden, Revolution und Kultur, Gewalt und Zivilisation. Zyklisch deutet Babelř aber auch den Verlauf des Geschichtsprozesses selbst. Bereits im ersten Absatz der ersten Erzählung zieht der Tross der 6. Division über „die unverwelkliche Chaussee, die von Brest nach Warschau geht und die von Nikolaus dem Ersten auf Bauernknochen gebaut wurdeŖ („Perechod ĉerez ZbruĉŖ, 3). Überall stößt der Erzähler auf Spuren einer wechselvollen, oftmals schrecklichen Vergangenheit. Vielfach verweisen lokale Orte der Erinnerung auf weltgeschichtliche Zusammenhänge: „Der Friedhof in einem jüdischen Shtetl. Assyrien und der geheimnisvolle Modergeruch des Orients auf den von Unkraut überwucherten Feldern Wolhyniens. […] Abseits, unter einer Eiche, vom Blitz gespalten, steht das Grabgewölbe des Rabbi Azriil, getötet von den Kosaken Bogdan Chmelnickijs. Vier Generationen liegen in dieser Gruft, die bettelarm ist wie die Behausung eines Wasserträgers, und Tafeln, grün bemooste Tafeln besingen sie mit dem blumigen Gebet des BeduinenŖ („Kladbińĉe v KozineŖ, 76). Weshalb der gewaltsame Tod die Juden periodisch heimsucht, weiß niemand zu sagen. Ihre „ungeheuerlichen LeichenŖ liegen zu Füßen „tausend Jahre alter KurganeŖ („BeresteĉkoŖ, 88). Anders als die Überlebenden, verstehen es die Kosaken, Vergeltung für erlittene Schmach zu üben, und sei es an denen, die gar nicht dafür verantwortlich sind. Prińĉepa, ein junger Kosak vom Kubanř, streitsüchtig, zeitweise von den Roten verstoßen, war vor den Weißen geflohen. Diese nahmen seine Eltern als Geiseln und ermordeten sie. Nach der Rückeroberung des Gebiets kehrte er in seine heimische Stanica zurück und übte furchtbare Rache: „Es war Morgen, Tagesanbruch, noch seufzte der Bauernschlaf in säuerlicher Schwüle. Prińĉepa nahm sich einen Wagen vom Staat und ging durch die Stanica auf der Suche nach seinen Grammophonen, Kvaskrügen und den von der Mutter gestickten Handtüchern. Er trat auf die Straße in schwarzer Burka, den Krummdolch im Gürtel; der Wagen rumpelte hinter ihm her. Prińĉepa ging von einem Nachbarn zum anderen, und der blutige Stempel seiner Stiefelsohlen folgte ihm als Spur. In den Hütten, in denen der Kosak Sachen der Mutter fand oder eine türkische Pfeife des Vaters, hinterließ er aufgeschlitzte alte Frauen, Hunde, über dem Brunnen aufgehängt, und kotbeschmutzte Ikonen. […] Als er fertig war, ging Prińĉepa in das verwaiste Vaterhaus zurück. Die wieder abgejagten Möbel stellte er an ihren alten Platz, den er aus der Kindheit kannte, und ließ Vodka holen. In der Hütte eingeschlossen, trank er zwei Tage und zwei Nächte, weinte und zerhackte mit dem Säbel die Tische. In der dritten Nacht sah die Stanica Rauch über Prińĉepas Hütte. Versengt und abgerissen, mit weichen Knien führte er die Kuh aus dem Stall, steckte ihr den Revolver ins Maul und schoss. […] Der Brand strahlte wie ein SonntagŖ („PrińĉepaŖ, 77 f.). Nach alldem schließt sich der Kosak der Reiterarmee an und zieht mit ihr durch die Dörfer Galiziens, in seiner Begleitung der Erzähler, dem er seine Geschichte vortrug. Hier sind es die Polen, die er für ihre Gräuel an der jüdischen Bevölkerung erbarmungslos

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bestrafen will. Doch bleiben auch die Opfer, in deren Namen angeblich gemordet wird, nicht verschont.63 Babel’, ein Rätsel Als Babelř verhaftet wurde, soll er im Hinausgehen gesagt haben: „Man läßt mich nicht zu Ende schreiben.Ŗ64 Bereits in den Jahren zuvor kämpfte er gegen das „VerstummenŖ an. Es hatte verschiedene Gründe, warum dem Erfolg mit den Erzählzyklen nichts Vergleichbares nachfolgte. Angesichts des Machtkampfs in der Partei und unter dem Druck einer politisierten Literaturkritik war es zunehmend schwieriger geworden, Stoffe zu finden, die gleichermaßen aktuell waren und die Zensur passieren konnten. Es hieß, Babelřs Produktivität lasse nach, er schreibe vor allem Auftragsarbeiten, lasse Altbekanntes nachdrucken. Sein „SchweigenŖ sei verräterisch und verdecke seine Illoyalität.65 Auf dem Schriftsteller lasteten aber auch Selbstzweifel, ob seine formalen Experimente tatsächlich geeignet waren, die hohen Ansprüche an sein Schaffen zu erfüllen. Neben den voluminösen Bänden anderer Autoren erschien ihm sein Werk allzu schmal.66 Wie andere Autoren erwog auch Babelř, ob er Zugeständnisse an den offiziellen Literaturbetrieb machen sollte. Manches von dem, was er unentwegt verfasste, tilgte er selbst, anderes wurde konfisziert oder verschwand spurlos. Im Unterschied zu seiner Familie war ein dauerhaftes Leben im Ausland für ihn keine Alternative. So gern er auch Paris besucht, stets befällt ihn Ŕ nicht nur aus Geldmangel Ŕ die „Sehnsucht nach RusslandŖ. Frankreich hielt er Ŕ „so seltsam das istŖ Ŕ für „schrecklich rückständig und äußerst provinziellŖ. 1928 schrieb er an Freunde: „Hier kann man im Sinne individueller Freiheit hervorragend leben. Aber wir aus Russland sehnen uns nach dem Wind der großen Gedanken und der großen Leidenschaften.Ŗ67 Wegen dieser Unabgeschlossenheit des Werkes, der zeitweiligen Verbannung aus dem Orbis der sowjetischen Literatur und der vergleichsweise stillen Rückkehr als moderner Klassiker steht Isaak Babelř exemplarisch für die Geschichte von Verlust und Wiedergewinnung im 20. Jahrhundert. Was ihn indessen von vergleichbaren Fällen unterscheidet, ist die offene Frage, wie und wo sein Werk einzuordnen ist. Längst wird kontrovers diskutiert, ob er ein sowjetischer oder ein russischer oder ein jüdischer Schriftsteller gewesen sei. Die Antwort darauf ist vornehmlich wegen der Erkenntnisse der jüngeren Forschung zu „KonarmijaŖ erschwert worden. Babelř verlässt die vertraute Welt Odessas und das alternative städtische Milieu Petrograds. Er wagt sich wie der Ich-Erzähler Ljutov auf unbekanntes Terrain vor, er setzt als einer der ersten Maßstäbe für die literarische Durchdringung des Bürgerkriegsstoffs, und er trägt nolens volens zum monumentalen Gründungsmythos des Sowjetstaates bei. Was wegen der Verfemung wie eine Anti-Utopie erscheinen könnte, erweist sich als konstitutiver Akt eines Dramas, das die menschliche Existenz in Zeiten des Krieges und der Revolution künstlerisch zu gestalten versucht. So verstanden gehört „KonarmijaŖ zum Kernbestand sowjetischer Literatur, ohne ihren normativen Regeln zu entsprechen.

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So einfach macht es Babelř aber niemandem, der auf feste Einordnung Wert legt. Schon die verhaltene Rehabilitierung in seiner Heimat seit den späten fünfziger Jahren, aber auch die verzögerte und teils ratlose internationale Rezeption weckten Zweifel, ob sich dieser Autor überhaupt in ein kanonisches System hineinschreiben wollte, sei es nun russisch, sowjetisch oder jüdisch, bzw. ob er in ein solches passt. Sicherlich ist wenig gewonnen, ihn als verkannten Klassiker der frühen Sowjetliteratur zu registrieren. Vielmehr schärft sich mit wachsender Distanz zu den Entstehungsbedingungen von Babelřs „KonarmijaŖ der Blick für die Komplexität eines Werkes, das sich durchaus berechtigt neben Werke Franz Kafkas stellen ließe. Es war in der Versenkung gleichsam weitergereift und erscheint heute zeitgemäßer denn je. Eine Epoche der Extreme wird in den Erzählungen nicht in realistischer Reflektion, sondern mittels rätselhafter Allegorien durchschritten. Sie zu entschlüsseln, wäre aussichtslos, jedenfalls wenn man „ErfindungŖ und „LügeŖ von „WahrheitŖ unterscheiden wollte.68 Babelř spielt mit autobiographischen Partikeln, die er immer wieder virtuos über das Werk verstreut. Umgekehrt fiktionalisiert er Selbstzeugnisse und mystifiziert Fakten. Dadurch werden dem Leser individuelle Strategien abverlangt, das „AutobiographischeŖ eigenständig zu erfassen und nicht eine unwandelbare biographische Substanz vorauszusetzen.69 Babelř verwischt die Grenzen zwischen Tagebuch und Erzählung. Das „BabeleskeŖ, als Lemma für eine unverwechselbare Schreibweise im Stillexikon der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, kennzeichnet eine Variante des modernen Existentialismus. Es wurzelt in den Traditionen jüdischer Kultur und Literatur.70 Nicht anders als die Historiographie der geschichtlichen Roten Reiter zeigt auch die wechselvolle Rezeption von Babelřs „KonarmijaŖ, wie widersprüchlich und letztlich vergeblich der Wunsch nach Eindeutigkeit in der Geschichte von Revolution und Bürgerkrieg sind. Schnell mussten all jene verstummen, die in den zwanziger Jahren begeistert den neuen Stern am noch weitgehend dunklen Firmament der Sowjetliteratur begrüßten.71 Babelřs kurze, steile Karriere, die ihn für wenige Jahre in den Genuss begehrter Privilegien brachte, täuscht darüber hinweg, dass in einem nach absoluter Wahrheit strebenden System der Makel des „MitläufersŖ untilgbar war. Das erklärt die Panik, mit der Babelř sich von diesem Stigma zu befreien trachtete. Schon die Skandalisierung von „KonarmijaŖ deutete an, dass er verwundbar war. In den dreißiger Jahren verdichtete sich das Netz von Verleumdungen, Unterstellungen und Gerüchten um seine Person. Selbst die Umstände seines Todes wurden jahrzehntelang hinter einem Nebel behördlicher Mystifikationen verborgen. Der Zyklus „KonarmijaŖ ist ein Jahrhundertwerk. Er stößt den Leser auf einen verzweigten Erkundungsweg, der zurück an den Beginn des 20. Jahrhunderts führt, als große soziale und politische Erwartungen geweckt wurden, und von dort wieder nach vorn in die Epoche der beispiellosen materiellen und seelischen Verwüstungen, die daraus resultierten. Babelř erschafft mit Ljutov einen ebenso neugierigen wie ratlosen Sucher, der die Widersprüche der Revolution leidenschaftslos aufdeckt, seine Hoffnung auf ein letztlich gutes Ende aber nicht

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aufgeben will. Diese ungewöhnliche Figur eines scharf beobachtenden, feinsinnigen Intellektuellen schwankt zwischen Mitleid für die gepeinigte Kreatur und kaltblütiger Bestandsaufnahme. Mit anatomischem Blick nimmt der Erzähler stetig neue Facetten menschlichen Verhaltens wahr, seziert sie und fügt sie wie ein Sammler seiner Kollektion von Kuriositäten bei. Einige Eigenschaften ringen ihm Bewunderung ab, und gern würde er sie verinnerlichen, wie etwa die Unbeirrbarkeit, Stärke und Zukunftsgewissheit der Reiter, die sich zu einem bunten Haufen zusammengefunden haben. Andere lassen ihn zweifeln, ob sie den edlen Zielen wirklich angemessen sind und ihnen dienen können. Allerdings findet Ljutov nicht aus seinem Zwiespalt zwischen jüdischer Identität und revolutionärem Auftrag, Mitleid und Wunschdenken heraus.72 Je näher er den Ereignissen kommt und je tiefer er in sie eintaucht, desto auswegloser empfindet er seine Lage. Da er weder für die Täter noch für die Opfer eindeutig Partei ergreift, hält er bei aller Intimität Abstand. Weder die draufgängerischen Kosaken, Inbegriff russischer und ukrainischer Eroberer, für die der Einsatz von Gewalt fraglos legitim ist, noch der so nachdenkliche Sohn des Rabbi, ein Brillenträger, Idealist und Jude wie er, dem die Ideen der Freiheit und Gerechtigkeit mehr bedeuten als die Methoden ihrer Durchsetzung, überzeugen ihn letztlich.73 Beide tragen gute Gründe vor, so zu handeln, wie sie handeln. Wer sich aber nicht so entscheiden kann wie sie, muss mit den unauflöslichen Widersprüchen leben. Um den Preis eines gespaltenen Bewusstseins wird Ljutov zum begabten Skeptiker, dem es gelingt, bis zur Aporie revolutionärer Begriffe vorzustoßen, dem es aber versagt bleibt, diese in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Der Autor von „KonarmijaŖ ist unser Zeitgenosse.

Rainer Goldt

Evgenij Zamjatin: Navodnenie (Die Überschwemmung) Als der Schiffsbauingenieur Evgenij Zamjatin im Spätherbst 1917, „genau zur Oktoberrevolution, die gesamte Zeit im Rettungsring und mit ausgeschalteten Signallichtern an den deutschen Unterseebooten vorbeiŖ1, von der englischen Kriegswerft in Newcastle nach Petrograd zurückkehrte, war er bereits ein renommierter Autor, der ungeachtet seiner fragwürdigen Vergangenheit als politischer Häftling den Bau russischer Kriegsschiffe überwachen durfte. Nachdem seine erste Erzählung, „OdinŖ (Allein, 1908), von der Kritik noch unbeachtet geblieben war, hatte ihm „UezdnoeŖ (Provinzleben, 1912) zu frühem Ruhm verholfen. Zum Skandalerfolg avancierte bald darauf seine nach dem Vorbild Kuprins im Armeemilieu beheimatete Erzählung „Na kuliĉkachŖ (Am Ende der Welt), die im März 1914 zur Konfiskation der gesamten Auflage geführt hatte. Zamjatin durchschaute sehr schnell den Charakter der Oktoberrevolution und trat anders als sein Förderer Maksim Gorřkij dauerhaft in Opposition zum Regime. Er verfasste Essays, satirische Märchen im Geiste Saltykov-Ńĉedrins und vor allem die epochale, unter anderem George Orwell nachhaltig beeinflussende Anti-Utopie „MyŖ (Wir, 1920), die er zwar auf internen Lesungen vorstellen, nicht aber veröffentlichen durfte. Eine mögliche Ausreise mit dem berühmt gewordenen „PhilosophendampferŖ, der die Blüte der russischen Intelligencija ins Exil beförderte, schlug Zamjatin Ende 1922 noch aus, obgleich er im August wegen „antisowjetischer TätigkeitŖ kurzfristig verhaftet worden war. Beim Verhör erklärte er: „Es ist die Aufgabe der Intelligenz in Russland, Gehirn des Landes zu sein, und wenn sie ‚Mängel im MechanismusŘ entdeckt, von ihnen zu sprechen.Ŗ2 Zamjatin wandte sich durchaus erfolgreich der kleinen Prosa, dem Film und dem Theater zu. Ein bedeutender Bühnenerfolg gelang ihm 1925 unter dem Titel „BlochaŖ (Der Floh) mit der unpolitischen Bühnenfassung von Leskovs „LevńaŖ (Der Linkshänder). Sein historisches Drama „AtillaŖ dagegen fiel 1928 auf Grund allzu deutlicher Zeitbezüge der Zensur zum Opfer. Dieses Jahr, in das auch die Novelle „NavodnenieŖ fällt, führte Zamjatin die Unmöglichkeit vor Augen, weiter in der Sowjetunion zu arbeiten. Er erlebte den ersten großen Schauprozess in Moskau und erkannte, was die Stunde geschlagen hat: „War zweimal im ŃachtyProzess. Sehr abstoßend. Überhaupt habe ich es hier sattŖ, schreibt er seiner Frau am 18. Juni 1928.3 Der erste, zehn Seiten umfassende erhaltene Entwurf von „NavodnenieŖ ist vom März 1928 datiert und trägt die offenbar alternativ vorgesehenen Arbeitstitel „OsvoboņdenieŖ (Befreiung) und „Gavanř Ŗ (Hafen). Eine zweite Fassung vom März/April ist erstmals mit dem späteren Titel „NavodnenieŖ überschrieben. Der Titel enthält die in Klammern gesetzte Ergänzung „VolnaŖ (Die Woge). Die Fassung letzter Hand vom 14. (27.) April trägt dann nur noch den Titel „Navodne-

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nieŖ.4 Eine erste Lesung des Manuskripts fand im selben Jahr in den Räumlichkeiten des Leningrader Schriftstellerverbands statt.5 Bei der Drucklegung Ŕ geplant war die Aufnahme in einen Almanach des Verlags „Zemlja i fabrikaŖ Ŕ begegnete Zamjatin den Zensureingriffen bereits mit stoischer Gelassenheit. Im Januar 1929 schrieb er dem verantwortlichen Redakteur Sergej Obradoviĉ: „Einige von ihnen kann ich nachvollziehen (so ist zum Beispiel in der dritten Druckfahne das von Ganřka verballhornte Wort ,Sovnarkomʻ [Rat der Volkskommissare] gestrichen worden).Ŗ6 Was Zamjatin dagegen erboste, waren stilistische Eingriffe in den Text und die „moralische ZensurŖ, wie er jene neue Prüderie nannte, die für den heraufziehenden Stalinismus nicht minder kennzeichnend werden sollte als für die Ästhetik des Nationalsozialismus. In seinem Zorn drohte er mit rechtlichen Schritten, die er, wenn auch weitgehend vergeblich, schon für sein Drama „AtillaŖ unternommen hatte, oder mit dem Rückzug des Manuskripts. Dieses Ringen ist geradezu symbolisch für das Jahr 1929, das Stalin bei seiner Rede zum Jahrestag der Oktoberrevolution zum „Jahr des großen UmbruchsŖ ausrief.7 Auch Zamjatin selbst sah sich 1929 mit einer Kampagne konfrontiert, die ihn endgültig zur persona non grata im sowjetischen Kulturbetrieb stempelte und die als sogenannte „Pilřnjak-Zamjatin-AffäreŖ in die russische Literaturgeschichte einging: Wegen der Veröffentlichung in der UdSSR unpublizierter Texte im Ausland wurden beide Autoren scharf gemaßregelt; Zamjatin kam seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband durch Austritt zuvor.8 Von welchem Vernichtungswillen die Polemik schon damals geprägt war, beweist Aleksandr Bezumenskij, der Zamjatin unter der Überschrift „Bescheinigung über soziale EugenikŖ in der zentralen „Literaturnaja gazetaŖ als ein „Resultat von EntartungenŖ bezeichnete.9 Unter diesen Umständen grenzt es an ein Wunder, dass „NavodnenieŖ zwei Jahre nach Abschluss 1930 in einer Auflage von immerhin 5200 Exemplaren im Leningrader „Verlag der SchriftstellerŖ mit den Illustrationen des bekannten Bühnenbildners und Graphikers Konstantin Rudakov erscheinen konnte.10 Es sollte die letzte Publikation zu Lebzeiten des Verfassers in der Sowjetunion bleiben. Ungeachtet der Eingriffe in den Text betrachtete Zamjatin „NavodnenieŖ als eines seiner gelungensten Werke. 1932 schrieb er dem amerikanischen Literaturwissenschaftler und Übersetzer Avrahm Yarmolinsky: ŖNot once I have been told that this is ʻthe best ever writtenř by me.ŗ11 Im Strudel der Urgewalten von Eros und Natur Zamjatin greift in „NavodnenieŖ ein Sujet seiner frühen, der skaz-Technik verpflichteten Erzählung „ĈrevoŖ (Der Mutterleib, 1913) auf: das weder von Vernunft noch Ethos zu beherrschende Streben der Frau nach Mutterschaft. Damit transformiert er das Thema alle Fesseln sprengender erotischer Urgewalt, wie es Nikolaj Leskov mit seiner Erzählung „Ledi Makbet Mzenskogo uezdaŖ (Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mcensk, 1865) in die russische Literatur eingeführt hatte, auf die mythische Ebene der Frau als Lebensspenderin.12 Die jun-

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ge Afimřja wird mit dem ungeliebten Witwer Petra verheiratet und muss nun dessen zweijährigen Sohn aus erster Ehe versorgen. Ein eigenes Kind bleibt ihr verwehrt, bis sie von ihrem Nachbarn schwanger wird. Petra entdeckt die Beziehung, beginnt zu trinken und seine Frau in regelmäßigen Abständen grausam zu schlagen. Diese ist um ihres zukünftigen Kindes willen bereit, alles zu ertragen, doch als sie nach einem neuerlichen Gewaltexzess eine Fehlgeburt erleidet, erschlägt sie den seinen Rausch ausschlafenden Gatten mit einer Axt und zerstückelt ihn. Das verlorene Kind aber lässt sie nicht los; in Apathie verfallen und von Gewissensbissen zermürbt, führt sie nach drei Tagen ihre Nachbarin zu den eingesalzenen Leichenteilen im Keller. „NavodnenieŖ versetzt den Leser in eine nur auf den ersten Blick ganz andere Welt als die des ländlichen Russland aus „ĈrevoŖ. Auf der Leningrader VasilijInsel begegnet der Leser einer ähnlich unglücklichen und quälend stummen Ehe: „Was nicht stimmte, war noch nicht klar, war noch nicht in Worte gefasstŖ (113). Der Heizer Trofim Ivanyĉ und seine gegen vierzig Jahre alte Frau Sofřja warten seit vielen Jahren vergeblich auf ein Kind. Als in der Nachbarschaft ein verwitweter Tischler stirbt, schlägt Sofřja ihrem Mann vor, dessen Tochter Ganřka an Kindes statt aufzunehmen, obwohl ihr der warme Geruch der mageren Zwölfoder Dreizehnjährigen noch am Tag zuvor instinktiv Widerwillen eingeflößt hatte. Sofřjas anfängliche Hoffnung, dass nun alles gut werde, bewahrheitet sich nicht, im Gegenteil: Ganřka spricht und lacht ausschließlich mit Trofim. Mit der Zeit beginnt sich Sofřja sogar vor ihr zu fürchten und verlässt die Wohnung zu ziellosen Wanderungen: „Nur bisweilen ließ Ganřka ihre grünen Augen langsam, eindringlich zu Sofřja hinübergleiten; offenbar war sie in Gedanken, aber an was dachte sie? So starr blicken einen Katzen an, wenn sie über ihre verborgenen Dinge sinnieren Ŕ und plötzlich wird einem bange vor ihren grünen Augen, vor ihren fremden, unergründlichen KatzengedankenŖ (117 f.). Auf einem dieser Gänge erblickt Sofřja in einer dem Verfall preisgegebenen Hausruine, Sinnbild ihres unfruchtbaren Leibes, vagabundierende Zigeunerjungen, die ein Feuer entfacht haben und von denen einer sie an ihren Mann erinnert. Erregt von einer verschwommenen Vorahnung neuen Lebens besucht sie den Gottesdienst in der nahegelegenen Kirche, kehrt voller Emotionen nach Hause zurück Ŕ und findet erneut keine Worte; sie wollte Trofim Ivanyĉ „von all dem erzählen, doch Ŕ wovon eigentlich?Ŗ (118). Sofřja ergibt sich bald völlig ihren mystischen Neigungen und findet schließlich zu dem ekstatischen Schuster Fedor, der ein „Drittes TestamentŖ predigt und die bevorstehende Apokalypse nicht vom Himmel, sondern aus dem Inneren des Menschen voraussagt. Als dieser einen epileptischen Anfall erleidet, kehrt Sofřja früher als angekündigt nach Hause zurück und überrascht ihren Mann mit Ganřka. Eine Aussprache findet jedoch selbst jetzt nicht statt: „ ,Was… was soll das? Was… soll das?Ř brachte Sofřja mit Mühe hervor, ohne Trofim Ivanyĉ anzublicken. Trofim Ivanyĉ […] zog sich in einen Winkel seines Inneren zurück,

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so stand er schweigend eine Minute. Dann zog er seine Beine samt allen Wurzeln aus dem Boden und ging in die StubeŖ (120). Noch verschlossener als vorher fristet Sofřja fortan das Dasein einer Verstoßenen in den eigenen vier Wänden. Stumm und wie aus unendlicher Entfernung horcht sie jetzt in den Nächten darauf, wie ihr Mann zu Ganřka in die Küche schleicht. Der Sommer kehrt schwül und lastend ein, Ganřka beendet die Schule und ist selten daheim, wird gar bei den Jungen im leeren Haus gesehen. Nachbarinnen warnen Sofřja vor diesem Lebenswandel, doch sie kann aus ihrem Schweigen nicht mehr ausbrechen. Sie ist außerstande, den Namen der verhassten Adoptivtochter über ihre ohnedies gleichsam versiegelten Lippen zu bringen. Ein verheerendes Herbsthochwasser verschafft ihr noch einmal drei Wochen distanzierter Gemeinschaft mit ihrem Mann, als sie zu der Nachbarin Pelageja ein Stockwerk höher in die alte Tischlerwohnung ziehen müssen und er in dieser Zeit „keiner gehörtŖ. An der Sprachlosigkeit zwischen den Eheleuten ändert dies nichts, im Gegenteil: Als sie den Schlafenden lediglich berühren will, zuckt sie bereits unwillkürlich zurück: „Sie wollte ihn wie ein Kind streicheln, aber sie konnte es nicht, wagte es nicht…Ŗ (125). Ein archaischer Blutritus von Tod und Wiedergeburt Kompositorisch zentral, im vierten von insgesamt sieben Kapiteln, vollzieht sich die Katastrophe. Am Tag der Rückkehr in die Erdgeschosswohnung beginnt Ganřka, vor sich hin summend, den Ofen für ihre bevorstehende Liebesnacht mit Trofim zu heizen und Kienspäne zu schnitzen. Ihr sinnlicher Schweißgeruch lässt Sofřja schwindeln. Wie in Trance greift sie zu der Axt und gerät wie Afimřja in „ĈrevoŖ in einen wahren Blutrausch Ŕ bis hin zum Hieb auf die Schläfe vollziehen sich beide Morde auf frappierend ähnliche Weise: „Sofřja schlug noch mehrere Male hastig, gierig mit der Klinge gegen den Kopf, auf das Blech vor dem Ofen schoss Blut. Und als ob dieses Blut aus ihr, aus Sofřja, käme, brach in ihr endlich ein Geschwür auf, floss es von dort, tropfte, und mit jedem Tropfen wurde ihr leichter und leichterŖ (126). Mit einer für sie selber unheimlichen Kaltblütigkeit verstaut sie die Leichenteile in einem Sack, vergräbt sie in zwei Gängen auf dem Smolensker Feld und beseitigt die Spuren der Bluttat. Ihre Sorge, Trofim könnte Verdacht schöpfen, erweist sich als unbegründet, im Gegenteil: Dieser vermutet ebenso wie Nachbarn und Polizei, Ganřka habe sich einer der damals zahlreichen Gruppen vagabundierender Jugendlicher angeschlossen. In dieser Nacht öffnet sich Sofřja ihrem Mann zum ersten Male „ganz, bis auf den Grund Ŕ das erste Mal in ihrem LebenŖ (131) und empfängt das lang ersehnte Kind. Frühling und Sommer gehen so dahin. Eines Tages, als ihr Mann gerade von einem tragischen Arbeitsunfall berichtet und sie bei der Hausarbeit über den ewigen Zyklus von Leben und Tod sinniert hatte, kommt sie plötzlich mit einem Mädchen nieder: „Für diese Minute nur hatte sie gelebt, für sie war alles geschehenŖ (136). Sofřja verfällt in ein Delirium und wird ins Krankenhaus gebracht. Dort erblickt sie immer wieder Ganřka leibhaftig vor sich und

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Evgenij Zamjatin

glaubt, noch einmal entbinden zu müssen. Diese eigentliche „EntbindungŖ aber ist nichts anderes als die Befreiung von ihrem Opfer und wird ihr als Beichte zuteil, die sie vor dem fassungslosen Trofim Ivanyĉ ablegt. Erst dann findet sie erschöpft Ruhe: „Sie schlief, atmete gleichmäßig, ruhig, voller Frieden, ihre Lippen waren weit geöffnetŖ (140). Dieses Geständnis korrespondiert jedoch nicht mit jener Beichte, die der erste berühmte Axtmörder des Petersburger Textes, Dostoevskijs Rodion Raskolřnikov, ablegt und mit der er im christlichen Sinn seine Schuld bekennt und tilgt. „Das Geständnis ist nicht im christlich-neuzeitlichen Sinne als Ausdruck moralischer Läuterung und geistiger Entwicklung zu verstehen, […] Sofřja erlebt ihr Geständnis ganz körperlich, als Gebären, als physiologische Notwendigkeit, als Akt mythischer Katharsis, den weder Reue noch Buße begleiten.Ŗ13 Ihre mythische Beichte ist im Gegenteil die Lossagung von Ratio und von christlichem Ethos. Sie kulminiert in der Darbringung einer grausamen Opfergabe, um selbst gebären und Leben schenken zu können. Erst ihr Verbrechen macht die Reinigung vor der Empfängnis möglich: „Zu Hause scheuerte sie schnell den Fußboden, wusch sich selbst im Zuber in der Küche und zog sich frische Wäsche an, wie nach der Beichte vorm Feiertag. […] Das Feuer loderte hell auf, alles war verbrannt, jetzt war es im Zimmer ganz rein. Und auch aller Schmutz war in Sofřja verbrannt, auch in ihr war nun alles rein und stillŖ (128). Die Namensanalyse stützt diese These. Bereits in „ĈrevoŖ deutete der Name der Gattenmörderin, Afimřja, einer volkssprachlichen Form des aus dem Griechischen abgeleiteten Vornamens Eufimija (die Ehrwürdige, Heilige), auf eine höhere Rechtfertigung des Mordes im Namen vernichteter Mutterschaft hin. Der seltene Name Ganřka ist die Diminutivform von Agafřja (Agatha), der Guten.14 Nur vordergründig handelt es sich nämlich in „NavodnenieŖ um eine Variation des Sujets der Kindfrau als Nebenbuhlerin; nach der archaischen Logik dieses Textes ist Ganřkas Tod notwendig, um durch Sofřja als körperliche, nicht bloß adoptierte Tochter neu geboren zu werden, wie letztere gleich bei der ersten Begegnung mit dem Mädchen unbewusst erfasst: „Ganřka könnte ihre Tochter sein. Aber sie war nicht die ihre, gestohlen hatte man sie ihr, ihr Ŕ SofřjaŖ (115). Integrales Symbol des Unbewussten: Wasser und seine Quellen im „Petersburger Text“ Sofřja handelt im Sinne dieses Opfermythos immer dann richtig, wenn sie sich dem Unbewussten ausliefert, das in der Gestalt des Sturms, des Vorboten der Überschwemmung, schon im ersten Kapitel an den Fenstern ihrer kleinen Wohnungsfestung rüttelt: Symbol ihres in zivilisatorischer Lebensferne ge- und befangenem Ich. Als es dem Wind schließlich unmittelbar vor dem Mord gelingt, eine Scheibe einzudrücken, gibt er Sofřja den Blick auf die Flutwelle frei, die sie mehr fasziniert als ängstigt Ŕ in einer raumsymbolisch ganz ähnlichen Szene blickt Tolstojs Anna Karenina vor der ersten Begegnung mit Vronskij aus ihrem warmen Zugabteil fasziniert auf den draußen tobenden Schneesturm. Kurz zuvor

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hatte Sofřja, deren Herz sich bei der Entdeckung des Verrats überschlug „wie ein Vogel, der tiefer, immer tiefer fielŖ (120), beobachtet, dass der Sturm einen Vogel steil in die Lüfte trägt. Stumm öffnet sie sich der Naturgewalt, zum ersten Male überhaupt öffnen sich ihre scheinbar auf ewig verschlossenen Lippen in der Vorahnung der Befreiung: „Sofřja wurde mit einem Male leichter, als wäre es genau dies, was sie brauchte Ŕ eben so einen Wind, der alles mit sich reißt, hinwegfegt, überschwemmt. Sie wandte sich ihm entgegen, ihre Lippen öffneten sich, und der Wind drang in sie ein und sang im Mund, die Zähne wurden kühl Ŕ wie gutŖ (122). Von nun an lässt sie ihren Körper für sich handeln, der sich von ihrem rationalen Ich ablöst. Nach der Bluttat „schienen Sofřjas Hände völlig losgelöst von ihr zu denken und alles Nötige zu tunŖ (127), die ihr „fremden HändeŖ (127) zerstückeln den Leichnam, an ihrer Stelle „erinnerte sichŖ (128) ihre Hand daran, den Spaten mitzunehmen, und ihre Augen halten selbständig Ausschau. Die Überschwemmung und mit ihr die komplex miteinander verwobene Bildlichkeit naturhafter sowie körperlicher Flüssigkeit (Wasser, Schweiß und Blut, vereint im Bild anschwellender „Neva-AdernŖ, 228) bildet das, wie es Zamjatin selbst nennt, „integrale SymbolŖ. In seinem für den Sammelband „Kak my pińemŖ (Wie wir schreiben) verfassten Essay „Hinter den KulissenŖ erläuterte der Autor: „Wenn ich fest an ein Bild (obraz) glaube, dann erzeugt es unweigerlich ein ganzes System abgeleiteter Bilder, es durchdringt Absätze und Seiten. In einer kleinen Erzählung kann es integrale Funktion erlangen und sich auf das gesamte Werk von Anfang bis Ende ausdehnen. […] Ein komplexerer Fall liegt in ‚NavodnenieŘ vor: Hier durchzieht das integrale Bild des Hochwassers die Erzählung auf zwei Ebenen, spiegelt sich das reale Petersburger Hochwasser in einem seelischen Hochwasser.Ŗ15 In ein gemeinsames Flussbett, so Zamjatin weiter, „ergießenŖ sich alle zentralen Bilder: „Flutendes Wasser ist das zentrale vielschichtige Bild, das die Komposition auf mehreren Ebenen organisiert.Ŗ16 Auf diese Weise ist die Neva zugleich zentrales Symbol im Sinn der klassischen Novellentheorie. Damit gewinnt zugleich der historische Hintergrund des Werkes an Kontur, schildert es doch offenkundig das Hochwasser vom 23. September 1924, das weniger als einen halben Meter unter dem Pegelstand der schwersten je in Petersburg registrierten Flutwelle vom 19. November 1824 blieb und bis heute nur von diesem übertroffen wird.17 Der Beginn der Handlung setzt somit im Herbst 1923 ein, als die Kinder immer noch die 1920 erfolgte Erschießung des Admirals Kolĉak spielen und ein Brot „ungewöhnlicher und rarer als der TodŖ (116) war. Die eindringlichen Szenen des dritten, dem Mord unmittelbar vorausgehenden Kapitels entstammen allerdings dichterischer Imagination: Zamjatin erlebte das Hochwasser selbst nicht, da er sich zu dieser Zeit in Moskau befand. Nach Leningrad zurückgekehrt, schrieb er am 28. September nach einem Spaziergang mit Kornej Ĉukovskij an seine Frau: „Ich bedaure sehr, dass die Sintflut (potop) in Petersburg (sic!) ohne mich stattfand. Den Erzählungen zufolge war es ein erstaunliches Schauspiel. […] Der gesamte Nevskij[-Prospekt] ist vom

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Litejnyj[-Prospekt] an aufgerissen, kein einziges Stück Holzpflaster blieb übrig. Am Ufer gegenüber der Gagarin-Promenade sah ich gestern eine gewaltige, von der Neva ausgespiene Barke liegen. Das Mariinskij- und das Michajlovskij-[Theater] sind genau wie das G[roße] Dram[entheater] überflutet.Ŗ18 Die Flutthematik eröffnet natürlich auch einen Bezug zu Aleksandr Puńkins „Mednyj vsadnikŖ (Der eherne Reiter, 1833), literarisches Fundament des sogenannten Petersburger Textes innerhalb der russischen Literatur. Das zu Puńkins Lebzeiten aus Zensurgründen unveröffentlichte Poem erweckt im Kontext der frühen zwanziger Jahre ungute Assoziationen. Schon seine Eingangsschilderung des mit herbstlicher Kälte über „PetrogradŖ atmenden November ist beziehungsreich genug: Die Erinnerung an den November 1917 im verfinsterten Petrograd (wie Petersburg ja seit 1914 tatsächlich hieß) und an das tragische Schicksal Evgenijs und seiner Geliebten, der kleinen Menschen zwischen den Mühlsteinen der Geschichte einerseits und dem Willen eines Despoten andererseits, erhielten auf diese Weise eine aktuelle Perspektive. In der Tat hatten weder Weltkrieg noch Revolution am Schicksal einfacher Menschen wie Trofim und Sofřja gerüttelt, sie waren Treibsand in den Fluten der Geschichte geblieben: „Nach außen hin hatte sich nichts geändertŖ (113). In den Petersburger Text schreibt sich nun auch Zamjatin ein, doch mit einem grundlegenden Unterschied: Er inskribiert die für die kulturelle Opposition von Petersburg und Moskau konstitutive Dichotomie von europäischer Vernunft und russischer Irrationalität in die Petrinische Hauptstadt selbst. Diesen Riss verkörpern für Zamjatin sowohl die auf die Psyche ausstrahlenden Weißen Nächte als auch die über ihre Ufer tretende Neva. Einige Jahre später wird er in der Pariser Emigration über die Bewohner der Stadt schreiben, dass sie „etwas vom Wahnsinn der [Weißen] Nächte in sich tragen und von den zerstörerischen Tobsuchtsanfällen der Neva, die urplötzlich über ihre granitenen Ufer tritt und alles auf ihrem Weg hinwegfegtŖ.19 Diese Gespaltenheit ist keineswegs Privileg eines raffinierten intellektuellen Bewusstseins. Wenn der bodenständige, zwischen der verschlossenen Sofřja und der naturhaften Ganřka hin- und hergerissene Trofim in diese Reihe gehört, schlägt sich dies folgerichtig in seiner Physis, nicht in seiner Psyche nieder: Während des Hochwassers wird seine Jacke vom Sturm „auf der einen Seite fest an ihn gepresst, auf der anderen Seite von ihm weggerissen, und so schien es, als wäre sein Leib in der Mitte auseinandergebrochenŖ (123). Der Subtext Dostoevskij: Raskol’nikovs und Svidrigajlovs Traumwelten Der Mord mit der Axt, die auffällig früh zu Beginn des dritten Kapitels Erwähnung findet, erweitert das Spektrum des impliziten Petersburger Texts um Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanieŖ (Schuld und Sühne).20 Trotz einiger deutlicher Analogien in der Handlung selbst ist jedoch die Motivation konträr, wie bereits Leonore Scheffler konstatierte: „Dort Ŕ die hypertrophe Rationalität; hier Ŕ eine metaphysisch definierte, irrationale Triebkraft.Ŗ21 Zugleich subtiler als auch substantieller ist dagegen die Symbolik des Wassers, das die Träume Sofřjas mit

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denjenigen Raskolřnikovs, vor allem aber seines sinistren Widerparts Svidrigajlov in Beziehung setzt. Wie Sofřja und Ganřka durch die Opposition von Kälte und Hitze, so sind Raskolřnikov und Svidrigajlov durch den Gegensatz von Feuer und Wasser schicksalhaft miteinander verbunden. Dabei erscheint vor allem die Klimax der Träume Svidrigajlovs als ein in seiner Unmittelbarkeit geradezu verblüffender Subtext zu Ganřkas Schicksal: Da ist zunächst einmal die flüchtende Maus, die vom Wasser aus ihrer Höhle vertrieben wird, danach geradezu überdeutlich der zweite Traum von dem missbrauchten vierzehnjährigen (!) Mädchen, das den Freitod im Wasser (!) sucht und an dessen Sarg sich der träumende Svidrigajlov zu Pfingsten, also exakt einen Tag vor Ganřkas Ermordung, im großen Saal eines fremden Hauses sieht. An einem Pfingstmontag entdeckt Sofřja die Beziehung zwischen Trofim und Ganřka, doch tritt im mythischen Kosmos von Zamjatins Novelle die christliche Symbolik hinter die heidnische zurück. In der ostslavischen Folklore ist der Pfingstmontag (Duchov denř) mit Riten des Totengedenkens verbunden und gilt quasi als Namenstag der Erde. Der Heilige Geist steigt hernieder und ergießt sich über die Frucht empfangende, gebärfähige Erde, wie sie Sofřja an der Grube mit dem Leichnam Ganřkas unwillkürlich verspürt: „Unter den Füßen war schwarze, aufgebrochene, gequollene ErdeŖ (128). Aber auch zum Element des Wassers besitzt dieser Tag eine besondere Affinität, kehren doch die Rusalki, die Wiedergängerinnen im Wasser umgekommener Mädchen, für einen Tag auf das Land zurück. Im dritten Traum schließlich begegnet Svidrigajlov jenes laszive, vom Regen durchnässte Mädchen, das in seiner frühreifen Sinnlichkeit selbst dem Unhold Abscheu einflößt. Es wirkt wie eine Präfiguration Ganřkas, als diese nach einem ihrer zweifelhaften Ausflüge während des Hochwassers gerade in dem Moment nach Hause zurückkehrt, da sich Trofim Ivanyĉ von Sorge verzehrt auf die Suche begeben will: „Die Tür öffnete sich, und in der Tür stand Ganřka. Das Kleid klebte ihr an Brust und Knien, sie war über und über schmutzbesudelt, aber ihre Augen glänztenŖ (124). Trofim zerrt sie in die Küche, man vernimmt das Geräusch von Schlägen, doch sehr bald kam sie „bereits wieder guter Dinge ins ZimmerŖ (124.).22 Die Imagologie von Wasser, Feuer, Luft und Erde Neben den vielfältigen Verweisen auf den Petersburger Text entwickelt Zamjatins Novelle eine textimmanente, auf den vier Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde basierende Imagologie, einen Kosmos aus Laut- und Bildbezügen, in dem sich die Figuren gleichsam somnambul bewegen. Ein anschauliches Beispiel für Zamjatins Technik der Bildung phonetischer Assoziationsketten ist dabei die Assonanz des rosa Unterhemdchens (soroĉka, 120) auf dem Leib der erhitzten Ganřka und der eisigen, „hauchdünnen ReifkrusteŖ (koroĉka, 124), die Sofřja während des drei Wochen währenden Asyls in der Wohnung Pelagejas bedeckt, als sie unberührt neben ihrem Mann schläft.23

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Die Korrespondenz von Wasser und Blut, in der Mikro- und Makrokosmos, Mensch und Natur zu einer Einheit zurückfinden, bildet das mythopoetische, den gesamten Text durchziehende Leitmotiv: „Das Wasser in der Neva stieg. Und als wäre es über unterirdische Adern mit der Neva verbunden, stieg auch das BlutŖ (114). Trofim mit seinen kurzen Beinen („als wären sie bis zu den Knöcheln in den Boden hineingewachsenŖ, 116), die katzengleiche Ganřka und Sofřja, die im chthonischen Sinne weise Sophia, die Trofim als Braut aus dem Dorf in das europäische Petersburg holte, beweisen die Machtlosigkeit einer Zivilisation, die seit Puńkin die in granitene Uferbefestigungen gepresste Neva nicht zu bändigen weiß.24 Es ist von daher nur natürlich, dass eine Reflexion über das Medium der Sprache nicht stattfinden kann. An ihre Stelle treten bis zu der Offenbarung der Schwangerschaft, die Sofřjas Zunge lösen wird, Assoziationsketten und Augenblicksimpulse. Sie beruhen auf Träumen, Bildern und subjektiv empfundenen Analogien, zuweilen mit der charakteristischen Ambiguität von Traumbildern wie bei den Visionen einer leeren Grube (jama), die sowohl auf den unfruchtbaren Mutterleib als auch auf Ganřkas Grab hindeuten können. Vor allem Sofřjas Träume verleihen dem Geschehen etwas Schicksalhaftes, Unabwendbares. Als Sofřja von einem Schlag gegen das ausgetrocknete Fass in der Diele träumt, das sie als Allegorie ihrer Unfruchtbarkeit wahrnimmt, sieht sie sich zum Smolensker Feld fliehen: „Sie stolperte, fiel hin, mit den Händen direkt in etwas Feuchtes. Als es hell wurde, sah sie, dass ihre Hände blutig warenŖ (114) Ŕ vorläufig aber nur von ihrem Menstruationsblut, das schon so oft seinen gnadenlosen Urteilsspruch über die Unfruchtbare spricht. Und ebenso wird sie nachts mit blutverschmierten Händen Ganřkas Leichnam auf dem Smolensker Feld begraben. Die Kinderlosigkeit durchdringt jede Pore ihres Bewusstseins. Eine solche Assoziation erlebt sie, als ihr Blick für einen Moment auf dem Brot schneidenden Trofim ruht: „ ,Nein, es kommen keine … kommen keine Kinder!ʻ, durchfuhr es Sofřja auf einmal, schrie wild ihr Herz aufŖ (116), doch nach außen dringt kein Laut über ihre geschlossenen Lippen. Unmotiviert ist ihre Verzweiflung nur für denjenigen, der die Fruchtbarkeitssymbolik des Brotes nicht erkennt. Verzweifelt birgt, wie gleich zweimal erwähnt wird, auch Ganřka nach dem Tod ihres Vaters ein Stück „unberührtesŖ (116) Schwarzbrot in ihrem Schoß. Als Sofřja an jenem schicksalhaften Pfingstmontag früher als angekündigt nach Hause zurückkehrt und an der verschlossenen Tür innehält, dringt von irgendwo her der Geruch „nach warmem SchwarzbrotŖ (119) zu ihr hinüber. Als sie nach der Entdeckung der Beziehung am Abend wie immer das Brot zu Tische tragen will, „drehte sich Trofim Ivanyĉ um, stieß mit dem Kopf gegen das Brot, und der Laib fiel ihm in den Schoß. Ganřka kicherte los. Sofřja sah sie an, ihre Blicke trafen aufeinander, […] anders als bisherŖ (120). Auch dieses Mal will sie angesichts der symbolischen Usurpation ihrer Mutterschaft aufschreien, doch sie bleibt stumm, senkt nur die Augen. Die Würfel sind gefallen Ŕ es ist dies zu-

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gleich die letzte Erwähnung des in den ersten beiden Kapiteln zwölfmal erwähnten Brotes. Auch Trofims Erkenntnisprozess wird von bildlichen Analogien initiiert. Charakteristisch ist die Erinnerung an seinen Besuch in der seit der Revolution beinahe leblosen Werkstatt, die ihm den Schlüssel zum Ungenügen an seinem Dasein bietet: „Plötzlich erinnerte er sich: das Rad, die Werkstatt, der kraftlos schlagende Transmissionsriemen… ‚Das istřs…Ř, sagte Trofim Ivanyĉ laut. ‚Was?Ř fragte Sofřja. ‚Du bekommst keine Kinder, das istřs.Ř Und auch Sofřja verstand: Ja, das istřsŖ (114). Trofim ist mit allen Attributen atavistischer Vitalität ausgestattet, wie sie in Zamjatins Werk immer wieder auftreten. Dazu gehören seine Erdverwachsenheit, seine „wie die Tasten auf einer ZiehharmonikaŖ (216) glänzenden Zähne, sein zigeunerhaft dichtes und schwarzes Haar, vor allem jedoch die im Gegensatz zu der kühlen Sofřja auffällige Hitzemetaphorik in Verbindung mit seinem Lebensraum, dem Kessel, der ihn mit Ganřka vereint, wenn sie in der Nacht „durch aufeinandergepresste Zähne, gierig und heiß wie KesseldüsenŖ (121) atmen. Leitmotivische Strukturen: Katze, Vogel, Fliege Eine zweite Ebene der Bildlichkeit konstituieren korrespondierende Leitmotive, die das Verhältnis zweier Figuren zueinander beschreiben. Am einprägsamsten geschieht dies in der durchgängigen Metaphorisierung von Sofřja als Vogel und Ganřka als Katze. Sofřjas Blick gleitet an Ganřkas grünen und undurchdringlichen Katzenaugen ab, die ohnehin lieber mit der Katze als mit ihrer Adoptivmutter spricht. Als Sofřja sie mit ihrem Mann überrascht, „krümmte sie sich zusammen wie eine Katze, die sich bedroht fühltŖ (120). Beim Anblick einer gefleckten Katze (Ganřkas dunkles Muttermal über der Oberlippe), die auf einem Tisch in den reißenden Fluten der Neva davongetragen wird und ihr Schnäuzchen zu einem von dem Sturm verwehten Klageruf öffnet, drängt sich Sofřja unwillkürlich der Gedanke an ihre Konkurrentin auf: „Ohne dass Sofřja den Namen ‚GanřkaŘ aussprach, kam sie ihr in den Sinn, und ihr Herz begann heftig zu schlagenŖ (123). Zunächst noch unbewusst antizipiert sie damit Ganřkas Schicksal. Als Sofřja von der Flut in ihrem Inneren fortgerissen wird wie seinerzeit die Katze auf dem Tisch, wird Ganřka kurze Zeit später nach dem ersten Axthieb genauso lautlos zur Seite sinken wie die Katze, die zuvor unhörbar miaute. Dieses binäre Bezugssystem wird im fünften Kapitel unmittelbar nach dem Mord durch das Uhrpendel erweitert, das sich allein aus dem bereits etablierten Bildbereich und nicht wie üblich aus einem direkten Objektbezug erklärt: „Das Pendel an der Wand jagte hin und her, wie ein Vogel im Käfig, der spürt, dass das Auge einer Katze ihn fixiertŖ (128, analog 129). Bald tritt ein Pendel in Sofřja selbst hinzu, das in Momenten äußerster Anspannung erstarrt und den Zustand der Zeitlosigkeit markiert, so bei der Furcht, entdeckt zu werden oder als Trofim von der Polizei zurückkehrt, zum letzten Male schließlich, als sie aus der Wohnung ins Krankenhaus gebracht wird.

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Mit der in einem Glas gefangenen Fliege, das das Überschwemmungskapitel eröffnet, greift Zamjatin auf die Bildlichkeit seines Frühwerks zurück.25 Die christliche Ikonographie identifiziert die Fliege mit Sünde, Tod und Verderben, sieht sie in hebräischer Tradition als Begleiterin des Teufels. Zugleich aktiviert Zamjatin noch einmal den Subtext von Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanieŖ. Als Raskolřnikov am Ende des dritten Teils aus seinem qualvollen Mordtraum erwacht, vernimmt er, wie eine Fliege, die ihm zuvor schon einmal im Traum erschienen war, kläglich summend gegen die Fensterscheibe prallt. Sie ist wahrhaftig ein Herold des Teufels; denn im nächsten Augenblick betritt der dämonische Svidrigajlov seine Stube.26 Auch die Mörderin Sofřja muss erkennen, dass sich die dauerhaft gefangen geglaubte Fliege nach der Bluttat befreit Ŕ erst kriecht sie „gemächlich und unbeirrtŖ auf Ganřkas nacktem Leichnam umher (127), dann sitzt sie „wie festgeklebtŖ (127) auf ihren Händen, was Sofřja dazu bringt, das widerwärtige Insekt nun eingehend zu mustern. Im Krankenhaus schließlich durchlebt Sofřja in einem ganz ähnlichen Albtraum wie Raskolřnikov den Mord noch einmal, um schließlich zu gestehen. Eingeleitet wird der Traum durch die Vision der Fliege: „Ganz in der Nähe kroch über das Weiß eine Fliege, sie hatte dünne Beinchen aus schwarzen Zwirnsfäden. Sofřja schrie aufŖ (138). Vielleicht rührt dieser Schrei aus der Erkenntnis, dass es sich bei der befreiten Fliege um das nun losgelöste schwarze Muttermal von Ganřkas Oberlippe handelt, an dem ihr Blick immer wieder in einer Mischung aus Faszination und Abscheu haften geblieben war.27 Der weltlichen Justiz in Gestalt des jungen Polizeibeamten, der ihr Geständnis protokollieren will, ist Sofřja dagegen ebenso enthoben wie ihre Vorgängerin Afimřja: „Ihr ist es schon lange egalŖ (140), lautet der lakonische Kommentar der Ärztin. Die zeitgenössische Rezeption nutzte „NavodnenieŖ zur endgültigen Abrechnung mit Zamjatin. Charakteristisch für die grobschlächtige Polemik jener Zeit ist ein Artikel Grigorij Browmans, in dem es heißt: „Wir haben ein erbärmliches Pasquill auf die sozialistische Epoche und ihre Schöpfer vor uns, das man als markanten Ausdruck der schöpferischen Methode reaktionärer Literatur betrachten muss.Ŗ Browman resümierte, der Autor habe mit dieser Novelle sogar sein „TodesurteilŖ (!) unterschrieben.28 Unter den zeitgenössischen Kritikern fand allein Nikolaj Zamońkin Ŕ ungeachtet des „Fehlens eines sozialen HintergrundsŖ Ŕ Lob für dieses „besonders bedeutende und durch seine Meisterschaft herausragendeŖ29 Werk. Gut ein Jahr nach Erscheinen von „NavodnenieŖ, im Juni 1931, wird Zamjatin in seinem berühmten Brief an Stalin die Formulierung Browmans aufgreifen und von sich als einem künstlerisch „zur Todesstrafe verurteilten AutorŖ30 sprechen. Dank der persönlichen Fürsprache Gorřkijs bei Stalin wurde seiner Bitte um Ausreise aus der Sowjetunion stattgegeben Ŕ nach dem Selbstmord von Majakovskij im Jahr zuvor kam Zamjatin eine kurze Phase der Verunsicherung in der Führung des Landes zugute. Michail Bulgakov sollte diese Erlaubnis bereits nicht mehr erhalten, und die Schicksale der vielen anderen Zurückgebliebenen sind in ihrer Tragik nur zu gut bekannt. Zamjatin bleibt ihnen auf

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symbolische Weise verbunden: 1937, im Jahr von Puńkins 100. Todestag und der großen Säuberungen in der Sowjetunion, stirbt er dreiundfünfzigjährig im Pariser Exil.

Andreas Guski

Michail Zońĉenko: Aristokratka (Die Aristokratin) Obwohl in postsowjetischer Zeit das wissenschaftliche Interesse eher seinem autobiographischen Spätwerk gilt, wird Michail Zońĉenko vom russischen Lesepublikum noch heute vor allem wegen seiner satirischen Kurzgeschichten und Novellen aus den zwanziger Jahren geschätzt. Schon damals über moderne Medien wie Zeitung und Rundfunk vielfach verbreitet, stellen sie einen Spiegel des ersten nachrevolutionären Jahrzehnts in Russland dar. Als beliebte Kneipen-, Kaffeehaus- und Straßenbahnlektüre sind sie zugleich selber ein Teil der Alltagskultur der jungen Sowjetunion geworden.1 „AristokratkaŖ, einzeln erstmals 1923 im Satiremagazin „Krasnyj voronŖ (Der rote Rabe) erschienen, gehört neben Erzählungen wie „BanjaŖ (Die Badeanstalt), „AgitatorŖ (Der Agitator) und „AkterŖ (Der Schauspieler) zu den populärsten Werken der frühen Schaffensperiode Zońĉenkos. Auf knapp drei Seiten wird hier eines der bevorzugten Sujets des Autors entfaltet: das Scheitern einer Liebesbeziehung an der Prosa des Alltags. Wie zumeist in der von Zońĉenko bevorzugten skaz-Form, wird das Geschehen dabei aus der Erlebnisperspektive des Protagonisten, also in der ersten Person Singular dargeboten.2 Auf einer Mieterversammlung macht der Held, ein lupenreiner Proletarier und Mitglied der Hausverwaltung eines Wohnblocks in Petrograd, die Bekanntschaft einer Dame aus der Nachbarschaft, deren „nobleŖ Erscheinung Ŕ elegantes Hütchen, Schoßhund, Seidenstrümpfe und ein glänzender Goldzahn Ŕ seine Aufmerksamkeit fesselt. Er bandelt mit der „AristokratinŖ an, geht mit ihr spazieren und lädt sie eines Abends in die Oper ein, für die er von der „Kommunistischen ZelleŖ (komjaĉejka) zwei Karten, wenn auch nur für Plätze auf verschiedenen Rängen, ergattern konnte. In der Pause steuert das Fräulein zielstrebig das Büffet an, um sich an den dort ausliegenden Cremetörtchen gütlich zu tun. Mit wachsender Besorgnis beobachtet der Held, dessen Barschaft gerade für drei Gebäckstücke reicht, wie seine Begleiterin ein Törtchen nach dem anderen verdrückt. Als sie das vierte zum Mund führt, platzt ihm der Kragen. „Legřs zurück!Ŗ (172), herrscht er sie an. Erschrocken lässt die Dame das Objekt ihrer Begierde fahren, während ihr Kavalier eilig die Rechnung „für drei verzehrte TörtchenŖ verlangt. Der Büffettier jedoch besteht, da es bereits angebissen sei, auf der Bezahlung auch des vierten Cremetörtchens. Die folgende Auseinandersetzung darüber, ob das vierte Törtchen angebissen sei oder nicht, in die sich immer mehr Operngäste lebhaft einmischen, wird erst beendet, als der Held seine Hosentaschen umstülpt und beim Zählen der herausgefallenen Münzen feststellt, dass sie doch für vier Törtchen reichen. „Essen Sie auf, sag ich, Bürgerin. Ist schon bezahltŖ (173), ermuntert er, als sei nichts gewesen, seine Begleiterin. Der Dame jedoch ist der Appetit gründlich verdorben. Schweigend begibt sie sich zurück auf ihren Platz.

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Schweigend wird nach der Oper der gemeinsame Heimweg angetreten. Erst vor der Haustür findet die „AristokratinŖ die Fassung wieder. Mit den Worten „Jetzt langtřs mir mit der Schweinerei Ihrerseits. Die, wo kein Geld haben, sollten nicht mit Damen gehenŖ (173) gibt sie dem blamierten Helden den Laufpass. Der unzuverlässige Erzähler Auf die bloße Handlung und ein paar situationskomische Effekte reduziert, verlieren die Texte Zońĉenkos vieles von dem, was ihren literarischen Charme ausmacht. Einer der Gründe dafür ist, dass Zońĉenko die Erzählstrategien des skaz so sehr verfeinert, aber auch kompliziert3, dass adäquate Übersetzungen in andere Sprachen letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Nach Viktor Ńklovskij ist der skaz durch zwei Ebenen der Repräsentation gekennzeichnet. Auf der einen Ebene wird dargeboten, „was ein Mensch erzähltŖ und auf der anderen das, „was wie zufällig in seiner Erzählung durchdringtŖ.4 In „AristokratkaŖ haben wir es in diesem Sinne mit einem Erzähler zu tun, der blind zu sein scheint für das, was er berichtet.5 Dies wird bereits darin deutlich, dass er seine eigene Rolle und die seiner „EroberungŖ missversteht. Als Mitglied der Hausverwaltung und damit als „offizielle PersonŖ verkörpert dieser Held die Diktatur des Proletariats, wie die Übergangsepoche zwischen Revolution und Sozialismus bezeichnet wurde. Insofern ist er gegenüber der „AristokratinŖ ein Repräsentant der Macht. Den Hinweis der Dame, sie wohne in Haus No. 7, erwidert er mit einem gönnerhaften „Bitte sehr, wohnen Sie nurŖ.6 Auch die „AristokratinŖ, die Ŕ wenn sie denn blaublütig wäre Ŕ im Jahre 1923 eine untergegangene Klasse verkörpern würde, erkennt formal den Machtanspruch des Helden an, wenn sie erklärt: „Als Machthabender könnten sie mich zum Beispiel mal ins Theater führenŖ (171). Tatsächlich jedoch erweist sich das Machtverhältnis als umgekehrt. Die „AristokratinŖ spielt den aktiven Part. Sie weckt durch ihr aufreizendes Äußeres sein Interesse. Sie ist es, die ihn zum Opernbesuch veranlasst. Und sie ist es auch, die die Beziehung beendet. Ebenso blind wie für die tatsächliche Machtverteilung zwischen den Figuren zeigt sich der Held gegenüber der sozialen Identität seiner Partnerin.7 Dass diese entgegen der vom Titel geweckten Erwartung nicht blaublütig ist, weiß der Leser spätestens nach ihrer letzten, ausgesprochen vulgären Äußerung, die sie als Angehörige einer niederen Klasse entlarvt. Was den Helden veranlasst, in dieser „ganz gewöhnlichen SchnorrerinŖ8 eine Dame von Adel zu sehen, sind Attribute wie Hütchen, Seidenstrümpfe, Schoßhund und ein Goldzahn, vielleicht auch von der „AristokratinŖ geziert verwendete Fremdwörter wie „KavalierŖ und „merciŖ. Die Wirkung solcher eher (klein)bürgerlichen als aristokratischen Lockmittel auf den Helden lässt darauf schließen, dass es mit dessen Klassenbewusstsein nicht allzu weit her ist. Im Rahmenteil freilich hatte er den gegenteiligen Eindruck erweckt, eröffnet er seine Erzählung doch mit den Worten: „Also Jungs, Weiber mit Hüten kann ich nicht ausstehen. Wenn so ein Weibsbild einen Hut aufhat und Seidenstrümpfchen trägt oder einen Mops auf dem Arm und einen Gold-

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zahn im Mund hat, dann ist so eine Aristokratin für mich kein Weib, sondern einfach LuftŖ (170). Dem entspricht im Finale das Resümee des Helden „Ich kann Aristokratinnen nicht leidenŖ (173), das als eine Paraphrase der Eingangsthese „Weiber mit Hüten kann ich nicht ausstehenŖ die Erzählung zyklisch schließt. Der Gegensatz zwischen dem ideologischen Rahmen der Erzählung, der das Klassenbewusstsein des russischen Proletariats demonstriert, und der dieses Klassenbewusstsein konterkarierenden Handlung macht eine wesentliche Pointe der Handlung aus. Der Erzähler-Held (narrator-participant)9 gleicht dem sprichwörtlichen Priester, der Wasser predigt und Wein trinkt. Auf dieser Bedeutungsebene des Textes haben wir es mit dem offensichtlichen Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu tun. Der Anordnung der Kompositionsteile (1) einleitender Rahmenteil, (2) Binnenhandlung, (3) abschließender Rahmenteil liegt die Argumentfolge zugrunde: (1) Ich mag keine Aristokratinnen, (2) Ich mochte eine Aristokratin, (3) Ich mag keine Aristokratinnen. Solcher Widerspruch wird nicht dadurch auflösbar, dass man den Wechsel vom Präsens zum Präteritum und dann wieder zum Präsens als Kausalzusammenhang in dem Sinne versteht, dass frühere negative Erfahrungen mit (einer) Adligen den Helden dazu gebracht haben, adlige Frauen zu hassen. Klassenhass gilt als ein Element dessen, was im sozialdarwinistischen Sprachgebrauch der Zeit als „KlasseninstinktŖ bezeichnet wird. Hass auf den Adel wäre demnach gewissermaßen ein Merkmal des Proletariats a priori, das keiner persönlichen Frustration bedarf, wie sie dem Helden zugefügt wird. Tatsächlich ist der Zeitbezug zwischen den genannten drei Segmenten der Handlung nur eine Finte des Erzählers, ein rhetorischer Trick, der eine kausale Begradigung der erzählten Geschichte nach dem Verwandlungsschema „EinstŔ JetztŖ suggeriert („Früher einmal habe ich gesündigt Ŕ jetzt bin ich geläutertŖ). Insofern handelt es sich um eine vertrauensbildende Maßnahme des Erzählers. Diesem Erzähler jedoch kann man nicht vertrauen; denn weder übt er eine souveräne Kontrolle über die von ihm erzählte Welt aus, noch ist er um Objektivität bemüht. Vielmehr versucht er, den Leser auf seine Seite zu ziehen, sich zu rechtfertigen, Dinge zu vertuschen oder zu beschönigen wie etwa die Tatsache, dass ihm entgegen der Gesinnungspflicht eines echten Kommunisten Geld keineswegs gleichgütig ist. Elemente und Funktionen des skaz Typisch für den skaz ist die Simulation einer mündlichen Erzählsituation10, hier angedeutet durch die Apostrophe im Eingangssatz des Textes „Also Jungs, …Ŗ. Die herausragende Rolle des skaz in der russischen Erzählprosa der zwanziger Jahre hat eine doppelte Ursache. Zum einen reproduziert der skaz eine für die junge Sowjetunion typische Kultur der Mündlichkeit11, die auf den verbreiteten Analphabetismus und den bürgerkriegsbedingten Mangel an Druckerzeugnissen in gleichem Maße zurückzuführen ist wie auf die mit der Revolution in Mode kommende Kommunikationssituation des „MeetingsŖ12 und die mit ihr verbun-

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denen stilistischen Besonderheiten mündlicher Rede wie Apostrophe, Hyperbel, Wiederholung, Anakoluth und dergleichen. Mit der Stilisierung einer mündlichen Erzählsituation, in der sich der Leser eine Gruppe sozial gleichrangiger und gleichgesinnter, hier wörtlich als „meine Brüder(chen)Ŗ angesprochener Männer als fiktive Zuhörer vorzustellen hat, hängen die stark ideologischen Elemente des Textes zusammen. So wird zu Beginn des Monologs die peinliche Szene am Opernbüffet mit den Worten vorweggenommen „Im Theater hat sie [die „AristokratinŖ] ihre Ideologie dann in vollem Umfang entfaltetŖ (170). Die Phrase „seine Ideologie entfaltenŖ entstammt ebenso dem gängigen Politjargon wie die Umstandsbestimmung „in vollem UmfangŖ. Schon für sich wirken solche „Wort-MonsterŖ13 grotesk. Der eigentliche komische Effekt ergibt sich jedoch erst durch den Kontrast zwischen solchen Phrasen und der durch sie bezeichneten und interpretierten Handlung. Was sich zuletzt als harmlose Schnorrerei erweist, nämlich die finanzielle Schädigung des Helden im Wert von vier Cremetörtchen, wird vom Erzähler angekündigt, als handele es sich um eine konterrevolutionäre Verschwörung mit weitreichenden politischen Folgen. Ähnlich ideologisch überfrachtet wirkt die Schilderung der Szene am Opernbüffet. Die „AristokratinŖ hat dort mit einem Mal einen „unzüchtigen GangŖ, der dem Helden auf den gemeinsamen Spaziergängen bisher nicht aufgefallen zu sein scheint. Auch der Held setzt sich in dieser Szene selber herab, wenn ihm rückblickend erscheinen will, als schwänzele er „wie so ein Gänserich, wie so ein buržuj, der der Schlachtung entgangen ist, um sie [die „AristokratinŖ] herumŖ (171). Aus der Sicht eines imaginär anwesenden proletarischen Publikums von „BrüdernŖ, denen gegenüber der Held sich glaubt rechtfertigen zu müssen, stellt sich der Gang zum Büffet als bourgeoises Verhalten, im Jargon der Zeit als „rechte AbweichungŖ (pravyj uklon) dar. Solche der political correctness entsprechenden Einsprengsel machen diesen Text widersprüchlich und doppelbödig. Sie veranlassen den Leser, den Sinn des Erzählten weniger in dem zu suchen, was der Held sagt, als in dem, was er verschweigt oder was ihm als einem für das Erzählte „blindenŖ Erzähler selbst nicht bewusst wird. Ein derart unzuverlässiger Erzähler versetzt den Leser in die Lage eines (Psycho)Analytikers, von dessen Standpunkt aus der Widerspruch zwischen Klassenhass und erotischer Faszination das Profil einer durchaus schlüssigen Handlung gewinnt. Die Psychologie bezeichnet einen solchen Widerspruch als kognitive Dissonanz.14 Damit ist eine Spannung zwischen zwei einander ausschließenden Positionen bzw. zwischen der prinzipiellen Haltung und dem praktischen Verhalten eines Menschen gemeint, die als Unlustgefühl empfunden wird und nach einer Auflösung dahingehend drängt, dass die konträren Positionen bzw. Einstellung und Verhalten harmonisiert werden. Im gegebenen Fall erfüllt diesen Zweck ein Erzählduktus, der das politische Motiv des Klassenhasses in beiden Rahmenteilen des Textes besonders akzentuiert und damit sowohl die persönliche Frustration des Helden als auch sein Abweichen vom proletarischen Regelverhalten stimmig („konsonantŖ) zu machen sucht.

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Die Inszenierung solcher Bewusstseinsdissonanzen, für deren Darstellung die Erzählform des skaz besonders geeignet erscheint, hat wesentlichen Anteil an der satirischen Funktion des Textes. In den Fokus geraten dadurch kulturelle, politische, wirtschaftliche und andere Defizite der jungen Sowjetunion, die in offenkundigem Widerspruch stehen zu der Triumph-Rhetorik von Staat und Partei. Die westliche Literaturkritik der Nachkriegszeit hat den Akzent meist gerade auf diese Seite von Zońĉenkos Erzählungen gelegt15 und den Autor als eine Art Dissidenten behandelt, der in der Spätphase des Stalinismus dann fast unausweichlich mit Sanktionen der Partei belegt wurde. Seit dem Ende des kalten Krieges ist der Blick freier geworden für die Wahrnehmung auch der ästhetischen Funktionen von Zońĉenkos skaz.16 Nicht zufällig war es die literarische Avantgarde der zwanziger Jahre, insbesondere die Gruppe der Petrograder „SerapionsbrüderŖ, zu deren Mitgliedern Zońĉenko zählte, die den skaz als Alternative zum herkömmlichen Realismus wiederentdeckt hat.17 Eine normative Poetik wie der Sozialistische Realismus, der einen vorbildhaften, mit sich selbst identischen Helden verlangt, muss Zońĉenkos narrator-participant als Regelverstoß werten. Im Rahmen einer Poetik der Polyphonie dagegen, wie Michail Bachtin sie definiert, nämlich als Ausrichtung auf das „verschieden gerichtete, zweistimmige WortŖ18, verheißt der skaz den ästhetischen Mehrwert perspektivischer Vielfalt und überraschender situativer wie stilistischer Kombinationen19, die nicht zuletzt der komischen Wirkung des Textes zugute kommen. Schon die Verbindung zwischen Proletarier und Kleinbürgerin führt zu einer Reihe von burlesken Situationen. So hakt sich die „AristokratinŖ bei den gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt in gutbürgerlicher Manier beim Helden ein, was diesem „vor den LeutenŖ so peinlich ist, dass das Promenieren für ihn zum Spießrutenlauf wird: „Wir gehen raus auf die Straße, und sie befiehlt mir, ihr den Arm zu reichen. Ich fasse sie unterm Arm und ziehe sie hinter mir her wie ein HechtŖ (171). Auch in den Dialogen der Figuren stoßen unterschiedliche Verhaltenskulturen aufeinander. Seine Rendezvous mit der „AristokratinŖ leitet der Held gewöhnlich damit ein, dass er sich nach dem Funktionieren ihrer Wasserleitung und der WC-Spülung erkundigt. „Wie, Bürgerin, steht es bei Ihnen bezüglich Schäden an Wasserleitung und Klosett?Ŗ (171). In der Annahme, seine Begleiterin habe gerade das WC aufgesucht, eröffnet er das Pausengespräch in der Oper mit derselben Frage: „Wie ist es, frage ich, funktioniert hier die Wasserleitung?Ŗ (171). Ihren Höhepunkt erreicht die Situationskomik der Erzählung in der skandalösen Auseinandersetzung um das angebissene Cremetörtchen. Stellt die Frage nach der Wasserspülung einen grotesken Kurzschluss zwischen Hochkultur (Oper) und Verdauung (WC) her, so besteht die Komik der Cremetörtchen-Szene in der Entfachung von Leidenschaften, dem klassischen Stoff der großen Oper, an einem in seiner Trivialität kaum zu überbietenden Gegenstand (Cremetörtchen), der das angeregt teilnehmende Publikum nicht weniger zu fesseln scheint als die Opern-

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aufführung selber. In einem sehr speziellen Sinne wird hier Theater im Theater geboten. Ihren eigentlichen Sitz aber hat die Komik bei Zońĉenko in der Sprache selbst, vor allem in der Verschränkung unterschiedlicher Sprach- und Stilebenen, die zu bizarren sprachlichen Gemengelagen führt.20 So schwankt der Erzähler bei der Bezeichnung der „AristokratinŖ zwischen „toller TypŖ (frja), „DameŖ (dama), „BürgerinŖ (graņdanka) und „WeibŖ (baba). Entsprechend wechselt bei der Anrede das vertrauliche bis grobe „DuŖ mit einem distanzierten „SieŖ. Hochsprachliche Wörter wie „hingerissen seinŖ (uvlekatřsja), „KomplimentŖ (kompliment) oder „KavalierŖ (kavaler) stehen neben (hier falsch verwendeten) Fremdwörtern wie „indifferentŖ (indifferentno) und „ExpertenŖ (ėksperty), Vulgarismen wie „fressenŖ (ņratř) und „kotzenŖ (vytońnitř) neben Bürokratismen wie „AmtspersonŖ (lico oficialřnoe) und „bezüglich Schäden der WasserleitungŖ (v smysle porĉi vodoprovoda), volkstümliche Wendungen wie „blutwenigŖ (kot naplakal) und „da hat mich der Teufel gerittenŖ (mne popala voņņa pod chvost) neben proletarischem Politjargon wie „kommunistische ZelleŖ (komjaĉejka) und „bourgeoise SchüchternheitŖ (burņuaznaja stydlivostř), Lautmalerei wie „schwuppŖ (cop) und „nicht piep und nicht pappŖ (ni mur-mur) oder Grobianismen wie „zum TeufelŖ (k ĉertovoj materi) neben Höflichkeitsfloskeln wie „Tun Sie sich keinen Zwang anŖ (ne stesnjajtesř) und „Verzeihen Sie den AusdruckŖ (izvinite za vyraņenie). „Restriktiver Kode“ und Kulturkritik Die sprachliche „InkompetenzŖ dieses proletarischen Erzähler-Helden setzt einen entsprechend niedrigen Bewusstseinsstand voraus.21 Das legt die öfter geäußerte Vermutung nahe, dass Zońĉenko damit exemplarisch die Schwierigkeiten aufzeigen wollte, denen die Ideen der Revolution bei ihrer Umsetzung in den Alltag und ins Alltagsbewusstsein der Massen unterworfen sind. Daraus zu schließen, der Schriftsteller mokiere sich über den Bildungsmangel seines Helden, wäre jedoch kaum in Einklang zu bringen mit dem offensichtlichen Faible des Autors für seine „von aller Kultur befreite ErzählerfigurŖ22 und ihrem gänzlichen Mangel an „sophisticationŖ23. Die russische Literatursprache gerät in den zwanziger Jahren in eine Krise, in der sie „hinter dem ungeschlachten, ungeformten WortŖ der bäuerlichen und proletarischen Massen zurückzustehen hat, das sich allein durch die Verankerung in der lebendigen Rede der Zeit rechtfertigt.24 Schon um die Jahrhundertwende hatten Schriftsteller wie Aleksandr Blok, Andrej Belyj und Maksim Gorřkij die Elementarkraft antikultureller Strömungen in den russischen Volksmassen vor allem als sprachliches Phänomen fasziniert. In den zwanziger Jahren setzt sich dieses Interesse bei Autoren wie Isaak Babelř, Michail Bulgakov, Andrej Platonov, Vsevolod Ivanov und nicht zuletzt Michail Zońĉenko fort. Der begründet sein Bekenntnis, ein „proletarischer SchriftstellerŖ zu sein, mit der Notwendigkeit einer neuen Literatursprache, die ein für allemal Abschied nehmen müsse von den „Phrasen und PeriodenŖ eines Nikolaj Karamzin, an denen sich die Schreibweise „der modernen roten Lev Tolstojs und Ra-

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bindranath TagoresŖ noch immer orientiere.25 Vor diesem kulturkritischen Hintergrund erscheinen die Helden von Zońĉenkos frühen Erzählungen als Repräsentanten eines naiv-barbarischen Selbstbewusstseins, das durch den geradezu lustvollen Verstoß gegen kulturelle Normen Ŕ Takt, Empathie, sprachliche Korrektheit und dergleichen Ŕ gekennzeichnet ist. „KulturlosigkeitŖ (nekulřturnostř) verkörpern sie einerseits, indem sie dem Materiellen gegenüber dem Ideellen, dem Inhalt gegenüber der Form, dem Gefühl gegenüber der Vernunft den Vorrang geben26, zum anderen aber auch dadurch, dass sie für eine Epoche stehen, der ein zentraler sprachlicher Kanon fehlt und die deshalb eine Vielfalt von oft sich vermischenden Idiomen zulässt.27 Besonders augenfällig wird die Vermengung von Arbeiterjargon und gehobener Umgangssprache in den Skizzen und Beschwerdebriefen der sogenannten Arbeiterkorrespondenten. Zońĉenko hat deren Texte, die in der überregionalen Presse der Sowjetunion während der zwanziger Jahre breiten Raum fanden28, sorgfältig studiert und in ihnen immer wieder stoffliche Vorlagen für seine Erzählungen gefunden. Jener Zusammenstoß von Sowjetnormen und Sowjetalltag, eines der zentralen Themen in den kulturpolitischen Debatten der frühen Sowjetunion, ließ sich an diesen Texten wie unter einem Brennglas studieren.29 Die Stilbrüche der Arbeiterkorrespondenzen Ŕ falsche Bilder und Vergleiche (Katachresen), logische Unstimmigkeiten usw. Ŕ sind Symptome der Nichtübereinstimmung von Erfahrung und Sprache, genauer: der Inkongruenz der Perspektiven von Volk und Staat.30 Als Krisensymptom gibt der sprachliche Regelverstoß den Blick auf Wirklichkeitsbestände frei, die die Sprache des Erzählers vor dem Einsatz der Diskurszensur erfasst, die also weder tabuisiert noch geschönt sind.31 Was auf den ersten Blick als narrative und psychologische Inkompetenz des Erzähler-Helden erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Geflecht von Widersprüchen, die mehr der Epoche als individuellem Versagen zuzuschreiben sind. Dies gilt nicht nur für den Widerspruch zwischen politisch angesagter Kulturrevolution, mit der sich die Forderung nach neuen künstlerischen Formen verbindet, und großer Oper als einem typischen Produkt jener vormodernen, höfisch-feudalen Kultur, für die bereits der Titelbegriff „Die AristokratinŖ steht. Es gilt zugleich für die nicht standes- bzw. nicht klassengemäße Verbindung zwischen einem Arbeiter und einer „AdligenŖ.32 Es gilt ferner für den Gegensatz zwischen proletarischen und bürgerlichen Verhaltenstypen wie Unverblümtheit, Duzen, Emotionalität einerseits und Höflichkeit, Siezen, Affektkontrolle andererseits. Und es gilt nicht zuletzt für die Einstellung zum Geld als einem Gegenstand, über dessen radikale Umwertung sich das revolutionäre Russland nach 1917 maßgeblich definierte. Die letzte Replik des Helden lautet „Geld macht nicht glücklich, Bürgerin. Verzeihen sie den AusdruckŖ (173). Zwar formuliert dieser damit die offizielle Moral der Sowjetgesellschaft33, bringt sich aber auch in Widerspruch zu seiner eigenen Erfahrung. Mit etwas mehr Geld in der Tasche nämlich wäre ihm der Skandal im Opernbüffet erspart geblieben, und er hätte überdies seiner Leidenschaft für eine klassenfremde Person vielleicht etwas län-

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ger und unbeeinträchtigt von der Zensur seines politischen Gewissens frönen können. Etwas mehr Geld hätte den Helden also durchaus ein wenig glücklicher machen können. Die Leistung von Zońĉenkos skaz besteht unter anderem darin, derart komplexe Sachverhalte auf syntaktisch kleinste Einheiten zu verdichten34 und sie zugleich mit einer burlesken Pointe zu versehen. Das höfliche „Verzeihen Sie den AusdruckŖ wirkt an dieser Stelle grotesk. Wofür müsste der Held sich entschuldigen? Formal korrekter als mit einer Sentenz wie „Geld macht nicht glücklichŖ kann man sich kaum ausdrücken. Entweder haben wir es mit einem neuerlichen sprachlichen Lapsus des Erzählers zu tun, der sich hier einer von ihm falsch verstandenen Floskel bedient.35 Oder es handelt sich um einen Akt skurriler Ritterlichkeit insofern, als der Held die vorausgehende sprachliche Grobheit der „AristokratinŖ („Jetzt langtřs mir mit der Schweinerei IhrerseitsŖ) gleichsam auf die eigene Rechnung nimmt, indem er sich dafür entschuldigt und somit neuerlich für etwas „zahltŖ, was er nicht selbst erworben bzw. nicht selbst zu verantworten hat. Zur universellen Textbedeutung Ob Zońĉenko ein Autor für die breiten Massen sei36, blieb lange Zeit gleichermaßen umstritten wie die Frage, ob seine stark auf den Sowjetalltag der zwanziger Jahre zugeschnittenen Erzählungen ihre Zeit überdauern würden. Die ungebrochene Popularität des Autors bei der russischen Leserschaft seit nunmehr bald einem Jahrhundert, die auch die Repressalien der Partei nach 1946 nicht schmälern konnten, sowie das anhaltende, in postsowjetischer Zeit noch einmal gestiegene wissenschaftliche Interesse an seinem Werk beantworten diese Fragen von selbst. Zońĉenko ist beides: ein Autor für die breiten Massen ebenso wie für den sophisticated reader. Und dies nicht nur, weil in jedem noch so gebildeten und literarisch anspruchsvollen Leser stets auch ein Massenleser mit dem elementarem Bedürfnis nach „komischen HeldenŖ steckt37, sondern auch deshalb, weil Zońĉenkos skaz individuelles seelisches Erleben und zwischenmenschliche Beziehungen auf eine Weise und auf einer Ebene modelliert, die den historischen Horizont ihrer Entstehung übersteigt und Ŕ wie die Erzählungen Anton Ĉechovs, mit denen Zońĉenkos Werk einiges gemein hat Ŕ universeller Natur ist.38 Im Licht einer überzeitlichen Lektüre Zońĉenkos haben die Forschung vor allem zwei Themenkreise beschäftigt: eine tiefenpsychologische und eine gnoseologische. Die Spur zu einer tiefenpsychologischen Auslegung seiner Werke hat der Autor mit seinem autobiographischen Spätwerk „Pered voschodom solncaŖ (Vor Sonnenaufgang, 1943) zum Teil selber gelegt. Darin unternimmt er den Versuch, der Ursache seiner schweren depressiven Verstimmungen durch die Rekonstruktion traumatischer Schlüsselerlebnisse vor allem seiner Kindheit und Jugend auf die Spur zu kommen. Obwohl er dabei dem Wissenschaftspatriotismus der Epoche des Stalinismus Tribut zollt und Ivan Pavlovs Theorie der bedingten Reflexe gegen Siegmund Freud in Anschlag bringt, weist die Erinnerungsarbeit des Autors doch zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Freuds Psychoanalyse auf. Dies hat

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den in den USA lehrenden Literaturwissenschaftler Aleksandr Ņolkovskij zu einer entsprechenden Lektüre der Erzählung „Die AristokratinŖ veranlasst. Darin deutet er den Text als Niederschlag eines ödipalen Konflikts des Autors „mit seiner Mutter und mit Frauen überhauptŖ und literarisch als Auseinandersetzung „mit Bloks ‚NeznakomkaŘ (in etwa die Altersgenossin von Zońĉenkos Mutter) und der ganzen von ihr symbolisierten Kultur der DekadenzŖ.39 In Ņolkovskijs Lesart nimmt die Figur der „AristokratinŖ geradezu dämonische Züge an. Ihr ungezügelter Appetit am Opernbüffet wird zur Metapher für sexuelle Unersättlichkeit, der Wutausbruch des Helden nach dem Verzehr des dritten Cremetörtchens zum Ausdruck des Protests gegen sexuelle Überforderung und der wiederholt erwähnte Ŕ aus dieser Sicht drohend Ŕ glänzende Goldzahn der Heldin metonymisch zur vagina dentata, also zum Symbol männlicher Kastrationsangst. Solch einem grobschlächtigen Freudianismus gegenüber ist Skepsis geboten, auch wenn er, wie bei Ņolkovskij, mit einem gehörigen Schuss Ironie daherkommt. Die psychologische Gleichsetzung von Autor und skaz-Erzähler reduziert den Text zum Medium der Angstabwehr und zur „pathological confessionŖ.40 Gleichwohl trifft Ņolkovskij etwas im Kern Richtiges, indem er den Deutungsrahmen der Erzählung über den einer Sowjetsatire hinaus erweitert und den Text als Parabel auf universelle menschliche Eigenschaften wie Schüchternheit, Angeberei, Angst oder Verdrängung und damit verbundene Seelendramen erschließt.41 Einen anderen Deutungsansatz schlägt Jeremy Hicks vor. Ausgehend von den für den Sinnaufbau von Zońĉenkos Erzählungen wesentlichen Hiatus zwischen Alltagsleben (byt) und bedeutungsvollem Sein (bytie), sieht er als ein Schlüsselproblem von Zońĉenkos Werk den „philosophischen Konflikt zwischen den Ansprüchen der konkreten Existenz und denen der abstrakten IdeologieŖ.42 Die Welt des Alltags mit ihrem Zwang zur Selbstbehauptung wird dabei gegenüber der Sphäre der „IdeologieŖ nicht als minderwertig herabgesetzt, vielmehr wird ihr ein eigener Rechts- und Wahrheitsanspruch zugestanden. Ohne die Wahrung von Eigeninteressen, die sich gerade an Zońĉenkos Helden, ob bewusst oder unbewusst, immer wieder Geltung verschaffen, ist authentisches Sein ebensowenig möglich wie ohne die Inanspruchnahme von „IdeologieŖ, also von Sinn. Unmittelbare Erfahrung und erfahrungsunabhängige oder sogar erfahrungsresistente „IdeologieŖ liegen bei diesen Figuren, wie am Beispiel ihrer „kognitiven DissonanzenŖ zu zeigen versucht wurde, in andauerndem Widerstreit miteinander. Und keine Erzählform ist für die Darstellung des Mit- und Gegeneinanders dieser Sphären besser geeignet als die von Zońĉenko auf höchstem künstlerischen Niveau entfaltete Form des skaz.

Jochen-Ulrich Peters

Michail Bulgakov: Sobaĉře serdce (Hundeherz) Während die frühen Feuilletons und Kurzgeschichten Bulgakovs noch unmittelbar nach ihrer Fertigstellung publiziert werden konnten, begann mit der Erzählung „Sobaĉře serdceŖ die systematische Unterdrückung des Schriftstellers und seiner Werke durch Partei und Staat. Nach einer Lesung in einem kleinen Kreis von Freunden und Vertrauten wurde das Manuskript im Mai 1926 in Bulgakovs Privatwohnung konfisziert und dem Verfasser erst drei Jahre später, nach einer Intervention Gorřkijs, zurückgegeben. Die Beschlagnahmung trug dazu bei, dass bis heute keine von Bulgakov später autorisierte Fassung der Erzählung existiert. Freilich weichen die beiden um die Wende zum 21. Jahrhundert in zwei umfangreichen Werkausgaben erschienenen Versionen nicht sehr stark voneinander ab. Beide unterscheiden sich dagegen erheblich von der Fassung, die auf der Grundlage einer Samizdat-Veröffentlichung 1968 gleichzeitig in Frankfurt am Main und in London veröffentlicht wurde und erhebliche Lücken aufweist. Jede fundierte Textanalyse und Textinterpretation muss sich deshalb entweder auf die fünfbändige, von Violetta Gudkova besorgte oder auf die von Viktor Losev herausgegebene achtbändige Werkausgabe beziehen. In der 1997 von Boris Sokolov verfassten Bulgakov-Enzyklopädie wird im einzelnen begründet, warum „Sobaĉře serdceŖ erst im Verlauf der „PerestrojkaŖ in Russland erscheinen konnte und warum der einflussreiche Parteifunktionär Lev Kamenev die Erzählung 1925 als ein „scharfes Pamphlet gegen die GegenwartŖ bezeichnet und damit jede Publikationsmöglichkeit definitiv ausgeschlossen hatte.1 Gleichzeitig zeigt der dort ausführlich zitierte Bericht von einem Agenten der Geheimpolizei detailliert, aus welchen Gründen sich die neue Staatsmacht gerade durch solche „feindlichen, von einer unendlichen Verachtung gegenüber der Sowjetmacht bestimmten TönenŖ so sehr provoziert gefühlt hat.2 Demgegenüber hat ein nicht namentlich bekannter Teilnehmer an der ersten Lesung und Diskussion der Erzählung die außergewöhnliche Bedeutung des Textes in folgender Weise begründet: „Dies ist das erste literarische Werk, das es wagt, es selbst zu sein. Es ist die Zeit gekommen, den Bezug zum Vergangenen herzustellenŖ3 − also die weitreichenden Konsequenzen der Oktoberrevolution und der nach ihr einsetzenden diktatorischen Herrschaft von Partei und Regierung offen beim Namen zu nennen. Allerdings zeigt schon eine gründliche Lektüre des Textes selbst und erst recht die Beschäftigung mit der außerordentlich vielfältigen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, dass sich „Sobaĉře serdceŖ keineswegs nur als eine schonungslose Abrechnung mit der Revolution und ihren Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Kultur des neuen Sowjetstaats lesen und interpretieren lässt. Bereits durch den Vergleich des ausschließlich seine eigenen wissenschaftlichen Interes-

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sen und fragwürdigen Experimente verfolgenden Protagonisten mit der Faust-Figur sowie durch den komisch-grotesken Stil der Erzählung, die Bulgakov nicht umsonst mit dem Untertitel „Ĉudovińĉnaja istorijaŖ (Eine ungeheuerliche Geschichte) versehen hat, kündigt sich in vielerlei Hinsicht bereits der spätere Roman „Master i MargaritaŖ (Der Meister und Margarita, 1940) an. Schon hier werden die Hybris und Verantwortungslosigkeit des überheblichen gottlosen Wissenschaftlers und der brutale, unkontrollierte Umgang des „neuen MenschenŖ mit der Macht in so abstoßender und grotesker Weise geschildert, dass die eine wie die andere Seite von teuflisch-dämonischen Mächten beherrscht zu sein scheint, die der christlichen Ethik und Offenbarung diametral entgegengesetzt sind. Da die Verwandlung eines Tieres in einen Menschen gerade an den Feiertagen des römisch-katholischen und des orthodoxen Weihnachtsfests stattfindet, verweist diese überdies ironisch auf die Geburt Christi, der in „Sobaĉře serdceŖ die künstliche Produktion eines vermeintlichen Proletariers und die Entstehung einer Welt der Gewalt, der Unterdrückung und der Denunziationen gegenübergestellt wird.4 „Sobaĉře serdceŖ lässt sich aber nicht nur als eine die frühen Feuilletons und Kurzgeschichten Bulgakovs erweiternde sowie vertiefende politische Satire und als bedeutende Vorstufe zum „Master i MargaritaŖ-Roman lesen. Da die kritische Schilderung der zeitgenössischen Realität immer wieder in die Darstellung einer phantastischen, gelegentlich geradezu absurd anmutenden Welt übergeht, ist die Erzählung auch ein eigenständiger, höchst komplexer literarischer Text von erstaunlicher Modernität und Aktualität. Unter einer solchen, eher überhistorischen Perspektive wäre sie vermutlich am angemessensten als phantastische Satire zu klassifizieren, in der Ŕ wie bereits in Gogolřs „Peterburgskie povestiŖ (Petersburger Erzählungen) Ŕ komisch-groteske und tragische Elemente aufs engste miteinander verknüpft sind.5 Die Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Werkes ergibt sich indessen nicht allein aus dieser Verknüpfung. Sie beruht zudem darauf, dass hier ganz verschiedene literarische und außerliterarische Prätexte verarbeitet werden, wodurch die sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution so weit verbreiteten utopischen Diskurse gleichzeitig ironisch verspottet und ernsthaft in Frage gestellt werden. Auch wenn der utopische Traum vom „neuen MenschenŖ nicht explizit mit einer diesen destruierenden oder zumindest problematisierenden „idealen NormŖ konfrontiert wird, stimmen die meisten Interpretationen doch zumindest darin überein, dass allen überstürzten und gewaltsamen Eingriffen in die Natur, in die Geschichte und in die kulturelle Entwicklung das Konzept einer sich friedlich und kontinuierlich entfaltenden Evolution gegenübergestellt wird. So ist es nicht das bescheidene „HundeglückŖ, wie die Erzählung ursprünglich überschrieben sein sollte, an dem alle zweifelhaften Aktionen des fanatischen Chirurgen, aber auch das brutale Auftreten des angeblich die neue proletarische Klasse repräsentierenden Ńvonder gemessen werden. Am Ende zeigt sich der Hund Ńarik dem zwitterhaften Halbmenschen Ńarikov weit überlegen, womit sich, wie bei Gogolř, die komisch-groteske Struktur der Darstellung und die tragische Wirkung der geschilderten Geschichte keineswegs ausschließen, sondern untrennbar mit-

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einander verbinden.6 Insofern ist „Sobaĉře serdceŖ zugleich als politische Satire und als phantastische Groteske zu verstehen, in der auf ebenso witzig-unterhaltsame wie Schrecken erregende Weise die verhängnisvollen Konsequenzen eines unkontrollierten wissenschaftlich-technischen Fortschritts und die unvorhergesehenen Folgen eines unzulänglich ethisch-moralisch fundierten Handelns und Verhaltens geschildert und zur Diskussion gestellt werden. Unterschiedliche Prätexte Am direktesten und intensivsten ist „Sobaĉře serdceŖ mit dem 1896 erschienenen Kurzroman ŖThe Island of Dr. Moreauŗ von H. G. Wells verknüpft.7 Bereits darin geht es um die gewaltsame Verwandlung von wilden und wehrlosen Tieren in zwitterähnliche Geschöpfe, die dann als seelenlose und bösartige Halbmenschen eine ferne Insel bevölkern. Im Rahmen einer stark ins Phantastische verfremdeten Parodie der biblischen Schöpfungsgeschichte wird der blinde Fortschrittsoptimismus eines Arztes geschildert. Die von ihm hervorgebrachten menschenähnlichen Wesen erweisen sich als aggressive Monster, die ihren eigenen Erzeuger verfolgen und töten. Die gewaltsamen Vivisektionen werden auf diese Weise zum abschreckenden Exempel einer darwinistisch begründeten Fortschrittsideologie, durch deren fanatische Umsetzung die erhabenen Ziele der menschlichen Zivilisation in ihr krasses Gegenteil verkehrt werden. Noch enger ist „Sobaĉře serdceŖ mit Bulgakovs eigenen Schaffen verbunden, und zwar mit dem unmittelbar vorausgehenden Kurzroman „Rokovye jajcaŖ (Die verhängnisvollen Eier, 1924), der seinerseits bereits stark von Wellsř negativen Utopien beeinflusst ist.8 Auch dieser bezieht sich, ungeachtet aller verfremdenden Komik und Phantastik, direkt auf die politischen und gesellschaftlichen Widersprüche im postrevolutionären Russland. So soll mit Hilfe eines „roten StrahlsŖ die drohende Hungersnot der Bevölkerung abgewendet werden, jedoch endet das unvorbereitete und undurchdachte Experiment mit einem völligen Fiasko. Da der das Schicksal herausfordernde Rok, der allmächtige Leiter eines landwirtschaftlichen Betriebs, die aus dem westlichen Ausland geschickten Schlangeneier mit den so dringend benötigten Hühnereiern verwechselt, droht dem Land eine durch die unaufhörliche Vermehrung der Reptilien verursachte Katastrophe. Diese wird erst am Schluss durch eine völlig unerwartete Frostperiode abgewendet, die zum Erstaunen aller Beteiligten − wie ein deus ex machina − mitten im Sommer eintritt und das Land vor dem endgültigen Untergang bewahrt. Während sich „Rokovye jajcaŖ noch als eine relativ einfach zu durchschauende Allegorie der Oktoberrevolution lesen lässt, deren weitreichende Ziele und Perspektiven schon dadurch gefährdet sind, dass die aus dem Westen importierte marxistische Ideologie den historisch-kulturellen Voraussetzungen der russischen Wirklichkeit in keiner Weise entspricht, widersetzt sich „Sobaĉře serdceŖ hartnäckig jeder eindimensionalen Deutung. Die Erzählung bezieht sich nicht länger nur auf die von Trockij und Lenin in die revolutionäre Praxis umgesetzte, in Westeuropa entwickelte marxistische Geschichtstheorie, sie setzt sich gleich-

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zeitig mit den biopolitischen Utopien auseinander, wie sie in Russland im frühen 20. Jahrhundert von so unterschiedlichen Denkern wie Nikolaj Fedorov, Konstantin Ciolkovskij oder Vladimir Muravřev konzipiert worden sind.9 So verweist die von Preobraņenskij geplante und auch erfolgreich durchgeführte Transplantation in erster Linie auf die bereits vor der Revolution formulierten weit gesteckten Pläne, mit den modernsten wissenschaftlichen Verfahren die Natur zu beherrschen und möglicherweise sogar den physischen Tod des Menschen zu überwinden. Neben der Utopie vom sozialistischen Menschen ist es also vor allem das unreflektierte, naturwissenschaftlich begründete Fortschrittsdenken, das in „Sobaĉře serdceŖ nicht nur als solches bloßgestellt, sondern auch in seinen fatalen Folgen für das einzelne Individuum dargestellt wird. Damit bezieht sich die erzählte Geschichte keineswegs bloß ironisch auf die Idee einer radikalen Veränderung der menschlichen Natur sowie der Gesellschaft unter sozialistisch-kommunistischen Vorzeichen. Sie schließt auch unmittelbar an Gogolřs „Zapiski sumasńedńegoŖ (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, 1835) und „ŃinelřŖ (Der Mantel, 1842) aus den „Petersburger ErzählungenŖ an. Denn wie die Hunde in „Zapiski sumasńedńegoŖ verfügt auch Ńarik bereits vor der Transplantation Ŕ zumindest ansatzweise Ŕ über die menschliche Sprache, die er danach noch viel besser beherrscht, ohne deshalb zu einem vollwertigen Menschen zu werden. Er bleibt vielmehr ein von seinen animalischen Instinkten beherrschtes Wesen. Weitaus stärker aber als Gogolřs kleiner Beamter Akakij Akakieviĉ erscheint er als schutzloses Opfer. Dabei wird er ebenfalls aus einer zugleich distanzierten und mitfühlenden Perspektive geschildert. Und der egozentrische Professor Preobraņenskij verweist deutlich auf die hochgestellte, ebenfalls selbstherrliche „bedeutende PersönlichkeitŖ (znaĉitelřnoe lico) aus „ŃinelřŖ zurück. Wie bei Gogolř prägen in „Sobaĉře serdceŖ vor allem die komisch-grotesken Stilmittel und der abrupte Übergang von der realistischen in die phantastische Darstellungsebene den Text, der dadurch immer wieder über eine polemische Abrechnung mit dem sozialistischen Menschen hinausführt.10 Dabei bleibt es ausdrücklich dem Leser überlassen, ob er sich über die wirklichkeitsfremden Pläne sowie zweifelhaften Experimente des Professors amüsiert oder sich eher mit dem sympathischen, aber wehrlosen Hund und seinem ungerechten Schicksal identifiziert. So gewinnt „Sobaĉře serdceŖ durch die raffinierte Verarbeitung unterschiedlichster Prätexte eine Vielzahl von Bedeutungsdimensionen, die erst im Lauf der späteren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte im einzelnen erkannt und aufeinander bezogen worden sind. Die Bedeutung der verschiedenen Erzählperspektiven Die ästhetische Komplexität von Bulgakovs Erzählung beruht nicht allein auf ihrer stark ausgeprägten Intertextualität. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass das Geschehen dem Leser durch verschiedene Erzählinstanzen vermittelt wird, womit der polyphone Text auch stilistisch und narratologisch auf den Roman „Mas-

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ter i MargaritaŖ vorausdeutet. Während in den ersten vier Abschnitten die Perspektive bzw. die „StimmeŖ des Hundes dominiert, besteht der fünfte Abschnitt fast vollständig aus den Aufzeichnungen des Assistenzarztes Dr. Bormentalř, der die Operation und die Folgen des Eingriffs in allen Einzelheiten festhält und kommentiert. Erst in den letzten vier Abschnitten wird die zunehmend die Grenzen der Wahrscheinlichkeit überschreitende Geschichte von einem ironisch-distanzierten Erzähler dargeboten, während im Epilog Ŕ wie in einer Ringkomposition Ŕ noch einmal der Hund zu Wort kommt, um dem Leser seine Empfindungen und Reflexionen so direkt und authentisch wie möglich zu vermitteln.11 Durch diese Verteilung der Darstellung auf verschiedene Erzählinstanzen wird schon das phantastische Geschehen an sich, vor allem aber der Protagonist, auf völlig unterschiedliche Weise beschrieben und bewertet. Während Preobraņenskij zu Beginn, aus der Sicht des von allen übrigen Menschen verachteten Hundes Ńarik, als sympathischer, zu Mitleid und zu Solidarität fähiger Mitmensch erscheint, wird er später als ein an Faust erinnernder Magier gesehen und schließlich als rücksichtslos nur seinen ureigenen Zielen verpflichteter Chirurg geschildert. Auf diese Weise verdient er in den ersten Abschnitten durchaus den Respekt und die Sympathie des Lesers, zumal er sich in diesem Teil der Erzählung mit nicht zu überhörender Anspielung auf die postrevolutionäre Zeitgeschichte dezidiert von jeder Form der Gewalt distanziert: „Mit Terror kann man bei einem Lebewesen nichts erreichen, auf welcher Stufe der Entwicklung es sich auch befindet. Das habe ich behauptet, behaupte es jetzt und werde es immer behaupten. Sie glauben fälschlicherweise, dass ihnen Terror nützen könnte. Nein, nein, er nützt nichts, ob dieser nun weiß, rot oder sogar braun daherkommt. Terror paralysiert vollständig das Nervensystem des MenschenŖ (232). Dieser ausdrückliche Verzicht auf jede Art von Gewalt wird jedoch von dem Professor selber gerade nicht beachtet. Er verwandelt den Hund Ńarik, ohne dessen Einwilligung, in den Proletarier Ńarikov und macht, ebenso eigenwillig, aus ihm am Ende, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, wieder den wehrlosen sympathischen Hund. Damit richtet sich die Satire keineswegs nur gegen den künstlich hervorgebrachten Proletarier, der die abstoßenden Eigenschaften eines wilden Tieres und eines brutalen und unkultivierten Menschen in sich vereinigt. Nach dem Vorbild des Doktor Moreau aus Wellsř Roman werden vielmehr auch Preobraņenskij und sein Assistenzarzt als skrupellose Operateure geschildert. Indem sie den Tod des Hundes ausdrücklich einkalkulieren, setzen sie sich über die Bedürfnisse und die individuellen Lebensrechte des ihnen hilflos ausgelieferten Tieres hinweg, das in seiner Wehrlosigkeit an den von allen verachteten Helden von „ŃinelřŖ erinnert. Mit Gogolřs Erzählung teilt „Sobaĉře serdceŖ auch den offenen, phantastischen Schluss: Während der Hund nach seiner überraschenden Rückverwandlung ein „unbeschreibliches GlückŖ empfindet, wird er gleichzeitig zum unfreiwilligen Zeugen von unheimlichen, ihn beängstigenden Vorgängen und Handlungen, die seine neu gewonnene Lebensfreude erheblich beeinträchtigen und relativieren.

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So ergibt sich aus der Vielzahl der den Text konstituierenden Erzählperspektiven, ein sowohl komisch-satirisches als auch Furcht und Schrecken erregendes Bild einer aus den Fugen geratenen Welt. Über diese Welt, die umfassender ist als die dargestellte historisch-soziale Realität, erhebt sich paradoxerweise nur Ńarik mit seinem Hundeherzen. Alle anderen Figuren tragen zu dem von Professor Preobraņenskij wiederholt beklagten „ChaosŖ (razrucha) und der Zerstörung der Moral und der menschlichen Kultur bei. So scheint auch Preobraņenskij zumindest partiell ebenfalls von der Feststellung betroffen zu sein, die er selber auf den von ihm künstlich hervorgebrachten Proletarier bezogen hatte und mit der er seinen Ŕ ihn und seine Operationskunst so vorbehaltlos bewundernden Ŕ Assistenzarzt überrascht: „Überlegen Sie doch mal, das Schreckliche ist doch, dass er kein Hundeherz hat, sondern ein menschliches Herz. Das räudigste von allen, das es in der Natur gibtŖ (314). Die Hybris des Naturwissenschaftlers Indem Bulgakov in der Gattungstradition der Novelle mit der Transformation des Hundes eine „unerhörte BegebenheitŖ in das Zentrum rückt, wird die fragwürdige Operation zum zentralen Thema der Erzählung. Das Produkt dieser genauestens beschriebenen, aber dennoch höchst geheimnisvoll und phantastisch dargestellten Organverpflanzung ist ein eigensüchtiger Halbmensch, dessen Handlungen ebenso von tierischen Instinkten wie von proletarischen Sitten und Gewohnheiten geprägt sind. Schon wenige Tage nach der künstlichen Geburt terrorisiert Ńarikov nicht nur seinen Erzeuger, sondern auch seine vermeintlichen Freunde und Sympathisanten, die seine klassenkämpferischen Ziele und Aktivitäten zunächst so bereitwillig unterstützt hatten. Damit aber scheint das nachrevolutionäre Russland im Ganzen von der Hybris und den fragwürdigen utopischen Träumen und Experimenten des Professors betroffen zu sein. Preobraņenskij begreift indessen erst nach der gelungenen Operation die schlimmen Folgen seines Handelns. „Das kommt dabei heraus, DoktorŖ, wendet er sich an seinen Assistenten, „sobald ein Wissenschaftler, statt parallel zur Natur und in engster Abstimmung mit ihr zu arbeiten, eine Frage forciert und darauf den Vorhang hebt und feststellt: Nun, da habt ihr Ńarikov und seht zu, wie ihr mit ihm fertig werdet. […] Ich wollte ein kleines Experiment machen, nachdem ich vor zwei Jahren ein Extrakt des Sexualhormons aus der Hypophyse gewonnen habe. Und was ist dabei herausgekommen? […] Doktor, vor mir ist die stumpfe Hoffnungslosigkeit, ich schwörřs Ihnen, ich habe den Kopf verlorenŖ (312 f.). Diese späte Einsicht ändert jedoch nichts mehr daran, dass der ehrgeizige, so einseitig auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt fixierte Professor einen künstlichen Menschen hervorgebracht hat, der seine gegenüber dem allgemeinen Chaos der Zeit so mühsam verteidigten zivilisierten „bürgerlichenŖ Lebensformen weitgehend zerstört. In einer auf die biblische Apokalypse verweisenden Szene setzt Ńarikov nicht nur die Wohnung, sondern auch die vorzüglich ausgestattete Arztpraxis unter Wasser, womit sich endgültig zeigt, dass der inter-

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national gefeierte Chirurg und Forscher eher einem unbesonnenen Zauberlehrling als einem mächtigen Magier oder Halbgott ähnelt. Seine utopische Ziele, die Menschheit durch eugenische Experimente zu verändern und so zu vervollkommnen, haben sich in ihr krasses Gegenteil verkehrt. Die kühne Organtransplantation führt gerade nicht dazu, die kontinuierliche biologische Entwicklung positiv zu beeinflussen und zu steuern. Die weit reichenden Hoffnungen, das Leben der Menschheit mit Hilfe der modernen Medizin und Naturwissenschaft zu verbessern, erweisen sich als eine abwegige und nicht zuletzt gefährliche Fehleinschätzung. Es sind die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade auch in Russland sehr weit verbreiteten biopolitischen Utopien, gegen die sich Bulgakov in „Sobaĉře serdceŖ ebenso entschieden richtet wie gegen die Illusion, in kürzester Zeit den sozialistischen Menschen erschaffen zu können.12 Das so gründlich fehlgeschlagene medizinische Experiment wird damit zum abschreckenden Beispiel für die unüberlegte und skrupellose Hinwegsetzung des Menschen über die Gesetze der Natur und der Geschichte. Die Destruktion des Mythos vom „neuen Menschen“ Die naturwissenschaftliche Hybris bildet nur eine, wenn auch wichtige Dimension der immer wieder in eine phantastische Groteske umschlagenden Satire. Fast noch wichtiger ist die ironische oder offen polemische Abrechnung mit der neuen sowjetischen Wirklichkeit und der ihre utopischen Zielsetzungen begründenden Ideologie. Nicht zufällig hat sich Andrej Sinjavskij in seiner kulturkritischen Darstellung „Osnovy sovetskoj civilizaciiŖ (Die Grundlagen der Sowjetzivilisation, 1989)13 so ausführlich auf Bulgakovs „Sobaĉře serdceŖ bezogen. Aus seiner Sicht repräsentiert der in einen Proletarier verwandelte Ńarikov den Typus eines standardisierten Massenmenschen, den er als direktes Produkt der sowjetischen Gesellschaft betrachtet und mit den folgenden Worten zu charakterisieren versucht: „Seine geistige Welt, sein moralisches Antlitz und sogar sein Intellekt sind unvergleichlich weniger entwickelt als bei einem unwissenden, ungebildeten Bauern. […] In seinem Glauben, er wisse alles und sei der Nabel der Welt, ihr schönstes und vernünftigstes Geschöpf, gleicht er einem Wilden.Ŗ14 Tatsächlich stattet Bulgakov den aus einem wehrlosen Hund und dem Alkoholiker und arbeitsscheuen Balalaika-Spieler Ĉugunkin neu zusammengesetzten Ńarikov mit solchen Eigenschaften aus. Unter dem direkten Einfluss des klassenbewussten Vorsitzenden des Hauskomitees Ńvonder wird dieser zu einem ebenso primitiven wie aggressiven Rebellen gegen alle überkommenen zivilisierten Verhaltensweisen und Lebensformen. Zugleich aber wendet er sich schon bald gegen die selbsternannten Vertreter der neuen, proletarischen Klasse, nachdem er bezeichnenderweise zum „Leiter der Säuberung der Stadt Moskau von streunenden TierenŖ avanciert ist. Die Vermutung, dass er damit zu einem wichtigen Mitglied der sowjetischen Geheimpolizei (Ĉeka) geworden ist, wird nicht nur durch seine Denunziationen und brutalen Drohungen gegenüber seinem Erzeuger, Professor Preobraņenskij, bestätigt. Auch der von ihm selbst gewählte Vor- und Va-

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tersname Poligraf Poligrafoviĉ lässt den Schluss zu, dass mit solcher Namensgebung auf den neuen Staatsverlag Mospoligraf angespielt wird, in dem Bulgakovs frühe Erzählungen, wenngleich nur in stark zensurierter Gestalt, veröffentlicht wurden und in dem ursprünglich auch „Sobaĉře serdceŖ erscheinen sollte. Darüber hinaus lässt sich der Vor- und Vatersname von Ńarikov auch als spöttische Wendung gegen die meist viel zu viel schreibenden und publizierenden sogenannten proletarischen Schriftsteller deuten. Diese hatten seit der Mitte der zwanziger Jahre die kulturpolitischen Entscheidungen von Partei und Regierung immer stärker beeinflusst und damit Autoren wie Zamjatin, Oleńa und nicht zuletzt Bulgakov in immer größere Schwierigkeiten gebracht.15 So repräsentiert Ńarikov einen gerade auch für die Literatur und Literaturpolitik wichtigen und gefährlichen sozialen Typus, in dem der offizielle Mythos vom „neuen MenschenŖ besonders krass ins Gegenteil gewendet erscheint. Er wird als eine Person gezeichnet, die rigoros ihre materiellen und kulturellen Interessen zuerst gegenüber der alten „bürgerlichenŖ Welt, dann aber auch gegenüber den politischen Bundesgenossen wie vor allem dem aggressiven Hausverwalter durchsetzen will. Damit weist bereits der literarische Text, erst recht aber dessen eindrucksvolle Verfilmung durch Vladimir Bortko aus dem Jahr 1988 auf die späteren stalinistischen Säuberungen voraus, in denen sich Ńarikovs brutale klassenbewusste Nachfolger nicht mehr auf die grausame Tötung von herrenlosen Katzen beschränken werden.16 Wenn Preobraņenskij am Ende durch die unerwartete Rückverwandlung Ńarikovs seinen friedlichen Hund zurückerhält und ungestört seine Forschungen fortsetzen kann, scheint zunächst, wie in Gogolřs „ŃinelřŖ, die poetische Gerechtigkeit wieder hergestellt zu sein. Aber durch die Schilderung des seine Experimente ungehindert fortsetzenden Professors wird der scheinbar so glückliche und gerechte Schluss, ähnlich wie bei Gogolř, noch einmal in Frage gestellt. Nachdem Ńarik sein „unbeschreibliches GlückŖ zum Ausdruck gebracht hat, dass er wieder als Hund in der warmen und komfortablen Wohnung Preobraņenskijs ruhig vor sich hin träumen kann, heißt es abschließend: „Der Hund sah furchterregende Vorgänge. Ein bedeutender Mann versenkte seine mit glatten Handschuhen überzogenen Hände in ein gläsernes Gefäß und nahm Gehirne aus ihm heraus, ein hartnäckiger, starrsinniger Mann, der ständig in ihnen etwas zu fassen versuchte, an ihnen herum schnitt, sie untersuchte, seine Augen zusammenkniff und vor sich hin sang: ‚Zu des Niles heiligen UfernŘ Ŗ (330). Damit wird dem Leser eine positive Wendung bewusst vorenthalten und der zentrale Konflikt der Erzählung, die Verwandlung eines Hundes in einen Proletarier, noch einmal ins Phantastische gesteigert. Zwar ist Ńarikov durch die magischen Kräfte des Professors, der nicht zufällig immer wieder dieselbe Arie aus Verdis „AidaŖ vor sich hin singt, gegen alle Wahrscheinlichkeit zurückverwandelt worden. Doch Preobraņenskij hat aus dem fehlgeschlagenen Versuch nichts gelernt und keinerlei Konsequenzen gezogen. Bulgakovs „Sobaĉře serdceŖ ist so weitaus mehr als eine satirische Replik auf den weit verbreiteten Mythos vom neuen sozialistischen Menschen zu verstehen, der Text ist auch und vor allem ei-

„Sobaĉře serdceŖ (Hundeherz)

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ne tragische Groteske, in der sich am Ende der scheinbar so machtlose Hund über alle ihn umgebenden sowie bedrohenden Menschen erhebt.17 Nur er scheint sich an einer allgemein gültigen Ethik und Moral zu orientieren, da ihm jede Fixierung auf ein wie auch immer begründetes Fortschrittsdenken genauso wie jeder Gedanke an Rache und Vergeltung fremd ist. Ńarik ist zwar von den fragwürdigen utopischen Ideen und Handlungen der Menschen am stärksten betroffen, aber er führt sowohl zu Beginn als auch am Ende der sorgfältig komponierten Erzählung das Leben eines friedlichen, niemandem zur Last fallenden Tieres, für das die utopischen Ideen ohne jede Bedeutung sind. Kontinuierliche Evolution statt gewaltsamer Eingriffe Zwar lassen sich bei einer „poetischen LektüreŖ18, die die unterschiedlichen Prätexte berücksichtigt, zwei Schichten bzw. Bedeutungsdimensionen relativ deutlich voneinander unterscheiden. Im Erzähltext selbst sind sie allerdings aufs engste miteinander verknüpft. Die Hybris des auf unbegrenzten medizinischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt gerichteten Professors trifft sich mit den utopischen Zielsetzungen seines Gegenspielers Ńvonder, der aus dem künstlich erzeugten Proletarier einen neuen sozialistischen Menschen zu formen versucht. Damit ergeben sich ganz auffällige Parallelen und Überschneidungen mit dem nahezu zur gleichen Zeit entstandenen Zukunftsroman „MyŖ (Wir) von Evgenij Zamjatin. Auch in dieser Anti-Utopie wird die gewaltsame Umwandlung einzelner, noch von traditionellen „bürgerlichenŖ Vorstellungen und Bedürfnissen bestimmten Menschen in Mitglieder eines kollektiven Staates beschrieben, die ebenfalls nicht mehr über ein menschliches Herz und ein individuelles Bewusstsein verfügen. Während aber dort die Revolutionärin I-330 bestrebt ist, dem Mathematiker und Raumschiffkonstrukteur D-503 ihre Ŕ von Zamjatin durchaus geteilten Ŕ Hoffnungen auf eine permanente Revolution und das Gesetz der unendlichen Bewegung zu vermitteln, wird von Bulgakov eine solche abstrakte, gegen jede Form der Stagnation gerichtete Perspektive nicht in Betracht gezogen. Seine immer wieder die Grenzen zur Allegorie überschreitende Satire richtet sich vielmehr gegen alle fragwürdigen Versuche, die kontinuierliche Entwicklung des Lebens durch gewaltsame Eingriffe in die Natur, die Geschichte und die Kultur zu stören oder sogar zu verhindern. So führt die von Preobraņenskij und seinem Assistenzarzt so sorgfältig vorbereitete und durchgeführte Operation nicht zu dem erhofften Ergebnis. Der arbeitsscheue Alkoholiker Ĉugunkin wird durch den Eingriff gerade nicht verjüngt und mit einem besseren Leben versehen. Stattdessen entpuppt sich der aus ihm und dem Hund Ńarik erzeugte Ńarikov als ein brutaler und aggressiver Vertreter der proletarischen Klasse, der sich schon bald gegen seinen Erzeuger Preobraņenskij wie auch gegen seinen klassenbewussten Beschützer und Erzieher Ńvonder wendet. Doch auch der letztere entspricht in keiner Hinsicht dem von ihm propagierten Menschentypus. Seine Halbbildung und seine kompromisslose Brutalität hindern ihn daran, am Aufbau einer friedlichen Welt und gerechteren

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Gesellschaft mitzuwirken. Insofern richtet sich „Sobaĉře serdceŖ nicht nur vehement gegen die schon vor der Revolution entwickelten biopolitischen Utopien, sondern auch gegen die vom Verfasser als ebenso gefährlich betrachteten Pläne des jungen sowjetischen Staates und der Partei, in dem zurückgebliebenen Russland mit diktatorischen Mitteln eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft zu errichten. In „Rokovye jajcaŖ hatte sich Bulgakov noch darauf beschränkt, die so völlig überstürzten politischen sowie ökonomischen Pläne und Maßnahmen der neuen Regierung zu parodieren und als widersinnig zu entlarven. Dagegen bezieht sich „Sobaĉře serdceŖ zwei Jahre später − sehr viel differenzierter und universeller − auf die geplanten oder ansatzweise bereits durchgesetzten Projekte einer gewaltsamen Veränderung von Natur, Gesellschaft und Kultur. Wenn man den von Ńarikov selbst gewählten Vor- und Vatersnamen Poligraf Poligrafoviĉ ernstnimmt, lässt sich der Text nicht zuletzt als Verurteilung der künstlichen Hervorbringung einer proletarischen Kultur verstehen, die Bulgakov und Zamjatin, wie auch Lev Trockij19, obgleich aus unterschiedlichen Gründen, entschieden ablehnten. Trockijs Überzeugung, dass sich eine proletarische Kultur nicht von Partei und Staat dekretieren lasse, dass sich jedoch unter aktiver Mitwirkung der sogenannten „WegbegleiterŖ (poputĉiki) der Revolution in ferner Zukunft eine freie sozialistische Kunst und Kultur entfalten werde, wäre allerdings von Bulgakov vermutlich nicht geteilt worden. Denn seine Erzählung geht stark über eine Kritik an den aus seiner Sicht ebenso illusionären wie gefährlichen Plänen für eine von Arbeitern und Bauern gemeinsam getragene Kultur hinaus, wird doch hier jeglicher gewaltsame Eingriff in die Natur, den historischen Prozess und die Entwicklung der Kultur ironisiert oder regelrecht in Frage gestellt. Vor allem durch die versteckten, aber eindeutigen Hinweise auf die biblische Apokalypse werden alle abstrakten utopischen Hoffnungen und Erwartungen, die alte, vom Adel und vom Bürgertum geprägte Welt in kürzester Zeit durch eine sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, ad absurdum geführt. Ungeachtet aller ironischen Bemerkungen über die großbürgerlichen Lebensformen und übertriebenen Tischmanieren des Professors und seiner Hausgemeinschaft zielt „Sobaĉře serdceŖ insofern in erster Linie auf die Unterdrückung und Gewalt ausstrahlende unzivilisierte Lebensweise des Klassenkämpfers Ńvonder und seiner Anhänger. Freilich sind, zumindest für den heutigen Leser, die polemischen Auseinandersetzungen mit der neuen Klasse und der neuen Gesellschaft nur noch von sekundärer Bedeutung. Dafür aber scheint die Erzählung im Ganzen bereits eine Überzeugung vorwegzunehmen, die der Verfasser fünf Jahre danach in dem bekannten „Brief an die Regierung der UdSSRŖ vom 28. März 1930 in einer bewundernswerten Offenheit zur Sprache gebracht hat. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf seine eigenen früheren satirischen Texte schreibt er dort: „Ich bin ein glühender Anhänger der Freiheit, und ich meine, dass ein Schriftsteller, der auf die Idee käme, beweisen zu wollen, dass er sie nicht brauche, einem Fisch gliche, der öffentlich versichert, kein Wasser zu brauchen. Dies ist einer der Züge meines Schaffens, und er allein reicht völlig aus, dass meine Werke in der

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UdSSR nicht existieren können. Aber mit diesem Zug stehen alle weiteren in Zusammenhang, die in meinen satirischen Erzählungen auftreten: schwarze und mystische Farben (ich bin ein mystischer Schriftsteller), in denen die unzähligen Unsinnigkeiten unseres Alltags dargestellt sind, das Gift, mit dem meine Sprache durchtränkt ist, der tiefe Skeptizismus in Bezug auf den revolutionären Prozess, der sich in meinem rückständigen Land abspielt, und die ihm gegenübergestellte, von mir so geliebte Große Evolution, vor allem aber die Darstellung der schrecklichen Züge meines Volkes, die lange vor der Revolution die tiefen Leiden meines Lehrers Michail Saltykov-Ńĉedrin verursacht haben.Ŗ20 Auch wenn Bulgakov in seinem offenen Brief ausdrücklich auf Saltykov-Ńĉedrin als seinen wichtigen Lehrer und literarischen Vorläufer verweist, hat er sich mit „Sobaĉře serdceŖ doch sehr viel direkter und intensiver an Gogolřs „Zapiski sumasńedńegoŖ und „ŃinelřŖ orientiert. Denn bereits Gogolř hatte seine komischsatirischen Texte mit „schwarzen und mystischen FarbenŖ ausgestattet. Dadurch gehen sie immer wieder in phantastische Grotesken über und weisen trotz ihres Detailrealismus eine ästhetische Vieldeutigkeit auf, die auch Bulgakovs Erzählung auszeichnet. Erst von der neueren Bulgakov-Forschung erkannt, ist diese inzwischen zum Ausgangspunkt unterschiedlichster Interpretationsansätze geworden. Neben der Idee einer „Großen EvolutionŖ, die jeder gewaltsamen Veränderung der Natur und jedem gewaltsamen Eingriff in den historischen Prozess entgegen gehalten wird, ist es in „Sobaĉře serdceŖ die unbegrenzte und unbegrenzbare Freiheit des Schriftstellers, von der aus sowohl die einzelnen bestehenden Unzulänglichkeiten als auch die systembedingten Widersprüche der neuen Gesellschaft erfasst und dem satirischen Lachen ausgesetzt werden. Dabei bleibt es paradoxerweise dem wehrlosen Hund Ńarik überlassen, die ihn selbst so stark irritierenden und sein Leben sowie seine Identität fast zerstörenden Aktionen der Menschen in Worte zu fassen und auf diese Weise die Sympathie und das Mitleid des Lesers zu evozieren. Nur noch ein tierisches Wesen scheint den Verstand und das menschliche Herz zu besitzen, um die Ungerechtigkeiten und Unsinnigkeiten der Welt wahrzunehmen und in erstaunlich klarsichtigen Äußerungen zum Ausdruck zu bringen. Hinter dieser Betrachtungs- und Darstellungsweise verbirgt sich aber der ironische Erzähler und der subtile Autor Michail Bulgakov, dessen Erzählung „Sobaĉře serdceŖ erst 1987, mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung, auch in Moskau veröffentlicht und noch im selben Jahr in einer dramatisierten Version inszeniert werden konnte.

Frank Göbler

Vladimir Nabokov: Pilřgram Aleksandr Puńkin ist möglicherweise der erste, der in der langen Geschichte des Don-Juan-Stoffes aus seinem Helden einen Künstler gemacht hat, und zwar keineswegs nur, weil dieser dichtet Ŕ in der zweiten Szene von „Kamennyj gostřŖ (Der steinerne Gast) singt Laura ein Lied nach Versen Don Juans. Seine schöpferische Gabe zeigt sich vor allem darin, dass ihm der Anblick eines „schmales FüßchensŖ1 genügt, und seine „Vorstellungskraft vervollständigt augenblicklich das ÜbrigeŖ, ist sie doch „gewandter als die eines MalersŖ.2 Der schwerfällige Berliner Ladenbesitzer Pilřgram aus Nabokovs Erzählung hat äußerlich gewiss wenig mit Puńkins Don Juan gemeinsam. Seine erotischen Abenteuer erschöpfen sich in gelegentlichen Versuchen, der Tochter des Kneipenwirts einen Klaps auf die Hüften zu geben. Aber er verfügt wie jener über Leidenschaft, auch wenn sie keineswegs dem weiblichen Geschlecht gilt, und über eine Vorstellungskraft, die der eines Künstlers ähnelt. Wie der Künstler ist er ein Reisender, obgleich seine Reisen nur im Kopf stattfinden, und er ist bereit, für diese Leidenschaft seine Existenz zu opfern. Als Vladislav Chodaseviĉ 1937 über den damals außerhalb russischer Exilkreise noch kaum bekannten Autor Sirin schrieb (der nach seinem Wechsel zur englischen Sprache und zu seinem wirklichen Namen, Vladimir Nabokov, weltberühmt werden sollte), begann er mit einem langen Exkurs über Puńkin, um darauf „das Leben des Künstlers und das Leben des Kunstgriffs im Bewusstsein des KünstlersŖ3 als eines von Sirins zentralen Themen herauszustellen. Freilich verberge dieser Autor einstweilen aus guten Gründen seine Künstlerfiguren hinter einer „MaskeŖ: der „des Schachspielers, des Geschäftsmannes usw.Ŗ4, und über Sirins Umgang mit literarischen Kunstgriffen heißt es: „Sirin legt sie offen, wie ein Zauberkünstler, der, nachdem er die Zuschauer verblüfft hat, gleich darauf das Laboratorium seiner Wunder zeigt.Ŗ5 Zweimal führt Chodaseviĉ die Erzählung „PilřgramŖ an und macht so deutlich: Es geht in ihr um mehr als nur den Tod eines Schmetterlingshändlers. Nabokov schrieb die Erzählung 1930 in Berlin, wo er von 1922 bis 1937 lebte. Sie erschien noch im selben Jahr in Paris in der wichtigsten russischen Exilzeitschrift „Sovremennye zapiskiŖ. Die erstmals 1947 publizierte englische Version weicht in einigen Punkten von der russischen ab, angefangen mit dem Titel „The AurelianŖ, einer archaischen Bezeichnung für Lepidoptorologen, die an die Stelle des Familiennamens Pilřgram tritt.6 In Entwürfen trägt der Text zunächst den Titel „PalomnikŖ (Der Pilger), während die Figur Karl Gruber dann Alfred Zommer heißt.7 Die ursprüngliche Benennung schleuste Nabokov in der veröffentlichten Fassung Ŕ für russische Leser war dies nicht ganz so offensichtlich Ŕ über den Namen der Figur in den Titel ein. In der englischen Fassung verschwindet sie dann aus dem Titel. Vermutlich war Nabokov die Homophonie von

„PilřgramŖ

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„PilřgramŖ und „pilgrimŖ zu banal, so dass es fast verwundern muss, weshalb er nicht auch den Namen der Figur geändert hat. Immerhin erweiterte er ihn um den Vornamen Paul, eine Erweiterung, die auf den ersten Blick von der Bedeutung des Familiennamens ablenkt, sie aber letztlich noch unterstreicht, da man in dem Vornamen auch eine Anspielung auf die Reisen des Apostels Paulus sehen kann. Die Erzählung handelt von einer Reise, die Pilřgram nie unternommen hat. Als anerkannter Schmetterlingskundler, der allerdings eine bescheidene Existenz als Ladenbesitzer führt, wollte er immer auf eine Expedition gehen und in aller Welt Schmetterlinge sammeln. Der erste Versuch wurde durch den Krieg vereitelt, der zweite durch die Inflation. Im Jahr vor Einsetzen des Gegenwartsgeschehens hat er einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich noch nicht ganz erholt hat. Nun scheint sich durch den lukrativen Verkauf einer Sammlung, die er in Kommission erhalten hat, eine dritte Möglichkeit aufzutun. Heimlich trifft Pilřgram alle Vorbereitungen und ist bereit, seine Frau mittellos zurückzulassen. Kurz vor dem Aufbruch zum Bahnhof erleidet er jedoch erneut einen Schlaganfall. Seine Frau findet ihn am nächsten Morgen tot in seinem Laden. Die äußere Topographie der Erzählung Oberflächlich betrachtet besteht der Raum des Geschehens nur aus einem kurzen Stück Berliner Straße zwischen einer Schmetterlingshandlung einschließlich der Wohnung ihres Besitzers und einer Eckkneipe einige Häuser weiter. Die Art und Weise, wie der Leser dorthin geführt wird, erinnert an eine Kamerafahrt, wie sie Nabokov, damals häufiger Kinogänger und gelegentlicher Filmstatist in den Babelsberger Studios, gut kannte.8 Er lässt aber nicht allein den Blick der Erzählinstanz die besagte Straße entlangwandern, vielmehr personifiziert er die Straße selbst sowie die auf ihr verkehrende Straßenbahn. Da erscheint die Straße geradezu als Verführerin, die die Straßenbahn ins Abseits lockt, während diese sich unwillig fügt: „Die Straße, die eine der Straßenbahnlinien seitwärts wegführte, begann an der Ecke eines belebten Boulevards, zog sich lange im Dunkeln hin, ohne Vitrinen, ohne jegliche Freuden, und änderte, als habe sie beschlossen, ein neues Leben zu beginnen, ihren Namen nach einem runden Platz, den die Straßenbahn mit missbilligendem Knirschen umfuhr; dann wurde sie bedeutend lebendiger; zur Rechten erschienen: ein Obstladen mit Pyramiden beleuchteter Apfelsinen, ein Tabakladen mit der Figur eines Mohren im Turban, ein Wurstladen mit fetten, braunen Riesenschlangen, eine Drogerie und auf einmal Ŕ eine SchmetterlingshandlungŖ (531). Die in dieser Beschreibung enthaltenen Anspielungen haben verschiedene Dimensionen. Zunächst ist hier schon das für den Fortgang der Erzählung bedeutsame Reisemotiv angelegt, das auch gleich mit der konventionellen Metaphorik des Lebensweges verknüpft wird, allerdings auf ganz unkonventionelle, ironisch verkehrte Weise Ŕ mit einer Vertauschung von Bildspender und Bildempfänger: Das Leben (eine Biographie mit ihren verschiedenen Abschnitten) steht hier für den Weg (die Straße mit ihren Abschnitten). Dennoch

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Vladimir Nabokov

gilt in gewisser Weise auch das Umgekehrte; denn das, was über den Namenswechsel der Straße gesagt wird, lässt sich zugleich als autobiographische Anspielung verstehen: als ein Hinweis auf Nabokovs Exil, das „neue LebenŖ als Schriftsteller, der unter Pseudonym veröffentlicht. Das Abbiegen von dem belebten Boulevard klingt wie ein literarisches Programm, das sich gegen ein Schreiben für oder über den Boulevard richtet und das, positiv formuliert, eine Literatur für wenige fordert bzw. eine Literatur, die die abseitigen Aspekte des Lebens zum Gegenstand hat. Gleichwohl wird der Leser erst einmal in die Irre geleitet, wenn der Erzähler ihm in der Nebenstraße die banalen Attraktionen falscher Exotik (Pyramiden, Mohr, Schlangen) vorführt. Auch die Schmetterlingshandlung macht zunächst diesen Eindruck: „Die im Fenster ausgestellten Schmetterlinge waren groß und von grellen FarbenŖ (531). Der Erzähler betont nicht umsonst, dass sie nur kurze Zeit in der Erinnerung der Passanten haften bleiben, genauso wie die weiteren Dinge im Schaufenster: „ein Globus, irgendwelche Instrumente und ein Schädel auf einem Podest aus dicken BüchernŖ (531). Zwar kann man den Schädel rückblickend als eine Vorausdeutung auf den Tod des Schmetterlingshändlers verstehen und den Globus als Hinweis auf dessen imaginäre Weltreise, zunächst aber dienen sie nur als Blickfang für das flüchtige Interesse der Passanten, denen der Erzähler gleichsam folgt. An „gewöhnlichen LädenŖ vorbei, an „einer Kurzwarenhandlung, einer Kohlehandlung und einer BäckereiŖ (531), geht er weiter bis zu der Eckkneipe. Mit Pilřgram, der dann als regelmäßiger samstäglicher Besucher der Kneipe eingeführt wird, kehrt die Erzählung zu der Schmetterlingshandlung zurück, und erst jetzt wird mit dem Kamerablick auf das Messingtürschild der Name des Besitzers preisgegeben. Die folgende Schilderung der Wohnung, die Pilřgram mit seiner Frau Eleonora teilt, entwirft ein Bild kleinbürgerlicher Enge: „klein, düster, mit freudlosen Fenstern zum HofŖ (532), „ein dunkelrotes Sofa und eine alte, mit Intarsien verzierte NähmaschineŖ, „ein dunkler Korridor voller GerümpelŖ, schließlich das Schlafzimmer mit „mehreren verblichenen Photographien von ein und demselben Schiff über dem BettŖ (533). Dunkelheit und Enge finden am Ende der Erzählung noch einmal Erwähnung in einer Gedankenwiedergabe der Ehefrau, die es als „großes GlückŖ (543) erachtet, immerhin eine solche Wohnung zu besitzen. Über die Einstellung des Helden zu seinem Heim erfahren wir wenig, er scheint es allenfalls als Irritation wahrzunehmen Ŕ im Geräusch eines tropfenden Wasserhahns. Das wiederholt auftretende Motiv (533, 543) ist verknüpft mit seiner Unduldsamkeit gegenüber der Ehefrau, die für ihn selbst eine Irritation ist (umgekehrt bringt am Ende der tropfende Wasserhahn Eleonora zu Bewusstsein, dass sie nun allein ist). Das Motiv hat aber noch weitere Beziehungsfelder. Wenn von Pilřgrams Versuchen die Rede ist, das Geld für eine Expedition zusammenzusparen, vergleicht der Erzähler ihn mit einem „Mensch[en], der einen Kelch unter eine kostbare, sparsam tropfende Flüssigkeit hält und ihn immer dann, wenn sich auch nur ein wenig darin angesammelt hat, fallen lässt, so dass alles ausläuft

„PilřgramŖ

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und er von vorn beginnen mussŖ (535 f.). Auf dieses vergebliche Bemühen Pilřgrams, wenn nicht gar auf das mit dem Verlust von Lebensmöglichkeiten einhergehende „VerrinnenŖ der Zeit, verweist auch der tropfende Wasserhahn.9 Entsprechend haben die Photographien im Schlafzimmer einen ganz konkreten Zusammenhang, der in der Vorgeschichte Pilřgrams angedeutet wird: In einer knappen Rückwendung wird berichtet, dass sein Vater, ehe er den Laden eröffnete, ein Seemann mit lockerem Lebenswandel war (534). Wir dürfen also annehmen, dass die Bilder von ihm stammen und das Schiff zeigen, auf dem er über die Weltmeere gefahren ist.10 Als „verblasste PhotographienŖ haben sie aber auch eine bildhafte Funktion. Sie verweisen auf das „VerblassenŖ der Erinnerung an den Vater und mehr noch auf die unrealisierten Reisepläne Pilřgrams, das „VerblassenŖ seiner Träume. Ähnlich wie in der Eingangssequenz der Straße sind diese Elemente der Raumgestaltung (Tropfen, Photographien) also Beispiele, wie Nabokov konventionellen, automatisierten Metaphern zu neuem Leben verhilft und sie in ein komplexes Sinngeflecht einwebt. Bei der Beschreibung des Ladens und seiner Geschichte greift der Erzähler das Motiv der falschen Exotik wieder auf. Er schildert, wie nach dem Tod des Vaters allmählich jene überseeischen Kuriositäten, die er als „staubigen PlunderŖ (534) bezeichnet, verschwinden und wie die Herrschaft den Schmetterlingen überlassen, bis Pilřgram gezwungen ist, auch Schulbedarf ins Sortiment aufzunehmen und die auffälligsten, dekorativsten Schmetterlinge im Schaufenster auszustellen. Die zahlreichen Glaskästen mit Faltern werden wie eine wohlgeordnete wissenschaftliche Sammlung11 beschrieben („gerade Reihen makellos frischer, makellos aufgespannter SchmetterlingeŖ, 535), die mit der sonstigen Erscheinung von Laden und Wohnung kontrastiert. Und sie enthalten „alle Länder der ErdeŖ (535), während Pilřgram sein Leben lang Preußen nicht verlassen hat und sonntags allenfalls die „langweiligen, sandigen Kiefernwälder in der Umgebung BerlinsŖ (535) durchstreift. Pil’grams innere Topographie Die eigentlichen Reisen Pilřgrams finden in seiner Vorstellung statt, die „ein geographisches Bild der Welt, einen überaus detaillierten ReiseführerŖ geschaffen hat (537), gespeist aus umfassenden entomologischen Kenntnissen. Länder und Landschaften werden ausschließlich als Lebensraum von Faltern betrachtet; Geschichte und Sehenswürdigkeiten dieser Länder finden kein Interesse: „Die Welt kannte er auf vollkommen eigene Weise, in einem besonderen Zuschnitt von erstaunlicher Deutlichkeit und für andere unzugänglichŖ (537). Dabei erreicht die Vorstellung der imaginierten Reisen eine Lebendigkeit, „als ob er selbst dorthin gereist wäreŖ (538). Dieses „als obŖ (slovno) wird auch erzählerisch realisiert: „Er besuchte Teneriffa [...]. Er besuchte auch den Norden, die Sümpfe Lapplands [...]. In den italienischen Gärten knirschte eines Sommerabends geheimnisvoll der Kies unter den Füßen, und Pilřgram schaute lange durch das verschwommene Dunkel auf einen blühenden Busch, und da erschien, wer weiß woher, mit tiefem Summen

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ein OleanderschwärmerŖ (538) usw. Ebenso wird Pilřgrams letzte Reise geschildert: „Ja, Pilřgram war weit fort gefahren. Er hatte vermutlich Granada besucht, und Murcia, und Albarracin [...]; er war vermutlich auch im Kongo gewesen und in Surinam und hatte all die Schmetterlinge gesehen, die zu sehen er sich erträumt hatte Ŕ samtschwarze mit purpurnen Punkten zwischen den kräftigen Adern, tiefblaue und kleine, glimmerige mit Fühlern wie schwarze FedernŖ (544). Dass Pilřgram vor Antritt der Reise gestorben ist, kann der Leser ahnen, ausdrücklich gesagt wird es nicht. Der letzte Satz der Erzählung verrät es, behauptet freilich, dass dies „in gewissem Sinne vollkommen bedeutungslosŖ (544) sei. In welchem „gewissen SinneŖ, ist dann eine Frage, auf die der Text mehrere Antworten bereithält. Zunächst aber ist festzuhalten, dass die Erzählung einen Raum mit einem paradoxen Doppelcharakter entwirft: Der Außenraum (Berlin, die Straße mit dem Schmetterlingsladen, die Kneipe, die Wohnung) ist eng und dunkel, er hat bestenfalls falsche Attraktionen zu bieten12; Pilřgrams Innenwelt jedoch ist weit, es ist die ganze Welt, sie ist vielgestaltig, verlockend, erregend. Wenn man nun Nabokovs Äußerungen über Dostoevskij liest, erscheint die Erzählung geradezu als Gegenentwurf. In seinen Vorlesungen sagt der Autor, dass bei Dostoevskij der „natürliche Hintergrund und alles, was mit Wahrnehmungen der Sinne zu tun hat, kaum existiert. Was es an Landschaft gibt, ist eine Landschaft der Ideen, eine moralische LandschaftŖ.13 Pilřgrams Wahrnehmung hingegen übertrifft an Präzision die eines jeden Normalsterblichen, wenn es um die Unterscheidungsmerkmale verwandter Schmetterlinge geht.14 Diese Fähigkeit ist nach außen gerichtet, auf die Wirklichkeit, die Natur und die Vielfalt ihrer Erscheinungen. Von solchem Reichtum weiß ein Raskolřnikov nichts, während aber sein Lebensraum mit dem Pilřgrams durchaus Ähnlichkeit hat Ŕ eine enge, dunkle Behausung, die Straßen der Großstadt, die Kneipe (in der er Marmeladov kennenlernt). Außen und Innen der Persönlichkeit Gewiss gehört „Prestuplenie i nakazanieŖ (Schuld und Sühne, 1866) nicht zu den zwingend mitzudenkenden Prätexten der Erzählung, ebensowenig wie Puńkins „Kamennyj gostřŖ. Gleichwohl hat Nabokov eine ziemlich direkte Anspielung auf Raskolřnikov in die Erzählung eingebaut: Nachdem Pilřgram von dem potentiellen Käufer der kostbaren Sammlung zunächst versetzt wird, lässt er seinen Ärger an der Ehefrau aus und stellt sich schließlich vor, „wie gut es wäre, ein Beil zu nehmen und es ihr auf den Schädel zu hauenŖ (541). Bei Dostoevskij ist der Mord, der auf solche Weise gleich zweimal zur Ausführung gelangt, als Resultat einer ideologischen Verblendung oder als Abfall von Gott zu interpretieren. Diese Seite der Persönlichkeit des Mörders bildet einen scharfen Kontrast zu dessen sonstiger Charakterisierung als Mensch von Talent, Selbstlosigkeit, Mitgefühl und Stolz. In Nabokovs Erzählung bleibt der Mord eine momentane Phantasie aus einer Verfassung der Gereiztheit. Gleichwohl illustriert er eine Seite von Pilřgrams Persönlichkeit, die ihrerseits mit seiner Hingabe und Ken-

„PilřgramŖ

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nerschaft als Lepidoptorologe kontrastiert, das Fehlen jener (mit)menschlichen Tugenden, die Raskolřnikov auszeichnen. Man kann sagen, die äußere Erscheinung maskiert die reiche Innenwelt, oder: Wenn Pilřgram schläft, maskiert das Schnarchen die Traumgebilde: „Das war ein Schlaf nach Schablone, der solide und geräuschvolle Schlaf eines Ladenbesitzers, eines braven Bürgers, und wenn man ihn betrachtete, konnte man annehmen, dass ein Schlaf von so wohlanständigem Äußeren bar jeglicher Traumvisionen sei. Tatsächlich jedoch hatte dieser fünfundvierzigjährige, schwere, grobe Mann, der sich von Erbsenwurst und gekochten Kartoffeln ernährte, der gelassen seiner Zeitung vertraute, der in seliger Unwissenheit um alles lebte, was nicht seine einsame, sinnlose Leidenschaft betraf, ohne Wissen seiner Frau und seiner Nachbarn höchst ungewöhnliche TräumeŖ (533). Die wenig anziehende Erscheinung Pilřgrams kann darauf zurückgeführt werden, dass der Autor die Figur, mit der er die Leidenschaft für Schmetterlinge teilte, sich selber möglichst unähnlich machen wollte. Wesentlicher jedoch ist, dass Nabokov die Konzeption der Figur fest in das Bild- und Sinngefüge des Textes integriert. Zwei lepidoptorologische Motive erhalten hier bildhafte Funktion: die Technik der Mimikry und die Metamorphose von der Raupe über die Puppe zum Schmetterling. Das Motiv der Mimikry wird eingeführt mit der Sammlung, die Pilřgram in Kommission verkauft. Es handelt sich dabei um Glasflügler, deren Aussehen das von Stechmücken, Wespen und Schlupfwespen imitiert (539). Der spätere Käufer selbst tritt im Laden zunächst in einer Tarnung auf, der eines Laien, der eigentlich nur Briefmarken kaufen will. Zweck seiner Verstellung ist es, unverbindlich den Wert der Sammlung zu sondieren und sie möglichst günstig zu erwerben. Er verrät sich allerdings und entpuppt sich als ein in Fachkreisen berühmter Kenner namens Zommer. Entsprechend lässt sich Pilřgrams kleinbürgerliche Existenz mit seiner plumpen Erscheinung als Maske oder Tarnung des Spezialisten lesen, der etwa bei der Handhabung der fragilen Schmetterlingspräparate die „besondere, unfehlbare Beiläufigkeit eines erfahrenen ChirurgenŖ (537) an den Tag legt. Über seine frühe Faszination von den „Geheimnissen der MimikryŖ äußert sich Nabokov in seinen Erinnerungen. Dort schildert er verschiedene Formen, wie Schmetterlinge bzw. Raupen ihre natürlichen Feinde täuschen, indem sie das Aussehen von gefährlicheren oder ungenießbaren Insekten, von angefressenen Blättern oder von Vogelkot nachahmen.15 Als Erklärung für die „FeinheitŖ und „ExtravaganzŖ dieser Imitationen schließt er die Erfordernisse der natürlichen Auslese aus: „In der Natur entdeckte ich die zweckfreien Wonnen, die ich in der Kunst suchte.Ŗ16 Eine solche Kunstfertigkeit wird man nun weder der von Zommer angenommenen Rolle des Dilettanten zuschreiben noch der des dumpfen Kleinbürgers, die Pilřgram zeitlebens spielt. Vielmehr gehört Ŕ wenn man Chodaseviĉ folgen will Ŕ die Kunst-Analogie in den Bereich der wissenschaftlichen Kennerschaft und Imagination des Helden. Als Bild wird Mimikry hier also mehrdeutig, wenn nicht widersprüchlich.

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Ebenfalls mehrdeutig, jedoch nicht widersprüchlich ist das Bild der Metamorphose. Nabokov führt es ein mit der Beschreibung der lebenden Schmetterlingspuppen, die Pilřgram gelegentlich in seinem Laden führt: „schwere braune Puppen, mit symmetrisch zusammenlaufenden Furchen auf ihrer Brust, die zeigten, wie die späteren Flügel, Beinchen, Fühler und der Rüssel zwischen ihnen verpackt waren, und mit einem gegliederten, spitz zulaufenden Bauch, der sich auf einmal krampfhaft nach rechts und links zu winden begann, wenn man eine solche Puppe berührte. [...] Aus ihnen schlüpfte nach einer Weile ein runzliger, sich wundersam breitender SchmetterlingŖ (535). Später, als Zommer in den Kauf der Glasflügler einwilligt, denkt Pilřgram, „dass genau jetzt, jetzt sein Traum aus der Puppe schlüpftŖ (541). Wenn man auf das Ende der Erzählung schaut, lässt sich das Bild mit dem Tod Pilřgrams verknüpfen. Es ist die Realisierung der bereits im alten Ägypten und Griechenland so verbreiteten Vorstellung von der Seele als Schmetterling, der sich im Moment des Todes aus der „PuppeŖ des Körpers befreit.17 Der Erzähler bereitet schon in der Beschreibung von Pilřgrams Äußerem diese Metamorphose vor, indem er die Asymmetrien seiner Erscheinung hervorhebt: Der Schnurrbart ist ungleichmäßig gestutzt, das rechte Auge ist „weiter geöffnet als das linkeŖ (532), später wird noch auf ein leichtes Hinken hingewiesen (532). Diese Merkmale bilden die Analogie zu den Windungen „nach rechts und linksŖ der zuerst als vollkommen symmetrisch beschriebenen Schmetterlingspuppen in der zitierten Beschreibung (535). Die Schlaganfälle des Helden sind also die Vorboten der Metamorphose, die sich am Schluss mit ihm vollzieht. Sein Tod ist kein Ende, sondern ein Übergang.18 Jenseits und Kunst Das Ende von Nabokovs Roman „Priglańenie na kaznřŖ (Einladung zur Enthauptung) zeigt ebenfalls einen solchen Übergang. Cincinnatus wird zur Hinrichtung geführt, von der der Erzähler offenlässt, ob sie stattfindet oder nicht, „und Cincinnatus ging durch Staub und fallende Gegenstände und wackelnde Leinwände, sich zu jener Seite wendend, wo, den Stimmen nach zu urteilen, Wesen standen, die ihm ähnlich warenŖ.19 Eine gängige Deutung dieser Stelle ist es, dass Cincinnatus stirbt und seine Seele ins Jenseits übergeht.20 Bereits 1937 hat Vladislav Chodaseviĉ eine ganz andere Deutung vorgeschlagen. Sie unterstellt, dass für Nabokov „die Welt des Schaffens, die wahre Welt des Künstlers, durch Bilder und Kunstgriffe aus einer scheinbaren Entsprechung der realen Welt gemacht ist, in Wirklichkeit aber aus vollkommen anderem Material, und zwar in einem Maße anders, dass der Übergang von einer Welt in die andere, in welcher Richtung er auch vollzogen wird, dem Tod ähnelt. [...] Beide Welten sind für Sirin in ihrem Verhältnis zueinander illusorisch.Ŗ21 Nach Chodaseviĉ wird in „Priglańenie na kaznřŖ die „Rückkehr des Künstlers aus dem Schaffen in die WirklichkeitŖ dargestellt. Bei Pilřgram liegt der umgekehrte Fall vor: Er „stirbt für seine Frau, seine Kunden, für die ganze Welt Ŕ in dem Moment, als er endlich nach Spanien abreist, dem Land, das nicht mit dem

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wirklichen Spanien identisch ist; denn es wurde durch seine Phantasie erschaffenŖ.22 In der Tat sind Pilřgrams imaginäre Reisen Produkte schöpferischer Tätigkeit, auch wenn sie sich nicht als Kunst im engeren Sinne manifestieren. Sie erfüllen aber eine wichtige Voraussetzung der Kunst, nämlich Kennerschaft. Diese ist das Gegenteil der „Liebe zum AllgemeinenŖ, mit der in dem Roman „DarŖ (Die Gabe) der materialistische Schriftsteller und Kritiker Ĉernyńevskij charakterisiert wird und die letztlich mit Ignoranz gleichzusetzen ist.23 Pilřgram hingegen ist ignorant in Bezug auf politisches Tagesgeschehen und alltägliche Belange, aber dort, wo die Natur ihre Kunstfertigkeit zeigt, hat er den sicheren Blick für das Detail, das Einzigartige. Insofern ist er eher zum Künstler disponiert als Nabokovs Ĉernyńevskij. Liebe, Glück, Ironie Der Schluss der Erzählung ist nach dem Muster einer ironischen Pointe gestaltet: Einem Mann öffnet sich die Möglichkeit der Erfüllung eines Lebenstraums. Als dieser jedoch fast schon Wirklichkeit geworden ist, macht ihm der Tod einen Strich durch die Rechnung. Was zunächst als Ironie des Schicksals erscheint, ist hier mehrfach gebrochen dargestellt. Die bereits zitierte Wendung, es sei „in gewissem Sinne vollkommen bedeutungslosŖ, dass Pilřgram seine Reise niemals wirklich angetreten habe, eröffnet gleich mehrere Lesarten: auf einer relativ banalen Ebene als Ironie des Erzählers, die besagt, dass der Tod Pilřgram davor bewahrt, mit seinem neuerlichen Scheitern weiterleben zu müssen; dann in dem Sinn, dass Pilřgram seinen Traum eben doch verwirklicht (in einer anderen, uns unzugänglichen Welt) bzw. ihn längst verwirklicht hat (in der durch seine Phantasie erschaffenen Welt); schließlich als metafiktionale Aussage, die den Leser darauf hinweist, dass es in der Literatur keine wirklichen Tode gibt; denn das Kunstwerk ist „ein Spiel, weil es Kunst nur so lange bleibt, wie wir denken dürfen, dass die Menschen auf der Bühne nicht wirklich umgebracht werdenŖ.24 Zumindest in der ersten und der dritten Lesart manifestiert sich eine Distanz des Erzählers zu seiner Figur. Sie verdeutlicht: Es geht keineswegs um eine moralische Bewertung. Der Text will nicht zeigen, dass Pilřgram ein besserer Mensch ist, als er seinen Mitmenschen erscheint, weil er Ŕ vor jenen verborgen Ŕ über bemerkenswerte Kenntnisse und eine ausgeprägte Vorstellungskraft verfügt. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, wie die Themen Liebe und Glück im Text entfaltet werden. Pilřgrams Vorstellung vom Glück hat nichts mit einer eigenen Familie zu tun: „Kinder wären ihm lediglich ein weiteres Hindernis bei der Verwirklichung des leidenschaftlichen, beständigen, kräftezehrenden und seligen Traums gewesen, an dem er litt, seit er bewusst lebteŖ (533). Hier ist schon deutlich, dass sich ambivalente Assoziationen mit dem Glück verbinden, nicht anders als in der Formulierung von der „einsamen, sinnlosen LeidenschaftŖ (533). Die Leidenschaft, das legt diese Formulierung nahe, ist hier eben deswegen sinnlos, weil sie auf kein menschliches Gegenüber gerichtet ist. Bisweilen klingen Pilřgrams Reisephantasien wie Schilderungen von Liebesbegegnungen:

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Vladimir Nabokov

„Sich die Tropen vorzustellen fiel ihm schwer Ŕ und der Versuch, mit seiner Phantasie dorthin vorzudringen, rief Herzklopfen und ein schier unerträgliches, süßes, schwindelerregendes Gefühl hervorŖ (538 f.). Ein Absatz, der in der englischen Fassung fehlt, erwähnt eine von Pilřgram vor der Inflation verkaufte Sammlung von Faltern, deren Namen alle „in Zusammenhang mit der Liebe standen: die Erwählte, die Verlobte, die Gattin, die Ehebrecherin ...Ŗ (540).25 Nicht nur kommt die Liebe für ihn ausschließlich in diesen Schmetterlingsnamen vor, man kann auch den Verkauf der Sammlung als Hinweis verstehen, dass er sich damit von jeglicher Vorstellung erotischer Beziehungen trennt.26 Sein Erinnerungsvermögen scheint fast alles auszublenden, was nichts mit Schmetterlingen zu tun hat; so erinnert er sich, „dass er Schmetterlinge liebte, solange er existierteŖ (534), erinnert sich, wie er als Kind auf die Jagd ging und wie erregend die ersten Fänge waren (535). Dagegen vergisst er die Einladung zur Hochzeit der Nachbarstochter (542), selbst die Erinnerung an Zommer verblasst schnell, nachdem dieser ihn zunächst versetzt.27 An einer anderen Stelle ist davon die Rede, dass die Schmetterlingshandlung die „einzige Verbindung zwischen dem Berliner Dahinvegetieren und dem Traumbild eines durchdringenden GlücksŖ (535) darstelle. Der Ausdruck „pronzitelřnoe sĉastřeŖ vereinigt die Vorstellungen der Erfüllung und des Durchbohrens, und er deutet voraus auf den tödlichen Ausgang. Ähnlich ist es bei den Verhandlungen mit Zommer: „Er verspürte Erregung, eine Schwere in den Schläfen, schwarze Flecke schwammen vor seinen Augen Ŕ und das Vorgefühl des Glücks, das Vorgefühl der Abreise war kaum zu ertragenŖ (540).28 Ein weiterer Vorbote des Endes ist das Nasenbluten, nachdem Zommer dem Handel zugestimmt hat (541). Diese fatale Verbindung von Glück und Tod kulminiert in einem langen Satz, in dem selbst die Schmetterlinge in den Auslagen zu etwas Bedrohlichem werden. „In dem Halbdunkel des Ladens umstanden ihn von allen Seiten die stickigen Schmetterlinge, und Pilřgram erschien es, als sei sogar etwas Schreckliches in seinem Glück Ŕ dieses wundervolle Glück stürzte auf ihn wie ein schwerer Berg, und indem er die zauberhaften, irgendetwas wissenden Augen betrachtete, mit denen ihn die zahllosen Flügel anschauten, schüttelte er den Kopf und nahm, bemüht, dem Ansturm des Glücks nicht nachzugeben, seinen Hut ab, wischte sich die Stirn und griff, als er die Spardose erblickte, nach ihrŖ (542 f.). Danach folgt unmittelbar der Schlaganfall, auch wenn er erzählerisch ausgelassen ist. Er steckt aber bereits in dem Bild des Bergs, das Nabokov Ŕ obgleich nur in der englischen Fassung Ŕ bei der Erwähnung des ersten Schlaganfalls bemüht.29 Schon früher in der Erzählung werden Glück und Tod in eine enge Verbindung gebracht. Pilřgrams Gewinn aus einem Verkauf nennt der Erzähler eine „vollkommen reale, verdichtete Möglichkeit des GlücksŖ, die sich aber durch die Inflation in „bedeutungsloses PapierŖ verwandelt: „Er wäre fast gestorben, hatte sich bis jetzt nicht davon erholt...Ŗ (536). Hier ist es noch der Umstand, dass die Aussicht auf Glück zunichte gemacht wird, der Pilřgram an den Rand des Todes bringt.

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Im Verlauf der Erzählung wird aber immer deutlicher, dass das Glück selbst ihn letztlich das Leben kostet. Das Laboratorium der Wunder Dies im Sinne von poetischer Gerechtigkeit zu lesen, liefe wieder auf ein moralisches Urteil hinaus. Dem wirkt Nabokov aber durch Verfahren entgegen, die darauf zielen, die Figuren auf Distanz zu halten. Betrachtet man zum Beispiel Pilřgrams Frau Eleonora, deren Ehe als eine Folge von Enttäuschungen und spießigen Routinen dargestellt wird, so könnte dies das Mitleid des Lesers hervorrufen (sogar in ihrem Namen klingt das griechische Wort für Mitgefühl, eleos, an). Jedoch versteht Nabokov es, an entscheidenden Stellen seine erzählerischen Verfahren so in den Vordergrund zu rücken, dass die Identifikation mit der Figur ausgeschlossen wird. Nachdem Eleonora die Notiz gefunden hat, in der Pilřgram ihr mitteilt, er sei nach Spanien gereist, ist sie zunächst ganz kopflos und führt einige rein mechanische Handlungen aus. Im Text stellt sich dies dann so dar: „Jemand stand auf, ging durchs Zimmer, öffnete das Fenster, schloss es wieder, und sie beobachtete das gleichgültig, ohne zu verstehen, dass sie selbst das tatŖ (544). Nabokov realisiert hier den bildhaften Ausdruck des Außer-sich-Seins, und zwar weniger zum Zweck der Anschaulichkeit, als um dem Leser das „Laboratorium seiner WunderŖ30 zu zeigen. Die Aufladung von Bildern mit verschiedenen Bedeutungsdimensionen (etwa die Photographien des Schiffs) sowie die vielfachen motivischen Verknüpfungen (Pfeife, Spardose, Glas, Tropfen, Wetter, Farben) gehören zu diesem erzählerischem Instrumentarium Nabokovs. Sie erschließen sich erst bei genauer Lektüre. Hingegen gehört der originelle Umgang der Autors mit der Bildlichkeit wie die Verkehrung von Bildspender und Bildempfänger (Straße / Lebensweg) in den Bereich dessen, was die russischen Formalisten als „Bloßlegung des VerfahrensŖ (obnaņenie priema)31 beschrieben haben. Dasselbe lässt sich über die Textstellen sagen, an denen die Erzählinstanz Pilřgrams Reisen so wiedergibt, als hätten sie tatsächlich stattgefunden (537Ŕ539, 544). Sie dienen nicht nur Ŕ ja nicht einmal in erster Linie Ŕ dazu zu zeigen, wie wirklich der Figur diese Erlebnisse vorkommen, stattdessen stellen sie die grundsätzliche Frage nach dem Wirklichkeitscharakter der in der Erzählung dargestellten Topographien. Metaphysische Lesarten bieten sich an: die Phantasie-Reisen und schließlich der Tod Pilřgrams als Übergänge in eine wirklichere Seinsform, gegenüber der seine Berliner Existenz als Illusion erscheint. In jedem Falle sind die Textstellen aber implizite Verweise auf den illusionären Charakter von Literatur, deren wesentliche Forderung nicht darin besteht, Wirklichkeit getreu abzubilden, sondern Ŕ selbst wenn die dargestellte Welt „ganz unwirklichŖ wäre Ŕ eine innere Plausibilität aufzuweisen.32 Insofern steckt in dieser frühen Erzählung schon eines der bestimmenden Merkmale des ganzen Nabokov.

Jens Herlth

Andrej Platonov: Dņan Andrej Platonov ist in seinen Romanen und Erzählungen wie kaum ein anderer Autor der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts den Verlockungen und Versprechungen, den inneren Widersprüchen und Aporien des utopischen Bewusstseins nachgegangen. Er war in seinem Selbstverständnis ein ganz und gar sowjetischer Schriftsteller, der die sozialen Anliegen des kommunistischen Projekts ernst nahm. Er führte die Figuren seiner Romane und Erzählungen immer wieder an Punkte, an denen nicht so sehr Ideologie und Realität kollidierten, sondern vielmehr die eine Schicht der Ideologie und die andere Schicht der Ideologie, die eine Schicht der Realität und die andere Schicht der Realität aufeinander prallten. Die dabei entstehenden Verkantungen zeigt Platonov von innen, indem er den erzählerischen Diskurs mit dem Bewusstsein der Figuren verschmelzen lässt. Dabei ist dies kein subtil elaborierter Bewusstseinsstrom; denn der Weg zum Bewusstsein der Figuren führt durch die Hindernisse der Sprache, die ihre eigenen Gesetze, Konventionen und Beschränkungen mit sich bringt. Es wäre unangemessen, von dem Erzähler in Platonovs Prosa sprechen zu wollen: Der erzählerische Diskurs seiner Texte nähert sich im Modus der erlebten Rede maximal dem Welthorizont der Figuren an. Trotzdem wäre der Begriff der „inneren FokalisierungŖ ungeeignet für die Beschreibung dieser Erzählstrategie. Ihre Prämisse wäre die Annahme einer Innerlichkeit, die es so bei Platonovs Figuren nicht gibt: Die Grenze zwischen Innen und Außen ist hier programmatisch prekär. Wir haben es wirklich mit einem neuen Menschen zu tun, auch wenn das „NeueŖ hier die chaotische Vermengung der Residuen eines amorphen und unaufgeklärten, irgendwie bäuerlich-kollektiven Bewusstseins mit oft nur notdürftig aneinandergefügten Versatzstücken aus dem Inventar kommunistischer und anderer utopischer Modelle des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist. Entstehungs- und Publikationsgeschichte Andrej Platonov (eigtl. Klimentov) war der Sohn eines Schweißers und hatte nach einem Studium am Polytechnikum seiner Heimatstadt Voroneņ mehrere Jahre als Experte für Landkultivierung gearbeitet, bevor er 1926 nach Moskau zog, wo er sich 1927 mit dem Erzählband „Epifanskie ńljuzyŖ (Die Epifaner Schleusen) vorläufig als Schriftsteller etablieren konnte. Er war überzeugter Kommunist; seine literarischen Anfänge waren verbunden mit der Proletkulřt-Bewegung.1 Das politisch-ideologische Klima in der sowjetischen Literatur verschärfte sich Ende der zwanziger Jahre. Just in dieser Zeit publizierte Platonov mit „Usomnivńijsja MakarŖ (1929, Makar beginnt zu zweifeln) eine Erzählung, die durch ihren stilisiert naiven Blick auf Realitäten der sowjetischen Gesellschaft harsche Kritik provozierte. Die satirische Erzählung „VprokŖ (Zum Vorteil) von 1931 ver-

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schlimmerte seine ohnehin schon schwierige Lage noch.2 Einige der wichtigsten Werke Platonovs entstanden in dieser Zeit, konnten jedoch erst mit jahrzehntelanger Verspätung erscheinen, so der Roman „ĈevengurŖ,3 in dem Platonov die Anatomie und das Scheitern der kommunistischen Utopie in einem entlegenen Ort in der südrussischen Steppe untersucht, der Roman „Sĉastlivaja MoskvaŖ (Die glückliche Moskva) mit seinen so aufschlussreichen wie verwirrenden Einblicken in die Diskurse von Fortschritt, Liebe und Intimität in der jungen Sowjetgesellschaft und die Novelle „KotlovanŖ (Die Baugrube) Ŕ eine düstere Satire über entfremdete Arbeit unter den Bedingungen des sowjetischen Aufbaus. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre stand die sowjetische Literatur vor wichtigen institutionellen Weichenstellungen, und für Platonov war die Frage „Kann ich ein sowjetischer Schriftsteller sein?Ŗ in all ihrer politischen, ästhetischen, moralischen und nicht zuletzt ökonomischen Tragweite von existentieller Bedeutung.4 Noch im Sommer 1933 hatte er sich vergeblich um Aufnahme in die Brigade der Schriftsteller bemüht, die den Bau des Weißmeerkanals mit einem Kollektivband würdigen sollten. Es war ein wichtiger Erfolg für ihn, dass im März 1934 sein Antrag auf Teilnahme an einer Schriftstellerdelegation angenommen wurde, die aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Gründung der Turkmenischen Sowjetrepublik in das zentralasiatische Land reisen sollte, um dort den sozialistischen Aufbau zu begutachten und mit Texten zu bezeugen.5 Er hatte angegeben, er wolle „über die besten Menschen TurkmeniensŖ schreiben, die „ihr Leben für die Verwandlung der wüstenhaften Natur […] in eine kommunistische GesellschaftŖ hingäben.6 „Für die Wüste und für AsienŖ sei er gereist, schreibt er am 12. April 1934 aus Aşgabat an Frau und Sohn.7 Eine zweite Reise nach Turkmenien unternahm er Anfang 1935. Die Arbeit an der Erzählung „DņanŖ begann er während dieser zweiten Reise.8 Platonovs Erzählung „TakyrŖ, das Produkt der ersten Turkmenien-Reise, wurde im Januar 1935 in der „PravdaŖ scharf kritisiert.9 Das musste für den Autor höchst alarmierend sein. Monate später notierte er mit Erleichterung, dass sich Stalin dem Vernehmen nach positiv über ihn geäussert und seine „literarische SituationŖ sich damit gebessert habe.10 Im Juni 1935 arbeitete Platonov intensiv an „DņanŖ und trug erste Passagen im Kollegenkreis vor.11 Noch im Juli desselben Jahres reichte er sie bei der Zeitschrift „Krasnaja novřŖ (Rotes Neuland) ein, wo sie jedoch abgelehnt wurde, weil sie ursprünglich für einen der beiden Bände des von Gorřkij initiierten Sammelbandprojekts „Dve pjatiletkiŖ (Zwei Fünfjahrespläne) bestimmt gewesen sei. Doch auch dort konnte sie nicht erscheinen. Platonov hatte in die Veröffentlichung der Erzählung große Hoffnungen gesetzt.12 Er wollte mit ihr demonstrieren, dass er in der Lage war, Werke zu verfassen, die der ideologischen Linie entsprachen, die durch die Ausrufung des Sozialistischen Realismus als verbindlicher Doktrin sowie durch die Gründung des sowjetischen Schriftstellerverbands und dessen ersten Kongress im August 1934 neu definiert worden war. Schließlich gab er einige Kapitel an die „PravdaŖ.13 Doch auch hier kam es nicht zur Publikation. Erst am 5. August 1938 konnte ein Ausschnitt des Anfangs der Erzählung unter dem Titel „Vozvrańĉenie na rodinuŖ (Rückkehr in die Heimat) in der

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„Literaturnaja gazetaŖ (Literaturzeitung) erscheinen.14 1964 publizierte die russisch-sprachige kasachische Zeitschrift „ProstorŖ (Raum) eine gekürzte Version von „DņanŖ.15 Gegenüber der heute als gültig anzusehenden Fassung, die 1999 erschienen ist16, wies diese Version wie auch die übrigen in sowjetischer Zeit publizierten Fassungen vor allem in Bezug auf das Ende markante Abweichungen auf.17 Die Geschichte des Textes ist die Geschichte der verschiedenen Maßnahmen und Eingriffe von Fremd- und Selbstzensur, denen er unterworfen war.18 In der Erzählung „vollziehen sich Handlungen und Leidenschaften, die wirklich mutigen und reinen Menschen eigen sindŖ, erklärte Platonov in einem Brief an seine Frau.19 Der Text ist durchzogen von den literarischen wie ideologischen Tendenzen der Zeit, und zugleich ist er geprägt von Platonovs Anliegen, einen gültigen künstlerischen Ausdruck für sein persönliches Verständnis des kommunistischen Aufbaus und der sowjetischen Gesellschaft zu finden. Vordergründig geht es um die Nationalitätenfrage und die Kolonisierung des mittelasiatischen Raums, um die Frage der Modernisierung und der Inklusion der Peripherie in das sowjetische Projekt. Doch Platonov gibt seiner Erzählung durch Rückgriff auf mythische und fantastische Elemente eine universelle und überhistorische Tragweite. Sie wird zu einer Parabel über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv und zu einer Reflexion darüber, wie unter den Bedingungen des sowjetischen Aufbaus Gemeinschaften auf verschiedenen Ebenen Ŕ vom Liebespaar über die Familie und die Volksgruppe bis hin zur Nation Ŕ gebildet und zusammengehalten werden. Ein „nichtrussischer Mensch“: Nazar Čagataev und sein „Volk“ „DņanŖ ist vor allem anderen die Geschichte einer zivilisatorischen Mission. Nazar Ĉagataev, die Hauptfigur der Erzählung, wird gleich im ersten Satz eher beiläufig als „junger nichtrussischer MenschŖ gekennzeichnet (113). Er hat gerade sein Studium am Moskauer Ökonomischen Institut abgeschlossen; die Erzählung beginnt am Tag der Abschlussfeier. Wenig später wird er in seine Heimat geschickt, „in die Mitte der asiatischen WüsteŖ, wo ihn fünfzehn Jahre zuvor seine Mutter verstoßen hatte, weil sie ihn nicht mehr ernähren konnte. Seinen Vater, einen russischen Soldaten, hat er nie kennengelernt. Die sowjetische Macht nahm sich seiner an. Er verdankt ihr sein Überleben und das Studium in Moskau. Nun, in der ersten Hälfte der 1930er Jahre, schickt ihn dieselbe Macht wieder zurück in seine turkmenische Heimat, damit er dort die in Moskau erworbenen Kenntnisse anwenden kann. Im Taschkenter Zentralkomitee der Partei gibt man ihm den Auftrag, ein bestimmtes Nomadenvolk vor dem Aussterben zu bewahren. Ĉagataev entstammt selbst diesem Volk, das irgendwo „in der Region von SaryKamyń, Ustř-Urt und dem Delta des Amu-DarřjaŖ südlich des Aralsees „herumirrtŖ (130). Der Name dieses Volkes ist „DņanŖ, was Ĉagataev den Genossen als „Seele oder liebes LebenŖ übersetzt. Das Volk besitze nämlich nichts als die Seele und das liebe Leben, das ihm die „Frauen-MütterŖ mit der Geburt gegeben

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hätten Ŕ „jenseits vom Rand ihres KörpersŖ gehöre den Angehörigen dieses Volkes nichts (130). Nach den Worten des Sekretärs des Zentralkomitees in Taschkent setzt sich das Volk aus verschiedenen „NationalitätenŖ zusammen: „In ihm gab es Turkmenen, Karakalpaken, ein paar Usbeken, Kosaken, Perser, Kurden, Belutschen und solche, die vergessen hatten, was sie warenŖ (130). Diese Verwendung des Begriffs „VolkŖ (narod) irritiert, denn einerseits wird er hier als Oberbegriff verwendet, der viele verschiedene „NationalitätenŖ (nacionalřnosti) in sich einschließt, andererseits aber umfasst Dņan nur einzelne Vertreter der genannten Nationalitäten: Zum Zeitpunkt von Ĉagataevs Ankunft zählt das Volk gerade 47 Individuen (154). Über die Zugehörigkeit zu dieser grotesk kleinen Population entscheiden ganz offensichtlich nicht ethnische, sondern soziale Faktoren: Das Volk Dņan ist ein „ArbeitervolkŖ („raboĉij narodŖ, 130), dessen Angehörige sich früher ihr Wasser und Brot mit Tagelöhnerarbeit verdienten, weil sie im Unterhalt billiger waren als ein Esel (130). Es handelt sich um „Flüchtlinge und Waisen von überallher, erschöpfte Sklaven, die man davongejagt hatŖ; hinzu kommen „Frauen, die ihren Männern untreu geworden sindŖ, sowie „Mädchen, die jemanden liebten, der plötzlich gestorben war, und die niemand anders zum Mann wolltenŖ (131). Mit dem Begriff des „VolksŖ reagierte Platonov möglicherweise auf die Konjunktur „warmerŖ und organizistischer Gemeinschaftskonzepte in den sowjetischen Debatten seit der ersten Hälfte der dreißiger Jahre.20 Im Text der Erzählung finden sich auch andere Bezeichnungen. So ist zum Beispiel die Rede von „plemjaŖ (Stamm) anstelle von „VolkŖ, und dies insbesondere, wenn der erzählerische Diskurs sich dem offiziellen Sprachgebrauch annähert: So dankt am Ende das ZK der Partei in Taschkent Ĉagataev „für seine Arbeit im Zusammenhang mit der Rettung des Nomadenstamms Dņan vor dem UntergangŖ (232). In den sowjetischen Debatten um die „NationŖ (nacija), die „nationale FrageŖ und den „ImperialismusŖ war der Begriff des „VolksŖ nicht klar umrissen. Es gab einen Widerspruch zwischen der Unterstützung für nationale Kulturen, dem aktiv betriebenen nation-building seitens der sowjetischen Nationalitätenpolitik auf der einen21 und der Idee einer zentralisierten sozialistischen Kultur, in der die Nationalitäten zu einem großen Ganzen verschmelzen sollten, auf der anderen Seite.22 Stalin hatte diesen Widerspruch in der Theorie durch Periodisierung gelöst: Solange der Sozialismus nur in einem Land aufgebaut werde, solange gebe es den kapitalistischen Imperialismus, und solange müssten die früher ausgebeuteten Völker in ihrer nationalen Selbstbestimmung gestärkt werden.23 Platonov überführt diese Periodisierung in eine Gleichzeitigkeit. Die imperialistische Bedrohung klingt zwar hier und da an, doch im Grunde tritt sie in den Hintergrund. Die Sphäre der nationalkulturellen Eigenheiten interessiert ihn wenig, an keiner Stelle etwa wird die Sprachproblematik auch nur angesprochen. Worum es ihm ging, war die Aufhebung des Volkes Dņan in der Fürsorge der sowjetischen Völkerfamilie unter dem „VaterŖ Stalin. Das Volk Dņan, dieser zusammengewürfelte Haufen aus Outcasts und Marginalisierten, ist sicher keine „NationŖ im Sinne der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Vielmehr handelt es

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sich um eine als Leidensgemeinschaft gebildete politische Einheit. „Sein Volk war schließlich der größte Arme (bednjak) auf der WeltŖ, sagt sich Ĉagataev einmal (198). Was er denn dort „machenŖ solle, fragt er den Sekretär des Zentralkomitees, als dieser ihm seinen Auftrag unterbreitet, „den Sozialismus etwa?Ŗ Die Antwort ist: „Was sonst!Ŗ (131). Er soll an seinem Volk im Kleinen vollziehen, was Stalin im Großen umgesetzt hat. „Stalin hat es noch schwerer als ichŖ, tröstet sich Ĉagataev: „Er hat alle versammelt: Russen, Tataren, Usbeken, Turkmenen, Weißrussen Ŕ ganze Völker, bald wird er die ganze Menschheit versammeln und seine ganze Seele für sie hingebenŖ (221). Die Erzählung „DņanŖ behandelt zwar die Probleme der sowjetischen Gesellschaft und des sowjetischen Aufbaus der dreißiger Jahre, doch sie tut dies, indem sie dieses Projekt in ein „MysteriumŖ24 übersetzt. Die semantischen Pole, zwischen denen sich das Geschehen entfaltet, sind „HimmelŖ und „HölleŖ (131). Biblische Parallelen liegen auf der Hand. Die Handlungs- und Motivstruktur der Erzählung rückt Nazar sowohl in die Nähe zu Moses, der sein Volk auf Geheiß Gottes durch die Wüste führte, als auch zu Jesus von Nazareth, der Tote zum Leben erwecken kann, wie es Nazar mit seinem Volk gelingt.25 Neben den biblischen greift Platonov auch auf mythische und gnostische Versatzstücke zurück, so etwa auf den Mythos von Ormusd und Ahriman, dessen Ursprünge er hier in der turkmenischen und iranischen Wüste ansiedelt. Ĉagataev ist nicht einfach nur ein „LichtträgerŖ26 des sowjetischen Aufklärungsprojekts. Platonov konstruiert sorgfältig die intuitiv-mystische Ader, die seinen Helden erst dazu qualifiziert, als „BevollmächtigterŖ der Partei seinem Volk das Glück zu bringen. Als der Zug, mit dem er aus Moskau in die Heimat fährt, einmal nachts stehenbleibt, tritt Ĉagataev hinaus in die Steppe, ergreift einen Strauch und begrüßt diesen, was der Strauch mit einem leisen Zittern erwidert. Ĉagataev fühlt sich mit allen Sinnen in die Welt der Pflanzen und Tiere ein und „hat MitleidŖ mit dem armen Leben dieser Natur (130). Der Zug setzt sich derweil wieder in Bewegung. Ĉagataev lässt ihn fahren, „um sich in seiner Sache zu beeilen und nicht abgelenkt zu werdenŖ (130). Noch eine Seite zuvor war gesagt worden, dass Ĉagataev seine „SacheŖ vergessen hatte. Das „Sich-BeeilenŖ besteht darin, dass er im Gras einschläft und sich dabei „wie früher an die Erde schmiegtŖ (130), um dann zu Fuß nach Taschkent zu gehen. Dafür braucht er sieben Tage. Offensichtlich ist Ĉagataevs Projekt nicht eines, das ausschließlich nach rational-technizistischen Maßstäben funktionieren kann. Es setzt eine intuitive Annäherung an die Natur voraus. Geleitet durch unbewusste, affektiv-somatisch basierte Erinnerungen, taucht Ĉagataev in die Welt seiner Kindheit ein. So findet er schließlich sein Volk und trifft auch seine Mutter Gjulřĉataj wieder. Das Volk ist in einer desolaten Situation. Nur-Muchammed, der Bevollmächtigte des Regionalen Exekutivkomitees der Partei, der sechs Monate vor Ĉagataev geschickt wurde, sieht seine Aufgabe darin, Gräber zu schaufeln. In der Zeit seiner Anwesenheit hat sich die Bevölkerung von Dņan mehr als halbiert. Ĉagataev erkennt gleich, dass Nur-Muchammed als „FremderŖ (156) für die Aufgabe ungeeignet ist. Später wird sich herausstellen, dass er ein antisow-

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jetisch gestimmter Egoist und Hedonist ist, der das Volk nach Afghanistan führen und es dort verkaufen Ŕ oder aber sterben lassen will, damit „in der Wüste und auf der ganzen ErdeŖ mehr für ihn selbst da ist (180). Den finsteren Umtrieben Nur-Muchammeds setzt Ĉagataev seine naive Resilienz entgegen: Er weiß, dass das „Glück genauso unausweichlich und häufig erreichbarer ist als die VerzweiflungŖ (172). Im entscheidenden Zweikampf der beiden trifft Ĉagataev seinen Gegenspieler mit dem Revolver ins Bein und hätte sogar die Möglichkeit, ihn zu töten, doch er bewahrt die wenigen Patronen lieber für die „Ernährung seines VolkesŖ auf (186). Durch aufopferungsvolle Arbeit gelingt es Ĉagataev, sein Volk in einem Tal am Rand des Ustř-Urt-Plateaus zu versammeln, dort Häuser zu bauen und Landwirtschaft zu organisieren. Dabei hilft ihm Ajdym, ein etwa zehnjähriges Mädchen, die Tochter eines verwitweten Greises. Der letztere hatte Ĉagataev das Mädchen überlassen, weil dieser versprochen hatte, ihm eine ältere Frau als Ersatz zu verschaffen. Das wird zunächst seine Mutter Gjulřĉataj sein. Später dann heiratet der Greis die junge Chanom, ein turkmenisches Mädchen, das Ĉagataev in Chiva getroffen und mit dem er eine intensive Liebesnacht verbracht hat. Noch in Moskau hatte Ĉagataev während der Diplomfeier Vera kennengelernt und bald darauf geheiratet. Erst am Tag seiner Abreise nach Turkmenien lernt er ihre „dreizehn- oder fünfzehnjährigeŖ (124) Tochter Ksenja kennen, die sie ihm bis dahin verheimlicht hatte. Ihn stört das nicht weiter, genauso wenig wie die Tatsache, dass Vera von einem anderen Mann schwanger ist: So schnell wie möglich solle sie das Kind gebären, es werde sich freuen, in der Welt des Glücks zu leben, die Ĉagataev und andere einrichten werden. Allerdings muss er zugeben, dass er sich gleich auch noch in Ksenja verliebt hat (126). Als er schon in Turkmenien ist, stirbt Vera, kurz nachdem sie ein totes Mädchen geboren hat. Das erfährt Ĉagataev aus einem Brief, den Ksenja nach Taschkent geschickt hatte und der von den fürsorglichen Genossen des Zentralkomitees der Partei Usbekistans für ihn postlagernd in die Stadt Ĉimgaj weitergesendet worden war. Den Brief empfängt Ĉagataev, als er Medikamente für die schwer erkrankte Ajdym holen möchte und auf gut Glück fragt, ob für ihn Post gekommen sei. Ganz am Ende, als Ĉagataev seine Mission erfüllt hat, nimmt er Ajdym mit nach Moskau, damit sie ein „gelehrtes MädchenŖ werde und dereinst ihrem Volk zeigen könne, wie es weiter zu leben habe (231). „DņanŖ kann als kolonialistischer Text gelesen werden.27 Ajdym verkörpert mehr noch als der Halbrusse Ĉagataev das Projekt der Sowjetisierung der zentralasiatischen Region. Für die Reise nach Moskau kauft ihr Ĉagataev „neue usbekische KleidungŖ und zieht ihr im Zug die neuen Sachen an (232). In Moskau dann kauft er ihr „europäische Blusen und RöckeŖ und einen Mantel. Erst als Ajdym die neue Kleidung anhat, sieht er, dass sie eine Schönheit ist (233). Ajdym verkörpert so die europäische, moderne Zukunft des Volks Dņan.28Aber noch wichtiger als das Projekt der Modernisierung und Sowjetisierung ist das Modell von Gemeinschaft, in das dieses eingefügt wird. Ĉagataevs Kolonisierungsmission gelingt nur, weil er sich gefühlsmäßig, mit seiner Körpererinnerung, mit

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seinen Instinkten und Affekten in die Welt seiner Kindheit einlebt. Voraussetzung der gelingenden Kolonialisierung ist die Reorientalisierung ihres Agenten Ĉagataev, der zwar einerseits anerkennt, dass die turkmenische Wüstenregion eine „ganze schwierige Welt ist, die mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt istŖ, der aber andererseits beharrt: „Nein, auch hier ist Moskau!Ŗ (149). Das Erzählen: Sprache und „sozialistische Seele“ Der Wissenshorizont der Erzählinstanz ist zwar weitgehend an die Wahrnehmung, das Erleben und die Reflexionen Nazar Ĉagataevs gebunden. Doch das Innere Ĉagataevs wird nie psychologisch ausgeleuchtet; es sind fragmentarische Einblicke in Zustände, Assoziationen, gedankliche Schlüsse, die keinen abgerundeten Eindruck ergeben. Es ist so, als ob Ĉagataev selbst sein Inneres nicht durchschaut, nicht systematisch auf den Punkt bringen kann, als ob er nicht in der Lage ist, zu bestimmten Schichten seiner Erinnerung, seines Erlebens oder seiner Persönlichkeit durchzudringen. Ein Hindernis ist die Beschränktheit seiner Sicht auf die Welt und seiner Persönlichkeit. Ein weiteres Hindernis ist sein sprachliches Vermögen: Der Erzählerdiskurs nähert sich nicht so sehr dem Bewusstsein selbst als vielmehr dem notdürftig in sprachliche Formeln übersetzten Bewusstsein der Hauptfigur an. Ĉagataev ist nicht ganz Herr der ideologischen Formeln, die in seine Beurteilung des eigenen Erlebens einfließen. Für Platonov lag die Ideologie „nicht auf einer äußeren Höhe, nicht im ‚ÜberbauŘ, sondern im Herzen des Menschen, in der Mitte seines sozialen GefühlsŖ.29 Die erlebte Rede eines naiven und sprachlich ungelenken Figurenbewusstseins setzt diesen Befund um30, indem sie das „soziale GefühlŖ mit den unbeholfen verwendeten Gemeinplätzen einer ideologisch geprägten Sprachwirklichkeit reagieren lässt. Platonov zeigt seine Figuren aus ihren Affekten und den nur ansatzweise von Reflexion durchleuchteten Gefühlslagen heraus. Insofern ist der Übergang zwischen externer und innerer Fokalisierung in der Erzählung fließend, wobei die externe Fokalisierung hier nicht so sehr als erzählerischer Kunstgriff verwendet wird, sondern vielmehr als Effekt der Selbstentfremdung bzw. der (noch) unzureichenden Selbsterkenntnis der Hauptfigur erscheint, deren Innenleben für sie selbst und erst recht für den Leser undurchsichtig bleibt. Gerade die scheinbare Unbeholfenheit in der Handhabung von Sprache und Perspektive ist ein sorgfältig konstruierter ästhetischer Effekt der Prosa Platonovs Ŕ nicht nur der vorliegenden Erzählung. Mit Blick auf die sichtbar selbstgemachten Stalin-Porträts, die in den Steppenweilern, die Ĉagataevs Zug passiert, notdürftig an irgendwelche Zäune geklebt sind, heißt es: „Die Kunst war stärker als die UngeschicklichkeitŖ (128). Diese Form des Erzählerdiskurses ist nicht spezifisch für „DņanŖ; es handelt sich um eine Eigenheit von Platonovs Erzählkunst. Sie macht seine Werke zu den bemerkenswertesten Dokumenten der russischen Erzählprosa des 20. Jahrhunderts. Platonovs Sätze sind nicht eigentlich ungrammatisch, doch sie verstoßen gegen Erwartungshaltungen, brechen mit idiomatischen Konventionen und

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erzeugen durch diese Verfremdungseffekte eine ganz neue Präsenz der Sprache.31 Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Vermitteltheit unserer Weltsicht, und paradoxerweise geben sie gerade durch ihre „UngeschicklichkeitŖ (neumelostř) einen genauen Durchblick auf soziale Beziehungen und Realitäten Ŕ oder erwecken zumindest den Eindruck, sie täten es. Platonov zerstört die gewohnheitsmäßig eingeschliffenen Verbindungen zwischen den Wörtern und kombiniert sie neu, zu Ŕ scheinbar Ŕ pleonastischen oder oxymoralen Konstruktionen. Man kann in der ungeschickten Verwendung ideologischer Versatzstücke in der Sprache des Erzählerdiskurses oder der Figuren auch eine „InfragestellungŖ der sowjetischen Wirklichkeit sehen, der sprachlichen wie der tatsächlichen.32 Vor allem aber wird hier die Realität einer Sprachsituation dargestellt, in der sich verschiedene Niveaus an sprachlicher Kompetenz, verschiedene Abstufungen von gesellschaftlich-historischem Bewusstsein und verschiedene ideologisch-weltanschauliche Formeln über- und ineinanderschieben. Allerdings fehlt in „DņanŖ die selbstzerstörerische Ironie, die sich in anderen Texten Platonovs aus den zu Tage tretenden inneren Widersprüchen der ideologischen Versatzstücke einstellt. Hier kommt sie nicht auf; denn es gibt eine didaktisch-paternalistische Schicht im Text, deren Fluchtpunkt die über allem stehende, allumfassend fürsorgliche Instanz Stalins ist. „StalinŖ ist die alle Widersprüche auflösende, Konflikte heilende Instanz, die den Text gegen die Ambivalenzen absichert, die sich zwangsläufig an den Bruchstellen der syntaktischen Fügungen und ideologischen Formeln auftun. Gleich am Anfang wird der frisch diplomierte Ĉagataev auf der „Höhe seines VerstandesŖ gezeigt, „von wo aus diese ganze sommerliche Welt besser zu sehen war, die von einer zur Ruhe gekommenen abendlichen Sonne gewärmt wurdeŖ (113). Von dieser Höhe holen ihn die Geschehnisse der Erzählung hinab und ziehen ihn auf die Horizontale der Wahrnehmung von Erde und Natur. Erst die Rückkehr in die Kindheit und die Wiederentdeckung des instinktiven Bezugs zur Natur, zur Kreatur und zur eigenen Kreatürlichkeit ermöglicht Ĉagataev die Entwicklung zu einer umfassenderen Selbstsicht, die sensibel ist für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen. Diese Problematik zeigt allegorisch ein „altes DiptychonŖ, das über dem Bett in Veras Zimmer hängt: „Das Bild zeigte einen Traum aus der Zeit, als man dachte, dass die Welt eine Scheibe und der Himmel nah sei. Ein großer Mensch stand auf der Erde, hatte mit seinem Kopf eine Öffnung in die Himmelskuppel geschlagen und sich bis zu den Schultern auf die andere Seite des Himmels hinausgelehnt, in die sonderbare Unendlichkeit jener Zeit, und sich darin festgeschaut. Und er schaute so lange in den unbekannten, fremden Raum, dass er seinen sonstigen Körper vergaß, der unterhalb des gewöhnlichen Himmels verblieben warŖ (117 f.). In der Literatur zu „DņanŖ ist die Quelle dieses eigentümlichen Bildes ausgemacht worden: Es handelt sich um die Ekphrasis einer Abbildung aus Camille Flammarions „LřAtmosphère. Météorologie populaireŖ (1888).33 In dem Werk des französischen Populärastronomen soll es die naive mittelalterliche Weltsicht illustrieren.34 Doch dies ist nur die eine Hälfte des „DoppelbildsŖ. Die andere Hälf-

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te, die Platonov offensichtlich hinzugedichtet hat, zeigt denselben Menschen „in einer anderen HaltungŖ: Sein Rumpf ist „ausgezehrt, abgemagert und wahrscheinlich abgestorbenŖ; der „vertrocknete KopfŖ ist auf der anderen Seite der Kuppel „in jene WeltŖ gerollt, „die wirklich endlos ist und von woher es keine Rückkehr auf den kärglichen, flachen Ort der Erde gibtŖ (118). Platonov beschäftigte sich in Artikeln und Essays der späten zwanziger und der dreißiger Jahre mit den Risiken von Phasenverschiebungen zwischen technischer und anthropologischer Entwicklung. So warnte er vor der Gefahr, die drohe, wenn das Hirn mit seinen Bestrebungen die Kraftversorgung des menschlichen Körpers monopolisiere35, und wies darauf hin, dass der Mensch sich langsamer entwickle als die Welt. Genau das sei der „Kern der TragödieŖ: Es brauche „künstlerische Ingenieure der menschlichen SeelenŖ, um den Menschen wieder auf die Höhe der von ihm selbst so machtvoll vorangetriebenen historischen und technischen Entwicklung zu bringen.36 Diese Überlegungen aus dem 1934 entstandenen und erst posthum veröffentlichten Essay „Pervaja socialistiĉeskaja tragedijaŖ (Die erste sozialistische Tragödie) artikulieren konservativ-antimoderne, zum Teil ökologisch gefärbte Einwände gegenüber der Seelenlosigkeit eines rein technisch verstandenen Fortschritts: Es müsse darum gehen, „in sich selbst eine sozialistische Seele zu erzeugenŖ. Was das genau bedeute, illustriert Platonov, indem er eine Szene erzählt, deren Zeuge er einmal „inmitten der sowjetischen IntelligenzŖ geworden sei: Bei einem sommerlichen Fest habe sich eine sehr begabte, aber unattraktive junge Chemikerin ausgeschlossen gefühlt. Alle anderen jungen Wissenschaftler hätten einander fröhlich mit Blumen und Konfetti beworfen, sie aber habe am Rand gesessen und sich schließlich verstohlen selbst mit heruntergefallenem Konfetti geschmückt. Erst da habe ein junger Ingenieur sie bemerkt und sich um sie gekümmert. Einem Menschen mit sozialistischer Seele, so betont Platonov, wäre diese Frau schon aufgefallen, bevor sie in ihrer Not sich selbst mit Konfetti zu bestreuen begann.37 Genau diese Szene verwendet Platonov am Anfang von „DņanŖ: Hier ist Ĉagataev der Ingenieur, der während der Diplomfeier die einsame Vera mit ihrem „PferdegesichtŖ erst wahrnimmt, als sie schon enttäuscht und traurig ist und herabgefallene Blumen aufsammelt, um sich damit zu schmücken (116). Am Anfang der Erzählung steht Ĉagataev „auf der Höhe seines VerstandesŖ, doch ihm fehlt die „sozialistische SeeleŖ. Sein Kopf droht vom vertrockneten Leib abzufallen und ins Nichts zu rollen. Erst durch die Rückkehr in die Welt seiner Kindheit, die Annäherung an sein „VolkŖ und das Leiden für dieses Volk entgeht er dem Schicksal des Menschen auf der zweiten Hälfte des Diptychons. Räume Die Erzählung wird durch die Bewegungen strukturiert, die Ĉagataev vollzieht. Dominiert werden diese Bewegungen vom Motiv der Rückkehr, einem Leitmotiv in Platonovs Werk.38 Ĉagataev wird zurück in seine turkmenische Heimat geschickt, um seinem Volk den Sozialismus zu bringen. Nach vollbrachter Mis-

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sion kehrt er mit Ajdym nach Moskau zurück. Und auch diese Rückkehr bereitet eine weitere Rückkehr vor: Ajdym soll in Moskau eine gute Ausbildung machen und sodann in ihrer Heimat arbeiten, um dort „alle, die dann noch lebenŖ, zu „lehren, wie man richtig zu leben hatŖ (231). Die Rückkehrschleifen binden das Zentrum Moskau und die zentralasiatische Peripherie aneinander. Faktisch bewegt sich Ĉagataev in Zentralasien in einem Raum, der nicht von Moskau regiert wird. Auf dem Weg von Taschkent zur Oase Chiva verdingt er sich als Matrose auf einem Binnenschiff, weil er ahnt, dass sein „Recht als DienstreisenderŖ in dieser Abgeschiedenheit wohl nicht viel gilt (132). Zwar kann er manchmal auf logistische Unterstützung zurückgreifen und sogar Post empfangen, doch letztlich ist er in der Wüste auf sich allein gestellt. Sein Volk, dessen ursprüngliche Heimat das Sary-Kamyń-Becken im Norden der Karakumy-Wüste ist, findet er einige dutzend Kilometer nordöstlich davon, im Deltagebiet des Amu-Darřja-Flusses. Entfernungen legt Ĉagataev mit einiger Leichtigkeit zurück: Als Ajdym krank ist, macht er sich auf ins „100 oder 150 km entfernteŖ Ĉimgaj, um Medikamente zu besorgen. Auf dem Rückweg begegnet er den Angehörigen seines Volkes, die völlig entkräftet und wie im Schlaf durch die Wüste trotten, angeführt von dem dämonischen Nur-Muchammed, der sie nach Sary-Kamyń „in die HeimatŖ leitet (162), dabei voller Befriedigung jedes Ableben in seinem Notizbuch vermerkend. Ĉagataev ist in zunehmendem Maße desorientiert in der Wüste, die nicht allein sein „VolkŖ, sondern auch ihn selbst auf eine Art Nullstufe des Menschseins reduziert. Er ist krank, schläft ein, bleibt allein zurück und wird von riesigen Schmutzgeiern attackiert, die mit ihren Schnäbeln und Klauen Fleisch aus seinem Körper reißen. Mit letzter Kraft und seinem Revolver erwehrt sich Ĉagataev der Angriffe und wird schließlich von Ajdym gefunden, die ihn dazu anhält, ruhig liegenzubleiben: So locke er Vögel und Schakale an, die er dann töten könne, damit sein Volk etwas zu essen habe (183). Ĉagataevs ganzes Bestreben ist darauf ausgerichtet, sein Volk sesshaft zu machen. Sein Gegenspieler Nur-Muchammed hingegen will, dass die Menschen von Dņan Nomaden bleiben: „Sollen sie sich irgendwohin bewegen […]. Wer geht, dem ist stets leichterŖ (162). Doch das Nomadische führt zum Verlust der Orientierung, zum Verlust der Erinnerung und damit der Verbindung zwischen den Menschen. Ĉagataevs Mutter Gjulřĉataj tut es nicht leid um ihren Sohn, den sie ja gerade erst wieder gewonnen hatte, und den man jetzt tot in der Wüste wähnt: „Sie hatte ihn vergessenŖ (177). Die „RückkehrŖ als sinnstiftende Verbindung, als Struktur der menschlichen Existenz in Raum und Zeit, ist nicht möglich für die Nomaden, die Ŕ im Verständnis Platonovs und seines Helden Ŕ ziel- und sinnlos den Raum der Wüste durchstreifen.39 Mit der Zeit, so scheint es Ĉagataev, vergisst er sogar die „Einzelheiten der Stadt MoskauŖ (187). Er ist fern von Telegrafenstationen oder Flugzeugen; die einzige Arbeit, die ihm bleibt, ist in dieser Situation, sich totzustellen, um Vögel zu jagen. Schließlich findet er einen Ort, an dem er sein Volk sesshaft sehen möchte: am östlichen Rand des Ustř-

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Urt-Plateaus, wo es in die Sary-Kamyń-Senke übergeht. Hier entstehen die ersten, aus Naturmaterialien notdürftig errichteten Behausungen. Platonov interessiert sich nicht sehr für konkrete Realien des kasachischturkmenischen Grenzgebiets, durch das er das Volk Dņan irren lässt. Ihm ist an den existentiellen Aspekten der Wüste gelegen: Er reduziert sie auf Sand, Steine, Erhebungen und Senkungen und das perekati-pole, eine Bodenläuferpflanze, deren runde Struktur zum charakteristischen Bild der zentralasiatischen Steppenund Wüstenregionen gehört. Einige Ortsnamen wie die Oase von Chiva, Ĉardņuj, Ĉimgaj, Nukus oder Taschkent und Aşgabat markieren Punkte einer relativen Zivilisation. Die ungefähren Koordinaten des geographischen Raums sind authentisch, doch die Stadt „ĈimgajŖ zum Beispiel gibt es nicht, sie heißt eigentlich Ĉimbaj. Und die Entfernungen, die Ĉagataev auf seinen Missionen durchmisst, um für sein Volk Medikamente oder Verpflegung für den Winter zu holen, werden nur sehr näherungsweise beziffert. Für die ca. 200 km lange Strecke vom westlichen Rand der verschneiten Sary-Kamyń-Senke durch die Wüste bis zur Oase Chiva rechnet Ĉagataev gerade einmal drei Tagesmärsche (203). Bereits nach drei Tagen aber ist er wieder zurück, weil er am zweiten Tag seiner Wanderung auf zwei Lastwagen traf, die vier Tage zuvor aus Chiva geschickt worden waren. Aus Taschkent war angeordnet worden, den verlorenen „NomadenstammŖ Dņan im Gebiet Sary-Kamyń oder zwischen Ustř-Urt und dem Aralsee ausfindig zu machen. Hier treffen das intuitive Raumgefühl des Halbnomaden Ĉagataev und das technisch-aufklärerische Projekt der sowjetischen Erschließung des zentralasiatischen Raums aufeinander. Die Rettung des Volkes Dņan kann nur durch eine Verbindung der beiden gelingen. „TaschkentŖ kann zwar als deus qua machina „Fleischkonserven, Reis, Galetten, Mehl, Medikamente, Kerosin, Lampen, Äxte und Schaufeln, Bücher und sonstiges GutŖ sowie „Benzinfässer, Öl und ErsatzteileŖ in die Wildnis senden, damit das Volk im Winter nicht untergeht (204). Doch die beiden Lastwagen waren in eine ganz ungefähre Richtung losgeschickt worden. Ohne die konkrete Arbeit Ĉagataevs im Terrain hätte die Hilfslieferung ihre Adressaten nie erreicht, weil diese längst verhungert oder von Nur-Muchammed nach Afghanistan verkauft worden wären. Die Topographie des Ortes, an dem das Volk letztlich angesiedelt wird, ist weniger konkret als abstrakt-symbolisch.40 Die Figuren überqueren in kurzer Zeit und wenigen Kilometern die Schnittstelle zwischen dem Ustř-Urt-Plateau und der Sary-Kamyń-Senke, gehen ins Tal hinab oder steigen auf das Plateau, um von dort einen weiten Überblick über die Welt zu haben. Ĉagataev sieht von der „höchsten TerrasseŖ aus die „Welt fast bis in alle ihre EndenŖ (210), so wie er ganz am Anfang von der „Höhe seines VerstandesŖ auf die Welt geblickt hatte (113). Als das Volk durch die Arbeit Ĉagataevs und die Hilfe der Bolschewiki von der unmittelbaren Bedrohung durch Hunger und Schwäche befreit ist, zerstreut es sich in alle Richtungen. Ĉagataev macht sich auf die Suche und erreicht tatsächlich Chiva bereits am dritten Tag seines Marsches (215). Sein Volk findet er erst Monate später, als er selbst wieder an den Rand des Ustř-Urt-Plateaus zurückkehrt. Dort ist in der Zwischenzeit eine sozialistische Idylle einge-

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richtet worden. Warum sie im Winter weggelaufen seien, fragt Ĉagataev seine Stammesgenossen: „Wir begannen uns zu interessieren, wo es andere Menschen gibtŖ, antwortet man ihm (229). Die Überwindung der Not ist nötig für die Erschließung und Nutzbarmachung des Raumes. Sobald das Volk Dņan den Sinn für die „anderen MenschenŖ entwickelt hat, kommen die Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien der modernen sowjetischen Gesellschaft zum Tragen. Vorgängig ist dieser technischen Erschließung des Raums aber ein Sinn für die Gemeinschaft, der nicht technisch vermittelt ist: So hörte Ĉagataev schon auf dem Abschlussfest in Moskau die Geige eines Musikanten; sie klang, „als weine ein Mensch hinter dem Horizont Ŕ vielleicht in jenem unbekannten Land, in dem er einst geboren wurde, wo jetzt seine Mutter lebte oder schon gestorben warŖ (114, vgl. 120). Auch dem Volk der chinesischen Arbeiter fühlt sich Ĉagataev auf telepathisch-solidarische Weise verbunden (219). Es ist dieses Gefühl, dass dem Raum in „DņanŖ Struktur gibt. Mangel und Überfluss Das Volk Dņan entwickelt erst wieder einen Sinn für Gemeinschaft, als es beginnt, mehr zu besitzen als die eigene Seele. Konstantin Kaminskij hat auf den zentralen Stellenwert der ökonomischen Thematik in Platonovs Erzählung hingewiesen41 und gezeigt, wie Ĉagataev schrittweise von der Ökonomie des Gelds zu einer Ökonomie des „symbolischen TauschsŖ wechselt.42 Die Anknüpfung an anthropologische Modelle des Tauschs und der Gabe kann aber letztlich die Kritik des Textes an der nomadischen Existenzform nicht erfassen. Der Tausch ist hier gar nicht so sehr symbolisch; die grundlegende Unterscheidung der Ökonomie in „DņanŖ ist die zwischen Mangel und Nicht-Mangel bzw. Überfluss. Der Tausch hingegen ist eindeutig an den Mangel gebunden: Unter den Nomaden wechseln Güter, Kleiderfetzen, Tiere und Frauen den Besitzer, um punktuell Bedürfnisse zu stillen, ohne dass die allgemeine Not überwunden wird. Entscheidend für die Rettung des Volkes Dņan und auch für das anthropologisch-ökonomische Modell, das Platonov hier entwickelt, ist die Überwindung des Mangels. Ebenso wichtig ist der Überfluss. Dabei sind Gabe, Tausch und Geldwirtschaft, Mangel und Überfluss in der Erzählung komplexer verwoben, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Keineswegs ist Moskau nur der Ort für Geldwirtschaft und Moderne und Turkmenien nur der für archaische Tauschverhältnisse. Vera sammelt auf der Diplomfeier verstohlen Blumen und Konfetti auf, die von anderen jungen Frauen herabgefallen sind. Ĉagataev fühlt sich erst zu ihr hingezogen, als er diesen verzweifelten Akt bemerkt. Gjulřĉataj, seine Mutter, lebte mit ihrem Mann, dem Vater der beiden verstorbenen Halbgeschwister Ĉagataevs, in bitterster Armut. Auf dem Basar der Stadt Chiva isst sie die Reste, die von den Händlern auf der Erde liegengeblieben sind. Dort bemerkt sie der russische Soldat Ivan Ĉagataev, der spätere leibliche Vater des Protagonisten, und bringt ihr fortan „jeden Tag staatliche Verpflegung in einem KochgeschirrŖ (123): „Gjulřĉataj aß die Soldatensuppe mit Rindfleisch auf dem abendlichen leeren Basar, und

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der Soldat berührte sie ein bisschen und umarmte sie dann. Doch die Frau brachte es nicht übers Herz, den Menschen, der ihr Nahrung gegeben hatte, zurückzuweisen: Sie schwieg und widersetzte sich nicht. Sie fragte sich, wie sie sich dem Russen erkenntlich zeigen könnte, und hatte nichts als das, was von Natur aus gewachsen war. Und der Soldat Ĉagataev bekam eine ganze schweigende Frau im Tausch gegen das Essen im Kochgeschirr…Ŗ (123). So ist Ĉagataev selbst das Produkt eines Tauschgeschehens. Die ganze Erzählung ist geprägt von einem haushälterischen Blick des Erzählers, der sorgsam Haushaltsgeräte, Utensilien und Kleidungsstücke, ihr Vorhandensein, ihren Erwerb und ihren Verlust registriert. Umso bemerkenswerter sind die Situationen, in denen Dinge nicht unbedingt notwendig sind, in denen sie für Annehmlichkeit, Freude, ja Luxus stehen. Als Ĉagataev Ksenja gerade kennengelernt hat, geht er für eine halbe Stunde weg und kauft „verschiedene Sachen für 300 RubelŖ ein: „teures Parfum, eine WildledertascheŖ und „irgendeine bunte DeckeŖ (125). Ksenjas Mutter Vera ist nicht erfreut: Ihre Tochter habe nur zwei Kleider, und das letzte Paar Schuhe falle auseinander, empört sie sich. Doch Ksenja kann darauf verweisen, dass man ihr im Kindertheater ein Kleid umsonst geben werde, weil sie dort „AktivistinŖ sei, und auch Schuhe werde sie bald zugeteilt bekommen. Die sowjetische Ökonomie ermöglicht maßvollen Überfluss, und dieser ermöglicht Geschenke, das heißt symbolischen Tausch, wie den, mit dem sich Ĉagataev in die Erinnerung seiner Adoptivtochter Ksenja einkauft: „Er wollte für sie eine fürsorgende Kraft sein, ein Vater und eine ewige Erinnerung in ihrer SeeleŖ (125). Ksenja gehört schon zu einer neuen Epoche. Sie versteht, dass die Möglichkeit solcher Gaben geradezu ein Vorzeichen der künftigen sowjetischen Prosperität ist: „Ich werde Ihnen auch bald Geschenke machen. Bald wird der Reichtum anbrechen!Ŗ (126). Es gibt in „DņanŖ eine Ŕ durchaus positiv grundierte Ŕ Korrelation zwischen Seele und Besitz: Als Ĉagataev ihr seine Liebe zu Ksenja gesteht, spürt Vera ein solches Leid, dass sie erwägt, alle Hausgerätschaften einer Nachbarin zu schenken, auf dass sich mit ihrem Besitz auch „das Ausmaß ihrer leidenden SeeleŖ verringere (127). Als Gjulřĉataj ihren Sohn wiedergefunden hat, überprüft sie zunächst sorgsam, ob sein Körper vollständig ist (145). Dann bittet sie ihn, ihr etwas zu geben, damit sie „mehr Dinge bekomme und sich dadurch, durch die Dinge, ihre Lebensaktivität steigereŖ. Ĉagataev, der seine Mutter „richtig verstandŖ, gibt ihr also einen Mantel, das Halfter seines Revolvers, einen Notizblock und 40 Rubel (153). Die engsten Habseligkeiten geben der Seele einen Bezug zur äußeren Welt. Im Erleben der Menschen von Dņan können die Dinge kalt und gleichgültig sein, oder aber sie erscheinen als beseelt, auf die eigene Lebensgeschichte und auf die Gemeinschaft mit anderen bezogen. Am Ende hat das Volk Dņan, das in seiner Vergangenheit von den feudalen Mächten der Region als Arbeitskraft ausgebeutet worden war und dann jahrelang in kümmerlicher Sammler- und Nomadenexistenz vor sich hin vegetierte, den Übergang in eine neue, moderne Form des Wirtschaftens geschafft. Die Bewohner der Siedlung am Rande des Ustř-Urt-Plateaus produzieren nun Teppi-

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che, also Dinge, die sie nicht sofort wieder aufbrauchen werden (228). Sie geben dem Staat Wolle und Fleisch und kaufen dafür Mehl, Reis, Salz, Kerosin und weitere Produkte sowie neue Kleidung (231). Die Stillung der niedersten materiellen Bedürfnisse ist die Voraussetzung für das Erwachen des Volkes; erst danach kann es ein gesellschaftliches Bewusstsein entwickeln. Bei Ĉagataevs Mutter schmerzte das Herz noch vor Hunger, stellt Ajdym einmal fest. „Bei uns soll jetzt ein anderer Schmerz sein, ein interessanter, nicht so einerŖ, sagt sie. Ihr tut die Seele schon „aus GefühlŖ weh (213). Der Luxus eines seelischen Schmerzes ist nur möglich im Stadium einer gewissen, wenn auch noch ganz bescheidenen ökonomischen Saturiertheit. Der Erzähler hält fest, dass Ĉagataev nach dem Eintreffen der beiden Lastwagen, die auf Anweisung aus Taschkent von Chiva aus in die Wüste geschickt worden waren, „zum ersten Mal seit vielen Monaten eine freie Stunde hatteŖ (208). Da nun zum ersten Mal ein Punkt erreicht ist, an dem nicht alle Ressourcen sofort wieder für die physische Subsistenz eingesetzt werden müssen, kann er mit Ajdym einen Spaziergang machen und mit ihr spielen. Der „ÜberflussŖ ermöglicht erst die Zuwendung zu anderen. Ganz anders liegt der Fall bei dem hedonistischen Nur-Muchammed, der alle Güter immer nur selbst verbraucht, um sich den baldmöglichen Genuss zu sichern, ob in materieller oder in sexueller Hinsicht. Als Ĉagataev und Ajdym in Moskau Ksenja besuchen, bereitet diese ein bescheidenes Mahl, ist aber dabei emotional so aufgewühlt, dass sie die Flasche mit dem Rotwein umstößt und verschüttet. Ajdym, geschult durch ihre Kindheit in Not und Mangel, räumt auf, und es gelingt ihr sogar, den Wein vom Tisch zurück in die Flasche zu gießen, so dass ein Viertel der ursprünglichen Menge gerettet wird. Auch in der Moskauer Wirklichkeit wird sorgfältig Buch geführt über Dinge und Güter. Die Epoche des allgemeinen Reichtums ist noch nicht angebrochen. Aber man ist auf dem besten Wege dahin, kann ins Kino gehen und zum Vergnügen mit der Metro fahren (234). Ajdyms Beispiel zeigt, dass die junge Generation nicht nur konsumieren, sondern auch haushalten kann. Geschlecht und Sexualität Für den Platonov-Biographen Michail Geller ist „DņanŖ „eines der erotischsten Werke der russischen LiteraturŖ.43 Sexualität und (männliches) Begehren sind in der Erzählung allgegenwärtig, man könnte die Geschichte Ĉagataevs auch als eine Reihe von Begegnungen mit wechselnden Partnerinnen oder Fast-Partnerinnen erzählen. Frappierend ist nicht nur deren Anzahl, sondern auch ihr Alter. Es beginnt mit einer Studentin auf der Diplomfeier, die von Ĉagataevs exotischem Äußeren fasziniert ist und ihm deshalb zulächelt. Doch er reagiert darauf nicht. Es ist im ganzen weiteren Verlauf stets er, der Mann, der die Initiative ergreift und sich die Frauen oder Mädchen aussucht: zunächst Vera, dann ihre „dreizehn- oder fünfzehnjährigeŖ Tochter Ksenja, die ungefähr zehnjährige (142) Ajdym und schließlich Chanom, das turkmenische Mädchen, das Ĉagataev in Chiva trifft. Ajdym tauscht er ein; Chanom bittet er, mit ihm zu kommen, was sie zu-

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nächst ablehnt, doch er greift ihre Hand, und sie folgt ihm (218). Noch in derselben Nacht liebt er sie „mit der Gier äußerster NotwendigkeitŖ (219). Anders als Nur-Muchammed, der Ajdym vergewaltigt, weil er „ohne Genuss nicht existieren konnteŖ, braucht Ĉagataev nicht unbedingt den „rasenden GenussŖ. Ihm genügt es, Veras Hand zu halten und ihr seine Zuneigung zu zeigen (118). Die sexuelle Komponente in den Beziehungen zur Heranwachsenden Ksenja oder zum Kind Ajdym ist zwar vorhanden44, doch sie ist nie konkret-körperlich, und vor allem wird sie überschrieben mit einer Faszination für Jugend, Energie und Optimismus. Während der Liebesnacht mit Chanom sieht Ĉagataev in seiner Partnerin in erster Linie die „Wonne des zukünftigen LebensŖ (219). Sein Sexualtrieb übersetzt sich in eine Dimension sozialer Zugewandtheit, die über den konkreten Sexualkontakt hinausgeht. Diese Art zugewandter Sexualität schafft Ŕ wie die Dinge und die Nahrung Ŕ soziale Bindung. Der Blick des Reisenden Platonov auf die turkmenischen Realien war stark sexualisiert; davon zeugen seine Briefe und Notizbücher. Dort registriert er „Brüste, Ä[rsche] wie SandverwehungenŖ45 und spricht wortspielerisch von „saksaullen LeidenschaftenŖ46 („saksaulřnye strastiŖ Ŕ „SaksaulŖ ist ein Strauch bzw. niedriggewachsener Baum mit kleinen Blättern, wie er in den Steppen und Wüsten Zentralasiens zu finden ist). In „der TurkmeninŖ meint er, eine „ganz andere Beziehung zur Natur, ein anderes SelbstgefühlŖ als „bei unsŖ ausmachen zu können.47 Die Pansexualität im kolonialistischen Blick des Betrachters wird in der Erzählung sogar auf die Natur ausgeweitet. Sie ist integriert in die erzählerische Reflexion über Mangel und Überfluss, über Gabe und Gegengabe: Während seiner ersten Nacht in der Steppe spürt Ĉagataev, wie die Lebewesen im Gras und in den Steinen vor ihm fliehen Ŕ bis auf manche, die durch den Schritt des Menschen eine solche Angst bekommen, dass „sie sich beeilten, sich möglichst schnell zu vermehren und Genuss zu empfindenŖ (130). Platonov interessierte sich für die Stellung der Frau in der turkmenischen Gesellschaft: „Die Frau ist in Turkmenien nur der symbolische Ort sozial-ökonomischer Leidenschaften, und nicht in sich selbst eine KostbarkeitŖ, notiert er einmal.48 In der Erzählung „TakyrŖ von 1934, deren Handlung ebenfalls in Turkmenien angesiedelt ist, bringt die Hauptfigur, die junge Dņumalř, die in eine Welt von Unterdrückung und ökonomischer wie sexueller Ausbeutung hineinwächst, den Ehemann um, der sie gekauft hat (307). Schließlich wird sie von einer Abteilung der Roten Armee aufgegriffen und kann in Aşgabat und Taschkent das Landwirtschaftsinstitut abschließen.49 Für Platonov ist die Rolle der Frau in der turkmenischen Gesellschaft an ihre Rolle als Sexualobjekt gebunden; Geschlecht und Sexualität wiederum sind eingebettet in die ökonomische Situation. Es wirken dieselben Mechanismen von Bedürfnis und Befriedigung, von Mangel und Ausbeutung wie in den Fragen der Subsistenz. „Was hat hier die Menschen untereinander verbunden?Ŗ, fragt Platonov mit Blick auf die turkmenische Wüste, für ihn immerhin so etwas wie die „[Ur]Heimat der MenschheitŖ.50 Die Wüste ist der Ort eines schreienden Mangels Ŕ an Dingen, an Nahrung, an sexueller Befriedigung. Auch im Hinblick auf das Begehren und die Se-

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xualität wähnt sich der reisende Schriftsteller an einer anthropologischen Nullstufe: „Außerordentlich wichtiges ThemaŖ, notiert er, „Die Turkmenin, die niemals liebte und durch die Bedingungen des Lebens niemals lieben konnte Ŕ ein Mensch ganz ohne Liebe, dessen Herz die ganze Zeit zusammengepresst, gequält, beengt wurde Ŕ, ist eine Tragödie ganz anderer Ordnung, von universellem Typ.Ŗ51 Eine solche Figur ist Gjulřĉataj, die Mutter Ĉagataevs. Als Ĉagataev gerade bei seinem Volk eingetroffen ist, hört er einmal nachts das Gespräch eines Paars in der benachbarten Behausung: „Nichts ist billiger als eine EhefrauŖ, sagt die Frau, „bei unserer Armut, welche Habe hast Du schon, außer meinem Körper?Ŗ Der Mann antwortet: „Du hast Brüste, Bauch, Lippen, deine Augen schauen, allerhand, ich denke an dich und du an mich, und die Zeit vergeht…Ŗ (152). Die Frauen in „DņanŖ sind meist mit der Zubereitung oder Beschaffung von Nahrung beschäftigt. Ob in Moskau oder in der turkmenischen Wüste, sie hängen davon ab, dass ein Mann auf sie aufmerksam wird, sie auswählt, eintauscht, mit sich nimmt, einkleidet. Im Zuge des kommunistischen Aufbaus wachsen ihnen jedoch entscheidende Rollen zu: Ajdym ist die wichtigste Helferin Ĉagataevs bei der Organisation der Siedlung in Ustř-Urt. Und als Ĉagataev mit ihr nach Moskau fährt, schlägt er vor, Chanom als Volksälteste zu wählen, obwohl sie im fünften Monat schwanger ist. Seine Begründung: „Eine Frau ist oft besser als ein Mann, eine Mutter teurer und lieber als ein VaterŖ (231). Gemeinschaft und Gewalt Platonov referiert in „DņanŖ mehrfach auf die „SowjetmachtŖ und auf Stalin. Das politische Gemeinwesen, um das es letztlich geht, ist die Sowjetunion. Daher muss es überraschen, dass die Erzählung mit einem Schlussbild ausklingt, das die Geborgenheit einer Ŕ wenn auch zusammengewürfelten und auf Wahlverwandtschaft beruhenden Ŕ Kleinfamilie in Szene setzt: Ajdym liegt schlafend eingerollt auf dem Bett, ihr gegenüber sitzen Ĉagataev und Ksenja auf dem Sofa und betrachten sie. Doch dies ist kein Widerspruch: Stalin wird gleich bei seinem ersten Erscheinen im Text als „guter Vater aller sippenlosen Menschen auf der ErdeŖ eingeführt (128). Das fürsorgliche Prinzip „StalinŖ steht für den Kampf gegen Obdach- und Vaterlosigkeit. Der Stalin auf den Porträts, die Ĉagataev an den kleinen Steppenbahnhöfen erblickt, sieht womöglich dem echten Stalin gar nicht ähnlich: Der Künstler habe ihn sich selbst ähnlich gemacht, „um zu zeigen, dass es jetzt auf der Welt Väterlichkeit und Verwandtschaft gibtŖ (128). Der Übergang von der großen Gemeinschaft der Sowjetvölker zur Kleinstgemeinschaft der Familie löst den Widerspruch zwischen Öffentlichkeit und Privatheit auf: Das ganze Sowjetreich wird nach dem Vorbild einer Familie konstruiert, in der Stalin der „VaterŖ der Völker ist. Es handelt sich hier um eine Leitvorstellung der sowjetischen Ideologie der dreißiger Jahre.52 „DņanŖ ist im Kontext mit anderen Erzählungen aus dieser Zeit zu sehen, in denen Platonov den „FamilienherdŖ als idyllischen Ort entwirft.53

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Doch wenn die Gemeinschaft der Familie und die sowjetische Gesellschaft in einem fließend-metonymischen Bezug zueinander stehen, dann heißt das auch, dass es keine Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gibt. In der mittelasiatischen Wüste liegt die Intimität der Menschen offen. Die Erzählung ist reich an Situationen von Nacktheit, meist in Verbindung damit, dass jemand seine Kleidung für einen anderen gibt. So stellt Ajdym ihre Kleidung dem verwundeten Ĉagataev als Verbandszeug zur Verfügung; er wiederum gibt ihr seine Unterwäsche, damit sie sich daraus neue Kleidung schneidern kann, „weil sie sonst nackt warŖ (194). Als Ĉagataev mit Ajdym in Moskau Ksenja besucht und in ihrem Wohnheim an die Tür klopft, rufen gleich drei Mädchenstimmen „hereinŖ, darunter Ksenjas. Zwar haben sie Einzelzimmer, doch die Wände sind dünn. In der Schlussszene hat Ksenja ihre Hand in die Ĉagataevs gelegt, und er spürt „das Klopfen ihres Herzens, als wolle die Seele sich ihren Weg hinausbahnen, um ihm zu Hilfe zu kommen.Ŗ Es folgt der letzte Satz der Erzählung, in dem die innere Entwicklung Ĉagataevs zum Abschluss kommt: „Ĉagataev war jetzt zur Überzeugung gelangt, dass Hilfe nur von einem anderen Menschen kommen konnteŖ (234). Dieser Gedanke vermittelt sich ihm über das Klopfen von Ksenjas Herz: Es ist das Signal ihrer Seele. In „Sĉastlivaja MoskvaŖ hatte Platonov die Hauptfigur Moskva in ein „drei bis vier Gramm schweres TeeKleidŖ gesteckt, das „so kunstvoll geschneidert warŖ, dass der Puls ihrer Blutgefäße „durch die Erschütterung der Seide angezeigt wurdeŖ.54 In der idealen Gemeinschaft kommunizieren die Körper direkt miteinander. Ĉagataev, so heißt es in „DņanŖ, „liebte es, ein anderes Leben und einen anderen Körper zu spüren, ihm schien, dass darin etwas Geheimnisvolleres und Schöneres, etwas Wesentlicheres liege als in ihm selbst, und seine Gesundheit und sein Bewusstsein verbesserten sich oftmals allein davon, dass er die Möglichkeit hatte, jemanden an der Hand zu halten, so wie einst Vera und noch vor ihr eine andere Frau, eine Studentin des Ökonomischen Instituts, die ihn geliebt hatte, die dann aber noch jung an einer Krankheit gestorben warŖ (196). Die Gemeinschaft des Volkes Dņan wirkt am Ende wie eine reine Idylle. Als Ĉagataev nach Monaten der vergeblichen Suche wieder an den Rand des UstřUrt-Plateaus kommt, sieht er „vier kleine Häuser mit geweißten WändenŖ, und aus der Küche dringt durch die von keinem Windhauch bewegte Luft ein „dicker, nach Essen riechender RauchŖ (226). Das Beisammensein des Volkes Dņan auf neuer ökonomischer Basis wird bestimmt durch Lagerfeuer, Gesang, Tanz, die Wahl eines „ArbeiterratsŖ und regelmäßiges Mittagessen (201 f.). Allerdings brauchte es Gewalt, um diese Gemeinschaft zu ermöglichen: Der (Volks-)Feind Nur-Muchammed musste per Revolver in die Flucht geschlagen werden. Gewalt braucht es auch zur inneren Disziplinierung der neuen sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft. Es ist nicht etwa Ĉagataev, der diese Gewalt androht oder ausübt, sondern die „AktivistinŖ (202) Ajdym: „Unglückliche brauchen wir nichtŖ, Ŕ sagt sie einmal Ŕ, „denen reiße ich das Auge aus und hänge es an die Wand, da kannst du dir dein Auge anschauen, schielender Mensch.Ŗ Als der alte Sufřjan, immerhin Vorsitzender des neu eingerichteten „Rats der ArbeitendenŖ, beim Es-

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sen einmal einen Nachschlag verlangt und dabei auf seine Position verweist, schlägt Ajdym ihm aufs Auge: „Ist dir klar, wer Chef ist?Ŗ (209). Zunächst will er protestieren, doch als er sieht, wie sie bereits sein anderes Auge fixiert, hält er lieber den Mund. Auch die anderen Menschen von Dņan schlägt sie bei Bedarf aufs Auge, „weil es sonst nicht weh tutŖ (194). Die Gewalt ist untrennbar mit dem Modernisierungsprojekt verbunden. Sie erscheint vielleicht in einem milderen Licht, weil es ein kleines Mädchen ist, das sie ausübt. Doch in Ajdyms Worten klingen durchaus Gedanken an, die in ihrem totalitären Furor an die erschütternde Szene der Vernichtung der Bourgeoisie aus dem Roman „ĈevengurŖ erinnern. Wenn sie ein bisschen älter sei, werde sie andere Menschen gebären, nicht solche, die von einer Minderjährigen wie ihr gefüttert werden müssten. Gemeinsam mit Nazar werde sie eine große Grube graben: „Sollen sich doch alle dort hineinlegen, denen es auf der Welt nicht gefällt!Ŗ (203, vgl. 208). Überhaupt liegt im Verhältnis der jüngeren Generation zur Vergangenheit eine latente Brutalität, die allerdings in fröhlich-optimistischem Ton daherkommt. In dem „einfachen BriefŖ, mit dem Ksenja Ĉagataev über den Tod Veras informiert, heißt es: „Ihre Frau, meine Mama Vera, ist im Zweiten Klinischen Krankenhaus der Stadt Moskau nach der Geburt eines Mädchens gestorben, das, als es geboren wurde, schon tot war, und ich habe seinen Körper gesehen. Das Mädchen wurde im Krankenhaus in einen Sarg mit der Mama Vera, Ihrer Frau, gelegt und in der Erde auf dem Vaganřkovo-Friedhof beerdigt, nicht sehr weit vom Schriftsteller Batjuńkov. […] Die Mama hat mir aufgetragen, Sie in Erinnerung zu behalten und zu lieben. Ich behalte Sie in Erinnerung. Mit Pioniergruß, KsenjaŖ (158). Vera, von deren Tod und Beerdigung hier in so unbeholfenen Worten berichtet wird, ist die tragische Figur der Erzählung: Auf der Diplomfeier wird sie ausgeschlossen; sie ist schwanger von einem verstorbenen Mann; der Vater ihrer Tochter Ksenja baut im fernen Osten Brücken und liebt andere Frauen (124 f.). Und Ĉagataev, der sich bereitwillig als Vater für das Ungeborene zur Verfügung stellt, ist auf ungewisser Mission in der turkmenischen Wüste, während sie im Kindbett stirbt. Die Brutalität, mit der sie erzählerisch entsorgt und ihr Tod in einen Pioniergruß überführt wird, deutet eine dunkle Seite des sowjetischen Modernisierungsprojekts an. Nur die Erinnerung kann die Traumata von Tod und Trennung überwinden. Darum ist sie in „DņanŖ so wichtig. Sie ist auch ein Zeichen gesellschaftlicher Bewusstheit. Nicht zufällig ist es gerade Ajdym, die von allen Angehörigen Dņans sich darum sorgt, wer sich dereinst an sie erinnern werde (213). Das sowjetische Projekt ermöglicht Bewusstheit und Erinnerung, ja es rettet die Menschen vor der „allgemeinen fatalen StumpfsinnigkeitŖ (128; wörtl. „bespamjatstvoŖ Ŕ Erinnerungslosigkeit). Doch gleichzeitig ist es als Modernisierungsprojekt mit dem Risiko des Gedächtnisverlusts verbunden: Der Dichter Batjuńkov wird in Ksenjas Brief zum „SchriftstellerŖ. Schlimmer noch: Konstantin Batjuńkov wurde gar nicht auf dem Vaganřkovo-Friedhof bestattet, sondern in einem Kloster bei Vologda. Es liegt wohl eine Verwechslung mit dem Agronomen Vasilij Dmitrieviĉ Batjuńkov (1868Ŕ1929) vor, einem Vorkämpfer der Industrialisie-

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Andrej Platonov

rung der sowjetischen Landwirtschaft, dessen Grab sich tatsächlich dort befindet.55 Poesie wird mit Prosa überschrieben, Prosa mit Landwirtschaft und Elektrifizierung. Man kann in diesem Fehler Ksenjas eine ironische mise en abyme des Platonovschen Schaffensprojekts lesen, doch es bleibt die Problematik eines Gedächtnisdefekts, der umso dramatischer ist, als er sich auf einen Friedhof bezieht Ŕ einen für den „FedorovianerŖ56 Platonov besonders sensiblen Ort.57 Das in „DņanŖ geschilderte Modernisierungsprojekt erschöpft sich nicht in seiner biopolitischen Dimension: Ernährung, Fortpflanzung und Ökonomie sind nur unabdingbare Voraussetzung für eine weitere, wichtigere Dimension von Gemeinschaftlichkeit: „Die Menschen ernähren einander nicht nur durch Brot, sondern auch durch die Seele, indem sie einander fühlen und vorstellenŖ (221). Platonov kann dieses Konzept von Vergemeinschaftung entwickeln, weil er in der erzählten Welt seines Textes eine Gemeinschaft gewissermaßen von Null auf konstruiert. Dabei dient ihm das Gedankenexperiment der anthropologischen Nullstufe in der turkmenischen Wüste nicht etwa zur Kappung historischer und ökonomischer Bezüge und Entwicklungen. Im Gegenteil: Es ermöglicht ihm, diese in Reinkultur narrativ nachzuvollziehen. So wird etwa die feudale Vergangenheit des Volkes Dņan ganz im Einklang mit der marxistisch-leninistischen Theorie durchdekliniert. Die „SeeleŖ macht Platonov programmatisch zu einer sozialistischen Kategorie: Der Name „DņanŖ sei ursprünglich von den „GroßbauernŖ (bai)58 verwendet worden. Es sei ein Spottwort gewesen, mit dem diese sich über die Armen lustig gemacht hätten, die nur ihre Seele hatten, das heißt die Fähigkeit „zu fühlen und zu leidenŖ (230). Die Großbauern selbst seien aber an ihrem Mangel an džan zugrundegegangen, weil sie nicht zu Gefühlen in der Lage gewesen seien (230). Die Bedeutung des „einander Fühlens und des einander VorstellensŖ für den Prozess der politischen Vergemeinschaftung entwickelt Platonov aus dieser exemplarischen Legende von der Rettung eines verlorenen Volkes ganz am geographischen und historischen Rand des sowjetischen Projekts. Dieser gegen den Widerstand mythisch-dämonischer Kräfte am „Grund der HölleŖ (210) errichtete, beseelte Kommunismus ist eine Utopie in der Utopie, die sich auf das sowjetische Projekt als Ganzes zurückbezieht. Wenn das sowjetische Projekt die zentralasiatischen Räume und ihre Völkerschaften kolonisiert, so kolonisiert wiederum die Seele „DņansŖ das sowjetische Projekt. Erst wenn die Ingenieure von der Höhe ihres Verstands hinabgestiegen sind und ihre Seele entdeckt haben, gilt der Satz, mit dem Ĉagataev sich ganz am Anfang seiner Mission aufmuntert: „Das Leben ist immer möglich und das Glück unverzüglich verfügbarŖ (144).

Daniel Henseler

Konstantin Paustovskij: Sneg (Schnee) In seiner Erzählung „SnegŖ aus dem Jahr 1943 gestaltet Konstantin Paustovskij in diskretem, lyrischem Stil die vordergründig eher zufällige Begegnung zweier Menschen, in der jedoch die Möglichkeit angedeutet wird, dass sie sich zu einem schicksalshaften Neuanfang für die Beteiligten entwickeln wird. Fernab des Kriegsgeschehens, in einem Städtchen in Russlands Norden, lebt die Moskauer Sängerin Tatřjana Petrovna mit Varja, ihrer kleinen Tochter aus einer früheren „missglückten EheŖ (58), im Haus des alten Potapov, wo sie nach ihrer Evakuierung aus dem unsicher gewordenen Moskau einquartiert wurde. Zu Beginn der Erzählung ist Potapov eben verstorben, doch von seinem Sohn Nikolaj, der bei der Schwarzmeerflotte dient, treffen Briefe an den Vater ein. Nikolajs Foto steht auf dem Flügel, und Tatřjana meint die ganze Zeit über, sie sei ihm bereits irgendwo begegnet. Eines Nachts erwacht sie und öffnet einen der Briefe Nikolajs. Dieser liegt mit leichten Verletzungen in einem Spital und schildert in seinem Brief eine Art Vision, wie er das Haus vorfinden möchte, sobald er zu seinem Vater zurückgekehrt sein wird: Der Weg zum Häuschen wird vom Schnee gesäubert sein, der Ofen eingeschaltet, der Flügel gestimmt, das Glöckchen an der Pforte repariert. Tatřjana Petrovna beginnt daraufhin, im Haus Hand anzulegen und dieses langsam zu verändern, damit es genauso aussieht, wie Nikolaj es sich in seinem Brief vorgestellt hat. Als dieser wenig später für einen kurzen Urlaub im Städtchen eintrifft, erfährt er bereits vom Stationsvorsteher, dass sein Vater nicht mehr am Leben ist. Zuerst will er gleich wieder umkehren, dann betritt er aber doch den verschneiten Garten seines Vaterhauses, wo er bereits von Tatřjana erwartet wird Ŕ als hätte sie geahnt, dass er gerade jetzt zu Besuch kommt. Sie bittet ihn ins Haus. Nikolaj bemerkt, dass alles genau so ist, wie er es sich gewünscht hat. Als Tatřjana ihm eröffnet, dass sie ihn zu kennen glaube, aber nicht wisse woher, erwidert er bloß „Ja, das ist möglichŖ, um darauf hinzuzufügen, er könne sich nicht erinnern (63). Am nächsten Morgen begleitet sie ihn zum Bahnhof und bittet ihn zum Abschied, er möge ihr schreiben: „Wir sind jetzt wie Verwandte. Nicht wahr?Ŗ (64). Noch von unterwegs schreibt Nikolaj Potapov an Tatřjana: „Ich habe mich natürlich erinnert, wo wir einander begegnet sind, [...] doch ich wollte mit Ihnen dort, zu Hause, nicht darüber sprechen. Erinnern Sie sich an die Krim, im Jahr siebenundzwanzig? Es war Herbst. [...] Ich war unterwegs auf dem Fußweg nach Oreanda. Auf einer Bank am Wegrand saß ein junges Mädchen. Es war wohl sechzehn Jahre alt. Es erblickte mich, stand auf und kam mir entgegen. [...] Es ging schnell und leicht an mir vorüber, ein geöffnetes Buch in der Hand. Ich blieb stehen und schaute ihm lange nach. Dieses Mädchen waren Sie. Ich

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Konstantin Paustovskij

konnte mich nicht täuschen. Ich schaute Ihnen nach und fühlte, dass eine Frau an mir vorbeigegangen war, die mein ganzes Leben zerstören, mir aber auch ein großes Glück bescheren konnte. [...] Und wenn alles gut endet und Sie mein Leben brauchen, dann gehört es natürlich IhnenŖ (64 f.). Tatřjana aber begreift: „Mein Gott, ich war gar nie auf der Krim! Nie! Aber kann denn das jetzt irgendeine Bedeutung haben? Und hat es einen Sinn, ihn davon zu überzeugen? Und mich selbst?Ŗ (65). Die Erzählung endet mit den Zeilen: „Sie lachte auf, bedeckte mit der Hand ihre Augen. Vor dem Fenster leuchtete undeutlich der Sonnenuntergang und konnte einfach nicht verlöschen.Ŗ Die Erzählung „SnegŖ kann in mehrfacher Hinsicht als typisch für Konstantin Paustovskij betrachtet werden. Dies trifft zum einen für den Stil zu, der verhalten und poetisch ist, voller Andeutungen und Aussparungen, bisweilen auch melancholisch. Es gilt aber ebenso für die Wahl einer ganzen Reihe von Themen und Motiven wie auch überhaupt für das setting der Erzählung: die große Bedeutung der Natur, die schicksalhafte Begegnung zwischen zwei Personen (hier Mann und Frau) und den „provinziellenŖ Schauplatz abseits der großen Zentren. Nicht zuletzt thematisiert „SnegŖ für Paustovskij so wichtige Probleme wie die der Phantasie, der Fiktion, der Poesie und der Kunst. Indem der Autor seine Erzählung mit einem ganzen Netz aus Verweisen auf die Märchenwelt, die Literatur sowie das künstlerische Schaffen ganz allgemein überzieht, stellt er sie in einen zusätzlichen Deutungshorizont. Michail Prińvin hat Paustovskij einmal einen „ans Kreuz der Prosa geschlagenen DichterŖ genannt.1 Entstehung, Rezeption „SnegŖ erschien zunächst 1944 in der Nummer 5/6 der Zeitschrift „OgonekŖ, wobei am Ende des Textes allerdings das Jahr 1943 angegeben ist. Nach Wolfgang Kasack, von dem eine weitergehend noch maßgebliche deutschsprachige Monografie über den Autor stammt, hat Paustovskij in ersten Nachdrucken insgesamt etwa 25 Stellen überarbeitet Ŕ meist handele es sich dabei um Streichungen von ein bis zwei Wörtern, die der „Straffung und EntsentimentalisierungŖ gedient hätten.2 Kasack gibt dann ein knappes Fazit zur Rezeption der Erzählung in der Sowjetunion: Zunächst sei sie als Kriegserzählung kritisiert worden, später habe sie aber höchstes Lob erfahren.3 Zwei gegensätzliche Ansichten mögen an dieser Stelle exemplarisch die wesentlichsten Elemente in der Rezeption der Erzählung beleuchten. Sergej Lřvov, von dem die erste Monografie über Paustovskij stammt, bemängelt unter anderem, die Figuren der Geschichte befänden sich außerhalb der harten Realität ihrer Zeit, sie seien sowohl von den realen drohenden Gefahren der Front als auch vom realen schweren Unglück des Hinterlands losgelöst und würden keine innere Anteilnahme hervorrufen. Die Erzählung sei „nicht wahrheitsgetreuŖ.4 Ein weiterer Vorwurf Lřvovs zielt auf das „bedingt-romantische SujetŖ, wobei er zu dem Schluss kommt: „Wahrlich, in der prosaischen Tranfunzel, bei deren Licht in den Kriegsjahren so viele Begegnungen und Trennungen stattfanden, brennt

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eine weitaus heißere Flamme als in den spiralförmig gewundenen Kerzen dieser Erzählung.Ŗ5 Lřvov steht mit seiner Kritik auf einer der Hauptangriffslinien gegenüber Paustovskij, die in der Hinwendung zum Romantischen eine Flucht vor der Realität sieht.6 In expliziter Abgrenzung von Lřvov versuchte Vasilij Ilřin die Erzählung „SnegŖ zu verteidigen. Er argumentiert, ihre wichtigste Funktion sei ästhetischer Natur; dagegen sei die „erkenntnistechnische FunktionŖ nur von geringer Bedeutung. Ilřin fügt hinzu, der Text habe damals ganz den seelischen Bedürfnissen der Menschen in der Kriegszeit entsprochen, die sich nach der Heimat und nach ihren Lieben gesehnt hätten.7 Doch selbst dieser Autor kann sich kritischer Töne nicht enthalten. Er meint, der Text könne einem heute, das heißt 1967, ein wenig „süßlich, sentimentalŖ vorkommen; dann aber rückt auch er ihn wieder in die Nähe beliebter Frontlieder.8 Die Erzählung „SnegŖ ist mehrmals ins Deutsche übersetzt worden.9 Im Jahr 2003 wurde sie unter dem Titel „Vas budu ņdatř jaŖ (Ich werde auf Sie warten) von Konstantin Chudjakov verfilmt, und zwar im Rahmen einer „MiniserieŖ, die unter dem Obertitel „Ostrov bez ljubviŖ (Insel ohne Liebe) insgesamt sechs Erzählungen verschiedener Autoren filmisch umsetzt.10 Aufbau, Struktur und Erzählperspektive „SnegŖ umfasst insgesamt nur etwa acht Seiten. Eine Unterteilung in Kapitel, die als solche markiert und/oder gar betitelt sind, kennt die Erzählung nicht. Es lassen sich jedoch sechs, durch eine jeweils eingefügte Leerzeile allerdings nur schwach markierte Teile ausmachen. Diese Teile zeichnen zugleich das Grobgerüst der Handlung nach. Im ersten Teil (57−58) findet die Exposition statt: Der Ort wird benannt, die Figuren werden eingeführt, und ihre Vorgeschichte wird kurz dargestellt. Teil 2 (59) ist fast ganz das Zitat eines Briefs11 von Nikolaj Potapov an seinen Vater. Es ist der erste Brief Nikolajs, den Tatřjana liest Ŕ sie hat ihn zufällig aus dem Stapel gezogen. Darin entwirft Nikolaj seine oben bereits erwähnte „VisionŖ vom Vaterhaus. Im dritten Teil (59−60) bereitet Tatřjana die Wohnung für Nikolajs Besuch vor. Teil 4 (60−64) Ŕ mit Abstand der längste Teil der Erzählung Ŕ schildert Nikolajs Besuch im Vaterhaus und seine Begegnung mit Tatřjana. Dieser Abschnitt wird durch Nikolajs Ankunft und Abreise umrahmt.12 Der fünfte Teil zitiert wiederum einen Brief Nikolajs (64Ŕ65); es handelt sich um jenen Brief, den er noch auf der Rückreise in den Dienst an Tatřjana verfasst hat. Der sechste, nur wenige Zeilen lange Teil berichtet schließlich von Tatřjanas Reaktion auf Nikolajs „HeiratsantragŖ in diesem Brief (65). Anhand der sechs Teile oder Abschnitte schält sich also eine klar ersichtliche Struktur heraus. Ihre beiden wichtigsten Merkmale lassen sich wie folgt umschreiben: Die beiden Teile 3 und 4 (Vorbereitung der Begegnung sowie Begegnung zwischen Tatřjana und Nikolaj) bilden die Mitte und zugleich den Hauptteil der Erzählung, der grob geschätzt etwa Zweidrittel des Textes ausmacht. Umrahmt wird diese Mitte durch zwei Briefe, von denen der erste eine auslösende Funktion hat, da er die Handlung in Gang bringt; denn Tatřjana wird nach der Lektüre

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Konstantin Paustovskij

im Haus aktiv. Der zweite Brief hingegen besiegelt dann in gewisser Hinsicht den Bund zwischen den beiden Personen Ŕ zumindest drückt er den Wunsch von Seiten Nikolajs aus, dass die Verbindung zwischen ihnen zustande kommen möge. Insgesamt erhält der Text dadurch einen deutlichen Spannungsaufbau und in diesem Sinne Ŕ bei allen lyrisch-poetischen Elementen Ŕ eine vorwiegend dramatische Struktur.13 „SnegŖ kennt keine auktoriale Erzählinstanz, die das Geschehen berichten Ŕ und allenfalls kommentieren Ŕ würde; das Erzählen ist an die Perspektive der handelnden Figuren gebunden. Was nun diese Erzählperspektive betrifft, so ist innerhalb des Textes eine interessante Entwicklung zu verfolgen: In den Teilen 1 und 3 wird fast ausschließlich aus der Sicht Tatřjanas erzählt, ebenso im Teil 6. Dies verwundert kaum; denn Nikolaj ist in den betreffenden Szenen nicht anwesend. Teil 4 allerdings, und damit auch das Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren insgesamt, wird aus der Perspektive Nikolajs geschildert. Gerade in diesem Perspektivenwechsel entsteht ein großer Teil des besonderen Reizes wie auch der Spannung der Erzählung. Nachdem Tatřjana das Haus im Hinblick auf das erwartete Eintreffen Nikolajs vorbereitet hat, erleben wir als Leser in Teil 4 nun die Gewöhnung Potapovs an diese neuen Gegebenheiten, die sehr langsam, diskret und schrittweise erfolgt. In gewissem Sinn könnte man bei „SnegŖ gar von zwei Erzählungen sprechen, gemäß den beiden Geschichten, die hier (vorerst) parallel zueinander verlaufen: Das Schicksal zweier Menschen wird allmählich zusammengeführt, wobei aber keine Synchronie aufgebaut, sondern zunächst eher eine Diskrepanz installiert wird. Während Tatřjana aus den von ihr geöffneten Briefen von Nikolajs bevorstehendem Urlaub weiß und Garten und Haus entsprechend vorbereitet, ist Nikolaj vorerst völlig ahnungslos. Er hat weder Kenntnis vom Tod seines Vaters noch davon, dass im Haus eine fremde Frau einquartiert worden ist. Die bloße Anlage des plots droht ihn also in gewisser Hinsicht zu „überrumpelnŖ. Durch die Verschiebung der Perspektive auf Nikolaj in Teil 4 erreicht Paustovskij jedoch innerhalb des an und für sich dramatischen Spannungsbogens eine Verlangsamung des Erzählens: Nikolaj wird Raum gegeben, um sich in die neuen, für ihn unerwarteten Umstände einzufinden. Das Retardierende in diesem Abschnitt erscheint noch dadurch verstärkt, dass hier das „RätselŖ hinsichtlich einer früheren Begegnung der Protagonisten von Tatřjana zwar angespochen, jedoch nicht gelöst wird. Als Nikolaj sich dann anschickt, wieder abzureisen, scheint die Geschichte für einen Augenblick gar von einem „AbbruchŖ bedroht. Es ist an dieser Stelle ungewiss, ob die beiden überhaupt wieder zusammentreffen werden Ŕ es scheint vor dem Hintergrund des Kriegs sogar eher unwahrscheinlich. Was die Perspektive betrifft, so muss allerdings noch eine wichtige Einschränkung vorgenommen werden: Diese verschiebt sich nämlich an zwei Stellen für einen kurzen Moment auf Varja, Tatřjanas kleine Tochter, wie noch genauer zu zeigen sein wird.

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Themen und Motive der Erzählung Als Hauptthema der Erzählung könnte man allgemein die schicksalhafte Begegnung zwischen zwei Personen bezeichnen. Etwas präziser ausgedrückt, handelt „SnegŖ aber auch vom ganzen Spektrum der Möglichkeiten, die im vordergründig zufälligen Kreuzen zweier Lebenswege angelegt sind. Zunächst scheint jedes Szenario denkbar: Die kurze Begegnung könnte mit der Abreise des Helden in einen endgültigen Abschied münden. Am Schluss der Erzählung ist jedoch die gegenteilige Entwicklung wahrscheinlicher geworden: Es wird suggeriert, dass aus dem Zusammentreffen von Tatřjana und Nikolaj eine neue Liebe erwachsen könnte. Eine wichtige Rolle spielen in der Erzählung die Natur, darunter vor allem der Schnee, aber auch die Gegensätze Norden vs. Süden sowie Zentrum vs. Provinz (oder große vs. kleine Welt).14 Dass der Natur in Paustovskijs Texten generell ein großer Stellenwert zukommt, ist ein Gemeinplatz der Forschung. Lev Levickij spricht von einer „künstlerischen NaturkundeŖ, die der Autor betreibe; diese vereine in sich Elemente von Wissenschaft und Kunst, von analytischer Forschung und künstlerischer Gestaltung.15 Die Präsenz der Natur zeigt sich bei Paustovskij auf verschiedene Weise, etwa in der Wahl der Schauplätze, dazu im Interesse für die Tier- und Pflanzenwelt sowie schließlich in der Natursymbolik. In „SnegŖ werden unter anderem Vögel (Dohlen) und Birken thematisiert. Als wichtigstes Motiv verdient aber besonders das Wort „snegŖ (Schnee) Beachtung, dem die Erzählung ihren Titel verdankt. Es erscheint im Text insgesamt zehnmal (der Titel inbegriffen). Je einmal finden sich darüber hinaus die verwandten Begriffe „sneņokŖ bzw. „sneņnyjŖ.16 Das semantische Feld „snegŖ („sneņokŖ, „sneņnyjŖ) gibt gewissermaßen die „FarbeŖ der Erzählung wie auch die Jahreszeit des Geschehens an. Es fällt auf, dass das Motiv des Schnees meistens in Verbindung mit Tatřjana verwendet wird, und zwar unabhängig davon, ob dies nun aus ihrer eigenen Perspektive oder aber derjenigen Nikolajs geschieht. Einige Beispiele: Tatřjana fühlt sich in der Kleinstadt anfänglich fremd; allmählich beginnt sie sich jedoch an das neue Leben zu gewöhnen. An dieser Stelle wird das Wort „SchneeŖ in der Erzählung zum ersten Mal verwendet: „Das Städtchen begann ihr sogar zu gefallen, besonders als der Winter kam und es mit Schnee zuschütteteŖ (57). Später wird der Schnee dreimal in Verbindung mit Tatřjanas Blick aus dem Fenster erwähnt. Auch hier sind es jeweils entscheidende Momente der Erzählung: Als Tatřjana nachts erwacht, schimmern die Schneemassen matt durch das Fenster (58). Wenige Zeilen später schaut sie erneut durch das Fenster: „Vom Baum riss sich lautlos ein Vogel los und schüttelte den Schnee abŖ (58). Unmittelbar nach dieser Szene öffnet Tatřjana einen ersten Brief Nikolajs. Schließlich blickt sie ganz am Schluss wiederum durch das Fenster in den „SchneegartenŖ (65), und zwar, nachdem sie Nikolajs Brief von der Rückreise in den Dienst gelesen hat. Im Mittelteil der Erzählung, als Nikolaj zu Besuch kommt, nimmt er Tatřjana zweimal in Verbindung mit dem Schnee wahr. Wiederum betrifft es eine Schlüs-

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selszene: Nikolaj hat gerade den Garten betreten, als er Tatřjana zum ersten Mal erblickt. „Auf ihren Wimpern und Wangen taute der Schnee, der wohl von den Zweigen gefallen warŖ (62). Nur wenig später beobachtet er, wie Tatřjana den Schnee von ihren Stiefeln stampft (62). Darauf erklingt aus dem Hausflur das Glöckchen. Der Schnee erscheint darüber hinaus aber auch in Nikolajs Brief, in dem er seine „VisionŖ von der Rückkehr ins Vaterhaus entwirft: „Es ist Winter, es liegt Schnee, doch der Weg zur alten Laube über den Abhang ist freigelegtŖ (59). Nach seiner Ankunft wird Nikolaj Potapov diesen Ort genau so vorfinden: „Von den Zweigen riss sich Schnee los und raschelte. Potapov sah sich um. Zur Laube führte ein Weg, der vom Schnee gesäubert worden warŖ (62). Es erhebt sich selbstverständlich die Frage nach der Funktion des Schneemotivs im ganzen Text. Eine Antwort hierauf ist relativ komplex. Zunächst bildet der Schnee Ŕ unabhängig von seiner Symbolik Ŕ als Leitmotiv eine Art Klammer für die Erzählung. Vom symbolischen Gehalt her kann er ganz allgemein für Reinheit und Keuschheit stehen. In diesem Sinne bereitet er den Boden für die Handlung: Der Schauplatz wird gewissermaßen „gereinigtŖ, indem die Vergangenheit und damit mögliche problematische Vorgeschichten überdeckt werden. Das erwartete Zusammentreffen von Tatřjana und Nikolaj wird so in einen günstigen Rahmen gestellt. Im Weiteren steht der Schnee auch für das Unspektakuläre, das Friedliche, die Ruhe, die aber auch mögliche Emotionen vorerst dämpft und unter Verschluss hält. Damit trägt der Schnee als Motiv ganz wesentlich zum verhaltenen, poetischen Stil der Erzählung bei. Betrachtet man die angeführten Beispiele näher, lassen sich noch ein paar weitere Elemente für eine Deutung des Motivs ausmachen: Der tauende Schnee auf Tatřjanas Wimpern weist bereits auf die kommende Annäherung der beiden hin. Damit verbunden ist im übrigen die Tatsache, dass die Heldin im Verlauf der Geschichte geradezu „auftautŖ: Sie wird „rotbäckig, betriebsamŖ (60), nachdem sie aufgrund von Nikolajs erstem Brief beschlossen hat, das Haus für seine Ankunft vorzubereiten. Der vom Schnee befreite Weg zum Haus bahnt überdies eine neue Lebensspur, die sich für Nikolaj und Tatřjana abzeichnet: zunächst freilich nur imaginär (in Nikolajs „fiktiverŖ Vision), später aber auch in der Wirklichkeit, als Nikolaj und Tatřjana zusammentreffen. Gerade mit Bezug auf diesen letztgenannten Punkt lässt sich als Fazit festhalten, dass der Schnee als Leitmotiv die Begegnung von Tatřjana und Nikolaj vorbereitet und sie begleitet sowie schließlich den Bund zwischen den beiden, der zum Schluss nur als eine, wenn auch wahrscheinliche Möglichkeit angedeutet wird, legitimiert. Ein weiteres wichtiges Motiv ist Ŕ wenn auch eher angedeutet als ausgeführt Ŕ der Gegensatz zwischen Norden und Süden. Nur der nördliche Pol wird als solcher konkret benannt: Potapovs Haus befindet sich an einem „nördlichen FlussŖ in einer Kleinstadt (57), wie zu Beginn der Erzählung mitgeteilt wird.17 Präziser wird der Text nicht, doch der unmittelbare und als solcher auch direkt benannte Bezugspunkt ist Moskau, das Tatřjana hinter sich gelassen hat. „NördlichŖ heißt also in diesem Kontext nördlich von Moskau. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird zum nördlichen Städtchen eine Opposition mit dem Süden aufgebaut,

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der allerdings nie namentlich mit diesem Begriff benannt wird. Wir erfahren immerhin, dass Nikolaj in der Schwarzmeerflotte dient (58). Insbesondere aber wird die Krim evoziert, wo NikolajŔ gemäß den Angaben in seinem Brief Ŕ Tatřjana angeblich vor Jahren schon getroffen haben will. Da die Krim im sowjetischen und russischen Kontext in der Regel überwiegend mit Sommer und Urlaub assoziiert wird, erweitert sich die Opposition Norden vs. Süden um die Komponenten Winter vs. Sommer sowie kalt vs. warm. Damit wird indirekt noch einmal das Thema Schnee vs. Schneeschmelze aufgenommen. In dem damit abgesteckten Komplex ist indes vor allem auch Tatřjanas Gefühlslage aufgehoben: Tatřjana, die zu Beginn der Erzählung nach einer unglücklichen Ehe und in Zeiten des Krieges eben erst in die Kleinstadt gekommen ist, bereut anfänglich, das lebendige und interessante Moskau verlassen zu haben, und kann sich mit den neuen Gegebenheiten nicht abfinden. Zunächst führt sie ein bescheidenes, ruhiges Leben, ohne besondere, jedenfalls ohne „privateŖ, Emotionen. Durch den Brief sowie den Besuch Nikolajs aus dem Süden dringt dann aber der „wärmendeŖ Pol in ihr Leben ein Ŕ sie selbst und ihre Gefühle erwachen. Eine Opposition zwischen Norden und Süden findet sich übrigens auch in Anton Ĉechovs berühmter Erzählung „Dama s sobaĉkojŖ (Die Dame mit dem Hündchen), von der noch die Rede sein wird. Mit dem Gegensatz Norden vs. Süden steht ein weiterer Kontrast in einem engen Bezug. Der Ort der Handlung, die Kleinstadt, hebt sich von Moskau ab und begründet dadurch auch eine Opposition zwischen Hauptstadt und Provinz, zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Tatřjana erlebt das Städtchen unmittelbar nach ihrer Ankunft als „ödeŖ (57), die stillen Abende scheinen ihr nicht zu behagen. Dagegen steht Moskau für das Theater, für die Freunde (57). Allerdings ist anzumerken, dass Tatřjana Moskau freiwillig verlassen hat. Sie ist vor den Luftangriffen geflohen und hat besonders ihre kleine Tochter in Sicherheit bringen wollen. Der Gegensatz Hauptstadt vs. Provinz wird jedoch schon bald abgeschwächt. Insgesamt dreimal verwendet Paustovskij auf den ersten Seiten das Verb „sich gewöhnenŖ, etwa in folgender Stelle: „Tatřjana Petrovna gewöhnte sich sowohl an das Städtchen als auch an das fremde Haus. Sie gewöhnte sich an den verstimmten Flügel, an die vergilbten Fotografien an den Wänden, mit klobigen Panzerkreuzern der KüstenverteidigungŖ (58). Hier wird Tatřjana also bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Handlung auf ein mögliches neues Leben vorbereitet: Sie schickt sich in ihre neue Situation. Über die hier evozierte Linie Städtchen Ŕ Haus Ŕ Fotos wird sie aber auch an die Privatsphäre Nikolaj Potapovs herangeführt. Aus dem lärmigen und von Bombenangriffen bedrohten Moskau ist Tatřjana in einer neuen Intimität angelangt, aus der heraus sich später eine neue Geschichte entwickeln wird. Der Gegensatz Hauptstadt vs. Provinz verschwindet freilich nicht ganz. Er findet seinen Widerhall in einer weiteren Opposition, die man mit nationale Geschichte (Krieg) vs. privates Glück umschreiben könnte, worauf am Schluss eingegangen wird.

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Die Fiktion in der Wirklichkeit Für das weitere Verständnis der Erzählung „SnegŖ ist es nun wichtig, einen Themenkomplex genauer in den Blick zu fassen, den man als die Präsenz des Fiktiven bezeichnen könnte. Verschiedene Elemente spielen hier mit: Die Kunst (darunter besonders Musik und Literatur) ist ein zentrales Thema der Erzählung. Aufgehoben ist dieses allerdings in einer größeren Dimension, die man mit „Fiktion in der WirklichkeitŖ überschreiben könnte. Sie umfasst auch Anspielungen auf das Märchen sowie das Thema der Macht der Phantasie. Gerade die Präsenz einer metapoetischen Ebene ist für Paustovskij insgesamt charakteristisch; sie ist unter anderem ein grundlegendes Kennzeichen seiner „poetisierten AutobiographieŖ in sechs Bänden „Povestř o ņizniŖ (Erzählung vom Leben). Ich versuche, diesen komplexen Bereich aufzuteilen und der Reihe nach die einzelnen Elemente näher zu betrachten: Literatur, Musik, Märchen sowie Fiktion in der Wirklichkeit. a) Literatur Die Literatur findet in „SnegŖ auf zwei verschiedene Arten ihren Niederschlag. Zum einen wird mehrfach auf konkrete literarische Werke angespielt18, zum anderen ist aber auch die Macht der Phantasie, des Fiktiven an sich, von großer Bedeutung für die Erzählung. In dem Brief an den Vater, den Tatřjana als ersten öffnet, erwähnt Nikolaj in seiner Vision auch die Klaviernoten, die auf dem Flügel liegen werden: „die Ouvertüre zu ,Pique Dameʻ und die Romanze ,Für die Ufer der fernen HeimatřŖ (59).19 Hier wird gleich in doppelter Weise auf die wichtigste Autorität der russischen Literatur angespielt: Sowohl die Novelle „Pikovaja damaŖ, auf der Ĉajkovskijs bekannte Oper basiert, als auch der Gedichttext zum erwähnten Lied stammen von Aleksandr Puńkin, dem „NationaldichterŖ Russlands. Die Bedeutung dieser Stelle scheint vor allem darin zu liegen, dass Nikolaj Ŕ und auf einer höheren Ebene: der Autor Paustovskij Ŕ hier die Welt der Kunst, und zwar gleich in der Verbindung von Musik und Literatur Ŕ deutlich und unmissverständlich einführt. Da ja auch sein Brief mit der Vision vom Vaterhaus eine Art „FiktionŖ (im Sinne einer entworfenen, ausgedachten Welt) beinhaltet, wird Nikolaj also bereits früh in einen deutlichen Bezug zum Thema der Phantasie gebracht. Im selben Brief stellt er sich weiterhin vor, wie er nach seiner Rückkehr ins Städtchen den Garten des Hauses betreten wird: „Ich schließe die Augen und sehe dann: Da öffne ich die Pforte und trete in den GartenŖ (59). Als er anlässlich seines Besuches im Vaterhaus tatsächlich den Garten betritt, heißt es: „Er öffnete vorsichtig die Pforte, aber sie knarrte trotzdemŖ (61). Diese Stelle spielt auf eine weitere Romanze an, die den Titel „KalitkaŖ (Die Pforte), trägt. Darin heißt es: „Öffne vorsichtig die Pforte / und trete wie ein Schatten in den ruhigen Garten.Ŗ20 In diesem Lied richtet sich zwar ein Mann an eine Frau, dennoch gibt es eine wichtige Übereinstimmung mit dem plot der Erzählung „SnegŖ; denn der Sprecher des Gedichts verspricht dieser Frau, er werde „unmittelbar an der Schwelle

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der GartenlaubeŖ auf sie warten. In der Gartenlaube treffen in „SnegŖ aber auch Tatřjana und Nikolaj zum ersten Mal aufeinander: „Potapov ging zur Laube, legte die Hände auf das ziemlich alte Geländer [...]. Jemand berührte Potapov vorsichtig an der SchulterŖ (62) Ŕ es ist Tatřjana.21 Im zweiten in der Erzählung zitierten Brief Nikolajs schreibt dieser auf seiner Rückreise in den Dienst an Tatřjana: „Aber das Leben hat sich mir gnädig gezeigt. Ich habe Sie getroffenŖ (65). Damit fasst der Schreiber in knappen Worten die Begegnung mit Tatřjana zusammen. In der vordergründig banalen Zeile „Ich habe Sie getroffenŖ steckt allerdings eine weitere Anspielung auf die Literatur, nämlich an das berühmte, anthologische Gedicht Fedor Tjutĉevs „K B.Ŗ (An B., 1870), das mit den gleichen Worten beginnt.22 Ein genauerer Blick auf Tjutĉevs Gedicht, das in der Vertonung von Leonid Malańkin zu einer der bekanntesten russischen Romanzen überhaupt geworden ist, lohnt sich. In ihr beschreibt ein männliches lyrisches Ich seine nach langen Jahren zustande kommende Begegnung mit einer Frau, die er einst geliebt hat. In wörtlicher Übersetzung: „Ich habe Sie getroffen Ŕ und alles Gewesene / ist im verlebten Herz wieder aufgelebt.Ŗ Der Sprecher des Gedichts schließt: „Und in meiner Seele wieder dieselbe LiebeŖ. Abgesehen von der an und für sich schon bezeichnenden Tatsache, dass das Gedicht mit dem Wort „LiebeŖ endet, schildert Nikolaj im Brief mit Hilfe von Tjutĉevs Versen seine eigene Geschichte der Begegnung mit Tatřjana Ŕ freilich zu einem gewissen Teil als Fiktion, da ja die frühere Begegnung zwischen ihm und Tatřjana auf der Krim offensichtlich gar nicht stattgefunden hat. Gerade mit Hilfe der Fiktion legitimiert und begründet aber Nikolaj seine Liebeserklärung; mehr noch, er stellt sie als schicksalhaft und unausweichlich dar. Es ist sicher, dass die Sängerin Tatřjana diese Romanze und ihren Text kennt Ŕ dass sie also die Botschaft vernehmen und verstehen wird. Wahrscheinlich darf schließlich auch die Stelle kurz davor in Nikolajs Brief in einen Zusammenhang mit der literarischen Tradition gebracht werden: Als Nikolaj schildert, wo er Tatřjana vor Jahren auf der Krim getroffen haben will, erwähnt er Oreanda. Dies ist nun genau der Ort, wo die beiden Hauptgestalten Anna und Gurov in Ĉechovs „Dama s sobaĉkojŖ einander näher kommen, und zwar ebenfalls auf einer Bank im Park.23 Nikolaj bemüht hier ein weiteres Mal die Fiktion. Vielleicht ist die betreffende Stelle in seinem Brief damit ein indirektes Eingeständnis dessen, dass seine ganze Darstellung des damaligen Zusammentreffens zwischen ihm und Tatřjana nichts als Erfindung, „FiktionŖ, ist. Die Fiktion spurt aber das vor, was Wirklichkeit werden könnte. Ĉechovs Anna und Gurov können selber entscheiden: ob ihr Zusammentreffen für sie zum Schicksal werden soll oder nicht. b) Musik Aufs engste mit der Literatur verflochten ist in „SnegŖ die Musik, wie die bisherigen Überlegungen teilweise bereits aufgezeigt haben. Während Nikolaj sich Tatřjana mit Hilfe der Literatur annähert, ist diese als Sängerin von Natur aus

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der Welt der Musik zugeordnet. Über die Gattung der „RomanzeŖ, die Wort und Musik miteinander verbindet, werden die beiden Figuren zusammengeführt. Dabei spielt auch der Flügel, der im Haus der Potapovs steht, eine wichtige Rolle. Als Tatřjana anfängt, das Haus herzurichten, lässt sie einen Klavierstimmer kommen Ŕ ein höchst symbolischer Akt. Damit wird nicht nur der Flügel in Ordnung gebracht, sondern auch die Kunst ermöglicht. Tatřjana „stimmtŖ zugleich die Atmosphäre an und für sich. Sie bereitet den Flügel, und sie bereitet sich, das Haus Ŕ und wenn man so will: den „TextŖ Ŕ für das weitere Geschehen vor. In gewisser Hinsicht kann auch das Glöckchen über der Haustür der Welt der Töne zugeordnet werden. Nikolaj Potapov erwähnt dieses in der Vision in seinem Brief. Das geschieht unmittelbar nachdem er die Klaviernoten angesprochen hat: „Läutet jetzt das Glöckchen an der Tür? Ich habe es ja nicht mehr geschafft, es zu reparierenŖ (59). Das Glöckchen wird insgesamt sechsmal genannt. Tatřjana repariert es eigenhändig (59 f.), testet es danach mit Erfolg, was den Kater Archip vertreibt (60), und es erklingt wiederum, als Nikolaj während seines Urlaubs das Haus betritt (62). Auch hier kann man argumentieren, dass Tatřjana Ŕ die für die Musik steht Ŕ das Glöckchen „gestimmtŖ hat und dass damit das Aufeinandertreffen dieser beiden Protagonisten vorbereitet und begleitet wird. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass das Volk im alten Russland glaubte, der Glockenklang könne vor den bösen Mächten schützen. Im Stimmen des Flügels (also dem Vorbereiten der Atmosphäre), im Reparieren der Türglocke (dem Zurückweisen negativer Einflüsse), im Herrichten der Laube (als Ort der Begegnung) sowie schließlich im Reinigen des Hauses (der künftigen Heimstatt?) steckt das ganze Potential eines magischen Rituals, das die Begegnung Tatřjanas und Nikolajs nicht nur vorbereitet und begleitet, sondern auch als schicksalhaft und geradezu unausweichlich erscheinen lässt. c) Die Märchenwelt Das Bestreben des gesamten Textes, eine Begegnung zwischen zwei Menschen mit Hilfe der „schöngeistigenŖ Literatur und der Musik als nahezu notwendig zu erweisen, wird noch durch viele weitere Verweise auf Märchen unterstrichen. Dies betrifft ebenso eine abstrakte „MärchenweltŖ an sich wie auch die konkrete Form eines der klassischen Märchen. Insgesamt scheint auch dieses Netz aus Märchenelementen in „SnegŖ wie eine Art Beschwörung zu funktionieren, die wiederum das zentrale Ereignis der Begegnung in der Fiktion „vorspieltŖ oder „durchspieltŖ und damit eine Vereinigung in der Wirklichkeit umso wahrscheinlicher macht. Die Erzählung enthält eine ganze Reihe von Bausteinen, denen man in Märchen immer wieder begegnet: Das Haus steht auf einem Berg (57) über einem Fluss. Dies erinnert an das oft abgehobene, möglicherweise schwer zugängliche Schloss im Märchen. Im Schloss lebt in der Regel eine Frau, die Prinzessin, zu der sich ein Mann, ein Recke, ein Prinz, durchschlagen wird. Dieser muss dazu nicht selten eine sehr große Distanz überwinden, vielleicht unterwegs auch eine

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Schlacht schlagen und sich bewähren Ŕ Nikolaj dient weit weg im Süden, in der Schwarzmeerflotte, während ein geradezu apokalyptischer Krieg im Gange ist. In anderer Hinsicht wird Tatřjana durch den ersten Brief Nikolajs gewissermaßen aufgeweckt wie nach einem langen Schlaf Ŕ sie wird aktiv, ihr Gesicht wird „rotbäckigŖ, offensichtlich erwartet sie die Ankunft eines Recken.24 Da im Märchen die Vereinigung zwischen Mann und Frau, zwischen Recke und Prinzessin, zumeist tatsächlich erfolgt, wird auch in „SnegŖ der künftige Bund zwischen Tatřjana und Nikolaj wahrscheinlicher. Er erscheint wiederum durch das Schicksal vorgezeichnet. Im Märchen treten außerdem immer wieder Helferfiguren auf. In Paustovskijs Erzählung könnte man hierfür Tatřjanas kleine Tochter Varja erwähnen, die Ŕ freilich auf Geheiß ihrer Mutter hin Ŕ das Weglein zum Haus vom Schnee befreit. Doch auch der Klavierstimmer ließe sich anführen, der, symbolisch gesprochen, die Musik wieder ermöglicht, das heißt die Kunst, somit auch die Fiktion, die in „SnegŖ der Wirklichkeit vorangeht. Neben solchen allgemeinen Märchenelementen wird aber auch auf ein konkretes Märchen angespielt. Nachdem Tatřjana begonnen hat, das Haus für den erwarteten Besuch von Nikolaj herzurichten, wird sie durch ihre Tochter Varja zurechtgewiesen: „Weshalb rührst du fremde Sachen an? [...] Mir erlaubst du es nicht, aber du selber tust es! Das Glöckchen und die Kerzen und den Flügel Ŕ alles rührst du anŖ (60). Tatřjana reagiert auf diesen Vorwurf mit den Worten: „Weil ich erwachsen binŖ. Bereits ein paar Seiten zuvor heißt es über das Töchterchen: „Überhaupt gestattete man ihr nicht, irgendetwas anzurührenŖ (58). An dieser Stelle ist die Erzählperspektive für ein erstes Mal kurz auf Varja übergegangen. Nun findet erneut ein Perspektivenwechsel statt; denn das Weitere wird wiederum aus Varjas Wahrnehmung geschildert: „Varja zog die Augenbrauen zusammen und schaute sie misstrauisch an. Jetzt glich Tatřjana Petrovna weniger denn je einer Erwachsenen. Sie schien ganz zu leuchten und glich eher jenem Mädchen mit den goldenen Haaren, das im Palast seinen kristallenen Pantoffel verloren hat. Von diesem Mädchen hatte Tatřjana Petrovna Varja selbst erzähltŖ (60). Tatřjana hat faktisch eine Grenzübertretung begangen, worauf Varja sie hinweist. Im Grunde genommen dringt sie mit dem Öffnen des Briefs in die private Welt Nikolajs ein. Man könnte, gerade auch im Kontext der Märchenlogik, argumentieren, sie begehe eine verbotene Handlung. Im Text wird suggeriert, dass ihr dies auch bewusst ist: Bevor sie zu lesen beginnt, schaut sie sich um (58), obwohl zu dieser nächtlichen Stunde kaum zu erwarten ist, dass jemand sie beobachten könnte. Andererseits beginnt Tatřjana mit diesem Akt aber auch Schicksal zu spielen. Sie wird das Leben Nikolajs (und ihr eigenes) in der Folge verändern. Indem sie in den intimen Bereich Nikolajs vordringt, macht sie sich, anders als durch die häuslichen Veränderungen, faktisch zu der Herrin des Hauses und antizipiert gleichsam eine spätere Ehe. Varja, die an dieser Stelle ihre Mutter durchschaut, fungiert dabei als Kommentatorin; sie beweist für einen kurzen Moment den Sachverstand einer Erwachsenen. Das Handeln der Mutter wird dagegen als kindlich und märchenhaft dargestellt. Wichtig ist hier jedoch vor allem die Anspielung auf das Märchen von Aschenputtel: Den „kristallenen Pan-

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toffelŖ (60) hat die Märchenheldin in Charles Perraults Version tatsächlich im Palast verloren. „SnegŖ und „AschenputtelŖ weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: die Hilfe durch fremde Figuren, die Frau, die sich auf ihren Prinzen vorbereitet, und schließlich das Motiv der Heirat, die hier allerdings vorerst nur als Möglichkeit angedeutet wird. Gerade durch die Anspielung auf „AschenputtelŖ25 findet der künftige Bund zwischen Tatřjana und Nikolaj noch einmal eine zusätzliche Legitimation. Varja trifft mit ihrer Diagnose ins Schwarze: Ihre Mutter ist gewissermaßen ins Märchen „abgewandertŖ. Das heißt aber auch, dass sie ihren Prinzen bekommen wird. Ein Bezug zum Märchen wird in „SnegŖ auch durch die Namengebung hergestellt. Michail Potapoviĉ ist im russischen Volksmärchen ein gängiger Übername für den Bär. Bereits mit den ersten Worten der Erzählung, „Der alte Potapov starb einen Monat, nachdem Tatřjana Petrovna in sein Haus gezogen warŖ (57) wird der Leser also, wenn auch zunächst noch völlig vage, auf eine märchenhafte Atmosphäre eingestimmt. Der Klavierstimmer, „ein zum Russen gewordener TschecheŖ (60), trägt den Namen „NevidalŖ, was Tatřjana sehr lustig findet. Es handelt sich um einen Nachnamen, der im Tschechischen tatsächlich existiert. Wörtlich bedeutet er „nicht gesehenŖ, „ungesehenŖ. Der Klavierstimmer ist somit in gewisser Hinsicht ein unsichtbarer Helfer, so wie das Schicksal mitunter eine Entwicklung begünstigt, ohne dass es selber sichtbar in Erscheinung tritt. Vielleicht darf man hier daher auch an die „TarnkappeŖ (ńapka-nevidimka, wörtlich die „Mütze-Sieh-nichtŖ) denken, die im russischen Märchen über die Fähigkeit verfügt, ihren Träger unsichtbar zu machen. Die ganze Welt der Fiktion ist hier, in „SnegŖ, eine unsichtbare Kraft, die die Geschichte begleitet. Über solche und ähnliche Märchenbezüge hinaus enthalten manche Namen in „SnegŖ auch eine symbolische Komponente. Nikolaus (von Myra) ist einer der wichtigsten Heiligen auch im russisch-orthodoxen Christentum. Vor der Revolution waren ihm Ŕ nach der Mutter Gottes Ŕ am häufigsten Gotteshäuser und Ikonen geweiht. In der russischen Tradition trägt er den Beinamen „ĈudotvorecŖ, der Wundertätige. Er gilt als „skoropomońĉnikŖ („SchnellhelferŖ, Nothelfer), der für vieles zuständig ist, besonders aber für Reisende, darunter Reisende auf dem Meer. Er wird auch mit dem Wasser in Zusammenhang gebracht. Die Bezüge zu dem Matrosen Nikolaj in „SnegŖ liegen somit auf der Hand. Weniger eindeutig lässt sich ein symbolhafter Gehalt von Tatřjanas Namen nachweisen.26 Immerhin kann man aber festhalten, dass sowohl Tatřjana als auch Nikolaj in Russland traditionell sehr verbreitete Vornamen sind. Sie können also durchaus für sich in Anspruch nehmen, das typisch Russische abzubilden. Und Varja schließlich ist Varvara, Barbara, die „BarbarinŖ. Dies kann allenfalls als ironischer Kommentar auf ihre Rolle in der Erzählung gelesen werden: Sie tritt zunächst ein wenig als Störenfried auf, indem sie das Handeln ihrer Mutter verurteilt. Ganz entgegen der alten griechischen Vorstellung, die in den Barbaren diejenigen sah, die Unverständliches brabbelten, ist das Kind Varja eigentlich gerade diejenige Figur in der Erzählung, die die Wahrheit erkennt und ausspricht: Sie beurteilt das

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Handeln ihrer Mutter sachlich, mit gesundem Menschenverstand, während Tatřjana gleichsam in die Welt der Fiktion verschwindet. „Fiktivnyj brak“ – eine im Fiktiven begründete Ehe Wie aufgezeigt wurde, grundieren die Verweise auf Literatur, Märchen und Musik, die Welt des Fiktiven, Ausgedachten, Irrealen also, die Erzählung „SnegŖ dergestalt, dass in ihnen ein künftiger Bund von Tatřjana und Nikolaj zusätzlich bekräftigt wird. Man könnte hier von einer „fiktiven EheŖ sprechen, von „fiktivnyj brakŖ, was im russischen Sprachgebrauch zwar für „ScheineheŖ steht, im Kontext von „SnegŖ aber ganz wörtlich zu verstehen wäre: Tatřjana und Nikolaj werden mit Hilfe und entlang der Fiktion zu einem Paar zusammengeführt. Daran haben beide ihren Anteil: Tatřjana, weil sie in Nikolajs Leben eingreift; Nikolaj, weil er in der Vision in seinem Brief die Fiktion begründet und sie im zweiten Brief bestärkt Ŕ beides jeweils mit Hilfe von Verweisen auf die Literatur. Die Macht der Imagination, und das heißt letztlich des „PoetischenŖ, kommt noch einmal besonders deutlich in dem Brief zur Geltung, den Nikolaj während seiner Rückreise in den Dienst an Tatřjana schreibt. Er schildert darin ausführlich die Umstände, unter denen man sich vor Jahren auf der Krim schon begegnet sein soll. Tatřjana ist jedoch nie auf der Krim gewesen. Wie ist das alles zu verstehen? Ŕ Es ist unwahrscheinlich, dass sich Tatřjana irrt. Der „FehlerŖ muss vielmehr bei Nikolaj zu suchen sein. Es scheint hierfür zwei mögliche Interpretationen zu geben: Vielleicht hat jene Begegnung auf der Krim tatsächlich stattgefunden, nur hat es sich dabei um eine andere junge Frau gehandelt, und Nikolaj Potapov hat sich ganz einfach getäuscht. Viel naheliegender ist jedoch folgende Lesart: Nikolaj weiß sehr wohl, dass er Tatřjana noch nicht getroffen hat. Da diese aber auf seine „FiktionŖ eingegangen ist, indem sie seine „VisionŖ vom Zuhause in die Realität umgesetzt hat, ist er seinerseits bereit, sich weiter auf die Phantasie, auf das bloß „AusgedachteŖ, zu stützen. Er „danktŖ es Tatřjana, indem er sich eine frühere Verbindung ausdenkt und damit seine eben erst vollzogene Bekanntschaft mit ihr in eine schicksalhafte „GeschichteŖ einbettet. Nikolaj pokert hier hoch; denn er muss damit rechnen, dass Tatřjana seine „LügeŖ durchschaut, doch er nimmt das bewusst in Kauf. Vielleicht bezweckt er dies sogar, um ihr gegenüber noch einmal auszudrücken, wie sehr er es schätzt, dass sie auf diese Art und Weise in sein Leben getreten ist. Seinen Brief beendet er mit den Worten: „Ja, ich habe auf dem Tisch bei Vater den geöffneten Brief von mir gefunden. Ich habe alles verstanden und kann Ihnen nur aus der Ferne dankenŖ (65). Der Brief ist selbst in poetischem Stil gehalten. Nicht von ungefähr verweist Nikolaj noch einmal auf die Macht der Fiktion, wenn er über jenes Mädchen in Oreanda berichtet, sie habe ein geöffnetes Buch in der Hand gehabt. Auch das Buch steht für die Rolle der Phantasie im Leben. Und vielleicht ist es zugleich das offene Buch des Lebens, das Schicksal Ŕ Nikolaj ist bereit, diesem Buch ein paar weitere Seiten hinzuzufügen. Tatřjanas Reaktion auf die Lektüre von Nikolajs Brief zeigt, dass sie ihrerseits einverstanden ist, die Logik der

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Phantasie, der Fiktion, der Literatur zu übernehmen. In seinem Plan für die Erzählung „SnegŖ hat Konstantin Paustovskij das Stichwort geliefert, das dies zusammenfasst: „Briefe werden zur Wirklichkeit.Ŗ27 „Sneg“ – eine Kriegserzählung Sergej Lřvov hatte an der Erzählung „SnegŖ beanstandet, sie nehme den Krieg nicht zur Kenntnis. Lev Levickij argumentierte in eine ähnliche Richtung und warf dem Autor vor, er würde „zweitklassige ProblemeŖ behandeln; der Text sei geprägt von „übermäßigem Interesse für das AlltäglicheŖ und von „DetailversessenheitŖ.28 Sophie Ollivier bilanziert, Paustovskijs Erzählungen aus der Kriegszeit seien insgesamt schlecht aufgenommen worden; man habe dem Autor unter anderem vorgeworfen, den Heroismus der Kämpfenden nicht zu sehen und sich auf unbedeutende Fakten zu konzentrieren.29 Ist „SnegŖ also keine Kriegserzählung? Dem lässt sich widersprechen. Es finden sich durchaus Bezüge zum Krieg, nur sind sie meist von indirekter Art. Bereits im Paratext kann man eine Lektüreanleitung für die Erzählung sehen: Die am Schluss genannte Jahreszahl 1943 deutet nicht nur auf die Kriegszeit an und für sich hin. Mit dem Untergang der deutschen 6. Armee in Stalingrad am Anfang jenes Jahres war im Krieg die Wende eingeleitet worden; in der Nennung des Jahres steckt somit eine gewisse Botschaft der Hoffnung, die sich als Grundstimmung durch das ganze Werk zieht. Als Tatřjana Petrovna im Städtchen einquartiert worden ist, findet sie sich mit der neuen Situation unter anderem deshalb allmählich ab, weil sie beginnt, in Lazaretten als Sängerin aufzutreten. Sie „beruhigte sichŖ (57), heißt es. Tatřjana schreibt sich somit durchaus in die „nationaleŖ Geschichte ein. Ein „russischerŖ Kontext wird aber auch über den Verweis auf die Birke hergestellt, die eines der bekanntesten Symbole für Russland ist Ŕ sie gesellt sich also zu den russischen Namen der Protagonisten Tatřjana und Nikolaj hinzu. Dreimal ist in „SnegŖ vom „BirkenhainŖ hinter dem Haus und dem Garten die Rede (57; 59; 61), zweimal vom „BirkenrauchŖ (59; 62), einmal schließlich von den „BirkenŖ (63). Potapovs Haus und das Städtchen werden über die Semantik der Birke eindeutig in einen russischen Kontext gestellt, ohne dass das Wort „russischŖ selbst erwähnt würde. Für den direktesten Bezug zum Krieg sorgt jedoch Nikolaj selbst, und zwar wiederum in seiner Vision im Brief an den Vater: „Ach, wenn Du wüsstest, wie sehr ich das alles von hier, aus der Ferne, liebgewonnen habe! Verwundere Dich nicht, ich spreche zu Dir ganz im Ernst: Ich dachte daran in den schlimmsten Augenblicken der Schlacht. Ich wusste, ich verteidige nicht nur das ganze Land, sondern auch diesen kleinen Winkel, der mir am liebsten ist, und Dich, und unseren Garten und die Birkenhaine hinter dem FlussŖ (59). Nikolaj formuliert in dem Brief nicht nur eine „privateŖ Vision, sondern stellt zugleich auch die Verbindung zur „NationŖ her. Obwohl in „SnegŖ in der Tat keine Kriegshandlungen geschildert und keine Heldentaten besungen werden, kann man in der Erzählung

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zugleich eine Aufforderung zur Verteidigung der Heimat sehen. Es ist aber die jeweils individuelle, kleine, private Heimat, die jeder Ŕ neben dem großen Vaterland Ŕ auch noch besitzt.30 Die erwähnte Opposition zwischen Hauptstadt und Provinz wird hier in abgewandelter Form also noch einmal aufgenommen. Neben dem nationalen gibt es das private Schicksal, und beide sind miteinander verflochten: Das Entscheidende geschieht ebenso in der „ProvinzŖ, und es ereignet sich im Kleinen, im privaten Rahmen. Auch dieser Sachverhalt ist letztlich für den Autor durchaus kennzeichnend. In einer Abhandlung mit dem Titel „O novelleŖ (Über die Novelle) hat Konstantin Paustovskij Ŕ in Anlehnung an Diderot Ŕ einmal festgehalten: „Ich denke, die Novelle ist eine Erzählung vom Ungewöhnlichen im Gewöhnlichen und umgekehrt vom Gewöhnlichen im Ungewöhnlichen.Ŗ31

Frank Göbler

Daniil Charms: Starucha (Die alte Frau) Hier verlieren wir uns selbst in Mutmaßungen. Daniil Charms1

Daniil Charms gehört, wie die übrigen Mitglieder der Künstlergruppe „ObėriuŖ (Vereinigung der realen Kunst), zu jenen letzten Vertretern der russischen Avantgarde, deren Schaffen noch bis weit in die Zeiten der Vorherrschaft des Sozialistischen Realismus hineinreichte. Im Verborgenen entstanden in den 1920er und in den 1930er Jahren Werke, deren subversives Potential noch bis in die Spätphase der Sowjetunion die Veröffentlichung verhinderte. Bekannt sind die „ObėriutyŖ seit den 1960er und 1970er Jahren im Westen, wo sie als Vorläufer der absurden Literatur der Nachkriegszeit wahrgenommen wurden. „StaruchaŖ entstand einige Zeit nach dem Zerfall von „ObėriuŖ Ŕ 1939, also während der Stalinschen Repression, die jede freie künstlerische Entfaltung unterband und der Charms drei Jahre später selbst zum Opfer fallen sollte. Die Erzählung gehört damit zum Spätwerk dieses Autors und ist für seine Prosa zugleich typisch wie untypisch: untypisch insofern, als er hier auf jene Verfahren, mit denen er beispielsweise in dem Zyklus „SluĉaiŖ (Fälle) Erzählkonventionen untergräbt (Automatisierung in Form von Wiederholung oder Serie, Reduktion von Figuren und Handlung bis hin zu der Eliminierung des Erzählgegenstands), weitgehends verzichtet.2 Ungewöhnlich ist darüber hinaus die Ich-Perspektive, die sonst bei ihm nur selten Verwendung findet3, sowie der Umfang, der den seiner übrigen Prosatexte deutlich übertrifft. Zu den Gemeinsamkeiten mit anderen Werken zählen die absurde Haltung, die Ambivalenz von Spiel und Ernst, die Verwendung von Elementen der normalen Alltagswelt mit gelegentlichem Einbrechen von Unerklärlichem sowie eine ethisch neutralisierte Form der Darstellung von Gewalt. „Starucha“ als absurder Text In der Literatur zu Charms und insbesondere zu seiner Erzählung „StaruchaŖ wird vielfach die Offenheit dieses Textes betont, die sich in einer entsprechenden Vielfalt von Deutungsansätzen niederschlägt. Es liegt freilich in der Natur absurder Texte, dass sie einen anderen interpretativen Zugriff verlangen als konventionelle Erzähltexte. Die Beschäftigung mit „StaruchaŖ muss von der Einsicht ausgehen, dass ein solches Werk gewohnte Verfahren der Sinnkonstitution unterminiert und Signale, die entsprechende Deutungen suggerieren, womöglich als falsche Fährten anlegt. Zum Wesen Charmsscher Kunst gehört die „hermeneutische ProvokationŖ, die in der „Verweigerung von stimmigen und konsistenten Lektü-

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renŖ besteht. Das heißt, wenn wir dem Text eine Aussage unterstellen, ist diese nicht oder nur bedingt aus den Bedeutungen zu erschließen, die bestimmten Ereignissen, Figuren, Bildelementen usw. innerhalb der fiktiven Welt zugeschrieben werden können, sie ist vielmehr auf einer Ebene angesiedelt, wo eben derartige Verfahren der Bedeutungsbildung reflektiert bzw. hinterfragt werden.5 Gleichwohl erscheint es angebracht, sich zunächst über das fiktive Geschehen, seine Präsentation und seine (scheinbaren) Implikationen Klarheit zu verschaffen. 4

Geschehensaufbau Was sich in „StaruchaŖ ereignet, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Ein Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, hat an einem warmen Frühlingstag gerade das Haus verlassen und trifft auf eine alte Frau, die eine Wanduhr in den Händen hält. Obwohl die Uhr keine Zeiger hat, teilt die Frau dem Erzähler auf dessen Frage die Uhrzeit mit (viertel vor drei). Bald darauf trifft der Erzähler zufällig seinen Bekannten Sakerdon Michajloviĉ, mit dem er in eine Kellerkneipe einkehrt. Entgegen seinen eigentlichen Plänen muss er dann nach Hause zurückkehren, da er vergessen hat, den elektrischen Ofen in seinem Zimmer auszuschalten. Dort fühlt er sich von lärmenden Jungs gestört und malt sich in einer Art Tagtraum aus, wie er sie mit dem Starrkrampf bestrafen wird, an dem sie letztlich sterben. Dann kommt ihm die Idee einer Erzählung, die er schreiben will: über einen Wundertäter, der in der Gegenwart lebt und keinerlei Wunder tut, obwohl er es könnte. Er freut sich über die „geniale SacheŖ (400) und darüber, wie ihn Sakerdon Michajloviĉ beneiden wird, wenn er davon erfährt. Es zeigt sich jedoch, dass er unfähig ist, mit dem Schreiben zu beginnen. Erst nach geraumer Zeit gelingt ihm ein erster Satz, der auch der einzige bleiben wird: „Der Wundertäter war hochgewachsenŖ (401). Mehr fällt ihm nicht ein. Bald darauf klopft es, und die Alte, die er im Hof gesehen hat, betritt sein Zimmer. Sie befiehlt ihm niederzuknien, dann sich flach auf den Boden zu legen. Und obwohl er irritiert und empört ist, vermag er sich nicht zu widersetzen. Liegend verliert er anscheinend das Bewusstsein, und als er in der Nacht wieder zu sich kommt, findet er die Alte tot in seinem Sessel sitzend. Er schimpft und ärgert sich. Dann legt er sich auf sein Sofa und hat einen Traum. Als er erwacht, scheint die Alte fort zu sein, und er hegt schon die Hoffnung, dass auch sie Teil seines Traums gewesen sei. Doch ist die Tote noch da, nur liegt sie jetzt auf dem Boden. Seine Wut erwacht von neuem, und er tritt die Leiche. Als er einige Zeit später einkaufen geht, lernt er in der Bäckerei eine junge Dame kennen, die ihm gefällt. Sie wollen zusammen in seinem Zimmer Wodka trinken. Die Leiche hat er vergessen. Als sie ihm wieder einfällt, ergreift er schnell die Flucht und sucht Sakerdon Michajloviĉ auf. Sie trinken von dem Wodka und essen etwas. Der Erzähler berichtet von der jungen Dame („ich habe mich sogleich verliebtŖ, 412) und dass er sie nicht zu Hause empfangen konnte. Ohne die gesamte Geschichte zu erzählen, bringt er das Gespräch auf Leichen, Gott und Unsterblichkeit. Auf dem Weg nach Hause überlegt er, wie er sich der Leiche entledigen kann. Ehe er

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sein Zimmer betritt, teilt ihm eine Nachbarin mit, ein alter Mann habe vor etwa zwei Stunden nach ihm gefragt. Mehr kann sie ihm dazu nicht sagen. Als er seine Zimmertür öffnet, kriecht die Alte ihm auf allen Vieren entgegen. Entsetzt springt er wieder auf den Korridor, wo er einen Dialog mit seinen „eigenen GedankenŖ beginnt. Mit einem Krocketschläger bewaffnet kehrt er in das Zimmer zurück, um der Sache ein Ende zu machen. Die Alte liegt nun reglos da, so dass er sie in einen Koffer packen kann, um sie Ŕ so der Plan Ŕ außerhalb der Stadt in einem Sumpf zu versenken. Unterwegs zum Bahnhof sieht er noch einmal die junge Dame, kann ihr wegen des Koffers jedoch nicht folgen. In der Bahn teilt er den Waggon mit einem Arbeiter und einem jungen Mann. Da er mit einem revoltierenden Magen zu kämpfen hat, muss er die Toilette aufsuchen. Als er einige Zeit später in den Waggon zurückkehrt, ist dieser leer: Die beiden Mitreisenden und sein Koffer sind verschwunden. Nun ist er überzeugt, dass man ihn als Mörder verhaften werde. An seinem Zielbahnhof steigt er aus. Der Zug zurück geht in einer halben Stunde. Er begibt sich in ein nahegelegenes Wäldchen, wo er eine große grüne Raupe sieht. Er beugt sich zu ihr hinab, kniet nieder, berührt sie und spricht dann eine Gebetsformel. Es folgen eine lange Reihe von Auslassungspunkten und dann der letzte Satz: „Hiermit beende ich vorläufig mein Manuskript, da ich der Ansicht bin, dass es sich ohnehin schon lange genug hingezogen hatŖ (430). Leerstellen Die Zusammenfassung hat gezeigt: Der Text ist bereits auf der Geschehensebene Ŕ paradox formuliert Ŕ überfüllt mit Leerstellen. Weshalb taucht die Alte beim Erzähler auf? Wieso hat sie Macht über ihn? Warum oder woran stirbt sie? Was geschieht während der Bewusstlosigkeit des Erzählers (auch typographisch eine Leerstelle: eine Leerzeile)? Was hat es mit jenem alten Mann auf sich, der den Erzähler aufsuchen wollte? Weshalb kann sich die Tote bewegen? Warum verschwindet der Koffer? Ist das Erscheinen der Alten innerhalb der fiktiven Welt überhaupt als real anzusehen? Sind die Begegnungen des Erzählers (mit der Alten, mit Sakerdon Michajloviĉ, mit der jungen Frau) zufällig? Und der Schluss lässt alle Fragen über das weitere Geschehen offen oder besser gesagt, er schlägt sie im Gestus einer metafiktionalen Pointe in den Wind. Die Zahl der Leerstellen vervielfacht sich, wenn man die Frage nach den Motivierungen ausweitet auf Erzählgegenstände, die nicht als Ereignisse oder Teile der eigentlichen Ereignisfolge anzusehen sind, zum Beispiel die zeigerlose Uhr, die grüne Raupe, die lärmenden Jungs und ein Invalide mit klapperndem Holzbein (beide werden mehrfach erwähnt), die Ähnlichkeit der Beschreibung der Alten und Sakerdon Michajloviĉs, die Idee der Erzählung vom Wundertäter usw. Die Motivierungslücken werden als solche besonders spürbar durch die Normalität der Alltagswelt, in die Charms dieses Geschehen verlegt. Hierzu gehören Straßennamen des realen Leningrad, die sowjetischen Wohnverhältnisse einer Kommunalka, das zeittypische Schlangestehen an den Lebensmittelläden, das

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warme Frühlingswetter, Straßenbahnen, Kellerkneipen, Essen, Trinken, Schlafen, Pfeiferauchen, Geräusche, Gerüche. Was die Erzählerfigur betrifft, so sind durchaus einige konkrete soziale und psychologische Merkmale ausgearbeitet: Es ergibt sich das Bild eines nahezu mittellosen Mannes, der allein lebt, mit den Widrigkeiten des Alltags hadert, mit literarischen Versuchen ringt und ansonsten keiner Beschäftigung nachzugehen scheint. Auch die zeitliche Strukturierung ist nachvollziehbar und widerspruchsfrei: Die erste Begegnung mit der alten Frau findet am Nachmittag (14.45 Uhr) statt, die zweite am späteren Nachmittag (nach 17.20 Uhr), die Bewusstlosigkeit des Erzählers dauert bis in die frühen Morgenstunden (um 5.30 Uhr kocht der Zimmernachbar Tee), anschließend schläft der Erzähler erneut (bis ca. 9.30 Uhr); Einkäufe, die Begegnung mit der jungen Dame, der Besuch bei Sakerdon Michajloviĉ, die Rückkehr in sein Zimmer und schließlich das Verstauen der Leiche im Koffer ziehen sich chronologisch durch den Tagesverlauf (bis 17.20 Uhr); mit Zeitangaben verknüpft werden ferner die Ankunft am Bahnhof (18.55 Uhr) und die Abfahrt des Zuges (19.10 Uhr). Auf diese Weise entsteht ein fiktionaler Rahmen, den man Ŕ zumindest verglichen mit Charmsř kürzeren Texten Ŕ durchaus als „realistischŖ bezeichnen kann und in den die Irritationen der Erzählerfigur sowie die des Lesers ähnlich wie in einer phantastischen Erzählung hineingesetzt sind. Und wie in dieser Gattungsform zieht der Erzähler für die merkwürdige Konfrontation mit der alten Frau und deren unverhofftes Ableben eine natürliche Erklärung in Betracht: „Ich schaue den leeren Sessel an und wilde Freude erfüllt mich. Das heißt, alles war nur ein TraumŖ (404). Diese Deutung muss aber sogleich wieder fallengelassen werden, da die Tote, die zuvor im Sessel gesessen hatte, sich Ŕ auf unerklärliche Weise Ŕ am Boden liegend wiederfindet. Die „UnschlüssigkeitŖ über den Wirklichkeitsstatus der Erscheinung6 hält hier nicht länger als eine halbe Druckseite. Später wird sie mit einer anderen Ŕ ebenfalls klassischen Ŕ Deutungsvariante erneuert: dem Wahnsinn der Erzählergestalt. Diese wird von Marřja Vasilřevna, einer Nachbarin, ins Spiel gebracht, die den nach der Begegnung mit der kriechenden Leiche vor Entsetzen zitternden Erzähler auf dem Flur anspricht und sein sprachloses Kopfschütteln mit „Verrückt gewordenŖ (419) kommentiert. Wie zum Beweis beginnt an dieser Stelle der Dialog des an seiner Wahrnehmung zweifelnden Erzählers mit seinen „eigenen GedankenŖ, die ihn warnen, über ihn spotten und ihn vom erneuten Betreten des Zimmers abzuhalten versuchen. Aber auch hier liegt keine wirkliche Deutungsambivalenz vor; denn der Leser wird den Dialog kaum ernsthaft als Symptom beginnenden Wahnsinns und somit als psychologische Motivierung des übernatürlichen Geschehens auffassen, sondern eher als Spiel mit der literarischen Form der Gedankenwiedergabe.7 Die Gegenüberstellung von natürlicher Alltagswelt und übernatürlichen Ereignissen ist also nur scheinbar nach dem Modell konventioneller Phantastik gestaltet. Das Übernatürliche erhält nicht alternative, konkurrierende Erklärungen, es bleibt schlechthin unerklärlich.

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„Versteckte Bedeutungen“? Ungeachtet der Unerklärlichkeit des Übernatürlichen erzeugen die fehlenden Motivierungen den Eindruck, dass sich im Text Botschaften verbergen, die der Leser zu entschlüsseln habe. Solche Entschlüsselungsversuche machen einen erheblichen Teil der Forschungsliteratur zu „StaruchaŖ aus. Sie versuchen, die Lücken in der Präsentation des Geschehens zu füllen8, schreiben Figuren und Gegenständen symbolische Bedeutungen zu9 oder weisen Verknüpfungen zwischen Figuren und Situationen auf (wie im Falle der alten und der jungen Frau, der alten Frau und Sakerdon Michajloviĉ, der alten Frau und der Nachbarin Marřja Vasilřevna10, aber auch durch die Thematisierung von Zeit und Zeitlosigkeit am Anfang und Ende der Erzählung11). So anregend manche dieser Deutungen sind, indem sie die Vielschichtigkeit und den Beziehungsreichtum des Textes dokumentieren, so bewegen sie sich doch vielfach auf dem Felde von Mutmaßungen.12 Betrachten wir zunächst die Form der Präsentation des fiktiven Geschehens sowie dessen Ebenen. Das Kernstück der Erzählung ist autodiegetisch gehalten. Erleben und Denken der Erzählerfigur werden gleichsam im Prozess mitprotokolliert, nicht nachträglich aufgezeichnet. Das heißt, die Form des Erzählens ist nicht als fingierte Wirklichkeitsaussage, etwa als Tagebuch, motiviert. Obwohl es bei Charms eine gewisse Nähe von bestimmten fiktionalen Texten zu Tagebuchaufzeichnungen gibt (zuweilen mit abweichenden Zuordnungen in den Textausgaben), liegt hier keineswegs ein Grenzfall vor. Die überwiegende Verwendung des Präsens unterstützt diesen Eindruck. An zwei Stellen bricht die Darstellung mit den Regeln des autodiegetischen Erzählens. Bei der Begegnung des Erzählers mit der jungen Dame geht der Text in einen dramatischen Dialog über Ŕ mit Angaben der jeweils sprechenden Figur („OnaŖ, „JaŖ) und in Klammern gesetzten Regieanweisungen (409 f.). Die zweite Stelle schließt sich an den Besuch des Erzählers bei seinem Freund Sakerdon Michajloviĉ an. Hier wird geschildert, was jener tut, nachdem ihn der Erzähler verlassen hat (416). Im Sinne der Erzähllogik sind diese Stellen als Inkonsequenzen oder gar als Fehler einzuordnen; sie funktionieren ähnlich wie Verfremdungen im Theater, indem sie dem Leser die Fiktionalität des Geschehens bewusst machen. Der Versuch, sie innerfiktional zu begründen, wäre daher verfehlt.13 Beim letzten Satz der Erzählung ist dieselbe Funktion noch deutlicher zu erkennen. Er eröffnet gegenüber dem präsentierten Geschehen eine höhere Fiktionsebene, auf der der vorausgehende Text zum Produkt eines (wiederum fiktiven) schreibenden Ich wird, dessen Willen oder Mutwillen er ausgeliefert ist. Es zeigt sich darin dieselbe Haltung, die wir in den Schlussformeln vom Typ „Vot, sobstvenno, i vseŖ (Das ist eigentlich alles, 365, 378) finden, wie sie Charms so gern in seinen kürzeren Texten benutzt. Eine weitere Fiktionsebene ergibt sich aus dem Schreibversuch des Erzählers. Die ungeschriebene Erzählung vom Wundertäter ist, wenn man vom Ende her liest, eine Fiktion dritter Ordnung. Das, was als das eigentliche Geschehen zu lesen wäre, ist also eingespannt in eine Fiktion

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höherer Ordnung und eine Fiktion niederer Ordnung, die jeweils nur einen Satz umfassen. Der eine Satz ist in dem einen Fall Ausdruck der Unfähigkeit, in dem anderen Ausdruck der Weigerung weiterzuschreiben. Im übrigen hat auch der letzte Satz der eigentlichen Erzählung den Charakter einer literarischen Schlussformel, wie sie ähnlich in altrussischen Texten Verwendung fand und unter anderem von Puńkin in einer frühen Fassung des Dramas „Boris GodunovŖ historisierend aufgenommen wurde.14 Das „AmenŖ, mit dem die Binnenerzählung endet, ist die Variante des „VseŖ (Alles bzw. Schluss). Kausalität Wenn wir noch einmal zu der Frage zurückkehren, wie die Motive der Erzählung verknüpft sind, ergeben sich drei Formen der Kausalität: eine im eigentlichen Sinne kausale Linie, eine Linie scheinbarer oder lückenhafter Kausalität sowie eine a-kausale Linie. Im Bereich der Alltagsdinge finden sich einfache Beziehungen von Ursache und Wirkung: Draußen lärmen Kinder Ŕ der Erzähler fühlt sich gestört; der Erzähler verspürt Hunger Ŕ er sucht etwas Essbares; er hat seinen Ofen angelassen Ŕ er muss zurück nach Hause; Sakerdon Michajloviĉ vergisst Wasser in den Kochtopf zu tun, ehe er ihn auf den Kocher stellt Ŕ das Email platzt vom Topf. Eine scheinbare Kausalität wird mit dem Schreibversuch ins Spiel gebracht: „Der Schatten des Schornsteins wandert übers Dach, fliegt über die Straße und legt sich mir aufs Gesicht. Ich muss diesen Schatten ausnutzen und einige Worte über den Wundertäter schreibenŖ (401). Tatsächlich schreibt der Erzähler hier den ersten Satz seines Textes nieder. Er stellt also selbst den Kausalzusammenhang her, der aber keineswegs plausibel ist. Auf den ersten Blick plausibel erscheint hingegen die Erklärung, die der Erzähler für das Verschwinden des Koffers mit der Leiche liefert: „Natürlich haben sie, als ich auf der Toilette war, den Koffer gestohlen. Das hätte man vorhersehen können!Ŗ (429). Was aber „tatsächlichŖ geschehen ist, verschweigt der Text, wie er es in den meisten der oben zusammengestellten Beispiele tut. Einen Sonderfall bildet die Geschehenslinie um die Alte. Sie ist a-kausal in dem Sinne, dass sie Ursachen nicht nur ausspart, sondern auch kausal nicht begründbare Ereignisse einführt. Der Erzähler wird mit dem Paradoxon konfrontiert, dass jemand zugleich tot und nicht tot ist (sich im Raum bewegt). Entsprechend paradox und am Rande des Umkippens ins Grotesk-Komische ist sein Lösungsversuch: das Vorhaben, die Tote mit einem Krocketschläger totzuschlagen (was sich dann aber erübrigt, da sich die Tote nicht mehr bewegt).15 Dies ließe sich mit der Infragestellung der Zeit in Verbindung bringen, die durch die zeigerlose Uhr angedeutet wird. Anders gesagt: Die Ordnung von Vorher und Nachher wird zweifelhaft, jedoch nicht für den Erzähler, dessen Versuch, dem Problem beizukommen, lächerlich oder verrückt wirkt.

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Irritation höherer Ordnung Das Paradoxon der untoten Toten stellt jedenfalls, im Vergleich zu den Widrigkeiten des Alltagslebens (Wohnsituation, Warenknappheit, Kommunikationshindernisse, Lärmbelästigung), eine Irritation höherer Ordnung dar, die den Kern der Erzählung ausmacht und daher genauer betrachtet werden muss. Hansen-Löve sagt: „Der Tod steht in der absurden Welt nicht als finale NullStelle am Ende des Lebens-Textes [...], sondern er breitet sich Ŕ wie alle evidenten Existentiale Ŕ ‚media in vitař aus: als das große Nichts, als die Grenze und Schwelle inmitten des Lebens, das sich somit unweigerlich und beständig um diese zentrale Differenz ‚drehtŘ.Ŗ16 Man kann sagen, dass die „Ausbreitung des Todes inmitten des LebensŖ in „StaruchaŖ zur Handlung entfaltet ist. Der Erzähler wird mit dem plötzlichen Tod einer alten Frau konfrontiert, reagiert darauf aber zunächst nur mit Ärger und Wut: „Ich kann Tote nicht ertragen. Jetzt muss ich mich mit diesem Aas herumschlagen, muss zum Hausmeister und zum Verwalter gehen und ihnen erklären, wieso die Alte bei mir aufgetaucht istŖ (403). Damit der Tod seine zutiefst beunruhigende Wirkung auf den Erzähler ausüben kann, muss er sich von seiner irrationalen Seite zeigen: als Bewegung der Toten. Die „eigenen GedankenŖ des Erzählers formulieren dies als Wortspiel: „pokojnikiŖ (Tote) müsse man eher als „bespokojnikiŖ (Ruhelose oder Beunruhiger) bezeichnen (420). Das Wortspiel gehört zu den Kippfiguren, mit denen Charms die existentielle Irritation zuweilen ins Konkrete und Banale umwendet, ohne sie darin völlig aufzulösen. Die „eigenen GedankenŖ erläutern im direkten Anschluss, dass Tote nicht umsonst bewacht würden, und sie berichten von „amüsanten FällenŖ, wo dies nicht gelungen sei, unter anderem von einem Toten, der in einer Geburtsstation die Schwangeren so in Angst versetzt habe, dass eine von ihnen plötzlich niedergekommen sei; er habe dann angefangen, den Fötus zu verschlingen und eine Krankenschwester, die ihn davon abhalten wollte, ins Bein gebissen, worauf sie am Leichengift gestorben sei (420). Der „FallŖ Ŕ immerhin Produkt der „eigenen GedankenŖ des Erzählers Ŕ ist als triviale Gruselgeschichte dargeboten und deswegen „amüsantŖ, weil er nicht wahr ist; so wird die Wirklichkeit des Todes durch diesen Teil des Bewusstseins des Erzählers auf Distanz gehalten. Entsprechend verbirgt sich auch in der Glaubensdiskussion mit Sakerdon Michajloviĉ eine ironische Wendung. Der Erzähler korrigiert seine ursprüngliche Frage, ob jener an Gott glaube, im Fortgang des Gesprächs zur Frage nach der Unsterblichkeit. Mit dem Wissen um die Tote im Zimmer des Erzählers erhält die Frage für den Leser eine ganz andere Konnotation: Aus der Frage nach dem Ewigen Leben wird die Frage nach der Möglichkeit von Untoten.17 Das heißt, die aus der Schauerliteratur stammende Figur des Wiedergängers wird mit der christlichen Vorstellung der Auferstehung in Zusammenhang gebracht Ŕ eine offensichtlich unangemessene Verknüpfung18: Im christlichen Verständnis ist das Wunder der Auferstehung Christi mit Freude und Erlösung assoziiert, die „AuferstehungŖ der Alten bei Charms hingegen mit Wut, Angst und Entsetzen.

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Die Frage nach der Religion Die angeführte Stelle bildet einen der Schnittpunkte des Todesthemas mit dem religiösen Diskurs, der an verschiedenen Stellen der Erzählung an die Oberfläche tritt. Die Glaubensfrage richtet der Erzähler zunächst an die junge Dame, die ihn in der Bäckerei angesprochen hat. ICH: Entschuldigen Sie, darf ich Sie eine Sache fragen? SIE (heftig errötend): Natürlich, fragen Sie. ICH: Gut, ich frage. Glauben Sie an Gott? SIE (erstaunt): An Gott? Ja, natürlich (409 f.). Der Kontext ist denkbar unpassend Ŕ der Dialog ist eingeschoben in eine Verabredung zum gemeinsamen Wodka-Trinken. Die Frage, weshalb das für den Erzähler überhaupt von Belang ist, bleibt unbeantwortet, zumal er im nachfolgenden Gespräch mit Sakerdon Michajloviĉ die Glaubensfrage als solche problematisiert: „Meiner Ansicht nach gibt es keine gläubigen und ungläubigen Menschen. Es gibt nur welche, die glauben wollen, und welche, die nicht glauben wollenŖ (415). Der Schlusspunkt der Binnenerzählung ist dann die schon erwähnte Gebetsformel, die hier in ihrem Zusammenhang betrachtet werden soll: „Ich gehe in das Wäldchen. Dort sind Wacholderbüsche, hinter ihnen sieht mich niemand. Ich begebe mich dorthin. / Über die Erde kriecht eine große grüne Raupe. Ich knie nieder und berühre sie mit den Fingern. Sie windet sich mehrmals kräftig und sehnig zur einen und anderen Seite. / Ich schaue mich um. Niemand sieht mich. Ein leichter Schauder läuft über meinen Rücken. / Ich neige meinen Kopf tief hinunter und sage: ‚Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, heute und von Ewigkeit zu Ewigkeit. AmenŘ Ŗ (430). Unvermeidlich drängt sich hier eine Reihe von Assoziationen auf. Die Geste des Niederkniens erinnert an die Unterwürfigkeitsgeste, zu der die Alte den Erzähler nötigt, unterscheidet sich aber von dieser, indem sie offenbar einem inneren Impuls folgt. Die Raupe lässt an die Metamorphosen des Lebens denken, etwa in dem Sinne, dass hinter dem irdischen Dasein (Raupe) das ewige Leben (Schmetterling) liegt. Sie kontrastiert mit einer zu Beginn der Erzählung erwähnten Krähe (401), einem klassischen Todesboten. Wenn man noch die intertextuellen Bezüge zu Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanieŖ (Schuld und Sühne)19 hinzunimmt, ist man schnell bei einer Deutung, die hier den Ausdruck einer geistigen Wiedergeburt, einer Epiphanie20, einer Wendung zum Glauben oder etwas Ähnlichem sieht (vergleichbar dem Läuterungsweg, den Dostoevskij für den Mörder Raskolřnikov am Ende seines Romans andeutet). Von hier aus ließe sich dem Text als Ganzem ein positiver Sinn geben: „The conjunction of ordinary and sacred in Starukha is a declaration that such things are indeed possible: the realization of Kharmsřs wish for the sacred to manifest itself in the middle of his own life.Ŗ21 Der Text wird damit in der Tradition der psychoanalytischen Literaturinterpretation als Wunscherfüllung gedeutet. Zwei-

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fel sind freilich angebracht.22 Denn wie eingangs erläutert, wird durch den letzten Satz der Erzählung diese Deutung ausgehebelt Ŕ alles ist nur ein Spiel mit Worten, mit Fiktionen. Die Erzählung ist eine „absurdistische ParabelŖ, ganz im Verständnis von Hansen-Löve: „Es gibt gar keine Erklärung für das zu Erklärende; die Unmöglichkeit des Genres ist seine eigentliche Daseinsberechtigung Ŕ und nicht eine hermetische Enigmatik oder eine hermeneutische Geheimnistiefe.Ŗ23 Wenn Hansen-Löve weiter feststellt, „die absurdistischen Parabeln fingieren Meta-Parabeln ihrer selbstŖ24, so trifft er damit genau die Funktion des letzten Satzes. Das Handlungsmuster des Misslingens Vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten sind noch weitere Aspekte des Textes zu betrachten: das Physische (Gewalt, Essen, Trinken, Rauchen, Verdauung, Sexualität) und das Problem der Schuld. Es wurde schon deutlich, dass der Erzähler ausgesprochen aggressiv auf das Ableben der Alten reagiert, unter anderem mit einem Fußtritt gegen das Kinn der Leiche. Gegenüber Sakerdon Michajloviĉ, der mit ihm die Abneigung gegen Tote (und Kinder) teilt, unterstreicht er: „Käme mir ein Toter unter, würde ich ihm, wenn es nicht gerade ein Verwandter wäre, einen Fußtritt verpassenŖ (414). Und er wiederholt auf die Ermahnung seines Gegenübers: „Ich würde ihm mit dem Stiefel geradewegs in die Fresse tretenŖ (414). Ähnlich reagiert der Erzähler auf einen Betrunkenen, der ihn auf der Straße versehentlich anrempelt: „Gut, dass ich keinen Revolver habe: Ich würde ihn auf der Stelle tötenŖ (417). Der Plan, der Leiche mit dem Krocketschläger den Schädel einzuschlagen, sowie die Phantasien, lästige Kinder leiden und sterben zu lassen, gehen in dieselbe Richtung. Alles sind Reaktionen auf Störungen; man kann sie psychologisch erklären, aber sie haben zugleich etwas von den automatisierten Gewaltritualen, wie sie uns in „SluĉaiŖ begegnen. Nur wirken sie hier aufgrund des realistischen Erzählhintergrunds in noch höherem Maß als ethische Provokation: Das Ungeheuerliche wird als Normalität präsentiert. Vielfach thematisiert werden Essen, Trinken und Pfeiferauchen als physische Bedürfnisse des Erzählers. Dessen Versuche, diese Bedürfnisse zu befriedigen, misslingen auf verschiedene Weise: Die Wurst, die er kaufen will, ist im Laden nicht vorhanden, stattdessen kauft er Sardellen, die ihm jedoch nicht bekommen. Tabak ist gleichfalls nicht zu haben. Den Wodka, den er kauft, um ihn mit der jungen Dame zu trinken, trinkt er mit Sakerdon Michajloviĉ (das Trinken von Alkohol erscheint zudem bei dem Zusammenstoß mit dem Betrunkenen in einem negativen Licht). Teilweise lässt sich das Misslingen mit der konkreten Situation der Zeit in Verbindung bringen: der materiellen Not vieler Menschen und den Versorgungsmängeln.25 Vor allem aber werden Zumutung und Genuss des Physischen in eine enge Verbindung gebracht. Noch deutlicher geschieht das, indem der Erzähler seine gewaltsame Entleerung in der Zugtoilette mit dem Geschlechtsakt assoziiert: „Ich schließe genüsslich meine Augen. Oh, diese Momen-

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te sind so wonnevoll wie die Momente der Liebe! Alle meine Kräfte sind angespannt, aber ich weiß, dass nach ihnen ein schrecklicher Absturz folgen wirdŖ (428). Die Äußerung gehört zu einem kaum an die Oberfläche dringenden sexuellen Subtext, der der Erzählung eingeschrieben ist. Entsprechende Lektüren arbeiten eine Vielzahl möglicher sexueller Anspielungen und Symbole heraus. So wird im Zusammenhang mit dem Besuch der Alten eine in der Darstellung ausgesparte sexuelle Handlung in Betracht gezogen. Verschiedene Gegenstände Ŕ Uhrzeiger, Schreibfeder, Krocketschläger Ŕ und sogar der „WundertäterŖ wurden als phallische Symbole gedeutet.26 Interessant ist insbesondere die Doppelbedeutung von „polŖ im Sinne von „FußbodenŖ und „GeschlechtŖ27, die die These von einer „grotesken sexuellen BeziehungŖ28 zwischen der Alten und der Erzählerfigur stützt. Sie zeigt sich etwa, wenn die Alte dem Erzähler befiehlt: „Und jetzt musst du dich auf den Bauch legen und das Gesicht auf den Boden (v pol) drückenŖ (402). Zwingend sind solche Deutungen nicht, aber das Vorhandensein des Subtextes ist nicht zu bestreiten. Eine Stelle, wo er sich recht deutlich manifestiert, ist die Verabredung mit der jungen Dame. Was nach dem gemeinsamen Wodkatrinken passieren soll, ist eine fast unvermeidliche Assoziation. Wesentlich ist dabei, dass hier erneut das Handlungsmuster des Misslingens erfüllt wird. In diesem Muster berührt sich im übrigen das Physische mit dem Geistigen: Die Erzählung über den Wundertäter kommt über den Anfang nicht hinaus.29 Fiktionen des Entkommens Daniil Charms präsentiert uns hier eine Wirklichkeit voller Widerstände, denen die Erzählergestalt mit ebenso brutaler wie hilfloser Auflehnung begegnet. In eine sinnvolle Ordnung integriert ist nichts davon. Die Gewaltphantasien des Erzählers, sein Hass auf Tote und Kinder, erzeugen bei ihm kein Gefühl der Schuld, hingegen stellt sich dieses Gefühl (neben Wut und Angst) im Zusammenhang mit dem Tod der Alten ein Ŕ jedoch ohne Grund.30 Er ist für ihren Tod nicht verantwortlich. Und doch stellt er, als er nach dem Verschwinden des Koffers befürchtet, jetzt bald verhaftet zu werden, die Berechtigung einer solchen Verhaftung in keiner Weise in Frage. Er hat im Vorhinein das Urteil akzeptiert. Der Schluss der Binnenerzählung wirkt dann wie eine unverhoffte Rettung.31 Strukturell zeigt sich hier eine Ähnlichkeit mit dem Text „SundukŖ (Die Truhe) aus „SluĉaiŖ vor. Darin begibt sich ein „Mensch mit langem HalsŖ in eine Truhe und verschließt sie, um, während er erstickt, den „Kampf von Leben und TodŖ zu beobachten (363). Am Ende ist die Truhe verschwunden. Der Mensch mit langem Hals resümiert: „Das heißt, das Leben hat den Tod auf mir unbekannte Weise besiegtŖ (364). Die strukturelle Ähnlichkeit besteht darin, dass eine existentielle Bedrohung aufgelöst wird durch das Verschwinden eines Gegenstands, genauer eines Behältnisses (Koffer Ŕ Truhe). In einer möglichen Lesart Ŕ die Alte als Personifikation des Todes Ŕ wäre die Analogie noch weiterzuführen: Dann würde auch hier der Tod besiegt, und zwar ebenfalls auf „unbekannte WeiseŖ;

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denn dass der Koffer gestohlen wurde, ist nur eine Vermutung, die vor dem Hintergrund der sonstigen Ereignisse der Erzählung nicht zwingend ist. Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Texten besteht darin, dass sich der Mensch mit langem Hals aus freiem Willen in die Truhe begibt. Wer die Erzählergestalt von „StaruchaŖ in die Lage existentieller Bedrohung versetzt, bleibt innerhalb des fiktionalen Geschehens eine offene Frage. Sie lässt sich jedoch mit dem letzten Satz beantworten Ŕ es ist ihr Autor. Was in „SundukŖ ein Selbstversuch ist, ist in „StaruchaŖ das Wesen der Fiktion: ein Experiment auf Leben und Tod.

Bettina Kaibach

Varlam Ńalamov: Zaklinatelř zmej (Der Schlangenbeschwörer) „Die Schönheit wird die Welt rettenŖ, verkündete Aleksandr Solņenicyn in seiner Nobelpreisrede von 1970. Mit dem berühmten Diktum Dostoevskijs, eines Überlebenden von Lagerhaft und Zwangsarbeit wie er selbst, prophezeite der Geehrte den Triumph des künstlerischen Wortes im universalen Kampf gegen Unterdrückung und Lüge.1 Um das Erlösungspotential der Kunst angesichts des staatlich verordneten Terrors geht es auch in Varlam Ńalamovs 1954 entstandener Erzählung „Zaklinatelř zmejŖ. Die magische Kraft der Literatur, das Böse zu bannen, wird im Titel auf die kürzeste Formel gebracht. Der „SchlangenbeschwörerŖ ist der Lagerhäftling Platonov, der zur Zwangsarbeit in die berüchtigte Goldmine Dņanchara geschickt wird Ŕ ein Name, der selbst abgebrühte Langzeitgefangene schaudern lässt. In Dņanchara herrscht eine eigene Zeitrechnung: Unter den unmenschlichen Bedingungen im Bergwerk zählt ein Lebensjahr so viel wie sonst ein Jahrzehnt. Vor allem aber findet sich der politische Häftling Platonov abends in der Baracke als einziger Intellektueller unter Berufskriminellen wieder Ŕ ein Todesurteil für den ohnehin schon völlig Ausgezehrten. Bei den Ganoven, die im Gulag ihr eigenes Terrorregime etablieren, rangiert seinesgleichen ganz unten in der Lagerhierarchie: ein Paria, dessen Leben keinerlei Wert besitzt. Das Blatt wendet sich für Platonov, als sich herausstellt, dass er „Romane stanzenŖ kann (122): Bis in die Morgenstunden unterhält der einstige Drehbuchautor den Ganovenchef Fedja, indem er ihm den Inhalt eines französischen Abenteuerromans nacherzählt. Fedja ist angetan und verlangt nach Fortsetzung der nächtlichen soap opera. So beginnt Platonovs buchstäblicher Aufstieg als amtlich bestallter „RomanistŖ, das heißt als Romanerzähler. Er darf bei den Ganoven auf den oberen Pritschen schlafen, bleibt von der tödlichen Schwerstarbeit verschont, wird mit Nahrung und Kleidung versorgt. Mehr noch: Als Schutzbefohlener Fedjas findet sich der underdog Platonov plötzlich selbst in der Rolle dessen wieder, der willkürlich über Leben und Tod entscheiden kann. Ein Mitgefangener, der ihn geschlagen hat, muss nun die Rache der Ganoven fürchten. „Sagřs nicht FedjaŖ, bittet er den Dichter im Dunstkreis der Macht. „Ich hab nicht gewusst […], dass du ein Romanist bistŖ (123). Platonov verspricht zu schweigen. Damit endet die Erzählung. Literatur als Zauberformel gegen Willkür und Brutalität? Der Schluss des Textes legt eine solche Deutung jedenfalls nahe: Dank Platonovs Erzählkunst wandelt sich der skrupellose Fedja vom Höllenfürsten zum kunstsinnigen Schutzpatron. Unter seiner Obhut kann Platonov nun seinerseits Gnade walten lassen Ŕ der Zirkel der Gewalt scheint zumindest vorübergehend durchbrochen. Ein solch optimistischer Blick auf die Kunst widerspricht jedoch diametral den Auffassungen, die Ńalamov in seinen Essays und Notizen darlegte. Rund ein

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Drittel seines Lebens hatte der Schriftsteller in sowjetischen Gefängnissen und Lagern zugebracht, davon über 17 Jahre in der nordostsibirischen Kolyma-Region Ŕ diesem „letzte[n] und unterste[n] Bollwerk der HölleŖ (A. Sinjavskij) innerhalb des stalinistischen Gulag.2 Was ihm dort widerfuhr, überzeugte ihn von der absoluten Ohnmacht des künstlerischen Wortes angesichts des Bösen. Anders als Fedor Dostoevskij und Aleksandr Solņenicyn mochte Ńalamov dem millionenfachen Leiden keinerlei Sinn abgewinnen.3 Er begriff das Lager nicht als eine Art höherer Läuterungsanstalt, die den Dichter zum verlorenen Glauben zurückführte.4 Der Gulag war für ihn eine einzige „NegativerfahrungŖ, eine „negative SchuleŖ, die alle infizierte, die mit ihr in Berührung kamen Ŕ bis hin zu den Lesern der Lagerliteratur (V, 148). Solņenicyns prophetisch-messianische Selbststilisierung erschien Ńalamov verfehlt. Während der Nobelpreisträger im Westen die Einheit des Wahren, Guten und Schönen predigte, vermerkte Ńalamov in seinem Notizbuch: „Ich glaube nicht an die LiteraturŖ und bestritt, dass die Kunst je einen Menschen bessern oder künftige Greuel verhindern könne (V, 351). Dennoch schrieb Ńalamov nach seiner Rückkehr aus Lagerhaft und Verbannung unermüdlich. Allein die „Erzählungen aus KolymaŖ (Kolymskie rasskazy), denen auch „Zaklinatelř zmejŖ entstammt, umfassen 6 Zyklen mit fast 150 Texten. Dazu kommen mehrere Gedichtbände, ein Theaterstück, der ‚AntiromanŘ „VińeraŖ. Zusammen liefern sie ein einzigartiges Dokument dessen, was Ńalamov zur „Kernfrage unserer EpocheŖ erhob: der „Vernichtung des Menschen durch den StaatŖ (V, 157). Dass er in der Sowjetunion kaum etwas veröffentlichen konnte, gehört mit zur Tragik dieses vielfach gebrochenen Lebens.5 Ńalamovs Ringen mit der Lagerliteratur zeigt eine ähnlich paradoxe Grundstruktur, wie sie Theodor Adornos Überlegungen zur Dichtung nach Auschwitz zugrunde liegt.6 Auch bei Ńalamov geht beides Hand in Hand: der prinzipielle Zweifel an der moralischen Berechtigung von Kunst angesichts des staatlich organisierten Massenmordes und die Überzeugung, dass es gerade der Kunst bedarf, um das anonyme Leiden der Opfer vor dem Vergessen zu bewahren. Adornos Vorbehalt gegenüber einer Literatur, die das Potential besitzt, aus dem Leiden der Opfer einen wie auch immer gearteten ästhetischen „Genuß herauszupressenŖ7, steht gewissermaßen als warnende Inschrift über den Kolyma-Erzählungen. Ńalamov eröffnet sein berühmtestes Werk in einem betont unliterarischen, dokumentarischen Stil. In der Skizze „Po sneguŖ (Durch den Schnee)8 beschreibt er detailliert, wie Lagerhäftlinge unter unvorstellbaren Strapazen Zufahrtswege für Lastwagen und Traktoren durch die verschneite Kolyma bahnen. Die Gefangenen schaffen selbst die Infrastruktur für die tödliche Ausbeutungsmaschinerie des Gulag, deren Opfer sie sind. Im letzten Satz verleiht Ńalamov seinem Text überraschend eine poetologische Tiefendimension. Die realistische Szenerie wird zum Emblem für das spezifische Dilemma der Lagerliteratur: Indem diese Literatur uns die Welt der Lager erschließt, sie für uns zugänglich macht, verstellt sie zugleich den Blick auf die Realität, der sie entspringt. Denn die Trasse, auf der die Leser den Gulag betreten, mag durch das gleiche Gelände führen, das der Autor

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vor Augen hatte, als er sie unter Einsatz seines Lebens schuf Ŕ und doch lässt sie diese Erfahrung niemals einholen, sein Leiden allenfalls erahnen. Der Weg, den die Literatur durch die Schneehölle bahnt, festigt die Spuren der Opfer und bringt sie zugleich zum Verschwinden. Vor allem aber rückt Ńalamovs Bild die Leser von Lagerliteratur in eine prekäre Nähe zu den Profiteuren der Zwangsarbeit, die mit ihren Lastwagen den von den Häftlingen gebahnten Weg befahren.9 Adornos Grundverdacht gegenüber einer Kunst, die die Opfer nur ein weiteres Mal ausbeutet, schwebt auch über den „Erzählungen aus KolymaŖ. Ńalamov begreift die staatlich angeordnete Massenvernichtung Ŕ Kolyma, Auschwitz, Hiroshima Ŕ als Zäsur, die nach einer radikalen Infragestellung der literarischen Tradition verlangt.10 Die Suche nach einer angemessenen künstlerischen Form für das jede Vorstellung übersteigende Grauen ist ihm ein ethisches Gebot. Dem Thema adäquat sind allein solche Verfahren, die das unausweichliche Versagen der Literatur angesichts dieses Grauens nicht verbergen, sondern gezielt zum Vorschein bringen. Zum einen bedeutet dies den Verzicht auf jegliche Didaktik, zum anderen das „Eliminieren von allem, was man als ‚LiteraturŘ bezeichnen kannŖ.11 In dem programmatischen Essay „O prozeŖ (Über Prosa) vergleicht Ńalamov seine Erzählungen mit einem „dem Leiden abgerungenen DokumentŖ (proza, vystradannaja, kak dokument, V, 157). Die Geste betonter Kunstlosigkeit, mit der er seine Texte präsentiert, täuscht jedoch leicht über deren ästhetische Qualität hinweg. Tatsächlich wurde Ńalamovs Prosa zunächst nicht so sehr als Kunst gesehen wie als Zeugnis von beklemmender Authentizität. Dass diese Authentizität feinstem literarischem Kalkül entspringt, hat erst die jüngere Forschung in den Blick gerückt.12 Auch „Zaklinatelř zmejŖ wirkt auf den ersten Blick eher formlos, fast schon fragmenthaft. In Wahrheit handelt es sich jedoch um einen äußerst durchdachten, komplex strukturierten Text, der seine eigene vordergründige Aussage auf subtile Weise hinterfragt und relativiert. Ńalamov lässt die Geschichte nämlich nicht von Platonov selbst, sondern gleichsam als dessen Vermächtnis durch einen Mithäftling präsentieren. Diesen Mithäftling Ŕ Ńalamovs Ich-Erzähler Ŕ hat Platonov in seinen Plan eingeweiht, nach der Entlassung eine autobiographische Erzählung mit dem Titel „Der SchlangenbeschwörerŖ zu verfassen. Nach Platonovs Tod im Lager schreibt der überlebende Leidensgenosse die Erzählung an seiner statt Ŕ eine verschachtelte Konstruktion, die dem Text Doppelbödigkeit verleiht. Solche Vielschichtigkeit wird zusätzlich noch vertieft durch eine Reihe gestaffelter intertextueller Bezüge. Diese reichen von den „Erzählungen aus Tausendundeiner NachtŖ über Gavrila Derņavin, Aleksandr Puńkin und Andrej Platonov bis hin zu Ńalamovs eigenem Werk. Ńalamov betrachtete seine Kolyma-Erzählungen als Einheit und wehrte sich vehement gegen eine isolierte Veröffentlichung einzelner Texte.13 Tatsächlich besitzen die „Erzählungen aus KolymaŖ einen doppelten inneren Zusammenhalt: Jeder der sechs Zyklen ist zugleich ein in sich geschlossenes Gebilde und unverrückbarer Teil des übergreifenden

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Ganzen. Die einzelnen Texte entfalten erst im Rahmen dieser Gesamtkomposition ihre volle Bedeutung.14 Dies gilt auch für „Zaklinatelř zmejŖ. Im Kontext der Kolyma-Erzählungen gelesen, erweist sich die Erzählung als poetologische Reflexion über Grenzen und Möglichkeiten der Literatur im Angesicht des Bösen. „Zaklinatel’ zmej“ im Kontext der „Erzählungen aus Kolyma“ Kein Aspekt des Lagerlebens war Varlam Ńalamov so verhasst wie die Herrschaft der Berufskriminellen. Während er sogar der Obrigkeit des Gulag noch einen Rest von Menschlichkeit bescheinigte, befanden sich die Kriminellen für ihn jenseits des Humanen: „Die Ganoven […]Ŗ, beschied er lapidar, „sind keine Menschen.Ŗ15 Die unfassbare Brutalität, mit der die Berufskriminellen die übrigen Häftlinge terrorisierten, ist vielfach beschrieben worden. Dass ausgerechnet diese skrupellosesten aller Verbrecher mit offizieller Duldung die Spitze der Lagergesellschaft bildeten, war in Ńalamovs Augen symptomatisch für die Verkehrung aller Maßstäbe im Gulag und letztlich auch in der gesamten stalinistischen Sowjetunion. Tatsächlich genossen die Kriminellen als „sozial NahestehendeŖ (socialřnoblizkie) lebensrettende Privilegien, während die politischen Gefangenen, von denen viele auch noch in der Haft gläubige Kommunisten blieben, als „sozial GefährlicheŖ (socialřno-opasnye) den untersten Rang der Hackordnung einnahmen. Vorübergehend kam es sogar ganz unverhohlen zum „KonkordatŖ (II, 22) zwischen der Sowjetmacht und den Kriminellen, wenn diese offiziell zur Kontrolle der Politischen eingesetzt wurden. Im Klartext hieß das: Sie konnten mit höchster Billigung willkürlich rauben und morden.16 Wer die Bedeutung der Ganoven nicht begreift, hat „weder vom Lager noch von der zeitgenössischen Gesellschaft etwas begriffenŖ, schrieb Ńalamov in „O prozeŖ. So wichtig war ihm dieses Thema, dass er den fünf Prosazyklen seinen Kolyma-Erzählungen eine soziologische Studie über die Kriminellen beifügte: „Oĉerki prestupnogo miraŖ (Skizzen über die Verbrecherwelt). Das Kapitel „Kak ‚tiskajut rómanyřŖ (Wie man Romane stanzt) widmet sich ausführlich dem literarischen Sklavendienst, den Häftlinge wie der Intellektuelle Platonov für einen Brotranft oder ein wenig Suppe verrichten mussten. Und auch hier verwendet Ńalamov das Bild des Schlangenbeschwörers. Anders als in der Erzählung, wo dieses Bild zwar titelgebend ist, aber nirgends explizit erläutert wird, liefert er nun einen Schlüssel zu dessen Deutung. Als „KulturarbeiterŖ oder „SchlangenbeschwörerŖ, heißt es in der Skizze, sehen sich jene Lagerliteraten, die hinter ihrer erniedrigenden Tätigkeit einen tieferen Sinn erkennen wollen. Gleich, ob sich die erzwungenen Unterhaltungskünstler als Pädagogen verstehen, die die Verbrecher mit ernsthafter Literatur zu bekehren versuchen, oder als Dompteure, die sie mit Klangzauber in Schach halten Ŕ die Tatsache, dass sie um des nackten Überlebens willen in den Dienst der kriminellen Macht treten, gewinnt in beiden Fällen einen heroischen Anstrich: Man verkauft sich nicht an das Böse, sondern kämpft gewissermaßen von innen dagegen an: „Unter diesen hungrigen ‚RomanistenŘ finden sich auch welche mit ‚ideellem AnspruchŘ, vor allem

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nach ein paar Tagen relativer Sattheit. Sie versuchen ihren Zuhörern auch etwas Ernsthafteres als ‚Die Bande der HerzbubenŘ zu erzählen. Ein solcher ‚RomanistŘ empfindet sich als Kulturarbeiter am Ganoventhron. Unter ihnen gibt es ehemalige Literaten, die stolz darauf sind, ihrem ursprünglichen Beruf unter so merkwürdigen Bedingungen treu geblieben zu sein. Es gibt auch solche, die sich als Schlangenbeschwörer empfinden, als Flötenspieler, die vor einem sich windenden Knäuel von Giftschlangen ihr Lied zum Besten geben…Ŗ (II, 102). Der fiktive „RomanistŖ Platonov erprobt nacheinander beide Rechtfertigungsstrategien. In der unmittelbaren Konfrontation mit den Kriminellen entlastet er sich vor sich selbst, indem er die nächtlichen Erzählsitzungen zur aufklärerischen Tat stilisiert. Im Rückblick dann versucht er es, wie der Titel seiner geplanten autobiographischen Prosa zeigt, mit der Vorstellung, als „SchlangenbeschwörerŖ die Ganoven zwar nicht bekehren, aber doch immerhin ihr mörderisches Potential vorübergehend bändigen zu können. Als Platonov zum persönlichen Geschichtenerzähler des Ganovenchefs Fedja aufsteigt, ist ihm bewusst, dass er sich damit auf Gedeih und Verderb einer teuflischen Macht ausliefert. Mit dem „StanzenŖ von Romanen hat er schon früher, im Untersuchungsgefängnis, für die Unterhaltung der Häftlinge gesorgt aber, „dort […] waren Menschen. Und hier?Ŗ (122). Platonov beschwichtigt seine Skrupel, indem er sich einredet, erzieherisch auf die Unmenschen einwirken zu können: „Er wird ihnen echte Literatur nahebringen. Ein Aufklärer wird er sein. Er weckt in ihnen das Interesse am künstlerischen Wort, selbst hier, ganz unten im Leben, wird er seine Arbeit tun, seine Pflicht erfüllenŖ (122). Die hehre Vision entlockt ihm sogar ein Lächeln Ŕ das erste „an diesem schweren TagŖ (123). Ńalamov lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesem Rechtfertigungsversuch um eine bloße Selbsttäuschung seines Helden handelt. Ein Kommentar des Ich-Erzählers entlarvt Platonovs Selbststilisierung zum moralisch verantwortlichen Künstler als Anachronismus, der in der Lagerwelt fast schon lächerlich anmutet: Platonov wolle sich, so der Erzähler, „aus alter GewohnheitŖ (122) nicht eingestehen, dass sein Tun nicht edlen Motiven, sondern einzig und allein dem nackten Überlebenswillen entspringt. Tatsächlich fällt Platonovs Hoffnung, mit „echter LiteraturŖ Licht ins Höllendunkel zu bringen, gleich in der ersten Nacht in sich zusammen. Nicht er, sondern Fedja bestimmt ja die Auswahl der vorzutragenden Werke. Und in Fedjas Lektürekanon für das nächtliche Unterhaltungsprogramm finden sich ausschließlich Abenteuer- und Schauerromane, die seiner Vorstellung von Gaunerromantik entsprechen: Victor Hugos „Les MisérablesŖ, Dumasř „Le Comte de Monte-CristoŖ, Ponson du Terrails Rocambole-Romane. In „Oĉerki prestupnogo miraŖ bezichtigt Ńalamov solche Texte, das kriminelle Milieu in unzulässiger Weise zu idealisieren. Mehr noch, für angehende Jungganoven können sie regelrecht als literarische Einstiegsdroge dienen (II, 14). Indem Platonov diese Droge verabreicht, verrät er sein aufklärerisches Ideal. Er betätigt sich eher als Dealer, der die Realität im Sinne der Macht narkotisch verklärt denn als Sozialarbeiter, der sie zu reformieren versucht.

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Im Kontext von Ńalamovs theoretischen Schriften gewinnt der Kommentar des Ich-Erzählers, Platonov glaube „aus alter GewohnheitŖ an die Pflicht des Künstlers zur Erziehung der Menschheit, einen tieferen Sinn. So betrachtet, steht Platonovs Scheitern exemplarisch für den Irrweg, den die russische Literatur seit Mitte des 19. Jahrhundert einschlug und auf dem sie zu Ńalamovs Unmut trotz Kolyma und Auschwitz weiterhin fortschreitet. In seinen Essays und Notizen polemisiert Ńalamov gegen das traditionelle Selbstverständnis der russischen Schriftsteller als Propheten einer humanistischen Moral, wie es auch Solņenicyn noch pflegt. Eine solche Haltung verkennt in fataler Weise, dass diese Moral in den Lagern keinen Bestand hat, dass sie unter den Bedingungen der Massenvernichtung hoffnungslos versagt. Ja, für Ńalamov wurde die russische Literatur mit ihrem latenten Erlösungsanspruch unfreiwillig zum Wegbereiter des staatlich organisierten Verbrechens im Namen eines künftigen universalen Glücks: „Auf den russischen humanistischen Schriftstellern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lastet eine gewaltige Schuld an dem Blutvergießen, das im 20. Jahrhundert unter ihrer Fahne begangen wurde. Alle Fanatiker sind Schüler der russischen Humanisten.Ŗ17 In der thematisch an „Zaklinatelř zmejŖ anknüpfenden Erzählung „BolřŖ (Der Schmerz, 1967)18 führt Ńalamov beides vor: den Zusammenbruch der auf humanistischen Idealen beruhenden Kultur im Gulag und ihre unbeabsichtigte Teilhabe am Verbrechen. Der Protagonist Ńelgunov, ein Kolyma-Häftling und „RomanistŖ wie Platonov, ist ein geistiges Produkt des 19. Jahrhunderts. Den Glauben an die rettende Kraft des künstlerischen Wortes hat er quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Von diesem Glauben rückt er auch im Gulag nicht ab, obwohl ihm die Realität von Kolyma brutal vor Augen führt, wie seine Ideale mit Füßen getreten werden: „Das neunzehnte Jahrhundert, dieses goldene Jahrhundert der Menschheit, hatte Ńelgunov geformt. Teile dein Wissen. Glaube den Menschen, liebe die Menschen Ŕ so hatte es die große russische Literatur gelehrt, und Ńelgunov fühlte schon lange die Kräfte in sich, der Gesellschaft zurückzugeben, was er als Erbe empfangen hatte. Sich opfern Ŕ ganz gleich, für wen. Sich gegen das Unrecht erheben, wie trivial es auch sein mochte, vor allem, wenn das Unrecht in Reichweite warŖ (II, 167). Ńelgunov mag nicht glauben, „dass das 19. Jahrhundert ihn betrogen hatŖ (II, 168). Weil er sogar in der Lagerhölle an seinem Selbstbild als literarischer Weltverbesserer festhält, wird er zum Handlanger des Bösen, das er bekämpfen will. Wie Platonov, entgeht auch Ńelgunov dem sicheren Tod, weil ihn ein Gangsterkönig zu seinem persönlichen Geschichtenerzähler kürt.19 Und auch er will sich nicht eingestehen, dass er mit seiner Kunst nur die eigene Haut zu retten versucht. Für Ńelgunov wird der erzwungene Dienst als Entertainer des „KönigsŖ zur heiligen Mission. Die literarische Erziehung des Ganovenchefs ist gewissermaßen der Prüfstein, ob sich das humanistische Ideal auch unter den Extrembedingungen des Lagers bewähren wird. Das Gegenteil tritt ein: Der Gangsterkönig durchschaut Ńelgunovs Absicht und treibt zum eigenen Amüsement ein grausames Spiel mit dem arglosen Hoferzähler. Während sich dieser bereits über die

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Früchte seiner literarischen Erziehungsarbeit freut, diktiert er dem Ahnungslosen das Skript zu einer realen Tragödie. Als Phantomschreiber des Königs verfasst Ńelgunov Briefe an eine ihm unbekannte Adressatin. Wieder in Freiheit, muss er zu seinem Entsetzen erkennen, dass die Briefe an seine eigene Ehefrau weitergeleitet wurden und sie in den Selbstmord trieben. Ńelgunovs Glaube an die Macht der Kunst zur Umgestaltung des Lebens bestätigt sich auf diabolische Weise. Im Namen des humanistischen Ideals wird er zum ghostwriter des Teufels, der das Böse als selbstzweckhaftes Spiel betreibt. Ńalamov verurteilt seinen Protagonisten nicht. Ńelgunov wird Opfer eines tragischen Irrtums. Der Erzähler von „BolřŖ macht deutlich: Schuld am Unglück des „RomanistenŖ ist seine Verblendung durch die Literatur, die die kriminelle Unterwelt romantisch verklärt. Weil sie die Gesetzlosen traditionell als potentielle Verbündete im Kampf gegen die repressive Staatsmacht begreift, verkennt sie, dass im stalinistischen System die Ganoven nicht nur Erfüllungsgehilfen dieser Macht sind, sondern deren wahres, verbrecherisches Wesen erst unverhüllt zum Ausdruck bringen.20 Anders als Ńelgunov erliegt Platonov nur kurz dem Mechanismus der Selbsttäuschung, mit dem er seine Tätigkeit als Alleinunterhalter des Kriminellenchefs moralisch zu rechtfertigen sucht.21 Im Rückblick macht sich Platonov keine Illusionen darüber, dass dem Teufel mit Romanen nicht beizukommen ist.22 Der Titel, den er für seine geplante autobiographische Erzählung wählt, lässt ahnen, dass er den Glauben an das erzieherische Potential der Literatur längst verloren hat. Der Lager-„RomanistŖ ist kein „AufklärerŖ, sondern bestenfalls ein „SchlangenbeschwörerŖ. Er kann das Böse vorübergehend hypnotisieren, bekehren kann er es nicht. Dieser bescheidene Anspruch wird immerhin durch den Schluss der Erzählung implizit bestätigt. Dank der Immunität, die Platonov als ein Protegé des Kriminellenchefs Fedja genießt, verschafft er sich einen minimalen moralischen Handlungsspielraum. Indem er darauf verzichtet, sich mit Fedjas Hilfe an einem brutalen Mithäftling zu rächen, durchbricht er zumindest für einen Augenblick die Gewaltspirale, die das Gesetz des Lagers bildet. Das Gewicht dieser moralischen Entscheidung angesichts widrigster Umstände kann bei oberflächlicher Lektüre leicht unterschätzt werden. Denn Ńalamov macht auffallend wenig Aufhebens darum. Er gestaltet den Moment der ethischen Wahl derart unspektakulär, dass man ihn fast übersieht Ŕ getreu seiner Überzeugung, dass die Literatur nach Kolyma und Auschwitz jedes Recht auf moralische Belehrung verwirkt habe. Seine Prosa werde die Menschen nicht bessern, betont Ńalamov in einer Notiz. Aber vielleicht könne sie die Leser dazu bewegen, „sich selbst für irgendeine würdige Tat […] zu entscheiden Ŕ […] irgendein kleines PlusŖ.23 In „Zaklinatelř zmejŖ führt Ńalamov unauffällig vor, wie die Literatur in der durch und durch „negative[n] SchuleŖ des Lagers ein solch scheinbar unbedeutendes Plus bewirkt. Es ist Sache der Leser, dies zu bemerken. Der erste, als „Kolymskie rasskazyŖ betitelte Zyklus der Kolyma-Erzählungen enthält neben „Zaklinatelř zmejŖ noch zwei weitere Texte, die sich mit der Welt der Berufsverbrecher befassen. In „Na predstavkuŖ (Auf Ehrenwort) schil-

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dert Ńalamov gleich zu Beginn des Zyklus die beiläufige Alltäglichkeit des Mordens, die den Kosmos der Kriminellen prägt. In der Mitte stellt er mit „Zaklinatelř zmejŖ die Frage nach Macht und Ohnmacht der Literatur gegenüber den Verbrechern. Zum Ende hin zeigt er in der Erzählung „Krasnyj krestŖ (Rotes Kreuz), wie das Gift der Ganovenkultur die gesamte Lagerwelt durchdringt. Ńalamov begriff seine Zyklen als Einheit und verwendete viel Sorgfalt auf ihre Komposition. Die Tatsache, dass er die drei Texte an Schlüsselstellen der „Erzählungen aus KolymaŖ plaziert Ŕ sie bilden gewissermaßen Rahmen und Zentrum des Zyklus Ŕ, verweist auf ihre Bedeutung in dessen Gesamtgefüge.24 Tatsächlich spiegelt sich in der Anordnung der Texte Ńalamovs Ringen mit einem fundamentalen Problem der Lagerliteratur: der Tatsache, dass die Kunst, indem sie das Leiden der Opfer artistisch gestaltet, immer auch Gefahr läuft, es zu Unterhaltungszwecken auszuschlachten. Wie Literatur auch da, wo sie im moralischen Gewand erscheint, letztlich bloß dem Entertainment dient, zeigt Ńalamov in seiner theoretischen Skizze über die „RomaneerzählerŖ von Kolyma. Der Roman, so Ńalamov, ist das bevorzugte Genre der Ganovenchefs; denn seine „SujethaftigkeitŖ (sjuņetnostř) garantiert, was die Kriminellen von der Literatur erwarten: die Vertreibung der Langeweile in der Monotonie des immer gleichen, „sujetlosenŖ Lageralltags.25 In der mündlichen Darbietung der Lagererzähler wird jeder Roman auf das spannungstragende Grundgerüst der Handlung reduziert: Die Kriminellenwelt konsumiert Literatur gewissermaßen als Serienprodukt einer Unterhaltungsindustrie, die nach dem bewährten Muster eine beliebige Zahl an packenden Geschichten „stanztŖ26 (Nicht zufällig wird in „Zaklinatelř zmejŖ ein Angehöriger dieser Industrie, ein ehemaliger Drehbuchautor, zum „LagerromanistenŖ). Dieses Verfahren funktioniert selbst dort, wo der Autor mit seinem Sujet ein dezidiert moralisches Anliegen verfolgt. Ńalamov macht deutlich: Sogar ein Text wie Lev Tolstojs „Anna KareninaŖ lässt sich von den Lagererzählern zum leicht genießbaren Groschenroman eindampfen, weil er die nötigen Ingredienzien enthält, nämlich „SujethaftigkeitŖ und eine „sexuelle NoteŖ (II, 97). Die philosophisch-ethische Tiefendimension des Textes erweist sich damit als überflüssiges, leicht zu beseitigendes Beiwerk. Im Kern ist auch „Anna KareninaŖ vor allem eines: gute Unterhaltung. Dass sich Tolstoj selbst aus ähnlichen Erwägungen heraus vorübergehend ganz von der Belletristik abwandte, steht als unausgesprochener Gedanke hinter Ńalamovs Überlegungen. „Der Roman ist totŖ, verkündet Ńalamov in seinem Manifest „O prozeŖ. Nach den Kataklysmen des 20. Jahrhunderts Ŕ Revolution, Kriege, Lager Ŕ wirken die „künstliche[n] Kollisionen und KonflikteŖ überholt (V, 144). In den „Skizzen über die VerbrecherweltŖ liefert Ńalamov implizit einen formalen Grund für seine Ablehnung des Genres: Wer das Leben im Gulag als „RomanŖ, das heißt als sujethafte, spannungserzeugende Ereigniskette präsentiert, muss es unweigerlich verharmlosen. Denn der Lageralltag ist wesentlich „sujetlosŖ (II, 94). Sein Horror besteht gerade in der Eintönigkeit, mit der Entbehrung, Grausamkeit und Tod das Dasein der Häftlinge Tag für Tag, über Jahre hinweg bestimmen.

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In den drei Erzählungen über die Kriminellenwelt aus den „Erzählungen aus KolymaŖ wird diese Problematik performativ in drei aufeinanderfolgenden Schritten verhandelt. Der bewusste Verzicht auf „LiteraturhaftigkeitŖ, der Ńalamovs Poetik ausmacht, zeigt sich hier in einer fortschreitenden Zerstörung des Sujets.27 Auch dort, wo das Sujet noch dominiert, baut Ńalamov gezielt Störfaktoren ein, die ein Konsumieren des Textes als spannende Geschichte verhindern: In „Na predstavkuŖ präsentiert er den Mord, in dem die Erzählung kulminiert, als belangloses Ereignis und veranschaulicht mit dieser Antiklimax die schockierende Normalität der Gewalt im Gulag. „Zaklinatelř zmejŖ setzt ein wie eine klassische Novelle mit Rahmen- und Binnenerzählung. Doch dann lässt Ńalamov die Spannungskurve, die das Genre verheißt, jäh abbrechen, noch ehe sich die Handlung entwickeln kann. Der Text wirkt auf den ersten Blick wie ein Fragment. Dass das scheinbar unvermittelte Ende eine zentrale Aussage enthält, erschließt sich erst bei wiederholter Lektüre. In „Krasnyj krestŖ überschreitet Ńalamov schließlich nicht nur die Grenze zum sujetlosen Erzählen; er verabschiedet sich überhaupt von der Kunst. Der Text mündet nach mehreren Anläufen zur traditionellen Erzählprosa in ein rein diskursives Traktat gegen die Kriminellen.28 Indem Ńalamov das Unterhaltungspotential seiner Texte gezielt untergräbt, verhindert er, dass er sich mit seiner Lagerprosa zum „RomanistenŖ einer behaglichen Leserschaft macht. Und er erspart seinem Publikum die zweifelhafte Rolle des selbstherrlichen Genießers, der sich von den Schreckensgeschichten Schauer über den Rücken jagen lässt und dabei ignoriert, dass sie in realem, unfassbarem Leiden wurzeln. Die Struktur Die Geschichte von „Zaklinatelř zmejŖ ist eingebettet in eine dialogische Rahmensituation. Während einer Arbeitspause erfährt der Ich-Erzähler von seinem Mithäftling Platonov, wie sich dieser als „RomanistŖ in den Dienst der kriminellen Macht stellte. Daraufhin diskutieren die beiden Gesprächspartner in stenographischer Kürze, inwieweit ein solches Verhalten zu rechtfertigen ist. Der Ich-Erzähler wirkt dabei merkwürdig ambivalent: Einerseits betont er mit dem Anschein moralischer Überlegenheit, er selbst habe sich nie dazu herabgelassen, „für eine SuppeŖ Romane zu erzählen. Andererseits erteilt er Platonov Absolution: „Einem hungrigen Menschen kann man viel verzeihen, sehr vielŖ (118 f.). Diese Ambivalenz ist nicht etwa Ausdruck von Ńalamovs Unschlüssigkeit. Sie ist Abbild einer differenzierten Reflexion über die moralische Verantwortung des Schriftstellers im Umgang mit einer repressiven Macht. Dies zeigt sich freilich erst, wenn man die Äußerungen des Erzählers im Zusammenhang mit der komplexen Struktur des Textes betrachtet.29 Die verschachtelte Konstruktion von Rahmen- und Binnenerzählung öffnet nämlich drei unterschiedliche Räume, in denen sich das Problem von Literatur und Macht jeweils anders darstellt. Ńalamov macht deutlich: Für jeden dieser Räume gelten unterschiedliche Maßstäbe. Weder der moralische Rigorismus noch die apologetische Haltung dürfen absolut ge-

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setzt werden. Dem Dilemma des Künstlers, der sich an die Macht verkauft, werden sie nur unter ganz bestimmten Umständen gerecht. Diese wollen immer mitbedacht sein. Zwei der drei Räume in „Zaklinatelř zmejŖ sind die konkreten Schauplätze der Rahmen- bzw. Binnenhandlung: zum einen der Ort der Begegnung zwischen IchErzähler und Platonov in einem unbestimmten Lager, zum anderen die Goldmine Dņanchara. Der dritte Raum muss hinzugedacht werden; es handelt sich um den Standpunkt des Ich-Erzählers zum Zeitpunkt der Niederschrift von Platonovs Geschichte. Dieser Ort wird nicht näher charakterisiert; es ist jedoch klar, dass er sich außerhalb des Arbeitslagers befindet.30 Die drei Räume fügen sich somit zu zwei Oppositionen, die durch je eine Zäsur voneinander getrennt sind: hier die nach ihrem Härtegrad unterschiedenen Sphären innerhalb des Lagers, die auch typographisch sichtbar voneinander abgesetzt sind, dort der Gegensatz von Lager- und Außenwelt. Der Begegnungsort fungiert gewissermaßen als Achse zwischen den beiden Extremen, dem Sklavenregime von Dņanchara und der (relativen) Freiheit außerhalb des Gulag. Jeder der drei Räume zeigt den Schriftsteller in seinem Verhältnis zur Macht. In Dņanchara liefert Platonov seinen Herren am Fließband literarische Wunscherfüllung. Nach der Entlassung aus dem Arbeitslager verfasst der Ich-Erzähler einen Text, der die sowjetische Zensur nicht passieren wird („Zaklinatelř zmejŖ konnte erst 1988 in der Sowjetunion erscheinen).31 An der Kontaktstelle zwischen Erzähler und Protagonist werden die gegensätzlichen Positionen theoretisch verhandelt: die konsequente Verweigerung gegenüber der Macht ebenso wie der Versuch, sich mit ihr zu arrangieren. Die Rahmenerzählung stellt gleich zu Beginn klar: Auch innerhalb der Hölle von Kolyma gibt es eine Dimension des Grauens, die selbst das Vorstellungsvermögen eines langjährigen Lagerinsassen wie des Ich-Erzählers übersteigt. Die Goldmine Dņanchara ist ein solch mythischer Schreckensort.32 Schon die Tatsache, dass das Gespräch mit Platonov während einer Arbeitspause stattfinden kann, muss einem Überlebenden des berüchtigten Bergwerks regelrecht paradiesisch erscheinen. Denn dort bedeutet auch das offizielle Arbeitsende „mitnichten ein Ende der ArbeitŖ (119). Auf die zu Tode Erschöpften warten unendliche Strapazen, ehe sie auf den überfüllten Pritschen wenige Stunden Schlaf finden. Überhaupt läuft in Dņanchara die Zeit anders: Die bloße Erwähnung des Ortes lässt Platonov sichtbar um zehn Jahre altern Ŕ Ausdruck des unvorstellbar beschleunigten Verschleißes menschlicher Lebenskraft, der dort herrscht. In dieser Welt bedeutet die Weigerung, für eine Suppe Romane zu erzählen, in doppelter Hinsicht ein sicheres Todesurteil. Zum einen wird unter der Herrschaft der Kriminellen jeder Einspruch gegen die Macht mit der Höchststrafe belegt: „Aber leben willst du?Ŗ fragt der Ganovenchef Fedja, als Platonov zunächst zögert, sich zu ihm auf die Pritsche zu setzen (121).33 Zum anderen kann in der Hölle von Dņanchara ein Löffel Suppe über Leben oder Tod entscheiden. So gesehen erweist sich der moralische Rigorismus des Ich-Erzählers als Luxus, den er sich nur leisten kann, weil er den Raum, in dem sich Platonov an die Macht verkauft, nie betreten musste. Hätte er in der Goldmine Dņanchara solche Stand-

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festigkeit bewiesen, wäre er nicht mehr am Leben. Der Erzähler ist sich bewusst, dass für die beiden Räume unterschiedliche Maßstäbe gelten müssen. Als Platonov ihn fragt, ob er sein Tun verurteile, antwortet er: „KeineswegsŖ (119).34 „Bloß nichts über TraktorenŖ will der Ganovenchef Fedja von seinem „RomanistenŖ hören Ŕ keine stalinistische Produktionsliteratur also, sondern „was Längeres, SpannenderesŖ im Stil des „Grafen von Monte ChristoŖ (123). Fedjas Bemerkung schlägt gewissermaßen den Bogen zum dritten, gedachten Raum der Erzählung: der Welt außerhalb des Arbeitslagers. Implizit legt Ńalamov hier eine Analogie zwischen der Situation des Geschichtenerzählers in Dņanchara und der des Schriftstellers in Stalins Sowjetunion nahe.35 Von beiden wird verlangt, dass sie die von der Macht gesetzte ästhetische Norm erfüllen, schablonenhafte Auftragsliteratur liefern. Beide müssen für einen kriminellen Herren Romane „stanzenŖ, in denen die Protagonisten das Verbrechen moralisch verklären: Der Graf von Monte Christo und ehemalige Kerkerhäftling Dantès verkauft seine sinisteren Machenschaften als gerechte Rache eines zu Unrecht Verurteilten. Der Traktorist, Inbegriff des positiven Helden zahlreicher Produktionsromane, präsentiert die Zwangskollektivierung als eine heroische Etappe im Aufbau der künftigen, gerechten Gesellschaft. Dem Ich-Erzähler erscheint dieses „RomanestanzenŖ für eine verbrecherische Macht nur dort entschuldbar, wo die Weigerung zum Tod führt. Hier greift die Moral nicht mehr, steht uns kein Urteil zu. Solange der Preis geringerer ist, bedeutet das Dasein eines „RomanistenŖ die „letzte Erniedrigung, das EndeŖ (118). In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass Ńalamovs Erzählung im Erscheinungsjahr von Ilřja Ėrenburgs Tauwetter-Roman entstand, das heißt zu einer Zeit, da sich nach Stalins Tod den sowjetischen Schriftstellern ein gewisser, wenn auch nur geringer Spielraum eröffnete. Wer nun von den Schablonen des Sozialistischen Realismus abwich, musste nicht länger um sein Leben fürchten. So gesehen enthält die Erzählung eine implizite Mahnung an die Schriftsteller, jeweils abzuwägen: Erfüllen sie die Vorgaben der Macht tatsächlich aus existentieller Bedrohung oder lediglich aus mangelnder Bereitschaft zum Verzicht Ŕ sei es auf Privilegien oder auf ein so elementares Gut wie die Freiheit. Der Appell des Autors wurde nicht gehört. Erzählungen wie „Zaklinatelř zmejŖ waren auch unter den gelockerten Bedingungen des Tauwetters nicht publizierbar. Ńalamov ließ sich davon nicht beirren. Er schrieb weiterhin so, wie es ihm vertretbar erschien Ŕ für die Schublade.36 Im Rahmentext von „Zaklinatelř zmejŖ stellt Ńalamov die moralische Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Macht. In der Binnenerzählung geht es um ein grundsätzlicheres Problem: die Bedingtheit von Moral. Angesichts der brutalen Zustände im Lager Dņanchara kommt Platonov zu dem Schluss: Nicht die Moral macht den Menschen aus. Überhaupt gründet das specificum humanum nicht in irgendeiner geistigen Eigenschaft. Was den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet, ist einzig die Zähigkeit, mit der er sich auch noch unter den widrigsten Umständen „physisch, nur physischŖ ans Leben zu klammern vermag (120).

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Die Frage „Ist das ein Mensch?Ŗ, die Primo Levi für die Insassen der nationalsozialistischen Konzentrationslager aufwarf, steht auch im Mittelpunkt der „Erzählungen aus KolymaŖ. Ńalamov nähert sich ihr aus zwei Richtungen. Zum einen zeigt er die schrittweise Entmenschlichung der Häftlinge bis hin zu ihrer Metamorphose in wandelnde Tote, die sogenannten „dochodjagiŖ Ŕ Pendant zu den „MuselmännernŖ in den Lagern des NS-Regimes. Zum anderen führt er in einer Gegenbewegung vor, wie die Überlebenden etappenweise die gesamte Skala geistiger und emotionaler Fähigkeiten wiedergewinnen.37 Diese Etappen finden ihre Entsprechung in den drei Räumen der Erzählung: von der Beschränktheit auf das rein animalische Überleben in Dņanchara über die Rückkehr geistig-moralischer Interessen unter den gemäßigteren Bedingungen des Lagers in der Rahmenerzählung bis hin zur vollen Wiederherstellung der Gesamtpalette menschlicher Empfindungen außerhalb des Lagers. Letztere bleibt jedoch allein dem Ich-Erzähler vorbehalten. Platonov überlebt den Gulag nicht. Er fällt noch hinter die animalische Stufe zurück auf die Ebene der bloß materiellen Existenz. Eine „leichte Last aus Haut und KnochenŖ (119) ist alles, was von ihm bleibt. Dagegen überlebt der Erzähler nicht nur; er ist am Ende sogar wieder fähig, Liebe zu fühlen Ŕ eine Empfindung, die den Gefangenen im Lager völlig abhanden kommt. Ein solches Wiedererwachen des Liebesvermögens ist keineswegs selbstverständlich. In der Erzählung „SentencijaŖ (Sentenz) zeigt Ńalamov, dass die totale Entmenschlichung, wie sie die Lagerinsassen erfahren, nicht ohne weiteres aufzuheben ist. Gerade die Liebe ist von allen menschlichen Empfindungen diejenige, die zuallerletzt zurückkehrt, und auch dies ist nicht garantiert. Manche Häftlinge, so der bittere Schluss in „SentencijaŖ, haben die Fähigkeit zu lieben für immer verloren. Sie bleiben emotional amputiert.38 Der Ich-Erzähler bekennt im Rückblick, er habe Platonov geliebt, und es ist diese Einsicht, die ihn dazu bewegt, ihm mit seiner Erzählung ein Denkmal zu setzen. Das Erzählen tritt somit in allen drei Räumen des Textes in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Überleben. Im Binnentext erzählt Platonov Geschichten, um physisch zu überleben. Erinnern wir uns: „Aber leben willst du?Ŗ fragt Fedja, als er ihn in seinen Dienst zwingt (121). Im Rahmentext kehrt sich das Verhältnis um. Hier will Platonov das Lager physisch überleben, um seine eigene Geschichte erzählen zu können. „Wenn ich am Leben bleibe, […] schreibe ich darüber eine ErzählungŖ, verkündet er nach dem Gespräch über das moralische Dilemma des „SchlangenbeschwörersŖ (119). Literatur soll also nach der Lagerhaft ein Überleben im höheren Sinn ermöglichen: Durch sie will sich Platonov die geistig-ethische Dimension seines Menschseins wiedererschließen. Im gedachten Raum außerhalb des Lagers dient das Erzählen schließlich einem noch höheren Zweck, es soll einen anderen nach dem Tod fortleben lassen. Indem der Ich-Erzähler für Platonov ausführt, was diesem verwehrt blieb, wird er zum genauen Gegenpol des „RomanistenŖ in Dņanchara. Dieser muss um der bloßen physischen Selbsterhaltung willen für die Verbrecher Romane stanzen; er selbst erhebt das Schreiben zum Akt der caritas, der liebenden Solidarität mit den Opfern der verbrecherischen Macht.

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Intertextuelle Bezüge Zu Beginn der Erzählung „RURŖ vergleicht Ńalamov die Gulag-Häftlinge mit den Robotern aus Karel Ĉapeks berühmtem gleichnamigen Drama. Gleich im nächsten Absatz nimmt er den Vergleich wieder zurück und stellt klar, dass es sich bei der Abkürzung keineswegs um eine literarische Anspielung handelt, sondern um ein konkretes historisches Faktum: RUR bezeichnet in der Lagersprache eine „Rotte mit verschärftem RegimeŖ (rota usilennogo reņima). Ńalamov betont: Das intellektuelle Spiel mit kulturellen Bezügen ist ein Privileg des Autors, der das Lager nachträglich in einem weiteren Bedeutungszusammenhang begreifen will, und der gebildeten Leserschaft, die solche Bezüge zu entschlüsseln versteht. Mit der unmittelbaren Erfahrung der Häftlinge hat es nichts zu tun: „Wer von uns hätte im Jahr 1938 an Ĉapek gedacht […]? Erst zwanzig, dreißig Jahre später finden sich die Kräfte für Vergleiche, bei dem Versuch, die Zeit wiedererstehen zu lassen, die Farben, das Gefühl der ZeitŖ (1, 455). Ńalamov veranschaulicht hier in nuce ein Problem, das sich aus dem Doppelcharakter seiner Prosa ergibt. Die „Erzählungen aus KolymaŖ wollen Dokument sein, aber sie sind zugleich auch Literatur, die das Geschehen in einen kulturellen Kontext einbettet und ihm symbolische Tiefe verleiht. Diese Literarisierung der Fakten gerät in Konflikt mit dem Anspruch auf dokumentarische Wahrhaftigkeit. Zwischen der auf ein Minimum reduzierten Erfahrungs- und Gefühlswelt der Häftlinge und ihrer Vermittlung durch die Literatur tut sich zwangsläufig eine Kluft auf, die beim Lesen von Lagerliteratur mitbedacht sein will.39 Auch in „Zaklinatelř zmejŖ vollzieht Ńalamov den Spagat zwischen dokumentarischer Kargheit und literarischer Verdichtung. Zum einen präsentiert er Platonovs Versklavung durch Fedja mit szenischer Unmittelbarkeit und erreicht so eine höchstmögliche Annäherung an den Erfahrungshorizont seines Protagonisten.40 Zum anderen beleuchtet er das Dilemma des Künstlers, der der Macht dienen muss, im Dialog mit der kulturellen Tradition. Die literarischen Allusionen in dieser Erzählung schlagen einen Bogen vom mythischen Orient über das Russland der Zaren bis hin zur jüngsten Sowjet-Geschichte. Unübersehbar sind die Bezüge zu „Tausendundeiner NachtŖ.41 Schon die diegetische Struktur von „Zaklinatelř zmejŖ erinnert an den morgenländischen Klassiker mit der vielfach verschachtelten Rahmenerzählung. Vor allem aber erweist sich hier wie dort die Literatur als lebensrettende Kraft. Der Drehbuchschreiber Platonov ist in der Tat eine sowjetische Scheherazade. Wie die belesene Wesirstochter setzt auch er auf spannende Erzählkunst, um einen grausamen Despoten zu bessern. Und auch er tritt in ein quasi-erotisches Verhältnis zu dem Tyrannen: Er ersetzt Fedja dessen Lustknaben „MańkaŖ, indem er anstelle der körperlichen Befriedigung die raffinierteren Reize der Literatur bietet.42 Anders als Scheherazade hat Platonov jedoch keinen Freiraum bei der Auswahl seiner Geschichten, und eine Bekehrung des Gangsterchefs Fedjas durch die Macht des Wortes, wie sie Scheherazade bei ihrem König bewirkt, wird nicht in Aussicht gestellt. Durch das ironische Spiel mit „Tausendundeiner NachtŖ ent-

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larvt Ńalamov die Selbststilisierung des Schriftstellers zum Weltverbesserer und Erzieher der Mächtigen buchstäblich als Märchen. Und er verstärkt noch die politische Dimension des Textes. Die Analogie zwischen dem Verbrecher Fedja und dem paranoiden Despoten in „Tausendundeiner NachtŖ, der eine ganze Bevölkerungsgruppe Ŕ die Frauen Ŕ unter den Generalverdacht der Untreue stellt und prophylaktisch ermorden lässt, macht deutlich: Die „RomanistenŖ im Gulag sind nicht zuletzt eine Chiffre für die Schriftsteller, die sich für den ehemaligen Bankräuber Stalin zwangsprostituieren müssen.43 In „Zaklinatelř zmejŖ behandelt Ńalamov das Problem von Literatur und Macht nicht nur vor der mythischen Folie von „Tausendundeiner NachtŖ, sondern auch vor dem Hintergrund der russischen Geschichte. Dies zeigt der innere Monolog, in dem Platonov, als er vor den Gangsterchef Fedja zitiert wird, das Für und Wider des „RomanistentumsŖ abwägt. Platonov formuliert sein Dilemma in einer Begrifflichkeit, die auf eine innerliterarische Debatte im Russland des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zurückverweist: „Zum Hofnarren des Herzogs zu Mailand werden, zum Narren, den man für einen guten Scherz fütterte und für einen schlechten schlug? Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Er wird ihnen echte Literatur nahebringen. Ein Aufklärer wird er seinŖ (122). Der Hofnarr war ein gängiges Bild für den panegyrischen Dichter im Dienst der Zaren.44 Noch Aleksandr Puńkin sah in der Figur des höfischen Possenreißers die eigene prekäre Stellung gegenüber der Zarenmacht gespiegelt.45 Die Vorstellung, als Aufklärer auf die Autokraten einwirken zu können, verweist wiederum auf Puńkins Mentor Gavrila Derņavin. Dass der Dichter eine eigene moralische Macht darstelle, der sich auch die absolutistische Herrschaft nicht verschließen konnte, gehörte zum Selbstbild des langjährigen Hofpoeten.46 Doch Derņavin, der sich bekanntlich rühmte, in seinen Oden den Zaren „mit einem LächelnŖ die Wahrheit gesagt zu haben, zweifelte bisweilen an seinem tatsächlichen erzieherischen Einfluss.47 Auch Platonov „lächeltŖ bei dem Gedanken, als „RomanistŖ aufklärerisch wirken zu können, und weiß doch zugleich um den Illusionscharakter solcher Überlegungen: „Das hatte trotz allem mehr damit gemein, dem Dieb die schmutzigen Fersen zu kraulen, als mit der Tätigkeit eines AufklärersŖ (123). In „Oĉerki prestupnogo miraŖ streicht Ńalamov die Parallele zwischen den „RomanistenŖ im Lager und den Dichtern am Zarenhof noch deutlicher heraus: Wer als Geschichtenerzähler in den Dienst der Gangsterchefs tritt, hat gewissermaßen einen „Hofrang erhalten, die Uniform eines Kammerjunkers angelegt…Ŗ (II, 102). Und so wie sich die Zaren in feierlichen Oden verherrlichen lassen, bespiegeln sich die Gangster sehr gern in „RomanenŖ, deren kriminelle Helden in einem idealisierenden Licht erscheinen. In der Erzählung verleiht Ńalamov dem Vergleich besondere Brisanz, weil er ihn hier noch um eine aktuelle politische Komponente erweitert: Zwischen dem Gangsterchef Fedja und dem Diktator Stalin besteht, wie oben gezeigt, eine gewisse Übereinstimmung. Unter dem Sowjetregime, so die unausgesprochene Folgerung, ist die Situation der Schriftstel-

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ler um keinen Deut besser als im Zarismus. Hier wie dort sind die Dichter Hofpoeten einer absoluten Macht. In der Forschung wird diskutiert, inwieweit der Protagonist von „Zaklinatelř zmejŖ mit dem Verfasser identifiziert werden kann. Tatsächlich gibt es zwischen beiden gewisse biographische Parallelen. Wie sein fiktiver Namensvetter schrieb auch Andrej Platonov Drehbücher.48 Und auch er versuchte dem Terror zu entrinnen, indem er die Macht mit konformer Prosa belieferte, ehe man ihn endgültig zum Schweigen brachte.49 Eines der Werke, durch die sich Platonov Stalins Gunst zu erschreiben hoffte, trägt den Titel „DņanŖ und könnte Ńalamov zur Namensgebung für die fiktive Goldmine „DņancharaŖ angeregt haben.50 Andererseits ist der reale Andrej Platonov nie in einem Lager gewesen; und es ist auch nicht zweifelsfrei erwiesen, ob Ńalamov von „DņanŖ wusste, als er seine Erzählung schrieb. Vieles spricht dafür, dass Ńalamov den Namen seines Kollegen gleichsam als Gattungsbegriff für all jene sowjetischen Schriftsteller verwendet, die unter Stalins Tyrannei die eigenen moralischen Prinzipien zu bewahren versuchten.51 Der Ich-Erzähler in „Zaklinatelř zmejŖ liebt Platonov, weil dieser sich auch unter den widrigsten Umständen gegen die Entmenschlichung im Gulag stemmt. Tatsächlich zeigt Platonov selbst dann noch ein ausgeprägtes moralisches Empfinden, als ihm keinerlei Handlungsfreiheit mehr bleibt. Im Gulag bildet er damit eine Ausnahme. Unter den hungerleidenden Lagerinsassen ist das Amt des „RomanistenŖ heiß begehrt, schreibt Ńalamov in „Oĉerki prestupnogo miraŖ. Wenn bei einem solchen Fabulierer überhaupt einmal das Bedürfnis nach moralischer Rechtfertigung seiner Tätigkeit erwacht, so geschieht dies zumeist erst „nach ein paar Tagen relativer SattheitŖ (II, 102). Für Platonov hingegen wird der erzwungene Dienst am Verbrechen auch mit dem drohenden Hungertod vor Augen zum ethischen Dilemma. Und er nutzt den erstmöglichen Spielraum, der ihm aus seiner Position als Hofdichter der Macht erwächst, um wieder nach seiner eigenen Moral zu handeln: Platonov verweigert die Denunziation, das Fundament des stalinistischen Terrors innerhalb wie außerhalb des Stacheldrahtzauns.52 Platonovs Ringen um seine persönliche Integrität zahlt sich nicht aus. In der Welt des Lagers, schreibt Ńalamov in der Erzählung „Inņener KiselevŖ (Ingenieur Kiselev), gibt es keinen Kausalzusammenhang zwischen moralischem Verhalten und Überleben. Der Tod ist die Norm, er ereilt alle, Sünder wie Gerechte, gleichermaßen: „Das Lager war eine große Prüfung der sittlichen Kräfte des Menschen, der gewöhnlichen menschlichen Moral, und neunundneunzig Prozent der Menschen haben diese Prüfung nicht bestanden. Die sie bestanden, starben gemeinsam mit denen, die nicht bestanden, und wenn sie versuchten, besser, standhafter zu sein als andere, so taten sie dies nur für sich alleinŖ (I, 470). Auch Platonov entgeht nicht dem anonymen Massentod. Er stirbt, „wie viele starbenŖ, an Auszehrung und Erschöpfung Ŕ ein „kleiner LeichnamŖ unter den zahllosen Gulag-Opfern (119). Seine menschliche Größe bliebe für immer vergessen, wenn nicht der überlebende Ich-Erzähler es als seine Pflicht ansähe, das Vermächtnis des „SchlangenbeschwörersŖ zu bewahren. Ńalamov setzt in Plato-

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novs Namen all jenen ein Denkmal, die im Angesicht der Massenvernichtung um ihr Menschsein ringen, ohne Hoffnung, etwas zu bewirken und ohne die leiseste Aussicht, dass die Welt davon erfährt.

Dirk Uffelmann

Aleksandr Solņenicyn: Odin denř Ivana Denisoviĉa (Ein Tag des Ivan Denisoviĉ) In der Öffentlichkeit über das stalinistische Lagersystem (GULAG) zu sprechen, war in der Sowjetunion auch nach Stalins Tod 1953 noch Tabu, darüber zu schreiben völlig undenkbar. Bis dieses Verbot gelockert wurde, brauchte es neun Jahre „TauwetterŖ. Die erste Publikation eines Erzähltextes, der sich mit literarischen Mitteln der Lagerwirklichkeit annäherte, bedurfte denn auch der persönlichen Billigung durch den Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita Chruńĉev. Eingeweihte intellektuelle Kreise hatten im Herbst 1962 bereits vorzeitig davon Kenntnis bekommen, dass die Zeitschrift „Novyj mirŖ einen solchen Paukenschlag vorbereitete, und dem Erscheinen der besagten Nummer entgegengefiebert.1 Politischer Paukenschlag Das Erscheinen des November-Hefts von „Novyj mirŖ mit der Erzählung „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ am 17. November 1962 geriet zu weit mehr als lediglich dem Ereignis des russischen literarischen Lebens im Winter 1962/63. Dem Text wurde im In- wie im Ausland sofort eine enorme politische Tragweite attestiert, und die Diskussion schlug hohe Wellen.2 Der Autor Aleksandr Solņenicyn, ein studierter Mathematiker, Kriegsteilnehmer und nun Lehrer in Rjazanř, war 1947 selbst zu acht Jahren Straflager verurteilt worden, die er zunächst bei Moskau, später in Kasachstan verbüßte, wo er unter anderem als Maurer arbeitete, bevor er 1953 entlassen und 1956 rehabilitiert wurde. Dass sich mit ihm ein Opfer des GULAG öffentlich äußern konnte und noch dazu in schneller Folge in mehreren Massenauflagen verlegt wurde3, wurde als Eisbrecher interpretiert. Ehemalige Häftlinge identifizierten sich mit Solņenicyns fiktionalem Helden Ivan Denisoviĉ Ńuchov.4 Auch im Ausland wurde der literarische Text als erster „AugenzeugenberichtŖ aus der Sowjetunion und politisches Wetterzeichen gelesen und trug wesentlich dazu bei, westlichen Kommunisten, die das von Solņenicyn Geschilderte mit eigenen Erfahrungen in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus identifizieren konnten, die Augen über den Stalinismus zu öffnen.5 Wie es bei Lagerliteratur schon fast gesetzmäßig geschieht, warf die Aufnahme eines literarischen Textes als „AugenzeugenberichtŖ die heikle Frage des Verhältnisses von Dokument und Fiktion auf. Gar so offen politisch kam die Erzählung indes gar nicht daher. Einmal spottet ein Häftling zwar über das propagandistische Stereotyp vom guten Zaren Stalin: „Gerade euch wird das schnurrbärtige Väterchen begnadigen! Der traut ja seinem eigenen Bruder nicht, und schon gar nicht euch Pfeifen!Ŗ (106). Die sowjetische Rezeption bemühte sich, die wenigen klar politischen Pfeile in Solņe-

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nicyns Erzählung auf die offiziell sanktionierte Bekämpfung des „PersonenkultsŖ um Stalin allein umzuleiten und von dem sowjetischen System der Lager abzulenken6, das auch nach der vermeintlichen Entstalinisierung fortbestand. Im Zuge der Redigierung der Erzählung für „Novyj mirŖ wurde Solņenicyn nahe gelegt, Stalin ganz explizit die Schuld an den Auswüchsen des Lagersystems zuzuschreiben7, was Solņenicyn aber nicht erfüllte. Der Autor hob vielmehr im Rückblick aus dem Exil hervor, dass „er [Stalin] von niemandem in der Erzählung auch nur ein einziges Mal erwähnt wird!Ŗ8 Würdigt man „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ dagegen als künstlerischen Text9, so wird schnell deutlich, dass die Ŕ zweifellos vorhandenen Ŕ politischen Momente implizit bleiben, dass sie eingebettet, „ummänteltŖ sind von genuin literarischen Verfahren wie Raum-Zeit-Verhältnissen und Erzählperspektive; Wertungen kommuniziert der Text weniger ausdrücklich mit Bezug auf Politik, Menschenwürde oder Moral als durch den praktisch-ökonomisch ausgerichteten Blick des Helden, des einfachen, wenig gebildeten Handwerkers Ivan Denisoviĉ Ńuchov.10 Raum und Zeit im Lager Verhältnisse von Raum und Zeit können als Schlüssel für nahezu alle literarischen Texte herhalten.11 Die geschlossene Welt der Lager aber, die im sowjetischen Fall noch dazu meist wie Inseln („ArchipeleŖ) in der Weite Nordrusslands und Sibiriens abseits aller Zivilisation lagen, verleiht diesen Anschauungsformen eine besondere Brisanz. Solņenicyns großer lagerliterarischer Vorgänger Fedor Dostoevskij Ŕ mit „Zapiski iz mertvogo domaŖ (Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, 1860/61) Ŕ wie auch der etwas ältere Varlam Ńalamov, dessen „Kolymskie rasskazyŖ (Erzählungen aus Kolyma, 1954Ŕ1973) erst Jahre nach Solņenicyns „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ veröffentlicht werden konnten, thematisieren immer wieder den Lagerzaun, das Lagertor und die leere Weite um das jeweilige Lager herum. Auf die Geschlossenheit von Raum und Zeit im Lager in Solņenicyns Erzählung hob bereits der Chefredakteur der Zeitschrift „Novyj mirŖ, Aleksandr Tvardovskij, in seiner hinführenden Bemerkung „Vmesto predislovijaŖ (Anstelle eines Vorworts) ab: „Das Thema von ‚Ein TagŘ wird unweigerlich eingeengt durch Zeit und Ort der Handlung und durch die Grenzen der Welt, auf die der Held beschränkt war.Ŗ12 Bei Solņenicyn ist es in besonderer Weise das Element der Zeit, das in den Mittelpunkt rückt: Der titelgebende eine „Tag des Ivan DenisoviĉŖ ist ein Tag, der „wie immerŖ um fünf Uhr mit dem Wecksignal, dem Schlagen einer Eisenstange, beginnt und mit dem Einschlafen endet (7), durch nichts ausgezeichnet vor den „DreitausendsechshundertdreiundfünfzigŖ anderen Tagen, die Ńuchovs Strafe ausmachen. „Aufgrund der Schaltjahre waren noch drei weitere hinzugekommenŖ Ŕ mit dieser lapidaren Aussicht entlässt die Erzählung den Leser (121).

„Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ (Ein Tag des Ivan Denisoviĉ)

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Der eine Tag, an dem der Leser den Helden der Großerzählung begleitet, ist ein nicht näher bestimmter Tag im Januar 1951, durchlebt in einem nicht genauer bezeichneten sowjetischen „SonderlagerŖ. Nur kurzzeitig wird der geschlossene Zeitrahmen gesprengt, indem das Schicksal von Mithäftlingen vor und nach ihrer Verhaftung knapp berichtet wird. Noch geringer ist innerhalb der Textwelt die Rolle der Zukunft Ŕ jedenfalls soweit sie über den jeweils aktuell zu bewältigenden Tag hinausgeht. Der erfahrene „zėkŖ (Gefangene) Ńuchov hat es sich „in all den Lagern und Gefängnissen abgewöhnt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was morgen, was in einem Jahr sein würde oder gar darüber, wie er seine Familie ernähren sollteŖ (33). Die zeitliche Beschränkung auf einen Tag ist damit nicht einfach ein konventionelles Schreibverfahren im Sinne der klassischen dramatischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung, sondern bildet die Lagerwahrnehmung von innen, aus Häftlingsperspektive ab. Der starre Ablauf des konkreten Tags unterbindet jedes irgendwie individuell vorauseilende Nachdenken über die Zeit: „Keiner der Sträflinge sah je eine Uhr von Nahem, und wozu auch? Der Häftling mußte bloß wissen, ob bald Wecken war. Wie lange noch bis zum Appell? Wie lange bis Mittag? Bis Lichtaus?Ŗ (114 f.). Der Blick auf die Dinge In „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ wird diese Verengung der Zeit darüber hinaus flankiert von weiteren Verfahren der Begrenzung. Obgleich der Text mit 60 Zeitschriften- bzw. 120 Buchseiten recht umfangreich ist, lehnt Solņenicyn dafür die im Russischen zwischen Erzählung und Roman angesiedelte Gattungsbezeichnung „povestřŖ ab und beharrt darauf, dass es sich um eine „ErzählungŖ (rasskaz) handle, da der Text nicht mehrsträngig und vielstimmig angelegt sei.13 In Ńuchovs Lagertag sind „alle Ereignisse auf ein und denselben Ton gestimmtŖ.14 Noch wichtiger als die Frage von Raum, Zeit und Gattung aber ist die Auswahl des Protagonisten, des wenig gebildeten und an dörfliche Lebensformen gewöhnten, mit jeder Art handwerklicher Tätigkeiten aufs engste vertrauten Ivan Denisoviĉ Ńuchov, eines der besten Arbeiter seiner Brigade (40). Ńuchovs zupackende Art bestimmt auch seinen Blickwinkel. Es ist die Nahperspektive dessen, der aus jedem weggeworfenen Stück Holz oder Metall ein Handwerkszeug zu fertigen versteht, das ihm und seinen Mitgefangenen das Überleben erleichtern kann. Die Konzentration auf Dinge des Alltags, die den Text auszeichnet, ist somit zu gleichen Teilen der handwerklichen Denkweise des Protagonisten geschuldet wie sie ein Abbild darstellt für eine Psychologie des Überlebens im Lager Ŕ durch Fokussierung auf das jeweils gerade Gegebene, auf das Gegenwärtige und unmittelbar Anstehende sowie auf die konkrete Dingwelt. Anhand konkreter Gegenstände gleitet Ńuchovs Blick stellenweise sogar in die Vergangenheit zurück oder weitet sich zur näheren Zukunft hin, was er sich sonst versagt. Mit Wehmut denkt er zurück an ein paar feste Stiefel, die er einmal zusätzlich zu den gebräuchlichen Filzstiefeln hatte ergattern können: „Im Oktober hatte Ńuchov […] ein Paar robuste Stiefel, dazu mit festen Kappen bekommen,

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in die man noch zwei Lagen warme Fußlappen hineinbekam. Eine ganze Woche lang war er der glücklichste Mensch auf der Welt und klapperte mit den neuen Absätzen. Dann wurden im Dezember Filzstiefel ausgegeben, und das Leben war wunderbar. So ließ es sich leben!Ŗ (13). Wie der kleine Beamte aus Gogolřs Petersburger Erzählung „ŃinelřŖ (Der Mantel), Akakij Akakieviĉ, hat Ńuchov aber nur kurz Freude an diesem im russischen Winter so wichtigen Gegenstand; die Lagerleitung erlaubt Ŕ ein Akt repressiver Willkür Ŕ plötzlich nur noch ein Paar Filzstiefel pro Häftling. Dieselbe affektive Besetzung empfindet der Lagerinsasse gegenüber den Ŕ durchweg zu geringen Ŕ Portionen von Lagerverpflegung (21). Mit einem sieben Jahre zuvor, 1944, im Lager Ust-Iņma selbst gefertigten Löffel (15) geraten die wenigen im Tagesablauf der Sträflinge für das Essen reservierten Minuten (zehn zum Frühstück, fünf bei der Mittagspause und fünf zum Abendessen) für Ńuchov zum „höchsten AugenblickŖ: „Er fing zu essen an. Zunächst trank er in großen Schlucken nur das Dünne. Als dann das Heiße kam, durchlief es seinen Körper von oben bis unten. Sein ganzes Inneres zitterte dem dicken Bodensatz entgegen. Ah, wie gut! Da war er, der kurze Augenblick, für den man als Sträfling lebtŖ (102). Der Häftling muss, um im Lager Jahre und Jahrzehnte überleben zu können, nur auf die nächste Mahlzeit hin leben und den Gedanken an die ferne und theoretische Möglichkeit von Freiheit verdrängen: „Aber dieser Schlag Suppe war ihm in diesem Augenblick teurer als die Freiheit, teurer als sein ganzes früheres Leben, als sein ganzes künftiges LebenŖ (92). Das Prisma des Helden aus dem Volk Wo sich der Erzähler so auf die Nahperspektive des Helden einlässt, schränkt er den auktorialen Überblick gezielt ein15 und löst sich nur gelegentlich von diesem Blicksog der „WeltwahrnehmungŖ Ńuchovs.16 Selbst Abläufe im Lager, die dem Blick Ńuchovs entzogen sind, werden durch das Prisma seiner Mutmaßungen wiedergegeben, so bei der Essensausgabe: „An Pavlos Kopf und Schultern vorbei konnte auch Ńuchov sehen, wie die beiden Hände des Kochs zwei Schüsseln auf die Durchreiche stellten und sie, wie in Gedanken versunken, festhielten. Er mußte sich umgedreht haben, um die Geschirrwäscher auszuschimpfen.Ŗ (55). Der erfahrene Häftling benötigt meist nur einen einzigen Blick oder ein beiläufiges Anzeichen, um ein Geschehen in der Umgebung treffsicher einzustufen Ŕ stets bezogen auf die praktische Relevanz für sein Überleben an diesem einen Tag. So entsprechen die mehrheitlich kurzen Absätze, in die die Erzählung untergliedert ist, Blitzlichtern der Wahrnehmung des Helden. Wenn der Text mit Verallgemeinerungen aufwartet, dann in der Form von Sprichwörtern, jener Form verallgemeinernder Rede, die Menschen in traditionalen Gesellschaften mit geringer Bildung am leichtesten zugänglich ist: „Wer im Warmen sitzt, versteht den draußen in der Kälte nichtŖ (20). Auch Wortwahl und Satzbau entsprechen in der ganz überwiegenden Mehrheit denen eines erfahrenen Häftlings mit dörflichem Hintergrund. Solņenicyn

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mischt in Ńuchovs innerem Monolog Wörter aus dem Lagerjargon, syntaktisch unvollständige und redundante Muster der Umgangssprache sowie Vulgarismen und Mutterflüche.17 Auch mit dieser sprachlichen Herabziehung wird der Leser in das Erleben der Extremsituation Lager hineingesogen: „Entweder sie hatten es hier binnen zwei Stunden warm, oder sie kriegten einen kalten Arsch und waren allesamt hinŖ (44). Ausweichen vor repressiver Kontrolle Diese nicht-normierte Sprache erzeugt nicht bloß Lagerkolorit, sondern verleiht dem Text auch eine sehr spezifische ästhetische Note. Die Abweichung von der Norm erscheint nicht als Mangel, sondern als kleines Ventil gegenüber der übermächtigen, rigide geregelten „totalen InstitutionŖ18 des Lagers, deren augenfälligstes Emblem die Häftlingsnummern sind. Vom Lagerpersonal wird Ńuchov mit seiner Nummer Ńĉ-854 angesprochen, und die Sträflingsnummern werden unablässig akribisch nachgemalt (24). Mit der Ersetzung von Namen durch Nummern realisierte die stalinistische Lagerrealität die negative Utopie, die Evgenij Zamjatin 1920 in dem Roman „MyŖ (Wir) entworfen hatte. Der Regelungswahn der Sowjetmacht geht bis zur Abänderung von Naturgesetzen, wenn sie den repressiven Zielen des Staatsapparats widersprechen: „ ‚Unsere Großväter wußten noch: Am höchsten steht die Sonne um zwölf.Ř ‚Das war bei den Großvätern […], seitdem aber hat es ein Dekret gegeben, und die Sonne steht jetzt am höchsten um eins.Ř ‚Wer hat denn das Dekret herausgegeben?Ř ‚Die Sowjetmacht!Ř Ŗ (48). Rein um der Schikane willen ist es den „zėkiŖ untersagt, zusätzliche wärmende Unterkleidung zu tragen Ŕ und dieses Verbot wird durch Leibeskontrollen im Freien bei 30 oder 40 Grad unter Null exekutiert. Umgekehrt haben die Häftlinge nicht die Möglichkeit, auf der strikten Einhaltung der Regeln durch die Lagerleitung zu beharren: Der Protest eines erst drei Monate einsitzenden Häftlings gegen die Praxis des Filzens in klirrender Kälte unter Berufung auf einen entsprechenden Paragraphen trägt diesem zehn Tage Karzer ein (27); und das Thermometer, von dem „KältefreiŖ (unter minus 40°C) abhängt, zeigt nie die tatsächliche Außentemperatur an. So bleibt den Häftlingen nur ein Mittel Ŕ die Regeln auf versteckte Weise zu unterlaufen: „Insgeheim, wie so viele hochtrabende Befehle missachtet werdenŖ (97). Auch Ńuchov, der von einem Aufseher gezwungen wird, außer der Reihe den Boden aufzuwischen, entledigt sich einer solchen schikanösen Zusatzarbeit schludrig und oberflächlich. Sich selbst gegenüber aber verspürt er den Drang, dies mit der Autorität einer Sentenz zu rechtfertigen: „Die Arbeit ist wie ein Stock mit zwei Enden: Wenn du sie für gute Menschen machst, dann siehř auf die Qualität. Wenn du sie für den Aufseher machst, dann tuř bloß soŖ (14). Die Zwangsarbeit in stalinistischen wie nationalsozialistischen Lagern mit ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung kostenloser Arbeitskräfte wurde durch hehre Losungen wie „Arbeit macht freiŖ kaschiert; im sowjetischen Kontext schlug sich dies in der Benennung eines der wichtigsten Lagertypen nieder: „Besserungsar-

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beitslagerŖ.19 Eine der ideologiekritischen Funktionen, die sich die Lagerliteratur setzte, bestand demgegenüber darin, den Zynismus solcher Etiketten zu demaskieren. In besonderer Weise betont dies Gustaw Herling-Grudziński, 1940Ŕ 1942 Lagerhäftling im nordrussischen Ercevo, in seinem Briefwechsel mit dem Urbild aller sozialistischen Stoßarbeiter, Aleksej Stachanov.20 Aber auch Solņenicyn verfolgt in „Archipelag GULAGŖ (Archipel Gulag) ein ähnliches Ziel. In „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ wird einem Arzt, der den „Kranken keine Ruhe gönnteŖ, der Spruch in den Mund gelegt: „Gegen Krankheit ist Arbeit die beste MedizinŖ (19). Ethos gewissenhafter Arbeit Daneben aber findet sich bei Solņenicyn eine weit positivere Arbeitsschilderung als bei der Mehrheit der übrigen Lagerliteraten des 20. Jahrhunderts. Im Grunde nämlich ist sein Ńuchov ein gewissenhafter Arbeiter: „Ńuchov macht nie etwas falschŖ (68). Wenngleich zur Arbeit gezwungen, eignet er sich Ŕ ganz entgegen dem obigen Unterlaufen einer Schikane Ŕ den Imperativ der Arbeit an, ja füllt ihn mit Sorgfalt aus: „Es tat ihm leid um jedes Ding und jegliche Arbeit, damit nur nichts verschwendet wurdeŖ (77). Eine nicht zu unterschätzende Motivation dafür mag die Kommunikation mit sich selbst sein, die individuelle Genugtuung Ŕ „Seiner Hände Arbeit war noch was wertŖ (78) Ŕ, hinter der das allgegenwärtige Phantom des Todes im Lager aufscheint. Während er arbeitet, ist Ńuchov am ausgeglichensten; er betreibt die physische Tätigkeit als eine Art meditative Technik (67), die ihn Hunger, Müdigkeit, ja sogar die Länge der ihm noch bevorstehenden Strafe vergessen lässt. „Wunderbar, wie rasch die Zeit verstreicht, wenn man arbeitet. […] Die Strafe aber geht überhaupt nicht vorbei, will einfach nicht weniger werdenŖ (47 f.). Selbst das körperliche Unwohlsein, das Ńuchov am Morgen zu schaffen gemacht hatte, ist nach dem Arbeitstag wie weggeblasen: „Schon sonderbar, dass er das alles über der Arbeit vergessen hatteŖ (87). Als einer von zwei qualifizierten Maurern seiner 104. Brigade wird Ńuchov Anerkennung von den Kameraden zuteil, die ihn ehrerbietig mit Vor- und Vaternamen anreden21 und ihn scherzhaft „stakanovecŖ (66)22 rufen. Und in der Tat: Die Präzision, mit der Ńuchov mauert, und die Sparsamkeit, mit der er Mörtel verwendet, lassen an sozialistische Inszenierungen von Stoßarbeit denken Ŕ im Falle des Mauerns etwa an den Bau von Nowa Huta mit dem Vorzeige-Stoßmaurer Mateusz Birkut.23 Da passt es auch, dass die Mauerszene und darin gerade der sparsame Umgang Ńuchovs mit den vorhandenen Ressourcen Chruńĉev am meisten bewegt haben soll24, als ihm sein Sekretär Lebedev Ausschnitte aus der Erzählung vorlas.25 Das Dilemma eines gewissenhaften Handwerkers in einem Zwangsarbeitssystem wird deutlich bei folgendem Scherz der Brigadiers: „Der Brigadier lacht: ‚Wie soll man dich je in die Freiheit entlassen? Wenn du einmal weg bist, wird das ganze Lager verzweifeln!Ř Ŗ (77). Dergestalt angespornt, läßt Ńuchov die Maurer-

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kelle mitnichten mit dem Schlussgong fallen, sondern arbeitet nur noch energischer weiter und beschwert sich im Scherz: „Warum lassen uns die Schweine nur so kurz arbeiten? Kaum ist man so richtig drin in der Arbeit, reißen sie einen schon wieder herausŖ (77). Indem es Ńuchov gelingt, aus der am stärksten entfremdeten Form von Arbeit, der Zwangsarbeit, noch so etwas wie persönliche Motivation und Würde zu ziehen, verschafft er sich jenes Maß von Selbstachtung, das er Ŕ eine Lektion seines ersten Brigadiers Kuzemin memorierend Ŕ für überlebenswichtig erklärt (8). Im Kontrast zum persönlichen Ethos gewissenhafter Arbeit und sparsamer Verwendung von Baumaterialien steht die Verschleuderung ökonomischer Ressourcen in den sowjetischen Lagern, die die Kehrseite der repressiven Kontrolle darstellt. Als es wieder einmal ans Filzen der Häftlinge auf verbotene Gegenstände wie Metall- oder Holzstücke geht, wird im Text (81) Ŕ als ob es sich um einen Hintergedanken Ńuchovs handle Ŕ in Klammern angemerkt: „(Millionen haben die schon aus dem Schornstein geblasen, und nun denken sie, dass sie die Verluste mit den paar Holzsplittern wieder reinholen können).Ŗ Pervertiert wird Ŕ für die Sträflinge am schlimmsten Ŕ auch das doch scheinbar penibler Kontrolle unterliegende Strafmaß: „Sie machen mit dem Gesetz, was sie wollen. Hast du deine zehn Jahre hinter dir, hauen sie dir noch mal zehn draufŖ (49). Der Willkür und Verschwendung durch die Lagerleitung korrespondiert in Ńuchovs Augen die Korruption derjenigen „zėkiŖ, die durch Bestechung und Schnorren andere übervorteilen und sich selbst vor der Arbeit drücken, der so genannten „pridurkiŖ (93). Diese verletzen für den Arbeitsethiker Ńuchov das proportionale Verhältnis von Aufwand und Entlohnung: „Ńuchov ist misstrauisch gegenüber leicht verdientem Geld, gegenüber allem, was Vorteile ohne Anstrengungen und Arbeit verheißt, weil tief in ihm das Gefühl moralischer Schuld verwurzelt ist, das letzten Endes auf dem verschwommenen Bewußtsein dessen fußt, dass es, wenn dir die Güter des Lebens zu leicht zufallen, bedeutet, dass es da jemanden gibt, der deinen Anteil an der Arbeit geschultert hat und dass es für ihn dadurch schwerer geworden ist.Ŗ26 Aus der personalen Perspektive des dadurch in Mitleidenschaft gezogenen „rabotjagaŖ (Malochers) Ńuchov wird auch die Verachtung für den größten Schnorrer seiner Brigade, den „Schakal FetjukovŖ, verständlich (24). Wer unsolidarisches Tun so weit treibt wie jener namenlose Moldauer, der während der Arbeitszeit in der Nähe des Ofens eingeschlafen ist, wodurch alle Übrigen aus der Brigade beim Zählappell in der Kälte warten müssen, bis der Fehlende aufgespürt ist, muss mit Lynchjustiz durch die Mithäftlinge rechnen (84). Auch diese Lynch-Stimmung wird dem Leser durch die literarische Sogtechnik plausibel gemacht, ja für ihn nachvollziehbar. Dass Ńuchov gegen Schluss dagegen doch noch ein gewisses Verständnis für den kleinen Schnorrer Fetjukov aufbringt27, erscheint angesichts dessen als Inkonsequenz, als ein erstes Vorzeichen jener aufdringlichen Moralistik, die Solņenicyn in seinen späteren literarischen und vor allem publizistischen Texten auszeichnen sollte.

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Litotes Der Schluss der Erzählung hält noch ein weiteres frappierendes Moment bereit. Nachdem der Leser den Tag des Ivan Denisoviĉ, der aus der Perspektive eines Nicht-Häftlings reiner Horror ist, durch Ńuchovs Prisma miterlebt und „mitüberlebtŖ hat, kann er sich ein Stück weit auf dessen positives Resümee des Tages einlassen: „Ńuchov schlief ganz zufrieden ein. Viel Glück hatte er heute gehabt; er war nicht im Karzer gelandet; seine Brigade hatte nicht zur Baustelle Socgorodok gemusst; mittags hatte er sich einen Extraschlag Brei organisiert; der Brigadier hatte für sie anständige Prozente herausgeschunden; das Mauern hatte Spaß gemacht; beim Filzen hatten sie die kleine Säge nicht gefunden; am Abend hatte er für Cezarř einen kleinen Auftrag erledigt und etwas Tabak gekauft. Und krank war er auch nicht geworden, hatte sich aufgerappelt. Der Tag war von nichts getrübt worden. Fast ein GlückstagŖ (121). Pierre Daix stuft dieses literarische Verfahren, das sich von außerhalb des Lagers als sarkastisches Understatement ausnimmt, treffend als „Litotes angesichts der FaktenŖ ein.28 Doch dann bringt der Erzähler dem Leser die numerische Realität in Erinnerung: Jener „GlückstagŖ ist eben einer von „dreitausendsechshundertdreiundfünfzigŖ anderen Ŕ und „noch drei weiterenŖ, „aufgrund der SchaltjahreŖ. Indem Ńuchov einschläft, entlässt der Erzähler seinen Leser wieder aus dem identifikatorischen Sog und stößt ihn auf die Notwendigkeit einer eigenen „KonkretisierungŖ.29 Dann kommt der Leser vielleicht darauf, das zuvor Gelesene, das von ihm im personalen Sog selbst Approbierte, als Krisensymptom zu begreifen Ŕ als Symptom einer Wahrnehmungseinschränkung, die für den Lagerhäftling überlebensnotwendig ist: Ohne die Beschränkung des Blickwinkels zum Selbstschutz war es unmöglich, die Lager zu überleben. Und mindestens anderthalb der 18 Millionen sowjetischen Lagerhäftlingen haben sie auch nicht überlebt. Karriere eines Moralisten Wenn damit in der Erzählung „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ die moralische Wertung vom Leser gleichsam nachgereicht werden muss, so macht das die besondere literarische Qualität dieses Frühwerks von Aleksandr Solņenicyn aus.30 Selbstbeschränkung, Understatement und Litotes aber sind keine bleibenden Merkmale des Solņenicynschen Gesamtwerks. Spätestens ab dem offenen Brief an den Schriftstellerkongress vom 16. Mai 1967, in dem Solņenicyn Kritik an der sowjetischen Zensur übte, trat die Pose desjenigen hinzu, der moralisch wie politisch im Recht zu sein beansprucht. Hatte er schon 1970 den Nobelpreis für Literatur nicht selbst entgegennehmen können, so brachte seine Entscheidung, den ersten Teil von „Archipelag GULAGŖ zur Veröffentlichung im Westen freizugeben, das Fass der unter Chruńĉev phasenweise liberaleren sowjetischen Kulturpolitik endgültig zum Überlaufen. Solņenicyn wurde am 12. Februar 1974 verhaftet und binnen Tagesfrist in die Bundesrepublik Deutschland zwangsausgebürgert. Durch die Spirale von Anklage und Gegenaggression, in der sich die Sowjetmacht und der dissidente Literat von Weltgeltung im Exil nun aufschaukeln, treibt dieser

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immer mehr in einen moralisch-politischen Rigorismus hinein, der mit den impliziten Suggestionstechniken der frühen Erzählung nichts mehr zu tun hat. In „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ war selbst die Basis der Solidarität unter den Häftlingen, das Christentum, noch eine Randerscheinung gewesen.31 Die christliche Leidensbereitschaft wird in dieser Erzählung dem Baptisten Aleńa in den Mund gelegt und damit Ŕ von der Warte der späteren interkonfessionellen und antiwestlichen Polemik des sich zur russischen Orthodoxie bekennenden Solņenicyn aus betrachtet Ŕ eingeklammert. Der „religiös unmusikalischeŖ32 Ńuchov bleibt für Aleńas Sinngebung des Leidens im Lager taub: „ ‚Schau mal, AleńkaŘ, erklärte ihm Ńuchov: ‚Bei dir geht das auf. Christus hat dir befohlen einzusitzen, und da sitzt du nun für Christus. Aber warum sitzř ich? Dafür, dass sie [die sowjetische Seite] einundvierzig nicht auf den Krieg vorbereitet waren, dafür? Was kann ich dazu?Ř Ŗ (119).33 Auch für die religiöse Dimension gilt also dasselbe wie für Moral und Politik: Beim einfachen, archaischen Helden der frühen Erzählung kommt das Christentum weniger aufdringlich als eine positive Orientierung daher, als dies später bei Solņenicyn der Fall sein wird.34 Durch seinen progredienten Moralismus geriet Solņenicyn, die moralische Autorität der „SechzigerŖ, bei der nachfolgenden Generation zunehmend in Misskredit.35 Der sowjetische Barde Evgenij Evtuńenko resümierte anlässlich von Solņenicyns Rückkehr nach Russland 1994 mit Bedauern: „Im Namen seiner politischen, ja messianischen Aufgabe opferte er viele seiner künstlerisch-lyrischen Potentiale der Publizistik.Ŗ36 Und das spät- und postsowjetische enfant terrible Viktor Erofeev münzte den Kampfbegriff des „HypermoralismusŖ gegen die offizielle sowjetische Kultur gleichermaßen wie gegen die Dissidenzkultur mit ihrer Ikone Solņenicyn und trieb die Solņenicyn-Apologeten damit dauerhaft in die Defensive.37 Wie man zur weltanschaulichen Botschaft des späten Solņenicyn zwischen Konsumkritik, Antipluralismus und Neoslawophilie auch stehen mag Ŕ die literarische Gestaltung des Blicks des einfachen Handwerkers Ivan Denisoviĉ Ńuchov auf die Realität der stalinschen Lager mit seiner praktisch-ökonomisch daherkommenden impliziten Systemkritik hat Bestand.

Christian Zehnder

Sergej Dovlatov: Ĉemodan (Der Koffer) Sergej Dovlatov, 1941 in einer armenisch-jüdischen Familie geboren, gehörte seit Anfang der 1960er Jahre zur jungen Leningrader Literaturszene, musste seine Erzählungen aber jahrelang „für die SchubladeŖ schreiben; erst Mitte der siebziger Jahre kam es zur ersten Publikation in einer offiziellen Zeitschrift. Allerdings kursierten da schon seit zehn Jahren einige seiner Texte im Samizdat. Von einem Studium der finnischen Philologie wurde Dovlatov auf Grund von Disziplinlosigkeit ausgeschlossen. 1962Ŕ1965 leistete er Militärdienst und nahm danach ein Studium der Journalistik auf, das er jedoch nie abschloss. Er arbeitete als Redakteur verschiedener Werkzeitungen und der Kinderzeitschrift „KosterŖ (Das Lagerfeuer). Ab 1978, zeitgleich mit seiner Emigration nach New York, begannen in Amerika seine Bücher Ŕ Erzählbände, kürzere Romane sowie Arbeitsjournale Ŕ zu erscheinen. Dovlatov war ein Mitbegründer der russischsprachigen Zeitung „Novyj amerikanecŖ (Der neue Amerikaner) und zeitweilig deren Chefredakteur, außerdem verfasste er regelmäßig Beiträge für „Radio SvobodaŖ (Radio Free Europe).1 Nach seinem Tod 1990 und dem Zusammenbruch des Sozialismus wurde er zu einem der populärsten russischen Prosaautoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wovon zahlreiche Neuauflagen seiner Werke in Russland sowie Übersetzungen in verschiedene Sprachen zeugen. Dovlatov ist in erster Linie als humoristischer Schriftsteller in der Tradition des frühen Anton Ĉechov (mit einer vergleichbaren Entwicklung hin zu „ernsterenŖ Texten) und des sowjetischen Satirikers Michail Zońĉenko bekannt. Für Aleksej Semkin verkörpert er eine Art Synthese aus Ĉechov und Zońĉenko.2 Das Phänomen von Dovlatovs enormer Beliebtheit lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass ältere Generationen in ihm einen „gutmütigenŖ3 Chronisten des „TheatersŖ der späten Sowjetunion und des Emigrantenalltags sehen, während seine jüngeren Leser bis heute wohl eher die defätistische Attitüde und die vermeintliche zynische Unbetroffenheit des Autors schätzen.4 Rekonstruktion des „Russischen“ und Selbstporträtierung aus einem Koffer Der Erzählzyklus „ĈemodanŖ (1986) aus Dovlatovs „reiferŖ Periode, dieses Ŕ wie Nikita Eliseev meint Ŕ „dovlatovhaftesteŖ5 Werk, steht unter einem Motto: „…Aber auch so, mein Russland, / Bist du mir teurer als alle anderen Länder…Ŗ (347). Es handelt sich dabei um ein leicht modifiziertes Zitat aus Aleksandr Bloks Gedicht „Greńitř besstydno, neprobudno…Ŗ (Schamlos sündigen, ununterbrochen…, 1914), in dem der desillusionierte Symbolist das Leben in Russland als fatalen Kreislauf aus Exzess, Sünde, oberflächlicher, mechanischer Buße und erneutem Rückfall und Vergessen darstellt, um sich in den letzten bei-

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den Versen (eben dem Motto zu „ĈemodanŖ) doch zu diesem und keinem anderen, „besserenŖ Land zu bekennen.6 Es mag sein, dass Dovlatov diese Verse vor allem als Schlagwort, als bereits stehende Wendung zitiert, die Bloks verzweifelten Trotz in eine ironische Losung für das retrospektive Schreiben über die Sowjetunion aus der Perspektive des Exils, der dritten Emigrationswelle7, verkehrt. Dem Gedicht, setzt man seine allgemeine Bekanntheit bei einem gebildeten Publikum voraus, allerdings kann ihm noch eine andere, weniger plakative Aussage entnommen werden: Die ausgesparten Strophen von „Greńitř besstydno, neprobudno…Ŗ sind durchgehend in Infinitiven verfasst, die beklagt-besungenen Sünden und verlogenen Rituale der Reue haben grammatisch kein Subjekt.8 Sie geschehen wahllos und unausweichlich. Es bleibt also auch offen, ob der erst am Ende „ichŖ sagende außenstehende Dichter bzw. seine Stimme sich nicht doch irgendwie als Teil des unschönen Bilds versteht. Eine solche polemische und zugleich merkwürdig unbestimmte Position gegenüber dem Dargestellten zeichnet auch die autofiktionale9 Ich-Figur Sergej/Sereņa Dovlatov aus „ĈemodanŖ aus. Wenn dieser, wie Olřga Bogdanova schreibt, „passive, sozial indifferente, amorphe, prinzipienlose, zum Kompromiss neigendeŖ10 Autor-Held auch fortwährend „ichŖ sagt, so scheint seine Präsenz in den Texten doch eher eine verwischte zu sein, die der „ErgänzungŖ durch den biographischen Dovlatov bedarf Ŕ durch jene imposante Erscheinung (194 cm), wie sie die Leserschaft von zahlreichen, in Buchausgaben oft mitgelieferten Fotografien kennt.11 Eine eigentliche Leseanleitung zu „ĈemodanŖ gibt der Autor in einem mehrseitigen Vorwort. Die Ich-Figur „DovlatovŖ, 1977/78 von Leningrad über Wien und Rom nach New York emigriert12, öffnet erst einige Jahre später seinen „EmigrationskofferŖ (ėmigrantskij ĉemodan), und dies ganz zufällig. Seine Frau hat den Ŕ bereits als Amerikaner geborenen Ŕ Sohn zur Strafe in einen Schrank geschickt, wo er mehrere Minuten auf dem vergessenen Koffer verharrt (348 f.). Danach packt der Vater die wenigen Dinge aus seinem früheren Leben aus und erinnert sich schlagartig an die verlorene Zeit13: Der sehr unspektakuläre Inhalt des Koffers, einige Kleidungsstücke, vergegenwärtigt ihm seine Zeit zwischen 18 und 36 Jahren als „arbeitender und konsumierenderŖ Bürger der Sowjetunion (347). Die am Innendeckel angeklebten Fotos des amerikanischen Boxers Rocky Marciano, der italienischen Schauspielerin Gina Lollobrigida und des rund fünf Jahre vor Dovlatov in die USA emigrierten Dichters Iosif Brodskij evozieren seine bald obsolet gewordenen anti-sowjetischen Ideale (348), und ein Ausriss aus der „PravdaŖ mit der Überschrift „Es lebe die große Lehre!Ŗ („Velikomu uĉeniju Ŕ ņitř!Ŗ) und einem Marx-Porträt auf dem Kofferboden (349) ruft ihm auf geradezu groteske Weise die Rolle der Ideologie in seiner Lebensgeschichte in Erinnerung. Der für ihn, den vormaligen Bürger der Sowjetunion, so prägende sozialistische (historische) Materialismus hat sich mit der Emigration auf einen armseligen Koffer und einige wenige aus dem Kontext gerissene altmodische Kleidungsstücke reduziert. Vom Materialismus bleibt lediglich etwas Materie übrig. Nachdem Dovlatovs Autor-Held alles einmal begutachtet hat, heißt es gegen Ende des Vorworts: „Ich betrachtete den leeren Koffer. Auf dem Boden

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Karl Marx. Im Deckel Brodskij. Und dazwischen das verpatzte, unschätzbare, einzigartige Leben. / Ich machte den Koffer zu. […] Die Dinge lagen in einem bunten Haufen auf dem Küchentisch. Das war alles, was ich in sechsunddreißig Jahren erworben hatte. In meinem ganzen Leben in der Heimat. Ich überlegte Ŕ sollte das wirklich alles gewesen sein? Und antwortete Ŕ ja, das ist allesŖ (350). Statt sich in Selbstmitleid zu ergehen, in das er zunächst verfiel (347), nimmt er nun jedes Ding zum Anlass, eine Episode aus seinem Leben zu erzählen und so den „wahrenŖ Sinn der Dinge zu rekonstruieren. Es sind dies 1. drei Paar finnische Acrylsocken, 2. ein Paar Halbschuhe, 3. ein kaum getragener Zweireiher, 4. ein Offiziersgürtel, 5. eine Kordjacke, 6. ein Popeline-Hemd, 7. eine Seehundfellmütze und 8. ein Paar Autohandschuhe.14 Es liegt nahe, diese Dinge als (metonymische) Verweise auf das verlorene „RussischeŖ aufzufassen. Und so schrieb Dovlatov selbst nach der Fertigstellung des Zyklus in einem Brief: „Idealerweise wollte ich in diesem Koffer sozusagen ganz Russland unterbringen, in verschiedenen Dimensionen und Aspekten.Ŗ15 Er verstand dieses Unterfangen betont materiell und beabsichtigte, es nach „ĈemodanŖ unter anderem in einem Band mit dem Titel „CholodilřnikŖ (Der Kühlschrank) weiterzuführen, wie aus einem Brief an den Herausgeber der Dovlatov-Werkausgaben Andrej Arřev von 1990 hervorgeht: „‚Der KofferŘ Ŕ da geht es um Kleidung, weiter wird es ums Essen gehen, und danach um die Frauen, um auf diese Weise das ganze Spektrum der Geistlosigkeit (bezduchovnostř) zu erfassen.Ŗ16 Der Begriff „bezduchovnostřŖ zeigt zunächst ein für Dovlatov typisches Insistieren auf dem Naheliegenden an und kann als skeptischer Gegenbegriff zu „duchovnostř Ŗ, jenem Schlüsselbegriff weiter Dissidenten-/Emigrantenkreise gelesen werden. Andererseits ist in Dovlatovs dinghafter comédie humaine, wie dieser Überblick über die Erzählungen aus „ĈemodanŖ zeigen wird, selbst ein beträchtlicher (kultur-)kritischer Impetus zu beobachten, dessen Reichweite sich auch implizit auf die Dingfixiertheit der westlichen Welt auszuweiten scheint.17 Dabei bleibt das verbreitete Phänomen, dass die Kritik am Sowjetsystem in eine zunehmend beißende Kritik am westlichen Liberalismus umschlagen kann Ŕ bekannt besonders von Aleksandr Solņenicyn Ŕ, bei Dovlatov schwach ausgeprägt. Es ist aber in seinen Texten oft latent vorhanden.18 Die einfache Erzählanlage des Zyklus führt zur bereits angesprochenen Frage nach der Präsenz des Autors. Tatřjana Civřjan weist darauf hin, dass durch die Abfolge der Kleidungsstücke von den Socken über die Schuhe, den Anzug, den Gürtel, die Jacke, das Hemd, die Mütze bis zu den Handschuhen die Umrisse eines Menschen von „Fuß bis KopfŖ konstruiert werden.19 Igorř Suchich spricht von einem „StrichmännchenŖ („ĉelovek-ĉeloveĉekŖ), das skizziert werde20, und Aleksandr Genis schreibt, die sonderbaren Kleidungsstücke würden den Helden „einwickeln wie ein VerbandŖ und ihn, „den Unsichtbaren, auf diese Weise erst sichtbarŖ werden lassen.21 Demnach wäre es gerade der Autor, der die Dinge als Masken benötigt, um selbst in einem halbverborgenen Zustand verbleiben zu können und nicht aus seiner bloß suggerierten Präsenz heraustreten zu müssen. Für diese Sicht spricht überdies der Umstand, dass es in keiner

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der Erzählungen ein Kleidungsstück gibt, das von dem Helden herbeigewünscht wurde, wie dies in der Sowjetunion oft der Fall war. Vielmehr handelt es sich durchgehend um „ÜbernommenesŖ, also beiläufige Geschenke oder gar Gestohlenes.22 In diesem Sinne bleiben die Dinge tatsächlich „geistlosŖ, ohne jene phantastisch-dämonische Aufladung wie der des Mantels in Gogolřs Erzählung „ŃinelřŖ (Der Mantel) oder des Schaffellmantels in Boris Vachtins Erzählung „DublenkaŖ (1979 im Almanach „MetropolřŖ), einem nicht nur motivisch, sondern auch stilistisch eng an Gogolř anschließenden Text, in dem sich ein Parteifunktionär in eine nonkonformistische Dichterin verliebt.23 Verglichen damit ist Dovlatovs Beziehung zu den Dingen, auch den luxuriösen, demonstrativ interesselos, ja indifferent. Man könnte es so formulieren: An die Stelle des Dämonismus Ŕ Grundelement des „Petersburger TextesŖ24 Ŕ tritt bei Dovlatov ein komisches Pathos des Absurden.25 Komik/Pathos des Absurden und lakonisches Stilideal Zum Phänomen des Absurden skizziert die erste Erzählung des Bandes, „Krepovye finskie noskiŖ (Die finnischen Acrylsocken), eine ganze Programmatik. Der Text handelt davon, wie der Held Dovlatov Ende der fünfziger Jahre als Student mit der jungen optimistischen Intelligenzija, den šestidesjatniki, den „SechzigernŖ, in Kontakt kommt und sich zugleich auf illegale Geschäfte einlässt, um den hohen Ansprüchen seiner Geliebten aus diesen Kreisen genügen zu können. Er beteiligt sich an einem Handel mit einem gewissen Fred Kolesnikov, der illegal Acrylsocken aus Finnland einführt, um diese auf dem sowjetischen Schwarzmarkt mit hoher Gewinnmarge abzusetzen. Kolesnikovs Antrieb ist nicht so sehr die Bereicherung als die Überzeugung von der Vergeblichkeit allen menschlichen Treibens. Er sagt zu Dovlatov: „Was soll ich denn machen? Fähigkeiten habe ich keine. Mich für neunzig Rubel abrackern mag ich nicht… Gut, ich würde in meinem Leben zweitausend Frikadellen essen. Würde fünfundzwanzig dunkelgraue Anzüge abtragen. Siebenhundert Nummern der Zeitschrift ‚OgonekŘ durchblättern. Und das wäre alles gewesen? Und dann krepiere ich, ohne auf der Erde einen Kratzer hinterlassen zu haben?... Da lebe ich lieber nur eine Minute, aber richtig!... […] Vor unserer Geburt ist ein Abgrund. Und nach unserem Tod ist ein Abgrund. Unser Leben ist lediglich ein Sandkorn im gleichgültigen Ozean der UnendlichkeitŖ (355 f.). Jekaterina Young bringt dieses „PhilosophierenŖ Ŕ vielleicht etwas zu wörtlich Ŕ mit Albert Camusř „Le mythe de SisypheŖ (1942) in Verbindung26, also der Idee, der Absurdität affirmativ und draufgängerisch (bei Camus mit Schauspielerei, Donjuanismus und dergleichen mehr) zu begegnen. Das ist sicherlich ein entscheidender Aspekt, es darf allerdings nicht übersehen werden, dass dieses Programm von einer anrüchigen, wenn auch sympathischen Nebenfigur geäußert wird, während sich Dovlatov in der Erzählung mit einer ganz anderen „philosophischenŖ Fragestellung auseinandersetzt: Er leidet im so souveränen Freundeskreis seiner Geliebten darunter, keine Antworten geben zu können und ständig nur hilflos Fragen zu stellen (351). Es

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wird sogar zum Zeichen der Krise ihrer Beziehung, dass er „nur noch Fragen stelltŖ, und schließlich nimmt er sich nach der Trennung von ihr vor, „antworten zu lernenŖ (363 f.). Wenn man bedenkt, dass „antwortenŖ (otveĉatř) im Russischen auch „Verantwortung tragenŖ bedeutet, kann man in dieser überraschend „moralischenŖ Selbstbefragung des Helden einen doch markanten Kontrapunkt zur Philosophie des Absurden sehen. Es ist dann Kolesnikov mit seinem „absurdenŖ Vornamen Fred, der die Pointe der Erzählung ausspricht. Kaum haben sie den Sockenschmuggel erfolgreich durchgeführt, erfährt er, dass die sowjetische Volkswirtschaft ebenfalls Acrylsocken in Massenproduktion hergestellt hat und mit diesen den Markt überschwemmt. So beklagt er sich gegenüber Dovlatov, seinem Komplizen: „Wer hätte von der sozialistischen Wirtschaft ein solch niederträchtiges Vorgehen erwarten können?! An wen veräußere ich denn jetzt noch finnische Socken? Man wird sie mir auch für einen Rubel nicht mehr abnehmen! Ich kenne doch unsere beschissene Industrie! Zuerst dreht sie zwanzig Jahre Däumchen, und dann plötzlich Ŕ zack! Und sämtliche Läden sind mit irgendwelchem Schund vollgestopft. Wenn die erst einmal das Fließband angeworfen haben, dann ist es aus. Jetzt werden sie diese Acrylsocken am Laufmeter produzieren Ŕ eine Million Paar in der Sekunde…Ŗ (364). Liest man die Erzählung als Programm, ist dieser Moment wohl noch wichtiger als die abstrakten Auslassungen über die Vergeblichkeit menschlichen Tuns. Die Koinzidenz des Schmuggels mit dem unvorhersehbaren Auftauchen der gleichen Socken in der sowjetischen Ökonomie ist ein „lebendigerŖ Beweis dafür, dass die Ironie des Lebens jede erdenkliche menschliche Ironie immer noch übertrifft.27 In diesem Licht wird klar, dass der jeweilige Eigenwert der Güter bei Dovlatov mit dem allgemein-existentiellen Skeptizismus nicht Schritt halten kann. Young sieht darin eine verdeckte Gegenposition zur teils avantgardistischen, teils nostalgischen, teils tatsächlich materialistischen Dingversessenheit der russischen Literatur der 1920er und 30er Jahre28, wobei sie unter anderem auf Ilřja Ėrenburgs Erzählzyklus „Trinadcatř trubokŖ (Dreizehn Pfeifen, 1922) und Konstantin Vaginovs Roman „Kozlinaja pesnřŖ (Bocksgesang, 1928) über den Sammler Teptelkin verweist.29 Diese wenn auch nicht offen formulierte Kritik an der Sinngebung durch Dinge und deren „FakturŖ oder „MimikŖ könnte als postmodernes Moment in Dovlatovs Schreiben bezeichnet werden.30 Ein positiver Bezugspunkt aus der späteren sowjetischen Literatur ist dagegen, wie Suchich überzeugend vorschlägt, Viktor Goljavkins kurze Erzählung „O ĉemodaneŖ (Über einen Koffer), ein Dialog zwischen zwei alten Frauen über die monströse Funktionslosigkeit eines überzähligen Koffers.31 In seinem Notizbuch „Solo na IBMŖ definiert Dovlatov (seinen) Humor als „Inversion des LebensŖ und präzisiert, es gehe dabei um eine Inversion des „gesunden MenschenverstandsŖ, um ein „Lächeln des VerstandesŖ.32 Er meint also die humoristische Aktivität des Schriftstellers, seine Fähigkeit, gesellschaftliche Automatismen auf subtile Weise (eben mit einem „LächelnŖ) zu entlarven. Man kann den Begriff „Inversion des LebensŖ jedoch auch passiver verstehen,

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als ein Aufzeichnen von Sinnesverkehrungen, die das Leben „selbstŖ vornimmt. Dovlatovs Humorismus hängt insofern eng mit seinen durchaus ernsten Vorstellungen von Absurdität und Ironie zusammen, die er allerdings, wie gesagt, oft von anderen aussprechen lässt. Und dieser Zusammenhang wiederum ist nicht zu verstehen ohne den Bezug auf das Stilideal des Autors: den Lakonismus, die Poetik der „Dämpfung des PathosŖ.33 Auch das lässt sich an „Krepovye finskie noskiŖ programmatisch ablesen. Gegen Ende der Erzählung, als sich die Aktion als vergeblich herausgestellt hat und die Liebe des Helden zerbrochen ist, schreibt er, den schlichten Stil stärker als zuvor verwendend, parataktisch: „Ich zahlte meine Schulen ab. Kaufte mir anständige Kleidung. Wechselte die Fakultät. Lernte das Mädchen kennen, das ich später geheiratet habe. Fuhr für einen Monat ins Baltikum, als Rymarř [ein weiterer Schwarzhändler] und Fred verhaftet wurden. Machte erste zaghafte literarische Versuche. Wurde Vater. Ging auf Konfrontation mit den Behörden. Verlor die Arbeit. Saß einen Monat im GefängnisŖ (365). Wenn man Eliseevs Einschätzung, Dovlatov befreie sich in „ĈemodanŖ „vollständig von der LiteraturhaftigkeitŖ und erreiche die Illusion einer „unmarkierten SpracheŖ34, an dieser Stelle misst, so erscheint sie doch wenig plausibel. Denn die unmarkierte Sprache ist selbst in höchstem Maße ein Stil, und zwar einer mit prominenter Vorgeschichte; es wäre wohl nicht falsch, den Lakonismus des amerikanischen Schriftstellers Ernest Hemingway Ŕ seit Mitte der fünfziger Jahre in der Sowjetunion Kultschriftsteller par excellence Ŕ als eine der Voraussetzungen von Dovlatovs Poetik zu bezeichnen.35 Eine Bemerkung Varlam Ńalamovs, des Autors der „Kolymskie rasskazyŖ (Erzählungen aus Kolyma, 1950er/60er Jahre), kann helfen, die Konturen der Stilproblematik bei Dovlatov schärfer zu umreißen. Ńalamov schreibt in dem Essay „O prozeŖ (Über Prosa, 1965) über den Stil seiner Lagererzählungen: „Der Autor verzichtete auf den kurzen Satz als literarisches Geschmäcklertum.Ŗ36 In der Tat sind Ńalamov und Dovlatov in ihren poetologischen Grundmotivationen geradezu Antipoden. Während Ńalamov seinen dokumentarischen Anspruch mit einer an dem Symbolisten Andrej Belyj orientierten Ornamentalistik einzulösen versucht und den „kurzen SatzŖ für prätentiös und „allzu literarischŖ hält, präsentiert Dovlatov seine immer wieder leicht bis stark fiktionalisierte Autobiographik in möglichst lapidaren Sätzen. Wie lässt sich Dovlatovs „kurzer SatzŖ im Rahmen der Programmatik von „Krepovye finskie noskiŖ erklären? Brodskij hat in „O Sereņe DovlatoveŖ, seinem Erinnerungstext an den so früh verstorbenen Freund, die Ansicht vertreten, Dovlatovs Lakonie sei verwandt mit der poetischen Verssprache, und seine Prosa sei, gerade in ihrer Lapidarität, „eher Gesang als ErzählenŖ.37 Diese stilistische Lesart von Dovlatovs Knappheit ist seither zu einem Gemeinplatz geworden. Der Lyrismus mancher Passagen der „ĈemodanŖ-Erzählungen ist nicht zu übersehen. Gleichwohl offenbart sich in dem Stil mehr als ein nur „ästhetischerŖ Anspruch: Die kurzen Sätze sind Ausdruck der Sinnfragmentierung, des absurden Lebensgefühls38 Ŕ und zugleich einer eigentümlichen Sehnsucht nach Ordnung, nach Gruppierung. In Dovlatovs Notizbuch ist zu lesen: „Die Grundlage

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meiner ganzen Tätigkeit ist die Liebe zur Ordnung. Leidenschaft für die Ordnung. Mit anderen Worten: der Hass auf das Chaos.Ŗ39 Der kurze Satz hat einerseits die Funktion, die Absurdität unter keinen Umständen mit einem „metaphysischen SubtextŖ, mit „falscherŖ Tiefe zu verschleiern40, andererseits ist der knappe Stil aber auch ein Mittel, das (geistige) Chaos der Absurdität gewissermaßen zu domestizieren, in eine erträgliche Ordnung zu bringen. Dazu passt die bei Dovlatov zunächst überraschende Verwendung des Wortes „normalŖ. Im Essay „Blesk i nińĉeta russkoj literaturyŖ (Glanz und Elend der russischen Literatur), in dem er im Sinne Brodskijs die „FormŖ über den „InhaltŖ stellt, heißt es über Ĉechov, dem wichtigsten Vorbild seines Erzählens: „Sein Werk ist erfüllt von Würde und Ruhe, es ist NORMAL im edelsten Sinne dieses Wortes, so wie eine Naturerscheinung normal sein kann.Ŗ41 Mit „normalŖ ist hier keine künstliche oder gar manipulierende soziale Reglementierung der Natur gemeint, sondern im Gegenteil ein geradezu organisches, taktvolles Verhalten. Dahingehend hat sich Dovlatov gegenüber dem amerikanischen Slavisten John Glad geäußert: „Absurdität und Wahnsinn werden zu etwas völlig Natürlichem, die Norm aber, das heißt ein normales, natürliches, wohlwollendes, ruhiges, zurückhaltendes, kultiviert-gebildetes Verhalten, wird mehr und mehr zu einem aufsehenerregenden Ereignis.Ŗ42 Demnach würde Dovlatov, im Gegensatz zu Albert Camus, daran glauben, dass die Absurdität der Welt nur eine vorübergehende Verwirrung, einen grundsätzlich wieder „invertierbarenŖ Zustand darstellt. Der Literatur käme dann die Aufgabe zu, die „scheinbareŖ Norm zu beschreiben und auf eine zurückhaltend-komische Art und Weise dem Leser ein Gefühl für die wahre Norm zurückzugeben.43 Es gibt also durchaus ein moralisches Programm beim Antimetaphysiker Dovlatov, es ist aber, wie in „Krepovye finskie noskiŖ, meistens nicht eindeutig abgrenzbar vom Programm der Absurdität, so wie sich bei ihm auch „GutmütigkeitŖ und „ZynismusŖ nicht deutlich voneinander abheben lassen.44 Dieser kaum entzifferbare Doppelsinn einer „gutenŖ und einer „schlechtenŖ Norm durchzieht sein Schreiben wie ein Leitmotiv. Die zweite Erzählung dieses Zyklus, „Nomenklaturnye polubotinkiŖ (Die Nomenklatur-Schuhe), ist die Geschichte eines unmotivierten Diebstahls und führt den Diskurs um die Sinnlosigkeit materieller Güter fort. In gewisser Weise handelt es sich um eine Variation von Karamzins legendärem Diktum, man müsse, um den Zustand von Russland zusammenzufassen, lediglich eines sagen: „Es wird gestohlen.Ŗ45 Die grundlos entwendeten Halbschuhe aus dem Emigrationskoffer erinnern den Autor-Helden an seine Zugehörigkeit zur russischen Kultur und bewegen ihn zu einem regelrecht kulturosophischen Schwärmen von der Eigenart des Russischen: „Oft nimmt das Ganze metaphysische Dimensionen an. Ich spreche von völlig rätselhaftem Diebstahl ohne jeden verständlichen Zweck. So etwas, da bin ich überzeugt, gibt es nur im russländischen Staat. / Ich kannte einen feinsinnigen, gebildeten Mann, der einen Eimer Zementmörtel aus dem Betrieb mitnahm. Unterwegs wurde der Mörtel natürlich hart. Woraufhin der Entführer den Steinbrocken unweit von seinem Haus wegwarfŖ (366). Dovlatovs Held erzählt dann, wie er an einem Relief des russischen Aufklärers Michail Lo-

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monosov in der Leningrader Metrostation Lomonosovskaja mitarbeitete und am Bankett bei der Einweihungszeremonie dem Bürgermeister diskret mit den Füßen die Schuhe entwendete, die dieser zur Entspannung unter dem Tisch ausgezogen hatte. Der komische Effekt der Geschichte besteht vor allem in der Diskrepanz zwischen dem Projekt der Aufklärung, dem Glauben an die Universalität der Vernunft, für den Lomonosov steht, und seiner grotesken Wiederkehr in der Sowjetunion: Die Brigade errichtet das Relief unter starkem Alkoholeinfluss, und am Ende sieht Lomonosov „wohlgenährt, weiblich und schlampigŖ aus „wie ein SchweinŖ (371 f.). Offenbar, so bemerkt der Erzähler ironisch, habe der verantwortliche Künstler Ĉudnovskij, der dem einflussreichen Leningrader Künstler und Dissidenten Michail Ńemjakin nachempfunden ist46, den „Primat der Materie über den Geist hervorhebenŖ wollen (372). Den Auftraggebern, den Parteifunktionären, wird mit der fettleibigen Skulptur ein Spiegel vorgehalten, doch diese lassen sie aus einem anderen Grund bald nach der Inauguration als „verunglimpfendŖ wieder entfernen: Auf dem Globus in der Hand des Aufklärers sei Amerika gemessen am Wissensstand des 18. Jahrhunderts zu ausführlich kartographiert und nimmt zu viel Raum ein (372, 381). Der Diebstahl der Nomenklatur-Schuhe ist eine absurde Tat in einem absurden Rahmen bzw. ein Einwand des „GeistesŖ gegen die „MaterieŖ Ŕ und daher gerechtfertigt. Nach den Worten des Schwarzhändlers Fred Kolesnikov aus „Krepovye finskie noskiŖ könnte man diesen Diebstahl auch als „KratzerŖ auf der Erdfläche bezeichnen. Der emigrierte Held versucht sich seine Tat dennoch zu erklären: „Und in diesem Moment geschah Ŕ ich weiß auch nicht was mit mir. Entweder brach mein unterdrücktes Dissidententum durch. Oder mein kriminelles Wesen meldete sich zu Wort. Oder geheimnisvolle, zerstörerische Kräfte wirkten auf mich einŖ (379). Auffallend ist, dass die Angst, die den Helden bei seinem harmlosen Verbrechen begleitet, wie in der Geschichte von den Socken als ein authentisches Gefühl mitten im sowjetischen „TheaterŖ dargestellt wird. Dieser Angst-Begriff der „ĈemodanŖ-Erzählungen scheint nicht zum wiederholt angedeuteten Dissidententum zu passen, das sich seinerseits als Engagement gegen ein Klima der Einschüchterung und ein System der institutionalisierten Drohung versteht. Anders ausgedrückt: Dissidentisches Engagement wird hier nicht politisch aufgefasst, sondern existentiell, man könnte sogar sagen, als „RevolteŖ im Sinne von Camus.47 Wenn man Dovlatov in der Linie unter anderem von Ĉechov und Hemingway als antimetaphysischen Erzähler bezeichnen kann, so zeigt diese Geschichte vom „metaphysischenŖ Diebstahl à la russe, dass sein existentialistischer Moralismus doch letztlich an den Geist glaubt, diesen Glauben aber möglichst nicht-monumental zu umschreiben bemüht ist. Unschuldige Mitschuld und der „Blick für menschliche Schwächen“ Während die ersten beiden Erzählungen von „ĈemodanŖ die Sinnlosigkeit materieller Güter in Szene setzen und somit die „große LehreŖ des sozialistischen Materialismus buchstäblich ad absurdum führen, handeln die beiden nächsten,

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„Priliĉnyj dvubortnyj kostjumŖ (Der gediegene Zweireiher) und „Oficerskij remenřŖ (Der Offziersgürtel), von der Bereitschaft des Helden Dovlatov, im sowjetischen System trotz allem zu funktionieren, einmal als Mitarbeiter einer offiziellen Zeitung, einmal als Aufseher eines Straflagers. In „Priliĉnyj dvubortnyj kostjumŖ wird ihm von der Redaktion ein Anzug versprochen, in dem er sich dienstlich auf Beerdigungen zeigen könne, falls er „drei sozial relevante BeiträgeŖ verfasst (383). Doch so sehr er sich auch bemüht, kommt keiner zustande, da es in seinem Umfeld niemanden gibt, der den bereits feststehenden Inhalten der Artikel, den sozialistischen Helden-Schemata, entsprechen würde. Für ein Interview zum Tag der Verfassung macht er zwar, wie von der Redaktion verlangt, einen Usbeken ausfindig, doch der sitzt im Gefängnis (386). Zum Tag des Rationalisators soll er einen „modernen russischen Handwerker finden, einen Nachfahren des berühmten Levńa, der dem englischen Floh die Hufe beschlagen hat, und zu diesem Thema einen Beitrag verfassenŖ (387). Er spürt einen alten Mann auf, der westliche Oldtimer instand setzt und so ein würdiger Nachfahre von Leskovs Levńa, dem linkshändigen Feinmechaniker, sein könnte. Im Gegensatz zu Levńa, der den tanzenden englischen Stahlfloh mit Miniatur-Hufeisen zum Erlahmen bringt und so gesehen auch kein „RationalisatorŖ ist, sind die reparierten Luxuskarossen sogar funktionstüchtig. Allerdings ist der moderne Handwerker seinem Namen Evgenij Ėduardoviĉ Cholidej nach kein reiner Russe und daher für die Reportage ungeeignet (389). Schließlich versucht Dovlatov zum Tag der Heldenmutter eine Frau aus dem Hof seines Wohnblocks zu gewinnen, die aber schon mehrere Männer hatte, einen illegalen Kinderhort organisiert und so ebenfalls nicht in Frage kommt (391). Da also alle geplanten sozialistischen Artikel an der sozialen Wirklichkeit scheitern, wird Dovlatov statt dessen mit einer anderen Aufgabe betraut: Er soll einen Slavisten aus Schweden beschatten, der eines Tages in der Redaktion auftaucht und die Absicht hat, ein Buch über Russland zu schreiben, weshalb er der Spionage verdächtigt wird (395). Um mit ihm in die Oper gehen zu können, erhält Dovlatov unverhofft den in Aussicht gestellten Anzug (398). Er freundet sich mit dem Schweden an und gibt dem KGB, wie er meint, völlig unverfängliche Auskünfte über ihre Treffen. Der Schwede wird jedoch bald darauf als „rechter JournalistŖ des Landes verwiesen. Die Warnung in Form einer Metapher, „Die Wände haben OhrenŖ (399), hat der Schwede offensichtlich nicht verstanden, wie Dovlatov am Schluss zu seiner Ehrenrettung anführt. Die Qualität dieser Erzählung besteht darin, dass sie einen Helden zeigt, der zwar zutiefst „dissidentischŖ veranlagt und unmöglich dem System einzupassen ist, der aber gleichwohl durch seine Passivität in diesem funktioniert und sogar zum Mittäter wird. Der Bezug zu dem Motto-Gedicht Bloks wird in „ĈemodanŖ nirgendwo explizit hergestellt, hier ist er jedoch besonders aufschlussreich. Bei Blok wird, wie eingangs beschrieben, offen gelassen, wie genau sich das lyrische Subjekt zu dem entworfenen fatalen Russlandbild verhält, abgesehen von der abfälligen Zustimmung. „Priliĉnyj dvubortnyj kostjumŖ handelt von einer Wirklichkeit, in der eine solche bittersüße Erhabenheit wie bei Blok gar nicht

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mehr zur Debatte steht. Das ist in der Erzählung „Oficerskij remenřŖ, die an Dovlatovs „Zona. Zapiski nadzirateljaŖ (Die Zone. Aufzeichnungen eines Aufsehers, publ. 1982) anschließt, ähnlich. Dovlatov leistet hier Militärdienst in der Republik Komi und wird zum Lageraufseher ausgebildet. Er erhält den Auftrag, zusammen mit dem Wachmann Ĉurilin einen Lagerinsassen in die nahe gelegene psychiatrische Klinik zu bringen. Was wie ein „freier TagŖ (401), wie ein Ausflug in die Freiheit („Gehen, wohin man will Ŕ das ist FreiheitŖ, 404) anfängt, läuft bald aus dem Ruder; die drei beginnen Wodka zu trinken, und der Alkoholiker Ĉurilin schlägt Dovlatov in einem Anfall von Jähzorn die Schnalle seines Gürtels (eines Offiziersgürtels, den er gar nicht tragen dürfte) über den Kopf, so dass dieser das Bewusstsein verliert und ins Krankenhaus gebracht werden muss (407). Ĉurilin kommt ihn besuchen und bittet ihn um Verzeihung, er habe „im Effekt gehandeltŖ. Dovlatov, hier ganz Vertreter der gebildeten „NormŖ, korrigiert ihn („‚AffektŘ, verbesserte ichŖ) und nimmt die Entschuldigung fast gerührt an (409). Doch Ĉurilin nutzt seine Milde aus; er bittet sein Opfer inständig, ihm aufzuschreiben, wie er vor dem Kameradschaftsgericht, von dem er angeklagt ist, auszusagen hat (411), und Dovlatov ist auch dazu bereit. Da er den Arm gebrochen hat (408), kann er selbst zwar nicht schreiben, findet aber umso mehr Gefallen daran, Ĉurilin ein richtiges Drehbuch für die Verteidigung zu diktieren: „Am Ende schrieben wir ein ganzes Theaterstück. Darin waren Dutzende von Fragen und Antworten vorweggenommen. Mehr noch, auf Ĉurilins Drängen hin notierte ich in Klammern: ‚kaltŘ, ‚nachdenklichŘ, ‚verlorenŘ Ŗ (412). Der Wachmann ist seinerseits selig, einen Auftritt auf der Bühne zu haben (414). Das „TheaterstückŖ wird ihm jedoch zum Verhängnis; bei der ersten unvorhergesehenen Frage fällt er aus der Rolle und weigert sich, auch nur die einfachste Auskunft über seine Tat zu geben. Er wird zu einem Jahr Strafbataillon verurteilt (415 f.). Mit dem bereitwillig verfassten „TheaterstückŖ hat Dovlatov dem Wachmann Ĉurilin seine volkstümliche Originalität, die „beneidenswerte UnverfrorenheitŖ (413), kurz, die Spontaneität genommen. Die „GutmütigkeitŖ erscheint im Nachhinein nachgerade als zynische Verantwortungslosigkeit. Auf oblique Weise wird so die Anklage gegen Ĉurilin, die sein Opfer Dovlatov großherzig, aber letztlich zum Vergnügen verhindern möchte, zur Selbstanklage.48 Wie in der Erzählung „Priliĉnyj dvubortnyj kostjumŖ wird er am Ende unschuldig schuldig, vom Opfer bzw. Schikanierten zum Akteur, der über das Schicksal anderer, zufälliger Dritter, mitentscheidet. Das zeigt sich überdies daran, dass er in einem Tausch den Offiziersgürtel, also das Tatinstrument, von Ĉurilin übernimmt, um ihn vor dem Vorwurf der Hochstapelei zu schützen (412) und als Erinnerung bis in die Emigration mit sich herumträgt. In dieses Bild fügt sich die fünfte Erzählung, „Kurtka Fernana LeņeŖ (Die Jacke von Fernand Léger), besser ein, als es zunächst scheinen mag. Sie fängt an wie ein Märchen, eine „Geschichte vom Prinzen und BettelknabenŖ (417)49, in der alles seinen Platz hat und in der sich die Rollen nicht wie in den anderen Erzählungen sogleich verkehren. Es ist die Geschichte von der Freundschaft Dovlatovs mit Andrej Ĉerkasov, dem Sohn des großen sowjetischen Schauspie-

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lers Nikolaj Ĉerkasov, bekannt unter anderem aus Ėjzenńtejns Film „Ivan GroznyjŖ (1944). Ihre Familien waren in Ufa während der Leningrader Blockade Nachbarn. Um den Kontrast zwischen den glanzvollen Ĉerkasovs und den glanzlosen Dovlatovs zu unterstreichen, schreibt der Erzähler nicht ohne Effekthascherei: „Ĉerkasov hatte eine Datscha, ein Auto, eine Wohnung und Ruhm. Mein Vater hatte AsthmaŖ (417). Diesen Gegensatz sieht Dovlatov in der Generation der Söhne über die „KlassengegensätzeŖ hinaus fortgesetzt. Andrej Ĉerkasov wird Naturwissenschaftler, Angehöriger der neo-utopischen technischen Intelligenzija der sechziger Jahre, während Dovlatov ein „Lumpen-IntellektuellerŖ wird: „Ihn umgaben fröhliche, intelligente, gutmütige Physiker. Mich verrückte, schmutzige, prätentiöse Lyriker. Seine Bekannten tranken hin und wieder Kognak mit Champagner. Meine konsumierten systematisch rosa Portwein. Seine Freunde deklamierten in Gesellschaft: Gumilev und Brodskij. Meine trugen ausschließlich eigene Werke vorŖ (425).50 Natürlich geht es Dovlatov hier nicht darum, die technische Intelligenzija und besonders Andrej Ĉerkasov zu glorifizieren. Letzterer hat vielmehr die Funktion, dem Autor-Helden einen Spiegel vorzuhalten; er muss so positiv dargestellt werden, damit der Erzähler so negativ, eben als Selbstankläger erscheinen kann: „Andrej war kindlich, zerstreut, liebenswürdig. Ich war schon damals boshaft und hatte einen Blick für menschliche SchwächenŖ (422). Damit gesteht er unmissverständlich, dass dieser „BlickŖ kein mitleidvoller ist, sondern ein entlarvender, bloßstellender Ŕ doch offensichtlich macht der „boshafteŖ Beobachter mit seiner Entlarvungsstrategie auch vor sich selbst nicht Halt. Unmittelbar danach heißt es: „Seit ich mich erinnern kann, fühlte ich mich instinktiv zu Menschen mit irgendeinem Handicap hingezogenŖ (422). Dovlatov spielt auf seinen „natürlichenŖ Hang zum Dissidententum an. Zugleich gibt er sich als Voyeur zu erkennen, der weder „innerhalbŖ noch „außerhalbŖ lokalisierbar ist. Etwas überspitzt könnte man sagen: Er fühlt sich zu den „SchwachenŖ hingezogen, nicht weil er weiß, dass sie seiner Zuwendung bedürfen, sondern weil die Fehler, die sie machen und selber nicht sehen, für ihn dankbares (situations-) komisches Material sind. In diesem Zusammenhang ist eine Anekdote zu erwähnen, die der Dichter Viktor Krivulin überliefert hat. Er hebt den schonungslosen oder „boshaftenŖ Blick als Dovlatovs besonderes Merkmal hervor. Dieser Blick habe auf ihn, Krivulin, sowie seine Fähigkeit zur (literarischen) Selbsteinschätzung einen entscheidenden Einfluss gehabt: „Ich sah mich [dank Dovlatov] selbst zum ersten Mal von der Seite Ŕ und nicht von der besten. Es ist Frühherbst. Mittag. Stille verträumte Sonne. Zeit des Blätterfalls. Ich bin nicht zur Vorlesung gegangen, sitze im Park bei der Metrostation Gorřkovskaja, vor mir das Notizbuch, die Stimmung, kann man sagen, erhaben-poetisch… ‚Aha! Eine Minute, und die Verse fließen frei dahin…Ř 51 Genau mit diesen Worten neigt sich der Riese Dovlatov über mich; sein ‚AhaŘ klingt entlarvend, es legte die romantische Klischeehaftigkeit (pońlostř) der Situation bloß, in der ich eher eine komische Figur als der hochsubtile Schöpfer bin, doch er, der Verführer, als wäre nichts gewesen, setzt sich neben mich: ‚Ich beneide dich darum,

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dass du Gedichte schreibst. Das ist eine reine Angelegenheit. Menschlich. Traurig, wenn auch sinnlos…Ř Ŗ.52 Was hat die (Selbst-)Entblößung weiter mit der Erzählung „Kurtka Fernana LeņeŖ zu tun? Die Frau des Schauspielers, Nina Ĉerkasova, ebenfalls Schauspielerin, verliert nach dessen Tod ihre Stelle am Theater, und ihm werden posthum Preise aberkannt. Ihr bleiben nur die alten Freunde aus dem Westen, namentlich französische Kommunisten: Jean-Paul Sartre, Yves Montand, die Witwe von Fernand Léger (425). Das Privileg, nach Westeuropa zu reisen, wird Nina Ĉerkasova weiterhin zugestanden, und so bringt sie dem Freund ihres Sohnes aus Paris jene titelgebende Kordjacke des Malers Léger nach Hause mit, da er „ungefähr die gleiche StaturŖ wie der französische Maler habe (429). Dovlatov trägt sie acht Jahre lang, bis sie ganz verschlissen ist und nicht einmal mehr die Flecken von Légers Malerfarben auf ihr zu sehen sind (430 f.). Nach Eliseev ist die Identifikation mit dem „bäuerlichenŖ Avantgardisten Léger nicht zuletzt ein metapoetischer Kommentar: Sein Name markiere das „konstruktivistischeŖ Prinzip, von dem „ĈemodanŖ im Ganzen geprägt sei.53 In der Erzählung wird erwähnt, Léger habe die Linie der Farbe vorgezogen, er habe davon geträumt, statt auf Leinwände auf Wände des öffentlichen Raums zu malen usw. (430) Ŕ Positionen, die in gewissem Maß auf Dovlatovs Poetik übertragen werden können. Dabei darf nicht vergessen werden, was über den Maler auch noch gesagt wird. Er war ein glühender Kommunist: „Léger starb […] als unverbrüchlicher Anhänger dieser grandiosen, beispiellosen Scharlatanerie. Nicht ausgeschlossen ist, dass er, wie viele Künstler, dumm warŖ (430). Damit ist das Tragen der abgewetzten Jacke als Akt der Abweichung grundsätzlich diskreditiert, jedenfalls erweist es sich als zutiefst widersprüchlich, und die klaren, kontrastiven Linien der Erzählung Ŕ und von Légers Ideen Ŕ drohen zu verschwimmen. Was die Äußerung über die Dummheit von Künstlern betrifft, so hat auch sie eine für Dovlatovs Helden Ŕ zweifellos bewusst Ŕ unvorteilhafte Implikation. Sie kann nämlich so gelesen werden, dass der Autor sich in einem allgemeinen Sinn zu den „KünstlernŖ zählt und sich also zu ihrer „DummheitŖ mitbekennt, oder umgekehrt: dass er sich von der Dummheit ausnimmt auf die Gefahr hin, gar kein „KünstlerŖ zu sein.54 Das einzige deutlich positiv besetzte Kleidungsstück aus dem Koffer, Légers Kordjacke, ist zwar etwa im Vergleich mit dem Zweireiher symbolisch „wertvollŖ, dennoch ist mit ihm keine eindeutige Intention zu verbinden Ŕ im Unterschied zu Gogolřs Mantel, der für Akakij Akakieviĉ ein erfülltes Leben bedeutet. Die Kordjacke ist eher, darin dem biederen Zweireiher und dem Offiziersgürtel der vorangehenden Erzählungen nicht unähnlich, ein Symbol der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit von Dovlatovs sowjetischem Helden. Gleichgültigkeit vs. Stillstand und die Perspektive des Exils Die raum-zeitlichen Koordinaten der „ĈemodanŖ-Erzählungen treffen sich alle im Emigrantenkoffer, anders gesagt: Ihr Chronotopos ist streng genommen der

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Koffer selbst. Denn er trägt Spuren der Kindheit des Helden (von Pionierlagern in den vierziger und fünfziger Jahren), er beinhaltet Dinge, aus denen seine ganze anschließende Lebensgeschichte „entfaltetŖ werden kann55, und schließlich ist der Koffer auch das Gedächtnis oder der Speicher der Emigrationsgeschichte einer Familie und eines ganzen Teils der sowjetischen Gesellschaft. Betrachtet man die raum-zeitlichen Anlagen der einzelnen Erzählungen, so gibt es einige „GrenzgeschichtenŖ: vom Sockenschmuggel an der Grenze zu Finnland, vom Erscheinen eines „FremdenŖ aus Schweden, vom Straflager am Rand der Sowjetunion, von der Freundschaft mit den Ĉerkasovs während und nach der Evakuierung in Ufa. Eine Erzählung führt außerdem in die „UnterweltŖ der Leningrader Metro. Die zeitliche Dimension Ŕ historisch gesehen das „TauwetterŖ (ottepelř) Ŕ könnte als neutral bezeichnet werden; die Zeit ist weder besonders dynamisch, noch ist eine signifikante Verlangsamung zu spüren. Letzteres ist umso mehr in den nachfolgenden Erzählungen der Fall; sie handeln in der Epoche, die seit der Perestrojka unter Gorbaĉev „StillstandŖ (zastoj) genannt wird.56 Dovlatovs Autor-Held heiratet, wird Vater; er muss feststellen, dass es für ihn kaum Publikationsmöglichkeiten gibt. Es herrscht eine Grundstimmung der Desillusionierung und Ausweglosigkeit. Der zuvor noch von gewissen Bewegungen geprägte Chronotopos engt sich in den letzten drei Erzählungen des Bandes, „Poplinovaja rubańkaŖ (Das Popeline-Hemd), „Zimnjaja ńapkaŖ (Die Wintermütze) und „Ńoferskie perĉatkiŖ (Die Autohandschuhe), auf Leningrad ein. Die kleinen, meist unscheinbaren Ereignisse der Sujets scheinen von der „DumpfheitŖ der Zeit absorbiert zu werden. Dass sich um das Jahr 1970 jüdischstämmigen Bürgern der Sowjetunion die Möglichkeit der Emigration nach Israel bzw. über Israel in andere westliche Länder eröffnete, bringt den Chronotopos des Stillstands interessanterweise kaum in Bewegung, im Gegenteil: Für die Zurückbleibenden Ŕ Dovlatov entscheidet sich zunächst gegen die Emigration Ŕ verstärkt sich noch das Gefühl der Ausweglosigkeit. Doch der Stillstand hat ein lyrisch-elegisches Potential, wie die Erzählung „Poplinovaja rubańkaŖ zeigt. Diese handelt davon, wie Dovlatovs Held seine Frau Lena kennenlernt.57 Sie kommt eines Tages als „lehrerinnenhafteŖ Wahlhelferin zu ihm nach Hause und versucht ihn dazu zu bringen, seine Stimme abzugeben. Sie hält ihn für einen Dissidenten, da sie das Porträt von Dostoevskij bei ihm an der Wand mit Solņenicyn verwechselt. Sie vertraut ihm und sagt, sie wisse sehr wohl, dass die Wahlen die „reinste ProfanierungŖ seien (435). Da führt er sie ins Haus der Schriftsteller, um ihr mit seinen Schriftsteller-Bekanntschaften zu imponieren. Doch es kommen keine oder nur unbedeutende: „Offenbar würde Elena Borisovna gar nicht davon erfahren, dass ich ein vielversprechender Literat warŖ (437). Was folgt, ist die Geschichte ihrer Ehe, ihrer merkwürdig distanzierten Liebe. Zum Schlüsselbegriff und Leitmotiv wird die Gleichgültigkeit, wobei man beim russischen Wort „ravnoduńieŖ auch von einer geradezu stoischen Metapher sprechen kann, meint es doch einen „ebenenŖ, unaufgewühlten Zustand der Seele. Tatsächlich ist es nicht zuletzt ihre fast trotzige Gleichgültigkeit, die Dovla-

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tovs Held zu seiner zukünftigen Frau hinzieht: „Elena Borisovna erstaunte mich mit ihrer Ergebenheit. Genauer, nicht Ergebenheit, sondern mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der faktischen Seite des Lebens. Als würde alles, was geschieht, nur auf einer Leinwand aufblinkenŖ (339). Die Gleichgültigkeit wird zum regelrechten Hauptereignis ihrer Ehe, und es ist kaum zu entscheiden, ob es ein erfreuliches oder ein bedauernswertes Ereignis ist: „Wir haben zwanzig Jahre Ehe auf dem Buckel. Zwanzig Jahre gegenseitiger Absonderung, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Dabei habe ich einen Antrieb, ein Ziel, eine Illusion, eine Hoffnung. Und sie? Sie hat nur die Tochter und die GleichgültigkeitŖ (440). Dadurch, dass das Leitmotiv der Gleichgültigkeit konsequent in Dovlatovs Lakonismus gegossen und von diesem „harmonischŖ realisiert wird, schafft es die Erzählung, Gleichgültigkeit als reelle Option zu präsentieren. Diese Sonderstellung der Gleichgültigkeit zwischen Ethik und Ästhetik kann auch ein Blick in Dovlatovs Roman „ZapovednikŖ (Der Naturpark, 1983) belegen. Der Erzähler arbeitet hier als Reiseführer in Puńkinskie Gory (Pskovskaja oblastř) und nimmt dies zum Anlass, sich wieder einmal intensiv mit dem russischen Nationaldichter zu beschäftigen: „In der örtlichen Bibliothek fand ich ein Dutzend seltener Bücher über Puńkin. Außerdem las ich auch seine Erzählwerke und seine Artikel wieder. Am meisten fesselte mich an Puńkin seine olympische Gleichgültigkeit. Seine Bereitschaft, jede beliebige Sichtweise anzunehmen und ihr Ausdruck zu verleihen. Sein unbeirrbares Streben nach der allerhöchsten Objektivität.Ŗ58 Gleichgültigkeit ist in diesem Zusammenhang kein Zeichen geistiger Trägheit und der Unfähigkeit zu Mitgefühl, sondern umgekehrt von Wachheit und letztlich eines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns. Offensichtlich hat Lenas Gleichgültigkeit in „Poplinovaja rubańkaŖ einen anderen Charakter; jedenfalls fehlt ihr der positive Aspekt der Puńkinschen Offenheit. Gleichwohl kann ihre Haltung nicht einfach auf die Anthropologie der Breņnev-Zeit, des homo sovieticus, zurückgeführt werden. Eher ist ihre Gleichgültigkeit eine Ŕ noch stillere Ŕ Alternative zum Stillstand oder, mit der oben entwickelten Terminologie, der Versuch, „normalŖ zu sein „im besten Sinne dieses WortesŖ. Diese Haltung macht die Ehe von Sereņa und Lena gegen die Amplituden des privaten Lebens gefeit, die sie in jenen Jahren in ihrem Umfeld beobachten: „In diesen Jahren verliebten sich, heirateten und trennten sich unsere Freunde. Darüber schreiben sie Gedichte und Romane. Sie zogen von einer Republik in die andere. Sie wechselten ihre Beschäftigungen, Überzeugungen, Gewohnheiten. Sie wurden zu Dissidenten und Alkoholikern. Sie trachteten nach fremdem oder nach dem eigenen Leben. Ringsum entstanden Ŕ und stürzten mit Krachen ein Ŕ wunderbare Welten. Wie straff gespannte Saiten zersprangen menschliche Beziehungen. Unsere Freunde wurden wiedergeboren und starben auf der Suche nach Glück. Und wir? Allen Verführungen und Schrecken des Lebens setzten wir unsere einzige Gabe entgegen Ŕ die GleichgültigkeitŖ (440 f.). Dass die „GabeŖ der Gleichgültigkeit bei seiner Frau mit einer eigentümlichen Innigkeit einhergeht, merkt der Erzähler erst mit der Zeit. Als er einmal ihr Fotoalbum betrachtet, findet er darin, wie eine stumme Liebeserklärung, ein kleines Bild von sich, ein Passfoto. Er er-

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schrickt und bleibt erstarrt vor dem Bild sitzen, so als würde er sich Ŕ nach all den Jahren opaker Gleichgültigkeit Ŕ zum ersten Mal im Spiegel sehen: „Obwohl, wenn man genau überlegt, was war denn geschehen? Eigentlich nichts Besonderes. Eine Frau hatte ein Foto ihres Mannes in ein Fotoalbum gelegt. Das ist normal. Doch aus irgendeinem Grund empfand ich eine schmerzliche Aufregung. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren und mir den Grund dafür zu erklären. Alles, was geschieht, wäre also ernst. Wenn ich das nun zum ersten Mal fühle, wie viel Liebe muss dann in diesen langen Jahren verloren gegangen sein?... Ich hatte keine Kraft zu überdenken, was vorging. Ich hatte nicht gewusst, dass Liebe eine solche Kraft und Schärfe annehmen kannŖ (446). Zu Lenas Gleichgültigkeit gehört Liebe, eine sehr unromantische, introvertierte, dazu. Dovlatovs Schock könnte aber noch einen anderen Grund haben. Er beginnt angesichts des „SpiegelsŖ, den ihm seine Frau still Ŕ und unabsichtlich Ŕ vorhält, über die Gesichtslosigkeit seines literarischen Ich nachzudenken: Was, wenn die Ausblendung seiner selbst der Lieblosigkeit, einer banalen, unachtsamen Gleichgültigkeit geschuldet sein sollte? In einer besonders subtilen Weise kehrt damit in „Poplinovaja rubańkaŖ das Grundmotiv der verdeckten Gewissensbefragung und Selbstanklage wieder. Bald darauf, als die dritte Emigrationswelle einsetzt, überrascht Lena ihn mit ihrem unumstößlichen Entschluss, das Land zu verlassen. Vom Rest ihres Geldes kauft sie ihm vor der Abreise das titelgebende blaue Hemd, Importware aus Rumänien, worauf er mit demonstrativem Zynismus sagt: „Es lebe Genosse Ceausescu!Ŗ (448). Das Hemd ist eine pessimistische Variante der Jacke von Fernand Léger, die ihrerseits noch mit Träumen vom „WestenŖ und einer freien Kunst usw. verbunden war. Dagegen ist das ungetragene Popeline-Hemd nur ein leeres, bitteres Memento des einsamen Zurückbleibens im sowjetischen „StillstandŖ. Die Ignorierung des eigenen Spiegelbilds eröffnet auch die siebte Erzählung, „Zimnjaja ńapkaŖ: Dovlatov schützt sich vor dem Leningrader Winter mit einer „hässlichen SkimützeŖ, was für ihn aber keine Bedeutung hat, da er ohnehin „seit ungefähr fünfzehn Jahren nicht mehr in den Spiegel geschautŖ (449) hat. „Zimnjaja ńapkaŖ handelt von einem Moment, in dem der Held sich auf einmal zu einem moralischen, das heißt zu einem antwortenden Schritt durchringt. Nachdem in der Redaktion der Werkzeitung Raisa, eine Jüdin mit „typisch christlichen SchwächenŖ (450), Schreibkraft und Lustobjekt der meisten Redakteure, in den Selbstmord getrieben worden ist, ergreift Dovlatov angewidert die Flucht: „Und plötzlich wurde mir übel. Und zwar in einem Maße, dass ich sogar Kopfschmerzen bekam. Ich beschloss zu kündigen, genauer Ŕ nach dem Mittagessen nicht einmal mehr meine Papiere zu holen. Einfach davonzulaufen, ohne ein einziges Wort. Genau so Ŕ vorbei an der Pförtnerloge, in den Bus einzusteigen… Und dann? Was danach käme, hatte keine Bedeutung mehr. Bloß weg aus der Redaktion mit ihren eisernen Prinzipien, ihrem verlogenen Enthusiasmus, ihren irrealen Träumen…Ŗ (452). Er geht zu seinem Bruder Borja, der sich in einem Hotel mit drei Frauen, Mitarbeiterinnen einer Dokumentarfilmproduktion aus Lemberg, vergnügt. Doch es ist, als wäre er unsichtbar, sie beachten nur seinen Bru-

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der und haben für Sereņa höchstens abfällige Bemerkungen übrig. Sie schicken ihn, an ihrer Stelle den Regisseur des Films über Mischfutter für Schweine (!) am Flughafen abzuholen. Beim Taxistand vor dem Hotel wird er weggedrängt, fällt hin Ŕ und „sah den Himmel, so gewaltig, blass, rätselhaft. So weit von allen Unbilden und Enttäuschungen. So reinŖ (455). Diese offene Anspielung an eine der berühmtesten Szenen der russischen Literatur, Fürst Andrej Bolkonskijs Monolog auf dem Feld von Austerlitz in Tolstojs „Vojna i mirŖ (Krieg und Frieden, 1869)59, unterstreicht, bei aller Burleske, den pathetischen Ernst der Erzählung. Am Boden liegend, wird Dovlatov noch, anders als Bolkonskij, ins Gesicht getreten. Die Ironie des Lebens will es, dass er so, wieder im Hotelzimmer, als „Beinahe-InvalideŖ (456) für die Frauen plötzlich interessant wird (nun ohne seine Skimütze, mit einem angeschwollenen Auge), während sie seinen betrunkenen Bruder zu schneiden beginnen. Es gibt vielleicht kein treffenderes Beispiel für Dovlatovs Humor als „Inversion des LebensŖ: Dadurch, dass er buchstäblich den Kopf hinhält und beinahe das Gesicht verliert, gewinnt er es! Doch schon am nächsten Tag zieht er wieder mit seinem Bruder Borja, dem Filou, um die Häuser, und beide tragen abwechselnd eine zerknitterte Seehundfellmütze, mit der Dovlatov sein riesiges Veilchen verdecken kann. Borja will durch „IntuitionŖ (464) die gestrigen Widersacher seines Bruders ausfindig machen und ihn rächen. So verwickelt er sich in eine Schlägerei mit einem zufällig Vorbeigehenden. Und auch hier ist das Resultat ein „ironischesŖ: Er verliert seine Seehundfellmütze und erkämpft sich jene seines fremden Gegners Ŕ eine weitgehend identische, nur etwas neuere, und schenkt sie Sereņa. Wie in der Geschichte über den falschen Offiziersgürtel Ĉurilins ist die Geschichte von der Seehundsfellmütze ein Nullsummenspiel: Das jeweils übrig bleibende „DingŖ geht auf einen Tausch zurück. Die übrigen Kleidungsstücke sind, abgesehen von der Kordjacke, die der Held liebgewinnt (diese allerdings auch fast bis zu der Auflösung abnutzt), funktionsloser, teils nur absurder, teils unangenehmer Überschuss. Sie alle haben indes, wie bereits bemerkt, ihre präzise Funktion im Entwurf eines schematischen, gleichsam von einem Kind gezeichneten Menschen. Während am Anfang die Socken stehen, bildet ein Paar Handschuhe den Abschluss: In Dovlatovs Erzählung „Ńoferskie perĉatkiŖ lässt sich der Held darauf ein, in einem Amateur-Kurzfilm eines Journalistenkollegen namens Jurij Ńlippenbach Peter den Großen zu spielen. Ńlippenbach, wie Dovlatov der fruchtlosen Arbeit in einer Werkzeitung überdrüssig, will den Zaren, den Gründer von Sankt Petersburg, mit der „banalen sowjetischen RealitätŖ (469) Leningrads, mit der entdynamisierten Welt des „zastojŖ konfrontieren, so dass Peter der Große sich fragt: „Was habe ich bloß getan? Wozu habe ich diese beschissene Stadt gegründet?Ŗ (470). 60 Erzielt wird dann ein ganz anderer Effekt. Dovlatov in der Rolle des Zaren schafft es nicht, echte Verwunderung über seine Umgebung zu mimen, stattdessen ist er irritiert über die Präsenz der Kamera: „Es stellte sich heraus, dass, wenn man gefilmt wird, es unangenehm ist, sich fortzubewegen. Ich gab mir

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Mühe, nicht zu stolpernŖ (476). Und die „MasseŖ, düstere Alkoholiker bei einer Bierbude, sind ihrerseits, statt über den Zaren zu staunen Ŕ er stellt sich korrekt in der Schlange an (482)61 Ŕ, empört über den Regisseur Ńlippenbach. Die Gleichgültigkeit, jene graue, „schlechteŖ, ist so groß, dass Ńlippenbachs satirisches Verfremdungskalkül ins Leere laufen muss. In einer Passage, die entfernt an Fred Kolesnikovs Monologe aus der ersten Erzählung erinnert, klagt der Erzähler: „Wie viele […] solcher Buden gibt es wohl in ganz Russland? Wie viele Menschen sterben täglich und werden wieder geboren? Als ich mich der Menge näherte, wurde mir bang. Warum habe ich mich darauf eingelassen? Was sage ich zu diesen Leuten Ŕ den abgekämpften, mürrischen, halbverrückten? Wozu soll diese ganze alberne Maskerade gut sein?! Ich stellte mich ans Ende der Schlange. Zwei oder drei Männer sahen mich ohne jede Neugier an. Die übrigen bemerkten mich schlicht nichtŖ (479). Den Ausdruck der „albernen MaskeradeŖ aufnehmend, könnte man das Filmprojekt als gescheiterten Versuch bezeichnen, die Wirklichkeit des „zastojŖ zu karnevalisieren und so aus ihr auszubrechen. Als hätte er dieses Scheitern geahnt, wendet sich der sprunghafte Ńlippenbach schon am nächsten Tag einer ganz anderen Tätigkeit zu, nämlich dem Einsatz für die Menschenrechte (482). In einem Erinnerungstext betont der reale Jurij Ńlippenbach zwar, es sei vielmehr Dovlatov gewesen, der die Lust an dem Projekt während der Dreharbeiten verloren habe und davongelaufen sei.62 Ob er damit nun Recht hat oder nicht, sein Einwand zielt am Text vorbei. Denn wenn dieser Erzählzyklus nicht zuletzt die Suche nach einem Selbstporträt seines Autors ist, so ist der „ZarŖ ein solches, mit dem Dovlatov gut leben kann und das er am Ende wohl nicht freiwillig wieder annullieren würde. Boris Paramonov verweist in diesem Zusammenhang plausiblerweise auf den Vers „Du bist Zar: Leb alleinŖ aus Puńkins Sonett „PoėtuŖ (Dem Dichter, 1830).63 Die Autohandschuhe jedenfalls Ŕ sie waren Teil seines Zarenkostüms in dem Film Ŕ nimmt er mit in die Emigration, wenn sie dort auch, wie die meisten Dinge in diesem Text, funktionslos bleiben. Dovlatov verzichtet darauf, in Amerika wie alle als erstes ein Auto zu kaufen: „Ich muss doch durch irgendetwas aus dem Rahmen fallen! Soll doch ganz Forrest Hills mich kennen als ‚eben jenen Dovlatov, der kein Auto hatŘ!Ŗ (482). „ĈemodanŖ schließt also mit einem Ausblick aus dem Stillstand ins amerikanische Exil, in das Dovlatov bald seiner Frau und seiner Tochter nachfolgte und in dem er endlich seinen russischen Koffer geöffnet hat und dessen Inhalt erzählend entmaterialisieren konnte. Prospektive und Retrospektive laufen hier zusammen, Anfang und Ende überlappen, Heimat und Exil verlieren ihre Grenzen. Das Thema bleibt sich dabei gleich; es geht um die Norm („in Amerika haben alle ein AutoŖ) und das Fallen aus dem Rahmen, um die Gegen-Norm. Hier wie dort, in der Sowjetunion wie in den USA, ist diese andere, die eigentliche „NormŖ für Dovlatov, so scheint es, ein Leben jenseits der Dinge und ihrer „GeistlosigkeitŖ, spätestens dann, wenn sie ihr Erzählpotential erschöpft haben: ein Leben als bedürfnisloser, „gleichgültigerŖ Zar nach dem Vorbild Puńkins.

Karoline Thaidigsmann

Ljudmila Petruńevskaja: Medeja (Medea) Wer sich dem Erzählwerk Ljudmila Petruńevskajas über Kritiken und Forschungsliteratur nähert, hält nach nur kurzer Zeit eine Reihe von Etiketten in der Hand, mit denen das Werk der Moskauer Schriftstellerin belegt wird. Petruńevskaja gilt als Autorin, die die Alltagswelt von Menschen, oft sind es Randfiguren der sowjetischen, später der russischen Gesellschaft, in ihrer ganzen Bitterkeit darstellt. Die Schonungslosigkeit, mit der sie dabei Tabuthemen wie Alkoholismus, familiäre Gewalt oder Sexualität aufgreift, hat ihr den Ruf der Schwarzmalerei (ĉernucha) eingebracht; da die Protagonisten und Erzähler ihrer Geschichten zumeist weiblich sind, gilt sie als engagierte Anwältin von Frauenthemen. Petruńevskajas Texte sind eine Art „MikronovellenŖ1. Auf knappstem Raum umreißt die Autorin ganze Lebensschicksale und geht dabei kaum über die Ebene des häuslichen und familiären Umfeldes hinaus.2 Als herausstechende erzähltechnische Besonderheit ihres Schreibens gilt das Idiom, das sie für die Darstellung des Schicksals ihrer Figuren benutzt. Petruńevskaja führt die Verwendung gesprochener Sprache zu höchster Kunstform. Die kommunikative Funktion von Alltagsrede wird dadurch wie nebenbei zu einem Hauptgegenstand ihrer Erzählungen. Tatsächlich ziehen sich die genannten Kennzeichen wie ein roter Faden durch das Prosawerk Ljudmila Petruńevskajas, die in Russland zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation zählt. Petruńevskaja debütierte als Erzählerin 1972 mit zwei Texten in der Leningrader Zeitschrift „AvroraŖ. Bis zum Beginn der Perestrojka-Zeit war es ihr kaum möglich, weitere literarische Texte Ŕ Erzählungen, aber auch Theaterstücke Ŕ offiziell zu publizieren.3 Die sich seit ihrem Debüt wandelnden historischen und gesellschaftlichen Bedingungen in Russland machen sich in ihrem Erzählwerk weniger qualitativ als graduell bemerkbar. Die auffälligste Veränderung in den jüngeren Arbeiten gegenüber den frühen Texten ist eine Zunahme von mythischen Bezügen und von Strukturen, die dem Märchen entlehnt sind.4 In der nur sieben Seiten umfassenden Erzählung „MedejaŖ verbinden sich die typischen Merkmale von Petruńevskajas Poetik in beispielhafter Weise. Zugleich zeigt der Text eindrücklich, wie es der Autorin immer wieder gelingt, die ihr eigenen literarischen Themen und Verfahren auf originelle Weise neu zu entwickeln und die Etikettierungen, die sich an ihr Werk geheftet haben, in Frage zu stellen. „MedejaŖ ist, der Angabe am Ende des Textes zufolge, auf den 6. Juli 1989 datiert. Erstmals publiziert wurde die Erzählung 1990 im Almanach „AprelŘ Ŗ. Später nahm die Autorin „MedejaŖ in ihre Erzählungsreihe „RekviemyŖ (Requiems) auf.5 Die Ausweisung als „RequiemŖ sowie der Titel „MedejaŖ deuten auf die düstere Thematik des Textes. Erzählt wird die Geschichte eines Taxifahrers, dessen

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Frau vermutlich die gemeinsame Tochter getötet hat und die nun auf ihre Hinrichtung wartet. Die angedeuteten Gründe für das Geschehen Ŕ Untreue des Ehemanns, möglicherweise ein inzestuöses Verhältnis zwischen Vater und Tochter, Depressionen und psychische Erkrankung der Ehefrau Ŕ bleiben ungeklärt. Funktionen des Erzählens – Beichte und Bewältigung Bei der Lektüre von „MedejaŖ merkt der Leser schnell, dass hier nicht nur eine Geschichte, sondern zwei Geschichten erzählt werden: die Geschichte von der Tötung eines Kindes und die Geschichte, wie dieses Geschehen kolportiert wird. Erzählt wird über beides unterwegs in einem Taxi. Der Fahrer, Vater des ermordeten Kindes, vertraut sich einem weiblichen Fahrgast an. Dem Leser präsentiert sich das Gespräch im Taxi aus der retrospektiv erzählenden Perspektive des Fahrgastes. Die Unterhaltung während der Taxifahrt verfestigt sich so zu Beginn von Petruńevskajas Text selbst zur Erzählung. Die Bedeutung, die in „MedejaŖ dem Erzählvorgang als Erzählgegenstand zukommt, zeigt sich gleich am Anfang. In ihrer Wendung an den Leser respektive einen nicht näher konturierten Zuhörer stellt die Erzählerin alles Nachfolgende explizit als durch Erzählung vermittelt dar6: „Schrecklich, diese Geschichte zu erzählen […] (41).Ŗ Im Leser weckt diese Ankündigung spannungsvolle Erwartung, die im Weiteren aber zunächst enttäuscht wird, scheint sich der Bericht der Erzählerin über eine Taxifahrt doch in nichts von den Taxifahrten zu unterscheiden, die jeder Leser aus eigener Erfahrung kennt. So entwickelt sich zwischen der Erzählerin und dem Fahrer ein Gespräch über die Katastrophen des Alltags, das in naheliegender Weise seinen Ausgangspunkt beim Thema Taxifahren hat. Bald schon nimmt der für die kurze zufällige Gemeinschaft zweier Fremder typische small talk jedoch eine unerwartete Wendung. Am Faden der Wörtchen „schrecklich/schlimmŖ (strańno) und „entsetzlich/grauenhaftŖ (uņasno), mit denen die Erzählerin in inflationärer und nivellierender Weise gleichermaßen Banalitäten wie traumatische Ereignisse belegt, gehen die Geschichten der beiden Gesprächspartner unversehens von so einfachen Ärgernissen des Alltags wie Unzuverlässigkeit der Taxifahrer zu Erfahrungen existentiellen Unglücks, von Not und Schuld über.7 „ ‚Ich habe für morgen ein Taxi zum Flughafen bestellt, auf sechs Uhr früh, ich fürchte, es kommt vielleicht nicht. Das gäbe was! Morgens bekommt man ja absolut nichts.Ř Er [der Taxifahrer] wich dieser Frage aus und sagte: ‚Was ich ihm von meinem Unglück erzählt habe, wäre ja gar nichts im Vergleich zu dem, was sonst noch so alles vorkomme.Ř ‚Ach wasŘ, sagte ich säuerlich, ‚ jeder hat sein Päckchen zu tragen‚ aber natürlich gibt es Schlimmeres.Ř ‚Es gibt SchlimmeresŘ, wiederholte er wie ein Echo. ‚Es gibt Dinge.Ř ‚Hören Sie bloß auf. Eine Bekannte erzählte mir von ihrer Kommilitonin, die fuhr mit zwei Kindern zu ihrer Schwiegermutter nach Sibirien. Winter, Frost, das Jüngere, ein einjähriger Junge, bekam eine Lungenentzündung, kein Krankenhaus in der Nähe […], und unterwegs ist er gestorbenŘŖ (42). Gegenüber dem Redefluss der Erzählerin, die selbst erlebte wie auch über mehrere Ecken gehörte Geschichten erzählt und die Äuße-

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rungen ihres Gegenübers als Sprungbrett für eigene Assoziationen nutzt, kann sich der Taxifahrer kaum Gehör verschaffen. Und doch lenkt er, wenn anfangs auch nur zögerlich, die Unterhaltung konsequent auf seine persönliche Geschichte hin. Was zunächst wie eine fehlgeleitete Kommunikation wirkt, bei der keiner dem anderen zuhört, erweist sich bei genauerer Lektüre durchaus als Gespräch, bei dem die beiden Gesprächspartner in sehr spezifischer Weise aufeinander reagieren. Dies wird insbesondere von dem Moment an deutlich, als auch für die Erzählerin kein Zweifel mehr bestehen kann, dass sich hinter den Andeutungen des Taxifahrers eine traumatische Erfahrung verbirgt. Zwei ganz unterschiedliche Intentionen des Erzählens werden nun erkennbar. Das Bedürfnis des Taxifahrers, von dem zu vermutenden Mord seiner Frau an der gemeinsamen Tochter zu erzählen, entspringt vor allem dem Gefühl, das Geschehene mit verursacht zu haben und so selber schuldig geworden zu sein: schuldig durch Beziehungen zu anderen Frauen, schuldig durch die Vernachlässigung seiner Frau zugunsten der Tochter, wenn nicht gar durch ein inzestuöses Verhältnis zu dieser.8 Die Erzählung des Taxifahrers ist eine Beichte, wenngleich ohne Anspruch auf Absolution. Die Tochter tot, die Frau in der psychiatrischen Abteilung des Gefängnisses weggeschlossen, bis auf den zufälligen Fahrgast scheint niemand mehr da zu sein, vor dem er seine Schuld bekennen und dadurch Erleichterung erfahren könnte. Dabei ist es möglicherweise gerade die Fremdheit der Taxikundin, die es dem Mann erlaubt, sich Ŕ der Anonymität eines Beichtstuhls vergleichbar Ŕ zu öffnen. Ist die Erzählung des Taxifahrers Zeugnis eines vollständigen Verlusts der Kontrolle über sein bisheriges Leben, so spiegelt sich in den Äußerungen der Erzählerin das Bestreben, Kontrolle über die Wirklichkeit zu behalten.9 Das Erzählen gewinnt für sie eine Schutz- und Abwehrfunktion. So wie das kurze Schweigen, mit dem sie die Nachricht des Taxifahrers vom Tod seiner Tochter quittiert, Ausdruck der Ohnmacht ist, so verstehen sich ihre darauf folgenden sprachlichen Manöver („Ich stürzte mich in den KampfŖ, 44) als Versuche, diese Ohnmacht zu überwinden. Die Reaktionen der Erzählerin auf die Enthüllungen des Taxifahrers sind rhetorische Strategien, um ein direktes Berührtwerden zu vermeiden10 und das Gehörte durch kategorisierendes Einordnen zu bewältigen. Durch solches Einordnen erweist sich die Erfahrung des Taxifahrers nicht mehr als beunruhigender Einzelfall, dem man unvermittelt ausgesetzt ist, vielmehr wird sie als Variante bekannter Erfahrungen begriffen. Dabei verliert sie ihr Erschreckendes und Beängstigendes. Die hauptsächlichen Mittel, die die Erzählerin anwendet, um die Geschichte des Taxifahrers für sich selbst kontrollierbar zu machen, sind Verallgemeinerung und Vergleich. Ihre Kommentare, dass das erste Jahr nach dem Tod eines geliebten Menschen immer das schlimmste sei (44) und dass für die psychisch kranke Frau des Taxifahrers noch Hoffnung bestehe, da „gerade die schweren FälleŖ gesund würden (44), stammen ebenso aus dem Pool scheinbar verbürgter allgemeiner Wahrheiten wie die Bemerkung, dass man vor denen fliehe, vor denen man schuldig geworden sei (46), und dass letztlich „alle schuldigŖ (45) seien. Diesem

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Arsenal von Alltagsweisheiten sind auch die dem Taxifahrer vorgeschlagenen Patentrezepte, sein Unglück durch Urlaub (45) oder durch Liebe (46) zu lindern, zuzuschlagen.11 Neben einem Allgemeinwissen, das in fertigen Phrasen abrufbar ist, greift die Erzählerin im Gespräch mit dem Taxifahrer auf Erfahrungen zurück, die ihrer Ansicht nach mit seinem Schicksal vergleichbar sind. Dazu zählen Geschichten über Bekannte, die ein Kind verloren haben (44), ebenso wie eigene Erfahrungen mit dem Tod eines geliebten Menschen, die wiederum einen Hang zu Aberglauben und Mystizismus erkennen lassen (45). Nicht zuletzt führt die Erzählerin ein Märchen an (45) und damit ein Genre, das in psychoanalytischer Deutung als Medium zur Bewältigung existentieller Krisen par excellence gilt. Die zwar bruchstückhaft-stockenden, jedoch unablässigen Redeversuche des Taxifahrers lassen die rhetorischen Kontrollversuche der Erzählerin wie an einer Mauer abprallen. Geboren aus dem Gefühl, „ihm etwas sagen zu müssenŖ (46), ist ihr Redefluss letztlich nicht weniger ein Zeichen der Hilflosigkeit als ihr Schweigen.12 Je mehr sich die individuelle Geschichte des Taxifahrers herausbildet, desto kürzer und einsilbiger werden ihre Repliken.13 Und so endet „MedejaŖ ganz ohne Kommentar der Erzählerin durch ein bloßes Konstatieren der unverrückbaren Fakten, die Frau des Taxifahrers betreffend: „Sie sitzt allein mit ihrem Wahnsinn im Gefängnis und wartet auf ihre HinrichtungŖ (48).14 Während der Taxifahrer durch seine Erzählung eine Nähe zu der ihm unbekannten Frau aufbaut, dient dieser das Erzählen gerade dazu, eine Distanz zu ihm und seiner Geschichte zu gewinnen.15 „MedejaŖ ist, über das Inhaltliche hinaus, im Kern eine Reflexion über grundsätzliche Funktionen des Erzählens. So unterschiedlich die Erzählabsichten des Taxifahrers und seines Fahrgastes auch sind, in beiden Fällen geht es um den Versuch einer Bewältigung von Welt im Erzählen.16 Damit gewinnt der Vorgang des Erzählens hier jene Bedeutung, die ursprünglich dem Mythos für das Leben der Menschen zugeschrieben wurde. Von dem griechischen Wort für „ErzählungŖ herkommend, sind Mythen Geschichten, die den Menschen ein Verständnis ihrer Existenz vermitteln, indem sie Deutungsmuster für grundlegende menschliche Erfahrungen bieten, die zugleich archaisch und aktuell sind.17 Der Bezug zum Mythos – Wo ist Medea? Mit dem Titel „MedejaŖ stellt Petruńevskaja einen expliziten Bezug ihrer Erzählung zum Mythos her. Damit bietet sie dem Leser, ähnlich wie die Erzählerin mit ihren Geschichten dem Fahrer, ein Modell zum Verständnis des Erzählten an. Seine kanonisch gewordenen Kernelemente erhält der antike Medea-Mythos durch Euripidesř Tragödie „MedeaŖ (431 v. Chr.).18 Für die Liebe zu ihrem späteren Ehemann Jason geht die zauberkundige kolchische Königstochter Medea, über Leichen, verrät ihr Vaterhaus und zieht mit Jason nach Korinth. Als Jason seine Frau betrügt und verlässt, schwört Medea Vergeltung, aufs tiefste in ihrer Liebe verletzt und in ihrem Stolz gekränkt. Um sich an ihrem Mann zu rächen,

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tötet sie nicht nur die Nebenbuhlerin, sondern auch ihre eigenen, mit Jason gezeugten Kinder. Die Mutter, die ihre Kinder tötet, die blutige Rächerin der verratenen Liebe, die gedemütigte und zugleich starke, Widerstand leistende Frau, die Fremde in Korinth Ŕ diese Zuschreibungen bestimmen in unterschiedlicher Gewichtung das Bild Medeas in den seit Euripides entstandenen Verarbeitungen des Stoffes.19 Betrachtet man Petruńevskajas „MedejaŖ durch die mit dem Titel der Erzählung angebotene Brille, so kristallisiert sich als deutlichster Bezug zum MedeaMythos das Motiv der Mutter, die ihr Kind tötet, heraus. Weitere Motive mit einer Verbindung zum Mythos werden angedeutet: der Liebesverrat des Ehemanns („Ich habř mir viel erlaubtŖ, 44, 48), ein inzestuöses Verhältnis zwischen Vater und Tochter, das den Mord am Kind zugleich zum Mord an der Nebenbuhlerin machen würde, Rache oder Wahnsinn20 als mögliche Motive der Tat. In dieser Perspektive, als assoziative Aktualisierung der antiken Vorlage, leistet der Bezug zum Medea-Mythos die Rückführung des Handlungsgeschehens auf eine archetypische Grundsituation21 und gibt so den Blick frei auf die tragische Dimension der im banalen Dasein eines russischen Taxifahrers und seiner Frau angesiedelten Geschichte.22 Die Taxifahrt wird zu einer Fahrt in die Abgründe menschlicher Beziehungen, die das Ungeheure hinter der Fassade der Alltagswirklichkeit sichtbar macht. Seine Wirkung entfaltet der Bezug zum Medea-Mythos in Petruńevskajas Erzählung vor allem aber auch durch seine Uneindeutigkeit und durch die Abweichungen vom antiken Vorbild. Außer dem Titel finden sich keine weiteren expliziten Bezugnahmen auf die Vorlage. Der Leser wird so zu einer kritisch-aktiven Auseinandersetzung mit dem Deutungsangebot des Titels herausgefordert. Petruńevskajas ‚MedeaŘ Ŕ wenn man die Frau des Taxifahrers als solche bezeichnen will Ŕ erscheint nicht wie ihre antike Vorgängerin als eine stolze, sich auflehnende Frau, die in der Rache an ihrem Mann letztlich eine Art Befriedigung erfährt. Sie erscheint vielmehr überhaupt nicht. Die vermutliche Kindsmörderin hat in Petruńevskajas Text keine eigene Stimme. Ihre Geschichte sowie die Deutung ihres Handelns sind ausschließlich im Gespräch des Taxifahrers und der Erzählerin gegenwärtig.23 Das Bild, das sich dabei von ihr ergibt, entspricht dieser Abwesenheit. Es ist das Bild einer Frau, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich jegliche Bedeutung verloren hat.24 Der Verlust ihrer Arbeit an einem Forschungsinstitut (48), die damit verbundene Einbuße von sozialem Status, die Entfremdung zwischen den Ehepartnern, die Untreue des Ehemanns und die Ausgrenzung innerhalb der eigenen Familie (47), schließlich die Depressionen und die psychische Labilität (47 f.) Ŕ all das zeigt sich nicht als klar auszumachende kausale Kette, sondern als ein sich gegenseitig verstärkender Kreislauf. Die Einweisung in die psychiatrische Abteilung des Gefängnisses setzt nur noch den Schlusspunkt zu einer bereits zuvor in Gesellschaft und Familie „reduziertenŖ25, mehr und mehr verschwindenden Existenz.

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Reduziert ist die Existenz der russischen ‚MedeaŘ auch insofern, als nur Bruchstücke von ihr sichtbar werden.26 Die Andeutungen, Lücken und Schlussfolgerungen im Gespräch des Taxifahrers mit der Erzählerin bleiben letztlich Gegenstand der Spekulation. Das Mosaikhafte, das die Marginalisierung der Figur einerseits zu verstärken scheint, verleiht ihr andererseits Freiheit. Dadurch, dass Petruńevskajas ‚MedeaŘ nicht vollständig beschreibbar ist, lässt sie sich auch nicht vollständig festlegen. „Als MedeaŖ, so konstatiert Inge Stephan in ihrer Monographie zum Fortwirken des Medea-Mythos in den Künsten, „finden sich Frauen immer schon als Beschriebene vor […], und sie geraten in Gefahr, von jenem ‚Mythos der WeiblichkeitŘ aufgesogen zu werdenŖ.27 Diese fixierende Funktion des Mythos28 führt zu der Frage, inwiefern die von Petruńevskaja angebotene Deutung der Geschichte vom Medea-Mythos her das Verständnis ihrer Erzählung tatsächlich verbessert oder nicht vielmehr behindert: Erfüllt der Titel der Erzählung gegenüber dem Rezipienten eine Leitungs- oder möglicherweise eine gezielte Fehlleitungsfunktion?29 Es gehört zu den Eigenheiten des Textes, dass sich diese Fragen nicht eindeutig beantworten lassen. Der Autorin gelingt es in „MedejaŖ gerade, die ambivalente Funktion des Mythos zwischen Erklärungskraft und Macht der Verdeckung aufzuzeigen und so die letztlich unauflösbare Spannung zwischen der Erfahrung des Einzelnen und dem Allgemeinen sichtbar zu machen. Die Taxifahrt als Metapher menschlicher Existenz Mit dem Taxi als dem Raum der Handlung versetzt Petruńevskaja ihre Erzählung in den Moskauer Stadtalltag der Gegenwart. Zugleich enthebt sie das Geschehen räumlicher und zeitlicher Fixierung. Während der Fahrt bewegt sich das Taxi zwischen verschiedenen Orten. Als bloßes Transportmittel zu einem Bestimmungsort hat es gleichsam keine eigene Zeit. Im Taxi wird die Geschichte des Fahrers, der Raum und Zeit übergreifenden Gegenwart des Mythos30 entsprechend, zeitund raumlos. Unterstrichen wird diese Deutung der Taxifahrt durch die Reaktion der Erzählerin, als sie vom Tod der Tochter des Taxifahrers erfährt. Sie verliert ihre räumliche und zeitliche Orientierung: „Ich wusste gar nicht mehr, wo, was und wann. Wir fuhrenŖ (44). Zugleich geht Petruńevskaja mit dem Motiv der Taxifahrt über die symbolische Universalisierung menschlicher Erfahrungen im Sinne des Mythos hinaus. Die Taxifahrt wird bei ihr zu einer Metapher menschlicher Existenz. Aus dem Gespräch des Taxifahrers und der Erzählerin erschließt sich dem Leser nicht nur in Umrissen die Geschichte des Fahrers und seiner Familie. Nahezu unbemerkt und in gleicher Weise mosaikhaft vermittelt die Unterhaltung ein Bild der Erzählerin und ihres Lebens. Der Tod eines geliebten Menschen, möglicherweise des Ehemanns, wird angedeutet (45), der Verlust einer Arbeitsstelle findet Erwähnung (48), Kinder und Mutter, für die sie die Verantwortung trägt, werden genannt (41). Das gegenwärtige Leben der Erzählerin zeichnet sich durch permanente Unruhe aus. Mit dem Taxi ist sie auf dem Weg nach Hause, für den fol-

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genden Tag benötigt sie erneut ein Taxi, danach zum Flughafen: „ ‚Ich bin müdeŘ, sagte ich, ‚vergangene Nacht habe ich die Kinder reisefertig gemacht, heute Nacht muss ich schon wieder packenŘ Ŗ (43). Im Taxi begegnen sich zwei entwurzelte Existenzen: der Taxifahrer, dessen Leben die Richtung verloren hat und dem als Ziel nur noch die Fahrdestination seiner Kunden bleibt31, und die Erzählerin, die von einem Ort zum nächsten getrieben erscheint. Wie die Taxifahrt so stellt sich das Dasein des Fahrers und seiner Kundin als permanente Bewegung ohne festen Ort dar. Vordergründig bildet die ortlose Unruhe der beiden Protagonisten einen Gegensatz zur statischen Bewegungslosigkeit der Frau des Taxifahrers, die, in ihrer Lebensbewegung stillgestellt, im Gefängnis sitzt. Gleichwohl drückt sich in beiden Bildern ein Daseinsgefühl von Fremdheit und Einsamkeit aus. Zu Beginn der Erzählung kommentiert die Erzählerin beiläufig das heimische Chaos, das an dem Tag herrscht, als ein bestelltes Taxi zu spät kommt, mit der Bemerkung „Wir haben uns alle verpasstŖ (41). Eine Bemerkung, die als Motto über Petruńevskajas Erzählung stehen könnte. Formen der Schuld – Strafrecht und Moral Die Versuche der Erzählerin, die Erfahrung des Taxifahrers durch Relativierung und Vergleich zu bewältigen, scheitern am Beharren des Fahrers auf seiner Schuld. Die Schuld des Einzelnen widersteht einer Subsumierung unter Allgemeines. Damit wird sie für die Erzählerin zum Ärgernis: „Und er wieder dieselbe Leier: Ich bin schuld, ich bin schuldŖ (46). Mit seinem Schuldbekenntnis tritt der Taxifahrer als das für sein Handeln verantwortliche Individuum hervor. Er entzieht sich der Typisierung, einem Verfahren also, mit dem die Erzählerin ihn gleich zu Beginn der Taxifahrt zu fixieren sucht. Einmal kategorisiert sie ihn in pejorativer Weise als Homosexuellen, einmal assoziiert sie ihn mit einem Exhibitionisten. Was an dem Taxifahrer nicht mit dem von ihr aufgerufenen „TypusŖ (42) übereinstimmt, wird ignoriert („so einer war er nicht. Aber darum geht es nichtŖ, 42). Das Bild, das die Erzählerin von ihrem Fahrer zeichnet, ist kein individuelles Porträt, sondern eine Zusammensetzung verschiedener Stereotype. Trotz gegenlautender Beteuerungen der Erzählerin („das Porträt hier ist wichtig für das WeitereŖ, 42) besitzt es daher keinerlei Erklärungskraft für die folgende Geschichte des Taxifahrers und die Frage nach einer möglichen Schuld seinerseits. Die Schuldproblematik wird in „MedejaŖ auf zwei Ebenen thematisiert: auf der strafrechtlichen und auf der ethisch-moralischen Ebene. Während die Frau des Taxifahrers für den Mord an der Tochter in Untersuchungshaft sitzt, quält sich ihr Mann mit dem Empfinden, die Tat durch sein Verhalten motiviert zu haben. Auf beiden Ebenen kommt es in der Erzählung zu keiner eindeutigen Klärung der Umstände.32 Doch während es in strafrechtlicher Perspektive prinzipiell möglich erscheint, durch Nachforschungen die Schuld bzw. Unschuld des Verdächtigen festzustellen (die Frau wartet im Gefängnis noch auf die Ergebnisse der Untersuchung), kann das Bewusstsein moralischer Schuld von außen weder aufge-

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hoben noch zugeschrieben werden. Deutlich zeigt sich dies an den gleichermaßen haltlosen Versuchen der Erzählerin, den Taxifahrer als Schuldigen zu entlasten, dann wiederum zu belasten. Bei ihren vielfältigen Bemühungen, dem Taxifahrer Trost zuzusprechen, greift die Erzählerin bezeichnenderweise nicht auf religiöse Vorstellungen zurück. Im Unterschied zu den von ihr aufgerufenen Bereichen Esoterik, Märchen und Aberglaube, könnte die Religion die Möglichkeit einer Vergebung in Aussicht stellen und damit einen gewissen Trost spenden. Die Protagonisten erfahren sich jedoch nicht als eingebunden in ein religiöses Heilsversprechen.33 Die Bewegung des fahrenden Taxis ist auch Sinnbild einer Schuld, die keine Ruhe findet. Durch die Axt als eine der vermuteten Mordwaffen (47) wird in „MedejaŖ eine assoziative Verbindung der Mordtat zu den Morden in Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanieŖ (Verbrechen und Strafe, 1866) hergestellt, einem Roman, in dem die Frage nach strafrechtlichem Urteil und moralischer Schuld eine zentrale Rolle spielt.34 Zwar fallen strafrechtliche und moralische Schuld bei Petruńevskaja nicht in gleicher Weise in einer Person zusammen wie bei Dostoevskij; eine deutliche Parallele zwischen beiden Texte besteht aber darin, dass im Hinblick auf den Taxifahrer bei Petruńevskaja ein Schuldspruch wie bei Dostoevskijs Raskolnikov jenseits strafrechtlicher Belangbarkeit durch das eigene Gewissen erfolgt.35 In einem Interview äußerte Petruńevskaja, ein wichtiges Anliegen ihrer Erzählungen und Dramen seien Kinder und die Frage, was mit ihnen geschehe, wenn sich Menschen so zueinander verhielten, wie sie es nun einmal täten.36 Auch in „MedejaŖ erscheint mit der vierzehnjährigen Tochter des Taxifahrers ein Kind als eigentliches Opfer Ŕ zweifach verraten: von einem Vater, der die Entfremdung von seiner Frau durch die Nähe zur Tochter kompensiert und sie ihres Kindseins beraubt; von einer Mutter, die in ihrer Haltlosigkeit der Tochter keinen Halt geben kann und, sofern sie die Mörderin des Kindes ist, die eigene Wut, Ohnmacht und Enttäuschung, die dem Ehemann gilt, in fataler Weise auf die Tochter hin umlenkt.37 Dem zweifachen Verrat am Kind entspricht der zweifache schuldhafte Kindsverlust der Eltern: einmal bedingt dadurch, dass der Vater die Tochter an die Stelle der Ehefrau setzt, zum anderen bedingt durch die Ermordung der Tochter. Indem Petruńevskaja die Komplexität von Schuldfragen aufzeigt, die über die strafrechtliche Dimension weit hinausgehen, greift sie denjenigen Aspekt des Medea-Mythos auf, der in den Verarbeitungen seit Euripides wohl die vielfältigste (Um-)Deutung erfahren hat: die Frage nach der Schuld und Schuldfähigkeit derer, die direkt oder indirekt in das Geschehen um den Tod der Kinder involviert sind.38 Petruševskajas Erzählung im Kontext der Medea-Rezeption Der Stoff des Medea-Mythos ist seit der Antike in Kunst und Literatur kontinuierlich aufgegriffen worden.39 Gleichwohl lassen sich Perioden einer stärkeren

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von Perioden einer schwächeren Rezeption unterscheiden. Dies hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass Medea als ambivalente Bezugsfigur nicht zu einer einfachen Identifikation einlädt.40 Gemessen an der Vielfalt der künstlerischen Verarbeitungen kann das 20. Jahrhundert als ein besonders ‚Medea-nahesŘ Jahrhundert betrachtet werden.41 Ihre Bedeutung gewinnt Medea dabei vor allem innerhalb von vier Konfliktfeldern: 1. in generellen Reflexionszusammenhängen zum Thema Gewalt; 2. im Umgang mit historisch-kulturellen Krisen- und Umbruchsituationen (Medea als Figur der Grenzüberschreitung); 3. in Auseinandersetzungen mit Fragen von Rassismus und Ethnizität (Medea als die Fremde); 4. im Geschlechterdiskurs (Medea als Herausforderung traditioneller Rollenbilder).42 Im Westen wurde Medea Ende der 1960er Jahre für Schriftstellerinnen im Zusammenhang mit einer sich verstärkt herausbildenden Frauenbewegung zur lebhaft rezipierten Reflexionsfigur über Geschlechterrollen, Emanzipation und männliche Projektionen von Weiblichkeit. Am Übergang der achtziger zu den neunziger Jahren erhielt diese Interpretationslinie des Medea-Mythos durch zahlreiche Verarbeitungen weiblicher Autoren, gestützt von einer feministisch ausgerichtete Literaturwissenschaft, neuen Schwung.43 Interessanterweise erwies sich der MedeaMythos gerade in der deutschen und in der russischen Literatur von Autorinnen der neunziger Jahre als besonders virulent, in zwei Gesellschaften also, in denen ein teilweiser oder ein vollständiger politischer Systemwechsel Ende der achtziger Jahre eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungen herausforderte.44 Traditionell hat Medea in der russischen Literatur keinen Status als eine zentrale mythologische Reflexionsfigur. Die Anzahl ihrer Verarbeitungen ist insgesamt begrenzt.45 Die Belebung der russischen Medea-Rezeption in den neunziger Jahren46 fand ihren meistbeachteten Ausdruck in Ljudmila Ulickajas Roman „Medeja i ee detiŖ (Medea und ihre Kinder, 1996), der auch international eine breite Resonanz erfahren hat.47 Dass Ulickajas Familienepos um eine sich durch ihre Mütterlichkeit auszeichnende kinderlose Griechin auf der Krim und Petruńevskajas Erzählung über den gewaltsamen Kindsverlust im Moskauer Taxifahrermilieu immer wieder gemeinsam besprochen werden, zeigt, dass die in Form, Inhalt und Mythosbezug so unterschiedlichen Narrationen weniger inhaltsorientiert als vornehmlich unter dem Aspekt von weiblichem Schreiben und weiblicher Subjektivität rezipiert werden.48 Es stellt sich die Frage, ob diese Perspektive dem Text Petruńevskajas ganz gerecht wird. Unzweifelhaft stehen im Zentrum von Petruńevskajas Erzählungen vornehmlich weibliche Erzählfiguren und Protagonisten. Zugleich verwahrt sich die Autorin gegen eine Etikettierung als „FrauenschriftstellerinŖ.49 Diese Position rührt nicht so sehr von der Sorge um einen eingeschränkten Rezipientenkreis her. Sie hat vielmehr ihren Grund in der literarischen Intention von Petruńevskajas Schreiben. Geschlechterordnung und Geschlechterkonflikt sind Teil der dargestellten Wirklichkeit. Allerdings ist die Erzählwelt Petruńevskajas nicht auf diese Kon-

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flikte beschränkt. Gezeigt wird eine Welt gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Erzählung „MedejaŖ ist dafür ein Beispiel. Ihren ganz eigenen Akzent im Kontext der literarischen Medea-Verarbeitungen setzt Petruńevskaja vor allem dadurch, dass sie die ambivalenten Funktionen des Erzählens als Mittel eines Ordnens und Bewältigens von Wirklichkeit auslotet. Reduktion und Fixierung durch Sprache treffen dabei sowohl Frau als auch Mann. Nimmt man die Argumentation auf, dass ‚MedeaŘ, das heißt die Ehefrau des Taxifahrers, in Petruńevskajas Erzählung ausschließlich als reduzierte Projektion „ihres EhemannesŖ präsent ist50, so darf man nicht übersehen, dass auch der Taxifahrer die reduzierte Projektion einer anderen Person, nämlich der Erzählerin ist. Petruńevskajas Erzählung kennt nur Verlierer, weiblichen wie männlichen Geschlechts. „Weibliche Homers“ und Leser als „Helden“ „StadtfolkloreŖ nannte Petruńevskaja die typische Erzählweise ihrer Prosa, die während zufälliger Begegnungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Schlange an der Ladenkasse oder im Gespräch mit Nachbarn und Bekannten zustande kommt51 und eine eigene, eminent weibliche Form des skaz darstellt.52 Ein Hauptcharakteristikum dieser literarisch stilisierten mündlichen Alltagsprosa53 ist das perpetuierende Weitererzählen. Dabei geht die jeweilige Erzählsituation im Forterzählen selbst in den zyklischen Erzählkosmos ein und weitet diesen kontinuierlich aus. So ist nicht nur die Unterhaltung während der Taxifahrt, sondern auch der Bericht, den die Erzählerin über die Taxifahrt gibt und dem der Leser die Erzählung „MedejaŖ verdankt, Teil der städtischen Folklore. Russland wird bei Petruńevskaja zu einem epischen „Land weiblicher HomersŖ54, die ihr eigenes Universum aus „Alltag und MythosŖ55 schaffen. Mit ihrer streng auf die subjektive Perspektive der Protagonisten und Erzählfiguren beschränkten Erzählweise sowie ihrer Verweigerung eines moralischen Urteils über ihre Protagonisten56 macht sich Petruńevskaja zum Erben Anton Ĉechovs57. Ihr Postulat, dass die Literatur keine Staatsanwaltschaft sei und sie als Autorin nicht über die Menschen richten könne58, erklingt wie ein Echo auf das Ethos des großen Schriftstellerkollegen. „Der KünstlerŖ, so Ĉechov, „soll nicht Richter seiner Personen und ihrer Gespräche sein, sondern nur ein leidenschaftsloser Zeuge.Ŗ59 Kunst und Reiz der Erzählung „MedejaŖ gründen in der durchgehenden Deutungsoffenheit des Textes. Petruńevskaja enthüllt in der scheinbar so banalen Alltagssituation einer Taxifahrt die Ambivalenz und Vielschichtigkeit menschlicher Lebens- und damit auch menschlicher Erzählwirklichkeit. Die verschiedenen im Text gegebenen Perspektiven bestehen nebeneinander. Anstatt die Wirklichkeit für ihren Leser zu ordnen, fordert die Autorin ihn heraus, angesichts der Stimmenvielfalt seine eigene Stimme zu finden.60 Der aktive Einbezug macht den Leser zum eigentlichen „HeldenŖ ihres Schreibens. ŖAny work of art is a kind of game played between the author and the reader. Iřve always considered my real heroes to be not the characters in my books but my readers who reflect on those cha-

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ractersř lives.ŗ 61 Indem „MedejaŖ einseitige Betrachtungsweisen aufbricht, gibt die Erzählung dem Leser vielfache Denkanstöße. Damit hat die Autorin ihr erklärtes Ziel erreicht: Die Kunst, so Petruńevskaja nicht ohne Pathos, ist ein perpetuum mobile. Wendet sich ein Leser einem Text mehrfach zu, dann sollte ihn dieser bei jeder Lektüre auf neue Weise berühren und herausfordern.62

Christine Engel

Evgenij Popov: Vo vremena moej molodosti (Zu meiner Jugendzeit) Die Erzählung „Vo vremena moej molodostiŖ kam im Jahr 1989 heraus, zu einer Zeit, als sich die Umbruchsphase von glasnostŘ und perestrojka ihrem Ende zuneigte. Ein Teil der intellektuellen Elite war damals voller Hoffnung, dass sich die bis dahin eingeleiteten Veränderungen festigen und insbesondere der Literatur- und Kulturbetrieb weiterhin gedeihlich entwickeln würden. Ein anderer, beharrender Teil machte Anstalten, das Rad in Vorperestrojka-Zeiten zurückzudrehen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern kulminierte nur zwei Jahre später im reaktionären Putsch gegen Michail Gorbaĉev und in der Wahl Boris Elřcins zum ersten Präsidenten des neuen Russlands. Geschrieben wurde die Erzählung allerdings schon ein knappes Jahrzehnt früher (1980) gegen Ende der Ära von Leonid Breņnev, der sogenannten Stagnationszeit nach der Aufbruchsstimmung des Tauwetters, als konservative Kräfte wieder die Führung des Landes übernommen hatten. Der gesellschaftspolitische Kontext in den ausgehenden siebziger Jahren, vor allem das Problem des Stellenwerts von Umbrüchen und Revolutionen in Russland bzw. der Sowjetunion spielt in ihr eine große Rolle. Im Hinblick auf die Intelligencija der Tauwetterzeit und ihrer Entwicklung in der Epoche der Stagnation wird die Frage erörtert, ob mit solchen revolutionären Ereignissen zugleich auch eine grundsätzliche Wende zu Neuem verbunden sein muss bzw. inwiefern alte Kräfte weiterhin wirksam bleiben. 1980 war Popovs Erzählung eine der ersten, die die Rolle der šestidesjatniki, der „SechzigerŖ, kritisch beleuchtete, und zwar aus der Sicht eines Autors, der in seiner Jugend diese Ideale selbst mitgetragen hatte. 1989, zur Zeit der Publikation, war sie dann schon eine unter mehreren in einem anschwellenden Chor kritischer Stimmen. „Vo vremena moej molodostiŖ umfasst in der russischen Druckfassung dreizehn, in der deutschen Übersetzung achtzehn Seiten. Die Erzählzeit ist auf einen einzigen Abend beschränkt, an dem sich der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller Mitte dreißig, Ende der siebziger Jahre Rechenschaft darüber ablegt, wohin sein Lebensweg führen soll. Man erfährt so nebenbei, dass er unlängst aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Da er im gleichen Alter ist wie der reale Autor und einzelne biographische Stationen mit ihm gemein hat, kann man davon ausgehen, dass der Grund für den Ausschluss in der Beteiligung am alternativen Almanach „MetropolřŖ zu suchen ist, einem Almanach, der dem verordneten Sozialistischen Realismus ästhetisch etwas entgegensetzen sollte. Der Erzähler will nun zurück in den Schriftstellerverband Ŕ allzu angenehm waren dort aus seiner Sicht die materiellen Vorteile und das Verbandshaus mit dem Restaurant im Zentrum von Moskau. Um das zu erreichen, ist er innerlich entschlos-

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sen, konsequent den Weg der Sowjetisierung zu gehen, obwohl das im eklatanten Widerspruch zu den Idealen seiner Tauwetter-Jugendzeit steht. Er übt schon mal die Haltung und die Denkweise eines sowjetisch sozialisierten Schriftstellers ein und gibt sich als jemand zu erkennen, der Schwierigkeiten mit dem Schreiben hat, nichts strukturieren kann und dem auch das genaue Erinnern nicht leicht fällt. Er gesteht, dass er nichts als „Kuddelmuddel, Käfer und InsektenŖ (206) im Hirn habe, wie es einleitend in der Erzählung heißt. Und es erweist sich in der Tat, dass er weder Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann noch Stilebenen auseinander hält und dass er über keine Kriterien zur Bewertung von Vorgängen und Ereignissen verfügt, was bei der Lektüre der Erzählung bisweilen durchaus komische Effekte erzielt. In assoziativen Sprüngen, Hohes und Niedriges, Alltägliches und Angelesenes beherzt mischend, plaudert er im ersten Teil der Erzählung darüber, wie doch Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre alles besser, billiger und fröhlicher gewesen sei Ŕ alles habe sich der offiziellen Lesart nach auf eine „lichte ZukunftŖ hin bewegt. Diesem vermeintlich positiven Befund steht jedoch das eigene Fehlverhalten des Erzählers als Individuum entgegen. Der Ausweg, den er einschlägt, ist die kathartische Wirkung eines Reuebekenntnisses, einer Art der Selbstanklage, die im sowjetischen Schriftstellerverband durchaus Tradition hatte: „Früher war alles gut. Ich allein war schlecht (Schlecht, gemein, widerwärtig, dumpf, jammern, heulen, klagen, verreisen, die Gesamtmenge des Bösen verringern, ein winziges Sandkörnchen, Katharsis, sich reinigen, Katharsis…Ŗ (210). Im zweiten Teil betreibt der Erzähler auf der Alltagsebene seine tätige Reue, sprich Sowjetisierung. Er will nun so sein wie alle, was für ihn heißt, dass auch er anfängt zu bestechen und andere zu übervorteilen. Die Reise von Murmansk, wo er vorübergehend wieder in seinem studierten Beruf als Geologe arbeitet, nach Moskau, wo er seinen Freund Sańa besuchen will, bietet ihm dazu Gelegenheit: Das Ticket für den Flug ergattert er durch Bestechung, und den jungen Mann, der ihm in Moskau Taxidienste leistet, prellt er um einen Teil des wohlverdienten Fuhrlohns. Im dritten Teil der Erzählung kommen Stationen des Lebens von Verwandten, Freunden und Bekannten aus dem Umfeld der Intelligencija zur Sprache, die sich entweder den herrschenden Spielregeln der Stagnationszeit angepasst hatten oder andernfalls aus dem Spiel ausgeschieden waren. Bestärkt, sein Vorhaben der Sowjetisierung zu Ende zu führen, hebt der Erzähler erneut an, sich selbst zu bezichtigen: „Ein Schuft bin ich, ein Schuft! Ein Schuft bin ich, ein Schuft! Und alle anderen Bürger des Sowjetlandes Ŕ sind gut…Ŗ (217). Und dieses Mal erteilt die Stimme von oben den erhofften Dispens: „Recht so, Genosse…Ŗ (217). Der Charme der Erzählung wird durch ein komplexes Spiel mit Assoziationen und Zeitebenen, mit Realität und Phantastik bzw. mit Wach- und Traumbewusstsein erzielt. Ab dem zweiten Teil verdichten sich die Textsignale, dass der Erzähler eigentlich nie die geringste Chance hatte, jemals vom restlos überfüllten Flughafen in Murmansk wegzukommen. Seine Reise kann er deshalb keinesfalls im Wachbewusstsein erlebt haben Ŕ ja mehr noch: Auch der Ort seiner

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Schreibgegenwart ist offensichtlich dieser Flughafen. In Zusammenhang mit einer Vielzahl an inter- und intratextuellen Bezügen entsteht durch diese Art der Komposition ein elaboriertes Geflecht mit Bezügen zur sowjetischen Alltagsrealität, zur populären Kultur und zur Sprachkultur der ausgehenden Sowjetzeit. Dabei bildet die mentale Lage der Intelligencija eine Dominante, die in enger Verbindung mit der Frage zu sehen ist, was es bedeutet, wenn in einer Gesellschaft der Entwicklung des Gemeinwesens die oberste und ausschließliche Priorität zukommt, während die Entwicklung einer verantwortungsvollen Persönlichkeit völlig außer Acht gelassen wird. Der Ich-Erzähler und Berdjaev Mit der Maske des durak-intelligent, eines tumben Halb-Intellektuellen, der zur Graphomanie neigt, verleiht Popov seinem Ich-Erzähler alle Eigenschaften, die man einem Schriftsteller, der im Sowjetsystem sozialisiert wurde, nur ankreiden kann: So einer strebt nicht nach Höherem, nach Erkenntnis oder Wahrheit; er hat sich vielmehr in den herrschenden Verhältnissen eingerichtet und die Direktiven des Schriftstellerverbands genauso verinnerlicht wie die Vorgaben des Sozialistischen Realismus. Er weiß, dass von ihm keine tiefschürfenden Analysen erwartet werden, ja sogar nicht erwünscht sind. Stattdessen ist es für ihn günstig, möglichst viele Seiten abzuliefern, für die er extra bezahlt wird Ŕ ein Geld, von dem man sich dann eine Datscha oder eine Wohnung leisten kann. Mit seiner Fixierung auf Preise und das kleinliche Groschenzählen verstößt dieser Erzähler gegen den Habitus der Intelligencija, die seit der Revolution, ja seit dem 19. Jahrhundert, für sich eine asketische Haltung gepaart mit einer tiefen Verachtung für jegliches Besitzstreben reklamiert. Diese Sprachmaske, die auch in anderen Werken des Autors zu finden ist, legt darüber hinaus die absurde Logik der offiziellen Sprach- und Denkregelungen offen, die der Erzähler in überschießender Identifikationsbereitschaft reproduziert. Der Träger eines derart limitierten Bewusstseins kann verständlicherweise kaum die Funktion einer reflektierenden Instanz wahrnehmen. Diese Aufgabe erfüllen in der Erzählung daher einerseits intertextuelle Bezüge, und andererseits wird vieles der kritischen Einstellung und dem Weltwissen des Lesers anvertraut. Der Erzähler ist Stellvertreter für eine Intelligencija, die während des Tauwetters geglaubt hatte, Teil eines revolutionären Projekts zu sein und einen Bruch mit der Stalinzeit herbeiführen zu können. Sie musste jedoch erkennen, dass ein solcher Bruch niemals stattgefunden hat, ja mehr noch, dass die Ansätze des Tauwetters von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, da sie sich innerhalb der gewohnten Denkstrukturen des Marxismus-Leninismus bewegten. Die bedingungslose Anpassung an die Verhältnisse der Stagnationszeit haben der Intelligencija dann allerdings auch noch die Würde genommen Ŕ ein Weg, den der Erzähler mental in allen Stationen absolviert. Die Erzählung macht deutlich, dass die herrschenden gesellschaftlichen Spielregeln, die Auslagerung der Verantwortung und des kritischen Denkens an Parteiinstanzen sowie das Verhaftetbleiben im

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dialektischen Materialismus dazu führten, dass die Intelligencija keinen Bezugspunkt mehr für eine eigenständige Wertung hatte: Sie konnte nicht mehr beurteilen, ob etwas besser oder schlechter, richtig oder falsch sei. Die Intelligencija wird als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Abwärtsspirale dargestellt, wodurch ihrem Anspruch als Hüter der Moral und als Prophet und Lehrer für das sogenannte Volk der Boden entzogen wird. Mit der Konzeption eines solchen Erzählers als Repräsentant der Intelligencija schreibt der Autor Vorwürfe fort, die Nikolaj Berdjaev bereits 1909 erhoben hatte, als er in seinem Aufsatz „Die Wahrheit der Philosophie und die Wahrheit der IntelligencijaŖ letzterer jegliche Problemlösungskompetenz absprach: „Wenn ich von Intelligencija spreche, dann meine ich in dem in Rußland üblichen Sinne des Wortes die künstlich von der übrigen Nation abgehobene Zirkel-Intelligencija. Dies ist eine Welt für sich, deren isoliertes Leben bis heute unter einem doppelten Druck steht, einem Außendruck, der vom bürokratischen System der reaktionären Macht, und einem Innendruck, der von der Unbeweglichkeit des Denkens und einem Konservatismus der Gefühle ausgeht. Nicht ohne Grund kann man dieses Milieu im Unterschied zur Intelligencija im umfassenden, nationalen und geschichtlichen Sinn als intelligentščina bezeichnen.Ŗ1 Berdjaev, zu dem in „Vo vremena moej molodostiŖ ein expliziter intertextueller Verweis führt (214), listet ein ganzes Sündenregister auf, das sich wie ein roter Faden durch die Erzählung zieht. Er beginnt damit, dass „im Bewusstsein und im Gefühl der russischen IntelligencijaŖ das „Interesse für Verteilung und AusgleichŖ immer stärker war als das „Interesse an Produktion und SchöpfertumŖ2, und er fährt fort: „Eine Ideologie dagegen, die das Schaffen und die Werte zum Zentrum hatte, stellte sie unter Verdacht und entschied vorab, dass sie abzulehnen und zu entlarven sei.Ŗ Für die Erzählung besonders relevant ist der Vorwurf, dass die Intelligencija selbst Jagd mache auf Wissen, Kreativität und die höheren Formen des Geisteslebens.3 Die moralische Prämisse der Intelligencija „faßt sich in die Formel zusammen: Mag die Wahrheit ruhig untergehen, wenn nur davon das Volk glücklich und das Leben besser wirdŖ.4 Und schließlich meint Berdjaev: „Eine außerordentliche Gleichheitsliebe und ein außerordentlicher Glaube an die Nähe des sozialistischen Endziels erfaßten die russischen Marxisten.Ŗ5 Hatte er diese Entwicklung 1909 noch als eine Art negativer Zukunftsvision entworfen, extrapoliert aus dem Verhalten der radikalen Intelligencija des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so stellt die Intelligencija in „Vremena moej molodostiŖ sozusagen ein realisiertes Endprodukt dar. Der Ich-Erzähler setzt mit der Lamentatio ein, heute gehe alles den Bach hinunter. Er echauffiert sich darüber, dass die Moral sinke und dass man beim Auftauchen aus dem Moskau-Wolga-Kanal gleich ein Präservativ auf dem Kopf habe. Und über die gestiegenen Preise für Kartoffeln muss er sich aufregen, was ihm Anlass bietet, in holprigen Versen den niedrigen Kartoffelpreis seiner Jugendzeit zu besingen. Und außerdem, meint er, kaufte man die Kartoffeln früher in einem Eimer mit abgeblättertem Email, während heutzutage die Eimer völlig ohne Email seien. An dieser Stelle dämmert ihm offensichtlich, dass irgendetwas

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an seiner Argumentation nicht stimmig ist: Wie kann denn früher alles besser gewesen sein, wo doch die lichte Zukunft erst eintreten wird. Diesen Sachverhalt skizziert er mit drei aufrechten Sowjetfähnchen, die sich über einem verwackelten horizontalen Pfeil auf die Sonne zubewegen (207). Der Erzähler ist außerstande zu entscheiden, ob nun alles schlechter geworden sei oder ob ohnehin alles gut ist Ŕ vielleicht sogar besser oder gar schon vollkommen? Letzteres wäre ihm offensichtlich eine sehr begrüßenswerte Vorstellung; denn er verwendet das Lexem „vollkommenŖ im Text nicht weniger als fünf Mal, ja er setzt damit gleich in seinem Eingangsstatement ein: „Vollkommen schreib ich. Gut schreib ich. Vollkommen das Schreiben verlernt habend schreib ichŖ (206). Dabei darf man als Leser nicht aus dem Auge verlieren, dass hier mit „vollkommenŖ die totale Anpassung an die herrschenden sowjetischen Spielregeln gemeint ist. Ist die Zukunft nun besser oder schlechter? Der Bewältigung seiner latenten Verunsicherung über die Qualität von Vergangenheit und Zukunft begegnet der Erzähler mit alternierenden Strategien. Der erste Versuch geht in die Richtung, dem derzeit Schlechten eine positive Perspektive abzugewinnen: Wenn schon alles teurer ist, dann könnte man ja auch weniger „fressenŖ und so die ohnehin viel zu fetten „Bäuche und TittenŖ abspecken oder sogar die Ernährung auf Amerikanisch umstellen: „Frühstücksspeck, Ei, Grapefruit, Toastscheibchen mit Parmesan, ein Tässchen Kaffee, wunderbar duftend. Und zum Runterspülen ein Pepsi-Cola aus heimischer Produktion, so wird das hoffentlich schon was werden…Ŗ (207). Der nächste Versuch setzt bei der Jugendzeit an: Früher war zwar alles besser, aber nur deshalb, weil man selber jung war. Mitsamt der eigenen Jugendzeit sei das jedoch auf immer und ewig vorbei und verloren. Zur Bestätigung nimmt der Erzähler Anleihen bei der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts und hebt unverzüglich an „zu heulen, zu jammern, zu klagen, zu stöhnenŖ (207). Bei diesem verdeckten Zitat handelt es sich um eine Verszeile aus dem Gedicht „Veĉer duńen, veter voetŖ (Der Abend schwül, der Wind heult, 1857) von Apollon Grigorřev. Dort betrauert das lyrische Ich den Tod der geliebten Frau: Die Leiche der soeben Verschiedenen liegt auf dem Bett und wird gerade gewaschen, und der Mann stimmt die Klage an, dass sie nie wieder zurückkomme und stumm bleiben werde. Sein Herz schmerzt, der Kopf brennt, und er fleht, sie möge ihm ein Treffen im Hier und Jetzt und nicht erst im Jenseits verheißen.6 Das unmittelbar daran anschließende Zitat „O meine Jugend! O Reinheit! Jugendzeit!Ŗ (207) bietet dem Erzähler die Möglichkeit, die Pose eines gereiften Mannes einzunehmen. Der Ausruf verweist auf das gleichnamige Gedicht in Prosa aus Ivan Turgenevs Zyklus „SeniliaŖ. In dieser Miniatur erinnert sich das lyrische Ich in fortgeschrittenem Alter, auch in der Jugendzeit solche Ausrufe getan zu haben, damals aber, um sich dem süßen Gefühl der Trauer hingeben zu können. Der Vollständigkeit halber und um die Komplexität des Textgewebes der

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Erzählung zu veranschaulichen, sei noch erwähnt, dass Turgenev mit diesem Ausruf auf den Roman „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen, 1842) von Nikolaj Gogolř zurückgreift, in dem der Schelm Ĉiĉikov Ŕ ein Mann in den besten Jahren Ŕ seufzt, dass Jugend und Frische unwiederbringlich entschwunden seien und statt Lachen und Redseligkeit nun die Teilnahmslosigkeit Einzug gehalten habe.7 Nach dieser Rückendeckung durch die hohe Literatur beginnt der Ich-Erzähler in eigenen Erinnerungen zu schwelgen. Er reiht voll Enthusiasmus, aber recht kommentarlos Ereignisse und Alltagsbeobachtungen aus seiner Jugendzeit aneinander, wobei er bevorzugt Inkommensurables kollidieren lässt. So lässt er zum Beispiel die pseudo-erhabene Stimmung, die er soeben aufgebaut hat, im nächsten Satz implodieren und spricht von den niedrigen Fleischpreisen und davon, was nicht alles in den Lebensmittelgeschäften angeboten worden sei: „O meine Jugend! O Reinheit! Jugendzeit! Klapprige Jugendzeit unserer sechziger Jahre! Wie war doch damals alles gut, wie war früher alles wunderschön. Das Fleisch kostete ein Rubel vierzig Kopeken das Kilo. In den Geschäften gab es gekochte Schweinswurst, Rindfleisch, Krabben und chinesische Mandarinen. Die Schollen hingen über den Pfannenrand. Und die Sonne schien strahlend hellŖ (207). Begeistert erzählt er weiter, dass alle gleich schäbig gekleidet waren, Mantel und Jackett gewendet und geflickt, die Schuhe löchrig Ŕ aber die Stimmung sei durchweg fröhlich gewesen. Mit Hilfe von Stichwörtern zählt er eine ganze Reihe von Schlüsselereignissen auf, die für die Intelligencija damals von Bedeutung waren. Da werden die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Moskau angeführt, zu denen, nebenbei bemerkt, Picasso das Logo entworfen hatte (1957), ferner die US-amerikanische Nationalausstellung in Moskau (1959), in deren Rahmen auch eine Ausstellung zeitgenössischer amerikanischer Kunst stattgefunden hatte, die der sowjetischen Jugend das erste Mal die Möglichkeit bot, Bekanntschaft mit der abstrakten Kunst von Marc Rothko, Stuart Davis oder Jackson Pollock zu machen. Die sprachliche Gestaltung dieser Aufzählung lässt immer wieder Rückschlüsse auf das Chaos im Kopf des Erzählers zu: Er erwähnt zum Beispiel politisch inkorrekt, dass zum Jugendfestival die „NegerŖ gekommen seien, und fährt im selben Satz mit unverdauten Wendungen aus der Presse fort: „Eine amerikanische Ausstellung hatte es außerdem gegeben, wo sogar der Abstraktionismus zugegen warŖ (207). Ein grundlegendes Verfahren, das in diesem Abschnitt der Erzählung sehr anschaulich eingesetzt wird, ist die Metonymie. So stehen etwa mit dem Start des Sputnik 1957, der das gesamte Land in einen Freudentaumel versetzte, und mit dem Auftritt der damals ungemein populären Dichter Robert Roņdestvenskij und Evgenij Evtuńenko im Moskauer Sportstadion Luņniki (1962) zwei Ereignisse in einem Satz nebeneinander, die den seinerzeit mit Heftigkeit geführten Disput „Physiker und LyrikerŖ evozieren. Bei dieser Auseinandersetzung ging es im Prinzip um die Priorität von Geist oder Materie Ŕ eine Frage, die das Land zugunsten von Physik und Technik entschieden hat. Die Technikverliebtheit des Landes wird in der Erzählung zusätzlich durch die Namen Tereńkova und Landau unterstrichen. Die gedankliche Klammer für die beiden bildet das Jahr 1962, als Valen-

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tina Tereńkova als erste Frau mit der Vostok-6 ins Weltall flog und der bekannte Physiker und Lebemann Lev Davydoviĉ Landau bei einem Autounfall ums Leben kam. Landau steht aber vor allem als Textsignal für einen Menschen, der ähnlich wie Jurij Gagarin Ŕ der gefeierte erste Kosmonaut im Weltall Ŕ zwar einen beachtlichen naturwissenschaftlich-technischen Erfolg verzeichnen konnte, aber mangels einer befriedigenden „GeistŖ-Orientierung in einen sinnlosen Tod raste. Die Schatten der Vergangenheit In die Aufzählung von Ereignissen und Namen mischen sich in der Erzählung jedoch immer mehr solche Beispiele, die das Tauwetter als eine Fortsetzung der Stalinzeit und deren Wurzeln in Revolution und Bürgerkrieg konturieren. Ein solcher Themenkomplex sind die politischen Kampagnen, die unter Chruńĉev ungebrochen fortgesetzt wurden. Ein entsprechendes Textsignal liefert zum Beispiel der Name des Bergarbeiters Nikolaj Mamaj, der 1956 unter reger Beteiligung der Presse einen Wettbewerb initiierte und forderte, dass jeder Arbeiter die tägliche Arbeitsnorm um eine Tonne übererfüllen solle. Als Vorbild für diese Aktion diente selbstredend sein berühmter Vorgänger Andrej Stachanov, der 1935 als Stoßarbeiter in einer Schicht im Kohlebergwerk das Plansoll um das Vierzehnfache übertroffen hatte. Ein weiteres Beispiel für eine solche Kampagnisierung ist die Maisoffensive. Der breite Maisanbau auf dem gewonnenen Neuland sollte damals die Erträge der Landwirtschaft steigern Ŕ eine Aktion, die von einem Propagandafeldzug, in den auch die Popularkultur einbezogen war, begleitet wurde. Die Ernteerfolge blieben allerdings weitgehend aus, unter anderem deshalb, weil weite Gebiete des Neulands in viel zu kalten Gegenden lagen. Als Assoziationsauslöser dient in diesem Fall im Text eine freche častuška, ein volkstümliches Scherzlied, das voll Übermut den Maiskolben als Sexsymbol feiert (208): Полюбила я... (фамилия), Выйду замуж за него. Но боюсь, что вместо... (неприличное слово), Кукуруза у него.

Hab verliebt mich in… (Name) Findet bald die Hochzeit statt. Hab bloß Angst, dass statt nem… (unanständiges Wort), Einen Kolben Mais er hat.

Eine weitere Assoziation zur Maiskampagne birgt der Verweis auf das übermütige Lied der bösen Unkraut-Buben aus dem Zeichentrickfilm „ĈudesnicaŖ (Die Wunderfee).8 Bei diesem Film kann die Zeitlinie mühelos bis 1936 zurück verfolgt werden, als der Regisseur Aleksandr Medvedkin in einem Spielfilm mit demselben Titel die Vorteile der Kollektivierung feierte.9 Am alleranschaulichsten aber kommt der unterbliebene Traditionsbruch in der Passage zum Ausdruck, die an die Rückkehr der politischen Gefangenen aus den Arbeitslagern erinnert. In diesem Textabschnitt gerät auch das zentrale Credo der Intelligencija des Tauwetters ins Visier: die Überzeugung, dass der Stalinismus nur eine temporäre Fehlentwicklung des an sich guten marxistisch-leninistischen Systems gewesen sei. Die Rückkehrer werden nämlich als Garanten da-

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für dargestellt, dass keine grundlegende Systemkritik stattfinden wird; denn sie sind keineswegs verbittert oder vom System geheilt: Trotz minus 60 Grad in Kolyma oder minus 55 Grad an der Peĉora haben sie ihren Glauben an den Kommunismus in seiner reinen Leninschen Form nicht verloren und wollen ihren Traum nach wie vor realisieren: „Aber sie haben, stellt euch vor, auf ihren eisigen Pritschen dort trotz allem geglaubt, haben illegale kommunistische Parteizellen geschaffen und sich von den verfluchten Wlassow-Leuten und den noch nicht abgeschlachteten Trotzkisten distanziertŖ (208).10 Der daran anschließende Dialog zwischen solchen Rückkehrern, das heißt Revolutionären der ersten Stunde, und Tauwetter-Jugendlichen auf ihrem Weg ins Neuland bzw. zu den Großbaustellen in Sibirien ist so komponiert, dass die jeweiligen Repliken eine einzige Aneinanderreihung von vorgefertigtem Sprachmaterial sind Ŕ von politischen Losungen, Agitationspropaganda oder Zitaten aus gängigen Liedern und Filmen: „LEICHT WIRD DAS HERZ VOM FRÖHLICHEN LIED SO MANCHES MAL ‚Wohin fahrt ihr junges Volk?Ř ‚Wir fahren in die Stadt K., die am gewaltigen sibirischen Fluss Je. liegt, welcher ins Nordpolarmeer mündet! Hurra! Hurra! Wir werden den Fluss durch einen riesigen Damm absperren, das verschafft dem Land billigen Strom, und der bringt Licht in all seine entlegenen Winkel. Wir nehmen den Kampf mit dir auf, Fluss Je.!Ř ‚Toll! Und ihr, wohin fahrt ihr?Ř ‚Wir fahren aufs Neuland. Hurra! Hurra! Ach, wie lang des Weges Strecke bis zum Neuland in der Steppe… Rekordernten werden wir einfahren!Ř ‚Toll! So wie ihr waren wir auch. Wir nahmen Perekop ein, zerschlugen die Antonov-Banden und vollzogen die totale Kollektivierung, nachdem wir die Kulaken als Klasse vernichtet hatten. Unsre Dampflok fliegt voran und hält erst in der Kommune an…Ř ‚Aber vereinzelte Mängel hat es doch auch gegeben?Ř ‚Hat es, gewiss, aber man darf nicht auf sie fixiert sein, schließlich hat die Partei darüber schon die ganze Wahrheit gesagt. Mein Genosse und ich, zum Beispiel, wir haben zu zweit 49 Jahre gesessen und uns trotzdem den Glauben bewahrt!Ř ‚Toll! Wir bewundern euch, wir wollen Standhaftigkeit, Mut und Ausdauer von euch lernen! Wir wollen so sein wie ihr, wir werden uns des Ruhms der Väter würdig erweisen!Ř Ŗ (209). Eine solche Montage unpersönlichen Sprachmaterials, das konkreten Sprechern in den Mund gelegt wird, bewirkt einen eigenartigen Verfremdungseffekt. Der Assoziationsreichtum und die Bezüge zu früheren Epochen der Sowjetzeit, die dieser Dialog in sich birgt, sollen hier beispielhaft anhand der Zitate aus populärem Liedgut aufgezeigt werden: Bei der in Großbuchstaben gehaltenen Überschrift „Leicht wird das Herz vom fröhlichen Lied so manches MalŖ handelt es sich um die erste Zeile des bekannten Lieds aus der Filmkomödie „Veselye rebjataŖ (Lustige Burschen)11, entstanden 1934 unter der Regie von Grigorij Alek-

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sandrov. Der Text des Liedes stammt von dem Stalinpreisträger Vasilij LebedevKumaĉ. Vertont wurde er von Isaak Dunaevskij, dessen Vokal- und Filmmusik weit über die damalige Zeit nachwirkte. Gesungen und gespielt wird das Lied im Film von dem bekannten Sänger und Schauspieler Leonid Utesov, der bis zu seinem Tod im Jahr 1982 äußerst populär blieb. Rund um die Neulandgewinnung gab es in der Sowjetunion unzählige Lieder, wobei der konkrete Verweis im Text „Ach wie lang des Weges Strecke bis zum Neuland in der SteppeŖ (1954) zu dem Lied „Edut novoselřcyŖ (Die Neulandsiedler sind unterwegs)12 führt, das die Weite des Neulands besingt und verspricht, dass man dort den Frühling und die Jugend trifft. Gleich anschließend folgt im Text mit den Worten „Stopudovyj uroņajŖ (Rekordernte) ein Zitat aus einem der gängigen Lieder, die die erwünschten Rekordernten besangen.13 Dazu muss angemerkt werden, dass solche Lieder bereits in den vierziger Jahren weit verbreitet waren. Man denke nur an Ivan Pyrřevs Film „Kubanskie kazakiŖ (Die Kubankosaken, 1947) mit dem Lied „Uroņaj nań, uroņajŖ (Ernte, unsere Ernte)14 des bereits erwähnten Isaak Dunaevskij. Das Zitat „Nań parovoz, vpered, vpered leti!Ŗ (Unsre Dampflok flieg voran, voran)15 entstammt dem gleichnamigen Kampflied aus dem Jahr 1922 und verlängert damit die Zeitachse des Dialogs bis zum Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Weißen. Im Kontext der Replik steht das Zitat neben „PerekopŖ, einer Stadt auf der Krim, die im Bürgerkrieg von den Roten dem Erdboden gleichgemacht wurde; es steht weiterhin neben „Antonov-BandenŖ, der sowjetischen Sprachregelung für den Aufstand im Gouvernement Tambov gegen die Sowjets (1920/21), und schließlich steht es noch neben „totale Kollektivierung, nachdem wir die Kulaken als Klasse vernichtet hattenŖ, einer Kampagne gegen die Bauern, der Hunderttausende zum Opfer fielen, ja Millionen, wenn man noch die Toten infolge des Hungers mit einschließt. So betrachtet bringt der Refrain dieses Liedes mit seiner Verherrlichung des Schulterschlusses zwischen den Generationen die ungebrochene historische Linie auf den Punkt: „Wir Söhne ziehen in die Schlacht, gemeinsam mit den Vätern, wir schlagen den Feind als Familie geeint, befeuert von gleicher Rache.Ŗ Das Ungenügen materialistischer Weltanschauungen In „Vo vremena moej molodostiŖ findet implizit eine intensive Auseinandersetzung mit materialistischen Theorien und mit deren Unvermögen als Welterklärungsmodell statt. In erster Linie wird dabei der Marxismus-Leninismus ins Visier genommen, und hier wiederum der historische und dialektische Materialismus (Histomat und Diamat). Während dem Histomat nach das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein des Individuums bestimmt, wird in der Erzählung die kulturelle und sprachliche Verfasstheit der Wahrnehmung von Realität betont. Und wenn im Diamat die Position vertreten wird, dass Fortschritt immer in Form von diskontinuierlichen Sprüngen, also Revolutionen erfolge, dann ist schon aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden, dass Popov die Revolution von

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1917 keineswegs als Fortschritt sieht. Desgleichen stößt der Gedanke, dass Entwicklung den Charakter eines ständigen Fortschritts habe, bei dem das Alte immer wieder durch das Neue überwunden werde, in der Erzählung auf eine herbe Kritik. Eine entscheidende Rolle spielt Ŕ ex negativo Ŕ die Position des Diamat, dass These plus Antithese zur Synthese führe, dass also Entwicklung durch Widersprüche, die sich in einem ständigen Kampf miteinander befinden, bestimmt werde, bis dann etwas Neues dabei entstehe. These und Antithese bilden eines der grundlegenden Darstellungsprinzipien der Erzählung; denn dort prallen beide ununterbrochen und meist unkommentiert aufeinander, was wesentlich zu dem erwähnten Effekt einer ambivalenten Gleichwertigkeit beiträgt. Darüber hinaus folgt aber auch die Gliederung diesem Prinzip: Der bisher besprochene erste Teil ist sozusagen der These gewidmet Ŕ und diese These lautet, dass früher alles und alle besser waren. Das bekräftigt der Erzähler am Ende des ersten Teils noch einmal explizit: „Früher war ALLES gut! A-L-L-E-S! WO DU AUCH HINSCHAUST!!! Ob Geburt oder Hochzeit oder Tod oder Nahrung oder Luft oder Gesicht oder Seele oder Denken Ŕ allesŖ (209). Der zweite Teil lotet dann die Antithese aus: „Ich allein war schlecht.Ŗ Das daraus resultierende Paradoxon ist ein zentrales Thema der Erzählung: Wie können alle, also die Gesellschaft als solche, vollkommen in Ordnung und auf dem rechten Weg in Richtung lichte Zukunft sein, wenn der Einzelne, also das Individuum, dabei versagt bzw. wenn die Erfahrung eines jeden Einzelnen dem optimistischen und deterministischen Evolutionismus diametral entgegengesetzt ist? Die Unmöglichkeit einer positiven Synthese im Sinne des Diamat wird in der Erzählung unter anderem durch die erwähnte Aufzählung von Familienmitgliedern, Studienkollegen und Freunden deutlich: Sie alle haben die Ansprüche an die eigene Persönlichkeit aufgegeben und sind inakzeptable Kompromisse eingegangen. In einem sehr langen Absatz, der sich über zwei Seiten erstreckt, eröffnet sich ein ganzes Spektrum von Entscheidungen: Der Vater des Erzählers war beim Geheimdienst tätig; der Karriere zuliebe verleugnete er seinen leiblichen Vater, einen Popen, und gab sich als Adoptivsohn eines Parteimitglieds aus. Sańa, der Moskauer Freund des Erzählers, hatte in der Tauwetterzeit den Versuch gemacht, aus dem System auszubrechen; er hatte unter anderem Berdjaev gelesen, wurde aber, wie so mancher Andersdenkende, in die Psychiatrie eingewiesen; inzwischen ist er aber angepasst bzw., wie es heißt, eine „durchaus positive Figur unserer EpocheŖ (214), mit drei Kindern und einer Datscha bei Kaluga. Einer der Freunde, früher im samizdat, ist nun Chefingenieur in einem Spanplattenkombinat. Ein anderer hatte Kierkegaard gelesen, wurde Antisemit, erschlug seine jüdische Frau mit der Axt, werde aber, wie der Erzähler meint, bald wieder aus dem Gefängnis kommen.16 Ein befreundeter Künstler glaubte den Rayonismus erfunden zu haben; als er jedoch feststellte, dass dieser schon vor ihm erfunden war, wandte er sich patriotischen Themen zu und wurde steinreich. Ein Studienkollege schlug die Offizierslaufbahn ein, brachte es zu einer Vierzimmerwohnung und kam dann im Afghanistankrieg um.

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Die Varianten für diejenigen, die solche Kompromisse ablehnten, waren Emigration, Untergrund oder Selbstmord: Sańas damalige Freundin emigrierte nach Schweden und arbeitet nun beim Radiosender „Stimme der HeimatŖ. Einer der Freunde beging Selbstmord und sprang aus dem sechzehnten Stockwerk eines Hochhauses, ein weiterer arbeitet als Wachpersonal, wieder ein anderer ist in die USA gegangen. Die fiktiven Namen sind trotz ihrer Verfremdung leicht erkennbar und spielen auf Literaten und Künstler der damaligen Zeit an, sei es auf Michail Zadornov, Jurij Kublanovskij, Vjaĉeslav Zajcev, Valerij Emelřjanov oder Ėduard Limonov. Von ganz entscheidender Bedeutung für die Erzählung ist schließlich noch die Auseinandersetzung mit zwei grundlegenden Prämissen materialistischer Weltanschauungen. Das ist erstens die Annahme, dass die Welt materiell und objektiv erfassbar sei, das heißt, dass der Verstand und die kognitiven Fähigkeiten als Mittel der Erkenntnis ausreichten; und zweitens die Annahme, dass die mit dem Verstand fassbare Realität Ŕ im Sinne von „cogito, ergo sumŖ Ŕ die einzig existente Wirklichkeit sei, das heißt, dass es jenseits des menschlichen Verstands nichts gebe, weder einen Gott noch irgendeine andere Instanz. Die Erzählung beschränkt sich nicht nur darauf, die damit verbundene folgenschwere Reduktion von Komplexität vor Augen zu führen, sondern stellt auch alternative Möglichkeiten in den Raum: Im zweiten Teil kommen philosophische Ansätze ins Spiel, die die Welt komplexer denken und außerdem eine Theorie der Persönlichkeit, bei der Seele und Geist mit berücksichtigt werden, anbieten. Intertextuelle Verweise führen dabei nicht nur zu Berdjaev (214), sondern auch zu Søren Kierkegaard (215) sowie zu Karl du Prel und dessen Buch „Die Philosophie der MystikŖ aus dem Jahr 1885 (214). Diese Verweise erfüllen eine doppelte Funktion: Einerseits indizieren sie, dass die Jugend der Tauwettergeneration diese Autoren gelesen hat, dass sie also durchaus befähigt gewesen wäre, das Gedankengebäude des Materialismus hinter sich zu lassen. Andererseits spielen zentrale Gedanken dieser Autoren auch für die Struktur der Erzählung eine signifikante Rolle und sollen daher im Folgenden kurz skizziert werden. Berdjaev war in seiner Jugend ein Anhänger des Marxismus, weil er dessen Streben nach sozialer Gerechtigkeit schätzte; dann wandte er sich jedoch davon ab, weil er ein Konzept der Persönlichkeit vermisste. Das folgende Zitat aus seinem bereits erwähnten Aufsatz über die russische Intelligencija ist zugleich eine Schlüsselstelle für die Interpretation der vorliegenden Erzählung: „Denn unsere Intelligencija hat die Freiheit gepriesen und sich zu einer Philosophie bekannt, in der kein Platz für die Freiheit war; sie hat die Persönlichkeit gepriesen und einer Philosophie angehangen, in der kein Platz für die Persönlichkeit war; sie hat den Sinn des Fortschritts hochgehalten und ist einer Philosophie gefolgt, in der es keinen Platz für den Sinn des Fortschritts gab; sie hat die Gemeinsamkeit der Menschheit hochgehalten und vertrat eine Philosophie, in der kein Platz war für die Gemeinsamkeit der Menschheit; sie hat die Gerechtigkeit und alle möglichen edlen Dinge geschätzt und sich zu einer Philosophie bekannt, die keinen Platz für Gerechtigkeit oder irgendwelche anderen erhabenen Werte hatte. Das ist ein fast

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durchgehender Irrweg des Bewußtseins, ein Produkt unserer ganzen Geschichte.Ŗ17 Die Grundkonstellation in Berdjaevs Philosophie ist die Gegenüberstellung von Geist und Natur. Danach hat der Mensch die Wahl, ob er der materiellen Welt verfällt oder sich der „GottmenschlichkeitŖ und der Geistigkeit zuwendet. Mit dem Reich des Geistes verbindet Berdjaev die für ihn zentrale Vorstellung von Freiheit, die höher zu werten sei als das Sein, das er als „ungeschaffeneŖ Freiheit, die im Nichts gründet, bezeichnet. Als einzigen Ausweg sieht er die Verbindung von Wissen und Glauben: „Alle historischen und psychologischen Gegebenheiten sprechen dafür, daß die russische Intelligencija ein neues Bewußtsein nur erlangen kann, wenn sie Wissen und Glauben zu einer Synthese bringt, eine Synthese, die das zu schätzende Verlangen der Intelligencija, Theorie und Praxis, ‚gerechte WahrheitŘ und ‚wahre GerechtigkeitŘ organisch zu verknüpfen, zufriedenstellt.Ŗ18 Positionen einer christlichen Existenzphilosophie vertritt auch Søren Kierkegaard, für den das Individuum, also der konkrete Einzelne, im Mittelpunkt steht und nicht die Gattung Mensch als solche. Keine wie auch immer geartete theoretisch-abstrakte Kenntnis könne mit dem Wesen des Einzelnen gleichgesetzt werden; das heißt, irgendein Wissen über etwas kann nie identisch sein mit der Existenz (des Einzelnen). Kierkegaard sieht das Individuum jedoch nicht als ein Ich, sondern als ein Selbst; denn es steht immer in einem Verhältnis Ŕ und laut Kierkegaard in einem Verhältnis zu sich selbst sowie zu einem Dritten. Dieses Dritte, das gemeinhin als Gott bezeichnet wird, sei jedoch nichts anderes als das eigentliche Wesen des Menschen, das sich aber durch Vervollkommnung auszeichnet. Das so vervollkommnete eigene Wesen dient dem Menschen als Projektion, als das Andere, das er sich selbst entgegen setzt. Dieser radikal anthroposophische Gottesbegriff birgt daher das Streben nach Höherem und nach einer ständigen Entwicklung der Persönlichkeit schon von seinen Ansätzen her in sich.19 Von Karl du Prel Ŕ auch er ein ehemaliger Anhänger des Materialismus Ŕ stammt das Diktum, dass der Materialismus nur deshalb so erfolgreich gewesen sei, weil er den geringsten Verstandesaufwand erfordere. In seinen Schriften befasst sich du Prel vor allem mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen wie Hypnose, Traumleben, Trancezuständen und spontanem Somnambulismus; denn aus seiner Sicht ist die wachbewusste Persönlichkeit nur ein pragmatisches, phänomenologisches Exzerpt und ein Produkt der biologischen Evolution. Völlig außer Acht gelassen werde dabei die Seele Ŕ verstanden als Bewusstsein in all seinen Erscheinungsformen Ŕ, die nicht nur das gestaltende Prinzip des Körpers sei, sondern die eigentliche Trägerin der Evolution. Du Prel ist überzeugt, dass das menschliche Bewusstsein den körperlichen Tod überlebt, dass der Tod also keine Entseelung des Leibes, sondern eine Entleibung der Seele sei. Er vertritt dabei die Meinung, dass die Seele ihr vor- und nachtodliches Leben als persönliches „Transzendentales SubjektŖ führe und sich nicht in einer Art Weltsubstanz auflöse, wie dies Arthur Schopenhauer und in dessen Nachfolge Nicolai Hartmann

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vorschlägt. In seiner Dissertation behandelte du Prel zeitliche Divergenzen in Träumen, die Phänomene wie Doppelgänger oder die Wiederkehr von Verstorbenen erklären können; denn seiner Meinung nach habe der Mensch neben seinem physischen Körper noch einen zweiten, inneren Körper, den Astralleib.20 Mit du Prel gelesen, gewinnt die Rückkehr der politischen Gefangenen in der Erzählung eine metaphysische Dimension, die diese Figuren als Untote, ja Unsterbliche markiert. Noch entscheidender aber ist, dass sich der Erzähler selbst à la du Prel in einem besonderen Zustand oder in einem Paralleluniversum befindet. Auf der logisch-kausalen Ebene mag das zwar durch Wodka oder übergroße Müdigkeit verursacht sein Ŕ lauter Indices, die im Text Erwähnung finden, genauso bedeutsam sind jedoch die Indices, die auf Doppelgängertum und Paralleluniversum verweisen. Wendungen des Erzählers wie „weiß es absolut nicht mehrŖ (210) oder die wiederholte Behauptung, dass er sich nicht erinnern könne, erhalten dadurch eine zweite Lesart, genauso wie der einleitende Satz, dass er einen Kuddelmuddel im Hirn habe. … und dann schlug es Mitternacht Die Handlung des zweiten Teils setzt, wie erwähnt, mit dem Stichwort „KatharsisŖ ein, das heißt mit der Passage auf dem völlig überfüllten Flughafen von Murmansk. Der Erzähler hat die Hoffnung aufgegeben, ein Ticket nach Moskau zu bekommen, und ruft völlig erschöpft seinen Freund Sańa an, um seine Ankunft abzusagen. Doch plötzlich, wie durch ein Wunder, beflügelt allein durch Willen und Vorstellung, marschiert er einfach über die Gangway in ein Flugzeug, wird nicht hinausgeworfen und fliegt ab. Die Möglichkeit einer doppelten Lesart verstärkt sich in diesem Teil der Erzählung, sodass wie bei einem Vexierbild immer zwei Betrachtungsmöglichkeiten gegeben sind. Eine solche doppelte Kodierung birgt zum Beispiel das Stichwort „gläsernes TicketŖ (210): Auf der Alltagsebene der damaligen Sowjetunion ist damit eine Flasche Kognak als Mittel zur Bestechung gemeint, um zu einer Transportmöglichkeit zu kommen Ŕ ein Rat, den der Erzähler von einem schlitzohrigen Passanten am Flughafen erhält. Auf der irrealen Ebene signalisiert das „gläserne TicketŖ den Übertritt in eine Parallelwelt, in der die üblichen physikalischen Gesetze maßgebliche Erweiterungen erfahren. Ein weiteres untrügliches Textsignal für eine doppelbödige Lesart ist der Satz „Es schlug MitternachtŖ, der den dritten Teil der Erzählung einleitet. Dieser Satz wird dreimal wiederholt, während der Erzähler mit dem Lift zur Wohnung seines Freundes hochfährt und dort klingelt (212 ff.). Auf der logisch-kausalen Ebene findet mit dem mitternächtlichen Erscheinen des Freundes der unbändige Schrecken Sańas eine Erklärung: Dieser hatte den ganzen Abend du Prel gelesen und glaubt nun, ein Gespenst vor sich zu haben. Zugleich ist der Satz „Es schlug MitternachtŖ aber ein intertextueller Verweis, der in die Zeit der Romantik führt, als Reales und Phantastisches genauso wie die verschiedenen Bewusstseinsebenen in ihrem Erkenntnisanspruch als gleichberechtigt empfunden wur-

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den. Konkret führt das verdeckte Zitat zu Vasilij Ņukovskijs Gedicht „Derevenskij storoņ v polnoĉřŖ (Der Wächter um Mitternacht, 1818).21 Dessen Refrain lautet: Полночь било; в добрый час! Спите, бог не спит за нас!

Es hat Mitternacht geschlagen; zur guten Stunde! Schlafet nur, Gott schläft uns zuliebe nicht!

In diesem Gedicht durchquert der Nachtwächter des Dorfes auf seinem Rundgang zu Mitternacht den Friedhof. Er ist darauf eingestellt, dass sich die Toten zu dieser Zeit aus ihren Gräbern erheben könnten, meint aber, dass für die Toten eine eigene Zeitrechnung gelte und ihnen vielleicht erst die Dämmerstunde geschlagen habe. Seiner Überzeugung nach sind die Toten mitnichten tot, und er geht davon aus, dass sich das schlafende Dorf gar nicht vom Friedhof unterscheide, da sich beide in einem Zustand der Unruhe befänden. Intratextuell handelt es sich hier um eine Replik auf das erwähnte Gedicht von Grigorřev, wo der trauernde Witwer meint, seine Frau erst im Jenseits zu sehen. Diese Befürchtung wird entkräftet, da doch alle, die Verstorbenen und die Lebenden, auf irgendeine Weise gleichzeitig anwesend sind. Das Doppelgängermotiv spielt in der Erzählung wiederum eine entscheidende Rolle, um alternative Lebensentwürfe des Ich-Erzählers durchzuspielen. Als solche Doppelgänger erweisen sich sowohl sein Freund Sańa als auch der junge Mann mit dem Auto, der den Transport durch das nächtliche Moskau bewerkstelligt. Wenn auch die Entscheidung schon weit gediehen ist, befindet sich der Erzähler doch noch auf dem Scheideweg für sein weiteres Leben: die ästhetischen und gesellschaftspolitischen Ideale beibehalten oder den Weg zum Sowjetschriftsteller gehen. Sańa, der wie der Erzähler Geologie studiert hat, steht für die Variante, den Beruf des Schriftstellers ganz aufzugeben und ein Familienleben mit Kindern und Datscha aufzubauen. Der feinfühlige, höfliche junge Mann mit dem Auto wiederum steht für die Variante, als junger Schriftsteller einfach den Anpassungsprozess zu verweigern. In diesem Fall könnte man dann berufsmäßig Taxidienste leisten, allerdings mit dem Risiko, dass man Ŕ wie im vorliegenden Fall Ŕ um seinen gerechten Fuhrlohn geprellt wird. Außerdem könnte man sich nichts leisten, und das klapprige Auto würde endgültig in seine Bestandteile zerfallen. Als Alternative böte sich die Emigration in die USA an, wo man in New York in Brighton Beach als Tellerwäscher arbeiten könnte, dafür aber aus der Sicht des Erzählers zweifellos ein gutes Auto hätte. Den Erzähler bestärken diese Varianten offensichtlich in dem Entschluss, seine spezifische Katharsis zu Ende zu führen. Die Liftfahrt im Haus des Freundes Sańa ist eine Fahrt in seine Art von Himmel; denn plötzlich meldet sich eine „Stimme von obenŖ (216), die ihm mit den Worten „Recht so, GenosseŖ (217) die Absolution erteilt. Er ist an seinem Ziel angekommen, hat die Verantwortung abgegeben, und die Stimme der Partei bzw. des Schriftstellerverbandes spricht nun an seiner statt. Mit Kierkegaard gelesen, ist die Stimme von oben das vervollkommnete ausgelagerte Selbst des Erzählers Ŕ allerdings in der pervertierten Form einer Perfektionierung nach unten. Die Schuld für diese Entwicklung sucht

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der Erzähler dabei keinesfalls bei sich selbst. Eine solche Frage lässt er erst gar nicht zu, sondern jammert und erniedrigt sich, sodass er auch noch dem letzten Vorwurf, den Berdjaev an die Intelligencija richtet, gerecht wird: dass sie nämlich immer die Schuld bei anderen und bei den Umständen suche und niemals bei sich selbst bzw. beim Individuum ansetze. Biographischer Kontext Obwohl gewisse biographische Stationen des Autors und des Erzählers identisch sind, kann die Erzählung keinesfalls als autobiographischer Text gelesen werden. Selbstverständlich reflektierte Evgenij Popov hier seine Situation als Schriftsteller, insbesondere nach den Vorkommnissen um den Almanach „MetropolřŖ, als nicht nur er, sondern auch die ganze Gruppe von Herausgebern und Autoren sanktioniert wurden. Wie sehr ihn die Rolle und Verantwortung der Intelligencija in Zeiten der Stagnation beschäftigte, sieht man unter anderem daran, dass er Ende der siebziger Jahre die Sprachmaske des tumben Sowjetschriftstellers noch in weiteren Erzählungen einsetzte, etwa in „Duńa patriota, ili razliĉnye poslanija k FerfiĉkinuŖ (Das Herz eines Patrioten) oder in „Billi BonsŖ. Popov war nach dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband in der Tat gezwungen, einen Weg für sich zu finden, wobei er fürs erste die Möglichkeit wahrnahm, als Geologe zu arbeiten, um nicht unter den Strafrechtsparagraphen gegen Parasitentum und Müßiggang zu fallen. Es hätte sich ihm andererseits auch die Möglichkeit geboten, in den USA zu publizieren oder gar dorthin zu emigrieren, da nicht nur „MetropolřŖ dort herausgebracht wurde, sondern auch ein Band mit seinen frühen Erzählungen, was ihn international bekannt machte. Er sah sich jedoch weder in der Rolle eines Dissidenten noch in der eines Schriftstellers im Untergrund oder in der Emigration. Er wollte nicht akzeptieren, dass es für einen russischen Schriftsteller, der sich mit zutiefst russischen Problemen befasst, keine zugelassene Publikationsmöglichkeit gebe und dass die beiden Erzählungen, die 1976 in der Zeitschrift „Novyj mirŖ herauskamen, die ersten und die letzten gewesen sein sollten. Da die Umstände aber nicht anders waren, setzte er in den folgenden Jahren seine schriftstellerische Tätigkeit zwar fort, musste mit der Veröffentlichung seiner Werke jedoch bis zur perestrojka warten. Seither ist Evgenij Popov nicht nur ein Autor, dessen Erzählungen, Romane und Essays von den Verlagen bereitwilligst angenommen werden, sondern auch einer, der in Radio und Fernsehen auftritt und nicht müde wird, vor den Gefahren einer neuerlichen Sowjetisierung des Landes zu warnen.

Urs Heftrich

Tatřjana Tolstaja: Somnambula v tumane (Schlafwandler im Nebel) Der „Idiotenführer durch die russische LiteraturŖ, ein rassistisch grundiertes Pamphlet gegen Russland, das Bertha Diener-Eckstein 1925 unter dem Decknamen Sir Galahad veröffentlicht hat, findet vornehmlich eine Eigenschaft besonders typisch für den russischen „VolkscharakterŖ: die „TrägheitŖ.1 Als Quelle für dieses Verdikt dienen Sir Galahad nicht etwa Statistiken, historische Untersuchungen oder wenigstens Reiseberichte Ŕ solcher Ballast hielte einen Ritter mit eingelegter Lanze nur unnötig auf. Nein, sein Wissen über den Gegner hat er sich weitestgehend aus Romanen angelesen Ŕ darin ähnelt er auffallend einem früheren Ritter von trauriger Gestalt. Vor allem Ivan Gonĉarovs „OblomovŖ hat Sir Galahad von der Lethargie des ‚Russen an sichŘ überzeugt: „Durch seine Bände zieht ein langaushauchendes Versagen, achtzig Seiten braucht es, bis der Held nur seine Füße in Pantoffel schiebt. Jedoch nicht an Tatträgheit, an Traumträgheit geht letzten Endes dieser feine Mensch zugrunde. Hielten innen seine Bilder hell und jung, ohne breiig zu verfließen, verfaulte er auch in der Faulheit nicht.Ŗ2 Oblomov aber kennt „kein ‚AußenŘ und ‚InnenŘ mehrŖ, nur noch „käsig-körperhaftes und gedunsenes Dösen, das in Schwaden richtungslos verschwimmtŖ.3 Bei allem Russenhass, der aus solcher Charakteristik spricht, bringt sie doch ein Stereotyp auf den Punkt, das von der russischen Kultur selbst zu einer Art von nationalem Erkennungszeichen geprägt wurde. Trägheit gilt seit jeher als ein Grundzug des russischen Wesens. Allerdings wird sie in Russland eher ambivalent wahrgenommen. In der folkloristischen Tradition entpuppt sie sich oft als Brutstätte ungeahnter Kräfte Ŕ in der Byline ebenso wie im Märchen: „Ilřja Muromec; der saß dreißig Jahre lang, ohne sich zu regen, auf einer Stelle, und als dreißig Jahre um waren, stellte er sich fest auf seine Füße und verspürte in sich eine starke Kraft.Ŗ4 Auch die sagenhafte Trägheit eines Ivan Bauernsohn oder Ivan Bykoviĉ, die aus langer Untätigkeit plötzlich zu heldenhaftem Tatendrang erwachen, gehört hierher, und nicht zuletzt das russische Wappentier: Der winterschlafende Bär ist die perfekte Synthese von brachialer Stärke und Faulheit. Unter Peter I. und der Aufklärerin Katharina II. als Untugend bekämpft und verspottet, wurde die Trägheit in der Romantik, von Nikolaj Jazykov, Petr Vjazemskij und, allen voran, Aleksandr Puńkin, zur unentbehrlichen Voraussetzung künstlerischen Schöpfertums umgedeutet, zur Muße im Sinne des antiken otium: „Oh komme Trägheit! Komm in meine Klause!Ŗ5 Doch bereits Nikolaj Gogolř, dem christliche Höllenangst die Früchte des eigenen otium vergällte, sah hinter der Trägheit Ŕ russisch „lenřŖ Ŕ die Fratze der mittelalterlichen acedia hervorblinzeln.6 Die Autoren des Realismus, ob frei oder unfrei von solch religiösen Motiven, folgten im Wesentlichen Gogolřs Auffassung, len’ sei ein Laster. Auch wenn in Tolstojs „Vojna i mirŖ (Krieg und Frieden), beim Sieg des Fatalisten

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Kutuzov über die Truppen des rastlosen Strategen Napoleon, das östliche Prinzip passiven Geschehenlassens über westliche Visionen von aktiver Weltbezwingung triumphiert, meist ist Lethargie den Realisten eher suspekt. Selbst Gonĉarov bildet, bei aller Sympathie für seinen Helden im Schlafrock, keine Ausnahme von dieser Regel. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran: Oblomov, verdorben durch eine Erziehung, die jede Berührung mit den Härten der Realität scheut, kommt nie dazu, die in ihm schlummernde Größe auszuleben.7 Der sowjetische Produktionsfuror schließlich trieb die Verdammung der Trägheit auf den Gipfel, einen Gipfel, der an die frühchristliche Verteufelung der acedia heranreicht. Nicht zufällig gewann das Paulus-Wort „Wenn jemand nicht arbeiten will, so soll er auch nicht essenŖ unter den Kommunisten Verfassungsrang.8 Ein üppiges Bett aus der Vorkriegszeit wird in Jurij Oleńas Roman „ZavistřŖ (Neid) von 1927 zum zentralen Sinnbild für die vergangene Ära und ihren Hang zu dekadenter Abschlaffung. Im gleichen Jahr kommt der unter dem Titel „Bed and SofaŖ auch international erfolgreiche Film „Tretřja MeńĉanskajaŖ (Die dritte Kleinbürger Straße), zu dem Viktor Ńklovskij das Drehbuch lieferte, in sowjetische Kinos; hier erweist sich besonders das Sofa Ŕ Oblomovs Lieblingsmöbel Ŕ als Ruhestätte derer, die nichts mehr zu melden haben. Eine der letzten und bedeutendsten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Topos der Trägheit aus sowjetischen Zeiten ist schließlich Tolstajas Erzählung „Somnambula v tumaneŖ von 1988.9 Tatřjana Tolstaja, geboren im Jahr 1951, war eine ausgesprochen späte Debütantin. Wenn Ilřja Muromec dreißig Jahre brauchte, um in sich die Kraft zu verspüren, so ließ sie sich volle zweiunddreißig Jahre Zeit, bevor sie die Berufung zum Schreiben vernahm. Ihre erste Erzählung, „Na zolotom krylřce sideliŖ (Auf goldenen Stufen saßen sie), erschien 1983. Ein titelgleicher erster Sammelband mit ihrer Kurzprosa brachte dann gleich zu Beginn der Perestrojka den Durchbruch, nicht nur in der russischen Literaturszene, sondern auch auf dem internationalen Buchmarkt.10 „Somnambula v tumaneŖ avancierte zur Titelerzählung der zweiten ins Englische übersetzten Prosasammlung Tolstajas: „Sleepwalker in a FogŖ.11 Bemerkenswert an dieser neuen Stimme der russischen Literatur erschien den Kritikern die Virtuosität, mit der Tolstaja auf einer breiten Anspielungsklaviatur (vom Märchen über Gogolřund Dostoevskij bis hin zu Nabokov) zu spielen verstand12, sowie ihre stilistische Wandlungsfähigkeit: „Gedämpfte Töne, voll der leisen Ironie eines Ĉechov wechseln mit dem tiefen, symbolgesättigten Klang Sologubřscher Novellen, Slang steht neben betörend lyrischen Passagen.Ŗ13 Solche sprachliche Verwandlungskunst entspringt nicht zuletzt dem raffinierten Einsatz wechselnder Perspektiven14, die immer wieder im bösen Blick der Satire gebündelt werden.15 Dies hat Tolstaja sogar den Ruf einer gewissen Grausamkeit oder Ŕ von psychoanalytischer Seite Ŕ des Sadismus eingetragen, bis hin zu der bösartigen Bemerkung: „Gut schreibt Tolstaja nur über Pechvögel.Ŗ16

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Die satirische Schicht des Textes Auf der satirischen Ebene bereitet „Somnambula v tumaneŖ der Deutung wenig Schwierigkeiten. Denisov, ein spätsowjetischer Nichtstuer aus Orechovo-Borisovo im Süden von Moskau, durchlebt eine midlife crisis. Auf dem Sofa, dem einzigen Möbelstück in seiner Wohnung, hängt er Weltumgestaltungsplänen nach Ŕ buchstäblich. „Sein besonderer ZweifelŖ gilt der „Existenz AustraliensŖ (397)17, einem überflüssigen Kontinent, den dieser Überflüssige Mensch so gern von der Landkarte tilgen würde. Denisovs Sinnkrise wurzelt in der Sorge, seinerseits aus der Welt zu verschwinden, ohne eine Spur hinterlassen zu haben Ŕ wie seine Tante Rita, die bei der Blockade von Leningrad umkam und deren letztes Andenken, ein Parfümflakon, er als Jugendlicher gegen ein Taschenmesser verhökert hatte. Geplagt von seinen Gewissensbissen gegenüber Rita, die ihn nachts im Traum heimsucht, spielt er in den Tagträumen Projekte zur eigenen Verewigung durch. Neben herostratischen Phantasien hätschelt er den „Gedanken, wie schön es wäre, das Haupt einer nicht allzu großen, jedoch reinen Bewegung zu sein. Sagen wir Ŕ für EhrlichkeitŖ (412). Aber sein Versuch, die schlangestehende Kundschaft beim Fleischer gegen jenen alltäglichen Betrug zu mobilisieren, schlägt fehl. Denisov wird zum Konterrevolutionär gestempelt, wohingegen ein Fernsehschauspieler, die Tasche voll Delikatessen, in der Gunst des Publikums badet. Einen Weg aus der Krise weist Denisov seine Verlobte. Lora, Tochter eines pensionierten Zoologen, der an einem tierkundlichen Werk für Kinder schreibt, trägt nicht umsonst einen Namen, den man gern Papageien gibt. Alles, was in der sowjetischen Subkultur gerade en vogue ist, plappert sie nach. Sie schwärmt von wunderkräftigen Heilern, die sich vor allem bewundernswert kräftig bereichern (409), von Kellertheatern, wo es von der Decke tropft, „doch kaum ist man drin, kommt einem schon gleich die KatharsisŖ (417), von einem Dorfschriftsteller, der sich nicht wäscht, „weil er die wesentliche Wahrheit kenntŖ (417). Bei ihrem 15. Abitursjubiläum erfährt Lora von dem Ableben ihres Klassenkameraden Sańa Makov, der beim Bergsteigen einen frühen Tod fand. Sofort projiziert Denisov sein eigenes narzisstisches Geltungsbedürfnis auf diesen „HeldenŖ (418). Für den Rest der Erzählung gilt sein Streben der Verewigung dieses Stellvertreters, dessen sinnloses Ende er zum Heroentod ummünzen möchte. Ein „MuseumŖ für Makov (420), „jährliche Makov-LesungenŖ (424) und ein „Makov-FondsŖ (424): „Träumen wir ein bisschen: Pik Makov Ŕ warum nicht?Ŗ (424).18 Ein Besuch bei den Hinterbliebenen Sańa Makovs wirkt zunächst ernüchternd. Viel eher als ein Denkmal begehrt die Familie einen Schrank für die Aussteuer der Tochter, Modell „SilviaŖ (425). Doch Denisov gibt nicht auf. Unverzüglich wendet sich sein Ehrgeiz der Beschaffung von „SilviaŖ zu Ŕ „‚SilviaŘ, ausgerechnet! Ja, nicht einmal ein General bekommt den!Ŗ (426). Die absurde Suche nach diesem Schrank mit dem waldhaften Namen gestaltet Tolstaja ironisch nach dem Muster des Märchenhelden, den schier unüberwindliche Hürden vom Verheißungsziel trennen Ŕ in diesem Fall die Hürden von Planwirtschaft und Korruption. Anders als im Märchen scheitert Denisov indes. Sein Treffen mit dem

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alles entscheidenden Genossen Bachtijarov, der gerne im Restaurant „Lesnaja skazkaŖ (Waldmärchen, 427) tafelt, gipfelt in einer Höllenszene, an deren Ende Denisov „eingeschlossenŖ im „MärchenŖ zurückbleibt (434). Während er sich so in der realisierten Metapher eines Märchenwaldes verliert, geht sein Schwiegervater in spe im wirklichen Wald verloren. Loras Vater ist ebenjener Schlafwandler, den die Überschrift der Erzählung ankündigt. Von der Tochter zum Gesundbeten aufs Land gebracht, hat er sich prompt auf somnambule Wanderschaft begeben Ŕ mit der Gefahr, dass „er nun irgendwo im Wald aufwacht, verirrt [...], erfriert, stirbtŖ (435). Die Erzählung schließt mit einer fast lyrischen Schilderung seines Lunatismus: „Die Nacht weht ihm ins schlafende Gesicht, das weiße Haar zerflattert im Wind, der Wald tritt zurück, Ahorn blüht, Licht lodert auf. Er wird doch nicht etwa das Licht nicht erreichen?Ŗ (435). Schon dieser kurze Blick auf den Plot zeigt, dass Satire in der Hand von Tolstaja zum zweischneidigen Schwert wird. Beides verspottet sie: den öffentlichen Heldenkult ebenso wie das Ringen des Massenmenschen um Individuation; die esoterischen Moden der Subkultur wie den platten Materialismus, den die Herrschaft des dialektischen Materialismus emporgebracht hat; die großen und kleinen Profiteure des Regimes wie die tagträumenden Sowjetbürger, die sich aus ihrer unbefriedigenden Realität in Phantasiewelten zurückziehen. Solcher Eskapismus aber hat in der russischen Kultur eine Tradition, die weit vor die sowjetische Zeit zurückreicht. Damit gewinnt Tolstajas Text eine Tiefe, über der seine satirische Schicht sich bloß wie eine dünne Oberfläche ausnimmt. Die Realitätsebenen des Textes und die Symbolik des Titels Bertha Diener-Eckstein Ŕ um zum letzten Mal auf diesen russophoben Auswurf zurückzukommen Ŕ trifft eine Unterscheidung zwischen „TraumträgheitŖ und „TatträgheitŖ. Diese sieht sie in Eichendorffs Taugenichts am Werk19, jene meint sie in Oblomov zu finden. Oblomov Ŕ erinnern wir uns Ŕ kennt angeblich „kein ‚AußenŘ und ‚InnenŘ mehrŖ. Man darf sehr bezweifeln, ob das Gonĉarovs Helden gerecht wird. Auf Tolstajas Denisov trifft es weit eher zu. Denn in Denisovs Bewusstsein ist die Trennlinie zwischen Innen- und Außenwelt in der Tat höchst durchlässig; und die Erzählerstimme trägt durch gezielten Einsatz der erlebten Rede zu diesem Eindruck noch bei. So geht etwa ein Telefonat, in dem der verzweifelte Denisov seine fröhlich plappernde Lora vergeblich um Hilfe bittet, gleitend in den Bericht über die Extraktion des „fehlerhaften ErdteilsŖ Australien (411) aus der Weltkarte über: „Denisov hatte Australien abgeschafft, es unter Geknirsch herausgerissen wie einen BackenzahnŖ (411). Wenig später, nachdem seine Kampagne für Ehrlichkeit in der Fleischerei kläglich gescheitert ist, muss der Kontinent, den es ja eigentlich gar nicht mehr gibt, ein weiteres Mal für Denisovs Frustration büßen: „Da und da! Er zerrte an der Karte und riss den fünften Erdteil mitsamt Neuseeland aus. Die Philippinen bekamen RisseŖ (414). Erst nachdem Denisov den Entschluss fasst, sich auf dem Umweg über ein Denkmal für Sańa Makov eine Ni-

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sche im Menschheitsgedächtnis zu sichern, also erst nachdem er eine konstruktive idée fixe entwickelt, kann er von seiner Vernichtungsphantasie lassen. Die Auslöschung Australiens wird jetzt zum bedauerlichen Faktum: „Bekümmert über das Verschwinden ihres Kontinents blickten die Australier verstört um sichŖ (422), ein „Sechstel der Erde, ausgerissen mitsamt dem Fleisch. Nein!Ŗ (425).20 Wie fließend die Grenze von Innen und Außen bei Denisov ist, erweist vor allem sein Umgang mit dem Familientrauma: dem Tod der Tante Rita im belagerten Leningrad. Sein unbedachter jugendlicher Anschlag auf ihr Gedenken Ŕ die Veräußerung des letzten von ihr verbliebenen Gegenstands Ŕ verfolgt ihn bis in den Schlaf. Ihm träumt, er werde nach einem Einkauf beim Bäcker (zwei Brote, zehn Mohnkringel) von drei Blokadniki angebettelt, darunter eine Frau, die ihn an Rita erinnert. Äußerst widerstrebend „nimmt er einen der Kringel, den mit dem wenigsten Mohn, bricht ihn in mehrere Teile und gibt sie ihnen, aber ein Stück von dem Kringel nimmt er trotzdem für sich, er behält es zurückŖ (403). Kaum erwacht, macht er sich Vorwürfe wegen seiner Knauserigkeit. Der Versuch, sein Gewissen mit einer gogolesken Gedankenfigur zu beruhigen, verfängt nicht: „Nun? Und wenn er selbst Familie gehabt hätte, Kinder? Zehn Kinder vielleicht? Vielleicht brachte er das Brot seinen Kindern, woher wollten sie das wissen? Es kam nicht darauf an, dass er keine Kinder hatte, letzten Endes war das seine SacheŖ (404 f.).21 Der Traum ist im Text klar als Traum markiert. Gleichwohl entwickelt er für Denisov unheimliche Realität, er wird zum Motor seines Handelns. Immer deutlicher schält sich heraus: Denisovs Angst, nach dem Tod vergessen zu werden, ist in Wahrheit Ausdruck seiner Schuldgefühle gegenüber der von ihm der Vergessenheit anheimgegebenen Rita. Die posthume Würdigung Makovs erfüllt eine doppelte Stellvertreterfunktion; nicht allein an Denisovs statt soll ihm ein Denkmal gesetzt werden, sondern auch im Namen Ritas. Denisovs Weg ist ein kurioser Sühnegang: „Ich bin bereit zu leiden. Ich werde leiden Ŕ und Makov wird mich freigeben. [...] Und Tante RitaŖ (426).22 So veranlasst den Protagonisten letztlich eine Traumvision zu seiner Reise nach dem Unerreichbaren Ŕ wie einstens Heinrich von Ofterdingen. Ein hoch romantisches Muster; nur gilt jetzt die Âventiure Fahrt nicht mehr der Blauen Blume. Sie gilt einem Schrank. Die Vermischung der Sphären von Wachzustand und Traum, spätestens seit Antonij Pogorelskijs „Magischer Erzählung für KinderŖ von 1829, „Ĉernaja kurica ili Podzemnye ņiteliŖ (Das schwarze Huhn oder Die Bewohner der Unterwelt), ein beliebtes Verfahren russischer Schriftsteller, wird für Tolstaja auch auf symbolischer Ebene zum Gegenstand ironischen Spiels. Diese Nuance ihres Textes entzieht sich jeder Übersetzung ins Deutsche. Bei dem Gebäck, von dem Denisov im Traum den Blockadeopfern so unwillig abgibt, handelt es sich nämlich um Mohnkringel, auf Russisch „makovye bublikiŖ. Denisov opfert denn auch nur etwas von dem Kringel „mit dem wenigsten MohnŖ (gde maka pomenřńe, 403). Das Symbol für Schlaf und Vergessen taucht aber nicht nur in dem Traum auf, mit dem sich die tote Rita aus der Lethe zurückmeldet; es ist dem Objekt von Denisovs Begierde nach stellvertretender Wiedergutmachung direkt in den Na-

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men eingeschrieben: Makov. In gewissem Sinn hat Denisovs Suche also in der Tat eine Blume zum Ziel: den Mohn, „makŖ. Der „Pik MakovŖ, den er so gern in die Landkarten eintragen würde, ist ein veritabler russischer Zauberberg, der das Opiat bereits im Namen trägt.23 Wo Wachen und Träumen so nah beieinander liegen, wird jede vermeintlich verbürgte Realität zweifelhaft. Gleich zu Beginn der Erzählung erfahren wir von einem Überseekapitän, der über Denisov wohnt und bei der Rückkehr von seinen Reisen jedesmal das Badezimmer unter Wasser setzt. Doch stets zahlt er großzügig für die Renovierung, dieser „prächtige KapitänŖ (398), „weiß, golden und schön wie ein Traum, flüchtig wie Rauch, unwirklich wie die tiefblauen südlichen MeereŖ (397). Eine solche Charakterisierung sollte dem Leser eigentlich Warnung genug sein; und doch ist man bei der Erstlektüre des Textes überrascht zu erfahren, dass der Kapitän später von Sanitätern abgeführt wird, die in seiner Wohnung „Hunderte von PapierschiffchenŖ finden (425). Ob die Figuren dem Wahnsinn verfallen sind (wie der Kapitän), ob sie sich an den Tagtraum verlieren oder in einem real gewordenen Märchen verirren (wie Denisov), ob die Gesichte des Schlafs ihnen gar das Handeln diktieren (wie es dem Zoologen geschieht, aber auch Denisov durch seine verstorbene Tante): Der ontologische Status des Geschilderten ist immer prekär, die Demarkationslinien zwischen Innen- und Außenwelt der Gestalten verschwimmen in einer Art Nebel. Mitunter verfließen selbst die Konturen der Personen. Sogar die Gewissheit, dass der Schlafwandler im Nebel Loras Vater ist, wird von Tatřjana Tolstaja mit einer erlebten Rede Denisovs über seine Verlobte zerstreut: „Ein dummes Weibsstück, streunt auf gut Glück herum, die Arme vorgestreckt, Vorsprünge und Spalten absuchend, im Nebel stolpernd, im Schlaf fährt sie zusammen und krümmt sich, strebt zu den Irrlichtern hin...Ŗ (411). Leitmotivisch durchzieht die Symbolik des Titels so die gesamte Erzählung. Die intertextuellen Schichten des Textes: Dante Wie alle Erzählungen Tatřjana Tolstajas ist auch „Somnambula v tumaneŖ mit literarischen Anspielungen gesättigt. Die Liste der Zitat- und Ideengeber ist lang. Zentrale, für die Gesamtanlage des Textes tragende Inspirationen stammen von Dante Alighieri, von Nikolaj Gogolř, Ivan Gonĉarov, Fedor Dostoevskij und Ivan Turgenev. Auf sie soll hier vor allem eingegangen werden. Am Rande lässt Tolstaja außerdem Michail Lermontov24 und Innokentij Annenskij25 zu Wort kommen, auch Lev Tolstoj,26 beiläufige Zitate vom Prediger Salomo27 bis zu Maksim Gorřkij28 nicht mitgezählt. Tolstajas Text über die Sinnkrise, die ihren Protagonisten auf halbem Wege seiner Lebensbahn überfällt, setzt mit einem Zitat des wirkungsmächtigsten Textes der Weltliteratur ein, der je einer midlife crisis entsprang, Dantes „Göttlicher KomödieŖ: „Als Denisov zur Mitte seines Erdenlebens gelangt war, dachte er nachŖ (397). Im Original entspricht das Zitat zunächst exakt dem Wortlaut der russischen Übersetzung des ersten Verses von Dantes „InfernoŖ: „Zemnuju ņiznř

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projdja do poloviny...Ŗ (Auf halbem Weg des Menschenlebens fand...).29 Die Fortsetzung: „...ich mich in einen finstern Wald verschlagenŖ (...Ja oĉutilsja v sumraĉnom lesu) wird jedoch von Tolstaja gezielt verfälscht: „...dachte er nachŖ (Denisov zadumalsja). Ihr Protagonist befindet sich, wie wir rasch erfahren, nicht im dunklen Wald, sondern zu Hause auf dem Sofa. Während Dante ausführlich erklärt, weshalb sein Ich sich in der Welt heillos verloren fühlt („Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt. // Wie schwer istřs doch, von diesem Wald zu sagen, / Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Not; / Schon der Gedankř erneuert noch mein Zagen. // [...] // Nicht weiß ich, wie ich mich hineingewunden, / So ganz war ich von tiefem Schlaf berückt, / Zur Zeit, da mir der wahre Weg verschwundenŖ, V. 3Ŕ6, 10Ŕ12), mustert Denisov vom Ruhepol seines Diwans aus die Welt und erwägt ihre Umgestaltung. Das Verhältnis von Subjekt und Welt scheint auf dem Weg vom Mittelalter zur Gegenwart eine Art kopernikanischer Wende durchlaufen zu haben. Ist das Dante-Zitat also womöglich nur eine Arabeske, einer jener gelehrten Schnörkel, wie sie typisch sind für die Literatur der Postmoderne? Keineswegs. Der Dantesche Subtext bricht mit dem ersten Satz nicht ab; was von ihm in die weitere Erzählung einfließt, verlagert sich lediglich von der sichtbaren Oberfläche in die tieferen Schichten des Textes. Denn auch Denisov ist „voller Angst und NotŖ Ŕ gleich der erste Absatz berichtet „über die nächtlichen ÄngsteŖ, die ihn peinigen Ŕ, und auch ihm ist „der wahre Weg verschwundenŖ. Vor allem jedoch das in der „Göttlichen KomödieŖ so zentrale Motiv des Waldes wird für sein gesamtes weiteres Schicksal bestimmend. Wie leicht es einem widerfahren kann, dass man „irgendwo im Wald aufwacht, verirrtŖ (435), wird zwar erst am Ende der Erzählung, und nur mit Blick auf den Schwiegervater, ausdrücklich reflektiert. Doch schon zuvor überlegt Denisov, ob seine bei der Blockade umgekommene Tante Rita sich mit anderen Verstorbenen in „WäldernŖ herumtreibt Ŕ hier wird der Wald, wie bei Dante, unmittelbar zur Domäne der Toten (415).30 Wie unwiderstehlich es schließlich Denisov selbst in den Wald zieht, wurde bereits geschildert: Seine Jagd nach dem Modell „SilviaŖ führt ihn in das besagte „WaldmärchenŖ, wo ihm der Genosse Bachtijarov als zeitgenössischer Höllenfürst samt Gefolge begegnet. Damit nicht genug: Die Gesamtkonstruktion der Erzählung ist an die „Göttliche KomödieŖ angelehnt. Auch Denisov lässt sich ja von zwei Führern aus seiner midlife crisis geleiten, einem Mann und einer Frau: von Loras Vater, der ihn, wie Dantes Vergil, zunächst einmal über die wilden Tiere des Waldes aufklärt31, und von seiner Angebeteten. Der Hauptaufgabe einer Beatrice, nämlich dem Protagonisten bei seinem Aufstieg zum Licht zu helfen, ist Lora allerdings nicht gewachsen. Doch Tolstaja spielt sarkastisch auf ebendiese Erwartung an: „Er würde demnächst ihr vierter Mann werden, nicht weil, wie man so sagt, Licht von ihr ausging, sondern weil man bei ihr kein Licht brauchte. Bei Licht redete sie pausenlos und was ihr in den Sinn kamŖ (398).32 Ziel des Schlafwandlers im Nebel, in dessen lyrischer Schilderung die Erzählung gipfelt, ist das Licht. Und wie im letzten Gesang des „ParadisoŖ, wo die Gottesschau in gleißender Helle auf-

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geht Ŕ fünfmal fällt dort das Wort „luceŖ Ŕ, steigert auch Tolstaja im Finale die Beleuchtungsintensität bis zur Monotonie: Nicht weniger als viermal taucht der Wortstamm „svetŖ (Licht) in den fünf Schlusszeilen auf. In seiner Grundbewegung bildet der Text so die „Göttliche KomödieŖ nach. In beiden Fällen geht es um einen Aufstiegsversuch aus dem „NebelŖ Ŕ bei Tolstaja wie bei Dante das Leitmotiv der Verirrung Ŕ zu einem „BergŖ, um den Versuch, aus der Nacht ins Licht zu gelangen. Denisov malt sich bereits aus, wie der „rosafarbene GipfelŖ des Pik Makov im Mondlicht schimmert, er ahnt schon das „fruchtige MorgenlichtŖ (419)... doch er erstürmt nicht den Himmel. Er stürzt ab, wie vor ihm sein Idol Sańa Makov; auf dem Höhepunkt der Peinigung durch den Teufel Bachtijarov imaginiert Denisov noch den Abgang einer Lawine vom Gipfel des Pik Makov (431). Am Schluss seiner Pilgerfahrt landet er so exakt an der Stelle, von wo Dantes Pilger aufgebrochen ist: im Wald, in der Hölle, in der „WüsteŖ (dort nämlich wähnt er sich auf Bachtijarovs Satansball im „WaldmärchenŖ).33 Grund für das Scheitern ist, so dürfen wir vermuten, seine moralische Trägheit. Bezeichnenderweise definiert Dante die Sünde der acedia im 17. Gesang des „PurgatorioŖ als „lento amoreŖ, als defizitäre Form der Liebe (V. 130). Wer sich ihrer schuldig gemacht hat, büßt dafür auf dem Läuterungsberg mit hektischer Aktivität.34 Dantes Pilger kann sich davon im 18. Gesang mit eigenen Augen überzeugen, als ihn der rasende Wirbeltanz der Büßer aus einem Moment eigener „sonnolenzaŖ (Schläfrigkeit) hochschrecken lässt (V. 88). Denisov, der gedankenlos das letzte Andenken an seine Tante ausgelöscht hat, entfacht einen wahren Wirbel an Tätigkeit, um diese Sünde durch eine große Geste liebenden Erinnerns wiedergutzumachen. Ins „ParadisoŖ gelangt er damit nicht Ŕ nur zu der Erkenntnis: „Einfach idiotisch, sich mit Erinnerungen an nichts zu quälen, einen Toten um Verzeihung für etwas zu bitten, woran man nach menschlichem Ermessen unschuldig ist, mit hohlen Händen nach Nebel zu greifen! Es gibt keine fünfte Dimension, und niemand wird deine Sünden und Siege abwägen, und am Ende des Wegs gibt es weder Strafe noch Belohnung, ja nicht einmal einen Weg...Ŗ (433). Dantes Modell der Welterklärung hat ausgedient. Die intertextuellen Schichten des Textes: Russische Subtexte Denisovs berühmtester Ahne in der Reihe russischer Diwan-Träumer ist natürlich Oblomov.35 Während aber Gonĉarovs Protagonist immerhin noch über eine vollständig eingerichtete Wohnung verfügte, lebt Denisov die Oblomovńĉina in existentiell radikalisierter Form: In seinem Quartier befindet sich buchstäblich gar nichts mehr außer dem Sofa. Im übrigen ist er allerdings derart gegensätzlich zu dem passiven Oblomov angelegt, dass man sich fragt, weshalb ihm als Wahrzeichen ausgerechnet der Diwan zugeordnet wurde. Denisov ist ja geradezu unheimlich aktiv. Um sich ins Gedächtnis der Nachwelt einzuschreiben, probiert er es erst „mit dem ErfindenŖ, dann „mit dem DichtenŖ, beginnt mit viel Schwung ein „Werk über die Unmöglichkeit AustraliensŖ (400), versucht eine Bewegung „für EhrlichkeitŖ (412) ins Leben zu rufen, findet endlich seine Bestim-

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mung in der Verewigung Makovs und klopft auf der Suche nach dem Schrank „SilviaŖ an „die verschiedensten TürenŖ (426). Schon ein einziges dieser Projekte würde genügen, um einen Oblomov in depressiven Stupor zu versetzen. Denisovs Handlungsmuster sind in ihrer Struktur eher bipolar: enthusiastische Aufschwünge, aus denen im letzten nichts folgt außer nächtlichen Verzweiflungsanfällen und Angstattacken. Mit seinem Hang zu elaborierten, sich immer höher aufgipfelnden Tagträumen, die dann im Nichts verpuffen, ähnelt er Gogolřs Manilov. An Manilov erinnern auch die narzisstischen Phantasien von der eigenen Sozialkompetenz, denen eine eigentümliche Kälte gegenüber dem konkreten Nächsten entgegensteht. So wie Manilov die hohe Sterblichkeit seiner Leibeigenen über empfindsamen Träumen von idealer Freundschaft verdrängt, so macht sich Denisov zum passionierten Anwalt eines Toten, den er gar nicht kannte, nur um sein Versagen gegenüber der eigenen verstorbenen Tante nicht wahrhaben zu müssen. Hier wie dort: „Tote SeelenŖ als Prüfstein des lebenden Helden! Die spezifische Trägheit, an der Denisov wie Manilov kranken, ist moralische Trägheit. Solche Trägheit des Herzens wurde schon bei Thomas von Aquin der caritas entgegengesetzt36; als unterlassene Hilfeleistung gelangt sie in Denisovs BlockadeTraum zur Anschauung. Deutlich Gogolřsche Züge trägt auch die Angst Denisovs, er könnte sein Leben verbringen, ohne eine Spur in der Welt zu hinterlassen. Schon den jungen Gogolř graute vor den bloßen „ExistierernŖ, die seine Umgebung bevölkerten37; und die Hauptsorge, die den Helden von „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen) umtreibt, ist die Befürchtung, er könne „wie ein Bläschen auf dem Wasser untergehen, ohne jegliche SpurŖ.38 Als Gegenmaßnahme aber entfaltet er einen Reigen an Aktivität, der um ein Nichts kreist, das Vakuum der toten Seelen. Ĉiĉikovs schwunghafter Handel mit Abgeschiedenen stellt, so besehen, eine genaue Entsprechung zu der betriebsam-leeren Sinnsuche Denisovs dar. Denisovs letzte Anstrengung zur Abwehr des horror vacui besteht in dem verzweifelten Versuch, einen umbauten Hohlraum zu erwerben: den Schrank „SilviaŖ. Ein anderes Modell des Aufbegehrens gegen die eigene Bedeutungslosigkeit gibt Dostoevskij vor.39 Wem die Welt ihre Anerkennung aufgrund positiver Verdienste nicht freiwillig gibt, der kann sie immer noch erzwingen, indem er negativ auffällt. Diese herostratische Variante des Ruhms besitzt auch für Denisov einige Attraktivität. So erbaut er sich an der Vision, wie eine Konzertaufzeichnung durch das Husten eines einzigen Hörers im Publikum für alle Zeit verschandelt werden kann: „Der Husten dieses raffinierten Burschen [...] geht nicht verloren, ist für immer in die diamantenen Gesetzestafeln der unsterblichen Musik eingegraben Ŕ denn die Musik ist doch unsterblich, oder? Ŕ ein findiger Typ hat sich als in die Ewigkeit eingeschlagener rostiger Nagel behauptet [...], hat Schwefelsäure gegen die göttlichen Züge gespritztŖ (400). Auch Dostoevskijs Untergrundmensch erträgt es nicht, von der Welt einfach unbemerkt zu bleiben; und wenn ihm schon nicht der Status eines Helden vergönnt ist, so will er zumindest im Negativen hervorragen: „Entweder Held oder Schmutz, eine Mitte gabřs nicht.Ŗ40 Die Vorstellung eines zu vollkommenster Harmonie gerundeten

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Weltgebäudes ist ihm ein Greuel, ohne zu zögern würde er ihr „Zerstörung und ChaosŖ vorziehen.41 Zwar hat er für seinen Hass gegen die vollendete Ordnung andere, philosophisch tiefer schürfende Gründe als Denisov (dem Untergrundmenschen geht es um die Bestätigung der menschlichen Willensfreiheit, die sich auch in einem destruktiven acte gratuit bekunden kann); doch gemeinsam ist beiden das aus dem Ressentiment des Missachteten geborene Heischen nach irgendeiner Bestätigung der eigenen Ichs durch die Welt, und sei sie noch so bizarr. Dem Untergrundmenschen käme selbst eine ausdrückliche Anerkennung als Faulpelz bereits wie ein Adelsbrief vor: „Oh, wenn ich doch aus Faulheit nichts tun würde. Herrgott, wie würde ich mich dann achten. [...] Dann hätte ich wenigstens eine Eigenschaft, eine gleichsam wirklich positive Eigenschaft [...]. Man fragt: was ist das für einer? Antwort: ein Faulpelz. [...] ‚Ein Faulpelz!Ř Ŕ aber das ist doch ein Beruf, eine Bestimmung, das ist ja eine Karriere.Ŗ42 Trägheit als Weg zum Ruhm: Der Name Oblomovs fällt hier nicht; aber dass Gonĉarovs Roman, der nur fünf Jahre vor „Zapiski iz podpolřjaŖ (Aufzeichnungen aus dem Untergrund) erschien und in aller Munde war, Dostoevskij vor Augen gestanden hat, ist anzunehmen. Seine „bewusste InertiaŖ43 gibt der Untergrundmensch schließlich auf, um eine sechzehn Jahre zurückliegende Episode seines Lebens zu Papier zu bringen, die den psychologischen Schlüssel zu seinem gegenwärtigen Zustand liefert Ŕ und zugleich einen Schlüssel zu Tolstajas Erzählung.44 Der entscheidende Impuls, der Denisov dazu bewegt, alles Träumen über „Wege zur UnsterblichkeitŖ (407) aufzugeben und seine gesamte Energie auf die Verewigung Makovs zu bündeln, geht (wie schon erwähnt) von einem Klassentreffen aus. Lora berichtet ihm, wie bei ihrem Abitursjubiläum45 der gesellschaftliche Aufsteiger Sysoev mit kollektiver Missachtung gestraft wurde, während man seinen ehemaligen Schulfreund, den glücklosen alpinen Aufsteiger Makov, zum Helden erhob. „Hör auf zu rotieren, Denisov, dies hier ist deine LebensaufgabeŖ (421), flüstert Denisov da eine innere Stimme zu. „Jetzt istřs nicht mehr ums Denken zu tun: Jetzt beginnt die WirklichkeitŖ46, sagt sich Dostoevskijs Untergrundmensch, als er seinerseits sich zu einem Diner mit ehemaligen Klassenkameraden rüstet. Das Diner soll seinen monatelangen Tagträumen, seiner fruchtlosen Selbstüberhöhung in der bloßen Phantasie ein Ende setzen. Und auch der Untergrundmensch ist vom gleichen Ressentiment beseelt, das sich auf Loras Schultreffen Bahn bricht: dem Hass auf die Erfolgreichen. Sein Versuch, es denen, die ihn auf der Karriereleiter überflügelt haben, beim Diner endlich einmal zu zeigen, endet aber in einer grässlichen Demütigung für ihn selbst, einer Demütigung, deren er nur noch Herr werden kann, indem er sich an einem Ersatzobjekt abreagiert: der Prostituierten Liza. Unbefriedigtes Geltungsbedürfnis, Hass auf die Erfolgreichen und die Welt, ein in tagträumerischer Faulheit vergeudetes Leben, dann ein Klassentreffen als Weckruf zur Wirklichkeit: Versuch zur Wiederherstellung der eigenen Würde, Scheitern und Ablenkung auf ein Ersatzobjekt Ŕ die enge genetische Verwandtschaft Denisovs zum Untergrundmenschen liegt auf der Hand.47

„Somnambula v tumaneŖ (Schlafwandler im Nebel)

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Dass es sich bei dem Porträt Denisovs nicht nur um die Darstellung einer Individualpathologie handelt, sondern um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit einer russischen Malaise, macht Tolstaja durch eine subtile Anspielung auf Turgenevs Roman „NovřŖ (Neuland) klar. Unmittelbar bevor Denisov wegdöst, um im Schlaf von der Blockade zu träumen, macht er sich auf dem Sofa noch einmal in der Pose des lässigen Weltherrschers breit: Er „flackt sich auf das Sofa, unter die Karte mit den Hemisphären, die Socken bei Feuerland, den Kopf unter den Philippinen, stellt sich den Aschenbecher auf die Brust, verqualmt die kalten Berge der Antarktis...Ŗ (402). Als lebendes Bild stellt er damit aber, natürlich ohne dies selbst im geringsten zu ahnen, die trostlose Russlandkarte nach, die Turgenev im 30. Kapitel von „NovřŖ unter dem Titel „SchlafŖ entwirft: Всѐ, всѐ по-прежнему... И только лишь в одном Европу, Азию, весь свет мы перегнали... Нет! Никогда еще таким ужасным сном Мои любезные соотчичи не спали! Всѐ спит кругом: везде, в деревнях, в городах [...]. Один царев кабак ŕ тот не смыкает глаз: И, штоф с очищенной всей пятерней сжимая, Лбом в полюс упершись, а пятками в Кавказ, Спит непробудным сном отчизна, Русь святая!

Alles ist wie eh und je... In einem bloß Sind wir Europa, sind Asien wir, der Welt voraus: Im Schlafen! Ja, schlafen ist das schrecklich Los Der lieben Landsleute zu Haus. Im weiten Rund nur tiefer Schlaf, im Dorf wie in der Stadt [...] Nur in des Zaren Schenke kennt man keinen Schluß. Die Wodkaflasche in der Hand, Am Nordpol mit der Stirn, den Fuß im Kaukasus Ŕ in Ewigkeit schläft Rußland, das heilřge 48 Vaterland!

Als urrussisch wird der fatale Hang Denisovs zur Horizontalen schließlich durch Anspielungen auf die Folklore markiert. Die Zeilen, die Loras Vater in seinem Kinderbuch über die russische Fauna Ŕ einer hybriden Mischung aus wissenschaftlicher und aus märchenhafter Diktion Ŕ dem „Herrn des WaldesŖ widmet („Und sobald es von Norden anbrist und böses Regenwetter seine Späßchen treibt, setzt bei Meister Petz eine starke Verlangsamung des allgemeinen Metabolismus ein...Ŗ, 407), wecken in Denisov den Wunsch zum Bären zu werden: „Ach, könnte man sich gleich dem Bären in einer Höhle verkriechen, sich in den Schnee einwühlen, die Augen zusammenkneifen, taub werden, in Schlaf versinkenŖ (407). Wenn er schließlich auf der Suche nach der zum Schrank verwandelten Herrin des Waldes, „SilviaŖ, in einem Lokal namens „WaldmärchenŖ eingesperrt wird, geht dieser Wunsch auf perfide Weise in Erfüllung. So sind es die eigenen tiefsitzenden Verhaltensmuster, denen er schließlich zum Opfer fällt, der russische Bär.

Ekaterina Vassilieva

Vladimir Sorokin: Mesjac v Dachau (Ein Monat in Dachau) Die Erzählung „Mesjac v DachauŖ ist 1990 als Ergebnis eines Deutschland-Aufenthalts von Vladimir Sorokin im Rahmen eines DAAD-Stipendiums entstanden und wurde erstmals 1992 Ŕ sowohl in der Originalsprache als auch in deutscher Übersetzung Ŕ veröffentlicht. Motivisch nimmt der Text Bezug auf Sorokins Besuch des Dachauer Lagergeländes, wo der Schriftsteller angeblich zwei Stunden als Tourist verweilte.1 Es besteht dennoch kein Zweifel daran, dass wir es hier nicht mit einem in der realistischen Tradition stehenden autobiographischen Essay und genauso wenig mit dem Versuch einer literarischen Geschichtsbewältigung zu tun haben. Der Text, der für den unvorbereiteten Leser wie eine bizarre Anhäufung von Gewaltphantasien wirkt, lässt sich nur im Rahmen der postmodernen Ästhetik entschlüsseln.2 Als ein charakteristisches Merkmal der Postmoderne gilt der Verlust des unmittelbaren Weltzugriffs. Die Realität kann nur über andere Texte und Abbildungen erschlossen werden, die wiederum Ŕ vom jeweiligen Urheber intendiert oder auch nicht Ŕ ältere Überlieferungen zitieren. Das hängt mit der Beschaffenheit der Sprache zusammen. Diese definiert alle Erkenntnisprozesse und entzieht sich doch, so der Ansatz der seit den sechziger Jahren einflussreich gewordenen poststrukturalistischen Philosophie, der vollständigen Kontrolle des Individuums.3 Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist also bereits durch die sprachlichen Strukturen vorgegeben und wird durch die Lektüre der tradierten Schriften weiter geformt. Die Leistung des postmodernen Schriftstellers besteht demnach nicht in einer immer tieferen Einsicht in das Weltgeschehen, die im Akt der autonomen Schöpfung gewonnen und festgehalten wird, sondern vor allem in der Reflexion der dieser Einsicht im Wege stehenden zahlreichen Hindernisse. Dass in der russischen Postmoderne das Straflager zu einem beliebten literarischen Motiv avanciert, ist kein Zufall. Die Autoren können dabei auf eine reiche Tradition von Texten zurückgreifen, die von Augenzeugen geschrieben sind und eine dokumentarische Darstellung der Lagerwirklichkeit anstreben. Während wir in Russland hauptsächlich Narrativen der Gulag-Opfer begegnen, überwiegen im Westen Berichte von Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager. Beiden gemeinsam ist der authentische Gestus sowie die auratische Wirkung, resultierend aus der „unmöglichenŖ Erfahrung, die in ihnen zum Ausdruck kommt oder zumindest zu kommen versucht.4 Im Bewusstsein dieser Aura enthüllt Sorokin, die starke emotionale Wirkung des Stoffs einkalkulierend, seine eigene, imaginäre Lagerwelt. Diese Welt stellt scheinbar eine Pervertierung der wirklichen dar, liefert aber zugleich eine hintergründige Reflexion über die Krise des authentischen Erzählens.

„Mesjac v DachauŖ (Ein Monat in Dachau)

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Eine ironische Distanz zur Realität beziehungsweise zu den sie definierenden Diskursen konnte Sorokin bereits im Kreis der Moskauer Konzeptualisten lernen. Die Konzeptualisten, die sein Schaffen, zunächst als bildenden Künstler und dann als Schriftsteller, seit den siebziger Jahren erheblich beeinflusst haben5, distanzierten sich sowohl von der offiziellen Staatskunst als auch von den durch die realistische Ästhetik dominierten oppositionellen Diskursen. Ganz im Sinne der Postmoderne wurden dabei positive Gegenentwürfe zu der sowjetischen Wirklichkeit ausgespart; denn mit dem „Verlust der geistigen und künstlerischen UnschuldŖ6 und dem Bewusstwerden der eigenen Verstrickung in die diskursiven Machtkämpfe endet auch der aufklärerische Anspruch des Künstlers. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat den konzeptuellen Künstler dementsprechend vor neue Herausforderungen gestellt, da die Fülle der verfügbaren Diskurse und Welterklärungsmodelle, die nun scheinbar gleichberechtigt nebeneinander traten, geradezu inflationär zunahm und nach einer noch differenzierteren ästhetischen Auseinandersetzung verlangte. Struktur und Gliederung Peter Deutschmann schlägt eine dreiteilige Gliederung von „Mesjac v DachauŖ vor.7 Der erste Teil besteht aus Reisetagebuchaufzeichnungen. Sie beginnen am Tag der Abreise des Erzählers nach Deutschland, dem 1. 5. 1990, und enden am Tag seiner Ankunft im Konzentrationslager Dachau, dem 5. 5. 1990 (801Ŕ807). Der zweite Teil berichtet, ebenfalls in der ersten Person, von dem Aufenthalt des Erzählers in Dachau und ist nach Zellen gegliedert, in denen er gefoltert wird Ŕ insgesamt 25 Zellen in der russischen und 26 Zellen in der deutschen Ausgabe (807Ŕ813). Im dritten Teil folgt der Bericht von der Trauung des Erzählers mit seiner Foltermagd Margarita. Er schließt mit einem dramatischen Polylog sowie einem Verzeichnis aus sieben Punkten, in dem die vom Erzähler bevorzugte Reihenfolge einzelner Etappen seiner Körperverstümmelung festgelegt wird (813Ŕ 815). Der Übergang zwischen den Teilen ist jeweils durch ein zäsurenartiges Textfragment markiert, das sich graphisch und darüber hinaus auch durch seine mit dem Ich-Erzähler nicht unbedingt identische Sprechinstanz vom Rest der Erzählung abhebt. Zum einen handelt es sich um ein (fiktives) Zitat von Lenin (806), zum anderen um ein auf die katholische Liturgie anspielendes Gedicht, das zwar in deutscher Lautung, aber mit kyrillischen Schriftzeichen wiedergegeben wird (813). Die Unterscheidung zwischen „fremderŖ und „eigenerŖ Rede ist in „Mesjac v DachauŖ allerdings selbst ein Element der Fiktion; denn der Erzähler bedient sich ausschließlich fremder Diskurse8 Ŕ ein Merkmal, das für fast alle Texte Sorokins seine Gültigkeit besitzt und manchmal, wie in diesem Fall, durch zahlreiche intertextuelle Verweise und wiederholte Berufung auf bekannte Persönlichkeiten zusätzlich verstärkt wird. Daneben finden sich in der Erzählung auch viele andere für Sorokin typische stilistische Eigenschaften wieder, wie die „realisierte MetapherŖ9, die „Verbalisierung von Obszönität und GewaltŖ10, das Zusammenfü-

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gen von unterschiedlichen, oft kontrastierenden literarischen Schreibweisen11 und das Interesse am kollektiven Unbewussten, in dem der Autor das Verdrängte aufzuspüren versucht.12 Charakteristisch für „Mesjac v DachauŖ ist ferner der Gebrauch von deutschen Wörtern oder ganzen Sätzen, wobei es bisweilen zur Verschmelzung von Deutsch und Russisch innerhalb einer sprachlichen Äußerung kommt. Annette Brockhoff spricht in Hinsicht auf diese Erzählung von der allmählichen „Selbstverstümmelung des TextesŖ13 (analog zu der fortschreitenden Verstümmelung des „erzählendenŖ Körpers auf der inhaltlichen Ebene). Solche vermeintliche „Zerstörung der SpracheŖ steht für Dagmar Burkhart allerdings in einem geschichtsästhetischen Zusammenhang und kann als „Radikalisierung der futuristischen Poetologie sowie ihrer Praxis der transrationalen Sprachverwendung (zaum')Ŗ14 begriffen werden. (Un)Authentizität der Selbstentblößung Die Erzählsituation in „Mesjac v DachauŖ verdient insofern besondere Aufmerksamkeit, als der Einsatz des Ich-Erzählers, der zudem behauptet, mit dem Autor identisch zu sein15, für Sorokin insgesamt untypisch ist. Zugleich widerspricht das scheinbar dessen literarischer Vorgehensweise, die nicht zuletzt in der Kombination unterschiedlicher Diskurse besteht. Es ist daher naheliegend, dies Ŕ zumindest unter anderem Ŕ als eine Auseinandersetzung mit dem Authentizitätsanspruch der Lagerliteratur zu betrachten, was auch durch die Tagebuchform im ersten Teil suggeriert wird. Die Personalien des Erzählers lassen sich dank einem gleich zu Beginn zitierten Dokument wie folgt festhalten: „Sorokin, Vladimir Georgieviĉ, geboren am 7. 8. 1955, RusseŖ (801), was genau den Personalien des Autors entspricht. Man kann aber noch weitere biographische Parallelen entdecken: zum Beispiel die Reise von Russland nach Deutschland (darunter auch konkret nach Dachau), die Ŕ wie im Tagebuch vermerkt Ŕ auf das Jahr 1990 fällt, sowie der Beruf des Schriftstellers, den der Verfasser der Erzählung ebenfalls mit seinem Protagonisten teilt. Eine glaubwürdige Gleichsetzung des Erzählers und des Autors erscheint allerdings unmöglich; denn nicht bloß die von letzterem berichteten Umstände der Reise sind phantastisch, auch seine Urteile über Kunst, Literatur und Politik lassen sich kaum mit der Persönlichkeit des realen Sorokin in Einklang bringen. Überdies vermitteln sie kein geschlossenes Weltbild, was wiederum auf die postmoderne Deutung des Subjekts zurückgreift, dem keine feste Identität mehr zugestanden wird. Somit wäre gerade durch diese ideologische und psychologische Unbestimmtheit der authentische Bezug zum (postmodernen) Autor Sorokin hergestellt, der wie sein gleichnamiger Erzähler aus der Fülle der unterschiedlichen Diskurse schöpft. Nach Brockhoff unternimmt Sorokin in „Mesjac v DachauŖ einen „SelbstversuchŖ16, indem er seinen fiktionalen Doppelgänger in die Folterkammer schickt, also einer Erfahrung unterzieht, die er selbst zwar nie erlebt hat, aber in einem textuellen Verfahren nachvollzieht und sich somit aneignet. Das „RealeŖ am Text

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ist schließlich die Radikalität, mit der Sorokin seinen Namen und seine Identität für die Beschreibung der erniedrigendsten und grauenvollsten Folterpraktiken und ihrer Auswirkungen auf das Individuum preisgibt. Die fiktionale Gewalt hinterlässt ihre greifbaren Spuren in der Sprache, die dem Autor im Laufe der Erzählung soweit entgleitet, dass ein zusammenhängendes Narrativ unmöglich wird.17 Die Ironie dieses Verfahrens besteht darin, dass sich jede scheinbar authentische Geste sogleich als Simulation enthüllt: So folgt die vermeintlich „zerfallene SpracheŖ ebenfalls bestimmten ästhetischen Vorbildern, vor allem denen der literarischen Avantgarde, und die „SelbstpreisgabeŖ des Autors verliert angesichts seiner postmodernen Flüchtigkeit18 ihren ultimativ entblößenden Charakter. Lager als Erlösungsphantasie Schon der Titel der Erzählung kündigt jene Verschmelzung unterschiedlicher Diskurse und sogar Sprachen19 an, mit der wir später im Text ausführlicher konfrontiert werden. Während die einleitende Wortkombination „Mesjac vŖ auf die russische Klassik verweist, und zwar auf Turgenevs Komödie „Mesjac v derevneŖ (Ein Monat auf dem Lande, 1850), gehört „DachauŖ in den historischen Kontext der NS-Verbrechen, die als nur schwer Ŕ wenn überhaupt Ŕ mit literarischen Mitteln darstellbar gelten. Dabei haben die beiden Bedeutungsfelder eine Affinität zu dem, was man als Niedergang der Idylle bezeichnen könnte und was wiederum in der russischen Lagerliteratur, in der das Dystopische am Lager hervorgehoben wird20, eine wesentliche Rolle spielt. Bei Turgenev geht es freilich um den Verfall der adligen Landsitze, deren Besitzer mit der aufkommenden Modernisierung des Lebens nicht mehr mithalten können. Dachau, neben Auschwitz der Inbegriff der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, kann dagegen als der apokalyptische Endpunkt dieser mit großen Ängsten besetzten Modernisierungsentwicklung betrachtet werden, die von Anfang an unter Verdacht steht, durch die Auflösung beziehungsweise Deformation der traditionellen Lebensweise auch völlig inhumane Ordnungen herbeizuführen. Das Frappierende und gleichzeitig Skandalöse an der Erzählung „Mesjac v DachauŖ ist die Tatsache, dass der Lageraufenthalt für den Protagonisten selbstgewählt, ja erstrebenswert ist. Mehr noch: Die erniedrigende Verhörsituation und der beschwerliche Weg zum weit entfernten Lagerstandort (beides in der dokumentarischen Lagerliteratur fest verankerte Topoi) werden vom fiktionalen Sorokin freiwillig auf sich genommen, nur um das begehrte Ziel, also das Lager selbst, zu erreichen. Die paradoxe Anziehungskraft des Lagers verlangt nach einer Erklärung. Diese erfolgt jedoch explizit an keiner Stelle und muss deshalb aus den Umständen der „UrlaubsreiseŖ rekonstruiert werden. Einer der Gründe mag darin liegen, dass das Lager in der Literatur traditionell als ein Ort konzipiert wird, der im absoluten Gegensatz zur alltäglichen Realität steht. Ist diese Realität, wie in „Mesjac v DachauŖ, höchst unbefriedigend, ja selbst von latenter Gewalt und Menschenverachtung durchdrungen, kann das Lager zu einer Erlö-

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sungsphantasie werden, die einen Ausweg aus dem Zirkel der in ihrer Monotonie erstarrten Grausamkeiten bieten soll. Die Eindrücke, die der Erzähler bei seiner Abfahrt mit dem Zug von Moskau nach München noch schnell dem Tagebuch anvertraut, offenbaren ein Panorama des kulturellen und sozialen Niedergangs, bei dem sich die Vergangenheit, Gegenwart und auch eventuelle Zukunft (die in der antiutopischen Anhäufung der verstörenden Details als solche erkennbar wird) zu einem imaginären Raum verdichten. Dieser Raum wird zum Inbegriff der geistigen wie politischen Unfreiheit (801 f.). Aufgrund der Erkennbarkeit einzelner diskursiver Elemente kann er trotz seiner offensichtlichen „UnwirklichkeitŖ dem Leser glaubwürdig als vertraut vermittelt werden. Somit erhält der Ausgangspunkt der Reise seinen symbolischen Gehalt: Man möchte aus dem einseitig vorgeprägten und daher als vorhersehbar empfundenen historischen Raum ausbrechen und sich auf eine neue Erfahrung einlassen, die einen Ausstieg aus der (russischen) Geschichte ermöglicht. Die Reise, die den fiktionalen Sorokin endlich über die Grenze der verhassten Heimat führen soll, bietet auf der ganzen Strecke bis nach Dachau jedoch keine wirkliche Abwechselung. Im Zug wird er von der Schaffnerin zu einem erniedrigenden Initiationsritual gezwungen (802), in der Grenzstadt Brest muss er eine brutale Durchsuchung über sich ergehen lassen (802 f.) und darf, schon in Österreich, aus dem Fenster eine modifizierte Landschaft betrachten, die sich zum Gesicht des unbenannten Führers zusammenfügt (804). Der Zug, wie ein rollendes Gefängnis (das bemerkenswerterweise auch während des stundenlangen Zwischenhalts nicht verlassen wird), vereint Russland mit (West)-Europa zu einer von diversen Zwängen durchdrungenen Zone. Als der Erzähler jedoch am Münchener Bahnhof vom Lagerpersonal abgeholt wird und sich im Beiwagen eines Motorrads seinem Zielpunkt nähert (804Ŕ 806), erreicht der Raum zunehmend eine völlig andere Qualität und wird von metaphysisch aufgeladenen Zeichen durchdrungen, für die der Erzähler aufgrund seines Interesses für Astrologie und diverse Orakel besonders empfänglich ist. Der Anblick des Lagers erfüllt ihn schließlich mit einer fast ekstatischen Freude, in der sich ein quasi sakrales Erlebnis andeutet. Das Reale, das für ein religiös geprägtes Bewusstsein mit der Offenbarung der göttlichen Kosmogonie gleichgesetzt ist21, verdichtet sich bildhaft im Schornstein des Lagerkrematoriums. Der Schornstein erhebt sich wie eine „axis mundiŖ22 über dem Gelände. Wenn man sich also die räumliche Struktur der Erzählung als aus mehreren Zonen bestehend vorstellt, die sich wie konzentrische Kreise zueinander verhalten, wobei die Intensität des Raumerlebnisses zum Zentrum hin sprunghaft ansteigt und eine sakrale Dimension gewinnt, so wird dieses Zentrum in Dachau liegen. Das Konzentrationslager fungiert buchstäblich als ein Ort der Konzentration des Realen, an dem das Individuum die Entfremdung gegenüber der profanen Wirklichkeit zu überwinden sucht, gleichzeitig aber auch in die Gefahr gerät, in seiner „normalenŖ, körperlichen Existenz vernichtet zu werden.

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Zwang zur Grenzenlosigkeit Das Problem der Freiheit und ihrer Entbehrung, in der dokumentarischen Lagerliteratur von zentraler Bedeutung, wird auch in „Mesjac v DachauŖ zu einem der wichtigsten Motive, wobei sich der Erzähler gleich von Anfang an mit mehreren Einflüssen konfrontiert sieht, die seine Freiheit erheblich einschränken. Einerseits ist das jener bürokratische Apparat, der auch nicht vor direkter Gewaltanwendung zurückschreckt, andererseits sind das die transzendenten Einflüsse, die er mit Hilfe verschiedener Kalender und Astrologiebücher zu entziffern hofft, wobei er mit dieser Aufgabe offenbar überfordert ist. Das Subjekt findet keine Orientierung mehr in einer Welt, die nicht auf einen einzigen Ursprung festgelegt, das heißt auch nicht verbindlich anhand einer bestimmten Quelle gedeutet werden kann, und deshalb nur intertextuell erfassbar ist. Die intertextuellen Bezüge sind aber so vielfältig und unüberschaubar, dass sie überhaupt keine selbstverantwortliche Handlung mehr gestatten. Diese könnte schlimmstenfalls verheerende Folgen bis in die entferntesten Ecken des Universums hervorrufen. So sieht sich das Subjekt vor die Wahl gestellt: quälende Untätigkeit oder potenziell todbringende Tat. Ein solcher Zustand entspringt nicht einer momentanen historischen Situation, sondern der allgemeinen Beschaffenheit der Welt, deren Grenzenlosigkeit zugleich ihre Beschränktheit bedingt. Der dem Subjekt auferlegte Zwang zur Vielfalt wird aber auch zum ästhetischen Problem, wenn die beunruhigende Eklektik der kulturellen Repräsentationen in den modernen Großstädten zur Sprache kommt. Einen Höhepunkt bilden dabei die nebeneinander aufgestellten Riesenstandbilder von Stalin und Achmatova am Moskauer Bahnhof (801 f.). Sie rufen im Erzähler eine unerfüllte Sehnsucht nach der verlorenen Harmonie hervor, die er kurzfristig nur in der Natur wiederzuerkennen hofft (802). Das kulturelle Gedächtnis scheint dermaßen überfüllt, dass keine lebendigen Prozesse mehr stattfinden und eine Stagnation eintritt, was auch sein eigenes Schaffen als Schriftsteller beeinträchtigt. Den Ausweg daraus sucht er im Konzentrationslager, das als ein Ort jenseits der Kultur konnotiert wird und gerade dadurch am besten geeignet erscheint, dem kulturellen Überschuss ein Ende zu setzen und somit neue künstlerische Kräfte zu entfesseln. Das Phantastische, ja Phantasmagorische in der Beschreibung des Dachauer Geländes und seiner Wächter lässt sich jenseits der praktischen Funktionalität verorten, die das Leben außerhalb des Lagers bestimmt. Dies prädestiniert es dazu, zum „Ort der InspirationŖ für den in der schöpferischen Krise steckenden Schriftsteller zu werden. Das Ästhetische erscheint ihm hier in seiner reinsten Form, also von jeder ideologischen oder ethischen Botschaft gereinigt, und nimmt die Gestalt der doppelköpfigen Gefängniswärterin Margarita-Gretchen an. Diese wurde von der Forschung als „Verkörperung der IntertextualitätŖ23 bezeichnet, da sie in sich Eigenschaften mehrerer berühmter Frauenfiguren der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte vereinigt (Margarita/Gretchen, Loreley, Lilith, Sappho, Lara aus „Doktor ŅivagoŖ, Lotte aus „Die Leiden des jungen WertherŖ

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und ihr Prototyp Charlotte Buff, ferner Brünhild, Salome, Lady Macbeth von Mzensk, Wanda aus „Venus im PelzŖ von Sacher-Masoch und schließlich Justine aus dem gleichnamigen Roman von Marquis de Sade). Als Kunstkenner und -liebhaber kann der fiktionale Sorokin nicht anders, als sie zu vergöttern. Als Kunstschaffender fühlt er sich jedoch der vielfältig in der kulturellen Tradition verankerten Gestalt kläglich unterlegen, was wahrscheinlich auch ihr sadomasochistisches Verhältnis begründet. Dabei werden die Hierarchien allerdings erschüttert, da die doppelköpfige Schöne als dominante Foltermagd schließlich nur die Gelüste des fiktionalen Sorokin bedient. Die Vorgeschichte dieser (Liebes)Beziehung wird in der retrospektiven Episode in Moskau skizziert, wo der Erzähler seiner „ZukünftigenŖ zum allerersten Mal auf der „Ausstellung der Volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR (WDNCh) im Pavillon der Schweinezucht begegnet (806 f.). Die (selbst)zerstörerische bzw. (selbst)negierende Tendenz ihrer Schönheit kommt in solchen Details zum Ausdruck wie der SS-Uniform, der Reitpeitsche in ihren Händen oder auch übel riechenden Schweinen, die sie betrachtet. Aber genau diese Affinität zur Gewalt und zum Unästhetischen ist das, was den Protagonisten an ihr am meisten reizt; denn sie scheint die Befreiung aus der ewigen Kette der künstlerischen (Re)Produktionen zu versprechen, die ihm zur unerträglichen Last geworden ist. Körperschrift und hysterisches Geständnis Nur ganz wenige dokumentarische Lagerberichte sind aus der Perspektive der Außenstehenden geschrieben, wie beispielsweise „Ostrov SachalinŖ (Die Insel Sachalin, 1893) von Anton Ĉechov, der sich als freiwilliger Reisender in die Lager begibt, um über das Gesehene zu berichten, und sich doch stets der Grenzen dieser externen Position bewusst ist, die ihm nicht die Partizipation am Leiden der Insassen erlaubt.24 Ńalamov verwirft das sogenannte „touristische PrinzipŖ für den Schriftsteller und erklärt die eigene Involviertheit in die zu beschreibenden Ereignisse zur wichtigsten Voraussetzung der neuen (Lager)-Prosa.25 Da die Lagererfahrung allerdings für eine freiwillige Konfrontation zu extrem ist, kann man sich nicht bewusst für diesen Weg und somit für diese erzählerische Strategie entscheiden, sondern wird sozusagen vom Schicksal dazu bestimmt. Der Sorokinsche Schriftsteller verstößt jedoch gegen das ungeschriebene Gesetz und damit möglicherweise auch gegen den gesunden Menschenverstand, als er das Lager aus eigener Initiative als Häftling betritt. Er ist bereit, jede Qual bis hin zum Tod auf sich zu nehmen, um an einer Erfahrung zu partizipieren, die die Sinnlosigkeit des alltäglichen Daseins durchbricht und der eigenen Existenz wieder eine Bedeutung verleiht. Diese Bedeutung kann aber nur durch die selbständige künstlerische Produktion, das heißt das Schreiben erlangt werden. So wenig der fiktionale Sorokin mit dem aktuellen Zustand der in den inflationären Strudel geratenen ästhetischen Produktion zufrieden ist, so sehr ist er von dem modernistisch anmutenden Wunsch besessen, ein ultimatives Kunstwerk zu schaffen, das alle weiteren (sowie vorherigen) Kunstäußerungen überflüssig macht

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und auf diese Weise die Anderen widerspruchslos zum Schweigen verpflichtet. Mit dem Aufenthalt im Lager verbindet er die Überwindung der ästhetischen Beliebigkeit und den Durchbruch zum Realen, was vor allem durch die besondere Intensität des Erlebnisses und die maximale Identifikation des Künstlers mit dem Erlebten erreicht werden soll. Die traumatischen Verletzungen, die der Erzähler nach Dachau bereits von Außen, aus dem täglichen Kontakt mit dem totalitären System mitbringt, lassen seinen Willen, sich im Lager noch größeren Schmerzen und Erniedrigungen auszusetzen, als eine hysterische Reaktion und zugleich als einen (selbst)therapeutischen Versuch erscheinen. Denn Hysterie äußert sich im verdichtenden und verschiebenden Wiederholen immer gleicher Symptome. Unter dem Einfluss der das ursprüngliche Trauma evozierenden Situationen werden diese jedes Mal aufs Neue entfesselt. Die Aufgabe der Therapie besteht dementsprechend sowohl in der Rekonstruktion des traumatischen Ereignisses als auch in der Aktualisierung des begleitenden Affekts, wobei sich das Unbewusste und Unausgesprochene endlich zu Wort melden kann.26 Das Schweigen ist für einen Hysteriker deshalb so fatal, weil die Symptomatik der hysterischen Erkrankung gerade auf dem nicht eingestandenen und nicht ausgelebten inneren Widerspruch beruht, den das Individuum keinesfalls bewusst zulassen möchte, da er gegen sein Selbstbild verstößt.27 Das fiktive Zitat, das Lenin zugeschrieben wird und den Übergang zum zweiten Teil der Erzählung markiert, enthält bereits den Hinweis auf den ins Unbewusste verdrängten Konflikt des Protagonisten und macht ihn zum ersten Mal sprachlich fassbar: Neben die im ersten Teil der Erzählung ausführlich dargestellte Abscheu vor der totalitären Gewalt ist jetzt die bisher verschwiegene Faszination getreten, wobei die Möglichkeit des (sexuellen) Genießens nicht ausgeschlossen wird. Die darauf folgenden Folterungen in 25 verschiedenen Kammern dienen vor allem dazu, den fiktionalen Sorokin zum Eingeständnis dieses verdrängten Zusammenhangs zwischen Gewalt und Genuss zu zwingen. Der therapeutische Effekt stellt sich jedoch nicht ein, da das Individuum keine Möglichkeit findet, den ihm bewusst gewordenen inneren Widerspruch zu neutralisieren, und sich stattdessen immer zwanghafter in die hysterische Symptomatik verwickelt. Typisch hysterisch ist dabei die Betonung des Körpers, der eine Art Eigenleben entwickelt und durch die Ratio nicht mehr gesteuert werden kann. Die einzelnen Symptome lassen sich als sogenannte „KörperschriftŖ28 zusammenfassen. Diese verfügt insofern über einen hohen Wahrheitsgehalt, als sie die verborgenen Wünsche oder Konflikte offenbart. Das den Folterkammern zugeordnete Narrativ, das den zweiten Teil der Erzählung bildet, stellt in Wirklichkeit einen lyrischen Monolog des Erzählers dar, der keinen Wert auf eine distanzierte Beschreibung des Geschehens legt. Vielmehr bringt er vor allem seine Gefühle und Gedanken zum Ausdruck, die als unmittelbare Reaktion auf die ihm zugefügten körperlichen Misshandlungen folgen oder diese begleiten. Man kann also die Aufteilung in 25 Kammern auch als Kapitelgliederung verstehen, bei der die räumliche Struktur des Lagers auf den Textbau übertragen wird. Der Text ist offenkundig auch das wichtigste Produkt,

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das in Sorokins Lager unter großen Anstrengungen gewonnen wird Ŕ analog zur Ausbeutung der Bodenschätze durch Gefangene des Gulag. Auffällig ist die vom zweiten Teil der Erzählung an zunehmende Desorganisation der Sprache. Sie weist einerseits auf eine hysterische Störung hin und übersetzt andererseits in einer direkten Weise die körperlichen Verstümmelungen in den Text. Die „KörpergebundenheitŖ der unter Folter entstehenden Schrift wird jedoch auch auf der inhaltlichen Ebene schon in der 1. Folterkammer thematisiert, wo eine harmlose, den Fingernagel mit dem Kelchblatt einer Geranie vergleichende poetische Metapher dadurch einen tieferen Sinn erhält, dass dem Erzähler gerade mit der Zange tatsächlich ein Nagel herausgerissen wurde (807). Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der zu produzierende Text nicht bloß aus Allgemeinplätzen besteht, sondern das Ergebnis einer „emotionalen VerinnerlichungŖ29 ist: Der fiktionale Sorokin verschluckt auf den Befehl seiner Foltermagd hin diesen Nagel. Er verinnerlicht ihn also buchstäblich. Eine wichtige Rolle kommt im Verlauf der Folter dem zum ersten Mal in der 2. Folterkammer erwähnten Motiv des Geständnisses zu. Deutschmann spricht in diesem Zusammenhang von der „aufgezwungenen RedeŖ, die in der für die Straflager typischen Weise durch das erpresste Signieren als eigene ausgewiesen wird und bei Sorokin als Referenz auf die grundsätzliche Unmöglichkeit, aus sich selbst heraus zu sprechen, fungiert.30 Allerdings hat das Geständnis in „Mesjac v DachauŖ noch eine andere Bedeutung, und zwar die der Offenlegung der verborgenen Schichten des Unbewussten, die das Individuum insofern sein eigen nennen darf, als sie mit seinem Körper eng verkoppelt sind. So kann sich der Erzähler nicht dagegen wehren, sexuelle Erregung oder Ekel bei bestimmten Reizauslösern zu empfinden. Er muss ein Stück seines Seelenlebens unfreiwillig durch die körperlichen Reaktionen preisgeben. Der eigentliche Gegenstand des Geständnisses ist somit nicht das, was unter Einwirkung der Folter unterschrieben wird, sondern die Bereitschaft des Erzählers, sich selbst Ŕ auch gegen das eigene Überzeugungssystem Ŕ zu offenbaren: „Alles unterschreibe ich, ihr Lieben, alles gestehe ichŖ (807). Der „klassische“ Kannibalismus Ein weiteres Motiv in der Beschreibung der Folterkammern bildet die russische Klassik. Dabei ist jeder der erwähnten Autoren für eine besondere Behandlung des Inhaftierten „zuständigŖ. Der Vortrag über Dostoevskij, den der fiktionale Sorokin in der 3. und 5. Kammer halten muss, wird mit dem gemeinsamen Urinieren der Folterknechte auf sein Gesicht und den schmerzhaftesten Körperverletzungen kombiniert (807), wobei er das „lustvolle LeidenŖ, das viele „Erniedrigte und BeleidigteŖ (so der Titel eines frühen Romans von Dostoevskij) in seinen Werken auszeichnet, geradezu physisch nachvollzieht. Zu Turgenev greift er dagegen während der Ruhepausen in der 11. und 16. Kammer (809 f.), was auf den gemäßigteren, zum Träumen verleitenden Stil dieses Klassikers sowie seine empfindsamen Darstellungen der Natur und der Liebesbeziehungen verweist. In der

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13. Folterkammer wird das „TriumviratŖ der berühmtesten Erzähler Russlands durch Lev Tolstoj vervollständigt, dessen Name im Zusammenhang mit der „klassischenŖ Tätigkeit der Lagerinsassen, das heißt der schweren Arbeit im Steinbruch, auftaucht, die der inhaftierte Protagonist jetzt in Dachau verrichten muss (809). Die Parallele zu der Biographie und Weltauffassung Tolstojs ergibt sich aus dessen Begeisterung für einfache physische Arbeit wie Mähen oder Pflügen. Der fiktionale Sorokin flieht, ungeachtet des frappierenden Unterschieds zwischen seiner Situation in Dachau und der Situation jenes Klassikers auf dem eigenen Landgut, bereitwillig in diese Identifikationsphantasie. Dabei erfüllt er die sinnlose, demütigende Arbeit mit einem über die eigene Existenz hinausweisenden Sinn, macht aber zugleich die eigene Erfahrung hinter den in der Kultur überlieferten Diskursen wieder unsichtbar. Unabtrennbar von den Auseinandersetzungen des Protagonisten mit der russischen Klassik und seiner eigenen Positionierung als Schriftsteller ist das Thema des Kannibalismus, dem er sich unfreiwillig, und zunächst sogar unwissentlich, im Lager hingibt. Verspeist wird zuerst das Fleisch eines unschuldigen russischen Mädchens, Lena Sergeeva, und dann eines jüdischen Jungen, Osja Bljumenfelřd. Christine Engel betrachtet den Kannibalismus in Sorokins Werk als Ausdruck der „Sehnsucht nach InkorporationŖ, genauer: des Verlangens „nach totalem Innensein, nach der totalen Einheit, nach der paradiesischen Vorstellung, die kein Anderes, kein Außen mehr kenntŖ.31 Wenn man das annimmt, dann hätte der kannibalistische Akt die Funktion, den Erzähler dem Wunsch näher zu bringen, die Grenze zwischen ihm und der Umwelt zu überwinden, da nur dadurch die vollständige Identifikation des Schriftstellers mit seinem Gegenstand und somit auch die höchstmögliche Authentizität erreicht werden kann. Der fiktionale Sorokin lässt die Leiden des russischen sowie jüdischen Volkes buchstäblich durch sich hindurch („propuskaet ĉerez sebjaŖ, wie der entsprechende Ausdruck im Russischen lautet). Damit soll die höchste Stufe der Empathie erreicht werden. In den Kammern 7 bis 10 wird die „kulinarischeŖ Folter noch zusätzlich dadurch gesteigert, dass man den Anus des Gefolterten durch einen Stöpsel verschließt. Dieser muss so mehrere Tage ausharren, während er mit Gerichten zum Teil aus Menschenfleisch gefüttert wird, die einen starken Defäkationsdrang auslösen (808 f.). In der Kammer 10 darf er sich schließlich öffentlich auf das Foto seiner aufgebahrten Mutter entleeren (809). Ganz offensichtlich handelt es sich dabei ebenfalls um ein Geständnis, das vor allem dem Körper entrissen zu sein scheint, gleichzeitig aber auch eine emotionale Erschütterung bei dem Erzähler auslöst. Der Stöpsel im Anus gewährleistet dabei, dass kein frühzeitiges Loswerden des (unfreiwillig) Verschlungenen bzw. Erlebten möglich wird und die Entleerung bzw. Mitteilung nur dann stattfindet, wenn das Bedürfnis danach so dringend ist, dass es nicht einmal das Foto der toten Mutter unter der Toilettenöffnung verschont. Das kannibalistische Thema wird schließlich in der 21. Kammer mit dem Gedicht „Ņri menja i ja vernusřŖ („Friß mich, und ich werde wiederkommenŖ, 811 f.) aufgegriffen. Es vereint in einer obszönen Variation gleich drei bekannte lyri-

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sche Texte des 20. Jahrhunderts: „Ņdi menjaŖ (Warte auf mich, 1941) von Konstantin Simonov, „SmjatenieŖ (Bestürzung, 1913) von Anna Achmatova und „Generalam dvenadcatogo godaŖ (An die Generäle von 1812, 1913) von Marina Cvetaeva. Dieses Textfragment stellt offenbar einen Fall des literarischen Kannibalismus dar: Genauso wie sich Lena und Osja im Magen des fiktionale Sorokin „treffenŖ, treffen sich hier die Sprecher bzw. Sprecherinnen verschiedener, aus ihrem Kontext herausgerissener Gedichte. Der „universelleŖ Anspruch wird durch die Komplementarität der männlichen und weiblichen Stimmen erhoben. Macht der Ohnmacht Neben den russischen Klassikern greift der fiktionale Sorokin während seines Aufenthalts in den Folterkammern noch zu einer anderen Identifikationsfigur, zu Christus.32 Das hängt ebenfalls mit seinem Selbstverständnis als Künstler zusammen: Wer durch das eigene Leiden den Leidensweg Christi nachvollziehen kann, kommt auch tatsächlich dem Status des Messias am nächsten, erreicht also die höchst mögliche Stufe der künstlerischen Legitimität, wobei jeder Aussage ein Offenbarungscharakter zukommt. Durch den Verweis auf das christliche Martyrium gewinnt zugleich das Thema der Selbstbestimmung des Opfers beziehungsweise der Macht in der Ohnmacht an Gewicht. Die von der fortschreitenden Desorganisation bedrohte Sprache, der zuerst nur zeitweilig, dann aber endgültig jegliche grammatische sowie lexikalische Ordnung abhanden kommt, behält aber nichtsdestotrotz die Fähigkeit zu kulturhistorischen Referenzen, wie sie dem Erzähler auch während der schlimmsten Folter scheinbar nicht ausgehen. Sie reichen von den biblischen Gestalten bis zum postmodernen Philosophen Jacques Derrida, dem Begründer der dekonstruktivistischen Lektüre: „und Derrida hat recht jede automatische Bewegung ist textuell jeder Text ist totalitär wir sind in einem Text folglich im Totalitarismus gefangen wie die Fliegen im Honig und ein Ausweg der Ausweg ist allenfalls der Tod nein das Gebet das Gebet und die ReueŖ (810). Mit dem Verweis auf Derrida findet ein paradoxer Rollentausch statt: Der Schriftsteller beruft sich auf seinen potentiellen Analytiker, um die eigene Position zu untermauern. Indem der fiktionale Sorokin die poststrukturalistische These vom totalitären Potential, das den Schreib- wie Sprechhandlungen inhärent ist, mit religiösen Motiven des Gebets und der Reue in einem Zug verbindet, zeigt er auch die beunruhigenden Möglichkeiten der Manipulation der beiden Diskurse. Zugleich dokumentiert er die Macht des Verfassers, der selbst in der Opferrolle versucht, das Weltbild der Rezipienten mit eindrucksvoll eingesetzten rhetorischen Mitteln zu gestalten und zu kontrollieren. Die Ironie dieser Textpassage besteht darin, dass sie zwar die totale Ausgeliefertheit des Autors an den Text behauptet, in der Tat aber gerade das Gegenteil vorführt. Der fiktionale Sorokin schafft dabei scheinbar problemlos den intellektuellen Spagat zwischen antimetaphysisch ausgerichteter poststrukturalistischer Philosophie und religiösen Praktiken.

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In der 22. Kammer wird die Handlung durch den Heiratsantrag, den der Erzähler Margarita macht (812), scheinbar etwas vorangebracht. Dabei kommt es erneut zu einer auffälligen Deformation der Sprache, diesmal durch die vielfache Wiederholung des deutschen Wortes „шмерцŖ (kyrillisch transliteriert), das nicht nur Satzteile auseinanderreißt, sondern manchmal auch zu einzelnen (russischen) Wortstämmen als Suffix beigefügt wird. Der „SchmerzŖ bezieht sich hier vordergründig auf den romantischen „LiebesschmerzŖ, muss aber in Anbetracht des Handlungsorts gleichzeitig in der direkten, physiologischen Bedeutung gedacht werden. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass er hier Ŕ sei er psychologischen oder physiologischen Ursprungs Ŕ mit Hilfe literarischer Formeln wiedergegeben wird, die ihn als ein überliefertes kulturelles Konstrukt und nicht als eine individuelle Erfahrung erscheinen lässt. Das Trauma, das hinter dieser Textpassage steht, bricht aber indirekt in den sprachlichen Auffälligkeiten durch, also in der Unmöglichkeit, konsequent im Rahmen einer einzigen Sprache zu verbleiben. Die Verlobung des Erzählers mit seiner Foltermagd wird in der Kammer 24 durch eine besonders aufwendig inszenierte Folter gefeiert (812 f.). Die bereits früher in der Erzählung angedeutete Performativität33 des Lagers, die sich in vorangehenden Kammern beispielsweise im rituellen Charakter der Foltermethoden oder auch in den expliziten Erwähnungen von Wagners Opernsujets äußert, erreicht hier ihren vorläufigen Höhepunkt. Obwohl die Zeremonie wieder von Wagners Musik begleitet wird, tritt im gesamten Fragment eher das Filmische in den Vordergrund. Im Besonderen der schnelle Wechsel der Szenerien, die große Zahl der Beteiligten sowie die ohne „special effectsŖ schwer darstellbaren Handlungen wecken Assoziationen mit einer Filmproduktion. Es sind im einzelnen auch konkrete Filmgenres erkennbar: Bibelfilm, historischer Kostümfilm, Horrorfilm, Pornofilm bzw. Exploitationfilm und schließlich Kriegsfilm. Trotz aller Hilflosigkeit, durch die ihm zugewiesene Opferrolle, ist der Erzähler nicht nur der Hauptdarsteller, sondern auch der Regisseur eines Films, der erst in seinem Bericht „montiertŖ und als solcher überhaupt erkennbar wird. Im Unterschied zur erniedrigenden bürokratischen Maschinerie, der er im totalitären Alltag außerhalb des Lagers ausgeliefert war und die ihn zum anonymen Komparsen degradierte, gilt ihm jetzt die ausschließliche Aufmerksamkeit von über hundert Offizieren. Indem sich diese eigens für ihn an den raffiniertesten Folterpraktiken beteiligen, werden sie selbst zu Komparsen. So fällt die (Selbstauf)Opferung des Künstlers mit der Anerkennung seiner besonderen Rolle zusammen. Erst aus dieser Situation heraus kann er sich als Schöpfer positionieren, auch wenn er innerhalb der von ihm konstruierten Wirklichkeit völlig ohnmächtig ist. Die Kammer 25, für den Erzähler die letzte Station seiner Reise und zugleich des gesamten Folterprogramms, kommt im Text gleich doppelt vor. Hier deutet sich der nun eingetretene Stillstand an, der keine Bewegung mehr erlaubt und an das Nichts, also den Tod grenzt. Ein kurzes Textfragment, in dem die deutschen und russischen Lexeme nahezu gleichberechtigt nebeneinander stehen und das sich um die Motive der Verunreinigung („trupognojŖ, „gnoestrueŖ) und Reini-

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gung („oberstzaubermachenŖ, „vymyt'Ŗ) dreht (813)34, nimmt offenbar eine makabre Katharsis vorweg, die durch eine ultimative Säuberung im Zuge der Vernichtung alles Lebendigen zustande kommen soll. Diese kathartische Auflösung ist an einen festlichen Akt der Hochzeit gebunden, die das Verhältnis des Erzählers mit Margarita legalisiert und ihm gleichzeitig seine Verwandlung zum richtigen Künstler bescheinigt: Der als Schriftsteller Wiedergeborene darf nun die Verkörperung der literarischen Tradition heiraten. Nach dieser Erneuerung, wird von dem Erzähler ein fester Platz im kulturellen Archiv, wenn nicht sogar ein Klassikerstatus, angestrebt. Als Übergang zur Darstellung der ebenfalls in der 25. Folterkammer stattfindenden Hochzeit dient eine kurze Textstelle, die nach dem Vorbild eines visuellen Gedichts in Form eines liturgischen Kelchs35 gestaltet ist (813). Damit wird der Leser auf die nachfolgende kirchliche Trauung eingestimmt. Das Textfragment ist vollständig auf Deutsch, jedoch in kyrillischer Schrift, geschrieben und besteht aus jeweils einem kurzen Auszug aus zwei katholischen Kirchenliedern: aus „Deinem Heiland, deinem LehrerŖ und „Lauda SionŖ. Durch das erstere der beiden Lieder, in dem es um die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund geht, wird die für das Selbstverständnis des schöpferischen Individuums zentrale Problematik der Innovation einerseits und der Einschreibung in die Tradition andererseits angesprochen. Der alte Bund Gottes mit Israel wird durch den neuen abgelöst, aber der neue kann nur insofern in seiner sakralen Bedeutung bestehen, als er sich auf den alten bezieht, was sich im Rahmen der Erzählung auch auf die Kontinuität und Brüche in der Literaturgeschichte übertragen lässt. In diesem Sinne kann man die „ErholungsreiseŖ, die der Protagonist nach Dachau unternimmt, als eine subversive Handlung auffassen, die nach Groysř Kunsttheorie notwendig ist, um sich den Platz im kulturellen Archiv zu sichern.36 Denn Sorokin distanziert sich von der dokumentarischen Lagerliteratur nicht nur durch bewusste Anachronismen und phantastische Elemente, sondern auch durch die Umkehrung von deren grundlegender Intention: Anstatt die traumatischen Erfahrungen schreibend (mit einer ethischen oder historischen Absicht) festzuhalten und somit zu verarbeiten, liefert sich der Erzähler freiwillig diesen Erfahrungen aus, um endlich wieder künstlerisch produktiv zu werden. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht auch der reale Autor, indem er mit seiner Erzählung einen Text schafft, der einen deutlichen Bezug auf die gesamte Tradition der russischen Lager- und Gefängnisliteratur nimmt, gleichzeitig aber drastisch gegen ihre Regeln und Konventionen verstößt. Der zweite in das Gedicht integrierte, dem Lied „Lauda SionŖ entnommene Auszug, kommentiert das Ritual der Eucharistie. Die Verwandlung des Brots in den Leib Christi, des leblosen Objekts also in das ewig lebendige, mehr noch: das Leben spendende, ist ebenfalls mit der Problematik der Kunst und dem Selbstverständnis des Künstlers verknüpft, dem die Macht zusteht, „ProfanesŖ mit sakraler Bedeutung zu erfüllen. Das Wort „LebenŖ ist dabei so angeordnet, dass es den Fuß des imaginierten Kelches bildet. Gleichzeitig jedoch erweckt die vertikale Anordnung der Buchstaben Assoziationen mit einem Blutstropfen, der vom

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Kelch herabhängt und direkt in den folgenden Text übergeht. Indem sich dieser ebenfalls als aus Blut bestehend interpretieren lässt, wird die verbreitete Metapher vom „Schreiben mit BlutŖ, die sich insbesondere auf die traumatischen Erlebnisnarrative bezieht, nun graphisch realisiert. Verwandlung und Selbstvernichtung In dem abschließenden Teil der Erzählung, der von der Hochzeit des fiktionalen Sorokin mit Margarita (und unfreiwillig auch mit Gretchen) sowie der anschließenden (Selbst)Vernichtung des Bräutigams berichtet (813Ŕ815), wird der Erzählstil ebenfalls mehrmals gewechselt. Was im ersten Abschnitt auffällt, ist die Rückkehr zur Interpunktion und zum relativ umständlichen, an die klassischen Romane erinnernden Narrativ (813). Dann folgt ein lyrischer Teil, der in poetischen Formeln die Gefühle des Erzählers zu der geliebten Braut und das berauschende Fest beschreibt (813Ŕ815). Danach kommt der als ein dramatisches Fragment gestalteter Polylog zwischen Margarita, Gretchen und dem erzählenden Ich. Und schließlich wird uns als eine Reminiszenz an die Behördensprache ein Register vorgeführt, in dem der fiktionale Sorokin die Reihenfolge seiner eigenen Vernichtung in einer gebrochenen Mischung aus Deutsch und Russisch bestimmt. Das Motiv des Bluts, das bereits im visuellen Gedicht mit dem Verweis auf die Eucharistie und die graphische Andeutung des Tropfens vorgegeben war, wird vor allem im lyrischen Teil aufgegriffen. Im Gegensatz zur Eucharistie ereignet sich hier jedoch keine Wandlung vom Wein zum Blut, sondern umgekehrt: Das aus der Kopfschlagader eines florentinischen Jungen entnommene Blut wird zum Wein, nachdem es in ein Kristallglas auf den Hochzeitstisch gelangt ist. Wenn in dem Ausdruck „vino tysjaĉiletnej vyderņkiŖ (Wein der tausendjährigen Dauer) das Wort „vyderņkaŖ (Reifungsdauer) auch als „ZitatŖ übersetzt werden kann (814)37, dann wäre der Wein „aus den Kellern der WeltgeschichteŖ, den die Brautleute zusammen trinken, eine Metapher für das literarische Werk, das innerhalb der Tradition „reifenŖ und die Einflüsse anderer Überlieferungen aufnehmen soll, um sich gleichwertig in die Literaturgeschichte einschreiben zu können, das heißt eine sakrale oder sogar erlösende Bedeutung zu entfalten, wie sie in den Wendungen „vino ņizniŖ (Wein des Lebens) und „ėliksir bessmertijaŖ (Elixier der Unsterblichkeit) zum Ausdruck kommt (814). Die erotische Wirkung dieses „ElixiersŖ wird durch den anschließenden Kuss des Paares angedeutet, wobei die mit Wein befeuchteten Lippen als „blutigŖ bezeichnet werden. Das weist darauf hin, dass das literarische Produkt auch nach seiner Vollendung an jene Gewalt erinnert, die an seinem Ursprung stand. Das Wort „vyderņkaŖ hat darüber hinaus noch eine andere Bedeutungsnuance. Sie ist bereits im Ausgangsverb „vyderņivat'Ŗ vorhanden, das so viel wie „erduldenŖ, „aushaltenŖ, „ertragenŖ heißen kann. Einerseits ist darin wiederum ein Hinweis auf die extremen Entbehrungen und Folterungen zu lesen, die der Künstler erfahren muss, um produktiv zu werden. Andererseits aber wird damit seine

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Passivität betont; denn sobald er sich für den „UrlaubŖ in Dachau entscheidet, hat er keinen Einfluss mehr darauf, was mit ihm weiter geschieht. Ihm bleibt keine andere Wahl, als das zu ertragen, was die Henker für ihn ausdenken. Auch die Gestaltungsmöglichkeiten für den dabei produzierten Text sind eng begrenzt: Wenn es um eine authentische Mitteilung geht, kann es ja nur eine Wahrheit geben, die der Körper unter der Folter quasi selbst verrät. Das anschließende Hochzeitsbankett wird vom Erzähler aus der Perspektive eines Feinschmeckerkannibalen und zugleich eines empfindsamen Sprachvirtuosen beschrieben. Dabei spielt die Wein-Blut-Metaphorik auch weiterhin eine zentrale Rolle. In einer panoramaartigen Inszenierung werden dem Schriftsteller die Leiden der ganzen Menschheit serviert, versinnbildlicht durch die Gerichte aus Körperteilen von Vertretern unterschiedlicher Völker- und Berufsgruppen. Gleich darauf wandelt er die Gerichte in literarische Köstlichkeiten um und teilt sie genussvoll mit seinem Leser. Jetzt scheint er weder Schmerzen noch Reue mehr zu empfinden; denn die sakrale wie die ästhetische Wirkung des Beschriebenen auf ihn ist so stark, dass die kathartischen Gefühle alle Grausamkeiten auszublenden scheinen. Bereits bei der Beschreibung des Banketts werden neben Tötungs- und Folterinstrumenten wie Messer oder Skalpell, die für die rituelle „BlutabnahmeŖ am geeignetsten sind, auch Schusswaffen erwähnt, die über noch viel stärkere Vernichtungskapazität verfügen. Wenn der Erzähler im Schlusssatz den (letzten) Willen äußert, sein Körper möge in den Himmel Deutschlands geschossen werden, dann bringt er damit eine äußerste Form der Todessehnsucht zum Ausdruck: Er will sich nicht mit dem einfachen Ableben begnügen, sondern fordert die regelrechte Auslöschung aller Spuren der eigenen körperlichen Existenz. Davor beschreibt er die schlimmsten, aber auch einfallsreichsten Verstümmelungen, die er noch vor der endgültigen Vernichtung erleiden möchte. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie auf seine monströse Verwandlung in eine leblose Substanz hinauslaufen: Die Würmer, die an dem Kopf Gretchens nagten, sollen seinen Magen ausfüllen; den Kopf Margaritas wünscht er dagegen an seiner linken Schulter angenäht; seine Extremitäten sollen zu Klebstoff und sein Glied zu Schuhcreme verarbeitet werden, wohingegen er seinen Körper mit den deutsch-russischen Kindern und Goldzähnen der Juden gespickt haben will. Naheliegend ist es hier, ei-ne merkwürdige Variation des Freudschen Todestriebs zu vermuten, die nicht bloß auf die Vernichtung, sondern auch auf die Verformung und Weiterverwendung abzielt, was einerseits an die makabren Praktiken des Nationalsozialismus, andererseits an die Metapsychose, also Seelenwanderung, erinnert. Für das künstlerische Selbstverständnis des fiktionalen Sorokin bedeutet die beschriebene Prozedur vor allem eine utopische Wunschvorstellung der totalen Hingabe an sein Werk. Die vollkommene Identifikation mit dem Geschriebenen erreicht der Autor nämlich nur, wenn er sich so weit mit dem Text Ŕ und das heißt auch mit der Welt, die sich in diesem Text spiegelt Ŕ vereint, dass nach der letzten Zeile von ihm nichts mehr übrig bleibt. Dieser (End)Punkt markiert den logischen Abschluss seiner gesamten (Urlaubs)Reise, die ihm offenbar von An-

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fang an Eindrücke bescheren soll, von denen er sich nie wieder erholen wird und die nur durch eine „unmöglicheŖ Körperschrift festgehalten werden können. Damit diese Körperschrift überhaupt funktioniert, ist allerdings neben dem erlebenden und unmittelbar aus seinem Erlebnis berichtenden Erzähler noch eine andere, mit ihm angeblich identische, aber dennoch eine auktoriale Perspektive einnehmende Erzählinstanz erforderlich: eine Instanz, die die Folter und sogar den „eigenenŖ Tod intakt überlebt. Das Vertrauen auf sie begründet schließlich die innere Souveränität des Gefolterten und sein Selbstbewusstsein, als Schriftsteller noch unter den schlimmsten Qualen zu bestehen. Sorokin scheint hier der in Bezug auf die degradierende Wirkung der Tortur formulierten Behauptung Jean Amérys „Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines IchsŖ38 eine neue Wendung zu geben, indem er die Verletzung dieser Grenzen als eine Metapher für die Befriedigung einer narzisstischen Phantasie der völligen Öffnung des Subjekts und seiner Verschmelzung mit dem Universellen umkodiert, was ihm eine quasi übermenschliche Position verleiht.

Christine Engel

Viktor Erofeev: Ņiznř s idiotom (Leben mit einem Idioten) Ein Schriftsteller soll als Strafe einen Idioten bei sich aufnehmen. Das Zusammenleben eskaliert und wird zur Hölle: Denn der Idiot tyrannisiert den Schriftsteller und seine Frau, er defäkiert, und er masturbiert vor ihnen und initiiert ein sadomasochistisches Verhältnis zunächst mit der Frau und dann mit dem Mann. Schließlich enthauptet er die Frau mit einer Heckenschere Ŕ ein Vorgang, den der Mann, der in seiner Hörigkeit gegenüber dem Idioten bereits zur völligen Infantilität regrediert ist und zunehmend dem Wahnsinn verfällt, lustvoll erregt beobachtet. Kontextuelle Einbettung Mit seiner ins Monströse übersteigerten Parabel zum Verhältnis zwischen Intelligencija, Volk und Sowjetmacht schließt Viktor Erofeev kritisch an Diskurse des 19. Jahrhunderts an. In diesen heftig geführten Auseinandersetzungen, in die die meisten der namhaften russischen Schriftsteller involviert waren, ging es um Selbstvergewisserungsprozesse der Intelligencija, die ihre Position und ihre Verantwortung als Sprachrohr der rechtlosen bäuerlichen Bevölkerung, des sogenannten Volkes, gegenüber der absolutistischen Herrschaft des Zaren schärfen wollte. Dass für Erofeev dabei Positionen von Fedor Dostoevskij eine besondere Rolle spielen, lässt schon der Titel der Erzählung erkennen, der einen Bezug zu dem Roman „IdiotŖ (Der Idiot, 1868) herstellt.1 Das Lexem „IdiotŖ schließt in diesem literarischen Zusammenhang auch Konnotationen wie „GottesnarrŖ und „von Dämonen BesessenerŖ ein und reicht somit über umgangssprachliche Bedeutungen wie dumm, debil, geistig zurückgeblieben, wahnsinnig oder irrsinnig hinaus. Erofeev verfasste die Erzählung in der allerletzten Phase der Sowjetunion, als die politische Konstellation von Perestrojka und Glasnostř eine offene Kritik an den Bedingungen der Sowjetmacht möglich machte. Der Autor selbst hatte die gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Jahre und die neuen Möglichkeiten, die sich boten, offen begrüßt und die damit einhergehenden Liberalisierungen des Literaturbetriebs aktiv mitgestaltet. Einen ersten Versuch, die ästhetischen Handlungsspielräume von Schriftstellern zu erweitern, hatte er bereits 1979 mit einer Gruppe Gleichgesinnter unternommen, als er versuchte, den Almanach „MetropolřŖ herauszubringen. In diesem Sammelband sollte der offiziell verordneten Methode des Sozialistischen Realismus eine lebendige Vielfalt von literarischen Schreib- und Betrachtungsweisen entgegengesetzt werden. Ein solches Vorgehen war damals jedoch noch keineswegs im Sinne des Moskauer Schriftstellerverbands, was für die Beteiligten ernsthafte Folgen hatte. Evgenij Popov und Ero-

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feev, mit Anfang dreißig die jüngsten der Gruppe, wurden aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Erofeev verlor darüber hinaus auch noch seinen Arbeitsplatz als Literaturwissenschaftler am „Gorřkij-Institut für WeltliteraturŖ (Institut mirovoj literatury, imeni Gorřkogo), an dem er 1975 seine Dissertation über Dostoevskij und den französischen Existenzialismus abgeschlossen hatte.2 „Ņiznř s idiotomŖ erschien 1991 in einer Anthologie gemeinsam mit anderen Erzählungen des Autors aus den achtziger Jahren und traf einen Nerv der Zeit. Die drastische Darstellung von Gewalt und Homoerotik wurde als schockierend empfunden, und man warf dem Autor auch später noch mangelnde Liebe zum Menschengeschlecht im Allgemeinen, Russophobie, Dreistigkeit oder Trivialität vor.3 Dass die Implikationen und die ästhetische Funktion dieses literarischen Textes aber weit über solche Einschätzungen hinausgehen, lässt sich schon allein daraus erschließen, dass Alfred Schnittke nach dem Libretto von Erofeev eine gleichnamige Oper komponierte, die 1992 in Amsterdam zur Uraufführung gelangte. Die filmische Adaption erfolgte ein Jahr später durch den bekannten Regisseur Aleksandr Rogoņkin. Übersetzungen ins Deutsche (1991) und ins Französische (1992) ließen auch nicht lange auf sich warten.4 Erofeev thematisierte bereits in seinen frühen „MetropolřŖ-Erzählungen eine grundsätzliche Ablehnung des Sowjetsystems und machte auch in seinen journalistischen Beiträgen kein Hehl daraus. Besonders heftige Reaktionen löste sein programmatischer Artikel „Pominki po sovetskoj literatureŖ (Letztes Geleit für die Sowjetliteratur) vom 4. Juli 1990 aus, der in der damals viel gelesenen Wochenzeitung „Literaturnaja gazetaŖ erschien. In diesem Artikel, in dem er den Sozialistischen Realismus als den kulturellen Ausfluss des Totalitarismus bezeichnet, nimmt er wichtige Argumente vorweg, die dann für die Erzählung „Ņiznř s idiotomŖ von zentraler Bedeutung sind. Erofeev bezeichnet dort den Sozrealismus als die „Tollwut der Literatur im geschlossenen Raum, das ist der sadomasochistische Komplex eines atheistischen Schriftstellers, der dem Teufel seine Seele verkauft, an dessen und an deren Existenz er nicht glaubtŖ.5 Und er führt weiter aus: „Die Sowjetliteratur ist die Ausgeburt des Konzepts des Sozialistischen Realismus, multipliziert mit der menschlichen Schwäche einer Schriftstellerpersönlichkeit, die von einem Stück Brot, von Ruhm sowie von einem Status quo mit den Herrschenden träumt, mit den Gesalbten also Ŕ wenn nicht von Gott, so doch von einer Universalidee. Die Stärke der Herrschenden und die Schwäche der menschlichen Natur, die sozialen Komplexe der russischen Literatur Ŕ welche nach Ansicht eines scharfsinnigen Philosophen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, Wassili Rosanow, die Hauptschuldige an der Revolution war Ŕ und das Austoben der üblichen revolutionären Brutalität, die sich zur Utopie einer Kulturrevolution verdichtete, der politische Pragmatismus Lenins und die asiatische Verschlagenheit Stalins Ŕ diese und eine Reihe weiterer Komponenten kamen in das Fundament des Projekts Sowjetliteratur.Ŗ6 Für Erofeev war wesentlich, dass die Schriftsteller in dieser Konstellation ästhetische Kompromisse eingehen und für sich selbst Wege bzw. Auswege suchen mussten: „Die einen passten sich an,

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die anderen verkauften sich (was weder die einen noch die anderen vor dem Russischen Roulette des Terrors rettete), noch andere hängten sich auf, aber die Bitternis aller dieser Selbstzerfleischungen […] dürfte schwerlich einen soliden Zement für den Babylonischen Turm der Sowjetliteratur geliefert haben.Ŗ7 Mit den schon erwähnten „sozialen Komplexen der russischen LiteraturŖ verdeutlicht Erofeev, dass die Wurzel solcher Entwicklungen weiter zurückliegt, ja dass sie sogar ein generelles Merkmal der russischen Literatur sind: „Ein ernstes Problem der russischen Literatur war schon immer ihr Hypermoralismus, dieses Gebrechen eines extremen moralischen Drucks auf den Leser. Das Gebrechen ist ein historisches und somit offenbar chronisches; man kann es schon bei den Klassikern des 19. Jahrhunderts, Tolstoi und Dostojewski, entdecken, aber es wurde häufig als Qualitätsmerkmal der russischen Literatur aufgefaßt.Ŗ8 Dieses Erbe wurde aus der Sicht Erofeevs unter dem Kampfbegriff des „HumanismusŖ in der Sowjetzeit fortgesetzt. Wie er in einem weiteren, viel diskutierten Artikel ausführt, waren davon auch die sogenannten šestidesjatniki, die Generation der Sechziger, die den Aufbruch des Tauwetters und ein Vierteljahrhundert später den der Perestrojka prägten, nicht ausgenommen, sondern erwiesen sich als besonders glühende Anhänger dieser ideologischen Waffe: „Das Humanismusspiel der Kommunisten war nicht sehr elaboriert, aber effektiv. Weshalb sonst spricht man immer noch davon, dass die Grundidee des Kommunismus gut sei und nur die Durchführung Mist? Da war doch von Anfang an nichts Gutes. Der Kommunismus fußte auf Unmöglichem. Er basiert auf einem abstrakten Menschenbild. Mit demselben Erfolg hätte er sich ebenso für die Rettung der sechsflügeligen Seraphime einsetzen können.Ŗ9 Dieses abstrakte Menschenbild, das völlig einseitig bloß das Gute im Menschen wahrhaben wollte, bot auch die theoretische Grundlage dafür, in der Praxis alles zu unternehmen, um die menschliche Natur zu verändern und aus dem vorhandenen Menschen einen neuen zu machen Ŕ ein Vorhaben, das zwar von vornherein zum Scheitern verurteilt war, in seiner Durchführung jedoch unausweichlich zu Terror und zu Sadismus führen musste. Mit dem Anbruch der Perestrojka erkennt Erofeev einerseits die Chance auf ein realistisches Menschenbild gekommen, andererseits fürchtet er jedoch, dass neue Ideologien bzw. altgediente Kämpfer diesem nüchternen Blick nicht stattgeben werden: „Der Übergang von den ‚SechzigernŘ zur ‚Neuen WelleŘ in der Kultur fand seinen signifikanten Ausdruck in der Verschlechterung des Menschenbilds. Das Scheitern des Humanismus (des offiziell verordneten wie auch des ‚echtenŘ) führte zu einem gesunden Skeptizismus, zu einem Verständnis, dass das Böse im Menschen tiefer liegt Ŕ um mit Dostoevskij zu sprechen Ŕ als die ‚SozialistenmedizinerŘ und die überzeugten Demokraten gemeinhin annehmen, ganz tief, ganz unten, von wo uns zärtlich der in Mode kommende Marquis de Sade anblickt.10 […] Die älteren Kollegen haben heutzutage die Deutungshoheit, sind die Helden der Perestrojka. Ich freue mich für sie. Ich meinerseits werde allerdings die ‚vulgäre GemeinheitŘ weiter verfolgen. Ich befürchte, dass die älteren Kollegen unter dem

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Einfluss des Humanismus allzu blauäugig an die Demokratie glauben, und das wird schlecht enden.Ŗ11 Einer derartigen Blindheit hält Erofeev den Mut Dostoevskijs entgegen, der sich nicht scheute, der Tatsache menschlicher Abgründe ins Auge zu blicken und zu versuchen, damit auf irgendeine Art umzugehen.12 Literarische Verfahren und genremäßige Zuordnungen Um die Verquickung des sozialistischen Terrors mit dem inhärenten Moralismus der russischen Literatur erzählerisch zu gestalten, greift Erofeev in „Ņiznř s idiotomŖ zu elaborierten intertextuellen Bezügen. Er beschränkt sich dabei nicht nur auf die russische Literatur, hier allen voran Fedor Dostoevskij und Nikolaj Gogolř, vielmehr verknüpft er die Erzählung mit Werken und Autoren der Weltliteratur, speziell mit Marcel Proust, Dante Alighieri und Marquis de Sade. Dadurch durchbricht er den russischen Binnendiskurs und kann darüber hinaus auch die Vielfalt von ästhetischen Möglichkeiten andeuten, die Literatur jenseits von Moralismus und plakativem (Soz-)Realismus wahrnehmen kann. Erofeev bedient sich dabei der ganzen Bandbreite von intertextuellen Verfahren, seien es direkte oder indirekte Zitate, Allusionen und Paraphrasen sowie die Nennung von Werktiteln oder Schriftstellernamen. Gerne greift der Autor auch zu Parodie, Persiflage und Pastiche, wobei er bei letzterem Zitate aus literarischen Werken seinen Figuren als deren eigene Rede in den Mund legt. So verleiht der Erzähler an einer Stelle seiner Sehnsucht nach Vova auf folgende Weise Ausdruck: „Menschen, ich hatte euch lieb. Da gab es mal so eine Begebenheit. Vova, du meine Freude, wo bist du? Alles ist geplündert, Vova, alles ist verkauftŖ (15). Diese Passage ist eine einzige Aneinanderreihung von Zitaten, beginnend mit Julius Fuĉiks „Reportage unter dem Strang geschriebenŖ (verfasst 1942), dessen Zitat „Menschen, ich hatte euch lieb Ŕ seid wachsamŖ nicht nur auf seinem Denkmal in Berlin-Pankow steht, sondern auch von dem Liedermacher Aleksandr Galiĉ als Motto für das Lied „Priznanie v ljubviŖ (Liebeserklärung, 1972) verwendet wurde. Das nächste Zitat ist eine Paraphrase von „Missius, wo bist du?Ŗ aus Ĉechovs Erzählung „Dom s mezoninomŖ (Das Haus mit dem Mezzanin, 1896)13, und schließlich kommt noch Anna Achmatova mit dem Gedicht „Alles ist geplündert, verraten und verkauftŖ (1921) ins Spiel. Die Erzählung kann als eine Parabel gelesen werden, in der das vordergründige Geschehen eine symbolische Bedeutung erhält, die durch Allegoriebildungen dann noch zusätzlich unterstrichen wird. So handelt es sich bei der ermordeten Ehefrau um eine Personifizierung der modernistischen europäischen Literatur, die auf dem Ersten Schriftstellerkongress 1932 in der Grundsatzrede von Maksim Gorřkij verdammt und anschließend aus dem literarischen Leben eliminiert wurde. Konkrete Textsignale unterstützen diese Lesart; denn in der Erzählung wird darauf hingewiesen, dass die Frau eine begeisterte Proust-Leserin war und dass sie zudem ihr Mordwerkzeug, die Heckenschere, selbst aus dem Ausland mitgebracht habe. Eine solche zweite Ebene durchzieht die gesamte Erzählung und sorgt dabei für Witz, Ironie und satirische Spitzen. In diesem Sinne

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birgt die Heckenschere noch eine weitere Implikation, die zum Schmunzeln Anlass bietet: Das Gerät wird nämlich mit dem gängigen Diskurs verflochten, dass man in Russland gern alles Ausländische übernehme, sich dabei aber nur die äußere Form aneigne. Dementsprechend wird der westliche Import im Haushalt keineswegs zum Schneiden von Hecken verwendet, was in Russland keine kulturelle Tradition hat, sondern völlig zweckentfremdet eingesetzt, indem die Frau das Gerät zum Zerlegen des Wildbrets verwendet und der Idiot sogar zum Schneiden seiner Zehennägel.14 Ein anderes Beispiel für die Substitution einer literarischen Figur durch eine abstrakte Kategorie ist die erste Ehefrau des Erzählers, die, wie es im Text heißt, auch eine Liebhaberin von Proust war, jedoch infolge einer ansteckenden Kinderkrankheit verstorben sei. Die Frau mit dem vielsagenden Namen Maria kann durch den russischen Symbolismus bzw. generell die russische Moderne ersetzt werden, die sich mit Westlichem angesteckt hat und in der Blüte ihrer Jugend hinweggerafft wurde. Und der Fötus, den die zweite Ehefrau trotz ihrer amour fou mit dem Idioten abtreiben lässt, steht für das ungewollte Produkt einer Verbindung von Sozrealismus und modernistischen Schreibweisen. Ein solches Substitutionsprinzip liegt auch der Figur des Erzählers und der des Idioten zugrunde. Der Erzähler steht für einen Konvertiten, der ursprünglich revolutionäre bzw. dissidentische künstlerische Strömungen vertrat, um späterhin halb gezwungen, halb freiwillig den Weg der Anpassung zu beschreiten und bereit ist, dafür willig seine Frau zu opfern. Das heißt, für den neuen Glauben ist er bereit, seine früheren Überzeugungen über Bord zu werfen und auch sein positives Verhältnis zu modernistischen Ansätzen mit der damit verbundenen differenzierten Weltsicht zu beenden und eine neue Liaison einzugehen mit dem Idioten, sprich mit der totalitären Sowjetmacht und der damit verbundenen Sowjetliteratur als ihrem „kulturellen AusflussŖ. Vova ist jedoch eine Hybridfigur; denn er ist zugleich eine Personifizierung des von Ideologien missbrauchten Volksbegriffs (narodnostř), ein Dämon, der sich der sterblichen Überreste der Vorstellungen vom Volk bemächtigt. Derartige Verfahren einer Personifizierung von literarischen Strömungen oder von Weltanschauungen lassen die denotative Ebene und die Deixis auf die soziale Wirklichkeit in den Hintergrund treten, während eine betonte Mittelbarkeit und Stilisierung, wie man sie in den Bylinen (Heldensagen) oder im Lubok (Volksbilderbogen) vorfindet, an Bedeutung gewinnen. Wenn Vova beispielsweise im Anschluss an den Mord versucht, die Leiche der Frau auseinanderzureißen, dann erinnert das an die ritualisierte Kraftmeierei der Recken in den Heldensagen Ŕ ein Verfahren, das zugleich die zeitliche Tiefe der Erzählung bis ins Mittelalter, in die Zeit der alten Rusř, verlängert. Eine weitere Verwandtschaft lässt sich mit dem Figurenrepertoire der „SchaubudeŖ (Balagan) erkennen. Der Idiot zeigt eine Affinität zu Petruńka, einer Figur, die grob, gewalttätig und gemein ist, sich rüpelhaft und vulgär aufführt sowie auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckt. Für die Erzählung ist in diesem Zusammenhang auch noch relevant,

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dass Maksim Gorřkij, der Verkünder des Sozialistischen Realismus, in eben diesem Petruńka einen unverwüstlichen, positiv konnotierten Volkshelden sah. Aufgrund ihrer grotesken Komik unter Verwendung einer vulgären Sprache und satirischer Schreibweisen kann man die Erzählung auch als eine literarische Tragifarce betrachten und sich Irina Skoropanova anschließen, die das Werk und den Autor im Kontext der Postmoderne folgendermaßen beschreibt: „Sowohl die Macht als auch die Intelligencija sind bei Viktor Erofeev personifiziert, wobei ihre gegenseitige Beziehung als Tragifarce dargestellt wird, bei der das KomischAbsurde überwiegt.Ŗ15 Betont man in erster Linie diese Monstrosität des Dargestellten und den damit verbundenen Tabubruch, dann steht „Ņiznř s idiotomŖ in einer Reihe mit Werken von Jurij Mamleev oder Vladimir Sorokin, die alle damals zum Mittel des ästhetischen Schocks griffen, um so die Kehrseite der verordneten sozialistischen Harmonie darstellbar zu machen16 Ŕ alles Autoren, für die aber die naturalistische Darstellung von Erotik, von Sexualität oder Gewalt, ganz im Sinne von die „Welt als TextŖ, nur ein sprachliches Material, ein verbales Phänomen ist, das dafür verwendet wird, um Metaphern für den „sozialen Idiotismus, der in der Sowjetgesellschaft herrschteŖ, zu finden.17 Komposition Die Erzählung, die im Buch zwanzig Seiten umfasst, wird aus der Perspektive eines homodiegetischen Ich-Erzählers dargeboten. Dieser Erzähler, im Folgenden mit JA bezeichnet, das heißt mit der russischen Entsprechung von ICH, versucht die letzten Monate seit der Aufnahme des Idioten Vova im gemeinsamen Haushalt zu rekonstruieren Ŕ ein Unterfangen, das ihm bei fortschreitender geistiger Umnachtung nur mühsam und lückenhaft gelingt. Die Erzählung weist weder Zwischentitel noch andere optische Unterteilungen auf. Semantisch besteht sie aus zwei etwa gleich großen Teilen, die man in jeweils sechs Abschnitte unterteilen kann. Die Zäsur zwischen den beiden Teilen ist zugleich die Peripetie der Handlung, die mit zwei Sätzen signalisiert wird: „So also wurde Vova mein. Und nun, geneigter Leser, erzähle ich, wie ich sein wurdeŖ (15). Die Komposition der Erzählung wird im Folgenden entlang der syntagmatischen Achse erörtert, wobei aus den überreich vorhandenen intertextuellen Bezügen vor allem solche herausgegriffen und kommentiert werden sollen, die die Hauptthemen der Erzählung semantisch vertiefen. Erster Teil Im ersten Teil der Erzählung werden sowohl Beginn als auch Höhepunkt und Ende der Geschichte präsentiert. Der Leser erhält einen Eindruck vom mentalen Zustand des Erzählers, von dessen eigenartigen schriftstellerischen Versuchen sowie von seiner Wahl des für ihn „richtigenŖ Idioten. 1.118 Die Erzählung setzt mit einer Rückblende auf einen Tag im Januar ein, als JA und seine Intelligencija-Freunde auf die vermeintlich leichte Strafe an-

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stoßen (5): Einen Idioten bei sich aufzunehmen sei ja nicht so schlimm, und außerdem könne sich JA den Idioten auch noch selbst aussuchen. JA kann sich vorstellen, dass eine Art von Gottesnarr aus dem einfachen Volk der richtige Typ wäre, einer wie Marej Mareiĉ, wie er später präzisiert, wodurch er einen expliziten Bezug zu der Erzählung „Muņik MarejŖ (Der Bauer Marej, 1876) von Dostoevskij herstellt. Allerdings ahnt JA bereits, dass die Freiheit der Wahl letztlich nur eine scheinbare ist; denn er fühlt sich wie ein Luftballon, der an einem Jackettknopf festgebunden ist. Er ahnt auch, dass seine Freunde dabei sind, die Position zu wechseln und sich den Standpunkt „von obenŖ anzueignen: Sie sprechen die Vermutung und zugleich den Vorwurf aus, dass mangelndes Mitgefühl der Grund für seine Strafe sein könnte. Zu ergänzen ist, dass damit mangelndes Mitgefühl gegenüber dem Volk gemeint ist, ein Vorwurf, den seinerzeit Dostoevskij gegen die Intelligencija erhoben hatte, und der in der Sowjetzeit als „mangelnde VolkstümlichkeitŖ zum Arsenal der ideologischen Waffen gehörte. Wenn die Freunde von JA noch dazu in vorauseilendem Gehorsam nach einer Schuld für seine Strafe suchen und diese Schuld im mangelnden Mitgefühl vermuten, dann ist das nicht nur ein weiterer Bezug zu Dostoevskij, sondern auch ein Indiz dafür, dass die kritische Intelligencija der Sowjetzeit allzu bereit war, sich die Perspektive „von obenŖ zu eigen zu machen. 1.2 Eine neuerliche Rückblende ruft einen Tag im Mai auf, den letzten Tag des Zusammenlebens mit Vova, als dieser ins Zimmer gesprungen kommt, der Ehefrau den Kopf abschneidet und JA, dünn und nackt wie ein Kind, mit Tomatensaft bekleckert, den Vorgang in höchster sexueller Erregung miterlebt (7). Bei der Darstellung prallt völlig Inkommensurables aufeinander: einerseits die Ungeheuerlichkeit des Vorfalls, verbunden mit einer abstoßenden Art der Körperlichkeit, und andererseits Triviales, wie die Bemerkung, dass keine Hausfrau es gutheißen würde, wenn man ein solches Gerät zum Schneiden der Zehennägel verwendet Ŕ so, als ob das der Grund für die Hinrichtung gewesen wäre. 1.3 In der Erzählgegenwart verzehrt sich JA voller Sehnsucht nach Vova und beteuert, dass er sich als dessen Sohn fühle (7). Über seinen aktuellen Aufenthaltsort ist sich JA nicht ganz im Klaren. Er meint, dass ihn ein gewisser Craig Benson als seinen Idioten zu sich genommen habe, ihn misshandelt und schlägt, und Ŕ wie später noch ergänzt wird Ŕ darauf besteht, dass JA nun wieder schriftstellerisch tätig sei, und zwar auf die „richtigeŖ Art und Weise. Zugleich aber scheint JA noch im selben Irrenhaus einzusitzen, aus dem er Vova „befreitŖ hatte. Mit dem Aufenthalt im Irrenhaus wird ein intertextueller Bezug zu Nikolaj Gogolřs „Zapiski sumasńedńegoŖ (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, 1835) hergestellt. Wie erinnerlich, befindet sich der dortige Ich-Erzähler auch in einer solchen Anstalt, was er jedoch nicht wahrhaben will, weil er überzeugt ist, König Ferdinand von Spanien zu sein; und wenn man ihn schlägt und ihm kaltes Wasser auf den Kopf gießt, dann sieht er, in Verkennung der Lage, die Inquisition am Werk.

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1.4 Als Probe seines schriftstellerischen Könnens will JA vom „schönen LebenŖ erzählen (8). Er holt zu einem erweiterten Vergleich aus und zieht Parallelen zwischen dem Schaukampf sich aufplusternder Gimpelmännchen und dem Gehabe zweier sowjetischer Werkhallenleiter, die aufeinander losgehen. Mit einer bloßen Handbewegung kann der Direktor Ŕ sprich die Macht von oben Ŕ dem Geschehen jedoch Einhalt gebieten. Daraufhin lassen die Kampfhähne sofort voneinander ab, ordnen sich wieder in die Zielvorgaben des Kollektivs ein und erfüllen ihre Aufgaben Ŕ sprich, sie werden willige Erfüllungsgehilfen der Macht. Bei der Darstellung dieses Abschnitts kommt erneut Nichtkompatibles nebeneinander zu stehen: Der Grundton des Gleichnisses ist der einer lieblichen Pastorale mit Vögelein und Wäldchen, was inhaltlich und sprachlich durch Misstöne konterkariert wird: vom Himmel fallende erfrorene Vogelleichen, Tannenzapfen, die wie Hundescheiße (sic!) aussehen, und Vögel, die dem begeisterten Betrachter die Augen auspicken. Mehrere Textsignale Ŕ etwa der Hinweis auf die klirrende Kälte, die erfrorenen Körperlein und vor allem der widersprüchliche Stil Ŕ verweisen auf Dostoevskijs Erzählung „Malřĉik u Christa na elkeŖ (Der Knabe bei Christus zur Weihnachtsfeier, 1876) mit ihrem unauflösbaren Oxymoron von religiösem Idealismus und dem sozialen Naturalismus der Darstellung eines Buben, der mitten in der pulsierenden Stadt dem Erfrierungstod preisgegeben wird. Durch die Transposition in den sowjetischen Kontext wird daraus einerseits eine Ekloge im Stil des Sozrealismus, und andererseits wird Jesus durch den Direktor ersetzt, also das religiöse Heilsversprechen durch das säkular-profane des Sowjetregimes. 1.5 JA ist mit dem Erinnerungsprozess beschäftigt (9). Er ringt um die Rekonstruktion der Ereignisse und ist, ähnlich wie der Ich-Erzähler bei Proust, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. So stückweise, wie dies auch in Dostoevskijs Erzählung „Muņik MarejŖ der Fall ist, werden bei JA einzelne Szenen lebendig. Er erinnert sich, dass er sich ursprünglich einen Idioten wie diesen Marej Mareiĉ gewünscht hatte, also einen gütigen Bauern, den er im Mörser zerstampfen wollte, um daraus das Elixier zu gewinnen, das ihm den Weg in die Literatur ebnet; er wollte also sozusagen auf der Schiene des Moralismus durch das Nadelöhr schlüpfen, um in der „richtigenŖ Literatur anzukommen. Den Weg eines befreundeten Schriftstellers, der Religiöses und Sowjetisches zusammenreimte, wollte er allerdings vermeiden; denn da war selbst ihm schon bei einer Leseprobe schlecht geworden. Da in der Erzählung häufig das Verfahren einer Projektion von Abstraktem auf Körperliches angewandt wird, wie auch das Beispiel mit dem Mörser zeigt, wird dieses Erbrechen noch zusätzlich mit dem Genuss von Alkohol und „DonausalatŖ, also von Kraut und Rüben, das heißt von völlig Unvereinbarem, motiviert. JA erinnert sich weiter, dass er bereit war, auszurasten und auf die Schnauze zu fallen, und dass, genau betrachtet, eigentlich alles nach Wunsch geschehen sei, ganz nach dem Motto „nach meinem Willen seiřsŖ. Dieses Zitat verweist auf das bekannte russische Märchen „Po ńĉuĉřemu velenijuŖ (Auf des Hechtes Ge-

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heiß), in dem der Held Emelja, der dümmste und faulste Sohn von dreien, einen gefangenen Hecht frei lässt und fortan mit Hilfe des Zauberspruchs „Auf des Hechtes Geheiß, nach meinem Willen seiřsŖ, alles im Leben ohne Anstrengung erreicht. Und JA glaubt in seiner Erzählgegenwart durchaus glücklich zu sein, obwohl er vorerst noch damit beschäftigt ist, seine Knochen und die von Craig ausgeschlagenen Zähne zusammenzusuchen. 1.6 Die Erinnerung an jenen Schicksalstag, als er seinen Idioten auswählte, führt JA in den schummrig-roten Keller des Irrenhauses (11). Diese Szene weist inklusive des wiederholt erwähnten herrschenden Gestanks deutliche Bezüge sowohl zu Dantes Hölle als auch zu Dostoevskijs Erzählung „BobokŖ (Bobok, 1873) auf. In Begleitung eines Wärters beobachtet JA dort verschiedene Typen von Irren. Dabei fällt ihm zuerst ein etwa dreißigjähriger Insasse auf, der höhnisch im Falsett das Lied „Auf dem Felde eine Birke stand, eine lockige Birke lu-li, lu-li, lu-liŖ singt. Der Wächter warnt ihn jedoch vor diesem Typen. Er sei bissig Ŕ und wirklich verpasst er JA, ehe der sichřs versah, einen Biss in die Ferse. Derselbe Insasse wird zum Schluss noch einmal erwähnt. JA glaubt sich in ihm selbst zu erkennen. Er sieht sein alter ego aus der Zeit, als er noch als bissiger Spötter über die Einfalt des Sozialistischen Realismus und seiner verordneten Volkstümlichkeit hergezogen war. Einen Marej Mareiĉ kann JA unter den Typen zwar nirgends entdecken, aber er trifft dennoch eine Wahl, mit der er ganz zufrieden ist: Ein recht ordentlich aussehender Insasse, mit Glatze, gepflegtem Spitzbart und Schnauzer, einer, der aussieht wie ein Provinz-Professor und Ŕ wie später zu erfahren ist Ŕ mit baschkirischen Gesichtszügen. Wichtig für JA ist, dass dieser Typ phantasiebegabt zu sein scheint, und der Wächter preist ihn als fügsam und gescheit an, obwohl er weder seinen Namen nennt noch irgendein Wort außer „Ach!Ŗ äußert. Die Beschreibung dieser Figur mit dem Vornamen Vova drängt auf jeden Fall den Bezug zu Vladimir Lenin auf, wobei die Figur aber noch breiter angelegt ist. Die Barttracht trifft auch auf Feliks Dzerņinskij zu, zu dem in der Erzählung später ein intertextueller Verweis führt. Dieser Berufsrevolutionär, unter den Bolschewiken zuständig für das Umerziehungsprogramm verwahrloster Kinder, blieb vor allem als Leiter der Geheimpolizei in Erinnerung; denn in dieser Funktion übte er schon in den frühen zwanziger Jahren einen abschreckenden Terror aus. Darüber hinaus ist Vova die Personifizierung der Lehre des Marxismus-Leninismus und steht außerdem für das Kesseltreiben gegen alles Ausländische, das seit Stalin als Druckmittel eingesetzt wurde und von dem Literatur und Kultur nicht ausgenommen waren. Zweiter Teil Der zweite Teil der Erzählung konzentriert sich auf die Ereignisse während der Zeit, in der das Ehepaar mit Vova zusammenlebt. In chronologischer Reihenfolge werden die Eskalation der Gewalt und der uneingeschränkte Sieg Vovas im Kampf um die Vorherrschaft dargestellt, der zugleich ein Sieg der nackten Krea-

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türlichkeit über das Wort und das Argument ist; denn Vova hat seinem „AchŖ im Verlauf der Erzählung nichts hinzuzufügen. Die einzelnen Etappen der Eskalation und der dazwischen liegenden scheinbar ruhigeren Phasen lassen sich auf einer zweiten Ebene als eine Chronologie des zunehmenden Drucks lesen, der von der Sowjetmacht ausgeübt wurde, um sämtliche literarischen Richtungen gleichzuschalten und den Sozialistischen Realismus als die einzige verbindliche „MethodeŖ zu etablieren. In der Erzählung finden sich Bezüge zu der Anfangsphase nach der Revolution, als sich die Politik kaum um die Literatur kümmerte, und auch zur „Neuen Ökonomischen PolitikŖ in den frühen zwanziger Jahren, als sich noch eine relativ breite Palette von Gruppen halten konnte. Ab 1925 wurde aber der Druck erhöht, und die Partei setzte unter der Losung „Es kann keine neutrale Kunst gebenŖ strikte Richtlinien, wobei die sogenannten „MitläuferŖ (poputĉiki) noch geduldet wurden. 1932 erfolgte dann die Auflösung aller künstlerischen Vereinigungen und 1934 auf dem Ersten Schriftstellerkongress die Proklamation des Sozialistischen Realismus und der Ausschluss aller anderen Richtungen, deren Vertreter seit 1936, als der „Große TerrorŖ begann, umgebracht, eingesperrt oder anderwärtig mundtot gemacht wurden. 2.1 Während der ersten Wochen verläuft das Zusammenleben der drei Personen ruhig (15). Im Gegensatz zu seiner Frau, die über die Wahl Vovas anfänglich entsetzt ist und sein Äußeres abstoßend findet, vermag JA an seinem Idioten nichts auszusetzen, obwohl ihm beim Spaziergang nicht verborgen bleibt, dass dessen scharfer Blick die Passanten erschreckt. 2.2 Eines Tages beginnt Vova seine Grenzen zu erweitern (16): Er leert den Inhalt des Kühlschranks auf den Fußboden und stopft alles Essbare in sich hinein. Weder Vorhaltungen noch Drohungen können ihn aufhalten. Er fängt an Bücher zu zerreißen, beginnend mit den gesammelten Werken von Proust. Er zerstört Möbel, verschmiert seinen Kot auf dem Teppich, spaziert nackt in der Wohnung herum, zeigt sein übergroßes rotes Gemächt und onaniert. Das Stichwort „nackt ausziehenŖ führt ein weiteres Mal zu Dostoevskijs „BobokŖ. Der dortige Ich-Erzähler, der dem Alkoholkonsum nicht abgeneigt ist, vernimmt aus den Gräbern am Friedhof die Stimmen der Verstorbenen, die vorschlagen, sich zu entblößen und nackt zu zeigen, das heißt, jegliche Scham und alle Hemmungen und Rücksichten über Bord zu werfen. Die Kriegserklärung und die Morddrohung von JA gehen ins Leere; denn Vova steigert seine obszönen Aktivitäten daraufhin nur noch mehr. Er zerstört das Telefon und unterbricht so den Kontakt zur Außenwelt. Das Ehepaar verbarrikadiert sich im Schlafzimmer, verliert sozusagen an Terrain, und das zum Teil auch deshalb, weil sie untereinander streiten und sich über das weitere Vorgehen nicht einigen können Ŕ ein Seitenhieb auf das Verhalten der verschiedenen literarischen Gruppierungen im Vorfeld des Ersten Schriftstellerkongresses. Als JA das Geheule und Gestöhne Vovas nicht mehr aushält, die Tür zum Wohnzimmer aufreißt und dem Idioten erneut droht, ihn umzubringen, stößt dieser ihn heftig zur Seite und vergewaltigt die Ehefrau.

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In diesem Abschnitt ist der intertextuelle Bezug zur Heldensage „Aleńa Popoviĉ i Tugarin ZmejŖ (Aleńa Popoviĉ und der Drachensohn Tugarin) von Bedeutung. Dort erzwingt Tugarin, der mongolische Tyrann, vom Fürsten Vladimir und seiner Tafelrunde ein Gastmahl, bei dem er frisst, säuft, schlürft, schmatzt, furzt und rülpst und mit seinem Gehabe zu erkennen gibt, dass er Unterwerfung einfordert und jederzeit zu weiteren Eskalationen bereit ist. Der Bezug zu dieser Byline wird noch dadurch untermauert, dass die Ehefrau, die schon die baschkirischen Gesichtszüge Vovas erwähnenswert fand (14), Parallelen zum Verhalten der Großfürstin Apraxia aufweist, wobei in der folgenden Szene auch das Bratenmesser und die Heckenschere intertextuelle Beziehungen aufweisen: „Die Dienstleute trugen Gesottenes und Gebratenes herein. Ganz zuletzt brachten sie auf einer Schale einen stattlichen Schwan. Apraxia, die Fürstin, nahm ein silbernes Messer zur Hand, um den Braten zu zerlegen. Sie war dem Drachensohn zugetan und wollte ihm eigenhändig das Mahl bereiten. Helles Rot ergoß sich über ihre Wangen. Wie gebannt hing ihr Blick an Tugarin. So achtete sie nicht darauf, was sie tat, und schnitt sich in den Finger. Schnell versteckte sie die Wunde unter dem Ärmel und sprach: ‚Was lacht ihr so hämisch, ihr Fürstinnen und Bojarinnen? Habt ihr noch nie um den Liebsten gebangt und darüber den Schmerz vergessen?Ř Während sie noch sprach, packte Tugarin den Schwan mit seinen klobigen Händen und nahm ihn unzerteilt zwischen die Zähne. Grauenerregend mahlten seine Kinnladen. Er schob den mächtigen Vogel von einer Backe in die andere, schmatzte und rülpste, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Dazu verschlang er drei Brotlaibe und goß drei Eimer Wein in sich hinein. Die Knochen des Schwans spuckte er auf den Teppich.Ŗ19 Und so wie JA gegen Vova stößt auch Aleńa Popoviĉ wilde Drohungen gegen den Tyrannen aus, die er dann allerdings Ŕ im Gegensatz zu JA Ŕ in die Tat umsetzen wird: „Großfürst von Kiew, was duldest du unter deinem Dach solche Unverschämtheit? Siehst du nicht, wie sich der Vielfraß an deinem Brot, an deinem Wein ergötzt, wie er sich mästet und dir Schimpf antut? Hast du dich mit der Fürstin entzweit, daß dieses Scheusal es wagt, sich zwischen euch zu setzen? Den Kopf würde ich dem fetttriefenden Dickwanst abschlagen!Ŗ20 Aleńa droht Tugarin, ihn so zu behandeln wie den alten Ochsen seines Vaters: „Ich packte den Kadaver am Schwanz und warf ihn in hohem Bogen zum Tor hinaus.Ŗ21 Und als ihn Tugarin wegen seiner Frechheit zur Rede stellt, meint er: „Ich bin weder ein Wicht noch jämmerlich. Ich bin der tapfere russische Recke Aljoscha PopowitschŖ22 Ŕ ein intertextueller Bezug, der als satirische Spitze gegen die Selbstüberschätzung der Intelligencija zu lesen ist. 2.3 Zwischen Vova und der Ehefrau entwickelt sich ein sadomasochistisches Verhältnis (19). Die beiden beziehen das Schlafzimmer, und JA muss sich mit dem Sofa im anderen Zimmer begnügen. Trotz solcher gewöhnungsbedürftiger Umstände verläuft der Alltag der drei in relativ ruhigen Bahnen. Doch mit dem anbrechenden Frühling fängt Vova an, auch JA zu bezirzen. Er bringt ihm häufig Blumen mit, deren Aufzählung und Beschreibung an Passagen in Prousts „Une fête littéraire à VersaillesŖ (Ein literarisches Fest in Versailles, 1894) erinnert.

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In dieser Phase wird ein neuer Proust besorgt und für Vova ein ungarischer Popelinemantel erstanden, wobei Proust und Ungarn Indikatoren für das Tauwetter nach Stalins Tod sind, das einerseits gewisse Lockerungen im Literaturbetrieb brachte und andererseits 1956 die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands. 2.4 Die Frau ist schwanger und Vova voll Vorfreude auf sein Kind (20). Sie liebt Vova, kann selbst schon perfekt „AchŖ seufzen und ist eifersüchtig auf JA. Als sie dennoch eine Abtreibung der Leibesfrucht durchführen lässt, wird sie von Vova verprügelt, und dieser wendet sich in seiner Gunst jetzt ausschließlich JA zu. JA empfindet diese Beziehung als beglückend und den Geschlechtsverkehr mit Vova als eine ersehnte Vereinigung wie die von Vater und Sohn. Dem Leser teilt JA recht unflätig mit, dass ihm sein Urteil fortan egal sei und dass er sich an seinem Glück weiter vollfressen wolle. 2.5 Die Frau lässt ihrer Eifersucht freien Lauf und beginnt sich so zu verhalten wie noch unlängst Vova (23): Sie zerreißt die Werke von Proust, der in der Erzählung hiermit das neunte Mal erwähnt wird, zerstört Einrichtungsgegenstände, verschmiert ihren Kot auf dem Teppich und gibt den beiden Männern nichts zu essen. Die beiden verprügeln sie in Eintracht und mit Genuss. Als die Frau eine endgültige Entscheidung Ŕ „er oder ichŖ Ŕ herbeiführen will, verspricht sie, erneut ein Kind zu gebären. Aber JA kontert, indem er sich selbst als Sohn andient. Vova überlegt nur kurz und kommt dann mit der Heckenschere. 2.6 Der Erinnerungsprozess von JA wird zunehmend immer verworrener, er sieht sich nach dem Mord im Zug nach Charřkov sitzen, und seine gegenwärtige Situation ist ihm, wie erwähnt, nicht mehr ganz einsichtig (25). Nur die Vorgänge von damals sind ihm noch in lebhafter, glücklicher Erinnerung: als Vova versuchte, die Leiche auseinanderzureißen, sich dabei sexuell an ihr verging und sie anschließend wie eine „importierte PuppeŖ in den Müllschlucker warf. JA verzehrt sich in Sehnsucht nach Vova: „Craig Benson wählte mich aus, der falsche Ausländer. Statt Diplomatenimmunität bot er mir Knute und Ordnung. Dank sei ihm! Ich beginne wieder die Feder zu beherrschen. Ich schreibe über dich, Vova. Mein Vova! Meine Strafe! Gebt mir meine Strafe zurück! Und falls er gestorben ist, sagt mir, wo sein Grab ist. Ich bringe ihm einen Armvoll Frühlingstulpen. Wir sind ein Denkmal Vova, zerstört von feindseligen Wirbelstürmen. Ich höre den Schwanengesang auf meine RevolutionŖ (26). Mit diesen Worten wird über intertextuelle Bezüge noch einmal der Bogen von den frühesten Jahren der Sowjetmacht bis zur Erzählgegenwart gespannt. Das Stichwort „DenkmalŖ führt zum Gedicht „JubilejnoeŖ (Zum Jubiläum, 1924) von Vladimir Majakovskij, der als Vertreter der Avantgarde die Revolution begeistert begrüßte und zu denen gehörte, die meinten, dass Vova der Ihre werden würde. Die „feindseligen WirbelstürmeŖ führen zu Gleb Krņiņanovskij, einem Revolutionär, der 1895 im zaristischen Gefängnis ein Lied mit diesem Titel zur Melodie des polnischen Revolutionslieds „WarschawjankaŖ verfasst hatte. „Vichri vraņdebnyeŖ (Feindselige Wirbelstürme) wurde dann 1953 auch von Michail Kalotozov als Titel für sei-

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nen Film über Feliks Dzerņinskij verwendet. Mit der Zeile „Ich höre den Schwanengesang auf meine RevolutionŖ schließt die Erzählung, auf die Metal-PunkGruppe Crazy Bluzz und deren gleichnamiges Lied verweisend, in dem bedauert wird, dass alle Revolutionen zu einem Ende gekommen seien und man sich schon nach dem nächsten Projekt sehne. Und dieses nächste Projekt scheint mit der Figur des Craig Benson, dem „falschen AusländerŖ, eingeleitet zu sein, der mit Fußtritten und Schlägen darauf schaut, dass der Schriftsteller in Zeiten von wirtschaftlichem und ideologischem Umbruch neuerlich systemkonform produziert. „So ein ambivalenter Alter“, oder die zwei Seiten einer Medaille Die Analyse entlang der syntagmatischen Achse hat gezeigt, dass die Erzählung „Ņiznř s idiotomŖ gewisse Verfahren aufgreift, die auch zum bevorzugten Repertoire Dostoevskijs gehören. Dazu zählt vor allem der Zusammenprall von Gegensätzen, die sich letztlich aber nicht als Unvereinbarkeit, sondern als zwei Seiten derselben Medaille erweisen. Diese für die Erzählung so zentrale Darstellungsabsicht soll im Folgenden näher betrachtet werden. Wie erwähnt, stellt sich JA als seinen idealen Idioten einen Gottesnarren vor, wobei gleich bei der ersten Erwähnung wichtige Textsignale geliefert werden: sein volkstümliches Wesen und die Möglichkeit, dass neben Gott auch der Teufel die Hand im Spiel haben könnte: „Ich träumte von einer ganz anderen Art der Pathologie Ŕ von einem seligen Gottesnarren, volkstümlich in Form und Inhalt. […] Trinkt Tee und knabbert eingetunkte Zuckerstückchen dazu, das Antlitz ist licht und rein, und wenn ihn ein Anfall von Irrsinn überkommt, dann ist es der Teufel, der ihm den Verstand trübt. So ein ambivalenter Alter. Man hat wenig Scherereien mit ihm, und ehe man sichřs versieht, ist er auch schon gestorbenŖ (6). Mit dem Gottesnarrentum (jurodovstvo), das im russischen Volksglauben eine große Rolle spielt, kommt eine ganze kulturelle Schicht ins Spiel. Solche „jurodivyeŖ galten als Stimme der Wahrheit und des Volkes und fanden ihren Niederschlag in zahlreichen literarischen Werken, so zum Beispiel in Aleksandr Puńkins Tragödie „Boris GodunovŖ (1825) oder in dem Gedicht „VlasŖ (1873) von Nikolaj Nekrasov. In den Romanen Dostoevskijs trifft man auf eine ganze Palette von einschlägigen Figuren, wie etwa Sonja Marmeladova in „Prestuplenie i nakazanieŖ (Verbrechen und Strafe, 1866), Fürst Myńkin in „IdiotŖ oder Marřja Lebjadkina und Semen Jakovleviĉ in „Bratřja KaramazovyŖ (Die Brüder Karamazov, 1881). Für Dostoevskij war die Figur des Gottesnarren ein Gegenentwurf zu Positivismus und Wissenschaft, den dominanten Strömungen seiner Zeit, denen er skeptisch, ja ablehnend, gegenüberstand. Er befürchtete, dass, wenn Gott als Anker von Moral und Ethik wegfällt und durch den selbstermächtigten Menschen ersetzt wird, dies zu katastrophalen Zuständen führen würde. Das Gottesnarrentum ist ein Phänomen der Orthodoxen Kirche und war in Russland im 19. Jahrhundert sehr stark verbreitet. Es wird als ein Weg zur Heiligkeit gesehen, und zwar als einer, der der Weisheit entgegengesetzt ist und statt-

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dessen auf Körperlichkeit baut. Für Vova trifft das insofern zu, als ausschließlich seine Körperlichkeit zählt, während sich seine Weisheit und seine Weissagungskraft auf „AchŖ beschränken. Dabei ist aber völlig klar, dass sein Weg zum Heiligen führt, wenn auch zu einem säkularisierten Heiligen, das sich im Sinne Gorřkijs und seines sozialistischen Übermenschen selbst als oberste Instanz installiert. Ein Gottesnarr entsagte ferner allen irdischen Gütern und Bequemlichkeiten und wanderte barfuß, nur leicht oder gar nicht bekleidet durch das Land, wobei er sich oft noch mit Ketten beschwerte. Neben der konventionellen Kleiderordnung verletzten „jurodivyeŖ häufig auch andere gängige Vorstellungen von Moral oder Ästhetik, stießen wüste Beschimpfungen aus, wurden gegen Passanten tätlich oder bewarfen sie mit Schmutz Ŕ lauter Komponenten, die sich im Benehmen von Vova wiederfinden. Einer der bekanntesten russischen Gottesnarren war Vasilij Blaņennyj, nach dem die Basiliuskirche mit ihren Zwiebeltürmen auf dem Roten Platz in Moskau benannt ist. Zu ihm führt in den Überlegungen von JA ein Hinweis, wenn es heißt: „Na ja, vielleicht war mein Ideal auch nicht ganz auf meinem eigenen Mist gewachsen Ŕ da gab es natürlich Anleihen: Die Kirchenvorhalle in Zagorsk schwebte mir vor Ŕ na ja, wir alle trinken eben seit früher Kindheit dieselbe literarische MilchŖ (6). Die „Kirchenvorhalle in ZagorskŖ ist der Ort, wo Vasilij Blaņennyj der Legende gemäß zur Welt kam. Dieser Vasilij, der splitternackt in der Welt umherzog, erlangte vor allem dadurch Berühmtheit, dass ihn sogar Zar Ivan IV., der „SchrecklicheŖ (Groznyj), fürchtete und beim Begräbnis des Heiligen gemeinsam mit dem Metropoliten den Sarg zu Grabe trug. In „Ņiznř s idiotomŖ spielt eines der Wunder des Vasilij hinein, da es die vexierbildartige Verflechtung von Göttlichem und Dämonischem gut veranschaulicht und damit eines der Hauptthemen der Erzählung auf den Punkt bringt: Vasilij zerschlug mit einem Stein die Muttergottesikone am Barbara-Tor (Varvarinskie vorota) in Moskau. Als die Pilger wütend über ihn herfielen und ihn halb tot schlugen, riet er ihnen, die Bildfläche abzukratzen, um zu entdecken, dass sich unter dem Antlitz der Gottesmutter eine Teufelsfratze verbarg. Im russischen Volksglauben sind derartige Ikonen Teil der Schwarzen Magie; denn wer vor einer solchen Ikone sein Gebet verrichtet, wendet sich nicht an Gott, sondern an den Teufel, und das Gebet erzielt den gegenteiligen Effekt. Dass Vova eben ein solches zweites, satanisches Gesicht hat, wird von den Passanten auf der Straße sehr schnell erkannt. JA als jemand, der die Revolution begrüßt und Vova vor allem den Mann aus dem einfachen Volk sehen will, kann und will diese satanische Seite nicht wahrhaben: „Um Vova die Schlaflosigkeit zu nehmen, ging ich mit ihm abends in den verschneiten Seitenstraßen spazieren. Vova sah die Passanten scharf an. Die reagierten irgendwie erschrocken auf ihn, wichen aus, drehten sich dann nach ihm um. Bestürzte, ja von Panik erfasste Gesichter. Was war da los? Wodurch irritierte Vova den gleichmütigen abendlichen Bürger. Ich verlor mich in Vermutungen. […] Aber warum wussten die Passanten mehr,

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warum zuckten sie beim Anblick von Vova zusammen, als ob ihnen seine Visage bekannt vorkäme und sie damit üble Erinnerungen verbänden? Ich verstand überhaupt nichtsŖ (16, 18). JA wird in seinen Überlegungen, wie denn „seinŖ Gottesnarr beschaffen sein soll, dann ganz konkret und wünscht sich, wie erwähnt, einen Marej Mareiĉ. In der Erzählung von Dostoevskij erinnert sich der dortige Ich-Erzähler an eine Begebenheit in seiner Kindheit, als ihm, dem Herrensöhnchen, der Leibeigene Marej Mareiĉ tröstend und beruhigend zur Seite sprang. Das Kind vermeinte, von einem Wolf verfolgt zu werden, und warf sich voll Panik in die Arme des Bauern: „Ich erinnerte mich an dieses zärtliche, mütterliche Lächeln des armen leibeigenen Bauern, an sein Bekreuzigen, sein Kopfschütteln, ‚Isř gut, bist ein tapferer Bursch!Ř und ganz besonders an seinen dicken, erdbeschmierten Finger, mit dem er so behutsam, so schüchtern meine zuckenden Lippen berührt hatte. Natürlich hätte jeder dem Kind Mut zugesprochen, aber damals, bei dieser einsamen Begegnung, schien noch etwas anderes geschehen zu sein. Wäre ich sein eigener Sohn, hätte sein Blick nicht liebevoller und strahlender sein können, aber was brachte ihn dazu? […] Wir begegneten einander unter vier Augen auf offenem Feld, und Gott alleine sah vielleicht von oben, mit welch tiefem und delikatem menschlichen Gefühl, und mit welch feiner, nahezu mütterlicher Zärtlichkeit das Herz manches rohen, barbarisch ungebildeten russischen Bauern erfüllt sein kann, der damals von einer Befreiung noch nicht einmal träumte.Ŗ23 Dostoevskij war trotz seiner Idealisierung des Volks nicht blind gegenüber der Tatsache, dass das russische Volk in seinem alltäglichen Verhalten keineswegs diesem Idealbild entspricht, und er bringt diese andere Seite auch in „Muņik MarejŖ zum Ausdruck. Dort erinnert sich der Ich-Erzähler noch an einen ganz anderen Vorfall, und zwar aus der Zeit, als er zu einer Strafe im Zuchthaus eingesperrt war. An einem der seltenen Feiertage schlugen Häftlinge alkoholisiert, grundlos und emotionslos zu sechst auf einen Mithäftling ein, bis er leblos liegenblieb. Der Erzähler hält das Zuschauen nicht aus, er flüchtet zuerst ins Freie und danach in seine Schlafkoje, aber dessen ungeachtet empfiehlt er Ŕ durchaus im Einklang mit Positionen des Autors Ŕ, dem Volk zu verzeihen, seine positiven Seiten zu sehen, da es sich ja noch auf einer kindlichen Stufe der Entwicklung befinde. Diese Position untermauert Dostoevskij in seinem Artikel „O ljubvi k narodu. Neobchodimyj kontrakt s narodomŖ (Von der Liebe zum Volk. Der notwendige Vertrag mit dem Volk, 1876). In diesem Artikel, der in derselben Nummer von „Dnevnik pisateljaŖ (Tagebuch eines Schriftstellers) erschien wie „Muņik MarejŖ, meint er: „Im russischen Menschen aus dem einfachen Volk muss man unter der Kruste der Barbarei seine Schönheit erkennen können.Ŗ24 In Dostoevskijs Auffassung vom Volk ist das Doppelgesicht von Marienbildnis und Teufelsfratze zu erkennen. Erofeev bezieht sich mit der Figur des Wärters auf diese Doppelgesichtigkeit, wobei er zusätzlich noch den Willen zur Macht betont, der dem Volk innewohnt. Der Wärter verhält sich gegenüber JA grob und unwirsch und begrüßt ihn mit einer alkoholgeschwängerten Fluchkanonade (16).

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Andererseits beschützt er ihn vor den Angriffen der Insassen, vor allem als JA von dem jungen Mann gebissen wird und sich mit demselben Aufschrei in die Arme des Wärters wirft wie der kleine Junge in „Muņik MarejŖ. Gegenüber den Insassen zeigt der Wärter jedoch seine Machtgelüste: Er traktiert sie mit Fußtritten und Prügeln und genießt es, wenn ihn seine Schutzbefohlenen fürchten. Mit dieser Figur tritt Erofeev in einen direkten Dialog mit Dostoevskij, der die Intelligencija zu Demut vor dem Volk aufgefordert hatte: „Ich glaube nämlich, daß wir Intellektuellen kaum so gut und vortrefflich sind, um uns als Ideal vor das Volk hinstellen und von ihm ohne weiteres verlangen zu können, daß es gerade so werde, wie wir sind. Wundern Sie sich nicht über die Frage [die bei uns nie anders gestellt wird]: ‚Wer ist besser Ŕ wir oder das Volk? Sollen wir uns nach dem Volke richten oder das Volk sich nach unsŘ? Das ist die Frage, die uns jetzt alle beschäftigt, wenigstens diejenigen unter uns, die nicht aller Gedanken bar sind und die Sache des russischen Volkes in ihrem Herzen tragen. Denen kann ich auch aufrichtig antworten: daß wir uns vor dem Volke beugen müssen und von ihm alles zu erwarten haben, unsere Gedanken und Vorstellungen, daß wir uns vor der Wahrheit des Volkes beugen und sie als unsere Wahrheit anerkennen müssen, selbst in dem Fall, wenn sie zum Teil aus dem Leben der Volksheiligen käme.Ŗ25 Dostoevskijs Frage „Wer ist besser Ŕ wir oder das Volk? Sollen wir uns nach dem Volke richten oder das Volk sich nach uns?Ŗ wird bei Erofeev also auf der Ebene von JA und dem Wärter angesprochen und dabei keineswegs als gedeihliche Variante für die Intelligencija gesehen. Das Verhalten des Wärters kann vielmehr als späte Rache des Volkes an der Intelligencija interpretiert werden; denn schließlich ist es der Wärter, der die Wahl von Vova schmackhaft macht, wohl wissend, was er da anpreist: „ ‚Mach den Mund auf Ř, befahl der Wärter. Vova blieb stehen und machte bereitwillig den Mund auf. ‚FügsamŘ, nickte der Wärter beifällig. ‚Fügsam und verständigŘ. ‚Wie hast du das festgestellt?Ř fragte ich und schaute dem Träumer ebenfalls in den Mund. ‚Wie ich das festgestellt habe? Ganz einfach. Du siehst ja, er hat den Mund aufgemacht.Ř ‚Wie ist Ihr Vor- und Vatersname?Ř fragte ich höflich den Träumer. ‚Ach!Ř, seufzte der Träumer, als klagte er über die Last des Lebens im trüb-rötlichen Licht. Er war hinreißend kahlköpfig. ‚Na ja, hat er halt vergessenŘ, verteidigte ihn der Wärter. ‚Wird ihm schon wieder einfallen. Kann ja mal vorkommen. Hat er halt vergessen…Ř ‚Ach!Ř seufzte der Träumer wieder. ‚Er ist wohl nicht sehr redseligŘ, meinte ich zum Wärter. ‚Das kommt schon nochŘ, versprach der. ‚Ich kenne ihn. Wie der manchmal gescheit redet. Über ganz hohe Materien. Da bist du richtig hin und weg.Ř So ein Schlawiner, dieser Wärter! Er wusste, womit er mich kaufen konnte! So ein Schlawiner…Ŗ (14 f.). Dostoevskijs Ansatz, „dass wir uns vor der Wahrheit des Volkes beugen und sie als unsere Wahrheit anerkennen müssenŖ, impliziert, mit den Augen Erofeevs gelesen, dass die Intelligencija ihr Gemüt in ein so kindliches verwandeln müsse, wie es das des Volkes ist. In Abwandlung des Gleichnisses vom Nadelöhr, auf das in dieser Erzählung angespielt wird, geht eher ein Kamel durch ein

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Nadelöhr, als dass ein Reicher Ŕ in diesem Fall ein an Geist Reicher Ŕ in das Reich Gottes gelangt. Und JA ist in seinem Bestreben, ins Kindliche zu regredieren, ja sehr erfolgreich, wenn er mit Tomatensaft bekleckert dasitzt und betont, dass er das Kind von Vova sei. Mit dem Erreichen der vollkommenen Stufe von „narodnostřŖ hat JA seinen Intellekt endgültig abgegeben, und er vollzieht die körperliche Vereinigung mit dem Hybridwesen Vova. Diese inzestuöse gleichgeschlechtliche Vereinigung greift vom Gedankengang wiederum auf Marej Mareiĉ zurück. In dieser Figur klingt schon durch den Namen das Weibliche, das Mütterliche, das Göttliche an Ŕ lauter Eigenschaften, die in der Erofeevschen Erzählung mit den beiden Ehefrauen, von denen die erste, wie erwähnt, Maria heißt, buchstäblich den Tod gefunden haben. Was übrig bleibt, ist eine männlich kodierte Welt Ŕ im Sinne von rational und analytisch Ŕ, in der das weibliche Element, als zu Beschützendes, Gefühlvolles und Göttliches ausgeschaltet wurde. Dadurch ist jedoch auch die Möglichkeit genommen, Neues zu gebären, und das Männliche ist dazu verdammt, sich im eigenen infertilen Kreislauf zu bewegen. Der Verdrängungsprozess alles Weiblichen, und damit alles Vorherigen, geht so weit, dass sich JA partout nicht an den Namen seiner zweiten Frau erinnern kann. Der Akt der männlichen Begattung mit JA ist für den „volkstümlichenŖ Vova allerdings nicht der erste dieser Art. Die Spur zu seinen ursprünglichen Partnern führt zu Dostoevskijs Roman „BesyŖ (Die Dämonen, 1872), zu den Anarchisten und den Nihilisten, also zu jenem Teil der Intelligencija, den Dostoevskij als die größte Gefahr für Russland sah. Vova ist eine Synthese aus allen diesen negativen Figuren, aus Stepan Verchovenskij, dessen Sohn Petr und Nikolaj Stavrogin. Auf die Verbindung zu Verchovenskij, der angibt, ein Professor zu sein, deutet gleich die erste Beschreibung von Vova hin, in der ihm die Züge eines Professors attestiert werden. Verchovenskij ist ein Intellektueller aus der 1840er Generation, also aus der Generation, die sich als erste das soziale Engagement für das rechtlose Volk, verknüpft mit revolutionären Gedanken, auf die Fahnen geschrieben hatten. Im Roman ist er derjenige, der die gesamte nachfolgende Jugend Ŕ Dańa, Liza, Nikolaj und Ivan Ŕ unterrichtet bzw., aus der Logik des Romans, mit seinen Ideen infiziert, ja verführt; denn als Erzieher nähert er sich seinem Zögling Nikolaj offensichtlich auch sehr intim. Die Motivation dieser Figuren für ihr revolutionäres Zündeln liegt dabei weniger in ihrer Überzeugung als in ihrer nihilistischen, zynischen Einstellung, vermischt mit einem Gefühl der Langeweile. Die Kombination von existentiellem Schrecken, Banalität und Langeweile wird von Erofeev gleich am Anfang der Erzählung durch einen doppelten intertextuellen Verweis auf Shakespeare und Gogolř angesprochen. Der Ausruf von JA: „Schrecklich ist es, auf dieser Welt zu leben, meine HerrschaftenŖ (7), ist eine Paraphrase auf den Ausruf der Königin in „Richard IIIŖ (1593), als sie vom Mord an ihrem Gemahl erfährt: ŖAll seeing heaven, what a world is this!ŗ26 Und der Schlusssatz der Erzählung „Povestř o tom, kak possorilsja Ivan Ivanoviĉ s Ivanom NikiforiĉemŖ (Die Geschichte, wie sich Ivan Ivanoviĉ mit Ivan Ni-

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kiforoviĉ zerstritt, 1835) lautet: „Wie langweilig ist es auf der Welt, meine Herrschaften.Ŗ27 Mit dem Bezug zu den Figuren aus „BesyŖ wird in „Ņiznř s idiotomŖ die Idee einer lückenlosen Kausalreihe aufgegriffen, die bis zu Vissarion Belinskij und zu Aleksandr Gercen zurückreicht, später dann zu den revolutionären Demokraten um die Zeitschrift „SovremennikŖ (Der Zeitgenosse) und zu den „NarodnikiŖ (Volkstümler) der 1870er Jahre führt, um in den achtziger Jahren bei Vladimir Ilřiĉ Ulřjanov, vulgo Lenin, anzuknüpfen, der zu dieser Zeit Mitglied der terroristischen Gruppe „Narodnaja voljaŖ (Volkswille) war, die für zahlreiche Attentate verantwortlich zeichnete. In der Erzählung wird dadurch die Unausrottbarkeit derartiger Ideen betont, die immer wieder neu erstehen, wie Verstorbene als Wiedergänger, die als körperliche Erscheinung in die Welt der Lebenden zurückkehren. Der Schluss der Erzählung legt nahe, dass JA der nächste ist, der den Kreislauf aufrecht erhält: Er sieht sich in seinem Wahn in einem Zug mit Restaurantabteil sitzen, was ein direkter Verweis auf Petr Verchovenskij ist. Dieser Manipulator und Initiator der üblen Vorgänge im Roman ist der einzige, der das Inferno unbeschadet übersteht. Ihm gelingt die Flucht ins rettende Ausland, und in einem Zugabteil erster Klasse fährt er lachend davon. Diese Perpetuierung der Ideen und Vorgänge wird zusätzlich noch durch den intertextuellen Bezug zum Eingangsmotto des Romans untermauert, in dem die „Heilung des Besessenen von GerasaŖ aus dem Lukas-Evangelium (Luk. 8, 26Ŕ 39) erwähnt wird. Der von den Dämonen Besessene lebt abseits der Gesellschaft, trägt keine Kleider und wurde, um sich und anderen keinen Schaden zuzufügen, mit Ketten und Fesseln gebunden, die er aber immer wieder zerreißen konnte. Als Jesus den Gerasener nach seinem Namen fragt, spricht der Dämon aus ihm und sagt, dass der Name Legion sei; denn es seien ihrer viele. Erst die Nennung des Namens versetzt Jesus in die Lage, die Dämonen zu vertreiben; denn Geister, deren Namen preisgegeben sind, werden beherrschbar, und „benannte Dämonen sind gebannte DämonenŖ.28 Eine derart gütliche Lösung des Problems ist in „Ņiznř s idiotomŖ nicht in Aussicht Ŕ der Idiot verweigert bekanntlich die Bekanntgabe seines Namens. JA muss dieser Logik nach somit nicht mehr länger im Keller des Irrenhauses schmachten, er kann den Weg aus dem Inferno Dantes in sein vermeintliches Paradies einschlagen. Dante Alighieris „Divina commediaŖ (um 1320) bildet einen weiteren strukturbildenden Intertext, der manchen Szenen und Figuren, die bisher in anderen intertextuellen Bezügen betrachtet wurden, eine zusätzliche Perspektivierung verleiht. Der Ich-Erzähler bei Dante ist ein Schriftsteller wie JA und begibt sich Ŕ so wie JA Ŕ an der Hand eines Führers in die jenseitige Welt des Infernos, des Purgatoriums und des Paradieses. Im Inferno begegnet er dann einem Panoptikum von historischen und mythologischen Personen, die ihre Strafe, angepasst an ihr Vergehen, verbüßen. Für JA erfolgt der Eintritt in die Unterwelt mit dem Betreten des Irrenhauses, wo in dem großen, stinkenden Kellerraum die verschiedensten Typen von Irren versammelt sind: „Das war ein gro-

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ßer Kellerraum, in ein trüb-rötliches29 Licht getaucht. Auf den Bänken an den Wänden entlang saßen viele Idioten. Andere schlurften durch den Raum und zerteilten mit der Stirn die stickige heiße Luft. […] ‚WarteŘ, sagte ich und ging ohne Eile, mit der Schwüle kämpfend, an den Bänken entlang. Hier war ein buntes Völkchen versammelt: junge und alte, ausgezehrte Klappergestalten und kraftstrotzende Stiernacken, depressive, schlappe Duckmäuser, rastlose Choleriker und schwerfällige, erstarrte Klötze. Einer murmelte, einer heulte, einer sang, einer schlief, einer fraß irgendeinen Schleim aus einem Napf, einer lächelte vor sich hinstarrend, und einer plärrte mit launisch vorgestülpten Lippen, einer fing Flöhe, einer wichste sabbernd vor sich hin, einer lag zur Strafe festgebunden in der EckeŖ (12). Ähnlich geht es bei Dante zu, wo die Seelen heulen und seufzen, die Gotteslästerer ausgestreckt und schreiend auf dem Boden liegen, die Schmeichler sich im ätzenden Kot wälzen und die Choleriker sich gegenseitig bekämpfen: „Ich schaute aufmerksam hinab und sah im Kot und Moor beschmutzte, nackte Menschen. Die sahen aus, als hättř man sie beleidigt Und schlugen aufeinander los mit Fäusten Und stießen sich mit Kopf und Brust und Füßen Und rissen mit den Zähnen sich in Fetzen.Ŗ30

Und auch hier finden sich einige Pendants zu Vova, dessen „sokratisches KinnŖ auf den Philosophen verweist, der so wie andere Geistesgrößen der vorchristlichen Zeit im Limbus schmachtet. Und wenn Vova im Keller rastlos auf- und abgeht, immer fünf Schritte vor, Kehrtwende und fünf zurück (13), dann handelt es sich um einen Verweis auf die Sodomiten, die in der Hölle ohne Rast und ohne Ruh umherlaufen müssen.31 Einen besonders relevanten Bezug stellen die Sünder im neunten Höllenkreis dar, die in der Eishölle schmachten. Ihnen werden bereits zu Lebzeiten die Seelen vom Körper getrennt, worauf in die leblose Hülle des Körpers ein Dämon schlüpft, der dann sein Unwesen auf der Welt treibt.32 Damit schließt sich ein weiteres Mal der Kreislauf des besessenen Vova und des gleichfalls besessenen JA, die beide als Untote ihr Wirken fortsetzen werden. Für JA hält die „Göttliche KomödieŖ allerdings noch eine scheinbar paradiesische Implikation bereit, und zwar am Schluss der Erzählung, als sich JA beglückt an die Mordszene und seine Ekstase erinnert und beteuert, dass er nichts bereue33. An dieser Stelle ruft er aus: „Ich weiß, wer ich bin. Ich bin RainouartŖ (25).34 Bei Dante trifft der Dichter im fünften Himmel des Paradieses auf große Glaubenskämpfer wie Karl den Großen und Roland sowie auf einen gewissen Rinuardo.35 Bei diesem ungehobelten, unmäßigen Riesen handelt es sich um Rainouart aus dem französischen Heldenlied „La Chanson de GuillaumeŖ36, der als Konvertit besonders fanatisch kämpft und alle Feinde, also die Ungläubigen, mit seiner Holzstange erschlägt. Trotz dieser Heldentaten handelt es sich jedoch um eine Karikatur des sonst üblichen edlen Ritters; denn Rainouart ist vergesslich

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und ungeschickt, er wird von den anderen Helden ausgelacht und zum Gastmahl der Mächtigen nicht eingeladen. Diese Parallelisierung gibt JA als Vertreter der Intelligencija endgültig der Lächerlichkeit preis.37 In der Erzählung „Ņiznř s idiotomŖ versucht Viktor Erofeev, die verhängnisvolle Verstrickung der Intelligencija, besonders der Schriftsteller, mit der politischen und ästhetischen Macht des Sowjetregimes literarisch zu gestalten. Dabei greift er zum Teil den Tadel von Nikolaj Berdjaev auf, den dieser in seinem Aufsatz „Die Wahrheit der Philosophie und die Wahrheit der IntelligencijaŖ (1909)38 erhoben hat: das mangelnde Interesse der Intelligencija an Kreativität zugunsten eines Engagements für Verteilungsgerechtigkeit und den Glauben an die Nähe des sozialistischen Endziels, um nur einige der Vorwürfe zu nennen. Als einen der Hauptgründe für die fatalen Entwicklungen im 20. Jahrhundert sieht Erofeev Ŕ ähnlich wie Evgenij Popov Ŕ die mangelnde Kraft und den mangelnden Willen der Zunft, eine tragfähige Analyse der Gegebenheiten und ihrer wahrscheinlichen Entwicklungen zu erstellen. Dieses Manko ist aus der Sicht Erofeevs einerseits auf die Blindheit der Intelligencija in Bezug auf die menschliche Natur zurückzuführen sowie auf ihre übergroße Bereitschaft, sich unter dem Schlagwort „HumanismusŖ der ideologisch genährten Hoffnung anzuschließen, dass es genüge, das Gute im Menschen darzustellen. Andererseits erhoffte sich die Intelligencija aus dieser Konstellation wesentliche Vorteile und sogar die Definitionsmacht über das Geschehen. In grenzenloser Selbstüberschätzung und moralischer Anmaßung war sie bereit, sich der politischen Macht anzupassen, ja sich ihr zu unterwerfen und dabei sämtliche Ansprüche an Ästhetik über Bord zu werfen.

Brigitte Obermayr

Viktor Pelevin: Ņeltaja strela (Der gelbe Pfeil) Als im Jahr 1998 der 22 Prosatexte umfassende Erzählungsband „Ņeltaja strelaŖ erscheint, verbindet man mit dem Namen Viktor Pelevin bereits das Image des erfolgreichen Autors einer neuen Generation.1 1992 war er mit der Povestř „Omon RaŖ2 hervorgetreten, 1993 hatte er für die Erzählung „Sinij fonarřŖ3 (Die blaue Laterne) den angesehenen Literaturpreis „Malyj BukerŖ (Kleiner Booker) erhalten.4 Im selben Jahr erschien in der Zeitschrift „Novyj mirŖ die Povestř „Ņeltaja strelaŖ5. Im weiteren Verlauf ist Pelevin 1996 mit dem Roman „Ĉapaev i PustotaŖ (Ĉapaev und Pustota)6 erfolgreich. Als genuiner Bestseller erweist sich dann der Roman „Generation ‚ПŘ Ŗ (Generation ‚PŘ)7, der 1999 in Moskau omnipräsent ist und eine Auflage von 250.000 Exemplaren erreicht. Bereits die zitierten Titel beinhalten einige Informationen zum motivischen Spektrum Pelevins: vom Bürgerkriegshelden Ĉapaev, der durch Literarisierung8 und Verfilmung9 zum sowjetischen Mythos geworden war, über die Sehnsucht nach fernen Planeten und die Eroberung des Kosmos bis zu dem an das Schlagwort von der „Generation XŖ gemahnenden Roman „Generation ‚ПŘ Ŗ (in dem „PŖ unter anderem für Perestrojka, Pepsi, Pelevin steht). Die durch das sowjetische Prisma gebrochene Vergangenheit ist für Pelevin zwar Thema, jedoch keines, das dekonstruktiv er- oder aufgearbeitet werden müsste. Die Sowjetzeit bietet ebenso Stoff für seine Texte wie technologische Utopien und Realitäten, wie Werbung, Mode und Lifestyle Ŕ die politische Utopie wird auf einer Ebene mit sozialen oder individuellen Eskapismusdelirien verhandelt, der Weltraumflug äquivalent mit der Passage verschiedener Levels auf Computerspielen, mit einer Zugfahrt oder der Lehre von den Wegen ins Nirwana.10 Pelevin vertritt nicht nur eine neue, weil junge Generation, für die an der Geschichte vor allem die Geschichten interessant sind, er steht auch für einen im postsowjetischen Russland bis dahin relativ neuen Typ von Autor Ŕ er liefert Unterhaltungsliteratur, die aktuelle gesellschaftspolitische Themen ebenso aufgreift, wie sie technologische Entwicklungen berücksichtigt und sie vor dem Hintergrund der Alltagserfahrung eines jungen und/ oder neurussischen Publikums aufbereitet. Der sich gern als sophisticated wahrnehmenden Schicht seiner Leserinnen und Leser bietet Pelevin zusätzlich Allusion und „Intertextualität lightŖ Ŕ die Lust am Wiedererkennen der einen schmälert dabei keineswegs das Lektüreerlebnis oder -verständnis der anderen. Einer erfolgreichen Mischung darf auch im neuen Russland ein Quantum an Metaphysik und Esoterik nicht fehlen. Buddhistisches sowie Mystisches ist bei Pelevin immer inkludiert. Nach Hélène Mélat sind Grenzpassagen nicht nur ein wichtiges Thema in Pelevins Texten, der Autor selbst sei ein Grenzphänomen Ŕ zwischen hoher und niedriger Literatur11, eine Einschätzung, der zuzustimmen ist,

„Ņeltaja strelaŖ (Der gelbe Pfeil)

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mit dem Zusatz, dass die Grenzgängerei zwischen „EŖ und „UŖ das herausragende Merkmal qualitativ schillernder Populärliteratur ist.12 Von woher wohin? Die Metapher vom Zug der Zeit Mehr noch als auf die Tatsache, dass sich im neuen Russland eine anspruchsvolle Populärkultur entwickelt, weisen die genannten Merkmale auch auf jenen Umstand hin, dass die postutopische Phase der russischen Postmoderne als beendet betrachtet werden kann. Der literarische Postutopismus betraf Verfahren und narrative Strategien der literarischen Realisierung einer versprochenen leuchtenden Zukunft zu einer Zeit, als das Scheitern der Utopie bereits evident ist. Auf die Raumzeitstruktur der Texte und in der Folge auf deren narrativen Diskurs wirkt diese Realisierung meist desaströs: Am Ende steht dann Ŕ als verwirklichte Utopie Ŕ ein diskursives „AusŖ; die autodestruktiven Kräfte der ideologisierten Master-Plots entfalten ihre Wirkung und lassen keine Erzählung bzw. Entfaltung eines Sujets zu. Anstelle der Konklusion (conclusio) finden wir meist eine Implosion: Es bleibt kein nacherzählbarer Rest.13 Das herausragende Merkmal der erzählenden Literatur nach dem skizzierten Postutopismus ist ein Operieren mit Raumzeitstrukturen, die sowohl der Narration als auch der Fiktion wieder Raum und Zeit lassen, sich zu entfalten. Die Wirkungsvollmacht der chrono-utopischen Infrastruktur sowjetischer Prägung wird dabei auf einen Oberflächeneffekt reduziert. Pelevins Texte sind exzellente Beispiele hierfür. Anhand von „Ņeltaja strelaŖ wird sich zeigen lassen, wie Strukturen, die durchaus Tiefendimensionen historischer, soziologischer oder literarischer Art aufweisen, als Oberflächenphänomene präsentiert werden. Dabei geht es nicht darum, Tiefe gegen die Oberfläche binär valorisierend auszuspielen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie aufgrund fehlender fixierter Bezugssysteme und einheitlicher Erfahrungshorizonte die Strukturen in Bewegung geraten, und zwar in Form horizontaler Verschiebungen. Der Titel „Ņeltaja strelaŖ spielt auf die Eisenbahnschnellverbindung zwischen Moskau und Leningrad namens „Krasnaja strelaŖ (Der rote Pfeil) an14, eine Allusion, die eine der Grundlagen für die in der Povestř realisierte Metapher vom Zug der Zeit (und des Lebens) bildet. Der „Gelbe PfeilŖ pendelt aber keineswegs zwischen den beiden antagonistischen Zentren Russlands: Der Protagonist Andrej, aus dessen Perspektive wir durch die Povestř geführt werden, gehört zu den wenigen bewusst Reisenden, das heißt, er weiß unter anderem von der Tatsache, dass der nie anhaltende Zug auf eine zerbrochene Brücke zusteuert. Aus diesem Wissen motiviert sich sein Wunsch, den Zug zu verlassen, auszusteigen. Der vermeintlich vielsagende, veritable intertextuelle und mnemotechnische Kosmen herbeizitierende Titel, dessen semantische Füllung bzw. Erfüllung ausbleibt, ist übrigens bereits eines der Kennzeichen für die Transformation von Tiefenstrukturen in Oberflächenerscheinungen im Werk Pelevins.15

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Viktor Pelevin

Der Zug fährt; der Countdown läuft: ein Spannungsbogen für Eingeweihte Die Tatsache, dass der „Gelbe PfeilŖ nicht, wie sein roter Artgenosse, zwischen geographischen Punkten verkehrt, versetzt den Leser in einen Taumel der Orientierungslosigkeit und macht für die Protagonisten die Fragen nach Ort und Ziel des Geschehens zu metaphysischen Kernfragen des Lebens: Bis zum zweiten Kapitel bleibt für den Leser der Ort des Geschehens unklar (dies ist den internen Fokalisierungen zuzuschreiben, der Tatsache, dass keine die ProtagonistenPerspektiven relativierende Erzählebene vorliegt). Mit anderen Worten: Es fehlen Hinweise darauf, dass man sich lediglich in einem fahrenden Zug, nicht aber in einer Kommunalwohnung, einem Studentenwohnheim, einem Hotel oder ähnlichem befindet. Dieses Verfahren zwingt den Rezipienten gewissermaßen, den fahrenden Zug als einziges Bezugssystem anzunehmen, sich auf diesen relativen Ort als absoluten einzustellen und dort einzufinden. Wenn der Rezipient in weiterer Folge in die Fragen nach dem Woher des Zuges, nach seinem „BewegerŖ Ŕ seiner Zugmaschine, seiner Lokomotive (diese bleibt unsichtbar) Ŕ und nach der Herkunft seines Namens verwickelt wird, so wird er sukzessive gezwungen, den Bewusstseinshorizont der Protagonisten zu teilen. Die Frage nach dem Ort des Geschehens klärt sich für den Leser im zweiten des dreizehn Kapitel umfassenden Textes Ŕ an einer Stelle, an der auch der Protagonist Andrej wieder einmal der Bedeutung und Realität des „Gelben PfeilsŖ gewahr wird: „Jetzt erinnere ich michŖ, sagte er. „ ‚Der gelbe PfeilŘ, das ist der Zug, der zur zerstörten Brücke fährt. Der Zug, in dem wir unterwegs sindŖ (17). Zu derlei Erkenntnis wird Andrej durch seinen asiatisch aussehenden Freund Chan geführt, der ein Abteil mit gelber Plastiktür und einem „Kratzer, der aussah wie ein nach oben zeigender PfeilŖ (16) bewohnt. Chan eröffnet Andrej Zugang zu Lebens- und Sinnfragen. Wenn wir somit davon ausgehen können, dass das Geschehen der Povestř in einem fahrenden Zug angesiedelt ist, der auf ein fatales Ziel zufährt, so erfahren wir an der gleichen Stelle, dass die Zeit an diesem Ort nicht im Sinne einer Veränderung und Entwicklung indizierenden Progression voranschreitet: Angespielt wird auf die kleinste Zeiteinheit des Stillstands, wie sie die sowjetische Lebensplanung im Fünfjahresrhythmus vorgesehen hatte, doch auch hier bleibt die Referenz ambivalent bis fraglich.16 „ ‚Was gibt es Neues?Ř fragte Chan. ‚Was schonŘ, sagte Andrej. ‚Nichts. Hast du jemals darüber nachgedacht, wohin die letzten fünf Jahre gekommen sind?Ř ‚Warum genau fünf?Ř ‚Die Zahl hat keine BedeutungŘ, sagte Andrej. ‚Ich sag fünf, weil ich mich erinnere, dass ich vor fünf Jahren genau derselbe war, der ich heute binŘ Ŗ (16 f.). Wenn sich in Repliken wie den zitierten ein Bewusstsein vom Bezugssystem im betont wörtlichen Sinn spiegelt, ist zu unterstreichen, dass es sich hierbei um ein Exklusiv- und Geheimwissen handelt, das die Leser mit dem Protagonisten und dessen esoterischen Freund Chan teilen, worin sie sich von der Gruppe der Passagiere unterscheiden. Die „PassagiereŖ, die anderen Mitreisenden, werden nur allzu ungern, auf das Ziel des Zuges angesprochen, in ihrer Verdrängungs-

„Ņeltaja strelaŖ (Der gelbe Pfeil)

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arbeit gestört: „Wohin? Wohin? Was willst du? Willst du es zum hundertsten Mal hören? Völlig klare Sache, wohin. Zur zerstörten Brücke. Was dröhnst du dir in deinem Alter den Kopf mit diesem Mist voll, Andrej?Ŗ (49). Für die gewöhnlichen Passagiere (18)17 gibt es nur den Innenraum und Mikrokosmos namens „Ņeltaja strelaŖ, der Zug, der nie anhält, jedoch zielstrebig auf seinen Endpunkt zufährt: „ ‚Der gewöhnliche PassagierŘ, sagte Chan, ‚sieht sich niemals als Passagier.Ř […] ‚Das ist eigentlich SchwachsinnŘ, sagte Andrej. ‚Die Passagiere verstehen nicht, dass sie Zug fahren. Wenn das jemand hören würdeŘ Ŗ (19). Das metaphysische Wissen von den Seinsbedingungen, das Andrej und Chan mit den Lesern von den „PassagierenŖ unterscheidet, bedingt die Wahrnehmbarkeit des Bezugssystems, verfremdet die Normalperspektive auf den Zug wie auf das Leben. Die Zustandsbeschreibung des modernen Lebens und seiner Folgen18 oder gar eine Zivilisationskritik treten jedoch bei Pelevin weit hinter die an ein Road- bzw. Railmovie gemahnende Leichtigkeit zurück. Der erwähnte Zielpunkt des Zuges (die zerstörte Brücke) ist als Endpunkt einer Bewegung gleichzeitig Faktor der zeitlichen Organisation der Povestř. Auch diese verläuft auf zwei Ebenen: Für die Nichteingeweihten, die „PassagiereŖ, die das Rattern der Räder nicht mehr hören, denen das Ablaufen der Zeit nicht bewusst ist („Merke dir, wenn der Mensch aufhört, das Rattern der Räder zu hören und bereit ist, weiterzufahren, wird er zum PassagierŖ, 19), ist die zeitliche Perspektive eine der Endlosigkeit des nie stillstehenden Zuges, während sich Andrej und Chan und mit ihnen der Leser auch der zeitlichen Begrenztheit dieser Reise bewusst sind. Die Tatsache, dass der „Gelbe PfeilŖ „nie anhältŖ (20), bildet zusammen mit dem Wissen, der Zug sei zu der zerstörten Brücke unterwegs, einen handlungsbezogenen Spannungsbogen des Textes: Das „AussteigenŖ wird im wörtlichen wie im übertragenen Sinn zu einer Vision, einem Handlungsziel, das dem offensichtlich unausweichlich fatalen Streckenverlauf zu entkommen ermöglicht. Für den Leser wird dieser suspense durch eine formale Markierung verstärkt: Die dreizehn Kapitel des Textes sind in umgekehrter Reihenfolge nummeriert Ŕ beginnend mit 12 und endend mit 0: Das „VoranschreitenŖ der Erzählung gleicht somit einem Countdown, dem Auslaufen einer Zeitphase, der gewöhnlich ein (neuer) Start folgt. Während der Countdown die Zeit bis zu einem Beginn zählt, ist für die Povestř festzuhalten, dass dieser Punkt „0Ŗ bzw. „Go! / Take off!Ŗ hier mit dem Textende zusammenfällt: Es bleibt abzuwarten, wer bzw. was am Nullpunkt dieser Reihe „abzuhebenŖ vermag oder zurückbleiben wird. Die Lösung des Textes könnte sich auch als eine apokalyptische Loslösung vom Bezugssystem gestalten und somit, aus der Perspektive des suspense, als Wettlauf mit der Zeit, als Rettung, oder im Falle eines tragischen Endes als Verderben. Andrej wird den Zug lebendig verlassen, was nicht nur ein Happy End bedeutet, sondern auch, dass der Nullpunkt des nullten und letzten Kapitels tatsächlich ein Initialpunkt im Sinne des Countdowns ist.19 Es handelt sich hierbei um ein Weiter, einen Ebenenwechsel, wie dies für die Bewegung der Helden im Raumzeitgefüge der Pelevinschen Texte signifikant ist. Als anschaulichster Vergleich für diesen Ebenenwechsel dienen wohl Computerspiele, deren Ziel (tatsächlich nach

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dem Motto „Der Weg ist das ZielŖ) es ist, Helden durch ein komplex geschichtetes System von Passagen, Wegen, Auf- und Abgängen zu lotsen, an Hindernissen und feindlichen Bedrohungen vorbei. Je nach Geschick und Glück mit den Zufallsgeneratoren steigt der virtuelle Stellvertreter des Spielers am Bildschirm/ Display dann in immer höhere „LevelsŖ auf bzw. fällt wieder ab, relational dazu entwickelt sich sein Energiepotential und Waffenarsenal. Dabei besteht zwar durchaus die Möglichkeit einer qualitativen Differenzierung der einzelnen Ebenen, nie ist jedoch wirklich klar, welches die Nullebene Ŕ als Ausgangsebene Ŕ war, auch gibt es kein endgültiges Ziel, eben jenen Endpunkt, an dem Held und Spiel gleichermaßen ans Ende gelangen.20 Vertikale Hierarchien und Raumanordnungen scheinen nicht existent, die Ebenen grenzen aneinander, als Oberflächen-(Effekte) einer endlosen Horizontale. Betrachtet man nun die Finalkonstruktion Ŕ vom Countdown zum Ausstieg Ŕ in Pelevins Povestř unter diesem Gesichtspunkt, so zeigt sich die eingangs erwähnte Relativierung der Wirkungsvollmacht des sowjetischen Chrono-Utopismus: Anstatt den Leerlauf der Zeit konsequent an sein Ende zu führen bzw. endlos zirkulieren zu lassen, liegen in der Finalstruktur zwei Ebenen vor Ŕ der nach Osten weiterfahrende Zug und die Landstraße, auf der Andrej in Richtung Westen geht. Die Frage nach der fiktionalen Realität dieser beiden Ebenen spielt dabei keine Rolle. Der Zug hält Ŕ im ersten (und also vorletzten, zwölften Kapitel) Ŕ aus mysteriösen bzw. unbekannten Gründen an (52Ŕ54)21, wobei der Text seine auf interne Fokalisierung beruhende perspektivische Unverlässlichkeit und „BezugslosigkeitŖ hier noch durch Traumpassagen verstärkt. Andrej steigt jedoch, so der Text, aus dem Zug aus. Kaum hat er „festenŖ Boden (einen „asphaltierten WegŖ, 56) unter den Füßen, setzt der „Gelbe PfeilŖ die Reise fort. „Das Rattern der Räder in seinem Rücken verebbte nach und nach, und bald hörte er deutlich das, was er noch nie zuvor gehört hatte: trockenes Zirpen im Gras, den Wind und den leisen Klang seiner eigenen SchritteŖ (56). Reise(alp)träume: der Makrokosmos aus dromologischer Perspektive Die von Andrej und Chan vertretene Diagnose, ihre Mitreisenden seien lediglich Passagiere, gemahnt jenseits der Metaphorik vom Zug der Zeit vor allem auch an die Theoreme der Dromologie, wie sie durch den französischen Gesellschaftsanalytiker Paul Virilio in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts Furore machten. Virilio untersucht den Einfluss der immens erhöhten Mobilität (eines Teils) der Menschheit auf die dadurch veränderte Wahrnehmung und Realität von Raum und Zeit und somit den anthropologischen status quo der zeitgenössischen Gesellschaft. Virilios Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass sich die Phänomenalität des Reisens insofern grundsätzlich verändert habe, als sich der Mensch in einem paradoxen Zustand permanenter Bewegung Ŕ im Zustand rasenden Stillstands Ŕ befinde. Die treffendste Bezeichnung für den Menschen sei demnach „PassagierŖ: „Der Weltbürger wird zum utopischen Bürger, der nur noch die

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Transportmittel und die Transitstätten bewohnt.Ŗ22 Die Orte selber wie der Raum zwischen ihnen seien überwunden Ŕ die Rede ist von der „Auflösung des Ortes zugunsten des Nicht-Ortes der FahrtŖ23 Ŕ, man befinde sich nicht mehr in „XŖ, sondern lediglich noch „in GeschwindigkeitŖ.24 An der Überwindung der Zeit werde ebenso gearbeitet. „Die hohen Geschwindigkeiten [schieben] die Bedeutungen ineinander, bis sie sich schließlich ganz auflösen wie das Licht die Farben auflöst. Doch dies Flimmern der Geschwindigkeit führt zum vorübergehenden Erblinden, zum blinden Passagier. Die Reise wird zur Strategie der Verschiebung, zum reinen Projekt […]. So kurz sie auch sein mag, die Fahrt von einem Ziel zum anderen, von einer Stadt zur anderen wird zum bloßen Unwohlsein des Wartens auf die Ankunft, die Weltreise wird zur Herzbeschwerde.Ŗ25 Reisen hat also nichts mehr zu tun mit Verreisen, mit Abschied, großer Ausfahrt, epischer Irrfahrt und großen Zielen. Das globale Gleichzeitig, die für die Modernisten so faszinierende Utopie des Simultanen, ist zu einem Zu- und somit Stillstand in Permanenz geworden. Die globale Mobilisierung hat den Menschen Ŕ wie die Geschichte(n) Ŕ endgültig stillgestellt, lässt ihn ziellos kreisen. Bewegung wird unwahrnehmbar Ŕ wie dies in Pelevins Text ausführlich thematisiert ist. Der Erfahrungshorizont des Menschen als Passagier wird mit dem Wahrnehmungshorizont des Menschen als Fernsehenden, als Betrachter von Monitoren, die qua Fernbedienung manipuliert werden, identisch.26 Das bewegte Bild ist nun die Normalansicht der Welt. Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn man dreißig Jahre nach Virilio feststellen muss, dass das Verb „surfenŖ, womit der Ebenenwechsel im Internet bezeichnet wird, wohl zu den zentralen Verben der Bewegung zählt. Der (virtuell) durchwanderte Raum wird immer größer, während die im Zusammenhang damit ausgeführten Bewegungen sich vom Nullpunkt kaum entfernen. Bewusst wird Bewegung lediglich als ihr plötzlicher Ausfall Ŕ als Unterbrechung und vorübergehender Stillstand. Entsprach der modernistischen Simultaneität die Poetik der Parataxe, der Versuch, das Gesetz der Linearität der Narration durch paradigmatische, parallel konstruierte Reihung des Gleichzeitigen zu durchbrechen27, so wäre nun die Syllepse das angemessene Stilmittel, die erzählte Zeit in Bewegung wahrzunehmen, indem man sie vorübergehend zum Stillstand, zum Klumpen bringt.28 Die Reisen wie das Leben bestehen in diesem Sinne bei Pelevin aus Intensitätszonen, ein Befund, für den das neudeutsche Lexem „TripŖ im Sinne eines „Kurz-Mal-WegsŖ via Transport- oder Rauschmittel, via Betätigung eines Einschaltknopfs oder kurzfristiger, massenmedial intensivierter Schwärmerei zum Begriff werden könnte.29 Im Trip scheint die Idee der Unterbrechung mit jener der Fort-Bewegung äquivalent zu sein, „TripŖ ist mehr als eine Übersetzung des Reisebegriffs: Es ist sein restloser Ersatz. Man verreist nicht mehr, man ist lediglich ständig dabei, den Lauf der Zeit zu unterbrechen, man ist Ŕ kurz mal weg. Im Falle unseres Textes lässt sich die skizzierte Auflösung von Ort und Raum30 folgendermaßen zeigen: Die Passagiere in „Ņeltaja strelaŖ befinden sich nicht auf einer Fahrt von einem ruhenden Punkt zu einem anderen, sie sind im

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Irgendwo (28)31 und Nirgendwo Ŕ „in GeschwindigkeitŖ, wie es bei Virilio heißt, eben im „Gelben PfeilŖ. Demgemäß verwandeln sich Entfernungs- und Wegmarken in Uhrzeiger. Getreu der physikalischen Formel, Geschwindigkeit, bekanntermaßen eine vektoriale, mit einem Pfeil (sic!) gekennzeichnete Größe, sei der Weg in der Zeit, werden auch ruhende Bezugssysteme, Abstands- und Entfernungsmarkierungen, von der Relativitätsperspektive des sich Bewegenden erfasst und als Phänomen der Geschwindigkeit aufgefasst: „Er sah erneut zum Fenster. Es war schon beinahe dunkel geworden. Am Wegesrand tauchten manchmal weiße Kilometersteine auf, die in der Dämmerung deutlich sichtbar waren und kleinen steinernen Uhrzeigern ähneltenŖ (29). Die existenzkritischen Passagiere treibt in dieser Situation das Begehren nach einer ganz wörtlichen Fort-Bewegung, Fahrt-Unterbrechung: der Wunsch, aus dem Zug auszusteigen. Dies einerseits, um dem fatalen Zielpunkt zu entgehen, andererseits jedoch auch, um im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn auf eine andere Ebene zu gelangen. „Ich möchte aus diesem Zug aussteigen. Ich weiß, dass das nicht möglich ist, aber ich möchte das, weil es einfach Wahnsinn wäre, irgend etwas anderes zu wollen. Ich weiß auch, dass dieser Satz ‚Ich will aus diesem Zug lebend aussteigenŘ einen Sinn hat, selbst wenn die Wörter, aus denen er besteht, keinen Sinn haben. Ich weiß nicht einmal, wer ich selbst bin. Wer soll sich dann von hier losmachen? Und wohin?Ŗ (29). Als Ziel des Ausstiegs bietet sich kein herkömmlicher „OrtŖ an, es fällt mit dem Wunsch nach dem „HinausŖ zusammen: Ziele gibt es nicht mehr. Haltestellen und Bahnhöfe existieren gewissermaßen als Ruinen bzw. Toteninseln einer vergangenen Zeit: „Dann tauchte ein langer, verlassener Bahnsteig auf […]. In der Nähe des Skelettschädels ragte eine Stange mit einem leeren stählernem Rechteck, auf dem irgendwann einmal die Tafel mit der Bezeichnung der Station gewesen warŖ (52). Dabei spielen die Zugfenster, vergleichbar den Monitoren, die Rolle von Schnittstellen. Sie sind, darauf weist Mélat sehr treffend hin, bei Pelevin jene (Sicht-)Öffnung, die vormals voneinander getrennte Welten miteinander verbindet.32 Das so apokalyptisch anmutende Szenario jenseits der Fenster des fahrenden Zuges Ŕ die Totenköpfe auf den Bahnsteigen Ŕ überschneidet sich mit der sehr realistischen Perspektive der Zugreisenden auf jenes Sein nach dem Tode: Es ist üblich, Verstorbene zu bestatten, indem man sie aus dem fahrenden Zug wirft, wie natürlich auch sämtlichen Zivilisationsabfall. Der Blick aus dem Fenster bietet somit Einblick sowohl ins banale Abseits als auch ins Jenseits. Er ist zugleich Blick in Vergangenheit und Ewigkeit (51 f.). So liegt es nahe, dass das Dach des Zuges als eine Art Sphäre zwischen Leben und Tod betrachtet wird. Unser Protagonist gehört offensichtlich zu den regelmäßigen und routinierten Besuchern dieser Ebene. Erreichbar ist sie durch ein Toilettenfenster im östlichen Teil des Zuges, aus dem Andrej steigt, bekleidet mit Handschuhen, Schirmmütze und dunkler Brille (38) Ŕ letztere ist übrigens zum Markenzeichen des öffentlichkeitsscheuen realen Autors Pelevin geworden. Dieser vorübergehende Ebenenwechsel wird nicht etwa mit einem normalen Ausflug (Trip im Sinne der Kurzreise) verglichen, sondern, wie es heißt, in „okkul-

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ten BüchernŖ als „ritueller TodŖ (39) beschrieben. Andrej gesteht diesem Vergleich bedingte Gültigkeit zu Ŕ schließlich gehe man, sobald man das Innere des Zuges verlasse, tatsächlich ein Stück des Weges der Toten, andererseits sei die Sache in der Tat riskant (40). Aufrechten Schrittes Ŕ als gäbe es weder Geschwindigkeit noch die Fliehkraft des Fahrtwindes Ŕ spaziert Andrej über das Dach des Zuges, dessen Lokomotive auch von dieser Stelle aus nicht sichtbar ist. Etwas abseits von den offensichtlich altbekannten Zugdachszenarien entdeckt Andrej während des geschilderten Ausflugs eine Gruppe südamerikanischer Musiker, wie sie in mitteleuropäischen Innenstädten anzutreffen sind, begleitet von einem an Pablo Escobara ähnelnden Mann mit Sombrero. Diese neue Erscheinung sorgt auch prompt für ein Ereignis, einen Kulminationspunkt während des Ausflugs auf dem Zugdach: Als der Zug eine Brücke überquert, hüpft der geheimnisvolle Begleiter der Musiker mit einem mächtigen Satz vom Dach des Zuges in den Fluss. Mit Andrej, der sich, um das Geschehen weiter beobachten zu können, nun plötzlich doch von der Fahrtgeschwindigkeit beeinträchtigt, am äußersten Rand des Zugdaches festkrallt, können wir aus riskanter Perspektive sehen, dass der Typ à la Escobara den Fluss schwimmend verlässt. Dieses Ereignis geht jedoch, vom kurzfristigen Interesse der Zugdachflaneure und von der vorübergehenden Geschwindigkeitswahrnehmung abgesehen, letztlich völlig spuren- und folgenlos vor sich. Der Beobachtung folgt keinerlei Beurteilung oder Reflexion: Dies manifestiert sich am deutlichsten im abrupten, unvermittelten Übergang zum nächsten Kapitel, das, nach einem harten Schnitt, Andrej im Gespräch in einem Zugabteil zeigt. Es fehlt jeglicher Hinweis darauf, wie und wann Andrej wieder vom Dach gestiegen ist. Durch den unvermittelten Übergang entsteht eine Leerstelle in der narrativen Kontinuität. Dieser Ausfall stellt die Realität des am Zugdach Geschehenen ebenso in Frage wie das nun geschilderte Geschehen im Abteil (42 f.). Eine weitere wichtige Rolle spielt die „ZoneŖ33 östlicher Religionen und Philosophien, vor allem Buddhismus und Hinduismus mit ihren Konzepten der Leere und des (erfüllten) Nichts. Diese Zonen transzendieren jedoch das Raumzeitgefüge keineswegs vertikal, sondern bilden auf einem unendlichen Kontinuum eine weitere Ebene/eine weitere Zone. Entscheidend ist auch hier die virtuelle Unbestimmtheit ihrer raumzeitlichen Koordinaten und die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Geheimwissen synergetische Koalitionen mit axiologisch völlig konträren Diskursen eingehen kann. Besonders augenfällig wird dies in „Generation ‚PŘ Ŗ, wo Werbetexte, politische Schriften und esoterisches Wissen auf ein und dasselbe Realitätsniveau des Simulakrums gelangen.34 In vergleichbarer Weise geraten in „Ņeltaja strelaŖ die an alttestamentarische Gesetzestafeln gemahnenden „InschriftenŖ an den Wänden eines ehemaligen Heizwaggons und zufällig gefundene Reste der Beschreibung einer indischen Reise aneinander: Zur Inschrift, und somit einmal mehr zu einer Stelle geheimen Wissens, führt Chan seinen Freund im Laufe einer ihrer philosophischen Erörterungen der Frage, wie der Zug denn zu seinem Namen gekommen sei. Der von Andrej erwogene und

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ihn verständlicher Weise faszinierende Gedanke, der „Gelbe PfeilŖ sei von jemandem so benannt worden, der Gelegenheit gehabt hatte, den beleuchteten Zug des Nachts von außen an sich vorbeiziehen zu sehen (26), wird von Chan mit der bereits erwähnten Inschrift erwidert. Zu lesen sind folgende Zeilen: „DER, DER DIE WELT VERWARF, / VERGLICH SIE MIT GELBEM STAUB. // DEIN KÖRPER GLEICHT EINER WUNDE, / UND DU EINEM WAHNSINNIGEN. // DIE GANZE WELT / IST EIN GELBER PFEIL, DER DICH GETROFFEN HAT. // DER GELBE PFEIL, DER ZUG, IN DEM DU ZUR ZERSTÖRTEN BRÜCKE FÄHRSTŖ (27). Vor dem Hintergrund solcher Prophezeiung bzw. Offenbarung wird einmal mehr der Wunsch geweckt, auszusteigen, diese Reise zu unterbrechen. Zufällig gefundene Reste eines „Reiseführers auf den Schienenwegen IndiensŖ regen diese Sehnsucht an, geben Stoff für weitere Fortbewegungsträume. Den Passagen dieser Schrift, in die der Leser sich mit Andrej vertieft, ist zu entnehmen, dass der Titel des Reiseführers wohl im Kontext der Realität des Lebens als Zugreise semantisch zu dechiffrieren ist. Sinngemäß wäre er demnach zu übersetzen mit „Ratgeber zum indischen LebenŖ. Thema der gelesenen Abschnitte ist die Kunst der meditativen Versenkung Ŕ am besten am Gang (eines Zuges) stehend, an einem offenen Fenster. „Haben Sie denn, lieber Leser, noch nie bemerkt, wie man bei langer Betrachtung der Welt sich selbst vergisst und nur das bleibt, was man sieht: der sanfte, dicht mit Hanf (den sie, verringert der Zug seine Geschwindigkeit geringfügig, aus den benachbarten Fenstern mit speziellen Stangen pflücken) verwachsene Hang, die mit Lianen verflochtene Palmenkette […]. Und was passiert in all dieser Zeit mit mir? Und was passiert mit diesen Bäumen und Schranken, in der Zeit, da niemand sie ansieht? Aber was sollřs! Wichtig ist doch etwas anderes. Ich bin dem Glück am nächsten […], wenn ich mich vom Fenster losreiße [...] und am Rand meines Bewusstseins […] bemerke, dass ich gerade eben wieder nicht da war, sondern dass lediglich die Welt vor dem Fenster existierte und irgend etwas Wunderschönes und Unerreichbares […]. Wieder hört man das Trompeten eines weit entfernten Elefanten, wohl eines weißenŖ (36). Auch das prophezeite Ende der indischen Reise gibt Grund, seine Wünsche auf das ferne Territorium des Außen zu projizieren: „Die Gnade ist unendlich, und ich weiß genau, dass, wenn der Zug hält, hinter seiner gelben Tür ein weißer Elefant auf mich warten wird, auf dem ich meine ewige Wiederkehr ins Unsagbare fortsetzen werdeŖ (45).35 „Man übt seinen Beruf aus, als ob die vier Wände stillstünden“36: der Mikrokosmos „Andrej hielt vor dem Dienstabteil inne, wo der Schaffner, vor sich hinträllernd, über ein riesiges Metallbecken gebeugt, leere Bierdosen wusch (im Nachbarwaggon wurden sie im nationalen Stil bemalt und in den Westen verkauft)Ŗ (39). Wurde bisher gezeigt, wie die Zugmetapher das Sujet und die damit verbundenen Raumzeitstrukturen der Povestř prägt, so gilt es nun, die Realisierung

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dieser Metaphorik im Hinblick auf die semantische Strukturierung des Textes zu betrachten: „Ņeltaja strelaŖ ist ein in sich strukturierter Mikrokosmos Ŕ ein Zug, in dem sich wesentliche Züge des neuen Russlands ebenso wie archetypisch russische spiegeln. Nicht nur der Alltag ist gänzlich in die Bedingungen des Lebens in einem Zug übersetzt, auch die Bereiche des Symbolischen, Fiktiven und Imaginären sind davon geprägt. Das Basiskoordinatensystem bildet eine Ausrichtung des Zuges von Westen nach Osten, wobei die vorderste äußerste Grenze, der Bereich der Zugmaschine, unbekannt bleibt. Während der Westteil als gepflegter und sicherer beschrieben wird, nehmen in Richtung östlichem Zugende Schmutz und dunkle Gestalten auf den Gängen zu. „Mit jedem Waggon nach Osten wurden die Gänge der Platzkartenwaggons immer verwahrloster, und die Vorhänge, die die mit Menschen voll gestopften Abteile voneinander trennten, immer schmutziger und schmutziger. An diesen Orten war es sogar am Morgen nicht ungefährlich. Manchmal musste man über Betrunkene steigenŖ (25). Gleichzeitig ist es aber Ŕ bezeichnenderweise Ŕ derselbe Ostteil des Zuges, der die geheimnisvolle Inschrift, die Auskunft über das Ziel des „Gelben PfeilsŖ birgt, ebenso wie dieser Zugteil die Möglichkeit zum rituellen Ausflug auf das Zugdach bietet. Ähnliche Grenzregionen stellen, neben den oben erwähnten Zugfenstern auf der makrokosmischen Ebene, die Durchgänge zwischen den Waggons („tamburyŖ) dar, in denen, vergleichbar den U-Bahn-Passagen in den großen Städten, reger Handel betrieben wird (39). Ansonsten beherbergt der „Gelbe PfeilŖ neben den eisenbahnüblichen Einrichtungen wie Zugrestaurant oder Gangtoiletten auch Theater, Kinos, Bordelle, einen Gefängniswaggon und Ŕ als Kommandozentrale Ŕ den „StabswaggonŖ (33). Der uneigentliche Ort dieses Zuges ist also keineswegs ein utopischer bzw. antiutopischer oder heterotopischer; er ist als geschlossener minimundus postsovieticus ein Spiegel der postsowjetischen Realität. Besonders deutlich wird dieser neue Zug der Zeit in der regen Handelstätigkeit, auf die schon in dem Zitat zu Beginn dieses Kapitels angespielt wurde. Zwei Bekannte unseres Protagonisten sind dabei, neue Geschäftsideen zu entwickeln, vom Handel mit Verbrauchs- und Genussartikeln wie Bier, Zigaretten oder Toilettenpapier (23 f.) auf Rohstoffhandel umzusteigen. Als Quellen hierfür fassen sie die in Zügen vorhandenen Ressourcen ins Auge Ŕ Aluminium aus Teelöffeln, das Messing der Teeglashalter, Nickel von den Türbeschlägen (23 f.; 33Ŕ35). Im wesentlichen handelt es sich um nicht nachwachsende, zumindest nicht nachlieferbare „RohstoffeŖ, die in längerer zeitlicher Perspektive die Substanz dieser Lebenswelt vernichten werden. Erste Defizite werden bereits beklagt: „ ‚Löffel gibt es nicht mehr. Wir haben uns schon dran gewöhnt. […] Wo sind die Teeglashalter, wo? Sag mir, wo sind sie, die Teeglashalter? Mit der Heimat handeln sie. Das ist es. […]Ř. ‚Ja, ist doch gutŘ, sagte Andrej. ‚Sie sind doch nicht im Teeglashalter geboren. Und nicht im Löffel.Ř Ŗ (33). Neben dieser Durchdringung des Mikrokosmos mit Wertstrukturen liegt die bereits erwähnte Realisierung der Zugmetapher bis in den Bereich des Fiktiven

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vor Ŕ so zum Beispiel in dem Verweis auf einen Film von Akira Kurosawa37, in dem der verrückte Protagonist, ein Zugbewohner, im Wahn lebt, ein Zug bzw. eine Straßenbahn in einem Zug zu sein: „Es geht darum, dass der junge Mann sich vorstellt, er sei der Fahrer eines unsichtbaren kleinen Zuges […], der im realen Waggon hin und her fährtŖ (38). Ein weiterer Hinweis auf die Totalisierung der Zugmetapher findet sich auch in der Alltagslektüre der Reisenden, etwa in der Zeitschrift „PutřŖ (Der Weg), in der es Rubriken wie „Relřsy i ńpalyŖ (Gleise und Schwellen) gibt, was aber keineswegs auf eine Fachzeitschrift hinweist, sondern im Gegenteil Anspruch auf höchste Allgemeingültigkeit indiziert. Wir interessieren uns mit Andrej hier für einen Artikel über „Totale AnthropologieŖ Ŕ mit Blick auf die Spezies der ein Leben lang Zugreisenden. Das anthropologische Grundprinzip dieser Spezies sei demnach das endlose Rattern der Zugräder, ein Geräusch, das „jeden von uns vom Zeitpunkt der Geburt an bis zum Tod begleitetŖ (29), das sich aber, wie wir erfahren, in seiner onomatopoetischen Realisierung in den einzelnen Weltsprachen unterscheidet: So klingt das Lied des Lebens in Amerika „dņindņerėl-dņindņerėlŖ, in Polen „pan-panŖ, in Deutschland „vrilř-ńrappŖ, in Südchina „dė-i-ĉanř-ĉanřŖ, in Russland jedoch klingen die Räder „natürlich am schönsten, herzlichsten und zärtlichstenŖ. Die Räder der russischen Eisenbahn singen ein „tam-tamŖ (31). Auf einfache Art greift Pelevin hier das topologische und topographische Reservoir „russischer IdeenŖ auf (nachdem die eher aus dem Lager der Westler stammende Idee von der Ordnung des Zuges in einen ordentlich westlichen und einen unordentlich östlichen Teil ebenso wie deren slavophile Entsprechung, wonach das Geheimwissen im Ostteil des Zuges verborgen ist, bereits durchgespielt ist): Das Russische ist gleichsam auf natürliche Weise überlegen, nicht nur im Hinblick auf die schönere Lebensmelodie, sondern vor allem auch in der genuin russischen Fähigkeit zur Transzendenz. Im Falle des „tam-tamŖ beruht dies auf der Tatsache, dass diese Lautfolge neben ihrer onomatopoetischen Bedeutung noch die lexikalische Bedeutung von „dortŖ trägt. So weist das Zuggeräusch, als Lebensmelodie, als Sprachrealität per se, auf ein Außerhalb, wie dies in der Begräbnisszene, die der Lektüre des Anthropologie-Artikels folgt, auch gleich veranschaulicht wird: Nur Tote verlassen den „Gelben PfeilŖ. Man „beerdigtŖ sie, indem man sie aus dem fahrenden Zug ins „HinausŖ, ins Jenseits wirft. Das Außerhalb des Zuges ist somit aber vor allem auch ein Anderes: „Was ist dort?Ŗ will ein kleines Mädchen wissen, dessen Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem Begräbniszeremoniell auf das Jenseits gerichtet wurde. „Wo dort?Ŗ fragt die Mutter nach. „DortŖ lautet die Antwort, wobei das Mädchen mit der Faust auf das Fenster schlägt (31). Das Kind erfährt daraufhin, dass es „dortŖ Tiere, Götter und Geister gäbe, jedoch keine Menschen; denn „die Menschen leben dort nicht. Sie fahren mit dem ZugŖ (32). Auf die Frage, wo es besser sei, im Zug oder „dortŖ, weiß die Mutter keine Antwort, und doch: Das Mädchen möchte „dorthinŖ (32). Das Außerhalb des Zuges ist somit ebenso in Ebenen unterteilt: in jene des „tamŖ und in die andere des „tudaŖ. Es ist wohl letztere, nach der sich Andrej, im Wunsch, lebendig aus dem Zug auszusteigen, sehnt.

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Bezugsliteratur Aus dem so breiten Angebot russischer Reiseliteratur, von Afanasij Nikitin über Aleksandr Radińĉev und Nikolaj Karamzin zu Nikolaj Gogolř, bildet ohne Zweifel der Roman „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen, 1842) mit seinem allegorischen Schlussbild Ŕ Russland als apotheotisch dahinjagende Trojka Ŕ einen Bezugspunkt für Pelevins Text. Bei Pelevin ist die Gogolřsche Frage nach dem Wohin des russischen Weges („Russland, wohin jagst du, gib Antwort)Ŗ38 umgedreht zu der Frage nach dem Woher des Zuges.39 Darüber hinaus scheint die visionär als rasend beschriebene Trojkafahrt (im Gegensatz zu dem immer wieder durch Sumpf und Matsch auf den Wegen stockenden und gebremsten Vorankommen des Pferdegespanns im Geschehen bis dahin) dromologische Beobachtungen vorwegzunehmen. Der Seelenhändler Ĉiĉikov, wonnevoll auf seiner Trojka, lächelt im Geschwindigkeitsrausch; denn „er liebteŖ, wie es heißt, „das schnelle FahrenŖ.40 „Und welcher Russe liebt das schnelle Fahren nicht? […] Es scheint, eine unbekannte Kraft hat dich auf ihre Flügel genommen, und du fliegst, alles fliegt, es fliegen vorbei die Werstzeichen, es fliegen dir entgegen Kaufleute in ihren Kibitkas, es fliegt zu beiden Seiten der Wald in den dunklen Reihen von Tannen und Fichten, mit den Axtschlägen und dem Rabengekrächze, es fliegt die ganze Straße, in eine unbekannte Ferne.Ŗ41 Neben diesem allgemeinen Bezugsrahmen gibt es zwei ganz konkrete intertextuelle Berührungspunkte zwischen Gogolřs Roman und Pelevins Povestř. Bei Pelevin scheint die Gogolřsche Apotheose steckengeblieben zu sein, die Allegorie sich als Ruinenhaftes und Ruinöses realisiert zu haben: Während, erstens, Gogolřs Trojka alles Irdische hinter sich lässt, sind in „Ņeltaja strelaŖ sowohl die zerbrochene Brücke als auch der vom Himmel gefallene Blitz zu Faktoren fiktionaler Realität geworden. „Und sie jagt dahin, jagt dahin, jagt dahin!... Und in der Ferne ist schon sichtbar, wie etwas sich in Staub auflöst und die Luft durchbohrt. Und jagst nicht auch du, Russland, wie eine flinke, uneinholbare Trojka dahin? Es dampft der Weg unter dir, es krachen die Brücken, alles bleibt zurück, bleibt hinter dir liegen. Zeuge des göttlichen Wunders: Ist es nicht ein vom Himmel gefallener Blitz?Ŗ42 Zum zweiten ist die Gogolřsche Trojka-Allegorie zu einer Sekte verkommen, deren Glaubensinhalte sich aus einem Metaphernmix aus Gogolř und dem öffentlichen Verkehrswesen speisen: „UtristenŖ (was auch als „U-DreierŖ zu lesen wäre und somit an eine U-Bahnlinie Nummer 3 gemahnen würde) nennt sich die Glaubensgemeinschaft, die die Überzeugung verbindet, sie ziehe eine „Lokomotive vom Typ ‚U3Ř Ŕ sie nennen sie auch noch TrojkaŖ. Und sie sind überzeugt, sie seien „in einen hellen Tag unterwegsŖ. „Die, die an die ‚U3Ř glauben, fahren über die letzte Brücke, die anderen nichtŖ (44). Der Intertext43 eröffnet bzw. erschließt bei Pelevin keine neuen Schichten, intertextuelle Bezugspunkte gehören mit zu den Spieloptionen44 der Textlektüre, und es ist noch nicht gesagt, dass jener sophisticated reader am Schluss mit der höchsten Punkteanzahl (bzw. mit Waffen, Immunschildern und Leben am besten ausgestattet) aussteigen wird, der sich auf diesem, wiederum in der Metaphorik

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von Computerspielen gesprochen, intertextuell dekodierenden Level versucht hat. Pelevins Texte funktionieren auch in diesem Sinn horizontal und im Sinne einer reinen Oberflächen-„StrukturŖ von Kombinatorik und Aleatorik. Jedenfalls ist anzunehmen, dass den Lesern Viktor Pelevins die Realität der Gameboys und der Nintendos vertrauter ist als die Schluss-Sequenz von Gogolřs „Mertvye duńiŖ. Dass jedoch im Falle des Wiedererkennens die Freude darüber den Spaßfaktor am Spiel erhöht, steht außer Frage. Die Forschungsliteratur hat bislang für die schillernde Oberflächigkeit, das heißt die ephemere Referentialität der Text- und Intertextstrukturen bei Pelevin zwei Metaphern gefunden. Mélat spricht von einem Universum von „SeifenblasenŖ (bulles de savon), die vom Autor, mit ein wenig Leben und einer Portion fiktionaler Elemente gefüllt, ziellos in die Luft geblasen werden. Die dabei kurzfristig im Raum schwebende fiktionale Welt sei eine ephemere Erscheinung, die, kaum entstanden, gleich Seifenblasen zerplatzt.45 Engel zeigt anhand der gleichzeitig mit „Ņeltaja strelaŖ publizierten Povestř „Princ GosplanaŖ (Der Prinz von Gosplan)46, wie vielschichtige „LösungsangeboteŖ bzw. Leseweisen in Pelevins Texten Vexierbildern gleich koexistieren: „Die Eigenart von Vexierbildern ist ja der Umstand, daß derselbe Sachverhalt auch völlig anders gesehen werden kann, was jedoch eine Umorientierung erfordert, vor allem ein ‚UmlesenŘ von Hintergrund und Figur.Ŗ47 Dabei liegt der Reiz der Vexierbilder darin, dass sie paradoxe bis unmögliche Varianten anbieten Ŕ im Falle des von Engel analysierten Textes sind dies Stalin und Buddha gleichermaßen, im Falle von „Ņeltaja strelaŖ wären dies im Hinblick auf die Gogolř-Bezüge der Zug als Trojka, das heißt als Russland/Sowjetunion und gleichzeitig der Zug als „Zug der neuen ZeitŖ, als Charakteristik des byt im Postperestrojka-Russland (der Text spricht von „perecepkaŖ48), das zunehmend jeglicher topographischer Differenz ermangelt und somit also eine Metapher für das Leben als Unterwegssein im global village gelesen werden könnte. Festzuhalten ist schließlich, dass sich Pelevin von psychodelischen Textverwandten stark angezogen fühlt. Das erklärt vielleicht auch die offensichtliche Bezugnahme auf Gogolř, der bereits Venedikt Erofeevs Samizdat-Hit der siebziger Jahre49 „MoskvaŔPetuńkiŖ (MoskauŔPetuńki)50 inspirierte. Die Linie Gogolř Ŕ Erofeev Ŕ Pelevin zu verfolgen, ist insofern aussagekräftig, als auf dieser Ebene gerade der Wandel der Bewegungsmetaphorik gezeigt werden kann. Während Gogolř Stoff für die Allegorisierung des Reisens anbietet, eine sakral-erhabene Vorlage für den apotheotischen bzw. apokalyptischen Trip, ist Erofeevs kontrafakturelle Antwort darauf die Geschichte eines reisenden Narren in Christo Ŕ und Alkoholikers Ŕ zu Sowjetzeiten: Das Vorhaben, von Moskau nach dem als paradiesisch vorgestellten, außerhalb Moskaus gelegenen Petuńki zu reisen, scheitert am Alkoholkonsum ebenso wie an den zentripetalen Kräften des sowjetischen Chronotops. Der betrunkene Reisende, namensgleich mit dem Autor, muss „am EndeŖ der Fahrt entdecken, dass er die Ringlinie der Moskauer UBahn nie verlassen hat. Während Gogolřs Ĉiĉikov in seiner Russland-Trojka vom Abheben träumt, Erofeevs Veniĉka im Kreis fahrend die Unmöglichkeit, einen

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individuellen Weg zu gehen, als Leerstelle beschreibt51, gewissermaßen eine psychodelische Odyssee erfährt (wobei er sich von den mitreisenden „PassagierenŖ unterschieden wissen will), endet die Fahrt in Pelevins „Ņeltaja strelaŖ, zumindest für den Helden, nicht am fatalen Ziel.52 Vielleicht ist auch dies ein ‚Zug der neuen ZeitŘ als Option des Fiktionalen bzw. Provokation des Imaginären: Auszusteigen, auch allein, die Geschwindigkeit und die Richtung zu ändern, im Sinne eines Ebenenwechsels, ist möglich. Das Leben ist ein Trip.

Literatur und Anmerkungen Die russische Erzählung

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Literatur und Anmerkungen

38, danach veröffentlicht von M. O. Skripilř, in: Trudy Otdela drevne-russkoj literatury 2. 1935, S. 181Ŕ214. Geschrieben in der traditionellen russisch-kirchenslavischen Sprache enthält der Text eine Reihe neuer Worte, die, bezeichnenderweise vorzugsweise aus dem militärischen Bereich, Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts vom Ausland ins Russische eindrangen, beispielsweise „komandaŖ (Befehl), ėkzercicijaŖ (Übung) oder „voinskij artikulŖ (Kriegsartikel). Veröffentlicht von Sipovskij, s. Anm. 3 (I), S. 59Ŕ70, später von V. F. Pokrovskaja in: Trudy Otdela drevne-russkoj literatury 1. 1934, S. 249Ŕ297. Text und Analyse der Erzählung durch Ju. M. Sokolov in: Drevnosti. Trudy Slavjanskoj komissii Moskovskogo archeologiĉeskogo obńĉestva 4, 2. Moskau 1914, S. 1Ŕ40. Jurij Striedter sieht die Erzählung von Frol Skobeev deshalb als Vorläufer des Schelmenromans, der im 18. sowie beginnenden 19. Jahrhundert in Russland von Ĉulkov bis Bulgarin eine nicht geringe Rolle für die Entwicklung des russischen Romans vor Gogolř spielt. Vgl. J. Striedter, Der Schelmenroman in Rußland. Ein Beitrag zur Geschichte des russischen Romans vor Gogolř. Berlin 1961, S. 52. D. S. Lichaĉev, Razvitie russkoj literatury XŔXVII vekov. Ėpochi i stili. Leningrad 1973, S. 144. Vgl. I. P. Lapickij, „Povestř o sude ŃemjakiŖ i sudebnaja praktika vtoroj poloviny XVII v. In Trudy Otdela drevne-russkoj literatury 6. 1948, S. 60Ŕ99. Den Text der ersten Redaktion veröffentlichte N. A. Baklanova in „Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 10. 1954, S. 326Ŕ331. Die zweite Redaktion ist enthalten in N. K. Gudzijs „Chrestomatija po drevnej literature XI-XVII vekovŖ 7. Aufl. Moskau 1962, S. 448Ŕ 450. Übers. nach: Die Erzählung vom Kaulbarsch. In: Die Geschichte vom reichen und angesehenen Kaufmann Karp Sutulow und seiner überaus klugen Frau, die ihr eheliches Lager nicht entehrte. Russische Erzählungen und Satiren des 17. Jahrhunderts. Hg. H. Graßhoff. Leipzig 1977, S. 116. Striedter, s. Anm. 7 (I). H. Graßhoff, Nachwort. In: Ders. (Hg.), s. Anm. 11 (I), S. 130. Der Text der Erzählung ist abgedruckt sowie textologisch und literaturgeschichtlich kommentiert von V. P. Adrianova-Peretc (Hg.), Russkaja demokratiĉeskaja satira XVIII veka. Moskau 1954, S. 65Ŕ69; 205 f.; 256Ŕ264. Übers. nach: Graßhoff, s. Anm. 11 (I), S. 70. Vgl. Lichaĉev, s. Anm. 8 (I), S. 154 ff. Vgl. den Text in: Russkie povesti pervoj treti XVIII veka. Hg. G. N. Moiseeva. Moskau 1965, S. 191Ŕ210. Zu den „Petrinischen NovellenŖ vgl. V. D. Kuzřmina, Povesti Petrovskogo vremeni. In: Istorija russkoj literatury. Hg. P. I. Lebedev-Poljanskij u. a. 10 Bände. Moskau 1941Ŕ 1956, Bd. 3, S. 117Ŕ136. A. Stender-Petersen, Geschichte der russischen Literatur. 2 Bde. München 1957. Bd. 1, S. 318.

II. Erzählerische Neuansätze S. 12 1 Zu den „Moralischen WochenschriftenŖ, die, in Russland „satirische ZeitschriftenŖ genannt, eine neue Ethik für das adlige Publikum verkündeten, vgl. J. Klein, Die Moralischen Wochenschriften. In: Ders., Russische Literatur im 18. Jahrhundert. Köln 2008, S. 179Ŕ200. 2 So der Titel einer einschlägigen Monographie über die Moralischen Wochenschriften und ihre volkspädagogische Zielsetzung: W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968.

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In der Zeitschrift „PustomeljaŖ, die den Titel des englischen „TatlerŖ ins Russische übertragen aufnimmt. In den siebziger Jahren gab Novikov die Wochenschriften „TrutenřŖ (Die Drohne. 1769/70), „ŅivopisecŖ (Der Maler, 1772) und „KońelekŖ (Der Geldbeutel, 1774) heraus, in den siebziger und achtziger Jahren unter anderem die Zeitschriften „Utrennij svetŖ (Morgenlicht, 1777/78), „Moskovskie vedomostiŖ (Moskauer Nachrichten, 1779Ŕ1789) und „Veĉernjaja zarjaŖ (Abenddämmerung, 1782). Ausführlicher dazu P. Brang, Studien zu Theorie und Praxis der russischen Erzählung 1770Ŕ1811. Wiesbaden 1960, S. 73 ff. In dieser Bedeutung verwendet zum Beispiel Fedor Ėmin das Wort in seinem Schelmenroman „Prikljuĉenija FemistoklaŖ (Die Abenteuer des Themistokles, 1763). Zit. nach: Russkaja literatura XVIII veka 1700Ŕ1775. Chrestomatija. Hg. V. A. Zapadov. Moskau 1979, S. 379. Vgl. P. N. Berkov (Hg.), Satiriĉeskie ņurnaly N. I. Novikova. „TrutenřŖ 1769Ŕ1770, „PustomeljaŖ 1770, „ŅivopisecŖ 1772Ŕ1773, „KońelekŖ 1774. Moskau 1951, S. 135; 74. Stender-Petersen, s. Anm. 19 (II), S. 426. N. Novikov, Briefe eines Landadligen an seinen Sohn. In: Altrussische Dichtung aus dem 11.Ŕ18. Jahrhundert. Hg. H. Grasshoff. Leipzig 1982, S. 233. Auf die Bedeutung von Ĉulkov und Levńin hat zuerst Viktor Ńklovskij in seiner Monographie aus dem Jahr 1933 aufmerksam gemacht. Vgl. V. Ńklovskij, Ĉulkov i Levńin. Leningrad 1933. M. D. Ĉulkov, Peresmeńnik, skazki slavenskie. 5 Teile. Moskau 1789. V. Levńin, Russkie skazki, soderņańĉie drevnejńie povestvovanija o slavnych bogatyrjach, skazki narodnye i proĉie, ostavńiesja ĉerez pereskazyvanija v pamjati prikljuĉenija. 10 Teile. Moskau 1780Ŕ1783. Striedter, s. Anm. 7 (I), S. 66, 86. Brang, s. Anm. 5 (II), S. 92. M. Ĉulkov, Gorřkaja uĉastř. In: Russkaja proza XVIII veka. Hg. A. V. Zapadova u. G. P. Makogonenko. 2 Bde. Moskau 1950. Bd. 1, S. 145Ŕ150. V. Levńin, Dosadnoe probuņdenie. In: Ders., Russkie skazki. Hg. K. E. Korepova. 2 Bde. Petersburg 2008. Bd. 1, S. 463Ŕ 469. K. Städtke, Die Entwicklung der russischen Erzählung (1800Ŕ1825). Eine gattungsgeschichtliche Untersuchung. Berlin 1971, S. 24. Levńin, s. Anm. 17 (II), S. 469.

S. 17 III. Die Entdeckung des Gefühls 1 Brang, s. Anm. 5 (II), S. 95. 2 E. Trunz, Anmerkungen des Herausgebers zu „Die Leiden des jungen WertherŖ. In: Goethes Werke. Hg. E. Trunz. 14 Bde. Hamburg 1948Ŕ1960. Bd. 6, S. 543. 3 So Ńevyrev. Zit. nach: Brang, s. Anm. 46, S. 129. 4 Klein, s. Anm. 1 (II), S. 297. 5 N. M. Karamzin, Ĉto nuņno avtoru. In: Ders., Izbrannye soĉinenija. Hg. P. Berkov u. G. Makogonenko. 2 Bde. Moskau 1964. Bd. 2, S. 122. 6 Vgl. N. M. Karamzin, Poslanie k ņenńĉinam. In: Ders., Polnoe sobranie stichotvorenij. Hg. Ju. M. Lotman. Moskau 1966, S. 169Ŕ179, hier: S. 170. 7 Beide Ausdrücke bei Klein, s. Anm. 1 (II), S. 299, 301. 8 A. A. Alekseev, Jazyk svetskich dam i razvitie jazykovoj normy v XVIII veke. In: Funkcionalřnye i socialřnye raznovidnosti russkogo literaturnogo jazyka XVIII v. Hg. V. V. Zamkova. Leningrad 1984, S. 82Ŕ95, hier: S. 95. 9 Klein, s. Anm. 1 (II), S. 302. 10 Zit. nach: V. V. Vinogradov, Stilistiĉeskie normy salonno-literaturnoj reĉi. In: Ders.,

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Literatur und Anmerkungen

Oĉerki po istorii russkogo literaturnogo jazyka XVIIŔXIX vekov. 3. Aufl. Moskau 1982, S. 194. So charakterisierte Ivan Dmitriev die russische Literatursprache vor dem Auftreten Karamzins. Vgl. I. I. Dmitriev, Vzgljad na moju ņiznř. Moskau 1866, S. 86. N. Karamzin, Otĉego v Rossii malo avtorskich talantov? In: Ders., s. Anm. 5 (III), S. 183Ŕ188, hier: S. 185. So bleibt zum Beispiel das Subjekt der Partizipialsätze beim Hauptsatz; die von Partizipien abhängigen Objekte sind nur noch selten vorangestellt. Und alle erzählerischen Partien stehen durchgängig in der Vergangenheit, die kontemplativen im Präsens. Vgl. Brang, s. Anm. 5 (II), S. 130. Vgl. Anm. 5 (V). „Пой, Карамзин! Ŕ И в прозе / Глас слышен соловьин". G. R. Derņavin, „Progulka v Carskom seleŖ. In: Ders., Stichotvorenija. Leningrad 1957, S. 172Ŕ174, hier: S. 174. „Uvleĉenie [povesti „Bednoj LizyŖ] bylo vyzvano ne eja soderņaniem, a krasivoj vneńnostřjuŖ. N. Belozerskaja, Vasilij Trofimoviĉ Nareņnyj. Istoriko-literaturnyj oĉerk. 2. Aufl. Sankt Petersburg 1896. S. 84. Mehrere der genannten Erzählungen sind enthalten in der von P. A. Orlov herausgegebenen Anthologie „Russkaja sentimentalřnaja povestřŖ. Moskau 1979. Zit. nach: Brang, s. Anm. 5 (II), S. 257. Klein, s. Anm. 1 (II), S. 327. L. V. Pumpjanskij, Sentimentalizm. In: Istorija russkoj literatury. Hg. P. I. Lebedev-Poljanskij. 10 Bde. Moskau 1941Ŕ1956 . Bd. 4, S. 440. Brang, s. Anm. 5 (II), S. 143. Ders., Karamsin: Die arme Lisa. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 28. Karamzin, s. Anm. 5 (III). Bd. 1, S. 607. A. I. Kluńin, Nesĉastnyj M-v. In: Orlov, s. Anm. 17 (III), S. 119Ŕ141. So der Erzähler in „Bednaja DańaŖ. Vgl. ebd., S. 68. Der volle Titel lautet: „Rossijskij Verter, poluspravedlivaja povestř, originalřnoe soĉinenie M. S., molodogo, ĉuvstvitelřnogo ĉeloveka, nesĉastnym obrazom samoizvolřno prekrativńego svoju ņiznřŖ (Der russische Werther, eine halbwahre Erzählung, ein originales Werk von M. S., einem jungen, empfindsamen Menschen, der auf unglückliche Art willkürlich sein Leben beendete). M. V. Suńkov, Rossijskij Veter. Poluspravedlivaja povestř. In: Orlov (Hg.), s. Anm. 17 (III), S. 203. Ebd. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 215. Brang, s. Anm. 5 (II), S. 229.

IV. Vom sentimentalistischen zum romantischen Erzählen S. 26 1 N. M. Karamzin, Natalřja bojarskaja doĉř. In: Ders., s. Anm. 5 (III), Bd. 1, S. 622. 2 Ders., Marfa-posadnica, ili Pokorenie Novagoroda. In: Ebd., S. 680. Zu Karamzin als historischer Erzähler vgl. W. Kośny, Zum Problem der historischen Erzählung bei N. M. Karamzin. In: Die Welt der Slaven 13. 1968, S. 251Ŕ281. 3 J. Striedter, Dichtung und Geschichte bei Puńkin. Konstanz 1977, S. 15 f. 4 Zu Bestuņev-Marlinskijs Erneuerung der historischen Erzählung in Russland vgl. Städtke, s. Anm. 18 (II), S. 119 ff., 142 f. 5 „O nyneńnem nravstvennom i fiziĉeskom sostojanii lifljandskich krestřjanŖ (Über den

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gegenwärtigen moralischen und physischen Zustand livländischer Bauern), erschienen 1818 in „Syn oteĉestvaŖ. Städtke, s. Anm. 3, S. 32. Untertitel: „Malorossijskaja bylřŖ (Eine kleinrussische Geschichte). Zuerst in: Zvezdoĉka. 1825. Jetzt in: O. Somov, Kupalov veĉer. Izbrannye proizvedenija. Hg. Z. V. Kiriljuk. Kiev 1991, S. 22Ŕ37. Untertitel: „Otryvok iz malorossijskoj povestiŖ (Fragment aus einer kleinrussischen Erzählung). Zuerst in: Severnye cvety na 1828 god. 1827. Jetzt in: Somov, s. Anm. 7 (IV), S. 38Ŕ92. Städtke, s. Anm. 3, S. 34. Brang übersetzt „svetskaja povestřŖ mit „mondäner ErzählungŖ, Städtke mit „Erzählung aus der ‚Großen Weltʻ Ŗ. Vgl., Brang, s. Anm. 5 (II), S. 269. Städtke, s. Anm. 3, S. 53. K. F. Ryleev, Ĉudak. In: Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. A. G. Cejtlin. Moskau 1934, S. 305 f. A. A. Bestuņev-Marlinskij, Veĉer na bivuake. In: Ders., Soĉinenija. Hg. P. A. Sidorov u. N. N. Maslin. 2 Bde. Moskau 1958. Bd. 1, S. 53. Ebd., S. 52. Vgl. V. Feyerherd, Die Evolution des Apologs im Zeitalter der russischen Romantik. In: Zeitschrift für Slawistik 13. 1968, S. 541 ff. Ausführlicher zur „svetskaja povestřŖ als eines Erzähltypus, der die „hocharistokratische Gesellschaft und besonders die repräsentativen wie intimen Bereiche ihres PrivatlebensŖ darstellt: Städtke, s. Anm. 3, S. 53Ŕ81. Puńkin, s. Anm. 7, S. 162 (Kap. 7, Vers LIII). V. G. Belinskij, Evgenij Onegin. In: Ders., s. Anm. 1, Bd. 7, S. 503. F. V. Odoevskij, Bal. In: Ders., Povesti i rasskazy. Hg. E. Ju. Chin. Moskau 1959, S. 76. Städtke, s. Anm. 3, S. 65. Ebd. Zum Beispiel „Gorod bez imeniŖ (Stadt ohne Namen) und „Poslednee samoubijstvoŖ (Der letzte Selbstmord) aus dem Zyklus „Russkie noĉiŖ (Russische Nächte, 1844). Odoevskij, s. Anm. 18 (IV), S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 107. Vgl. P. Mańkov, „PovestiŖ (Erzählungen, 1834), A. Emiĉev, „Rasskazy djadi ProkopřjaŖ (Erzählungen des Onkels von Prokop, 1836), A. Timofeev, „Stichi i povestiŖ (Gedichte und Erzählungen, 1936), P. Sumarokov, „PovestiŖ (Erzählungen, 1834Ŕ1837), M. Ņukova, „Veĉera na KarpovkeŖ (Abende in Karpovka, 1837/38). Zum Beispiel mit der Erzählung „Vsja ņiznŘ ņenńĉiny v neskolřkich ĉasachŖ (Das ganze Leben der Frau in einigen Stunden, 1834). Zit. nach: V. P. Vilřĉinskij, Nikolaj Filippoviĉ Pavlov. Ņiznř i tvorĉestvo. Leningrad 1970, S. 45. N. F. Pavlov, Imeniny. In: Russkaja romantiĉeskaja povestŘ (pervaja tretŘ XIX veka). Hg. V. A. Grichin. Moskau 1983, S. 347. Ebd., S. 344. Ebd., S. 354. E. S. Koc, Krepostnaja intelligencija. Leningrad 1926. Pavlov, s. Anm. 28 (IV), S. 355. Der Ausdruck „realřnaja povestř wurde zuerst von Kotljarevskij im Zusammenhang seiner Analyse des Schaffens von Pogodin und Gogolř gebraucht und von Klaus Städtke für seine Typologie der russischen Erzählungen der zwanziger und dreißiger Jahre in verallgemeinerter Form verwendet (s. Anm. 3, S. 109 ff.). Vgl. N. Kotljarevskij, Nikolaj Vasilřeviĉ Gogolř 1829Ŕ1842. Oĉerk iz istorii russkoj povesti i dramy. 2. Aufl. Petersburg 1908, S. 94.

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Literatur und Anmerkungen

34 M. P. Pogodin, Nińĉij. In: Russkie povesti XIX veka 20-ch Ŕ 30-ch godov. 2 Bde. Hg. B. S. Mejlach. Moskva 1950. Bd. 1, S. 265. 35 Ebd., S. 270. 36 Vgl. „DoĉŘ ĉinovnogo ĉelovekaŖ (Die Tochter eines Staatsdieners, 1839), „Razdel imenijaŖ (Die Aufteilung eines Landguts, 1840). 37 Vgl. „SereņaŖ (1838), „AptekarńaŖ (Die Apothekerin, 1841). V. Die Schaffung eines individuellen Prosastils bei Puškin und Gogol’ S. 45 1 Somov, s. Anm. 4. 2 Ebd. Ŕ Vgl. auch S. 2 dieses Bandes. 3 A. S. Puńkin, O proze. In: Ders., s. Anm. 7, Bd. 11, S. 19. 4 Ebd. Ŕ Sowie ders., O poėtiĉeskom sloge. In: Ders., s. Anm. 7, Bd. 11, S. 73. 5 „Der ganze ,sentimentaleʻ Charakter der Prosa KaramzinsŖ, schreibt K. Skipina, „lässt sich auf die ,Angenehmheitʻ [prijatnostŘ] zurückführen.Ŗ K. Skipina, O ĉuvstvitelřnoj povesti. In: Russkaja proza. Sbornik statej. Hg. B. Ėjchenbaum u. Ju. Tynjanov. Leningrad 1926, S. 28. 6 Puńkin, s. Anm. 3 (V). 7 Das hat zu Recht schon Boris Ėjchenbaum festgestellt und ebenso zu Recht darauf hingewiesen, dass gerade deshalb Vers und Prosa bei Puńkin „so weit voneinander entferntŖ sind. Vgl. Ėjchenbaum, s. Anm. 6, S. 166. 8 Vgl. zum Beispiel das Gedicht „UtoplennikŖ (Der Ertrunkene, 1828): Дети спят, хозяйка дремлет, На полатях муж лежит, Буря воет; вдруг он внемлет: Кто-то там в окно стучит. 9

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Die Kinder schlafen, die Hausfrau schlummert, Auf der Pritsche liegt der Mann, Der Sturm heult; plötzlich lauscht er: Jemand klopft dort ans Fenster.

Auch dies hat Ėjchenbaum als erster gesehen und an den Anfangssätzen einer „BelkinŖErzählung, an „VystrelŖ (Der Schuss), exemplifiziert. Vgl. Ėjchenbaum, s. Anm. 6, S. 168 f. Ebd., S. 168. „Der Roman erfordert GeplauderŖ, schrieb Puńkin an Bestuņev-Marlinskij. „Nimm dir einen ganzen Roman vor und schreib ihn mit der ganzen Freiheit des Gesprächs oder Briefs.Ŗ Vgl. Puńkin, s. Anm. 7, Bd. 13, S. 180, 245. Ders., s. Anm. 4 (V). Ebd. N. F. Końanskij, Obńĉaja retorika [1829]. In: Ders., Ritorika. Hg. V. I. Annuńkin u. a. Moskau 2013, S. 66. Andrej Sinjavskij hat Gogolřs „Prosa als räumliche FormŖ detaillierter beschrieben und den verwilderten Garten des Gutsbesitzers Pljuńkin in dem Roman „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen) als Bild für diese Prosa gesehen. A. Terc [A. Sinjavskij], Geografija prozy. In: Ders., V teni Gogolja. London 1975, S. 342 f. F. Schlegel, Fragmente zur Literatur und Poesie. In: Ders., Kritische Ausgabe. Hg. E. Behler u. a. 35 Bde. Paderborn 1958 ff. Bd. 16, S. 119. Ebd., Bd. 2, S. 245. Vgl. den Beitrag von Wolf Schmid, Aleksandr Puńkin: Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa Belkina (Die Erzählungen des verstorbenen Ivan Petroviĉ Belkin), S. 248 ff. dieses Bandes. Vgl. dazu das Kapitel „Puńkins Prosapoetik in der Geschichte ihrer RezeptionŖ, dem auch die folgenden Zitate entstammen (in: W. Schmid, Puńkins Prosa in poetischer Lektüre. Die Erzählungen Belkins. München 1991. S. 16Ŕ26).

Die russische Erzählung

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20 Zit. nach: B. M. Ėjchenbaum, Puńkin i Tolstoj. In: Ders., O proze. Sbornik statej. Leningrad 1969, S. 179. Ŕ In einem Brief an E. G. Golochvastov vom März 1873 schrieb Tolstoj während der Arbeit an „Anna KareninaŖ: „Lesen Sie zuerst alle Erzählungen Belkins. Jeder Schriftsteller muß sie immer wieder studieren.Ŗ Ebd., S. 181. 21 Schmid, s. Anm. 19, S. 26. 22 Einen Überblick über diese Deutungsvielfalt bietet Wolf Schmid in dem Kapitel „Silřvios Rache und das Rätsel der NovelleŖ seines Puńkin-Buches. Vgl. ebd., S. 171Ŕ183. 23 Ebd., S. 30 f. 24 Städtke, s. Anm. 3, S. 139. 25 Puńkin, s. Anm. 7, Bd. 8, 1, S. 117. 26 Ebd., S. 124. 27 Ebd., S. 91. 28 Terc, s. Anm. 9, S. 326 f. 29 Ebd. S. 326. 30 Vgl. Puńkins Rezension der 2. Auflage von Gogolřs „DikanřkaŖ-Erzählungen in: Sovremennik. Literaturnyj ņurnal. 1836. Bd. 1, S. 312. 31 M. Wegner, Nachwort. In: N. Gogolř, Abende auf dem Weiler bei Dikanka. Vom Imker Panko Rotfuchs herausgegebene Erzählungen. 3. Auf. Berlin 1980, S. 336. 32 Vgl. G. Langer, Schöne Synthese oder diabolische Mischung? Zum Problem des Schönen in Gogolřs Frühwerk. In: Zeitschrift für slavische Philologie 51. 1991, S. 158 f. 33 N. V. Gogolř, Soroĉinskaja jarmarka. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. L. Meńĉerjakov. 14 Bde. Moskau 1937Ŕ1952. Bd. 1, S. 135 f. 34 Ebd., S. 136. 35 N. V. Gogolř, Veĉer nakanune Ivana Kupala. In: Ders., s. Anm. 33 (V), S. 151. 36 Ebd., S. 152. 37 Vgl. V. Propp, Morfologija skazki. 2. Aufl. Moskau 1969, S. 40 ff. 38 N. V. Gogolř, Noĉř pered Roņdestvom. In: Ders., s. Anm. 33 (V), S. 243. 39 Ders., Nevskij prospekt. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 3, S. 45. 40 Langer, s. Anm. 32 (V), S. 157 ff. 41 Gogolř, s. Anm. 35 (V), S. 141, 144. 42 Ders., s. Anm. 38 (V), S. 207. 43 Ders., Vij. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 2, S. 187 f. 44 Ders., s. Anm. 39 (V), S. 21. 45 Ders., Starosvetskie pomeńĉiki. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 2, S. 13. 46 Ebd., S. 36. 47 N. V. Gogolř, Povestř o tom, kak possorilsja Ivan Ivanoviĉ s Ivanom Nikiforoviĉem. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 2, S. 226. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 223, 225. 50 Ebd., S. 250. 51 Ebd., S. 276. 52 Gogolř, s. Anm. 33 (V), S. 136. 53 R. Peace, ŖMirgorodŗ. In: Ders., The Enigma of Gogol. An Examination of the Writings of N. V. Gogol and their Place in the Russian Literary Tradition. Cambridge 1981, S. 88. 54 Vgl. B. Zelinsky, Erzählen bei Gogolř. In: Erzählen in Russland. Hg. R. Herkelrath. Frankfurt/M. 2000, S. 39 f. In „Mertvye duńiŖ erweitert sich die Identifizierung von Autor und Erzähler sogar noch um die von Autor und Romanheld. Die Auffassung, dass die Erzähler der „DikanřkaŖ-Texte bis zu gewissem Grad teils komische, teils nichtkomische alter ego Gogolřs sind, hat schon Dmitrieva vertreten. Vgl. E. Dmitrieva, Sternianskaja tradicija i romantiĉeskaja ironija v „Veĉerach na chutore bliz DikanřkiŖ. In: Izvestija Akademii Nauk. Serija literatury i jazyka 1992/93, S. 20.

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Literatur und Anmerkungen

55 Vgl. N. Å. Nilsson, Gogol et Pétersbourg. Recherches sur les antécédents des Contes Pétersbourgeois. Stockholm 1954. 56 J. Holthusen, Zur literarischen Typologie und zum Motivbestand der „Petersburger ErzählungenŖ, insbesondere bei Puńkin und Gogolř. In: Die Welt der Slaven 4. 1959, S. 151. 57 Ebd., S. 149. 58 Gogolř, s. Anm. 39, S. 10. Ŕ Vgl. dazu ausführlicher: B. Zelinsky, Schönheit und Schein in Gogolřs „Nevskij prospektŖ und „PortretŖ. In: Ders., Russische Romantik. Köln 1975, S. 324 ff. 59 Ebd., S. 45. 60 M. Braun, Der Höhepunkt der Novellistik. In: Ders., N. W. Gogol. Eine literarische Biographie. München 1973, S. 125. 61 S. Karlinsky, The Sexual Labyrinth of Nikolai Gogol. Cambridge, Massachusetts 1976, S. 129 f. 62 Bei der Bemerkung über Gogolřs angebliches Zögern handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen redaktionellen Kunstgriff. 63 Puńkin, s. Anm. 30 (V), Bd. 3, S. 54. 64 V. Setschkareff, Zwei Meisterstücke der Kurzform. In: Ders., N. V. Gogol. Leben und Schaffen. Wiesbaden 1953, S. 120. 65 N. V. Gogolř, Nos. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 3, S. 75. 66 Ebd. 67 „[...] gde ņ ne byvaet nesoobraznostej?Ŗ Ebd. 68 Ebd., S. 61. 69 Vgl. den Beitrag von Bodo Zelinsky, Nikolaj Gogolř: Ńinelř (Der Mantel), S. 281 ff. dieses Bandes. 70 Gogolř, s. Anm. 65 (V), S. 74 f. 71 „fantastiĉeskoe okonĉanieŖ. N. V. Gogolř, Ńinelř. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 3. S. 169. 72 Setschkareff, s. Anm. 64 (V), S. 104. 73 Braun, s. Anm. 60 (V), S. 112. 74 Gogolř, s. Anm. 71 (V), S. 159. 75 Peace, s. Anm. 53 (V), S. 125. 76 N. V. Gogolř, Zapiski sumasńedńego. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 3, S. 206. 77 Braun, s. Anm. 60 (V), S. 112. 78 Gogolř, s. Anm. 39 (V), S. 10. 79 Ebd., S. 13. 80 G. M. Fridlender, „Zapiski sumasńedńegoŖ. In: N. V. GogolŘ, Sobranie soĉinenij. Hg. S. I. Mańinskij u. a. 7 Bde. Moskau 1966Ŕ1967. Bd. 3, S. 343. 81 Zum Thema Kunst und Künstlertum in der russischen Romantik insgesamt vgl. Zelinsky, s. Anm. 58 (V). VI. Phantasie und Wirklichkeit. Von Gogol’s Petersburger Erzählungen zu Odoevskijs „Russkie noči“ S. 65 1 V. F. Odoevskij, Poslednij kvartet Betchovena. In: Ders., Russkija noĉi. Hg. S. A. Cvetkov. Moskau 1913, S. 197. 2 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1963, S. 354. 3 Vgl. G. B. Bernandt, V. F. Odoevskij i Betchoven. Stranica iz istorii russkoj betchoveniany. Moskau 1971, S. 30 ff. 4 Gogolř, s. Anm. 39 (V), S. 33. 5 Ebd., S. 16.

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N. V. Gogolř, Portret. In: Ders., s. Anm. 33 (V), Bd. 3, S. 79. Ebd., S. 88. Ebd., S. 115. Ebd., S. 113. Ebd., S. 133. Ebd., S. 92. Ebd., S. 96. N. I. Mordovĉenko, Gogolř v rabote nad „PortretomŖ. In: Uĉenye zapiski. Leningradskij gosudarstvennyj universitet 47. Serija filologiĉeskich nauk. Vyp. 4. Leningrad 1939, S. 113. V. Ermilov, N. V. Gogolř. 2. Aufl. Moskau 1953, S. 225. M. B. Chrapĉenko, Tvorĉestvo Gogolřja. 2. Aufl. Moskau 1956, S. 204. Städtke, s. Anm. 3, S. 140. Brief an Ju. F. Abaza vom 15. Juni 1880. F. M. Dostoevskij, Pisřma. Hg. A. S. Dolinin. 4 Bde. Moskau 1928Ŕ1959. Bd. 4, S. 177 f. A. S. Puńkin, Pikovaja dama. In: Ders., s. Anm. 7, Bd. 8, 1. S. 252. Ebd., S. 245. Zu diesem Begriff vgl. Holthusen, s. Anm. 56 (V), S. 163. Puńkin, s. Anm. 18 (VI), S. 239. Gogolř, s. Anm. 39 (V), S. 16. Ebd., S. 46. Puńkin, s. Anm. 18 (VI), S. 235. Ebd. Gogolř, s. Anm. 65 (V), S. 54. V. F. Odoevskij, Nasmeńka mertveca. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 118. Ders., Ėkonomist. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 95. H. A. Stammler, Fürst Wladimir Fjodorowitsch Odojewski, der philosophische Erzähler der russischen Romantik. In: W. F. Odojewski, Russische Nächte. Hg. H. A. Stammler. München 1970, S. 367. F. W. J. Schelling, Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums. Hamburg 1990, S. 6 f. Aus Odoevskijs Nachlaß. Zit. nach: Stammler, s. Anm. 29 (VI), S. 396. Vgl. P. N. Sakulin, Iz istorii russkago idealizma. Knjazř V. F. Odoevskij. MyslitelřŔ Pisatelř. Bd. 1, Teil 1 u. Teil 2. Moskau 1913. Bd. 1, 1, S. 438Ŕ444, 563Ŕ569. V. F. Odoevskij, Ėpilog. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 340 f. Ders., Noĉř vtoraja. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 51. Ŕ Im Nachlass Odoevskijs fand sich ein Aufsatz, der als Einführung zu „Russkie noĉiŖ konzipiert wurde und den programmatischen Titel „Russkie noĉi ili o neobchodimosti novoj nauki i novogo iskusstvaŖ trägt. Sakulin, s. Anm. 32 (VI), Bd. 1, 2, S. 216. Sakulin, s. Anm. 32 (VI), Bd. 1, 2, S. 218 ff., 241 f. Ebd. S. 220. Odoevskij, s. Anm. 34 (VI), S. 40. P. Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik. 5. Aufl. Tübingen 1966, S. 63. Odoevskij, s. Anm. 34 (VI), S. 40. Ders., Noĉř pervaja. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 37. Ebd., S. 35. Odoevskij, s. Anm. 34 (VI), S. 40. Ebd., S. 45. V. F. Odoevskij, Noĉř sedmaja. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 227. Ders., Desiderata. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 62. Ders., Noĉř devjataja. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 321.

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Literatur und Anmerkungen

47 O. Nipperdey, Wahnsinnsfiguren bei E. T. A. Hoffmann. Diss. Köln 1957, S. 201 ff. 48 Ebd., S. 8 ff. 49 G. Görres, Dom sumasńedńich i idei ob iskusstve i pomeńatelřstve uma. In: Moskovskij nabludatelř. Moskau 1835. Teil 4, S. 5Ŕ33, 157Ŕ190. 50 V. F. Odoevskij [Pseud. Bezglasnyj], Kto sumasńedńie. In: Biblioteka dlja ĉtenija. Petersburg 1836. Teil 14, S. 50Ŕ64. 51 So auch, allerdings ohne nähere Begründung, Ch. E. Passage, The Russian Hoffmannists. The Hague 1963, S. 95. 52 V. F. Odoevskij, Noĉř tretřja. In: Ders., s. Anm. 1 (VI), S. 80. 53 E. T. A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke. Hg. W. Müller-Seidel. Darmstadt 1967, S. 23. 54 Odoevskij, s. Anm. 52 (VI), S. 79. 55 So wohl zum ersten Mal L. Köhn, Vieldeutige Welt. Studien zur Struktur der Erzählungen E. T. A. Hoffmanns und zur Entwicklung seines Werkes. Tübingen 1966, S. 37 ff. 56 Odoevskij, s. Anm. 52 (VI), S. 80 ff. VII. Die Entdeckung der „Wirklichkeit, so wie sie ist“ S. 76 1 Band 1 erschien am 28. März 1845, Band 2 am 1. Juli 1845 in Petersburg bei dem Buchhändler und Verleger A. Ivanov. Neuauflagen erfolgen erst wieder 1984 (Hg. V. A. Nedzveckij) und 1991 (Hg. V. I. Kuleńov). 2 Zit. nach: T. Jakimov, Francuzskij realistiĉeskij oĉerk 1830Ŕ1848 gg. Moskau 1863, S. 158. 3 V. G. Belinskij, Vstuplenie. In: Fiziologija Peterburga. Hg. V. I. Kuleńov. Moskau 1991, S. 12. 4 Ebd. 5 Vgl. J.-U. Peters, „Fiziologija PeterburgaŖ. In: Ders., Turgenevs „Zapiski ochotnikaŖ innerhalb der oĉerk-Tradition der 40er Jahre. Zur Entwicklung des realistischen Erzählens in Rußland. Wiesbaden 1972, S. 42 ff. 6 E. P. Grebenka, Peterburgskaja storona. In: Kuleńov (Hg.), s. Anm. 3 (VII), S. 83. 7 Zit. nach: N. Mordovĉenko, Belinskij v borřbe za naturalřnuju ńkolu. In: Literaturnoe nasledstvo 55. 1948, S. 210. 8 Ebd. 9 D. V. Grigoroviĉ, Literaturnye vospominanija. Moskau 1961, S. 84. 10 Ebd. 11 Vgl. J.-U. Peters, Westeuropäische und russische literarische Parallelen und Einflüsse. In: Ders., s. Anm. 5 (VII), S. 78Ŕ83. 12 V. V. Vinogradov, Gogolř i naturalřnaja ńkola. Leningrad 1925, S. 68. 13 J.-U. Peters, Einzelanalysen. In: Ders., s. Anm. 5 (VII), S. 106. 14 I. S. Turgenev, Zapiski ochotnika. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 30 Bde. 2. Aufl. Moskau 1978 ff. Soĉinenija. Bd. 3, S. 14 ff.; 7 ff. 15 Vl. Dalř, Russkij muņik. In: Polnoe sobranie. 10 Bde. Petersburg 1897Ŕ1898. Bd. 8, S. 128Ŕ141. 16 Turgenev, s. Anm. 14 (VII), S. 14. 17 V. G. Belinskij, Vzgljad na russkuju literaturu 1847 goda. In: Ders., s. Anm. 1, Bd. 10. S. 346. 18 Ebd., S. 300. 19 L. N. Tolstoj, Dnevnik 26 oktjabrja 1853. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Ĉertkov u. a. 90 Bde. Moskau 1928Ŕ1958. Bd. 46, S. 184. 20 P. Brang, I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden 1977, S. 70. 21 Zit. nach: S. M. Petrow, Iwan Turgenjew. In: I. Turgenjew, Gesammelte Werke. Hg. J. v. Guenther. 5 Bde. Berlin 1952. Bd. 1, S. 7 f.

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Turgenev, s. Anm. 14 (VII), S. 170 f. Ebd., S. 126. Ebd., S. 185. R. Burton, The Anatomy of Melancholy. Hg. H. Jackson. London 1972. Teil 2, S. 70. Turgenev, s. Anm. 14 (VII), S. 167 f. Ebd., S. 167. Zit. nach: K. Dornacher, Nachwort [zu Aufzeichnungen eines Jägers]. In: I. Turgenjew, Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. K. Dornacher. 10 Bände. 2. Aufl. Berlin 1979Ŕ 1985. Bd. 1, S. 495. Ebd. Turgenev, s. Anm. 14 (VII), S. 7. Ebd., S. 19. Zu Turgenevs Kunst der Naturschilderung nach wie vor grundlegend: M. Nierle, Die Naturschilderung und ihre Funktionen in Versdichtung und Prosa von I. S. Turgenev. Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bad Homburg 1969.

VIII. Auf dem Weg ins Innere. Dostoevskij und Tolstoj S. 86 1 F. M. Dostoevskij, Bednye ljudi. In: Peterburgskij sbornik. Hg. N. Nekrasov. Sanktpeterburg 1846, S. 1Ŕ166. 2 Ders., Bednye ljudi. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Bazanov u. a. 30 Bde. Leningrad 1972Ŕ1990. Bd. 1, S. 20. 3 Ebd., S. 47 f. 4 R. Neuhäuser, Das Frühwerk Dostoevskijs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch. Heidelberg 1979, S. 56. 5 F. M. Dostoevskij, Dvojnik. In: Ders., s. Anm. 2 (VIII), S. 139. 6 L. Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. 3. Aufl. Berlin 1998, S. 451. 7 Ebd., S. 147. 8 Dostoevskij, s. Anm. 5 (VIII), S. 143. 9 Ebd., S. 147. 10 Vgl. U. Heftrich, Masken der Scham: Variationen über ein Thema bei Gogolř und Dostoevskij. In: Die Lust an der Maske. Festschrift für Bodo Zelinsky. Hg. B. Harreß u. a. Frankfurt a./M. 2007, S. 66 ff. 11 Wurmser, s. Anm. 6 (VIII), S. 302. 12 Vgl. S. Merten, Dostoevskijs „DoppelgängerŖ zwischen pathologischem Fall und literarischem Text. In: Dies., Die Entstehung des Realismus aus der Poetik der Medizin. Die Russische Literatur der 40er bis 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 2003, S. 134Ŕ 166. 13 Wurmser, s. Anm. 6 (VIII), S. 312. 14 V. G. Belinskij, Vzgljad na russkuju literaturu 1846 goda. In: Ders., s. Anm. 1, Bd. 10, S. 41. 15 Merten, s. Anm. 12 (VIII), S. 9. 16 Ebd., S. 159. 17 Ebd. 18 Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. W. Schmid, Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs. München 1973, S. 92 ff. 19 Zit. nach: Dostoevskij, s. Anm. 2 (VIII), S. 489. 20 Schmid, s. Anm. 18 (VIII), S. 45 f. 21 Ebd., S. 46. 22 F. M. Dostoevskij, Gospodin Procharĉin. In: Ders., s. Anm. 2 (VIII), S. 242.

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Literatur und Anmerkungen

Schmid, s. Anm. 18 (VIII), s. 150 ff. Dostoevskij, s. Anm. 22 (VIII), S. 246. Ders., Chozjajka. In: Ders., s. Anm. 2 (VIII), S. 277. Ebd., S. 265. N. S. Trubetzkoy, Dostoevskij als Künstler. The Hague 1964, S. 58. Dostoevskij, s. Anm. 25 (VIII), S. 264. Ŕ Zur existentiellen Bedeutung des Winkels in Dostoevskijs Frühwerk vgl. B. Harreß, Mensch und Welt in Dostoevskijs Werk. Ein Beitrag zur poetischen Anthropologie. Köln 1993, S. 41 ff. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 53. H.-J. Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller. Vom „Toten HausŖ zu den „Brüdern KaramazowŖ. Frankfurt/M. 2013, S. 67. Vgl. den Beitrag von Jens Herlth, Fedor Dostoevskij: Krotkaja (Die Sanfte), S. 324 ff. dieses Bandes. Wolf Schmid spricht von „Quasi-DialogŖ und „quasi-dialogischem ErzählmonologŖ. Vgl. Schmid, s. Anm. 18 (VIII), S. 255. Vgl. Harreß, s. Anm. 28 (VIII), S. 140. F. M. Dostoevskij, Krotkaja. In: Ders., s. Anm. 2 (VIII), Bd. 24, S. 10. Ebd., S. 22. Ebd., S. 28. R. Neuhäuser, Dostojewskij: Die Sanfte. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 81. Schmid, s. Anm. 18 (VIII), S. 274. Dostoevskij, s. Anm. 34 (VIII), S. 35. Ders., Zapiski iz podpolřja. In: Ders., s. Anm. 2 (VIII), S. 179. Harreß, s. Anm. 28 (VIII), S. 120. Dostoevskij, s. Anm. 40 (VIII), S. 113. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 101. Vgl. W. Kaufmann (Hg.), Existentialism from Dostoevsky to Sartre. New York 1957. Dostoevskij, s. Anm. 40 (VIII), S. 101. Ebd., S. 128. Vgl. H.-J. Gerigk, Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA. Hürtgenwald 1995. Schmid, s. Anm. 18 (VIII), S. 282. J. Holthusen, Prinzipien der Komposition und des Erzählens bei Dostojevskij. Köln 1969, S. 35. Auch Theodor Adorno benutzte Kants Unterscheidung. Vgl. Th. W. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Ders., Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1974, S. 42 f. In dem Artikel „Zametki o russkoj literature prońlago godaŖ (in: Sovremennik 13, 3. 1849, S. 9). Ŕ Belinskij hatte ein Jahr früher (1848) in seiner letzten größeren literaturkritischen Abhandlung „Vzgljad na russkuju literaturu 1847 godaŖ (erschienen ebenfalls in „SovremennikŖ) die Begriffe „naturalřnaja ńkolaŖ und „naturalizmŖ verwendet. L. N. Tolstoj, Dnevniki i zapisnye kniņki 1904Ŕ1906 [19. März 1906]. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 55, S. 209. Vgl. B. M. Ėjchenbaum, O krizisach Tolstogo [1920]. In: Ders., Skvozř literaturu. řSGravenhage 1962, S. 67Ŕ72. M. Braun, Der Weg in die Literatur. In: Ders., Tolstoj. Eine literarische Biographie. Göttingen 1978, S. 22.

Die russische Erzählung

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58 B. M. Ėjchenbaum, Lev Tolstoj. 2 Bde. Leningrad 1928Ŕ1931. Bd. 1, S. 35. 59 Ebd. 60 Th. Mann, Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität. In: Ders., Leiden und Größe der Meister. Hg. P. de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1982, S. 39. 61 L. N. Tolstoj, Ĉernovye teksty „DetstvaŖ. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 1, S. 103. 62 Ein Ausdruck Donald A. Stauffers, zit. nach: W. Shumaker, Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. G. Niggl. Darmstadt 1989, S. 77. 63 R. Pascal, Die Autobiographie als Kunstform. In: Niggl, s. Anm. 62 (VIII), S. 148. 64 Ebd. S. 149. 65 E. Wasiolek, ŖChildhoodŗ and ŖThree Deathsŗ. In: Ders., Tolstoyřs Major Fiction. Chicago 1978, S. 19. 66 L. N. Tolstoj, Detstvo. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 1, S. 42. 67 Ebd., S. 86. 68 N. G. Ĉernyńevskij, „Detstvo i otroĉestvo. Voennye rasskazyŖ. In: Ders., Izbrannye literaturno-kritiĉeskie statři. Hg. N. Bogoslovskij. Moskau 1953, S. 292. 69 Ebd., S. 298. 70 K. Hamburger, Tolstoi. Gestalt und Problem. 2. Aufl. Göttingen 1963, S. 15. 71 L. N. Tolstoj, Dnevnik 1847Ŕ1854 [18. Juli 1852]. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 46, S. 135. 72 Braun, s. Anm. 57 (VIII), S. 32. 73 L. N. Tolstoj, Poezdka v Mamakaj-Jurt. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 3, S. 216. 74 Vgl. V. Kaplinskij, Tolsotj und Plato. Ein Deutungsversuch der Erzählung „NabegŖ. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 6. 1929, S. 43Ŕ56. 75 L. N. Tolstoj, Nabeg. Rasskaz volontera. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 3, S. 16 f. 76 G. S. Morson, The Reader as Voyeur. Tolstoi and the Poetics of Didactic Fiction. In: Canadian-American Slavic Studies 12. 1978, S. 469. 77 Ebd., S. 470. Und L. N. Tolstoj, Sevastopolř v dekabre mesjace. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 4, S. 6. 78 Tolstoj, s. Anm. 77 (VIII). 79 Ebd., S. 8 f. 80 „What the tourist of Sevastopol learns to see is himselfŖ, schreibt Gary Soul Morson, „This is a story of his growing self-consciousnessŖ. Morson, s. Anm. 76 (VIII), S. 471. 81 Tolstoj, s. Anm. 77 (VIII), S. 12. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 14 f. 84 In einem Brief Tolstojs von der Donaufront, geschrieben am 5. Juli 1854, heißt es: „Freilich ist das ein seltsames Vergnügen Ŕ zuzusehen, wie Menschen sich gegenseitig totschlagen. Trotzdem habe ich mich jeden Abend und jeden Morgen auf meinen Wagen gesetzt und stundenlang zugesehen. Und ich war nicht der einzige, der das tat. Der Anblick war in der Tat großartig, insbesondere nachts.Ŗ L. N. Tolstoj, Pisřma 1844Ŕ1855. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 59, S. 270. 85 Tolstoj, s. Anm. 77 (VIII), S. 9. 86 Ebd., S. 15. 87 L. Scheffler, Überlegungen zu Erzählziel und Erzählstil der Sevastopoler Erzählungen von L. N. Tolstoj. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 37. 1973, S. 78. 88 Vgl. den Beitrag von Christoph Garstka, Leonid Andreev: Krasnyj smech (Das rote Lachen), S. 394 ff. dieses Bandes. 89 L. N. Tolstoj, Sevastopolř v mae. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 4, S. 52. 90 Ders., Sevastopolř v avguste 1855 goda. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 4, S. 69 f. 91 So Ėjchenbaum, s. Anm. 58 (VIII), S. 181, 212, und Braun, s. Anm. 57 (VIII), S. 53.

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Literatur und Anmerkungen

92 E. G. Ėtkind, „Vnutrennij ĉelovek i vneńnjaja reĉř. Oĉerki psichopoėtiki russkoj literatury XVIIIŔXIX vekov. Moskau 1999, S. 273. 93 „Meine Laufbahn ist die Literatur Ŕ schreiben und nochmals schreibenŖ, heißt es in der Tagebucheintragung vom 10. Oktober 1855. L. N. Tolstoj, Dnevniki i zapisnye kniņki 1854Ŕ1857. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 47, S. 64. 94 Zit. nach: Ėjchenbaum, s. Anm. 58 (VIII), S. 246. 95 Zit. nach: N. N. Gusev, Lev Nikolaeviĉ Tolstoj. Materialy k biografii s 1855 po 1869 god. Moskau 1957, S. 32. 96 Vgl. Braun, s. Anm. 57 (VIII), S. 105 f. 97 L. N. Tolstoj, Semejnoe sĉastie. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 5, S. 110. 98 Ebd., S. 143. 99 Hamburger, s. Anm. 70 (VIII), S. 135. 100 L. N. Tolstoj, Pisřma 1856Ŕ1862 [25. März 1857]. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 60, S. 167. 101 Brief an A. A. Tolstaja vom 1. Mai 1858. Ebd., S. 265 f. 102 L. N. Tolstoj, Tri smerti. Rasskaz. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 5, S. 65. 103 Hamburger, s. Anm. 70 (VIII), S. 63 f. 104 Brief an S. A. Tolstaja vom 4. September 1869. Zit. nach: B. M. Ėjchenbaum, „Zapiski sumasńedńegoŖ. In: Tolstoj, s. Anm. 19 (VII), Bd. 26, S. 853. 105 L. N. Tolstoj, Zapiski sumasńedńego. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 26, S. 469. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 472. 108 Ebd., S. 473. 109 Vgl. den Beitrag von Birgit Harreß, Lev Tolstoj: Smertř Ivana Ilřiĉa (Der Tod des Ivan Ilřiĉ), S. 341 ff. dieses Bandes. 110 Hamburger, s. Anm. 70 (VIII), S. 67. 111 Ebd. 112 Vgl. dazu im Besonderen die Schilderung der „LebensgeschichteŖ (istorija ņizni) Ivan Ilřiĉs im 2. Kapitel der Erzählung. L. N. Tolstoj, Smertř Ivana Ilřiĉa. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 26, S. 68 ff. 113 Wasiolek, s. Anm. 65 (VIII), S. 173. 114 Tolstoj, s. Anm. 112 (VIII), S. 82 f. 115 Ebd., S. 87. 116 Ebd., S. 105. 117 Ebd., S. 112. 118 Vgl. Hamburger, s. Anm. 70 (VIII), S. 88, 113. 119 Tolstoj, s. Anm. 112 (VIII), S. 113. 120 Hamburger, s. Anm. 70 (VIII), S. 71. 121 L. N. Tolstoj, Chozjain i rabotnik. In: Ders., s. Anm. 19 (VII). Bd. 29, S. 3, 31. 122 Ebd., S. 36. 123 Ebd., S. 31. 124 Ebd., S. 40. 125 Ebd., S. 44. 126 L. N. Tolstoj, O ņizni 1886Ŕ1887. In: Ders., s. Anm. 19 (VII). Bd. 26, S. 382. 127 Ebd., S. 383. S. 118 IX. Meister der russischen Novelle: Turgenev und Leskov 1 D. S. Mereņkovskij, Veĉnye sputniki. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. 24 Bde. 2. Aufl. Moskau 1914. Bd. 18, S. 58. 2 Brief an Edmund Sträter vom 21. September 1892. W. Raabe, Briefe.In: Ders. Sämtliche Werke. Hg. K. Hoppe. 20 Bde. u. 5 Ergänzungsbände. Freiburg/Göttingen 1951Ŕ1994. Erg.-Bd. 2, S. 332.

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Diese Gattungsbezeichnung verwendete Baudelaire für seine ab 1857 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienenen Prosagedichte. Turgenev dürfte lange vor Robert Walser der erste nichtfranzösische Schriftsteller gewesen sein, der sich letztere zum Vorbild genommen hat. Vgl. F. Kemp, Anmerkungen. In: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke / Briefe. Hg. F. Kemp u. C. Pichois. 8 Bde. München 1975Ŕ1992. Bd. 8, S. 346. I. S. Turgenev, Kubok. In: Ders., s. Anm. 14 (VII), S. 178. So in dem Vorwort, das Gorřkij 1923 zu einer dreibändigen Leskov-Auswahl, von der lediglich der erste Band erschien, verfasst hat. Vgl. M. Gorřkij, N. S. Leskov. In: N. S. Leskov. Izbrannye soĉinenija. Hg. A. Amfiteatrov. 3 Bde. Berlin 1923. Bd. 1, S. 13. Vgl. B. Ėjchenbaum, Leskov i sovremennaja proza. In: Literatura. Teorija. Kritika. Polemika. Leningrad 1927, S. 210Ŕ225. Ŕ Anlässlich des hundertjährigen Geburtstags (1931) und des fünfzigjährigen Todestags (1845) von Leskov folgten zwei weitere wichtige Aufsätze von Ėjchenbaum. Ders., „ĈrezmernyjŖ pisatelř (K 100-letiju roņdenija N. Leskova). In: Ders., O proze. Sbornik statej. Leningrad 1969, S. 333. Zit. nach: A. I. Faresov, Protiv teĉenij. N. S. Leskov. Ego ņiznř, soĉinenija, polemika i vospominanija o nem. Petersburg 1904, S. 273. Ebd. Rolf-Dieter Kluge schreibt: „Jedenfalls lassen sich die meisten der 35 kleineren Prosawerke Turgenevs als Novellen charakterisieren.Ŗ Peter Brang spricht ausschließlich von Novellen, und Reinhold Trautmann ermittelte „23 echte NovellenŖ. Vgl. R.-D. Kluge, Ivan S. Turgenev. Dichtung zwischen Hoffnung und Entsagung. München 1992. Ŕ Brang, s. Anm. 20 (VII), S. 50 f. Ŕ R. Trautmann, Turgenjew und Tschechow. Ein Beitrag zum russischen Geistesleben. Leipzig 1948, S. 18. Trautmann, s. Anm. 10 (IX), S. 18. Gorřkij, s. Anm. 5 (IX). Vgl. auch B. Zelinsky, Nikolai Leskow: Leben als Werk. In: Nikolai Leskow. Die Lady Macbeth und andere Erzählungen. München 1974, S. XI ff. W. Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Orient und Occident. 1936. 3, S. 16Ŕ33. Ŕ Jetzt in: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. R. Tiedemann. 7 Bde. Frankfurt/M. 1972Ŕ1989. Bd. 2, 2, S. 438Ŕ465. Brief an Paul Heyse vom 2. April 1874 [in Deutsch]. Turgenev, s. Anm. 14 (VII), Pisřma. Bd. 13, S. 42. R. Trautmann, Zu Form und Gehalt der Novellen Turgenjews. Leipzig 1942, S. 6. Brief an P. P. Annenkov vom 28. Oktober 1852. Turgenev, s. Anm. 14 (VII), Pisřma. Bd. 2, S. 155. Ebd. Brief an I. S. Turgenev vom 4. Oktober 1852. Zit. nach: I. S. Turgenev, Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 28 Bde. Moskau 1960Ŕ1968. Soĉinenija. Bd. 5, S. 598. Brief an I. S. Turgenev vom Oktober 1852. Zit. nach: Turgenev, s. Anm. 18 (IX), S. 598. „Prostota, spokojstvo, jasnostř linijŖ. Brief an K. S. Aksakov vom 16. Oktober 1852. Turgenev, s. Anm. 14 (VII), Pisřma. Bd. 2, S. 150. Brief an I. S. Aksakov vom 28. Dezember 1852. Ebd., S. 177. Brief an E. M. Feoktistov vom 27. Dezember 1852. Ebd., S. 176. Brief an I. S. Aksakov vom 28. Dezember 1852. Ebd., S. 178. G. Dudek, Nachwort. In: I. Turgenjew, Drei Begegnungen. Erzählungen. 3. Aufl. Berlin 1985, S. 469. Ebd., S. 470. Kluge, s. Anm. 10 (IX), S. 131. Ebd., S. 130.

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Literatur und Anmerkungen

28 Ausführlicher zur Nähe von Turgenevs Asja und Goethes Mignon aus dem Roman „Wilhelm MeisterŖ vgl. Brang, s. Anm. 20 (VIII), S. 133 f. 29 I. S. Turgenev, Pervaja ljubovř. In: Ders., s. Anm. 14 (VIII), Bd. 6, S. 306. 30 Vgl. ebd., S. 363 f. und I. S. Turgenev, Asja. In: Ders., s. Anm. 14 (VII), Bd. 5, S. 194 f. 31 I. S. Turgenev, Perepiska. In: Ders., s. Anm. 14 (VII), Bd. 5, S. 47. 32 Ders., s. Anm. 29 (IX), S. 362. 33 Vgl. den Beitrag von Peter Brang, Ivan Turgenev: Veńnie vody (Frühlingsfluten), S. 312 ff. dieses Bandes. 34 G. Dudek, Nachwort. In: I. Turgenjew, Frühlingsfluten. Erzählungen. 3. Aufl. Berlin 1984, S. 450. 35 S. Turgenev, Asja. In: Ders., s. Anm. 30 (IX), S. 149. 36 Ebd., S. 195. 37 Ebd. 38 I. S. Turgenev, Veńnie vody. In: Ders., s. Anm. 14 (VII), Bd. 8, S. 255. 39 Ebd., S. 379. 40 Brief an Gustave Flaubert vom 26. Juni 1872. P. Urban (Hg.), Gustave Flaubert Ŕ Ivan Turgenev. Briefwechsel 1863Ŕ1880. Berlin 1989, S. 51 f. 41 Nach Horst-Jürgen Gerigk, der Turgenev und Ĉechov als „Meister in der Darstellung des transitorischen AugenblicksŖ bezeichnet, hat Ĉechov die sich bei Turgenev „eröffnenden poetologischen Möglichkeiten zu Ende gedacht und damit auf die Spitze getriebenŖ. Vgl. H.-J. Gerigk, Literarische Ost-West-Passagen. Dostoevskij, Tolstoj und Ĉechov im interkulturellen Kontext. In: Russische Moderne interkulturell. Von der Blauen Blume zum Schwarzen Quadrat. Hg. B. Aufschnaiter. Innsbruck 2004, S. 60. Ŕ Ders., s. Anm. 50 (VIII), S. 294. 42 Vgl. B. Zelinsky, Nikolaj Leskow: Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mzensk. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 103Ŕ111. 43 Zit. nach Ders., s. Anm. 12 (IX), S. XIV. 44 Zit. nach: A. Leskov, N. S. Leskov (1831Ŕ1895). In: Russkie pisateli o literaturnom trude. Hg. B. Mejlach. 4 Bde. Leningrad 1954Ŕ1965. Bd. 3, S. 206. 45 Ebd.. 46 Zit. nach: Zelinsky, s. Anm. 12 (IX), S. XVI. 47 Ebd., S. XVII. 48 „Bluņdajuńĉie ogonřkiŖ lautet der ursprüngliche Titel des Romans, der 1874 in der Zeitschrift „NivaŖ erschien. Seit der Buchausgabe von 1876 ist der Titel „Detskie gody. Iz vospominanij Merkula PraotcevaŖ gebräuchlich. N. S. Leskov, Iz vospominanij Merkula Praotceva. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Bazanov u. a. 11 Bde. Moskau 1956Ŕ 1958. Bd. 5, S. 279. 49 J. Hofmiller, Lesskow. In: Ders., Letzte Versuche. München 1952, S. 90. 50 N. S. Leskov, Smech i gore. In: Ders., s. Anm. 48 (IXI), Bd. 3, S. 384. 51 „OvcebykŖ ist im Russischen der Ausdruck für den Bisamochsen. 52 N. S. Leskov, Ovcebyk. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 1, S. 32. 53 Ebd., S. 49. 54 Ebd., S. 85. 55 Ebd., S. 86. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 95. 58 Ebd., S. 38. 59 Vgl. B. Zelinsky, Leskovs Legenden. Eine interpretierende Einführung. In: Die Welt der Slaven 16. 1971, S. 301Ŕ319. 60 Der ganze Zyklus „Tri pravednika i odin ńeramurŖ ist einschließlich des Vorworts nur enthalten in: Sobranie soĉinenij. 12 Bde. Petersburg 1889Ŕ1896. Bd. 2, S. 468Ŕ535.

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61 Zit. nach: B. Zelinsky, Leskows Erzählungen 1872Ŕ1886. In: Nikolai Leskow, Der Toupetkünstler und andere Erzählungen. München 1975, S. 883. 62 G. D. Pochitonov, Moi vospominanija o pervom kadetskom korpuse. 1879. 63 N. S. Leskov, Kadetskij monastyrř. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 6, S. 334. 64 Ders., Ĉelovek na ĉasach. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 8, S. 171. 65 P. Keßler, Nikolai Leskow. In: Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917. Hg. W. Düwel u. H. Grasshoff. 2 Bde. Berlin 1986. Bd. 2, S. 240. 66 N. S. Leskov, Oĉarovannyj strannik. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 4, S. 387. 67 Ebd., S. 470. 68 N. S. Leskov, Zapeĉatlennyj angel. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 4, S. 320. 69 Ebd., S. 321. 70 Ebd., S. 322. 71 Ebd., S. 324. 72 Ebd., S. 343. 73 Ebd., S. 353. X. Satirisches Erzählen bei Nikolaj Leskov und Saltykov-Ščedrin S. 138 1 Brief an P. K. Ńĉebalřskij vom 29. Juli 1875. Leskov, s. Anm. 48 (IX), Bd. 10, S. 411. 2 Benjamin, s. Anm. 13 (IX), S. 448. 3 N. S. Leskov, Levńa. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 7, S. 31. 4 Ebd., S. 46. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 46 f. 7 Ebd., S. 58 f. 8 Zit. nach: B. Zelinsky, Leskows Erzählungen 1887Ŕ1894. In: Nikolai Leskow, Mitternachtsgespräche und andere Erzählungen. München 1976, S. 808. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Dies schrieb S. A. Tolstaja in ihrem Tagebuch vom 21. September 1894. Zit. nach: Leskov, s. Anm. 48 (IX), Bd. 9, S. 631. 13 Brief an V. G. Ĉertkov vom 4. November 1887. Leskov, s. Anm. 48 (IX), Bd. 11, S. 356. 14 Brief an L. N. Tolstoj vom 1. November 1893. Leskov, s. Anm. 48 (IX), Bd. 11, S. 567. 15 Brief an N. S. Leskov vom 10. Dezember 1893. Tolstoj, s. Anm. 19 (VII), Bd. 66, S. 445. 16 N. S. Leskov, Zagon. In: Ders., s. Anm. 48 (IX), Bd. 9, S. 368 f. 17 Ebd., S. 379. 18 Zum Verhältnis von Leskov und Saltykov-Ńĉedrin als satirische Schriftsteller vgl. A. P. Auėr, Saltykov-Ńĉedrin i Leskov. K poėtike russkoj satiry vtoroj poloviny XIX veka. In: M. E. Saltykov-Ńĉedrin. Hg. D. P. Nikolaev. Moskau 1998, S. 159Ŕ180. 19 M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Meloĉi ņizni. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. S. A. Makańin u. a. 20 Bde. Moskau 1985Ŕ1977. Bd. 16, 2, S. 322. 20 Vgl. dazu besonders A. Boĉarova, Saltykov-Ńĉedrin. Polemiĉeskij aspekt satiry. Saratov 1967. 21 Vgl. die Rezension Ĉernyńevskijs in „SovremennikŖ von 1857 (Nr. 6). N. G. Ĉernyńevskij, Gubernskie oĉerki. In: Ders., Literaturnaja kritika. Hg. E. Melřnikova. 2 Bde. Moskau 1981. Bd 2, S. 94Ŕ138. 22 M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Gospoda Tańkentcy. In: Ders., s. Anm. 19 (X), Bd. 10, S. 257. 23 Ders., Blagonamerennye reĉi. In: Ders., s. Anm. 19 (X), Bd. 11, S. 280. 24 Vgl. den Beitrag von Jochen-Ulrich Peters, Michail Saltykov-Ńĉedrin: Istorija odnogo goroda (Die Geschichte einer Stadt), S. 356 ff. dieses Bandes. 25 E. Dieckmann, Michail Saltykov-Schtschedrin. In: Düwel u. Grasshoff (Hg.), s. Anm. 65 (IX), S. 251.

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Literatur und Anmerkungen

26 M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Istorija odnogo goroda. In: Ders., s. Anm. 19 (X), Bd. 8. S. 279. 27 Wie zum Beispiel der Brigadegeneral Ferdyńĉenko, der Major Pryńĉ oder der Gardesergeant Pfeifer. Ebd., S. 277 ff. 28 Ebd., S. 266. 29 Ebd., S. 288. 30 Ebd., S. 289. 31 Ebd., S. 291. 32 Ebd., S. 278. 33 Ebd., S. 277 ff. 34 Vgl. Primeĉanija. Ebd., S. 558 f. 35 I. S. Turgenev, ŖHistory of a Townŗ. Edited by M. E. Saltykoff. In: Ders., s. Anm. 18 (IX), Bd. 14, S. 250. 36 Dieckmann, s. Anm. 25 (X), S. 247. 37 Brief an I. S. Turgenev vom 6. März 1882. Saltykov-Ńĉedrin, s. Anm. 19 (X), Bd. 19, 2, S. 100. 38 So hat ein zeitgenössischer unbekannter Autor die Lebensaufgabe Saltykovs auf eine treffende Formel gebracht. Vgl. M. S. Gorjaĉkina (Hg.), M. E. Saltykov-Ńĉedrin v russkoj kritike. Moskau 1959, S. 238. 39 M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Skazki. In: Ders., s. Anm. 19 (X), Bd. 16, 1. S. 7Ŕ226. Ŕ In Deutschland erschien 1985 im Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig eine verdienstvolle umgangreiche Auswahl aus Saltykows „SkazkiŖ in deutscher Übersetzung: Michail Saltykow-Schtschedrin, Der weiße Gründling. Satirische Märchen. Leipzig 1985. 40 Viele der Tolstojschen „VolkserzählungenŖ, bestehend aus Legenden, Fabeln, Märchen, Gleichnissen und Bauerngeschichten entstanden um die gleiche Zeit wie die „MärchenŖ Saltykovs und entsprangen derselben Absicht der Allgemeinverständlichkeit. 41 Diese Erzählung schrieb Saltykov, zusammen mit zwei anderen, „Propala sovestř Ŗ (Vom verlorenen Gewissen) und „Dikij pomeńĉikŖ (Der wilde Junker), 1869, lange vor der Zeit (1882Ŕ1886), in der der Großteil des Märchenzyklus entstand. 42 M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Povestř o tom, kak odin muņik dvuch generalov prokormil. In: Ders., s. Anm. 19 (X), Bd. 16, 1, S. 13 (Deutsche Übersetzung von Gottfried Kirchner in: Saltykow-Schtschedrin, s. Anm. 39 (X), S. 12 f.). XI. Aufbruch in die Moderne S. 153 1 S. Lempa, Vsevolod Michajloviĉ Garńin (1855Ŕ1888). Leben und Werk im Kontext philosophischer und religiöser Strömungen in Rußland. Frankfurt/M. 2003, S. 26 f. 2 Vgl. Turgenevs Brief an V. M. Garńin vom 14. Juni 1880. Turgenev, s. Anm. 18 (IX), Pisřma, Bd. 12, S. 273. 3 V. M. Garńin, Ĉetyre dnja. In: Ders., Soĉinenija. Hg. G. A. Bjalyj. Moskau 1951, S. 17. 4 Ebd., S. 24. 5 Turgenev, s. Anm. 2 (XI), S. 274. 6 Garńin, s. Anm. 3 (XI), S. 20. 7 Ebd., S. 21 f. 8 Ebd., S. 23. 9 Ebd., S. 27. 10 Ebd., S. 23. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 27. 13 Ebd. 14 S. Beckett, En attendant Godot / Warten auf Godot. In: Ders., Dramatische Dichtung in drei Sprachen. Frankfurt/M. 1981, S. 9, 117.

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15 Vgl. Ludwig Rohner, der in seiner „Theorie der KurzgeschichteŖ, Frankfurt/M. 1973, S. 170Ŕ182, von „ZwischenzeitŖ und „ZwischenlandŖ spricht. 16 Garńin, S. Anm. 3 (XI), S. 18. 17 H.-J. Gerigk, Wsewolod Garschin: Die rote Blume. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 112. 18 V. M. Garńin, Krasnyj cvetok. In: Ders., s. Anm. 3 (XI), S. 226. 19 Ebd., 230. 20 Ebd. 21 Dazu ausführlich H.-J. Gerigk, Vsevolod M. Garńin als Vorläufer des russischen Symbolismus. In: Die Welt der Slaven 7. 1962, S. 246Ŕ292. 22 Zur Erlöserfunktion des Helden vgl. L. Schön, Die dichterische Symbolik V. M. Garńins. München 1978, S. 148 ff., und Lempa, s. Anm. 1 (XI), S. 184 f. 23 So Gerigk, s. Anm. 21 (XI), S. 112. 24 Garńin, s. Anm. 18 (XI), S. 216. 25 Ebd., S. 217. 26 Ebd., S. 220 f. 27 Brief an A. S. Suvorin vom 9. Dezember 1890. A. P. Ĉechov, Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. N. V. Belřĉikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974Ŕ1983. Pisřma. Bd. 4, S. 139. 28 Brief an I. L. Leontřev-Ńĉeglov vom 10. Dezember 1890. Ebd. 143. 29 K. Hielscher, „Die Insel SachalinŖ. In: Dies., Tschechow. Eine Einführung. München 1987, S. 87 f. 30 A. P. Ĉechov, Palata N° 6. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 8, S. 72. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 73. 34 R.-D. Kluge, Anton P. Ĉechov. Eine Einführung in Leben und Werk. Darmstadt 1995, S. 83. 35 L. N. Tolstoj, O tom, ĉto nazyvajut iskusstvom. In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 30, S. 246. 36 Ders., Ĉto takoe iskusstvo? In: Ders., s. Anm. 19 (VII), Bd. 30, S. 107. 37 Ebd., S. 99. 38 Ĉechov, s. Anm. 30 (XI), S. 125. 39 B. Hahn, Chekhov and Tolstoy. In: Dies., Chekhov. A Study of the Major Stories and Plays. London 1977, S. 150. 40 Ĉechov, s. Anm. 30 (XI), S. 125. 41 Ebd., S. 126. 42 Ebd. 43 Vgl. Brief an A. S. Suvorin vom 27. März 1894. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 5, S. 283. 44 A. P. Ĉechov, Skuĉnaja istorija. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 7, S. 263. 45 Ebd., S. 284. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 252. 48 Ebd., S. 264. 49 Ebd., S. 296. 50 Ebd., S. 294. 51 Ähnlich Hahn, s. Anm. 39 (XI), S. 169. 52 Ĉechov, s. Anm. 44 (XI), S. 298. 53 Ebd., S. 300. 54 Ebd., S. 300 f. 55 Ebd., S. 301. 56 Ebd.

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Literatur und Anmerkungen

Ebd., S. 303. Ebd., S. 304. L. Speirs, Tolstoy and Chekhov. Cambridge 1971, S. 151. Ĉechov, s. Anm. 44 (XI), S. 307. Ebd., S. 306. Ebd., S. 307. Den Begriff „AsylŖ gebraucht in diesem Zusammenhang Horst-Jürgen Gerigk: „Das Hotelzimmer wird ihnen [Anna und Gurov] zum Asyl vor den Unbilden des Lebens. H.-J. Gerigk, Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 122. A. P. Ĉechov, Dama s sobaĉkoj. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 10, S. 143. B. Wetzler, Die Überwindung des traditionellen Frauenbildes im Werk Anton Ĉechovs (1886Ŕ1903). Frankfurt/M. 1992, S. 208. A. P. Ĉechov, O ljubvi. In: Ders., s. Anm. 27. (XI), Soĉinenija, Bd. 10, S. 74. Ebd., S. 72, und Ĉechov, s. Anm. 64 (XI), S. 139. Ĉechov, s. Anm. 64 (XI), S. 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 143.

XII. Modernes Erzählen von Čechov bis Babel’ S. 170 1 M. Deppermann, Experiment der Freiheit. Russische Moderne im europäischen Vergleich. Thesen zu einem Projekt. In: Newsletter Moderne. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne Ŕ Wien und Zentraleuropa um 1900. 4/2. 2001, S. 2. 2 Brief an A. S. Suvorin vom 7. Januar 1889. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 3, S. 132. 3 Kluge, s. Anm. 34 (XI), S. 21. 4 Brief an A. S. Suvorin vom 25. November 1892. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 5, S. 133. 5 Brief an A. N. Pleńĉev vom 4. Oktober 1888. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 3, S. 11. 6 A. P. Ĉechov, Ĉelovek v futljare. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 10, S. 46. Ŕ Die beiden anderen Erzählungen der Trilogie sind „KryņovnikŖ (Stachelbeeren, 1898) und „O ljubviŖ (Von der Liebe, 1898). 7 Ĉechov, s. Anm. 64 (XI), S. 129. 8 M. Gorřkij, V ljudjach. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. L. M. Leonov. 25 Bde. Moskau 1968Ŕ1976. Bd. 15, S. 330, 332, 409 f. 9 A. P. Ĉechov, Uĉitelř slovesnosti. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 8, S. 328. 10 Ders., Gusev. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 7, S. 338. 11 Ders., Archierej. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 10, S. 200 f. 12 Ebd., S. 194. 13 Ĉechov, s. Anm. 9 (XII), S. 332. 14 Th. Mann, Versuch über Tschechow. In: Ders., Leiden und Größe der Meister. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurt/M. 1982. S. 982. 15 Brief an A. P. Ĉechov vom 10. Mai 1886. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 1, S. 242. 16 Ebd. 17 Brief an M. Gorřkij vom 3. Januar 1899. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 8, S. 11. 18 Brief an A. N. Pleńĉev vom 5. Februar 1888. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 2, S. 191. 19 Vgl. den Beitrag von Nikolaus Katzer, Isaak Babelř: Konarmija (Die Reiterarmee), S. 428 ff. dieses Bandes. 20 I. Babelř, Iz planov i nabroskov k „KonarmiiŖ. In: Literaturnoe nasledstvo 74. 1965, S. 490, 493. 21 Brief an A. M. Peńkov (M. Gorřkij) vom 3. Januar 1899. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 8, S. 11. 22 Brief an V. G. Korolenko vom 9. Januar 1888. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 2, S. 170 f.

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23 P. Urban, Wie Ĉechovs Sätze gemacht sind. In: Ders., Genauigkeit und Kürze. Ansichten zur russischen Literatur. Zürich 2006, S. 306 ff. 24 Ebd., S. 310. 25 Vgl. den Beitrag von Wolf Schmid, Anton Ĉechov: Skripka Rotńilřda (Rothschilds Geige), S. 370 ff. dieses Bandes, und Ders., Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Ĉechov Ŕ Babelř Ŕ Zamjatin. Frankfurt/M. 1992, S. 29 ff., 100 ff. 26 Ebd., S. 100. 27 Ebd., S. 101. Ŕ Bei der Beschreibung eines Beispiels für eine solche „Realisierung von KlanggestaltenŖ folge ich den Ausführungen Schmids. Ebd., S. 100 f. 28 A. P. Ĉechov, Skripka Rotńilřda. In: Ders., s. Anm. 27 (XI), Soĉinenija, Bd. 8, S. 304 f. 29 Brief an A. S. Suvorin vom 6. Februar 1889. Ĉechov, s. Anm. 27 (XI), Bd. 3, S. 145. 30 N. Stepanov, Novella Babelja. In: I. Ė Babelř. Statři i materialy. Leningrad 1928, S. 13 f. 31 M. Drozda, Babel. In: Ders., Babel, Leonov, Solņenicyn. Prag 1966, S. 41. 32 R. Lachmann, Notizen zu Isaak Babelřs „Perechod ĉerez ZbruĉŖ. In: Vozřmi na radostř. To Honour Jeanne van der Eng-Liedmeier. Hg. B. J. Amsenga u. a. Amsterdam 1980, S. 185. 33 Ebd., S. 184. 34 Wolf Schmid vertritt die These (und demonstriert sie an der Auftakterzählung von „KonarmijaŖ, „Perechod ĉerez ZbruĉŖ), dass Babelř durchaus ein „EreignisŖ gestaltet, dieses jedoch nicht im Sinne einer kohärenten Geschichte erzählt. Die sich in absentia vollziehende Geschichte müsse vielmehr vom Leser aus den ausgewählten Momenten erschlossen werden. Schmid, s. Anm. 25 (XII), S. 139. 35 J. Tynjanov, Über die Grundlagen des Films (1927). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. F.-J. Albersmeier. 5. Aufl. Stuttgart 2003, S. 158. 36 I. Babelř, „KonarmijaŖ. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. N. Suchich. 3 Bde. Petersburg 2012. Bd. 2, S. 9. 37 Zur Montagetechnik in Babelřs „KonarmijaŖ unter Bezugnahme auf Ėizenńtejns Montage-Theorie vgl. M. Schreurs, Procedures of Montage in Isaak Babelřs „Red CavalryŖ. Amsterdam 1989. 38 Babelř, s. Anm. 36 (XII), S. 7. 39 Ebd. 40 Urban, s. Anm. 23 (XII), S. 470. 41 Ebd. 42 Ebd. XIII. Erzählen im revolutionären Kontext S. 179 1 Ch. Ebert, Nachwort. In: Jenseits des Meirur. Erzählungen des russischen Symbolismus. Hg. Ch. Ebert. Leipzig 1981, S. 391. 2 Das hat Efim Ėtkind auf das Genaueste herausgearbeitet. Vgl. E. G. Ėtkind, Kompozicija poėmy A. Bloka „DvenadcatřŖ. In: Russkaja literatura 1. 1972, S. 49Ŕ63. 3 Babelř, s. Anm. 36 (XII), Bd. 1, S. 319Ŕ390. 4 Ebd., S. 354Ŕ358. 5 Ebd., S. 354. 6 Ebd., S. 357. 7 Urban, s. Anm. 23 (XII), S. 480. 8 E. Zamjatin, Peńĉera. In: Ders., Soĉinenija. Hg. E. Ņigleviĉ u. B. Filippov. 4 Bde. München 1970Ŕ1988. Bd. 1, S. 453. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 453 f. 12 Ebd., S. 454 f.

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Literatur und Anmerkungen

13 Ebd. 14 B. Schulz, Mityzacja rzeczywistości. In: Ders., Opowiadania, wybór esejów i listów. Hg. J. Jarzębski. Wrocław 1989, S. 365. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 366. 17 Zamjatin, s. Anm. 8 (XIII), S. 453. 18 E. Zamjatin, Zakulisy [zuerst unter dem Titel „Kak my pińem. Teorija literaturyŖ, 1930]. In: Ders., s. Anm. 8 (XIII), Bd. 4, S. 306. 19 Vgl. den Beitrag von Rainer Goldt, Evgenij Zamjatin: Navodnenie (Die Überschwemmung), S. 454 ff. dieses Bandes. 20 E. Zamjatin, Navodnenie. In: Ders., s. Anm. 8 (XIII), Bd. 2, S. 113. 21 Ders., s. Anm. 18 (XIII). 22 W. Schmid, Sujet und Mythos in Evgenij Zamjatins „ÜberschwemmungŖ. In: Ders., s. Anm. 25 (XII), S. 155. 23 Zamjatin, s. Anm. 20 (XIII), S. 126 (Kursivschreibung von mir). 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 127. 27 Ebd., S. 131. 28 Schmid, s. Anm. 22 (XIII), S. 177. 29 Vgl. den Beitrag von Peter Thiergen, Ivan Bunin: Gospodin iz San-FranciskoŖ (Der Herr aus San Francisco), S. 410 ff. dieses Bandes. Außerdem: M. Böhmig u. P. Thiergen (Hg.), Ivan Bunins „Gospodin iz San-Francisko. Text-Kontext-Interpretation (1915Ŕ2015). Köln 2016. 30 Ch. Scholle, Iwan Bunin: Der Herr aus San Francisco. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 151. 31 Ebd. 32 Darauf bezieht sich auch der Untertitel von Hugo von Hofmannsthals „JedermannŖ (1911): „Das Spiel vom Sterben des reichen MannesŖ. 33 H. von Hofmannsthal, Das Salzburger Große Welttheater. In: Ders., Dramen III. Hg. H. Steiner. Frankfurt/M. 1969, S. 252 (Vorspann zum Schauspiel). 34 I. A. Bunin, Gospodin iz San-Francisko. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. Ju. B. Bondarev u. a. 6 Bde. Moskau 1987Ŕ1988. Bd. 4, S. 53. 35 Vgl. dazu ausführlich A. Maier-Geiger, Zur Ikonographie des Narrenschiffs und ihrer Bedeutung in I. Bunins „Gospodin iz San-FranciskoŖ. In: Böhmig u. Thiergen (Hg.), s. Anm. 29 (XIII), S. 167Ŕ188. 36 Bunin, s. Anm. 34 (XIII), S. 55 f. 37 Ebd., S. 56. 38 I. A. Bunin, Reĉř na jubilee gazety „Russkie vedomostiŖ. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. A. S. Mjasnikov u. a. 9 Bde. Moskau 1965Ŕ1967. Bd. 9, S. 529. 39 A. S. Grin, Krysolov. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. V. Rosselřs. 6 Bde. Moskau 1980. Bd. 4, S. 364Ŕ399. 40 E. D. Zozulja, Rasskaz ob Ake i ĉeloveĉestve. In: Russkaja antiutopija. Antologija. Hg. V. Perelřmuter. Moskau 2014, S. 14. 41 Ebd., S. 22. 42 Ebd., S. 20. 43 Ebd., S. 18, 21. 44 Ebd., S. 20. XIV. Die Erneuerung der satirischen Tradition S. 190 1 V. Majakovskij, Moņno li statř satirikom? In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. Z. S. Papernyj u. a. 13 Bde. Moskau 1955Ŕ1961. Bd. 12, S. 30.

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Ebd., Zur „Verdrängung der Satire im StalinismusŖ vgl. J.-U. Peters, Russische Satire im 20. Jahrhundert. München 1984, S. 104 ff. Ŕ Die ablehnende Haltung gegenüber dem satirischen Erzählen durch den einflussreichsten Schriftstellerverband der Zeit erklärt sich aus dem vermeintlichen Widerspruch zu dem Grundpostulat in der Theorie von RAPP, dem „sozialen AuftragŖ (socialřnyj zakaz), den die russische Literatur zwar schon seit dem 19. Jahrhundert vertrat und verwirklichte, der aber jetzt aus ideologischen Gründen ganz eng gefasst wurde. Vgl. Struve, Geschichte der Sowjetliteratur. München o. J. [1957], S. 274 ff. V. I. Lenin, Novye vremena, starye ońibki v novom vide. In: Ders., Soĉinenija. Hg. Institut Marksa-Ėngelřsa-Lenina pri CK VKP. 45 Bde. Leningrad 4. Aufl. 1951Ŕ1967, Bd. 33, S. 3. M. A. Bulgakov, Pochoņdenija Ĉiĉikova. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. G. S. Goc u. a. 5 Bde. Moskau 1989Ŕ1990. Bd. 2, S. 235. Ebd., S. 231. Ebd. Ebd., S. 236. Ŕ Die Übersetzung der satirisch verfremdeten zeittypischen Abkürzungen stammen von Thomas Reschke. Vgl. F. Mierau (Hg.), Frühe sowjetische Prosa 1918Ŕ 1941. 2 Bde. Berlin 1978. Bd. 1, S. 346. I. G. Ėrenburg, Uskomĉel. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. I. Ėrenburg u. a.. 8 Bde. Moskau 1990Ŕ2000. Bd. 1, S. 565. Ders., Pivnaja „Krasnyj otduchŖ. In: Ders., s. Anm. 9 (XIII), S. 577. Ebd., S. 578. Ebd. Vgl. den Beitrag von Jochen-Ulrich Peters, Michail Bulgakov: Sobaĉře serdce (Hundeherz), S. 475 ff. dieses Bandes. Vgl. den Beitrag von Andreas Guski, Michail Zońĉenko: Aristokratka (Die Aristokratin), S. 466 ff. dieses Bandes. M. M. Zońĉenko, Aristokratka. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. Ju. V. Tomańevskij. 5 Bde. Moskau 1994. Bd. 1, S. 21. Ders., Malenřkaja chitrostř. In: Ders., Povesti i rasskazy.New York 1952, S. 319Ŕ321. Vgl. Guski, s. Anm. 14 (XIV). Ŕ Zum skaz als „grundlegende RedeweiseŖ bei Zońĉenko vgl. V. V. Vinogradov, Jazyk Zońĉenki (Zametki o leksike). In: Michail Zońĉenko. Statři i materialy. Hg. B. V. Kazanskij u. Ju. N. Tynjanov. Leningrad 1928, S. 58 ff., und aus neuerer Zeit: J. Hicks, Michail Zoshchenko and the Poetics of Skaz. Nottingham 2000. M. M. Zońĉenko, V Puńkinskie dni. In: Ders., Rasskazy i povesti. Hg. A. A. Troickij. Leningrad 1959, S. 106Ŕ110.

XV. Gegenstimmen des Erzählens in den Zeiten des Sozialistischen Realismus S. 197 1 Zit. nach: Struve, s. Anm. 3 (XIV), S. 299 f. 2 Ju. Oleńa, Reĉ na I Vsesojuznom sŘŘezde sovetskich pisatelej. In: Ders., Rasskazy. Letchworth 1971, S. 8. 3 Ders., Liompa. In: Ders., s. Anm. 2 (XV), S. 32 f. 4 Ebd., S. 31. 5 Ju. Oleńa, Ljubovř. In: Ders., s. Anm. 2 (XV), S. 13. 6 Ebd., S. 17. 7 B. Pasternak, Ochrannaja gramota. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. A. A. Voznesenskij u. a. 5 Bde. Moskau 1989Ŕ1992. Bd. 4, S. 182. 8 Ders., Marburg. In: Ders., s. Anm. 7 (XV), S. 106 ff. 9 O. Ė. Mandelřńtam, Egipetskaja marka. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. P. Nerler u. a. 4 Bde. Moskau 1993Ŕ1997. Bd. 2, S. 482.

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Literatur und Anmerkungen

Ebd., S. 495. Ebd., S. 481. Ebd., S. 493. Ebd. O. Ė. Mandelřńtam, Poėt o sebe. Ders., s. Anm. 9 (XV), S. 496. Ders., Ĉetvertaja proza. In: Ders., s. Anm. 9 (XV). Bd. 3, S. 171. I. I. Kataev, Leningradskoe ńosse. In: Ders., Izbrannoe. Povesti i rasskazy. Oĉerki. Hg. A. Notkina. Moskau 1957, S. 212 f. Ebd., S. 211. Ebd., S. 218. Ebd., S. 237. Ebd., S. 238. Ebd., S. 218. Ebd. K. G. Paustovskij, Kniga skitanij. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. V. Borisova. 8 Bde. Moskau 1967Ŕ1970. Bd. 5, S. 479. A. P. Platonov, Rasskazy A. Grina. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. V. A. Ĉalmaeva. 3. Bde. Moskau 1984Ŕ1985. Bd. 2, S. 393. Ders., Tretij syn. In: Ders., Sobranie. Hg. N. V. Kornienko. 8 Bde. Moskau 2010Ŕ2011. Bd. 4, S. 359. Ders., V prekrasnom i jarostnom mire. In: Ders., s. Anm. 25 (XV), S. 563. Vgl. den Beitrag von Jens Herlth, Andrej Platonov: Dņan, S. 496 ff. dieses Bandes. A. P. Platonov, Dņan. In: Ders., s. Anm. 25 (XV), S. 119. Ebd. S. 129. Vgl. A. P. Platonov, Dņan. In: Ders., V prekrasmom i jarostnom mire. Hg. V. M. Akimov. Leningrad 1979, S. 147Ŕ226. Ebd., S. 226. R. Grübel, Dņan. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hg. W. Jens. 20 Bde. München 1988Ŕ1992. Bd. 13, S. 420. Ebd. E. Zamjatin, My. In: Ders., s. Anm. 8 (XIII). Bd. 3, S. 111Ŕ263. A. P. Platonov, Ĉevengur. In: Ders., s. Anm. 25 (XV). Bd. 3, S. 9Ŕ409. Vgl. dazu H. Riggenbach, Platonow: Die Baugrube. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 222Ŕ232. L. Debüser, Nachwort. In: A. Platonow, In der schönen und grimmigen Welt. Ausgewählte Prosa. Hg. L. Debüser u. H. Krempien. 3. Auf. Berlin 1981, S. 582. Ebd. A. P. Platonov, Musornyj veter. In: Ders., s. Anm. 25 (XV), S. 279. Ebd. S. 272. Ebd., S. 279. Ebd., S. 272. Ebd., S. 279. Ebd. Ebd. S. 280. Ebd. D. Charms, Pomecha. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. N. Saņin u. a. 4 Bde. Petersburg 1997Ŕ2001. Bd. 2, S. 148. Vgl. den Beitrag von Frank Göbler, Daniil Charms: Starucha (Die alte Frau), S. 530 ff. dieses Bandes. R. Giaquinta, Elements of the Fantastic in Daniil Kharmsřs ŖStarukhaŗ. In: Daniil Kharms

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and the Poetics of the Absurd. Essays and Materials. Hg. N. Cornwell. Houndmills 1991, S. 132. Obėriu. In: Literaturnye manifesty ot simvolizma do nańich dnej. Hg. S. B. Dņimbinov. Moskau 2000, S. 475. Ebd. Ebd., S. 477. Ebd.

XVI. Vom Tauwetter zur Perestrojka S. 210 1 Vgl. Struve, s. Anm. 3 (XIV), S. 318 ff. 2 Zu Ėrenburgs „Ottepelř Ŗ (Moskau 1954) und der gleichnamigen Epoche vgl. M. Slonim, Das Tauwetter. In: Ders., Die Sowjetliteratur. Eine Einführung. Stuttgart 1972, S. 353Ŕ 374. 3 Ju. Trifonov, Vybiratř, reńatřsja, ņertvovatř. In: Voprosy literatury 16, 2. 1972, S. 63. 4 Vgl. A. Flaker, Modelle der Jeans Prosa. Zur literarischen Opposition bei Plenzdorf im osteuropäischen Romankontext. Kronberg/Ts. 1975. 5 A. Bitov, Bez dela. In: Ders., Voskresnyj denř. Rasskazy, povesti, puteńestvija. Moskau 1980, S. 35Ŕ57. 6 Vgl. dazu eingehender B. Fuchs, Natalřja Baranskaja als Zeitzeugin des Sowjetregimes. München 2005, S. 145Ŕ175. 7 Vgl. Struve, s. Anm. 1 (XV), S. 484 f. 8 N. V. Baranskaja, Nedelja kak nedelja. In: Novyj mir. 1969. 11, S. 23Ŕ55. 9 Vgl. Fuchs, s. Anm. 6 (XVI), S. 177Ŕ207. 10 Zit. nach: Klappentext zu N. Baranskaja, Das Ende der Welt. Erzählungen von Frauen. Darmstadt 1985. 11 Ju. Trifonov, Obmen. In: Novyj mir. 1969. 12, S. 29Ŕ65. 12 V. Rasputin, Vasilij i Vasilisa. In: Ders., Izbrannye proizvedenija. Hg. Z. Konovalova. 2 Bde. Moskau 1984. Bd. 2, S. 412. 13 Vgl. W. Weitensteiner, Das andere Leben. Zeit und Erinnerung im Werk Jurij Trifonovs. Frankfurt/M. 2004. 14 Ju. Trifonov, Igry v sumerkach. In: Ders., Izbrannye proizvedenija. Hg. T. Sumarokova. 2 Bde. 1978. Bd. 1, S. 218Ŕ225. 15 Vgl. stellvertretend A. Ovĉarenko, O psichologizme i tvorĉestve Jurija Trifonova. In: Russkaja literatura. 1988. 2, S. 40. Ŕ Und: Ot redakcii. In: Voprosy literatury 16, 2. 1972, S. 67. 16 V. Dudincev, Velikij smysl Ŕ ņitř. In: Literaturnoe obozrenie. 1976. 4, S. 48. 17 Weitensteiner, s. Anm. 13 (XVI), S. 16. 18 Ju. Trifonov, „Voobrazitř beskoneĉnostřŖ. In: Literaturnoe obozrenie. 1977. 4, S. 101. 19 Ders., Otblesk kostra. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. S. A. Baruzdin u. a. 4 Bde. Moskau 1985Ŕ1987. Bd. 4, S. 7. 20 Ju. Trifonov, Dolgoe prońĉanie. In: Ders., s. Anm. 19 (XVI). Bd. 2, S. 216. 21 Ebd., S. 162. 22 Ebd. S. 172, 23 R. Neuhäuser, Jurij Trifonow: Langer Abschied. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982. S. 259. 24 Trifonov, s. Anm. 20 (XVI). Bd. 2, S. 193. 25 Ebd., S. 216. 26 So lautet auch der Titel eines Aufsatzes von Birgit Mai. Vgl. B. Mai, Die Suche nach dem „anderen LebenŖ in den Werken Jurij Trifonovs. In: Zeitschrift für Slawistik 27, 1982, S. 611Ŕ618. Ŕ Vgl. ebenfalls W. Beitz, Jurij Trifonov. Das andere Leben. In: Weimarer Beiträge 25, 1979. 5, S. 117Ŕ124.

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Literatur und Anmerkungen

27 M. Walser, Ju. Trifonow, Wir sind die Ärzte, wir sind der Schmerz. Ein Briefwechsel. In: Sowjetliteratur heute. Hg. G. Lindemann. München 1979, S. 189. 28 Vgl. Weitensteiner, s. Anm. 13 (XVI), S. 138. 29 Vgl. den Beitrag von Dirk Uffelmann, Aleksandr Solņenicyn: Odin denř Ivana Denisoviĉa (Ein Tag des Ivan Denisoviĉ) S. 557 ff. dieses Bandes. 30 Walser, Trifonow, s. Anm. 27 (XVI), S. 187. 31 V. Tokareva, Kirka i oficer. Rasskaz. Zuerst in: Ogonek. 1991. Zit. nach: L. Hüls, Viktorija Tokareva. „Kirka i oficerŖ (Rasskaz). Stuttgart 1991, S. 12. 32 Ebd. 33 F. M. Dostoevskij, „Evrejskij voprosŖ. In: Ders., s. Anm. 2 (VIII), S. 74Ŕ77. 34 Vgl. Rasputins Rede im Juni 1980 von der Tribüne des Kongresspalastes im Kreml in: G. Dalos, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. Hg. Ch. Beetz u. O. Mille. München 2011, S. 135. 35 B. Kosvin, Assimiljanty. Rasskaz. In: Znamja. 1990. 10, S. 146 f., 149. 36 Ebd., S. 155. 37 Ė. Rusakov, Iskusstvoved. Rasskaz. In: Znamja. 1991. 1, S. 83. 38 O. Ermakov, Kreńĉenie. In: Znamja. 1989. 3, S. 93Ŕ103. 39 Ders., Zimoj v Afganistane. In: Znamja. 1989. 10. S. 95Ŕ107. 40 Ders., Pir na beregu fioletovoj reki. In: Znamja. 1989. 10, S. 116. 41 Ebd., S. 114. 42 M. Deppermann, Der Mensch ist ein Kraftwerk. Viktorija Tokarjewa traut der russischen Seele einiges zu. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. 4. 1993, S. 34. 43 T. Tolstaja, Spi spokojne, synok. In: Dies., „Na zolotom krylřce sideli...Ŗ. Rasskazy. Moskau 1987, S. 132 f. 44 Ebd., S. 129. 45 Ebd., S. 128. 46 Ebd. 47 Vgl. den Beitrag von Urs Heftrich, Tatřjana Tolstaja: Somnambula v tumane (Schlafwandler im Nebel), S. 609 ff. dieses Bandes. 48 T. Tolstaja, Somnambula v tumane. In: Dies., Reka Okkervilř. Rasskazy. Moskau 2000, S. 293. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 303. 51 Ebd., S. 315. 52 Ebd., S. 308. 53 Ebd., S. 310. 54 Ebd., S. 307 (Deutsche Übersetzung von Sylvia List in: T. Tolstaja, Und es fiel ein Feuer vom Himmel. Sechs Erzählungen. Berlin 1992, S. 41 f.). 55 Vgl. W. Kasack, Alexander Solshenizyn: Der erste Kreis der Hölle. In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1979, S. 381Ŕ399. XVII. Epilog: Die russische Erzählungskunst im Zeichen der Postmodern S. 227 1 Heftrich, s. Anm. 47 (XVI). Ŕ Vgl. auch M. Hochsieder, Tradition und Transformation. Zur Intertextualität in der Prosa Tatjana Tolstajas. In: Jenseits des Kommunismus. Sowjetisches Erbe in Literatur und Film. Hg. E. Cheauré. Berlin 1996, S. 59Ŕ74. 2 Ebd. 3 So unter anderem O. V. Bogdanova, Intertekstualřnye svjazi v tvorĉestve Tatřjany Tolstoj. In: Dies., Postmodernizm v kontekste sovremennoj russkoj literatury (60Ŕ90-e gody XX veka Ŕ naĉalo XXI veka). Petersburg 2004, S. 225 ff. 4 W. Kissel, Die Moderne. In: Russische Literaturgeschichte. Hg. K. Städtke. 2. Aufl. Stuttgart 2011, S. 287.

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B. Zelinsky, Michail Bulgakov: Master i Margarita (Der Meister und Margarita). In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 402. Kissel, s. Anm. 4 (XVII). F. Göbler, Vladimir Nabokov: Dar (Die Gabe). In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 341. V. Nabokov, Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe (1962). In: Ders., Die Gabe. Hamburg 1994, S. 601. Hier handelt es sich um einen der vielen autobiographischen Züge des Romans, der auch schon in Nabokovs Erzählung „PilřgramŖ (entstanden 1930 in Berlin, erstmals 1947 in englischer Fassung veröffentlicht) und in ihrer Titelfigur, einem renommierten Schmetterlingskundler, gestalterischen Ausdruck gefunden hat. Vgl. Frank Göbler, Vladimir Nabokov: Pilřgram (Pilřgram). S. 486 ff. dieses Bandes. Göbler, s. Anm. 7 (XVII), S. 340. Vgl. A. Meyer-Fraatz, Andrej Bitov: Puńkinskij dom (Das Puńkinhaus). In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 459Ŕ471. R. Goldt, Venedikt Erofeev: MoskvaŔPetuńki (Die Reise nach Petuńki). In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 428. P. Urban, MoskauŔPetuńki. Venedikt Erofeevs grandioses Erzählgedicht. In: Ders., s. Anm. 23 (XII), S. 532. M. Alřtńuller, MoskvaŔPetuńki Venedikta Erofeeva i tradicii klassiĉeskoj poėmy. In: Novyj ņurnal 146. 1982, S. 75. Urban, s. Anm. 23 (XII), S. 531. Goldt, s. Anm. 12 (XVII), S. 430. D. Uffelmann, Exinanitio alcoholica. Venedikt Erofeevs „MoskvaŔPetuńkiŖ. In: Wiener Slawistischer Almanach. 50. 2002, S. 335. Vgl. vor allem Ju. Levin, Semiosfera Veniĉki Erofeeva. In: Sbornik statej k 70-letiju prof. Ju. M. Lotmana. Hg. A. Malřts. Tartu 1992, S. 486Ŕ500, und Ė. Vlasov, Bessmertnaja poėma Venedikta Erofeeva „MoskvaŔPetuńkiŖ. Sputnik pisatelja. Sapporo 1998. Ot Moskvy do samych Petuńkov. S pisatelem Venediktom Erofeevym beseduet korrespondent „LGŖ Irina Tosunjan. In: Literaturnaja gazeta vom 3. 1. 1990, S. 5. V. Erofeev, MoskvaŔPetuńki. Poėma. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. V. Muravřev. 2 Bde. Moskau 2007, S. 75. Goldt, s. Anm. 12 (XVII), S. 438. Erofeev, s. Anm. 20 (XVII), S. 102. Goldt, s. Anm. 12 (XVII), S. 431 f. Erofeev, s. Anm. 20 (XVII), S. 50. Uffelmann, s. Anm. 17 (XVII), S. 342, 367. Ebd., S. 341. Goldt, s. Anm. 12 (XVII), S. 429. E. Poyntner, Venedikt Erofeev. In: Ders., Der Zerfall der Texte. Zur Struktur des Hässlichen, Bösen und Schlechten in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2005, S. 67. Ch. Engel, Tabubrüche in der Prosa von Evgenij Popov. In: Enttabuisierung. Essays zur russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Hg. J.-U. Peters u. G. Ritz. Bern 1996, S. 118. Vgl. den Beitrag von Christine Engel, Evgenij Popov: Vo vremena moej molodosti (Zu meiner Jugendzeit), S. 594 ff. dieses Bandes. R. Eshelman, Von der Moderne zur Postmoderne in der sowjetischen Kurzprosa. Zońĉenko Ŕ Paustovskij Ŕ Ńukńin Ŕ Popov. In: Wiener Slawistischer Almanach 31. 1993, S. 196. E. Popov, Vo vremena moej molodosti. In: Zerkala. Alřmanach 1989. Vypusk I. Hg. A. P. Lavrin. Moskau 1989, S. 209.

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Literatur und Anmerkungen

Eshelman, s. Anm. 31 (XVII), S. 197. Popov, s. Anm. 32 (XVII). Engel, s. Anm. 29 (XVII), S. 126 f. D. Burkhart, Körper und Zeichen in der russischen Literatur der Gegenwart. Vladimir Sorokin, Vladimir Makanin, Viktor Pelewin. In: Kultura. 2007. 2, S. 3 f. Von den 131 Texten, die Nina Balz in ihrer Petruńevskaja-Monographie berücksichtigt, haben nur 15 eine männliche Zentralfigur. N. Balz, Zwischen Schock und Spiel. Narrative Möglichkeiten in der Kurzprosa Ljudmila Petruńevskaja. München 2003, S. 71. K. Hielscher, Alltag und Mythos. Zur Prosa Ljudmila Petruńevskajas. Ein Diskussionsbeitrag. In: Cheauré (Hg.), s. Anm. 1 (XVII), S. 50. L. Petruńevskaja, Vremja noĉ. In: Dies., Tajna doma. Povesti i rasskazy. Hg. I. Borisova. Moskau 1995, S. 498. Ŕ Die räumliche und geistige Enge in „Vremja noĉřŖ hat Elisabeth Skomp unter dem Begriff Ŗbrutality of bytŗ zusammengefasst und unter dem speziellen Aspekt der Rolle der Frau beschrieben . Vgl. E. Skomp, The Brutality of Byt. Women and Violence in the Prose of Liudmila Petrushevskaia. In: Slovo 12. 2000, S. 159 ff. Ebd., S. 433 (Übersetzung nach: L. Petruschewskaja, Meine Zeit ist die Nacht. Aufzeichnungen auf der Tischkante. Übers. v. A. Leetz. Berlin 1991, S. 18 f.) H. Detering, Die Moskauer Sintflut. Über Ljudmila Petruschewskaja. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 29. 2. 1992. Beilage. Petruńevskaja, s. Anm. 39 (XVII), S. 466. Ebd., S. 456. Im russischen Text: „Mo-olĉatř! SukaŖ (Hündin). Vgl. dazu Hielscher, s. Anm. 38 (XVII), S. 49 ff, und K. Hielscher, Von der Humanität des Klatsches. Zur Entwicklung der Prosa von Ljudmila Petruńevskaja. In: Peters u. Ritz (Hg.), s. Anm. 29 (XVII), S. 105 ff. A. Leetz, Gespräch mit Ljudmila Petruschewskaja. In: L. Petruschewskaja, Unsterbliche Liebe. Erzählungen. Übers. v. A. Leetz u. R. Landa. Berlin 1990, S. 241. Ebd. L. Petruńevskaja, Takaja devoĉka. In: Dies., Po doroge boga ėrosa. Povesti, rasskazy. Hg. T. D. Darņin. Moskau 1993, S. 183. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 183 f. Ebd., S. 186. Vgl. den Beitrag von Karoline Thaidigsmann, Ljudmila Petruńevskaja: Medeja (Medea), S. 583 ff. dieses Bandes. L. Petruńevskaja, Medeja. In: Dies., s. Anm. 47 (XVII), S. 130 f. Ebd., S. 132. Ebd. Ebd., S. 135. Vgl. auch Thaidigsmann, s. Anm. 52 (XVII). L. Petruńevskaja, Gigiena. In: Dies., s. Anm. 47 (XVII), S, 162. D. Boden, Die Funktion von Gewaltdarstellungen in den Erzählungen Viktor Erofeevs. In: Kunst am Ende des Realsozialismus. Entwicklungen in den 1980er Jahren. Hg. D. Boden u. U. Schorlemmer. München 2008, S. 172. Vgl. den Beitrag von Christine Engel, Viktor Erofeev: Ņiznř s idiotom (Leben mit einem Idioten), S. 636 ff. dieses Bandes. E. Poyntner, Viktor Erofeev. Das Hässliche und das Böse Ŕ Theorie und dichterische Praxis. In: Ders., s. Anm. 28 (XVII), S. 74. V. V. Erofeev, Popugajĉik. In: Ders., Russkaja krasavica. Roman. Rasskazy. Hg. I. Trofimova. Moskau 1994, S. 416. Ŕ Ausführlicher zu dieser Erzählung: K. Kasper, Die Er-

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zählung Попугайчик von Viktor Wladimirowitsch Jerofejew. Eine Interpretation. In: Fremdsprachenunterricht. 1994, S. 277Ŕ279. Ders., Ņiznř s idiotom. In: Ders., s. Anm. 62 (XVII), S. 312. V. G. Sorokin, Zasedanie zavkoma. In: Ders., Sobranie soĉinenij. 2 Bde. Moskau 1998. Bd. 1, S. 442. Ebd. T. Wiedling, Essen bei Vladimir Sorokin. In: Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. Hg. D. Burkhart. München 1999, S. 154. D. Burkhart, Ästhetik der Häßlichkeit und Pastiche im Werk von Vladimir Sorokin. In: Dies., s. Anm. 66 (XVII), S. 13. Vgl. den Beitrag von Ekaterina Vassilieva, Vladimir Sorokin: Mesjac v Dachau (Ein Monat in Dachau), S. 620 ff. dieses Bandes. E. Poyntner, „Mesjac v DachauŖ. In: Ders., s. Anm. 28 (XVII), S. 117. V. G. Sorokin, Mesjac v Dachau. In: Ders., s. Anm. 64 (XVII), S. 807 (Übersetzung, wie auch im Folgenden, nach: V. Sorokin, Ein Monat in Dachau. Übers. v. P. Urban. Zürich 1992, S. 22). Ebd. Ebd., S. 806 (S. 19). Ebd., S. 802 (S. 9). Ebd., S. 807 (S. 21). Ebd., S. 811 (S. 34). Ebd., S. 814 (S. 44). Ebd., S. 815 (S. 47 f.) Vgl. dazu E. Cole, Towards a Poetics of Russian Prison Literature. Ann Arbor, Michigan 1991. Boden, s. Anm. 59 (XVII), S. 180. „Mamleevs Körper sind vor allem geöffnete und flüssigkeitsausscheidende bzw. -einnehmende Körper (Nahrungs- und Geschlechtsexkremente, Schweiß, Speichel, Blut)Ŗ, schreibt Georg Witte. Entscheidend sei jedoch, „daß diese extremen, bis zur Zerstückelung (,Kover samoletŘ, ,PetrovaŘ) und zum Blutsaugen (,Iznanka GogenaŘ) getriebenen körperlichen Grenzauflösungen immer einer Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod entsprechenŖ. G. Witte, Appell Ŕ Spiel Ŕ Ritual. Textpraktiken in der russischen Literatur der sechziger bis achtziger Jahre. Wiesbaden 1989, S. 146 f. „Die Bewegungslinie in ,Ein Tag im Leben des Iwan DenissowitschŘ Ŗ, so Robert Louis Jackson, „ist kreisförmig und führt nirgendwohin.Ŗ R. L. Jackson, Alexander Solshenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. In: Die russische Novelle. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 245. A. Solņenicyn, Odin denř Ivana Denisoviĉa. Povestř. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. A. N. Artemova. 6 Bde. Frankfurt/M. 1969Ŕ1970. Bd. 1, S. 31 f. Ebd., S. 132 f. V. T. Ńalamov, O proze. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. Sirotinskaja. 7 Bde. Moskau 2013. Bd. 5, S. 148. Ebd. V. T. Ńalamov, Po snegu. In: Ders., s. Anm. 84 (XVII). Bd. 1, S. 47. Vgl. auch L. Toker, Toward a Poetics of Documentary Prose. From the Perspective of Gulag Testimonies. In: Poetics Today 18. 1997, S. 195, und U. Schmid, Nicht-Literatur ohne Moral. Warum Varlam Ńalamov nicht gelesen wurde. In: Das Lager schreiben. Varlam Ńalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Hg. M. Sapper u. a. Berlin 2007, S. 94 f. Ńalamov, s. Anm. 84 (XVII). A. Sinjavskij, Materialschnitt. In: Sapper (Hg.), s. Anm. 87 (XVII), S. 84.

700

Literatur und Anmerkungen

90 I. Jarkeviĉ, Solņenicyn, ili Golos iz podpolřja. In: Russkie cvety zla. Hg. V. Erofeev. Moskau 1999, S. 436Ŕ440. 91 Vollständiger Titel: „Zona. Zapiski nadziratelřjaŖ. Nach der Erstveröffentlichung 1982 in den USA erschien die endgültige Fassung des Textes, der aus relativ selbständigen Einzelteilen besteht, in Russland zum erstenmal 1991, ein Jahr nach Dovlatovs Tod. Später unter anderem in S. Dovlatov, Sobranie prozy. Hg. A. Ju. Arřev. 3 Bde. Petersburg. 1993. Bd. 1, S. 25Ŕ172. 92 V. Makanin, Bukva „AŖ. In: Novyj mir. 2000. 4, S. 7Ŕ35. 93 I. Ńarapov, Letnyj lagerř. In: http://literature.gothic.ru/amateur/prose/sharapov/summer. htm. 94 M. Cehak, Formen des Autobiographischen bei Andrej Sinjavskij (Abram Terc). „Golos iz choraŖ, „Krońka CoresŖ und „Spokojnoj noĉiŖ. München 2004, S. 15. 95 A. Terc, [A. Sinjavskij], Golos iz chora. London 1973, S. 9. 96 Ebd. 97 Sorokin, s. Anm. 70 (XVII), S. 812 (S. 39 f.). 98 Zur ausführlichen Deutung der „fulminanten SchlußszeneŖ von „Bukva ‚AřŖ als eine „orgiastische (Selbst)Befreiung vgl. E. Vassilieva, Das Motiv des Straflagers in der russischen Literatur der Postmoderne. Dovlatov, Sorokin, Makanin. München 2014, S. 223Ŕ 228. 99 Ch. Engel, Sorokin im Kontext der russischen Postmoderne. Problem der Wirklichkeitskonstruktion. In: Wiener Slawistisches Jahrbuch 43. 1997, S. 55, 59. 100 Ńalamov, s. Anm. 84 (XVII), S. 144. 101 V. G. Sorokin, Roman. In: Ders., s. Anm. 64 (XVII). Bd. 2, S. 356. 102 O. Mandelřńtam, Konec romana. In: Ders., s. Anm. 9 (XV), S. 271Ŕ275. 103 K. Kasper, Vladimir Sorokin: Roman. In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 487. 104 R. Eshelman, Von der Moderne zur Postmoderne in der sowjetischen Kurzprosa. Zońĉenko Ŕ Paustovskij Ŕ Ńukńin Ŕ Popov. In: Wiener Slawistischer Almanach 31. 1993, S. 174.

Aleksandr Puńkin (1799Ŕ1837)

S. 248

Text „Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa BelkinaŖ (Erzählungen des verstorbenen Ivan Petroviĉ Belkin) nach: A. S. Puńkin, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. D. Bonĉ-Brueviĉ u. a. 16 Bde. u. ein Ergänzungsband. 1937Ŕ1959. Bd. 8, S. 57Ŕ124. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Die Erzählungen des verstorbenen Ivan Petroviĉ Belkin. Übers. v. P. Urban. In: A. Puńkin, Die Erzählungen, einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe. Hg. P. Urban. Berlin 1999, S. 39Ŕ133. Literatur N. I. ĈERNJAEV, Kritiĉeskie statři i zametki o Puńkine. Charřkov 1900. Ju. AJCHENVALřD, Puńkin. Moskau 1916. M. GERŃENZON, „MetelřŖ. In: Ders., Mudrostř Puńkina. Moskau 1916, S. 128Ŕ138. M. PETROVSKIJ, Morfologija puńkinskogo „VystrelaŖ. In: Problemy poėtiki. Sbornik statej. Hg. V. J. Brjusov. Moskau 1925, S. 171Ŕ204. M. O. GERŃENZON, Ĉtenie Puńkina. In: Ders., Statři o Puńkine. Moskau 1926, S. 13Ŕ17. M. O. GERŃENZON, Sny Puńkina. In: Ders., Statři o Puńkine. Moskau 1926, S. 97Ŕ98. N. A. SAVVIN, „Stancionnyj smotritelřŖ A. Puńkina. In: Russkij jazyk v sovetskoj ńkole. 1930. 1, S. 63Ŕ66. M. S. ALřTMAN, „Baryńnja-KrestřjankaŖ (Puńkin i Karamzin). In: Slavia 10. 1931, S. 782Ŕ792. V. V. VINOGRADOV, O stile Puńkina. In: Literaturnoe nasledstvo 16Ŕ18. Moskau 1934, S. 135Ŕ214. D. JAKUBOVIĈ, „Povesti BelkinaŖ. In: A. S. Puńkin. Povesti Belkina. Leningrad 1936, S. 119Ŕ148.

Aleksandr Puńkin: Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa Belkina

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Literatur und Anmerkungen

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Aleksandr Puńkin: Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa Belkina

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Literatur und Anmerkungen

Ich-Erzähler in seinem literarischen Werdegang den Schaffensweg Puńkins nachgeht. Zu der häufig behandelten Korrespondenz vgl. zusammenfassend Debreczeny 1983, S. 76Ŕ 78. Die Entscheidungen Boris Tomańevskijs in der Zuordnung der handschriftlichen Fragmente in Puńkin, s. Text, Bd. 8 wurden Ŕ allerdings mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen Ŕ bezweifelt von Petrunina 1987 und Ńvarcband 1993 (zu letzterem siehe meine Rezension in: Zeitschrift für Slavische Philologie 54. 1994, S. 410Ŕ415). Zu der Kontroverse vgl. Popova 1999. D. Ovsjaniko-Kulikovskij, Chudoņestvennyja „mistifikaciiŖ Puńkina. In: Ders., Sobranie soĉinenij. 9 Bde. Moskau 1923Ŕ1924, Bd. 4, S. 57 f. Ajchenvalřd 1916, S. 145. N. Ĉernyńevskij, Polnoe sobranie soĉinenij russkich avtorov. Soĉinenija Antona Pogorelřskogo. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. Ja. Kirpotin u. a. 16 Bände, Moskau 1939Ŕ1953, Bd. 2, S. 384. Zu dem Motiv von Silřvios edler, aber zu einem romantischen Rächer nicht passenden Schwäche gibt es eine eigene Interpretationstradition von Ĉernjaev 1900 bis van der Eng 1968, S. 40. Für eine schematische Darstellung der intertextuellen Anspielungen vgl. Schmid 1998, S. 88. W. Irving, The Sketch Book of Geoffrey Crayon, Gent. 2 Bde. London 1823, Bd. 1, S. 287Ŕ289. Staryj russkij vodevilř. 1818Ŕ1849. Hg. M. Pauńkin. Moskau 1937, S. 123. J.-J. Rousseau, Julie ou La Nouvelle Héloïse. Paris 1960, S. 319. Vgl. V. Dalř, Poslovicy russkogo naroda. Moskau 1957, S. 284. Im Original deutsch. Vgl. Davydov 1985. Vgl. Bethea, Davydov 1981. „Kolleņskij registratorŖ (Der Kollegienregistrator), Sowjetunion 1925 (Regie: Ju. Ņeljabuņskij), „NostalgieŖ, Frankreich 1936 (V. Tourjansky), „Der PostmeisterŖ, Deutschland 1939/40 (G. Ucicky mit Heinrich George und Hilde Krahl), „DunjaŖ, Österreich 1955 (J. von Baky). Vgl. V. N. Turbin, Puńkin. Gogolř. Lermontov. Ob izuĉenii literaturnych ņanrov. Moskau 1978, S. 65 f. Shaw 1977. Turbin, s. Anm. 34, S. 70. H. Balzac, Physiologie du mariage. In: La Comédie humaine. Hg. P.-G. Castex. 12 Bde. Paris 1976Ŕ1981. Bd. 11, S. 1123. Vgl. Gippius 1937. Vgl. L. I. Volřpert, Puńkin i psichologiĉeskaja tradicija v francuzskoj literature. Tallin 1980, S. 155−164. P. Carlet de Chamblain de Marivaux, „Le Jeu de lřamour et du hasardŖ. In: Ders., Théâtre complet. Hg. F. Deloffre. 2 Bde. Paris 1968. Bd. 1, S. 835. I. F. Bogdanoviĉ, Stichotvorenija i poėmy, Leningrad 1957, S. 107. Vgl. van der Eng 1968.

Nikolaj Gogolř (1809Ŕ1852)

S. 281

Text „ŃinelřŖ (Der Mantel) nach: Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. L. Meńĉerjakov. 14. Bde. Moskau 1937Ŕ1952. Bd. 3, S. 139Ŕ174. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Der Mantel. Übers. v. E. Reissner. In: N. Gogol. Erzählungen. Hg. E. Reissner. Stuttgart 1988.

Nikolaj Gogolř: Ńinelř

705

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Nikolaj Gogolř: Ńinelř

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Nikolaj Gogolř: Ńinelř

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Literatur und Anmerkungen

21 N. F. Pavlov, Demon. In: Ders., Povesti i stichi. Moskau 1957, S. 169. 22 Elizabeth Shepard meint, Gogolř könnte von Pogodin, der ihn im Sommer 1839 in Marienbad besuchte und dem er dort den ersten Entwurf von „ŃinelřŖ diktierte, von Pavlovs „DemonŖ erfahren haben, und er habe dann wohl im September desselben Jahres, mit Pogodin nach Petersburg zurückgekehrt, laut Aussage S. T. Aksakovs den gerade erschienenen Band „Tri povestiŖ, in dem sich „DemonŖ befindet, gelesen. ŖThusŗ, folgert Shepard, Ŗnot only could Gogol have known Pavlovřs story before he began ʻThe Overcoatʼ, but he certainly knew it well before than a few pages of history were writtenŗ. Shepard 1974, S. 294. 23 Vgl. Städtke, Die phantastische Erzählung. In: Ders., s. Anm. 20, S. 81Ŕ99. 24 V. F. Odoevskij, Skazka o tom, po kakomu sluĉaju kolleņskomu sovetniku Ivanu Bogdanoviĉu Otnońenřju ne udalosja v Svetloe voskresenře pozdravitř svoich naĉalřnikov s prazdnikom. In: Ders., Pestrye skazki. Hg. M. A. Turřjan. Petersburg 1996, S. 33. 25 Ebd., S. 36. 26 Ebd. 27 Vgl. Anm. 24. 28 Der vollständige Titel lautet: „Skazka o mertvom tele, neizvestno komu prinadleņańĉemŖ. Odoevskij, s. Anm. 24, S. 18. 29 Vgl. R. Lachmann, Stadt als Phantasma. Gogols Petersburg- und Romanentwürfe. In: Die Stadt in der europäischen Romantik, Hg. G. v. Graevenitz. Würzburg 2000, S. 227Ŕ250. 30 Dazu ausführlicher B. Zelinsky, Schönheit und Schein in Gogolřs „Nevskij prospektŖ und „PortretŖ. In: Ders., Russische Romantik. Köln 1975, S. 314Ŕ359. 31 N. V. Gogolř, Nevskij prospekt. In: Ders., s. Anm. 8, S. 46. 32 Vgl. „OtryvkiŖ und „Melkie otryvkiŖ. Gogolř, s. Anm. 8, S. 263Ŕ335. 33 Ebd., S. 446Ŕ450. 34 A. S. Puńkin, Dnevnik 1833Ŕ1835. Moskau 1923, S. 40. 35 V. G. Belinskij, Vzgljad na russkuju literaturu 1847 goda. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. F. Belřĉikov u. a. 13 Bde. Moskau 1953Ŕ1959. Bd. 10, S. 306. 36 Zit. nach: Komaroviĉ, s. Anm. 8, S. 689 f. Ŕ Ńevyrevs Rezension erschien 1846 in der Zeitschrift „MoskvitjaninŖ (Kniga I). 37 Ebd., S. 690. 38 Gukovskij 1959, S. 353. 39 Stepanov 1955, S. 275. 40 Wissemann 1958, S. 413. 41 Driessen 1965, S. 202 f. 42 Ĉyņevśkyj 1937, S. 89. 43 Rozanov 1894, S. 276. 44 Ėjchenbaum 1924, S. 184. 45 Ebd., S. 190. 46 Gerigk 1989, S. 114. 47 Nilsson 1975, S. 16 f. 48 Gerigk 1989, S. 114. 49 Ėjchenbaum 1924, S. 189. 50 Ĉyņevśkyj 1937, S. 63 ff. 51 Ebd., S. 72. 52 Ebd., S. 89 f. 53 Ėjchenbaum 1924, S. 171. 54 Ĉyņevśkyj 1937, S. 86 f. 55 R.-D. Keil, Gogolř und Paulus. In: Ders., Puńkin und Gogolř-Studien. Köln 2011, S. 333. 56 Driessen 1965. S. 213. 57 Schillinger 1972, S. 38 ff. Ŕ Ebenso Peuranen 1984, S. 125 ff.; Vetlovskaja 1999, S. 21 ff.

Nikolaj Gogolř: Ńinelř

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58 Seemann 1966, S. 15. 59 R.-D. Keil, Gogolř im Spiegel seiner Bibelzitate. In: Festschrift für Herbert Bräuer. Hg. R. Olesch u. H. Rothe. Köln 1986, S. 208. 60 Busch 1983, S. 192 f. 61 Thiergen 1988, S. 400 ff. 62 Zu allen Richtungen vgl. Literaturverzeichnis zu Gogolřs „ŃinelřŖ in diesem Band. 63 So als erster Ėjchenbaum 1924, S. 193. 64 Ebd., S. 194. 65 „Nous sommes tous sortis du ‚ManteauŘ de Gogol.Ŗ E.-M. de Vogüé, Le roman russe. Montreux 1971, S. 134. 66 Ėjchenbaum 1924, S. 181. 67 Ebd., S. 179 f. 68 Zur Verstärkung fügt Karlinsky noch hinzu: ŖRussian adults, who have been familiar with ŘThe Overcoatř and its hero for most of their lives, fail to perceive the connection, but Russian children who hear the name Akaky Akakievich for the first time usually giggle an lock embarrassed.ŗ Karlinsky 1976, S. 137. 69 Peace 1981, S. 142. 70 Zu Akakij Akakieviĉs Sprache als Reflexion „geistiger ArmutŖ und zu den Schwierigkeiten der Übersetzung dieser Sprache vgl. Grau 1983, S. 35 ff. 71 Peace 1981, S. 142 f. 72 Vgl. McFarlin 1979, S. 238 ff. 73 Peace 1981, S. 143. 74 Beispielsweise sagt der Erzähler an einer Stelle: „Noch nie in seinem Leben hat er darauf geachtet, was sich jeden Tag auf der Straße ereignet, auf das, was sein Bruder, der junge Beamte, nie aus dem Auge verliert, wobei dessen Scharfblick so weit reicht, dass er sogar bemerkt, bei wem auf dem Bürgersteig gegenüber der Hosensteg gerissen istŖ (145). 75 So auch Peace 1976, S. 70 f. 76 Dass der Mantel Akakij Akakieviĉ aufgezwungen wird, hat schon Wissemann 1958, S. 402 f. gegenüber Ĉyņevskyj 1937, S. 89 geltend gemacht, der von einer „VersuchungŖ Akakij Akakieviĉs ausgeht und deshalb in dem Versucher Petroviĉ nichts anderes als den Teufel sieht. 77 Wissemann 1958, S. 405. 78 Auf den „erotischen AspektŖ der Mantel-Geschichte hat als erster Tschiņewskij aufmerksam gemacht, diesen Aspekt aber zu wörtlich gefasst und von ihm aus den Manteldieb als den „starken Rivalen einer LiebesgeschichteŖ und die Wiederkehr Akakij Akakieviĉs am Ende als die „Karikatur des romantischen auferstehenden LiebhabersŖ gedeutet. Ĉyņevśkyj 1937, S. 80 f. Ŕ Karlinsky knüpft hieran an und interpretiert die ganze Novelle psychoanalytisch als „love storyŖ. Karlinsky 1976, S. 139. 79 Gukovskij 1959, S. 352 ff. 80 Günther 1968, S. 176. 81 Schwerte 1956, S. 112. 82 Schnurrbärte, wie sie die Manteldiebe tragen, sind bei Gogolř ein wiederkehrendes Symbol männlicher Potenz bzw. Sexualität. Vgl. zum Beispiel die Beschreibung von Petroviĉs Frau: „Mit Schönheit konnte sie, wie es scheint, nicht prahlen; allenfalls blickten ihr nur die Gardesoldaten, wenn sie ihr begegneten, unter die Haube, zuckten dabei mit dem Schnurrbart und gaben einen eigentümlichen Laut von sichŖ (148). Und in „KoljaskaŖ heißt es in der Beschreibung des Kavallerieregiments: „In den Seitengassen traf man Soldaten mit Schnurrbärten, die hart waren wie Stiefelbürsten. Diese Schnurrbärte tauchten überall auf. Versammelten sich auf dem Markt ein paar Kleinbürgerinnen mit Eimern, um Wasser zu schöpfen, gleich sah ihnen ein Schnurrbart über die Schultern...Ŗ. Gogolř, Koljaska: In: Ders., s. Anm. 8, S. 178.

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Literatur und Anmerkungen

83 Ähnlich Schwerte 1956, S. 115, der auf eine interessante Parallele bei Kafka hinweist, wo der Protagonist der Erzählung „Ein LandarztŖ in einer vergleichbar irreal expressiven Winternacht-Szenerie seinen „PelzŖ verliert. Vgl. F. Kafka, Ein Landarzt. In: Ders., Das erzählerische Werk. Hg. K. Hermsdorf. 2 Bde. Berlin 1983. Bd. 1, S. 205 f. 84 Das Wort „SchuhŖ gewinnt in „ŃinelřŖ noch einmal einen Symbolgehalt. Als Akakij Akakieviĉ nach dem Manteldiebstahl aufgelöst zurückkehrt und gegen die Tür hämmert, springt seine Wirtin, um aufzumachen, aus dem Bett, „nur an einem Fuß einen Schuh tragend und ihr Hemd schamhaft vor der Brust zusammenhaltendŖ (162). 85 K. Polheim, Der Mantel. In: Corona quernea. Festgabe Karl Strecker zum 80. Geburtstage dargebracht. Leipzig 1941, S. 41. 86 „,Pokrovř ist das Fest, gefeiert am 1. Oktober alten Stils, in dem die Bitte an die Jungfrau Maria um Schutz für das von den Türken bedrängte Konstantinopel erneuert wird.Ŗ Schamschula 1990, S. 133. Walter Schamschula nennt noch weitere Beispiele für die Schutzfunktion des Mantels, zum Beispiel Krylovs Fabel „Trińkin kaftanŖ (1815) aus der russischen Tradition oder Puccinis Oper „Il tabarroŖ (1918) aus der westeuropäischen Tradition. 87 Das zeigt sich in einer Stelle wie der folgenden: „Wer diese bedeutende Persönlichkeit war und welches Amt sie innehatte, das ist bis heute unbekannt gebliebenŖ (164). 88 Ėjchenbaum 1924, S. 190. 89 Ebd., S. 189. 90 Ebd., S. 190. 91 Als Akakij Akakieviĉ erschüttert von seinem ersten Besuch bei Petroviĉ auf die Straße tritt, stößt er mit einem Wächter zusammen, der ihn mit den Worten anherrscht: „ĉego lezeńř v samoe rylo, razve net tebe truchtuaraŖ (152). 92 „Hauptmerkmal der Syntax der Kanzeleisprache in ‚ŃinelřŘ ist erstens die Unpersönlichkeit der Konstruktionen, reflexiven Verben und Prädikativa, wodurch die Handlung ihrer Aktivität beraubt wird und der Handlungsträger verschwindet. Zweitens ist die Komplexität der Sätze charakteristisch, die z. B. durch den häufigen Gebrauch von SubstantivVerb-Konstruktionen (Streckverben) vom Typ ‚predstavitř dokazatelřstvaŘ (statt ‚dokazatřŘ), (Adverbial-)Partizipien und Hypotaxe zum Ausdruck kommt.Ŗ Grau 1983, S. 36. 93 Vgl. W. Schmid, Gogolř. In: Ders., Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs. München 1973, S. 183. 94 Vgl. Stellen wie „Zuweilen leuchtete in seinen Augen ein Feuer auf, und ihm schossen sogar die dreistesten und kühnsten Gedanken durch den Kopf: Sollte man nicht doch den Mantelkragen mit einem Marderfell belegen?Ŗ (155) oder „Er blickte zurück, schaute nach allen Seiten: Ein richtiges Meer war um ihn herum. ,Nein, es ist schon besser, sich gar nicht umzusehenřŖ (161). 95 Zur „AmtsspracheŖ (kanceljarskaja reĉř) bei Gogolř vgl. V. V. Vinogradov, Jazyk Gogolja. In: Materialy i issledovanija. Hg. V. V. Gippius. 2 Bde. Moskau 1936. Bd. 2, S. 302 ff. 96 Grau 1983, S. 38. 97 Busch 1983, S. 199. 98 Ĉyņevśkyj 1937, S. 95 ff. 99 Ebd., S. 86 f. 100 Busch 1983, S. 198. 101 Ebd., S. 192 f. 102 Stilman 1952, S. 142. 103 Braun 1973, S. 233. 104 Ebd., S. 234. 105 Vgl. unter anderem Stepanov 1955, S. 279 f. 106 L. J. Kent, Nikolaj Vasilřeviĉ Gogolř. In: Ders., The Subconscious in Gogolř and Dostoevskij, and its Antecedents. The Hague 1969, S. 86.

Ivan Turgenev: Veńnie vody

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107 Was sich für Woodward in Akakij Akakieviĉ „abgewetzten MantelŖ (threadbare overcoat) wie in dem von den jungen Beamten spöttisch benutzten Ausdruck „kapotŖ (a womanřs housecoat) symbolisiert. Woodward 1982, S. 100 f. 108 Ebd., S. 109. 109 Ĉyņevśkyj 1937, S. 82, 87 f. 110 Ebd. S. 85. Ŕ Tschiņewskij nennt als Vertreter dieser „Abart von LiebeŖ die unglücklichen Liebhaber wie Petrusř in „Veĉer nakanune Ivana KupalaŖ, Poprińĉin in „Zapiski sumasńedńegoŖ, Piskarev in „PortretŖ oder Andrij in „Taras BulřbaŖ. Ebd., S. 86. 111 Ebd., S. 89. 112 Clyman 1979, S. 606. 113 Evdokimov 1965, S. 83. 114 Ĉyņevśkyj 1966, S. 119. 115 Vgl. dazu ausführlich Thiergen 1988, S. 400 ff. 116 So auch Larsson 1992, S. 164, sowie Lindstrom 1974, S. 96. 117 Andreas Larsson sieht daher auch die „Hauptfunktion des ,phantastischen EpilogsřŖ darin: „den Erzähler vollends als menschlich unzulänglich zu entlarvenŖ. Ebd., S. 165.

Ivan Turgenev (1818Ŕ1883)

S. 312

Text „Veńnie vodyŖ (Frühlingsfluten) nach: I. S. Turgenev, Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 28 Bde. Moskau 1960Ŕ1968. Soĉinenija. Bd. 11, S. 7Ŕ156. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Frühlingsfluten. Übers. v. D. Pommerenke. 3. Aufl. Berlin 1984. Literatur N. A. KUZNECOVA, „Veńnie vodyŖ I. S. Turgeneva. In: Uĉenye zapiski Moskovskogo gosudarstvennogo universiteta 127. 1948, S. 155Ŕ171. R. E. MATLAW, Turgenevřs Art in ŖSpring Torrentsŗ. In: The Slavonic Review 35. 1956/57, S. 157Ŕ171. P. G. PUSTOVOJT, [„Veńnie vodyŖ]. In: Ders., Ivan Sergeeviĉ Turgenev. Moskau 1957, S. 109Ŕ110. A. YARMOLINSKY, [ŖSpring Freshetsŗ]. In: Ders.,Turgenev. The Man, his Art and his Age. New York 1959, S. 302Ŕ304. N. EGUNOV, „Veńnie vodyŖ. Latinskie ssylki v povesti Turgeneva [1968]. In: Turgenevskij sbornik. Materialy k polnomu sobraniju soĉinenij i pisem I. S. Turgeneva. Hg. M. P. Alekseev. 5 Bde. Leningrad 1964Ŕ1969. Bd. 4, S. 182Ŕ188. V. A. GROMOV, „Veńnie vodyŖ. Statřja i pisřmo B. M. Markeviĉa o povesti Turgeneva [1969]. In: Turgenevskij sbornik. Materialy k polnomu sobraniju soĉinenij i pisem I. S. Turgeneva. Hg. M. P. Alekseev. 5 Bde. Leningrad 1964Ŕ1969. Bd. 5, S. 303Ŕ305. M. LEDKOVSKY, [ŖSmokeŗ, ŖSpring Torrentsŗ]. In: Dies., The Other Turgenev. From Romanticism to Symbolism. Würzburg 1973, S. 55Ŕ57. P. BRANG, „FrühlingsflutenŖ. In: Ders., I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden 1977, S. 140Ŕ144. L. I. POLJAKOVA, Obraz „lińnego ĉelovekaŖ v tvorĉestve pozdnego Turgeneva [„Veńnie vodyŖ]. In: Dies., Povesti I. S. Turgeneva 70-ch godov. Kiev 1983, S. 11Ŕ70. H. K. SCHEFSKI, Novelle Structure in Turgenevřs ŖSpring Torrentsŗ. In: Studies in Short Fiction 22. 1985, S. 431Ŕ435. R. CHAPPLE, Ivan Turgenev, Sherwood Anderson, and Ernest Hemingway. The Torrents of Spring All. In: New Comparison. A Journal of Comparative and General Literary Studies 5. 1988, S. 136Ŕ149. A. M. WACHTEL, Turgenev and Storm + Personal Friendship and Artistic Differences as Revealed in Correspondence, ŖImmenseeŗ and ŖSpring Torrentsŗ Ŕ a Critical Reapraisal. In: Germano-Slavica 6. 1988. 2, S. 69Ŕ81. R. COLTRANE, Hemingway and Turgenev. ŖThe Torrents of Springŗ. In: Hemingway's Neglected Short Fiction. New Perspectives. Hg. S. G. Beegel. Ann Arbor, Michigan 1989, S. 149Ŕ 161. J. T. COSTLOW, Dido, Turgenev and the Journey toward Bedlam [ŖDymŗ, ŖVeńnie vodyŗ]. In: Russian Literature 29. 1991, S. 395Ŕ408. R.ŔD. KLUGE, [„Veńnie vodyŖ]. In: Ders.,

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Literatur und Anmerkungen

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Fedor Dostoevskij: Krotkaja

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12 Ebd. 13 An dieser Stelle eine Bemerkung zu den Übersetzungen. Die DDR Ausgabe von „Veńnie vodyŖ im Aufbau-Verlag (Berlin 1970) vermeidet das religiöse Wort „EntheiligungŖ und übersetzt „svjatotatstvoŖ mit „Das war ja geradezu frevelhaft!Ŗ. Abgesehen von solchen ideologischen Verzeichnungen bedeutete diese Übersetzung jedoch einen erheblichen Fortschritt gegenüber der Mitauer Ausgabe von 1872, die 1967 vom Winkler-Verlag nachgedruckt worden war. Dort findet man Übersetzungsblüten wie „im Bett der bescheidensten Zimmernummer liegendŖ statt „in dem ihm zugewiesenen bescheidenen HotelzimmerŖ, und der Erzähler sagt, es müssten zunächst Sanins „Name, seines Vaters Name und seine FamilieŖ genannt werden statt sein „Vorname, sein Vatersname und sein FamiliennameŖ. Es wäre Turgenev zu wünschen, dass seine Werke gelegentlich in ähnlicher Weise wie die von Ĉechov und Dostoevskij neu übersetzt oder dass zumindest die bestehenden Übersetzungen vor einem Nachdruck gründlich überprüft würden. 14 Vgl. über solche Fälle S. Kurt, Erlebte Rede aus linguistischer Sicht. Der Ausdruck von Temporalität im Französischen und Russischen. Ein Übersetzungsvergleich. Bern 1999, S. 51Ŕ55. 15 Vor allem die Arbeiten von Dolny 1996 und Peace 2002. 16 Erwähnt werden Dante, Goethe, Puńkin, Benediktov, E. T. A. Hoffmann, Maltz, Uhland, Cardinal de Retz, Virgil, Bürger; Allori, Raffael, Correggio, Danneker; Liszt, Cimarosa, Glinka, Weber, Mozart, Chr. A. Vulpiusř „Rinaldo RinaldiniŖ, G. Meierbeer mit „Robert le DiableŖ, Rossini mit „Demetrio i PolibioŖ und Pauline Viardots Vater, der Tenor M. Garcia. 17 Vgl. dazu Peace 2002. 18 M. Nierle, Die Naturschilderung und ihre Funktionen in Versdichtung und Prosa von I. S. Turgenev. Bad Homburg 1969, S. 220. 19 Vgl. hierzu auch Peace 2002. 20 Zit. nach: Turgenev, s. Text, S. 467. 21 Ebd., S. 462. 22 Ebd. 23 Ebd.

Fedor Dostoevskij (1821Ŕ1881)

S. 324

Text „Krotkaja. Fantastiĉeskij rasskazŖ (Die Sanfte. Eine fantastische Erzählung) nach: F. M. Dostoevskij, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Bazanov u. a. 30 Bde. Leningrad 1972Ŕ 1990. Bd. 24, S. 5Ŕ35. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Die Sanfte. Übers. v. Wolfgang Kasack. Frankfurt/M. 1989. Literatur A. S. DOLININ, „KrotkajaŖ. In: F. M. Dostoevskij. Statři i materialy. Hg. A. S. Dolinin. 2 Bde. Petersburg/Leningrad 1922Ŕ1924. Bd. 2, S. 423Ŕ438. M. BACHTIN, Problemy poėtiki Dostoevskogo [1963]. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. S. G. Boĉarov u. a. 6 Bde. Moskau 1996Ŕ 2012. Bd. 6, S. 5Ŕ300. L. P. GROSSMAN, „KrotkajaŖ. In: Ders., Dostoevskij. 2. Aufl. Moskau 1965, S. 511Ŕ519. V. A. TUNIMANOV, Priemy povestvovanija v „KrotkojŖ F. M. Dostoevskogo. In: Vestnik Leningradskogo gosudarstvennogo universiteta. Serija istorii, jazyka i literatury. Vyp. 1Ŕ2. 1965, S. 106Ŕ115. R. L. JACKSON, On the Uses of the Motif of the Duel in Dostoevskiiřs ŖA Gentle Creatureŗ. In: Canadian-American Slavic Studies 6. 1972, S. 256Ŕ 264. W. SCHMID, „Die SanfteŖ. In: Ders., Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs. München 1973, S. 270Ŕ278. L. R. ANDREWS, Dostoevskij and Hugořs ŖLe dernier jour dřun condamnéŗ. In: Comparative Literature 29. 1977, S. 1Ŕ16. E. A. IVANĈIKOVA, Sintaksiĉe-

716

Literatur und Anmerkungen

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Lev Tolstoj: Smertř Ivana Ilřiĉa 8 9 10 11 12 13

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Vgl. Straus 1994, S. 97. Dostoevskij, s. Anm. 1, Bd. 23, S. 5. Am überzeugendsten hat dies Kate Holland getan. Vgl. Holland 2000. Dostoevskij, s. Anm. 1, Bd. 23, S. 145. Ebd. Vgl. Anmerkung von V. D. Rak in: Dostoevskij, s. Anm. 1, Bd. 23, S. 407. Vgl. den Brief Pobedonoscevs an Dostoevskij vom 3. Juni 1876 in: L. Grossman, Dostoevskij i pravitelřstvennye krugi 1870-ch godov. In: Literaturnoe nasledstvo 15. Moskau 1934, S. 130. Ebd. (Pobedonoscev an Dostoevskij). Dostoevskij, s. Text, Bd. 23, S. 145 f. Vgl. Frank 2003, S. 347. Vgl. Andrews 1977, S. 12Ŕ16. Vgl. Schmid 1973, S. 273. Holland 2000, S. 107. Vgl. Straus 1994, S. 105 f. Dostoevskij, s. Anm. 1, Bd. 23, S. 146. Vgl. auch Mizzau 1993, S. 78. Vgl. Straus 1994, S. 109; Mizzau 1993, S. 73. Vgl. Christa 2000, S. 144. Ņolkovskij 2012, S. 31. Vgl. Christa 2000, S. 149. Vgl. Mizzau 1993, S. 80. Zum Motiv des Duells in „KrotkajaŖ vgl. Jackson 1972. Vgl. Ņolkovskij 2012, S. 24. Zu einer Diskussion der Bedeutung des Begriffsfelds „kostnostř/inercijaŖ (Stumpfsinnigkeit bzw. Trägheit, auch im physikalischen Sinne) vgl. Knapp 1985. Vgl. Jackson 1972, S. 258. Zum Kontext von Dostoevskijs Behandlung der Begriffe „prjamolinejnostř Ŗ (Linearität) und „uprońĉennostř Ŗ (Vereinfachung) in „Dnevnik pisateljaŖ siehe Holland 2000, S. 97 ff. Vgl. Ņolkovskij 2012, S. 29. Apg. 9: 18. Off. 6: 12. Vgl. Dostoevskij, s. Anm. 1, Bd. 24, S. 393. Vgl. Oenning Thompson 2001, S. 85. Bachtin 2002, S. 65 f. Vgl. Pis 1997, S. 192. Vgl. V. I. Dalř, Tolkovyj slovarř ņivogo velikorusskogo jazyka. 4 Bde. Moskau 1955 [Nachdruck der 2. Aufl. 1880Ŕ1882]. Bd. 1, S. 385.

Lev Tolstoj (1828Ŕ1910)

S. 341

Text „Smertř Ivana IlřiĉaŖ (Der Tod des Ivan Ilřiĉ) nach : L. N. Tolstoj, Sobranie soĉinenij. Hg. N. N. Akopova u. a. 20 Bde. Moskau 1960Ŕ1966. Bd. 12, S. 57Ŕ115. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Der Tod des Iwan Iljitsch. Übers. J. von Guenther. Stuttgart 1989. Literatur A. LISOVSKIJ, „Smertř Ivana IlřiĉaŖ. In: Russkoe bogatstvo. 1888. 1, S. 180Ŕ197. A. I. VVEDENSKIJ, Pered sudom smerti. „Smertř Ivana IlřiĉaŖ. In: Ders., Obńĉestvennoe samosoznanie v russkoj literature. Petersburg 1909, S. 208Ŕ226. M. A. ALDANOV, [„Smertř Ivana IlřiĉaŖ]. In: Ders., Zagadka Tolstogo. Berlin 1923, S. 60Ŕ68. L. P. GROSSMAN, „Smertř Ivana IlřiĉaŖ.

718

Literatur und Anmerkungen

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Ebd. S. 129. „...persona ist ursprünglich die Maske, die der Schauspieler trug und welche die Rolle bezeichnete, in der der Spieler auftrat.Ŗ C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. 2. Aufl. München 1990, S. 41. Vgl. 1. Mose 28, 12 ff. „Die große Geißel der Reichen ist die Langeweile. Inmitten vieler und kostspieliger Zerstreuungen, mitten unter so vielen Leuten, die sich Mühe geben, ihnen zu gefallen, langweilen sie sich zu Tode. Sie verbringen ihr Leben damit, die Langeweile zu fliehen und sich von ihr wieder einholen zu lassen.Ŗ J.-J. Rousseau, Émile oder Über die Erziehung. München 1989, S. 379. W. Rehm, Gontscharow und die Langeweile. In: Experimentum Medietatis. Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. München 1947, S. 96Ŕ183, S. 173. Ph. Ariès, Geschichte des Todes. München 1989, S. 720. Ebd. S. 722. Ebd. S. 724. Ebd. S. 726. „Auf diese Form der Verzweiflung wird man nun in der Welt so gut wie gar nicht aufmerksam. Solch ein Mensch hat, gerade dadurch dass er sich selbst verloren hat, die Vervollkommnungsfähigkeit gewonnen um im Handel und Wandel so richtig mitzugehn, ja um sein Glück zu machen in der Welt. [...] Er ist so weit davon, dass ihn jemand für verzweifelt ansähe, dass er vielmehr gerade ein Mensch ist wie es sich schickt. Überhaupt hat die Welt, wie natürlich ist, keinen Sinn für das wahrhaft Entsetzliche. Eine Verzweiflung, die einem nicht allein keine Scherereien im Leben verursacht, sondern einem das Leben bequem und behaglich macht. Sie wird natürlich in keinerlei Weise für Verzweiflung angesehen.Ŗ S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester Ŕ der Zöllner Ŕ die Sünderin. 4. Aufl. Gütersloh 1992, S. 29 ff. Ebd. S. 51. Ariès, s. Anm. 11, S. 726. Ebd. S. 727. V. Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie. München 1988, S. 101. „Jeder will der erste in dieser Zukunft sein Ŕ und doch ist Tod und Totenstille das einzig Sichere und das einzig Gemeinsame dieser Zukunft! Wie seltsam, daß diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit fast gar nichts über die Menschen vermag und daß sie am weitesten davon entfernt sind, sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen!Ŗ F. Nietzsche, Werke. Hg. K. Schlechta. 5 Bde. Frankfurt/M. 1969. Bd. 2, S. 163. „Lřamour de lřautre, cřest lřémotion de la mort de lřautre… Nous rencontrons la mort dans le visage dřautrui.Ŗ E. Levinas, Dieu, la mort et le temps. Paris 1993. S. 122. Die Verstellung eines adeligen Kindes angesichts des Todes zeigt Tolstoj bereits in seiner ersten Erzählung „DetstvoŖ (Kindheit, 1852). Jene ist das Zeichen eines abgeschlossenen Selbst-Verlustes. Vgl. B. Harreß, Weltentdeckung als literarisches Verfahren Ŕ Lev Tolstojs Erzählung „KindheitŖ (1852). In: Perspektiven auf Kindheit und Kinder. Hg. G. Scholz u. A. Ruhl. Opladen 2001, S. 167Ŕ176; hier: S. 172 ff. Am 20. Februar 1901 erfolgte die Exkommunikation Lev Tolstojs aus der Russisch-Orthodoxen Kirche durch den Heiligsten Regierenden Synod. Der Prophet Hesekiel verheißt dem „totenŖ Volk Israel die Auferweckung und einen neuen Bund: „So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und ich will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR binŖ (Hesekiel 37, 12Ŕ14).

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Literatur und Anmerkungen

25 K. Koch, J. Roloff, Reich Gottes. In: Reclams Bibellexikon. Hg. K. Koch u. a. Stuttgart 1979, S. 421Ŕ423. 26 „Der Egoismus besteht eigentlich darin, dass der Mensch alle Realität auf seine eigene Person beschränkt, indem er in dieser allein zu existieren wähnt, nicht in den andern. Der Tod belehrt ihn eines Bessern, indem er diese Person aufhebt, so dass das Wesen des Menschen, welches sein Wille ist, fortan nur in andern Individuen leben wird, sein Intellekt aber [...] nur im Dasein der bisherigen Außenwelt fortbesteht. [...] Über dies alles nun aber ist der Tod die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu sein: wohl dem, der sie benutzt.Ŗ A. Schopenhauer, Sämtliche Werke. Hg. W. Frhr. Von Löhneysen. 5 Bde. 2. Aufl. Darmstadt 1989Ŕ1990. Bd. 2, S. 649 f. 27 L. N. Tolstoj, V ĉem moja vera. In: Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Ĉertkov u. a. 90 Bde. Moskau 1928Ŕ1958. Bd. 23, S. 397, 400. 28 Goethe zu Eckermann am 29. Januar 1827. J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: J. W. v. Goethe, Werke. Artemis Gedenk-Ausgabe. Hg. E. Beutler. 24 Bde. u. 3 Ergänzungsbände. Zürich 1948Ŕ1971. Bd. 24, S. 224 f. 29 Nach dem „Totenbuch der TibeterŖ tritt der Mensch in seiner ersten Sterbestunde in den „BardoŖ (Zwischenzustand) der Todeszeit ein. Hier leuchtet ihm während seines letzten Atemzugs ein strahlendes Licht auf, in dem ihm die „DharmataŖ (wahre Natur der Dinge) erscheint, die ihrem Wesen nach leer ist. Wenn der Sterbende dies erkennt, ist er „BuddhaŖ (der Erleuchtete). Vgl. S. Rinpoche, Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod. Frankfurt/M. 2004, S. 292 ff. Ŕ K. Sagaster, Grundgedanken des Tibetischen Totenbuches. In: Tod und Jenseits im Glauben der Völker. Hg. H.-J. Klimkeit. Wiesbaden 1978, S. 175Ŕ189. 30 Hegel unterteilt die möglichen Kollisionen in drei Kategorien. Die erste Kategorie stellen Kollisionen dar, die aus „rein physischen, natürlichen Zuständen hervorgehen, insofern diese selbst etwas Negatives, Übles und dadurch Störendes sindŖ. Es ist die äußere Natur, die mit ihren Krankheiten und sonstigen Störungen „Umstände herbeiführt, welche die sonstige Harmonie des Lebens stören und Differenzen zur Folge habenŖ. Laut Hegel sind solche Kollisionen „von keinem Interesse und werden in der Kunst nur der Zwiespalte wegen aufgenommen, welche sich aus einem Naturunglück als Folge entwickeln können.Ŗ G. W. F. Hegel, Ästhetik. 2 Bde. Hg. R. Bubner. Stuttgart 1971. Bd. 2, S. 297 f.

Michail Saltykov-Ńĉedrin (1826Ŕ1889)

S. 356

Text „Istorija odnogo gorodaŖ (Die Geschichte einer Stadt) nach: M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Sobranie soĉinenij. Hg. S. A. Makańin u. a. 20 Bde. Moskau 1965Ŕ1977. Bd. 8, S. 265Ŕ433. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Die Geschichte einer Stadt. Übers. v. A. u. G. Kirchner. Zürich 1994. Literatur JA. ĖLřSBERG, „Istorija odnogo gorodaŖ. In: Ders., Ņiznř i tvorĉestvo. Moskau 1953, S. 221Ŕ 255. V. KIRPOTIN, „Istorija odnogo gorodaŖ. In: Ders., Michail Evgrafoviĉ Saltykov-Ńĉedrin. Ņiznř i tvorĉestvo. Moskau 1955, S. 280Ŕ315. K. SANINE, „Les PompadoursŖ et „Histoire dřune villeŖ. 1863Ŕ1874. In: Ders., Saltykov-Chtchédrine, Sa vie et ses œuvres. Paris 1955, S. 160Ŕ182. S. BORŃĈEVSKIJ, Polemiĉeskoe prelomlenie idej i obrazov „Istorii odnogo gorodaŖ i „Gospod tańkentcevŖ v „BesachŖ. In: Ders., Ńĉedrin i Dostoevskij. Istorija ich idejnoj borřby. Moskau 1956, S. 215Ŕ240. E. POKUSAEV, „Istorija odnogo gorodaŖ. In: Ders., Revoljucionnaja satira Saltykova-Ńĉedrina. Moskau 1963, S. 21Ŕ124. A. Boĉarova, Rasskazĉik Saltykova-Ńĉedrina. Parodija i avtoparodija. „Istorija odnogo gorodaŖ. In: Dies., SaltykovŃĉedrin. Polemiĉeskij aspect satiry. Saratov 1967, S. 83Ŕ108. I. P. FOOTE, Reaction or Revo-

Michail Saltykov-Ńĉedrin: Istorija odnogo goroda

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Literatur und Anmerkungen

Vgl. dazu insbesondere E. Pokusaev, „Gospoda GolovlevyŖ M. E. Saltykova-Ńĉedrina. Moskau 1975. Der starke Einfluss Gogolřs auf die frühen Texte von Saltykov-Ńĉedrin wird vor allem von Ņuk 1976 sehr genau analysiert. A. A. Ņuk, Ot Gogolja k Ńĉedrinu. Ėvolucija russkoj satiry. In: Saltykov 1826Ŕ1976. Hg. A. S. Buńmin. Leningrad 1976, S. 145Ŕ164. Die immer stärkeren Abweichungen von den poetischen Prinzipien und Darstellungsverfahren des russischen Realismus werden vor allem von Draitser 1994 verfolgt und mit dem dominierenden satirischen bzw. gesellgesellschaftskritischen Anspruch der Texte begründet. R. Warning, Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 33. F. Schiller, Sämtliche Werke. Hg. G. Fricke. 5 Bde. 3. Aufl. München 1962, S. 722. Bachtin 1996, S.11Ŕ38. Einen vielfältigen Überblick über die spätere internationale Satire-Theorie und Satire-Forschung bietet das Kompendium von Fabian 1975. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Frankfurt/M. 1987, S. 98, 102. M. M. Bachtin, Satira. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. S. G. Boĉarov u. a. 6 Bde. Moskau 1996Ŕ2012. Bd. 5, S. 34. D. S. Lichaĉev, Poėtika drevnerusskoj literatury. Leningrad 1971, S. 371, 377. M. Pogodin, Parallelř russkoj istorii s istoriej zapadnych evropejskich gosudarstv, otnositelřno naĉala. In: Ders., Istoriko-kritiĉeskie otryvki. Moskau 1846, S. 62. Dieser wirkungsästhetische Aspekt des Textes wird bereits von Pokusaev 1963 mit Recht herausgestellt, um die Phantastik der Darstellung zu begründen und zu legitimieren. G. Mensching, Das Groteske im modernen Drama. Bonn 1961, S. 24. H. Günther, Das Groteske bei N. V. Gogolř. Formen und Funktionen. München 1968, S. 26Ŕ28. V. V. Gippius, Ljudi i kukly v satire Saltykova. In: Ders., Ot Puńkina do Bloka. Moskau 1966, S. 295Ŕ330. Vgl. dazu die ausführliche, forschungsgeschichtlich ausgerichtete Darstellung der unterschiedlichen Deutungen des rätselhaften Endes in Saltykov-Ńĉedrin, s. Text, S. 545Ŕ547 sowie die kritische Darstellung und Diskussion der verschiedenen Positionen bei Foote 1968. P. V. Ivanov-Razumnik, Kommentarij. In: M. E. Saltykov (Ńĉedrin), Soĉinenija. Hg. K. Chalabaev u. B. Ėjchenbaum. 6 Bde. Moskau 1926Ŕ1928. Bd. 1, S. 617. B. M. Ėjchenbaum, Kommentarij. In: M. E. Saltykov-Ńĉedrin, Istorija odnogo goroda. Leningrad 1935, S. 312. Saltykov-Ńĉedrin, s. Text, S. 452. Vgl. den Brief an Pypin. Ebd., S. 455Ŕ458. Vgl. dazu die die politischen Überzeugungen von Saltykov-Ńĉedrin ausführlich darstellende und kommentierende Monographie: V. A. Mysljakov, Saltykov-Ńĉedrin i narodniĉeskaja demokratija. Leningrad 1984. Einen informativen Überblick über die frühe Rezeption bietet der ausführliche Kommentar in Saltykov-Ńĉedrin, s. Text, S. 536Ŕ546. I. S. Turgenev, ŖHistory of a Townŗ. Edited by M. E. Saltykoff (Istoriya odnogo goroda). St.-Petersburg 1870. In: Ders., Polnoe sobranie soĉineniji i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 28 Bde. Moskau 1960Ŕ1968. Soĉinenija. Bd. 14, S. 251. V. Přecuch, Istorija goroda Glupova v novye i novejńie vremena. In: Ders., Novaja moskovskaja filosofija. Chronika i rasskazy. Moskau 1989. Ebd., S. 157

Anton Ĉechov: Skripka Rotńilřda

Anton Ĉechov (1860Ŕ1904)

723 S. 370

Text „Skripka RotńilřdaŖ (Rothschilds Geige) nach: A. P. Ĉechov, Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. N. V. Belřĉikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974Ŕ1983. Soĉinenija. Bd. 8, S. 297Ŕ305. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Rothschilds Geige. Übers. v. G. Dick u. A. Knipper. In: A. Ĉechov, Rothschilds Geige. Erzählungen 1893Ŕ1896. Hg. v. P. Urban. Zürich 2004. Literatur D. V. IOANNISJAN, Tri rasskaza („Kapitanskij mundirŖ, „GoreŖ, „Skripka RotńilřdaŖ). In: A. P. Ĉechov. Sbornik statej i materialov. Hg. V. Sedegov. 2 Bde. Rostov-na-Donu 1959Ŕ 1960. Bd. 2, S. 135Ŕ156. V. ŃKLOVSKIJ, O protivoreĉivosti i tekuĉesti ĉechovskich geroev. In: Ders., Povesti o proze. Razmyńlenija i razbory. 2 Bde. Moskau 1966. Bd. 2, S. 364Ŕ370. TH. WINNER, Beauty and Banality [ŖRothschildřs Fiddleŗ]. In: Ders., Chekhov and His Prose. New York 1966, S. 162Ŕ167. V. V. CHIMIĈ, Avtorskoe slovo i slovo geroja v rasskazach Ĉechova [1969]. In: Russkaja literatura 1870Ŕ1890 godov. Hg. I. A. Dergaĉev. 19 Bde. Sverdlovsk 1966Ŕ1987. Bd. 2, S. 139Ŕ155. K. ĈUKOVSKIJ, [„Skripka RotńilřdaŖ]. In: Ders., O Ĉechove. Moskau 1967, S. 129Ŕ134. K. CHUKOVSKY, Reading Chekhov [ŖRotschildřs Violinŗ]. In: New World Review 37. 1969, S. 39Ŕ46. N. L. MAMAYEVA, Some Problems of Structure in the Short Story Genre (Based on ŖRothschildřs Violinŗ by A. Chekhov and ŗA Short Happy Life of Francis MacomberŖ by E. Hemingway). In: Problemy teorii romana i rasskaza. Sbornik nauĉnych statej aspirantov. Hg. M. Ńmuloviĉ. Riga 1972, S. 134Ŕ147. L. M. CILEVIĈ, Sjuņet ĉechovskogo rasskaza. Riga 1976. N. M. FORTUNATOV, „GrobovńĉikŖ Puńkina i „Skripka RotńilřdaŖ Ĉechova. K probleme architektoniki novelly. In: Boldinskie ĉtenija. Gorřkij 1976, S. 93Ŕ102. L. S. LEVITAN, Sjuņet i kompozicija rasskaza A. P. Ĉechova „Skripka RotńilřdaŖ [1976]. In: Voprosy sjuņetosloņenija. 5 Bde. Riga 1969Ŕ1978. Bd. 4, S. 33Ŕ46. R. L. JACKSON, „If I Forget Thee, O JerusalemŖ. An Essay on Chekhovřs „Rothschildřs FiddleŖ [1978]. In: Anton Chekhov Rediscovered. A Collection of New Studies With a Comprehensive Bibliography. Hg. S. Senderovich u. M. Sendich, East Lansing, Michigan 1987, S. 35Ŕ49. R. HUSS, Mourning and Melancholia in Two Tales by Chekhov [„Skripka RotńilřdaŖ und „ToskaŖ]. In: The International Journal of Psychoanalysis 6. 1979, S. 201Ŕ 207. M. N. DARVIN, Puńkinskij geroj ĉechovskogo rasskaza. Opyt sopostavitelřnogo analiza „GrobovńĉikaŖ A. S. Puńkina i „Skripki RotńilřdaŖ A. P. Ĉechova. In: Priroda chudoņestvennogo celogo i literaturnyj process. Hg. N. D. Tamarĉenko. Kemerovo 1980, S. 131Ŕ143. R. ŃAGINJAN, K poėtike ĉechovskoj liriĉeskoj novelly 90-ch godov. „Skripka RotńilřdaŖ i „Dom s mezoninomŖ. In: Problemy poėtiki. Sbornik nauĉnych trudov. Samarkand 1980, S. 32Ŕ38. I. KIRK, ŖRothschildřs Fiddleŗ. In: Dies., Anton Chekhov. Boston, 1981, S. 95Ŕ97. P. TROST, Ĉechovova povìdka „Skripka RotńilřdaŖ. In: Bulletin ruského jazyka a literatury 23. 1981, S. 21Ŕ23. W. SCHMID, Klangwiederholungen in Ĉechovs Erzählprosa. In: Text Ŕ Symbol Ŕ Weltmodell. Johannes Holthusen zum 60. Geburtstag. Hg. J. R. Döring-Smirnov u. a. München 1984, S. 489Ŕ514. E. ĖTKIND, Ivanov i Rotńilřd. O rasskaze A. P. Ĉechova „Skripka RotńilřdaŖ. In: Russian Language Journal 39. 1985, S. 1Ŕ49. CH. E. MAY, Chekhov and the Modern Short Story. In: A Chekhov Companion. Hg. T. W. Clyman. Westport, Connecticut 1985, S. 147Ŕ163. M. L. SEMANOVA, O soderņatelřnosti formy rasskazov A. P. Ĉechova. „GoreŖ, „Skripka RotńilřdaŖ. In: Poėtiĉeskij mir Ĉechova. Sbornik nauĉnych trudov. Hg. D. N. Medriń. Volgograd 1985, S. 12Ŕ22. M.-R. USACHOV, Davajte vĉitaemsja… Puńkin i Ĉechov [„Skripka RotńilřdaŖ]. In: Literaturnaja uĉeba. 1987. 3, S. 219Ŕ223. M. REV, Vidoizmenenie odnoj literaturnoj tradicii. Puńkin i Ĉechov. [„GrobovńĉikŖ, „Skripka RotńilřdaŖ]. In: Studia Slavica Hungarica 36. 1990, S. 325Ŕ334. P. EREMIN, „Skripka RotńilřdaŖ A. P. Ĉechova Ŕ svjazř s tradicijami russkoj klassiki. In: Voprosy literatury 1991. 4, S. 93Ŕ123.

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Literatur und Anmerkungen

Ĉechov bereits in seiner Erzählung „GoreŖ (Kummer) aus dem Jahr 1885 an dem Drechsler Grigorij Petrov dargestellt. Einen Vergleich der Erzählungen unternehmen Ioannisjan 1959Ŕ1960 und Semanova 1985. Vgl. jetzt auch W. Schmid, Prozrenie v voobraņaemom dialoge. Rasskaz A. P. Ĉechova „GoreŖ. In: To the Point. Festschrift for Eric de Haard. Hg. W. Weststeijn u. a. Amsterdam 2014, S. 331Ŕ340. Ioannisjan 1959Ŕ1960, S. 155. So G. P. Berdnikov, A. P. Ĉechov. Idejnye i tvorĉeskie iskanija [1961] 3. Aufl. Moskau 1984, S. 326. Rosenshield 1997(b), S. 488. D. Rayfield, Chekhov. The Evolution of his Art. London 1975, S. 137. Mamayeva 1972, S. 147. Ironische Töne des Finales erkennen auch Kirk 1981, S. 95Ŕ97; May 1985. S. 159 f. Ĉechov, s. Text, Bd. 17, S. 109. Vgl. Z. Papernyj, Zapisnye kniņki Ĉechova, Moskau 1967, S. 41 f., der diese Notiz lediglich als „Sujet-TrampolinŖ für die spätere Erzählung wertet. Vgl. dazu die Analyse von Lija Levitan 1976, die lediglich drei Stufen ansetzt. Levitans Befunde differenzierend und korrigierend rekonstruiert den Prozess des Erkennens und Umdenkens umsichtig und überzeugend Wächter 1992. Zum Prozess des Erinnerns vgl. auch Kirjanov 2000. Das Motiv der reuevollen Erinnerung eines groben Handwerkers an die schlechte Behandlung seiner Ehefrau hat Ĉechov bereits in „GoreŖ (vgl. oben, Anm. 7) gestaltet. Der Drechsler Grigorij Petrov, ein Meister in seinem Fach, fährt seine kranke Ehefrau durch den tobenden Schneesturm ins Krankenhaus, und auf der mühevollen Fahrt erinnert er sich daran, dass er, dem Alkohol verfallen, seine Frau in den vierzig Jahren ihres Zusammenlebens nur gescholten und geschlagen hat. Sein „prozrenieŖ kommt zu spät. Die Frau liegt tot im Schlitten. Und ihm selbst sind Hände und Beine abgefroren. Der Arzt konstatiert, gefühllos wie der Feldscher in „Skripka RotńilřdaŖ: „Dem Drechsler ein Amen!Ŗ (Ĉechov, s. Text, Bd. 4, S. 230Ŕ234, hier: S. 234). Zu der Höflichkeitsrhetorik und der Hartnäckigkeit, mit der der Sargmacher den Feldscher zu einer Behandlung der sterbenden Frau zu bewegen sucht und die in merkwürdigem Widerspruch zu den fünfzig Jahren des Mißachtens von Marfas Lebensinteressen steht, vgl. Bauer 2000, S. 201Ŕ204. Zur mythologischen und symbolischen Bedeutung der Weide vgl. Kńicová 1997, S. 589. So Levitan 1976, S. 33. Zu den Beziehungen zwischen den Texten vgl. Fortunatov 1976; Ė. A. Polockaja, O naznaĉenii iskusstva (Puńkin i Ĉechov). In: Ĉechoviana. Statři, publikacii, ėsse. Hg. V. Ja. Lakńin. Moskau 1990, S. 40Ŕ53; M. Rev 1990; Golovaĉeva, Povesti pokojnogo Ivana Petroviĉa Belkina, „pereskazannyeŖ Antonom Pavloviĉem Ĉechovym. In: Ĉechoviana. Ĉechov i Puńkin. Hg. V. B. Kataev. Moskau 1998. S. 175Ŕ191. So z. B. bei Levitan 1976, S. 42. Dies ist ein bei Ĉechov nicht selten anzutreffendes Verfahren, man vgl. etwa den Beginn von „StudentŖ oder „NevestaŖ (Die Braut). Dass bei Ĉechov „die Stimme des Helden nicht selten vor seinem Erscheinen als handelnder Person erklingtŖ, hat bereits V. V. Chimiĉ 1969, S. 143, angemerkt. Vgl. dazu N. A. Koņevnikova, O tipach povestvovanija v sovetskoj proze. In: Voprosy jazyka sovremennoj russkoj literatury. Hg. V. D. Levin. Moskau 1971, S. 97Ŕ163; Dies., Tipy povestvovanija v russkoj literature XIXŔXX vv. Moskau 1994, S. 206Ŕ248. J. Holthusen, Stilistik des „uneigentlichenŖ Erzählens in der sowjetischen Gegenwartsliteratur. In: Die Welt der Slaven 13. 1968. S. 225Ŕ245. Zum uneigentlichen Erzählen und seinen Untertypen vgl. Schmid, s. Anm. 3, S. 195Ŕ197. Zum uneigentlichen Erzählen in den späten Novellen Ĉechovs vgl. Schmid 1995, wo

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auch publizierte deutsche Übersetzungen des Erzähleingangs von „Skripka RotńilřdaŖ und „StudentŖ miteinander verglichen werden. Zur thematischen Äquivalenz im Allgemeinen und in den Erzählungen Ĉechovs im Besonderen vgl. Schmid 1992 (a). In die Metallreihe bringt Wächter 1992, S. 70 auch den Leiter des jüdischen Orchesters Ńachkes, der von Beruf Verzinner ist. Zu dieser Figur vgl. unten den Abschnitt über die jüdische Thematik. Zur Tendenz von Ĉechovs Prosa zur ornamentalen phonischen Faktur vgl. Schmid 1984; zu den Klangfiguren in „Skripka RotńilřdaŖ Winner 1966, S. 162Ŕ167. Zu dieser Stelle und ihrer phonischen Faktur vgl. schon Levitan 1976, S. 37 f., und ausführlich Wächter 1992, S. 108Ŕ112. Ėtkind 1985, S. 31. Mit ihrem jüdischen Thema hat die Erzählung besondere Aktualität für die Literatur der Gegenwart erlangt. May 1985, S. 159 f., skizziert den Einfluss von „Skripka RotńilřdaŖ auf den aus einer russisch-jüdischen Familie stammenden amerikanischen Short story-Autor Bernard Malamud. Eine umsichtige Erörterung von „Skripka RotńilřdaŖ unter dem Aspekt des jüdischen Themas im Vergleich mit Dostoevskijs „Dnevnik pisateljaŖ (Tagebuch eines Schriftstellers) gibt Rosenshield 1997. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 8 Bde. 2. Aufl. Mannheim 1994, S. 2876, „SchacherŖ, „schachernŖ. So I. Ja. Pavlovskij, Russko-nemeckij slovarř [1900Ŕ1902]. 3. Aufl. Riga 1911, siehe vor allem „luditřŖ; vgl. auch M. Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1950Ŕ1958, siehe vor allem „ludìtřŖ. Während Vasmer das Verb von altruss. „ludŖ (Dummkopf) ableitet, bringt es Pavlovskij, plausibler, in Zusammenhang mit dem in Nordrussland gebräuchlichen Wort „ludáŖ 1. „blendender GlanzŖ, 2. „Blendwerk, Täuschung, SchwindelŖ. Levitan 1976, S. 36. Vgl. den Kommentar in der Textausgabe, S. 503. Jackson 1987. Vgl. hierzu schon Wächter 1992, S. 84 f. Zur gradationsfähigen Ereignishaftigkeit und ihren Kriterien vgl. Schmid, s. Anm. 3, S. 15Ŕ19. So Cileviĉ 1981, S. 96. Rosenshield 1997, S. 496. Vgl. Schmid, s. Anm. 3, S. 17 f. Ńklovskij 1966, S. 369. So Rosenshield 1997, S. 496. Wenn Jakov seine kranke Frau dem Feldscher als seinen „prédmetŖ vorstellt, so benutzt er einen Ausdruck, der im 19. Jahrhundert jemanden bezeichnete, dem man in Zuneigung verbunden war (vgl. Slovarř russkogo jazyka, s. Anm. 3, siehe vor allem „predmet 5Ŗ; vgl. auch Eremin 1991, S. 95). Gleichwohl ist in der Verwendung des Ausdrucks durch den nicht stilsicheren Jakov die nicht intendierte, unbewusste, aber eigentliche Bedeutung „GegenstandŖ durchaus präsent.

Fedor Sologub (1863Ŕ1927)

S. 385

Text „Ņalo smertiŖ (Der Stachel des Todes) nach: Fedor Sologub, Sobranie soĉinenij. Hg. B. Lauer u. U. Steltner. 3 Bde. München 1990Ŕ2004. Bd. 1, S. 148Ŕ168. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Der Stachel des Todes. Übers. v. A. Eliasberg. Zürich 1960.

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Literatur und Anmerkungen

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Gedichte unterscheiden sich fast gar nicht von einander.Ŗ Ĉukovskij 1964, Bd. 4, S. 347: „Konservierte vergangene InspirationenŖ. Zit. nach: Pavlova 1990, S. 362. Zit. nach: Meskin 2000, S. 13: „Твоя свирель над тихим миром пела, / И голос смерти тайно вторил ей, / А я, безвольная томилась и пьянела / От сладостной жестокости твоей.Ŗ F. K. Sologub, Authorřs Introduction to the English Edition. In: Ders., The Little Demon. London 1916, S. XVI. Das russische Original dieses Vorworts ist veröffentlicht bei Schmid 1995, S. 172 f. Ders., Die Teufelsschaukel. Gedichte Russisch Ŕ Deutsch. Übers. v. C. Ferber. Zürich 2002, S. 82. Ebd., S. 83. Vgl. hierzu auch den Anfang des Romans „Melkij besŖ: „Nach dem Sonntagsgottesdienst begab sich die Gemeinde auf den Heimweg. […] Alle waren sonntäglich gekleidet, sahen einander vergnügt an, und es hatte den Anschein, als lebten sie in dieser Stadt friedlich und einträchtig. Und sogar fröhlich. Aber das war nur der Schein.Ŗ F. K. SOLOGUB, Melkij bes. Moskau 1933, S. 37. F. K. Sologub, Stichotvorenija. Hg. M. I. Dikman. Leningrad 1978, S. 185. Ebd., S. 595. F. K. Sologub, Tjaņelye sny. Roman. Rasskazy. Leningrad 1990, S. 62. Ders., Tvorimaja legenda. 2 Bde. Moskau 1991. Bd. 1, S. 156. Schopenhauer 1986, Bd. 2, S. 649 f. Schmid 1995, S. 145Ŕ148. Sologub, s. Anm. 13, S. 269, 291. Ders., s. Anm. 15, Bd. 1, S. 65. Ders., Totenzauber. Eine Legende im Werden. 2 Bde. München 1913, Bd. 1, S. 58. Schmid 1995, S. 163. Sologub, s. Anm. 10, S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Zit. nach: Schmid 1995, S. 75. F. K. Sologub Meĉta-pobeditelřnica. In: Biblioteka teatra i iskusstva 5. 1912, S. 7. Ivanov-Razumnik 1910, S. 33. Sologub, s. Anm. 10, S. 36. Vgl. auch Ders., s. Anm. 13, S. 108, 116, 166, 201, 217, 276, 331. Ebd., S. 37. Ebd., S. 64: „Lila, lila, lila, kaĉala, / Dva telřno-alye stekla. / Belej lilej, alee lala / Bela byla ty i ala.Ŗ Ebd., S. 65. Vgl. auch Sologub, s. Anm. 13, S. 248. F. K. Sologub, Zakljatie sten. Skazoĉki i statři. In: Sobranie soĉinenij. 12 Bde. Petersburg 1909Ŕ1912, Bd. 10, S. 98. Schmid 1995, S. 233. M. M. PAVLOVA, Predodolevajuńĉij zolaizm, ili Russkoe otraņenie francuzskogo naturalisma. In: Russkaja literatura. 2002. 1, S. 215. Sologub, s. Anm. 16, Bd. 1, S. 7. A. A. IZMAJLOV, Pomraĉenie boņkov i novye kumiry. Moskau 1910, S. 169. Ivanov 1904, S. 48.

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Literatur und Anmerkungen

Leonid Andreev (1871Ŕ1919)

S. 394

Text „Krasnyj smechŖ (Das rote Lachen) nach: L. Andreev, Sobranie soĉinenij. Hg. I. G. Andreeva u. a. 6 Bde. Moskau 1990. Bd. 2, S. 22Ŕ73. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Das rote Lachen. Fragmente einer aufgefundenen Handschrift. Übers. v. A. Scholz. Berlin o. J. [1905]. Literatur V. LřVOV-ROGACEVSKIJ, Prizraki i „Krasnyj smechŖ. In: Obrazovanie. 1905. 3, S. 122Ŕ132. M. A. REJSNER, L. Andreev i ego socialřnaja ideologija. Opyt sociologiĉeskoj kritiki. Petersburg 1909. K. I. ARABAŅIN, Uņasy vojny, In: Ders., Leonid Andreev. Itogi tvorĉestva. Literaturno-kritiĉeskij ėtjud. Petersburg 1910, S. 52Ŕ59. A. KAUN, [ŖThe Red Laughŗ]. In: Ders., Leonid Andreev. A critical study [1924]. Freeport, New York 1969, S. 215Ŕ218. V. LřVOVROGAĈEVSKIJ, [„Krasnyj smechŖ]. In: Ders., Dve pravdy. Kniga o Leonide Andreeve. S illjustracijami. Petersburg 1914, S. 66Ŕ68. O. BURGHARDT, Die Leitmotive bei Leonid Andrejev. Leipzig 1941. L. N. AFONIN, [„Krasnyj smechŖ]. In: Ders., Leonid Andreev. Orel 1959, S. 138Ŕ145. L. A. IEZUITOVA, Leonid Andreev i Vsevolod Garńin [1964]. In: Dies., Leonid Andreev i literatura serebrjanogo veka. Izbrannye trudy. Petersburg 2010, S. 220Ŕ235. J. B. WOODWARD, Devices of Emphasis and Amplification in the Style of Leonid Andreev. In: Slavic and East European Journal 9. 1965, S. 247Ŕ256. A. AĈATOVA, Znaĉenie obraza-simvola v rannich rasskazach Leonida Andreeva. In: Uĉenye zapiski Tomskogo gosudarstvennogo universiteta imeni V. V. Kubyńeva. 1966. 6, S. 202Ŕ216. L. KARANCSY, Träume und Visionen in den Erzählungen von Leonid Andreev. In: Slavica 7. 1967, S. 81Ŕ115. B. BUGROV, Rannie rasskazy Leonida Andreeva. In: Gdanskie zeszyty humanistyczne. Filologia rosyjska 11. 1968. 2, S. 25Ŕ72. J. B. WOODWARD, The ŖApostateŗ at War [ŖThe Red Laughŗ]. In: Ders., Leonid Andreyev. A Study. Oxford 1969, S. 98Ŕ107. J. B. WOODWARD, Structure and Characterisation in the Stories of Leonid Andreev. In: Scando-Slavica 15. 1969, S. 13Ŕ20. W. ZIEL, Zur Form-Inhalt-Problematik im Erzählschaffen Leonid N. Andreevs. Diss. Berlin 1974. L. A. IEZUITOVA, „Krasnyj smechŖ, ego literaturnoe okruņenie, kritika, analiz. In: Dies., Tvorĉestvo Leonida Andreeva (1892Ŕ1906). Leningrad 1976, S. 151Ŕ186. M. CAPELLMANN, Die Erzähltechnik in „Krasnyj smechŖ von Leonid Andreev. In: Ost und West. Aufsätze zur Slavischen und Baltischen Philologie und allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. A. Rammelmeyer u. G. Giesemann. 2 Bde. Wiesbaden 1966Ŕ1977. Bd. 2, S. 263Ŕ285. A. MARTINI, [„Das rote LachenŖ]. In: Dies., Erzähltechniken Leonid Nikolaeviĉ Andreevs. München 1978, S. 148Ŕ152, 266Ŕ270. V. BEZZUBOV, Smech Leonida Andreeva. In: Tvorĉestvo Leonida Andreeva. Issledovanija i materialy. Hg. G. B. Kurljanskaja. Kursk 1983, S. 13Ŕ24. V. BEZZUBOV, [„Krasnyj smechŖ]. In: Ders., Leonid Andreev i tradicii russkogo realizma. Tallin 1984, S. 40Ŕ44. S. HUTCHINGS, Mythic Consciousness, Cultural Shifts, and the Prose of Leonid Andreev. In: The Modern Language Review 85. 1990. 1, S. 107Ŕ123. S. HUTCHINGS, [ŖRed Laughŗ]. In: Ders., A Semiotic Analysis of the Short Stories of Leonid Andreev 1900Ŕ1909. London 1990, S. 138Ŕ145. I. I. MOSKOVKINA, [„Krasnyj smechŖ]. In: Dies., Proza Leonida Andreeva. Ņanrovaja sistema, poėtika, chudoņestvennyj metod. Charřkov 1994, S. 73Ŕ76. A. MODOR, Simvolika i idejnaja genealogija „Krasnogo smechaŖ Leonida Andreeva. In: Studia Russica. 1997, S. 273Ŕ292. J. TROMBITÁS, Narrativnaja funkcija cvetovoj simvoliki v povesti Leonida Andreeva „Krasnyj smechŖ i problema ėkspressionizma. In: Studia Russica. 2004, S. 123Ŕ132. A. MAIER-GEIGER, Die rote Farbe und das Böse in Garńins „Krasnyj cvetokŖ und Andreevs „Krasnyj smechŖ. In: Das Böse in der russischen Kultur. Hg. B. Zelinsky. Köln 2008, S. 279Ŕ295. S. ROLET, „Le rire rougeŖ de Léonide Andréïev. Pourquoi dire „la démance et lřhorreurŖ de la guerre, et comment. In: Ders.: Léonide Andréïev. Lřangoisse à lřœuvre. Dix-huit études. Lyon 2010, S. 137Ŕ150. N.

Leonid Andreev: Krasnyj smech

731

Skorochod, [Russko-japonskaja vojna: „Krasnyj smechŖ kak predĉuvstvie katastrofy]. In: Dies., Leonid Andreev. Moskau 2013, S. 158Ŕ163. Anmerkungen 1 I. Zilřberńtejn (Hg.), Gorřkij i Leonid Andreev. Neizdannaja perepiska. In: Literaturnoe nasledstvo 72. Moskau 1965, S. 218. 2 A. Schopenhauer, Werke. Hg. A. Hübscher. 10 Bde. Zürich 1977. Bd. 1, S. 95. 3 Zilřberńtejn, s. Anm. 1, S. 218. 4 Vgl. H. Alisch, Der Russisch-Japanische Krieg 1904/1905. Ursachen, Verlauf und Konsequenzen für die globale Ordnung. Trierer Asien Papiere Nr. 1, August 2010, S. 17. 5 Siehe dazu F. Grüner, Der russisch-japanische Krieg in der zeitgenössischen Presse Rußlands. In: Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit? Hg. M. H. Sprotte u. a. Wiesbaden 2007, S. 173Ŕ202. 6 So sollte der ursprüngliche Titel der Erzählung „Krasnyj smechŖ lauten („VojnaŖ). 7 Zit. nach: Andreev, s. Text, S. 511. 8 Andreev hatte zuvor Befürchtungen gehabt, dass die Zensur seine Erzählung verstümmeln oder sogar überhaupt nicht zum Druck freigeben würde. Doch Gorřkij wandte einen Trick an, der ein bezeichnendes Licht auf die Zustände in der damaligen russischen Zensurbehörde wirft. Er schrieb an Andreev am 23. Dezember 1904: „Der Sammelband ist heute an die Zensurbehörde gegangen, ich habe ihn absichtlich bis zum letzten Tag zurückgehalten, weil die Zensoren an den Feiertagen, so hoffe ich, betrunken sein werden, und im betrunkenen Zustand ist der Mensch großmütiger. So was nennt sich wohlkalkulierte Berechnung.Ŗ Zilřberńtejn, s. Anm. 1, S. 253. 9 Vgl. ebd., S. 243. Andreev antwortete ihm direkt: „Mein lieber Aleksejuńki! […] Überarbeiten, das hieße die Erzählung zu zerstören, ihre grundlegende Idee. Ein vernünftiger Krieg, das ist ein Gut der Vergangenheit; ein Krieg von Wahnsinnigen mit Wahnsinnigen, das ist ein Gut zum Teil der Gegenwart, zum Teil der nahen Zukunft. Mein Thema ist: Wahnsinn und Schrecken (bezumie i uņas)Ŗ. Ebd., S. 244. 10 L. N. Tolstoj, OdumajtesŘ! Gekürzt in: Times vom 27. Juni 1904. Vollständig in: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Ĉertkov u. a. 90 Bde. Moskau 1928Ŕ1958. Bd. 36, S. 100Ŕ148. In Russland erschien der Artikel erst 1906 (ebd., S. 616). 11 Zit. nach: Andreev, s. Text, S. 515. 12 Ebd., S. 511. Auch nach der Veröffentlichung gesteht Andreev in verschiedenen Briefen immer wieder eine gewisse künstlerische Schwäche seiner Erzählung ein und meint, er sei sich der ‚handwerklichen MängelŘ durchaus bewusst. Aber er fürchtet, dass eine Überarbeitung die mitreißende Vehemenz seiner Aussage verwässern würde. Siehe zum Beispiel seinen Brief an O. I. Dymov, Ende Januar 1905. Zit. nach: Iezuitova 1976, S. 164 f. 13 Sofort im ersten Satz wird das eventuelle Bemühen eines Lesers, Konkreta auszumachen, mit dem literarischen Topos der „Stadt N.Ŗ konterkariert. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass der zeitgenössische Leser diese Erzählung natürlich als unmittelbaren Kommentar des Autors zum Russisch-Japanischen Krieg gelesen haben wird. Deshalb können in einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive ganz andere Fragen an den Text herangetragen werden, die hier kaum berücksichtigt werden. 14 S. ROLET, Itération et durée dans les récits de Leonid Andreev. In: Revue des études slaves 80. 2009, S. 138. 15 Siehe hierzu besonders Capellman 1977, S. 165 f. 16 Vgl. hierzu Iezuitova 1964 und Maier-Geiger 2008. 17 So besonders im zweiten, fünften, sechsten, neunten, vierzehnten und im letzten Fragment. 18 Vgl. dazu H.-J. Gerigk, Tolstojs Philosophie der Institutionen. In: Ders., Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA. Hürtgenwald 1995, S. 240Ŕ259.

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Literatur und Anmerkungen

19 Kursiv v. Vf. 20 Die „SeinsvergessenheitŖ der Soldaten im Augenblick des Kampfes wird noch an weiteren Stellen betont. Der verwundete Kamerad im Lazarett berichtet dem Ich-Erzähler von einem furchtbaren Gemetzel, bei dem die Soldaten aus ihren Gräben heraus unter schwerem Beschuss auf die feindlichen Stellungen durch Stacheldrahtverhaue hindurch laufen und dabei ein Tanzlied singen (29). Den Eindruck von Tanzenden erwecken dann allerdings nur die Leichen und Sterbenden, die sich in den riesigen Stacheldrahthindernissen verfangen hatten und hin- und hergeschwenkt wurden, eine schreckliche Variante des Motivs vom „TotentanzŖ, der mittelalterlichen Vorstellung, dass der Tod die Menschen im Augenblick ihres Sterbens zum Tanzen zwingt. So heißt es über den verletzten Kameraden: „Er erinnerte sich genau: Als ihm die Kugel die Brust durchschlug, und er hinfiel, machte er noch eine Zeitlang, bis er das Bewusstsein verlor, einige ungelenke Schritte, so als ob er auf jemanden zutanzen würdeŖ (29). Siehe dazu auch D. I. Ochotnikov, „Pljaski smertiŖ v russkom simvolizme (Blok, Balřmont, Brjusov). In: Brjusovskie ĉtenija 2002 goda. Sbornik statej. Hg. S. T. Zoljan. Erevan 2004, S. 281Ŕ288. 21 Einen Überblick über die verschiedenen Standpunkte in dieser Diskussion geben Martini 1978, S. 9Ŕ25, und Hutchings 1990, S. 3Ŕ10. 22 Mit der ersten Position sollte Andreevs Werk vor allem als dekadent und im Gegensatz zum Schaffen Gorřkijs als nicht mehr zeitgemäß eingestuft werden. Vgl. zum Beispiel E. Mirova-Florin, Realismus und Modernismus in der russischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Maksim Gorřkij und Leonid Andreev. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 13. 1968, S. 487Ŕ495. Mit der zweiten Interpretationslinie konnte das Schaffen des politisch verdächtigen Autors zumindest ansatzweise rehabilitiert werden, vgl. L. A. Iezuitova 1976 und V. Bezzubov, Leonid Andreev i tradicii russkogo realizma. Tallin 1984. 23 Woodward 1965, S. 253. Neben den in der Literaturliste enthaltenen Forschungsarbeiten siehe diesbezüglich auch Woodward 1969. 24 Auf diese für das Gesamtschaffen Andreevs bedeutende Technik hat zuvor schon Burghardt 1941 aufmerksam gemacht. 25 Vgl. Capellmann 1977, S. 277. Capellmann konstatiert zahlreiche Wiederholungen unterschiedlicher Art, die hier nicht alle berücksichtigt werden können: „Lautwiederholungen, Wortwiederholungen, Wiederholungen von Wortfolgen, Wiederholungen syntaktischer Konstruktionen, Kombinationen von wiederholten WörternŖ. Ebd., S. 273. 26 Deshalb spricht Karancsy davon, die Erzählung bekomme in ihrer „Gesamtwirkung einen irrealen und mystischen Anschein auch im Falle, wenn alles durch verschiedene strukturelle Lösungen letzten Endes begründet istŖ. Karancsy 1967, S. 109. 27 So lautet der Titel eines Gemäldes des Kriegsmalers Thomas C. Lea. Er fertigte es 1944 nach einer blutigen Schlacht im Pazifik an. Auf dem Bild sieht man das frontale Porträt eines Soldaten nach der Schlacht, dessen desillusionierter und starrer Blick mit den ‚weit geöffneten Pupillen, die das ganze Auge auszufüllen schienenŘ, den Betrachter zu durchdringen scheint. Siehe dazu eine Reproduktion des Gemäldes unter http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tom_Lea_-_2000_Yard_Stare.jpg (letzter Zugriff 20. 09. 2013). Erst im Nachhinein hat man diesen Blick auf Fotografien auch bei Soldaten erkannt, die aus schweren Gefechten im Grabenkampf des Ersten Weltkriegs kamen. 28 Zum „Motiv der MaskeradeŖ in „Krasnyj smechŖ und zu möglichen Gemeinsamkeiten mit E. A. Poes Erzählung ŖThe Masque of the Red Deathŗ vgl. Maier-Geiger 2008, S. 284 und 293. Zum Einfluss Poes auf das Schaffen Andreevs insgesamt siehe J. D. Grossman, Edgar Allan Poe in Russia. A Study in Legend and Literary Influence. Würzburg 1973, S. 134Ŕ154. 29 Römer 8, 22 in der synodalen Übersetzung: „Ibo znaem, ĉto vsja tvarŘ sovokupno stenaet i muĉitsja donyneŖ (Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung gemeinsam mit uns stöhnt und bis heute leidet).

Leonid Andreev: Krasnyj smech

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30 Vgl. Iezuitova 1976, S. 181. Andreev hatte unter der Nr. 63 der „Schrecken des KriegesŖ, das eine ineinander verknäulte Schar menschlicher Leichen zeigt und ursprünglich betitelt ist mit „Muertos recogidosŖ (Leichenhaufen), eigenhändig die Übersetzung „Krasnyj smechŖ eingefügt. 31 Im Folgenden beziehe ich mich neben der unter Anm. 2 schon angeführten Stelle besonders auf die im 2. Band von „Die Welt als Wille und VorstellungŖ dargelegte „Theorie des LächerlichenŖ. Vgl. Schopenhauer, s. Anm. 2, S. 109Ŕ122. 32 Dass Andreev nicht an der korrekten historischen Entsprechung interessiert war, beweist das Detail der Uniformfarben: Weder Russen noch Japaner hatten in diesem Krieg größere Truppenteile mit den viel zu auffälligen Uniformfarben Rot oder Orange unter Waffen. Vgl. The Russo-Japanese War 1904Ŕ05. Hg. Ph. S. Jowett u. A. Ivanov. Oxford 2004. 33 Vgl. Schopenhauer, s. Anm. 2, S. 97: „Demnach ist jedes Lächerliche entweder ein witziger Einfall, oder eine närrische Handlung, je nachdem von der Diskrepanz der Objekte auf die Identität des Begriffs, oder aber umgekehrt gegangen wurde […]. Diesen Ausgangspunkt nun aber scheinbar umzukehren und Witz als Narrheit zu maskieren, ist die Kunst des Hofnarren und des Hanswurst: ein solcher, der Diversität der Objekte sich wohl bewusst, vereinigt dieselben, mit heimlichem Witz, unter einem Begriff, von welchem sodann ausgehend er von der nachher gefundenen Diversität der Objekte diejenige Überraschung erhält, welche er selbst sich vorbereitet hatte.Ŗ Die Zeichnung des Doktors als wissender Narr ist in der Lazarettszene sehr genau ausgeführt. Es wird mehrfach auf sein Lächeln unter dem Schnurrbart und auf seine listigen Augen hingewiesen und schließlich: „Er schlug seine Arme um die spitzen, alterssteifen Knie und kicherte. Er schielte mich über die Schulter hinweg an, wobei sich auf seinen mageren Lippen immer noch das seltsame und peinliche Lächeln zeigte, dabei zwinkerte er mir mehrmals listig zu, so, als ob nur wir beide alleine etwas sehr Lustiges wüssten, das sonst niemandem bekannt war. Dann hob er mit der Feierlichkeit eines Zauberkünstlers, der seine Kunststücke vorführte, seine Arme hoch, senkte sie langsam herab und mit zwei Fingern berührte er dann die Stelle auf der Bettdecke, wo meine Beine hätten sein müssen, wenn man sie nicht abgesägt hätte. ‚Und das verstehen Sie?Ř fragte er geheimnisvoll.Ŗ Ebd., S. 41 f. 34 Der Begriff des „MythosŖ wird hier durchaus in seiner ursprünglichen aristotelischen Bedeutung als ‚sinnkonfigurierende ErzählungŘ verwendet, auch wenn der sich ergebende ‚SinnŘ natürlich ein furchtbares Schreckensbild zeichnet. 35 Zitiert nach der jetzt wieder herausgegebenen englischen Version von „Kniga o Leonide AndreeveŖ (1922) in: F. H. White, Memoirs and Madness. Leonid Andreev through the Prism of the Literary Portrait. Montreal 2006, S. 72. White versucht unter anderem mit den Erinnerungen der Freunde und Dichterkollegen Andreevs seine These zu belegen, dass der russische Dichter geisteskrank und Zeit seines Lebens darum bemüht gewesen sei, durch sein Werk diese Krankheit zu vertuschen: „In the course of my research, I found that Andreev suffered from mental illness Ŕ a difficult point to make since Andreev himself spent a lot of energy trying to deflect attention from his periods of illness.Ŗ Ebd., S. 144. Die Entstehungsgeschichte von „Krasnyj smechŖ lasse demnach vermuten, dass die Erzählung in einer manischen Phase geschrieben worden sei, die direkten Einfluss auf das Werk genommen habe. Ebd. 220. Dieser These ist besonders in der russischen Forschung sehr heftig widersprochen worden, nachdem sie auch in einer russischen Übersetzung bekannt gemacht wurde. Vgl. F. Uajt, Leonid Andreev. Licedejstvo i obman. In: Novoe literaturnoe obozrenie 69. 2004, S. 130Ŕ143. L. Ė. Ajngorn u. a., Zabluņdenie ili obman. O tak nazyvaemom sumasńestvii Leonida Andreeva. In: Russkaja literatura. 2005. 4, S. 103Ŕ114. 36 Andreev, s. Text, S. 5. 37 Dagegen heißt es bei Jünger unter dem Stichwort „PazifismusŖ in einem seiner Essays: „Der Krieg ist ebensowenig eine menschliche Einrichtung wie der Geschlechtstrieb; er ist

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Literatur und Anmerkungen

ein Naturgesetz, deshalb werden wir uns niemals seinem Banne entwinden. Wir dürfen ihn nicht leugnen, sonst wird er uns verschlingen.Ŗ E. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin 1926, S. 36. 38 So die Interpretation Woodwards 1969, S. 104.

Ivan Bunin (1870Ŕ1953)

S. 410

Text „Gospodin iz San-FranciskoŖ (Der Herr aus San Francisco) nach I. A. Bunin, Sobranie soĉinenij. Hg. A. T. Tvardovskij u. a. 9 Bde. Moskau 1965Ŕ1967. Bd. 4, S. 308Ŕ328. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Der Herr aus San Francisco. Übers. v. K. Borowsky. Stuttgart 1975. Literatur A. DERMAN, Pobeda chudoņnika. In: Russkaja myslř 37, 5. 1916. Abt. 3, S. 23Ŕ27. N. GEDEONOVA, Rasskaz I. Bunina. Pojasnitelřnaja statřja. In: I. Bunin, Gospodin iz San-Francisko. Moskau 1930, S. 47Ŕ61. W. D. JACOBS, Buninřs ŖThe Gentleman from San Franciscoŗ. In: The Explicator 7. 1949, Sp. 42. R. POGGIOLI, The Art of Ivan Bunin [ŖThe Gentleman from San Franciscoŗ]. In: Harvard Slavic Studies 1. 1953, S. 257Ŕ258. E. WASIOLEK, A Classic Maimed. A Translation of Buninřs ŖThe Gentleman from San Franciscoŗ Examined. In: College English 20. Trinity College, Connecticut 1958, S. 25Ŕ28. S. L. GROSS, Nature, Man, and God in Buninřs ŖThe Gentleman from San Franciscoŗ. In: Modern Fiction Studies 6. 1960, S. 153Ŕ163. N. I. PRUCKOV, [„Gospodin iz San-FranciskoŖ]. In: Ders., Voprosy literaturno-kritiĉeskogo analiza. Moskau 1960, S. 140Ŕ143. A. A. KRAVĈENKO, K voprosu o realizme I. Bunina. Tvorĉeskaja istorija rasskaza „Gospodin iz San-FranciskoŖ. In: Doklady i soobńĉenija. Po materialam I i II nauĉnoj konferencii. Kazanskoe zonalřnoe Obřředinenie kafedr literatury gruppy pedagogiĉeskich institutov. Hg. M. I. Malřcev u. D. F. Luĉinskaja. Kazanř 1963, S. 267Ŕ295. A. A. AĈATOVA, Rabota I. Bunina nad rasskazom „Gospodin iz San-FranciskoŖ (Po materialam rukopisej). In: Uĉenye zapiski Tomskogo gosudarstvennogo universiteta imeni V. V. Kujbyńeva 48. 1964, S. 61Ŕ78. V. N. AFANASřEV, Ot „DerevniŖ k „Gospodinu iz San-FranciskoŖ. Proza I. A. Bunina 1910Ŕ1914. In: Russkaja literatura XX veka. Hg. I. G. Klabunovskij u. P. D. Kraevskij. Moskau 1964, S. 5Ŕ158. V. N. AFANASřEV, I. A. Bunin v rabote nad rasskazom „Gospodin iz San-Franciskoŗ. In: Izvestija Akademii Nauk SSSR. Serija literatury i jazyka 24. 1965, S. 7Ŕ17. A. A. KRAVĈENKO, Chudoņestvennoe svoeobrazie rasskaza I. Bunina „Gospodin iz San-FranciskoŖ (Po stranicam archivnych materialov). In: Uĉenye zapiski Ĉuvańskogo pedagogiĉeskogo instituta imeni I. Ja. Jakovleva 22. Ĉeboksary 1965, S. 66Ŕ105. V. N. AFANASřEV, „Gospodin iz San-FranciskoŖ. In: Ders., I. A. Bunin. Oĉerk tvorĉestva. Moskau 1966, S. 212Ŕ227. O. N. MICHAJLOV, „Gospodin iz SanFranciskoŖ. Bunin i L. N. Tolstoj. In: Ders., Ivan Alekseeviĉ Bunin. Oĉerk tvorĉestva. Moskau 1967, S. 127Ŕ139. B. KIRCHNER, [„Gospodin iz San-FranciskoŖ]. In: Ders., Die Lebensanschauung Ivan Aleksejeviĉ Bunins nach seinem Prosawerk. Diss. Tübingen 1968, S. 90Ŕ 97. O. V. SLIVICKAJA, Problema socialřnogo i „kosmiĉeskogoŖ zla v tvorĉestve I. A. Bunina. „BratřjaŖ i „Gospodin iz San-FranciskoŖ. In: Russkaja literatura XX veka. Dooktjabrskij period. Tulřskij gosudarstvennyj pedagogiĉeskij institut imeni L. N. Tolstogo. Hg. N. M. Kuĉerovskij. Kaluga 1968, S. 123Ŕ135. A. VOLKOV, Novyj Vavilon [„Gospodin iz San FranciskoŖ]. In: Ders., Proza Ivana Bunina. Moskau 1969, S. 258Ŕ279. S. KRYZYTSKI, Death [ŖThe Gentleman from San Fransiscoŗ]. In: Ders., The Works of Ivan Bunin. Den Haag 1971, S. 149Ŕ161. J. FARYNO, „Pan z san FranciscoŖ. In: Wstęp do semantycznej interpretacji tekstu literackiego. Warschau 1972, S. 193Ŕ208. N. M. KUĈEROVSKIJ, Rasskaz I. A. Bunina „Gospodin iz San-FranciskoŖ. In: Russkaja literatura XX veka. Dooktjabrskij period. Tulřskij gosudarstvennyj pedagogiĉeskij institut imeni L. N. Tolstogo. Hg. A. S. Karpov. Tula 1974, S.

Ivan Bunin: Gospodin iz San-Francisko

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Literatur und Anmerkungen

iz San FranciskoŖ. Text Ŕ Kontext Ŕ Interpretation (1915Ŕ2015). Hg. M. Böhmig u. P. Thiergen. Köln 2016, S. 11Ŕ39. Anmerkungen 1 T. Marĉenko, Russkie pisateli i Nobelevskaja premija (1901Ŕ1955). Köln 2007, S. 399. 2 Vgl. ebd., S. 310, 320, 328, 354, 370, 386 u. ö. Zur Rolle Thomas Manns vgl. Keys 2000. 3 Bunin, s. Text, Bd. 9, S. 529. 4 Vgl. ebd., S. 368 f. 5 Vgl. I. Bunin, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. I. I. Ņukov. 13 Bde. Moskau 2005Ŕ2006. Bd. 4, S. 463 f. 6 Ebd., Bd. 1, S. 254. Siehe dazu Hiob 18,17 ff. 7 Vgl. unter anderem G. Pauer, Das Amerikabild in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien 1987; R. V. Allen, Russia Looks at America. The View to 1917. Washington/DC 1988; O. P. Hasty, S. Fusso (Hg.), America Through Russian Eyes 1874Ŕ 1926. New Haven 1988. 8 Vgl. L. Bykovceva, Gorřkij v Italii. Moskau 1975, oder N. P. Komolova, Italija v russkoj kulřture Serebrjanogo veka. Moskau 2005, hier auch weitere Literatur. 9 Vgl. A. A. Chisamutdinov, Russkij San-Francisko. Moskau 2010. 10 Vgl. dazu M. Böhmig, „Poslednij denř PompeiŖ. Apokalipsis ot Brjullova i ego literaturnye otzvuki. In: Obrazy Italii v russkoj slovesnosti XVIII-XX vv. Hg. O. B. Lebedeva u. N. E. Mednis. Tomsk 2009, S. 294Ŕ324. 11 A. von Platen, Werke. Hg. K. Wölfel. 2 Bde. München 1982. Bd. 1, S. 534Ŕ537. Ŕ Zum Sprichwort siehe auch A. S. Januńkeviĉ, „Vedi Napoli e poi muoriŖ. K. Batjuńkov Ŕ E. Baratynskij Ŕ N. Gogolř. In: Obrazy Italii v russkoj slovesnosti XVIII-XX vv. Hg. O. B. Lebedeva u. N. E. Mednis. Tomsk 2009, S. 412Ŕ419. 12 Darunter Hippolyte Taine, Voyage en Italie (zuerst 1866). Vgl. Ders., Reise in Italien. Düsseldorf 1967. Taine hatte auch die Neapelregion besucht. 13 Zum Vergil-Grab vgl. Ch. Neumeister, Der Golf von Neapel in der Antike. Ein literarischer Reiseführer. München 2005, S. 214. 14 Bunin, s. Text, Bd. 1, S. 429 f. 15 Ebd., Bd. 7, S. 281 ff. und 392. 16 Zu Tiberius auf Capri vgl. Neumeister, s. Anm. 13, S. 123Ŕ134. Zu Friedrich Krupp siehe H. Kesel, Capri. Biographie einer Insel. 2. Aufl. München 1983, S. 264 ff. 17 I. A. Bunin, Pisřma 1885Ŕ1904 godov. Hg. O. N. Michajlov. Moskau 2003, S. 340. 18 Vgl. S. N. Morozov (Hg.), Letopisř ņizni i tvorĉestva I. A. Bunina. Moskau 2011. Bd. 1, S. 440. 19 Vgl. Arnold Böcklin. Ausstellungskatalog. Basel 2001, S. 11 und 358. Zu den trauernden Bewunderern Böcklins gehörte Hugo von Hofmannsthal. Ebd., S. 11. 20 Dass die epische Katabasis auch in der Moderne eine Rolle spielt, zeigt I. Platthaus, Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne. München 2004. Einen überraschenden Bezug zu Dostoevskij zeigt Ch. Schulz, Geschichtsschreibung der Seele. Goethe und das 6. Buch der „Bratřja KaramazovyŖ. München 2006. 21 V. N. Muromceva-Bunina, Ņiznř Bunina 1870Ŕ1906. Besedy s pamjatřju. Moskau 1989, S. 444. Siehe auch A. Baboreko, Bunin. Ņizneopisanie. Moskau 2004, S. 127 f., oder Morozov, s. Anm. 18, S. 800. 22 Muromceva-Bunina, s. Anm. 21. 23 Der Wortlaut dieser Stelle ist in neueren deutschen (nicht in russischen) Bibelübersetzungen umstritten. Russ.: „Smertř! gde tvoe ņalo? ad! gde tvoja pobeda?Ŗ. 24 Hans Holbein d. J., Totentanz. Wiesbaden 2003, S. 100 f. 25 Ebd., S. 102Ŕ105. 26 Vgl. R. Stöckli, Zeitlos tanzt der Tod. Das Fortleben, Fortschreiben, Fortzeichnen der To-

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tentanztradition im 20. Jahrhundert. Konstanz 1996. Zur Zeit davor: S. Warda, Memento mori. Bild und Text in Totentänzen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln 2011. Zu Brjusov vgl. P. Brang, Zur Todesmotivik in der russischen Moderne. In: Schweizerische Beiträge zum VIII. Internat. Slavistenkongress in Zagreb u. Ljubljana, September 1978. Hg. R. Zett. Bern 1978, S. 43 ff. Bunin, s. Text, Bd. 5, S. 313Ŕ337. Siehe auch Bunin, s. Anm. 5, Bd. 4, S. 7 ff. u. 447 ff. Ansonsten vgl. zu Bunins „ReisephilosophieŖ Richards 1974 oder Majmieskułow 1982. Eine erstmalige deutsche Übersetzung von „Vody mnogieŖ findet sich in: Iwan Bunin, Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder 1897Ŕ1924. Übers. v. D. Trottenberg. Frankfurt/M. 2011, S. 333Ŕ374. Vgl. W. Köster u. Th. Lischeid (Hg.), Titanic. Ein Medienmythos. Leipzig 1999, S. 3. Vgl. unter anderem R. D. Ballard, R. Archbold, Lost Liners. Von der Titanic zur Andrea Doria. München 1997. Vgl. unter anderem T. Heydenreich, Tadel und Lob der Seefahrt. Das Nachleben eines antiken Themas in den romanischen Literaturen. Heidelberg 1970; E. Hüttinger, Der Schiffbruch. Deutungen eines Bildmotivs im 19. Jahrhundert. In: Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts. Hg. L. Grote. München 1970, S. 211Ŕ244; Ch. Hönig, Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Der Topos. Texte und Interpretationen. Würzburg 2000; Schiffe in der Weltliteratur. Auswahl und Nachwort von M. Gsteiger. Zürich 2001. Vgl. dazu unter anderem G. Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft. München 1971, passim, oder K. Manger, Das „NarrenschiffŖ. Entstehung, Wirkung und Deutung. Darmstadt 1983. Ŕ Zur verfehlten ‚LiturgieŘ in „Gospodin iz San-FranciskoŖ vgl. Marullo 1998, passim. Olřga Forń veröffentlichte 1931 einen zeitkritischen Roman mit dem Titel „Sumasńedńij korablřŖ (Das verrückte Schiff), dessen 9 Kapitel mit „Erste WelleŖ, „Zweite WelleŖ usw. überschrieben sind. Die Narrenschiff-Tradition ist evident. Nikolaj Evreinov brachte 1924 das Theaterstück „Korablř pravednychŖ (Das Schiff der Gerechten) heraus. Siehe Bunin, s. Anm. 5, Bd. 7, S. 400 f. Siehe auch A. Meyer, Die Sonettdichtung Ivan Bunins. Wiesbaden 1990, S. 43 f. Vgl. dazu K. Fingerhuts Interpretation. In: Gedichte von Heinrich Heine. Interpretationen. Hg. B. Kortländer. Stuttgart 1995, S. 195Ŕ225. H. Heine, Sämtliche Werke. Hg. W. Vordtriede. 4 Bde. 6. Aufl. Darmstadt 1992, Zitate: Bd. 1, S. 168, 171 ff. und 176. Bunin hat ein Gedicht mit dem Titel „OkeanidyŖ (Die Okeaniden) geschrieben. Vgl. ebd., S. 162 ff. Vgl. etwa P. Vidal-Naquet, Atlantis. Geschichte eines Traums. Übers. v. A. Lallemand. München 2006. Vgl. ebd., S. 22 f. Vgl. ebd., S. 48 f. Ebd., S. 133 ff. Bunin, s. Text, Bd. 1, S. 333. Siehe ebd., S. 251 f. Zu einem Vergleich von Bunin und Hauptmann siehe den Beitrag von Quirin Pusch. In: Ivan A. Bunins „Gospodin iz San-FranciskoŖ. Text-Kontext-Interpretation (1915Ŕ2015). Hg. M. Böhmig u. P. Thiergen. Köln 2016, S. 213Ŕ237. Ansonsten Ch. Foucrier, Le mythe littéraire de lřAtlantide (1800Ŕ1939). Lřorigine et la fin. Grenoble 2004 (Bunin wird nicht behandelt; Kap. 7 zu Gerhart Hauptmann). Vgl. unter anderem O. Kutzmutz, Untergang der „TitanicŖ und Aufstieg von „AtlantisŖ. Technik in Gerhart Hauptmanns Amerika-Roman. In: Text + Kritik 142. April 1999, S. 88Ŕ96. Ŕ Zu Atlantis in Russland vgl. die (äußerst dubiose) Darstellung bei A. Asov, Atlantida i Drevnjaja Rusř. Moskau 2001. Wichtig hingegen G. Time, Roman G. Gauptmana „AtlantidaŖ v kontekste russko-nemeckogo duchovnogo dialoga naĉala XX veka. In:

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Literatur und Anmerkungen

Dies., Rossija i Germanija. Filosofskij diskurs v russkoj literature XIXŔXX vekov. Petersburg 2011, S. 301Ŕ341. Vgl. Morozov, s. Anm. 18, S. 349 ff., oder Bunin, s. Text, Bd. 9, S. 191. Vgl. Bunin, s. Text, Bd. 4, S. 487, oder Afanasřev 1965, S. 14. Je nach Textvariante zählt Bunin verschiedene „klangvolleŖ Hotel-Namen auf: „RoyalŖ, „SplendidŖ, „ExcelsiorŖ. In H. G. Wellsř Traum-Erzählung „A Dream of ArmageddonŖ (1901) erscheint ganz Capri als riesiges Hotel (enormous hotel), vor dem auf schwimmenden Plattformen „eine VergnügungsstadtŖ (a Pleasure City) errichtet ist, von der nicht weit entfernt „the Isle of the SirensŖ liegt. Die Geschichte endet mit „gigantischenŖ Kriegsbildern und einem geträumten Doppeltod bei Paestum. Vgl. H. G. Wells, Das Kristallei. Erzählungen. 2. Aufl. Leipzig 1987, S. 184Ŕ212. Eine Kurzerzählung von Luigi Pirandello (1867Ŕ1936) mit dem Titel „Nellřalbergo è morto un taleŖ weist einige frappante Parallelen zu Bunins Novelle auf. Auch hier lohnt ein Vergleich. Vgl. auch das „Grand HotelŖ in Vicky Baums Kolportageroman „Menschen im HotelŖ (1929). Vgl. P. M. BICILLI, Bunin i ego mesto v russkoj literature [1931]. In: Ders., Tragedija russkoj kulřtury. Issledovanija, statři, recenzii. Moskau 2000, S. 418 f. Vgl. hierzu P.-K. Schuster, Theodor Fontane. Effi Briest Ŕ Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978, S. 93Ŕ102, 106, 173 f. u. ö. Das „stolze AmerikaŖ (gordaja Amerika) fehlt in der von uns zitierten russischen Ausgabe. Die von K. Borowsky 1975 besorgte zweisprachige Reclam-Ausgabe bietet, entgegen ihrer Angabe in der Titelei, gerade nicht den Text der neunbändigen Ausgabe von 1965Ŕ 1967, was unter anderem an der Variante zum „stolzen AmerikaŖ ablesbar ist (vgl. Bunin, s. Text, S. 20 f.). Es ist äußerst misslich, dass die russischen Bunin-Ausgaben nahezu gänzlich auf Textkritik und Variantenvergleich verzichten. Eine philologisch angelegte, sogenannte Akademie-Ausgabe fehlt bis heute. Vgl. Schümann 2009, S. 386 f. Vgl. Bicilli, s. Anm. 47. U. Hahn, Das abgetrotzte Glück. In: Der Spiegel. 2001. 24, S. 202Ŕ205. Bicilli, s. Anm. 47. Vgl. auch Bunin, s. Text, Bd. 9, S. 530 f. Vgl. V. V. Krasnjanskij, Slovarř ėpitetov Ivana Bunina. Moskau 2008, Vorwort. Vgl. Bunins Gedicht „SlovoŖ (Das Wort) von 1915. Es ist aufgenommen in Ivan Bunin, Gedankenspiele. Gedichte Russisch-deutsch. Übers. v. Christine Fischer. Zürich 2003, S. 78 f. (siehe auch ebd., S. 131). Zu Bunins „WortkunstŖ vgl. auch V. Kataev, Trava zabvenija. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. L. I. Skorino. 9 Bde. Moskau 1969Ŕ1972, Bd. 9, S. 268 ff., 306 ff. u. ö. Vgl. ebd., S. 309 ff. Vgl. Bunin, s. Text, Bd. 9, S. 374 ff. Bunin, s. Anm. 5, Bd. 13, S. 165. Kataev, s. Anm. 55, S. 312. „Ja vesř vek pod strańnym znakom smerti, ja neskazanno bojusř eeŖ. Bunin, s. Anm. 5, Bd. 13, S. 164. Zur Arkadien-Ambivalenz vgl. P. Thiergen, Literarische Arkadienbilder im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Arkadien und Europa. Hg. B. Heinecke u. H. Blanke. Haldensleben 2007, S. 169Ŕ193. Vgl. Borowsky, s. Text, S. 54 f. G. Herling, Die Insel. Übers. v. M. Reifenberg. München 1994. Herling ist interpretiert in einem Beitrag von D. Schümann, Fertile Isolation and Barren Insularity. Capri and the Motif of the Island in Two Tales by Gustaw Herling-Grudziński. In: Capri. Mito e realtà nelle culture dell'Europa centrale e orientale. Hg. M. Böhmig. Salerno 2005, S. 25Ŕ38. „Ĉelo-vek! Ėto Ŕ velikolepno! Ėto zvuĉit... gordo! Ĉe-lo-vek! Nado uvaņatř ĉeloveka! Ne

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ņaletř Ŗ. M. Gorřkij, „Na dneŖ. In: Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. L. M. Leonov u. a. 25 Bde. Moskau 1968Ŕ1976, Bd. 7, S. 177. Zu Bunins Sicht der Zeit als „verlorene ZeitŖ (utraĉennoe vremja) vgl. Greĉnev 1979. Zum Indifferenzproblem vgl. P. Thiergen, Die „gleichgültige NaturŖ. Zu einem Topos in deutscher und russischer Literatur. In: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. Festschrift für Horst-Jürgen Gerigk. Hg. K. Manger. Heidelberg 1999, S. 315Ŕ334. Vgl. J. T. Baer, Arthur Schopenhauer und die russische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. München 1980, S. 89Ŕ107, oder Malřcev 1994, S. 231. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I. 3. Buch, § 51. Malřcev 1994, S. 229. Vgl. K. Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes „CommediaŖ. München 2007. Zur „pathophilen ÄsthetikŖ der Moderne vgl. unter anderem Th. Anz, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989, oder R. Bauer, Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons. Frankfurt/M. 2001. Vgl. Kataev, s. Anm. 55, S. 312.

Isaak Babelř (1894Ŕ1940)

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Text „KonarmijaŖ (Die Reiterarmee) nach: I. Babelř, Konarmija. Moskau 1926. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Die Reiterarmee. Übers. v. P. Urban. Berlin 1994. Literatur I. A. SMIRIN, Na puti k „KonarmiiŖ. Literaturnye iskanija Babelja. In: Literaturnoe nasledstvo 74. 1965, S. 467Ŕ482. V. TERRAS, Line and Color. The Structure of I. Babelřs Short Stories in ŖRed Cavalryŗ. In: Studies in Short Fiction 3, 2. 1966, S. 141Ŕ156. E. NAWROCKA, Obraz rewolucji w opowiadana Izaaka Babla z cyklu „Armia konnaŖ. Gdańsk 1967. J. STORASANDOR, [„Cavalerie RougeŖ]. In: Dies., Isaac Babelř. Lřhomme et lřœuvre. Paris 1968, S. 78Ŕ113. J. E. FALEN, ŖKonarmijaŗ. In: Ders., Isaac Babel. His Life and Art. Diss. University of Pennsylvania 1970, S. 220Ŕ340. A. LEE, Epiphany in Babelřs ŖRed Cavalryŗ. In: Russian Literature Triquarterly 2. 1972, S. 249Ŕ260. F. M. LEVIN, [„KonarmijaŖ]. In: Ders., I. Babelř. Oĉerk tvorĉestva. Moskau 1972, S. 84Ŕ161. P. CARDEN, ŖRed Cavalryŗ. In: Dies., The Art of Isaac Babel. Ithaca, New York 1972, S. 86Ŕ151. N. DAVIES, Isaak Babelřs ŖKonarmijaŗ Stories and the Polish-Soviet War, 1919Ŕ1920. In: Modern Language Review 67. 1972, S. 845Ŕ857. G. WILLIAMS, Two Leitmotivs in Babelřs ŖKonarmijaŗ. In: Die Welt der Slaven 17. 1972, S. 308Ŕ317. L. IRIBARNA, Babelřs ŖRed Cavalryŗ as a Baroque Novel. In: Contemporary Literature 14. 1973, S. 58Ŕ77. C. LUPLOW, Theme, Style and Vision in Isaak Babelřs ŖKonarmijaŗ. Diss. University of Michigan 1973. J. E. FALEN, ŖRed Cavalryŗ. An Introduction. In: Ders., Isaac Babel. Russian Master of the Short Story. Knoxville, Tennessee 1974, S. 115Ŕ131. J. E. FALEN, ŖRed Cavalryŗ. Cossack vs. Jew. In: Ders., Isaac Babel. Russian Master of the Short Story. Knoxville, Tennessee 1974, S. 132Ŕ195. J. E. FALEN, ŖRed Cavalryŗ. Christianity, Culture, and History. In: Ders., Isaac Babel: Russian Master of the Short Story. Knoxville, Tennessee 1974, S. 160Ŕ199. M. B. KLOTZ, Poetry of the Present. Isaac Babelřs ŖRed Cavalryŗ. In: The Slavic and East European Journal 18. 1974, S. 160Ŕ169. M. JOVANOVIĆ, „Konjiĉka armijaŖ (1926) Ŕ pokuńaj epopeje o graĊanskom ratu. In: Ders., Umĕtnost Isaka Babelja. Beograd 1975, S. 94Ŕ132. M. FALCHIKOV, Conflict and Contrast in Isaak Babelřs ŖKonarmijaŗ. In: Modern Language Review 72. 1977, S. 125Ŕ133. R. GRØNGAARD, An In-

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Literatur und Anmerkungen

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erschien davon unabhängig. Sie wurde nach dem russischen Original-Manuskript übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Peter Urban (I. Babel, Tagebuch 1920. Berlin 1990). Eine deutsche Ausgabe erschien beispielsweise 1926 in Berlin (dazu Jekutsch 2005), eine spanische 1927 in Madrid, zwei französische 1928 und 1930 in Paris und eine englische 1929 in London. Die Erzählung „ArgamakŖ. Der ersten sowjetischen Buchausgabe von 1926 folgen die 1979 in Israel wiederhergestellte Fassung (Hg. E. Zicher) und die von Babelřs Witwe A. N. Piroņkova besorgte zweibändige Moskauer Werkedition von 1990, die P. Urbans deutsche Übertragung von 1994 zur Grundlage hat. Die vierbändige Ausgabe des Vremja-Verlags von 2006 (Hg. I. N. Suchich) hat zwar dieselbe Anordnung der Erzählungen, folgt aber im Wortlaut der überarbeiteten Fassung von 1931. Siehe die Zusammenstellung in: Literaturnoe obozrenie. 1995. 2, S. 49Ŕ66. Zur Editionsgeschichte des Gesamtwerks vgl. Sicher, s. Anm. 3, S. 228Ŕ251. Hier auch bibliographische Angaben zu den Erstveröffentlichungen der Erzählungen der Ausgabe von 1926 (S. 233Ŕ235). Zum historischen Kontext: A. V. Prusin, Nationalizing a Borderland. War, Ethnicity, and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914Ŕ1920. Tuscaloosa 2005; V. L. Genis, Pervaja Konnaja armija. Za kulisami slavy. In: Voprosy istorii. 1994. 12, S. 64Ŕ77; N. S. Prisjaņnyj, Pervaja Konnaja armija na polřskom fronte v 1920 godu (Maloizvestnye stranicy istorii). Rostov am Don 1992; S. Brown, Communists and the Red Cavalry. The Political Education of the Konarmiia in the Russian Civil War, 1918Ŕ20. In: Slavonic and East European Review 73. 1995, S. 82Ŕ99; N. Davies, White Eagle, Red Star. The PolishSoviet War 1919Ŕ20. London 1972 (Neuausgabe 2003). P. Urban, Vorwort. In: Babel, s. Anm. 9, S. 9. E. I. Pogorelřskaja, Ĉto delal Isaak Babelř v Konarmii? Kommentarij k konarmejskomu dnevniku pisatelja 1920 goda. In: Voprosy literatury. 2014. 6, S. 218Ŕ227. So etwa Davies, White Eagle, Red Star. S. Levin, E. I. Pogorelřskaja, „Vo vremja kampanii ja napisal dnevnik…Ŗ Prostranstvenno-vremennye koordinaty v „KonarmiiŖ i konarmejskom dnevnike Isaaka Babelja. In: Voprosy literatury. 2013. 5, S. 166Ŕ202. M. S. Gorham, Writers at the Front. Language of State in the Civil War Narratives of Isaac Babel and Dmitrii Furmanov. In: Freidin 2009, S. 101. Auslöser für den Skandal um „KonarmijaŖ war ein Artikel, den angeblich Budennyj verfasst hatte. Darin wurde Babelř vorgeworfen, „uns von Natur aus ideologisch fremdŖ zu sein (Babizm Babelja iz Krasnoj novi. In: Oktjabrř. 1924. 3, S. 196). Babelř entgegnete, seine Kritiker verwechselten die „literarische FormŖ mit der „historischen WahrheitŖ (Pisřmo v redakcii. In: Oktjabrř. 1924. 4, S. 228). Zu den literaturpolitischen Hintergründen vgl. Ju. Parsamov, D. Felřdman, Grani skandala. Cikl novell I. Ė. Babelja „KonarmijaŖ v literaturno-politiĉeskom kontekste 1920-ch godov. In: Voprosy literatury. 2011. 6, S. 229Ŕ286. Siehe M. Gorřkij, Rabselřkoram i voenkoram o tom, kak ja uĉilsja pisatř. In: Pravda vom 30. September 1928, S. 3; S. Budennyj, Otkrytoe pisřmo M. Gorřkomu. In: Pravda vom 26. Oktober 1928, S. 4; M. Gorřkij, Otvet S. Budennomu. In: Pravda vom 27. November 1928, S. 5. Erstmals erbrachte E. I. Pogorelřskaja den Nachweis, dass Babelř ein Diensttagebuch führte. Vgl. Pogorelřskaja, s. Anm. 16, S. 222. Gorřkij, sein Förderer und Gönner, empfahl Babelř 1916, sein Talent zu schärfen, indem er sich Abenteuern in fremder Umgebung aussetze (I. Babelř, Avtobiografija. In: Ders., Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 1, S. 36).

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24 Möglicherweise sind persönliche Erfahrungen dieses Einsatzes, sicher aber Motive aus G. Vidals „Figures et anecdotes de la Grande GuerreŖ (1918) in vier Erzählungen unter dem Titel „Na pole ĉestiŖ (Auf dem Feld der Ehre) eingeflossen. Vgl. Babelř, Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 3, S. 87Ŕ100. 25 Vgl. die Erzählungen „Ivan-da-MarřjaŖ (Tag- und Nachtblume) und „Koncert v KaterinenńtadteŖ (Konzert in Katharinenstadt). Vgl. Babelř, Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 1, S. 244Ŕ258, 327Ŕ331. 26 Zwischen 1916 und 1918 sowie 1920 erschienen Erzählungen und Skizzen in den Petrograder Zeitschriften „LetopisŘŖ und „Ņurnal ņurnalovŖ, in der Tageszeitung „Novaja ņiznŘŖ und dem bolschewistischen Periodikum „LavaŖ (Odessa). 27 I. Babelř, „Linija i cvet. Istinnoe proisńestvieŖ (Linie und Farbe. Eine wahrhafte Begebenheit). In: Ders., Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 1, S. 264 (zuerst erschienen in: Krasnaja novř. 1923, Nr. 7, unter der Rubrik „MiniaturenŖ). Vermutlich sollte die Erzählung den Prolog zu einem nicht vollendeten Zyklus Petersburger Prosa der Revolutionszeit bilden. Das Gespräch des Erzählers mit Aleksandr F. Kerenskij, dem späteren Kriegsminister und Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung, wird in das Jahr 1916 datiert. 28 Ebd., S. 265. 29 Gelegentlich wird dies mit der formalistischen Methode der Kunstbetrachtung und der Entwicklung von analytischen Gegensatzpaaren bei Heinrich Wölfflin in Verbindung gebracht. Wölfflins „Kunstgeschichtliche GrundbegriffeŖ, darunter auch die des „LinearenŖ und des „MalerischenŖ, erschienen erstmals 1915 in München. Vgl. V. Terras, Line and Color. The Structure of I. Babelřs Short Stories in ŖRed Cavalryŗ [Nachdruck von 1996]. In: A Critical Companian. Hg. Ch. Rougle. Evanston, Illinois 1996, S. 132 f., Anm. 7. 30 I. Babelř, „ArgamakŖ. In: Ders., Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 2, S. 195 (zuerst erschienen in: Novyj mir. 1932. 3). Die dramatische Erzählung um das Pferd Argamak gehört zur erweiterten Sammlung von „KonarmijaŖ. Sie war in der Ausgabe von 1926 nicht enthalten, bildete aber ab der 7. Auflage den Schluss. 31 Mendelson 1982, S. 114 f. 32 Zu den Montage-Verfahren von Ėjzenńtejns Kino und Babelřs Erzählkunst vgl. Schreurs 1989, S. 1Ŕ35, 171Ŕ199. 33 Luplow 1982, S. 85Ŕ98. 34 Hohne 1986, S. VII. 35 Cz. Andruszko, Skaz v povesti i romane dvadcatych godov. L. Leonov, A. Neverov, I. Babelř. Poznan 1987, S. 85, 90. 36 Ein reich illustrierter Prachtband des Vereinigten Staatsverlags von 1938, für den A. Rodĉenko und V. Stepanova als Designer verantwortlich waren, formte das öffentlich erwünschte Gedenkbild der Roten Reiterei (Pervaja Konnaja. Hg. S. B. Rejzin. Moskau 1938). Zum phänomenalen Aufstieg und Kult um den späteren sowjetischen Marschall der Kavallerie sowie zu der Verwandlung des „ŘKavalleristenŘ Nummer EinsŖ in eine Ikone der Unbesiegbarkeit siehe die Biographie von B. V. Sokolov, Budennyj. Krasnyj Mjurat. Moskau 2007. Vgl. auch die erstmals zwischen 1959 und 1973 erschienenen Memoiren S. M. Budennyj, Pervaja konnaja armija. Moskau 2012. 37 I. Babelř, Bab-Ėlř, Odessa. In: Ņurnal ņurnalov. 1916. 51, S. 4Ŕ5, veröffentlicht in der Serie „Moi listkiŖ. Vgl. Babelř, Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 1, S. 43Ŕ48. 38 So J. D. Kornblatt, The Cossack Hero in Russian Literature. A Study in Cultural Mythology. Madison 1992, S. 108. 39 Am Beispiel der Don-Kosaken: N. V. Ryņkova, Donskoe kazaĉestvo v vojnach v naĉale XX veka. Moskau 2008; A. V. Lazarev, Donskie kazaki v graņdanskoj vojne 1917Ŕ1920 gg. Istoriografija i problemy. Moskau 1995. 40 S. V. Golubincev, Russkaja Vandeja. Oĉerki graņdanskoj vojny na Donu 1917Ŕ1920 gg. München 1959, S. 5.

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Literatur und Anmerkungen

41 Im Frühjahr 1918 hatte ein Unterhändler Krasnovs mit Trockij in Moskau über den Austausch „diplomatischer MissionenŖ zwischen Sowjetrussland und dem Don verhandelt. A. P. Padalkin, Poezdka v Moskvu k Leninu s pis'mom Donskogo Atamana P. N. Krasnova. In: Donskaja Letopis'. Bd. 3. Belgrad 1924, S. 261Ŕ267. 42 Vgl. T. Ńanin, V. Danilov (Hg.), Filipp Mironov. Tichij Don v 1917Ŕ1921 gg. Dokumenty i materialy. Moskau 1997. Mironov kritisierte Trockijs Strategie, nicht zuletzt seine antikosakische Politik. 1921 wurde er wegen angeblicher Anzettelung eines Aufstands erschossen. 43 Vgl. E. Sicher, The ʻJewish Cossackř. Isaak Babelř in the First Red Cavalry. In: Studies in Contemporary Jewry 4. 1988, S. 113Ŕ134. 44 F. Scholz, Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise. Stuttgart 1995, S. 73Ŕ80. 45 A. Kappeler, Die Kosaken. Geschichte und Legenden. München 2013, S. 7Ŕ10. 46 Falen 1970, S. 230. 47 Viktor Ńklovskij vergleicht das Verfahren, Schönheit und Grauen mit gleicher Stimme vorzutragen, mit Kennern, die etwas von Zärtlichkeit verstehen, diese aber in Schimpfworte kleiden. V. B. Ńklovskij, I. Babelř [Kritiĉeskij romans]. In: Lef 2. 1924. 6, S. 154. 48 I. Babelř, „Rycari civilizaciiŖ. In: Krasnyj kavalerist vom 14. August 1920. 49 V. Vinokur, The Trace of Judaism. Dostoevsky, Babel, Mandelstam, Levinas. Evanston, Illinois 2008, S. 11. 50 Zur modernen Erfahrung des „abwesenden GottesŖ vgl. Ch. Pareigis, Searching for the Absent God. Susan Taubesřs Negative Theology. In: Telos 150. 2010. 1, S. 97Ŕ114. 51 Iro 2001, S. 46 f. 52 M. Ńruba (Hg.), Literaturnye obřředinenija Moskvy i Peterburga 1890-1917 godov. Slovarř. Moskau 2004, S. 7. 53 P. Urban, Nachwort. In: Ders., s. Text, S. 306. 54 E. Dobrenko spricht von der „Logik des ZyklusŖ. Vgl. Belaja, Dobrenko, Esaulov 1993, S. 33. 55 Von einigen Forschern wird dieses Verfahren als Bekenntnis Babelřs zur Offenheit der Form ausgelegt. Demnach wäre die Reihung austauschbar und beliebig zu erweitern. Dies setzt voraus, dass Ljutov keine Entwicklung durchläuft und als derjenige aus Krieg, Pogromen und anderen existentiellen Erfahrungen hervorgeht, als der er hineingeraten war. 56 Die russische Ausgabe des Staatsverlags von 1926 wurde erstmals 1979 von E. Zicher in Israel wiederhergestellt. In Russland liegt sie erst wieder der zweibändigen Moskauer Werkausgabe von 1990 zugrunde. Babelř, s. Anm. 9. 57 Brief Babelřs an L. M. Kaganoviĉ vom 27. Juni 1932. In: Vlastř i chudoņestvennaja intelligencija. Dokumenty CK RKP(b) Ŕ VKP(b), VĈK Ŕ OGPU Ŕ NKVD o kulřturnom politike. 1917Ŕ1953 gg. Hg. A. Artizov u. O. Naumov. Moskau 1999, S. 180. Babelř erwähnt an dieser Stelle einen Roman über Petljura. 58 Babelř, Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 1, S. 35Ŕ331. Dt. Übers.: Babel, Sämtliche Erzählungen, s. Anm. 2, S. 9Ŕ193, 397Ŕ585. 59 Ebd., Bd. 3, S. 149Ŕ166. Dt. Übers.: Ebd., S. 633Ŕ652. 60 Vgl. G. Belaja, Sovetskij roman-ėpopeja. In: Socrealistiĉeskij kanon. Hg. H. Günther u. E. Dobrenko. Petersburg 2000, S. 857. Ferner V. M. Piskunov, Sovetskij roman-ėpopeja. Ņanr i ego ėvoljucija. Moskau 1976; R. Lauer, Die Roman-Epopöe Ŕ eine stalinistische Gattung? In: Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 1950er Jahre. Hg. G. Gorzka. Bremen 1994, S. 101Ŕ116. 61 Rede auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller vom 23. August 1934. Vgl. Babelř, Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 3, S. 39. 62 P. Urban vergleicht die Komposition mit einer Fuge (Nachwort. In: Ders., s. Text, S. 307 f.), B. Kaibach (Nachwort. In: Dies., Sämtliche Erzählungen, s. Anm. 2, S. 828) mit einem „tragischen WechselgesangŖ.

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63 Siehe Ljutovs Berichte für „Krasnyj kavaleristŖ aus dem Jahr 1920, insbesondere „Rycari civilizaciiŖ (Ritter der Zivilisation) und „Nedobitye ubijcyŖ (Nicht totgeschlagene Mörder). Hier werden Ŕ im Unterschied zu „KonarmijaŖ Ŕ ausschließlich polnische Soldaten, auf die ironisch die Bezeichnung „Ritter der europäischen KulturŖ gemünzt ist, für die Pogrome verantwortlich gemacht. Zur Beteiligung von Rotarmisten an der Gewalt gegen Juden siehe O. V. Budnickij, Rossijskie evrei meņdu krasnymi i belymi (1917Ŕ1920). Moskau 2005, S. 438Ŕ493. 64 Sicher 2009, S. 228. 65 So etwa I. Leņnev, Vakchanalija pereizdanij. In: Pravda vom 15. Dezember 1936, S. 3; V. Percov, Novaja disciplina. In: Znamja. 1936. 12, S. 238Ŕ241. Leņnev behauptete, Babelř schweige seit zehn Jahren. 66 Brief vom 11. Februar 1937 zit. nach: Isaac Babel. The Lonely Years, 1925Ŕ1939. Unpublished Stories and Private Correspondence. Hg. Nathalie Babel. New York 1964, S. 335. 67 Brief an I. L. und L. N. Livńic vom 10. Januar 1928. Vgl. I. Babel, Pisřma drugu. Iz archiva I. L. Livńica. Hg. E. I. Pogorelřskaja. Moskau 2007, S. 28. 68 Stanton spricht von „Geschichten, die lügen wie die WahrheitŖ. Vgl. R. J. Stanton, Isaac Babel and the Self-Invention of Odessan Modernism. Evanston 2012, S. 43. 69 Dazu Ph. Lejeune, Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994, S. 51. Vgl. V. Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29. 2003, S. 441Ŕ476. 70 Luplow 1982, S. 10. 71 K. Fedin schrieb im Juli 1924 an Gorřkij: „In Moskau sorgt in letzter Zeit Babelř für Aufsehen. Dieser Mensch hat lange Zeit in der Reiterei zugebracht und, nach der Rückkehr, einen ganzen Koffer Manuskripte ausgeschüttet und mit ihnen die Moskauer Redaktionen überflutet. Alle sind begeistert von ihmŖ. M. Gorřkij, Polnoe sobranie soĉinenij. Pisřma. Hg. F. F. Kuznecov u. a. Moskau 1997 ff. Bd. 15, S. 427, s. Anm. 7. 72 Vgl. Avins 1994, S. 694Ŕ710. 73 Offenbar suchte Babelř (oder wurde dazu gedrängt) nach einem alternativen, weniger skeptischen Schluss für die „ReiterarmeeŖ. In der Ausgabe von 1933 ersetzte die längere Erzählung „ArgamakŖ die Erzählung „Syn rabbiŖ am Ende des Zyklus. Sie schließt mit dem Satz: „Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Die Kosaken hörten auf, mich und mein Pferd mit Blicken zu verfolgenŖ. Babelř, Sobranie soĉinenij, s. Anm. 7, Bd. 2, S. 197.

Evgenij Zamjatin (1884Ŕ1937)

S. 454

Text „NavodnenieŖ (Überschwemmung) nach: E. Zamjatin, Soĉinenija. Hg. E. Ņigleviĉ u. B. Filippov. 4 Bde. München 1970Ŕ1988. Bd. 2, S. 113Ŕ140. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Hochwasser. Übers. v. R. Junghanns. In: E. Samjatin, Erzählungen 1917Ŕ1928. Leipzig 1991. Literatur N. ZAMOŃKIN, Navodnenie ĉuvstv. In: Ders., Literaturnye meņi. Moskau 1930, S. 140Ŕ151. A. M. SHANE, [„NavodnenieŖ]. In: Ders., The Life and Works of Evgenij Zamjatin. Berkeley 1968, S. 195Ŕ201. C. COLLINS, ŖThe Floodŗ. In: Ders., Evgenij Zamjatin. An Interpretive Study. The Hague 1973, S. 91Ŕ102. E. LAPP, E. I. Zamjatins Novelle „ÜberschwemmungŖ. In: Dies., Das Ereignis in russischen Novellen zwischen 1877 und 1932. Diss. Hamburg 1984, S. 86Ŕ107. L. SCHEFFLER, „Navodnenie/Die Überschwemmung (1929)Ŗ. In: Dies., Evgenij Zamjatin. Sein Weltbild und seine literarische Thematik. Köln 1984, S. 251Ŕ259. W. SCHMID, Mythisches Denken in „ornamentalerŖ Prosa. Am Beispiel von Zamjatins „Überschwem-

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Literatur und Anmerkungen

mungŖ. In: Mythos in der slawischen Moderne. Hg. W. Schmid. Wien 1987, S. 371Ŕ397. Russ. Übers.: Ornamentalřnyj tekst i mifologiĉeskoe myńlenie v rasskaze E. Zamjatina „NavodnenieŖ. In: E. I. Zamjatin. Pro et contra. Antologija. Hg. D. K. Bogatyrev. Petersburg 2014, S. 670Ŕ690. W. SCHMID, Sujet und Mythos in Evgenij Zamjatins „ÜberschwemmungŖ. In: Ders., Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1992, S. 155Ŕ 177. T. V. IVANOVA, Vremja i prostranstvo rasskaza E. I. Zamjatina „NavodnenieŖ. In: Tvorĉeskoe nasledie Evgenija Zamjatina. Vzgljad iz segodnja. Hg. L. V. Poljakova. 2 Bde. Tambov 1994. Bd. 1, S. 197Ŕ215. P. A. KOVALEV, Poėtika E. Zamjatina (na materiale povesti „NavodnenieŖ). In: Tvorĉeskoe nasledie Evgenija Zamjatina. Vzgljad iz segodnja. Hg. L. V. Poljakova. 2 Bde. Tambov 1994. Bd. 2, S. 193Ŕ194. P. A. Bezrukova, Motiv prestuplenija i nakazanija v rasskaze E. Zamjatina „NavodnenieŖ. In: Tvorĉeskoe nasledie Evgenija Zamjatina. Vzgljad iz segodnja. Hg. L. V. Poljakova. 2 Bde. Tambov 1994. Bd. 2, S.189Ŕ191. Z. HÉTENYI, Mifologemy v „NavodneniiŖ E. Zamjatina. In: Novoe o Zamjatine. Sbornik materialov. Hg. L. Geller. Moskau 1997, S. 9Ŕ19. M. A. REZUN, Poėtika bessoznatelřnogo v proze E. I. Zamjatina konca 1920-ch godov („ElaŖ, „NavodnenieŖ). In: Vestnik Tomskogo gosudarstvennogo pedagogiĉeskogo universiteta 6. 1999, S. 36Ŕ40. J. CURTIS, [„NavodnenieŖ]. In: Ders., The Englishman from Lebedianř Ŕ A Life of Evgeny Zamiatin (1884Ŕ1937). Boston, Massachusetts 2013, S. 177Ŕ178. J. DAY, Flood and Blood in Zamyatinřs Petersburg [ŖThe Floodŗ]. In: From Petersburg to Bloomington. Essays in Honor of Nina Perlina. Hg. J. Bartle u. a.. Bloomington, Indiana 2012, S. 197Ŕ215. M. A. CHATJAMOVA, Mif i individualřnoe soznanie v novellach E. Zamjatina „ElaŖ i „NavodnenieŖ. In: E. I. Zamjatin. Liĉnostř i tvorĉestvo pisatelja v ocenkach oteĉestvennych i zarubeņnych issledovatelej. Sbornik statej. Hg. O. V. Bogdanova. Petersburg 2015, S. 297Ŕ310. Anmerkungen: 1 E. Zamjatin, Avtobiografija. In: Ders., s. Text, Bd. 3, S. 14. 2 Delo Zamjatina. In: O sintetizme, matematike i proĉem… Roman „MyŖ E. I. Zamjatina. Hg. Th. Lahusen, E. Maksimova u. A. Andrews, Peterburg. 1994, S. 105. 3 Brief an L. Zamjatina vom 18. Juni 1928. In: Rukopisnoe nasledie Evgenija Ivanoviĉa Zamjatina. Podgotovka teksta L. Buĉina i M. Ljubimova. Predislovie i kommentarii M. Ljubimovoj. 2 Bde. Petersburg. 1997. Bd. 2, S. 338. Der nach der südrussischen Industrie- und Bergbaustadt Ńachty benannte Prozess rechnete mit vermeintlichen „SchädlingenŖ unter Ingenieuren und Technikern ab, unter ihnen auch deutsche Mitarbeiter der AEG. 4 Handschriftenabteilung des Instituts für Weltliteratur Moskau (IMLI), Fonds 47, op. 1, ed. chr. 96Ŕ99. Die im Bachmetřev-Archiv der Columbia University New York erhaltenen Notizbücher Zamjatins verzeichnen unter der undatierten Überschrift „Sujets für ErzählungenŖ als Nr. 11 den Titel „PodvalŖ (Der Keller) mit dem Zusatz „Sintflut-ThemaŖ. Ob es sich dabei um die Novelle „NavodnenieŖ handelt, ist unklar. 5 Nach Zamjatin sprach die Literaturkritikerin Avgusta Rańkovskaja. „Der Abend verlief still, sachlich, ohne hitzige Polemik, aber auch ohne Gleichgültigkeit.Ŗ I. Basalaev, Zapiski dlja sebja. In: Literaturnoe obozrenie 1989. 8, S. 105 f. Zamjatins Biographin Julie Curtis erwähnt lediglich eine von Grebenĉikov organisierte Lesung nach der Publikation im April 1929. Vgl. Curtis 2013, S. 178. 6 Brief an S. Obradoviĉ vom 15. Januar 1929. Handschriftenabteilung des Russischen Staatsarchivs für Literatur und Kunst (RGALI), Moskau, Fonds 1874, op. 1., ed. chr. 295. Obradoviĉ leitete einige Jahre den Literaturteil der „PravdaŖ und stand der dogmatischen Proletkulřt-Bewegung nahe. 7 Am 11. Februar war Stalins wichtigster innenpolitischer Widersacher, Leo Trockij, aus der UdSSR ausgewiesen worden, im April setzte der auf der 16. Parteikonferenz bestätigte erste Fünfjahresplan unter anderem die drei Jahre später in einer Hungerkatastrophe nie

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dagewesenen Ausmaßes endende Kollektivierung der Landwirtschaft in Gang. Im selben Monat wird Nikolaj Bucharin, Fürsprecher vieler Autoren, seiner redaktionellen Aufgaben in der „PravdaŖ-Redaktion enthoben, ehe er im November auch aus dem Politbüro entfernt wird. Zuvor war bereits der vergleichsweise gemäßigte Kultusminister Lunaĉarskij seines Postens enthoben worden, die Akademie der Wissenschaften gerät als zu „apolitischŖ unter ideologischen Beschuss. Nach der ersten Parteisäuberung von 1921 setzt eine zweite Ausschlusswelle ein, die unter anderem alle Kommunisten erfasst, die irgendwann einmal gegen einen von Stalin eingebrachten Vorschlag gestimmt hatten. Der Feldzug gegen die orthodoxe Kirche erreicht mit der Entfernung der Kirchenglocken von den verbliebenen Gotteshäusern auch symbolisch einen neuen Höhepunkt. Vgl. hierzu die materialgesättigte Untersuchung von A. Galuńkin, Delo Pilřnjaka i Zamjatina. Predvaritelřnye itogi rassledovanija. In: Geller (Hg.) 1997, S. 89Ŕ146. A. Bezymenskij, Zlye ėpigrammy. Spravka socialŘnoj evgenetiki. In: Literaturnaja gazeta (Leningrad) vom 2. 5. 1929; nachgedruckt in der zentralen Literaturnaja gazeta (Moskau) vom 8. 7. 1929, S. 2. Zuvor hatte sich schon Majakovskij bemüßigt gefühlt, den „Insulaner Sir ZamjatinŖ daran zu erinnern, dass „Russland zum Ruhme die Rusř schon zehn Jahre lang sowjetischŖ sei. V. Majakovskij, Rabotnikam stich i prozy, na leto eduńĉim v kolchozy. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. Z. S. Papernyj u. a. 13 Bde. Moskau 1955Ŕ1961. Bd. 9, S. 148. Auf Grund dieser Illustrationen empfahl Ilřja Gruzdev Gorřkij Anfang August 1930, Rudakov (1891Ŕ1949) als Illustrator zu engagieren. Vgl. Perepiska A. M. Gorřkogo s I. A. Gruzdevym. Moskau 1966, S. 243. Brief an Avrahm Yarmolinsky vom 11. Mai 1932. In: Dņ. Malřmstad, L. Flejńman, Iz biografii Zamjatina. Po novym materialam. In: Stanford Slavic Studies. 1987. 1, S. 139 f. Beinahe zur selben Zeit wie Zamjatin an „NavodnenieŖ arbeitet der mit ihm gut bekannte Dmitrij Ńostakoviĉ an einer Opernfassung von Leskovs Werk (Zamjatin war am Libretto seiner Gogolř-Oper „NosŖ (Die Nase) beteiligt, die 1930 vollendet und 1934 in Leningrad uraufgeführt wurde, als sich Zamjatin bereits außer Landes befand). Schmid 1987, S. 384. Zur Adoption, die von Sofřja vorgeschlagen wird: „Sie weiß nämlich: zu ihrer tellurisch-weiblichen Erfüllung führt nur die zeitweilige Zurücksetzung hinter Ganřka.Ŗ Ebd. Eine andere Vermutung äußert Ivanova 1994, S. 203, die den seltenen Namen als „sehr wahrscheinlichŖ von Agnija (Reinheit, Unbeflecktheit) oder Agnessa (Lämmchen) herleitet. Beide Deutungen stimmen immerhin in Bezug auf Güte und Unschuld überein. E. Zamjatin, Zakulisy, In: Ders., s. Text, Bd. 4, S. 306. Lapp 1984, S. 100. Vgl. Pro navodnenie 23 sentjabrja 1924 goda v Leningrade. Petersburg 2003. Zamjatin selbst stützte sich möglicherweise bei seinen Schilderungen des Hochwassers auf die 1926 in Leningrad erschienene Dokumentation „Navodnenie v Leningrade 23 sentjabrja 1924 godaŖ. Brief Zamjatins an L. Zamjatina vom 28. September 1924. In: Buĉina, Ljubimova, s. Anm. 3, Bd. 1, S. 272. Die Gagarin-Uferpromenade trägt heute den Namen des Feldherrn Kutuzov. E. Zamjatin, Moskva Ŕ Peterburg. In: Ders., s. Text, Bd. 4, S. 412. Auf diese Parallele haben als erste Shane 1968, S. 195 f. und Collins 1973, S. 91Ŕ94 hingewiesen, und noch Curtis 2013, S. 177, stellt fest: ŖThe text is shaped by the rhythm of the floods which afflict the city, a recognisably Dostoevskian St Petersburg.ŗ Scheffler 1984, S. 258, Anm. 79. In Ganřka finden sich darüber hinaus viele Elemente von Mädchenfiguren Dostoevskijs wieder, angefangen bei Netoĉka Nesvanova bis zur unglücklichen dreizehnjährigen Elena (Nelli) in „Uniņennye i oskorblennyeŖ (Erniedrigte und Beleidigte).

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Literatur und Anmerkungen

23 Auf diesen Zusammenhang hat als erste Lapp 1984, S. 97, aufmerksam gemacht. Wolf Schmid belegt seine überzeugende Beobachtung einer Verkomplizierung der Struktur, „wenn die ‚klanglichen LeitmotiveŘ thematische oder Ŕ wie Zamjatin sagt Ŕ ‚visuelle LeitmotiveŘ aufrufen und zu ihren Ikonen werdenŖ anhand zahlreicher Beispiele. Schmid 1992, S. 158. 24 In diesem Zusammenhang verdient Vladimir Toporovs Beobachtung Aufmerksamkeit, dass dieses und andere Petersburger Motive besonders Autoren beschäftigt, die aus der Tiefe des kontinentalen Russlands stammten: Zamjatin wurde bekanntlich in Lebedjan geboren und besuchte danach das Gymnasium in Tambov. Vgl. V. N. Toporov, Peterburg i peterburgskij tekst russkoj literatury. In: Semeiotiké. Trudy po znakovym sistemam 18. 1984, S. 19, Anm. 19. Ŕ Das Bild des emotionalen (und damit Schuld bedingenden) Überdie-Ufer-Tretens und Sich-Ergießens („perelitřsja ĉerez krajŖ) gehört ebenso zu den Leitmotiven von Zamjatins Inquisitionsdrama „Ogni sv. DominikaŖ (Die Feuer des heiligen Dominik, 1921) wie der psychischen Entwicklung des Ingenieurs D-503 in Zamjatins Roman „MyŖ (Wir, 1920) und kommt dort insgesamt sechsmal vor. In Verbindung mit der Metaphorik der Befleckung konstituiert es den komplexen Bildbereich der Schuld in dem Roman, vgl. R. Goldt, Thermodynamik als Textem. Der Entropiesatz als poetologische Chiffre bei E. I. Zamjatin. Mainz 1995., S. 340Ŕ384. 25 Vgl. die Erzählungen „UezdnoeŖ (Provinzleben, 1912) und „DetskajaŖ (Kinderzimmer, 1920). 26 Als Stavrogin in „BesyŖ (Die Dämonen) Tichon beichtet, wie er auf den Selbstmord des von ihm missbrauchten kleinen Mädchens wartete, erwähnt er gleichfalls eine Fliege, die sich auf sein Gesicht setzte, und kann sich diese in seinen Augen vollkommen überflüssige Erinnerung nicht erklären. 27 ŖMoucheŗ (Fliege) wurden bekanntlich die im galanten Zeitalter modischen Schönheitspflästerchen genannt, die oft auch Insekten nachahmten. Je nach ihrem Platz auf dem Gesicht signalisierten sie exakt festgelegte Botschaften; eine solche „FliegeŖ über den Lippen wie im Falle von Ganřkas Muttermal kennzeichnete die kokette Frau (la coquette). 28 G. Brovman, Reakcionnaja literatura i ee tvorĉeskij metod. In: Molodaja gvardija. 1931. 15/16, S. 115, 117. 29 N. Zamońkin, Liĉnoe i bezliĉnoe (Iz nabljudenij nad sovremennoj literaturoj). In: Ders.: Literaturnye meņi. Statři. Moskau 1930, S. 140 30 E. Zamjatin, Pisřmo Stalinu. In: Ders., s. Text, Bd. 4, S. 310.

Michail Zońĉenko (1894Ŕ1958)

S. 466

Text „AristokratkaŖ (Die Aristokratin) nach: M. Zońĉenko, Sobranie soĉinenij. Hg. Ju. V. Tomańevskij. 3 Bde. Moskau 1986Ŕ1987. Bd. 1, S. 170Ŕ173. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Die Aristokratin. Übers. v. Th. Reschke. In: M. Sostschenko, Eine schreckliche Nacht. Erzählungen und Kurzgeschichten. Berlin 1981. Literatur V. ŃKLOVSKIJ, O Zońĉenke i bolřńoj literature [„AristokratkaŖ]. In: Michail Zońĉenko. Statři i materialy. Hg. B. V. Kazanskij u. Ju. N. Tynjanov. Leningrad 1928, S. 22. V. V. VINOGRADOV, [„AristokratkaŖ]. In: Michail Zońĉenko. Statři i materialy. Hg. B. V. Kazanskij u. Ju. N. Tynjanov. Leningrad 1928, S. 76Ŕ78. I. TITUNIK, Mixail Zońĉenko and the Problem of Skaz. In: California Slavic Studies 6. 1971, S. 83Ŕ96. L. F. ERŃOV, [„AristokratkaŖ]. In: Ders., Iz istorii sovetskoj satiry. M. Zońĉenko i satiriĉeskaja proza 20Ŕ40-ch godov. Leningrad 1973, S. 39Ŕ42. A. STARKOV, [„AristokratkaŖ]. In: Ders., Jumor Zońĉenko. Moskau 1974, S. 33Ŕ41. D. MOLDAVSKIJ, [„AristokratkaŖ]. In: Ders., Michail Zońĉenko. Leningrad 1977, S. 112Ŕ120.

Michail Zońĉenko: Aristokratka

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Literatur und Anmerkungen

Ńklovskij 1928, S. 17. Ńklovskij spricht von einem „Nicht-Sehen der DingeŖ (nevidenie veńĉej). Ebd., S. 22. Wörtlich: „Bitte sehr, leben sie [nur]Ŗ (Poņalujsta, govorju, ņivite), wobei der Imperativ „ņiviteŖ einen geradezu göttlichen Allmachtsanspruch impliziert. In der Sowjetunion der 1920/30er Jahre spielte die Frage der Klassenzugehörigkeit bzw. der Klassenherkunft bei der Partnerwahl eine ähnlich große Rolle wie bei uns noch heute in streng religiösen Kreisen die Frage nach der Konfession des künftigen Ehepartners. R. Lauer, Geschichte der russischen Literatur. München 2000, S. 628. Hicks 2000, S. 105. Vinogradov spricht von der Erzeugung der „Illusion einer lebendigen ImprovisationŖ. V. V. Vinogradov, Das Problem des skaz in der Stilistik. In: Texte der russischen Formalisten. Hg. Ju. Striedter u. W.ŔD. Stempel. 2 Bde. München 1969Ŕ1972. Bd. 1, S. 171. Hicks 2000, S. 89. Vgl. Grau 1988, S. 31 f. Auch in „AristokratkaŖ steht am Beginn der Handlung ein „MeetingŖ der Hausbewohner. Vinogradov 1928, S. 61; Ĉudakova 1978, S. 57. Vgl. L. Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz. Hg. M. Irle u. V. Möntmann. Bern 1978. So etwa M. Slonim, Die Sowjetliteratur. Eine Einführung. Übers. v. H. Hanke. Stuttgart 1972, S. 106: „Die satirische Absicht ist ganz klar: der Verfasser wollte die negativen Seiten des Sowjetlebens geißeln, indem er sie im Zerrspiegel der Übertreibung und Absurdität zeigte. Er enthüllt die leere Routine und die Fäulnis des Alltags, seine Niedrigkeit und Einfallslosigkeit hinter der Fassade der großartigen Schlagworte.Ŗ Hicks 2000, S. 8. Auch der Beginn des wissenschaftlichen Interesses am skaz durch die mit der Avantgarde verbündete Formale Schule (Ėjchenbaum, Vinogradov, Ńklovskij) und durch Michail Bachtin erklärt sich aus dem gemeinsamen Bedürfnis nach einer Erneuerung der Literatur durch ihre Ausrichtung am gesprochenen Wort. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übers. v. A. Schramm. München 1972, S. 226. Vgl. Vinogradov 1928, S. 58 und 68 f. Vgl. Günther 1979, S. 338. Hicks 2000, S. 85 registriert beim Erzähler einen „lack of control over his languageŖ. Günther 1979, S. 339 spricht in Anlehnung an Basil Bernstein von einem „restringierten sprachlichen CodeŖ. Ĉudakova 1978, S. 66. Hicks 2000, S. 5 f. Ĉudakova 1978, S. 77. M. Zońĉenko, O sebe, o kritikach i o svoej rabote. In: Michail Zońĉenko. Statři i materialy. Hg. B. Kazanskij u. Ju. Tynjanov. Leningrad 1928, S. 11. Vgl. Ju. K. Ńĉeglov, Ėnciklopedija nekulřturnosti. In: Lico i maska Michaila Zońĉenko. Hg. Ju. V. Tomańevskij. Moskau 1994, S. 221. Vgl. Ĉudakova 1978, S. 88. Vgl. A. Guski, Zur Entwicklung der sowjetischen Arbeiter- und Bauernkorrespondentenbewegung. In: Kultur und Kulturrevolution in der Sowjetunion. Hg. E. Knöder-Bunte u. G. Erler. Berlin 1978, S. 94Ŕ104. M. S. Gorham, Tongue-Tied Writers. The Rabselřkor Movement and the Voice of the „New IntelligentsiaŖ in Early Soviet Russia. In: Russian Review 55. 1996, S. 412Ŕ429. Vgl. J. Brooks, Public and Private Values in the Soviet Press, 1921Ŕ1928. In: Slavic Review 48, 1. 1989, S. 16Ŕ35, hier S. 21. Vgl. Hicks 2000, S. 124.

Michail Bulgakov: Sobaĉře serdce

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31 Vgl. dazu A. Guski, Literatur und Arbeit. Produktionsskizze und Produktionsroman im Rußland des 1. Fünfjahrplans (1928Ŕ32). Wiesbaden 1995, S. 160 f. 32 Nicht standesgemäße Liebesbeziehungen waren ein beliebtes Motiv der russischen Empfindsamkeit, jener Epoche also, für die der Name Nikolaj Karamzin steht und auf die Zońĉenko auch mit seinen „Sentimentalen ErzählungenŖ (Sentimentalřnye povesti, 1927) anspielt. 33 Vgl. die Eingangssätze von Zońĉenkos „HimmelblaubuchŖ (Golubaja kniga, 1934/35): „Wir leben in einer wunderbaren Zeit, in der sich die Einstellung zum Geld verändert hat. Wir leben in dem Land, das den Triumphzug des Kapitals beendet hat. Wir leben in dem Staat, wo die Menschen Geld für ihre Arbeit und für nichts sonst bekommen.Ŗ Zońĉenko, s. Text, Bd. 3, S. 166. 34 Vgl. Zońĉenkos Plädoyer für eine Verknappung der Syntax: „Mein Satz ist kurz. Leicht [zugänglich] für die ArmenŖ (Fraza u menja korotka. Dostupna bednym). Zońĉenko, s. Anm. 25, S. 11. 35 Von ähnlicher Qualität sind die bei Vinogradov zitierten Lapsus proletarischer Sprecher in von ihm protokollierten Konversationssituationen, so etwa der Satz „Die Arbeiter verhielten sich dem Tunnel gegenüber kaltblütigŖ (Raboĉie otnosilisř k tunnelju chladnokrovno), wobei „kaltblütigŖ mit „gleichmütigŖ (ravnoduńno) verwechselt wird. Vinogradov 1928, S. 73 f. 36 Vgl. Günther 1979, S. 348. 37 Vgl. H. R. Jauß, Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Das Komische. Hg. W. Preisendanz u. R. Warning. München 1976, S. 103Ŕ132. 38 L. H. Scatton, Funny Stories (smeshnye rasskazy). In: Dies., Mikhail Zońĉenko. Evolution of a Writer. Cambridge 1993, S. 9. 39 Ņolkovskij 1999, S. 339. 40 Hicks 2000, S. 7. 41 Ähnlich K. A. Livers, Mikhail Zoshchenko. Engineering the Stalinist Body and Soul. In: Ders., Constructing the Stalinist Body. Fictional Representation of Corporeality in the Stalinist 1930s. Lanham, Maryland 2004, S. 97 f., 129. 42 Hicks 2000, S. 135.

Michail Bulgakov (1891Ŕ1940)

S. 475

Text: „Sobaĉře serdceŖ (Hundeherz) nach: M. Bulgakov, Sobranie soĉinenij. Hg. V. I. Losev. 8 Bde. Petersburg 2002. Bd. 3, S. 217−330. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. − Dt. Übers.: Hundeherz. Übers. v. Th. Reschke. In: M. Bulgakow, Die Treppe ins Paradies. Erzählungen, Feuilletons, Tagebücher, Briefe. Hg. R. Schröder. Berlin 1991. Literatur: E. KANAK, Michail Bulgakov, „Sobaĉře serdceŖ. In: Novyj ņurnal 91. 1969, S. 301Ŕ302. V. LEVIN, „Sobaĉře serdceŖ. In: Ders., Das Groteske in Michail Bulgakovs Prosa. Mit einem Exkurs zu A. Sinjavskij. München 1975, S. 32Ŕ56. S. D. GRAHAM, Bulgakovřs ŖSobachře serdtseŗ. A Polemical Povestř. In: Journal of Russian Studies 33. 1977, S. 27Ŕ31. N. V. GALICHENKO, ŖThe Heart of a Dogŗ. In: Ders., Humour, Satire and Fantastic Elements in Mixail Bulgakovřs Early Prose. Diss. Montreal 1976, S. 259Ŕ297. D. L. BURGIN, Bulgakovřs Early Tragedy of the Scientist-Creator. An Interpretation of the ŖHeart of the Dogŗ. In: Slavic and East European Journal 22. 1978, S. 494−508. P. DOYLE, Bulgakovřs Satirical View of Revolution in ŖRokovye iaitsaŗ and ŖSobachře serdtseŗ. In: Canadian Slavonic Papers 20. 1978, S. 467−482. H. GOSCILO, Point of View in Bulgakovřs ŖHeart of a Dogŗ. In: Russian Literature

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Literatur und Anmerkungen

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Michail Bulgakov: Sobaĉře serdce

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Literatur und Anmerkungen

17 Vgl. dazu bereits die sich gleichzeitig auf Bulgakov, Oleńa und Platonov beziehende Darstellung von E. Menřńikova, Grotesknoe soznanie. Javlenie sovetskoj kulřtury. Petersburg 2009, S. 65Ŕ111. 18 Zum Begriff der „poetischen LektüreŖ vgl. Wolf Schmid, Puńkins Prosa in poetischer Lektüre. Die Erzählungen Belkins. München 1991. 19 Vgl. dazu insbesondere das Kapitel über die „proletarische KulturŖ in L. D. Trockij, Literatura i revoljucija. Moskau 1923. 20 Zit. nach: M. Bulgakov, Die Treppe im Paradies. Erzählungen, Feuilletons, Tagebücher, Briefe. Berlin 1991, S. 569.

Vladimir Nabokov (1899Ŕ1977)

S. 486

Text „PilřgramŖ (Pilřgram) nach: V. V. Nabokov: Sobranie soĉinenij russkogo perioda. Hg. N. I. Artemenko-Tolstoj u. a. 5 Bde. Petersburg 1999Ŕ2003. Bd. 3, S. 531Ŕ544. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers. (nach der englischen Fassung): Pilřgram. Übers. v. D. E. Zimmer. In: V. Nabokov, Erzählungen 1921Ŕ1934. Hg. D. E. Zimmer. Reinbek 1989. Literatur V. F. CHODASEVIĈ, O Sirine [„PilřgramŖ, 1937]. In. Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. P. Andreeva. 4 Bde. Moskau 1996Ŕ1997. Bd. 2, S. 388Ŕ395. A. FIELD, The Artist as Failure in Nabokovřs Early Prose. In: Vladimir Nabokov. The Man and his Work. Hg. L. S. Dembo. Madison, Wisconsin 1967, S. 57Ŕ65. D. FOWLER, Nabokovřs Short Fiction. In: Ders., Reading Nabokov. Ithaca, New York 1974, S. 62Ŕ90. L. D. MAJHANOVICH, The Early Prose of Vladimir Nabokov-Sirin. A Commentary on Themes, Style, and Structure. Ann Arbor, Michigan 1977. J. GRAYSON, [ŖThe Aurelianŗ]. In: Dies., Nabokov Translated. A Comparison of Nabokovřs Russian and English Prose. Oxford 1977, S. 133Ŕ135. M. T. NAUMANN, [ŖPilřgramŗ]. In: Dies., Blue Evenings in Berlin. Nabokov's Short Stories of the 1920s. New York 1978, S. 202. R. Merill, Nabokov and Fictional Artifice. In: Modern Fiction Studies 25, 3. 1979, S. 439Ŕ462. M.ŔR. KECHT, Ausgewählte Kurzgeschichten. In: Dies., Das Groteske im Prosawerk von Vladimir Nabokov. Bonn 1983, S. 171Ŕ185. A. FIELD, [ŖThe Aurelianŗ]. In: Ders., The Life and Art of Vladimir Nabokov. New York 1986, S. 119, 157. B. BOYD, [ŖThe Aurelianŗ]. In: Ders., Vladimir Nabokov. The Russian Years. London 1990, S. 351Ŕ352. D. BETEJA [Bethea], Izgnanie kak uchod v kokon. Obraz baboĉki u Nabokova i Brodskogo. In: Russkaja literatura. 1991. 3, S. 167Ŕ175. S. ANTONOV, Assotsiativnye i obraznye vidy tekstovoi sviazi v proze V. Nabokova (Na materiale rasskaza „PilřgramŖ). In: Russkii tekst. Rossijsko-amerikanskij ņurnal po russkoj filologii. 1993. 1, S. 83Ŕ93. M. D. SHRAYER, Pilgrimage, Memory and Death in Vladimir Nabokov's Short Story ŖThe Aurelianŗ. In: Slavic and East European Journal 40. 1996, S. 700Ŕ725. M. D. SHRAYER, Mapping Narrative Space in Nabokov's Short Fiction [ŖPilřgramŗ]. In: The Slavonic and East European Review 75. 1997, S. 624Ŕ641. S. SENDEROVICH, E. SHVARTS, Aurelian i Eleonora, ili Gde Nabokov Lovil Svoich Baboĉek. In: Novyj ņurnal 123. 1998, S. 205Ŕ212. E. ARBATOVA, Prostye veńĉi v osobennom bleske. Analiz rasskaza V. Nabokova „PilřgramŖ. In: Literatura. Ņurnal dlja uĉitelej slovesnosti. 2003. 12, S. 2Ŕ3. G. HEIDEMANN, Das schreibende Ich in der Fremde. Ilřja Ėrenburgs und Vladimir Nabokovs Berliner Prosa der 1920er Jahre. Bielefeld 2005. R. MÜLLERSCHMITT, Nachwort [„PilřgramŖ]. In: V. Nabokov, Tri rasskaza. Hg. R. Müller-Schmitt. Stuttgart 2011, S. 82Ŕ86. D. E. ZIMMER, A Guide to Nabokovřs Butterflies and Moths. Web Version 2012: http://www.dezimmer.net/eGuide/ PageOne.htm. S. POLřSKAJA, Smertř i bessmertie v russkich rasskazach Vladimira Nabokova. o. O., o. J. [Privatdruck].

Vladimir Nabokov: Pilřgram

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Anmerkungen 1 A. S. Puńkin, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. D. Bonĉ-Brueviĉ u. a. 16 Bde. u. ein Ergänzungsband. 1937Ŕ1959. Bd. 7, S. 135Ŕ171. 2 Ebd. 3 Chodaseviĉ 1996, S. 394. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 391. 6 V. Sirin, „PilřgramŖ. In: Sovremennye zapiski 43. 1930, S. 191Ŕ207. Nachdruck in der Sammlung „SogljadatajŖ. Paris 1938. Die englische Fassung, die Vladimir Nabokov in Zusammenarbeit mit Peter Pertzov erstellte, erschien erstmals in der Sammlung „Nine StoriesŖ. New York 1947. Die Übersetzung in Band 13 der deutschen Werkausgabe wurde nach der englischen Fassung erstellt, trägt aber den Titel der russischen. Ŕ Zum Vergleich der russischen und englischen Fassung siehe Grayson 1977, S. 133Ŕ136. 7 Vgl. Shrayer, S. 708 f. 8 Zu Nabokovs Interesse für das Kino und seine Statistentätigkeit vgl. Th. Urban, Vladimir Nabokov Ŕ Blaue Abende in Berlin. Berlin 1999, S. 64Ŕ66. Gudrun Heidemann erwähnt in ihrer intermedialen Studie zu Nabokov und Ėrenburg Ŕ leider nur beiläufig Ŕ die bei Nabokov vorkommende „Darstellung fahrender Landschafts- oder Stadtkulissen als BewegungsbilderŖ. Heidemann 2005, S. 190. 9 Zwei Textstellen thematisieren das auch ausdrücklich. „Pilřgram spürte auf einmal deutlich, dass er nirgendwohin fahren würde, er dachte daran, dass er bald fünfzig sein würdeŖ (539), heißt es zunächst, und als sich Pilřgram doch die Möglichkeit einer Reise eröffnet, geht er daran „wie ein Mensch, der spürt, dass morgen das Alter kommt und dass das Glück [. . .] seine Einladung nie mehr wiederholen wirdŖ (541). 10 Die Rückwendung erfolgt erst nach der Erwähnung der Photographien, so dass deren Herkunft vorerst unklar und das Erinnerungsvermögen des Lesers (oder mehrfaches Lesen) gefordert ist. 11 Etwas weiter oben werden sie auch so genannt: „dragocennejńie kollekciiŖ (überaus wertvolle Sammlungen). Nabokov, s. Text, S. 534. 12 S. Antonov weist darauf hin, dass schon der Begriff „magazinŖ (Geschäft) ein „Bild toter [. . .] NaturŖ suggeriere. Antonov 1993, S. 85. 13 V. Nabokov, Die Kunst des Lesens. Frankfurt/M. 1994, S. 157. 14 „Nachdenklich betrachtete er die engen Reihen kleiner Schmetterlinge, die für Uneingeweihte vollkommen gleich aussahen.Ŗ Nabokov, s. Text, S. 536. 15 Vgl. V. Nabokov, Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Übers. D. E. Zimmer. Reinbek 1991, S. 163 f. Bereits in dem Roman „DarŖ (Die Gabe) legt Nabokov dem Vater der Hauptfigur, einem reisenden Entemologen, der von seiner letzten Expedition nicht zurückkehrt, fast wortgleiche Sätze in den Mund. 16 Ebd., S. 164. In „DarŖ lässt Nabokov den reisenden Entemologen jene Analogie von Natur und Kunst herstellen: „Er erzählte von der unwahrscheinlichen künstlerischen Raffinesse der Mimikry, die [. . .] zu erlesen sei, um bloß irgendwelche zufälligen gefiederten, geschuppten und sonstigen Feinde [. . .] zu täuschen, und die gleichsam von einem Maler zum Entzücken der klugen Augen des Menschen erdacht worden seiŖ. Nabokov, s. Text, Bd. 4, S. 294. Vgl. auch F. Göbler, Vladimir Nabokov. „DarŖ (Die Gabe). In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 339Ŕ358, hier: S. 354. 17 Vgl. M. Lurker, Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1995, S. 651. 18 Vgl. Ch. Hüllen, Der Tod im Werk Vladimir Nabokovs. Terra Incognita. München 1990, S. 185, N. W. Berdjis, Imagery in Vladimir Nabokov's last Russian novel (Dar), its English Translation (The Gift), and Other Prose Works of the 1930s. Frankfurt/M. 1995, S. 366. S. Polřskaja verweist auf den deutlichen Zusammenhang mit der Erzählung „RoņdestvoŖ (Weihnachten) Ŕ in dem russischen Wort für Weihnachten steckt auch die „Ge-

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Literatur und Anmerkungen

burtŖ (roņdenie). In dieser Erzählung „symbolisiertŖ der „aus dem Kokon schlüpfende Schmetterling den Sieg über den TodŖ. Polřskaja o. J., S. 50. Ŕ Zu Symmetrie bzw. Asymmetrie in der Beschreibung der Schmetterlingspuppen bzw. Pilřgrams vgl. Antonov 1993, S. 85. Nabokov, s. Text, Bd. 4, S. 130. Vgl. Berdjis, s. Anm. 18, S. 354 f. Chodaseviĉ 1996, S. 392. Ebd., S. 392 f. Nabokov, s. Text, Bd. 4, S. 418. Vgl. Göbler, s. Anm. 15, S. 355. Nabokov, s. Anm. 13, S. 160. Es handelt sich um die zu den Eulenfaltern gehörigen Catocalinae, wobei Nabokov nicht etwa gängige russische Bezeichnungen verwendet, sondern die lateinischen übersetzt hat. Vgl. V. Nabokov, Tri rasskaza. Hg. R. Müller-Schmitt. Stuttgart 2011, Anm. S. 28. Nur die Liebe seiner Frau zu ihm wird einmal erwähnt, eine Liebe, die auf merkwürdiger Grundlage steht und wohl kaum als wechselseitig angenommen werden kann: „der Mensch, den sie liebte für seine solide Grobheit, seine Verlässlichkeit, für die schweigsame Beharrlichkeit bei der ArbeitŖ. Nabokov, s. Text, S. 543 f. „И еще через день, когда воспоминание о покупателе стало уже совсем призрачно, как нечто, случившееся давным-давно, или даже не бывшее вовсе, а так, погостившее случайно в мозгу, Ŕ вдруг рано утром вошел в лавку Зоммер.Ŗ Ebd., S. 541. Die Stelle gehört ebenfalls zu dem im Englischen ausgelassenen Absatz. Der Schlaganfall kommt, wie es heißt, „like a mountain falling upon him from behind just as he bent down towards his shoestringsŖ. V. Nabokov, Nabokovřs Dozen. London 1959, S. 77. Vgl. Berdjis, s. Anm. 18, S. 67 f. Chodaseviĉ 1996, S. 391. Vgl. V. Ńklovskij, Parodijnyj roman. „Tristram ŃendiŖ Sterna / Der parodistische Roman Sternes „Tristram ShandyŖ. In: Texte der russischen Formalisten. Hg. J. Striedter u. W.D. Stempel. 2 Bde. München 1969Ŕ1972. Bd. 1, S. 244 f., 298 f. Nabokov, s. Anm. 13, S. 159.

Andrej Platonov (1899Ŕ1951)

S. 496

Text „Dņan. PovestřŖ (Dņan. Erzählung) nach: A. P. Platonov, Sĉastlivaja Moskva. Oĉerki i rasskazy 1930-ch godov. Hg. N. V. Kornienko. Moskau 2011, S. 111Ŕ234. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Das Volk Dshan. In: Andrej Platonow, Das Volk Dshan. Der Takyr. Die Baugrube. Erzählungen, Briefe, Fotos, Dokumente. Übers. v. Kay Borowsky. Enger 1992 (Die dieser Übersetzung zugrunde liegende Version des Textes entspricht nicht der heute maßgeblichen vollständigen Fassung, wie sie seit 1999 ediert vorliegt). Literatur V. TURBIN, Misterija Andreja Platonova [„DņanŖ]. In: Molodaja gvardija. 1965. 7, S. 293Ŕ 307. P. A. BOROZDINA, Povestř A. Platonova „DņanŖ. In: Tvorĉestvo A. Platonova. Statři i soobńĉenija. Hg. V. P. Skobelev. Voroneņ 1970, S. 92Ŕ106. M. ŃIMONJUK [Szymoniuk], Naruńenie normativnych slovosoĉetanij v povesti Andreja Platonova „DņanŖ kak stilistiĉeskij priem. In: Slavica Lublinensia et Olomucensia. 1977, S. 159Ŕ176. E. TOLSTAJA-SEGAL, Naturfilosofskie temy v tvorĉestve Platonova 20-ch Ŕ 30-ch gg. [„KotlovanŖ, „DņanŖ]. In: Slavica Hierosolymitana 4. 1979, S. 223Ŕ254. M. GELLER, V pustyne Ŕ na vostoke [„DņanŖ]. In: Ders., Andrej Platonov v poiskach sĉastřja. Paris 1982, S. 321Ŕ336. V. A. ĈALMAEV, Razorvannyj krug. „NaturaŖ i „idejaŖ v povesti „DņanŖ. In: Ders., Andrej Platonov. K sokro-

Andrej Platonov: Dņan

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Literatur und Anmerkungen

Platonov, s. Anm. 4, S. 354. Ebd., S. 390. Ebd., S. 378. Ebd., S. 392. Ebd., S. 386. Ebd., S. 408. Ebd., S. 402. A. Platonov, Vozvrańĉenie na rodinu. In: Literaturnaja gazeta. 5. 8. 1938, S. 6. Ders., Dņan. Povestř. In: Prostor. 1964. 9, S. 22Ŕ66. Vgl. Platonov, s. Text, Anm. S. 591. Ŕ Derzeit entsteht am Gorřkij-Institut für Weltliteratur (IMLI) unter der Leitung von Natalřja Kornienko eine wissenschaftliche Ausgabe der Werke Platonovs. Die Arbeit an Band 5, in dem die verschiedenen Versionen und Varianten von „DņanŖ dokumentiert werden sollen, hat gerade erst begonnen. Näher dazu: Ph. Ross Bullock, Platonov and the Open Text. In: Ulbandus Review 14. 2011/2012, S. 307 f.; Kornienko 1996, S. 121. Skakov 2011, S. 216. Platonov, Pisřma, s. Anm. 4, S. 394. Vgl. Ch. Gjunter (H. Günther), Totalitarnaja narodnostř i ee istoki. In: Socrealistiĉeskij kanon. Hg. Ch. Gjunter u. E. Dobrenko. Petersburg 2000, S. 377Ŕ389, hier: S. 387. Vgl. A. L. Edgar, Tribal Nation. The Making of Soviet Turkmenistan. Princeton, New Jersey 2004, S. 3. Vgl. I. V. Stalin, O politiĉeskich zadaĉach universiteta narodov Vostoka. Reĉř na sobranii studentov KUTV 18 maja 1925 g. In: Ders., Soĉinenija. 18 Bde. Moskau 1946Ŕ2006, Bd. 7. S. 133Ŕ152, hier: S. 139 f. Ders., Nacionalřnyj vopros i leninizm: Otvet tovarińĉam Meńkovu, Kovalřĉiku i drugim [1929]. In: Ders., s. Anm. 22. Bd. 11, S. 333Ŕ355, hier S. 343. Vgl. auch: T. Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923Ŕ1939. Ithaca, New York 2001, S. 8. Turbin 1965, S. 299. Bodin 1991, S. 8Ŕ11. Turbin 1965, S. 298. Vgl. Ross Bullock 2014, S. 756Ŕ760. Skakov 2011, S. 211. A. Platonov, Pervaja socialistiĉeskaja tragedija. In: Ders., Fabrika literatury (Literaturnaja kritika. Publicistika). Hg. N. V. Kornienko. Moskau 2011, S. 642. Vgl. Robert Hodels grundlegende Arbeit zur erlebten Rede bei Platonov. R. Hodel, Erlebte Rede bei Andrej Platonov. Von „V zvezdnoj pustyneŖ bis „ĈevengurŖ. Frankfurt/M. 2001. Zwar liegt „DņanŖ zeitlich nicht im Fokus von Hodels Arbeit. Doch viele seiner Analysebefunde zu Sprache und Erzählerrede bei Platonov gelten auch für die hier untersuchte Erzählung. Ńimonjuk, Destrukcija jazyka i novatorstvo chudoņestvennogo teksta. Po tekstam Andreja Platonova. Katowice 1977, S. 161 f. Einschlägig zur Sprache Platonovs: J. Brodsky, Catastrophes in the Air. In: Ders., Less Than One. New York 1986, S. 268Ŕ303, hier: S. 286Ŕ289. Bodin 1991, S. 18. C. Flammarion, LřAtmosphère. Météorologie populaire. Paris 1888, S. 163. Vgl. Skakov 2011, S. 219; Bodin 1991, S. 18Ŕ22; Ja. Ńimak-Rejfer [Szymak-Reiferowa], V poiskach istoĉnikov platonovskoj prozy. Zametki perevodĉika. In: Novoe literaturnoe obozrenie 9. 1994, S. 272Ŕ274; Hutchings 2002, S. 50 f.; E. N. Proskurina, Ėkfrasisy A. Platonova. K probleme tajnopisi. In: Sjuņetologija i sjuņetografija. 2014. 1, S. 104 f. Die Abbildung: http://www.loc. gov/item/95502287/ (Zugriff: 9. 6. 2015).

Konstantin Paustovskij: Sneg

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34 Eine russische Übersetzung des Buchs erschien 1910. Ńimak-Rejfer, s. Anm. 33, S. 274. 35 Platonov, Pitomnik novogo ĉeloveka. In: Ders., Fabrika literatury, s. Anm. 29, S. 633Ŕ 640, hier: S. 638. 36 Ders., Pervaja socialistiĉeskaja tragedija, s. Anm. 29, S. 640Ŕ644, hier: S. 643. Vgl. dazu auch: Erley 2014, S. 736Ŕ738. 37 Ebd., S. 643 f. 38 A. Livingstoun, Motiv vozvrańĉenija v rasskaze A. Platonova „VozvrańĉenieŖ. In: Tvorĉestvo Andreja Platonova. Issledovanija i materialy. Hg. V. Ju. Vřjugin. Bd. 2. Petersburg 2000, S. 113Ŕ116, hier: S. 116. 39 Vgl. Tolstaja-Segal 1979, S. 249. 40 Die Raumkonzeption ähnelt der im Roman „ĈevengurŖ. Vgl. V. Golovanov, K razvalinam Ĉevengura. In: Ders., K razvalinam Ĉevengura. Moskau 2013, S. 295Ŕ329, hier: S. 317Ŕ320. 41 Kaminskij 2013, S. 267. 42 Ebd., S. 264 f. 43 Geller 1982, S. 334. 44 Vgl. Ross Bullock 2014, S. 264Ŕ266. 45 Platonov, s. Anm. 5, S. 134. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 143. 48 Ebd., S. 138. 49 Platonov, s. Text, S. 289Ŕ310. 50 Ebd., S. 137. 51 Ebd., S. 138 (Hervorhebung dort, J. H.). 52 Vgl. K. Clark, The Soviet Novel. History as Ritual. 3. Aufl. Bloomington, Illinois 2000, S. 114 f. 53 N. V. Kornienko, „Pisřma o ljubvi i goreŖ. Pisřmo i tekst. In: Archiv A. P. Platonova. Kniga 1. Hg. N. V. Kornienko. Moskau 2009, S. 377Ŕ397, hier: S. 381. 54 Platonov, s. Text, S. 9Ŕ110, hier S. 40. 55 Einem von seiner Witwe E. Batjuńkova-Orlova erstellten unveröffentlichten Lebenslauf Batjuńkovs ist zu entnehmen, dass dieser am 31. 3. 1929 verstarb und auf dem Vaganřkovo-Friedhof in Moskau begraben wurde (Quelle: Landeskundliches Museum Ustjuņna. F. 3. Op. 1. D. 178. L. 7). 56 Tolstaja-Segal 1979, S. 249. 57 Bekanntlich setzte sich Platonov intensiv mit den Lehren Nikolaj Fedorovs auseinander. Vgl. z. B. Ch. Gjunter [H. Günther], Po obe storony ot utopii. Konteksty tvorĉestva A. Platonova. Moskau 2012, S. 39Ŕ42; Tolstaja-Segal 1979. Zu Erinnerung in „DņanŖ und Fedorov-Kontexten vgl. auch Hutchings 2002, S. 53Ŕ59. 58 In einem Brief an Frau und Sohn übersetzt Platonov das Wort mit „KulakŖ. Platonov, s. Anm. 4, S. 354.

Konstantin Paustovskij (1892Ŕ1968)

S. 515

Text „SnegŖ (Schnee) nach: K. G. Paustovskij, Sobranie soĉinenij. Hg. N. Krjuĉkova. 6 Bde. 1957Ŕ1958. Moskau 1958. Band 5, S. 57Ŕ65. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Schnee. Übers. v. R. Candreia. In: K. Paustowskij, Meistererzählungen. Zürich 1979.

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Literatur und Anmerkungen

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venŖ, die sich durch die Erzählung hindurchziehen: „das Gartentor, der durch den Schnee gefegte Weg, der Geruch nach Rauch von Birkenholz, das endlich gestimmte Klavier, gedrehte gelbe Kerzen, bestimmte Noten, die Glöckchen an der Eingangstür, Quellwasser zum Waschen, das Birkenwäldchen hinter dem Fluß und der Kater Archip.Ŗ Levickij 1963, S. 21 („художественным природоведением […], сочетающим в себе элементы науки и искусства, аналитического исследования и художественного изображенияŖ). In der Verbindung „redkij sneņokŖ (61; eine einzelne Schneeflocke); bzw. „sneņnyj sadŖ (65; der Schneegarten). „nad severnoj rekojŖ (57). Ŕ Die deutsche Übersetzung lautet hier: „über einem silberglänzenden FlußŖ (39). Dies ist wohl ein Übersetzungsfehler (serebrjanyj statt severnyj). Zur Bedeutung von Zitaten im Werk Paustovskijs insgesamt siehe Ollivier, s. Anm. 6, S. 219 f. Der Originaltitel des Gedichts von Puńkin lautet: „Dlja beregov otĉizny dalřnojŖ. Vertont wurde das Gedicht von Aleksandr Borodin. Der Text aus dem Jahr 1889 stammt von Aleksej Budińĉev, die Musik von Vsevolod Bujukli (bisweilen wird fälschlicherweise A. Obuchov als Komponist angegeben). Vom Text gibt es Varianten; so ist die zitierte Zeile auch als „Otvori potichonřku kalitkuŖ (Öffne leise das Pförtchen) zu finden. Ohne hier auf Details einzugehen: Der Garten ist selbstverständlich ein hoch symbolischer Ort. Mindestens zwei Elemente können für „SnegŖ erwähnt werden: der Garten als irdisches Abbild des Paradieses sowie der Garten als „hortus conclususŖ, siehe das Hohe Lied, 4,12: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester BrautŖ. Ŕ Nikolaj tritt also zum einen ins Paradies ein. Zum anderen aber kommt hier eine geradezu erotische Komponente ins Spiel, als er den Tatřjana zugeordneten Bereich betritt, auch wenn diese den Garten Ŕ der ihr ja nicht gehört Ŕ eigentlich in gewissem Sinn „okkupiertŖ hat. Vgl. F. Tjutĉev, Im Meeresrauschen klingt ein Lied. Dresden 2003, S. 242. Kasack geht in seinem Artikel „Ĉechov und PaustovskijŖ zwar auch kurz auf „SnegŖ ein und diagnostiziert in der Erzählung „Ĉechovsche SchwermutŖ, aber kommentiert den möglichen Bezug zu „Dama s sobaĉkojŖ nicht. Kasack 1971 (b), S. 372. Bereits Daetz, s. Anm. 6, S. 125Ŕ130, versucht, mit Vladimir Propp (Morphologie des Märchens. Frankfurt/M. 1986) die Funktionen der handelnden Personen in Paustovskijs Erzählungen insgesamt aufzuzeigen; sie geht dabei allerdings nicht auf „SnegŖ ein. Im Plan zur Erzählung „SnegŖ nennt Paustovskij das Märchen „AschenbrödelŖ übrigens namentlich. K. Paustowski, Die goldene Rose. Gedanken über die Arbeit des Schriftstellers. Berlin 1968, S. 77. Ein Bezug zur Märtyrerin Tatjana von Rom (3. Jh.) ergibt keine besonderen Assoziationen, die man für die Deutung von „SnegŖ fruchtbar machen könnte. Paustowski, s. Anm. 25, S. 78. Levickij 1963, S. 341. Ollivier, s. Anm. 6, S. 100. Gorńkov 2009, S. 109, verweist im Zusammenhang mit „der großen und der kleinen HeimatŖ auf Konstantin Simonovs Gedicht „RodinaŖ (Die Heimat) aus dem Jahr 1941, worin der Dichter genau dieses Thema ausführe. K. Paustovskij, O novelle. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. L. Polosina. 9 Bde. Moskau 1981Ŕ1986. Bd. 8, S. 323Ŕ353, hier: S. 331.

762 Daniil Charms (1905Ŕ1942)

Literatur und Anmerkungen

S. 530

Text „StaruchaŖ (Die alte Frau) nach: D. I. Charms, Polet v nebesa. Stichi, proza, dramy, pisřma. Hg. A. A. Aleksandrov. Leningrad 1988, 398Ŕ430. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: „Die alte FrauŖ. Übers. v. P. Urban. In: D. Charms, Fallen. Prosa, Szenen, Kindergeschichten, Briefe. Hg. P. Urban. Zürich 1985. Literatur B. MÜLLER, „StaruchaŖ. In: Ders., Absurde Literatur in Russland. Entstehung und Entwicklung. München 1978, S. 71Ŕ77. A. STONE-NAKHIMOVSKY, The Ordinary, the Sacred, and the Grotesque in Daniil Kharmsř ŖThe Old Womanŗ. In: Slavic Review 37. 1978, S. 203Ŕ216. M. JOVANOVIĈ, „Situacija RaskolřnikovaŖ i ee otgoloski v russkoj sovetskoj proze. Parodijnyj aspect [„StaruchaŖ]. In: Zbornik za slavistiku 21. 1981, S. 45Ŕ57. A. STONE-NAKHIMOVSKY, The Ordinary, the Sacred, and the Grotesque [ŖStarukhaŗ]. In: Dies., Laughter in the Void. An Introduction to the Writings of Daniil Kharms and Alexander Vvedenskii. Wien 1982, S. 87Ŕ103. S. CASSEDY, Daniil Kharmsřs Parody of Dostoevskii. Anti-Tragedy as Political Comment [ŖStarukhaŗ, ŖCrime and Punishmentŗ]. In: Canadian-American Slavic Studies 18. 1984, S. 268Ŕ284. E. CHANCES, Daniil Charmsř ŖOld Womanŗ Climbs her Family Tree. ŖStaruchaŗ and the Russian Literary Past. In: Russian Literature 17. 1985, S. 353Ŕ366. A. A. KOBRINSKIJ, Psichologizm, alogizm i absurdizm v proze Daniila Charmsa [„StaruchaŖ]. In: Problemy istoĉniko-vedĉeskogo izuĉenija istorii russkoj i sovetskoj literatury. Sbornik nauĉnych trudov. Hg. V. N. Saņin. Leningrad 1989, S. 169Ŕ181. A. SHUKMAN, Toward a Poetics of the Absurd. The Prose Writings of Daniil Kharms. In: Discontinuous Discourses in Modern Russia Literature. Hg. D. Shephard. London 1989, S. 60Ŕ72. R. AIZLEWOOD, ŖGuilt Without Guiltŗ in Kharmsřs Story ŖThe Old Womanŗ. In: Scottish Slavonic Review 14. 1990, S. 199Ŕ 217. L. GRUBIŃIĆ, Laughing at the Void. A Structural Analysis of Kharmsř ŖThe Old Womanŗ. In: Oregon Studies in Chinese and Russian Culture. Hg. A. Leong. New York 1990, S. 221Ŕ236. A. ANEMONE, The Anti-World of Daniil Kharms. On the Significance of the Absurd. In: Daniil Kharms and the Poetics of the Absurd. Hg. N. Cornwell. Houndmills 1991, S. 71Ŕ93. R. GIAQUINTA, Elements of the Fantastic in Daniil Kharms's ŖStarukhaŗ. In: Daniil Kharms and the Poetics of the Absurd. Essays and Materials. Hg. N. Cornwell. Houndmills 1991, S. 132Ŕ148. M. D. SIMONTON, From solipsism to dialogue. A Bakhtinian approach to Nabokov's ŖLolitaŗ and Kharms's ŖStaruxaŗ. Ann Arbor, Michigan 1992. Th. GROB, Daniil CharmsŘ unkindliche Kindlichkeit. Ein literarisches Paradigma der Spätavantgarde im Kontext der russischen Moderne. Bern 1994. N. CARRICK, A Familiar Story. Insurgent Narratives and Generic Refugees in Daniil Kharms's ŖThe Old Womanŗ. In: The Modern Language Review 90. 1995, S. 707Ŕ721. A. GERASIMOVA, Daniil Charms kak soĉinitelŘ Problema ĉuda [„StaruchaŖ]. In: Novoe literaturnoe obozrenie 16. 1995, S. 129Ŕ139. I. MAKAROVA, „StaruchaŖ kak „Peterburgskaja povestřŖ D. Charmsa. In: Dies., Oĉerki istorii russkoj literatury XX veka. Petersburg 1995, S. 130Ŕ143. A. ALEKSANDROV, „Ja gljaņu vnutrř sebja...ŗ. O psichologizme povesti Daniila Charmsa „Staruchaŗ. In: Peterburgskij tekst. Iz istorii russkoj literatury 20-30-ch godov XX veka. Meņvuzovskij sbornik. Hg. V. A. Lavrov. Petersburg 1996, S. 172Ŕ184. I. KUKULIN, Roņdenie postmodernistskogo geroja po doroge iz Sankt-Peterburga ĉerez Leningrad i dalřńe. Problemy sjuņeta i ņanra v povesti D. I. Charmsa „Staruchaŗ. In: Voprosy literatury. 1997. 4, S. 62Ŕ90. T. PEĈERSKAJA, Literaturnye staruchi Daniila Charmsa. Povestř „Staruchaŗ. In: Diskurs (Novosibirsk). 1997. 3Ŕ4, S. 65Ŕ70. H. L. FINK, The Kharmsian Absurd and the Bergsonian Comic. Against Kant and Causality. In: Russian Review 57. 1998, S. 526Ŕ538. M. JAMPOLřSKIJ, Vremja [„StaruchaŖ]. In: Ders., Bespamjatstvo kak istok (Ĉitaja Charmsa). Moskau 1998, S. 106Ŕ133. R. MILNER-GULLAND: ŖThis Could Have Been Foreseenŗ. Kharmsřs ŖThe Old Womanŗ (Starucha) Revisited. A Collective Analysis. In: Neo-Formalist Papers. Contributions to the Silver Jubilee Conference to mark 25 years of the

Daniil Charms: Starucha

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Literatur und Anmerkungen

zähler schildert, wie ein Gedanke „wie ein freier VogelŖ über das Gesicht des Helden flattert. I. A. Gonĉarov, Sobranie soĉinenij. Hg. S. I. Mańinskij u. a. 8 Bde. Moskau 1977Ŕ 1980. Bd. 4, S. 7. 8 Chejnonen etwa mutmaßt, der Erzähler sei irgendwie verantwortlich für den Tod der Alten, worauf seine Bewusstlosigkeit und die nachfolgenden Gefühle von Schuld und Angst hinwiesen. Chejnonen 2004, S. 31 f. Ŕ Bisweilen werden auch die Deutungen des Erzählers Ŕ voreilig Ŕ übernommen: so beim Verschwinden des Koffers im Zug, das dieser sich durch Diebstahl erklärte. Tatsächlich lässt sich nur sagen, dass der Koffer verschwunden ist. 9 Bei Chejnonen gibt es ein ganzes Kapitel über „Skrytye znaĉenijaŖ (Versteckte Bedeutungen). Chejnonen 2004, S. 40Ŕ74. 10 Vgl. Stone-Nakhimovsky 1982, S. 92Ŕ95. 11 Ebd., S. 103. 12 Typische Wendungen für die Dissertation von Chejnonen und deren Vorgehensweise lauten „moņno predloņitřŖ, „moņno videtřŖ, „moņno skazatřŖ, „moņno utverņdatřŖ, „moņno sĉitatřŖ, „moņno istolkovatř kakŖ usw. (diese Beispiele bei Chejnonen 2004, S. 45Ŕ46). In diesem Sinne bietet sein Buch eine wahre Enzyklopädie möglicher versteckter Bedeutungen Ŕ oder eine Dokumentation der Deutungsoffenheit des Textes. 13 Chejnonen führt zwei mögliche innerfiktionale Erklärungen für diesen Bruch an: Der Erzähler beobachte die beschriebene Szene von draußen durchs Fenster (Chejnonen 2004, S. 96); Sakerdon Michajloviĉ könne dem Erzähler später davon berichtet haben (Chejnonen 2004, S. 97). Ŕ Letztlich favorisiert er aber die Deutung, dass es sich um einen „maskierten allwissenden ErzählerŖ handele, der nur über weite Strecken „durch das Bewusstsein des HeldenŖ spreche (Chejnonen 2004, S. 98). 14 A. S. Puńkin, Boris Godunov. Hg. L. M. Lotman u. S. A. Fomiĉev Petersburg 1996, S. 128. 15 „Zentraler Text des Nekrophilie-Nekrophobie-Komplexes bei Charms ist zweifellos die ‚StaruchaŘ, die als personifiziertes Oxymoron ihren Untod ebenso inszeniert wie die Ambivalenz von Toten-/Todesfurcht und Aggressivität. Das Erschlagen einer Leiche [...] erscheint vor diesem Hintergrund als umgekehrtes OxymoronŖ. Hansen-Löve 2006, S. 208. 16 Hansen-Löve, s. Anm. 5, S. 176. 17 Chejnonen verweist hier auf einen interessanten Bezug zu Gogolřs „Mertvye duńiŖ (Die toten Seelen), wo die toten Seelen im Zusammenhang mit den unklaren Befürchtungen der Stadtbewohner unter anderem als „bespokojnyj narodŖ bezeichnet werden (Chejnonen 2004, S. 114). Vgl. auch die weiteren Ausführungen zum Wortfeld „pokojnikŖ - „pokojnyjŖ - „bespokojnyjŖ (Chejnonen 2004, S. 114 f.). 18 Gerasimova spricht in diesem Zusammenhang von „ParodieŖ. Gerasimova 1995, S. 137. 19 Zu den Bezügen zwischen „StaruchaŖ und „Prestuplenie i nakazanieŖ vgl. unter anderem Cassidy 1984, Ņakkar 2005 und Jovanoviĉ 1981. 20 Chejnonen 2004, S. 217 und passim. 21 Stone-Nakhimovsky 1982, S. 97. 22 Grob zum Beispiel kommt in seiner Studie zur Kindlichkeit bei Charms zu nahezu entgegengesetzten Schlussfolgerungen, nämlich, „dass die Phantasien von Gewalt am Kind und seiner Ausgrenzung eine Form der Eliminierung des Transzendenten aus der Textwelt sein könnenŖ. Grob 1994, S. 164. 23 Hansen-Löve, s. Anm. 5, S. 157. 24 Ebd., S. 158. 25 Vgl. Chejnonen 2004, S. 206. 26 Die Beispiele sind Chejnonen 2004, S. 55Ŕ57, entnommen. 27 Ebd., S. 119Ŕ121. 28 Ebd., S. 55.

Varlam Ńalamov: Zaklinatelř zmej

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29 Chejnonen spricht in diesem Zusammenhang nicht umsonst von „geistiger ImpotenzŖ. Ebd., S. 56. 30 Zur Schuldproblematik vgl. unter anderem Aizlewood 1990. Ŕ Zur Einordnung ist HansenLöve zu bedenken: „Ein großes Motiv in allen absurdistischen Konzeptionen und Texten ist die paradoxale Situation des Menschen als prinzipiell schuldiger und unschuldiger zugleichŖ. Hansen-Löve, s. Anm. 5,, S. 151. 31 Sie ist übrigens mindestens so zwiespältig wie die des Kollegienassessors Kovalev, dessen verschwundene „NaseŖ am Ende von Gogolřs gleichnamiger Erzählung plötzlich und grundlos wieder erscheint.

Varlam Ńalamov (1907Ŕ1982)

S. 541

Text „Zaklinatelř zmejŖ (Der Schlangenbeschwörer) nach: V. Ńalamov, Sobranie soĉinenij. Hg. I. Sirotinskaja. 6 Bde. Moskau 2004Ŕ2005. Bd. 1, S. 118Ŕ123. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Andere Werke Ńalamovs werden ebenfalls nach dieser Ausgabe zitiert (Bandangabe in römischen Zahlen). Ŕ Dt. Übersetzung: Der Schlangenbeschwörer. Übers. v. G. Leupold. In: W. Schalamow, Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I. Hg. F. Thun-Hohenstein. 5. Aufl. Berlin 2011. Literatur A. ŃUR, V. T. Ńalamov i A. I. Solņenicyn. Sravnitelřnyj analiz nekotorych proizvedenij. In: Novyj ņurnal 155. 1984, S. 92Ŕ101 L. TOKER, Stories from Kolyma. The Sense of History. In: Hebrew University Studies in Literature and Arts 17. 1989, S. 188 Ŕ220. A. GEREBEN, Zapozdaloe priznanie „Kolymskich rasskazovŖ. In: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 36. 1990, 1Ŕ4, S. 115Ŕ129. L. TIMOFEEV, Poėtika lagernoj prozy. Pervoe ĉtenie „Kolymskich rasskazovŖ. In: Oktjabrř. 1991. 3, S. 182Ŕ195. A. RAŹNY, Kołyma Ŕ biegun śmierci. Slavia Orientalis 41. 1992, S. 57Ŕ66. L. TOKER, Varlam Shalamovřs Kolyma. In: Between Heaven and Hell. The Myth of Siberia in Russian Culture. Hg. G. Diment u. Y. Slezkine. New York 1993, S. 151Ŕ169. L. TOKER, Documentary Prose and the Role of the Reader. Some Stories of Varlam Shalamov [ŖKolyma Talesŗ]. In: Commitment in Reflection. Essays in Literature and Moral Philosophy. Hg. L. Toker. New York 1994, S. 169Ŕ193. E. MIKHAILIK, Varlam Ńalamov v kontekste literatury i istorii [„Kolymskie rasskazyŖ]. In: Australian Slavonic and East European Studies 9, 1. 1995, S. 31Ŕ64. L. TOKER, Toward a Poetics of Documentary Prose Ŕ from the Perspective of Gulag Testimonies [ŖKolyma Talesŗ]. In: Poetics Today 18. 1997, S. 187Ŕ222. J. SMAGA, Aleksander Sołżenicyn i Warłam Szałamow. Wnioski z łagrowej martyrologii [„Opowiadania kołymskieŖ]. In: Slavia Orientalis 47. 1998, S. 465Ŕ473. E. MIKHAILIK, Dostoevsky and Shalamov. Orpheus and Pluto [ŖKolyma Talesŗ]. In: The Dostoevsky Journal. 2000. 1 (a), S. 147Ŕ157. E. MIKHAILIK, Varlam Ńalamov. V prisutstvii dřjavola. Problema konteksta [„Kolymskie rasskazyŖ]. In: Russian Literature 47. 2000 (b), S. 199Ŕ219. L. TOKER, Varlam Shalamov. In: Dies., Return from the Archipelago. Narratives of Gulag Survivors. Bloomington, Indiana 2000, S. 141Ŕ187. I. SUCHICH, Ņit' posle Kolymy. 1954Ŕ1973. „Kolymskie rasskazyŖ V. Shalamova. In: Zvezda. 2001. 6, S. 208Ŕ220. R. CHANDLER, Varlam Shalamov and Andrei Fedorovich Platonov [„Zaklinatelř zmejŖ]. In: Essays in Poetics. The Journal of the British Neo-Formalist Circle 27. 2002, S. 184Ŕ192. É. LOZOWY, „Les récits de la KolymaŖ de Varlam Ńalamov. Une œuvre ouverte. In: Revue des études slaves 74. 2002/2003, S. 531Ŕ545. D. ROMANOVSKIJ, Ńalamov. Zapiski iz Mertvogo doma. In: Slavia Orientalis 54. 2005, S. 187Ŕ205. E. FROLOVA, Poėtika „Kolymskich rasskazovŖ V. Ńalamova. In: Rossica Olomucensia 44, 1. 2006, S. 541Ŕ548. F. THUN-HOHENSTEIN, Warlam Schalamows radikale Prosa. [„Erzählungen aus KolymaŖ] In: W. Schalamow, Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I. Hg. F. Thun-Hohenstein. 4. Aufl. Berlin 2007, S.

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Literatur und Anmerkungen

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Sinjavskij 2007, S. 82. Zu Ńalamovs Biographie vgl. Toker 2000, S. 143Ŕ150, und ThunHohenstein 2007. Zu Ńalamov und Dostoevskij vgl. Mikhailik 2000 (a) sowie Romanovskij 2005. Zu Ńalamov und Solņenicyn vgl. Shur 1984, Smaga 1998, Suchich 2001, Ryklin 2007, Städtke 2007 und Esipov 2007, Kap. 4 u. 5. Zu Solņenicyns Sicht der Lagerhaft als Purgatorium vgl. Toker 2000, S. 105. Zur Publikationsgeschichte vgl. Mikhailik 1995, S. 33 f., Thun-Hohenstein 2007, S. 37, sowie ausführlich Toker 2008. Vgl. Boym 2008. E. Mikhailik vermerkt, Ńalamov habe im Gegensatz zu Adorno nie an der Berechtigung von Literatur nach Auschwitz und Kolyma gezweifelt. Dies lässt jedoch außer Acht, dass auch Adorno Ŕ entgegen der gängigen Simplifikation seines Diktums über Lyrik nach Auschwitz Ŕ von der Notwendigkeit des künstlerischen Gedenkens an die Massenvernichtung überzeugt war. Siehe hierzu B. Kaibach, Für Auschwitz gibt es keine Metaphern. Die poetologische Dimension von Jiřì Weils Klagegesang für 77 297 Opfer. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 47. 2006, S. 280 f. Th. Adorno, „EngagementŖ. Zit. nach: P. Kiedaisch, Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995, S. 54. Der Text bildet eine Art Prolog zum ersten Zyklus der „Kolymskie rasskazyŖ (I, 47). Ähnlich sieht es Ulrich Schmid. Vgl. Schmid 2007, S. 94. Ńalamov nennt wiederholt den Gulag, die NS-Vernichtungslager sowie die Entwicklung und den Einsatz der Atombombe als die drei einschneidenden Ereignisse, die ein radikales Überdenken der kulturellen Tradition erfordern; siehe zum Beispiel in „O novoj prozeŖ (V, 157), in dem Brief an Julij Ńrejder vom 24. 3. 1968 (VI, 538) und in einem undatierten Brief an Irina Sirotinskaja (VI, 487 f.). In „O prozeŖ (V, 152). Im Entwurf zu diesem Manifest heißt es: „Die Literatur hat das Recht auf Predigt verwirkt. Niemand kann irgendjemanden belehren, niemand hat das Recht zu belehrenŖ (V, 157). Vgl. hierzu Timofeev 1991, E. Mikhailik, Potentialities of Intertextuality in the Short Story ŖOn Tickŗ. In: Essays in Poetics. The Journal of the British Neo-Formalist Circle 25. 2000, S. 169Ŕ186 sowie Toker 1994 u. 1997. Siehe zum Beispiel in „O prozeŖ (V, 153); vgl. Anm. 24. Vgl. hierzu Suchich 2001. In der Erzählung „Krasnyj krestŖ (I, 185). Allgemein zur Bedeutung der Kriminellen für Ńalamov vgl. Ryklin 2007. Zur Position der Kriminellen in den Lagern siehe A. Applebaum, Gulag. A History. New York 2003, S. 282Ŕ291. Der systematische Einsatz bestimmter Krimineller zur Kontrolle der übrigen Häftlinge währte von 1937 bis zum Ende des Krieges. Ebd., S. 283. In „O novoj prozeŖ (V, 160). Aus dem Zyklus „Voskreńenie listvennicyŖ (II, 166Ŕ173). Der Gangsterkönig wird durchgehend als „KorolřŖ bezeichnet Ŕ eine Anspielung auf Isaak Babelřs „Odesskie rasskazyŖ, die Ńalamov wegen ihrer romantisierenden Darstellung der Kriminellenwelt anprangert (II, 10). „Шелгунов искал и встретил то, что он хотел, то, о чем он мечтал, Ŕ живые примеры. Он встретил силу, о которой много читал раньше и вера, в которую вошла в кровь Шелгунова. Это был блатной, преступный мир. Начальство, которое топтало, било, презирало соседей и друзей Шелгунова и самого Шелгунова, боялось и благоговело перед уголовниками. Вот мир, который смело поставил себя против государства, мир, который может помочь Шелгунову в его слепой романтической жажде добра, жажде мщения... […]. Художественная литература хорошо подготовила Шелгунова к встрече с преступным миромŖ (II, 168). Der entlarvende Erzählerkommentar mündet unmittelbar in einen inneren Monolog Pla-

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Literatur und Anmerkungen

tonovs, in dem dieser den eigenen Rechtfertigungsversuch als Selbsttäuschung abtut (122 f.). E. Mikhailik sieht in Fedjas auffallend langem Fingernagel ein Symbol des Teufels. Mikhailik, s. Anm. 12, S. 177. Allgemein zur Höllensymbolik in Ńalamovs Werk siehe Mikhailik 2000 (b). Zapisnye kniņki 1966 (V, 297). Vgl. auch die Notiz S. 351. In „O prozeŖ schreibt Ńalamov dazu: „Композиционная цельность Ŕ немалое качество ‚КРŘ. В этом сборнике можно заменить и переставить лишь некоторые рассказы, а главные, опорные, должны стоять на своих местахŖ (V, 153). Der Zyklus enthält insgesamt 33 Erzählungen; „Na predstavkuŖ folgt an erster Stelle nach dem Prolog „Po sneguŖ, „Zaklinatelř zmejŖ steht an 18. Stelle, „Krasnyj krestŖ ist die 31. Erzählung. Im Kapitel „Kak tiskajut rómanyŖ heißt es: „Тюремное время Ŕ длинное время. Тюремные часы бесконечны, потому что они однообразны, бессюжетныŖ (II, 94). „Требуется, чтобы рассказ был длинным, Ŕ ведь одно из его назначений Ŕ скоротать времяŖ (II, 96). „Сюжетность и натурализм с сексуальным уклоном Ŕ вот лозунг устной литературы блатарейŖ (II, 97). So wird zum Beispiel Maupassants Roman „Bel-AmiŖ bis zur Unkenntlichkeit entstellt: „Но основной костяк вещи Ŕ карьера сутенера Ŕ осталсяŖ (II, 97). Zur Behandlung des Sujets in Ńalamovs Prosa vgl. Mikhailik 1995. Vgl. dazu in „O prozeŖ: „Применяемый и вставленный публицистический по существу ткани ‚Красный крестŘ, ибо значение блатного мира очень велико в лагере, и тот, кто не понял этого Ŕ тот не понял ничего ни в лагере, ни в современном обществеŖ (V, 153). Zur komplexen Schichtung der diegetischen Ebenen in „Zaklinatelř zmejŖ vgl. R. Johnson 2012/13. Auch Johnson sieht einen Zusammenhang zwischen der Struktur und der metaliterarischen Dimension des Textes: ŖImmediately apparent in this structure is a playful interrelation between levels of the story, a feature that underscores the metaliterary elements of the story. These draw the readerřs attention away from the story to the act of storytelling, causing us to reflect on how and why, and under what circumstances, a story is told.ŗ Johnson 2012/13, S. 17. Im Arbeitslager, wo der Horizont der ständig vom Tod bedrohten Häftlinge nicht über den jeweils nächsten Tag hinausreicht, ist an Schreiben nicht zu denken: „Если я останусь жив, Ŕ произнес Платонов священную фразу, которой начинались все размышления о времени дальше завтрашнего дня, Ŕ я напишу об этом рассказ. Я уже и название придумал: ŘЗаклинатель змейŘ. Хорошее? Ŕ Хорошее. Надо только дожить. Вот Ŕ главноеŖ (119). In Junostř. 1988. Heft 10. „Я нахмурился при упоминании прииска ‚ДжанхараŘ. Я сам побывал в местах дурных и трудных, но страшная слава ‚ДжанхарыŘ гремела вездеŖ (118). Der Ernst der Drohung ist Platonov bewusst. Kurz zuvor heißt es, er habe schon zweimal mitangesehen, wie die Kriminellen Menschen mit einem Handtuch erdrosselten (121). E. Mikhailik zeigt, dass der Ich-Erzähler auf Versatzstücke aus früheren Erzählungen des Zyklus zurückgreift, um die Erfahrung Platonovs in Dņanchara, die ihm selbst ja erspart geblieben ist, möglichst glaubhaft zu vermitteln. Mikhailik 2011, S. 136. R. Johnson liest Ńalamovs Erzählung unter anderem auch als Parabel über die sowjetischen Schriftsteller und Stalin: ŖThe authorřs depiction of head thief Fedya does in fact invite some superficial comparison to Stalin Ŕ who, as ŘKoba,ř had of course once been something of a thief himself, albeit one in service to the Bolshevik cause. Physical details are few, but Fedya is described as mustachioed and dark-haired; he comes across as an avid, though perhaps not terribly discerning, consumer of Řliterature,ř meting out

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praise and thus providing protection for the storyteller from his thuggish underlings.ŗ Johnson 2012/13, S. 9. Ńalamovs Erzählungen kursierten allerdings im Samizdat; siehe Toker 2005, S. 287 f., und L. Toker, Samizdat and the Problem of Authorial Control. The Case of Varlam Shalamov. In: Poetics Today 29. 2008, S. 735Ŕ758. Vgl. dazu Karoline Thaidigsmann: „Die gegenläufigen Bewegungen von Verfall und Bewahrtwerden bilden für Ńalamov eine Einheit. Diese spiegelt sich in der zyklischen Struktur der einzelnen Erzählbände, die ein Bild der fragilen Existenz der Häftlinge zwischen Verlust und Festhalten des Lebens entwerfen. Diese Einheit kennzeichnet darüber hinaus aber auch die Anlage der Gesamtheit der Erzählungen aus KolymaŖ. Thaidigsmann 2009, S. 42 f. Die Erzählung „SentencijaŖ spiegelt, wie Thaidigsmann ausführlich nachweist, in nuce diese „Gesamtstruktur der ErzählzyklenŖ; der kurze Text entfaltet eine ganze „Phasenlehre der MenschwerdungŖ. Ebd., S. 44. Zur Makrostruktur der Zyklen vgl. auch Suchich 2001 sowie Toker 2000, S. 160Ŕ176. I, 402. Vgl. dazu Thaidigsmann 2009, S. 55 ff. Vgl. dazu den Abschnitt „JazykŖ in Ńalamovs Erinnerungen (IV, 442 f.). K. Thaidigsmann erläutert die Problematik am Beispiel der Erzählung „SentencijaŖ und setzt sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich mit der Frage nach dem Stellenwert der Intertextualität in Ńalamovs Texten auseinander: „Da, wo die zur Interpretation herangezogenen Kontexte nicht als Erklärungsmuster gelten wollen, sondern dazu dienen, die Erfahrung des Protagonisten zu verdeutlichen, ist die Freilegung der in den minimalistisch verdichteten Text eingeschriebenen Bedeutungsebenen ein Gewinn für dessen Verständnis. Das Bemühen, die Erfahrung in ihrer Unmittelbarkeit zu kommunizieren, verbindet sich dann fruchtbar mit der Reflexion.Ŗ Thaidigsmann 2009, 81 f. In manchen der „Erzählungen aus KolymaŖ wird durchgehend versucht, die Erfahrungswelt der Häftlinge unmittelbar zu rekonstruieren. In anderen bringt der Erzähler bzw. Autor das gesamte kulturelle Wissen, das ihm in der Freiheit zur Verfügung steht, in Anschlag, um seine ideologische Position zu verdeutlichen. „Zaklinatelř zmejŖ oszilliert zwischen beiden Extremen. Die szenische Darstellung wird von Einwürfen des Erzählers unterbrochen, die sich mit Ńalamovs Polemik gegen die humanistische Literaturtradition in Russland decken. Eine ebenso schlüssige wie detaillierte Untersuchung der motivischen Verflechtung der Erzählung mit „Tausendundeiner NachtŖ findet sich bei Johnson 2012/13. Johnson weist unter anderem darauf hin, dass „Tausendundeine NachtŖ einen Text mit dem Titel „Zaklinatelř zmejŖ enthält. Dass die Rangoberen unter den Berufskriminellen im Gulag junge Männer zu sexuellen Dienstleistungen verpflichteten, ist ein vielfach belegtes Faktum; tatsächlich wurden diesen Männern häufig weibliche Vornamen zugewiesen. Die Stelle zeigt in typischer Weise Ńalamovs Verfahren, solche Realien in einen weiteren symbolischen Verweisungszusammenhang einzubetten, so dass sich seine Texte zugleich als Dokument und als vielschichtiges literarisches Konstrukt lesen lassen. Zur Darstellung von Homosexualität in der Gulag-Literatur vgl. Kuntsman 2009. Kuntsman weist darauf hin, dass Homosexualität bei Ńalamov ausschließlich negativ konnotiert ist und fast immer im Zusammenhang mit Kriminalität erscheint. Zur Analogie zwischen Fedja und Stalin siehe auch Johnson 2012/13. Vgl. dazu S. Lessing Baehr, The Paradise-Myth in Eighteenth-Century Russia. Utopian Patterns in Early Secular Russian Literature and Culture. Stanford 1991, S. 160. Vgl. hierzu ausführlich L. Lotman, „I ja by mog, kak ńut…Ŗ. In: Vremennik puńkinskoj komissii. 1978. Leningrad 1981, S. 46Ŕ59. Hierzu A. L. Crone, The Daring of Derņavin. The Moral and Aesthetic Independence of the Poet in Russia. Bloomington, Indiana 2001.

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Literatur und Anmerkungen

47 Ebd., insbes. Kap. 9. 48 Zu dieser und anderen Parallelen zwischen dem realen und dem fiktiven Platonov vgl. Chandler 2002, S. 186 f. Allgemein zur Bedeutung Andrej Platonovs für Ńalamov vgl. Ĉervjakova 2007. Zur Debatte um Ńalamovs Verwendung des Namens Platonov siehe Johnson 2012/13. 49 Siehe das Kapitel Ŗ ŘSocialist Realistř Platonovŗ (1934Ŕ1951) in: Th. Seifrid, Andrei Platonov. Uncertainties of Spirit. Cambridge 1992, S. 176Ŕ198. Seifrid zeigt, wie Platonov auch dort, wo er den offiziellen Vorgaben gerecht zu werden versucht, den engen Spielraum ausreizt, um seiner eigenen Poetik so weit als möglich treu zu bleiben. R. Johnson weist darauf hin, dass Ńalamov in seiner Korrespondenz Andrej Platonovs Biographie unter einem Ŗnarrative arcŗ präsentiert, der sich ebenso auf den fiktiven Platonov anwenden lässt: Ŗa narrative that, in its emphasis of the writerřs humility, suffering and ultimate death, may even suggest a sort of martyrdomŗ. Johnson 2012/13. 50 So sieht es Chandler 2002. 51 Dass Ńalamov den Namen Platonovs womöglich als repräsentative Chiffre für eine bestimmte Kategorie von Schriftstellern verwendet, zieht auch Chandler in Betracht, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Chandler 2002, S. 187 f. 52 Hier erweist sich Platonov als alter ego Ńalamovs, der in „Ĉto ja videl i ponjal v lagereŖ mit Stolz davon spricht, nie jemanden denunziert zu haben: „И физические и духовные силы мои оказались крепче, чем я думал, ŕ в этой великой пробе, и я горжусь, что никого не продал, никого не послал на смерть, на срок, ни на кого не написал доносаŖ (IV, 626). Zur grassierenden Denunziation im Lager vgl. zum Beispiel Ńalamovs Erzählung „Inņener KiselevŖ (I, 472).

Aleksandr Solņenicyn (1918Ŕ2008)

S. 557

Text „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ (Ein Tag des Ivan Denisoviĉ) nach: A. Solņenicyn, Sobranie soĉinenij. Hg. N. D. Solņenicyna. 9 Bde. Moskau 1999Ŕ2005. Bd. 1, S. 7Ŕ122. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Übers. v. M. Hayward u. R. Hingley. München 1963. Literatur A. TVARDOVSKIJ, „Odin den' Ivana DenisoviĉaŖ. Vmesto predislovija. In: Novyj mir. 1962. 11, S. 8Ŕ9. V. ŃALAMOV, A. I. Solņenicynu [(1962) „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ]. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. Sirotinskaja. 6 Bde. Moskau 2004Ŕ2005. Bd. 6, S. 276Ŕ289. Dt. Übers.: Ńalamov an Aleksandr Solņenicyn. In: Das Lager schreiben. Varlam Ńalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Hg. M. Sapper u. a. Berlin 2007, S. 125Ŕ136. V. ZAVALIŃIN, Povest' o „mertvych domachŖ i sovetskom krest'janstve. Ob „Odnom dne Ivana DenisovicaŖ A. Solņenicyna. In: Grani 54. 1963, S. 133Ŕ150. V. LAKŃIN, Ivan Denisoviĉ, ego druz'ja i nedrugi. In: Novyj mir. 1964. 1, S. 223Ŕ245. E. FOJTIKOVA, Realismus Solņenicovy novely „Jeden den Ivana Děnińoviĉe". In: Ĉeskoslovenská rusistiká 64, 9. 1964. S. 34Ŕ38. L. RŅEVSKIJ, Obraz rasskazĉika v povesti Solņenicyna „Odin den' Ivana DenisoviĉaŖ. In: Studies in Slavic Linguistics and Poetics in Honor of Boris O. Unbegaun. Hg. R. Magidoff. New York 1968, S. 165Ŕ178. G. LUKÁCS, Solschenizyn. „Ein Tag im Leben des Ivan Denissoviĉ". In: Ders., Solschenizyn. Neuwied 1970, S. 5Ŕ29. A. ROTHBERG, One Day. Four Decades. In: Ders., Aleksandr Solzhenitsyn. The Major Novels. Ithaca, New York 1971, S. 19Ŕ59. L. RZEVSKIJ, Ivan Denisoviĉ Ŕ Zotov Ŕ Matrena. In: Ders., Tvorec i podvig. Oĉerki po tvorĉestvu Aleksandra Solņenicyna. Frankfurt/M. 1972, S. 53Ŕ75. R. PLETNEV, „Odin den' Ivana DenisoviĉaŖ. In: Ders., A. I. Solņenicyn. 2. Aufl. Paris 1973, S. 10Ŕ22. C. MOODY, ŖOne Day in the Life of Ivan Denisovichŗ and ŖMatryonařs Homeŗ. In: Ders., Solzhenitsyn. Edinburgh 1973,

Aleksandr Solņenicyn: Odin denř Ivana Denisoviĉa

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Literatur und Anmerkungen

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men nennen.Ŗ A. Solņenicyn, Sobranie soĉinenij. Hg. A. N. Artemova. 6 Bde. Frankfurt/M. 1969Ŕ1971. Bd. 5, S. 242. Daix 1974, S. 11Ŕ13. Siehe Glocer, Ĉukovskaja 1998, S. 21Ŕ38. Thomas 1998, S. 265. A. Solņenicyn, Bodalsja telenok s dubom. Oĉerki literaturnoj ņizni. Moskau 1996, S. 41. Zum literarischen Eigenwert von Texten der Lagerliteratur vgl. T. Taterka, Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin 1999, S. 147Ŕ191. ŖThere is no explicit generalisation in One Day. There are no politically motivated characters and Solzhenitsyn refrains from any overt political statement on the burning issues raised by the very existence of the camps.ŗ Vgl. Moody 1973, S. 31. Vgl. M. M. Bachtin, Voprosy literatury i ėstetiki. Moskau 1975. Dt. Übers.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Übers. v. M. Dewey. Frankfurt/M. 1989. Tvardovskij 1962, S. 8. Solņenicyn, s. Anm. 8, S. 28. Jackson 1982, S. 245. Fojtíková spricht von „sebeomezenìŖ. Vgl. Fojtìková 1964, S. 34; Moody von „selfdisciplineŖ des Autors. Vgl. Moody 1973, S. 35. Pletnev 1973, S. 12. Die genaueste Beschreibung der fließenden Übergänge zwischen personaler und auktorialer Erzählperspektive liefern Kodjak 1978, S. 27 f. und Rņevskij 1972, S. 58 f. Dunn spricht treffend von einer „ ‚Von-Innen-Heraus-PerspektiveŘ Ŗ, untermischt mit gewissen auktorialen Elementen. Vgl. Dunn 1988, S. 63Ŕ65. Was für die Übersetzung in andere Sprachen hohe Hürden errichtet (vgl. Daix 1974, S. 12Ŕ14; Klimoff 1976, 132Ŕ139). Vgl. zur Sprache der Erzählung Bartmann 1978. Foucault macht sich für seine These von der Verschärfung der Kontrollmechanismen in der Moderne in „Surveiller et punirŖ mit der Bezeichnung von Gefängnissen als „institutions complètes et austèresŖ (totale und asketische Institutionen) einen Ausdruck von L. Baltard von 1829 zu eigen. Vgl. M. Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison. Dt. Übers.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. W. Seitter. 9. Aufl. Frankfurt/M. 1995. S. 301. Ispravitelřno-trudovoj lagerř (ITL); siehe dazu R. Stettner, „Archipel GulagŖ. Stalins Zwanglager Ŕ Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928Ŕ1956. Paderborn 1996, S. 194 f. G. Herling(-Grudziński), Inny świat. Dt. zit. nach: Welt ohne Erbarmen. Köln 1953, S. 266. Vgl. Ericson 1980, S. 37. „StakanovecŖ ist eine Kontamination des Ehrentitels für sowjetische Stoßarbeiter „stachanovecŖ und des russischen Wortes für Trinkglas „stakanŖ Ŕ weshalb „stakanovecŖ als scherzhafte Bezeichnung eines Alkoholikers verwendet wird. Sujetgrundlage des Films „Człowiek z marmuruŖ (Der Mensch aus Marmor). Regie: Andrzej Wajda (1976). Eingehender dazu Scammell 1984, S. 433 f. Vgl. A. Tvardovskij, Raboĉie tetradi 60-ch godov. In: Znamja. 2000. 7, S. 129; Solņenicyn, s. Anm. 8, S. 41. Lakńin 1964, S. 235 „Im Grunde konnte der einem ja Leid tun. Der würde das Ende seiner Strafe nicht erleben. Dazu musste man sich durchsetzen können, und das konnte der nicht.Ŗ In: Solņenicyn, s. Text, S. 109 „Litote devant les faits.Ŗ Daix 1974, S. 23. R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968, S. 49.

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Literatur und Anmerkungen

30 Francis Barker rechnet „Odin denř Ivana DenisoviĉaŖ zur ersten Phase im Solņenicynschen Werk Ŕ zusammen mit „V kruge pervomŖ (Der erste Kreis) und „Rakovyj korpusŖ (Krebsstation); siehe Barker 1977, S. 5 Ŕ, in der Solņenicyn als Autor und Erzähler noch wenig ideologisch explizite Urteile abgab. 31 „Practically irrelevantŖ, so Moody 1973, S. 48. 32 M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Konfuzianismus und Taoismus. In: Ders., Gesamtausgabe. Hg. H. Baier u. a. Abt. I. Bd. 19. Tübingen 1989, S. 110; Ders., Briefe 1909Ŕ1910. In: Ders., Gesamtausgabe. Hg. H. Baier u. a. Abt. II. Bd. 6. Tübingen 1994, S. 65. J. Habermas, Glauben und Wissen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 15. 10. 2001, S. 9. 33 Zur religiösen Dimension eingehender: Rothberg 1971, S. 34Ŕ36. 34 Vgl. Allaback 1978, S. 26, 38. In „Archipelag GULagŖ serviert Solņenicyn später folgende überexplizite Sinngebung für das Lagerleiden: „Gesegnet seist du, Gefängnis, dass du in meinem Leben warst!Ŗ Solņenicyn, Sobranie soĉinenij. 18 Bde. Paris 1978Ŕ1988. Bd. 6, S. 571. 35 V. Erofeev, Russkie cvety zla. In: Russkie cvety zla. Hg. V. Erofeev. Moskau 1997, S. 7Ŕ 30, hier: S. 9. 36 Zit. nach: D. Kretzschmar, I. de Keghel, Braucht Rußland Solshenizyn? Die Rückkehr des Dichters im Spiegel der russischen Presse. In: Osteuropa 45. 1995, S. A 5. 37 Ĉalmaev 1994, S. 6 f.

Sergej Dovlatov (1941Ŕ1990)

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Literatur und Anmerkungen

risches Subjekt oder seine „MaskeŖ mit seinem realen Autor zu einer neuen Größe vermischen. A. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. 2. Aufl. Wien 1996, S. 416. Die Station Rom entspricht nicht Dovlatovs tatsächlicher Emigrationsroute. Nach einem halbjährigen Aufenthalt in Wien reiste er direkt nach New York, wo bereits seine Frau und seine Tochter waren. Vgl. Suchich 2012 (a), S. 411. Vgl. den Eintrag in Dovlatovs Notizbuch „Solo na IBMŖ (Solo auf einer IBM, New York, 1979Ŕ1990) über Marcel Proust: „Schöpfertum heißt: Kampf mit der Zeit. Sieg über die Zeit. Das heißt Sieg über den Tod. Ausschließlich damit hat sich Proust beschäftigt.Ŗ S. D. Dovlatov, „Zapisnye kniņkiŖ. In: Ders., s. Text, Bd. 4, S. 157Ŕ304, hier: 256. In der Erstpublikation in der Emigrationszeitschrift „GraniŖ (Nr. 37, 1985) fehlte die Erzählung über die Jacke von Fernand Léger, in allen Buchpublikationen seit der Ausgabe im Verlag Ėrmitaņ (Tenafly, NJ.) von 1986 ist sie fester Bestandteil des Zyklus. Brief an Natalřja Kuznecova vom 4. April 1985. S. Dovlatov, SkvozŘ dņungli bezumnoj ņizni. Pisřma k rodnym i druzřjam. Petersburg 2003, S. 274. Vgl. Suchich 2012 (a), S. 408. Brief an Andrej Arřev vom 12. April 1990. Dovlatov, s. Anm. 15, S. 364. Im Brief an Julija Gubareva vom 24. Dezember 1982 schreibt Dovlatov: „Gespräche über abstrakte Themen (Christus, Andropov, Tarkovskij und co.) sind in Amerika ein viel größerer Luxus als ein Nerzmantel.Ŗ Ebd., S. 309. In seinem Essay „Blesk i nińĉeta russkoj literaturyŖ (Glanz und Elend der russischen Literatur, 1982) bedauert Dovlatov, dass sich Solņenicyn im Westen zu einem russisch-nationalistischen Ideologen gewandelt habe. S. D. Dovlatov, Blesk i nińĉeta russkoj literatury. In: Ders., s. Text, Bd. 4, S. 427Ŕ444, hier: S. 437 f. Civřjan 1995, S. 650. Suchich 1996, S. 197. Genis 2011, S. 261. Civřjan 1995, S. 653. Vgl. W. J. Connolly, Boris Vakhtinřs ŖThe Sheepskin Coatŗ and Nikolai Gogolřs ŖThe Overcoatŗ. In: Studies in Russian Literature in Honor of Vsevolod Setchkarev. Hg. W. J. Conolly u. a. Columbus, Ohio 1986, S. 74Ŕ86. Vachtin gehörte wie Dovlatov der Leningrader Schriftstellergruppe „GoroņaneŖ (Die Städter) an. Zum „Petersburger TextŖ (Vladimir Toporov) im Zusammenhang mit „ĈemodanŖ vgl. Young 2009, S. 134, 139. Brodskij schreibt in seinem Text „O Sereņe DovlatoveŖ (Über Sereņa Dovlatov, 1992), das „Gefühl der Absurdität von allem, was ihn umgabŖ, sei für Dovlatov einer der Hauptantriebe zum Schreiben gewesen. I. Brodskij, O Sereņe Dovlatove. In: Zvezda. 1992. 2, S. 4. Young 2009, S. 132Ŕ135. Vgl. die sehr ähnliche Pointe in Ėlřdar Rjazanovs bis heute äußerst populärem Film „Ironija sudřby ili S legkim paromŖ (Die Ironie des Schicksals oder Mit leichtem Dampf, 1975). Beredtes Zeugnis von diesem Phänomen legen die in einer neuen Anthologie versammelten Manifeste, Essays, Zeitungsartikel sowie poetischen Texte ab: A. Henning (Hg.), Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde. Hamburg 2010. Vgl. auch I. S. Kukuj, Koncept „veńĉřŖ v jazyke russkogo avangarda. München 2010. Young 2009, S. 156 f. Ėrenburgs Erzählzyklus über dreizehn Tabakpfeifen wird von Dovlatov selbst in formaler Hinsicht als ein Vorbild für „ĈemodanŖ angeführt. Vgl. den Brief an Natalřja Kuznecova vom 4. April 1985. Dovlatov, s. Anm.15, S. 274. Vgl. zu Dovlatov und der Postmoderne Lipoveckij 1999 und Bogdanova 2004. Suchich 1996, S. 191 f.

Sergej Dovlatov: Ĉemodan

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32 Dovlatov, s. Anm. 12, S. 254. 33 Arpińkin 1991, S. 4. 34 Eliseev 1994, S. 223, und ähnlich auch Genis, der davon spricht, Dovlatov habe danach gestrebt, die „Wortkultur (slovesnostř) von der Literatur zu befreienŖ. Genis 1995, S. 468. 35 Auf die Rolle Hemingways für seine Generation kommt Dovlatov in einer Rezension zu Raisa Orlovas Studie „Cheminguėj v RossiiŖ (Hemingway in Russland, 1985) zu sprechen. S. D. Dovlatov, Papa i bludnye deti. In: Ders., Uroki ĉtenija. Filologiĉeskaja proza. Petersburg 2010, S. 288Ŕ292. 36 V. T. Ńalamov, O proze. In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. P. Sirotinskaja. 4 Bde. Moskau 1998. Bd. 4, S. 357Ŕ370, hier: 363. 37 Brodskij, s. Anm. 25, S. 5. Zum „RhythmusŖ als von der „FabelŖ unabhängiger Hauptqualität von Dovlatovs Prosa vgl. auch Eliseev 1994, S. 219. 38 Vgl. Lipoveckij 1999, S. 275. 39 Dovlatov, s. Anm. 13, S. 249. 40 Genis 1995, S. 468. Suchich nennt Dovlatovs Prosa „horizontalŖ Ŕ im Unterschied zu Venedikt Erofeevs „vertikalerŖ Prosa; die Metaphysik bestimme bei Erofeev „die ganze StrukturŖ, bei Dovlatov sei sie bestenfalls ein „lokales ThemaŖ. Suchich 1999, S. 265. 41 Dovlatov, s. Anm. 18, S. 437 (Majuskeln im Orig.). Dovlatovs erstem Notizbuch „Solo na UnderwudeŖ (Solo auf einer Underwood, Leningrad, 1967Ŕ1978) heißt es: „Man kann Hochachtung haben vor Tolstojs großem Geist. Begeistert sein von Puńkins Eleganz. Dostoevskijs moralische Suche interessant finden. Den Humor Gogolřs. Und so weiter. / Doch ähnlich sein möchte ich einzig und allein Ĉechov.Ŗ Dovlatov, s. Text, Bd. 4, S. 204 f. 42 Glėd, s. Anm. 8, S. 93. 43 „Vernutř ońĉuńĉenie normyŖ. Ebd. 44 Vgl. Martynova 2009. 45 Der Ausspruch ist in „Staraja zapisnaja kniņkaŖ (Das Alte Notizbuch) von Petr Vjazemskij überliefert: „Karamzin pflegte zu sagen, dass, wenn man auf die Frage antworten müsste: was geht in Russland vor sich, man antworten müsste: es wird gestohlen.Ŗ P. A. Vjazemskij, Staraja zapisnaja kniņka. Hg. L. Ja. Ginzburg. Moskau 2000, S. 47 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. dazu Suchich 2012 (a), S. 413. 46 Dem Steinmetz Ĉudnovskij ist der Programmbegriff „metaphysischer SynthetismusŖ von Ńemjakin und dessen Künstlergruppe „PeterburgŖ in den Mund gelegt. Vgl. ebd., S. 414. 47 Vgl. Camusř ideologiekritische Essaysammlung „Lřhomme révoltéŖ (1951). 48 Zum „SelbsthassŖ als Voraussetzung für eine moralische Rechtfertigung des Menschen bei Dovlatov siehe Semkin 2012, S. 60. Hier könnte man, die Verweise Youngs auf den Existentialismus weiterführend, auch Camusř Roman „La chuteŖ (1956) über den „BußrichterŖ (juge-pénitent) Clamence erwähnen. 49 Ein literarisches Modell dieser Anlage ist Marc Twains Erzählung „The Prince and the PauperŖ. Siehe Young 2009, S. 149 f. 50 Zur Debatte über die „fizikiŖ (Physiker) und die „lirikiŖ (Lyriker) siehe ebd., S. 150 f. 51 Zitat aus Puńkins Gedicht „OsenřŖ (Herbst, 1833). 52 V. Krivulin, Poėzija i anekdot. In: Maloizvestnyj Dovlatov. Hg. A. Ju. Arřev. Petersburg 1996, S. 382. 53 Eliseev 1994, S. 221. 54 Nach Young ist die Kordjacke ein moderner „KönigsmantelŖ, weshalb am Ende Dovlatov und nicht Ĉerkasov der eigentliche „PrinzŖ sei. Young 2009, S. 149. 55 Zu dieser fast märchenhaften „EntfaltungŖ der Welt aus dem Koffer siehe Civřjan 1995, S. 650. 56 Vgl. zur neueren Erforschung der Breņnev-Ära: L. A. Bulavka, R. Krumm (Hg.), Zastoj. Diskontenty SSSR. Moskau 2010.

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Literatur und Anmerkungen

57 Zu den drei über Dovlatovs Erzählwerk verteilten Versionen der Bekanntschaft mit seiner Frau Elena siehe Suchich 1996, S. 199, und Salřmon 2012, S. 147. 58 Dovlatov, s. Text, Bd. 2, S. 247 f. (meine Hervorhebung Ŕ Ch. Z.). 59 „Wie kommt es, dass ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist leer, alles ist Lüge, außer diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts außer ihm. Doch auch er ist wohl nicht, nichts ist, außer der Stille, der Ruhe. Gott sei Dank!Ŗ L. N. Tolstoj, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Ĉertkov u. a. 90 Bde. Moskau 1928Ŕ1958. Bd. 9, S. 344. 60 Das literarische Modell dieses Einfalls könnte Vladimir Majakovskijs Gedicht „Poslednjaja peterburgskaja skazkaŖ (1916) sein. Vgl. B. M. Paramonov, Solņenicyn i Dovlatov. In: O Dovlatove. Statři, recenzii, vospominanija. Hg. E. Dovlatova. New York 2001, S. 134. 61 Auf Verbindungen zu Vladimir Sorokins Roman „OĉeredřŖ (Die Schlange, 1983) geht Young 2009, S. 155, ein. 62 Vgl. Suchich 2012 (a), S. 424. 63 Paramonov, s. Anm. 60, S. 134.

Ljudmila Petruńevskaja (*1938)

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Text „MedejaŖ (Medea) nach: L. Petruńevskaja, Sobranie soĉinenij. 5 Bde. Charřkov 1996, Bd. 2, S. 41Ŕ48. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Medea. Übers. v. A. Leetz. In: L. Petruschewskaja, Auf Gott Amors Pfaden und andere Erzählungen. Berlin 1994. Literatur N. KOLESNIKOFF, The Narrative Structure of Liudmila Petrushevskaiařs Short Stories. In: Canadian Slavonic Papers 32. 1990, S. 444Ŕ456. W. SCHMID, Laudatio auf Ljudmila Petruńevskaja. In: Wiener slavistischer Almanach 29. 1992, S. 175Ŕ184. N. MILMAN, [ŖMedejaŗ]. In: Dies., One Woman's Theme and Variations. The Prose of Lyudmila Petrushevskaya. Diss. Ann Arbor, Michigan 1993, S. 67,127. H. GOSCILO, Mother as Mothra. Totalizing Narrative and Nuture in Petrushevskaia. In: A Plot of Her Own. The Female Protagonist in Russian Literature. Hg. S. S. Hoisington. Evanston, Illinois 1995, S. 102Ŕ113, 157Ŕ161. A. BARSACH, O rasskazach L. Petruńevskoj. Zametki autsajdera. In: Postskriptum. Literaturnyj ņurnal. 1995. 1, S. 244Ŕ269. K. HIELSCHER, Sozialpathologie oder: Russische Alltagsmythen. Zur Prosa der Ljudmila Petruschewskaja. In: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 42. 1995, S. 348Ŕ353. K. HIELSCHER, Gerede Ŕ Gerücht Ŕ Klatsch. Mündlichkeit als Form weiblichen Schreibens bei Ljudmila Petruńevskaja. In: Frauenbilder und Weiblichkeitsentwürfe in der russischen Frauenprosa. Materialien des wissenschaftlichen Symposiums in Erfurt 1995. Hg. Ch. Parnell. Frankfurt/M. 1996 (a), S. 183Ŕ192. K. HIELSCHER, Alltag und Mythos. Zur Prosa Ljudmila Petruschewskajas. Ein Diskussionsbeitrag [„MedeaŖ]. In: Jenseits des Kommunismus. Sowjetisches Erbe in Literatur und Film. Hg. E. Cheauré. Berlin 1996 (b), S. 49Ŕ57. K. HIELSCHER, Von der Humanität des Klatsches. Zur Entwicklung der Prosa von Ljudmila Petruńevskaja. In: Enttabuisierung. Essays zur russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Hg. J.-U. Peters u. G. Ritz. Bern 1996 (c), S. 105Ŕ116. S. ŅELOBCOVA, Proza Ljudmily Petruńevskoj. Jakutsk 1996. M. KATZ, The Other Woman. Character Portrayal and the Narrative Voice in the Short Stories of Liudmila Petrushevskaia. In: Women and Russian Culture. Projections and Self-Perceptions. Hg. R. Marsh. New York 1998, S. 188Ŕ197. U. BORGWARDT, Mythos und Märchen. Die Balance der Ljudmila Petruńevskaja zwischen Tragik und Licht [„MedeaŖ]. In: Das XX. Jahrhundert. Slavische Literaturen im Dialog mit dem Mythos. Hg. A. Richter u. E. G. Muńĉenko. Hamburg 1999, S. 179Ŕ193. A. SMITH, Representation of

Ljudmila Petruńevskaja: Medeja

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Literatur und Anmerkungen

in Anlehnung an Charms „SluĉaiŖ (Fälle, 1933 Ŕ1939) „Moskovskie sluĉaiŖ (Moskauer Fälle) betitelt. Zur literarischen Verwandtschaft von Petruńevskaja und Charms siehe Schmid 1992, S. 176, und Hielscher 1996 (a), S. 189. Der Name Medea bedeutet „die mit dem guten RatŖ. In dieser Bedeutung könnte man den Erzählungstitel „MedejaŖ auch als ironische Bezugnahme auf die Erzählerin verstehen. Ohne Unterlass erteilt sie dem Taxifahrer Ratschläge, doch erweisen sich diese als völlig nutzlos und letztlich als Zeichen ihrer absoluten Ratlosigkeit. Damit kehrt sich die Gesprächssituation im Verlauf der Taxifahrt um: Während es zu Beginn der Fahrer war, der nur kurze Kommentare abgab, und die Erzählerin das Gespräch dominierte, nehmen die Redeanteile des Taxifahrers gegen Ende der Fahrt zu, während die Rede der Erzählerin immer weiter zurückgenommen wird. Interessanterweise legt die Erzählerin gegenüber den Äußerungen des Taxifahrers ein Differenzierungsvermögen an den Tag, das ihr im Blick auf ihre eigenen Geschichten fehlt. So entkräftet sie zum Beispiel die Deutungsansätze des Taxifahrers, der den Mord seiner Frau mit deren geistiger Verwirrung in Verbindung bringt, mit der Bemerkung „Aber das ist doch etwas ganz anderes!Ŗ (47). Die deutsche Übersetzung der Erzählung von Antje Leetz, s. Text, ist in dieser Hinsicht irreführend. Der Erzählerin wird im letzten Abschnitt der deutschen Übersetzung ein Urteil über den Taxifahrer zugeschrieben, das im Originaltext nicht vorhanden ist. Vgl. Dalton-Brown 2000, S. 79. Trotz ihrer rhetorischen Distanzierungsversuche gelingt es der Erzählerin letztlich nicht, sich einer Bindung, die durch die Erzählung des Taxifahrers entstanden ist, zu entziehen. Als das Taxi anhält, steigt sie zunächst nicht aus. Das Bedürfnis, dem Taxifahrer irgendetwas (Tröstliches?) zu sagen, hindert sie daran (vgl. S. 46). Zur Bewältigung von Welt durch das Gerede des Alltags in Petruńevskajas Erzählungen siehe Hielscher 1996 (b), S. 51, und Laird, s. Anm. 3, S. 27. Vgl. „MythosŖ. In: Brockhaus. Enzyklopädie online. http://www.brockhaus-enzyklopaedie.de. Abgerufen am: 17. 07. 2013. J. Sløk, Mythos, begrifflich und religionspsychologisch. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Hg. K. Galling. 6 Bde. 3. Aufl. Tübingen 1957Ŕ1962. Bd. 4, Sp. 1263Ŕ1268, Ebert 2000, S. 120. Mit Bezugnahme auf S. Weigel (Die Stimme der Medusa, Hamburg 1989) weist Goes in ihrer Interpretation von Petruńevskajas „MedejaŖ darauf hin, dass Texte, die Mythen rezipieren, dazu tendieren, die generellen Funktionen von Mythen für den Menschen (mit)zu reflektieren. Vgl. Goes 2000, S. 215. Die zweite wirkmächtige Verarbeitung des Medea-Mythos aus der Antike stammt von dem römischen Stoiker Seneca, ebenfalls unter dem Titel „MedeaŖ. Siehe dazu zum Beispiel Ebert 2000, S. 97 f., und K. Roeske, Die verratene Liebe der Medea. Text, Deutung, Rezeption der „MedeaŖ des Euripides. Würzburg 2007, S. 136Ŕ142. Zu Herkunft, Elementen und Verarbeitungen des Medea-Stoffes siehe zum Beispiel: Mythos Medea. Hg. L. Lütkehaus. Leipzig 2001 und E. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 10. Aufl. Stuttgart 2005, S. 591Ŕ 596. Zur Medea-Rezeption vor allem des 20. Jahrhunderts vgl. I. Stephan, Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln 2006 und Roeske, s. Anm. 18. Zu Versionen des Medea-Mythos, in denen Medea durch Pathologisierung entschuldet wird, vgl. Stephan, s. Anm. 19, S. 2. Ähnlich bei Goes 2000, S. 218. Vgl. Hielscher 1996 (b), S. 53, Ebert 2000, S. 104, und Goes 2000, S. 218. Zur Transposition mythischer Stoffe in die familiäre Alltagswelt der Gegenwart bei Petruńevskaja siehe auch Goscilo 1995, S. 104: ŖFamily in Petrushevskaia as in Greek tragedy, metonymizes the human conditionŗ. Goscilo bezeichnet Petruńevskaja als moderne Reinkarnation der griechischen Tragödiendichter („a modern reincarnation of ancient Greek tragediansŖ). Ebd., S. 191, Anm. 28. Zu Petruńevskaja als einer Tragödienschreiberin siehe

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auch M. Lipoveckij, Tragedija i malo li ĉto eńĉe. In: Novyj mir. 1994. 10, S. 229Ŕ232. Im Interview mit Laird spricht Petruńevskaja selbst vom „homerischen LeidenŖ der Protagonisten ihrer Prosa. Vgl. Laird 1999, S. 40. Vgl. Goes 2000, S. 218, und Ebert 2000, S. 105. Einen interessanten Vergleich unter motivischem und erzähltechnischem Aspekt versprechen Petruńevskajas Erzählung „MedejaŖ und „Medea reduxŖ, der dritte Teil von Neil La Butes Dramentrilogie „bash. latterday playsŖ (1999). Im Drama des amerikanischen Autors, der die Medea-Handlung ebenfalls in die Alltagswelt der Gegenwart versetzt, geht es wie bei Petruńevskaja um eine namenlose Frau, die nach der Tötung ihres Kindes im Gefängnis sitzt, wo sie jedoch, im Unterschied zu Petruńevskajas Medea, selbst ihre Geschichte erzählt. Vgl. Goes 2000, S. 217 f. Goes 2000, S. 217. Ebert spricht passenderweise von einem „PuzzleŖ. Ebert 2000, S. 104. Stephan, s. Anm. 19, S. 141. Siehe auch Dalton-Brown 2000, S. 80: Ŗ[T]he woman is never named, her identity becomes swallowed within the communal myth of the Medea figure.ŗ Eine andere Deutung gibt Borgwaldt. Sie versteht die „LeerstellenŖ in „MedejaŖ nicht als einen Widerstand gegen die Vereinnahmung durch den Mythos, sondern gerade als Entsprechung der grundsätzlichen Offenheit des Mythos, „der zwar Grundmuster vorgibt, aber in seinen Ausprägungen ständig variieren kannŖ. Borgwaldt 1999, S. 191. Petruńevskaja verleitet den Leser durch den Titel ihrer Erzählung dazu, die Frau des Taxifahrers als Kindsmörderin zu betrachten, obgleich dies im gesamten Text keine eindeutige Bestätigung (wenngleich auch keine klare Widerlegung) erfährt. Anregungen zur Reflexion über das Verhältnis von Titel und Text in der Literatur bietet H.-J. Gerigk, Titelträume. In: Ders., Lesen und Interpretieren, Göttingen 2002, S. 7Ŕ16. Zur Spannung zwischen Alltag und Mythos, Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit in Petruńevskajas Prosa siehe auch Hielscher 1996 (b) und Goscilo, s. Anm. 4, S. 223. Für diesen Verlust eines Lebenssinns steht auch die Andeutung eines Selbstmordversuchs des Taxifahrers (45). Die Ehefrau des Taxifahrers geht zwar mit blutigem Messer und mit einer Axt zur Polizei und meldet den Tod ihrer Tochter. Allerdings sagt sie nicht, sie habe die Tochter getötet, sondern „meine Tochter ist umgekommenŖ (pogibla moja doĉŘ, 47). Der Gang zur Polizei sowie die Aussage des Taxifahrers gegenüber der Erzählerin, seine Frau habe die Tochter getötet (47), sind im Text die einzigen konkreteren Anhaltspunkte dafür, dass die Frau des Taxifahrers die Tochter tatsächlich ermordet hat. Zum religiösen Glauben vgl. den Kommentar des Taxifahrers zu den Möglichkeiten einer Wiederbegegnung mit seiner Tochter nach dem Tod: „Ich glaube nicht, dass sie im Himmel ist. Haben Sie schon einmal das Bewusstsein verloren? […]. Mich hat man nach dem Tod zurückgeholt. Ich erinnere mich an nichts. Dort gibt es nichts. […]. Ich habe keinen GlaubenŖ (Ja ne verju, 45). Einen Bezug zu „Prestuplenie i nakazanieŖ konstatiert bereits Ebert 2000, S. 106. Für sie hat die Bezugnahme auf Dostoevskij ihre Bedeutung darin, dass sie den Vorfall in der russischen Tradition und Lebenswelt verortet. Ein grundsätzlicher Unterschied der beiden Texte besteht freilich darin, dass Raskolnikov in Dostoevskijs Roman tatsächlich der physische Mörder ist, dem die Strafjustiz jedoch nichts nachweisen kann, während der Taxifahrer bei Petruńevskaja die Tochter nicht ermordet hat. Im Unterschied zu Petruńevskajas Erzählung gewinnt die Frage nach dem (christlichen) Glauben für die Schuldproblematik in „Prestuplenie i nakazanieŖ eine zentrale Bedeutung. ŖI write above all about children […]. What happens to the children when people treat each other the way they do? […] Those questions are at the heart of my stories and plays.ŗ Zit. nach: Laird, s. Anm. 3, S. 46 f.

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Literatur und Anmerkungen

37 Goscilo, s. Anm. 4, S. 104 f. weist darauf hin, dass die Wirkung von Petruńevskajas Texten ganz wesentlich auf der Umkehrung des traditionellen Bildes der russischen Mutter als sorgende und ihren Nachwuchs bis zur Selbstaufgabe hin schützende Bezugsperson besteht. 38 Die Interpretationen des Medea-Mythos differieren nicht nur darin, dass sie Medea unterschiedliche Motive des Handelns (Rache, Wahnsinn) unterstellen, sondern auch darin, inwieweit sie anderen Handlungsträgern eine (Mit-)Schuld am Geschehen zuschreiben, vor allem dem Ehemann Jason und der Gesellschaft der Korinther. Vgl. Frenzel, s. Anm. 19, und Stephan, s. Anm. 19. 39 Vgl. Anmerkung 19. 40 Vgl. Stephan, s. Anm. 19, S. 2 f. 41 Stephan konstatiert eine anhaltende Attraktivität des Medea-Mythos auch im frühen 21. Jahrhundert. Ebd., S. 5. 42 Die Aufteilung in diese vier Konfliktfelder folgt Stephan. Ebd., S. 4 f. 43 Zu Medea im Kontext weiblichen Schreibens und im feministischen Diskurs vgl. Ebert 2000, S. 100Ŕ103, und Stephan, s. Anm. 19, S. 158Ŕ167, 197. 44 Bezeichnenderweise beziehen sowohl Ebert als auch Goes in ihre Untersuchungen zum Medea-Mythos in der Literatur russischer Gegenwartsautorinnen Christa Wolfs „Medea. StimmenŖ (1996) vergleichend ein. Ebert bezeichnet Wolfs „MedeaŖ als politischen Text, der die „Probleme der Ost-West-VereinigungŖ verhandle. Vgl. Ebert 2000, S. 102. 45 Vgl. Goes 2000, S. 216, und Ebert 2000, S. 103. Zu diesem Ergebnis führt auch ein Blick in das von E. K. Romodanovskaja herausgegebene bibliographische Motivlexikon, das Verarbeitungen des Medea-Mythos in der russischen Literatur zwischen 1771Ŕ2006 aufführt: Medeja. In: SlovarŘ-UkazatelŘ sjuņetov i motivov russkoj literatury. Eksperimentalřnoe izdanie. ĈastŘ 2. Hg. E. K. Romodanovskaja. 3. Aufl., Novosobirsk 2008, S. 234Ŕ 236. 46 Eine Zunahme der Medea-Rezeption in der russischen Literatur lässt sich bereits ab Mitte der 1980er Jahre beobachten. Vgl. ebd., S. 235. 47 Vgl. zum Beispiel bei Lütkehaus, s. Anm. 19, Frenzel, s. Anm. 19, Stephan, s. Anm. 19. 48 Explizit in der Perspektive des Geschlechterdiskurses untersucht Christine Ebert Petruńevskajas Erzählung. Vgl. Ebert 2000. 49 ŖI donřt regard myself as a Řwomenřs writerř.ŗ Zit. nach: Laird, s. Anm. 2, S. 46 f. Siehe auch J. R. Döring, Ljudmila Petruschewskaja (geb. 1938). Dichterin, Dramatikerin, Chansonnière. In: Dies., Von Puschkin bis Sorokin. Zwanzig russische Autoren im Porträt. Wien 2013, S. 279. 50 „Petruńevskajas Medea lebt nur in den sprachlichen Zeugnissen des Mannes. […]. Sie ist nur die reduzierte Projektion einer FigurŖ. Goes 2000, S. 218. 51 Ŗ[C]ity folklore […] Ŕ the folklore of chance encounter.ŗ Zit. nach: Laird, s. Anm. 2, S. 46. 52 Vgl. Hielscher 1996 (a), S. 186 ff. 53 Zu Form, Tradition und literarischer Stilisierung von Petruńevskajas „StadtfolkloreŖ vgl. zum Beispiel Hielscher 1996 (a) und 1996 (b), Lipoveckij, s. Anm. 22, Schmid 1992. 54 ŖRussia is a land of women homers.ŗ Zit. nach: Laird, s. Anm. 2, S. 39. 55 Vgl. den Titel von Hielscher 1996 (b). 56 Vgl. ebd., S. 51, und Laird, s. Anm. 2. 57 Zu Ĉechov siehe Petruńevskaja im Interview mit Laird, s. Anm. 2, S. 46. 58 Vgl. Lauer, s. Anm. 4, S. 876. 59 Brief Ĉechovs vom 30. 05. 1888. Zit. nach: Ĉechov. Freiheit von Gewalt und Lüge. Gedanken über Aufklärung, Fortschritt, Kunst, Liebe, Müßiggang und Politik. Hg. P. Urban. Zürich 1992, S. 86. Zur Nähe von Petruńevskajas Schreiben und Ĉechovs literarischem Ethos siehe zum Beispiel Schmid 1992, S. 177. 60 Vgl. Hielscher 1996 (b), S. 52.

Evgenij Popov: Vo vremena moej molodosti

783

61 Petruńevskaja im Interview. Zit. nach: Laird, s. Anm. 3, S. 35. Zur Funktion von Erzähler und Leser in Petruńevskajas Prosa siehe z. B. Katz 1998. 62 Vgl. Laird, s. Anm. 2, S. 42.

Evgenij Popov (*1946)

S. 594

Text „Vo vremena moej molodostiŖ (Zu meiner Jugendzeit). In: Zerkala. Alřmanach. Moskau 1989, S. 206Ŕ217. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Zu meiner Jugendzeit. Übers. v. R. Tietze. In: J. Popow, Wie es mit mir bergab ging. Erzählungen. Frankfurt/M. 1997. Literatur N. LEJDERMAN, M. LIPOVECKIJ, Meņdu chaosom i kosmosom. In: Novyj mir 1991. 7, S. 240Ŕ 258. R. ESHELMAN, Von der Moderne zur Postmoderne in der sowjetischen Kurzprosa. Zońĉenko Ŕ Paustovskij Ŕ Ńukńin Ŕ Popov. In: Wiener Slawistischer Almanach 31. 1993. S. 173Ŕ207. R. PORTER, Evgeny Popov. Introduction Ŕ Popovřs World, Love and Marriage, Fetisov. In: Ders., Russiařs Alternative Prose. Oxford 1994, S. 88Ŕ114. F. TCHOUBOUKOV-PIANCA, Die Konzeptualisierung der Graphomanie in der russischsprachigen postmodernen Literatur. München. 1995, hier S. 33Ŕ51. CH. ENGEL, Tabubrüche in der Prosa von Evgenij PopovŖ [„Vo vremena moej molodostiŖ]. In: Enttabuisierung. Essays zur russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Hg. J.ŔU. Peters u. G. Ritz. Bern 1996, S. 117Ŕ127. M. LIPOVETSKY, Yevgeny Popov. The Jesterřs Work. In: Ders., Russian Postmodernist Fiction. Dialogue with Chaos. New York 1999. S. 184Ŕ197. A. KASYMOV, Ńĉiglja. Evgenij Popov. DesjatŘ let tomu vperedŖ. In: Znamja 2000. 7, S. 221Ŕ223. J. MORRIS, From Chudak to Mudak? Village Prose and the Absurdist Ethics of Evgenii Popov. In: Modern Language Review 99, 3. 2004, S. 696Ŕ710. I. LUNDE, Footnotes of a Graphomaniac. The Language Question in Evgenii Popovřs The True Story of ‚The Green MusiciansŘ. In: Russian Review 68. 2009, S. 70Ŕ88. J. MORRIS, [ŖIn the Time of my Youthŗ]. In: Ders., Mastering Chaos. The Metafictional Worlds of Evgeny Popov. Bern 2013, S. 114Ŕ116. Anmerkungen 1 N. N. Berdjaev, Die Wahrheit der Philosophie und die Wahrheit der Intelligencija. In: Ders., Vechi. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz. Eingeleitet und aus dem Russischen übersetzt von Karl Schlögel. Frankfurt/M. 1990, S. 51Ŕ79, hier: S. 51 (Kursiv im Original). 2 Ebd., S. 53. 3 Ebd., S. 54. 4 Ebd., S. 60. 5 Ebd., S. 67. 6 A. Grigorřev, Izbrannye stichotvorenija. Hg. B. O. Kosteljanec. Leningrad 1959, S. 152Ŕ 154. 7 N. V. Gogolř, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. L. Meńĉerjakov. 14 Bde. Moskau 1937−1952. Bd. 6. Vgl. 1. Teil, 6. Kapitel. 8 Der Zeichentrickfilm „ĈudesnicaŖ (1957) ist abrufbar unter http://mults.info/mults/?id=2123 und der Text des erwähnten Unkraut-Lieds „Pesnja sornjakovŖ unter http:// www.det-sait.ru/teksti-detskich-pesen/pesnya-sornyakov. 9 „ĈudesnicaŖ. Mosfilřm. SSSR 1936. 10 Kursiv im Original. 11 „Legko na serdce ot pesni veseloj neodnokratnoŖ. http://texty-pesen.ru/legko-na-serdceot-pesni-veseloj.html; http://video.mail.ru/mail/pit-nik-1950/118/244.html

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Literatur und Anmerkungen

12 „Edut novosely.Ŗ Musik: Е. Rodygin, Text: N. Solochina (1954). Вьется дорога длинная, / Здравствуй земля целинная! / Здравствуй, простор широкий, / Весну и молодость встречай свою. http://sovmusic.ru/text.php?fname=edutnovo; 13 Die letzte Strophe dieses Lieds lautet: „Мне по радио недавно сказал милый: ‚ПриезжайŘ. Убирать к нему поеду стопудовый урожай.Ŗ Musik: K. I. Massalitinov, Text: M. I. Mordasova 1954. http://sovmusic.ru/text.php?fname=stopudov. 14 Abspielbar unter http://muzofon.com/search/урожай/1/. Dieser Link vermittelt auch einen Eindruck von der Fülle an Liedern mit dem Stichwort „uroņajŖ (Ernte) und „stopudovyj uroņajŖ (Rekordernte). 15 „Nań parovoz vpered leti!Ŗ Musik: N. Ostrovskij, Text: B. Skorbin 1922. „Мы дети тех, кто наступал / На белые отряды, / Кто паровозы оставлял / И шел на баррикады. // Припев: / Наш паровоз, вперед лети! / В Коммуне остановка, / Иного нет у нас пути, / В руках у нас винтовка. / Пойдем на бой мы, сыновья, / В рядах с отцами вместе, / Мы бьем врага Ŕ одна семья, / Горя единой местью.Ŗ Quelle: www.ngavan.ru/ gan/a01/b90/c0000/d1158/ind.shtml. 16 Mit diesem Kollegen ist Valerij Emelřjanov gemeint, der 1980 wegen Mordes an seiner Frau vor Gericht stand, jedoch für schizophren und daher schuldunfähig erklärt wurde. Die weitere Entwicklung der Ereignisse bestätigt die Vermutung, die in der Erzählung ausgesprochen wird: Nach sechs Jahren kam Emelřjanov frei und war bis zu seinem Tod im Jahr 1999 in rechtslastigen Kreisen um Aleksandr Dugin aktiv. 17 Berdjaev, Anm. 1, S. 75 f. 18 Ebd., S. 77. 19 Vgl. R. Bast, Kierkegaard, Sören (1813Ŕ1855). In: UTB Handwörterbuch Philosophie. Hg. W. D. Rehfus. Göttingen 2003. S. 142Ŕ146. 20 Vgl. A. Sommer, From Astronomy to Transcendental Darwinism. Carl du Prel (1839Ŕ 1899). In: Journal of Scientific Exploration, 23, 1. 2009, S. 59Ŕ68. 21 V. A. Ņukovskij, Sobranie soĉinenij. Hg. I. M. Semenko. 4 Bde. Moskau 1959. Bd. 1, S. 278Ŕ281.

Tatřjana Tolstaja (*1951)

S. 609

Text „Somnambula v tumaneŖ (Schlafwandler im Nebel) nach: T. Tolstaja, Reka Okkervilř. Rasskazy. Moskau 2003, S. 397Ŕ435. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Schlafwandler im Nebel. Übers. v. S. List. In: T. Tolstaja, Und es fiel ein Feuer vom Himmel. Sechs Erzählungen. Berlin 1992. Literatur A. GENIS, P. VAJLř, Gorodok v tabakerke Ŕ Proza Tatřjany Tolstoj. In: Sintaksis 24. 1988, S. 124−131. H. GOSCILO, Tatřiana Tolstaiařs ŖDome of Many-Coloured Glassŗ. The World Refracted through Multiple Perspectives. In: Slavic Review 47. 1988, S. 280−290. I. GREKOVA, Rastoĉitelřnostř talanta. Tatřjana Tolstaja. In: Novyj Mir. 1988. 1, S. 252−256. H. GOSCILO, Tolstoian Times. Transversals and Transfers. In: New Directions in Soviet Literature. Hg. S. D. Graham. New York 1992, S. 36−62. U. HEFTRICH, Winterabend mit Mamis Würstchen. Die Erzählerin Tatjana Tolstaja braucht kein Vorbild zu scheuen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 29. 8. 1992. S. T. WISNIEWSKA, [ŖSomnambula v tumaneŗ]. In: Dies., Narrative Structure in the Prose of Tatřjana Tolstaja. Diss. Ann Arbor, Michigan 1992, S. 39Ŕ42, 134Ŕ 145, 196Ŕ200, 230Ŕ251. H. GOSCILO, Perspective in Tatyana Tolstayařs Wonderland of Art. In: World Literature Today 67, 1. 1993, S. 80−90. N. IVANOVA, Bakhtinřs Concept of the Grotesque and the Art of Petrushevskaia and Tolstaia. In: Fruits of Her Plume. Essays on Contemporary Russian Womenřs Culture. Hg. H. Goscilo. Armonk, New York 1993, S.

Tatřjana Tolstaja: Somnambula v tumane

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21−32. S. DALTON-BROWN, A Map of the Human Heart. Tatyana Tolstayařs Topographies [ŖSomnambula v tumaneŗ]. In: Essays in Poetics. The Journal of the British Neo-Formalist Circle 21. 1996, S. 1−18. M. HOCHSIEDER, Tradition und Transformation. Zur Intertextualität in der Prosa Tatřjana Tolstajas. In: Jenseits des Kommunismus. Sowjetisches Erbe in Literatur und Film. Hg. E. Cheauré. Berlin 1996, S. 59Ŕ74. H. GOSCILO, [ŖSleepwalker in a Fogŗ]. In: Dies., The Explosive World of Tatyana N. Tolstayařs Fiction. Armonk, New York 1996, S. 141Ŕ150. N. EFIMOVA, Motiv igry v proizvedenijach L. Petruńevskoj i T. Tolstoj. In: Vestnik Moskovskogo Universiteta. Serija 9. Filologija 3. 1998, S. 60−71. M. LIPOVECKIJ, Kontekst. Mifologii tvorĉestva. Tatřjana Tolstaja. In: Russkaja literatura XX veka v zerkale kritiki. Chrestomatija. Hg. S. I. Timina. Moskau 2003, S. 521−536. O. V. BOGDANOVA, „Somnambula v tumaneŖ. In: Dies., Postmodernizm v kontekste sovremennoj russkoj literatury (60Ŕ90-e gody XX veka Ŕ naĉalo XXI veka). Petersburg 2004, S. 255Ŕ263. B. ALIEV, Nesluĉajnoe semejstvo. Rodstvo personaņej T. Tolstoj i F. Dostoevskogo. In: Russian Literature 67, 2. 2010, S. 131−149. I. TIGOUNTSOVA, Tatiana Tolstaja. Beauty of the Word and Ugliness of the World [ŖSomnambula v tumaneŗ]. In: Dies., The Ugly in Russian Literature. Dostoevskyřs Influence on Iurii Mamleev, Liudmila Petrushevskaia, and Tatiana Tolstaia. Saarbrücken 2010, S. 104Ŕ133. O. OSřMUCHINA, Literatura kak priem. Tatřjana Tolstaja. In: Voprosy literatury. 2012, 1, S. 41−53. Anmerkungen 1 Sir Galahad, Idiotenführer durch die russische Literatur. München 1925, S. 120. 2 Ebd., S. 120. 3 Ebd., S. 121. 4 Die Geschichte von dem ruhmreichen und tapferen Recken Ilja Muromez und dem Räuber Nachtigall. In: A. N. Afanasjew, Russische Volksmärchen. Übers. v. S. Geier. 2 Bde. München 1985, Bd. 2, S. 720. Die Orthographie im Zitat wurde an die wissenschaftliche Transliteration angeglichen. 5 Im Fragment „SonŖ des frühen Puńkin (1816) heißt es in V. 15: „Приди, о лень! приди в мою пустынюŖ. Zum Trägheits-Topos in Russland vgl. den konzisen Überblick von A. Engel-Braunschmidt, Russkaja lenř. Über die axiologische Unbestimmtheit der Faulheit in der russischen Literatur. In: Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat. Hg. P. Thiergen. Köln 2006, S. 81−104. 6 Zur acedia vgl. H. Schlögel, Acedia. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. W. Kasper. 11 Bde. 3. Aufl. Freiburg 1993, Bd. 1, Sp. 109 sowie ausführlicher S. Wenzel, The Sin of Sloth. Acedia in Medieval Thought and Literature. Chapel Hill 1967; M. Theunissen, Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin 1996; F. Meltzer, Acedia and Melancholia. In: Walter Benjamin and the Demands of History. Hg. M. P. Steinberg. Ithaca 1996, S. 141−163. 7 Zu Oblomov vgl. insbesondere H.-J. Gerigk, Oblomow, Bartleby und der Hungerkünstler. Drei Beispiele für die Überwindung des agonalen Menschen. In: I. A. Gonĉarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. P. Thiergen. Köln 1989, S. 15−30; R. Lachmann, Das Leben Ŕ ein Idyllentraum. Gonĉarovs „Son OblomovaŖ als ambivalentes Phantasma. In: Compar(a)ison. An International Journal of Comparative Literature 2. 1993, S. 279−300 sowie J. Herlth, Ivan Gonĉarov. Oblomov. In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 139−163. 8 2 Thessalonicher 3, 10, Elberfelder Übersetzung. Vgl. Engel-Braunschmidt, s. Anm. 5, S. 102−103. 9 In: Novyj mir. 1988. 7, S. 8−26. 10 Vgl. S. T. Wisniewska, Tatřiana Tolstaia. In: Russian Women Writers, I-II. Hg. C. D. Tomei. New York 1999, S. 1478. 11 Sleepwalker in a Fog. Transl. by J. Gambrell. New York 1992.

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Literatur und Anmerkungen

12 Vgl. unter anderem Goscilo 1992, S. 58. 13 Heftrich 1992. Die Orthographie im Zitat wurde an die wissenschaftliche Transliteration angeglichen. 14 Vgl. Goscilo 1988, S. 283 und Goscilo 1993. 15 Die satirischen Aspekte von Tolstajas Text behandelt insbesondere Wisniewska 1992, S. 230 ff., 236 ff., 242−251. 16 Vgl. M. Zolotonosov, Meĉty i fantomy. In: Literaturnoe obozrenie 15, 4. 1987, S. 61, Grekova 1988, S. 255, D. Rancour-Laferriere, V. Loseva, A. Lunkov, Violence in the Garden. A Work by Tolstaja in Kleinian Perspective. In: Slavic and East European Journal 39. 1995, S. 532. Letztes Zitat: Genis,Vajl 1988, S. 125. 17 Alle Zitate folgen der deutschen Übersetzung von Sylvia List, die orthographisch jedoch den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration und der modernen Rechtschreibung angeglichen wird. 18 Sylvia Lists Übersetzung von „pik MakovaŖ als „Mount MakovŖ wird hier korrigiert, um die Assoziation zu sowjetischen Gipfelbenennungen wie „pik LeninaŖ, „pik StalinaŖ, resp. „pik KommunismaŖ wiederherzustellen. 19 Sir Galahad, s. Anm. 1, S. 121. 20 Sylvia List übersetzt „mitsamt der anhängenden MaterieŖ, das Original ist jedoch drastischer: „Шестая часть света, вырванная с мясомŖ (425). 21 Vgl. den Appell an das Mitleid eines Vorgesetzten im XI. Kapitel von „Mertvye duńiŖ, wo der überführte Ĉiĉikov sich auf seine unglückliche Familie beruft, „die es zum Glück gar nicht gabŖ: „изобразив ему в живых красках трогательную судьбу несчастного семейства Чичикова, которого, к счастью, у него не было.Ŗ N. V. Gogolř. Mertvye duńi. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. L. Meńĉerjakov. 14 Bde. Moskau 1937−1952. Bd. 6, S. 233. 22 Goscilo 1996, S. 149 spricht von einer Ŗpilgrimage of penanceŗ. 23 Später wird die Assoziation Makovs mit einem Mohnkorn noch einmal unterstrichen: „гора с черной букашкой МаковаŖ (426). 24 Aus Lermontovs „Выхожу один я на дорогу...Ŗ werden die Verse „В небесах торжественно и чудно! / Спит земля в сияньи голубомŖ zitiert (433). 25 Aus Innokentij Annenskijs Gedicht „Среди мировŖ wird das Diktum: „Не потому, что от Нее светло, / А потому, что с Ней не надо светаŖ spöttisch auf Loras intellektuelle Unbedarftheit umgemünzt: „не потому, что, как говорится, от нее светло, а потому, что с ней не надо светаŖ (398). Vgl. Wisniewska 1995, S. 195. 26 Denisov ist der Name eines Husarenoffiziers in „Vojna i mirŖ, der nach dem Vorbild des historisch realen Denis Vasilřeviĉ Davydov gestaltet wurde (Bd. 1, Teil 2, Kap. IV). Dass der Tolstojsche Denisov ein ausgesprochener Tatmensch ist, bildet die ironische Folie zu Tolstajas Namensgebung für ihren unnützen Helden. 27 Zweimal wird auf Prediger Salomo 7. 4, „Das Herz der Weisen ist dort, wo man trauert, aber das Herz der Toren dort, wo man sich freutŖ, angespielt (415 und 433). 28 Bachtijarovs Aufforderung, unter den Tisch zu kriechen, begegnet Denisov zunächst mit einer Abwandlung des berühmtesten Gorřkij-Zitats („Я человек, звучу гордоŖ, 432), bevor er sich schließlich sogar dieser Demütigung unterzieht. 29 Hier in der Übersetzung von Karl Steckfuß. Der 1. Vers des „InfernoŖ wird von Tolstaja weiter unten noch einmal aufgegriffen und variiert: „До половины пройдена земная жизнь, впереди вторая половина, худшаяŖ (399). Vgl. hierzu Wisniewska 1995, S. 43. Ob die Parallelisierung zwischen Denisov und Dante allerdings dazu dient, Denisov und seine Reise erhabener zu machen (to Ŗelevate Denisov and his journeyŗ), wie Wisniewska vermutet, darf bezweifelt werden. 30 Im Original wird der Aufenthalt im Totenwald durch Signalwörter noch deutlicher an Dantes „InfernoŖ angelehnt: „Или [...] леса, где вам ночевать, так холодны и пус-

Tatřjana Tolstaja: Somnambula v tumane

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тынны, что вы сбиваетесь в шайкиŖ (415, Herv. U. H.); vgl. im 1. Gesang V. 21 („La notte chřio passai con tanta piètaŖ) und V. 29 („Ripresi via per la piaggia disertaŖ). Inferno, 1. Gesang, V. 94 ff. Tolstaja zitiert an dieser Stelle allerdings nicht Dante, sondern Annenskij, s. Anm. 25. Vgl. Inferno, 1. Gesang, V. 29 und 64: „Quando vidi costui nel gran disertoŖ. Als Denisov von Bachtijarov zum Singen gezwungen wird, heißt es: „пел, уже понимая, что он в пустыне, что людей здесь нетŖ (430). Pugatorio, 18. Gesang, V. 76−145. Vgl. Wisniewska 1992, S. 137. „Deinde considerandum est de vitiis oppositis caritati. Et primo, de odio, quod opponitur ipsi dilectioni; secundo, de acedia et invidia, quae opponuntur gaudio caritatisŖ (Summa Theologiae II, II, Quaestio 34, Prooemium). Dass sich Gogolř mit den Schriften des Thomas beschäftigte, lässt sich in seiner Korrespondenz nachweisen. Zu acedia bei Gogolř vgl. C. R. Putney, Acedia and the Daemonium Meridianum in Nikolai Gogolřs „Povestř o tom, kak possorilsia Ivan Ivanovich s Ivanom Nikiforovichemŗ. In: Russian Literature 49. 2001, S. 235−257; und ders., Nikolai Gogolřs ŖOld-World Landownersŗ. A Parable of Acedia. In: Slavic and East European Journal 47. 2003, S. 1−23. Wörtlich heißt es im Brief Gogolřs an G. I. Vysockij vom 26. Juni 1827: „Ты знаешь всех наших существователейŖ. N. V. Gogolř, s. Anm. 21, Bd. 10, S. 98. Hier ist auch auf den literarischen Feldzug des späten Gogolř gegen die Banalität zu verweisen; vgl. S. Boym: ŖIn this respect Tolstaia follows the tradition of Gogolř, Flaubert, and Nabokov: she both decries poshlostř and takes a special writerly delight in describing itŗ (Boym 1993, S. 67). So zu Beginn des V. Kapitels von „Mertvye duńiŖ: „Пропал бы, как волдырь на воде, без всякого следаŖ. Gogolř, s. Anm. 21, S. 89. Allgemein zur Bedeutung Dostoevskijs für Tolstaja, insbesondere seines Untergrundmenschen, vgl. Tigountsova 2010, S. 104−133. Tigountsova weist darauf hin (S. 117), dass eine amerikanische Polemik Tolstajas sogar den Titel: ŖNotes from Undergroundŗ trägt (in: The New York Review of Books. 31. 5. 1990). In ihrer Deutung von „Somnambula v tumaneŖ konzentriert sich Tigountsova vor allem auf die Figur Bachtijarovs als Parodie der romantischen Idee eines erhabenen Bösen (S. 117 ff.). F. M. Dostoevskij, Zapiski iz podpolřja, 2. Teil, II: „Либо герой, либо грязь, средины не былоŖ. F. M. Dostoevskij, Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Bazanov u. a. 30 Bde. Leningrad 1972−1990. Bd. 5, S. 133. Der deutsche Wortlaut folgt der Übersetzung von E. K. Rahsin; Abweichungen werden gekennzeichnet. Zapiski iz podpolřja, 1. Teil, IX: „разрушение и хаосŖ. Ebd., S. 118. Zapiski iz podpolřja, 1. Teil, VI: „О, если б я ничего не делал только из лени. Господи, как бы я тогда себя уважал. Уважал бы именно потому, что хоть лень я в состоянии иметь в себе; хоть одно свойство было бы во мне как будто и положительное, в котором я бы и сам был уверен. Вопрос: кто такой? Ответ: лентяй [...]. ‚Лентяй!Ř Ŕ да ведь это званье и назначенье, это карьера-с.Ŗ Ebd., S. 109. Zapiski iz podpolřja, 1. Teil, XI: „сознательная инерцияŖ. Ebd., S. 121. Bei Rahsin unpräzis übersetzt. Bezüge zwischen den „Zapiski iz podpolŘjaŖ und einer anderen Erzählung Tolstajas („Poėt i muzaŖ) untersucht Aliev 2010. Wisniewska 1995, S. 141 geht offenbar davon aus, das Klassentreffen sei eines mit Deni-

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Literatur und Anmerkungen

sovs eigenen Schulkameraden; in Wahrheit reagiert er aber nur auf Loras Bericht, was seine Mission noch lächerlicher macht. 46 Zapiski iz podpolřja, 1. Teil, III: „Но теперь не до думанья; теперь наступает действительностьŖ. Dostoevskij, s. Anm. 40, S. 141. 47 Weitere Bezüge zu Dostoevskij lassen sich herstellen. Denisovs Blockade-Traum kehrt in gewissem Sinn den „Traum eines lächerlichen MenschenŖ um: Das moralische Versagen angesichts einer Hilfesuchenden wird bei Dostoevskij in der Realität gelebt und im Traum verarbeitet; bei Denisov ist es genau umgekehrt. 48 I. S. Turgenev, Novř. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 30 Bde., 2. Aufl. Moskau 1982. Bd. 9, S. 328−329. Ŕ Übersetzung von W. Plackmeyer u. D. Pommerenke.

Vladimir Sorokin (*1955)

S. 620

Text „Mesjac v DachauŖ (Ein Monat in Dachau) nach: V. Sorokin, Sobranie soĉinenij. 2 Bde. Moskau 1998. Bd. 1, S. 799Ŕ815. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Ein Monat in Dachau. Übers. v. P. Urban. Zürich 1992. Literatur G. WITTE, Text als Ritual: Vladimir Sorokin. In: Ders., AppellŔSpielŔRitual. Textpraktiken in der russischen Literatur der sechziger bis achtziger Jahre. Wiesbaden 1989, S. 145Ŕ168. A. BROCKHOFF, „Schießt meine körper dicke bertha in himmel groß deutschlandŖ. Versuch über Vladimir Sorokin [„Ein Monat in DachauŖ]. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 40. 1992, S. 136Ŕ143. I. SMIRNOV, Oskorbljajuńĉaja nevinnost' (o proze Vladimira Sorokina i samopoznanii). In: Mesto peĉati. 1995. 7, S. 125Ŕ147. CH. ENGEL, Sorokin im Kontext der russischen Postmoderne. Probleme der Wirklichkeitskonstruktion. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 43. 1997, S. 53Ŕ66. P. DEUTSCHMANN, Dialog der Texte und Folter. Vladimir Sorokins „Mesjac v DachauŖ. In: Romantik Ŕ Moderne Ŕ Postmoderne. Hg. Christine Gölz u. a. Frankfurt/M. 1998. S. 324Ŕ351. M. RYKLIN, Medium i avtor. O tekstach Vladimira Sorokina. In: V. Sorokin, Sobranie soĉinenij. 2 Bde. Moskau 1998. Bd. 2, S. 737Ŕ751. D. BURKHART, [„Mesjac v DachauŖ]. In: Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. Hg. D. Burkhart. München 1999, S. 12Ŕ14. S. SASSE, [„Mesjac v DachauŖ]. In: Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. Hg. D. Burkhart. München 1999, S. 133Ŕ135. CH. ENGEL, [„Mesjac v DachauŖ]. In: Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. Hg. D. Burkhart. München 1999, S. 140, 146Ŕ148. T. WIEDLING, [„Mesjac v DachauŖ]. In: Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. Hg. D. Burkhart. München 1999, S. 157Ŕ158. E. POYNTNER, Vladimir Sorokin. Die Virtuosität und das Hässliche. „Mesjac v DachauŖ. In: Ders., Der Zerfall der Texte. Zur Struktur des Hässlichen, Bösen und Schlechten in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2005, S. 117Ŕ120. D. UFFELMANN, Led tronulsia. The Overlapping Periods in Vladimir Sorokinřs Work from the Materialization of Metaphors to Fantastic Substantialism. In: Landslide of the Norm. Language Culture in Post-Soviet Russia. Hg. I. Lunde u. T. Roesen. Bergen 2006. S. 100Ŕ125. E. POYNTNER, Zur Phantastik des Vladimir Sorokin. „Mesjac v DachauŖ. In: Ders., Anderswelt. Zur Struktur der Phantastik in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2007, S. 104Ŕ105. N. BENEVOLENSKAJA, Vladimir Sorokin i ritual'noe dejstvie v ego proze. In: Vestnik SanktPeterburgskogo universiteta. Nauĉno-teoretiĉeskij ņurnal. 2010. 3, S. 7Ŕ11. E. VASIL'EVA, Koncentracija lagerja. Lagernyj mif v rasskaze Vladimira Sorokina „Mesjac v DachauŖ. In: Kul'turologiĉeskie zapiski 13. 2011, S. 347Ŕ364. N. N. ANDREEVA, E. S. BIBERGAN, Igry i

Vladimir Sorokin: Mesjac v Dachau

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Literatur und Anmerkungen

bolische Zentrum der Welt markiert und alle drei kosmischen Ebenen (Unterwelt, Erde und Himmel) miteinander verbindet. Eliade, s. Anm. 21, S. 36. Deutschmann 1998, S. 347. A. Ĉechov, Ostrov Sachalin. In: Polnoe sobranie soĉinenij i pisem. Hg. N. N. Belřĉikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974Ŕ1983. Soĉinenija. Bd. 14/15, S. 75 f. V. Ńalamov, O proze, In: Ders., Sobranie soĉinenij. Hg. I. P. Sirotinskaja. 6 Bde. Moskau 2005, Bd. 5, S. 151. L. Lindhoff, Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart 1995, S. 152. Ebd., S. 151. Ebd., S. 156. Wiedling 1999, S. 156. Wiedling benutzt diesen Ausdruck in Bezug auf eine Episode aus einem anderen Roman von Sorokin, „Serdca ĉetyrechŖ (Die Herzen der Vier, 1991), in der es ebenfalls um das (unfreiwillige) Produzieren von Texten geht. Deutschmann 1998, S. 335. Engel 1999, 8, S. 145. Deutschmann 1998, S. 350. Der Begriff „PerformativitätŖ wird hier im Sinne der ästhetischen Theorie gebraucht und impliziert die Erzeugung bestimmter Identitäten und Bedeutungen durch den performativen Akt der „VerkörperungŖ, was eine deutliche Parallele zur Aufführungspraxis aufweist. Vgl. E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004, S. 40 ff. Das Wort „oblitieŖ („ÜbergießenŖ), das etwa in der Mitte des Textfragments vorkommt, kann dabei sowohl auf Verschmutzung als auch auf Reinigung zugleich bezogen werden. Vgl. Brockhoff 1992, S. 142. B. Groys, O novom. In: Ders., Utopija i obmen. Moskau 1993, S. 143 ff. Siehe Deutschmann 1998, S. 345. J. Améry, Die Tortur. In: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Stuttgart 1977, S. 56.

Viktor Erofeev (*1947)

S. 636

Text „Ņiznř s idiotomŖ (Leben mit einem Idioten) nach: V. Erofeev, Ņiznř s idiotom. Rasskazy. Povestř. Moskau 1991, S. 5Ŕ26. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Leben mit einem Idioten. Übers. v. B. Rausch u. R. Wehling-Raspé. In: V. Jerofejew, Leben mit einem Idioten. Erzählungen. Frankfurt/M. 1991. Literatur R. PORTER, Viktor Erofeev. Introduction Ŕ Stories. In: Ders., Russiařs Alternative Prose. Oxford 1994, S. 138Ŕ146. S. ROLL, Re-Surfacing. The Shades of Violence in Viktor Yerofeyevřs Short Stories [ŖLife with an Idiotŗ]. In: Australian Slavonic and East European Studies 9, 2. 1995, S. 27Ŕ46. M. LIPOVETSKY, The ŖHistoricalŗ Stories of Victor Erofeyev. An Apotheosis of Particles. In: Ders., Russian Postmodernist Fiction. Dialogue with Chaos. New York 1999, S. 165Ŕ173. U. SCHMID, Flowers of Evil. The Poetics of Monstrosity in Contemporary Russian Literature. Erofeev [ŖŅiznř s idiotomŗ], Mamleev, Sokolov, Sorokin. In: Russian Literature 48, 2000, S. 205Ŕ222. P. HESSE, Pri-otsutstvie subřřekta. „Ņiznř s idiotomŖ Viktora Erofeeva. In: Russian Literature 51. 2002, S. 261Ŕ272. E. POYNTNER, Viktor Erofeevs Auseinandersetzung mit dem Begriff des „BösenŖ. In: Ders., Der Zerfall der Texte. Zur Struktur des Hässlichen, Bösen und Schlechten in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2005, S. 35Ŕ36. E. POYNTNER, Viktor Erofeev. Das Hässliche und das Böse Ŕ Theorie und dichterische Praxis [„Ņiznř s idiotomŖ]. In: Ders., Der Zerfall der Texte. Zur Struktur des Hässlichen, Bösen und Schlechten in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2005, S. 71Ŕ82. E. POYNTNER, Viktor Erofeev, „Ņiznř s idiotomŖ. In: Ders., Anders-

Viktor Erofeev: Ņiznř s idiotom

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Literatur und Anmerkungen

22 Ebd., S. 90. 23 F. Dostojewskij, „Der Bauer MareiŖ. Übers. v. S. Geier. Zürich 2008, S. 13 f. 24 F. Dostojevskij, O ljubvi k narodu. Neobchodimyj kontrakt s narodom. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. V. G. Bazanov u. a. 30 Bde. Leningrad 1972Ŕ1990. Bd. 22, S. 42Ŕ45, hier: S. 43. 25 Dostoewskij, s. Anm. 23, S. 13. 26 Shakespeare, Richard III, 2. Akt, Szene 1. Ŕ In der russischen Übersetzung von V. B. Lejtin lautet der Satz: „O gospodi, kak strańno ņitř na svete!Ŗ 27 „Skuĉno na ėtom svete, gospoda!Ŗ Vgl. N. V. Gogolř, Povestř o tom kak possorilsja Ivan Ivanoviĉ s Ivanom Nikiforoviĉem. In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. L. Meńĉerjakov. 14 Bde. Moskau 1937Ŕ1952. Bd. 2, S. 276. 28 Vgl. M. Schult, „Die DämonenŖ. In: Interpretationen. Dostojewskijs Romane. Hg. Birgit Harreß. Stuttgart 2005, S. 64Ŕ90, hier: S. 68. 29 Der Farbe Rot Ŕ als dominante Farbe des politischen Systems der Sowjetunion Ŕ kommt in der Erzählung eine leitmotivische Funktion zu: „RötlichŖ ist ein Merkmal des Kellers; „scharlachrotŖ sind die Sexualorgane von Vova, rötlich sind seine Augen, das Brusthaar und der Bart, was JA übrigens sehr zur Freude gereicht. Aber auch der Mann mit der Falsettstimme ist rothaarig, rot sind die Bäuche der Gimpelmännchen und rot die Blumen von Vova. 30 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Übers. v. K. Vossler. Gütersloh [1966], S. 56. Hölle, 7. Gesang. 31 Ebd., S. 93, 97. Hölle, 15. und 16. Gesang. 32 Ebd., S. 186. Hölle, 33. Gesang. 33 Das ist übrigens die einzige Stelle in der Erzählung, die in Großbuchstaben gesetzt ist. 34 In der deutschen Übers. von B. Rausch und R. Wehling-Raspé wird das Russische „RenuarŖ völlig irreführend als „RenoirŖ wiedergegeben. 35 Dante, s. Anm. 30, Paradies, S. 447. 18. Gesang. In der deutschen Übersetzung heißt der Held Rennewart. 36 Vgl. J. B. Williamson, Structural Unity in the ŖChanson de Guillaumeŗ. The Role of Rainouart. In: South Atlantic Review 52, 2. 1987, S. 15Ŕ24, hier: S. 15. 37 Ein Nebenaspekt ist, dass Rainouart ein Import aus dem westlichen Ausland ist; denn damit erfüllt er seine Aufgabe als ironische Anspielung auf den Traum vieler Schriftsteller der Sowjetzeit, die sich nach dem Paradies im Westen sehnten. 38 N. N. Berdjaev, Die Wahrheit der Philosophie und die Wahrheit der Intelligencija. In: Ders., Vechi. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz. Eingeleitet und aus dem Russischen übersetzt von Karl Schlögel. Frankfurt/M. 1990, S. 51Ŕ79.

Viktor Pelevin (*1962)

S. 656

Text „Ņeltaja strelaŖ (Der gelbe Pfeil) nach: V. Pelevin, Ņeltaja strela. Moskau 1998. S. 9Ŕ56. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. Ŕ Dt. Übers.: Der gelbe Pfeil. Übers. v. A. Tretner. In: W. Pelewin, Die Entstehung der Arten und andere Erzählungen. Leipzig 1995. Literatur S. DALTON-BROWN, Ludic Nonchalance or Ludicrous Despair? Viktor Pelevin and Russian Postmodernist Prose. In: The Slavonic and East European Review 75. 1997, S. 216Ŕ233. I. RODNJANSKAJA, Ėtot mir priduman ne nami. In: Novyj mir. 1999. 8, S. 207Ŕ217. I. JANĈENKO, V. Pelevin i drama russkoj postsovetskoj intelligencii. In: Slavica Gandensia 27. 2000, S. 103Ŕ111. M. KLÜH, Viktor Pelevin. „MorphingŖ als Ausweg aus der Postmoderne. In: Anzei-

Viktor Pelevin: Ņeltaja strela

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Literatur und Anmerkungen

pulaire des ces mythes et de lřautre, la RV, la réalité virtuelle informatique. Selon le principe de la synergie, la recontre/fusion des ces deux virtualités accentue lřeffet de déréalisation. Le passé de la Russie, avec son caractère hautement illusoire, sřinscrit étonnamment bien dans le présent mondial et ses dédoublements virtuels en passé dřévincer la réalité.Ŗ Vgl. ebd., S. 312. Vgl. V. Kuricyn, Velikie mify i skromnye dekonstrukcii. In: Oktjabrř. 1996. 8, S. 171Ŕ 187; Dalton-Brown 1997; Rodnjanskaja 1999. Vgl. I. P. Smirnov, Vidimyj i nevidimyj miru jumor Sorokina. In: Mesto peĉati 10. 1997, S. 60Ŕ76, hier: S. 62Ŕ63: Smirnov spricht von der „Selbstzerstörung des DiskursesŖ („samouniĉtoņenie diskursaŖ). Zu denken ist auch an den populären Fortsetzungswitz nach dem Schema: Herrscher N. fährt im Zug (Lenin, Stalin, Chruńĉev, Breņnev, Gorbaĉev), der Zug hält an, den Herrscher erlangt die Nachricht, die Schienen seien zu Ende. Es folgen die dem jeweiligen politischen „StilŖ entsprechenden Anweisungen (alle aussteigen, gemeinsam am Weiterkommen bauen; alle aussteigen, die Hälfte erschießen; die Schienen von hinten nach vorne verlegen; aussteigen und den Zug zum Schaukeln bringen, damit der Eindruck entsteht, er bewege sich; Fenster öffnen und „Wir wollen Schienen!, Wir wollen Schienen!Ŗ skandieren). Vgl. auch Mélat 2002 (b), S. 307. „Ces éléments sont souvent présents dès le titre, ce qui en souligne lřimportance et aiguille dřemblée vers une lecture référentielle.Ŗ Zahlen spielen in Pelevins Roman „DPP (nn) Dialektika Perechodnogo Perioda iz Niotkuda v NikudaŖ (DPP [nn] Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwo, 2004) eine wesentliche Rolle. „PassagierŖ erhält in der Konversation zwischen Andrej und Chan eine pejorative Wertung: „Du bist einfach kurz zum Passagier gewordenŖ (Ты просто стал на время пассажиром). Paradigmatisch hierfür Robert Musils Hommage an die neue Zeit (bzw. die alte Welt): „Man sollte meinen, daß wir in jeder Minute den Anfang in der Hand haben und einen Plan für uns alle machen müßten. Wenn uns die Sache mit der Geschwindigkeit nicht gefällt, so machen wir doch eine andere. […] Aber so ist es ganz und gar nicht. Die Sache hat uns in der Hand. Man fährt Tag und Nacht in ihr und tut auch noch alles andre darin; man rasiert sich, man ißt, man liebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt, und ihre Schienen vorauswerfen, wie lange, tastend gekrümmte Fäden, ohne daß man weiß wohin.Ŗ Vgl. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hamburg 1995, S. 32. Mélat sieht im Bezug auf den Chronotopos in Pelevins Povestř die Reaktivierung antiutopischer Strukturen. Diese Einschätzung relativiert sie durch die Beobachtung eines Sujetverlaufs (für den sie grundsätzlich Inversion feststellt), in dem Linie und Kreis ineinandergreifen, mit Hinweis auf das vektoriale Zufahren auf den Endpunkt, und schließlich auf die „petites boursoufluresŖ (kleinen Wölbungen), die Trägheitsmomente im Alltagsleben der Zugbewohner. Vgl. Mélat 2002 (b), S. 302Ŕ304. Zu Pelevin und (Computer-)Spiel vgl. C. Engel, Der Text als Vexierbild, oder: Wo steckt Big Brother? Viktor Pelevins Erzählung „Принц ГоспланаŖ. In: Kultur als Übersetzung. Klaus Städtke zum 65. Geburtstag. Hg. W. S. Kissel u. a. Würzburg 1999. Es liegt ein Brief Chans an Andrej vor, eine Mischung aus Vermächtnis und Offenbarung. Allerdings wird der Inhalt dieses Briefs von Andrej lediglich geträumt, so dass die materielle Realität der Botschaft in Frage zu stellen ist. Vgl. P. Virilio, Fahrzeug. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. K. Barck u. a. Leipzig 1991, S. 47Ŕ70, hier: S. 56.

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Ebd., S. 67. Ebd., S. 47. Ebd., S. 52. Vgl. A. Pluschkowitz, Rasender Stillstand (Rezension zum gleichnamigen Buch von P. Virilio). In: Eikon. Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst 2, 4. 1992, S. 78Ŕ79, hier: S. 79: „Das architektonische und mobilare Ensemble der Wohnstätte dieses ‚endgültig SesshaftenŘ verfällt zum fenster- und türlosen, aber bestuhlten Kokon.Ŗ Wesentlich für die Parataxe ist die durch syntaktischen Parallelismus entstehende poetische Äquivalenz, die meist zu paradoxen Verbindungen führt. Zum Beispiel: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei, / Und an den Küsten Ŕ liest man Ŕ steigt die Flut.Ŗ J. von Hoddis, Weltende. Zit. nach: Th. Anz, Zeit und Beschleunigung in der literarischen Moderne. In: Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen, Analysen, Konzeptionen. Hg. M. Sandbothe u. a. Darmstadt 1994, S. 118. Vgl. zu vorliegendem Zusammenhang: Ders., S. 111Ŕ120. Ŕ Zum Status des Simultaneismus in der Postmoderne vgl. J. Vojvodić, Odjeci simultanizma u postmodernistiĉkoj prozi (S. Sokolov, „Skola za LuĊakeŖ). In: Simultanizam. Hg. A. Flaker u. a. Zagreb 2001, S. 191Ŕ208. Vojvodić konstatiert, dass der Simultaneismus in der Postmoderne in eine Reihe von Verfahren zerfallen ist: vervielfachte Anfänge und Enden von Romanen, Juxtapositionen, Überblendungen, Paradoxa, Hyperbolik, Kurzschlüsse und Syllogismen. Vgl. G. Genette, Die Erzählung. München 1998, hier: S. 58: Genette unterscheidet als narrative Anachronien die Syllepse von der Analepse (Retrospektive) und der Prolepse (Antizipation). Er versteht unter Syllepse „anachronistische Gruppierungen, die irgendeiner räumlichen, thematischen oder sonstigen Verwandtschaft gehorchen.Ŗ Syllepsen „fassen zusammenŖ. Eine ähnliche Konzeption finden wir in Virilios „Ästhetik des VerschwindensŖ. Vgl. P. Virilio, Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986, S. 24. Virilio spricht von „PyknolepseŖ als Ausfall, Aussetzen, Unterbrechung, „tatsächliches Verschwinden und Wiederauftauchen des Wirklichen, um Loslösung von der Dauer.Ŗ Mélat spricht bei Pelevin von einer „Ästhetik des KurzschlussesŖ. Vgl. Mélat 1999, S. 217 ff. Vgl. auch Mélat 2002 (a), S. 303; Mélat 2002 (b), S. 308. Vgl. Obermayr 2004, S. 549Ŕ551. Hinweise auf Raum- und Zeitauflösung sind in Pelevins Œuvre zahlreich, kulminierend auf den inneren Umschlagsseiten der russischen Ausgabe von „Generation ‚PŘ Ŗ. Dort ist in großen Lettern „Die Zeit ergibt sich. Der Raum ergibt sichŖ zu lesen. Vgl. Pelevin, s. Anm. 7; Janĉenko 2000, S. 105Ŕ106. „Hör mal, hast du dir jemals überlegt, woher wir kommen? Woher dieser Zug kommt?Ŗ Vgl. Mélat 2002 (b), S. 308: „Cřest ce télescopage que Pélévine met en scène, comme en témoigne lřabondance dans les lieux de lřaction dřendroits constituant des frontières entre deux mondes: fenêtres, hublots, portes. Les univers entrent en contact, et lřécrivain est en quelque sorte un nouveau Virgile, menant le lecteur dans les cercles du nouveau monde.Ŗ Vgl. auch Engel, s. Anm. 20, S. 336, die auf die Auflösung der Grenze, die die Monitorwand nur kurzfristig bildet, in der Erzählung „Princ GosplanaŖ (Der Prinz von Gosplan) verweist: „Der Prinz, als Spielfigur im Computerspiel, und Sańa, als Hauptfigur in der Erzählung, sind nur anfänglich durch die Monitorwand getrennt.Ŗ Vgl. A. Flaker, Zone. Raumgestaltung in der Dichtung der Avantgarde. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 60. 2001, S. 283Ŕ295, hier: S. 283Ŕ284. Flaker schlägt den Terminus „ZoneŖ zur Beschreibung der Subjektbefindlichkeiten in der von Simultaneismus geprägten (Lyrik-)Welt der Moderne vor: „In der ‚ZoneŘ des lyrischen ‚jeŘ und ‚toiŘ werden Pariser Straßen mit der Mittelmeerküste, einsame Gasthausgärten mit Aufzählungen von europäischen Städten, die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden und gegenüber-

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gestellt. Inmitten dieser ‚ZoneŘ wendet sich der in der Großstadt vereinsamte Poet an die Gestalt Christi am Himmel, der durch Flugzeuge belebt wird, die mit der ‚volante machineŘ fraternisieren. Der irdische Raum verbindet sich mit dem Aufstieg in die Transzendenz des kosmischen Raumes, in dem es zur ‚universellen VerbrüderungŘ kommt. Die für die Avantgarde bedeutsame optimale Projektion ist nicht der Horizontalen der Zukunft, sondern der Vertikalen des Glaubens zugewandt.Ŗ Vgl. Pelevin, s. Anm. 7. Zum Zusammenspiel zwischen technologischen und spirituellen Transformationen vgl. Klüh 2001. Vgl. Musil, s. Anm. 18, S. 32. Zur Verwendung der Zugmetapher im Film vgl. Wong Kar-Wais „2046Ŗ (Hongkong 2004). Vgl. N. Gogolř, „Mertvye DuńiŖ, In: Ders., Polnoe sobranie soĉinenij. Hg. N. L. Meńĉerjakov u. a. 14 Bde. Moskau 1937Ŕ1952. Bd. 6, S. 7Ŕ250, hier: S. 247. „Woher kommt dieser Zug?Ŗ Pelevin, s. Text, S. 28. Vgl. Gogolř, s. Anm. 38, S. 246. Ebd. Ebd. S. 247. Über die genannten Bezüge hinaus finden sich Hinweise auf: Nikolaj Gumilev, Boris Pasternak, die Pop- und Rockkultur, die Werbung. Vgl. unter anderem Pelevin, s. Text, S. 38. Im Zusammenhang damit ist der von Engel gegebene Hinweis auf die Charakteristik kombinatorischer und aleatorischer Spiele (im Gegensatz zu Geschicklichkeitsspielen) wesentlich: „Die kombinatorischen Spiele sehen dagegen von vornherein eine gewisse Varianz bzw. Normbrüche vor. Sie bauen auf Überraschung und Verfremdung und erzeugen so ein Spannungsverhältnis zwischen Iterierung und (begrenzt) Unerwartetem. Aleatorische Spiele gehen noch weiter und setzen den Zufall als spielimmanenten Unordnungsfaktor konstitutiv.Ŗ Vgl. Engel, s. Anm. 20, S. 338. Vgl. Mélat 2002 (b), S. 306. „Les bulles des divers univers fictionnels sont closes sur elles-mêmes et se suivent comme autant de réincarnations. Chaque bulle chasse la précédente, et il peut arriver que le monde fictionnel se détruise au fur et à mesure de son apparition.Ŗ Vgl. Pelevin, s. Text, S. 96Ŕ144. Vgl. Engel, s. Anm. 20, S. 346. Vgl. auch Dalton-Brown 1997, S. 227. „In den letzten Waggons vor der Grenze gab es schon lange kein heißes Wasser mehr, und, so sah es aus, dieser Ofen wurde schon seit zehn Jahren nicht mehr geheizt, gleich von Beginn der ‚PerecepkaŘ [etwa: das Umhängen] an.Ŗ Pelevin, s. Text, S. 27. An anderer Stelle ist von der Zeit „vor den ReformenŖ die Rede, an die sich der Abteilgenosse Andrejs nicht mehr erinnern könne. Ebd. S. 12. Die Genrebezeichnung „PoėmaŖ wurde in der zweiten Ausgabe von „MoskvaŔPetuńkiŖ gestrichen. V. Erofeev, „MoskvaŔPetuńkiŖ. Moskau 1989. Erstmalig 1973 in Israel erschienen. Vgl. P. Hesse, K funkcii „probelaŖ v neoficialřnoj literature 60-ch godov. MoskvaŔ Petuńki Venedikta Erofeeva. In: Russian Literature 43. 1998, S. 221Ŕ243, hier: S. 233. Vgl. Mélat 2002 (b), S. 313: „La virtualisation se produit littéralement: le passé disparaît dans les multiples dédoublements et reflexions auxquels il est soumis.Ŗ

Nachwort Mit dem Band zur russischen Erzählung ist die vierteilige Reihe „Russische Literatur in EinzelinterpretationenŖ abgeschlossen. Sie wurde 2002 mit der „Russischen LyrikŖ eröffnet und in jeweils fünfjährigem Abstand mit dem „Russischen RomanŖ (2007) und dem „Russischen DramaŖ (2012) fortgesetzt. Alle Bände sind im Böhlau Verlag erschienen, dem für seine Förderung dieses langfristigen Unternehmens und für sein Engagement auf dem Gebiet der slavischen Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte im Allgemeinen herzlichst gedankt sei. Dass der vorliegende Band die früheren Bände an Umfang deutlich übertrifft, hängt nicht zuletzt mit der Gattungsform Erzählung zusammen. Wie schon im Falle der Lyrik ist die Auswahl der Texte, aber auch der Autoren weit schwieriger als bei der Epik und Dramatik. Fast alle führenden russischen Prosaschriftsteller haben nicht nur viele, sondern auch viele inhaltlich und ästhetisch überzeugende, ja herausragende Erzählungen geschrieben. Darunter sind einige, wie Ĉechov, Babelř oder Ńalamov, die sich sogar allein durch die kurze epische Form ausgedrückt haben. Bei allem Bemühen, soviel wie möglich an Autoren bzw. Texten zu berücksichtigen, war aus Umfangsgründen ein Verzicht, selbst auf Wesentliches, unvermeidlich. Besonders schmerzlich ist dieser bei Autoren wie Karamzin, Odoevskij, Leskov, Garńin, Gorřkij, Brjusov, Pilřnjak, Trifonov, Ajtmatov und Rasputin. Kompensiert wird das ein wenig durch den Verweis auf den Sammelband „Die russische NovelleŖ (1982) in der vorausgegangenen dreibändigen Reihe von Einzelinterpretationen der russischen Literatur (1979Ŕ1986), in dem die genannten Namen vertreten sind: Karamzin mit „Bednaja LizaŖ, Odoevskij mit „ImprovizatorŖ, Leskov mit „Ledi Makbet Mcenskogo uezdaŖ, Garńin mit „Krasnyj cvetokŖ, Gorřkij mit „ĈelkańŖ, Brjusov mit „SestryŖ, Pilřnjak mit „Krasnoe derevoŖ, Trifonov mit „Dolgoe prońĉanieŖ, Ajtmatov mit „Belyj parochodŖ und Rasputin mit „Prońĉanie s MaterojŖ. Der dem Vorgängerband zugrunde gelegte Begriff „NovelleŖ ist jetzt wegen seiner speziellen Merkmale, vor allem denen des Moments der Ereignishaftigkeit und der fünfaktigen dramatischen Bauform, durch den offeneren Begriff der „ErzählungŖ ersetzt. Geeignet, Texte aufzunehmen, die in Umfang, Komposition und Erzählweise sehr unterschiedlich sind, garantiert der letztere eine größere Vielfalt. Dementsprechend spannt sich der Bogen von Erzählungen fast romanhaften Ausmaßes wie Turgenevs „Veńnie vodyŖ bis zu Erzählungen, die wie jene in Babelřs „KonarmijaŖ den Charakter von Kurz- und Kürzestgeschichten haben. So war es auch möglich, ganze Zyklen einzubeziehen (von Puńkin, Babelř und Dovlatov). Einer dieser Zyklen, Puńkins „Povesti BelkinaŖ, wurde an den Anfang gesetzt, um damit zu unterstreichen, dass er den eigentlichen Beginn der russischen Erzählungskunst bildet. Wie in den drei Bänden zuvor ist auch diesmal den einzelnen Werkanalysen eine Abhandlung des Herausgebers vorangestellt, in der die Entwicklung der Gat-

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tungsform in Russland von ihren Anfängen im 17. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart skizziert und der Kontext der einzeln analysierten 27 Erzählungen dargestellt wird. Dabei geht es nicht um Materialfülle und Vollständigkeit in der Art einer Literaturgeschichte. Vielmehr soll Wesentliches erfasst und beschrieben werden, sowohl im Schaffen der Autoren als auch im Rahmen der Epochen, Schulen und Richtungen. Die Darstellungsweise ist ganz textbezogen und damit wie in den Werkanalysen, wo dies ohnehin selbstverständlich ist, explizit hermeneutisch. Dahinter steht die bereits im Nachwort zum Dramenband geäußerte Überzeugung, dass das Verständnis des Einzelwerks die Grundlage des wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Umgangs mit der Literatur ist und so, ungeachtet der Notwendigkeit von Methodenvielfalt und kulturwissenschaftlicher Orientierung, nach wie vor die Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft bildet. Auch der vierte und letzte Band der Reihe wurde nur durch vielseitige Hilfe ermöglicht. Herzlichst gedankt sei meiner langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin Marianne Wiebe M.A. für ihre unermüdliche Korrekturarbeit und ihre vielen nützlichen Anregungen, Angelika Lauhus M.A. für letzte Verbesserungen sowie meiner wissenschaftlichen Hilfskraft Alexandra Ber B.A. für ihre Ausdauer, Sorgfalt und Zuverlässigkeit bei der Herstellung der komplizierten Druckvorlage. Dipl.-Bibl. Dagmar Klingner danke ich ebenso herzlich für Recherchen, Literaturbeschaffung und Mitarbeit insgesamt. Möge die „Russische ErzählungŖ so viel Zuspruch und Benutzung finden wie die „Russische LyrikŖ, der „Russische RomanŖ und das „Russische DramaŖ.