Europäisch oder Eurasisch?: Kontroversen um die russische Identität. Essays [1. Aufl.] 9783658296254, 9783658296261

Infolge der petrinischen Umwälzung zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschritt Russland als erstes nichtabendländisches und

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Europäisch oder Eurasisch?: Kontroversen um die russische Identität. Essays [1. Aufl.]
 9783658296254, 9783658296261

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einführung (Leonid Luks)....Pages 1-2
Der Streit um den Charakter Russlands (Leonid Luks)....Pages 3-98
Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität am Beispiel der Eurasierbewegung (Leonid Luks)....Pages 99-189
Back Matter ....Pages 191-213

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Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft

Leonid Luks

Europäisch oder Eurasisch? Kontroversen um die russische Identität. Essays

Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft Reihe herausgegeben von Christoph Böhr, Trier, Deutschland

Die Reihe Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft will das Den­ ken über den Zusammenhang von philosophischer Anthropologie und politischer Theorie neu beleben. Sie ist getragen von der Überzeugung, dass nur in der Zusam­ menschau beider Sichtweisen öffentliches Handeln sinnbestimmt zu begründen ist: Keine politische Theorie, der nicht eine philosophische Anthropologie beigesellt ist, wie umgekehrt gilt: Keine Anthropologie, die folgenlos bleibt für das Selbst­ verständnis von Politik. Zur Klärung dieses – heute weithin vergessenen – Zusam­ menhangs, wie er zwischen der Vergewisserung eines Menschenbildes und dem Entwurf einer Gesellschaftsordnung besteht, will die Schriftenreihe beitragen. Im Mittelpunkt stehen dabei soziale, ökonomische und politische Gestaltungs­ aufgaben. Öffentliches Handeln bestimmt sich über Ziele. Die jedoch lassen sich nur entwerfen, wenn das Leitbild sowohl für die Ordnung des Zusammenlebens als auch für die Beratschlagung der Gesellschaft in Sichtweite bleibt: im Maßstab eines Menschenbildes. Der Bestand einer Ordnung der Freiheit hängt davon ab, dass der zielbestimmte Sinn für den Zusammenhang, wie er zwischen der Aner­ kennung verbindlicher Regeln und der Bereitschaft zum selbstbestimmten Handeln besteht, immer wieder neu entdeckt und begründet wird. Die Reihe verfolgt mithin die Absicht, ein neues Selbstverständnis öffentlichen Handelns entwickeln zu helfen, das von der Frage nach den Zielen, auf die hin unsere Gesellschaft sich selbst versteht, ausgeht. Sie will die Reflexion der Theorie mit der Praxis der Deliberation verbinden, indem sie die Frage nach dem Handeln wieder im Zusammenhang mit dessen Zielbestimmung beantwortet.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12749

Leonid Luks

Europäisch oder Eurasisch? Kontroversen um die russische Identität. Essays

Leonid Luks Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Eichstätt, Deutschland

ISSN 2524-3624 ISSN 2524-3632  (electronic) Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft ISBN 978-3-658-29626-1  (eBook) ISBN 978-3-658-29625-4 https://doi.org/10.1007/978-3-658-29626-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany



Zum Verfasser

Luks, Leonid, Professor Dr., geb. 1947 in Sverdlovsk – heute Ekaterinburg –, studierte Slavische Philologie, Osteuropäische und Neuere Geschichte in Jerusalem und München; 1973 Promotion und 1981 Habilitation an der Universität München, danach als Hochschullehrer an den Universitäten München, Bremen und Köln tätig; von 1995 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und von 2011 bis 2015 Direktor des ‚Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien‘ an der KU Eichstätt-Ingolstadt; seit 2017 Wissenschaftlicher Leiter des Internationalen Graduiertenkollegs ‚International Laboratory for the Study of Russian and European Intellectual Dialogue‘ an der Moskauer Higher School of Economics; geschäftsführender Herausgeber der Zeitschriften Forum für osteuropäische Ideenund Zeitgeschichte und Форум новейшей восточноевропейской истории и культуры [Forum für neueste osteuropäische Geschichte und Kultur]. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921–1935, Stuttgart 1985; Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945–1989. Die Anatomie einer Befreiung, Köln 1993; Россия между Западом и Востоком. Сборник статей. Московский Философский Фонд [Russland zwischen West und Ost. Eine Aufsatzsammlung. Moskauer philosophische Stiftung], Мoskau 1993; Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000; Третий Рим? Третий Рейх? Третий путь? Исторические очерки о России, Германии и Западе, Московский Философский Фонд [Drittes Rom? Drittes Reich? Dritter Weg? Geschichtliche Skizzen über Russland, Deutschland und den Westen. Moskauer philosophische Stiftung], Мoskau 2002; Der russische ‚Sonderweg‘? Aufsätze zur neuesten Geschichte Russlands im europäischen Kontext, Stuttgart 2005; Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und V

VI

 

Zum Verfasser

Nationalsozialismus im Vergleich. 16 Skizzen, Köln 2007; Freiheit oder imperiale Größe? Essays zu einem russischen Dilemma, Stuttgart 2009; История России и Советского Союза. От Ленина до Ельцина [Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin], Мoskau 2009; Западничество или евразийство? Демократия или идеократия? Сборник статей об исторических дилеммах России [Westlertum oder Eurasiertum? Demokratie oder Ideokratie? Eine Aufsatzsammlung über historische Dilemmata Russlands], Stuttgart 2011; Zeithistorische Streifragen. Essays und Repliken, Berlin u. Münster 2012; Der Abschied vom Kommunismus – die Rückkehr nach Europa. Beiträge zur russischen und polnischen Zeitgeschichte, Stuttgart 2014; Die Rückkehr des Imperiums? Der neue Moskauer Paternalismus und seine Widersacher. Essays, Berlin u. Münster 2015; Два облика тоталитаризма. Сравнительные очерки об истоках и характере большевизма и национал-социализма. Книжное приложение к журналу «Форум новейшей восточноевропейской истории и культуры» [Zwei Gesichter des Totalitarismus. Vergleichende Skizzen über die Ursprünge und den Charakter des Bolschewismus und des Nationalsozialismus. Buchbeilage zur Zeitschrift Forum für neueste osteuropäische Geschichte], Eichstätt 2014; Zwei ‚Sonderwege‘? Russisch-deutsche Parallelen und Kontraste. 1917 bis 2014. Vergleichende Essays, Stuttgart 2016; Totalitäre Versuchungen. Russische Exildenker über die Ursachen der russischen Revolution und über den Charakter der europäischen Krise des 20. Jahrhunderts, Berlin u. Münster 2017; A Fateful Triangle. Essays on Contemporary Russian, German and Polish History, Stuttgart 2018; Wiederholt sich die Geschichte? Die europäische Krise der 1930er Jahre aus zeitgenössischer und aus heutiger Perspektive. Essays und Kolumnen, Berlin u. Münster 2019; als Festschrift ist ihm gewidmet: Brücken bauen. Analysen und Betrachtungen zwischen Ost und West. Festschrift für Leonid Luks zum 65. Geburtstag, hg. v. John Andreas Fuchs, Andreas Umland, Jürgen Zarusky, Stuttgart 2012.



Inhaltsverzeichnis

Zum Verfasser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1

Der Streit um den Charakter Russlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Selbst- und Fremdwahrnehmungen 1.1 Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einer Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1.1 Moskau als das ‚Dritte Rom‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1.2 Die Entzauberung des ‚Dritten Roms‘ durch Peter den Großen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1.3 Westliche Dekadenzängste und russisches Sendungsbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.1.4 Der Krimkrieg und seine Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.5 Der bolschewistische Isolationismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1.6 Die ‚Rückkehr nach Europa?‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2 Freiheit oder imperiale Größe? – Anmerkungen zur politischen Kultur Russlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.1 Das gespaltene Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.2 Slavophile und Panslawisten oder die Suche nach einer ‚organischen‘ Einheit der Nation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.2.3 Die Erosion des Glaubens an den Zaren . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.2.4 Der bolschewistische Janus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2.5 Von der Errichtung bis zur Demontage des Stalinschen Kommandosystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.2.6 Warum brach die Sowjetunion zusammen?. . . . . . . . . . . . . . 39 1.2.7 Die ‚gelenkte Demokratie‘ und ihre Gegner. . . . . . . . . . . . . 40 VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

1.3 Vladimir Pečerin – 1807 bis 1885 – und die russische Sehnsucht nach dem Abendlande. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.4 Dekadenzängste und Russlandfurcht – zwischen Wiener Kongress und Krimkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.4.1 Die Hegemonialpolitik östlichen Typs. . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1.4.2 Marquis de Custines Russlandbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1.4.3 Das Zarenreich und die europäische Revolution. . . . . . . . . . 64 1.4.4 Die westliche Russlandfurcht nach dem Scheitern der Revolution von 1848. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1.4.5 Die Genese des Krimkrieges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1.4.6 ‚Schicksalskampf zwischen Ost und West?‘. . . . . . . . . . . . . 76 Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1.5 Polnische Russlandbilder im 19. und 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . 82 1.5.1 Polen im Schatten des Zarenreiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1.5.2 Polen im Schatten der UdSSR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1.6 Das ‚janusköpfige Russland‘ und der deutsch-sowjetische Krieg aus der Sicht des polnischen ‚Konvertiten‘ Aleksander Wat. . . . . . . 87 2 Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität am Beispiel der Eurasierbewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.1 Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.1.1 Der ‚Auszug nach Osten?‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.1.2 Der Stellenwert des Eurasiertums im ideologischen Spektrum der Zwischenkriegszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.1.3 Die Ursachen für das Scheitern der Eurasierbewegung. . . . . 128 2.2 Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ Kulturmodell der ‚Eurasier‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.2.1 „Europa und die Menschheit“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.2.2 Die Eurasier über die Genese der russischen Revolution. . . . 134 2.2.3 Hatte die Eurasierbewegung geistige Vorläufer?. . . . . . . . . . 137 2.2.4 Das ‚turanische Kulturmodell‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2.2.5 Die eurasische ‚Utopie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2.2.6 Eine Alternative zum Bolschewismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘: Zur antiwestlichen Versuchung in Russland und in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2.3.1 Die Bolschewiki und der Westen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2.3.2 Die Kritik der Eurasier an Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Inhaltsverzeichnis

IX

2.3.3 Die ‚konservative Revolution‘ der deutschen Intellektuellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.3.4 Gemeinsamkeiten der Zivilisationskritik. . . . . . . . . . . . . . . 156 2.3.5 Suche nach dem Führer versus ‚Ideokratie‘. . . . . . . . . . . . . . 159 2.3.6 ‚Konservative Revolution‘ und Eurasiertum – trügerische Erfolge, faktische Marginalität. . . . . . . . . . . . . . 161 2.3.7 Parallelen ohne Berührungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.3.8 Konjunkturen und Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.4 Der ‚dritte Weg‘ der ‚neo-eurasischen‘ Zeitschrift Ėlementy – zurück ins Dritte Reich?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2.4.1 Die ‚klassischen‘ Eurasier und die Ėlementy-Gruppe. . . . . . 168 2.4.2 Das politisch-ideologische Profil der Ėlementy. . . . . . . . . . . 172 2.4.3 Die Ėlementy und die Weimarer Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . 176 2.4.4 Die Geopolitik der Ėlementy. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.5 Ist Putin ein Eurasier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Veröffentlichungsnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Register der Namen und Sachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Einführung

Handelt es sich bei Russland um ein europäisches Land? Lassen sich die mit ,Europa‘ assozierten Wertvorstellungen auch auf Russland übertragen? Zu diesem Thema sind, vor allem in den beiden letzten Jahrhunderten, unzählige Abhandlungen erschienen. Merkwürdigerweise ist im Großteil dieser Schriften nicht von ‚Russland und dem Westen‘, sondern von ‚Russland und Europa‘ die Rede. So hieß zum Beispiel das 1869 erschienene einflussreiche Werk des russischen Kulturhistorikers und Naturwissenschaftlers Nikolaj Danilevskij. Aber auch viele westliche Autoren versuchen, eine Art Mauer zwischen Russland und Europa zu errichten und setzen Europa in der Regel mit dem Westen gleich. Die Tatsache, dass es auch einen orthodoxen Osten hat, wird oft unterschätzt. Die Andersartigkeit Russlands wird entweder als Bedrohung oder als Faszinosum betrachtet. Beide Einstellungen erschweren die Einfühlung in die Eigenart des Landes. Dies insbesondere seit der petrinischen Umwälzung zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Damals beschritt Russland als erstes nichtabendländisches und souveränes Land den Weg der Europäisierung, genauer gesagt: der Westernisierung. Ein beispielloser Paradigmenwechsel fand statt – der zum Himmel gerichetete Blick des russischen Menschen1 wurde nun in Richtung Erde gelenkt. Wie spiegelt sich dieses Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Wertehierarchien beziehungsweise der Streit um die russische Identität in der Entwicklung des Landes bis heute wider? Wie wurde der Versuch der russischen Reformer, Russland an den Westen anzupassen, einerseits vom Westen, andererseits 1

Siehe dazu unter anderem Vasilij Ključevskij, Sočinenija [Werke], Band 3, Moskau 1957, S. 283–284; Vladimir Ikonnikov, Opyt issledovanija o kul’turnom značenii Vizantii v russkoj istorii [Zur Erforschung der kulturellen Bedeutung von Byzanz in der russischen Geschichte], Kiev 1869, S. 1–8; Michail Alpatov, Russkaja istoričeskaja mysl’ i Zapadnaja Evropa XII-XVII vv. [Russisches Geschichtsdenken und Westeuropa vom XII. bis zum XVII. Jahrhundert], Moskau 1973, S. 317.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Luks, Europäisch oder Eurasisch?, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29626-1_1

1

2

 

Einführung

von den antiwestlichen Kreisen Russlands bewertet? Diesem Thema sind die Beiträge dieser Aufsatzsammlung gewidmet. Der vorliegende Band enthält bereits veröffentlichte, allerdings in der Regel etwas revidierte Texte. Bei allen Beiträgen des Buches handelt es sich um Essays, die keinen Anspruch auf eine erschöpfende Beantwortung der oben erwähnten Fragen erheben. Da dieser Band aus einer Reihe von eigenständigen Beiträgen zu verwandten Themen besteht, enthält er einige Wiederholungen, die nicht zu vermeiden waren. Russische Namen und Begriffe werden in diesem Band transliteriert. Die Transliteration des russischen Alphabets erfolgt nach den Regeln des Duden, Band 1, Mannheim 1996, S.86. Abschließend möchte ich mich noch bei Frau Dr. Marina Tsoi für die technische Betreuung dieses Bandes herzlich bedanken.

Der Streit um den Charakter Russlands Selbst- und Fremdwahrnehmungen

1.1

1

Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einer Debatte

Gehört Russland zu Europa? Diese Frage wird seit vielen Generationen, im Grunde seit Beginn der Neuzeit, leidenschaftlich diskutiert*. Dabei wird der Begriff ‚Europa‘ bei diesen Diskussionen oft mit dem Westen gleichgesetzt und dadurch außerordentlich verkürzt. Die Tatsache, dass Europa auch einen Osten hat, wird durch diese Betrachtungsweise außer Acht gelassen. So entsteht die paradoxe Situation, dass solche Schriftsteller wie Lev Tolstoj, Fedor Dostoevskij, Anton Čechov und Boris Pasternak, solche Philosophen wie Vladimir Solov’ev, Nikolaj Berdjaev und Semen Frank, Maler wie Vasilij Kandinskij und Kazimir Malevič, welche die europäische Kultur als solche außerordentlich bereichert haben, quasi aus dem gemeinsamen ‚europäischen Haus‘ verbannt werden. Und diese Verbannung müsste sich eigentlich auch auf unzählige westliche Künstler und Schriftsteller erstrecken, deren Werke entscheidend durch die russische Malerei, Musik oder Literatur inspiriert wurden, so zum Beispiel auf Thomas Mann, der in einer seiner Novellen sogar von der „anbetungswürdigen …, heiligen russischen Literatur“ spricht.2 *

2

Revidierte Fassung meines Aufsatzes, der in der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte (2003), Heft 2 erschienen ist; vgl. dazu auch meinen Artikel Russland und der Westen  – Zur Geschichte eines schwierigen ‚innereuropäischen’ Verhältnisses, in: Blicke auf Europa. Kontinuität und Wandel, hg. v. Andreas Michler u. Waltraud Schreiber, Neuwied 2003, S. 215–233. Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt am M. 1990, hier Band 8, S. 300, Band 10, S. 595.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Luks, Europäisch oder Eurasisch?, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29626-1_2

3

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

Andererseits wären Dostoevskij und Tolstoj ohne Miguel de Cervantes, JeanJacques Rousseau oder Johann Wolfgang von Goethe unvorstellbar. So schließt sich der Kreis, und es wird offensichtlich, dass beide Teile Europas geradezu essentiell aufeinander angewiesen sind, und dass ihre allzu lange Trennung schmerzliche, ja verheerende Folgen für den Kontinent als solchen nach sich zieht. Hans-Ulrich Wehler hat vor einigen Jahren die angebliche Nichtzugehörigkeit Russlands zu Europa damit begründet, dass das „orthodoxe Christentum sich noch immer zutiefst vom protestantischen und römisch-katholischen Europa unterscheidet.“3 In der Tat. Das gemeinsame europäische Erbe wird im Osten nicht selten anders interpretiert als im Westen. So kannte zum Beispiel das östliche, von Byzanz dominierte Christentum nicht den Streit zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht, der die Frühgeschichte des Abendlandes sehr stark prägte und der zur Entstehung des bis heute vorherrschenden westlichen Pluralismus entscheidend beitrug. Prägend für das östliche Christentum – so für Byzanz und für Russland – war hingegen der Begriff der ‚Symphonie‘, der Eintracht zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht. Dort hat sich das ‚cäsaropapistische‘ System etabliert, in dem die Kirche sich unter die Obhut der weltlichen Herrscher und damit in eine weitgehende Abhängigkeit von ihnen begab. Der politische Pluralismus westlicher Prägung hatte angesichts einer solchen Ausgangssituation wenig Entfaltungsmöglichkeiten. In seinem FAZ-Artikel weist Hans-Ulrich Wehler auch mit Recht darauf hin, dass das östliche Christentum keine Reformation erlebt hat, und dass es durch die Aufklärung nur ansatzweise gestreift wurde. Die Liste der Unterschiede zwischen Ost und West ließe sich beliebig verlängern. Sind es aber nicht gerade diese Unterschiede, die die gegenseitige Befruchtung ermöglichen? Die ost-westliche kulturelle Symbiose ist gerade deshalb möglich, weil Europa ein janusköpfiges Gebilde darstellt – mit einem gemeinsamen Fundament und unterschiedlichen Gesichtern. Wäre der Osten nur eine Kopie des Westens oder umgekehrt, hätten sie voneinander kaum profitieren können. Welch fruchtbare Auswirkungen eine Begegnung zwischen Ost und West haben kann, offenbarte sich mit voller Deutlichkeit im 15. Jahrhundert, als viele byzantinische Flüchtlinge den italienischen Gelehrten und Künstlern dazu verhalfen, die Kultur der Antike, vor allem der griechischen Antike, neu zu entdecken.4 Der Byzantinist Georg Ostrogorsky 3 4

Hans-Ulrich Wehler, Lasst Amerika stark sein! Europa bleibt eine Mittelmacht: Eine Antwort auf Jürgen Habermas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. Juni 2003. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Stuttgart 1976, S. 182–183, S. 194, S. 205.

1.1 Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einer Debatte

5

schreibt: „Der byzantinische Staat war das Gefäß, in welchem die Kultur der griechisch-römischen Antike durch die Jahrhunderte weiterlebte … Im Zeitalter der Renaissance, als die Sehnsucht nach der antiken Kultur die Menschheit mit größter Macht ergriff, fand die abendländische Welt in Byzanz die Quelle, aus der ihr die Kulturschätze der Antike zuströmten. Byzanz hat das antike Erbe aufbewahrt und dadurch eine welthistorische Mission erfüllt.“5 Die zur Zeit der Renaissance erfolgte Begegnung zwischen Ost und West schien allerdings für lange Zeit nur eine Episode zu sein, denn die isolationistischen Tendenzen in beiden Teilen des Kontinents blieben weiterhin äußerst wirksam. Jeder Teil neigte dazu, sich als Ganzes zu sehen und strotzte geradezu vor Selbstzufriedenheit. Beispielhaft hierfür war das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Moskauer Großfürstentum beziehungsweise Zarentum, das nach dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 zum neuen Zentrum der Orthodoxie wurde.

1.1.1

Moskau als das ‚Dritte Rom‘

Im frühen Mittelalter stellte Russland für den Westen eine durchaus bekannte Größe dar. Dynastische Verbindungen und Handelsbeziehungen zwischen der Kiever Rus’ und den westlichen Staaten waren damals recht intensiv.6 1240 geriet Russland allerdings für beinahe zweieinhalb Jahrhunderte unter die Herrschaft der Tataren und verschwand weitgehend aus dem abendländi­schen Bewusstsein. Erst zu Beginn der Neuzeit, vor allem im 16. Jahrhundert wurde es neu entdeckt – also etwa zur gleichen Zeit wie Amerika. Viele Di­plomaten, Kaufleute, aber auch Abenteurer gelangten nun nach Moskovien – so wurde Russland damals genannt – und schrieben über das Erlebte Reiseberichte. In der Flut der damals erschienenen Reisebeschrei­bungen ragen insbesondere drei Werke heraus: die Schrift des österreichischen Gesandten in Russland Sigmund Freiherr von Herberstein vom Jahre 1549, das Werk des Jesuiten Antonio Possevino vom Jahre 1583 und der Bericht des englischen Diplomaten und Dichters Giles Fletcher, der im Jahre 1589 verfasst wurde. Alle diese Autoren betrachteten Russland als eine Despotie. Die Macht der Moskauer Herrscher war ihrer Ansicht nach durch keine Schranken begrenzt, ähnlich wie diejenige der türkischen Sultane. Herberstein schreibt: „Der Moskauer Großfürst verfügt aus freier Willkür über aller Leben und Gut. Von seinen Beratern hat keiner das Ansehen, um der Meinung des Herrn widersprechen zu dür5 6

Georg Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, München 1963, S. 473. Vgl. dazu unter anderem Erich Donnert, Russland (860–1917). Von den Anfängen bis zum Ende der Zarenzeit, Regensburg 1998, S. 21–22.

6

1  Der Streit um den Charakter Russlands

fen. Sie bekennen offen: Des Fürsten Wille sei Gottes Wille, also was der Fürst tut, das tut er aus dem Willen Gottes.“7 Auch Possevino und Fletcher sprechen von der Allmacht der russischen Herrscher, die beliebig über das Leben und den Besitz ihrer Untertanen verfügen könnten. Sie sprechen aber nicht nur von der Allmacht der Herr­scher, sondern auch von der Sklavenmentalität der Beherrschten. Herberstein schreibt: „Das Volk ist von solcher Natur, das es sich der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freut. Sterbende lassen in ihren Verfügungen oft Leibeigene frei: diese bleiben selten in der Freiheit, sondern verkaufen sich dann selbst an andere Herren.“8 Possevino fügt hinzu: man könnte meinen, dieses Volk sei dazu prädestiniert, in der Sklaverei zu leben, die Sklaverei scheint zu seiner zweiten Natur geworden zu sein. Da es sich an eine derartige Lebensform gewöhnt habe, verkläre es sie sogar und fühle sich den anderen Völkern überlegen.9 Indes vermittelten Herberstein, Possevino und andere westliche Beobachter kein adäquates Russlandbild. Für sie war Russland eine Art orientalische Despotie, weil sie dieses Land mit westlichen Maßstäben maßen. Viele Institutionen und Kräfte, die im Westen die Macht der Herrscher einschränkten, waren in Russland entweder unzureichend entwickelt oder erfüllten eine ganz andere Funktion. Im Westen wurde die Macht der Monarchen vor allem durch die verbrieften Rechte der Stände, der Korporationen und der Kirche beschränkt. In Russland konnte sich dieses System von ‚checks and balances‘ nicht in einem solchen Ausmaß wie im Westen etablieren. Hier verkörperte beinahe ausschließlich der Monarch den Staat. Der russische Staat war nicht absolutistisch wie zum Beispiel Frankreich unter der Herrschaft Ludwigs XIV., sondern autokratisch. 7 8 9

Sigmund v. Herberstein, Das alte Russland, Zürich 1984, S. 61–62. Ebd., S. 134. Antonio Possevino, Moskovskoe posol’stvo [Die Moskauer Gesandschaft], in: Ders., Istoričeskie sočinenija o Rossii XVI veka [Historische Werke über das Russland des XVI. Jahrhunderts], Moskau 1983, S. 24, 48–49; siehe dazu auch Giles Fletcher, Of the Russe Commonwealth, in: Russia at the Close of the Sixteenth Century. Works issued by the Haklyut Society o.O. o.J., S. 26–29, 44–45; In seinem Buch über das englische Russlandbild im 16. Jahrhundert schreibt Karl Heinz Ruffmann Das Russlandbild im England Shakespeares, Göttingen 1952, S. 82: „Die carische Regierungsform und Regierungsweise erschien den Engländern fremdartig, barbarisch und unchristlich“. Recht verbreitet war im damaligen Europa, nicht zuletzt in Polen, die These vom ‚asiatischen‘ Charakter des Moskauer Großfürstentums. So setzt zum Beispiel der polnische Geograph Johannes von Glogau im Jahre 1494 Moskau mit dem ‚asiatischen Sarmatien‘ gleich; vgl. Ekkehard Klug, Das ‚asiatische‘ Russland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 265–289, hier S. 273.

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All das scheint viele westliche Beobachter, die Russland als eine orientalische Despotie bezeichneten, zu bestätigen. In Wirklichkeit war aber auch die Macht der Zaren durchaus bestimmten Schranken unterworfen. So musste zum Beispiel das Verhalten des Zaren einem bestimmten Gerechtigkeitsideal entsprechen, er musste nach Wahrheit streben. Dabei ist der russische Begriff ‚Wahrheit‘, ‚pravda‘, in westliche Sprachen nicht übersetzbar. Bei der ‚pravda‘ handelte es sich um eine Art Synthese, die aus solchen Begriffen besteht wie Gerechtigkeit, Anstand, Wahrhaftigkeit und einiges mehr. Wenn der Zar diesem Ideal nicht entsprach, durfte ihm der Gehorsam verweigert werden. Der Mönch Iosif Volockij, dessen politischtheologische Schriften zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine außerordentliche Verbreitung in Russland fanden, sagt: „Dem Zaren, der den Willen Gottes erfüllt, muss man wie Gott dem Allmächtigen gehorchen. Aber wenn der Zar sich den Geboten Gottes widersetzt, dann ist er kein Zar mehr, sondern ein Peiniger und ein Diener Satans.“10 Die Schranken der Macht waren in Russland eher sittlicher als rechtlicher Natur. Deshalb waren sie für viele westliche Beobachter nicht erfassbar. Abgesehen von diesen religiös-sittlichen Schranken wurde die Macht der Zaren durch das Gewohnheitsrecht, das heißt durch die Tradition, im Russischen ‚starina‘, und durch den Einfluss des Hochadels – der ‚Bojaren‘ – eingeschränkt, die das Recht hatten, den Zaren im Bojarenrat zu beraten.11 Wenn man all dies bedenkt, bleibt eine Frage unbeantwortet: Warum reagierte die russische Gesellschaft derart passiv auf die Terrorherrschaft des Zaren Ivan des Schrecklichen? Dieser Terror, der die letzten 20 Jahre der Herrschaft des Zaren begleitete – er starb im Jahre 1584 – hat sich zunächst gegen den Hochadel gerichtet, danach erfasste er aber beinahe alle Schichten der Bevölkerung. Es gab zwar einzelne Protestakte gegen diese Orgien von Gewalt, sie blieben aber 10 Poslanija Iosifa Volockogo [Die Schriften von Iosif Volockij], hg. v. Aleksandr Zimin und anderen, Moskau-Leningrad 1959, S. 184; siehe dazu auch Vladimir Val’denberg, Drevnerusskie učenija o predelach carskoj vlasti [Altrussische Lehren über die Beschränkungen der zarischen Macht], Petrograd 1916, S. 213–214; Michail D’jakonov, Vlast’ moskovskich gosudarej. Očerki iz istorii političeskich idej drevnej Rusi do konca 16 veka [Die Macht der Moskauer Herrscher. Skizzen zur Geschichte der politischen Ideen im alten Russland bis zum Ende des 16. Jahrhunderts], St. Petersburg 1889, S. 95–99; Isaak Budovnic, Russkaja publicistika XVI veka [Die russische Publizistik des XVI. Jahrhunderts], Moskau 1947, S. 97. 11 Vgl. Ruslan Skrynnikov, Ivan Groznyj, Moskau 1975, S. 95; Ders., Der Begriff Selbstherrschaft [samoderžavie] und die Entwicklung ständisch-repräsentativer Einrichtungen im Russland des 16. Jahrhunderts, in: Geschichte Altrusslands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl, hg. v. Uwe Halbach, Hans Hecker u. Andreas Kappeler, Stuttgart 1986, S. 15–31, hier S. 17, S. 20.

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isoliert.12 Warum? Dies hatte nicht zuletzt mit dem eigentümlichen altrussischen Widerstandsrecht zu tun, dessen Kernsätze der bereits zitierte Iosif Volockij formulierte. Man durfte nur einem solchen Zaren den Gehorsam verweigern, der die Gebote Gottes verletzte. Ivan der Schreckliche beachtete aber peinlich genau alle kirchlichen Rituale, hielt sich selbst für einen tief religiösen Menschen. Wie der russisch-englische Historiker Michail Cherniavsky sagte: Tagsüber mordete, in der Nacht aber betete er.13 Die äußere Frömmigkeit und das Ritual spielten in der altrussischen Religiosität eine äußerst wichtige Rolle. Es gab zwar im damaligen Russland auch religiöse Strömungen, die sich gegen dieses Verständnis der Religiosität wandten, die die Bedeutung der inneren Frömmigkeit hervorhoben. Dies waren vor allem die sogenannten Wolga – beziehungsweise Transwolga-Starzen um Nil Sorskij.14 Sie konnten sich aber mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen. In den bereits zitierten Berichten der westlichen Reisenden, die Moskovien zu Beginn der Neuzeit besuchten, spiegelt sich ein beispielloses Überlegen­heitsgefühl der Westeuropäer Russland gegenüber wider. Nicht anders verhielt es sich aber damals mit der Einstellung Russlands zum Westen. Auch in Russland war das Gefühl von der eigenen Auserwähltheit außerordentlich tief verankert. Symbolisiert wurde dieses Überlegen­heitsgefühl durch die Theorie vom Moskau als dem ‚dritten Rom‘. Nach dem Fall des alten Roms und von Byzanz, dem zweiten Rom, galt Moskau in den Augen vieler orthodoxer Christen als das dritte unvergängliche Rom.

12 Zur Symbolfigur des Widerstandes gegen den Tyrannen wurde der Moskauer Metropolit Filipp. Über diesen unbeugsamen Geistlichen, den der Zar 1569 ermorden ließ, schrieb ein anderer orthodoxer Geistlicher, Aleksandr Men’, der im September 1990 unter mysteriösen Umständen ebenfalls ermordet wurde, Folgendes: „Im Konflikt zwischen dem Metropoliten Filipp und dem Zaren – sc. handelte es sich – um einen Zusammenstoß eines durch das Evangelium inspirierten Geistes mit einer Macht, die alle ethischen und rechtlichen Normen mit den Füßen trat“: vgl. Aleksandr Men’, Vozvraščenie k istokam, in: http://www.vekhi.net/men/fedotov2html, S. 6. 13 Michael Cherniavsky, Khan or Basileus. An Aspect of Russian Medieval Political Theory, in: Ders., The Structure of Russian History. Interpretative Essays, New York 1970, S. 74. 14 Fairy v. Lilienfeld, Nil Sorskij und seine Schriften. Die Krise der Tradition im Russland Ivans III., Berlin 1963; Igor Smolitsch, Russisches Mönchtum. Entstehung, Entwicklung und Wesen. 988–1917, Amsterdam 1978, S. 107–114; Georgij Fedotov, Svjatye drevnej Rusi [Die Heiligen des alten Russland], Paris 1931, S. 166–175; Georgij Florovskij, Puti russkogo bogoslovija [Wege der russischen Theologie], Paris 1983, S. 20–24.

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Anders als oft vermutet, hatte die Theorie von Moskau als dem dritten Rom eher einen defensiven Charakter. Ursprünglich von Mönch Filofej zu Beginn des 16. Jahrhunderts formuliert, stellte sie einen Appell an den damals in Moskau herrschenden Großfürsten Vasilij III. dar, die Reinheit der Orthodoxie zu schützen und zu bewahren. Den Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 führte der Mönch auf die Abkehr des byzantinischen Kaiserreiches von der reinen Lehre der Kirche und auf den moralischen Verfall zurück.15 Nach dem Untergang von Byzanz blieb Russland als der einzige unabhängige Staat übrig, in dem noch der orthodoxe Glaube herrschte. Deshalb musste es sich in eine unangreifbare Festung der Ortho­ doxie verwandeln. Der Moskauer Staat wurde nun von vielen politischen Denkern Russlands als eine Art Abbild des Himmelreiches auf Erden betrachtet, als ein Staat, der auf Wahrheit beruhte – gosudarstvo pravdy‘.16 Die technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands gegenüber dem Westen rief im Lande keine Minderwertigkeitskomplexe hervor, denn die Leistungen des Abendlandes galten im Wesentlichen als irrelevant, da es keinen richtigen Glauben besaß.

1.1.2 Die Entzauberung des ‚Dritten Roms‘ durch Peter den Großen Allmählich begann allerdings der Moskauer Staat, der seit der Terrorherrschaft Ivans des Schrecklichen in außerordentliche Identitätsschwierigkeiten geraten 15 Vgl. dazu Poslanija starca Filofeja [Die Schriften des Starez Filofej], in: Pamjatniki Literatury Drevnej Rusi. Konec XV- pervaja polovina XVI veka [Literarische Quellen des alten Russland. Ende des XV. und erste Hälfte des XVI. Jahrhunderts], hg. v. Lev Dmitriev u. Dmitrij Lichačev, Moskau 1984, S. 436–455; Nikolay Andreyev, Filofey and his Epistle to Ivan Vasilyevitch, in: Slavonic and East European Review (1959), S. 1–31; Florovskij, Puti, a.a.O., S. II; Edgar Hösch, Orthodoxie und ‚Rechtgläubigkeit‘ im Moskauer Russland, in: Halbach und andere, Geschichte Altrusslands, a.a.O., S. 50; Werner Philipp, Die gedankliche Begründung der Moskauer Autokratie bei ihrer Entstehung, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 15 (1970), S. 115; Aleksandr Zimin, Rossija na poroge novogo vremeni. Očerki političeskoj istorii Rossii pervoj treti XVI veka [Russland an der Schwelle der Neuzeit. Skizzen zur politischen Geschichte Russlands im ersten Drittel des XVI. Jahrhunderts], Moskau 1972, S. 340–342. 16 Vgl. dazu unter anderem Leonid Luks, Gosudarstvo pravdy. Rossija i Zapad na poroge novogo vremeni [Der Staat der Wahrheit. Russland und der Westen an der Schwelle der Neuzeit], in: Ders. „Tretij Rim? Tretij Reich? Tretij put“? Istoričeskie očerki o Rossii, Germanii i Zapade [Das Dritte Rom? Das Dritte Reich? Der dritte Weg? Historische Skizzen über Russland, Deutschland und den Westen], Moskau 2002, S. 6–32.

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war, an seiner Autarkie und Selbstzufriedenheit zu ersticken. Um die immer tiefer werdende kulturelle Stagnation zu überwinden, benötigte Russland dringend kulturelle Anregungen von außen, und woher konnten sie sonst kommen, wenn nicht aus dem Westen? Es sei kein Zufall gewesen, dass Peter der Große, als er Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts grundlegend reformieren wollte, das Fenster nicht nach Mekka, nicht nach Lhasa, sondern nach Europa geöffnet habe, sagt in diesem Zusammenhang der russische Kulturhistoriker Vladimir Vejdle. Peters Vision sei zwar ausschließlich technokratischer Natur gewesen, so Vejdle, er habe die Kultur mit der technischen Zivilisation gleichgesetzt. Intuitiv habe er indes durch die Wiederherstellung der Einheit der europäischen Welt den für die russische Kultur fruchtbarsten Entwicklungsweg gewählt. Die beispiellosen kulturellen Leistungen des Petersburger Russland im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien die Folge der petrinischen Umwälzung gewesen. Vejdle sieht keine Alternative zum petrinischen Programm. Die Abwendung von Europa sei für Russland unmöglich, so Vejdle, weil es infolge seiner Christianisierung zum unverzichtbaren Teil der europäischen Kultur geworden sei. Aber auch für den Westen könne der Verlust Russlands unabsehbare Folgen haben, denn Russland verkörpere nach dem Untergang von Byzanz die Tradition des östlichen Christentums, von dem der Westen immer wieder Impulse für seine Erneuerung erhalte. Vejdle hält sowohl russische als auch westliche Isolationisten, die beide Teile Europas durch eine undurchdringliche Mauer trennen und Russland nach Asien verbannen wollen, für Vereinfacher, die den Europabegriff außerordentlich verkürzten und den Blick für die Komplexität der europäischen Kultur verlören.17 Die Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit der russischen Gesellschaft gingen mit den Umwälzungen Peters des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen brach jetzt eine Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, das Abbild des Himmelreiches auf Erden, sondern lediglich ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst modernisiert werden musste. Keine andere Revolution in der Geschichte des Landes, nicht einmal die bolschewistische, erschütterte die bestehende Wertehierarchie so stark, wie die petrinische. Die russischen Herrscher maßen nun das Reich im Wesentlichen mit den abendländischen Kriterien der Effizienz. Das Land begab sich auf eieiinfne Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen. Von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein konnte angesichts dieser Sachverhalte keine Rede mehr sein. 17 Vladimir Vejdle, Zadača Rossii [Die Aufgabe Russlands], New York 1956.

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Im 18. Jahrhundert wurden russische Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina II., zu Lieblingen der westlichen Aufklärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens halbbarbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert. Aber auch Kritiker des petrinischen Werks meldeten sich damals zu Wort. Jean-Jacques Rousseau warf dem Zaren vor, er habe seine Untertanen zu früh europäisiert: „Er sah die Rohheit seines Volkes, sah jedoch nicht, dass es für höhere Gesittung noch nicht reif war; er wollte es zivilisieren, als es erst der Zucht bedurfte.“ Und dann entwickelt Rousseau folgende düstere Vision: „Die Tataren, seine Untertanen oder Nachbarn, werden seine und unsere Herren werden; diese völlige Umwälzung scheint mir unabwendbar. Alle Könige Europas arbeiten einmütig daran, sie zu beschleunigen.“18 Diese Prognose hatte mit der politischen Wirklichkeit nur wenig gemeinsam. Die Zarenmonarchie entwickelte sich infolge der petrinischen Umwälzung zu einem gleichberechtigten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, war in der Regel loyaler Verbündeter ihrer westlichen Koalitionspartner, und auch bei genauerem Hinsehen konnte man keine Merkmale entdecken, die auf eine unversöhnliche Gegnerschaft des Petersburger Russland zum Abendland hinwiesen. Mehr noch. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug das Zarenreich entscheidend dazu bei, dass der napoleonische Versuch, das europäische Gleichgewicht zu zerstören, scheiterte. Erst nach dem Sieg des Zarenreiches über Napoleon sollte sich die Einstellung der westlichen Öffentlichkeit zu Russland schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen.19 18 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1971, S. 51–52. 19 Siehe dazu unter anderem Dmitrij Tschižewskij u. Dieter Groh, Europa und Russland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959; Dieter Groh, Russland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961, S. 3, 14–15, 97, 319–321; John H. Gleason, The Genesis of Russophobia in Great Britain. A Study of Interaction of Policy and Public Opinion, Cambridge Mass. 1950; Robert T. McNally, Das Russlandbild der französischen Publizistik zwischen 1814 und 1843, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 6 (1958), S. 82–169; Ders., The Origins of Russophobia in France: 1812–1830, in: The American Slavic and East European Review 17 (1958), S. 173–189; Lore Müller, Das Russlandbild der deutschen politischen Flugschriften, Reisewerke und Nachschlagewerke und einiger führender Zeitschriften und Zeitungen während der Jahre 1832–1853, Diss. München 1953; Matthew S. Anderson,

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Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden antirussischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der Dichter und Altphilologe Vladimir Pečerin dar, der im Jahre 1836 seine Heimat beinahe fluchtartig verließ, um sie bis zu seinem Tode fünfzig Jahre später nicht wiederzusehen – siehe dazu den Beitrag über Vladimir Pečerin in diesem Band.20 Im gleichen Jahr, in dem Pečerin Russland verließ, erschien in der Moskauer Zeitschrift Teleskop der berühmte ‚Philosophische Brief‘ Petr Čaadaevs, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Geschichte einleitete. Während Pečerin seinem Protest gegen die Zustände im Lande durch eine verzweifelte Tat Ausdruck verliehen hatte, tat Čaadaev das Gleiche in der Form einer schonungslosen, wenn auch in manchen Punkten überzogenen geschichtsphilosophischen Diagnose. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Čaadaev in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Russland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt: „Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt.“21 Aleksandr Gercen bezeichnete den Brief Čaadaevs als einen Schuss, der in der dunklen Nacht erschallte und die gesamte russische Bildungsschicht wachrüttelte.22 Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Russlands als einer europäiThe Ascendancy of Europe. Aspects of European History 1815–1914, London 1972, S. 6–7; Erwin Oberländer, Das ‚Testament‘ Peters des Großen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 46–60. 20 Vladimir Pečerin, Zamogil’nye zapiski [Aufzeichnungen jenseits des Grabes], Moskau 1932, S. 37. 21 Petr Čaadaev, Filosofičeskie pis’ma adresovannye dame. Pis’mo pervoe [Philosophischer Brief adressiert an eine Dame. Der erste Brief], abgedruckt in: Russkoe obščestvo 30-ch godov XIX v. Ljudi i idei. Memuary sovremennikov [Die russische Gesellschaft der 1830er Jahre. Menschen und Ideen. Memoiren der Zeitgenossen], Red. Ivan A. Fedosov. Moskau 1989; dt. in: Tschižewskij und Groh, Europa, a.a.O., S. 84. 22 Aleksandr Gercen, Byloe i dumy, [Vergangenes und Reflexionen], in: Ders., Sočinenija, [Werke], Moskau 1956–57, Band 5, S. 138.

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schen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigenart, den ‚Westlern‘, massiv in Frage gestellt. Čaadaev lässt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigen­art trug zweifellos dazu bei, dass viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten unge­rechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine nicht weniger emotionale, oft unkritische Apologie zu Folge. Typisch hierfür waren die Gedanken­gänge der sla­wophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik mit den Thesen Čaadaevs und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.23 Bezeichnenderweise handelte es sich bei den führenden Slawophilen – Aleksej Chomjakov, Ivan Kireevskij, Konstantin Aksakov – ursprünglich um Bewunderer der westlichen Kultur beziehungsweise um deren ausgezeichnete Kenner. Sie profitierten bei der Entwicklung ihrer Konzepte nicht selten von den Anregungen westlicher Denker – Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und andere. So handelte es sich bei dem Slawophilentum, trotz seiner antiwestlichen Spitze, um einen Bestandteil des allgemein europäischen Diskurses. Im Gegensatz zu Čaadaev betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sich von der des Westens unterschied, keineswegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegenteil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Čaadaev, ähnlich wie andere Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß. Die Orthodoxie, so die Slawophilen, postuliere eine völlig andere Gesellschafts- und Staatsordnung als der Katholizismus beziehungsweise Protestantismus. In ihrem Zentrum liege der Gedanke der 23 Siehe unter anderem Nikolaj Berdjaev, Russkaja ideja. Osnovnye problemy russkoj mysli XIX veka i načala XX veka [Die russische Idee. Grundprobleme des russischen Denkens im XIX. und zu Beginn des XX. Jahrhunderts], Paris 1971; Vasilij Zen’kovskij, Russkie mysliteli i Evropa. Kritika evropejskoj kul’tury u russkich myslitelej [Russische Denker und Europa. Die Kritik der europäischen Kultur durch russische Denker], Paris 1955; Nicholas Riasanovsky, Russia and the West in the Teachings of Slavophiles. A Study of Romantic Ideology, Harvard University Press 1952; Ders., Nicholas I and official Nationality in Russia 1825–1855, Berkeley 1959; Ders., A Parting of Ways. Government and the educated Public in Russia in 1801–1855, Oxford 1976; Peter K. Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism, 3 Bände – Band 1: A.S. Xomyakov, Band 2: I.V. Kireevskij, Band 3: K.S. Aksakov –, ’s-Gravenhage, Princeton, N.J., The Hague u. Paris 1961–1982; Andrzej Walicki, The Slavophile Controversy: History of Conservative Utopia in NineteenthCentury Russian Thought, Oxford 1969.

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Harmonie, der organischen Gemeinschaft – sobornost’. Dieser Gedanke söhne das Indi­viduum mit dem Kollektiv, den Herrscher mit den Beherrschten aus. Im Mittelpunkt der westlichen Kultur hingegen stünden Egoismus, Konflikt und Gewalt.24 Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Russ­land übertrugen, wurden von den Slawophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie zurück, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht gewesen sei.25

1.1.3 Westliche Dekadenzängste und russisches Sendungsbewusstsein Die Infragestellung westlicher Werte durch die Slawophilen ereignete sich ausgerechnet in der Zeit, in der auch manche westliche Denker von Selbstzweifeln geplagt wurden. Pessimistische Strömungen nahmen hier nach der Bezwingung des napoleonischen Frankreich außerordentlich an Stärke zu. Überall war von der Dekadenz, vom Verwelken der westlichen Kultur die Rede. Einige westliche Intellektuelle blickten mit Hoffnung auf den scheinbar noch vitalen, ‚unverbrauchten‘ Osten. So erwartete der Münchener Philosoph Franz von Baader von Russland Impulse für die Errettung des westlichen Christentums. 1841 schrieb er: „Gottes Fürsorge hielt die russische Kirche von der europäischen Weltbewegung, somit auch von der Bewegung zur Dechristianisierung sowohl der Wissenschaft als auch der bürgerlichen Societät bis dahin fern.“ Daher sei diese Kirche, so Baader, „im Stande …, befreiend auf das Abendland rückzuwirken.“26 Die westlichen Dekadenzängste blieben in Russland natürlich nicht unbe­merkt und stärkten wiederum das Sendungsbewusstsein der Slawo­philen, vor allem aber der Panslawisten. Mit besonderer Vehemenz vertrat das panslawistische Sendungsbewusstsein um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Dichter Fedor Tjutčev. Die Panslawisten verklärten den imperialen Gedanken und die russische Autokratie, insofern unterschieden sie sich grundlegend von den kontemplativ veranlagten Slawophilen, die sich gegenüber der herrschenden Bürokratie sehr kritisch ver24 Siehe dazu unter anderem Ivan Kireevskij, Izbrannye stat’i [Ausgewählte Artikel], Moskau 1984. 25 Zur Kritik der Westler an dieser Verklärung des alten Russland durch die Slavophilen siehe unter anderem Vospominanija Borisa N. Čičerina. Moskva sorokovych godov [Die Erinnerungen Boris Čičerins. Das Moskau der 1840er Jahre], Moskau 1929, S. 20–22, S. 225–238. 26 Siehe bei Tschižewskij u. Groh, Europa, a.a.O., S. 102–103.

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hielten. Da im Zentrum ihrer Welt­anschauung die Orthodoxie stand, betrachteten sie den Staat als solchen mit allen seinen Implikationen außerordentlich skeptisch. Nikolaj Berdjaev bezeichnete die Slawophilen sogar als Anarchisten.27 Das bürokratische Regiment Nikolaus I. distanzierte sich indes von beiden Sendungsideen, sogar von derjenigen der regimetreuen Panslawisten. Die Gesellschaft hatte nach der Vorstellung Nikolaus I. nur zu gehorchen und durfte sich in die Angelegenheiten der Regierung nicht einmal mit beratender Stimme einmischen.28

1.1.4 Der Krimkrieg und seine Folgen 1853 brach der vielbeschworene Kampf zwischen Ost und West – der Krimkrieg – aus; zum Charakter des Krimkrieges als eines untypischen Hegemonialkrieges siehe den Aufsatz Dekadenzängste und Russlandfurcht – zwischen Wiener Kongress und Krimkrieg in diesem Band. Die Tatsache, dass die Petersburger Autokratie alle freien Regungen innerhalb der Gesellschaft zu ersticken versuchte, führte dazu, dass das Regime nach dem Beginn des Krimkrieges nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch isoliert war.29 Nach der Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg wurde die Frage nach der Stellung Russlands in Europa in der russischen Öffentlichkeit höchst unterschiedlich beurteilt. Einige hielten den Ost-West-Gegensatz für unüberbrückbar und den nächsten Waffengang für unvermeidlich. Zu ihnen zählte Nikolaj Danilevskij, der 1869 ein vielbeachtetes Buch Russland und Europa veröffentlicht hatte.30 Viele betrachten Danilevskij als einen Vorläufer Oswald Spenglers, denn er entwickelte eine Lehre vom biologischen Alter der Kulturen, die nach der Vollendung eines bestimmten Zyklus von der geschichtlichen Bühne abtreten. Die romanisch-germanische Kultur befand sich nach Ansicht Danilevskijs bereits im Stadium des 27 Berdjaev, Russkaja ideja, a.a.O., S. 51–52, S. 148–149. 28 Riasanovsky, A Parting of Ways, a.a.O, S. 105, S. 134–135; Ders., Nicholas I, a.a.O., S. 36–37, S. 42–44, S. 50–53; Anna Tjutčeva, Pri dvore dvuch imperatorov (Vospominanija. Dnevnik) [Am Hofe von zwei Kaisern. (Erinnerungen. Tagebuch)], Moskau 1928, S. 96–98; Čičerin, Vospominanija, a.a.O., S. 15–156. 29 Siehe Riasanovsky, A Parting of Ways, a.a.O., S. 256. 30 Nikolaj Danilevskij, Rossija i Evropa. Vzgljad na kul’turnye i političeskie otnošenija Slavjanskogo mira k Germano-Romanskomu [Russland und Europa. Ein Blick auf die kulturellen und politischen Beziehungen zwischen der Slawischen und der GermanoRomanischen Welt], London 1966.

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Verfalls und die ihr wesensfremde slawische in einem Aufstieg. Antirussische Emotionen im Westen führte Danilevskij in erster Linie auf diese Wesensfremdheit, auf kulturtypologische Unterschiede zurück. Mit einer atemberaubenden Selbstgerechtigkeit schilderte er das Anwachsen des russischen Imperiums in den letzten Jahrhunderten und verlieh ihm eine völlig andere Qualität als den Eroberungen der Westmächte. Nicht anders argumentierten damals auch die deutschen, die französischen oder die englischen Nationalisten. Die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes durch Danilevskij entsprach durchaus dem Geist der Zeit. Auch in einem anderen Punkt passte sich sein panslawistisches Konzept an die geistige Atmosphäre der Epoche an. Im Gegensatz zu seinen slawophilen Vorgängern verzichtete er im Wesentlichen auf universalistische Begründung seiner Sendungsidee. Sie zeichnete sich durch einen ausgesprochen partikularistischen Charakter aus. Insofern unterschied sie sich grundlegend von dem Konzept Fedor Dostoevskijs, der von einer universalen Sendung des Russentums sprach; die russische Orthodoxie sollte die gesamte Christenheit erneuern. Dennoch stimmte Dostoevskij mit Danilevskij vor allem in einem Punkt überein. Auch er war nämlich von einer abgrundtiefen Abneigung des Westens gegen Russland überzeugt. 1877 schrieb er: „Über Russland … verbreitet man jetzt selbst in den gebildetsten Staaten den größten Unsinn. Auch früher kannte man uns in Europa wenig, sogar so wenig, dass man sich immer nur wundern musste, wie dermaßen aufgeklärte Völker so wenig bestrebt sein konnten, jenes Volk kennen zu lernen, das sie doch alle von jeher hassen und fürchten.“31 Als Dostoevskij diese Worte schrieb, klangen sie bereits etwas ana­chronistisch. Nach der Niederlage im Krimkrieg galt das Zarenreich nicht mehr als unbesiegbar beziehungsweise als Garant der bestehenden Ordnung in Europa. Die westliche Russlandfurcht ließ eindeutig nach. Das vereinte Deutschland übernahm die Nachfolge Russlands als Anwärter auf die europäische Hegemonie. Der Ost-WestGegensatz verlor damals die Brisanz, die ihn bis dahin ausgezeichnet hatte, und dies trug dazu bei, dass Russland sich in einem viel stärkeren Ausmaß als bisher gegenüber den westlichen Ideen und Strömungen öffnete. Der Siegeszug des Liberalismus, der in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz Europa erfasste, dehnte sich auch auf das Zarenreich aus. Kräfte, die auf einen russischen Sonderweg Wert legten, befanden sich in immer größerer Bedrängnis. Einige liberale Kreise im Lande sahen in der Niederlage im Krimkrieg nicht in erster Linie die nationale Schmach, sondern die Befreiung vom despotischen Regime Nikolaus‘ I., der in den Jahren 1825 bis 1855 Russland mit eiserner Faust 31 Fedor Dostoevskij, Tagebuch eines Schriftstellers, München 1977, S. 430.

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regiert hatte. Ein russischer Sieg hätte das bestehende, unerträglich gewordene System lediglich gefestigt, schrieb nachträglich einer der führenden Vertreter des russischen Liberalismus, Boris Čičerin. Er verglich die Niederlage des Zarenreiches mit derjenigen Preußens von 1806. In beiden Fällen sei die Niederlage in erster Linie den Unterlegenen zugutegekommen. Ohne das offensichtliche Versagen des alten Systems wären große Reformen in beiden Staaten kaum denkbar gewesen.32 Čičerin hielt, ähnlich wie viele andere russische Westler, die These von einer russischen Sendung beziehungsweise von einem russischen Sonderweg für völlig abwegig. Russland war in seinen Augen Bestandteil der europäischen Völkergemeinschaft und seine Eigenart bestand lediglich in seiner Rückständigkeit. Es habe keine andere Wahl, als dem von den fortschrittlichen westlichen Ländern gewiesenen Weg konsequent zu folgen.33 Solche Thesen wurden von manchen konservativen russischen Staatsmännern und Denkern des ausgehenden 19. Jahrhunderts leidenschaftlich bekämpft, so von Konstantin Leont’ev und von Konstantin Pobedonoscev.34 Um Russland von den aus dem Westen stammenden Ideen abzuschirmen, wollten sie es, wie sie es selbst formulierten, in seiner Entwicklung ‚einfrieren‘. Jedoch standen sie auf verlorenem Posten.

1.1.5 Der bolschewistische Isolationismus Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Westler den Konflikt mit den Slawophilen und Panslawisten endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Russland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Die Reformen Sergej Wittes – Finanzminister 1891 bis 1903 – und Petr Stolypins – Ministerpräsident 1906 bis 1911 – veränderten grundlegend das wirtschaftliche und soziale Gefüge des Landes. Beide Staatsmänner versuchten, den kapitalistischen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen und vormoderne Denk- und Ver32 Čičerin, Vospominanija. Moskva sorokovych godov, a.a.O., S. 150. 33 Ebd.; Ders., Vospominanija Borisa N.Čičerina. Moskovskij universitet. [Die Erinnerungen Boris Čičerins. Die Moskauer Universität], Moskau 1929. 34 Konstantin Pobedonoscev, Moskovskij sbornik [Der Moskauer Sammelband], Moskau 1896; Pis’ma Pobedonosceva Aleksandru III, [Briefe Pobedonoscev an Alexander III.], hg. v. Michail Pokrovskij, Band 1–2, Moskau 1925; Robert Byrnes, Pobedonoscev. His Life and Thought, Bloomington 1968; Konstantin Leont’ev, Vostok, Rossija i Slavjanstvo [Der Osten, Russland und das Slawentum], St. Petersburg 1885–1886, Band 2, S. 136, S. 186–187.

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haltensstrukturen zurückzudrängen. Einen ähnlichen ‚Modernisierungsprozess‘ erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der ‚Fin de Siècle‘-Stimmung erfasst; die russische Avantgarde stellte einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen. Übersehen wurde von vielen nur die Tatsache, dass die russischen Unterschichten sich an diesen neuen Denkprozessen kaum beteiligten. Erst während der Revolution von 1917 offenbarte sich dieser Sachverhalt in voller Deutlichkeit. Das Ausmaß der Kluft zwischen der europäisierten Oberschicht und dem einfachen Volk wurde für alle sichtbar. Die Debatte zwischen den Westlern und den Slawophilen erlebte nun, diesmal vorwiegend in der russischen Emigration, eine Neuauflage. Erneut wurde die Frage nach der Zugehörigkeit Russlands zu Europa leidenschaftlich diskutiert. In Russland selbst, unter den Bedingungen der bolschewistischen Diktatur, war eine offene Diskussion über diese Fragen nicht mehr möglich. Über den Sinn der russischen Geschichte durfte nun die Partei allein reflektieren, einen Dialog mit sich ließ sie nicht zu. Der Sieg der bolschewistischen Revolution lieferte auch der westlichen Diskussion über die Zugehörigkeit Russlands zu Europa zusätzliche Impulse. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb 1925, die bolschewistische Herrschaft habe die Re-Asiatisierung Russlands zur Folge gehabt. Russland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst.35 Als Alfred Weber diese Worte schrieb, bahnte sich gerade in Deutschland eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes an, die den gesamten Kontinent in einen noch tieferen Abgrund stürzen sollte, als dies die bolschewistische Revolution getan hatte. Die russische Katastrophe von 1917 stellte also nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der gesamteuropäischen Krise dar. Man darf auch nicht vergessen, dass die soziale Utopie, welche die Bolschewiki in Russland zu verwirklichen suchten, westlichen Ursprungs war. Aleksandr Kerenskij, der letzte Ministerpräsident der von den Bolschewiki am 7. November 1917 gestürzten Provisorischen Regierung, berichtet über ein Gespräch, das er 1923 mit einem der führenden deutschen Sozialdemokraten, Rudolf Hilferding, führte. Hilferding konnte nicht verstehen, warum die russischen Demokraten derart hilflos auf den bolschewistischen Staatsstreich reagiert hatten: „Wie konnten Sie die Macht verlieren, wenn Sie sie völlig in der Hand hatten? Das wäre [in Deutschland] nicht möglich!“, meinte der deutsche Politiker und dann 35 Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsdenkens in Europa, Stuttgart 1925, S. 119.

1.1 Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einer Debatte

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fügte er hinzu: „Ihr Volk ist nicht fähig, in Freiheit zu leben.“ Elf Jahre später, so Kerenskij, sei Hilferding ebenfalls auf der Flucht gewesen, um sich dem Zugriff eines anderen totalitären Regimes zu entziehen: „Damals musste er aus … dem Munde eines führenden französischen Sozialisten dasselbe über die Deutschen sagen hören.“36 Diese deutsch-russischen Parallelen zeigen, dass der Zusammenbruch der ‚ersten‘ russischen Demokratie keineswegs auf den ‚asiatischen‘ Charakter Russlands zurückzuführen war, wie Alfred Weber dies angedeutet hatte. Und auch die Bolschewiki selbst waren ihrem Selbstverständnis nach ‚Europäer‘. Wenn sie von der proletarischen Weltrevolution träumten, dann bezog sich diese ihre Vision in erster Linie auf die hochentwickelten Industrienationen des Westens. Was Russland anbetrifft, so verwandelten sie das von ihnen beherrschte Land in ein Experimentierfeld zur Verwirklichung von Ideen, die sie für die höchste Ausprägung des europäischen Geistes hielten. Ihrem Selbstverständnis nach setzten sie auch das Werk Peters des Großen fort, indem sie die ‚rückständigen‘ russischen Strukturen zu modernisieren und zu ‚europäisieren‘ suchten. Die Folgen ihrer Handlungen waren allerdings denjenigen ihres großen Vorgängers geradezu entgegengesetzt. Peter der Große hatte die Kluft zwischen Ost und West, zumindest teilweise, überwunden, die Bolschewiki hingegen schotteten Russland erneut von der Außenwelt ab. Das Land wurde wieder, ähnlich wie der Moskauer Staat im 16. und im 17. Jahrhundert, autark und verlor den Anschluss an die Moderne. Das gleiche Schicksal ereilte auch die Vasallenstaaten Moskaus, die ab 1945 zum Bestandteil des ‚äußeren Sowjetimperiums‘ werden sollten.

1.1.6 Die ‚Rückkehr nach Europa?‘ Umso erstaunlicher waren die Prozesse, die sich auf dem Kontinent in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts anbahnten. Zwei Teile Europas, die siebzig Jahre lang voneinander getrennt gewesen waren, begannen zusammenzuwachsen. Ein Teil der russischen Eliten wurde nun von der Sehnsucht erfasst, nach Europa zurückzukehren. Und es wäre völlig verfehlt, diese Sehnsucht als ‚romantische Schwärmerei‘ abzutun, wie dies gelegentlich geschieht. Denn sie hatte ganz konkrete politische Folgen. Das politische Wunder der friedlichen Revolutionen von 1989, die Überwindung der europäischen Spaltung und die deutsche Einheit wären ohne diese ‚Sehnsucht‘ und ohne den Verzicht des Reformflügels in der 36 Die Kerenski-Memoiren. Russland und der Wendepunkt der Geschichte, Wien u. Hamburg 1966, S. 540.

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Gor­bačev-Equipe auf die ‚Brežnev-Doktrin‘, die der Idee des ‚gemeinsamen europäischen Hauses‘ eklatant widersprach, undenkbar gewesen. Die Euphorie der Jahre 1989 bis 1991 ist inzwischen verflogen. Isolationistische Kräfte sowohl im Westen als auch im Osten, die den europäischen Charakter Russlands in Frage stellen, nehmen an Stärke zu. Die russischen ‚Europäer‘, denen der Kontinent die friedliche Überwindung seiner jahrzehntelangen Kluft im Wesentlichen verdankt, stehen zurzeit mit dem Rücken zur Wand und scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens in Russland verloren zu haben – dies, vor allem nach der Errichtung der ‚gelenkten Demokratie‘ Vladimir Putins. Auf der anderen Seite haben die Umwälzungen von 1989 bis 1991 eine solche Fülle von vollendeten Tatsachen geschaffen, dass ein erneuter demokratischer Aufbruch im Lande, die Fortsetzung des vor einigen Jahren unterbrochenen Prozesses der ‚Rückkehr Russlands nach Europa‘ immer noch denkbar ist.

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Freiheit oder imperiale Größe? – Anmerkungen zur politischen Kultur Russlands

1.2.1 Das gespaltene Russland Wenn man von der politischen Kultur Russlands spricht, darf man dabei nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass es sich bei Russland um ein seit Generationen gespaltenes Land handelt, in dem unterschiedliche politische Traditionen und Wertvorstellungen miteinander konkurrieren. Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen politischen Orientierungen sind zwar für alle europäischen Länder charakteristisch, in Russland treten sie allerdings in einer besonders ausgeprägten Form auf. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Russland bereits vor 300 Jahren als erstes nichtabendländisches und souveränes Land den Weg der Westernisierung beschritten hatte. Der Versuch Peters des Großen, Russland an die modernen europäischen Entwicklungen anzupassen, geriet in einen eklatanten Widerspruch zu dem im Lande tief verwurzelten Glauben an die Auserwähltheit der russischen Nation, an die ‚heilige Rus’‘ beziehungsweise an Moskau als ‚das Dritte Rom‘. Und nicht zuletzt aufgrund dieses Glaubens ist es den Nachfolgern Peters niemals gelungen, Russland in ein ‚normales‘ europäisches Land umzuwandeln. Aber auch die Widersacher Peters des Großen waren nie imstande, die Folgen seines Werks ungeschehen zu machen. Die Restauration der vorpetrinischen Zustände war nicht mehr möglich. Der russische Kulturhistoriker Vladimir Vejdle sagte einmal, die Vision Peters des Großen sei ausschließlich technokratischer Natur gewesen. Er habe die Kul-

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tur mit der technokratischen Zivilisation gleichgesetzt. Intuitiv habe er allerdings durch die Wiederherstellung der Einheit der europäischen Welt den für die russische Kultur fruchtbarsten Entwicklungsweg gewählt.37 Auf Dauer war es in der Tat nicht möglich, die Europäisierung Russlands nur auf die Oberfläche zu beschränken. Die Übernahme westlicher Technologien und Entwicklungsmodelle musste zwangsläufig auch eine Übernahme westlicher Geisteshaltungen nach sich ziehen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die russische Bevölkerung ähnliche Forderungen an die Herrschenden stellen würde wie die westlichen Völker dies bereits schon länger getan hatten. Diese Zeit kam in Russland im Jahre 1825 – mit dem Aufstand der Dekabristen. Unter dem Einfluss der europäischen, vor allem der französischen Ideen sagten die Dekabristen der uneingeschränkten Selbstherrschaft den Kampf an und versuchten die russische Autokratie mit Hilfe einer verfassungsmäßig verankerten Gewaltenteilung zu zähmen.38 Die Auflehnung der Dekabristen scheiterte zwar, sie eröffnete aber ein neues Kapitel in der Entwicklung der politischen Kultur Russlands. Der Freiheitsdrang, der sich auch in früheren Epochen der russischen Geschichte immer wieder manifestiert hatte, war von nun an untrennbar mit dem Begriff ‚Dekabristen‘ verbunden. Die russische Autokratie, die auf der Bevormundung ihrer Untertanen basierte, wurde nun in einem immer stärkeren Ausmaß durch Kräfte herausgefordert, die sich dieser Bevormundung entziehen wollten. Im Westen wurde diese innerrussische Auseinandersetzung jahrzehntelang kaum wahrgenommen. Man sprach dort ununterbrochen von der Autoritätsgläubigkeit, ja Sklavenmentalität der Russen. 18 Jahre nach dem Dekabristenaufstand schrieb Marquis de Custine in dem Bericht über seine Russlandreise, der unzählige Neuauflagen erlebte, Folgendes: „Alles ist hier einstimmig, Volk und Regierung. [Ich] wundere mich, dass unter den [russischen] Stimmen auch nicht eine von dem allgemeinen Chor sich abtrennt, um zu Gunsten der Wahrheit gegen

37 Vejdle, Zadača Rossii, a.a.O. 38 Zu den Dekabristen siehe unter anderem Vasilij Ključevskij, Sočinenija [Werke], Moskau 1958, Band 5, S.241–265; Milica Nečkina, Dviženie dekabristov [Die Dekabristenbewegung], Moskau 1955; Hans Lemberg, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln-Graz 1963; Natan Ėjdel’man, Verschwörung gegen den Zaren. Porträts der Dekabristen, Moskau 1984; Dekabristy. Aktual’nye problemy i novye podchody [Dekabristen. Aktuelle Probleme und neue Zugänge], hg. v. Oksana I. Kijanskaja, Moskau 2008.

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die Wundertaten der Autokratie zu protestieren. Man kann die Russen, die Großen wie die Geringen, von Sklaverei trunken nennen“.39 Zu der Zeit als diese Worte geschrieben wurden, begann sich in dem angeblich so autoritätsgläubigen Russland eine gesellschaftliche Formation zu entwickeln, die den Nonkonformismus und den Kampf gegen unantastbare Autoritäten jeglicher Art geradezu verkörperte – die russische Intelligenzija. Die Tatsache, dass der Begriff Intelligenzija in westliche Sprachen nicht übersetzbar ist und dort lediglich als terminus technicus verwendet wird, zeigt, dass es sich bei der Intelligenzija um ein typisch russisches Phänomen handelt, das in anderen Ländern nur selten eine Entsprechung besaß. Die Unbedingtheit und Absolutheit, die den revolutionären Glauben der russischen Intelligenzija auszeichnete, seien im Westen praktisch unbekannt gewesen, so der deutsche Historiker Theodor Schieder.40 Was in diesem Zusammenhang verwundert, ist die Tatsache, dass die Intelligenzija sich ausgerechnet in der Herrschaftsperiode des liberalen Zaren Alexander II. – 1855 bis 1881 –, der als Zar-Befreier in die russische Geschichte einging, radikalisierte. Alexander II. hat kurz nach der Thronbesteigung im Jahre 1855 ein gewaltiges Reformwerk in die Wege geleitet. Viele der Forderungen der Dekabristen wurden nun realisiert. Man kann Alexander II. in gewisser Hinsicht als einen ‚Dekabristen auf dem Thron‘ bezeichnen. 1861 wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, die Zensur wurde erheblich gelockert. Die Justizreform von 1864 schuf unabhängige Gerichte und verankerte damit die ersten Ansätze einer Gewaltenteilung im Lande. Für die revolutionäre Intelligenzija hatte diese Entwicklung indes so gut wie keine Relevanz. Im Gegenteil, je liberaler die Monarchie wurde, desto radikaler wurde sie von der Intelligenzija bekämpft. Sie war nicht an der Reform des bestehenden Systems interessiert, sondern an seiner gänzlichen Zerstörung, um auf seinen Ruinen ein soziales Paradies auf Erden aufzubauen. Im Jahre 1869, also in der Zeit, in der die Reformen Alexanders II. Russland bis zur Unkenntlichkeit veränderten, schrieb einer der radikalsten Regimegegner, Sergej Nečaev, den sogenannten ‚Revolutionskatechismus‘, in dem Folgendes zu lesen war: „Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch … Wenn er in dieser Welt fortlebt, so geschieht es nur, um sie desto sicherer zu vernichten … Zwischen ihm und

39 Astolphe de Custine, Russische Schatten. Prophetische Briefe aus dem Jahre 1839, Nördlingen 1985, S. 44 f. 40 Theodor Schieder, Das Problem Rußlands im 19. Jahrhundert, in: Ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1970, S. 42 ff.

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der Gesellschaft herrscht Krieg auf Tod und Leben, offener oder geheimer Kampf, aber stets ununterbrochen und unversöhnlich“.41 Statt auf eine Überwindung der inneren Spaltungen, statt auf eine allgemeine Versöhnung steuerte Russland ausgerechnet in der Epoche der Reformen auf eine totale Konfrontation zu, deren Höhepunkt die Ermordung des Zaren Alexander II. durch die Terrororganisation ‚Narodnaja volja‘ am 1. März 1881 darstellte.

1.2.2 Slavophile und Panslawisten oder die Suche nach einer ‚organischen‘ Einheit der Nation Nun einige Worte zu den innerrussischen Kritikern der politischen Vorstellungen der revolutionären Intelligenzija. Während sich die Intelligenzija an westliche, vor allem an materialistische und sozialistische Ideen anlehnte, die sie dann in einer besonders radikalen Form vertrat, lehnten ihre national gesinnten Kontrahenten innerhalb der russischen Bildungsschicht den Westen radikal ab und plädierten für einen eigenen russischen Entwicklungsweg. Da diese Kontroverse wie ein roter Faden die Entwicklung der politischen Kultur Russlands praktisch bis heute durchzieht, möchte ich ihr einige Aufmerksamkeit widmen. Mit besonderer Vehemenz kritisierte die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene slavophile Partei die Anlehnung Russlands an westliche Entwicklungsmodelle.42 Die petrinischen Reformen wurden von den Slavophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht worden war. Im Mittelpunkt der westlichen Kultur standen für sie hingegen Egoismus, Konflikt und Gewalt.43 Diese Verklärung des alten Moskauer Russland wurde von den russischen Westlern leidenschaftlich bekämpft. Mit wissenschaftlicher Akribie wiesen sie nach, wie sehr sich die damalige russische Wirklichkeit von dem von den Sla41 Zitiert nach Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Berlin 1959 ff., Band 18, S. 427–431. 42 Vgl. dazu unter anderem Berdjaev, Russkaja ideja, a.a.O.; Vasilij Zen’kovskij, Russkie mysliteli i Evropa. Kritika evropejskoj kul’tury u russkich myslitelej [Russische Denker und Europa. Kritik der europäischen Kultur durch russische Denker], Paris 1955; Riasanovsky, Russia and the West, a.a.O.; Ders., A Parting of Ways, a.a.O.; Christoff, An Introduction to the Nineteenth-Century Russian Slavophilism, a.a.O.; Walicki, The Slavophile Cntroversy, a.a.O. 43 Vgl. dazu Kireevskij, Izbrannye stat’i, a.a.O., S. 214; dt. in: Tschiževskij u. Groh, Europa und Rußland, a.a.O., S. 268.

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vophilen entworfenen Bild unterschied. Und in der Tat hält die Verklärung der altrussischen Gesellschaft durch die Slavophilen einer historischen Prüfung nicht stand. Soziale Spannungen und zahlreiche Bauernaufstände im vorpetrinischen Russland weisen darauf hin, dass die altrussische Gesellschaft keineswegs ein Harmonieideal verkörperte. Trotzdem enthielten die Thesen der Slavophilen einen Wahrheitskern. Zwar wich die altrussische Wirklichkeit erheblich von dem von ihnen beschriebenen Harmonieideal ab, dennoch bildete dieses Ideal einen wichtigen Bestandteil der politischen Doktrin des Moskauer Russland. Dies konnte auch für die soziale und politische Wirklichkeit nicht ohne Folgen bleiben. Westliche Wertvorstellungen wurden auch von den Panslawisten in Frage gestellt, deren Standpunkt sich jedoch grundlegend von demjenigen der Slavophilen unterschied. Anders als die kontemplativ veranlagten Slavophilen verklärten die Panslawisten den imperialen Gedanken und die russische Autokratie. Die Slavophilen hingegen betrachteten den Staat als solchen sehr skeptisch.44 Ihr wichtigstes Anliegen war die religiöse Erneuerung der Nation. Für die Panslawisten hingegen war die Errichtung eines Allslawischen Reiches unter russischer Führung das Ziel. Angesichts der intensiven antirussischen Emotionen, die im Westen vor allem am Vorabend des Krimkrieges verbreitet waren, hielten solche Verfechter des panslawistischen Gedankens wie der Historiker Michail Pogodin oder der Dichter Fedor Tjutčev die Slawen des Habsburger und des Osmanischen Reiches für die einzigen Verbündeten Russlands und plädierten für deren Befreiung.45 Den Krimkrieg betrachtete Tjutčev als eine Art Zeitenwende. Da die westlichen Großmächte, abgesehen von Preußen, nun eine geschlossene antirussische Phalanx bildeten, brauche der Zar keine Rücksicht mehr auf das legitimistische Prinzip zu nehmen und könne alle unterdrückten slawischen Völker zu einem Befreiungskampf aufrufen. Die panslawistische Ideologie erzielte allerdings in Russland zur Zeit des Krimkrieges keine allzu breite Resonanz. Dies hatte nicht zuletzt mit dem Charakter des damaligen russischen Regimes zu tun. Der despotisch regierende Nikolaus I. war an einer spontanen gesellschaftlichen Unterstützung für seine Politik nicht interessiert. Die Gesellschaft hatte nach seinen Vorstellungen nur zu gehorchen.46

44 Siehe dazu unter anderem Berdjaev, Russkaja ideja, a.a.O., S. 51 f., S. 154 f. 45 Riasanovsky, A Parting of Ways, a.a.O., S. 134f; Ders., Nicholas I, a.a.O., S. 149 ff, S. 154 f.; Alexander von Schelting, Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern 1948, S. 186 ff. 46 Riasanovsky, A Parting of Ways, a.a.O., S. 105, 134; Ders., Nicholas I, a.a.O, S. 36 f., S. 42 ff., S. 50 ff.; Vospominanija Borisa N. Čičerina. Moskva sorokovykh godov, a.a.O., S. 154; Tjutčeva, Pri dvore dvuch imperatorov, a.a.O., S. 96 ff.

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Erst die Reformen Alexanders II. schufen die Voraussetzungen für die Entstehung einer unabhängigen russischen Öffentlichkeit und für eine größere Verbreitung der panslawistischen Ideen – dies insbesondere während des russischtürkischen Krieges von 1877 bis 1878, der durch die brutale Unterdrückung des südslawischen Aufstandes durch die Osmanen ausgelöst worden war. Der Göttinger Historiker Reinhard Wittram bezeichnet diesen Krieg als den ersten und einzigen panslawistischen Krieg Russlands.47 Viele russische Publizisten verknüpften mit ihm Hoffnungen auf eine Erneuerung des Landes und auf eine Eindämmung der revolutionären Gefahr, die Russland damals zu destabilisieren drohte. Mit besonderem Nachdruck vertrat diese Hoffnung Fedor Dostoevskij, der in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Ideologen des russischen Konservatismus avancierte: „Wir brauchen diesen Krieg auch für uns selbst“, schrieb Dostoevskij im April 1877: „Nicht nur für unsere von Türken gequälten „slawischen Brüder“ erheben wir uns, sondern zur eigenen Rettung“.48 Den russischen Kriegsgegnern und den westlichen Widersachern schleuderte Dostoevskij entgegen: „Und der Anfang des gegenwärtigen volkstümlichen Krieges hat wohl allen, die zu sehen verstehen, deutlich die geschlossene Ganzheit und die Frische unseres Volkes gezeigt. Sie – sc. die russischen Skeptiker und die westlichen Gegner Russlands, L.L. – übersahen das ganze russische Volk als lebendige Kraft und übersahen die kolossale Tatsache: das Einssein des Zaren mit dem Volk!“49 Es ist verblüffend, wie sehr der Visionär Dostoevskij, der in seinem literarischen Werk mit solch treffender Schärfe die Tragödien des 20. Jahrhunderts vorausgesehen hatte, in seinem publizistischen Werk den Entwicklungen der Gegenwart hinterherhinkte. Er ließ sich durch die Fassade der nationalen Geschlossenheit, die den Krieg von 1877 bis 1878 begleitete, täuschen und übersah das tatsächliche Ausmaß der damaligen Zerrissenheit der Nation. Vier Jahre nachdem Dostoevskij vom ‚Einsein des Zaren mit dem Volk‘ gesprochen hatte, wurde der wohl liberalste Zar der neuesten russischen Geschichte ermordet. Der siegreiche Krieg über die Türkei trug in keiner Weise zur nationalen Aussöhnung bei. Im Gegenteil, der Prozess der Polarisierung der Gesellschaft trat nach diesem Ereignis in eine noch radikalere Phase ein.

47 Reinhard Wittram, Das russische Imperium und sein Gestaltwandel, in: Historische Zeitschrift 187 (1959), S. 568–593. 48 Dostoevskij, Tagebuch eines Schriftstellers, a.a.O., S. 340 ff. 49 Ebd., S. 343 ff.

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1.2.3 Die Erosion des Glaubens an den Zaren Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert auch die russischen Unterschichten begannen, ähnlich wie die russische Intelligenzija Generationen zuvor, das bestehende System und seine ideologische Legitimierung in Frage zu stellen. Bis dahin waren ihre politischen Vorstellungen im Wesentlichen vorpetrinisch geblieben. Dazu gehörte die Verklärung des Zaren, der als Garant der religiös geprägten Ordnung galt. Den Staat hatte für die Unterschichten lange Zeit nur der rechtgläubige Zar verkörpert. Als Soldaten kämpften sie unter der Devise ‚Für den Glauben, den Zaren und das Vaterland‘. Und es war kein Zufall, so der russische Historiker Georgij Fedotov, dass der Begriff Vaterland in dieser Trias an letzter Stelle stand. Auf der Zarentreue der russischen Unterschichten beruhte lange Zeit die Stabilität der russischen Monarchie. Solange sie bestehen blieb, konnte sie die Auseinandersetzung mit den revolutionär gesinnten Teilen der Bildungsschicht glimpflich überstehen. Den konservativen Verteidigern der russischen Autokratie war es klar, dass das Schicksal des Regimes davon abhing, wer den Kampf um die ‚Seele des Volkes‘ gewinnen würde. Noch während der Revolution von 1905 haben russische Konservative an die Zarentreue der russischen Landbevölkerung geglaubt. Dementsprechend war auch das Wahlgesetz zur ersten russischen Staatsduma – Parlament – konzipiert. Die Bauern, die als besonders zarentreu galten, wurden in diesem Wahlrecht eindeutig begünstigt.50 Als Ergebnis wählten die Bauern aber ein Parlament, das den regimekritischen oder revolutionären Parteien ein deutliches Übergewicht verlieh. Aus der wichtigsten Stütze der russischen Selbstherrschaft verwandelten sich nun die Unterschichten in ihre gefährlichsten Gegner. Ihre Hoffnung auf die Errichtung einer sozial gerechten Ordnung, auf die Enteignung der Gutsbesitzer, die sie für Schmarotzer hielten, begannen sie in einem immer stärkeren Ausmaß vom Zaren auf revolutionäre Parteien zu übertragen. Viele Verfechter der bestehenden Ordnung, nicht zuletzt der Zar selbst, versuchten damals, die revolutionäre Gefahr mit Hilfe chauvinistischer Ideen zu be50 Siehe dazu Sergej Witte, Vospominanija. Carstvovanie Nikolaja II [Erinnerungen. Die Herrschaft Nikolaus II.], Berlin 1922, Band 1, S. 296, Band 2, S. 313; Pavel Miljukov, Vospominanija (1859–1917) [Erinnerungen (1859–1917)], New York 1955, Band 1, S. 363–438; Vasilij Maklakov, Iz vospominanij [Aus den Erinnerungen], New York 1954, S. 338–362; Ders., Vtoraja Gosudarstvennaja Duma. (Vospominanija sovremennika) [Die Zweite Staatsduma. (Erinnerungen eines Zeitgenossen)], London 1991, S. 61 ff.; Ariadna Tyrkova-Williams, Na putjach k svobode [Auf dem Weg zur Freiheit], London 1990, S. 233–337.

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kämpfen. Der russische Ministerpräsident Sergej Witte hielt diesen Kurs für verhängnisvoll.51 In der Tat hat der Flirt mit den Chauvinisten die Monarchie nicht zur erhofften ‚Volksnähe‘ geführt. Die russische Bauernschaft – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Reiches – war für die nationalistischen Ideen nicht allzu stark empfänglich. Der aus ihrer Sicht ungelösten Agrarfrage schenkte sie wesentlich mehr Aufmerksamkeit als der nationalen Größe Russlands. Nicht anders verhielt es sich auch mit der russischen Industriearbeiterschaft, die bereits bei ihrer Entstehung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem der militantesten Gegner des Regimes wurde. Die Erosion des Glaubens an den Zaren, die bei der russischen Bauernschaft einen langsamen und langwierigen Prozess darstellte, vollzog sich bei den russischen Proletariern abrupt. Zaghafte Versuche der Autokratie, die Arbeiterschaft in das bestehende System zu integrieren, scheiterten. Die gewaltsame Sprengung der friedlichen Demonstration der Petersburger Arbeiter vom 9. Januar 1905, die dem Zaren eine Petition überreichen wollten –.Blutsonntag‘ – symbolisierte den endgültigen Bruch. Die Tatsache, dass die russische Selbstherrschaft sich infolge der Revolution von 1905 in eine konstitutionelle Monarchie verwandelte – im Manifest vom 17. Oktober 1905 versprach der Zar den Untertanen Grundrechte und die Einberufung eines Parlaments –, beeinflusste die Einstellung der Volksschichten zum Regime kaum. So hat sich der nationalistische Rausch, der die europäischen Völker nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfasste, in Russland, wenn man von der Anfangsphase des Krieges absieht, lediglich auf die Bildungsschicht beschränkt. Die Unterschichten blieben davon wenig berührt. Mit Euphorie begrüßten sie dagegen im Februar 1917 die Revolution. Die militanten russischen Nationalisten spielten bei den Ereignissen des Jahres 1917 so gut wie keine Rolle. Die Februarrevolution sei zu einer Katastrophe für die russische Rechte geworden, schreibt der Vorsitzende der Partei der Sozialrevolutionäre – der sozialistischen Partei, die sich besonders stark für die Belange der russischen Bauernschaft engagierte –, Viktor Černov. Kaum jemand habe den Mut gehabt, sich offen zu rechten Ideen zu bekennen.52 Das Zarenregime, das jahrhundertelang aufgebaut worden sei, sei innerhalb von drei Tagen verschwunden, fügt der Menschewik Nikolaj Suchanov hinzu. Die Erosion des Glaubens an den Zaren hat der russischen Monarchie ihre legitimatorische Basis gänzlich entzogen. Deshalb hatte sie im Februar 1917 so gut wie keine Verteidiger mehr.

51 Witte, Vospminanija, a.a.O., Band 1, S. 316, Band 2, S. 36, S. 75 f. 52 Viktor Černov, Pered burej. Vospominanija [Vor dem Sturm. Erinnerungen], New York 1953, S. 336 f.

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Warum brach die ‚erste‘ russische Demokratie zusammen? Acht Monate nach der Auflösung des Zarenregimes brach allerdings die auf seinen Trümmern errichtete erste russische Demokratie zusammen. Auch sie hatte so gut wie keine Verteidiger mehr. Nun möchte ich einige der Ursachen für diesen zweiten Zusammenbruch der russischen Staatlichkeit im Verlaufe des 20. Jahrhunderts kurz darstellen. In seinen Thesen vom April 1917 bezeichnete Vladimir Lenin das damalige Russland als „von allen kriegführenden Ländern freieste Land der Welt“. Etwa 8 Monate später haben die Bolschewiki das im Februar 1917 errichtete ‚freieste System der Welt‘ beseitigt und auf seinen Trümmern das erste totalitäre Regime der Moderne errichtet. Das damalige Scheitern der russischen Demokratie wird oft auf die Eigenart der russischen Mentalität oder auf den geschichtlichen ‚Sonderweg‘ Russlands zurückgeführt, der sich vom Weg des Westens grundlegend unterscheidet. So zeichnete sich die russische Geschichte in den meisten Epochen durch die Allmacht des Staates und eine Ohnmacht der Gesellschaft aus. Die Autonomie der Stände oder der Städte, die im Westen ein Gegengewicht zur Machtzentrale darstellte, hat sich in Russland kaum entwickelt. Der russische Historiker Pavel Miljukov sagte in diesem Zusammenhang: Im Westen hätten die Stände den Staat, in Russland hingegen der Staat die Stände erschaffen. Lässt sich also der Zusammenbruch der ‚ersten‘ russischen Demokratie darauf zurückführen, dass die Gesellschaft, die sich nach dem Sturz der RomanowDynastie vom zarischen Obrigkeitsstaat befreite, nicht imstande war, sich selbst zu organisieren, und an ihrer politischen Unerfahrenheit zugrunde ging? All das spielte bei den Ereignissen von 1917 sicher eine wichtige Rolle, allerdings keine ausschließliche. Denn das Scheitern des nach der Februarrevolution errichteten Systems hatte auch Ursachen allgemeinerer Art, die weit über das spezifisch Russische hinausgingen. So fand im damaligen Russland die erste Konfrontation eines demokratischen Gemeinwesens mit einer totalitären Partei statt, die skrupellos alle Freiheiten der Demokratie ausnutzte, um diese zu zerstören. Man darf nicht vergessen, dass 5 Jahre später die italienische und etwa 15 Jahre später die Weimarer Demokratie an ähnlichen Herausforderungen scheitern sollte, und zwar mitten im Frieden und nicht im vierten Kriegsjahr, wie dies in Russland der Fall war. So hat das Scheitern der ‚ersten‘ russischen Demokratie die tiefe Krise der demokratischen Systeme in ganz Europa bloß vorweggenommen. 1917 profitierten die Bolschewiki vom ‚schlechten revolutionäres Gewissen‘ der demokratisch gesinnten Sozialisten – Menschewiki und Sozial-Revolutionäre –, die das Rückgrat des wohl mächtigsten Organs bildeten, das infolge der Februarrevolution entstanden war – des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Diese Gruppierungen vertraten die Meinung,

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dass die junge und von Krisen erschütterte russische Demokratie auf die Unterstützung aller freiheitlich gesinnten Kräfte im Lande, auch aus dem bürgerlichen Lager, angewiesen sei. Deshalb traten einige Sowjetführer im Mai 1917 sogar in die ‚bürgerliche‘ Provisorische Regierung ein. Sie meinten, die sofortige Verwirklichung der sozialistischen Experimente, für die die Bolschewiki plädierten, werde das Land, das sich noch mitten im Krieg befand, in eine Katastrophe führen. Diese Haltung bezeichneten die Bolschewiki als Verrat an den hehren revolutionären Idealen und berührten damit einen wunden Punkt bei den gemäßigten Sozialisten. Denn der bedingungslose Dienst an der Revolution stellte seit Generationen das unantastbare Credo der russischen Intelligenz dar: „Die offene Vertretung einer politisch gemäßigten Haltung erforderte so viel Zivilcourage, wie sie nur wenige besaßen“, schreibt der russische Philosoph Semen Frank in diesem Zusammenhang: „Der ‚Gemäßigte‘ war der Spießbürger, furchtsam, bar jedes Heroismus … . Die Gemäßigten selbst hatten in dieser Hinsicht kein reines Gewissen, sie fühlten sich nicht ganz frei von diesen Mängeln. In den meisten Fällen betrachteten sie die Revolutionäre wie kirchlich eingestellte Laien die Heiligen und Asketen betrachten – nämlich als unerreichbare Muster an Vollkommenheit, denn je linker, desto besser, höher, heiliger“.53 Auch die gemäßigten Sozialisten des Jahres 1917 stellten insofern keine Ausnahme dar. Ihr ‚schlechtes revolutionäres Gewissen‘ hinderte sie daran, die bolschewistische Partei, die nun die im Februar gewonnene Freiheit vehement bedrohte, konsequent zu bekämpfen. Zwar bezogen die ‚Gemäßigten‘ unter dem Einfluss der Bolschewiki und unter dem Druck der anarchisierten Massen immer radikalere Positionen; mit ihren extremistischen Kontrahenten konnten sie aber nicht konkurrieren. An all diesen Widersprüchen ging dann die ‚erste‘ russische Demokratie zugrunde. War dieser Zusammenbruch unvermeidlich? Haben historische Deterministen, nicht zuletzt marxistischer Provenienz Recht, wenn sie den Sieg der Bolschewiki im Oktober 1917 als den einzig möglichen Ausgang der russischen Krise bezeichnen? Dieses Erklärungsmodell möchte ich zumindest partiell in Frage stellen. Denn die russischen Demokraten verfügten im Jahre 1917, ungeachtet der Skrupellosigkeit und der demagogischen Virtuosität der Bolschewiki, durchaus über ein politisches Potential, das sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend nutzten, was letztendlich ihren totalitären Gegnern zugute kam. So gab es im Lager der gemäßigten Sozialisten durchaus Politiker, die das Wesen der bolschewistischen Gefahr frühzeitig erkannten. Zu ihnen gehörte einer der Führer der Menschewiki, Iraklij Cereteli, der die Meinung vertrat, dass die 53 Semen Frank, Krušenie kumirov [Götzendämmerung], Berlin 1924, S. 16.

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größte Gefahr, die die russische Revolution nun bedrohe, nicht von rechts komme, wie die Mehrheit im Sowjet annehme, sondern von links: „Die Konterrevolution kann nur durch ein Tor einfallen, das der Bolschewiki“.54 Diese Worte klangen in den Ohren der gemäßigten Sozialisten beinahe blasphemisch. Sie betrachteten die Bolschewiki als einen integralen Bestandteil der ‚revolutionär-demokratischen‘ Front. Demzufolge galt ihnen eine eventuelle Entwaffnung der Bolschewiki als Schwächung des eigenen Lagers, als Verrat an der Sache der Revolution.55 Sogar der Versuch der Bolschewiki, während der sogenannten Juli-Ereignisse – 3. bis 5. Juli 1917 – die bestehende Ordnung mit Gewalt zu stürzen, führte nicht zum Ausschluss der Bolschewiki aus dem Lager der ‚revolutionären Demokratie‘.56 Sie wurden von ihren sozialistischen Gegnern weiterhin als integraler Bestandteil der sozialistischen Solidargemeinschaft angesehen. Nicht zuletzt deshalb lehnten die Vertreter der Sowjetmehrheit ein allzu hartes Vorgehen gegen die Bolschewiki ab. Viele der verhafteten Bolschewiki wurden bereits nach einigen Wochen freigelassen. Trotz ihrer Beteiligung am Putschversuch wurden sie nicht wegen staatsfeindlicher Tätigkeit angeklagt. Diese Milde des demokratischen Staates gegenüber seinen extremen Gegnern wurde von den Bolschewiki als Schwäche interpretiert. Später sagte Lenin, die Bolschewiki hätten im Juli 1917 eine Reihe von Fehlern gemacht. Ihre Gegner hätten dies im Kampfe gegen sie durchaus nutzen können: „Zum Glück besaßen unsere Feinde damals weder die Konsequenz noch die Entschlossenheit zu einem solchen Vorgehen“.57 Die Bolschewiki profitierten von der Tatsache, dass die gemäßigten Sozialisten panische Angst vor einer ‚Gegenrevolution‘ hatten und die Bolschewiki als potentielle Verbündete gegen die Gefahr von rechts betrachteten. Erforderte aber die Bekämpfung dieser Gefahr wirklich die Mobilisierung aller linken Kräfte, auch solch militanter Antidemokraten wie die Bolschewiki? Das klägliche Scheitern des Putschversuchs von General Lavr Kornilov – Ende August 1917 – zeigte, dass

54 Zittiert nach Richard Pipes, Die Russische Revolution, Berlin 1991–1992, 2 Bände, hier Band 2, S. 141. 55 Vgl. dazu unter anderem Iraklij Cereteli, Vospominanija o fevral’skoj revoljucii [Erinnerungen an die Februarrevolution], Paris 1963, S. 214, S. 409, S. 412. 56 Zu den Juli-Ereignissen siehe unter anderem Pipes, Die Russische Revolution, a.a.O., Band 2, S. 170; Sergej Kulešov u. a., Naše otečestvo [Unser Vaterland], Moskau 1991, 2 Bände, hier Band 1, S. 367; Helmut Altrichter, Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S. 191. 57 Pipes, Die Russische Revolution, a.a.O., Band 2, S. 177.

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die Armee zum Kampf gegen die eigene Bevölkerung nicht mehr geeignet war.58 So brauchte die russische Demokratie keineswegs die Hilfe der Linksextremisten, um der Gefahr von rechts erfolgreich zu begegnen. Dennoch war die Angst der gemäßigten Sozialisten vor der Gegenrevolution derart überdimensional, dass sie ihre eigenen Kräfte maßlos unterschätzten. Nicht zuletzt deshalb gaben sie den Bolschewiki, die infolge des gescheiterten Juli-Putsches entwaffnet worden waren, erneut die Waffen in die Hand. Dies war wohl die verhängnisvollste Folge des Putschversuchs von General Kornilov. Nach der Kornilov-Affäre verloren die Provisorische Regierung und die mit ihr verbündeten gemäßigten Sozialisten weitgehend die politische Initiative. Wie gelähmt beobachteten sie das entschlossene und zielstrebige Vorgehen der Bolschewiki, die nun meisterhaft zeigten, wie man die demokratischen Freiheiten dazu ausnutzt, die Demokratie zu beseitigen. Das infolge der Februarrevolution errichtete System der Doppelherrschaft – die bürgerliche Provisorische Regierung und die Sowjets – offenbarte nun sein eigentliches Wesen – es bestand in der Zerstörung des Gewaltmonopols des Staates, in der Schaffung zweier unterschiedlicher Militär- und Verwaltungsstrukturen, die sich gegenseitig lähmten. Diese Lähmung kam eindeutig den Bolschewiki zugute. Nur deshalb konnten sie praktisch im Alleingang, gegen den Willen der wichtigsten politischen Gruppierungen im Lande, die Alleinherrschaft in Russland erobern.59 Im Oktober 1917 hatte die russische Demokratie, ähnlich wie 8 Monate zuvor die russische Monarchie so gut wie keine Verteidiger mehr.

58 Vgl. dazu unter anderem Aleksandr Kerenski, Erinnerungen. Vom Sturz des Zaren bis zu Lenins Staatsstreich, Dresden 1928, S. 370–392; Sergej Mel’gunov, Kak bol’ševiki zachvatili vlast’. Oktjabr’skij perevorot 1917 goda [Wie kamen die Bolschewiki an die Macht? Der Staatsstreich vom Oktober 1917], London 1984, S. 12 ff.; Pipes, Die Russische Revolution, a.a.O., Band 2, S. 208–217; Altrichter, Russland, a.a.O., S. 208; Kulešov, Naše otečestvo, a.a.O., Band 2, S. 374 ff; Michail Geller u. Aleksandr Nekrič, Utopija u vlasti. Istorija Sovetskogo Sojuza s 1917 goda do našich dnej [Die Utopie an der Macht. Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart], London 1982, 2 Bänd2, hier Band 1, S. 33 f. 59 Vgl. dazu Nikolaj Suchanov, Zapiski o russkoj revoljucii [Aufzeichnungen über die russische Revolution], Moskau 1991, 3 Bände, hier Band 3; Marc Ferro, The Bolshevik revolution: a social history of the Russian revolution, London 1985; Sheila Fitzpatrick, The Russian revolution, 1917–1932, Oxford 1985, S. 54–60; Robert Service, The Bolshevik Party in Revolution, London 1979, S. 37–62; Ders., Lenin: eine Biographie, München 2000, S. 374 ff.; Die Russische Revolution 1917, hg. v. Manfred Hellmann, München 1964, S. 305 ff.; Altrichter, Russland, a.a.O, S. 215–230.

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1.2.4 Der bolschewistische Janus Angesichts der tiefgreifenden Auflösungsprozesse im Lande, die beinahe alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen erfassten, wurde die bolschewistische Partei trotz ihrer Inhomogenität zu einem Kristallisationspunkt für den Aufbau der neuen russischen Staatlichkeit. So begannen die Bolschewiki in der Stunde, in der sie meinten, einen völligen Bruch mit dem vorrevolutionären Russland vollzogen zu haben, unbewusst an bestimmte Entwicklungsstränge der russischen Geschichte wieder anzuknüpfen, nicht zuletzt an diejenige der uneingeschränkten zarischen Autokratie. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjaev erklärt Lenins Erfolge vor allem dadurch, dass dieser sowohl die in der russischen Geschichte tief verwurzelte Tradition des revolutionären antistaatlichen Maximalismus als auch diejenige der staatlichen Despotie in sich verkörperte.60 In der Tat, die Leninsche Konzeption der Partei, in der die Massen als unreife Mündel betrachtet wurden, die von der ‚reifen‘ Avantgarde zum ‚richtigen’ Bewusstsein herangezogen werden sollten, erinnert an paternalistische Konzepte der Verfechter der uneingeschränkten zarischen Autokratie, die ebenfalls von der Unmündigkeit der Untertanen ausgegangen waren. Allerdings verband Lenin die Geringschätzung der Massen mit der Fähigkeit, sich von ihrem Willen bisweilen treiben zu lassen. Gerade diese Fähigkeit erleichterte ihm sowohl die Machtergreifung als auch die Machtbehauptung außergewöhnlich. Der russische Philosoph Fedor Stepun schreibt, Lenin habe 1917 verstanden, dass ein Führer, sich in gewissen Situationen dem Willen der Massen beugen müsse, um zu siegen. Obwohl er ein Mensch von ungewöhnlicher Willenskraft gewesen sei, sei er gehorsam in die von den Massen gewählte Richtung gegangen.61 Auch nach der Machtübernahme verdankten die Bolschewiki ihr Überleben, die Bewältigung mancher beinahe ausweglosen Krisen der Tatsache, dass sie den doktrinären Utopismus mit einer außerordentlichen Flexibilität zu verknüpfen wussten. Diejenigen Beobachter, die dem Bolschewismus dogmatische Starrheit vorwarfen, sahen nur eine Seite dieses politischen Phänomens und unterschätzten seinen Realitätssinn, seine Fähigkeit zu radikalen Kursänderungen, wenn die Umstände dies erforderten. Aber auch diejenigen, die den Pragmatismus der Bolschewiki bewunderten, unterlagen einer Täuschung. Sie unterschätzten wiederum die dogmatische Seite des Bolschewismus, denn auch in den Zeiten, in denen die bolschewistische Partei einen pragmatischen Kurs verfolgte, gab sie niemals ihr 60 Nikolaj Berdjaev, Istoki i smysl russkogo komunizma [Ursprünge und Sinn des russischen Kommunismus], Paris 1955, S. 95. 61 Fedor Stepun, Sočinenija [Werke], Moskau 2000, S. 342.

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Ziel auf, die marxistische Utopie zu verwirklichen. Kurz nach ihrer Machtübernahme errichteten die Bolschewiki in Russland ein System, das als Verkörperung des bolschewistischen Utopismus und Voluntarismus gilt: Das System des Kriegskommunismus, das auf uferlosem Terror basierte. Der Kriegskommunismus bedeutete die Ausweitung der Staatskontrolle auf die wichtigsten Lebensbereiche, auf das gesamte politische, soziale und wirtschaftliche Geschehen. Die russische Gesellschaft, die sich 1905 zum Teil und 1917 gänzlich von der staatlichen Bevormundung befreit hatte, wurde nun erneut entmündigt und zwar in einer Weise, die nicht einmal vor der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 bestanden hatte. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wandte sich von den Bolschewiki ab, bekämpfte sie oder verharrte in passivem Widerstand. Das Überleben der Partei angesichts dieser Isolation wirkt fast wie ein politisches Wunder. Dennoch wenn die Bolschewiki wirklich ihre Verwurzelung bei den Volksschichten verloren hätten, wie häufig behauptet wird, dann wären sie kaum in der Lage gewesen, die Jahre des Bürgerkrieges zu überstehen. Es ist zwar richtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung die bolschewistische Schreckensherrschaft, die während des Bürgerkrieges errichtet wurde, entschieden ablehnte. Nichtsdestoweniger profitierte die neue Diktatur von der Stimmungslage, die diese Mehrheit damals auszeichnete. So bedeutete zum Beispiel die Enttäuschung über die Bolschewiki keineswegs eine Abwendung vom revolutionären Mythos. Der Hass gegen das alte Regime und alle seine Erscheinungsformen stellte auch weiterhin die allesbeherrschende Emotion bei den russischen Unterschichten dar. Alle russischen Gruppierungen, die im Verdacht standen, die vorrevolutionären Zustände restaurieren zu wollen, hatten in dem auf die Revolution fixierten Land absolut keine Chance. Die weißen Armeen – die entschlossensten und die am besten organisierten Gegner der Bolschewiki – standen deshalb im Grunde auf verlorenem Posten. Einer der Führer der Menschewiki, Fedor Dan, sagte im Jahre 1920: trotz ihrer Unzufriedenheit mit der Sowjetmacht hätten die Bauern um jeden Preis die Wiederherstellung des alten Regimes, das die Weißen verkörperten, verhindern wollen. Dies sei für den Sieg der Bolschewiki ausschlaggebend gewesen.62 62 Zitiert nach Kulešov, Naše otečestvo, a.a.O., Band 2, S. 67; zum russischen Bürgerkrieg siehe unter anderem Evan Mawdsley, The Russian Civil War, London 1987; Nikolaus Katzer, Die weiße Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln 1999; Vladimir Brovkin, Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia 1918–1922, Princeton 1994; Sergej Pavljučenkov, Voennyj Kommunizm v Rossii: vlast’ i massy [Der Kriegskommunismus in Russland. Die Macht und die Massen], Moskau 1997; Anton Denikin, Očerki russkoj smuty [Skizzen über die rus-

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Nach ihrer Machtübernahme sagten die Bolschewiki der imperialen Tradition Russlands den Kampf an. Symbolisiert wurde dieser Sachverhalt durch den Kapitulationsfrieden von Brest-Litovsk vom März 1918, in dem die Bolschewiki auf beinahe alle Gebiete verzichteten, die Russland seit Mitte des 17. Jahrhunderts in Osteuropa erobert beziehungsweise angegliedert hatte. Unmittelbar nach diesem Frieden führte Lenin aus: „Wir verteidigen nicht die Großmachtstellung – vom Russischen Reich ist nichts übrig geblieben als das eigentliche Russland … Wir behaupten, daß die Interessen des … Weltsozialismus höher stehen als die nationalen Interessen, höher als die Interessen des Staates“.63 Die weißen Gruppierungen, die die Bolschewiki eines beispiellosen Nationalverrats bezichtigten, verkörperten während des Bürgerkrieges imperiale Traditionen. Sie kämpften für das ‚einige und unteilbare Russland‘. Nach dem gewonnenen Bürgerkrieg begannen allerdings die Bolschewiki in einem immer stärkeren Ausmaß an die russischen Reichstraditionen anzuknüpfen. Ihr Vorgehen stellte eine Art Synthese zwischen den entgegengesetzten Polen der politischen Kultur Russlands dar – dem revolutionären und dem imperialen. Moskau war einerseits die Hauptstadt einer Großmacht und andererseits zugleich das Zentrum der kommunistischen Weltbewegung, das Zentrum der siegreichen proletarischen Revolution. Natürlich haben sich die Akzente in der sowjetischen Außenpolitik im Laufe der Zeit verschoben. Das Land begann allmählich zur traditionellen Großmachtpolitik zurückzukehren und die Politik der kommunistischen Weltbewegung den Interessen des sowjetischen Staates anzupassen. Dennoch ist trotz dieser Akzentverschiebung die weltrevolutionäre Komponente aus der sowjetischen Außenpolitik niemals ganz verschwunden. Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen, die Doppelgleisigkeit der Außenpolitik, blieben praktisch bis zur Auflösung der Sowjetunion bestehen. Gerade diese Bipolarität der sowjetischen Politik erschwerte den Außenstehenden oft ihre zutreffende Einschätzung. Dies betraf nicht zuletzt manche national gesinnte Kreise im antibolschewistischen Lager, die bereit waren, nach der Niederlage der Weißen im Bürgerkrieg vor den Bolschewiki zu kapitulieren, und zwar aus ‚Dankbarkeit‘ für die weitgehende Wiederherstellung des territorialen Bestandes des russischen Reiches durch die sowjetische Führung. Dadurch hätten die ‚weißen Ideen‘ zumindest auf Umwegen gesiegt, meinten die Vertreter dieser Kreise. Die Bolschewiki hätten ihre politische Laufbahn als militante Feinde des russischen Reiches, sischen Wirren], 3 Bände, Berlin 1924 ff.; Graždanskaja vojna i voennaja intervencija v SSSR. Ėnciklopedija [Der Bürgerkrieg und die militärische Intervention in der UdSSR. Enzyklopädie], Moskau 1983. 63 Vladimir Lenin, Werke, Berlin 1961 ff., 40 Bände, hier Band 27, S. 372.

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als Verfechter seiner Desintegration begonnen. Letztendlich hätten sie sich aber als seine Wiederhersteller und Retter erwiesen. Zwar sei der bolschewistische Staat in seiner Form immer noch ‚rot’, internationalistisch und revolutionär, sein Inhalt sei aber, ‚weiß‘: patriotisch und national.64 Mit besonderer Vehemenz vertrat diese Thesen die ‚Smena-Vech‘-Bewegung, die sich zu Beginn der 20er Jahre im russischen Exil zu entwickeln begann. Nikolaj Ustrjalov, der bedeutendste Vertreter dieser Bewegung, der man später auch die Bezeichnung ‚Nationalbolschewismus‘ verlieh, schrieb im Februar 1920: Wie paradox es auch klingen möge, aber die Vereinigung Russlands vollziehe sich nun unter dem bolschewistischen Vorzeichen. Die Revolution verwandele sich aus einem Faktor, der den Zerfall des Imperiums verursacht hatte, in eine schöpferische, nationale Kraft, die Russland erneuere.65 Es fand in der Tat eine paradoxe Umkehrung der Rollen der Bolschewiki und ihrer ‚weißen‘ Gegner statt. Die Weißen, die in den Kampf gegen die Bolschewiki gezogen waren, um das große, mächtige Russland in seinen alten Grenzen wiederherzustellen, waren in ihrem Kampf auf die Hilfe ausländischer Mächte angewiesen. Die Bolschewiki hingegen, die im Brest-Litovsker Frieden mit den Mittelmächten im März 1918 eine beispiellose Demütigung Russlands hingenommen hatten, stützten sich in ihrem Kampf gegen die ‚Weißen‘ und gegen ausländische Interventionsarmeen ausschließlich auf die Kraftreserven Russlands. So schienen sie nun nicht nur Verteidiger der ‚Errungenschaften der Revolution‘, sondern auch Verteidiger der Interessen der russischen Nation zu sein. Eine national gesinnte Emigrantengruppierung – die 1921 entstandene ‚Eurasierbewegung‘ – vertrat 1926 sogar die Meinung, das russische Volk habe sich des Bolschewismus bedient, um den territorialen Bestand Russlands zu retten und um die staatspolitische Macht Russlands wiederherzustellen.66 All diese Aussagen zeugen von einer weitgehenden Verkennung der Janusköpfigkeit und der Bipolarität des Bolschewismus. Er war nämlich zugleich national und international, partikular und universal. Mit keinem von diesen beiden Polen identifizierte er sich gänzlich. Er neigte dazu, sowohl national gesinnte als auch revolutionär gesinnte Strömungen lediglich zu instrumentalisieren. Deshalb 64 Siehe dazu unter anderem Vasilij Šul’gin, Dni. 1920 [Tage. 1920], Moskau 1989, S. 526–529. 65 Nikolaj Ustrjalov, Pod znakom revoljucii [Unter dem Zeichen der Revolution], Charbin 1927, S. 5 f.; siehe dazu auch Smena Vech. Sbornik statej [Umstellung der Wegmarken. Eine Aufsatzsammlung], Prag 1921; Šul’gin, Dni. 1920, a.a.O.; Egor Gajdar, Gibel’ imperii. Uroki dlja Sovremennoj Rossii [Der Untergang des Imperiums. Lehren für das heutige Russland], Moskau 2006, S. 46. 66 Evrazijstvo. Opyt sitematičeskogo izloženija [Eurasiertum. Der Versuch einer systematischen Darstellung], Paris 1926, S. 6.

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musste er auch beinahe zwangsläufig seine Verbündeten enttäuschen, die ihm wiederholt Verrat an den hehren nationalen beziehungsweise weltrevolutionären Zielen vorwarfen.

1.2.5 Von der Errichtung bis zur Demontage des Stalinschen Kommandosystems In der Stalin-Zeit schien das sowjetische Regime in einem noch stärkeren Ausmaß an die imperialen Traditionen anzuknüpfen, und dies stellte eine Versuchung für viele patriotisch gesinnte Kreise der russischen Emigration dar, die bereit waren, nach Russland zurückzukehren, um sich am imperialen Aufbau des Landes zu beteiligen. Der bereits erwähnte Exilhistoriker Fedotov warnte die potentiellen Rückkehrer vor den fatalen Folgen ihrer Entscheidung: „Sie sollen daran denken, dass sie sich nicht in ein freies Land, sondern in ein Gefängnis begeben. Keine Loyalitätsbekundungen, keine Obrigkeitstreue werden sie vor Verfolgung, Verbannung und Zwangsarbeit schützen. Die Rückkehrer müssen auch etwas Anderes bedenken. Es erwarten sie nicht nur Opfer und Leid, sondern auch unzählige Demütigungen. Sie werden auf ihre eigenen Überzeugungen verzichten müssen, Erklärungen unterschreiben, für die sie sich schämen werden“. Der freiwillige Verzicht auf Freiheit sei durch nichts zu rechtfertigen, fährt Fedotov fort: „Kein Vaterland verdient ein solches Opfer“.67 Fedotovs Appell an die Emigrantenjugend, ihre Freiheit nicht aufs Spiel zu setzen, hatte gerade in der Stalin-Zeit eine besondere Relevanz, denn in keiner anderen Epoche der russischen Geschichte, wurde der für die politische Kultur Russlands so prägende Freiheitsdrang in einem solchen Ausmaß erstickt, wie dies in den Stalin-Jahren der Fall war. Der im Jahr 1929 begonnenen Stalinschen Revolution von oben gelang es, die russische Wirklichkeit weitgehend der bolschewistischen Doktrin anzupassen. Das, worum sich Lenin in den ersten Jahren nach der bolschewistischen Machtübernahme, vor allem während der ‚kriegskommunistische Periode‘ von 1918 bis 1921 vergeblich bemüht hatte, wurde nun erreicht. Stalin gelang es, alle Teile der sowjetischen Gesellschaft, auch die alleinherrschende Partei, in bloße Rädchen eines totalitären Mechanismus zu verwandeln. Dies war vielleicht die größte Zäsur in der Geschichte des Landes, dessen Freiheitsdrang weder die Zaren noch Lenin zu ersticken vermocht hatten. 67 Georgij Fedotov, Sud’ba i grechi Rossii [Das Schicksal und die Sünden Russlands], Sankt Petersburg 1991, 2 Bände, hier Band 2, S. 126 ff.

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Georgij Fedotov führte Anfang der 30er Jahre den Erfolg der Stalinschen Revolution von oben darauf zurück, dass Russland nun, nach der Vernichtung der revolutionären Intelligenzija durch die Bolschewiki, keine gesellschaftliche Schicht mehr besitze, die die Freiheit über alles schätze.68 Indes vermochte der stalinistische Terror die Sehnsucht nach Freiheit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein nicht gänzlich zu verbannen. Dies ließ sich vor allem während des deutsch-sowjetischen Krieges feststellen. Die Zeit der vorübergehenden Schwäche des Regimes nutzte die unterdrückte Gesellschaft dazu aus, um bestimmte Freiheitsräume zu erkämpfen. Diesen Prozess bezeichnet der Moskauer Historiker Michail Gefter als ‚spontane Entstalinisierung‘.69 Die Siegeseuphorie, die nach der Bezwingung des Dritten Reiches ausbrach, trug indes zur Stabilisierung des Regimes bei und erleichterte den Machthabern die erneute Disziplinierung der Gesellschaft. Allerdings blieb die Sehnsucht nach einem würdevollen Leben, nach einem ‚Leben wie im Märchen‘, immer noch bestehen. Dieser Sehnsucht kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits wenige Tage nach dem Tod des Tyrannen mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen. Obwohl diese Demontage zaghaft und halbherzig war, obwohl sie in einer bürokratischen Manier durchgeführt wurde – in der Form einer paternalistischen Schenkung –, stellte der Tod Stalins eine der größten Zäsuren in der neuesten Geschichte Russlands dar. Diese Zäsur setzte der beinahe 40jährigen Gewaltspirale, die die Entwicklung des Landes seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit einer kurzen Unterbrechung in den 20er Jahren, geprägt hatte, ein Ende. Die Machthaber begannen sowohl im Umgang miteinander als auch im Umgang mit der Gesellschaft im Großen und Ganzen bestimmte Spielregeln zu beachten, ihre Vorgehensweise wurde berechenbarer. Nur das regimekritische Verhalten wurde nun bestraft, das regimetreue und konforme hingegen belohnt. Unter Stalin galten solche Regeln im Wesentlichen nicht. Ins Räderwerk der stalinistischen Terrormaschinerie gerieten sowohl ausgesprochene Gegner des Regimes als auch überzeugte Stalinisten. Unter den Erben Stalins indes wurde sogar für die Regimekritiker das Risiko im Wesentlichen kalkulierbar. Falls sie sich für einen gewaltfreien Widerstand entschieden, setzten sie zwar ihre politische Karriere und ihre Freiheit aufs Spiel, nur selten aber ihr Leben. Nur in einer solchen milderen politischen Atmosphäre war die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung möglich, die sich offen für Menschen- und Grundrechte einsetzte. Zwar vermochte die Bürgerrechtsbewegung breitere Bevölkerungsschichten nicht zu beeinflussen, sie blieb sogar innerhalb der 68 Ebd., Band 1, S. 258. 69 Michail Gefter, Iz tech i ėtich let [Aus diesen und aus jenen Jahren], Moskau 1991, S. 418.

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Bildungsschicht weitgehend isoliert. Dessen ungeachtet gelang es ihr, die politische Kultur im Lande grundlegend zu verändern. In einem unfreien Land hätten sich die Bürgerrechtler wie freie Menschen verhalten, so einer der führenden Vertreter der Bürgerrechtsbewegung Andrej Amal’rik.70 Sie hätten den in der Sowjetunion bis dahin anrüchigen Begriff ‚Opposition‘ enttabuisiert und eine pluralistische Komponente in die politische Kultur der UdSSR eingeführt. Der Zweikampf der kleinen Schar der sowjetischen Bürgerrechtler mit dem autokratischen Staat erinnert auf den ersten Blick an die Auseinandersetzung der revolutionären russischen Intelligenzija mit der russischen Autokratie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Indes distanzierten sich viele Bürgerrechtler bewusst von ihren angeblichen Vorgängern, vor allem aber von deren Ideologie. So lehnten sie die für die Intelligenzija typische Verklärung der Revolution ab, sie waren nicht bereit, Gewalt für das Erreichen von hehren Zielen anzuwenden. Anders als die damalige revolutionäre Intelligenzija strebten sie nicht nach einer Errichtung des Paradieses auf Erden, sondern nach der Durchsetzung der in der freien Welt geltenden allgemein menschlichen Werte. Zwar vermochten sie ihre Ziele nicht direkt zu verwirklichen, alle ihre organisatorischen Strukturen wurden bereits Ende der 70er/ Anfang der 80er Jahre zerschlagen. Als ihr nachträglicher Sieg lässt sich indes die Tatsache bezeichnen, dass das Gorbačevsche ‚Neue Denken’ sich in manchen Punkten, bewusst oder unbewusst, an die von den Bürgerrechtlern entwickelten Denkmodelle anlehnte. Und dadurch löste der Generalsekretär des ZK der KPdSU ungewollt eine der größten Umwälzungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Denn die ‚Klassenkampfmoral‘, die das Herzstück der kommunistischen Ideologie darstellt, ließ sich mit dem von Michail Gorbačev nun propagierten ‚absoluten Vorrang der allgemein menschlichen Werte‘71 nicht vereinbaren. Die 70 Andrej Amalrik, Die Aufzeichnungen eines Revolutionärs, Berlin 1983, S. 44. 71 Michail Gorbatschow, Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine Politik für Europa und die Welt, Moskau 1987, S. 185; zur Perestrojka siehe auch Michail Gorbačev, Izbrannye stat’i i reči [Artikel und Reden. Eine Auswahl], 7 Bände, Moskau 1990; Ders., Erinnerungen, Berlin 1995; Aleksandr Jakovlev, Predislovie. Obval. Posleslovie [Vorwort. Absturz. Nachwort], Moskau 1992; Ders., Die Abgründe meines Jahrhunderts. Autobiographie, Leipzig 2003, S. 432–605; Ėduard Ševardnadze, Moj vybor. V zaščitu demokratii i svobody [Meine Wahl. Zur Verteidigung der Freiheit und Demokratie], Moskau 1991; Es gibt keine Alternative zu Perestroika, hg. v. Jurij Afanas’ev, Nördlingen 1988; Anatolij Černjaev, Šest’ let s Gorbačevym [6 Jahre mit Gorbačev], Moskau 1993; V Politbjuro CK KPSS. Po zapisjam Anatolija Černjaeva, Vadima Medvedeva, Georgija Šachnazarova (1985–1991) [Im Politbüro des ZK der KPdSU. Aufzeichnungen von Anatolij Černjaev, Vadim Medvedev und Georgij Šachnazarov], Moskau 2006; Archie Brown, The Gorbachev Factor, Oxford 1996.

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bis dahin geltende kommunistische Wertehierarchie wurde gesprengt und mit ihr auch das gesamte politische Gebäude, das auf ihr basierte.

1.2.6 Warum brach die Sowjetunion zusammen? Bei der Suche nach den Gründen für den Zerfall der Sowjetunion weisen viele Autoren auf die sprengende Kraft der nationalen Bewegungen hin, die zur Auflösung des Imperiums erheblich beitrugen. Dennoch wären die nicht-russischen Völker allein wohl kaum imstande gewesen, den Zerfall des Sowjetreiches herbeizuführen. Im Kampfe gegen das kommunistische Imperium brauchten sie einen mächtigen Verbündeten, und dies konnte im Grunde nur Russland – das Herzstück des Reiches – sein. Ohne die Abwendung der aktivsten Teile der russischen Gesellschaft von ihrem eigenen Staat und von der in ihm herrschenden kommunistischen Doktrin wäre die Loslösung der nicht-russischen Peripherie vom Zentrum kaum denkbar gewesen. In diesem Punkt ähneln die Prozesse von 1989 bis 1991 denjenigen von 1917. Denn auch die Auflösung des zarischen Reiches war nur deshalb möglich, weil große Teile des russischen Staatsvolkes sich damals von dem herrschenden System abwandten. Als Michail Gorbačev versuchte, mehr Demokratie zu wagen und das Unfehlbarkeitsdogma der Partei aufgab, stellte es sich heraus, dass die kommunistische Idee in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert war vergleichbar der Zarenidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass der damalige Auflösungsprozess sich in kontrollierten Bahnen vollzog, dass Russland im August 1991 eine ‚sich selbst beschränkende Revolution‘ und keine Revolution nach klassischem Muster wie im Jahre 1917 erlebte, ist sicher auf die Veränderungen in der politischen Kultur des Landes, die sich seit dem Tode Stalins vollzogen hatten, zurückzuführen. Der Tribut, den Russland für die beiden siegreichen Revolutionen in diesem Jahrhundert – die bolschewistische und die stalinistische – zu entrichten hatte, war so hoch, dass beide Seiten des Konflikts vom August 1991 eine totale Konfrontation zu vermeiden suchten. Auch die Tatsache, dass die Sieger vom August 1991 nicht danach strebten, einen totalen Sieg zu erringen, zeugt von einer grundlegenden Veränderung der politischen Kultur. Da sie, anders als seinerzeit die Bolschewiki, nicht versuchten, ihre Widersacher gänzlich von der politischen Bühne zu verjagen, waren sie zu einem Kompromiss mit ihnen gezwungen. Die später ermordete demokratische Politikerin Galina Starovojtova hielt es für einen unverzeihlichen Fehler der Demokraten, dass sie ihren Sieg vom August 1991 nicht ausreichend genutzt hätten: Gerade damals habe eine einmalige Gelegenheit bestanden, den geschockten Machtapparat abzulösen beziehungsweise

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radikal zu erneuern. Das sei aber nicht geschehen, und so hätten die alten Strukturen eine Atempause erhalten, um sich erneut zu konsolidieren. Hätten die Kommunisten gesiegt, fährt die Politikerin fort, so wären sie gegenüber ihren demokratischen Opponenten wohl nicht so großzügig gewesen. Starovojtova vertrat indes eine Minderheitenposition im demokratischen Lager. Die Mehrheit wollte die Ereignisse vom August 1991 nicht als eine Revolution verstehen, da sie mit diesem Begriff Erscheinungen wie Massenterror und Diktatur verbanden. Die Milde der russischen Demokraten gegenüber den Besiegten vom August 1991 erinnert an die Einstellung der Weimarer Demokraten zu den Vertretern des 1918 bezwungenen alten Regimes. Die Letzteren haben sich bekanntlich sehr schnell vom Schock der Novemberniederlage erholt und kehrten auf die politische Bühne zurück. So waren die Voraussetzungen für die Demontage des 1918/19 errichteten demokratischen Systems gegeben. Auch in Russland findet zurzeit eine Art Revanche der im August 1991 partiell entmachteten Gruppierungen statt. Die ‚gelenkte Demokratie‘ Putins versinnbildlicht den Übergang des Landes von einer offenen zu einer autoritären Gesellschaft.

1.2.7 Die ‚gelenkte Demokratie‘ und ihre Gegner Warum haben die siegreichen Demokraten ihr Vertrauenskapital vom August 1991 so schnell verspielt? Als erstes muss man in diesem Zusammenhang die im Dezember 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion nennen, die von vielen imperial gesinnten Kreisen Russland als eine Art Apokalypse erlebt wurde. Unmittelbar danach – im Januar 1992 – begann die wirtschaftliche Schocktherapie, die den Lebensstandard der Bevölkerung zunächst beinahe halbierte. Damals begann man in Ost und West wiederholt Parallelen zwischen der Weimarer Republik und dem postsowjetischen Russland zu ziehen. Viele Verfechter des imperialen Gedankens in Russland betrachten das Treffen im weißrussischen Viskuli vom Dezember 1991, das die Auflösung der Sowjetunion beschlossen hatte, als heimtückisches Komplott erklärter Feinde des russischen Reiches, die im Auftrage des Westens Russland als Großmacht zerstören wollten. Diese Dolchstoßlegende weist verblüffende Ähnlichkeiten mit derjenigen auf, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstand und die die politische Kultur der Weimarer Republik so stark vergiftete. Die Tatsache, dass das Abkommen vom Dezember 1991 den seit der Erosion der kommunistischen Herrschaft bereits vollzogenen Auflösungsprozess des Sowjetreiches lediglich bestätigte, wird von den Urhebern der russischen Dolchstoßlegende kaum wahrgenommen. So wird die Demokratie im postsowjetischen Russland von vielen,

1.2 Freiheit oder imperiale Größe? …

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ähnlich wie in der Weimarer Republik, mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung des eigenen Staates, mit territorialen Verlusten, mit der Abkehr von den bis dahin als selbstverständlich geltenden Orientierungen und mit wirtschaftlichen Erschütterungen assoziiert.72 Warum lässt dann die herrschende Bürokratie die kleinen Grüppchen der Demokraten, die nur wenig Rückhalt bei der Bevölkerung besitzen, nicht einfach gewähren? Warum verletzt sie derart eklatant die elementarsten demokratischen Spielregeln und riskiert damit einen beträchtlichen Prestigeverlust in den Augen der Weltöffentlichkeit? Eine der Ursachen dafür ist die panische Angst der Machthaber vor einer bunten Revolution nach georgischem oder ukrainischem Muster. Der andere Umstand, der die Machthaber verunsichert, besteht darin, dass sie immer noch keine Dauerlösung für die Institutionalisierung ihrer Herrschaft gefunden haben. Sie verfügen über keine herrschende Partei nach dem Vorbild der KPdSU. Die Partei ‚Einiges Russland‘ stellt lediglich ein amorphes und heterogenes Gebilde dar und wird für ihr mangelndes Profil von Putin selbst immer wieder kritisiert. Die Kreml-Riege verfügt auch über keine kohärente, allgemeinverpflichtende Ideologie nach kommunistischem Vorbild. Die Etablierung einer solchen Ideologie wird übrigens im Artikel 13, Absatz 2 der Verfassung der Russischen Föderation verboten. Das ideologische Rüstzeug der Putin-Anhänger ähnelt einem Flickenteppich, in dem etatistische und marktwirtschaftliche Elemente unvermittelt nebeneinander existieren. Zwar versuchte einer der Kreml-Ideologen, Vladislav Surkov, das Regime Putin als sogenannte ‚souveräne Demokratie‘ zu definieren und damit einen Ersatz für die fehlende Staatsideologie zu konstruieren.73 Dieses Konstrukt vermochte aber weder das herrschende Establishment noch die Bevölkerung zu inspirieren. So hat das Putin-System weder institutionell noch ideologisch feste Konturen. Alle diese Unsicherheitsfaktoren beunruhigen die Machthaber und steigern ihre Aggressivität gegenüber der demokratischen Opposition. Merkwürdigerweise ruft die Kritik, die die Kommunisten am Regime üben, keine vergleichbaren Reaktionen des herrschenden Establishments hervor. Diese unterschiedliche Vorgehensweise des Regimes einerseits gegenüber der demokratischen andererseits gegenüber der kommunistischen Opposition kann 72 Vgl. dazu unter anderem Leonid Luks, ‚Weimar Russia?‘ – Notes on Controversial Concept, in: Russian Politics and Law 46, H. 4, July-August 2008, S. 47–65. 73 Siehe dazu unter anderem Vladislav Surkov, Russkaja političeskaja kul’tura. Vzgljad iz utopii [Die politische Kultur Russlands. Eine utopische Sicht], in: Nezavisimaja gazeta v. 22. Juni 2007: Andrej Kazancev, ‚Suverennaja demokratija‘: Struktura i social’nopolitičeskaja funkcija koncepcii [‚Souveräne Demokratie‘: Die Struktur und die sozial-politische Funktion eines Konzepts], in: Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul’tury 4 (2007) H. 1.

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man folgendermaßen erklären: Eine Restauration des kommunistischen Regimes ist in Russland zurzeit unvorstellbar. Die Kommunisten hatten 74 Jahre Zeit, um Russland im Sinne ihrer Doktrin zu gestalten, und dieses Experiment hatte für das Land derart katastrophale Folgen, dass es wenig wahrscheinlich ist, dass die russische KP in absehbarer Zeit eine neue Chance erhalten wird, Russland zu regieren. Die demokratischen Gruppierungen dagegen stellen für das regierende Establishment eine Herausforderung ganz anderer Art dar als die Kommunisten. Zwar haben die Demokraten ihre im August 1991 erworbene Chance, das Land zu erneuern, nicht ausreichend genutzt. Dessen ungeachtet sind es die demokratischen und nicht die kommunistischen Ideen, die den Zeitgeist in einer besonders adäquaten Weise verkörpern – das Streben des modernen Menschen nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung wie auch nach der Befreiung von der allgegenwärtigen Präsenz des paternalistischen Staates. Diese Ideen haben Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre Russland bis zur Unkenntlichkeit verändert und entscheidend zum Zusammenbruch des scheinbar unbesiegbaren kommunistischen Leviathans beigetragen. Aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein sind sie, trotz ihrer scheinbaren Diskreditierung und trotz der Unterstützung des antiwestlichen Konfrontationskurses der Kreml-Führung durch breite Bevölkerungsschichten, keineswegs verschwunden.

1.3

Vladimir Pečerin – 1807 bis 1885 – und die russische Sehnsucht nach dem Abendlande

Im Jahr 1932 erschien in Moskau die Autobiographie eines Mannes, dessen Lebensweg vielen Beobachtern seltsam und ungewöhnlich scheint. Das Buch wurde fast ein halbes Jahrhundert nach dem Tode des Autors veröffentlicht, es war vom Verfasser – Vladimir Pečerin – selbst, beinahe prophetisch, ‚Aufzeichnungen jenseits des Grabes‘ genannt worden. Die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen, die in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden waren, wollte die damalige russische Zensur nicht zulassen. Dieses Verbot ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass dies unter der liberalen Herrschaft Alexanders II. geschah, in der die Zensur äußerst locker gehandhabt wurde. Viele radikale Kritiker des bestehenden Systems konnten damals in Russland legal ihre Schriften publizieren. Und doch ließ man die Veröffentlichung der Autobiographie Pečerins nicht zu. So wurde der komplizierte und sehr untypische Lebensweg dieses Mannes den russischen Lesern vorenthalten. Nur wenigen waren sein Name und sein Schicksal bekannt. Immer wieder fanden sich allerdings in Russland wie auch im Westen Autoren, die sich von der Gestalt Pečerins angezogen fühlten und sein Schicksal zu

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ergründen suchten. So schrieb vor der Oktober­revolution der Schriftsteller und Publizist Michail Geršenzon 1908 die erste Biographie Pečerins. In der Nachkriegszeit beschäftigten sich unter anderem der 1972 verstorbene russische Publizist Viktor Frank – Sohn des bekannten Philosophen Semen Frank – und der Marburger Historiker Peter Scheibert mit Pečerin.74 Was am Schicksal Pečerins fasziniert, ist die Tatsache, dass sich hier die komplizierte und ambivalente Beziehung vieler Russen – von damals und von heute – zum Westen in einer äußerst konzentrierten Form offenbart. Seit seiner frühesten Jugend, die der 1807 geborene Pečerin in der russischen Provinz verbrachte, sehnte er sich nach dem Westen. Das Leben in Russland schien ihm eintönig und öde, das eigentliche Leben pulsierte seiner Meinung nach nur dort, im farbigen und freien Westen. Viele Jahrzehnte später – 1863 – schrieb er in einem Brief: „Die Sehnsucht nach dem Ausland ergriff mich seit meiner Kindheit. Nach Westen! Nach Westen! rief eine geheimnisvolle Stimme in mir.“75 Diese Gefühle beherrschten Pečerin vor allem in der Zeit unmittelbar nach dem Dekabristenaufstand von 1825. Russland wurde damals von Nikolaus I. in der Tat mit schwerer Hand regiert, und Pečerin war nicht der einzige, der die damals in Russland herrschende Atmosphäre als unerträglich empfand. Im Jahre 1833 wurde der 26-jährige Pečerin als vielversprechender Dozent der klassischen Philologie von der russischen Regierung in den Westen geschickt. Er sollte dort, in erster Linie an deutschen Universitäten, sein Studium fortsetzen. Der zweijährige Auslandsaufenthalt Pečerins machte ihn endgültig zu einem glühenden Bewunderer des Abendlandes. Das rege und vielfältige kulturelle, politische und soziale Leben des Westens übte auf ihn eine solche Faszination aus, dass er nun im Abendland eine Art verheißenes Land sah. Pečerins Ablehnung Russlands wuchs ins Unermessliche. Er identifizierte sich völlig mit den antirussischen Ressentiments, die damals – unmittelbar nach der Unterdrückung des polnischen Aufstandes von 1830/31 durch den Zaren – im Westen vorherrschten. Auch ihm schien Russland als Land der totalen Unfreiheit und 74 Michail Geršenzon, V. S. Pečerin, in: Ders., Istorija Molodoj Rossii [Geschichte des Jungen Russland], Moskau 1908, S. 75–173; Viktor Frank, Ein russischer Exulant im XIX. Jahrhundert: Wladimir Petscherin, in: Rußland-Studien. Gedenkschrift für Otto Hötzsch, Stuttgart 1957, S. 29–42; Peter Scheibert, Von Bakunin zu Lenin. Geschichte der russischen revolutionären Ideologien 1840–1895, Band 1, Leiden 1956, S. 21–35; Ders., Über einige neue Briefe von Vladmir Pečerin 1867–1873, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 8 (1960), S. 70–78; siehe auch unter anderem v. Schelting, Rußland, a.a.O., S. 231–238; Alexander Lipski, Pecherin‘s Quest for Meaningfulness, in: Slavic Review 23 (1964), S. 239–257. 75 Geršenzon, Istorija, a.a.O., S. 155.

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als Bedrohung der westlichen Zivilisation.76 Aus dieser Stimmung heraus schrieb er kurze Zeit später überstiegene und hasserfüllte Verse, die folgendermaßen beginnen: „Wie süß der Hass auf’s Vaterland, das Hoffen auf sein Ende …“.77 Die Rückkehr nach Russland fiel Pečerin sehr schwer. Dennoch kehrte er Mitte 1835 zurück und übernahm den Lehrstuhl für klassische Philologie an der Universität Moskau. Äußerlich schien nun einer glänzenden wissenschaftlichen Laufbahn nichts im Wege zu stehen. Viele Zeitgenossen berichten, dass Pečerin zu den begabtesten Professoren der Universität gehörte. Seine Vorlesungen wurden von Studenten mit wahrer Begeisterung aufgenommen; seine wissenschaftlichen Arbeiten trafen in der akademischen Welt auf eine sehr positive Resonanz. Er hatte viele treue und einfühlsame Freunde, die ihn liebten und achteten und ihm eine glänzende Zukunft voraussagten.78 Auf all das verzichtete Pečerin freiwillig, als er im Juni 1836 im Alter von 29 Jahren Russland beinahe fluchtartig verließ. Er reiste unter dem Vorwand in den Westen, er wolle die Veröffentlichung seiner Dissertation in Deutschland beschleunigen. In Wirklichkeit wollte er Russland für immer verlassen, und in der Tat sollte er sein Heimatland bis zu seinem Tode im Jahre 1885 nicht wiedersehen. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Mitte Mai 1836 habe ich das mir verhasste Moskau verlassen … [Ich hatte] den festen Willen, nie wieder nach Russland zurückzukehren. So habe ich alles verloren, was ein Mensch im Leben schätzt – das Vaterland, die Familie, das Vermögen, bürgerliche Rechte, die Stellung in der Gesellschaft – alles, alles! Dafür habe ich aber meine Menschenwürde und geistige Unabhängigkeit bewahrt.“79 Pečerin verließ Russland einige Monate vor dem Erscheinen des berühmten Philosophischen Briefes von Petr Čaadaev. In diesem Brief kritisierte Čaadaev Russland und seine Gesellschaft nicht weniger schonungslos als Pečerin. Während aber der Brief Čaadaevs die ganze russische Bildungsschicht erschütterte, blieb die Kritik Pečerins nur wenigen Eingeweihten vorbehalten. Dies ist jedoch nicht verwunderlich. Čaadaev stellte seine harte, wenn auch in manchen Punkten unbegründete Diagnose der Zustände Russlands nicht zuletzt deshalb auf, um diese Zustände zu ändern. Demgegenüber war die Schlussfolgerung, die Pečerin aus seiner Kritik zog, eine ganz andere. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Zustände Russlands sich von denen des von ihm bewunderten Westens so stark unterschieden, wollte er mit seinem Land nichts mehr gemein haben. An der Dis76 Ebd., S. 90–91. 77 Pečerin, Zamogil‘nye zapiski, a.a.O., S. 6. 78 Geršenzon, Istorija, S. a.a.O., S. 93–94. 79 Pečerin, Zamogil‘nye, a.a.O., S. 37.

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kussion zwischen ‚Westlern‘ und ‚Slavophilen‘ über das Schicksal Russlands, die infolge des Briefes von Čaadaev entbrannte, nahm Pečerin nicht teil. Er ging nun seinen eigenen Weg und versuchte, jedes Band, das ihn mit seiner russischen Vergangenheit verband, zu zerreißen. Die Ablehnung Russlands war bei Pečerin mit unklaren, romantischen Sendungsgedanken verbunden. Er wollte in den Westen, um dort am Kampf für die Befreiung der Menschheit von jeglicher Unterdrückung und an der Erschaffung einer neuen, gerechten Welt teilzunehmen.80 Einen außerordentlichen Einfluss übten auf ihn Ideen französischer Sozialisten – von Henri de Saint-Simon, Charles Fouriers, vor allem aber von Félicité de Lamennais – aus. Diese Ideen, die er damals für den höchsten und edelsten Ausdruck des westlichen Geistes hielt, vertrieben ihn im Grunde aus Russland. Drei Jahrzehnte später schrieb der bereits desillusionierte Pečerin: „Bücher sind gefährlich. Aus ihnen werden Ideen und folglich verschiedene Torheiten geboren (Für diesen Satz hätte mich der selige Nikolaus I. sicher zum Kammerjunker gemacht. Schade, dass er nicht mehr lebt). Bücher hatten einen entscheidenden Einfluss auf die wichtigsten Perioden meines Lebens. Es wäre vielleicht weniger schlimm, wenn dies echte Bücher – das heißt irgendwelche Folianten – gewesen wären … Aber nein: nichtssagende, etwa 100 Seiten lange Broschüren haben mein Schicksal für immer entschieden. Eine Broschüre Lamennais‘ bewog mich, Russland zu verlassen.“81 So tauschte also Pečerin das gesicherte Leben eines Professors gegen das recht- und mittellose Dasein eines Emigranten ein. Da er kein Geld und keine gültigen Papiere besaß, wurde er aus einem europäischen Land in das andere gejagt. Wie Viktor Frank zutreffend bemerkt, nahm er das Schicksal vieler späterer russischer Emigranten vorweg.82 Die Verachtung Pečerins für materielle Güter, seine Bereitschaft auf sie zugunsten eines Ideals zu versichten, verband ihn mit der revolutionären russischen Intelligencija, die etwa um die Zeit seiner Flucht im Entstehen begriffen war. Pečerin war, wie Frank mit Recht bemerkt, einer der Prototypen dieser neuen sozialen Formation.83 Neben dem Asketismus besaß Pečerin auch andere Eigenschaften, die für spätere Vertreter der Intelligencija typisch sein sollten. So zum Beispiel den Drang, seine Ideale sofort zu verwirklichen. Die Kluft, die zwischen Ideal und Wirklichkeit bestand, war für Pečerin wie für die Vertreter der russischen Intelligencija derart unerträglich, dass sie zu Verzweiflungstaten bereit waren, nur um diese kaum 80 Geršenzon, Istorija, a.a.O., S. 97–100, S. 104–108. 81 Pečerin, Zamogil‘nye, a.a.O., S. 81 82 Frank, Ein russischer Exulant, a.a.O., S. 30. 83 Ebd.

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zu beseitigende Kluft aufzuheben. Pečerins ‚Flucht‘ in den Westen kann als Beispiel einer solchen Tat gelten. Während der gesamte Westen für Pečerin eine Art gelobtes Land war, betrachtete er insbesondere Paris als das ‚Neue Jerusalem‘. Er wollte um jeden Preis nach Paris. Im Frühjahr 1837 schrieb er einem Freund in Russland, er folge seinem Stern und dieser führe ihn nach Paris.84 Dort – in dieser ‚geistigen Hauptstadt‘ des alten Kontinents  – sollte sich nach Ansicht Pečerins das Schicksal des Westens und damit der ganzen Welt entscheiden. In seinen Erinnerungen schreibt Pečerin, bis 1838 seien seine Ideen und Ideale rein französisch gewesen. Dies sei jedoch für seine Zeit oder zumindest für den Kreis der Gebildeten, in dem er verkehrte, typisch gewesen: sie alle hätten alles Russische verachtet und alles Französische sklavisch verehrt. Pečerins Traum  – in Paris an der Vorbereitung der europäischen Revolution teilzunehmen – wurde allerdings von der französischen Polizei vereitelt. Da er keinen gültigen Pass besaß, verweigerten ihm die Grenzbehörden die Einreise nach Frankreich. Er erhielt nur ein Durchreisevisum, um aus der Schweiz nach Belgien zu gelangen. Dies war vielleicht die erste große Enttäuschung, die Pečerin im Westen erlebte. Es wurde ihm nun klar, dass auch die westliche Freiheit, die er so sehr bewunderte, nicht unbegrenzt war. Diese Enttäuschung traf mit einer anderen zusammen. Pečerin begann sich nämlich dem revolutionären Milieu, in dem er in seinen ersten Emigrationsjahren verkehrte, zu entfremden. Statt revolutionären Idealismus meinte er dort vor allem Eitelkeit und leere Rhetorik entdeckt zu haben. Die Schriften der revolutionären Theoretiker, mit denen er sich nun intensiv befasste, zum Beispiel die von François Babeuf, erschienen ihm banal und oberflächlich. Wenn man bedenkt, mit welchen grenzenlosen Erwartungen Pečerin in den Westen gekommen war und wie tief er vom unmittelbaren Anbruch eines neuen ‚goldenen Zeitalters‘ dort überzeugt gewesen war, wirkt seine ebenso schnelle wie grenzenlose Enttäuschung nicht überraschend. Sie war voraussehbar. Was dagegen weniger vorauszusehen war, war Pečerins Reaktion auf diese Enttäuschung. Da er auf keinen Fall nach Russland zurückkehren wollte und da er das Abendland immer noch für den einzigen Teil der Welt hielt, in dem er leben konnte, suchte er nach einem anderen abendländischen Ideal, mit dem er sich voll identifizieren konnte. Dies fand er im Katholizismus. Die neueste Ideologie des Westens – der Sozialismus – bot ihm keinen Halt mehr, nun suchte er ihn in der ältesten Lehre des Abendlandes. 84 Geršenzon, Istorija, a.a.O., S. 101.

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Hier beginnt sich der Weg Pečerins von dem üblichen Weg der russischen Intelligencija zu scheiden. Pečerins Enttäuschung an der Revolution trat gerade in dem Moment ein, in dem die russische Intelligencija begann, dem Revolutionsideal hingebungsvoll und vorbehaltlos zu dienen, ein Dienst, der mehrere Generationen dauern sollte. So war Pečerins Schritt für einige Vertreter der russischen Intelligencija, die ihn zunächst für ihren Gesinnungsgenossen gehalten hatten, völlig unverständlich. Dies umso mehr, als Pečerin nicht bloß Katholik, sondern sogar Mönch wurde. Er trat im Jahre 1840 in den strengen Orden der Redemptoristen ein, dessen Hauptaufgabe die Verkündung des Evangeliums unter den ärmeren Schichten der Bevölkerung war. Aleksandr Gercen interpretiert in seinen Memoiren den Eintritt Pečerins ins Kloster als Folge einer schweren Depression. Pečerin sei unter der Last der Einsamkeit, der Armut und der Teilnahmslosigkeit, die ihm im Westen widerfuhren, zusammengebrochen. Nur damit lasse sich der seltsame Umstand erklären, dass sich derselbe Mann, der der Unfreiheit des Zarenreiches entflohen war, der strengen Disziplin eines katholischen Ordens unterwarf. Gercens Freund Nikolaj Ogarev kommentierte Pečerins Schritt noch leidenschaftlicher. Pečerin – dieser revolutionäre Dichter und Wissenschaftler – habe alle seine früheren Ideale verworfen und sich im Kloster lebendig begraben lassen. Kein russischer Dichter sei eines schrecklicheren Todes gestorben.85 Pečerin nahm zu diesen Aussagen, die er in seinen Erinnerungen sogar auszugsweise zitiert, Stellung. So lehnte er die Erklärung Gercens für seinen Eintritt ins Kloster entschieden ab. Materielle Schwierigkeiten des Emigrantendaseins seien keineswegs die Ursache für diesen seinen Schritt gewesen. Wenn man bedenkt, wie leicht es Pečerin fiel, auf materiellen Wohlstand zugunsten von Idealen zu verzichten, und wie stark seine asketischen Neigungen waren, so klingt sein Einwand gegen die Gercensche Vermutung sehr glaubhaft. Die Wende in seinem Leben hatte sicher in erster Linie ideelle und nicht materielle Gründe. Welche Gründe es wirklich waren, ist indes schwer zu erfahren. Pečerin selbst nimmt dazu selten Stellung, darüber hinaus lassen sich seine Erinnerungen, die er drei Jahrzehnte nach seiner Konversion in einer ganz anderen Gemütsverfassung schrieb, nicht immer als zuverlässige Quelle ansehen. Es kann aber kaum einem Zweifel unterliegen, dass Pečerins Interesse an der Religion, nachdem die revolutionären Ideale ihn enttäuscht hatten, tief und aufrichtig war. Damit hat er eine Entwicklung vorweggenommen, die sich innerhalb der russischen Intelligencija erst mehr als ein halbes Jahrhundert später abzeichnen sollte. Damals – um die Jahrhundertwende – sollten sich einige führende Vertreter der russischen In85 Siehe bei Pečerin, Zamogil‘nye, a.a.O., S. 103 f.

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telligencija, wie Sergej Bulgakov, Nikolaj Berdjaev, Petr Struve und Semen Frank gleichfalls von den revolutionären Idealen abwenden und – ähnlich wie er – die Religion entdecken. Nur war es bei ihnen die Orthodoxie, nicht der Katholizismus. Auch hier ging also Pečerin seinen eigenen Weg. Wie Geršenzon mit Recht sagt, wäre der bloße Übertritt zum Katholizismus für Pečerin völlig unzureichend gewesen. Er habe seinen neuen Glauben verkünden und die Welt durch ihn verändern wollen. Daher sein Eintritt in den Redemptoristenorden.86 Jeden seinen Glauben vertrat Pečerin mit beispielloser Leidenschaft und Radikalität. Diese Eigenschaft zeichnete übrigens auch andere Vertreter der russischen Intelligencija aus, die sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zu bestimmten abendländischen Ideen bekannten. Dies war die spezifische ‚russische Note‘, die sie diesen Ideen hinzufügten. Auf den zunehmend skeptischen und nüchternen Westen wirkte diese russische Leidenschaftlichkeit sehr attraktiv. Dadurch lassen sich wahrscheinlich nicht zuletzt auch die Erfolge Pečerin erklären, die er während seiner missionarischen Tätigkeit im Redemptoristenorden erzielen sollte. Dieser Tätigkeit sollte sich Pečerin beinahe zwei Jahrzehnte lang widmen. Nach der übereinstimmenden Meinung vieler Beobachter gehörte er zu den begabtesten und brillantesten Predigern seines Ordens. Man berichtet von überwältigenden missionarischen Erfolgen Pečerins in verschiedenen europäischen Ländern – zunächst in Belgien, dann in England und schließlich in Irland. Die rhetorische Begabung Pečerins zeigte sich bereits bei seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor. Eine andere Voraussetzung für seine Erfolge war sein ungewöhnliches Sprachtalent, von dem mehrere Zeitgenossen berichten. Neben den klassischen Sprachen beherrschte er Französisch, Englisch und Deutsch. In seinen Erinnerungen berichtet Pečerin auch von einem zusätzlichen Geheimnis seiner Predigererfolge. Seine russische beziehungsweise orthodoxe Vergangenheit sei ihm hier zugutegekommen. Er habe seine Predigten nicht nach dem Vorbild westlicher Kirchenväter und Prediger, sondern nach dem der östlichen aufgebaut. Vor allem habe er sich vom größten Prediger der orthodoxen Kirche – Johannes Chrysostomus – inspirieren lassen; von diesem habe er gelernt, seine Reden nicht so rationalistisch zu gestalten, wie dies die berühmtesten Prediger seiner Zeit, vor allem die französischen, getan haben.87 Von seiner revolutionären Vergangenheit distanzierte sich Pečerin nun völlig. Besonders deutlich wurde dies bei einer Begegnung zwischen ihm und Aleksandr Gercen im Jahre 1853 sichtbar, von der Gercen in seinen Erinnerungen berichtet. Gercen sprach Pečerin auf seine Revolutionsgedichte an und fragte, ob er sie pub86 Geršenzon, Istorija, a.a.O., S. 119. 87 Pečerin, Zamogil‘nye, a.a.O., S. 157.

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lizieren dürfe. Pečerin wunderte sich darüber, wie Gercen sich für Gedichte dieser Art noch interessieren könne. Dies seien völlig unreife Produkte gewesen. Er habe den Eindruck, ein anderer, nicht er selbst habe sie geschrieben. Er wolle mit diesen Gedichten nichts mehr zu tun haben und blicke auf sie ähnlich zurück, wie ein Geheilter auf seine soeben überwundene Krankheit zurückschaue. Unmittelbar nach dieser Begegnung kam es zu einem interessanten Briefwechsel zwischen Pečerin und Gercen. Pečerin greift hier den von Gercen vertretenen Fortschritts- und Wissenschaftsglauben – das heißt seine eigenen früheren Ideale – radikal an. Einzig wahre Grundlage jeder Gesellschaft könne nur die Religion sein. Eine Gesellschaft, in der die Religion durch den Glauben an die Wissenschaft oder durch philosophische Systeme verdrängt werde, sei dekadent oder despotisch. Pečerin fürchtet, dass im Falle eines Triumphes der wissenschaftlich-materialistischen Zivilisation die Christenverfolgungen erneuert würden. In dieser Zivilisation werde es keinen Platz für diejenigen geben, die – wie er – die kontemplative Lebensweise bevorzugten. Klöster und Einsiedeleien würden von ihr abgeschafft werden.88 Gercens Bericht und Pečerins Briefe zeigen, dass sich Pečerin 13 Jahre nach dem Eintritt ins Kloster noch voll mit seinem neuen Glauben und seiner Position innerhalb der katholischen Kirche identifizierte. Sein Ansehen im Orden wuchs ununterbrochen. Im Jahre 1858 beschlossen seine Vorgesetzten sogar, ihn nach Rom zu schicken. Er sollte dort predigen, auch auf Russisch. Pečerins Aufenthalt in Rom war nur kurz. Er schreibt in seinen Memoiren, er habe in dieser Stadt nicht atmen können.89 Die weltliche Macht der Päpste und die Pracht des kirchlichen Zeremoniells widersprachen seinem puristischen und asketischen Geschmack. Diese Abneigung gegen Rom war aber wahrscheinlich Folge und nicht Ursache seiner Zweifel, die um diese Zeit begonnen hatten. Seine innere Stimme, seine romantische Sehnsucht nach einem irdischen Paradies, stifteten erneut Unruhe. Diese Stimme hatte ihn seinerzeit zur Flucht aus Russland bewogen, nun begann sie ihn zu einer ähnlichen ‚Flucht‘ aus dem Kloster zu treiben. Es bahnt sich nun bei Pečerin eine Rebellion gegen den von der kirchlichen Obrigkeit geforderten Gehorsam an, den er zwanzig Jahre lang freiwillig akzeptierte. So wird er im Mai 1861 von einem seiner Vorgesetzten dafür gerügt, dass er die weltliche Macht der Päpste kritisiere.90

88 Gercen, Byloe i dumy, a.a.O., Band 3, S. 363–376. 89 Pečerin, Zamogyl‘nye, a.a.O., S. 171. 90 Viktor Frank, U istokov istorii russkoj intelligencii. Neizvestnaja stranica iz biografii V. S. Pečerina [An den Quellen der Geschichte der russischen Intelligencija. Ein un-

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Zur gleichen Zeit beginnt Pečerin, seinen Eintritt ins Kloster zu bedauern. Er hat das Gefühl, er habe etwas versäumt. Das wahre Leben, die wahre menschliche Geschichte vollzögen sich außerhalb der Klostermauern, das Leben im Kloster sei in gewissem Maße unwirklich. Ende 1861 trat Pečerin aus dem Kloster aus. Unmittelbar danach schreibt er, er habe die besten zwanzig Jahre seines Lebens verschlafen. Der bereits erwähnten Äußerung Ogarevs, er habe sich im Kloster lebendig begraben lassen, stimmt er jetzt zu.91 Der Austritt aus dem Kloster bedeutete für Pečerin praktisch die Abkehr vom Katholizismus. Dadurch hat er das letzte Ideal, das ihn an den Westen band, verloren. Dies war vielleicht die größte Enttäuschung seines Lebens. Das Abendland, das seit seiner Kindheit der Gegenstand seiner Sehnsucht und seiner Bewunderung war, begann nun in seinen Augen den Glanz zu verlieren. Dafür wächst sein Interesse für Russland. Jahrzehntelang erinnerte er sich an seine Heimat nur mit Schrecken. Seine Bindungen an Russland brach er beinahe völlig ab. Sogar seine Muttersprache begann er allmählich zu vergessen. All das sollte sich nach dem Tode Nikolaus I., im Jahre 1855, radikal ändern. Pečerin schreibt, solange Nikolaus I. gelebt habe, sei ihm Russland nie in den Sinn gekommen. Er habe jedoch bald nach dem Regierungsantritt Alexanders II., des Nachfolgers von Nikolaus I., gemerkt, dass eine neue Epoche in Russland beginne. Alexander II. habe durch seine Reformen, vor allem durch die Bauernbefreiung, Russland zu neuem Leben erweckt. Pečerin versucht seinen Bruch mit dem Orden nicht zuletzt mit dieser neuen Entwicklung in Russland in Verbindung zu bringen. Er habe es als unerträglich empfunden, gerade in der Zeit im Kloster zu bleiben, in der in Russland so wichtige Veränderungen vor sich gingen, und habe sich an diesen Reformen beteiligen wollen. Pečerin, der jahrzehntelang die Thesen der Slavophilen von der westlichen Dekadenz und von der russischen Sendung leidenschaftlich bekämpft hatte, beginnt nun selbst ähnliche Gedanken zu äußern. Er ist jetzt der Meinung, der Westen habe bereits seine historische Rolle ausgespielt. Die große Zukunft der menschlichen Gesellschaft beginne sich nun in Russland anzubahnen. Eine ähnliche Annäherung an die Thesen der Slavophilen ließ sich übrigens auch bei anderen russischen ‚Westlern‘ beobachten, die sich lange im Westen aufgehalten hatten, so bei Aleksandr Gercen oder Michail Bakunin. Die Position Pečerins unterschied sich allerdings insofern wesentlich von der Gercens oder Bakunins, als er ihren Glauben an die Revolution beziehungsweise an eine revobekanntes Kapitel aus der Biographie von V. S. Pečerin], in: Ders., Izbrannye stat‘i [Ausgewählte Artikel], London 1974, S. 140–154, hier S. 150. 91 Pečerin, Zamogil‘nye, a.a.O., S. 38.

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lutionäre Sendung Russlands nicht teilte. Aber auch von den Slavophilen trennte Pečerin noch immer eine tiefe Kluft. So idealisierte er im Gegensatz zu ihnen die vorpetrinische Vergangenheit Russlands nicht. Bei seiner Hinwendung zu Russland konnte keine Rede sein von grenzenloser Bewunderung, wie er sie seinerzeit dem Abendland gegenüber empfunden hatte. Er war weit davon entfernt, ein ‚Hurra-Patriot‘ zu werden, die russische Gegenwart bot ihm viel Anlass zur Kritik. Als im Januar 1863 der antirussische Aufstand in Polen begann, sprach er sich eindeutig für die Polen aus, ähnlich übrigens wie andere russische Emigranten, so Gercen oder Bakunin. Anlässlich des polnischen Aufstandes versuchten einige seiner Freunde, sowohl in der Emigration wie auch in Russland selbst, ihn zur Rückkehr nach Russland zu bewegen. Er sollte zur Versöhnung zwischen Russen und Polen beitragen. Als katholischer Priester und Russe zugleich sei er für diese Aufgabe prädestiniert.92 Die Frage einer Rückkehr Pečerins wurde sogar in der russischen Presse erörtert. Der damals noch liberale Publizist Michail Katkov sprach sich für die Rückkehr Pečerins aus, der einflussreiche Vertreter der russischen Nationalkreise Michail Pogodin hingegen wandte sich heftig gegen sie: Durch sein missionarisches Talent werde Pečerin in Russland für den Katholizismus genauso viele Proselyten gewinnen, wie er sie seinerzeit als Universitätsprofessor für das Studium der klassischen Sprachen gewonnen habe.93 Aber auch Pečerin selbst zögerte, nach Russland zurückzukehren. Er traute der neugewonnenen russischen Freiheit nicht ganz. Im April 1863 schreibt er an Ogarev: „Wäre Russland wie England, wo jeder frei herumspazieren kann, sagen und tun darf, was er will …, so würde ich mich vielleicht sofort auf meine Art ans Werk machen. Aber was kann ich denn in Russland tun?“94 Man sieht hier, daß Pečerin das Ausmaß der Veränderungen, die in Russland seit dem Beginn der großen Reformen eingetreten waren, nicht richtig einschätzen konnte. Er maß die Herrschaft Alexanders II. mit den Maßstäben, die im Grunde nur dem Regime Nikolaus I. angemessen waren. Pečerin bleibt also im Westen, dessen Niedergang er für unausweichlich hält. Die Pariser Kommune ist für ihn ein Zeichen, dass das alte Europa kurz vor seinem Ende stehe. Ähnlich wie die ersten Christen, die die heidnischen Tempel zerstörten, hätten die Kommunarden die alten Paläste und Denkmäler vernichtet. Die 92 Frank, Ein russischer Exulant, a.a.O., S. 40; Alexander F. Izjumov, Der Briefwechsel V. S. Pečerins mit A. I. Herzen und N. P. Ogarev, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 9 (1933), S. 493–517, hier S. 505 f. 93 Izjumov, Der Briefwechsel, a.a.O., S. 504 f. 94 Ebd., S. 516.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

Verteidiger der Antike hätten in den Christen Barbaren gesehen, ähnlich dächten nun die Verteidiger des alten Europa von den Kommunisten. Aber die Kommunisten, die konsequent und unbeirrt ihre Ziele verfolgten, würden wahrscheinlich – ähnlich wie früher die Christen – den Sieg davontragen.95 Pečerin bleibt katholischer Priester, obwohl er davon überzeugt ist, die katholische Kirche werde den Zusammenbruch des Westens nicht überdauern. Er kritisiert nun den Katholizismus, vor allem die politischen Ansprüche der Päpste mit ähnlicher Radikalität, wie sie seine frühere Kritik an Russland oder an den revolutionären Ideen aufgewiesen hatte. Nur hat er diesmal kein Ideal, in dessen Namen er sein früheres Ideal anprangert. Seine stark ausgeprägte Neigung, die Welt in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ aufzuteilen, muss jetzt unbefriedigt bleiben. An einer Stelle seiner Aufzeichnungen heißt es sogar, dass er alle Ideale hasse, da sie den Menschen zwängen, etwas zu tun, was seiner Natur widerspreche. Trotz dieser Aussage suchte Pečerin weiterhin nach einem Ideal, dem er hätte dienen können. Er schreibt über sich in einem Brief: „Ich war mein ganzes Leben lang ein wirklicher Don Quichotte. Ich nahm alles als bare Münze, sah überall Tugend und Schönheit, wo sie aber gar nicht vorhanden waren … Wie viele Windmühlen habe ich für Riesen gehalten! Wie viele Dulcineen habe ich … verehrt!“ 96 In seiner verzweifelten Suche nach einem neuen Ideal vertieft sich Pečerin in die indische Metaphysik, er befasst sich auch mit der materialistischen und atheistischen Philosophie, die er früher so scharf abgelehnt hatte.97 Nichts kann ihn endgültig befriedigen. Er kann keinen Ersatz für sein altes Ideal finden – das Abendland. Eine der letzten Hoffnungen Pečerins zerschlug sich, als die russische Zensur die Publikation seiner Erinnerungen nicht zuließ. Pečerin wollte zumindest indirekt, mit Hilfe dieser Aufzeichnungen, in seine Heimat zurückkehren. Er dachte, die russischen Leser, vor allem die russische Jugend, hätten aus seinem Leben etwas lernen können. Die Petersburger Zensur jedoch nahm wohl an den außergewöhnlich kritischen Äußerungen Pečerins über das Zarenreich und über die Religion Anstoß – gerade diese Kritik dürfte wohl für die sowjetischen Kulturfunktionäre der Grund gewesen sein, diese Aufzeichnungen im Jahre 1932 zu veröffentlichen. In der Einleitung weist der prominente Bolschewik Lev Kamenev als Herausgeber auf diese Äußerungen zustimmend hin, obwohl er den Verfasser als ‚Klassenfeind‘ bezeichnet. Pečerin war über das Verbot maßlos enttäuscht. Nun könne er nicht mehr darauf hoffen, schreibt er in seinen Aufzeichnungen, dass jemand zu seinen Lebzeiten 95 Zamogil‘nye, a.a.O., S. 100. 96 Izjumov, Der Briefwechsel, a.a.O., S. 516. 97 Geršenzon, Istorija, a.a.O., S. 165–167.

1.3 Vladimir Pečerin – 1807 bis 1885 …

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seine Erinnerungen lesen, loben oder kritisieren werde. Er sagt sarkastisch: „Ich adressiere nun meine Aufzeichnungen direkt an die künftigen Generationen, obwohl Briefe an diese Adresse nicht immer ankommen. Vielleicht deshalb, weil die Post manchmal zu nachlässig arbeitet, vor allem in Russland.“98 Wenn diese seine Aufzeichnungen doch irgendwann, vielleicht im nächsten Jahrhundert, publiziert werden sollten, so Pečerin weiter, vielleicht werde dann sein Leben – das eines ewigen Don Quichotte – irgend einen jungen russischen Leser inspirieren, ebenfalls etwas ungewöhnliches, irgendeine romantisch-großzügige Torheit zu begehen. Vom Westen enttäuscht, aber ohne die Möglichkeit und den Willen, nach Russland zurückzukehren, befand sich nun Pečerin im leeren Raum zwischen beiden Welten. Die letzten 23 Jahre seines Lebens – 1862 bis 1885 – lebte und arbeitete er als Seelsorger in einem katholischen Krankenhaus in Dublin. Auch diese Arbeit hat er – wie alle seine früheren Tätigkeiten – vorbildlich verrichtet. Er erntete nur Lob und Dank von allen, mit denen er zu tun hatte. Von seinen inneren Konflikten und Kämpfen merkten sie nichts. Bis zu seinem Lebensende blieb er die Verkörperung der romantischen Sehnsucht nach einem Ideal, nach einem irdischen Paradies, einer Sehnsucht, die nie zu erfüllen war. Es ist nicht leicht, das von Pečerin errichtete gedankliche Gebäude ideengeschichtlich einzuordnen. Es besteht bloß aus Fragmenten, es fehlt ihm die innere Stringenz. Abgesehen davon beteiligte sich Pečerin seit seinem Eintritt ins Kloster im Jahre 1840 kaum an den geistigen Disputen der damaligen Zeit. Ohne Anregungen von außen blieb er in gewisser Hinsicht ein intellektuelles Fossil und bewahrte den romantischen Ideen seiner Jugend die Treue, obwohl die Welt der Romantik um die Mitte des 19. Jahrhunderts jäh zusammenbrach, um von der materialistisch-positivistischen Epoche abgelöst zu werden. Aber die Schwierigkeiten bei der ideengeschichtlichen Einordnung des Pečerinschen Werks sind nicht nur auf seine zum Teil antiquierten Denkmuster zurückzuführen. Viel mehr haben sie mit der Rebellion dieses Ahnherrn des russischen Westlertums und der revolutionären Intelligencija gegen die Grundüberzeugungen seiner Gesinnungsgenossen zu tun. Als Pečerin sich um 1840 von seinem ursprünglichen Credo entfernte, verwandelte er sich in einen Außenseiter par excellence. Seine Gedankengänge riefen bei seinen ideologischen Gefährten nur Verwunderung und Kopfschütteln hervor. In gewisser Weise gleicht das Schicksal Pečerins demjenigen eines anderen ‚Abtrünnigen‘, diesmal aus dem gegnerischen slavophilen beziehungsweise panslawistischen Lager, nämlich dem Schicksal Konstantin Leont’evs – der von 1831 bis 1891 lebte. Beide, Pečerin und Leont’ev, stellten einige ‚unverrückbare Grund98 Pečerin, Zamogil‘nye, a.a.O., S. 166.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

prinzipien’ der von ihnen jeweils vertretenen Ideologie in Frage. Pečerin verwarf den Götzendienst seiner Gesinnungsgenossen an der Revolution und ihr Bekenntnis zum Materialismus. Leont’ev hielt seinerseits die Abschirmung Russlands gegenüber den Ideen des Jahres 1789 und gegenüber dem Fortschrittsgedanken für wesentlich wichtiger als die Solidarisierung des Zarenreiches mit Süd- und Westslawen. Für ihre Rebellion mussten beide Denker mit dem Ausschluss aus der ‚Gemeinschaft der Gläubigen‘ bezahlen. Besonders stark litten sie aber unter der immer größeren geistigen Leere, die sie umgab. Zwar unterlag Leont’ev – anders als Pečerin  – nicht einem Publikationsverbot. Dennoch beklagte er sich ebenso wie Pečerin über die mangelnde Resonanz auf sein publizistisches und literarisches Werk. 1891 schrieb er an Vasilij Rozanov: „Sie sind nicht der erste, der mich wie Amerika entdeckt. Warum verhalten sich die Dinge so? Ich weiß es nicht … Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach. Die Anderen haben wenig über mich geschrieben“.99 Mit seiner Kritik am Massenzeitalter, mit seiner These vom Anbruch einer nihilistischen Epoche nahm Leont’ev manche Ideen Friedrich Nietzsches vorweg und seine Theorie über das Wachsen und den Verfall von Kulturen antizipierte um mehrere Jahrzehnte das Spenglersche Konzept – Leont’ev lehnte sich hier mit seinen Ideen allerdings an Nikolaj Danilevskij an. Der durchschlagende Erfolg, den Nietzsche und Oswald Spengler in Russland erzielen sollten, war Leont’ev indes nicht gegönnt. Er hat sich von den Ideen des 19. Jahrhunderts einfach zu früh verabschiedet. Erst die Krise des Fin de Siècle hat den Boden für die pessimistische Weltsicht, die Leont’ev vertrat, vorbereitet. Popularisiert wurden aber diese Ideen von Anderen, die sich im Einklang mit dem Zeitgeist befanden, von ‚zeitgemäßen Denkern‘. Das gleiche Schicksal ist auch Pečerin widerfahren. Auch er hat dem 19. Jahrhundert zu früh den Rücken gekehrt. Mit seiner Hinwendung vom Materialismus zum ‚Idealismus‘, mit seiner Kritik am revolutionären Credo der Intelligencija nahm er die Ideen des Sammelbandes Vechi um etwa 70 Jahre vorweg. Eine derartige ‚Frühgeburt‘ wird indes in der Welt der Ideen in der Regel grausam bestraft – durch Nichtbeachtung. Frappierend an den Ideen Pečerins ist ihre Aktualität. Insbesondere betrifft dies seine Einstellung zum Westen, sein Schwanken zwischen unkritischer Bewunderung und radikaler Ablehnung. Die von Pečerin aufgeworfenen Fragen werden zurzeit in Russland mit einer ähnlichen Leidenschaft und oft auch mit 99 Boris Filippov, Strastnoe pis‘mo s nevernym adresom [Ein leidenschaftlicher Brief an eine falsche Adresse], in: Mosty 1962, 9, S. 211–228, hier S. 212.

1.4 Dekadenzängste und Russlandfurcht …

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ähnlichen Argumenten erörtert, wie dies für den Pionier des Westlertums charakteristisch war.

1.4

Dekadenzängste und Russlandfurcht – zwischen Wiener Kongress und Krimkrieg

Die Situation Europas unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerte stark an diejenige nach der Niederlage Napoleons. Russland wurde erneut, ähnlich wie nach 1815, als Gefahr für die europäische Zivilisation und als ein potentieller Welteroberer empfunden. Viele Europäer bewunderten nun den Weitblick solcher Denker wie Alexis de Tocqueville, Juan Donoso Cortès, Marquis de Custine oder Jakob Philipp Fallmerayer, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die große, für den Westen bedrohliche Zukunft Russlands vorausgesagt hatten. Dass diese Voraussagen teilweise von falschen Prämissen ausgegangen waren, wurde meist übersehen. So wurzelte zum Beispiel der Glaube von Tocqueville, Donoso Cortès und anderer Denker an die künftige Bedeutung Russlands in ihrer jeweils tiefen Überzeugung, der Westen befinde sich in einem Zustand unheilbarer Dekadenz und verfüge nicht mehr über die Kraft zu einer Erneuerung.100 Dabei verwechselten die pessimistischen Autoren von damals den Niedergang des aristokratischen Europa mit der Gesamtkrise des Abendlandes als solchem. Mit ihren Prognosen übersprangen sie praktisch ein Jahrhundert – in ihren Voraussagen ist weder vom Aufkommen des dynamischen, expansiven Nationalismus, noch vom Aufstieg Deutschlands, noch von einer gewaltigen Ausweitung der europäischen Kolonialreiche die Rede. Es fehlten darin beinahe alle Vorgänge, die auf das Abendland ebenso belebend wie selbstzerstörerisch wirken sollten. Diese Prozesse schienen den Westen in eine völlig andere Richtung zu drängen, als die pessimistischen Denker dies vorausgesagt hatten. Dennoch sollte der Westen hundert Jahre später wieder in die scheinbar gleiche Situation gelangen, in der er sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits befunden hatte. Dieses ganze Jahrhundert wurde nun von vielen Autoren lediglich als eine Art Umweg angesehen, bei dem Europa im Grunde nur vorübergehend

100 So hielt Alexis de Tocqueville die Angst seiner Landsleute vor einer Einigung Deutschlands angesichts der russischen Übermacht nicht mehr für zeitgemäß; 1849 schrieb er – in der Übersetzung bei Tschižewskij, Groh, Europa und Russland, a.a.O., S. 109 –: „Meiner Meinung nach ist es für uns von höchstem Interesse, die Vereinigung aller deutschen Stämme zu unterstützen, um mittels ihrer Kraft dem Zaren Widerstand zu leisten.“

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seinem scheinbar unvermeidlichen Schicksal entrinnen konnte, und dieses Schicksal hieß – Dekadenz und russische Hegemonie.101 Dass diese Betrachtungsweise die Entfaltungsmöglichkeiten des Westens unterund diejenigen des Ostens überschätzte, muss heute nicht mehr bewiesen werden. Worauf lässt sich also diese verzerrte Wahrnehmung des Ost-West-Verhältnisses zurückführen? Die Analyse der Russlandfurcht im Westen nach 1815 könnte hier vielleicht einiges zur Aufklärung beitragen.

1.4.1 Die Hegemonialpolitik östlichen Typs In den Jahren 1812 bis 1815 noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland schon kurze Zeit danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleon angesehen.102 In der westlichen Öffentlichkeit galt es nun beinahe als Axiom, dass Russland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe. Die gewaltige territoriale Ausdehnung Russlands, die Europa 1812 – ähnlich wie 1941 – vor einer endgültigen Eroberung gerettet hatte, wurde nun als außerordentliche Bedrohung empfunden. Die Tatsache, dass der russische Drang nach Westen, der im 18. Jahrhundert noch äußerst stark gewesen war, im 19. Jahrhundert praktisch zum Stillstand kam, wurde im Westen nur selten registriert. Der englische Historiker George H. Bolsover weist zum Beispiel daraufhin, dass das einzige Gebiet, das Russland in Europa zwischen 1815 und 1914 annektierte, ein kleiner Küstenstreifen in der Donaumündung war, den es der Türkei beim Frieden von Adrianopel 1829 abverlangte.103 101 v. Schelting, Russland, a.a.O., S.205–209, S. 312–313; Oscar J. Hammen, Free Europe versus Russia, 1830–1854, in: The American Slavic und East European Review 11 (1952), S. 27–41, hier S. 40; Tschižewskij, Groh, Europa, a.a.O., S. 14; Dieter Groh, Russland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961, S. 3, 14–15, S. 97, S. 319–322; Geoffrey Barraclough, Europa, Amerika und Russland in Vorstellung und Denken des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 280–315, hier S. 280–81, 297, S. 304, S. 310–315. 102 Siehe dazu unter anderem Tschižewskij, Groh, Europa, a.a.O.; Groh, Russland, a.a.O.; Hammen, Free Europe, a.a.O.; Gleason, Genesis, a.a.O.; McNally, Russlandbild, a.a.O., S. 82–169; Ders., The Origins of Russophobia in France: 1812–1830, in: The American Slavic und East European Review 17 (1958), S. 173–189; Müller, Russlandbild, a.a.O.; Anderson, The Ascendancy of Europe, a.a.O., S. 6–7; Erwin Oberländer, Zur Wirkungsgeschichte historischer Fälschungen: Das ‚Testament‘ Peters des Großen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 46–60, S. 51–52. 103 George H. Bolsover, Aspects of Russian Foreign Policy, 1815–1914, in: Essays Presented to Sir Lewis Namier, hg. v. Richard Pares u. Alan John Precivale Taylor, Free-

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Und auch der Umstand, dass die russischen Truppen 1818 das besetzte Frankreich vertragsgemäß räumten104 – ein recht untypisches Vorgehen für einen potentiellen Welteroberer –, -trug zur Dämpfung der Polemik gegen die Welteroberungspläne Russlands kaum bei. Sie wurden nicht selten als gefährlicher sogar als diejenigen des napoleonischen Frankreich angesehen, denn es handelte sich bei Russland um eine nichtokzidentale Macht. Es stellte für den Westen also nicht nur eine militärische und politische, sondern auch eine kulturelle Herausforderung dar. Es gefährde die okzidentale Eigenart als solche, wurde damals wiederholt betont.105 Es ist erstaunlich, dass die vorsichtige, ängstlich auf die Bewahrung des europäischen Status quo ausgerichtete Außenpolitik des zarischen Russland nach 1815 mit der kriegerischen, auf die ununterbrochene Expansion in Europa angelegte Politik des Napoleonischen Frankreich verwechselt werden konnte. Oft wurde außer Acht gelassen, dass die unterschiedlichen inneren Strukturen des bonapartistischen und des zarischen Reiches sich zwangsläufig auch auf ihre jeweilige Außenpolitik auswirken mussten. Die kriegerische Politik des Napoleonischen Staates war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass hier die überschüssige Energie der soeben gezähmten Revolution nach außen abgeleitet werden musste. Die Energien der zarischen Regierung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hingegen waren hauptsächlich auf die Aufrechterhaltung der anachronistischen sozialen Zustände im Lande gerichtet. Die längst fällige Bauernbefreiung, deren Notwendigkeit bereits unter der Herrschaft Alexanders I. – 1801 bis 1825 – erkannt worden war, wagte Nikolaus I. – 1825 bis 1855 – nicht einzuleiten. Statt einer Bauernbefreiung erlebte Russland unter seiner Herrschaft das Einfrieren der bestehenden Verhältport, New York 1971, S. 320–356, hier S. 320; siehe dazu auch Paul W. Schroeder, Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power?, in: American Historical Review 97 (1992), S. 683–706. 104 Gilbert Ziebura, Frankreich von der Großen Revolution bis zum Sturz Napoleons III. 1789–1870, in: Handbuch der europäischen Geschichte, hg. v. Theodor Schieder, Band 5: Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, hg. v. Walter Bußmann, Stuttgart 1981, S. 187–318, hier S. 258; Erwin Oberländer, Russland von Paul I. bis zum Krimkrieg 1796–1855, in: ebd., S. 616–676, hier S. 640. 105 Siehe dazu Anmerkung 102. Vgl. dazu unter anderem Nicholas V. Riasanovsky, Nicholas I and Official Nationality in Russia 1825–1855, Berkeley 1959; Ders., A Parting of Ways. Government and the Educated Public in Russia 1801–1855, Oxford 1976; Evgenij V. Tarle, Krymskaja vojna [Der Krimkrieg], 2 Bände, Moskau u. Leningrad 1950; Vospominanija Borisa N. Čičerina. Moskva sorokovych godov, a.a.O.; Pečerin, Zamogil’nye zapiski, a.a.O.; Aleksandr V. Nikitenko, Dnevnik v trech tomach, [Ein Tagebuch in drei Bänden], Band l: 1826–1857, Leningrad 1957.

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nisse, eine allgemeine innenpolitische Erstarrung.106 Abgesehen davon kam es infolge des Aufstandes der Dekabristen von 1825 zu einer immer tieferen Kluft zwischen der Regierung und der gebildeten Schicht.107 Nicht zuletzt deshalb beobachtete Nikolaus I. mit Miss­trauen alle eigenständigen gesellschaftlichen Regungen, sogar solche, die seine Politik unterstützten. Dazu zählten zum Beispiel regimetreue nationalistisch-panslawistische Strömungen, deren wichtigste Vertreter Michail Pogodin und Fedor Tjutčev waren. Ihr Streben nach der Befreiung der Slawen, die sich unter der Habsburgischen, vor allem aber unter der Osmanischen Herrschaft befanden, betrachtete Nikolaus I. als eine Art Aufwieglertum. Hier würden Völker zum Ungehorsam gegenüber ihren legitimen Herrschern angestachelt. Die Gesellschaft hatte nach der Vorstellung des Zaren nur zu gehorchen und durfte sich nicht in die Angelegenheiten der Regierung einmischen.108 Diese Erstarrung und Unbeweglichkeit nach innen hatten ihr außenpolitisches Äquivalent in der jede Veränderung bekämpfenden Politik der Heiligen Allianz. Dennoch war hier die Politik Nikolaus I. nicht konsequent, was ihm später auch zum Verhängnis werden sollte. Denn in Bezug auf das Osmanische Reich, das der Kaiser als den ‚kranken Mann am Bosporus‘ bezeichnete, wollte er das Statusquo-Prinzip nicht akzeptieren. So wurde das Zarenreich zum Objekt des Hasses sowohl der Kräfte, die revolutionäre beziehungsweise territoriale Veränderungen in Europa anstrebten, als auch solcher, die diese Veränderungen um jeden Preis verhindern wollten.109 Die Unterdrückung des polnischen Aufstandes von 1830/31 und die paternalistische Politik des Zaren gegenüber dem türkischen Sultan, die sich 1833 in dem für die Türkei äußerst demütigenden Vertrag von Hunkiar-Skelessi110 äußerte, 106 Vgl. dazu unter anderem Nicholas V. Riasanovsky, Nicholas I and Official Nationality in Russia 1825–1855, Berkeley 1959; Ders., A Parting of Ways. Government and the Educated Public in Russia 1801–1855, Oxford 1976; Evgenij V. Tarle, Krymskaja vojna [Der Krimkrieg], 2 Bände, Moskau u. Leningrad 1950; Vospominanija Borisa N. Čičerina. Moskva sorokovych godov, a.a.O.; Pečerin, Zamogil‘nye zapiski, a.a.O.; Aleksandr V. Nikitenko, Dnevnik v trech tomach, [Ein Tagebuch in drei Bänden], Band l: 1826–1857, Leningrad 1957. 107 Vgl. Riasanovsky, A Parting of Ways, a.a.O.; Leonid Luks, Intelligencija und Revolution. Geschichte eines siegreichen Scheiterns, in: Historische Zeitschrift 249 (1989), S. 265–294. 108 Siehe dazu Anmerkung 106. 109 Vgl. dazu Heinrich Friedjung, Der Krimkrieg und die österreichische Politik, Stuttgart u. Berlin 1911, S. 1–2. 110 Gleason, Genesis, a.a.O., S. 136–137, S. 146–148; Matthew S. Anderson, The Eastern Question 1774–1923. A Study in International Relations, London 1966, S. 83; Donald Southgate, ‚The Most English Minister‘. The Policies and Politics of Palmerston,

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empörten die westliche Öffentlichkeit derart, dass ein ‚Kreuzzug‘ des Westens gegen den ‚östlichen Tyrannen‘ unvermeidbar zu sein schien. Außerordentlich viel zur Verschlechterung des Russlandbildes in Europa trugen etwa 10.000 polnische Emigranten bei, die sich seit der Niederschlagung ihrer Revolte von 1830/31 im Westen befanden.111 Das Zarenreich galt den polnischen Freiheitskämpfern nicht bloß als politischer Gegner, sondern als die Verkörperung des Bösen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationen wurde als Kampf zwischen Licht und Finsternis aufgefasst. So sprengte hier der Konflikt die Dimension des Politischen und erreichte einen quasi metaphysischen Charakter.112 Beinahe überall dort, wo gegen Russland gekämpft wurde – im Kaukasus, in der Türkei, in Ungarn – tauchten polnische Emigranten auf und setzten ihre Auseinandersetzung mit dem Zarenreich fort. Aber den wichtigsten Sieg errangen sie innerhalb der westlichen Öffentlichkeit. Der Kampf zwischen dem polnischen David und dem russischen Goliath faszinierte die Europäer, wobei lediglich die westlichen Legitimisten mit Russland sympathisierten.113 Der Zar selbst empfand die polnische Herausforderung als beispiellose Bedrohung. Mehrere Autoren weisen daraufhin, dass Polen zu einer Art Obsession des Zaren wurde. Die russischen Herrscher seien davon überzeugt gewesen, so der englische Historiker Alan John Percivale Taylor, dass von der Beherrschung Polens die Existenz Russlands als Großmacht abhänge.114

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London 1966, S. 66–67; Nina S. Kinjapina, Vnešnjaja politika Rossii pervoj poloviny XIX veka [Die Außenpolitik Russlands in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts], Moskau 1963, S. 170–196. Hans Henning Hahn, Außenpolitik in der Emigration. Die Exildiplomatie Adam Jerzy Czartoryskis 1830–1840, München u. Wien 1978; Gleason, Genesis, a.a.O., S. 177– 179. Siehe dazu Wojciech Karpiński, Marcin Król, Sylwetki polityczne XIX wieku [Politische Gestalten des XIX. Jahrhunderts], Krakau 1974; Tadeusz Łepkowski, Polska – Narodziny nowoczesnego narodu 1764–1870 [Polen – Die Geburt einer modernen Nation 1764–1870], Warschau 1967, S. 450–452; Jerzy W. Borejsza, Piękny wiek XIX [Das schöne XIX. Jahrhundert], Warschau 1984, S. 47–52; Leonid Luks, Russlandsehnsucht und Russenhass, in: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, hg. v. Ewa Kobylinska, Andreas Lawaty u. Rüdiger Stephan, München 1992, S. 71–79. Siehe dazu Peter Jahn, Russophilie und Konservatismus. Die russophile Literatur in der deutschen Öffentlichkeit 1831–1852, Stuttgart 1980; Riasanovsky, A Parting of Ways, a.a.O., S. 257–259. Alan J. P. Taylor, The Struggle for Mastery in Europe 1848–1918, London 1971, S. 9; siehe dazu auch Lewis B. Namier, 1848. The Revolution of Intellectuals, London 1950, S. 93–94.

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Den polnischen Freiheitskämpfern war indes klar, dass Sympathiebekundungen der westlichen Öffentlichkeit gegenüber Polen keineswegs ausreichten, um die Unabhängigkeit des Landes wiederherzustellen. Dazu war noch die Auf­lösung des Bündnisses der konservativen Teilungsmächte – Russland, Preußen, Österreich –, vor allem aber das Verdrängen Russlands aus Ostmitteleuropa nötig. Ein solches Ziel war ohne einen allgemeinen europäischen Krieg nicht zu erreichen. Daher auch das Beten vieler Polen um einen solchen Krieg, um einen ,Kreuzzug‘ gegen das Zarenreich. Doch dieser Kreuzzug fand zunächst nicht statt. Wie hartnäckig wurde seinerzeit der Hegemonialdrang des revolutionären beziehungsweise des napoleonischen Frankreich bekämpft! Beinahe das gesamte Machtpotential des Kontinents wurde mobilisiert und in mehreren Kriegen eingesetzt, um der französischen Herausforderung Herr zu werden. Nichts dergleichen ließ sich aber zunächst in Bezug auf Russland beobachten. Das Wort von der ,russischen Gefahr‘ war zwar in aller Munde, aber die Bekämpfung dieser Gefahr beschränkte sich vier Jahrzehnte lang im Großen und Ganzen auf die verbale Ebene. Sogar Großbritannien, das höchst selten zu Kompromissen mit den kontinentalen Hegemonialmächten neigte, bildete hier zunächst keine Ausnahme. Die Inten­sität, die die englische Russophobie in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erreichte, war kaum zu übertreffen. Das Zarenreich verkörperte nun für die Insel, ähnlich wie früher Frankreich und später Deutschland, den Feind par excellence.115 Solche Gegner bekämpfte England in der Regel bis zum bitteren Ende. Ganz anders wurde indes der Konflikt mit Russland gelöst. Nach einem Jahrzehnt immer schärfer werdender Wortgefechte kam es 1841 zu dem sogenannten Meerengenvertrag, der ein rapides Nachlassen der anti-russischen Ressentiments auf der Insel zur Folge hatte. Der Vertrag, der die 1839 begonnene orientalische Krise zum Abschluss brachte, beendete die für London untragbare Abhängigkeit des türkischen Sultans vom Zaren.116 Dieses Abkommen, das von beiden Seiten praktisch bis zum Ausbruch des Krimkrieges respektiert wurde, stellte eine recht untypische Bewältigungsform des Konflikts

115 Gleason, Genesis, a.a.O. 116 Zugleich versperrte der Vertrag für die westlichen Kriegsschiffe die Durchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen, wodurch die russische Hegemonie auf dem Schwarzen Meer gesichert war; vgl. dazu unter anderem Theodor Schiemann, Russisch-englische Beziehungen unter Kaiser Nikolaus I., in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte 3 (1912), S. 458–498; Ders., Geschichte Russlands unter Kaiser Nikolaus I., 4 Bände, Berlin 1904–1919, hier Band 3, S. 387–389; Charles Webster, The Foreign Policy of Palmerston 1830–1841, London 1951; Gleason, Genesis, a.a.O., S. 272; Schroeder, Vienna Settlement, a.a.O., S. 692–693.

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mit einer angeblich nach der Weltherrschaft strebenden Macht dar. Abkommen Londons mit dem napoleonischen Frankreich hielten keineswegs so lange. Das Zarenreich legte nach 1815 außerordentlichen Wert auf das reibungslose Funktionieren des Konzerts der Mächte. Jede außenpolitische Veränderung versuchte es durch Verträge mit den anderen Großmächten abzusichern. Es war auch bereit, auf bestimmte, im Alleingang erreichte Vorteile zu verzichten, wenn es ihm gelang, den Rest des Erreichten völkerrechtlich zu sanktionieren – beispielsweise durch den sogenannten Meerengen-Vertrag. Andere Hegemonialmächte des 19. und des 20. Jahrhunderts hatten in der Regel ein ganz anderes Verhältnis zum bestehenden Staatensystem. Sie betrachteten es als Fessel, die sie abschütteln wollten. Sie behaupteten, es sei antiquiert, da es den neuen Kräfteverhältnissen nicht mehr entspreche.117 Von den Verteidigern des Bestehenden indes wurden derartige Argumente als eine beispiellose Anmaßung empfunden. Äußerst aggressive Reaktionen auf solche Herausforderungen waren vorprogrammiert. Russland nach 1815 strebte hingegen keine umfassende Umstrukturierung des europäischen Staatensystems an, sondern das genaue Gegenteil davon – seine Verteidigung vor revolutionären Veränderungen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass Ordnungsmächte mit ihren außenpolitischen Programmen in der Regel nicht derart massive Widerstände hervorrufen, wie ‚Emporkömmlinge‘, die die vorhandene internationale Ordnung von Grund auf ändern oder zerstören wollen. Die Hegemonialpolitik Russlands unterschied sich noch in einem anderen Punkt grundlegend von der Hegemonialpolitik mancher westlicher Großmächte. So wies der englische Historiker Lewis B. Namier daraufhin, dass diejenigen europäischen Großmächte, die den Kontinent zu einigen versuchten, sich in der Regel auf das altrömische Erbe beriefen. Und dieser Einheitsgedanke der ‚Erneuerer‘ des altrömischen Reiches habe in Großbritannien seinen hartnäckigsten Gegner gefunden.118 Die abendländische Reichstradition war Russland fremd. Sein Expansionsdrang entsprang ganz anderen ideologischen Quellen. Abgesehen davon richtete er sich in erster Linie gegen die Länder, die an der Peripherie des Kontinents lagen – Polen, Schweden, Türkei – und nicht gegen die Gebiete des ehemaligen weströmischen oder des karolingischen Reiches – das Herzstück des Abendlandes. 117 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie: Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948. 118 Lewis B. Namier, Facing East, London 1947, S. 99–100; siehe dazu auch Heinz Gollwitzer, Europa und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1964, S. 116, S. 125.

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Nicht zuletzt deshalb hatten die gewaltigen Territorial­gewinne, die Russland im 18. Jahrhundert erzielte – also bereits nach seiner Aufnahme in das europäische Staatensystem – keine allzu große Beunruhigung im Westen hervorgerufen. Das Zarenreich dehnte nämlich seinen Ein­fluss auf Regionen aus, die nie im Zentrum der westlichen Aufmerksamkeit standen. Man fand sich im Westen relativ leicht damit ab, dass nun Russland und nicht Polen oder Schweden im europäischen Osten dominierte. Die einzige Ausnahme bildete insoweit die Türkei. In den europäischen Hauptstädten galt Konstantinopel als eine Art Schlüssel zur Weltherrschaft. Deshalb sollte die Ausdehnung des russischen Einflusses auf dieses Gebiet um jeden Preis verhindert werden. Das Ausbleiben kriegerischer Eskalationen im Ost-West-Konflikt der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts wird in der Literatur nicht selten durch die Erschöpfung des Kontinents infolge der verheerenden napoleonischen Kriege erklärt. Namier bezieht sich dabei zum Beispiel auf den französischen Ministerpräsidenten François Guizot – 1836/37 und 1840 bis 1848 –, der sagte, dass es zur Zeit der Julimonarchie unzählige Konflikte gegeben hätte, die früher mit Sicherheit zu einem Krieg geführt hätten. Nun seien sie aber friedlich gelöst worden.119 Dieser Hinweis auf die lange Nachwirkung der napoleonischen Kriege ist allerdings unbefriedigend. Die Atempause, die den Europäern zwischen dem ersten und dem zweiten deutschen ‚Griff nach der Weltmacht‘ gegönnt war, betrug nur zwei Jahrzehnte. Dabei erschöpfte der Erste Weltkrieg mit seiner totalen Mobilmachung die Europäer nicht weniger als dies die Kriege Napoleons getan hatten.120 Man muss also nach einer zusätzlichen Erklärung dafür suchen, warum der OstWest-Konflikt zwischen 1815 bis 1853 nach einem ganz anderen Muster verlief als frühere und spätere Hegemonialkämpfe.

1.4.2 Marquis de Custines Russlandbild Die englisch-russische Entspannung, die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen war, hatte keinen Einfluss auf die Einstellung der kontinental-europäischen Öffentlichkeit zu Russland. Die Russophobie, vor allem in Frankreich und in Deutschland, sollte sich in den 1840er Jahren nur intensivieren. Dies insbesondere nach dem Erscheinen des Berichts von Marquis de Custine über seine Russlandreise 1843, der unzählige Neuauflagen erleben sollte.121 Aleksandr 119 Lewis B. Namier, Conflicts, London 1942, S. 55. 120 Siehe dazu Schroeder, Vienna Settlement, a.a.O., S. 699. 121 Marquis de Custine, La Russie en 1839, Paris 1843.

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Gercen nannte diese Schrift eines der wichtigsten Bücher über Russland.122 Dennoch waren hier scharfsinnige Beobachtungen mit überzogenen Thesen vermischt, die sehr stark dazu beitrugen, das Russlandbild im Westen zusätzlich zu verzerren. Russland wurde von Custine als eine nur oberflächlich zivilisierte orientalische Despotie geschildert, seine Bevölkerung als ein Sklavenheer ohne jede Vorstellung von Recht und Würde. Von diesem, dem Westen fremden und monströsen Staatswesen gingen nach Ansicht Custines unabsehbare Gefahren aus. Er war davon überzeugt, dass die Ausdehnung des in Russland herrschenden despotischen Regiments auf ganz Europa und sogar auf die ganze Welt das außenpolitische Endziel des Zaren sei. In der Flut der russlandfeindlichen Publizistik der 1840er Jahre überragte das Werk Custines zwar durch seinen Esprit, seine Thesen waren jedoch im Großen und Ganzen keineswegs originell. Sie wurden, wenn auch in vergröberter Form, durch unzählige Publizisten minderen Kalibers ebenfalls vertreten.123 So war es nicht die Schärfe der Kritik Custines, die die regierenden Kreise in Petersburg überraschte, sondern die Tatsache, dass dieses leidenschaftliche Plädoyer gegen Russland von einem Konservativen stammte. Dass Russland nach 1815 zum Erzfeind der westlichen Liberalen und der Demokraten geworden war, daran hatte man sich in Petersburg inzwischen gewöhnt. Für die Mehrheit der europäischen Konservativen hingegen stellte die Zarenmonarchie immer noch die stärkste Stütze der legitimistischen Ordnung dar.124 Custine selbst schreibt, dass es die ursprüngliche Absicht seiner Reise nach Russland war, dort politische Vorbilder zu finden – eine Alternative zum parlamentarischen System, das er ablehnte. Im Zeitalter der Restauration befand sich die ‚Utopie‘ vieler Legitimisten in der Tat im Zarenreich. Sie sahen ihr Heil in Russland,125 ähnlich wie dies nach 1917 viele 122 Aleksandr Gercen, Sočinenija [Werke], Moskau 1958, Band 9, S. 124; später sollte Gercen sein Urteil über Custine revidieren; vgl. dazu Gercen, Sočinenija, a.a.O., Band 8, S. 336; siehe dazu auch Gercen i Zapad [Gercen und der Westen], hg. v. Sergej A. Makašin u. Leonid R. Lanskoj, in: Literaturnoe nasledstvo [Das literarische Erbe] 96, Moskau 1985, S. 273. 123 Siehe unter anderem George F. Kennan, The Marquis de Custine and His Russia in 1839, New Jersey 1971, S. 87. 124 So bezeichnete Juan Donoso Cortès im Mai 1849 die russische Armee als die letzte Reserve, die der gesitteten Welt und ihrer gesellschaftlichen Ordnung noch zur Verfügung stehe: vgl. Juan Donoso Cortès, Abfall vom Abendlande. Dokumente, hg. v. Paul Viator, Wien 1948, S. 274; siehe auch Jahn, Russophilie, a.a.O. 125 Der Münchner Philosoph Franz von Baader erwartete zum Beispiel von Russland Impulse für die Errettung des westlichen Christentums. 1841 schrieb er – zitiert nach Tschižewskij, Groh, Europa, a.a.O., S. 102 f. –: „Gottes Fürsorge hielt die Russische Kirche von der europäischen Weltbewegung, somit auch von der Bewegung zur De-

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europäische Revolutionäre tun sollten. Die Anklageschrift Custines zeigte jedoch, dass auch im konservativen Lager die Zahl der Russlandfreunde immer geringer wurde. Dennoch hatte diese weitgehende Isolation Russlands in der europäischen Öffentlichkeit zunächst keine unmittelbaren politischen Folgen. Publizistische Wortgefechte wurden nicht durch entsprechende Handlungen der Regierungen unterstützt. Das Bündnis der drei konservativen Höfe – Petersburg, Wien und Berlin – war bis 1848, trotz einiger Unstimmigkeiten, wegen der gemeinsamen Angst vor der Revolution noch relativ intakt.126 Was Frankreich zur Zeit der Julimonarchie anbetrifft, so lebte es im Wesentlichen von Erinnerungen an seine frühere militärische Glorie und neigte kaum zu militärischen Kraftakten.127 Die Friedfertigkeit der Julimonarchie war nicht zuletzt damit verbunden, dass sie nur ein verschwindend geringes Segment der französischen Gesellschaft repräsentierte und praktisch, wie dies Tocqueville einmal formulierte, auf einem Vulkan lebte.128 Da die Julimonarchie revolutionärer Herkunft war, wirkte ihr oligarchischer Charakter auf die Bevölkerungsmehrheit besonders irritierend. Aus all diesen Gründen war Paris zu einer kühnen und aggressiven Außenpolitik kaum fähig.

1.4.3 Das Zarenreich und die europäische Revolution Die Nachgiebigkeit der europäischen Kabinette gegenüber Petersburg rief bei den revolutionären Kräften des Kontinents maßlose Empörung hervor. Viele Regierungsmitglieder von London bis Berlin wurden als Agenten des Zaren diffamiert.129 Die europäische Revolution galt nun als der eigentliche Gegner der ‚östlichen Despotie‘. Ähnlich dachten übrigens auch manche Verteidiger der russischen Selbstherrschaft. Der Dichter Fedor Tjutčev schrieb, dass es in Europa nur zwei Mächte gäbe – Russland und die Revolution: „Das Leben der einen ist der Tod der anderen. Vom Ausgang des Kampfes, der zwischen ihnen angehoben hat,

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christianisierung sowohl der Wissenschaft als auch der bürgerlichen Societät bis dahin fern“. Daher sei diese Kirche, so Baader, im Stande, „befreiend auf das Abendland rück zu wirken“; vgl. dazu auch Jahn, Russophilie, a.a.O., S. 85, S. 111, S. 174 f. Andrej M. Zajončkovskij, Vostočnaja Vojna [Der Orientalische Krieg], 2 Bände, St. Petersburg 1908–1913, hier Band l, S. 140–154; Heinz Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 201 (1965), S. 306–333. Vgl. dazu unter anderem Namier, Conflicts, a.a.O., S. 55. Alexis de Tocqueville, Erinnerungen, Stuttgart 1954. Siehe Gleason, Genesis, a.a.O.

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hängt für Jahrhunderte die politische und die religiöse Zukunft der Menschheit ab.“130 Und in der Tat gehörte der Kampf gegen Russland – das ‚stärkste Bollwerk der Gegenrevolution‘ – zu den wichtigsten außenpolitischen Forderungen der 1848 ausgebrochenen Revolution.131 Im Frühjahr 1848 befand sie sich in einem Siegestaumel. Die beinahe kampflose Kapitulation der mächtigsten Monarchen des Kontinents berauschte die Gegner der alten Ordnung. Warum sollten sie ihren Siegeszug nicht weiter nach Osten fortsetzen? Die Zeit der vorsichtigen, auf die Bewahrung des Status quo ausgerichteten Politik der europäischen Kabinette schien nun zu Ende, das Zeitalter der Dynamik war angebrochen. Das auf Erstarrung und Bewegungslosigkeit angelegte Regime Nikolaus I. mutete angesichts dieser neuen Entwicklung besonders anachronistisch an. Die territoriale Umgestaltung Europas – eines der wichtigsten Ziele der Revolution – wäre ohne die entscheidende Schwächung der russischen Posi­tion in Ostmitteleuropa kaum zu erreichen gewesen. Abgesehen davon galt der Sieg der Revolution ohne die Bezwingung Russlands nicht als endgültig gesichert. Der Schicksalskampf zwischen der Revolution und der letzten Bastion des Ancien Régime schien nun unausweichlich. Dennoch kam es zur allgemeinen Überraschung nicht zu einem solchen Kampf. Um das Zarenreich in seiner Funktion als der wichtigsten Stütze der europäischen alten Ordnung erfolgreich zu bekämpfen, hätte die Revolution entsprechende universale Prinzipien und eine länderübergreifende Strategie entwickeln müssen. Dies ist allerdings kaum geschehen. Das Jahr 1848 wird in der historischen Li-

130 Fedor Tjutčev, Političeskie stat’i [Politische Artikel], Paris 1976, S. 32, Übersetzung in: Tschizewskij, Groh, Europa, a.a.O., S. 226; siehe dazu auch Georgij Florovskij, Tjutčev i Vladimir Solov‘ev [Tjutčev und Vladimir Solov’ev], in: Put’ 41 (1933), S. 3–24; Georg von Rauch, J.Ph. Fallmerayer und der russische Reichsgedanke bei F.I. Tjutčev, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas l (1953), S. 54–96; die Verfechter der Revolution schilderten das damalige Kräfteverhältnis in Europa ähnlich wie Tjutčev: Friedrich Engels schrieb 1853, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, 39 Bände, Berlin 1959–1968, hier Band 9, S. 17 [im Folgenden abgek. MEW]: „Russland ist entschieden eine Eroberernation und war es auch ein ganzes Jahrhundert lang, bis ihm die große Bewegung von 1789 einen furchtbaren Gegner voll mächtiger Tatkraft schuf … Seit jener Epoche gab es tatsächlich bloß zwei Mächte auf dem europäischen Kontinent: Russland mit seinem Absolutismus auf der einen Seite, die Revolution … auf der andern.“ 131 Namier, 1848, a.a.O., S. 54–55, S. 60–61; Bolsover, Aspects, a.a.O., S. 334; Taylor: Struggle, a.a.O., S. 8.

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teratur übereinstimmend als das Jahr des Triumphs der nationalen Egoismen bewertet.132 Besonders deutlich spiegelte sich dies am Schicksal Polens wider. Seit etwa 1830 – seit dem polnischen Novemberaufstand – stellte die Solidarität mit dem unterdrückten Polen eine Art Prüfstein für die revolutionäre Gesin­nung dar. Dieses Solidaritätsgefühl sollte jedoch nach dem Sieg der Revolution deutlich abkühlen. Vor die Wahl zwischen der Prinzipien- und der Interessenpolitik gestellt, wählten die revolutionären Regierungen und Bewe­gungen in der Regel das Letztere. Der erste Außenminister der Ende Februar 1848 in Paris entstandenen Provisorischen Regierung, Lamartine, wollte auf keinen Fall wegen Polen einen Krieg riskieren. Wir lieben Polen, Italien und alle anderen unterdrückten Völker, erklärte er am 27. März 1848, aber über alles andere lieben wir Frankreich.133 Für Deutschland seinerseits bedeutete, sich für die polnische Unabhängigkeit einzusetzen, nicht nur internationale Verwicklungen zu riskieren, sondern auch territoriale Verluste hinzunehmen. Als dies erkannt wurde, nahm die Polenbegeisterung der deutschen Revolution rapide ab. Denn das, wonach sie strebte, war nicht nur die Freiheit, sondern in einem vielleicht noch stärkeren Ausmaß die nationale Macht.134 Für die polnische Unabhängigkeit und damit auch für einen revolutionären Krieg gegen Russland trat von nun an lediglich die radikale Linke ein, und zwar sowohl in Deutschland als auch in Frankreich.135 Mit dieser ihrer Forderung ver132 Namier, 1848, a.a.O.; Ders., Nationality and Liberty, in: Ders., Avenues of History, London 1952, S. 20–44; The Opening of the Era. 1848, hg. v. François Fejtö, New York 1966; Jakov Talmon, The Unique and the Universal, London 1965; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 627–629. 133 Vgl. Lawrance C. Jennings, France and Europe in 1848. A Study of French Foreign Affairs in Time of Crisis, Oxford 1973, S. 44–46; in seinem Manifest an Europa bekundete Alphonse de Lamartine, Geschichte der französischen Revolution von 1848, Leipzig 1849, S. 28, die Friedfertigkeit der Zweiten Republik: „Der Krieg ist fast immer eine Dictatur … Die Republik Frankreich wird dem gemäß Niemand bekriegen.“ 134 Siehe Siegfried A. Kaehler, Realpolitik zur Zeit des Krimkrieges – Eine Säkularbetrachtung, in: Historische Zeitschrift 174 (1952), S. 417–478, hier S. 418; Nipperdey, Deutsche Geschichte, a.a.O., S. 629–30; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen ‚Deutschen Doppelrevolution‘, München 1987, S. 743–44. Bei der Polendebatte der Paulskirche vom Juli 1848 entschied sich die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten für den ,gesunden‘ Volksegoismus und gegen den ,sentimentalen, kosmopolitischen Idealismus‘, das heißt gegen Polen; vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, a.a.O., S. 627, sowie Gollwitzer, Europabild, a.a.O., S. 262. 135 Nipperdey, Deutsche Geschichte, a.a.O., S. 626–27; Gollwitzer, Europabild, a.a.O., S. 621; Jennings, France, a.a.O.

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mochte sie sich aber genauso wenig durchzusetzen, wie mit ihren anderen Postulaten. So wurde das Zarenreich, trotz aller entgegenlautenden Voraussagen, von einem revolutionären Interventionskrieg verschont. Es ist indes zu bemerken, dass auch die Außenpolitik des Petersburger Kabinetts einiges dazu beitrug, eine solche Konstellation zu verhindern. Dem ersten, in kriegerischen Tönen abgefassten Manifest des Zaren vom 14. März 1848, in dem vom unversöhnlichen Kampf mit der Revolution die Rede war,136 folgte eine Woche später eine wesentlich mildere Erklärung. Der Zar ließ sich von seinem zur äußersten Vorsicht neigenden Außenminister Karl Robert von Nesselrode überreden, die europäische Öffentlichkeit nicht derart stark zu provozieren. Das Manifest vom 20. März 1848 sprach von der Nichteinmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Frankreichs.137 Die vorsichtige Politik der zarischen Regierung wird von Lewis B. Namier als einer der wichtigsten Gründe dafür angeführt, dass der Ost-West-Konflikt im Jahre 1848 nicht eskalierte.138 Seinen ohnmächtigen Hass gegen die Revolution ließ Nikolaus I. nur dort austoben, wo dies keinen europäischen Krieg heraufbeschwören konnte. So intervenierte er zum Beispiel im September 1848 in den von den europäischen Zentren weit entfernten Donaufürstentümern, um die dortige Revolution zu unterdrücken.139 Auch die Verfolgung der regimekritischen Kräfte in Russland selbst sollte sich infolge der Revolution im Westen zusehends verschärfen. Das ohnehin repressive Regime Nikolaus I. nahm nach 1848 beinahe despotische Züge an. Viele Zeitzeugen berichten, wie unerträglich das innenpolitische Klima im damaligen Russland war.140 Die kritisch denkenden Untertanen des Zaren, die 1848 noch kaum eine Gefahr für das Regime darstellten, mussten dafür büßen, dass Nikolaus I. zur außenpolitischen Passivität gezwungen war, dass ihm die Kraft fehlte, der siegreichen westlichen Revolution Paroli zu bieten. Stellte die russische Intervention in Ungarn vom Mai 1849 eine Abkehr von der bis dahin geübten außenpolitischen Vorsicht des Petersburger Kabinetts dar? 136 Aleksandr S. Nifontov, 1848 god v Rossii. Očerki po istorii 40-ych godov [Das Jahr 1848 in Russland. Skizzen zur Geschichte der 1840er Jahre], Moskau u. Leningrad 1931, S. 165; Zajončkovskij: Vostočnaja vojna, a.a.O., Band l, S. 176–77, S. 179–81. 137 Nifontov, 1848 god, a.a.O., S. 165. 138 Namier, 1848, a.a.O., S. 94; vgl. dazu auch Taylor, Struggle, a.a.O., S. 8–9. 139 Nifontov, 1848 god, a.a.O., S. 168–70; Bolsover, Aspects, a.a.O., S. 334. 140 Vospominanija Borisa N. Čičerina, a.a.O., S. 77, S. 79, S. 81, S. 84; Nikitenko, Dnevnik, a.a.O., Band l, S. 164, S. 182–203; Riasanovsky, A Parting, a.a.O., S. 143–44.

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Keineswegs. Die Intervention erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch des österreichischen Kaisers. Der sowjetische Historiker Aleksandr Nifontov berichtet zwar, mit welcher Ungeduld Nikolaus I. auf diesen Hilferuf Franz Josephs wartete; dies nicht zuletzt wegen der äußerst aktiven Beteiligung seiner Erzfeinde – der Polen – an der ungarischen Revolution.141 Dennoch hätte der Zar sicher nicht gewagt, ohne die Aufforderung des Wiener Kabinetts in Ungarn einzugreifen. Abgesehen davon sollte die Bedeutung der russischen Intervention in Ungarn nicht überbewertet werden. Es handelte sich hier keineswegs um eine der entscheidendsten Schlachten der Revolution, um den vielbeschworenen schicksalhaften Kampf zwischen dem mächtigsten Verteidiger des europäischen Ancien Régime und seinen radikalen Kontrahenten. Man darf nicht vergessen, dass die ungarischen Ereignisse sich zu einer Zeit abspielten, als das Schicksal der Revolution bereits längst entschieden war. In den wichtigsten europäischen Zentren – Paris, Wien, Berlin – war sie damals schon besiegt. Ungarn stellte lediglich eine kleine, isolierte Insel im gegenrevolutionären Meer dar. Auf die Dauer wäre dieser revolutionäre Posten kaum zu halten gewesen. Die Angst vor dem Vierten Stand, vor einem neuen jakobinischen Terror verdrängte bei den liberalen Urhebern der Revolution von 1848 in West- und Mitteleuropa beinahe gänzlich die Russlandfurcht. Die wahnhafte Angst der Franzosen vor dem Sozialismus habe sie in die Hände eines Despoten getrieben, klagte Tocqueville im Dezember 1851. All das geschehe ungeachtet der offensichtlichen Schwäche der ‚roten‘ Partei.142 So scheiterte die Revolution in Europa ohne das geringste Zutun Russlands in erster Linie an den Ängsten des europäischen Mittelstandes. Erst nach der Überwindung der revolutionären Gefahr begann die europäische Öffentlichkeit sich erneut mit Russland zu beschäftigen und rückte vom Primat der Innenpolitik ab. Nicht der Sieg der Revolution also, wie dies die europäischen Radikalen gemeint hatten, sondern ihr Scheitern schuf die Voraussetzungen für den seit Jahrzehnten propagierten Kreuzzug gegen Russland. Die Harmlosigkeit der Revolution von 1848 hat Europa von dem jakobinischen Trauma befreit, aber das hegemoniale, napoleonische Trauma blieb immer noch 141 Nifontov, 1848 god, a.a.O., S. 170. 142 Correspondence and Conversations of Alexis de Tocqueville with Nassau William Senior from 1834 to 1859, hg. v. Marry Charlotte Mair Simpson, 2 Bände, London 1872, Neudr. New York 1968, hier Band 2, S. 6–7; vgl. dazu auch Gollwitzer, Europabild, a.a.O., S. 271; Andersen, Ascendency, a.a.O., S. 99–101, S. 104; Thomas Nipperdey, Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 89–112; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, a.a.O., S. 747–749.

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bestehen. Und wer außer dem Zaren wäre imstande gewesen, den napoleonischen Versuch zu wagen, ganz Europa – vom Atlantik bis Moskau – unter seinem Zepter zu einigen?

1.4.4 Die westliche Russlandfurcht nach dem Scheitern der Revolution von 1848 Visionen über den Untergang des Abendlandes und Ängste vor einer eventuellen russischen Weltherrschaft, die bereits vor 1848 am Selbstbewusstsein der Westeuropäer stark genagt hatten, erreichten nach der Revolution von 1848/49 einen neuen Höhepunkt.143 Der französische Historiker Michel Cadot berichtet zum Beispiel, wie verbreitet die Angst vor einer russischen Invasion in Frankreich im Jahre 1849 war. Der Alptraum vom Einzug der Kosaken in Paris habe Teile der französischen Öffentlichkeit in Atem gehalten.144 Die Ereignisse, die 1848/49 Mittel- und Westeuropa so stark erschütterten, ließen Russland praktisch unberührt. Deshalb waren viele Westeuropäer von der scheinbaren Stabilität des russischen Regimes tief beeindruckt. Gerade die Rückständigkeit der sozialen Strukturen Russlands erschien ihnen als Garantie für die Immunität des Zarenreiches gegenüber revolutionären Ideen, gegenüber den gleichen Ideen, die den Westen zu zerstören schienen. Auch in der industriel­len Revolution, die damals die westlichen Länder mit voller Wucht erfasste, sahen viele Denker keineswegs etwa die Quelle künftiger Stärke, sondern eher ein schwächendes Moment. Die soziale Frage schien damals unlösbar. Der proletarische Juniaufstand von 1848 in Paris galt nur als Vorbote künftiger erbitterter Klassenkämpfe. Russland dagegen hatte praktisch kein Proletariat, die industrielle Revolution hatte es nur am Rande gestreift. Und so wirkte dieser innerlich homogene Koloss auf den von inneren Spannungen zerrissenen Westen umso bedrohlicher. Der leidenschaftliche Verfechter des Ancien Régime, der Spanier Donoso Cortès sagte 1850 dazu: „Wenn es … in Europa keine stehenden Heere gibt, weil die Revolution sie aufgelöst hat, wenn es in Europa keine Vaterlandsliebe gibt, weil die sozialistische Revolution sie ausgerottet hat …, dann, meine Herren, dann hat die Stunde Russlands geschlagen. Dann kann 143 Norman Rich, Why the Crimean War? A Cautionary Tale, Hannover 1985, S. 2–3; Hammen, Free Europe, a.a.O. 144 Michel Cadot, La Russie dans la vie intellectuelle française (1839–1856), Paris 1967, S. 511; zu den damaligen Ängsten in Deutschland siehe unter anderem Heinrich Stammler, Wandlungen des deutschen Bildes vom russischen Menschen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 5 (1957), S. 271–305, hier S. 279–80.

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der Russe gemächlich und mit dem Gewehr unter dem Arm durch unser Vaterland spazieren.“145 Die Katastrophe des napoleonischen Heeres gerade im rückständigen Russland trug nur zur Stärkung der These von der russischen Überlegenheit über den hochentwickelten Westen bei. Napoleon selbst hat auf Sankt Helena, sicherlich zur eigenen Entlastung, die These von der Unbesiegbarkeit Russlands vertreten.146 Seine Worte, in zehn Jahren werde Europa entweder republikanisch oder kosakisch sein, waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts in aller Munde.147 Es soll in diesem Zusammenhang auch auf ein in der Geschichte des Abendlandes relativ neues Phänomen hingewiesen werden, nämlich auf das Nachlassen des europäischen Sendungsbewusstseins. Man begann nun im Westen über die Gefahren zu sprechen, die die Europäisierung von Ländern außerhalb des Abendlandes mit sich bringen könne. Im optimistischen, fortschrittsgläubigen 18. Jahrhundert galt die Übernahme westeuropäischer Modelle durch Russland als ein Beweis für die Überlegenheit der abendländischen Kultur. Nicht zuletzt deshalb verlief damals die Eingliederung Russlands in das europäische Staatensystem relativ reibungslos.148 Nach 1815 begann man indes diese Vorgänge ganz anders zu bewerten. Die Europäisierung Russlands, so viele westliche Autoren, habe lediglich dazu geführt, dass die russische Oberschicht nun über die neuesten westlichen Herrschaftsmittel und Technologien verfüge, die sie ihrerseits gegen den Westen anwende. Zugleich stehe den russischen Herrschern eine anspruchslose und gehorsame, von den europäischen Ideen unberührte Volksmasse zur Verfügung, die beliebig eingesetzt werden könne, auch für das Ziel einer Weltherrschaft. Der deutsch-österreichische Orientalist und Publizist Jakob Philipp Fallmerayer schreibt 1850 in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Gercen: „Der Occident kann das sociale Problem nicht mehr lösen, er ist am äußersten Endpunct seiner geistlichen und weltlichen Hülfsmittel angekommen … Ausgemacht und sicher ist nur, dass jetzt im Gegensatze zum westlichen, von langem Leben abgezehrten und welkenden Europa ein Volk erscheint, … welches unter der harten äußeren Rinde 145 Vgl. Tschižewskij, Groh, Europa, a.a.O., S. 245; siehe auch Cortès, Abfall vom Abendlande, a.a.O., S. 326; Simpson, Correspondence, a.a.O., Band l, S. 241. 146 Le Comte de Las Cases, Le Mémorial de Sainte-Hélène, 2 Bände, Paris 1956; Gaspard Gourgaud, Napoleon. Erinnerungen und Gedanken. St. Helena, 1815–1818, München 1961. 147 Cadot, La Russie, a.a.O., S. 516; Müller, Russlandbild, a.a.O., S. 27; Frederick A: Simpson, Louis Napoleon and the Recovery of France, London 1960, S. 222. 148 Vgl. dazu Riasanovsky, A Parting, a.a.O., S. 256–57; Groh, Russland, a.a.O., S. 51–53; Gollwitzer, Europabild, a.a.O., S. 69.

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des Czarismus … herangewachsen ist; ein Volk, … das blind glaubte, sich passiv dem fremden Willen unterwarf … .“149 Nur wenige Beobachter erkannten damals, dass die Europäisierung Russlands nicht auf die Oberfläche beschränkt werden könne. Dass eine Übernahme westlicher Technologien und Entwicklungsmodelle zwangsläufig auch eine Übernahme westlicher Geisteshaltungen nach sich ziehen müsse. Dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die russische Bevölkerung ähnliche Forderungen an die Herrschenden stellen würde, wie die westlichen Völker es bereits taten.150 Die Furcht vor Russland war um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur für Vertreter der versinkenden aristokratischen Welt, wie Donoso Cortès, Custine oder Tocqueville, charakteristisch. Auch die Anhänger der beiden damaligen Ideen, die die kommende Zeit beherrschen sollten, nämlich die deutschen Nationalisten und die Ideologen der proletarischen Revolution, empfanden Russland als eine Gefahr. So waren solche Vertreter des deutschen Einheitsgedankens wie Gustav Diezel davon überzeugt, dass ohne den Zusammenbruch der russischen Hegemonie in Mitteleuropa die deutsche Einheit nicht zu verwirklichen sei. Diezel hielt den Zaren für einen Garanten der bestehenden Ordnung in Deutschland. Nur aufgrund seiner Unterstützung seien die deutschen Dynastien, die die Zersplitterung Deutschlands verkörperten, bisher nicht gestürzt worden.151 Und in der Tat hielten Nikolaus I. und sein Außenminister Nesselrode die deutschen Einigungspläne für ein ,Hirngespinst deutscher Professoren‘ und betrachteten die deutsche Kleinstaaterei als Gegebenheit an der nicht zu rütteln war.152 Nicht zuletzt aus diesem Grund rief Diezel die Deutschen zu Beginn der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu einem Krieg gegen Russland auf.153 149 Jakob Philipp Fallmerayer, Gesammelte Werke, hg. v. Georg Martin Thomas, 3 Bände, München 1861, hier Band 2, S. 59–61; siehe auch Gollwitzer, Europabild, a.a.O., S. 290. 150 Zu den wenigen, die eine solche Entwicklung vorausgesagt hatten, gehörte Joseph de Maistre. 1811 schrieb er – hier zitiert nach Tschižewskij, Groh, Europa, a.a.O., S. 61 –. „ … wenn es irgendeinem akademischen Pugačev gelänge, sich an die Spitze einer Partei zu stellen; wenn erst einmal das Volk aufgewühlt wäre und an Stelle seiner asiatischen Unternehmungen eine Revolution auf europäische Weise begänne, so fehlt mir die Sprache, um Ihnen zu sagen, was man zu fürchten hätte.“ 151 Gustav Diezel, Russland, Deutschland und die östliche Frage, Stuttgart 1853, S. 61–63, S. 99–101; siehe dazu auch Zajončkovskij, Vostočnaja vojna, a.a.O., Band l, S. 196–97; Rauch, Fallmerayer, a.a.O., S. 72–76. 152 Namier, 1848, a.a.O., S. 93; Zajončkovskij, Vostočnaja vojna, a.a.O., Band l, S. 190; Schroeder, Vienna Settlement, a.a.O., S. 690. 153 Diezel, Russland, a.a.O., S. 100–102; vgl. dazu auch Johannes Gertler, Die deutsche Russlandpublizistik 1853 bis 1870, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

Von einem solchen Krieg träumten damals auch Karl Marx und Friedrich Engels. Sie betrachteten die russische Übermacht auch nach 1849 als das größte Hindernis für die Verwirklichung ihrer Ziele. Die Niederlage Russlands in einem europäischen Krieg sollte ihrer Ansicht nach den zum Stillstand gekommenen revolutionären Prozess in Gang bringen.154 Ungeachtet der Tatsache, dass die Revolution von 1848 nicht am russischen Einfluss, sondern aus innereuropäischen Gründen scheiterte, maßen sie dem russischen Faktor eine unverhältnismäßig große Bedeutung bei. Auch eine andere Überlegung der beiden Denker sollte sich als Trugschluss erweisen. Sie betrachteten den Sieg der industriellen Revolution als Voraussetzung für den Triumph der sozialistischen Umwälzung. In Wirklichkeit sollten sich die Dinge genau umgekehrt verhalten. Nur dort, wo die industrielle Revolution nicht rechtzeitig zum Siege kam, sollte die proletarische Revolution eine Chance haben. Die spätere russische Entwicklung sollte dies besonders deutlich bestätigen. Indes hielten die geistigen Wegbereiter des ersten ‚proletarischen Staates‘ einen Sieg der Revolution in Russland, zumindest bis zum Krimkrieg, für kaum denkbar. Mit Entrüstung wiesen sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts die unter anderem von Bakunin und Gercen vertretene These von revolutionären Neigungen des russischen Volkes zurück.155 Die Verfechter der deutschen Einheit und der proletarischen Revolution betrachteten Russland indes nicht nur deshalb als Gefahr, weil es die bestehende territoriale beziehungsweise soziale Ordnung in Europa konservierte. Noch gefährlicher schien ihnen der russische beziehungsweise slawische Sendungsgedanke, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits deutliche Konturen annahm. Ähnlich wie Deutsche, Franzosen oder Italiener begannen damals auch die Russen, vor allem Vertreter der neuentstandenen panslawistischen Strömung um die bereits erwähnten Tjutčev oder Pogodin, von ihrer nationalen Mission zu sprechen. Sie stimmten der These mancher westlicher Pessimisten von der westlichen Dekadenz zu und hielten die Slawen für die Erben der abendländischen Kultur.156 Die Revolution von 1848 förderte beziehungsweise weckte das nationale Bewusstsein vieler 7 (1959), S. 72–195; Müller, Russlandbild, a.a.O., S. 81–82; Günther Wiegand, Zum deutschen Russlandinteresse im 19. Jahrhundert. E.M. Arndt und Varnhagen von Ense, Stuttgart 1967, S. 206–208. 154 Vgl. unter anderem MEW, Band 10, S. 3–8. 155 MEW, Band 5, S. 165–176, S. 270–286. 156 Riasanovsky, Nicholas I, a.a.O.; Ders., Russia and the West in the Teachings of the Slavophiles, a.a.O.; Berdjaev, Russkaja ideja, a.a.O.; Zen’kovskij, Russkie mysliteli i Evropa, a.a.O.; Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism, a.a.O.; Walicki, The Slavophile Controversy, a.a.O.

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slawischer Völker Ostmittel- und Südosteuropas. Und so sah man jetzt im Westen in den Süd- und Westslawen eine Art Vorhut Russlands, die dazu bestimmt sei, das bestehende Kräfteverhältnis in Mitteleuropa radikal zu ändern. Nun sei der Zar imstande, im Kampfe um die Vorherrschaft in Europa nach Belieben sowohl konservative wie auch revolutionäre Mittel einzusetzen. Zu den revolutionären Mitteln wurde vor allem ein möglicher Appell an die unterdrückten Slawen gezählt. Besonders ausgeprägt war die Angst vor der slawischen Karte des Zaren in Deutschland. Kleindeutsche Nationalisten wie Diezel unterschieden sich in diesem Punkt in ihrer Argumentation nur unwesentlich von Marx, Engels oder Moses Heß. Sie alle sahen in einem möglichen, von Russland unterstützten Unabhängigkeitskampf der Slawen den Versuch, eine tausendjährige kulturelle Leistung des Deutschtums in Ostmitteleuropa zunichte zu machen.157 Abgesehen davon ließ sich der slawische Messianismus mit der Idee von der deutschen beziehungsweise proletarischen Sendung kaum vereinbaren. Es mutet beinahe paradox an, dass ausgerechnet Vertreter von Gruppierungen, die das bestehende politische und soziale System in Europa am radikalsten in Frage stellten, dem Zarenreich mangelnde Treue zu diesem System vorwarfen.158 Die Russophobie spiegelte indes nur eine Seite der deutschen Einstellung zu Russland wider. Vor allem im konservativen Spektrum der deutschen Öffentlichkeit gab es auch starke russophile Tendenzen. Die Kritiker der westlichen Aufklärung und der sogenannten westlichen Dekadenz verknüpften mit dem zivilisatorisch ‚unverbrauchten‘ Osten große Hoffnungen. August von Haxthausen pries die Vorzüge der russischen Dorfgemeinde und übte einen großen Einfluss auf die russischen Slawophilen aus. Stark waren prorussische Tendenzen auch in der preußischen Oberschicht. Aber auch hier begannen sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts neue Entwicklungen anzubahnen. 157 Diezel, Russland, a.a.O.; MEW, a.a.O., Band 5, S. 165–176; 1841 schrieb Moses Hess, Die europäische Triarchie, Leipzig 1841, S. 63, in diesem Zusammenhang: „Die … Einfalt der Masse der russischen Bevölkerung ist nicht die heilige Einfalt der freien Unschuld, sondern das dumpfe Hinbrüten eines knechtischen Sinnes … Und diese Menschen sollen zur Weltherrschaft, zur Überwindung Europas berufen sein, – desselben Europas, das nun mit dem tiefen germanischen Gottesbewusstsein auch den praktischen römischen Weltsinn verbindet?“ 158 Diezel, Russland, a.a.O., S. 75. Klischeehafte Vorstellungen, die Marx, Engels und viele andere westliche Denker von Russland hatten, sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie sich bis zum Krimkrieg kaum mit den inneren Strukturen des Zarenreiches befassten und lediglich seine äußere bedrohliche Fassade wahrnahmen. August v. Haxthausen gehörte zu den wenigen, die dem westlichen Publikum Einblick in die inneren Strukturen der östlichen Großmacht zu vermitteln versuchten. Seine scharfsinnigen Analysen blieben jedoch im damaligen Westen ohne große Resonanz.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

1.4.5 Die Genese des Krimkrieges Die Revolution von 1848/49 schuf, trotz ihres Scheiterns, ein völlig neues politisches Klima in Europa, das auch eine ganz neue Regierungstechnik erforderlich machte. Die Ereignisse von 1848/49 führten zu einer außerordentlichen Politisierung der Massen, das Regieren ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung war von nun an, trotz aller restaurativen Versuche, kaum mehr möglich.159 Die nachrevolutionären Regierungen, auch die Diktaturen, bemühten sich um eine ‚populäre‘ Politik.160 Die Tatsache, dass das Zarenreich in der europäischen Öffentlichkeit äußerst unpopulär war, sollte nun für die östliche Hegemonialmacht wesentlich gefährlichere Folgen haben, als dies vor der Revolution der Fall gewesen war. Abgesehen davon wollten die europäischen Regierungen nun, ähnlich wie die westlichen Gesellschaften, sich von den Überresten der patriarchalischen Ordnung befreien, deren wichtigster Garant Russland zu sein schien. Viele Vertreter der preußischen oder der österreichischen Regierungsschicht hielten es für demütigend, dass der Zar in manchen Fällen so auftrat, als ob ihre Herrscher nur seine Statthalter seien.161 Sie wollten sich vom übermächtigen Schatten des östlichen Riesenreiches so schnell wie möglich befreien. In Berlin empfand man es als äußerst irritierend, dass der Zar sich fortwährend in die innerdeutschen Verhältnisse einmischte – Olmützer Punktation – November 1850. Die Ansichten der preußischen Konservativen um die Brüder Gerlach, die von der legitimisti­schen Solidarität der konservativen Mächte sprachen,162 muteten Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts bereits anachronistisch an. Für ähnlich anachronistisch hielt der österreichische Außenminister Buol die Überzeugung solcher konservativen Generäle wie Windischgrätz, Österreich sei Russland für seine Hilfe im Jahre 1849 zu Dank verpflichtet.163 159 Siehe dazu unter anderem Ludwig August von Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart 1853. 160 Andersen, Ascendency, a.a.O., S. 110–111; Paul W. Schroeder, The 19th-Century International System: Changes in the Structure, in: World Politics 39 (1986/87), S. 1–26, hier S. 4–5. 161 Friedjung, Krimkrieg, a.a.O., S. 48 f.; Franz Eckhart, Die deutsche Frage und der Krimkrieg, Berlin 1931, S. 108; Kurt Borries, Preußen im Krimkrieg, Stuttgart 1930, S. 3, S. 29–30; Jahn, Russophilie, a.a.O., S. 221–222; Riasanovsky, Nicholas I, a.a.O., S. 250; Rich, Why the Crimean War?, a.a.O., S. 3. 162 Borries, Preußen, a.a.O., S. 2, S. 16.–18; Friedjung, Krimkrieg, a.a.O., S. 48. 163 Friedjung, Krimkrieg, a.a.O., S. 21–22; im März 1854 schrieb Buol an Franz Joseph I., in: Akten zur Geschichte des Krimkrieges, hg. v. Winfried Baumgart, Ana Maria Schop Soler u. Werner Zürrer, München, Wien 1979–1980, Band l, S. 690: „Worin …

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Der Zar war immer noch der Meinung, nur die europäische Öffentlichkeit und nicht die Regierungen sähen ihn als Tyrannen an. Deshalb fühlte er sich relativ sicher, als er zu Beginn des Jahres 1853 daranging, die orientalische Frage auf seine Weise zu lösen.164 Dieses Vorgehen rief allerdings einen für ihn unerwarteten Solidarisierungseffekt bei den wichtigsten europäischen Regierungen und Völkern hervor. Sie alle betrachteten das Zarenreich als Bedrohung für die europäische Zivilisation.165 Zu einem besonderen Verhängnis für den Zaren sollte die Wiederbelebung der englischen Russophobie werden, die nach der Unterzeichnung des Meerengen­ vertrages von 1841 für etwa ein Jahrzehnt weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden war. Einige Historiker, zum Beispiel Paul W. Schroeder, betrachten die Aggressivität Englands als die wichtigste Ursache des Krim-

Österreich Russland nicht unterstützen kann, ist die von dieser Macht beanspruchte ausschließliche Suprematie im Orient, u. ebenso wenig kann es einen Eingriff in die Integrität des türkischen Reichs dulden.“ 164 Siehe unter anderem Edgar Hösch, Neuere Literatur (1940–1960) über den Krimkrieg, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 9 (1961), S. 399–433; Winfried Baumgart, Probleme der Krimkriegsforschung. Eine Studie über die Literatur des letzten Jahrzehnts (1961–1970), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 19 (1971), S. 49–89; Zajončkovskij, Vostočnaja vojna, a.a.O., Band l, S. 310, S. 386; Aleksander V. Nikitenko, Dnevnik, Band 1, S. 428, einer der scharfsinnigsten Beobachter der damaligen Ereignisse, schrieb in seinem Tagebuch: Nikolaus I. habe eine Macht herausgefordert, die, nach den Worten Talleyrands, viel stärker sei als die mächtigsten Herrscher – die öffentliche Meinung. 165 Diejenigen politischen Kräfte oder Kabinette, die sich dieser Kreuzzugsstimmung zu widersetzen suchten, gaben ihren Widerstand entweder letzten Endes auf, oder isolierten sich weitgehend auf dem Kontinent. Das erste geschah mit der pazifistisch gesinnten Regierung Aberdeen in London, das zweite mit Preußen, das seine Neutralität im Krimkrieg mit einem vorübergehenden Ausschluss aus dem Konzert der Mächte bezahlen musste. Kingsley Martin, The Triumph of Lord Palmerston. A Study of Public Opinion in England before the Crimean War, London 1963, S. 118–120, S. 147, S. 189–193; Hans-Jobst Krautheim, Öffentliche Meinung und imperiale Politik. Das britische Russlandbild 1815–1854, Berlin 1977, S. 290, S. 305; James B. Conacher, The Aberdeen Coalition. A Study in Mid-Nineteenth-Century Party Politics, Cambridge 1968; Rich, Why the Crimean War?, a.a.O., S. 32–33, S. 92, S. 98; Hermann Wentker, ‚Zerstörung der Großmacht Russland?‘ Die britischen Ziele im Krimkrieg, Göttingen 1993; Hösch, Neuere Literatur, a.a.O., S. 409; Eckhart, Die deutsche Frage, a.a.O., S. 86, S. 205, S. 210; Borries, Preußen, a.a.O., S. 211–212; zur antirussischen Kreuzzugsstimmung siehe u.a. Kaehler, Realpolitik, a.a.O., S. 447–448, S. 455–460; Simpson, Louis Napoleon, a.a.O., S. 252–253.

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krieges.166 Die neue Dynamik der englischen Außenpolitik, ähnlich übrigens wie das ungewöhnlich aggressive außenpolitische Verhalten des Zaren, lassen sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass Großbritannien und Russland als einzige europäische Großmächte von den revolutionären Erschütterungen der Jahre 1848/49 verschont geblieben waren. Das Gefühl der inneren Stärke förderte folglich sowohl in London als auch in Petersburg den außenpoliti­schen Aktionismus.167

1.4.6 ‚Schicksalskampf zwischen Ost und West?‘ Der vielbeschworene Kampf zwischen Ost und West brach nun aus. Es war ein Kampf um die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts, ein Kampf gegen eine Macht, der man Welteroberungspläne zuschrieb. Solche Kämpfe werden normalerweise bis zum bitteren Ende geführt, sagte einmal Namier.168 Dabei ging es bei diesem Krieg nicht nur um die Wiederherstellung des politischen Gleichgewichts, sondern auch um die Verteidigung der ‚heilig­sten Güter der abendländischen Zivilisation‘. Zum ersten Mal seit den Türken­k riegen im 16. und im 17. Jahrhundert brach in Europa eine Art ‚metus asiaticus‘ aus. Nikolaus I. wurde zu einem östlichen Barbaren, zu einem neuen ‚Tamerlan‘ stilisiert, der mit den europäischen Traditionen nichts gemein habe.169 Der Krieg für die Verteidigung des orientalischen Despoten am Bosporus sei als Krieg für die Verteidigung der christlichen Werte bezeichnet worden, sagt ironisch der englische Historiker Kingsley Martin.170 166 Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain and the Crimean War. The Destruction of the European Concert, Ithaca, N.Y. 1972, S. XII, S. 409, S. 412–413, S. 415; siehe dazu auch Simpson, Louis Napoleon, a.a.O., S. 240–242; Martin, Triumph, a.a.O., S. 19, S. 29–30, S. 52–53. 167 Schroeder, Austria, a.a.O.; Anselm Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856, Göttingen 1991; die Petersburger Führung hielt ihrerseits das damalige Russland ebenfalls für unbesiegbar: vgl. Lettres et Papiers du chancelier comte de Nesselrode 1760–1856, 11 Bde., Paris 1904–1912, hier Band 10, S. 10; Zajončkovskij, Vostočnaja vojna, a.a.O., Band l, S. 197. 168 Namier, Conflicts, a.a.O., S. 54. 169 „Die Überlassung der europäischen Türkei, … an Russland wäre die Unterwerfung des Westens unter den Osten, die Herrschaft Asiens über Europa“, schrieb 1853 Gustav Diezel, in: Diezel, Russland, a.a.O., S. 84–85; siehe dazu auch Martin, Triumph, a.a.O., S. 25, sowie Krautheim, Öffentliche Meinung, S. 286–288, S. 294–296. 170 Martin, Triumph, a.a.O., S. 17, S. 20, S. 25.

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In Wirklichkeit sollte es sich beim Krimkrieg um einen konventionellen, begrenzten Krieg handeln, bei dem keine Seite ‚aufs Ganze‘ ging. Alan J. P. Taylor bezeichnete ihn sogar als eine Art ‚kalten Krieg‘.171 Ständige diploma­tische Verhandlungen begleiteten ihn, beide Seiten bewegten sich auf der gleichen Ebene des Völkerrechts. Zwischen den napoleonischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg ist kein Krieg um die Wiederherstellung des europäi­schen Gleichgewichts ähnlich glimpflich verlaufen. Den Gegnern der Hegemonialmacht gelang es, ohne die totale Mobilisierung ihres Machtpotentials, nur mit einem Bruchteil ihrer Kräfte, diese Macht zu bezwingen.172 Anders als Napoleon I. oder die deutsche Reichsleitung im Ersten und im Zweiten Weltkrieg dachte die zarische Regierung nicht in der Alternative: Alles oder Nichts, sie verbrannte nicht alle Brücken hinter sich. Zwar wurde der Krimkrieg durch eine für die damalige russische Außenpolitik recht untypische unvorsichtige Handlungsweise ausgelöst. Als jedoch der Petersburger Führung klar wurde, wie falsch sie die Reaktion des Westens auf ihr Vorgehen eingeschätzt hatte, versuchte sie durch Nachgiebigkeit, den Schaden zumindest in Grenzen zu halten. Der Mainzer Historiker Winfried Baumgart vertritt die These, dass es hauptsächlich das Verdienst Österreichs und seines Außenministers Buol war, dass der Krimkrieg sich nicht in einen alle Schranken sprengenden Weltkrieg verwandelte. Durch seine verantwortungsbewusste, vermittelnde Politik habe das Wiener Kabinett eine totale Konfrontation der beiden Kontrahenten verhindert.173 Dennoch setzt jeder Kompromiss ein beiderseitiges Einverständ­nis voraus. Die Tatsache, dass die Petersburger Regierung jedes österreichische Ultimatum nach anfänglichem Zögern letzten Endes akzeptierte, dass sie, anders als 1812, auf die Taktik des Rückzugs und der ‚verbrannten Erde‘ verzichtete, hat den Charakter des Krimkrieges sicher nicht weniger stark geprägt, als dies der damalige Kurs Wiens tat. Aber nicht nur die Regierungen der beiden Kriegsparteien, sondern auch die Völker empfanden den 1853/54 begonnenen ‚Schicksalskampf zwischen Ost und West‘ nicht als einen Kampf ums Überleben. Tocqueville beklagte sich zum 171 Alan J. P. Taylor, Crimea: The War That Would Not Boil, in: Ders., Europe: Grandeur and Decline, London 1974. 172 Rich, Why the Crimean War?, a.a.O.; Simpson, Louis Napoleon, a.a.O., S. 347; Schroeder, The 19th-Century, a.a.O., S. 6; Winfried Baumgart, Der Friede von Paris. Studien zum Verhältnis von Kriegsführung, Politik und Friedensbewahrung, München u. Wien 1972. 173 Baumgart, Friede von Paris, a.a.O., S. 64–77, S. 258; zur Kritik an der Politik Buols siehe Friedjung, Krimkrieg, a.a.O., S. 45–46, S. 101–102, S. 108–110; Eckhart, Die deutsche Frage, a.a.O., S. 214–215; Kaehler, Realpolitik, a.a.O., S. 443–445, S. 469– 470; Hösch, Neuere Literatur, a.a.O., S. 418–419.

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Beispiel 1855, dass die französische Bevölkerung den Sinn des Krieges auf der Krim nicht verstehe. Ganz anders hätten sich die Dinge verhalten, so Tocqueville, wenn dies ein Krieg gegen England gewesen wäre. Dann hätte Napoleon III. an tiefsitzende Ressentiments appellieren können.174 Der jahrzehntelange publizistische Feldzug gegen Russland hat also im gesellschaftlichen Bewusstsein Frankreichs keine allzu tiefen Spuren hinterlassen. Und auch in England ließ die Kriegsbegeisterung nach den ersten Misserfolgen der englischen Armee sehr stark nach.175 Aber auch in Russland wurde der Krimkrieg nicht allgemein als ein Krieg ums Überleben, als panslawistischer Endkampf empfunden.176 Die Tatsache, dass die Petersburger Autokratie alle freien Regungen innerhalb der Gesellschaft zu ersticken versuchte, führte dazu, dass sie nach dem Beginn des Krimkrieges nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch isoliert war. Von einer Aufbruchsstimmung, ähnlich wie sie während des Russlandfeldzugs Napoleons von 1812 geherrscht hatte, konnte keine Rede sein. Fedor Tjutčev gehörte zu den wenigen, die den angebrochenen Kampf zwischen Ost und West euphorisch als eine Art Zeitenwende auffasste.177 Da die westlichen Großmächte, abgesehen von Preußen, nun eine geschlossene antirussische Phalanx bildeten, brauchte der Zar, nach Ansicht des Dichters, keine Rücksicht mehr auf das legitimistische Prinzip zu nehmen und könne alle unterdrückten slawischen Völker zu einem Befreiungskampf aufrufen. Im Frühjahr 1854 verfasste er folgende Verse: „Aufs Neue wird ein christlicher Altar das ehrwürdige Gewölbe der Heili­gen Sophia [in Konstantinopel] weihen: fall vor ihm nieder, o Zar von Russland, und stehe auf als allslawischer Zar!“178 Nikolaus I., dem die Zensur das Gedicht vorgelegt hatte, strich diese Strophen und schrieb: „Derartige Sätze nicht zulassen!“179 Unmittelbar nach dem Fall von Sewastopol, der die russische Niederlage im Krimkrieg besiegelte, sagte Tocqueville, dieser Rückschlag sei für Russland ohne Bedeu­tung. Sein Aufstieg werde unaufhaltsam weitergehen. Als Beweis führ174 Simpson, Correspondence, a.a.O., Band 2, S. 105–107, S. 128–129; siehe dazu auch Groh, Russland, a.a.O., S. 110; Simpson, Louis Napoleon, a.a.O., S. 243–245, S. 262; Rich, Why the Crimean War?, a.a.O., S. 11; Hösch, Neuere Literatur, a.a.O., S. 411. 175 Martin, Triumph, a.a.O., S. 202–205. 176 Mit Recht weist Wittram, Das russische Imperium, a.a.O., S. 568–593, hier S. 588, darauf hin, dass der erste und einzige panslawistische Krieg Russlands nicht der Krimkrieg, sondern der Türkenkrieg von 1877/78 war. 177 v. Schelting, Russland, a.a.O., S. 186–187. 178 v. Rauch, Fallmerayer, a.a.O., S. 86. 179 Ebd.; siehe dazu auch Tjutčeva, Pri dvore dvuch imperatorov, a.a.O., S. 147 f.

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te Tocqueville die gewaltige russische Expansion im Fernen Osten an, die trotz der Niederlage im Krimkrieg fortgesetzt wurde.180 Mit Tocqueville stimmen auch viele Historiker von heute überein. So meinen zum Beispiel Dieter Groh, Geoffrey Barraclough und Norman Rich, die russische Niederlage im Krimkrieg habe Russlands Stärke nur verborgen. Russlands Macht habe dabei keine allzu empfindlichen Einbußen erlitten.181 Dennoch erlebte Russland nach dem Krimkrieg, im Gegensatz zu den hier geäußerten Meinungen, nicht nur einen scheinbaren, sondern einen wirklichen Machtverfall.182 Die Ausdehnung nach Zentralasien und in den Fernen Osten stärkte das Zarenreich gegenüber dem Westen kaum, weil zur gleichen Zeit auch der Westen eine Periode gewaltiger kolonialer Ausdehnung erlebte. Der machtpolitische Verfall des Zarenreiches war in erster Linie durch die innenpolitische Zerrissenheit des Landes und durch die immer größere Isolierung des zarischen Regimes innerhalb der Gesellschaft bedingt. Und auch nach der bolschewistischen Umwälzung konnte Russland zunächst seine vormalige Großmachtposition nicht erreichen. Es musste sich mit dem Wegfall zahlreicher Provinzen des ehemaligen Zarenreiches abfinden und wurde 1920 von dem soeben wiederentstandenen polnischen Staat empfindlich geschlagen. Dazu kamen noch die beispiellosen Verluste durch den bolschewistischen beziehungsweise stalinistischen Terror. Russlands Machtverfall dauerte, wie Winfried Baumgart mit Recht betont, praktisch bis zum Zweiten Weltkrieg.183 Erst nach 1945 erinnerte man sich wieder an die Prognosen Tocqevilles und anderer europäischer Pessimisten. Der innerlich zerrissene Westen voller sozialer und politischer Spannungen schien nun dem diktatorisch regierten, monolithischen russischen Koloss von neuem unterlegen. Die These vom Versiegen der westlichen Lebenskraft und von der Überlegenheit der russischen Vitalität schien wieder aktuell.

180 Simpson, Correspondence, a.a.O., Band 2, S. 128–130 ; vgl. dazu auch Hermann Wentker, Russland vor dem Krimkrieg: Die russische Außenpolitik 1853/54 im Urteil des britischen Gesandten George Hamilton Seymour, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 40 (1992), S. 366–380, hier S. 379. 181 Groh, Russland, a.a.O., S. 175; Barraclough, Europa, a.a.O.; Rich, Why the Crimean War?, a.a.O., S. 4, 201. 182 Siehe dazu William Wohlforth, The Perception of Power: Russia in the Pre-1914 Balance, in: World Politics 39 (1986/87), S. 353–381. 183 Baumgart, Friede von Paris, a.a.O., S. 249.

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Schlussbetrachtung Die radikale Veränderung der europäischen Kräfteverhältnisse, die sich infolge des Krimkrieges ergeben hatte, erinnert in verblüffender Weise an die Vorgänge nach 1989. In beiden Fällen führte die Schwächung Russlands zu einer außerordentlichen Dynamisierung der politischen Entwicklungen auf dem Kontinent, zu einer radikalen Veränderung des seit Jahrzehnten erstarrten territorialen Status quo. In beiden Fällen war Deutschland der wichtigste Nutznießer der neuen Konstellation. Insofern gehörten die Verfechter der deutschen Einheit um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu den wenigen Realisten im Lager der westlichen Russophoben. Im Allgemeinen wurde damals die Kraft Russlands im Westen maßlos überschätzt. Es war viel zu schwach, um eine Universalmonarchie nach dem Vorbild Napoleons I. zu errichten. Es war aber stark genug, um die deutsche Einheit zu verhindern. Und auch nach 1945 stand das übermächtige Russland beziehungsweise die UdSSR der deutschen Einheit im Wege. Es gehört zu den größten Paradoxien der neuesten Geschichte, dass sowohl das legitimistische Zarenreich als auch die ‚proletarische‘ Sowjetunion zu den wichtigsten Garanten der jeweiligen Nachkriegsordnung zählten und sich für das Einfrieren des territorialen Status quo in Europa einsetzten. In beiden Fällen vertrat Russland die übernationale ‚Prinzipienpolitik‘ und bekämpfte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, zunächst im Namen des Legitimitätsprinzips und dann im Namen des ‚proletarischen Internatio­nalismus‘. Der Zusammenbruch der beiden Konzepte führte zum Siegeszug des ‚linguistischen Nationalismus‘ – Namier – und zur Auflösung mancher Vielvölkerstaaten und Reiche, die bis dahin in Mittel- und Osteuropa eher die Regel waren. Das gleiche linguistische Prinzip, das in Osteuropa nur Auflösungserscheinungen verursachte, führte sowohl nach dem Krimkrieg als auch nach 1989 zur Integration der deutschen Länder und zu einer radikalen Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West. Und nun noch einige Worte zum deutsch-russischen Verhältnis: Die Tatsache, dass Russland sowohl 1870/71 als auch 1989/90 durch seine Haltung die deutsche Einheit ermöglichte, löste in Deutschland vorübergehend eine Russlandeuphorie aus. Im März 1871 bedankte sich Wilhelm I. in überschwänglicher Weise beim Zaren für die russische Neutralität im Deutsch-Französischen Krieg.184 Dennoch befanden sich die beiden Staaten zwei Jahrzehnte später bereits in verschiedenen politischen Lagern, und ihre herrschenden Schichten gerieten in den Sog der na-

184 Walter Bußmann, Das Zeitalter Bismarcks, in: Handbuch der Deutschen Geschichte, hg. v. Leo Just, Konstanz 1956, Band 3, Teil 2, S. 129.

1.4 Dekadenzängste und Russlandfurcht …

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tionalistischen Phraseologie, in der von einem unausweichlichen Kampf zwischen Slawentum und Germanentum die Rede war. Die Modernisierung Russlands, die um die Jahrhundertwende solche Staatsmänner wie Sergej Witte und Petr Stolypin durchzuführen versuchten, bereitete der deutschen Reichsleitung schlaflose Nächte. Fritz Fischer sieht in der Angst der deutschen Führung vor einem allzu starken Russland eine der Hauptursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Auch nach dem Ersten Weltkrieg, den beide Staaten verloren hatten, blieb die Einstellung der Deutschen zu Russland höchst ambivalent. Auf der einen Seite standen Rapallo und die beispiellose Faszination, die die russische Kultur auf die Weimarer Eliten ausübte. Hugo von Hofmannstahl beklagte sich 1921, dass Dostoevskij nun drohe, Goethe von seinem Sockel zu stürzen.185 Auf der anderen Seite erreichten aber auch die antirussischen Tendenzen damals eine ungewöhnliche Intensität. Die Isolierung des bolschewistischen Staates innerhalb der Völkergemeinschaft wurde für die extrem nationalistischen Kreise Deutschlands zu einer Versuchung. Für Ernst Nolte handelte Hitler „im Bewusstsein einer einzigartigen weltgeschichtlichen Möglichkeit …, der Möglichkeit, die Russische Revolution unter bürgerlicher und europäischer Sympathie auszumerzen und damit für … Deutschland eine völlig neue und seine Zukunft sichernde raumpolitische Lage zu schaffen“.186 Diese Worte schrieb Nolte vor dem Beginn des ‚deutschen Historikerstreits‘, als er noch nicht dazu neigte, die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren. Mühelos überwand Hitler den Widerstand mancher prorussischer Kreise im Reich und setzte sein Konzept durch. Und so begann 1941 ein Land, dem oft eine übertriebene Russophilie nachgesagt wird, ausgerechnet gegen Russland einen Vernichtungskrieg, der in der neueren europäischen Geschichte wohl ohne Beispiel ist. Das Pendeln zwischen extremer Russophobie und Russophilie war nicht zuletzt mit der Mittellage Deutschlands verknüpft. Russland wurde entweder als Verbündeter gegen den Westen betrachtet oder als störender Faktor, den es auszuschalten galt, um den Einkreisungsring um Deutschland zu zerschlagen. Erst die Westintegration Deutschlands nach 1945, die 1989/90 ihre Vollendung fand, bereitete diesem Pendeln ein Ende. Zwar sehen die russischen Kritiker Michail Gorbačevs in der Herausgabe des in Moskau deponierten Schlüssels zur deutschen 185 Hugo v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Prosa, Band 4, Frankfurt am M. 1955, S. 75–77. 186 Ernst Nolte, Die faschistischen Bewegungen. Die Krise des liberalen Systems und die Entwicklung des Faschismus, München 1979, S. 58.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

Einheit und damit auch in der Westintegration Gesamtdeutschlands eine ‚Annullierung der Ergebnisse des Zweiten Welt­k rieges‘ beziehungsweise eine Preisgabe der russischen Interessen. Sie lassen jedoch außer Acht, dass die deutsche Auflehnung gegen den Westen den russischen Interes­sen nur selten diente, denn sie richtete sich letzten Endes, und zwar mit einer besonderen Wucht, gegen Russland selbst – 1914 bis 1918 und 1941 bis 1945.

1.5

Polnische Russlandbilder im 19. und 20. Jahrhundert

1.5.1 Polen im Schatten des Zarenreiches Der polnisch-russische Gegensatz hatte eine jahrhundertealte Tradition. Besonders stark sollte er sich aber nach dem Novemberaufstand von 1830 zuspitzen, der eine Art Zäsur in der Beziehung beider Nationen darstellte. Bis dahin hatte es in Russland nicht an Versuchen gefehlt, die politischen Eliten der eingegliederten Teile Polens zur Loyalität gegenüber dem neuen Souverän zu bewegen. Es mutet beinahe paradox an, dass von allen Teilungsmächten ausgerechnet im autokratischen Zarenreich diese Bemühungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts am weitesten gediehen. Dies war nicht zuletzt auf den Charakter dieses Staatswesens zurückzuführen, in dem die Politik in einem außergewöhnlichen Ausmaß von der Person des jeweiligen Herrschers abhing. Insofern wirkten sich die propolnischen und liberalen Sympathien Alexanders I. – 1801 bis 1825 – auf die Lage der Polen ausgesprochen günstig aus. Bis etwa 1812 ließ sich die liberale Polenpolitik Petersburgs dadurch erklären, dass es dem napoleonischen Polen­konzept eine eigene Alternative entgegensetzen wollte. Aber auch nach der Bezwingung Frankreichs änderte sich der Charakter der russischen Politik gegenüber dem westlichen Nachbarn zunächst kaum. Der Flirt mit Napoleon wurde ihm verziehen. Die politische und militärische Führung des Großherzogtums Warschau – 1807 bis 1813 – eines der treuesten Verbündeten Frankreichs – ist von dem auf dem Wiener Kongress konstituierten Königreich Po­ len im Wesentlichen übernommen worden. Der neue Staat an der Weichsel erhielt, ungeachtet der Personalunion mit dem russischen Herrscher, eine der liberalsten Verfassungen auf dem Kontinent. Zwar wurde diese Verfassung in den letzten Jahren der Herrschaft Alexanders I., vor allem aber nach der Thronbesteigung Nikolaus‘ I. – 1825 bis 1855 –, immer stärker ausgehöhlt, dennoch blieb sie den russischen Konservativen bis zuletzt ein Dorn im Auge. Deshalb war ihre Empörung über die ‚Undankbarkeit‘ der Polen nach dem Ausbruch des Aufstandes von 1830 grenzenlos. Nach der Unterdrückung der Revolte von 1830/31, der sich, nach an-

1.5 Polnische Russlandbilder im 19. und 20. Jahrhundert

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fänglichem Zögern, beinahe die gesamte Führungsschicht des Königreichs Polen angeschlossen hatte, wurden die Reste der polnischen Selbständigkeit zerstört. Der für Polen charakteristische Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft trat nach 1831 mit besonderer Schärfe zutage. Das soziale Prestige war nicht mehr an staatliche Prärogativen und Funktionen gebunden. Es gab zwar auch nach 1831 nicht wenige polnische Aristokraten, die hohe Ämter im Verwaltungs- und Justizapparat des Landes bekleideten. Zu ihrem gesellschaftlichen Ansehen jedoch trug dieser Umstand nicht mehr bei, weil sie nicht mehr dem eigenen Staat, sondern einem fremden Herrscher dienten. Die gesellschaftliche Wertehierarchie hatte sich von derjenigen des Staates weitgehend abgekoppelt. Es entstand ein gesellschaftlicher Ehrenkodex, dessen Verbote und Gebote das Leben im Lande vielleicht noch stärker prägten als die staatliche Gesetzgebung. Bereits vor 1830 hatte die Gegnerschaft zu Russland im Bewusstsein der polnischen Eliten eine Sonderstellung eingenommen. Umso radikaler trat diese Tendenz nach dem Debakel von 1831 auf. Das Zarenreich galt an der Weichsel nicht bloß als politischer Gegner, sondern vielmehr als die Verkörperung des Bösen, die Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationen wurde als Kampf zwischen Licht und Finsternis aufgefasst.187 Besonders deutlich spiegelte sich diese Tendenz bei den bedeutendsten Dichtern des Landes wider, so vor allem bei Adam Mickiewicz und Zygmunt Krasiński. Sie warnten den Westen davor, Russland als normale Großmacht zu betrachten, denn dieser despotische Koloss strebe nicht nur eine totale Unterwerfung seiner Untertanen an, sondern auch die der gesamten freien Welt. Etwa 10.000 polnische Emigranten, die sich seit der Niederschlagung des Novemberaufstandes im Westen befanden, trugen außerordentlich viel zur Verschlechterung des Russlandbildes in Europa bei.188 Indessen bahnte sich etwa drei Jahrzehnte nach dem Novemberaufstand eine Entspannung im polnisch-russischen Verhältnis an. Das despotische, ängstlich auf die Bewahrung des Bestehenden ausgerichtete System Nikolaus‘ I. erlitt im Krimkrieg – 1853 bis 1856 – ein Debakel. Das Zarenreich sah sich nun gezwungen, seine veralteten politischen Strukturen zu modernisieren. Auch die Polenfrage blieb davon nicht unberührt. Organisatorische Verbindungen, die 1831 im Lande völlig zerschlagen worden waren, durften nun wieder geknüpft werden. 1857 wurde die Gründung der sogenannten Landwirtschaftlichen Gesellschaft zugelassen, die sich innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten Sprachrohr der polnischen Öffentlich-

187 Vgl. dazu u.a. Łepkowski, Polska, a.a.O. S. 450 ff.; Karpiński, Król, Sylwetki polityczne, a.a.O.; Borejsza, Piękny wiek XIX, a.a.O., S. 47–52. 188 Hahn, Außenpolitik in der Emigration, a.a.O.; Gleason, Genesis, a.a.O.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

keit entwickeln sollte.189 Dieser Umstand erwies sich aber zugleich als großes Handikap. Um die polnische Öffentlichkeit nicht vor den Kopf zu stoßen, vermied der Vorsitzende der Organisation, Andrzej Zamoyski, jeden Schritt, der als Kollaboration mit den Russen hätte ausgelegt werden können. So wirkte die anonyme Macht der öffentlichen Meinung, von der niemand wusste, wen sie im Grunde repräsentierte, lähmend auf den einzig möglichen Vermittler zwischen Petersburg und der polnischen Gesellschaft. Die russische Polenpolitik geriet erneut in eine Sackgasse. Die Stimmung im Lande wurde immer radikaler. Dennoch war die überwältigende Mehrheit der politisch aktiven Schichten im Lande gegen einen bewaffneten Aufstand. Auf eine militärische Konfrontation drängte nur eine kleine radikale Minderheit. Ihre Stärke bestand allerdings darin, dass sie, wenn auch in rigoroser Form, Werte vertrat, zu denen sich auch die gesamte politische Elite des Landes bekannte. Denn die Bereitschaft, um die Unabhängigkeit zu kämpfen, stellte eine moralische Verpflichtung dar, vor der es kein Entrinnen gab.190 Nicht der Sieg, sondern der Widerstandswille war hier von größter Bedeutung. Im rationalen, sachlich kalkulierenden Westen rief dieses Verhalten nur Kopfschütteln hervor. Auch in Polen selbst hat es unzählige Kritiker gefunden. Dabei wird aber Folgendes übersehen: Bei einer realistischen Betrachtung der geopolitischen Lage Polens und des Kräfteverhältnisses zwischen ihm und seinen Widersachern hätte man sich genau ausrechnen können, dass das Land im Grunde keine Chance hatte, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. So musste sich der nationale Wille zum Überleben zwangsläufig aus der materiellen vorwiegend auf die ideelle Ebene verlagern. Als geschichtliches Subjekt existierte Polen nur so lange, solange es die Hoffnung auf nationale Selbstbestimmung – trotz ihres anscheinend utopischen Charakters – nicht aufgab.

1.5.2 Polen im Schatten der UdSSR Die Bolschewiki wurden in Polen in der Regel als Erben der Zaren angesehen. Der Hitler-Stalin-Pakt, Katyń oder der stalinistische Terror in Polen nach 1944 trugen keineswegs dazu bei, die antirussischen Ressentiments an der Weichsel abzumildern. Dennoch führten die Schrecken der nationalsozialistischen Besatzung, die innerhalb von etwa fünf Jahren die Schrecken der 120jährigen Zarenherrschaft um 189 Stefan Kieniewicz, Powstanie styczniowe [Der Januaraufstand], Warschau 1983, S. 300 ff.; Piotr S. Wandycz, The Lands of Partitioned Poland 1795–1918, Seattle u. London 1974, S. 156. 190 Siehe dazu Kieniewicz, Powstanie, a.a.O., S. 312.

1.5 Polnische Russlandbilder im 19. und 20. Jahrhundert

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das Vielfache überstiegen, zu einem Sinneswandel bei einem Teil der polnischen Öffentlichkeit. Führend war hier die Gruppe um das einflussreiche katholische Wochenblatt Tygodnik Powszechny. Sie kritisierte die traditionelle Russophobie im Lande und plädierte für eine Aussöhnung mit dem östlichen Nachbarn.191 Einige Herausgeber prangerten in diesem Zusammenhang die romantische Verklärung der Aufstände von 1830 und 1863 an; mit besonderer Schärfe tat dies der Publizist Stanisław Stomma. Die Revolte von 1863 bezeichnete er am 20. Januar 1963 als einen Akt des Wahnsinns, der Polen um Jahrzehnte zurückgeworfen habe.192 Diese ‚unvernünftige‘ Handlungsweise der Gesellschaft versuchte Stomma mit einem tiefverwurzelten ‚antirussischen Komplex‘ zu erklären. Jede Politik der Kompromisse mit Russland sei in der polnischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts als eine Art nationalen Verrats angesehen worden. Kompromisse mit den anderen Teilungsmächten hingegen, zum Beispiel mit Österreich, hätten keine vergleichbaren Emotionen ausgelöst.193 Stommas Thesen lösten innerhalb der katholischen Öffentlichkeit des Landes eine heftige Kontroverse aus. Jacek Woźniakowski, der zum engsten Herausgeber-Gremium des Tygodnik Powszechny zählte, formulierte zwei Wochen später, ebenfalls im Tygodnik, Thesen, die den Standpunkt Stommas radikal in Frage stellten. Anders als Stomma zeigte Woźniakowski volles Verständnis für die Aufständischen von 1863. Ihre antirussischen Komplexe seien durchaus begründet gewesen. Die Politik des Zarenregimes habe ihnen praktisch keine andere Wahl gelassen. Der Konflikt zwischen den polnischen Freiheitskämpfern und dem reformunwilligen, verkrusteten Zarenregime sei unvermeidlich gewesen. Der Tatsache, dass ausgerechnet am Vorabend des Januar-Aufstandes diese verkrusteten Strukturen sich durch das Reformwerk Alexanders II. aufzulösen begannen, misst Woźniakowski keine allzu große Bedeutung bei. Diese Reformen seien zu spät gekommen, es habe ihnen auch an Konsequenz gefehlt, so das Fazit des Publizisten.194 Stommas Artikel rief auch eine zornige Entgegnung von Kardinal Wyszyński hervor, der im Aufstand von 1863 ein durchaus gesundes Streben des Volkes nach 191 Vgl. dazu unter anderem Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945–1989. Die Anatomie einer Befreiung, Köln 1993. 192 Stanisław Stomma, Z kurzem krwi bratniej [Mit dem Staub des brüderlichen Blutes], in: Tygodnik Powszechny v. 20. Januar 1963. 193 Ebd.; siehe dazu auch Ders., Polityka czy mesjanizm? [Politik oder Messianismus?], in: Tygodnik Powszechny v. 13. April 1975. 194 Jacek Woźniakowski, Inni szatani byli tam czynni [Andere Teufel waren dort tätig], in: Tygodnik Powszechny v. 3. Februar 1963.

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Eigenständigkeit erblickte.195 Die Kontroverse zwischen Stomma und seinen Kritikern zeigt, dass katholische Autoren auch in den Perioden der Verhärtung des Regierungskurses, wie sie zum Beispiel in der ‚späten‘ Gomułka-Periode in den 1960er Jahren zu beobachten war, das heikle Thema der polnisch-russischen Beziehungen anzusprechen vermochten. Zwar wurde dabei die aktuelle politische Debatte als historischer Disput getarnt, doch war der Ersatzcharakter dieser Diskussion jedem offensichtlich. Erst die neuen Signale, die aus Moskau nach dem Machtantritt Michail Gorbačevs kamen, ermöglichten den offenen Kampf gegen die sogenannten ‚weißen Flecke‘ in der Geschichte der beiderseitigen Beziehungen, das heißt gegen die von den kommunistischen Machthabern offiziell propagierte Lüge. Der Kampf gegen die Geschichtsfälschungen erreichte nun eine völlig neue Dimension. Es entstand eine Art Einheitsfront der polnischen und der sowjetischen Reformer, die im Kampfe „für unsere und euere Wahrheit“ – Adam Michnik – die Initiative übernahm und die Dogmatiker der beiden Länder in die Defensive drängte.196 Bei der Betrachtung dieser Allianz fühlt man sich an die Worte des polnischen Dichters Cyprian Kamil Norwid erinnert, der bereits 1863 Folgendes sagte: In der Auseinandersetzung mit dem Zarenreich habe Polen nur dann eine Chance, wenn es ihm gelänge, eine ‚propolnische‘ Partei in Russland selbst zu finden. Ohne diese Brücke nach Osten würden beide Länder wie zwei undurchdringliche Blöcke nebeneinander stehen und nach gegenseitiger Vernichtung trachten.197 Zur Zeit der Perestrojka ist diese Voraussage Norwids in gewisser Weise eingetroffen. Zum ersten Mal seit 1945 ist im sowjetischen Establishment eine ‚propolnische‘ Partei entstanden, die dem Kampf um die historische Wahrheit eine ähnliche Bedeutung beimaß, wie dies die polnischen Reformer taten. Auch nach der Entmachtung der polnischen Kommunisten im Jahre 1989 betrachteten die demokratisch gesinnten Kräfte an der Weichsel ihre russischen Gesinnungsgenossen als die wohl wichtigsten Verbündeten des erneuerten Polen, denn das Schicksal der neugewonnenen polnischen Souveränität hing wesentlich vom Ausgang des Kampfes zwischen Reformern und Dogmatikern in Moskau ab. 195 Stefan Wyszyński, W stulecie powstania styczniowego [Zum 100. Jahrestag des Januar-Aufstandes], in: Zeszyty Historyczne 74 (1985), S. 3–7. 196 Siehe dazu unter anderem Prawo do własnej historii [Das Recht auf eigene Geschichte], in: Polityka v. 3. Oktober 1987; Białe plamy [Weiße Flecke], Polityka v. 19. März 1988; Adam Michnik, Kampf um die Erinnerung, in: Die Zeit v. 15. April 1988; Alexander Korab, Beseitigung von ‘weißen Flecken’ zwischen Moskau und Warschau?, in: Osteuropa 38 (1988), S. 385–389. 197 Kamil Cyprian Norwid, Pisma Wybrane [Ausgewählte Schriften], Warschau 1968, Band 5, S. 456.

1.6 Das ‚janusköpfige Russland‘ und der deutsch-sowjetische Krieg …

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Einer der scharfsinnigsten Publizisten des 1989 gegründeten Organs der polnischen Reformer Gazeta Wyborcza, Józef Kuśmierek, schrieb im April 1991 einen offenen Brief an Boris El’cin, der damals – am Vorabend des August-Putsches – zum wichtigsten Kontrahenten der sowjetischen Dogmatiker wurde. Der Brief enthielt folgende Sätze: „Sie sind für die Polen der erste russische Politiker, der im Namen Russlands und nicht im Namen des russischen Imperiums spricht. … Sie symbolisieren für mich ein Russland, das ich als Pole nicht fürchten muss.“198 Von dieser Euphorie ist im heutigen Warschau nicht allzu viel übrig geblieben. Moskaus ablehnende Haltung gegenüber der Ausdehnung der NATO auf Osteuropa wird in Warschau als eine Art Rückkehr zu der früheren sowjetischen Doktrin von der beschränkten Souveränität der osteuropäischen Staaten aufgefasst. Der ehemalige polnische Außenminister Andrzej Olechowski sagte in diesem Zusammenhang: Russland habe von der Sowjetunion einen unermesslichen imperialen Ehrgeiz geerbt, den es aber aufgrund seiner beschränkten Ressourcen nicht befriedigen könne, und so entstehe dort das Syndrom einer ‚belagerten Festung‘, das für die Nachbarn Russlands sehr gefährliche Folgen haben könne. Trotz solch kritischer Töne wurde das postsowjetische Russland der El’cin-Ära in Polen nicht nur negativ bewertet.199 Kurz nach dem freiwilligen Rücktritt Boris El’cins Ende 1999 zog der Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, aus der Tätigkeit des ersten demokratisch gewählten russischen Staatsoberhaupts folgende Bilanz: El’cin habe sich unablässig um einen Bruch mit dem bolschewistischen Erbe bemüht, dies sei die wichtigste Antriebskraft seines Tuns gewesen.

1.6

Das ‚janusköpfige Russland‘ und der deutschsowjetische Krieg aus der Sicht des polnischen ‚Konvertiten‘ Aleksander Wat200

Der avantgardistische polnische Dichter Aleksander Wat – er lebte von 1900 bis 1967 – gehört zu einer relativ kleinen Gruppe von ‚Konvertiten‘ – ehemaligen Kommunisten oder Fellow-travellers –, die bereits in den 1930er Jahren – un198 Józef Kuśmierek, Szanowny Panie Jelcyn [Verehrter Herr El’cin], in: Gazeta Wyborcza v. 2. April 1991. 199 Mit der Darstellung der polnischen Russlandbilder nach der Errichtung der Putinschen ‚gelenkten Demokratie‘ im Jahre 2000 wird sich dieser Artikel nicht befassen. Diese Thematik geht weit über den Rahmen des Beitrags hinaus. 200 Dieser Text basiert im Wesentlichen auf meinem Beitrag Haßliebe?  – Aleksander Wats Rußlandbild, in: Aleksander Wat und ‚sein‘ Jahrhundert, hg. v. Matthias Freise u. Andreas Lawaty, Wiesbaden 2002, S. 60–65.

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geachtet der immer größer werdenden nationalsozialistischen Gefahr – sich vom Kommunismus abwandten und ihn seit ihrer ‚Konversion‘ für die Verkörperung des Infernalischen hielten. Im Unterschied zu Arthur Koestler oder zu George Orwell geriet aber Wat für mehrere Jahre in die Fänge des Systems, das er nach der anfänglichen Bewunderung derart scharf ablehnte. Der Entzauberungsprozess wurde bei ihm durch die langjährige Konfrontation mit der sowjetischen Wirklichkeit – in den Jahren 1939 bis 1946 – zusätzlich bekräftigt. Wat war Outsider und Insider zugleich, konnte das sowjetische Experiment sowohl aus der Distanz als auch aus der unmittelbaren Nähe beobachten. Als universal gebildeter Mitteleuropäer gehörte er zugleich zu den besten Kennern der russischen Kultur, er beherrschte Russisch in all seinen Nuancen. Dies erleichterte ihm die Einordnung russischer Entwicklungen in allgemein europäische Zusammenhänge und zugleich das Erfassen wichtigster Wesensmerkmale des russischen ‚Sonderweges‘. Aus all diesen Gründen stellt der Bericht Aleksandr Wats über ‚sein Jahrhundert‘, der die Form eines langen Interviews mit seinem Dichterkollegen Czesław Miłosz hat201 ein einmaliges Dokument dar. Aber ein Dokument besonderer Art, denn es handelt sich bei ihm um geronnene Emotionalität. Wat setzt sich schonungslos nicht nur mit dem Kommunismus beziehungsweise Stalinismus, sondern auch mit sich selbst auseinander. Auch drei Jahrzehnte nach seiner Abwendung vom Kommunismus kann er sich selbst nicht verzeihen, dass er seinerzeit zur Verbreitung der kommunistischen Idee beigetragen hatte. Immer wieder versucht er seine Aussagen zu relativieren, weil sie, wie er sagt, nicht selten durch Hass beziehungsweise durch Selbsthass inspiriert seien. Aber nicht nur Hass durchzieht diesen Bericht, sondern auch Liebe. Liebe zum Land, das als erstes der kommunistischen Versuchung erlegen war, um dann zu ihrem Opfer zu werden, zu seiner Kultur, zu vielen ihrer Vertreter, deren tragisches Schicksal er selbst eine Zeitlang teilte. Gelegentlich schimmert durch seine Aussagen sogar die Zuneigung zu seinen früheren Idealen durch, die er vor allem nach der Konfrontation mit der sowjetischen Wirklichkeit derart radikal verwarf. So sagt er an einer Stelle, der Marxismus habe durchaus eminent wichtige Fragen aufgeworfen, nur die Antworten auf diese Fragen seien falsch gewesen.202 In den Augen von Wat ist Russland ein janusköpfiges Gebilde. Es hat sowohl ein abstoßendes, wie er sagt, ‚asiatisches‘ Gesicht, und ein bezauberndes europäisches Antlitz. Asien stellt für Wat keineswegs die Wiege der Zivilisation dar, im Gegenteil, es verkörpert für ihn geradezu die Tyrannei und die Missachtung der 201 Aleksander Wat, Mój wiek. Pamiętnik mówiony [Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen], 2 Bände, Warschau 1998. 202 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 2, S. 164 ff.

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Menschenwürde. Seine ursprüngliche Bewunderung für die Bolschewiki erklärt er nicht zuletzt dadurch, dass er von ihrem ehrgeizigen Vorhaben, ein bäuerliches, vorwiegend ‚asiatisches‘ Land zu europäisieren, fasziniert gewesen sei.203 Später änderte Wat seine Meinung über den Bolschewismus. Nun verkörperte auch dieser für ihn den kulturfeindlichen Orient.204 So stellte für ihn die Rote Armee, die 1939 infolge des Hitler-Stalin-Paktes Ostpolen besetzte, eine ‚asiatische Horde’ dar, die mit den Horden Dschingis-Khans verglichen wird. Der Kommunismus in jeder Form symbolisiert für ihn den Aufstand des Orients gegen die westliche Zivilisation. Die im Westen oft vertretene These, bei der bolschewistischen Tyrannei handele es sich um eine typisch russische Erscheinung, um das Endprodukt des jahrhundertealten russischen Etatismus, lehnt Wat vehement ab. Der Kommunismus habe viel tiefere Ursprünge. Einer seiner Gesprächspartner in der Gefängniszelle der Lubjanka habe zum Beispiel in allen Einzelheiten den Charakter eines kollektivistischen beziehungsweise kommunistischen Systems, das in China tausend Jahre vor Marx errichtet worden sei, geschildert.205 Auch das zaristische Russland partizipierte Wats Meinung nach an dieser kollektivistischen Tradition, an die später die Bolschewiki appellierten. Aber Russland ist für Wat nicht nur das angeblich kulturfeindliche Asien, sondern auch das kultivierte Europa. Die Bolschewiki, vor allem die Stalinisten, hätten versucht, die Überreste dieses europäischen Russlands auszumerzen – vergeblich. Viele seiner Leidensgenossen in den Gefängnissen, aber auch in der fernen sowjetischen Provinz hatten diesen, den Bolschewiki so verhassten Typus des kultivierten russi­schen Europäers verkörpert. Unzählige Vertreter dieser alten russischen Bildungsschicht seien der unvorstellbaren stalinistischen Barbarei zum Opfer gefallen, unzählige seien aber am Leben geblieben, denn ihre gänzliche Ausmerzung habe sogar die Möglichkeiten des perfekten Polizeistaates überstiegen, der in der Stalin-Zeit in Russland errichtet worden war.206 Wat vertritt sogar die ketzerische These, dass Vertreter der literarischen Elite Russlands – unter anderen Viktor Šklovskij, Konstantin Paustovskij –, mit denen er 1942/43 in der kasachischen Hauptstadt Alma-Ata intensive Kontakte pflegte, gebildeter und ‚europäischer’ gewesen seien als die Autoren der polnischen literarischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit, mit denen er seiner-

203 Ebd., Band 1, S. 21, S. 89, S. 143. 204 Ebd., Band 1, S. 274, S. 300, S. 320, S. 354 f.; Band 2, S. 30; siehe dazu auch Aleksander Wat, Dziennik bez samogłosek [Ein Tagebuch ohne Vokale], London 1986, S. 47. 205 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 2, S. 88; siehe auch Wat, Dziennik bez samogłosek, a.a.O., S. 199. 206 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 2, S. 191.

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zeit intensiv verkehrt hatte207 – man darf nicht vergessen, dass Wat selbst zu den zentralen Figuren dieser Avantgarde gezählt hatte.208 Die eigenwillige Theorie Wats vom ‚asiatischen‘ und vom ‚europäischen‘ Russland durchzieht wie ein roter Faden seine Erinnerungen. Ein anderes zentrales Motiv des Berichts stellt die Darstellung des ‚leidenden‘ Russland dar, mit dem sich Wat vorbehaltlos solidarisiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund schätzt er den Roman von Boris Pasternak Dr. Živago außerordentlich, obwohl das Werk Wats Meinung nach sehr schlecht geschrieben sei. Aber ungeachtet all seiner literarischen Schwächen zeige der Roman mit ungewöhnlicher Eindringlichkeit, welches Unheil über das Land infolge der Ereignisse von 1917 hereinbrach.209 Das unglückliche, leidende Russland gehört neben einigen markanten Persönlichkeiten, die Wat in sowjetischen Gefängnissen kennengelernt hatte, zu den wichtigsten Helden seines Berichts, es ist eine Art Kollektivheld. Mit Empörung reagiert er auf die Überheblichkeit, mit der seine Landsleute nicht selten auf den östlichen Nachbarn herabsehen, und zwar aufgrund der in Russland angeblich so tief verankerten ‚Sklavenmentalität‘. Wat meint, hätten die Polen genauso lange und intensiv unter Kommunismus beziehungsweise Stalinismus gelitten, wie dies bei den Russen der Fall gewesen war, so wären auch sie nicht imstande gewesen, ihre innere Würde zu bewahren.210 Dass aber die polnische Überheblichkeit Russland gegenüber beinahe unausrottbar ist, lässt sich am Beispiel von Wat selbst demonstrieren. Er berichtet immer wieder darüber, wie oft er der Versuchung erlag, die Russen abschätzig zu bewerten. Diese in Polen so verbreitete Haltung lässt sich seiner Meinung nach durch polnische Minderwertigkeitsgefühle gegenüber Russland erklären.211 Diese These wird allerdings nicht näher begründet. Dass der Kommunismus ausgerechnet in Russland siegte, hält Wat keineswegs für einen Zufall. Die kommunistische Idee habe den tiefen Sehnsüchten bestimmter Schichten der russischen Bevölkerung entsprochen. Dabei denkt Wat nicht in erster Linie an die russische Bauernschaft und nicht an die russischen Industriearbeiter mit ihren egalitaristischen Träumen, mit ihrer Ablehnung des hierarchischen Prinzips als solchen. Nein, viel wichtiger für den Erfolg der bolschewistischen Revolution seien die Bestrebungen der kleinbürgerlichen, halbgebildeten Schichten Russlands gewesen, deren Geduld nun am Ende war. Sie hätten sich 1917 für alle 207 Ebd., S. 282. 208 Siehe dazu unter anderem Aleksander Wat, Bezrobotny Lucyfer [Arbeitsloser Luzifer], Warschau 1960; Ders., Poezje [Dichtungen], Warschau 1997. 209 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 1, S. 88. 210 Ebd., Band 2, S. 236. 211 Ebd., S. 49.

1.6 Das ‚janusköpfige Russland‘ und der deutsch-sowjetische Krieg …

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Demütigungen, die sie seit Generationen seitens des Staates und seitens der Oberschicht erfahren hätten, rächen wollen und seien nun zum eigentlichen Motor der Umwälzung geworden.212 Hier stimmt Wat übrigens mit den Thesen des russischen Exilhistorikers Georgij Fedotov überein, der ebenfalls auf die herausragende Rolle des russischen Kleinbürgertums bei den Ereignissen von 1917 bis 1920 hinweist.213 Aber die Revolution war für Wat nicht nur durch kleinbürgerliche Ressentiments bedingt. Auch die in Russland tief verwurzelte Bereitschaft zu leiden, habe erheblich zum Sieg der Bolschewiki beigetragen.214 Aber auch den Sieg Russlands über das Dritte Reich führt Wat auf die Leidensfähigkeit der Russen zurück. Allerdings nicht nur darauf. Dieser Sieg war auch mit dem imperialen Stolz verknüpft, der beinahe zur zweiten Natur der Nation geworden sei. Eine vergleichbare Haltung kann Wat nur bei den Engländern entdecken. Wat selbst war noch 1942 – bereits nach der Schlacht von Moskau – davon überzeugt, dass Russland den Krieg verlieren werde. Seine russischen Gesprächspartner seien indes in der Regel davon überzeugt gewesen, dass das Imperium diese Gefahr überstehen werde, und diese ihre Zuversicht, die Selbstverständlichkeit, mit der sie an den Sieg glaubten, begann allmählich auch Wat zu beeinflussen.215 Wat geht auch auf die atmosphärischen Veränderungen ein, die sich in Russland im ersten Kriegsjahr, also in der Zeit als die stalinistische Despotie um ihr Überleben kämpfte, vollzogen haben. Es ging dabei um einen Prozess, denn der Moskauer Historiker Michail Gefter viele Jahre später als ‚spontane Entstalinisierung‘ bezeichnete.216 Wat schreibt, dass sogar die überzeugten Kommunisten „spürten, dass sich alles von Grund auf ändern wird. Sie glaubten nicht an den Fortbestand des Stalinismus …. Vielleicht spürten manche unterbewusst Freude darüber, dass das Übel aus Russland geschwemmt wurde, dass es grundlegende Veränderungen geben würde“.217 Kaum jemand habe damals damit gerechnet, dass die Rückkehr zu der gespenstischen stalinistischen Wirklichkeit der Vorkriegszeit möglich sei, so Wat: „Alle glaubten, wenn diese Woge der Millionen Helden und Märtyrer von der

212 Ebd., S. 194f. 213 Georgij Fedotov, Revoljucija idet [Die Revolution kommt], in: Sovremennye zapiski, Nr. 39, 1929, S. 306–359. 214 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 2, S. 14 f., S. 273. 215 Ebd., S. 308, S. 310, S. 319. 216 Gefter, Iz tech i ėtich let, a.a.O., S. 418. 217 Aleksander Wat, Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen, Frankfurt am M. 2000, S. 516 f.

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Front zurückkäme, dann könnte kein Stalin mehr etwas ausrichten, dann würde Russland sich ändern, und zwar von Grund auf“.218 Diese Beobachtungen Wats werden durch zahlreiche russische Zeugnisse von damals bestätigt. Kühne Zukunftsvisionen entwarfen in den Kriegsjahren sogar derart treue Diener Stalins wie der populäre Schriftsteller Aleksej Tolstoj. Am 22. Juli 1943 schrieb er in sein Notizbuch: „Das Volk wird nach dem Krieg vor nichts mehr Angst haben. Es wird neue Forderungen stellen und Eigeninitiative entwickeln …. Die chinesische Mauer zwischen Russland … und der Außenwelt wird fallen.“219 Die von der Front zurückkehrenden Soldaten, die allerhand gesehen hätten, würden nun ganz neue Maßstäbe im Lande setzen, so der Dichter Nikolaj Aseev im Oktober 1944.220 Das Zwangskorsett der stalinistischen Ideologie lockerte sich nach Kriegsbeginn ebenfalls auf. Als Wat im Kreise prominenter sowjetischer Schriftsteller danach fragte, was sie vom Sozrealismus hielten, also von einem Kanon, den die stalinistischen Funktionäre seit 1934 als verpflichtend für alle Künstler ansahen und jede Abweichung von ihm nicht selten mit dem Tode bestraften, erhielt Wat folgende Antwort: „Na wissen Sie, darüber redet man auf Versammlungen, man schreibt über den Sozrealismus, aber in anständiger Gesellschaft spricht man nicht davon.“221 Diese Antwort versah Wat mit folgendem Kommentar: „Das stimmte tatsächlich. Es gab keine Slogans, keine Losungen, keinen Kommunismus.“ 222 Die vorübergehende Lockerung der stalinistischen Kontrollmechanismen kam nicht nur den Intellektuellen, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten zugute, nicht zuletzt den Kolchosbauern, deren Bewegungsfreiheit seit der Kollektivierung der Landwirtschaft, insbesondere aber seit der Einführung der Inlandspässe im Dezember 1932 erheblich eingeschränkt war. Nur die Inhaber der neuen Pässe hatten das Recht ihren Wohnort relativ frei zu wechseln. Da die Kolchosbauern diese Ausweise in der Regel nicht erhielten, wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, quasi zu Leibeigenen des Staates. Um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, gaben die Bauern der bolschewistischen Partei einen neuen Namen. Die 218 Ebd., S. 591. 219 Zitiert nach Jurij Okljanskij, Roman s tiranom [Die Liebesaffäre mit einem Tyrannen], Moskau 1994, S. 69. 220 Denis Babičenko, Pisateli i cenzory. Sovetskaja literatura 1940-ch godov pod političeskim kontrolem CK, [Schriftsteller und Zensoren. Die sowjetische Literatur der 1940er Jahre unter der politischen Kontrolle des ZK], Moskau 1994, S. 98. 221 Wat, Jenseits von Wahrheit und Lüge, a.a.O., S. 586. 222 Ebd.

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Abkürzung VKP(b), Allunions Kommunistische Partei der Bolschewiki, mutierte im Volksmunde zum ‚Vtoroe Krepostnoe Pravo‘, die ‚Zweite Leibeigenschaft‘. Kurz nach Kriegsausbruch fand aber in Russland eine wahre Völkerwanderung statt. Wat, der Ende 1941 aus dem NKVD-Gefängnis entlassen wurde, berichtet darüber: „Ein großer Prozentsatz der Bevölkerung durfte die [jeweilige] Region nicht ohne einen Passierschein vom NKVD verlassen. Aber plötzlich wurde das alles hinfällig, die Wogen des Krieges rissen diese Schranken weg, und Russland war in Bewegung.“ 223 Aber bereits ein Jahr später, noch vor dem Sieg von Stalingrad, begann das zunächst verunsicherte Regime, das ‚verlorene innenpolitische Terrain‘ wiederzugewinnen und zur früheren Rigidität zurückzukehren. Wat sagt: Der „Bruch im Rückgrat des Systems [war] inzwischen verheilt. Es herrschte absolute Ordnung. Alle Akten waren an Ort und Stelle. Dann wurde auch der Völkerwanderung Einhalt geboten, denn ohne Erlaubnis des NKVD durfte man gar nicht mehr reisen.“224 Hand in Hand mit dieser Wiederherstellung der vorübergehend erschütterten totalitären Strukturen ging die zunehmende Stalin-Euphorie im Lande, die Wat mit Verblüffung registrierte. Sogar manche kritisch denkende Intellektuelle wurden von ihr erfasst, dies insbesondere nach Stalingrad: „Der große Retter Russlands!’. Alle sagten das. Lenin war nicht so beliebt, er war in Russland nie so beliebt gewesen, wie Stalin in diesem kurzen Zeitraum zwischen dem Sieg von Stalingrad und dem Ende des Krieges. … Plötzlich glätteten sich in jedermanns Vorstellung die tierischen Züge Stalins, sie verschwanden durch irgendeinen Zauber.“225 Nur wenige hätten diese rosigen Hoffnungen nicht geteilt, sagt Wat. Zu diesen Wenigen habe zum Beispiel der Filmregisseur Sergej Eisenstein gehört, von dem Wat berichtet, er habe die optimistischen Zukunftsvisionen seiner Landsleute oft mit einem ironischen Lächeln quittiert.226 Warum verknüpften viele Gesprächspartner Wats ihre Hoffnungen auf die Liberalisierung des Systems, auf die Auflösung von Kolchosen und menschenwürdiges Leben ausgerechnet mit einem der größten politischen Verbrecher der Geschichte? 227 Diese allgemein verbreitete Fehleinschätzung Stalins war wohl mit der Illusion verbunden, der Kreml-Despot sei lernfähig. Er habe nach dem Hitlerschen Überfall auf die Sowjetunion letztendlich begriffen, dass nicht die Erstickung, sondern nur die Förderung der Eigeninitiative der Gesellschaft sein Regime retten könne. 223 Ebd., S. 568. 224 Ebd., S. 625. 225 Ebd., S. 630 f. 226 Wat, Mój wiek, Band 2, S. 189, S. 268, S. 270. 227 Ebd., S. 189, S. 268, S. 270.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

Dass Stalin in Wirklichkeit jede spontane gesellschaftliche Regung als tödliche Gefahr für seine Herrschaft betrachtete, die er nur vorübergehend zu dulden bereit war, sollte sich erst allmählich herausstellen.228 Aber nicht nur die von der Außenwelt abgeschotteten und indoktrinierten Sowjetbürger erlagen der Illusion, die Errichtung eines stalinistischen Regimes mit ‚menschlichem Antlitz‘ sei möglich. Ähnlich dachten damals auch zahlreiche Vertreter des britischen und amerikanischen Establishments, nicht zuletzt der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt. Um das Bündnis der angelsächsischen Demokratien mit dem sowjetischen Regime zur Zeit der Anti-Hitler-Koalition zu legitimieren, neigte die amerikanische und die britische Presse zur Beschönigung der Stalinschen Schreckensherrschaft, 1942 wurde Stalin vom Time-Magazin sogar zum Mann des Jahres auserkoren. Erst nach 1945 fand im Westen, ähnlich wie in der Sowjetunion, die damals eine Disziplinierungskampagne nach der anderen erlebte, eine allgemeine Desillusionierung statt. Nun aber zurück zu den Betrachtungen Wats über das ‚janusköpfige“ Russland. Während das ‚europäische‘ und das ‚leidende‘ Russland uneingeschränkte Sympathien Wats genießt, ruft ein Segment der russischen Gesellschaft seinen besonderen Abscheu hervor. Dies sind die alten Bolschewiki – die Urheber der bolschewistischen Tyrannei, die später zu ihren Opfern wurden. Keine andere Opfergruppe habe sich in den stalinistischen Gefängnissen so erbärmlich und unwürdig verhalten wie diese einstigen Helden der Revolution und des Bürgerkrieges. Kaum jemand habe vor den Terrororganen so schnell kapituliert wie sie, so Wat.229 Warum hatten sich viele von ihnen während der Schauprozesse derart erniedrigen lassen? Warum hatten sie nicht versucht, mindestens den Rest ihrer Menschenwürde zu bewahren? War das die Folge von Folterungen? Diese Fragen stellte Wat dem langjährigen Chefredakteur der Zeitung Izvestija Jurij Steklov, den er im Gefängnis von Saratov traf. Die Antwort Steklovs war sehr aufschlussreich. Wohl aufschlussreicher als diejenige, die Arthur Koestler in seinem Roman Sonnenfinsternis liefert. Nicht der Glaube an die ‚höhere Vernunft‘ der Partei, nicht der Glaube an kommunistische Ideale habe sie zur Selbstaufgabe veranlasst, sondern vielmehr eine weitgehende moralische Degradierung. Die verhafteten Helden der Revolu­tion seien selbst an derart vielen Verbrechen beteiligt gewesen, an ihren Händen habe so viel Blut geklebt, dass sie nicht die moralische Kraft

228 Vgl. dazu unter anderem Abdurachman Avotorchanov, Zagadka smerti Stalina (zagovor Berija) [Das Rätsel um Stalins Tod (Die Verschwörung Berijas)], Frankfurt am M. 1976, S. 16–17. 229 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 2, S. 149, S. 164.

1.6 Das ‚janusköpfige Russland‘ und der deutsch-sowjetische Krieg …

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gehabt hätten, sich der Terrormaschinerie, die sie selbst mitentwickelt hatten, zu widersetzen, als diese Maschinerie sich gegen ihre eigentli­chen Urheber wandte.230 Der stalinistische Terror stellt für Wat die eigentliche Quintessenz der kommunistischen Utopie dar. Erst im Stalinismus habe der Marxismus–Leninismus zu sich selbst gefunden. Wat sagt: „Ich behauptete immer, dass der Stalinismus, und zwar insbesondere der Stalinismus in den Jahren 1937, 1941, der Stalinismus mit diesem sagenhaften Terror die einzige vollkommene, reine Verwirklichung des Marxismus war. Das sind alte Wahrheiten, die alten Historiker, die Griechen, haben das schon festgestellt, dass der Plebs immer einen Diktator wählt, der Plebs will einen Führer, einen Diktator, er will den Terror, das gilt nicht nur für den Marxismus und den Leninismus.“ 231 Damit widerspricht Wat indirekt denjenigen kommunistischen Kritikern Stalins, die behaupten, Stalin habe das Vermächtnis Lenins verfälscht. Und in der Tat, viele Visionen Lenins sind erst von Stalin verwirklicht worden: der Traum von der Abschaffung des Privateigentums und des freien Marktes, der Traum von der Disziplinierung der bolschewistischen Partei und schließlich der Traum von der Erschaffung eines ‚neuen Menschen‘, dessen Verwirklichung in der Leninzeit auf unzählige Hindernisse stieß. Erst Stalin ist es ‚gelungen‘, diese Hindernisse weitgehend zu beseitigen. Mit besonderer Anschaulichkeit beschreibt Wat die Mittel, mit deren Hilfe der Kreml-Despot die wohl beispiellose ‚anthropologische Revolution‘ durchführte. Um einen neuen Menschen zu erschaffen, habe die Stalin-Riege eine neue fiktive Welt errichtet, in der die Gesetze der ‚alten‘, sogenannten ‚objektiven‘ Logik nicht mehr galten, eine Welt ‚jenseits von Wahrheit und Lüge‘. Hier wurde eine monströse Tyrannei als das ‚freieste Land auf Erden‘, der brutale Despot als Wohltäter der Menschheit und als Sinnbild des Fortschritts bezeichnet und so weiter.232 Wat ist sich darüber im Klaren, dass seine Interpretation des Stalinismus mit dem Orwellschen Konzept große Übereinstimmungen aufweist. Er bewundert die Orwellsche Intuition. Ungeachtet der Tatsache, dass der Autor von 1984 das stalinistische Regime, im Gegensatz zu Wat selbst, nur von außen kannte, habe er seine Struktur scharfsinnig erfasst: „Man kann nicht genauer und genialer das Wesen des Stalinismus beschreiben“.233 Die Tatsache, dass der Stalinismus der Fiktion beziehungsweise der Übereinstimmung der Praxis mit der Theorie eine derart große Bedeutung beimesse, führe dazu, so Wat, dass Schriftsteller in diesem System eine 230 Ebd., S. 225 f.; Wat, Dziennik bez samogłosek, a.a.O., S. 210. 231 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 1, S. 212. 232 Ebd., a.a.O., Band 1, S. 361; Band 2, S. 44. 233 Wat, Morialia, in: Dziennik, a.a.O., S. 14.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

äußerst privilegierte Stellung einnehmen. In seinen Tagebuchnotizen schreibt Wat: „Daher diese Paradoxie, dass im Lande der Diktatur des Proletariats ein Schriftsteller unvergleichlich mehr verdient als ein Arbeiter, dass er sich an der Spitze der ‚happy few‘ befindet. Wehe ihm aber, wenn er seinen Auftrag nicht erfüllt“.234 Wat weist darauf hin, dass eine äußerst wichtige Funktion bei der Erschaffung eines ‚neuen Menschen‘ die stalinistischen ‚Erziehungs-und Arbeitslager‘ erfüllten. Sie hätten aber nicht in erster Linie der ‚Erziehung’ der Lagerinsassen gedient. Nein, Stalins Primärziel sei eine anthropologische Umwandlung der gesamten Bevölkerung der Sowjetunion gewesen, also auch derjenigen, die sich noch nicht im Gulag befanden.235 Aber die permanente Angst vor einer Verhaftung habe sie, quasi im ‚vorauseilenden Gehorsam‘ – hier paraphrasiere ich Wat –, zu mustergültigen Stalinisten gemacht. Wat ist davon überzeugt, dass es sich bei den Urhebern des stalinistischen Systems um äußerst intelligente Kenner der menschlichen Psyche, wie auch der Pavlov’schen Reflextheorie handele. Sie seien sicher auch mit den orientalischen Denkmodellen gut vertraut, in denen Paradoxien und schockierende Sinnwidrigkeiten eine außerordentlich wichtige ‚erzieherische‘ Rolle spielten.236 Diese Theorie von ‚dämonischen Übermenschen‘, die angeblich die absurde stalinistische Welt konzipiert und errichtet hätten, stimmt mit anderen Aussagen Wats indes nicht überein. Er spricht von einer permanenten physischen Vernichtung der russischen Intelligenz, auch der Parteiintelligenz, von einer Degradierung des intellektuellen Niveaus der Herrschenden, von der stalinistischen Hofkamarilla, in der die Mittelmäßigkeit, Plattheit und feige Niederträchtigkeit dominierten.237 So kann man, zumindest wenn es sich um die engste Umgebung Stalins handelt, eher von der ‚Banalität‘ als von der ‚Dämonie des Bösen‘ sprechen. Wat geht nicht nur mit den alten Bolschewiki, sondern auch mit den westlichen Kommunisten und Fellow-travelers hart ins Gericht. Anders als die von der Außenwelt völlig abgeschotteten Sowjetbürger seien die westlichen Linken über den tatsächlichen Preis, den die sowjetische Bevölkerung für den Aufbau des ‚sozialistischen Paradieses auf Erden‘ bezahlen musste, recht gut informiert gewesen. Bereits Anfang der dreißiger Jahre kursierte in den westlichen Medien die Zahl von fünf Millionen Toten, die die Kollektivierung der sowjetischen Landwirt-

234 Ebd., S. 45. 235 Wat, Mój wiek, Band 2, S. 115; Ders., Kartki na wietrze [Die Zettel im Wind], in: Dziennik, S. 181. 236 Wat, Mój wiek, Band 1, S. 236, S. 301, S. 364, Band 2, S. 114. 237 Ebd., Band 2, S. 166, S. 364.

1.6 Das ‚janusköpfige Russland‘ und der deutsch-sowjetische Krieg …

97

schaft nach sich gezogen hätte.238 Diese Zahl war auch vielen linken Gesprächspartnern Wats von damals vertraut. Ihr Glaube an die kommunistischen Ideale wurde dadurch aber in keiner Weise erschüttert, denn ‚der Fortschritt erfordert seinen Preis‘ – dies sei ihre Devise gewesen. Wat schildert, mit welcher Selbstverständlichkeit feinfühlige und sanftmütige Intellektuelle aus seiner unmittelbaren Umgebung sich damit abfanden, dass Grausamkeit und uferlose Gewalt durchaus ihre Berechtigung hätten, wenn sie der ‚richtigen‘ Politik dienten.239 Besonders entsetzt ist aber Wat darüber, dass er damals selbst ähnlich dachte. In einem seiner Gespräche mit Czesław Miłosz sagt er: „Nein, mir graust eher vor Blut. Aber weißt du, es geht um dieses abstrakte Blut, dieses unsichtbare Blut auf der anderen Seite der Mauer, wie Pascal von dieser Seite des Flusses, schreibt. Das Blut, das drüben, auf der anderen Seite des Flusses vergossen wird – wie rein und großartig muss die Sache sein, für die so viel Blut, unschuldiges Blut vergossen wird. Das übte eine unglaubliche Anziehungskraft aus … Ich unterstütze den Kommunismus, obwohl ich weiß, dass der Kommunismus schwerwiegende Folgen hat. Aber ich bin nicht sündig, denn die Sünde hat ja Lenin, mein Erlöser, auf sich genommen.“240 Auf die Dauer konnte allerdings Wat sein ethisches Empfinden nicht ausschalten. Die Zahl von fünf Millionen russischen Bauern, die für die Beseitigung des Privateigentums auf dem Lande mit ihrem Leben bezahlen mussten – in Wirklichkeit war diese Zahl noch höher –, kam ihm nicht mehr aus dem Sinn. Hier unterschied er sich von seinen linksgesinnten Freunden, zum Beispiel vom Dichter Władysław Broniewski, die meinten, das Schicksal der russischen ‚Mushiks‘  – Bauern – gehe sie nichts an.241 Es stellte sich nun heraus, dass die ideologische Verblendung Wats nicht stark genug war, um die Stimme seines Gewissens gänzlich zu betäuben. Er erwachte aus seinem ‚dogmatischen Schlaf‘ und verließ die ‚kommunistische Kirche‘, 242 in der er sich für einige Jahre sehr geborgen fühlte. Wats Bruch mit dem Kommunismus vollzog sich unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, als die immer größer werdende faschistische Gefahr viele zweifelnde Kommunisten daran hinderte, sich vom Kommunismus zu distanzieren. Die stalinistische Sowjetunion galt ihnen als die einzige noch verbliebene antifaschistische Bastion. Wat reagierte auf diese Entwicklung völlig anders. Er entdeckte verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem national238 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 2, S. 172. 239 Ebd., Band 1, S. 139, S. 198. 240 Zitiert nach Wat, Jenseits von Wahrheit und Lüge, a.a.O., S. 75 f. 241 Wat, Mój wiek, a.a.O., Band 1, S. 237. 242 Ebd., S. 71.

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1  Der Streit um den Charakter Russlands

sozialistischen und dem stalinistischen Regime, und diese Tatsache bestärkte ihn lediglich in seinem Entschluss, alle Brücken hinter sich zu verbrennen.243 Die kurze ‚Liebesaffäre‘ mit dem Kommunismus stellte nur eine Episode in Wats Biographie dar, aber eine entscheidende Episode. Da er die totalitäre Versuchung, der unzählige Intellektuelle des 20. Jahrhunderts erlagen, selbst erlebte, konnte er so glaubwürdig vor ihr warnen.

243 Ebd., S. 228 f.

Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität am Beispiel der Eurasierbewegung

2.1

2

Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang

Die Eurasierbewegung, die sich 1921 im russischen Exil konstituierte, gehört zu den interessantesten und originellsten Strömungen des nachrevolutionären Russland. Diese Meinung vertraten viele Beobachter bereits kurz nach dem Entstehen der Bewegung.244 Es wurde ihr nicht nur von Sympathisanten, sondern auch von Gegnern eine große Zukunft vorausgesagt. Die von den Eurasiern aufgeworfenen Themen wurden in den publizistischen Organen der russischen Emigration ausführlich diskutiert. Die Eurasier selbst entwickelten eine rege publizistische Tätigkeit und gaben, vor allem in den zwanziger Jahren, viele Bücher, Broschüren und 244 Siehe dazu unter anderem Fedor Stepun, Evrazijskij vremennik, kniga tret’ja, in: Sovremennye zapiski 21 (1924), S. 400–407; Boris Šlecer, Zakat Evropy [Der Untergang Europas], in: Sovremennye zapiski 12 (1922), S. 339–348; Nikolaj Berdjaev, Evrazijcy [Die Eurasier], in: Put’ l (1925), S. 134–139; Marian Zdziechowski, Eurazjatyzm rosyjski [Das russische Eurasiertum], in: Ders., Europa, Rosja, Azja. Szkice polityczno-literackie [Europa, Russland, Asien. Politisch-literarische Skizzen], Wilno 1923, S. 274–290; Hans v. Rimscha, Russland jenseits der Grenzen 1921–1926. Ein Beitrag zur russischen Nachkriegsgeschichte, Jena 1927, S. 182–193; Simon Frank, Biografija P. B. Struve [Die Biografie von P. B. Struve], New York 1956, S. 146–147; Iosif Gessen, Gody izgnanija. Žiznennyj otčet [Die Jahre der Verbannung. Ein Lebensbericht], Paris 1979, S. 201; Ustrjalov, Pod znakom revoljucii, a.a.O., S. 415; Michael Gorlin, Die philosophisch-politischen Strömungen in der russischen Emigration, in: Osteuropa 8 (1932/33), S. 279–294. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Luks, Europäisch oder Eurasisch?, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29626-1_3

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

Periodika heraus.245 In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre sollte jedoch diese Bewegung, die zunächst so viel Aufsehen erregt hatte, zerfallen, ohne allzu große Spuren zu hinterlassen. Statt das Leben der russischen Emigration wirksam zu beeinflussen, blieben die Eurasier ein elitärer Zirkel, dem Breitenwirkung versagt war. Trotz dieser Erfolglosigkeit verdienen die Eurasier sicher mehr Interesse, als ihnen seitens der Nachkriegshistoriographie zuteil geworden ist [der Aufsatz wurde 1986 veröffentlicht, also einige Jahre vor der unerwartetten Renaissance der eurasischen Ideen in Russland – L.L.]. Auch als historische Erscheinungen sind die Eurasier faszinierend. Der Münchner Historiker Otto Böss trug mit seiner 1961 erschienenen Monographie zur Eurasierbewegung sehr viel dazu bei, sie der Vergessenheit zu entreißen. Einige Aufsätze zum Thema veröffentlichte Nicholas Riasanovsky, kleine Kapitel widmeten den Eurasiern Vasilij Zen’kovskij, Sergej Utechin, Robert C. Williams, Gleb Struve und Michail Agurskij in ihren Abhandlungen zur russischen Ideengeschichte beziehungsweise zur russischen Emigration. Schließlich erschienen 1982 und 1985 zwei Arbeiten Charles J. Halperins über Georgij Vernadskij, den wohl bedeutendsten Historiker der Eurasierbewegung.246 245 Der ersten programmatischen Schrift: Ischod k vostoku. Predčuvstvija i sveršenija. Utverždenie evrazijcev [Der Auszug nach Osten. Vorahnungen und Erfolge. Die Thesen der Eurasier], Sofia 1921, folgten in den nächsten Jahren die Sammelbände: Na putjach. Utverždenie evrazijcev. Kniga vtoraja [Unterwegs. Die Thesen der Eurasier. Das 2. Buch], Moskau u. Berlin 1922; Evrazijskij vremennik. Kniga tret‘ja, Berlin 1923; Evrazijskij vremennik. Kniga četvertaja, Berlin 1925; Evrazijskij vremennik. Kniga pjataja, Paris 1927; Rossija i latinstvo. Sbornik statej [Russland und das Lateinertum. Eine Aufsatzsammlung], Berlin 1923; Evrazijskij sbornik. Kniga VI [Eurasischer Sammelband. 6. Buch], Prag 1929; Tridcatye gody. Utverždenie evrazijcev. Kniga VII [Die dreißiger Jahre. Die Thesen der Eurasier. 7. Buch], Izdanie evrazijcev 1931; Novaja ėpocha. Ideokratija. Politika. Ėkonomika. Obzory [Die Neue Epoche. Ideokratie. Politik. Wirtschaft. Umschau], hg. v. Vasilij Pejl’, Narva 1933; von 1925 bis 1937 erschien periodisch die Evrazijskaja chronika [Die eurasische Chronik] und in den Jahren 1928/29 die Zeitung Evrazija. 246 Otto Böss, Die Lehre der Eurasier. Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961; Nicholas Riasanovsky, The Emergence of Eurasianism, in: California Slavic Studies 4 (1967), S. 39–72; Ders., Prince N. S. Trubetskoy‘s ‚Europe and Mankind‘, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 12 (1964), S. 207–220; Ders., Asia through Russian Eyes, in: Wayne S. Vucinich, Russia and Asia. Essays on the Influence of Russia on the Asian Peoples. Stanford, California 1972, S. 3–29; Zen’kovskij, Russkie mysliteli i Evropa, a.a.O., S. 157–167; Sergej V. Utechin, Geschichte der politischen Ideen in Russland, Stuttgart 1966, S. 240–244; Robert C. Williams, Culture in Exile. Russian Émigrés in Germany 1881–1941, Ithaca

2.1 Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang

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Dennoch bleiben noch viele Fragen offen. Die Aufmerksamkeit der oben genannten Autoren war in erster Linie auf den Inhalt und die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Eurasier-Lehre gerichtet. Weniger beachtet dagegen wurde die Frage nach den Ursachen für den rasanten Aufstieg und für das ebenso rasche Scheitern der Eurasierbewegung. Auch eine andere, eng damit verbundene Frage wurde bisher vernachlässigt: die nach der Stellung der Eurasier im politisch-ideologischen Spektrum Europas in der Zwischenkriegszeit. Diese Fragen bilden den Schwerpunkt des vorliegenden Aufsatzes. Mit einer systematischen Analyse der Eurasier-Lehre, wie sie vor allem von Böss und von Riasanovsky vorgenommen wurde, wird sich dieser Beitrag nicht befassen.

2.1.1 Der ‚Auszug nach Osten?‘ Wenn man nach den Ursachen für die große Resonanz sucht, die die Eurasier mit ihren ersten programmatischen Schriften im russischen Exil erzielten, muss man zunächst auf Folgendes hinweisen: Im Gegensatz zur Mehrheit der Emigranten, die der russischen Katastrophe immer noch fassungslos gegenüberstanden, sahen die Eurasier in der Tragödie der Revolution und des Bürgerkrieges einen tieferen Sinn. Statt Verzweiflung verbreiteten sie Zuversicht; gerade aufgrund der erfahrenen Prüfungen schien ihnen Russland dem Westen entschieden überlegen. Das grauenhafte Erlebnis des Weltkrieges sei am Westen spurlos vorübergegangen, schrieb der Eurasier Petr Suvčinskij. Den Westeuropäern sei es sehr schnell gelungen, den Abgrund zuzuschütten, der sich aufgetan hätte. Es sei allein das Verdienst der rus-

u. London 1972, S. 258–261; Gleb Struve, Russkaja literatura v izgnanii [Die russische Literatur im Exil], New York 1956, S. 40–49, sowie S. 73–79; Michail Agurskij, Ideologija nacional-bol‘ševizma [Die Ideologie des National-Bolschewismus], Paris 1980, S. 98–102; Charles. J. Halperin, George Vernadsky, Eurasianism, the Mongols and Russia, in: Slavic Review 41 (1982), S. 477–493; Ders., Russia and the Steppe: George Vernadsky and Eurasianism, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 36 (1985), S. 55–194; siehe dazu auch Otto Böss, Zur Wirtschaftskonzeption der ‚Eurasier‘, in: Probleme des Imperialismus in Ost und West. Festschrift für Hans Raupach, hg. v. Werner Gumpel u. Dietmar Keese, München u. Wien 1973, S. 481–492; G. Edward Orchard, The Eurasian School of Russian Historiography, in: Laurentian University Review 10 (1977), S. 97–106; Heinrich A. Stammler, Europa – Russland – Asien. Der ‚eurasische‘ Deutungsversuch der russischen Geschichte, in: Osteuropa 12 (1962), S. 521–528.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

sischen Revolution, dass die Tragödie des Weltkrieges ein tragisches, das heißt ihr angemessenes, und kein banales Finale gefunden habe.247 Aufgrund der doppelten Katastrophe, die Russland erlebte – Weltkrieg und Revolution –, befanden sich die Russen nach Ansicht der Eurasier bereits in einer neuen Epoche. Ihnen habe sich eine Sicht der Dinge geöffnet, die den Westeuropäern versperrt geblieben sei. Dieses geschärfte Katastrophenbewusstsein sollte den geschlagenen und zur Flucht in die Fremde gezwungenen Gegnern der Bolschewiki ein Überlegenheitsgefühl gegenüber ihren Gastländern vermitteln. Mit dieser Interpretation der russischen Geschehnisse konnten die Eurasier in einigen Emigrantenkreisen sehr schnell Erfolge verbuchen. Das Gefühl, eine höhere Bewusstseinsebene erreicht zu haben, trug zum Selbstbewusstsein dieser Emigranten wesentlich bei. Aber die Eurasier appellierten nicht nur an Gefühle. Die eigentliche Stärke ihrer Lehre war die Verbindung von starker Emotionalität mit wissenschaftlicher Vorgehensweise. An der Entwicklung der eurasischen Ideologie beteiligten sich Ethnographen, Linguisten, Historiker, Geographen, Philosophen, Theologen, Rechtswissenschaftler und andere. Insoweit unterschied sich die Eurasier-Lehre von der Mehrheit der Ideologien, die im Europa der Zwischenkriegszeit entstanden.248 Hier waren nicht Autodidakten und politische Doktrinäre, sondern Menschen mit wissenschaftlicher Prägung am Werk, die die Kunst der scharfsinnigen Analyse und der klaren Argumentation beherrschten.249 Deshalb war das von den Eurasiern errichtete Gebäude nicht leicht zu erschüttern, obwohl ihre Thesen die Mehrheit der russischen Emigranten außerordentlich provozierten. Die Originalität der Eurasier bestand darin, dass sie den asiatischen Komponenten in der russischen Geschichte und Gegenwart wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenkten, als dies bis dahin üblich gewesen war. Die mangelnde Beachtung des 247 Petr Suvčinskij, Ėpocha very [Die Epoche des Glaubens], in: Ischod k vostoku, a.a.O., S. 14–27; Ders., Večnyj ustoj [Das ewige Fundament], in: Na putjach, a.a.O., S. 99– 133; siehe dazu auch Petr Savickij, K obosnovaniju evrazijstva [Zur Begründung des Eurasiertums], in: Rul‘ v. 10. Januar 1922. 248 Man darf aber auf der anderen Seite nicht außer Acht lassen, dass es sich bei der Eurasier-Lehre, trotz ihrer wissenschaftlichen Komponenten, in erster Linie um eine Ideologie handelte. Daher ist es nicht immer ergiebig, die Thesen der Eurasier vor allem am Grad ihrer Wissenschaftlichkeit zu messen, wie dies zum Beispiel Charles J. Halperin tut; vgl. dazu seine Schrift Russia and the Steppe: George Vernadsky and Eurasianism, a.a.O.; dadurch wird die eigentliche Bedeutung der Eurasier verkannt. 249 Halperin tut den Eurasiern Unrecht, wenn er sie als Autodidakten bezeichnet – Russia and the Steppe, a.a.O., S. 75. Zumindest in Bezug auf die führenden Ideologen der Eurasierbewegung trifft dieser Vorwurf nicht zu.

2.1 Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang

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asiatischen Elements in der russischen Tradition war sicher damit verbunden, dass Russland seit Peter dem Großen unentwegt um den Ruf einer europäischen Macht kämpfte. Die westliche Öffentlichkeit ihrerseits reagierte auf diese Bemühungen in der Regel recht skeptisch. Die These, Russland sei eine Art Fremdkörper in Europa, es sei, trotz seiner oberflächlichen Europäisierung, in seinem Wesenskern ,asiatisch‘ geblieben, war im Westen sehr verbreitet. Dabei wurde ‚europäisch‘ mit ‚westlich‘ gleichgesetzt; dass Europa auch einen Osten hat, ließ man in der Regel außer Acht. Gegen einen so verkürzten Europa-Begriff protestierten viele russische Autoren meist vergeblich.250 Die russische Revolution lieferte der Diskussion zusätzlichen Zündstoff. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb 1925, die bolschewistische Herrschaft habe die Re-Asiatisierung Russlands bewirkt. Russland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst.251 Argumente dieser Art riefen bei führenden Vertretern der russischen Intelligencija apologetische Reaktionen hervor. Sie versuchten um jeden Preis zu beweisen, dass Russland ein Bestandteil Europas sei. Ganz anders verhielten sich die Eurasier. Auf den westlichen Isolationismus antworteten sie mit einem ebenso ausgeprägten östlichen Isolationismus. Auch sie waren der Meinung, dass Russland nur versehentlich der europäischen Staatenge­meinschaft angehört habe, in Wirklichkeit habe es in Europa nichts zu suchen. Es müsse sich dem Osten zuwenden und das Fenster nach Europa, das Peter der Große öffnete, schließen. Ihr erster Sammelband trug den programmatischen Titel Ischod k Vostoku – Der Auszug nach Osten. Ihre Zuwendung zum Osten unterstrichen die Eurasier durch die Verklärung der Periode der Tatarenherrschaft in der russischen Geschichte, wodurch sie gegen traditionelle russische Empfindungen verstießen. Da Böss, Riasanovsky und Halperin sich mit der Neubewertung des ‚Tatarenjochs‘ durch die Eurasier ausführlich befassten, sollen hier nur einige Sätze dieser Problematik gewidmet werden. Nikolaj. Trubeckoj, Petr Savickij, Georgij Vernadskij und andere Eurasier hielten nicht das Kiever Russland, sondern das Imperium Dschingis Khans für den direkten Vorläufer des russischen Reiches.252 Das Kiever Russland habe nur 250 Besonders intensiv setzte sich mit dieser Frage der Kulturhistoriker Vladimir Vejdle auseinander; vgl. dazu unter anderem Vladimir Vejdle, Tri Rossii [Drei Gesichter Russlands], in: Sovremennye zapiski Nr. 65 (1937), S. 304–322; Ders., Rossija i Zapad [Russland und der Westen], in: Sovremennye zapiski Nr. 67 (1938), S. 260–280; Ders., Zadača Rossii, a.a.O.; Wladimir Weidlé, Russland. Weg und Abweg, Stuttgart 1956, nach der französischen Originalausgabe La Russie absente et présente. 251 Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, a.a.O., S. 119. 252 Petr Savickij, Step’ i osedlost‘ [Steppe und Sesshaftigkeit], in: Na putjach, S. 341–356; I. R. (i.e. Nikolaj S. Trubeckoj), Nasledie Čingischana. Vzgljad na russkuju istoriju

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ein Zwanzigstel des heutigen russischen Territoriums umfasst, schrieb Trubeckoj, das Mongolenreich hingegen habe territorial dem heutigen Russland ungefähr entsprochen. Dschingis Khan sei der erste Vertreter der grandiosen Idee von der Einheit des Territoriums gewesen, das die Eurasier als einen eigenständigen Kontinent ‚Eurasien‘ bezeichneten. Für Trubeckoj war die Staatsidee des Kiever Russland anders als die des Mongolenreiches provinziell. Die unterdrückten Russen hätten zunächst die Idee des mongolischen Universalreiches als etwas Fremdes empfunden, ihrer Faszination hätten sie sich aber auf die Dauer nicht entziehen können. Im 16. Jahrhundert habe das Großfürstentum Moskau von den Tataren die Idee der Einheit Eurasiens übernommen.253 Obwohl diese Neubewertung der Tatarenherrschaft nicht nur historische, sondern auch aktuelle Implikationen besaß, beschränkte sich die Diskussion zu dieser Frage in der Regel auf die Zunft der Gelehrten. Höhere Wellen schlugen indes andere Thesen der Eurasier. So vor allem deren Kritik am Westen wie auch deren Charakterisierung von Ursachen und Wesen der russischen Revolution. Leidenschaftliche Kontroversen, die die Eurasier auf diesen beiden Gebieten auslösten, trugen zu ihrem raschen Aufstieg bei. Deshalb soll hier zunächst auf den eigentne s Zapada a s Vostoka [Das Erbe Dschingis Khans. Der Blick auf die russische Gescichte nicht aus westlicher, sondern aus östlicher Perspektive], Berlin 1925, S. 3–4; Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, a.a.O, S. 37–38; Georgij Vernadskij, Načertanie russkoj istorii. Čast’ pervaja [Abriss der russischen Geschichte. Teil 1], Evrazijskoe knigoizdatel’stvo 1927, S. 17. 253 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 3–5, S. 18–23. Zur Revision der in Russland bis dahin vorherrschenden Meinung über die Tatarenherrschaft trugen neben Trubeckoj auch professionelle Historiker bei, so in erster Linie Georgij Vernadskij und Sergej G. Puškarev – zu Vernadskij siehe vor allem Halperin, Russia and the Steppe, a.a.O.; 1927 schrieb Puškarev, die bei den Russen weit verbreitete Ansicht, Russland habe einen Kampf auf Leben und Tod mit dem barbarischen Osten geführt, um die europäische Zivilisation vor ihm zu bewahren, sei unbegründet; in Wirklichkeit sei es Russland immer wieder gelungen, einen modus vivendi mit dem Osten zu finden, gegen den Westen hingegen habe es beinahe ununterbrochen kämpfen müssen: vgl. Sergej G. Puškarev, Rossija i Evropa v ich istoričeskom prošlom [Russland und Europa in ihrer geschichtlichen Vergangenheit], in: Evrazijskij vremennik 5 (1927), S. 127– 152. Später, nach seinem Bruch mit den Eurasiern, revidierte Puškarev seine Thesen. Es habe in der Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nicht nur erbitterte Kämpfe, sondern auch, manchmal zur gleichen Zeit, Elemente der harmonischen Zusammenarbeit gegeben. Bei seinen Analysen habe er sich seinerzeit vor allem auf das Verhältnis zwischen Pskov und dem äußerst aggressiven Deutschen Orden konzentriert. Die Tatsache, dass Novgorod zur gleichen Zeit ein ganz anderes Modell der Beziehungen zum Westen entwickelte, habe er vernachlässigt: vgl. Sergej G. Puškarev, O russkoj ėmigracii v Prage (1921–1945) [Über die russische Emigration in Prag 1921–1945], in: Novyj žurnal 151 (1983), S. 138–146.

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lichen Kern der eurasischen Ideologie, nämlich auf ihre Kritik an der westlichen Kultur, ausführlicher eingegangen werden. Diese Kritik übertraf in ihrer Radikalität all das, was in Russland bis dahin zu diesem Thema gesagt worden war.254 Den europäischen Sendungsgedanken, den die Europäer vom alten Rom übernommen hatten, hielten die Eurasier für eine Art Geißel der Menschheit, die in erster Linie an den Krisen des 20. Jahrhunderts schuld sei. Die Überzeugung der Westeuropäer, nur sie seien im Grunde zivilisierte Menschen, sei so stark, dass sie sich auch auf viele nichteuropäische Völker übertrage, schrieb der Sprachwissenschaftler Nikolaj Trubeckoj 1920 in seinem vielzitierten Buch Europa und die

254 Bereits in ihrer ersten programmatischen Schrift befassten sich die Eurasier mit ihrer geistigen Genealogie. Sie bezeichneten die Slavophilen als ihre Vorläufer. Später wurde diese Ahnenreihe durch solche Autoren wie Nikolaj Danilevskij, Konstantin Leont‘ev und Fedor Dostoevskij ergänzt. Allen diesen Denkern warfen allerdings die Eurasier vor, sie hätten die Tatsache, dass Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liege, vernachlässigt. Den Panslavismus hielten sie für eine Nachahmung der westlichen Pan-Bewegungen. Geistig und kulturell hätten die Russen mit den außerhalb Russlands lebenden Slaven nur wenig gemeinsam – vgl. Ischod k vostoku, a.a.O., S. V-VII; Petr Savickij Dva mira [Zwei Welten], in: Na putjach, a.a.O., S. 9–26; Ders., Evrazijstvo [Euarsiertum], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 5–23; Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 30–36; I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 41–43; Lev P. Karsavin, Bez dogmata [Ohne Dogma], in: Versty 2 (1927), S. 129–144; Georgij Vernadskij, Opyt istorii Evrazii s poloviny VI veka do nastojaščego vremeni [Abriss der Geschichte Eurasiens seit der Mitte des VI. Jarhunderts bis zur Gegenwart], Berlin 1934, S. 24. Nicholas Riasanovsky, The Emergence, a.a.O., S. 59, weist mit Recht darauf hin, dass die Eurasier nicht nur die slavische Frage, sondern auch den Staat anders bewerteten als die Slavophilen. Im Gegensatz zu den Slavophilen, deren Einstellung zum Staat beinahe anarchische Züge getragen habe, hätten die Eurasier die Bedeutung des Staates und der Staatsmacht besonders hervorgehoben; vgl. dazu auch Nikolaj Berdjaev, Utopičeskij ėtatizm evrazijcev [Der utopische Etatismus der Eurasier], in: Put’ 8 (1927), S. 141–144. Unter allen von den Eurasiern selbst genannten ideologischen Vorläufern ähnelte ihre Position vielleicht am ehesten derjenigen Konstantin Leont’evs. Bereits Vasilij Zen’kovskij, Russkie mysliteli, a.a.O., S. 158, wies darauf hin, dass Leont‘ev mit seiner skeptischen Einstellung zum Slaventum den Positionen der Eurasier recht nahe gestanden hätte. Abgesehen davon hatte Leont‘ev, ähnlich wie später die Eurasier, auf ,turanische‘ Elemente in der russischen Kultur hingewiesen: Leont‘ev, Vostok, Rossija i Slavjanstvo, a.a.O., S. 285. Gemeinsam war Leont‘ev und den Eurasiern auch eine etatistische Gesinnung. Es gab aber auf der anderen Seite auch grundlegende Unterschiede zwischen den Eurasiern und Leont‘ev. Im Gegensatz zu den Eurasiern lehnte Leont‘ev nicht die westliche Kultur als solche ab, sondern in erster Linie die Verbürgerlichung und die Demokratisierung dieser Kultur – Prozesse, die erst infolge der französischen Revolution einsetzten. Das alte, feudal-aristokratische Europa wurde von Leont‘ev in einem durchaus positiven Licht gesehen.

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Menschheit.255 Unter dem Einfluss dieser Überzeugung beginne die Bildungsschicht dieser Völker ihre eigene Kultur mit europäischen Maßstäben zu bewerten und gering zu schätzen. Das Bewusstsein der eigenen Rückständigkeit zwinge die Nicht-Europäer, notwendige Entwicklungsstufen zu überspringen. Das zehre nur unnötig an ihrer Kraft und entfremde sie noch stärker der eigenen Tradition.256 In einem Brief an den Sprachwissenschaftler Roman Jakobson, der eine Zeit lang mit der Eurasierbewegung sympathisierte, erklärte Trubeckoj, dass sein Buch Europa und die Menschheit nur als der erste Teil einer Trilogie konzipiert worden sei. Bisher habe er sich lediglich auf die Polemik gegen den egozentrischen und absolutistischen Nationalismus der romanischen und germanischen Völker konzentriert. Diesem aggressiven, andere Kulturen verachtenden Nationaldenken wollte Trubeckoj im zweiten Teil der Trilogie einen anderen, ‚wahren‘ Nationalismus entgegensetzen.257 Die Teile II und III der Trilogie erschienen dann in einer etwas verkürzten Form als Aufsätze im Sammelband Ischod k vostoku.258 Dem ‚wahren‘ Nationalisten, schrieb Trubeckoj, seien nationale Eitelkeit und Intoleranz gegenüber anderen Kulturen fremd. Nur die Überwindung des ‚falschen‘ abendländischen Nationaldenkens könne das harmonische Zusammenleben der Völker sichern.259 Unwillkürlich erinnert diese Argumentation an die der ‚romantischen‘ Nationalisten in Europa aus der Zeit vor 1848. Auch die Letzteren entwarfen eine Vision vom harmonischen Zusammenleben der Völker, auch sie sahen nur ein Hindernis auf dem Weg zu diesem Ideal; bei ihnen waren es die europäischen Dynastien. Die Entwicklung des europäischen Nationalismus nach 1848 sollte hier eine große Ernüchterung bringen. Es stellte sich heraus, dass die europäischen Dynastien nicht das einzige Hindernis auf dem Weg zur allgemeinen Völkerverständigung waren. Da Trubeckoj gegen die westliche Nationalidee und den westlichen Absolutheits255 Hier stütze ich mich auf die von Sergej Jakobsohn und Friedrich Schlömer ins Deutsche übersetzte Fassung des Buches: Nikolaj S. Fürst Trubetzkoy, Europa und die Menschheit, München 1922. 256 Ebd., S. 20–21, S. 28–29, S. 35–37, S. 80–81, S. 83–84, S. 86, S. 93; Trubeckoj macht in seiner Schrift im Grunde keine Unterscheidung zwischen den Begriffen ,Europa‘ und ,Westeuropa‘. An diese Terminologie lehnten sich dann auch andere Eurasier an; siehe dazu unter anderem Vernadskij, Načertanie, a.a.O., S. 7. 257 N. S. Trubetzkoy’s Letters and Notes. Prepared for publication by Roman Jakobson, The Hague u. Paris 1975, S. 12–14. 258 Nikolaj S. Trubeckoj, Ob istinnom i ložnom nacionalizme [Über den wahren und den falschen Nationalismus], in: Ischod k vostoku, a.a.O., S. 71–85; Ders., Verchi i nizy russkoj kul‘tury [Die Höhen und die Tiefen der russischen Kultur], ebd., S. 86–103. 259 Trubeckoj, Ob istinnom i ložnom nacionalizme, a.a.O., S. 83.

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anspruch ähnlich monokausal argumentierte wie seinerzeit die ‚romantischen‘ Nationalisten gegen die Monarchen, büßte seine Argumentation wesentlich an Überzeugungskraft ein. Im Gegensatz zu Oswald Spengler und zu anderen abendländischen Pessimisten war Trubeckoj keineswegs der Ansicht, dass Europa seine hegemoniale Stellung bereits weitgehend verloren habe. Dieser Unterschied wird in der Literatur zumeist außer Acht gelassen. Trubeckoj fürchtete, der Siegeszug Europas in der Welt werde unaufhaltsam weitergehen, da immer mehr Völker der Faszination der europäischen Kultur erlägen.260 Er hielt nicht nur die geistige, sondern auch die politische und wirtschaftliche Hegemonie des Westens für wenig gefährdet. Sogar das bolschewistische Russland gerate in immer stärkere Abhängigkeit vom Westen, schrieb er 1922. An dieser Abhängigkeit würde sich auch dann nichts ändern, wenn die sozialistische Weltrevolution, von der die Bolschewiki träumten, im Westen siegen würde. Russland würde dann in koloniale Abhängigkeit von den ‚fortschrittlichen‘ sozialistischen Ländern des Westens geraten.261 Die einzige Chance Russlands, sich dieser Abhängigkeit zu entziehen, sah Trubeckoj in der engen Anlehnung an Befreiungsbewegungen der Kolonialvölker. Die Zukunft Russlands liege nicht in seiner Wiederherstellung als europäische Großmacht, sondern darin, dass es zum Führer der weltweiten Auflehnung gegen Europa werden könne.262 Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele zur Argumentation der Bolschewiki, die ebenfalls Russland zum Zentrum der Auflehnung gegen die europäische Welthegemonie machen wollten. In beiden Fällen nahm man an, die abhängigen Völker würden Russland als ihresgleichen ansehen, nicht als eine europäische 260 Trubetzkoy, Europa und die Menschheit, a.a.O., S. 95–103; N. S. Trubetzkoy‘s Letters, a.a.O., S. 14–16, S. 25. 261 Nikolaj Trubeckoj, Russkaja problema [Das russische Problem], in: Na putjach, a.a.O., S. 294–316; in seinem Brief an Jakobson vom März 1921 – vgl. N. S. Trubetzkoy‘s Letters, a.a.O., S. 15 – sagt Trubeckoj zum gleichen Thema: „Stellen Sie sich für einen Augenblick vor, dass es der Roten Armee gelungen wäre, bis nach Deutschland vorzudringen und dort einen kommunistischen Staatsstreich hervorzurufen. Welche praktischen Folgen hätte dies gehabt? Die Achse der Welt hätte sich dann sofort von Moskau nach Berlin verlagert …, die Deutschen hätten einen vorbildlichen kommunistischen Staat errichtet, und Berlin wäre zur Hauptstadt der europäischen oder sogar der weltumspannenden Sowjetföderation geworden. … In der sowjetischen Weltrepublik würden die Deutschen bzw. die romanisch-germanischen Völker eine Herren- und wir, das heißt alle anderen, eine Sklavenschicht bilden. Der Grad der Versklavung hätte davon abgehangen, wie weit man kulturell von dem romanisch-germanischen ,Vorbild‘ entfernt ist“. 262 Trubeckoj, Russkaja problema, a.a.O., S. 302–306.

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Hegemonialmacht, sondern als eine unterdrückte Nation, die mit Europa nichts gemein habe. Diese Annahme sollte sich als falsch erweisen. Für die Mehrzahl der nichteuropäischen Völker blieb Russland weiterhin eine europäische Imperialmacht. Der Bruch mit Europa war für Russland nicht so leicht zu vollziehen, wie die Bolschewiki und Trubeckoj dies hofften. Der Kritik am Westen, diesem alten Topos der russischen Geschichtsphilosophie, fügten die Eurasier, indem sie die Position Russlands als europäischer Großmacht in Frage stellten, neue qualitative Elemente hinzu. Diese neuen Akzente entsprachen dem revolutionären Charakter der Epoche, in der die Eurasier agierten. Im vorrevolutionären Russland waren solche Stimmen nur selten zu vernehmen gewesen. Stärker an vorrevolutionäre Kritiken des Westens hingegen erinnern andere Anklagen der Eurasier, so ihre These von der Ichbezogenheit und von der egozentrischen Rechthaberei des westlichen Menschen.263 Der Rechtshistoriker Nikolaj Alekseev, der zu den führenden Eurasiern gehörte, hielt den Kampf ums Recht für den roten Faden der europäischen Geschichte. Zunächst hätten die Stände um ihre Rechte gekämpft, seit der Renaissance die Individuen. Pflichten gegenüber der Gemeinschaft würden in Europa von verschiedenen Interessengruppierungen oder von Individuen nur nach erbitterten Kämpfen akzeptiert.264 Dieses egoistische Prinzip, so die Eurasierin Sofija Bochan, sei seit dem 19. Jahrhundert auf die europäischen Nationen übertragen worden. Die Nationen würden nun zu übergroßen Individuen, die um ihre Rechte kämpften, ohne Rücksicht auf andere.265 Diesem innerlich zerrissenen und in andauernden inneren und äußeren Konflikten lebenden Westen versuchten die Eurasier ein altrussisches Harmonieideal gegenüberzustel­len, das der Orthodoxie entsprang. Im Zentrum der orthodoxen Welt stehe nicht der Kampf des Individuums und der ständige Konflikt, sondern die Idee der Solidarität der Menschen untereinander. Dieses Harmonieideal habe der altrussischen Gesellschaft eine beispiellose Homogenität verliehen.266 263 Nikolaj Alekseev, Teorija gosudarstva. Teoretičeskoe gosudarstvovedenie. Gosudarstvennoe ustrojstvo. Gosudarstvennyj ideal [Die Staatstheorie. Die theoretische Staatskunde. Die Staatstruktur. Das Staatsideal], Izdanie Evrazijcev 1931, S. 5; Sofija Bochan, K novoj ėpoche [Auf dem Weg zu einer neuen Epoche], in: Novaja ėpocha, a.a.O., S. 5–10. 264 Nikolaj Alekseev, Objazannost’ i pravo [Die Pflicht und das Recht], in: Evrazijskaja chronika 10 (1928), S. 19–26. 265 Bochan, K novoj ėpoche, a.a.O., S. 6. 266 Mstislav Šachmatov, Podvig vlasti. Opyt po istorii gosudarstvennych idealov v Rossii [Die große Aufgabe der Macht. Zur Geschichte der Staatsideale in Russland], in: Evrazijskij vremennik 3 (1923), S. 55–80; Ders., Gosudarstvo pravdy. Opyt po istorii go-

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Diese Verklärung der altrussischen Gesellschaft, mit der die Eurasier an die Ideen der Slawophilen anknüpften, hält einer historischen Prüfung nicht stand. Soziale Spannungen und zahlreiche Bauernaufstände im vorpetrinischen Russland weisen darauf hin, dass die altrussische Gesellschaft keineswegs ein Harmonieideal verkörpert hat. Trotzdem enthielten die Thesen der Eurasier wie die der Slawophilen auch einen Wahrheitskern. Zwar war die altrussische Wirklichkeit erheblich von dem hier beschriebenen Harmonieideal abgewichen, dennoch bildete dieses Ideal einen wichtigen Bestandteil der politischen Doktrin des Moskauer Russland. Dies konnte auch für die soziale und politische Wirklichkeit nicht ohne Folgen bleiben. Die Glorifizierung des autonomen Individuums, die im Westen zu Beginn der Neuzeit einsetzte, wurde in Russland von Anfang an mit großer Skepsis als Ausdruck des menschlichen Hochmuts betrachtet. Die Gleichsetzung des Individuums mit der Gemeinschaft und der daraus abgeleitete Anspruch des Einzelnen, immer mehr Rechte für sich selbst von der Gemeinschaft zu fordern, wurden in Russland als unsittlich empfunden.267 Der russische Staat verzichtete nie auf das Recht, sittliche Normen in der Gesellschaft durchzusetzen, und die individuelle Gewissensfreiheit im westlichen Sinn hatte in Russland wenig Entfaltungsmöglichkeiten.268 Der russische Staat besaß immer ein so großes Übergewicht über die Gesellschaft, dass ein eigenständiger gesellschaftlicher Pluralismus – Voraussetzung des westlichen Individualismus – sich nicht ausreichend sudarstvennych idealov v Rossii [Der Staat der Wahrheit. Zur Geschichte der Staatsideale in Russland], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 268–304; Petr Suvčinskij, Strasti i opasnosti [Leidenschaften und Gefahren], in: Rossija i latinstvo, a.a.O., S. 27–29. 267 Siehe dazu unter anderem Georgij P. Fedotov, Novyj Grad. Sbornik statej [Die Neue Stadt. Eine Aufsatzsammlung], New York 1952, S. 151–153; Viktor Leontovitsch, Die Rechtsumwälzung unter Iwan dem Schrecklichen und die Ideologie der russischen Selbstherrschaft, Stuttgart 1949. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Forschungsprojekt meines Freundes Friedrich von Halem hinweisen, das sich mit unterschiedlichen Rechtsauffassungen in Ost und West, so unter anderem mit den Ursprüngen des Harmoniebegriffs in der orthodoxen Welt befasst. … Nach der Erstveröffentlichung dieses Beitrags hat Friedrich v. Halem mehrere Abhandlungen zu dieser Thematik veröffentlicht. Alle diese Aufsätze wie auch einige bis dahin unveröffentlichte Texte von ihm sind in seiner postum erschienenen Aufsatzsammlung enthalten: Friedrich von Halem: Recht oder Gerechtigkeit? Rechtsmodelle in Ost und West von der Antike bis zur Moderne. Eine Aufsatzsammlung, Köln 2004; Herr von Halem starb am 8. März 2003 nach einer kurzen Krankheit im Alter von 69 Jahren. 268 Pavel Miljukov, Russlands Zusammenbruch, Band l, Stuttgart 1925, S. 9–11; Vasilij Ključevskij, Sočinenija [Werke], Band 3, Moskau 1957, S. 8–10; Fedotov, Novyj Grad, a.a.O., S. 148–150; Leontovitsch, Die Rechtsumwälzung, a.a.O.; Robert C. Tucker, The Soviet Political Mind. Stalinism and Post-Stalin Change, London 1972, S. 122–124.

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entfalten konnte. Dieses Übergewicht des Staates mit seinem Anspruch, soziale Konflikte zu schlichten und gesellschaftliche Harmonie zu verwirklichen, blieb im Wesentlichen auch im nachpetrinischen und nachrevolutionären Russland bestehen. Dabei ist anzumerken, dass auch in der russischen Gesellschaft die These vom Staat als Garanten der sozialen Harmonie stark verbreitet war und ist. Auflehnungen gegen den Staat, die es in Russland immer wieder gab, waren sicher nicht nur als Proteste gegen diese Rolle der Staatsgewalt aufzufassen. Sie waren eher dadurch bedingt, dass der Staat in den Augen der Bevölkerung dieser Aufgabe nicht mehr gerecht wurde. Man mag dieses Harmoniestreben und Harmoniedenken idealisieren, wie die Eurasier dies getan haben, oder verurteilen, wenn man westliche Maßstäbe als normal‘ ansieht. Indes darf dieser Faktor nicht außer Acht gelassen werden. Zwar wird das Harmonieideal von vielen russischen ‚Westlern‘ heftig kritisiert, doch ist es ihnen nicht gelungen, die westliche Auffassung von Interessenskonflikten als einem selbstverständlichen Teil der sozialen Wirklichkeit in Russland durchzusetzen.269 In ihrer Gegenüberstellung Russlands und des Westens waren die Eurasier ohne Zweifel zu radikal, sie verabsolutierten das Trennende und ignorierten das Verbindende. Man muss aber zugleich einräumen, dass ihre These vom Harmonieideal in Russland in der Tat auf ein trennendes Element zwischen den beiden Teilen Europas hinwies. Die Kampfansage der Eurasier an den Westen rief in der russischen Öffentlichkeit höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Von vielen Vertretern der alten Intelligencija, die den Streit zwischen Westlern und Slawophilen für längst überwunden hielten, wurden die Eurasier mit äußerster Schärfe kritisiert. Bei diesen Kritikern handelte es sich in erster Linie um Autoren, die in der Emigration die Ideen der russischen religiös-philosophischen Renaissance, insbesondere die Ideen des Sammelbandes Vechi 1909, fortsetzten. Die Zeitschriften Sovremennye zapiski und Put’, die zu den wichtigsten publizistischen Organen dieser intellektuellen Gruppierungen gehörten, setzten sich mit den Eurasiern besonders intensiv auseinander. Man dürfe nicht Europa und Asien als zwei Zimmer ansehen, in denen Russland abwechselnd leben könne, polemisierte Fedor Stepun 1924 in den Sovremennye zapiski gegen die Eurasier. Das Europäische und das Asiatische seien zwei Bestandteile des Wesens Russlands. Auf keine dieser Komponenten könne Russ269 Das galt jedenfalls bis zur Niederschrift dieses Aufsatzes im Jahr 1986. In der spätund postsowjetischen russischen Gesellschaft fand indes ein erheblicher Wandel der politischen Kultur statt. Das bis dahin eher dominierende Harmoniedenken geriet dabei immer stärker in den Hintergrund.

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land verzichten, vor keiner könne es fliehen.270 Es sei wenig wahrscheinlich, fügte Nikolaj Berdjaev hinzu, dass irgendeine Kultur, zum Beispiel die westliche, ein ausschließlicher Träger des Bösen sein könne, wie die Eurasier dies meinten. Das Christentum lasse eine solche geographische Einteilung des Guten und Bösen nicht zu. Berdjaev warf den Eurasiern auch vor, sie unterschätzten universale Komponenten, die in der Orthodoxie enthalten seien. Im Gegensatz zu ihren slawophilen Vorgängern seien sie kulturelle Isolationisten und Partikularisten.271 Nicht weniger scharf polemisierten gegen die Eurasier auch Autoren, die wie der Literaturwissenschaftler Petr Bicilli oder der Theologe Georgij Florovskij selber eine Zeit lang der Eurasierbewegung angehört, aber nach einigen Jahren mit ihr gebrochen hatten. 1925 kritisierte Bicilli den Eurasier Lev Karsavin, der den Katholizismus als eine Art Häresie bezeichnet hatte. Wenn der Katholizismus ketzerisch sei, dann seien auch Franz von Assisi oder Blaise Pascal Häretiker gewesen. Hier sehe man, wie übertrieben und selbstgerecht solche Ausführungen seien. Die Selbstgerechtigkeit Karsavins unterscheide sich durch nichts von derjenigen kämpferischer Katholiken, die er selbst angreife.272 Florovskij meinte 1928, dass die Abweichung von den christlichen Geboten nicht nur ein westliches, sondern ein allgemein menschliches Verhalten sei.273 Dennoch rief der radikale Antiokzidentalismus der Eurasier nicht nur negative Reaktionen hervor. Ihre Kampfansage an die abendländische Kultur verkündeten die Eurasier unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage der Gegner der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg. Diese Niederlage führten viele Emigranten auf die mangelnde Unterstützung und die inkonsequente Haltung der Westmächte zurück. Auch die Art, wie die Angehörigen der geschlagenen weißen Armeen nach ihrer Flucht aus Russland von den Verbündeten behandelt wurden, verletzte den Stolz vieler Russen.274 Dazu kamen noch die drückende Not des Emigrantendaseins und Anpassungsschwierigkeiten in der fremden, nicht immer wohlgesonnenen Umgebung. All das trug zur Verstärkung antiwestlicher Ressentiments 270 Stepun, Evrazijskij vremennik, a.a.O., S. 405–406. 271 Berdjaev, Evrazijcy, a.a.O., S. 135–138. 272 Petr Bicilli, Narodnoe i čelovečeskoe. ‚Po povodu Evrazijskogo vremennika‘, kn. IV [Das Nationale und das Universale. ‚Zum Evrazijskij vremennik.‘ 4. Buch], in: Sovremennye zapiski 25 (1925), S. 484–494. 273 Georgij V. Florovskij, Evrazijskij soblazn [Die eurasische Versuchung], in: Sovremennye zapiski 34 (1928), S. 312–346. 274 Siehe dazu unter anderem Rimscha, Russland jenseits der Grenzen, a.a.O., S. 6–14; Vladimir Varšavskij, Nezamečennoe pokolenie [Die unbeachtete Generation], New York 1956, S. 34–35; Puškarev, O russkoj ėmigracii, a.a.O., S. 143.

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im antibolschewistischen Emigrantenlager bei.275 1924 bemerkte Stepun in diesem Zusammenhang, die aus dem Westen entlehnten republikanischen und sozialisti­ schen Prinzipien hätten Russland in eine beispiellose Erniedrigung geführt. Nach dieser Erfahrung sei es beinahe unmöglich, den eurasischen Emotionen zu widerstehen. Die Eurasier würden große Erfolge haben, weil ihre Ideen im Einklang mit dem Zeitgeist stünden. In dieser Tatsache sieht Stepun allerdings nicht nur die Stärke, sondern auch die Schwäche der Eurasier: Der Zeitgeist hinke immer hinter der Wirklichkeit her. Deshalb fehle den Eurasiern auch eine ausreichende Perspektive, um die Einseitigkeit und den Utopismus ihrer Weltanschauung richtig einzuschätzen.276 Die Warnungen Stepuns und anderer Vertreter der alten russischen Intelligencija vor den einseitigen und radikalen Ideen hatten indes keinen unmittelbaren Erfolg. Viele in der Emigration entstandene, national gesinnte Gruppierungen wie zum Beispiel die ‚Smena-Vech‘-Bewegung, die sogenannten National-Maximalisten, Mladorosy – Jungrussen – und andere dachten ähnlich wie die Eurasier. Sie sprachen ebenfalls von dem unüberbrückbaren Ost-West-Gegensatz und von der russischen Sendung, die Welt, darunter den Westen selbst, von den ‚verderblichen‘ westlichen Prinzipien zu befreien.277 Trotz dieser Ähnlichkeit zwischen den Ideen der Eurasier und denen anderer national gesinnter Emigranten­gruppierungen muss man hier auch auf einen wichtigen Unterschied hinweisen. Für die Mehrheit der russischen Nationalisten waren die eurasischen Ideen zu esoterisch. Anders als die Eurasier sahen sie in der bereits vorhandenen russischen und nicht in der noch zu

275 Riasanovsky weist in diesem Zusammenhang auf den grundlegenden Unterschied zwischen den Kritikern des Westens im vorrevolutionären Russland, zum Beispiel den Slavophilen, und den Eurasiern hin. Die ersteren hätten den Westen nur aus kurzen Besuchen gekannt. Danach seien sie immer wieder in ihr gesichertes Dasein in der Heimat zurückgekehrt. Für die Eurasier hingegen habe es keinen Weg zurück gegeben. Sie hätten im Westen bleiben müssen. Das Aufbauen der neuen Existenz im Westen sei mit permanenten Schwierigkeiten verbunden gewesen, die wesentlich zur Steigerung der antiwestlichen Emotionen beigetragen hätten: vgl. Riasanovsky, The Emergence, a.a.O., S. 71. 276 Stepun, Evrazijskij vremennik, a.a.O., S. 400–401, S. 405. 277 Vgl. dazu zum Beispiel den programmatischen Artikel des ,National-Maximalisten‘ Jurij Širinskij-Šichmatov, Rossijskij nacional-maksimalizm i Evrazijstvo [Der russische Nationalmaximalismus und das Eurasiertum], in: Evrazijskij sbornik 6 (1929), S. 25–32; siehe auch D. Danilenko, Porevoljucionnye pozicii [Die nachrevolutionären Positionen], in: Utverždenija 1 (1931), S. 47–51; Williams, Culture in Exile, a.a.O., S. 253–258, S. 268–270, S. 275; Varšavskij, Nezamečennoe pokolenie, a.a.O.

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schaffenden eurasischen Nation den Erlöser der Menschheit und den wichtigsten Gegenspieler des Westens.278 Große Resonanz rief in der russischen Emigration nicht nur die von den Eurasiern geübte Kritik am Westen hervor, sondern auch deren Analyse der Ursprünge der russischen Revolution. Hier zeigte sich besonders deutlich, wie wenig Berührungspunkte die Eurasier mit der Mehrheit der Emigrantengruppen, vor allem rechter Provenienz, hatten. Sie lehnten nämlich die im rechten Emigrantenlager verbreitete Auffassung von der Revolution als einem Ergebnis der Verschwörung ausländischer Mächte und ‚fremder Elemente‘ in Russland selbst entschieden ab.279 Die Revolution stellte nach Ansicht der Eurasier in erster Line eine Auflehnung des Volkes gegen das Werk Peters des Großen dar, sie war eine Folge der Spaltung der Nation, die dieser Zar vollzogen hatte. Peter der Große habe das Fundament, auf dem die innere Stärke Russlands ruhte, vernichtet. Kein fremder Eroberer wäre in der Lage gewesen, die nationale russische Kultur in einem solchen Ausmaß zu zerstören, wie Peter I. dies tat, so die Eurasier.280 Georgij Florovskij schrieb im Jahre 1922, als er selbst noch der Eurasierbewegung angehörte, Peter der Große habe europäische Ideale und Aufgaben übernommen, die dem Volk unverständlich geblieben seien. Die russische Revolution sei ein Gericht über das nachpetrinische Russland, eine Reaktion des einfachen Volkes gegen den Willen, der Russland gespalten hätte.281 1925 setzte Petr Suvčinskij diese Gedankengänge fort: Die russischen Bauern hätten die bolschewistischen Klassenkampfparolen nicht nur deshalb bereitwillig aufgenommen, weil sie die Grundherren enteignen wollten. Eine andere Ursache dafür sei auch der Wille dieser Bauern gewesen, sich von der für sie fremden und unbegreiflichen kulturellen Oberschicht zu befreien.282 Das Denken der Eurasier war dem der Bolschewiki, die von den Eurasiern trotz aller Vorbehalte bewundert wurden, in gewisser Weise ähnlich. Wie die Bolschewiki neigten sie zur deterministischen Denkweise, und ihre Erklärung für die Ursachen der Revolution war ebenso monokausal wie die der Bolschewiki. Für die Bolschewiki wurde die Revolution vor allem durch die ‚kapitalistisch-feudale Aus278 Siehe unter anderem Širinskij-Šichmatov, Rossijskij nacional-maksimalizm i Evrazijstvo, a.a.O. 279 Vgl. unter anderem Sofija Bochan, My [Wir], in: Utverždenija 3 (1932), S. 75–78. 280 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 35–39; siehe dazu auch Nikolaj Alekseev, Das russische Westlertum, in: Der russische Gedanke l (1929/1930), S. 149–162. 281 Georgij Florovskij, O patriotizme pravednom i grechovnom [Über den gerechten und den sündigen Patriotismus], in: Na putjach, a.a.O., S. 230–293. 282 Petr Suvčinskij, Idei i metody [Ideen und Methoden], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 24–65.

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beutung‘ verursacht, für die Eurasier durch die Europäisierung Russlands. Wie die Bolschewiki glaubten auch die Eurasier an die Gesetzmäßigkeit der Geschichte.283 Die Revolution war für beide unvermeidlich. Die Eurasier waren davon überzeugt, dass das nachpetrinische Russland keine Überlebenschance gehabt hatte. Die Versuche, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommen wurden, um die innere Krise durch Evolution und nicht durch Revolution zu bewältigen, zum Beispiel die Reformen zur Zeit Alexanders II. oder die Stolypinschen Reformen, wurden von den Eurasiern kaum erwähnt. Da die Eurasier an die Gesetzmäßigkeit der Geschichte glaubten, fällt auch eine gewisse Teilnahmslosigkeit auf, mit der sie die Revolution und den Bürgerkrieg analysierten. Gegen diese Betrachtungsweise der Eurasier wandte sich 1927 einer der führenden Vertreter der Partei der Sozial-Revolutionäre, Vadim Rudnev: Man finde bei den Eurasiern keine Spur einer moralischen Entrüstung über die Gräuel des bolschewistischen Terrors. Was die Eurasier am Bolschewismus in erster Linie interessiere, sei dessen Staatskunst, seien dessen Verdienste um die Erhaltung des territorialen Bestandes des russischen Reiches während des Bürgerkrieges.284 Indes ist zu bemerken, dass die Analyse der Ursprünge der russischen Revolution und des Wesens des Bolschewismus durch die Eurasier bei den Vertretern der alten russischen Intelligencija nicht nur auf Widerstand stieß. In dieser Frage waren die Eurasier von manchen ihrer Gegner, wie Berdjaev, Stepun, Fedotov und andere, nicht so weit entfernt wie in ihrer Interpretation des Ost-West-Verhältnisses. Auch Berdjaev und Fedotov betrachteten die Revolution als Folge der Spaltung Russlands durch die petrinischen Reformen. Die Kluft zwischen der Oberschicht und dem einfachen Volk sei in Russland so tief wie in keiner anderen Nation ge283 Auf deterministische Elemente in der Eurasier-Lehre und auf eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Eurasiertum und dem Marxismus wies bereits Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O., S. 16, S. 20, hin. 284 Vadim Rudnev, Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija [Eurasiertum. Der Versuch einer systematischen Darstellung], in: Sovremennye zapiski 30 (1927), S. 583– 592. Die ,unsentimentale‘ Denkweise der Eurasier, ihre Abkehr von den Freiheits- und Gerechtigkeitsidealen der vorrevolutionären russischen Intelligencija empörten auch andere demokratisch gesinnte Emigranten; vgl. dazu unter anderem Vystuplenie P. N. Miljukova protiv evrazijstva. Doklad i prenija, 5 i 12 fevralja, Pariž [Die Polemik P.N. Miljukovs gegen die Eurasier. Vortrag und Diskussion], in: Evrazijskaja chronika 7 (1927), S. 31–34; es ist indes zu bemerken, dass die Ablehnung der Ideale der russischen Intelligencija nicht nur für die Eurasier, sondern auch für die Mehrheit der russischen Emigranten charakteristisch war. Auf dieses Phänomen hatte Rimscha, Russland jenseits der Grenzen, a.a.O., S. 50, S. 60–61, S. 97–98, bereits 1927 hingewiesen. Hier schwammen also die Eurasier innerhalb der Emigration ausnahmsweise mit dem Strom.

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wesen, schrieb Berdjaev 1924. Seit Peter dem Großen hätten die russischen Unterschichten aufgehört, ihren eigenen Staat, seine politischen Ziele und seine Ideen zu verstehen, fügte Fedotov 1929 hinzu. Dies habe letzten Endes auch zur Revolution geführt.285 Vladimir Vejdle, der eine den Eurasiern entgegengesetzte Position einnimmt, verglich die Vertreibung oder Vernichtung der europäisierten Oberschicht infolge der Revolution sogar mit der Vertreibung der Waräger aus Russland.286 Trotz ihrer Kritik an manchen Aspekten der Europäisierung hielten indes Berdjaev, Fedotov, Stepun oder Vejdle die petrinischen Reformen, im Gegensatz zu den Eurasiern, für den richtigen und sogar einzig möglichen Entwicklungsweg Russlands. Die Öffnung Russlands zum Westen habe die russische Kultur vor völliger Stagnation bewahrt. Ohne die Anregungen aus dem Westen wären die großartigen kulturellen Leistungen Russlands im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen.287 Die Eurasier beschränkten sich nicht auf die Feststellung, dass die russische Revolution in einer spontanen Auflehnung des russischen Volkes gegen das Werk Peters des Großen bestanden habe. Paradoxerweise habe sich dieser Volksaufstand mit einer Bewegung verbunden, deren Ziel keineswegs die Abkehr Russlands von Europa, sondern im Gegenteil die Intensivierung seiner Europäisierung gewesen sei. Die Bolschewiki, die von diesem Volksaufstand letzten Endes profitierten, hätten ähnlich wie Peter der Große Russland als ein barbarisches, rückständiges Land

285 Nikolaj Berdjaev, Das Neue Mittelalter. Betrachtungen über das Schicksal Russlands und Europas, Tübingen 1950, S. 80; Fedotov, Revoljucija idet, a.a.O., S. 306–359. Die Art, wie Berdjaev die Ursprünge der russischen Revolution zu erklären suchte, veranlasste Rimscha 1927 dazu, Berdjaev als einen der führenden Eurasier zu bezeichnen. Ähnlich stufte er auch einen anderen Vertreter der ehemaligen Vechi-Gruppe, Semen Frank, ein. Grundlegende Unterschiede zwischen diesen Denkern und den Eurasiern fielen Rimscha, Russland jenseits der Grenzen, a.a.O., S. 183, damals nicht auf. Seine Fehleinschätzung wurde später von Otto-Ernst Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960, S. 454, übernommen. 286 Vejdle, Zadača Rossii, a.a.O., S. 81. 287 Vgl. dazu unter anderem Fedotov, Revoljucija idet, a.a.O., S. 310. Die Ablehnung der petrinischen Reformen durch die Eurasier stieß auf Kritik auch im nationalistischen Lager der Emigration. Vasilij Šul’gin, einer der führenden Vertreter dieses Lagers, warf den Eurasiern politische Naivität vor; nur durch die Übernahme der Errungenschaften der westlichen Zivilisation sei es Russland gelungen, seine politische Unabhängigkeit zu bewahren. Dies, und nicht die Pflege der russischen Eigenart, für die die Eurasier plädierten, sei das einzig Wichtige gewesen: Vasilij Šul’gin, Tri stolicy. Putešestvie v krasnuju Rossiju [Drei Hauptstädte. Eine Reise in das rote Russland], Berlin 1927, S. 292–293, S. 338.

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angesehen, das zivilisiert, das heißt europäisiert werden müsse.288 Ausschlaggebend für den Erfolg der Bolschewiki waren aber nach Ansicht der Eurasier nicht ihre fernen, abstrakten Ziele, sondern ihr Hass gegen die bestehende Ordnung und gegen den Adel. Diese Emotionen seien von den Unterschichten in vollem Umfang geteilt worden.289 Der Ausgang der Revolution und des Bürgerkrieges wird von den Eurasiern als eine Art Kompromiss zwischen den Bolschewiki und dem russischen Volk bewertet. Das Volk habe die Alleinherrschaft der Bolschewiki akzeptiert, die Bolschewiki hätten ihrerseits auf ihre utopischen Pläne einer Sozialisierung und Europäisierung Russlands weitgehend verzichtet. Die Revolution sei von den Bolschewiki als eine vollständige Europäisierung Russlands entworfen worden. Das Resultat der Revolution sei jedoch der Austritt Russlands aus Europa, seine Enteuropäisierung gewesen.290 Im Zusammenspiel der beiden Kräfte, die die Revolution getragen hätten, sei das russische Volk der stärkere Teil gewesen und habe den Bolschewiki seinen Willen aufgezwungen. In besonders überspitzter Form wurde dieser Gedanke in der programmatischen Schrift Evrazijstvo 1926 vertreten. Es heißt dort, das russische Volk habe sich des Bolschewismus bedient, um den territorialen Bestand Russlands zu retten und um die staatspolitische Macht Russlands wiederherzustellen.291 Man muss unterstreichen, dass diese Aussagen aus der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik – 1921 bis 1928 – stammen, als die Bolschewiki den Bauern weitgehende Konzessionen machten. Diese Zugeständnisse veranlassten die Eurasier, ähnlich wie andere Emigrantengruppen, an der Stärke des bolschewistischen Regimes zu zweifeln. Deshalb auch ihre These, das Regime sei ein Instrument in den Händen des Volkes.292 Das Volk entwickle immer mehr das Bewusstsein seiner eigenen Macht, nachdem es der Regierung wirtschaftliche Zugeständnisse abgerungen habe, schrieb 1926 der Eurasier L’vov. Die Schwäche der Regierung gebe den oppositionellen Kräften mehr Mut, die Suche nach Alternativen zum Bolschewismus sei nun in Russland in vollem Gang. L‘vov sah darin auch eine 288 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 48–54; Nikolaj Trubeckoj, My i drugie [Wir und die anderen], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 66–81; Evrazijstvo [Das Eurasiertum], in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 3–14. 289 Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 48; Suvčinskij, Idei i metody, a.a.O., S. 26, S. 31. 290 Savickij, Dva mira, a.a.O., S. 13–14, S. 16–18; Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 48–49, S. 59. 291 Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 6; siehe dazu auch Petr Suvčinskij, K poznaniju sovremennosti [Zur Erkenntnis der Gegenwart], in: Evrazijskij vremennik 5 (1927), S. 7–27. 292 Vgl. zum Beispiel das Buch von Šul’gin, Tri stolicy, a.a.O.

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Chance für die Eurasier, sich als Alternative zum Bolschewismus anzubieten.293 Diese außergewöhnliche Selbstsicherheit wurde zwar von manchen Kritikern belächelt,294 dennoch wirkte sie auf viele Emigranten, vor allem aus der jungen Generation, sehr anziehend. Auch die Tatsache, dass die Eurasier im revolutionären Prozess einen tieferen Sinn und nicht ein Ergebnis ,verbrecherischer Machenschaften kleiner Cliquen‘ sahen, trug zu ihrer Attraktivität bei der Emigrantenjugend bei.295 Die Kühnheit, mit der sie viele rechte und linke Denkklischees wie auch manche ‚geheiligten‘ russischen Traditionen kritisierten, erklärt zum großen Teil die anfänglichen Erfolge der Eurasier. Zugleich wirft die Tatsache, dass die Eurasier an vielen Fronten kämpften, die Frage auf, welche Stellung sie im politisch-ideologischen Spektrum des damaligen Europa einnahmen.

2.1.2 Der Stellenwert des Eurasiertums im ideologischen Spektrum der Zwischenkriegszeit Sowohl in ihrer Kritik des Westens als auch in ihrer Auseinandersetzung mit der russischen Revolution und mit dem Bolschewismus gingen die Eurasier in vielen Punkten neue, für manche, vor allem ältere Vertreter der Emigration bizarre Wege. Besonders verwirrend und irritierend wirkte auf viele die in gewisser Hinsicht anerkennende Einstellung der Eurasier zum Bolschewismus. Deshalb siedelten mehrere Kritiker die Eurasier in der Nähe des Bolschewismus an. Die Eurasier würden von ‚geistreichen‘ Beobachtern als eine Synthese des Slawophilentums mit dem Bolschewismus bezeichnet, spöttelte 1925 Trubeckoj über die Schwierigkeiten vieler Autoren, die Eurasier ideologisch einzuordnen.296 Die Kritiker der Eurasier hatten in der Tat erhebliche Schwierigkeiten mit deren Einordnung und suchten unentwegt nach verwandten politischen Phänomenen. So schrieb 1924 Stepun, die Eurasier sähen viel Positives im Bolschewismus, sie kri293 S. L’vov, O sovremennoj Rossii [Über das gegenwärtige Russland], in: Evrazijskaja chronika 5 (1926), S. 45–55. 294 Vgl. unter anderem Nikolaj Ustrjalov, in: Utverždenija 3 (1932), S. 107–118; Ders., Pod znakom revoljucii, a.a.O., S. 41; Sergej Gessen, Evrazijstvo [Eurasiertum], in: Sovremennye zapiski 25 (1925), S. 494–508. 295 Siehe dazu unter anderem Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O., S. 8–12; Struve, Russkaja literatura, a.a.O., S. 46; Stepun, Evrazijskij vremennik, a.a.O., S. 400–404; Gorlin, Die philosophisch-politischen Strömungen, a.a.O., S. 287. 296 Trubeckoj, My i drugie, a.a.O., S. 76; siehe dazu auch Georgij V. Florovskij, Okamenennoe bezčuvstvie. Po povodu polemiki protiv evrazijstva [Die versteinerte Gefühllosigkeit. Zur Polemik gegen das Eurasiertum], in: Put’ 2 (1926), S. 128–133.

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tisierten die parlamentarische Demokratie wesentlich schärfer als den Bolschewismus. Diese Verurteilung der Demokratie sei indes eine allgemein europäische Erscheinung. Die deutsche Jugend werte den demokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert genauso ab, wie dies die Eurasier mit dem letzten demokratischen Ministerpräsidenten Russlands – Aleksandr Kerenskij – täten.297 Der führende Konstitutionelle Demokrat Gessen stellte 1925 fest, dass die Eurasier, die als eine eher rechte Bewegung angefangen hätten, nun ideologisch immer näher an den Bolschewismus herankämen. Ebenso wie die Bolschewiki verurteilten sie das vorrevolutionäre Russland, die Bourgeoisie und den Kapitalismus.298 Aber nicht nur der Bolschewismus, sondern auch der italienische Faschismus wurde von manchen Autoren als ein Phänomen herangezogen, dem die Eurasier in gewisser Hinsicht ähnelten. Die Eurasier seien ebenso wie die italienischen Faschisten nationalistisch, antidemokratisch und elitär gesinnt, schrieb Stepun. Beide lehnten die jüngste Vergangenheit ihrer jeweiligen Länder im Namen der großen alten Vergangenheit ab.299 Auch Gessen und Berdjaev sahen Ähnlichkeiten zwischen der Lehre der Eurasier und der faschistischen Ideologie.300 Die Eurasier selbst leugneten eine gewisse Verwandtschaft zwischen sich und den Bolschewiki beziehungsweise den italienischen Faschisten keineswegs. So bestätigte zum Beispiel Trubeckoj 1925 Ähnlichkeiten zwischen den Bolschewiki und den Eurasiern. Beide lehnten das vorrevolutionäre russische und das gegenwärtige westliche System ab. Beide riefen die Völker Asiens und Afrikas zum Aufstand gegen die Europäer auf.301 Ähnlich positiv äußerten sich die Eurasier auch über die italienischen Faschisten. In der programmatischen Schrift Evrazijstvo 1926 wird der Faschismus positiv als ein Versuch bewertet, eine Alternative zum parlamentarisch-demokratischen System zu finden.302 Trubeckoj beteuerte 297 Stepun, Evrazijskij vremennik, a.a.O., S. 403–404. 298 Gessen, Evrazijstvo, a.a.O., S. 498. Nachträglich bestätigte Georgij Florovskij diese Entwicklung der Eurasier von rechts nach links. In seinem Brief an den Schriftsteller Juri Ivask vom Jahre 1965 sagt er, anfänglich hätten solche führenden Eurasier wie Savickij, Suvčinskij und Trubeckoj vor allem mit den rechten Emigrantengruppierungen kooperiert. Die Linksschwenkung sei erst nach 1923 eingetreten – Iz pisem O. Georgija Florovskogo Ju. Ivasku [Aus den Briefen Georgij Florovskijs an Jurij Ivask], in: Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 130 (1979), S.42–52. 299 Stepun, Evrazijskij vremennik, a.a.O., S. 404. 300 Gessen, Evrazijstvo, a.a.O., S. 499; Berdjaev, Evrazijcy, a.a.O., S. 134. Siehe dazu auch Gorlin, Die philosophisch-politischen Strömungen, a.a.O., S. 286. 301 Trubeckoj, My i drugie, a.a.O., S. 76–77. 302 Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 52, 56; Alekseev, Teorija, a.a.O., S. 10; Karsavin, O knižke G. Gentile ‚Che cosa è il fascismo‘ [Über das Buch von G. Gentile ‚Che cosa è

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1927, der Faschismus habe eine Revolution in die Wege geleitet, die in ihren Auswirkungen nur von der bolschewistischen übertroffen worden sei.303 Die Eurasier nahmen wahr, dass sowohl im Faschismus als auch im Bolschewismus die Ideologie gleichermaßen hohen Stellenwert besitzt. Beide Regime befänden sich im Einklang mit dem Zeitgeist, im Gegensatz zu den Demokratien – den Nachzüglern des bereits überwundenen liberal-positivistischen Zeitalters. In Europa sei nun ein ideologisches Zeitalter angebrochen. Nur durch große, alle Lebensbereiche durchdringende Ideen lasse sich die Welt aus ihrer gegenwärtigen Krise herausführen.304 Diese Ideen sollten zur Grundlage neuer Herrschaftsformen werden, die die Eurasier als ‚Ideokratien‘ bezeichneten.305 Ungeachtet ihrer Anerkennung für den Bolschewismus und für den italienischen Faschismus hielten die Eurasier diese beiden Regime indes nicht für ‚echte‘ Ideokratien. Am Faschismus kritisierten sie dessen ideologischen Eklektizismus. Die Verherrlichung der eigenen Nation sei der einzige Inhalt der faschistischen Ideologie, es fehle dem Faschismus eine tiefere geistige Verwurzelung, er habe es nicht vermocht, eine dem Bolschewismus ebenbürtige Gegenideologie zu schaffen.306 Dem Bolschewismus warfen die Eurasier vor, er habe keine echte Alternative zu den im Westen herrschenden Ideen entwickelt. Seine sogenannte proletarische Kultur sei in Wirklichkeit nur eine primitive Nachahmung der westlichen bürgerlichen Kultur.307 Die Bolschewiki betrachteten Russland nur als Experimentierfeld zur Verwirklichung bestimmter europäischer Ideen.308 Vor 1917 hätten sich die russischen il fascismo‘], in: Evrazijskaja chronika 8 (1927), S. 53. 303 Nikolaj Trubeckoj, O gosudarstvennom stroe i forme pravlenija [Über die Staatsordnung und die Herrschaftsform], in: Evrazijskaja chronika 8 (1927), S. 3–9. 304 Ebd., S. 6–8; Petr Savickij, in: Evrazijskij vremennik 3 (1923), S. 9–17; Suvčinskij, Idei i metody, a.a.O., S. 61. 305 Trubeckoj, O gosudarstvennom stroe i forme pravlenija, a.a.O., S. 6–8; Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 52–55. 306 Trubeckoj, O gosudarstvennom stroe i forme pravlenija, a.a.O., S. 7; Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 52; Lev P. Karsavin, Fenomenologija revoljucii [Die Phänomenologie der Revolution], in: Evrazijskij vremennik 5 (1927), S. 28–74; Jakov Sadovskij, Iz dnevnika ‚Evrazijca‘ [Aus dem Tagebuch eines ‚Eurasiers‘], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 378–405. 307 Trubeckoj, My i drugie, a.a.O., S. 78–80; Evrazijstvo [Eurasiertum], in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 5; Florovskij, Okamennenoe bezčuvstvie, a.a.O., S. 131; Lev P. Karsavin, Otvet na stat‘ju N. A. Berdjaeva ob ‚Evrazijcach‘ [Die Antwort auf den Artikel von N. A. Berdjaev über die ‚Eurasier‘], in; Put’ 2 (1926), S. 124–127. 308 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 48–50. Siehe dazu auch Petr Savickij, Razrušajuščie svoju rodinu. Snos pamjatnikov iskusstva i rasprodaža muzeev SSSR

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Herrscher für konservative Kräfte und Monarchen in ganz Europa eingesetzt, so Trubeckoj, nun tue der Bolschewismus das gleiche in Bezug auf westliche kommunistische Parteien. In beiden Fällen hätten die russischen Regime Russland in unnötige Konflikte verwickelt.309 Trubeckoj meinte, dass in Wirklichkeit keine Gemeinsamkeiten zwischen Russland und den politischen Kräften des Westens – gleichgültig welcher Couleur – bestünden. Trubeckoj erhob gegen die Bolschewiki auch einen anderen Vorwurf. Obwohl der Bolschewismus für eine Zeit lang das russische Reich vor dem Zerfall gerettet habe, könne er auf die Dauer diese Einheit nicht sichern. Der Träger der Einheit Russlands sei vor 1917 das russische Volk gewesen. Aufgrund des gewachsenen Nationalbewusstseins der nichtrussischen Völker sei die Monopolstellung der Russen nunmehr unhaltbar geworden. In diesem Zusammenhang kritisiert Trubeckoj die russischen Chauvinisten. Durch deren Mangel an Bereitschaft, Kompromisse mit den anderen Völkern Russlands einzugehen, setzten sie den Bestand des Reiches aufs Spiel. Ihr anachronistisches Festhalten an bereits verlorenen Positionen könne dazu führen, dass das russische Reich auf seinen großrussischen Kern reduziert werde. Die Zeit der Alleinherrschaft der Russen in Russland sei endgültig vorbei.310 Die Bolschewiki hätten diesen Sachverhalt durchaus anerkannt. Sie hätten auch einen neuen Träger der russischen Einheit gefunden: anstelle des russischen Volkes – das Proletariat. Dies sei aber nur eine scheinbare Lösung. Das Klassenprinzip schüre nur den Klassenhass und untergrabe die Einheit Russlands. Abgesehen davon seien nationale Emotionen bei Arbeitern in der Regel wesentlich stärker ausgeprägt als Klassensolidarität.311 Russland müsse deshalb, wenn es ein einheitlicher Staat bleiben wolle, einen neuen Träger der Einheit finden, und dies könne nur die eurasische Bewegung werden, die das Gemeinsame zwischen allen Völkern Russlands/Eurasiens hervorhebe.312 Den Eurasiern schwebte demnach eine Ablösung der Bolschewiki durch die eurasische Bewegung vor. Wie wollten sie aber dieses Ziel erreichen? Einen be[Diejenigen, die ihre Heimat zerstören. Die Demontage der Kunstdenkmäler und der Ausverkauf der Museen in der UdSSR], Berlin 1935, S. 14–16, S. 20–21; Nikolaj Alekseev, Evrazijstvo i marksizm [Das Eurasiertung und der Marxismus], in: Evrazijskij sbornik 6 (1929), S. 12–13. 309 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 48–49. Wie Solženicyn heute – der Aufsatz wurde 1986 veröffentlicht – halten also die Eurasier die Unterstützung der kommunistischen Parteien durch Moskau für eine völlig unnötige Belastung, die den eigentlichen Interessen Russlands widerspreche. 310 Nikolaj Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm [Der gesamteurasische Nationalismus], in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 24–30. 311 Ebd., S. 26–27. 312 Ebd., S. 28–30.

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waffneten Kampf gegen das sowjetische Regime, den mehrere Emigrantengruppen in den zwanziger Jahren noch befürworteten, lehnten die Eurasier ab. Die Erfahrung des Bürgerkrieges habe gezeigt, so die Eurasier, dass der Bolschewismus sich gewaltsam nicht beseitigen lasse, da er den authentischen Volkswillen repräsentiere.313 Deshalb traten die Eurasier für die Überwindung des Bolschewismus durch evolutionäre Erneuerungsprozesse, durch eine allmähliche innere Beeinflussung ein.314 Dabei kam eine Anpassung an den Bolschewismus, wie sie zum Beispiel von der ‚Smena-Vech‘-Bewegung propagiert wurde,315 für die Eurasier, wenigstens bis Mitte der zwanziger Jahre, nicht in Frage. Die ‚Smena-Vech‘-Bewegung wurde von den Eurasiern zunächst heftig kritisiert. Ihr sei es nicht gelungen, eine neue Ideologie, eine Alternative zum Bolschewismus zu entwickeln. Von der Anerkennung der positiven Momente in der neuen sowjetischen Wirklichkeit sei die Gruppe zur Verherrlichung dieser Wirklichkeit übergegangen und habe auf diese Weise ihre Bedeutung gänzlich eingebüßt.316 Die Eurasier betrachteten sich, im Gegensatz zu den Smenovechovcy, nicht als Verbündete, sondern als Konkurrenten der Bolschewiki. Der Eurasier Konstantin Čcheidze hoffte sogar 1929, es könne vielleicht gelingen, die bolschewistische Partei allmählich in eine eurasische zu verwandeln.317 Mit dieser Hoffnung stand 313 Suvčinskij, Večnyj ustoj, a.a.O., S. 126–127; Ders., K poznaniju sovremennosti, a.a.O., S. 19; Aleksandr Antipov, Belye i krasnye [Die Weißen und die Roten], in: Evrazijskij sbornik 6 (1929), S. 59–63; Florovskij, Okamenennoe bezčuvstvie, a.a.O., S. 13–15; Evrazijstvo, in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 6. 314 In diesem Punkt stimmten die Eurasier im Grunde mit einigen demokratisch gesinnten Emigrantengruppierungen überein, mit denen sie ansonsten kaum Gemeinsamkeiten aufwiesen, so zum Beispiel mit den Menschewiki und mit dem linken Flügel der konstitutionellen Demokraten unter Pavel Miljukov. Auch diese traten für eine friedliche Überwindung des Bolschewismus ein. Auf diese erstaunlichen Parallelen zwischen den Eurasiern und ihren ideologischen Antipoden wies bereits Ende der zwanziger Jahre Petr Struve, Iz archiva P. B. Struve. Publikacija G. P. Struve [Aus dem Archiv von P. B. Struve. Eine Publikation G. P.Struves], in: Novyj žurnal 106 (1972), S. 201– 211, hin. 315 Siehe dazu Smena Vech. Sbornik statej Ju. V. Ključnikova, N. V. Ustrjalova, S. S. Lukjanova, A. V. Bobriščeva-Puškina, S. S. Čachotina, Ju. N. Potechina [Die Umstellung der Wegmarken. Eine Aufsatzsammlung], Prag 1921; Ustrjalov, Pod znakom revoljucii, a.a.O.; Erwin Oberländer, Nationalbolschewistische Tendenzen in der russischen Intelligenz. Die ‚Smena Vech‘-Diskussion 1921–1922, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 16 (1968), S. 194–211; Williams, Culture in Exile, a.a.O., S. 267–275. 316 Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 3; siehe dazu auch Florovskij, O patriotizme, a.a.O., S. 246–247, S. 254. 317 Konstantin Čcheidze, Evrazijstvo i VKP(b) [Das Eurasiertum und die VKP(b)], in: Evrazijskij sbornik 6 (1929), S. 38–40.

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er innerhalb der Eurasierbewegung keineswegs allein, sie wurde von vielen seiner Gesinnungsgenossen geteilt.318 Diese Hoffnungen zeigen, wie sehr die Eurasier das Wesen der modernen diktatorischen Parteien und Regime verkannten, wie gewaltig sie deren Möglichkeiten unterschätzten, sich vor einer ‚Unterwanderung‘ zu schützen. Durch ihre politische Naivität machten sie deutlich, dass sie mit solchen politischen Gruppierungen wie den Bolschewiki oder den Faschisten, die die moderne Technik der Macht vorzüglich beherrschten, nur wenig gemeinsam hatten. Wesentlich mehr Ähnlichkeiten wiesen sie mit anderen ‚ideokratischen‘ Gruppierungen der Zwischenkriegszeit auf, die ebenso wie sie maximalistische Ziele verfolgten und die Frage der Macht vernachlässigten. Besonders verblüffend sind die Parallelen zwischen den Eurasiern und der sogenannten konservativen Revolution, die in der Geschichte des Weimarer Deutschland eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte.319 Die Hoffnungen, die die Eurasier in Bezug auf die Bolschewiki hegten, waren denen der konservativen Revolutionäre in Bezug auf den Nationalsozialismus sehr ähnlich. Auch viele Vertreter der konservativen Revolution wollten sich einer totalitären Partei von innen bemächtigen, um deren Anhängerschaft für eigene Zwecke einzuspannen.320 Auch in ihrer organisatorischen Struktur wiesen diese 318 Vgl. unter anderem Suvčinskij, Idei i metody, a.a.O., S. 61–63; Petr Savickij, O vnepartijnosti [Über die Überparteilichkeit], in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 10; Evrazijstvo, in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 6–8; Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O., S. 28–30; Nikolaj Alekseev, Evrazijcy i gosudarstvo [Die Eurasier und der Staat], in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 31–39. 319 Zur Geschichte der ,konservativen Revolution‘ beziehungsweise der neuen konservativen Strömungen in der Weimarer Republik siehe unter anderem Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1962; Kurt Sontheimer, Der Tatkreis, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 229–260; Ders., Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1968; Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern 1963; Joseph P. Stern, Hitler. Der Führer und sein Volk, München 1978; Otto-Ernst Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960; Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland. Grundriss ihrer Weltanschauung, Stuttgart 1950; Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt am M. 1970; Hermann Rauschning, The Conservative Revolution, New York 1941; Helmut Kuhn, Das geistige Gesicht der Weimarer Zeit, in: Zeitschrift für Politik. N. F. 8 (1961), S. 1–10; Hans Hecker, ‚Die Tat‘ und ihr Osteuropa-Bild 1909–1939, Köln 1974. 320 Siehe unter anderem Hans Zehrer, Die Frühjahrsoffensive, in: Die Tat, April 1932, S. 1–14; Ders., Das Ende der Parteien, ebd., S. 68–79; Ders., Die Dritte Front, in: Die Tat, Mai 1932, S. 97–120; Rauschning, The Conservative Revolution, a.a.O., S. 38–40.

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beiden politischen Erscheinungen viele gemein­same Züge auf. Beide hatten einen ausgesprochen elitären Charakter, beide glaubten an die Allmacht der Ideen. Die Völker werden von Ideen und nicht von Institutionen regiert, schrieb 1923 Petr Savickij. Der Kommunismus könne nur durch eine noch höhere, umfassen­dere und genauso begeisternde Idee überwunden werden.321 Ähnliches über die Macht der Ideen hätten Hans Zehrer, Arthur Moeller van den Bruck oder Edgar J. Jung sagen können. Ebenso wie die deutsche konservative Revolution war die Eurasierbewegung ein Aufstand der Jugend gegen die Ideen und Ziele der älteren Generation. Trubeckoj war zur Zeit der Gründung der Bewegung erst dreißig Jahre alt, Savickij und Suvčinskij waren noch jünger. Dieser Aufstand vollzog sich in beiden Fällen in unerwarteten und unkonventionellen Formen. So galt es im 19. Jahrhundert als eine Art Naturgesetz, dass die Söhne mehr nach links tendierten als die Väter. Nach 1917/1918 begannen die Dinge sich umzukehren. Liberale oder gemäßigt konservative Väter hatten Söhne, die rechts von ihnen standen. Auf diesen merkwürdigen Sachverhalt wies Trubeckoj 1923 hin: Die Jugend tendiere heute paradoxerweise mehr nach rechts als die ältere Generation. Diese Rechtsschwenkung solle aber keineswegs mit der Sehnsucht nach der Restauration verwechselt werden. Es handele sich hier vielmehr um die Suche nach neuen Wegen infolge des Zerfalls der traditionellen linken Ideologien. Neue Ideologien seien in Wirklichkeit weder rechts noch links, sie befänden sich bereits in einer anderen Dimension. Das radikal Neue stelle im Grunde die Erneuerung des ganz Alten dar. Jede radikale Erneuerung knüpfe an die ganz alte und nicht an die unmittelbare Vergangenheit an.322 Trubeckoj bezog sich hier auf die Tatsache, dass die Eurasier das Petersburger Russland im Namen des alten ‚heiligen Russland‘ ablehnten. Unverkennbar ist die Analogie zu manchen deutschen Gruppierungen der Zwischenkriegszeit, die den Wilhelminismus im Namen der alten Reichsidee verurteilten.323 Die Rechten, meinte Trubeckoj, hielten die Eurasier nur infolge eines Missverständnis­ses für ihre Verbündeten. Dass die Eurasier die Idee des Fortschritts ablehnten, bedeute noch nicht, dass sie mit den Reaktionären, die diese 321 Savickij, in: Evrazijskij vremennik 3 (1923), S. 9–10; siehe dazu auch Alekseev, Teorija, a.a.O., S. 85; P. V. Logovikov (i. e. Petr Savickij), Vlast‘ organizacionnoj idei [Die Macht der organisatorischen Idee], in: Tridcatye gody. Utverždenie evrazijcev, S. 129–134. 322 Nikolaj S. Trubeckoj, U dverej reakcija? revoljucija? [Steht eine Reaktion, eine Revolution vor der Tür?], in: Evrazijskij vremennik 3 (1923), S. 18–29. 323 Vgl. dazu unter anderem Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 5–7, S. 178–179; Ders., Der politische Mensch, hg. v. Hans Schwarz, Breslau 1933, S. 29, S. 32–43, S. 69–71, S. 110–111, S. 121–122; zur Ablehnung der Restauration siehe auch Ernst W. Eschmann, Vom Sinn der Revolution, Jena 1934, S. 14.

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Idee ebenfalls verurteilten, etwas gemeinsam hätten. Das Ziel der Reaktionäre sei die Restaurierung des unerträglichen Zustandes, der vor der Revolution geherrscht habe; dies lehnten aber die Eurasier gänzlich ab.324 Im Übrigen war die ideologische und politische Einordnung der konservativen Revolutionäre ebenso schwierig wie die Definierung des politischen Standpunktes der Eurasier. Bereits der Begriff ‚konservative Revolution‘,325 der sich aus zwei scheinbar unvereinbaren Elementen zusammensetzte, sorgte für Verwirrung. Das Ereignis, das von den deutschen konservativen Revolutionären als eine Art Erlösung angesehen wurde, war der Weltkrieg. Von ihm erwarteten sie die radikale Erneuerung der Gesellschaft, einen neuen Anfang.326 Auch die Eurasier hatten ihr ‚Kriegserlebnis‘; es bezog sich aber nicht auf den Weltkrieg, sondern auf die russische Revolution. Mit ihr verbanden sie ähnliche Hoffnungen wie die konservativen Revolutionäre mit dem Weltkrieg. Dass diese beiden Ereignisse unzählige Menschen das Leben gekostet hatten, hinderte weder die Eurasier noch die konservativen Revolutionäre, in ihnen den Beginn einer neuen glorreichen Epoche zu sehen. Die Parallelen zwischen den Eurasiern und den konservativen Revolutionären betreffen nicht nur die organisatorischen Strukturen und die Ideologien, sondern auch die Zeit, in der beide Strömungen zur Blüte gelangten. Dies waren die 1920er Jahre. Die nationalsozialistische Diktatur war damals noch nicht in Sicht, die stalinistische deutete sich erst an. Die Entwicklung, sowohl in Russland als auch in Deutschland, schien noch offen zu sein. Die politische Realität in beiden Ländern hatte sich noch nicht vollständig zu totalitären Strukturen verfestigt, wie dies in den 1930er Jahren sein sollte, sie schien noch formbar. Das war die große Stunde für ‚ideokratische‘ Bewegungen, die mit Hilfe von Ideen und nicht durch schwerfällige Apparate oder durch schwer lenkbare Massenbewegungen die Welt verändern wollten. Das galt für die Eurasier wie für die konservativen Revolutionäre gleichermaßen. Neben den Ähnlichkeiten gab es auch große Unterschiede. So spielte in der Eurasier-Lehre die Religion eine äußerst wichtige Rolle. Die Eurasier strebten nicht nur nach Wiederherstellung der nationalen Größe Russlands, sondern auch nach 324 Trubeckoj, My i drugie, a.a.O., S. 70–71. 325 Der Begriff ‚konservative Revolution‘ wurde von Hugo von Hofmannsthal im Jahre 1927 geprägt: vgl. Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Prosa, Band 4, Frankfurt am M. 1955, S. 390–413. 326 Siehe unter anderem: Wohin treiben wir, in: Die Tat, August 1931, S. 329–354; Zehrer, Das Ende der Parteien, a.a.O., S. 74; Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1933; vgl. dazu auch Sontheimer, Der Tatkreis, a.a.O.; Klemperer, Konservative Bewegungen, a.a.O., S. 55–57.

2.1 Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang

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religiöser Erneuerung. Für die Mehrheit der deutschen konservativen Revolutionäre hingegen hatte die Religion keine vergleichbare Bedeutung. Das Gefühl der gekränkten nationalen Eitelkeit wurde bei ihnen zu einer alles beherrschenden Emotion, die alle anderen geistigen Fragen in den Hintergrund drängte. Auch in der Einstellung zur Gewalt kann man Unterschiede zwischen den Eurasiern und den konservativen Revolutionären feststellen. Die Eurasier hielten die Revolution und den Bürgerkrieg in Russland zwar für unvermeidlich, sie waren allerdings weit davon entfernt, die Gewalt zu verklären. Eine Ästhetisierung und Verherrlichung der Gewalt, wie sie für manche konservativen Revolutionäre typisch waren,327 sind bei den Eurasiern kaum zu finden. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Strömungen betraf aber die Tatsache, dass die Eurasier, im Gegensatz zu den konservativ-revolutionären Gruppierungen, nicht in ihrem eigenen Land agierten und keinen unmittelbaren Einfluss auf dessen Entwicklung hatten. Die Eurasier legten allerdings Wert darauf, nicht als eine typische Emigrantenorganisation betrachtet zu werden. Sie verfolgten sehr aufmerksam die innersowjetischen Entwicklungen und waren stolz, dass ihre Ideen auch innerhalb der Sowjetunion Resonanz fanden. Gelegentlich veröffentlichten sie Briefe und Stellungnahmen ihrer Gesinnungsgenossen aus Russland.328 Der Wunsch, an der politischen Gestaltung Russlands teilzunehmen, wurde bei manchen Eurasiern so groß, dass sie in die gleiche Versuchung gerieten, die sie noch Mitte der 1920er Jahre an der Smena-Vech-Bewegung kritisiert hatten. Die Einstellung dieser Eurasier zum bolschewistischen Regime wurde immer unkritischer und ließ sich immer weniger von der der Smenovechovcy unterscheiden. An diesen Fragen sollten sich heftige Kontroversen entzünden, die schließlich 1929 zu einer Spaltung der Bewegung führten. In Paris konstituierte sich ein prosowjetischer Flügel der Eurasier unter Sergej Ėfron und Dmitrij Svjatopolk-Mirskij, der sich um die Zeitung Evrazija gruppierte.329 327 Vgl. unter anderem Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, a.a.O. 328 Vgl. dazu E. R., Pis’mo iz Rossii [Ein Brief aus Russland], in: Evrazijskaja chronika 6 (1926), S. 3–5; L. Strel’cov, Pis’mo iz Rossii (XV Partkonferencija i Evrazijcy) [Ein Brief aus Russland. Die 15. Parteikonferenz und die Eurasier], in: Evrazijskaja chronika 7 (1927), S. 3–5; Boris Širjaev, Nadnacional‘noe gosudarstvo na territorii Evrazii [Der übernationale Staat auf eurasischem Territorium], ebd., S, 6–12; Evrazijstvo (formulirovka 1927g.) Eurasiertum, (Eine Formulierung aus dem Jahre 1927), in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 3–14. 329 Vgl. Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O., S. 118–123; Struve, Russkaja literatura, a.a.O., S. 46–47; Utechin, Geschichte, a.a.O., S. 244–245; Puškarev, O russkoj emigracii, a.a.O., S. 144; Gessen, Gody izgnanija, a.a.O., S. 201–203; Gorlin, Die philosophisch-politischen Strömungen, a.a.O., S. 287. In den dreißiger Jahren kehrten Svja-

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Als Anfang der 1930er Jahre die Stalinsche Industrialisierung und die Kollektivierung der Landwirtschaft begonnen hatten, waren die Eurasier von den gewaltigen Dimensionen dieser Vorgänge fasziniert. Zwar kritisierten sie die brutale Form dieses Prozesses, doch hielten sie die Industrialisierung Russlands für unerlässlich.330 Der Eurasier Vladimir Pejl’ sprach 1933 von der Epoche der zentralen Planwirtschaft, die nun entstehe und die Periode des Chaos innerhalb der Wirtschaft ablöse.331 Für Savickij bedeutete dies das Ende der Nachahmung des Westens. In Russland sei nun ein grandioses Modell entstanden, das seinerseits in immer stärkerem Ausmaß vom Westen imitiert werde.332 Mit ähnlicher Begeisterung begrüßten zur gleichen Zeit die deutschen konservativen Revolutionäre, zumindest ein großer Teil von ihnen, den massenhaften Anstieg der NSDAP und den damit verbundenen Zerfall der Weimarer Republik.333 Beide Bewegungen wurden von diesen gewaltigen Eruptionen fasziniert, ähnlich wie früher von Revolution oder Weltkrieg. Die Folge dieser Eruptionen waren indes zwei totalitäre Diktaturen, deren Charakter weder von den Eurasiern noch von der Mehrheit der konservativen Revolutio­näre vorausgeahnt oder herbeigewünscht worden war.334 Die Zeit der ideologischen Experimente, wie sie für die 1920er Jahre charakteristisch waren, ging nun zu Ende. Das Ziel der Eurasier oder der konservativen Revolutionäre, das stalinistische oder das nationalsozialistische Regime von innen zu beeinflussen, erwies sich als Utopie. Blinder Gehorsam und totale Unterwerfung topolk-Mirskij und Ėfron in die Sowjetunion zurück. Dort fielen sie dem Stalinschen Terror zum Opfer: vgl. Struve, Russkaja literatura, a.a.O., S. 73–77; Ders., Kn. D. P. Svjatopolk-Mirskij o P. B. Struve [Fürst D. P. Svjatopolk-Mirskij über P. B. Struve], in: Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 130 (1979), S. 232–236. 330 Evrazijstvo. Deklaracija, Formulirovka, Tezisy [Eurasiertum. Deklaration. Formulierung. Thesen], Izdanie Evrazijcev 1932, S. 16–17; Petr Savickij, Očerednye voprosy ėkonomiki Evrazii [Anstehende Fragen zur eurasischen Wirtschaft], in: Novaja ėpocha, a.a.O., S. 10–15; Tridcatye gody, a.a.O., S. II. 331 Vladimir Pejl’, Za ideokratiju i plan [Für Ideokratie und Plan], in: Novaja ėpocha, a.a.O., S. 3–5. 332 Savickij, Očerednye voprosy, a.a.O., S. 11–12. 333 Vgl. dazu Deutschlands neue Einkreisung, in: Die Tat 22 v. Januar 1931, S. 753–766; Das Jahr der Entscheidung, in: Die Tat 22 v. Februar 1931, S. 833–847. 334 Kuhn, Das geistige Gesicht der Weimarer Zeit, a.a.O., S. 5–8, schrieb 1961 in diesem Zusammenhang: „So gilt allgemein, dass zwar die Intellektuellen der Weimarer Zeit die Feinde der Republik mit Waffen und Munition versorgten. Aber sie taten das auf Grund eines Missverständnisses. Ihre nationale oder ‘konservative‘ Revolution war nicht die wirkliche Revolution, ihr Hitler nicht der wirkliche Hitler … Während der Geist an der Wirklichkeit vorbeidachte, fiel die Wirklichkeit dem Ungeist anheim“.

2.1 Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang

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gehörten zu den Grundprinzipien, auf denen beide Diktaturen aufgebaut waren. Für politische Kräfte, wie sie von den Eurasiern oder von der ‚konservativen Revolution‘ repräsentiert wurden, gab es dort keinen Platz. Kurz nach dem endgültigen Triumph Stalins und Hitlers sollten beide Bewegungen zerfallen.335 Die Ähnlichkeiten zwischen den Eurasiern und den konservativen Revolutionären zeigen, dass ungeachtet der Abwendung der Eurasier vom Westen ihre ideologischen und politischen Zielsetzungen im Westen durchaus eine Entsprechung besaßen. Die Ideen der Eurasier waren demnach nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der allgemein europäischen Krise. Dadurch bestätigten die Eurasier indirekt die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Trotz ihrer verzweifelten Versuche, sich in die nachrevolutionären Entwicklungen Russlands einzufühlen und sich mit ihnen zu identifizieren, standen sie in ihrer Geisteshaltung den Westeuropäern wesentlich näher als ihren Landsleuten in der Sowjetunion. So war die Sehnsucht der Eurasier nach dem alten ‚heiligen‘ Russland, nach den verlorenen Wurzeln, der Mehrheit der damaligen sowjetischen Intelligencija fremd. In den 1920er Jahren herrschten in Russland Zukunftsoptimismus und Wissenschaftsglaube. Kulturpessimistische Elemente der eurasischen Ideologie spiegelten im Grunde westeuropäische, nicht aber innerrussische Prozesse wider. Auch mit ihrer Kritik am Parlamentarismus und am Egoismus der Parteien und der Interessenverbände336 stützten sich die Eurasier auf westeuropäische und nicht auf russische Erfahrungen. Die Krise des Parlamentarismus mit ihren Begleiterscheinungen konnte in Russland gar nicht auftreten, weil der Parlamentarismus westlichen Musters hier nie zur vollen Entfaltung gelangt war. In seiner kurzen Geschichte, zwischen dem Oktobermanifest von 1905 und der Oktoberrevolution von 1917, hatte das russische Parlament immer mächtige Gegenspieler – bis Februar 1917 die zarische Regierung und danach die Sowjets –, die der Entwicklung des russischen Parlamentarismus große Hindernisse in den Weg legten. Auch in ihrer Auflehnung gegen die parlamentarische Demo­k ratie gerieten also die Eurasier in den Sog westeuropäischer Entwicklungen. Schließlich waren sie, ob sie es wollten oder nicht, Vertreter gerade jener europäisierten russischen Oberschicht, deren Beseitigung durch die Revolution sie derart enthusiastisch begrüßten.

335 Direkte Stellungnahmen der Eurasier zur deutschen ,konservativen Revolution‘ sind selten; vgl. dazu vor allem Aleksandr Antipov, Novye puti Germanii [Neue Wege Deutschlands], in: Novaja ėpocha, a.a.O., S. 35–43; zu ,eurasischen‘ Komponenten im Denken einiger Vertreter der konservativen Revolution siehe Hecker, Die Tat, a.a.O., S. 96, S. 105–106, sowie Schüddekopf, Linke Leute von rechts, a.a.O., S. 188–189. 336 Alekseev, Teorija, a.a.O., S. 84, 173, S. 176; Evrazijstvo (1926), S. 55–56.

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2.1.3 Die Ursachen für das Scheitern der Eurasierbewegung Die eingangs gestellte Frage nach den Ursachen für den schnellen Niedergang der Eurasierbewegung kann nur im Zusammenhang mit dem Triumph der totalitären stalinistischen wie auch der nationalsozialistischen Diktatur beantwortet werden. Einige der Eurasier erlagen der totalitären Versuchung von links, andere der von rechts, was den Zusammenbruch der Bewegung beschleunigte. Nur wenige blieben den ursprünglichen eurasischen Ideen treu. Eine andere Ursache für den Zerfall der Bewegung liegt darin, dass sie ihre Idee von der eurasischen Völkergemeinschaft in einer Zeit propagierte, in der chauvinistische Emotio­nen in ganz Europa eine bis dahin kaum gekannte Intensität erreichten. Die Eurasier polemisierten heftig gegen den nationalen Partikularismus und Separatismus einzelner Völker des russischen Reiches und priesen wirtschaftliche, kulturelle und politische Vorteile der staatlichen Einheit ‚Eurasiens‘ für alle Völker der Region.337 Mit ihren Parolen erzielten sie aber keine greifbaren Erfolge bei den nichtrussischen Emigranten aus dem ehemaligen zarischen Reich. Vergeblich war auch die Kritik einiger Eurasier, vor allem Trubeckojs, am großrussischen Chauvinismus.338 Extrem nationalistische Emotionen nahmen in der russischen Emigration im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahre an Stärke immer mehr zu. Abgesehen davon war die Kritik der Eurasier am russischen Nationalismus nicht immer glaubwürdig, denn für viele Eurasier verstand sich die Hegemonialstellung der Russen innerhalb der ‚eurasischen‘ Föderation von selbst.339 Die eurasische Welt sei, schrieb 1926 Lev Karsavin, nur unter der Führung des orthodoxen Russland vorstellbar.340 Mit dieser Auffassung stand er innerhalb der Eurasierbewegung keineswegs allein. Solche Vereinfachungen entzogen den differenzierten Interpretationen des Nationalitätenproblems in Russland, wie sie zum Beispiel 337 Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 53–54; Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O., S. 29–30; Ders., K ukrainskoj probleme [Zum ukrainischen Problem], in: Evrazijskij vremennik 5 (1927), S. 165–184; Nikolaj Alekseev, Sovetskij federalizm [Der sowjetische Föderalismus], ebd., S. 240–261. 338 Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O., S. 24–26; Ders., O rasizme [Über den Rassismus], in: N. S. Trubetzkoy‘s Letters, a.a.O., S. 467–474. 339 Für einige Vertreter der Eurasierbewegung, zum Beispiel für Jakov Sadovskij, stellte der Begriff ,Eurasien‘ im Grunde ein Synonym für das russische Imperium dar, in dem die Hegemonialstellung der Russen unangetastet bleiben sollte: vgl. Jakov Sadovskij, Opponentam evrazijstva [An die Gegner des Eurasiertums], in: Evrazijskij vremennik 3 (1923), S. 163–164; auf diese Tendenz innerhalb der Eurasierbewegung wies mit Recht Riasanovsky, The Emergence, a.a.O., S. 57, hin. 340 Karsavin, Otvet na stat’ju Berdjaeva, a.a.O., S. 126.

2.1 Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang

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von Trubeckoj entwickelt worden waren, den Boden. Diesen Widerspruch – wie die führende Rolle der Russen und der Orthodoxie mit dem Prinzip der Gleichberechtigung aller Völker und Konfessionen Eurasiens zu verbinden sei – vermochten die Eurasier nie überzeugend zu lösen.341 Schließlich muss auch erwähnt werden, dass die Eurasierbewegung den typischen Abnutzungserscheinungen einer Emigrantengruppierung erlag. Da sie keine Möglichkeit besaß, die politische Entwicklung des eigenen Landes mitzugestalten, musste sie sich auf die Ausarbeitung theoretischer Standpunkte beschränken. Die Lehre war das kostbarste, im Grunde das einzige Gut der Eurasier.342 Deshalb wurde sie von den Wächtern der Reinheit der eurasischen Prinzipien, in erster Linie von Petr Savickij und von Nikolaj Trubeckoj, gegen ‚Abweichungen‘ jeder Art verteidigt. Innerhalb der Bewegung fanden ständig ideologische Auseinandersetzungen statt, die zu Abspaltungen führten. Vor allem die bereits erwähnte Spaltung von 1929 sollte die Eurasierbewegung nachhaltig schwächen. Der Misserfolg der Eurasier war sicher auch dadurch bedingt, dass ihre Lehre für die Mehrheit der russischen Emigrantenjugend, an die sie in erster Linie appellierten, viel zu elitär war. Die eurasische Ideologie wurde von Gelehrten konzipiert, es fehlten jedoch politische Agitatoren, die sie verbreitet hätten. Um ihre historiosophischen und kulturphi­losophischen Dimensionen zu erfassen, bedurfte es einer nicht unerheblichen intellektuel­len Anstrengung. Die Eurasier agierten indes in einer Zeit, die im Zeichen der ideologischen Vereinfachung stand. In ihrem Kampf um den Einfluss auf die Emigrantenju­gend wurden sie von anderen Organisationen überflügelt, deren Ideologie weniger anspruchsvoll war; dies waren vor allem die Jungrussen unter Kazem-Bek und in den 1930er Jahren daneben der Nationale Bund der Jungen Generation, der spätere NTS. In ihrer Erscheinungsform war die Eurasierbewegung eng mit der Übergangsperiode der 1920er und der beginnenden 1930er Jahre verbunden. Es wäre aber ungerecht, die Fragen, die von den Eurasiern aufgeworfen wurden, pauschal als zeitbedingte Phänomene abzutun. Manche ihrer Urteile, zum Beispiel das über das nachpetrinische Russland, waren überzogen und ungerecht. Die Petersburger Periode war ohne Zweifel eine der kreativsten Epochen der russischen Geschichte. 341 Vgl. unter anderem Petr Bicilli, Dva lika evrazijstva [Zwei Gesichter des Eurasiertums], in: Sovremennye zapiski 31 (1927), S. 421–434; Struve, Russkaja literatura, a.a.O., S. 43; Gorlin, Die philosophisch-politischen Strömungen, a.a.O., S. 286–287. 342 Im Jahre 1925 schrieb Iosif Gessen, Evrazijstvo, a.a.O., S. 499–500, in diesem Zusammenhang: Im Gegensatz zu den italienischen Faschisten fehle den Eurasiern das zementierende Element der politischen Macht. Die einzige Art der Tätigkeit, die den Eurasiern verbleibe, beschränke sich auf die Ausarbeitung einer Ideologie. Aus diesem Grund bezweifelte Gessen die Dauerhaftigkeit der Eurasierbewegung.

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Das nachrevolutionäre Russland wandte sich, im Gegensatz zu den Hoffnungen der Eurasier, kulturell keineswegs dem Osten zu, sondern knüpfte, zumindest zu einem Teil, an die in der Petersburger Periode, vor allem im 19. Jahrhundert, geschaffenen kulturellen Werte an. An der Kultur des russischen 19. Jahrhunderts führt eben kein Entwicklungsweg Russlands vorbei. Wenn man allerdings bedenkt, welch tragisches Ende das Petersburger Russland genommen hat, muss man dem Argument der Eurasier vom brüchigen Fundament, auf dem dieser Staat stand, Aufmerksamkeit schenken. Auch die These der Eurasier von der beinahe unwiderstehlichen Anziehungskraft der westlichen Kultur auf die nichteuropäischen Völker büßte ihre Aussagekraft bis heute kaum ein. Der Siegeszug der europäischen Ideen und der Europäisierung ging trotz aller Prophezeiungen über den Untergang des Abendlandes – jedenfalls bis in die allerjüngste Zeit – unaufhaltsam weiter. Trotz der Schrumpfung der politischen Macht des Westens blieb die geistige Hegemonie Europas in der Welt weitgehend unangetastet. Immer mehr Völker werden in den Bannkreis der europäischen Ideen gezogen und schwanken zwischen Nachahmung und Auflehnung gegen Europa. Auch sie erleben nun Identitätskrisen, wie sie in Russland bereits vor mehr als zwei Jahrhunderten aufgetreten waren. Aus diesem Grunde gewinnt die Reaktion der Eurasier auf die Europäisierung besondere Aktualität.

2.2

Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ Kulturmodell der ‚Eurasier‘343

2.2.1 „Europa und die Menschheit“? Die eurasische Bewegung, die sich 1921 mit ihrem programmatischen Sammelband Der Auszug nach Osten344 lautstark zu Wort meldete, rief die russische 343 Dieser Aufsatz stützt sich im Wesentlichen auf meinen Beitrag Anmerkungen zum ,revolutionär-traditionalistischen‘ Kulturmodell der ‚Eurasier‘, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 7 (2003), Heft 1, S. 141–161. 344 Ischod k vostoku, a.a.O.; zur Geschichte der Eurasier-Bewegung siehe unter anderem Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O.; Riasanovsky, The Emergence of Eurasianism, a.a.O., S. 39–72; Charles J. Halperin, George Vernadsky and Eurasianims, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 36 (1985), S. 55–194; Assen Ignatow, Der ‚Eurasismus‘ und die Suche nach einer neuen Kuklturidentität. Die Neubelebung des Evrazijstvo Mythos nach 1992, in: BIOst 15/1992; Friedrich von Halem, Die Rechtsansichten der Eurasier – Rechtsordnung oder Wertordnung?, in: Ders., Recht oder

2.2 Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ …

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Bildungsschicht zur Umwertung ihrer bisherigen Wertvorstellungen auf. Damit knüpfte sie in gewisser Hinsicht an den zwölf Jahre zuvor erschienenen Sammelband Vechi an.345 Auch die Vechi-Autoren versuchten mit ihrem eindringlichen Appell, die russische Intelligenz davon zu überzeugen, dass der Weg, den sie einige Generationen zuvor beschritten hatte, ein Irrweg sei. Damit erschöpft sich aber im Wesentlichen die Ähnlichkeit der beiden Schriften, die zu den wichtigsten Meilensteinen der russischen Ideengeschichte im 20. Jahrhundert zählen. Die Vechi erschienen quasi ‚fünf Minuten vor zwölf‘, kurz vor der russischen Katastrophe, welche die Autoren des Sammelbandes als Eventualität voraussahen und die sie durch ihre schonungslose Kritik an dem bisherigen Weltbild der Intelligencija zu verhindern suchten. Die Gründer der eurasischen Bewegung hingegen waren bereits Zeugen der Katastrophe, aus der sie bestimmte Schlussfolgerungen ziehen wollten. Schlussfolgerungen, die in der russischen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung auslösten, der sich mit der leidenschaftlichen Debatte um die Thesen des Sammelbandes Vechi durchaus vergleichen lässt. Denn anders als die überwältigende Mehrheit der geschlagenen und zur Flucht gezwungenen Gegner der Bolschewiki versuchten die Eurasier, der russischen Apokalypse – Vasilij Rozanov – durchaus auch positive Aspekte abzugewinnen. Sie habe die Brüchigkeit und Künstlichkeit des Petersburger Staats- und Kulturmodells offenbart und gezeigt, dass Russlands Entwicklungsweg seit dem Beginn des petrinischen Experiments eine Sackgasse gewesen sei. Während die Vechi-Autoren in ihren nach 1917 erschienenen Werken die russische Tragödie in erster Linie auf die revolutionäre Versuchung der Intelligencija zurückführten, die sich um die Jahrhundertwende auch auf die russischen Unterschichten auszudehnen begonnen habe, sahen die Eurasier die Hauptursache für den Zusammenbruch Russlands in der ‚europäischen Versuchung‘ der russischen Bildungsschicht. Damit schienen sie auf den ersten Blick an den alten russischen Gerechtigkeit? Rechtsmodelle in Ost und West von der Antike bis zur Moderne. Eine Aufsatzsammlung, Köln 2004, S. 163–211; Ders., Die Wiederkehr der Eurasier, ebd., S. 119–161; Leonid Luks, Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 34 (1986), S. 374–395; Ders., ‚Eurasier‘ und ‚Konservative Revolution‘. Zur antiwestlichen Versuchung in Rußland und in Deutschland, in: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, hg. v. Gerd Koenen u. Lew Kopelew, München 1998, S. 219–239; Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln 2007; Marlène Laruelle, Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, Baltimore 2008. 345 Vechi. Sbornik statej o russkoj intelligencii [Wegmarken. Eine Aufsatzsammlung über die russische Intelligencija], Moskau 1909.

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Streit zwischen Westlern und Slawophilen anzuknüpfen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits als weitgehend überwunden galt. Aleksandr Blok schrieb 1908 von einem „‚barbarischenʻ Streit zwischen Westlern und Slawophilen  – einem ausschließlich russischen Streit, der für den Europäer unverständlich und uninteressant ist“.346 Als Blok diese Worte schrieb, mutete diese Kontroverse, die seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts einen roten Faden der russischen Ideengeschichte dargestellt hatte, bereits recht antiquiert an. Die intellektuelle Elite Russlands wurde um die Jahrhundertwende in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der Fin-de-Siècle-Stimmung erfasst, die russische Avantgarde stellte damals einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West galten nicht mehr als unüberwindbar. Führende Vertreter der um die Jahrhundertwende begonnenen religiös-philosophischen Renaissance, so vor allem die Vechi-Autoren, zeigten, dass die Eigenart der Orthodoxie durchaus mit den Wertvorstellungen der westlichen Kultur in Einklang gebracht werden könne, dass beide Teile der christlichen Ökumene aufeinander geradezu angewiesen seien. Die Revolution von 1917 und der durch sie ausgelöste Bürgerkrieg führten zunächst nicht zu einer Wiederbelebung der alten Kontroverse zwischen Kritikern und Apologeten des Westens. Die Fronten verliefen damals ganz anders. Weder die ‚Roten‘ noch die ‚Weißen‘ ließen sich in der Regel als Gegner der westlichen Kultur als solcher bezeichnen. Beide Bürgerkriegsparteien wurden von westlichen Ideen inspiriert – vom Marxismus im einen und vom Nationalismus im anderen Fall. Dies war im Grunde ein innerwestlicher Streit auf russischem Boden. Erst die Eurasier sollten mit ihrer schrillen Kampfansage an die westliche Kultur in ihrer Gesamtheit im innerrussischen Disput neue Akzente setzen. Knüpften die Eurasier damit an die Ideen der Slawophilen und der Panslawisten an, wie dies einige ihrer Kritiker, zum Beispiel Berdjaev meinten, und die im Eurasiertum etwas Epigonenhaftes und wenig Originelles erblickten?347 Mit einer solchen Einschätzung übersahen die Kritiker eine im Grunde unüberbrückbare Kluft zwischen den Eurasiern und ihren angeblichen Vorläufern. Denn im Gegensatz zu den slawophilen und panslawistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts handelt es sich bei den Eurasiern nicht um eine konservative oder konservativ-liberale, sondern um eine revolutionäre Bewegung. Sie begrüßte die wichtigsten Ergebnisse der russischen Revolution, die aus der Sicht der Eurasier darin bestanden, dass die Kluft zwischen der europäisierten Bildungsschicht und den Volksschichten, die in der vorpetrinischen 346 Aleksandr Blok, Sobranie sočinenij [Werke], Band 5, Moskau u. Leningrad 1962, S. 332. 347 Berdjaev, Evrazijcy, a.a.O., S. 134–139.

2.2 Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ …

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Vorstellungswelt verhaften blieben, beseitigt worden sei. Dass die Beseitigung dieser Kluft dadurch erfolgte, dass die Oberschicht weitgehend vernichtet oder vertrieben wurde, dass in Russland nach den Worten Vladimir Vejdles eine Art ‚Vertreibung der Waräger‘ stattfand,348 störte die Eurasier kaum. Obwohl sie selbst als Vertreter der Bildungsschicht von dieser ‚Vertreibung der Waräger‘ betroffen waren, hielten sie diesen Prozess für unvermeidlich. Dadurch sei einer doppelten Entfremdung, in der Russland seit der petrinischen Umwälzung gelebt habe, ein Ende gesetzt worden: der Entfremdung der Volksschichten von ihrem eigenen Staat und der Entfremdung der Bildungsschicht von den eigenen politisch-kulturellen Traditionen. Denn durch die Übernahme westlicher Kulturmodelle habe die russische Oberschicht auf die zentrale Idee verzichtet, auf der die politische Kultur Russlands, ja seine Identität als solche basierte – auf die religiös inspirierte Idee von der Auserwähltheit der heiligen Rus’ und des Moskauer Zartums. Von nun an habe diese Idee als ‚barbarisch‘, als ‚asiatisch‘ gegolten. Lediglich die westliche Kultur sei nun mit Attributen versehen worden, die früher in Bezug auf ‚Moskau – das dritte Rom‘ angewendet worden seien.349 Der Glaube der Westeuropäer, ihre Kultur sei die ‚Kultur an sich‘, die ‚Zivilisierung‘ der Nichteuropäer könne nur durch die Übernahme der europäischen Wertvorstellungen erfolgen, sei nun auch von der russischen Bildungsschicht geteilt worden, betonten die Eurasier. Im Verlauf der Zeit sei es zwar zu einer immer schärferen Auseinandersetzung zwischen der herrschenden Bürokratie und einigen Teilen der Öffentlichkeit gekommen. Am Sinn der Europäisierung hätte indes keine der Konfliktparteien, wenn man von kleinen slawophilen Kreisen absehe, gezweifelt.350 Im Gegenteil, die Opposition habe der Regierung vorgeworfen, die Europäisierung des Landes nicht schnell und konsequent genug voranzutreiben. Ein Denken außerhalb des westlichen Koordinatensystems sei für beide Kontrahenten nicht mehr vorstellbar gewesen. Welche Folgen die Übernahme fremder Wertvorstellungen und die weitgehende Entfremdung von der eigenen Kultur haben können, beschrieb einer der Gründer der Eurasierbewegung, Fürst Nikolaj Trubeckoj, 1920 in seinem Buch Europa und die Menschheit, das man als eine Art ‚Kommunistisches Manifest‘ der Eurasierbewegung bezeichnen kann. Die Kultur348 Vejdle, Zadača Rossii, a.a.O., S. 81. 349 Vgl. dazu unter anderem Petr Savickij, Povorot k vostoku [Die Hinwendung zum Osten], in: Ischod k vostoku, a.a.O., S. 1–3; Trubeckoj, Ob istinnom i ložnom nacionalizme, a.a.O., S. 71–85; Ders., Verchi i nizy russkoj kul’tury [Die Höhen und Tiefen der russischen Kultur], in: ebd., S. 86–103; Florovskij, O patriotizme pravednom i grechovnom, a.a.O., S. 231–292; Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, a.a.O., S. 29 f. 350 Trubeckoj, My i drugie, a.a.O., S. 67–81.

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arbeit der nichteuropäischen Völker finde nur dann die Anerkennung der Europäer, wenn sie ganz den europäischen Maßstäben entspreche, so der ‚eurasische Karl Marx‘. Es sei aber verständlich, dass europäische Völker, die sich in ihrem eigenen kulturellen Element bewegten, wesentlich produktiver seien als europäisierte Nichteuropäer. Daher bleibe bei den Nichteuropäern ständig das Gefühl der eigenen Rückständigkeit bestehen, sie seien immerwährend von Minderwertigkeitskomplexen geplagt. „Rückständigkeit ist das unentrinnbare Gesetz der Völker, die sich auf den Weg der Europäisierung begeben“.351

2.2.2 Die Eurasier über die Genese der russischen Revolution Mit ihrer schonungslosen Kritik am petrinischen Experiment berührten die Eurasier einen äußerst wunden Punkt des Petersburger Russland. Ihm haftete, trotz seiner beispiellosen kulturellen Blüte, in der Tat etwas Brüchiges und Künstliches an. Es war allzu stark das Ergebnis einer Willensanstrengung und einer gedanklichen Konstruktion ohne allzu tiefe Verankerung im eigenen Boden. Als Dostoevskij die gespenstische Unwirklichkeit Petersburgs, sein Verschwinden im Nebel beschrieb, gab er das Grundgefühl vieler Vertreter der russischen Elite wieder. Deshalb sein verzweifelter Ruf an die russische Intelligenz, an heimatlose, der eigenen Tradition entfremdete Wanderer, sich mit dem Volk zu verschmelzen: „‚Bezähme dich, stolzer Mensch, und zerbrich erst einmal deinen Hochmut. Demütige dich, müßiger Mensch, und arbeite erst einmal auf deinem heimatlichen Acker!ʻ. Das wäre die Entscheidung nach dem Rechtsempfinden und der Vernunft des Volkes.“352 Nicht zuletzt unter dem Einfluss Dostoevskijs begann die russische Orthodoxie, das wichtigste Bindeglied zwischen Oben und Unten, für Teile der russischen Intelligenz um die Jahrhundertwende im neuen Glanz zu erstrahlen. Sie befreiten sich vom naiven Wissenschafts- und Fortschrittsglauben und vom revolutionären Utopismus ihrer Vorgänger. Zur Überwindung der Spaltung zwischen der Bildungsschicht und dem einfachen Volk führte dies aber nicht. Wie erklären die Eurasier diesen Sachverhalt? Einer der Gründer der Bewegung, Petr Suvčinskij, wirft den Intellektuellen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Dimension des Religiösen neu entdeckten, eine allzu elitäre Attitüde vor. Sie hätten sich eines Vokabulars und einer Begriff­lichkeit bedient, die dem Volk völlig unverständlich gewesen seien. Da ihrer Religiosität jede Verwurzelung gefehlt habe, habe sie de351 Nikolaj Trubeckoj, Evropa i čelovečestvo [Europa und die Menschheit], in: Ders., Istorija. Kul’tura. Jazyk [Geschichte. Kultur. Sprache], Moskau 1995, S. 95 f. 352 Dostoevskij, Tagebuch eines Schriftstellers, a.a.O, S. 489.

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kadente und mystische Züge angenommen. Eine nicht verwurzelte Geistigkeit sei gespenstisch, sie sei nicht imstande, die Massen zu ergreifen und die Wirklichkeit grundlegend zu verändern.353 Für die Eurasier unterscheide sich die russische Orthodoxie vom westlichen Christentum in erster Linie dadurch, dass hier der Brauch, der religiöse Alltag und nicht der theologische Disput im Vordergrund ständen. Durch die Missachtung dieser im Volk tief verwurzelten Auffassung der Religiosität hätten die Vertreter der religiösen Renaissance von vornherein auf eine Verschmelzung mit den Unterschichten verzichtet. Die Kluft zwischen Oben und Unten sei bestehen geblieben. So habe dem Petersburger Russland bis zuletzt ein solides Fundament gefehlt, sein Zusammenbruch sei vorprogrammiert gewesen.354 Die Klagen vieler Vertreter der russischen Elite über die beinahe unüberbrückbare Kluft zwischen der Intelligenz und dem Volk scheint die Diagnose der Eurasier zu bestätigen. Ein Beispiel sollte genügen. So schrieb Blok im November 1908 Folgendes über Maksim Gor’kij, der für Blok die Volksseele geradezu verkörperte: „Alles, was (Gor’kij) liebt und die Art, wie er liebt, ist der Intelligenz unverständlich und unheimlich. Er liebt das gleiche Russland wie wir, aber mit einer anderen und unverständlichen Liebe. Seine Helden … sind uns fremd. Dies sind schweigsame Menschen mit ‚Hintergedankenʻ, mit einem Lächeln, das Ungewisses verspricht.“355 War also die abgrundtiefe Kluft zwischen den Volksschichten und der Intelligenz am Vorabend der Revolution in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Gebildeten kein Gespür für die traditionelle Religiosität der Unterschichten entwickeln konnten, wie die Eurasier dies meinten? Wohl kaum. Denn um die Jahrhundertwende fand eine weitgehende Erosion des traditionellen Weltbildes der breiten Schichten der Bevölkerung des Landes statt. Ihre Heilserwartungen verknüpften sie immer weniger mit dem Zaren oder mit dem orthodoxen Glauben, sondern mit dem Glauben an die erlösende Kraft der Revolution. Die utopistische Gemütskrankheit der russischen Intelligencija habe sich auf die unteren Volksschichten übertragen, schrieb 1924 Semen Frank in seiner Schrift Götzendämmerung. Sie hätten nun mit der gleichen Selbstaufopferung dem revolutionären Götzen zu dienen begonnen, wie dies seinerzeit die russischen Eliten getan hätten. Die dämonische Macht, ja die Unbesiegbarkeit des Bolschewismus lassen

353 Suvčinskij, Večnyj ustoj, a.a.O., S. 99–133; Ders., K preodoleniju revoljucii [Zur Überwindung der Revolution], in: Evrazijskij vremennik. Kniga tret’ja, Berlin 1923, S. 30– 50; Ders., Idei i metody, a.a.O., S. 24–64. 354 Suvčinskij, Večnyj ustoj, a.a.O.; Trubeckoj, My i drugie, a.a.O. 355 Blok, Sobranie sočinenij, a.a.O., Band 5, S. 325.

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sich in erster Linie durch den flammenden Glauben erklären, mit dem unzählige Rotarmisten ihr Heiligtum – die Revolution – verteidigten.356 So fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Gegensatz zu den Thesen der Eurasier, durchaus die lang ersehnte Begegnung zwischen der Intelligencija und dem Volk statt. Die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Intelligencija sei nun von Erfolg gekrönt, schrieb 1908 Sergej Bulgakov. Das Volk habe sich der Weltanschauung der Intelligencija angeschlossen, es sei ‚bewusst‘ geworden. Dieser ‚Erfolg‘ der Intelligencija könne allerdings für Russland unabsehbare Folgen haben.357 Und in der Tat, die Zerstörung des Petersburger Russland war die wichtigste Folge dieses ‚Aufklärungsprozesses‘. Warum verwandelten sich die russischen Volksmassen innerhalb kürzester Zeit aus der stärksten Stütze der russischen Monarchie in ihre größte Bedrohung? Mit dieser Frage haben sich die Eurasier intensiv befasst. Sie sprachen von einer weitgehenden Entfremdung der russischen Unterschichten von ihrem eigenen Staat, die sich infolge der petrinischen Reform vollzogen habe. Dies war also der zweite Entfremdungsprozess – neben der Abkehr der russischen Eliten von ihren eigenen Traditionen –, der im Petersburger Russland stattfand und der seine Brüchigkeit mitbedingte. Das Volk habe sich in der politischen, sozialen und kulturellen Ordnung des Petersburger Kaiserreiches sehr unbehaglich gefühlt, schreibt 1925 Suvčinskij. Es habe die petrinische Staatsidee, ja sich selbst nicht mehr verstanden. Der Verlust der Bindung an den eigenen Staat habe sich 1917 in der allgemeinen Sanktionierung des staatlichen Zerfalls Russlands durch die Volksmassen geäußert. Diese Selbstaufgabe sei nicht das Werk der Bolschewiki, sondern die Folge des Scheiterns der seit dem 18. Jahrhundert herrschenden Staatsidee gewesen. Die russischen Bauern hätten die bolschewistischen Klassenkampfparolen nicht nur deshalb bereitwillig angenommen, weil sie die Grundherren enteignen wollten, fügt Suvčinskij hinzu. Eine andere Ursache dafür sei der Wille dieser Bauern gewesen, sich von der kulturell fremden und unbegreiflichen Oberschicht zu befreien.358 Dadurch habe die russische Gesellschaft erneut die Homogenität erreicht, die sie in der vorpetrinischen Zeit besessen hätte. Dieser Sachverhalt wurde von Suvčinskij und seinen Gesinnungsgenossen beinahe uneingeschränkt begrüßt. Die Tatsache, dass die Bolschewiki, die diese Umwälzung durchgeführt hatten, ein despotisches Regime und eine Gesinnungsdiktatur in Russland errichteten, störte die Eurasier kaum. Beides entspreche durchaus der russischen Tradition, meinten sie. Auch das politische System des 356 Semen Frank, Krušenie kumirov [Götzendämmerung], in: Ders., Sočinenija [Werke], Moskau 1990, S. 122. 357 Sergej Bulgakov, Dva grada [Zwei Städte], Band 2, Moskau 1911, S. 159–163. 358 Suvčinskij, Idei i metody, a.a.O.

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Moskauer Staates sei äußerst rigide gewesen, auch im Moskauer Russland hätten sich alle Schichten der Gesellschaft, auch die Machthaber, der Herrschaft einer einzigen Idee unterworfen, der sie hingebungsvoll gedient hätten – der Orthodoxie. Nicht die Form der bolschewistischen Diktatur als solche wird von den Eurasiern kritisiert, sondern ihr Inhalt – nämlich die Tatsache, dass die Bolschewiki nach der Zerstörung des Petersburger Russland das Werk Peters des Großen im Wesentlichen fortsetzten und Russland erneut in ein Experimentierfeld für europäische Ideen verwandelten. Die von den Bolschewiki propagierte sogenannte proletarische Kultur stelle keine Alternative zur westlichen Kultur dar, so die Eurasier. Es handelte sich bei ihr lediglich um eine primitive Nachahmung der im Westen entstan­denen bürgerlichen Kultur.359 Nach Ansicht der Eurasier müsse Russland nach der politischen und sozialen Revolution, deren Ergebnisse sie durchaus begrüßten, noch eine Kulturrevolution erleben. Zum Wesen dieser Revolution sollte ein grundlegender Wechsel des im Lande seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts herrschenden Koordinatensystems gehören, dem die Bolschewiki, trotz ihrer politischen und sozialen Radikalität, im Wesentlichen treu geblieben seien. Das Land müsse das Fenster nach Europa, das Peter der Große geöffnet hatte, gänzlich schließen und sich dem Osten zuwenden.

2.2.3 Hatte die Eurasierbewegung geistige Vorläufer? Diejenigen Beobachter, die die Eurasier als Fortsetzer der slawophilen und panslawistischen Strömungen betrachten, unterschätzen die Radikalität der eurasischen Kampfansage an den Westen. Ihren angeblichen slawophilen Vorgängern warfen Trubeckoj, Suvčinskij und ihre Gesinnungsgenossen vor, diese hätten die Tatsache, dass Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liege, vernachlässigt.360 Die Worte Aleksej Chomjakovs oder Dostoevskijs über die anbetungswürdigen Schätze der westlichen Kultur, über die ‚heiligen Steine‘ des Westens wären bei den Eurasiern undenkbar gewesen. Ebenso undenkbar wäre im eurasischen Vokabular die These Chomjakovs von Russland als einem Schutzwall Europas gegen

359 Trubeckoj, My i drugie, a.a.O.; Florovskij, Okamenennoe besčuvstvie, a.a.O., S. 128– 133; Karsavin, Otvet na stat’ju N.A. Berdjaeva, a.a.O., S. 124–127; Evrazijstvo [Euarsiertum], in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), S. 5. 360 Ischod k vostoku, a.a.O., S. VII; Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, a.a.O., S. 30 ff.

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die asiatische – tatarische – Gefahr361 und die Worte Dostoevskijs über die russische Mission, Asien zu europäisieren: „In Europa waren wir … Sklaven, in Asien werden wir als Herren auftreten, in Europa waren wir Tataren, in Asien sind wir Europäer.“362 Einige Verbindungen bestanden zwischen dem eurasischen Konzept und dem panslawistischen Programm Nikolaj Danilevskijs, der in seinem 1869 erschienenen Buch Russland und Europa363 mit äußerster Schärfe die These von der universalen Bedeutung der europäischen Kultur verwarf und den Eigenwert einzelner Kulturen, vor allem der slawischen, hervorhob. Auch Eurasier waren leidenschaftliche Gegner der universalistischen Kulturmodelle und Verfechter eines kulturellen Partikularismus. Indes verwarfen die Eurasier den Panslawismus als solchen, sie hielten ihn für eine Nachahmung der westlichen ‚Pan-Bewegungen‘. Geistig und kulturell hätten die Russen mit den außerhalb Russlands lebenden Slawen nur wenig gemeinsam. Unter allen, oft auch von den Eurasiern selbst angeführten geistigen Vorläufern der Bewegung, ähnelte ihre Position vielleicht am ehesten derjenigen Konstantin Leont’evs. Bereits Vasilij Zen’kovskij wies in seinem Buch Russische Denker und Europa darauf hin, dass Leont’ev mit seiner skeptischen Einstellung zum Slawentum den Positionen der Eurasier recht nahe gestanden hätte. Darüber hinaus wollte Leont’ev, ähnlich wie die Eurasier, Russland vom Westen durch eine undurchdringliche Mauer abgrenzen, um die Eigenart der russischen Kultur vor den westlichen Einflüssen zu bewahren. Bereits Leont’ev wies auf das für die Eurasier äußerst wichtige asiatische, ‚turanische‘ Element im russischen Nationalcharakter hin: „Nur in Russland, in der östlichsten slawischen Nation, die Asien am nächsten liegt, kann eine eigenständige, von Europa unabhängige Kultur entstehen“.364 Es gab aber auf der anderen Seite auch grundlegende Unterschiede zwischen den Eurasiern und Leont’ev. Denn im Gegensatz zu den Eurasiern lehnte Leont’ev nicht die westliche Kultur als solche ab, sondern in erster Linie ihre Verbürgerlichung und Demokratisierung, die infolge der Französischen Revolution einsetzten. Das alte, feudal-aristokratische Europa wurde von Leont’ev durchaus positiv bewertet.

361 Aleksej Chomjakov, Sobranie sočinenij v dvuch tomach [Werke in zwei Bänden], Band 1, Moskau 1995, S. 453. 362 Fedor Dostoevskij, Dnevnik pisatelja za 1877 god [Tagebuch eines Schrifstellers aus dem Jahr 1877], Paris o. J., S. 609. 363 Danilevskij, Rossija i Evropa, a.a.O. 364 Leont’ev, Vostok, Rossija i Slavjanstvo, a.a.O., S. 285.

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So bleibt die Suche nach den direkten Vorläufern der Eurasier in der russischen Ideengeschichte ergebnislos. Mit Recht weist der amerikanische Historiker Nicholas Riasanovsky darauf hin, dass das eurasische Programm in seiner Gesamtheit sich auf keine Tradition im vorrevolutionären Russland direkt stützen konnte.365 Auch andere Beobachter bezeichneten die Eurasier als die wohl einzige originelle russische Strömung der nachrevolutionären Epoche, die keine direkten vorrevolutionären Wurzeln besaß.366 Ihre Ideen entsprachen durchaus dem revolutionären Charakter der Periode, in der sie agierten. Dazu zählte zum Beispiel ihre These, dass Russland und die von Europäern unterworfenen Kolonialvölker eine Solidargemeinschaft bildeten. Die Zukunft Russlands liege nicht in seiner Wiederherstellung als europäische Großmacht, sondern darin, dass es zum Führer einer weltweiten Auflehnung gegen Europa werden könne, so Trubeckoj.367 Hier sind verblüffende Parallelen zur Argumentation der Bolschewiki sichtbar, die ebenfalls Russland zum Zentrum der Auflehnung gegen die europäische Hegemonie machen wollten. Indes bestand zwischen den beiden Programmen ein grundlegender Unterschied. Im Gegensatz zu den Eurasiern glaubten die Bolschewiki keineswegs an den Eigenwert der nichteuropäischen Kulturen. Ähnlich wie die Mehrheit der von den Eurasiern so scharf kritisierten Westeuropäer glaubten auch die Bolschewiki daran, dass die westliche Kultur einen universalen Charakter habe. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges schrieb Lenin über den asiatischen Befreiungskampf, der sich damals intensivierte: „Heißt das vielleicht, dass der materialistische Westen verfault ist und das Licht nur aus dem mystischen, religiösen Osten leuchte? Nein, gerade umgekehrt. Das heißt, dass der Osten endgültig den Weg des Westens betreten hat, dass neue Hunderte und Aberhunderte Millionen Menschen jetzt am Kampfe für die Ideale teilnehmen, zu denen sich der Westen durchgekämpft hat. Verfault ist die Bourgeoisie des Westens, vor der schon ihr Totengräber steht – das Proletariat.“368 Bei der Revolte, die den Eurasiern vorschwebte, handelte es sich um eine Auflehnung ganz anderer Art. Sie sollte sich nicht nur nach außen, sondern auch und vor allem nach innen richten. Die Nichteuropäer müssten nämlich das vom Westen übernommene Vorurteil von der Minderwertigkeit ihrer eigenen Kultur überwinden und die Egozentrik, die hinter diesem angeblichen Universalismus der Westeuropäer stecke, entlarven. 365 Riasanovsky, The Emergence of Eurasianism, a.a.O., S. 39–72. 366 Siehe dazu unter anderem Stepun, Evrazijskij vremennik, a.a.O., S. 400–407. 367 Trubeckoj, Evropa i čelovečestvo, a.a.O. 368 Vladimir Lenin, Polnoe sobranie sočinenij [Sämtliche Werke], 5. Aufl., 55 Bände, Moskau 1958–1965, hier Band 21, S. 402.

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Der Kulturrevolution, für welche die Eurasier plädierten, war das futuristische Pathos der bolschewistischen Revolution fremd. Ihr ‚Goldenes Zeitalter‘ lag nicht in der ‚lichten Zukunft‘, sondern in der Vergangenheit. Aber nicht in der unmittelbaren Vergangenheit, wie dies bei den russischen Monarchisten der Fall war, sondern in der fernen Vorzeit. Das radikal Neue stelle im Grunde die Erneuerung des ganz Alten dar, sagte 1923 Trubeckoj. Jede radikale Erneuerung knüpfe an die ganz alte und nicht an die unmittelbare Vergangenheit an.369 Trubeckoj bezog sich hier auf die Tatsache, dass die Eurasier das Petersburger Russland im Namen des alten Moskauer Russland, im Namen der Idee vom ‚dritten Rom‘ ablehnten. So handelte es sich bei den Eurasiern um Revolutionäre und Traditionalisten zugleich, um ‚konservative Revolutionäre‘; damit ähnelte das eurasische ‚Kulturmodell‘ in verblüffender Weise dem etwa zur gleichen Zeit entstandenen Modell der deutschen ‚konservativen Revolution‘, die in der Geschichte der Weimarer Republik eine derart verhängnisvolle Rolle spielen sollte. Ähnlich wie die Eurasier träumten auch die Verfechter der ‚konservativen Revolution‘ von der Zerstörung der westlichen Hegemonie, von der Zertrümmerung der vom Westen geprägten zivilisatorischen Normen.370 Zwar hatten die konservativen Revolutionäre mit ihrer radikalen Absage an den Westen, ähnlich wie die Eurasier, bestimmte geistige Vorläufer – Paul de Lagarde, Julius Langbehn und andere –, als eine eigene politische Strömung haben sie sich jedoch erst infolge der Ereignisse von 1918/19 herauskristallisiert. Ohne den Ersten Weltkrieg, ohne Versailles und ohne Weimar wäre eine solche ideologische Erscheinung wohl kaum denkbar gewesen. Ähnlich wie die Eurasier wollten auch die konservativen Revolutionäre die bestehende Ordnung nicht im Namen der ‚lichten Zukunft‘, sondern im Namen der Vergangenheit, und zwar einer sehr fernen Vergangenheit überwinden. Die unmittelbare deutsche Vergangenheit – den Wilhelminismus – lehnten die Autoren der konservativen Revolution genauso scharf ab, wie die Eurasier dies mit dem Petersburger Russland getan haben. Dem von den Eurasiern verklärten Bild des Moskauer Russland entsprach die Verklärung der mittelalterlichen Reichsidee durch die konservativen Revolutionäre, in deren Namen sie die von ihnen abgelehnte Weimarer Ordnung bekämpften.371

369 Trubeckoj, U dverej reakcija? revoljucija?, a.a.O., S. 18–29. 370 Vgl. dazu unter anderem Luks, ‚Eurasier‘ und ‚Konservative Revolution‘, a.a.O. 371 Siehe dazu unter anderem Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2002, S. 524.

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2.2.4 Das ‚turanische Kulturmodell‘ Man muss aber hier hervorheben, dass die Vorbilder der Eurasier sich nicht nur auf das Moskauer Russland beschränkten. Wäre dies der Fall gewesen, so hätten sie sich kaum von den Slawophilen unterschieden, die ebenfalls zur unkritischen Verklärung der Moskauer Epoche neigten. Das andere Vorbild, das die Eurasier inspirierte, war das Imperium Dschingis Khans und die Goldene Horde, die 240 Jahre lang Russland beherrschte. Sie verklärten also das Tatarenjoch, das ihre Landsleute seit Jahrhunderten als das tragischste Kapitel der russischen Geschichte ansahen. Sie betrachteten das Imperium Dschingis Khans und nicht das Kiewer Russland als den direkten Vorläufer des russischen Reiches. Dschingis Khan sei der erste Vertreter der grandiosen Idee von der Einheit des Territoriums gewesen, das die Eurasier als einen eigenständigen Kontinent ‚Eurasien‘ bezeichneten – eines Territoriums, das im Wesentlichen dem Territorium des späteren russischen Reiches entsprach.372 Im 16. Jahrhundert habe das Großfürstentum Moskau von den Tataren die Idee der Einheit Eurasiens übernommen. Auf dem eurasischen Kontinent sei, so Trubeckoj und sein wohl wichtigster Gefährte Petr Savickij, eine multikulturelle Synthese entstanden, die im Grunde beispiellos sei.373 Dabei heben die Eurasier hervor, mit welcher Leichtigkeit die Russen viele Elemente der östlichen Kultur assimilierten. Das Moskauer Reich stellt für sie eine Synthese des Byzantinismus mit dem Tatarentum dar. Es sei sicher kein Zufall gewesen, dass nur diejenigen russischen Gebiete zum Zentrum der Orthodoxie und der russischen Staatlichkeit werden konnten, die sich unter der Tatarenherrschaft befanden. Diesen Sachverhalt führen die Eurasier auf die religiöse Toleranz der Tataren wie auch auf deren Duldung der politischen Autonomie der Moskauer Fürstentümer zurück. Ganz anders habe sich das Schicksal westrussischer Gebiete gestaltet, die unter polnischlitauische oder deutsche Herrschaft gerieten. Von einer Duldung der politischen Eigenständigkeit oder von der ungehinderten Entfaltung der Orthodoxie habe hier keine Rede sein können.374 Um zu beweisen, dass die Tatarenherrschaft für Russland wesentlich segensreicher als die Europäisierung gewesen sei, stellte Trubeckoj 1925 folgende Thesen auf: Nach zwei Jahrhunderten des ‚Tartarenjochs‘ sei 372 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie Čingischana, a.a.O., S. 3 ff., S. 18–23. 373 Ebd.; Savickij, Step’ i osedlost’, a.a.O., S. 341–355. 374 Georgij Vernadskij, Dva podviga Aleksandra Nevskogo [Zwei Heldentaten von Aleksandr Nevskij], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 319–336; Sergej Puškarev, Rossija i Evropa v ich istoričeskom prošlom [Russland und Europa in ihrer historischen Vergangenheit], in: Evrazijskij vremennik 5 (1925), S. 147–152.

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ein starkes, einheitliches Russland entstanden, nach zwei Jahrhunderten der Europäisierung ein bolschewistisches Russland. Das bolschewistische Russland sei die Frucht der europäischen Herrschaft, so wie das Moskauer Russland die Frucht der Tatarenherrschaft gewesen sei. Der Bolschewismus habe gezeigt, was Russland von Europa gelernt habe, nach dieser bolschewistischen Frucht müsse man auch das Wesen der Europäisierung beurteilen. Wenn man nun die Ergebnisse dieser beiden Lernprozesse miteinander vergleiche, müsse man die tatarische Schule viel positiver bewerten, als dies gemeinhin geschehe.375 Die Leichtigkeit, mit der das Moskauer Russland viele Strukturmerkmale der Goldenen Horde assimilierte, führt Trubeckoj auf das gemeinsame turanische Erbe zurück. Die Verschmelzung der Russen, des östlichsten slawischen Stammes, mit turanischen Völkern stellt für Trubeckoj das wichtigste Faktum der russischen Geschichte dar. Der russische Nationalcharakter sei viel stärker durch turanische als durch slawische Komponenten geprägt376 – hier fühlt man sich in gewisser Hinsicht an Konstantin Leont’ev erinnert. Trubeckoj konstruiert ein turanisches Kultur- und Denkmodell, das sich angeblich sowohl von dem semitischen und dem persischen Typus im Osten als auch vom romano-germanischen Modell im Westen unterscheidet. Das turanische Denken sei schematisch und klar, es gehe in die Weite und nicht in die Tiefe. Nuancen seien ihm fremd. Turanische Völker neigten zur Übernahme fremder Kultur- und Religionsmodelle und dienten ihnen dann hingebungsvoll, ja fanatisch. Die für Semiten, Perser oder Westeuropäer typische metaphysische Sehnsucht, Suche nach Widersprüchen und nach deren Lösung sei dem turanischen Kulturtypus nicht eigen. Er kenne auch keine Kluft zwischen Theorie und Praxis. Alles werde hier der herrschenden Idee und dem Staat, der diese Idee verkörpere, unterworfen. Alle diese Wesensmerkmale versinnbildlicht für Trubeckoj auch das Moskauer Russland.377 Die Sehnsucht nach der Renaissance dieser infolge der Europäisierung untergegangenen Kultur durchzieht wie ein roter Faden das Denken Trubeckojs und seiner eurasischen Gesinnungsgenossen.

375 Nikolaj Trubeckoj, O turanskom ėlemente v russkoj kul’ture [Über das turanische Element in der russischen Kultur], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 377. 376 Ebd., S. 351. 377 Ebd., S. 371–375.

2.2 Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ …

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2.2.5 Die eurasische ‚Utopie‘ Dass dieses von den Eurasiern so verklärte Moskauer Russland allmählich an seiner Autarkie und an seiner Selbstzufriedenheit zu ersticken begann, dass es spätestens seit der Terrorherrschaft Iwans des Schrecklichen in außerordentliche Identitätsschwierigkeiten geriet, wird von den Eurasiern kaum beachtet. Um die immer tiefer werdende kulturelle Stagnation zu überwinden, benötigte Russland dringend kulturelle Anregungen von außen, und woher konnten diese sonst kommen, wenn nicht aus dem Westen? Es sei kein Zufall gewesen, dass Peter der Große das Fenster nicht nach Mekka, nicht nach Lhasa, sondern nach Europa geöffnet habe, sagt Vladimir Vejdle. Peters Vision sei zwar ausschließlich technokratischer Natur gewesen, so Vejdle. Er habe die Kultur mit der technokratischen Zivilisation gleichgesetzt. Intuitiv habe er indes durch die Wiederherstellung der Einheit der europäischen Welt den für die russische Kultur fruchtbarsten Entwicklungsweg gewählt. Die beispiellosen kulturellen Leistungen des Petersburger Russland seien die Folge der petrinischen Umwälzung gewesen, setzt Vejdle seine Ausführungen fort, aber auch die Katastrophe, die sein Werk zerstörte, habe Peter indirekt selbst mitverschuldet.378 Vejdle ist sich der Brüchigkeit der Fundamente, auf denen das Petersburger Russland errichtet worden war, ähnlich wie die Eurasier bewusst. Er sieht aber, so wie die Vechi-Autoren, keine Alternative zum petrinischen Programm. Die Abwendung von Europa sei für Russland unmöglich, weil es infolge seiner Christianisierung zum unverzichtbaren Teil der europäischen Kultur geworden sei. Aber auch für den Westen könne der Verlust Russlands unabsehbare Folgen haben, denn Russland verkörpere nach dem Untergang von Byzanz die Tradition des östlichen Christentums, von dem der Westen immer wieder Impulse für seine Erneuerung erhalte. Vejdle hält sowohl die russischen als auch die westlichen Isolationisten, die beide Teile Europas durch eine undurchdringliche Mauer trennen und Russland nach Asien verbannen wollen, für Vereinfacher, die den Europabegriff außerordentlich verkürzten und den Blick für die Komplexität der europäischen Kultur verlören. Ähnlich wie Vejdle argumentierten auch andere führende Vertreter der russischen Bildungsschicht im Exil. Auch sie unterstrichen den komplementären Charakter der Beziehungen zwischen Ost und West und warnten vor isolationistischen wie partikularistischen Tendenzen, die sowohl in Russland als auch im Westen verbreitet waren. 378 Vejdle, Zadača Rossii, a.a.O.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

Nikolaj Berdjaev wandte sich 1925 scharf gegen das manichäische Weltbild der Eurasier. Es sei wenig wahrscheinlich, dass irgendeine Kultur, zum Beispiel die westliche, ein ausschließlicher Träger des Bösen sein könne, wie die Eurasier dies meinten. Das Christentum lasse eine solche geographische Einteilung von Gut und Böse nicht zu. Auch die Absage der Eurasier an universale Kulturwerte wird von Berdjaev heftig kritisiert. Dadurch unterschätzten sie, im Gegensatz zu ihren slawophilen Vorgängern oder zu Dostoevskij, den universalen Charakter der Orthodoxie.379 Berdjaev neigt hier zur Verklärung des slawophilen Standpunktes. Die slawophile Kritik am Katholizismus war nicht weniger scharf als die Absage der Eurasier an die sogenannten ‚Lateiner‘. Die eurasische These vom Katholizismus als einer gotteslästerlichen Häresie hätte auch von Dostoevskij stammen können. Die religiöse Mauer, die die Eurasier zwischen Russland und dem Westen errichten wollten, war also ähnlich hoch wie diejenige, die die Slawophilen aufgebaut hatten. Anders als die Slawophilen wollten allerdings die Eurasier die Mauer zwischen der Orthodoxie und den anderen Religionen an einer anderen Stelle durchlässiger machen, und zwar in Richtung Osten – gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften, die das eurasische Territorium bewohnten. Für die Autoren der programmatischen Schrift der Eurasier vom Jahre 1926 Evrazijstvo standen zum Beispiel Buddhismus oder Islam der Orthodoxie näher als Katholizismus. Sie entdeckten bei Buddhisten und Moslems eine angebliche unbewusste Neigung zum orthodoxen Glauben.380 So träumten die Eurasier nicht nur von einer kulturellen, sondern auch von einer religiösen Synthese der Völker Eurasiens, von der Entstehung einer im Grunde noch nie dagewesenen eurasischen Nation – eines neuen politischen Subjekts, das zur Grundlage des erneuerten russischen Reiches werden sollte. Die russische Nation und der orthodoxe Glaube sollten zwar in diesem Reich, so die Eurasier, eine führende, aber keineswegs eine derart beherrschende Rolle spielen, wie dies im vorrevolutionären Russland der Fall gewesen war. Den Russen und der Orthodoxie waren lediglich die Rolle der Ersten unter den Gleichen zugewiesen. Eine völlig utopische Vision, möchte man meinen. In der Tat. Man darf aber auf der anderen Seite nicht vergessen, dass die Zeit der Entstehung und der Blüte der Eurasierbewegung – die 1920er und 1930er Jahre – die Zeit des beispiellosen Durchbruchs des Utopischen darstellte, des Aufkommens von Bewegungen, die Ziele zu verwirklichen suchten, die manche radikale Denker des 19. Jahrhunderts bereits formuliert hatten, die aber im Allgemeinen als völlig unrealisierbar galten. 379 Berdjaev, Evrazijcy, a.a.O. 380 Evrazijstvo (1926), a.a.O., S. 20 f.

2.2 Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ …

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Im 20. Jahrhundert sollte sich aber zeigen, dass diese Utopien keineswegs so weltentrückt waren, wie man dies ursprünglich angenommen hatte. Im 19. Jahrhundert habe man sich oft darüber beklagt, dass die Utopien zwar schön seien, sich aber leider nicht verwirklichen ließen, schreibt Nikolaj Berdjaev in seinem Buch Das neue Mittelalter. Im 20. Jahrhundert sei die Menschheit mit einer ganz anderen Erfahrung konfrontiert worden. Utopien seien leichter realisierbar, als man dies zunächst angenommen habe. Die Frage, die sich nun stelle, sei, wie man die Verwirklichung von Utopien verhindern könne.381 Und in der Tat, den Bolschewiki war es beinahe gelungen, ihre Utopie von der Abschaffung des Privateigentums und der Verstaatlichung aller Produktionsmittel, auch der Arbeitskräfte, zu verwirklichen. Den Nationalsozialisten war es beinahe gelungen, ihre Utopie von der Errichtung einer rassisch geprägten ‚Neuen europäischen Ordnung‘ zu realisieren. Warum waren dann die Eurasier derart erfolglos mit ihrem utopischen Vorhaben? Warum beschränkte sich die Anziehungskraft der eurasischen Idee lediglich auf kleine intellektuelle Zirkel? Die Erklärung, dass Intellektuelle zu weltfremd seien, um die Technologie der Macht ähnlich virtuos zu beherrschen, wie dies totalitäre Politiker tun, reicht nicht aus. Vladimir Lenin und Lev Trockij waren auch Intellektuelle, und Joseph Goebbels war promovierter Germanist. Den Eurasiern war eine Breitenwirkung demnach nicht nur wegen ihrer Intellektualität, sondern auch wegen des Charakters ihrer Ideologie versagt. So appellierten die Bolschewiki mit ihren Klassenkampfparolen und die Nationalsozialisten mit ihrer rassistischen Propaganda an tiefsitzende Ressentiments breiter Bevölkerungsschichten – an den sozialen Neid und an den Antisemitismus. Dem eurasischen Appell an die Völker Eurasiens beziehungsweise an unterschiedliche nationale Exilgruppierungen aus dem russischen Reich zur Errichtung einer antiwestlichen Solidargemeinschaft auf eurasischem Territorium fehlte eine vergleichbare demagogische Resonanz. Nationalistische Emotionen waren sowohl bei den russischen als auch bei den nichtrussischen Emigranten aus dem ehemaligen zarischen Russland derart stark ausgeprägt, dass diese für die Vision von einem multiethnischen und multikonfessionellen eurasischen Reich unzugänglich blieben. Sogar in der Emigration stellten also die Eurasier bis zuletzt nur eine Randerscheinung ohne allzu großes praktisches Gewicht dar.

381 Nikolaj Berdjaev, Das neue Mittelalter. Betrachtungen über das Schicksal Rußlands und Europas, Tübingen 1952, S. 122.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

2.2.6 Eine Alternative zum Bolschewismus? Die Kritiker der Eurasier, die die Bewegung in die Nähe des Bolschewismus oder auch des Faschismus rückten, unterschätzten die politische Naivität, aber auch die Komplexität des eurasischen Kulturmodells, das sich nicht allzu leicht für demagogische Zwecke instrumentalisieren ließ. Und auch ein anderer Umstand wurde von vielen Beobachtern unterschätzt: die Tatsache, dass die Eurasier trotz ihres revolutionären Ansatzes, trotz ihres Verbalradikalismus noch mit einem Fuß im vortotalitären 19. Jahrhundert standen und sich bestimmten, für diese Epoche prägenden Normen verpflichtet fühlten. Dies war besonders in den 1930er Jahren sichtbar, als die stalinistische Schreckensherrschaft den in den 1920er Jahren verbreiteten Illusionen über die sogenannte ‚Normalisierung‘ des Bolschewismus ein Ende setzte. Ein Teil der Eurasier erlag der Faszination der stalinistischen Revolution von oben und ließ sich für die Zwecke des Regimes, nicht zuletzt auch als seine Agenten, einspannen. Die Gründer der Bewegung, so vor allem Nikolaj Trubeckoj und Petr Savickij, wandten sich indes von der bolschewistischen Diktatur, die sie seinerzeit als nicht radikal genug eingeschätzt hatten, erschreckt ab. Im Jahre 1937 – im Schicksalsjahr der stalinistischen Sowjetunion – veröffentlichte Trubeckoj im 12. Heft der Evrazijskaja chronika einen Artikel unter dem Titel Der Niedergang der Schaffenskraft. Obwohl der Artikel kein einziges Wort über den Terror enthielt, stellte er eine vernichtende Kritik am Stalinismus dar. Die repressive Politik des Regimes habe zur Erlahmung der Kreativität im Lande geführt, so der Autor: „Die zum Schweigen verurteilten Menschen verlernen allmählich auch zu sprechen“.382 Auf diese durch die Partei verursachte kulturelle Stagnation führt Trubeckoj die Unfähigkeit des Stalinismus, seinen eigenen kulturellen Stil zu entwickeln, zurück. In der Sowjetunion finde jetzt lediglich eine unbeholfene Nachahmung völlig antiquierter Kulturmodelle statt, die im vorrevolutionären Russland 60 bis 70 Jahre zuvor – das heißt in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts – gegolten hatten. Noch Mitte der zwanziger Jahre hatte Petr Suvčinskij die sowjetische Politik als eine Politik großen Stils bezeichnet. Alles was sich den Bolschewiki in Russland widersetze, sei provinziell und wenig überzeugend.383 Die Tatsache, dass Trubeckoj dem Stalinismus etwa zehn Jahre später völlige Stillosigkeit vorwarf, zeigt, wie niedrig inzwischen der Bolschewismus in den Augen der Gründer der Eurasierbewegung gefallen war. Dieser Ernüchterungsprozess der Eurasier weist verblüffende Ähnlichkeiten zu Prozessen auf, die im damaligen 382 Trubeckoj, Istorija, a.a.O., S. 446. 383 Petr Suvčinskij, K poznaniju sovremennosti [Zur Erkenntnis der Gegenwart], in: Evrazijskij vremennik 5 (1927), S. 20.

2.2 Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ …

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Deutschland stattfanden, und zwar im Lager der konservativen Revolution. So wie die Eurasier in den zwanziger Jahren den totalitären Charakter des Bolschewismus völlig falsch einschätzten und zu seiner Verharmlosung neigten, taten die Verfechter der konservativen Revolution in der Weimarer Republik das Gleiche in Bezug auf den Nationalsozialismus. Sie warfen ihm mangelnde Radikalität vor. So mokierten sie sich zum Beispiel über den Beschluss Hitlers, mit Hilfe von Wahlzetteln eine ‚legale Revolution‘ in Deutschland durchzuführen. Ernst Jünger hielt Ende der zwanziger Jahre das Umsatteln Hitlers auf das parlamentarische Pferd für eine Eselei.384 Und ein anderer Kritiker Hitlers, Ernst Niekisch, fügte 1932 hinzu: Wer legal kämpfe, rühre nicht an den Grundlagen des Systems. Wenn man der Machtprobe ausweiche wie Hitler, sei man schon besiegt.385 Trotz solcher Kritik wurden die erdrutschartigen Siege der NSDAP zu Beginn der dreißiger Jahre von der Mehrheit der Konservativen Revolutionäre euphorisch begrüßt. Der linksorientierte Ernst Niekisch und seine ‚Widerstands‘-Gruppe gehörten zu den wenigen Skeptikern. Für die Mehrheit der radikalen Kritiker der Weimarer Demokratie aus dem konservativ-revolutionären Lager indes symbolisierte der Aufstieg der NSDAP das Ende der verhassten liberalen Epoche, den Beginn einer nationalen Wiedergeburt. So hielten sie das Dritte Reich unmittelbar nach seiner Errichtung nicht zuletzt für ihr eigenes Werk, und dies sicher mit einem gewissen Recht. Nur allmählich begannen sie wie der Zauberlehrling zu realisieren, welche Geister sie in Wirklichkeit gerufen hatten. Eine allgemeine Desillusionierung machte sich breit. Einige der Wegbereiter der Zäsur vom 30. Januar 1933 fielen der nationalsozialistischen Despotie zum Opfer – Edgar J. Jung –, andere wandten sich von ihr innerlich ab – wie Ernst Jünger. Nun aber zurück zum Verhältnis der Gründer der Eurasierbewegung zum Bolschewismus. In seinem bereits erwähnten Artikel ‚Der Niedergang der Schaffenskraft‘ zeigte sich Fürst Trubeckoj davon überzeugt, der Kommunismus sei zum Untergang verurteilt, weil er sein schöpferisches Potential gänzlich verbraucht habe. In Wirklichkeit sollte aber das System, dessen baldigen Zusammenbruch er voraussagte, noch etwa ein halbes Jahrhundert lang das Weltgeschehen entscheidend prägen. Die politische Vitalität des Kommunismus wurde von Trubeckoj also eindeutig unterschätzt, nicht aber die kulturelle. Mit einem ungewöhnlichen Scharfsinn erkannte er, dass eine Ideologie, die nicht mehr imstande sei, die kulturelle Elite zu inspirieren, die nur den offiziösen künstlerischen Kanon dulde und jede Abweichung von ihm drakonisch bestrafe, auf die Dauer keine 384 Siehe bei Klaus-Friedrich Bastian, Das Politische bei Ernst Jünger, Diss., Heidelberg 1963, S. 59. 385 Ernst Niekisch, Hitler – ein deutsches Verhängnis, Berlin 1932.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

Überlebenschance habe. Frühzeitig erkannte der Vordenker der Eurasierbewegung die epigonenhafte Sterilität und spießerhafte Kleinkariertheit des stalinistischen Kulturverständnisses, dem auch die Nachfolger Stalins bis zur Gorbačevschen Perestrojka im Wesentlichen treu blieben. Wenn man nach den Ursachen für den Zusammenbruch des sowjetischen Regimes sucht, darf man die Diagnose Trubeckojs keineswegs außer Acht lassen. Nicht nur die wirtschaftliche Ineffizienz, nicht nur die technologische Rückständigkeit, sondern auch der ‚Niedergang der Schaffenskraft‘, der in Russland beziehungsweise in der UdSSR infolge der stalinistischen Gleichschaltung zu beobachten war, bedingte letztendlich den Untergang des Sowjetreiches. Die Eurasier träumten davon, die verbrauchte kommunistische Partei zu beerben. Die Lage in der Sowjetunion sei zwar besorgniserregend, aber nicht aussichtslos, schrieb Trubeckoj 1937 in dem oben erwähnten Artikel: „Den Ausweg stellt die Ablösung des Marxismus durch eine andere herrschende Idee dar“.386 Und es bestand für Trubeckoj kein Zweifel daran, dass diese andere Idee nur die ‚eurasische‘ sein könne. Ein Jahr später starb Trubeckoj, und sein Tod symbolisierte das Ende des klassischen Eurasiertums. Es verließ, wie es damals schien, endgültig die politische Bühne. Trotz ihres unermesslichen Ehrgeizes vermochten also die Eurasier keine wirksame Alternative zur kommunistischen Ideologie zu entwickeln. Die Lehre der Eurasier schien ein skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Indes herrschen in der Welt der Ideen eigentümliche Gesetze, die immer wieder Überraschungen bereit halten. Die gegen Ende der dreißiger Jahre scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen sollten fünfzig Jahre später eine völlig unerwartete Renaissance erleben. Bereits in der Endphase der Gorbačevschen Perestrojka, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken.

386 Trubeckoj, Istorija, a.a.O., S. 448.

2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘ …

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2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘: Zur antiwestlichen Versuchung in Russland und in Deutschland Der Erste Weltkrieg endete mit dem Zusammenbruch der autoritär regierten Imperien und mit dem vollständigen Sieg der westlichen Demokratien. Diesem Sieg folgte jedoch eine Auflehnung gegen den Westen und die von ihm vertretenen Werte, deren Radikalität im Grunde alle früheren Revolten dieser Art übertraf. Dabei fällt auf, dass an der Spitze die­ser Rebellion viele namhafte Intellektuelle standen. Bereits 1927 prägte der französische Publizist Julien Benda den Begriff ‚Verrat der Intellektuellen‘.387 Mit besonderer Schärfe polemisierten gegen den Westen Vertreter der deutschen und der russischen Eliten, die damit an die Tradition der Auseinandersetzung mit dem westlichen Entwicklungsweg anknüpften, die in beiden Ländern tief verwurzelt war. Diese Intellektuellen wandten sich nicht nur gegen den Westen, sondern auch gegen die eigenen Regierungen, die ihrer Ansicht nach den fremden Werten huldigten.

2.3.1 Die Bolschewiki und der Westen Es verwundert nicht, dass den deutschen Verächtern des Westens der Weimarer Parlamentarismus als eine Art westliches Besatzungsregime vorkam. Indes galt auch der Bolschewismus den militanten russischen Kritikern des Abendlandes als ein aus dem Westen importiertes Phänomen, als eine Neuauflage des petrinischen Vorhabens, Russland zu europäisieren. Und in der Tat neigten die Bolschewiki keineswegs dazu, den Westen als solchen abzulehnen; sie waren auch nicht vom bevorstehenden ‚Untergang des Abendlandes‘ überzeugt. Nur die europäische Bourgeoisie war ihrer Ansicht nach krank, nicht aber der Westen insgesamt. Durch ihre Untergangsstimmung, so glaubten die Bolschewiki, bestätigten die europäischen herrschenden Klassen nur die kommunistische Voraussage von dem baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. Ende 1922 sagte Trockij: „Die Philosophie Spenglers vom Untergang Europas ist jetzt im Westen sehr populär. Es ist eine in ihrer Art richtige Vorahnung der bürgerlichen Klassen. Sie nehmen

387 Julien Benda, La trahison des clercs, Paris 1927; dt. Der Verrat der Intellektuellen, München u. Wien 1978.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

keine Notiz vom Proletariat, das an die Stelle der Bourgeoisie treten und die Macht übernehmen wird; deshalb sprechen sie vom Untergang Europas.“388 Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Lenin die These vom Untergang des Westens als Unfug abgetan. Solche Ansichten förderte der Sieg Japans über das Zarenreich im Jahre 1905. Der Mythos von der Unbesiegbarkeit Europas wurde dadurch zerstört. Lenin begrüßte den japanischen Sieg: erstens, weil die Niederlage des Zarenregimes den revolutionären Prozess in Russland beschleunigte; zweitens, weil die russische Niederlage eine Niederlage der bestehenden Weltordnung war. Russland gehörte zu den europäischen Großmächten, die die Welt unter sich aufgeteilt hatten. Nun hatte das erwachende Asien diesem Herrschaftsmonopol der europäischen Bourgeoisie einen Schlag beigebracht. Diese Erschütterung der weltpolitischen Ordnung war Lenin höchst willkommen.389 Das bedeutete aber nicht, dass er an einen eigenen asiatischen Weg glaubte, der sich von demjenigen Europas unterscheide.390 Insofern lassen sich die Bolschewiki nur bedingt als Gegner des Westens betrachten. Im traditionellen russischen Streit zwischen Westlern und Slawophilen nahmen sie eher einen radikal westlerischen Standpunkt ein. Sie glaubten nicht an den russischen Sonderweg. Russlands Eigenart bestand in ihren Augen lediglich in seiner Rückständigkeit. Ähnlich wie andere russische Westler von Peter dem Großen bis Sergej Witte träumten sie lediglich davon, die hochentwickelten Staaten des Westens einzuholen.

2.3.2 Die Kritik der Eurasier an Europa Da die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution alle ihre ideologischen Gegner ausschalteten und die Partei als unfehlbar ansahen, war es in Russland selbst nicht mehr möglich, die von ihnen verkündeten Dogmen zu kritisieren. Die Fortsetzung der Debatte zwischen den Verfechtern und den Gegnern des russischen Sonder388 Lev Trockij, Pjat’ let Kominterna [Fünf Jahre Komintern], Moskau 1924, S. 549; Karl Radek, Die internationale Lage, das Abflauen der kapitalistischen Offensive und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale, in: Die Kommunistische Internationale Nr. 27 v. 15. August 1923, S. 3–41, hier S. 36, fügte im August 1923 hinzu: „Kein Buch ist in Deutschland so populär wie Spenglers ,Untergang des Abendlandes‘. Was äußert sich darin? Es äußerst sich darin das Gefühl, dass die Bourgeoisie sich auf einer niedergehenden Stufe befindet. Dieser Zerfall schafft den Boden, auf dem wir diese intellektuellen Schichten für unseren Kampf gewinnen werden“. 389 Lenin, Polnoe sobranie sočinenij [Sämtliche Werke], a.a.O., Band 8, S. 170 ff. 390 Ebd., Band 21, S. 402.

2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘ …

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wegs war von nun an lediglich im Exil möglich. Und hier ergriffen die radikalen Kritiker des Westens eindeutig die Initiative. Zwar knüpften sie in manchen Punkten an das traditionelle Credo der russischen Slawophilen an, dennoch enthielt ihre Kritik auch qualitativ neue Momente. Die revolutionäre Umwälzung von 1917–20 musste zwangsläufig manche traditionellen Denkmodelle sprengen. Dieses qualitativ Neue spiegelte sich bereits in der 1920 erschienenen Schrift des Sprachwissenschaftlers Nikolaj Trubeckoj Europa und die Menschheit wider.391 Trubeckojs Argumentation unterschied sich grundlegend von derjenigen seiner slawophilen beziehungsweise panslawistischen Vorgänger. Nicht der Gegensatz zwischen den Slawen und den Westeuropäern, sondern derjenige zwischen Europa und dem Rest der Menschheit stellte für ihn den Grundkonflikt der Epoche dar. Die Europäer hielten sich für die Krönung der Schöpfung; und diese ihre beispiellose Egozentrik werde von ihnen nicht einmal reflektiert, so Trubeckoj. Europäisch werde mit universal gleichgesetzt. Die grenzenlose Selbstüberzeugtheit der Europäer verunsichere alle anderen Völker der Welt, die ihre eigenen Werte nun zu missachten begännen, da diese sich von den europäischen unterschieden. Russland wird von Trubeckoj nicht als eine europäische Großmacht, sondern als Bestandteil der von den Europäern geistig und materiell unterjochten übrigen Welt angesehen. Es solle sich an einem weltweiten Aufstand der Nichteuropäer gegen die Dominanz des alten Kontinents beteiligen.392 Trubeckoj fand sehr schnell Gesinnungsgenossen, die ebenso wie er von einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Ost und West ausgingen. Gemeinsam gaben sie 1921 eine Schrift heraus, die den programmatischen Titel Ischod k Vostoku – Auszug nach Osten – trug. So wurde die Eurasierbewegung geboren.393 Die Hoffnungen der Slawophilen in Bezug auf das Slawentum hätten sich nicht erfüllt, schreiben die Herausgeber des Bandes.394 So richten die Eurasier ihren Blick nach Osten, auf die Völker, die das Russische Reich bewohnen. Kein europäischer Staat lasse sich mit Russland vergleichen, so die Autoren der Schrift, denn es handele sich bei Russland nicht um ein Land im herkömmlichen Sinne, sondern um einen eigenständigen Kontinent Eurasien: „Die Russen und die Völker der russländischen Welt sind weder Europäer noch Asiaten. Wir schämen uns nicht, uns 391 Trubetzkoy, Europa und die Menschheit, a.a.O. 392 Vgl. ebd. 393 Ischod k vostoku, a.a.O.; vgl. dazu auch Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O.; Riasanovsky, The Emergence of Eurasianism, a.a.O., S. 39–72; Luks, Die Ideologie der Eurasier, a.a.O., S. 374–395. 394 Ischod k vostoku, a.a.O., S. VII.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

als Eurasier zu bezeichnen.“395 Die Formen Europas sind nach Ansicht der Eurasier auf Russland nicht anwendbar. Sie seien viel zu eng. Der russische Panslawismus, so Trubeckoj, habe lediglich eine Karikatur des Pangermanismus dargestellt, er sei nicht lebensfähig gewesen.396 Auf dem eurasischen Kontinent ist nach Ansicht der Eurasier eine multikulturelle Symbiose entstanden, die im Grunde beispiellos sei. Dabei heben die Eurasier hervor, mit welcher Leichtigkeit die Russen viele Elemente der östlichen Kulturen assimilierten. Nichts Vergleichbares sei im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen geschehen. Die westlichen Werte ließen sich mit den russischen nicht vereinbaren, sie seien niemals verinnerlicht worden. Das Scheitern der petrinischen Reform sei der beste Beweis dafür. Kein fremder Eroberer wäre in der Lage gewesen, die nationale russische Kultur in einem solchen Ausmaß zu zerstören, wie Peter I. dies tat, schreibt Trubeckoj. Die Revolution von 1917 stellte nach Ansicht der Eurasier in erster Linie eine Auflehnung des Volkes gegen das Werk Peters des Großen dar, eine Folge der Spaltung der Nation, die dieser Zar vollzogen habe.397 Mit ihrem radikalen Bruch mit allen Erscheinungsformen der europäischen Kultur, mit ihrer Verklärung des tatarischen Erbes in der russischen Staatstradition, mit ihrem Aufruf zur weltumfassenden Revolte gegen die europäische Dominanz – hier berühren sie sich mit den Bolschewiki –, betraten die Eurasier im Grunde neue Wege. Ihr schrilles Vokabular und ihre bizarre Gedankenwelt entsprachen dem revolutionären Charakter der Epoche, in der sie agierten.

2.3.3 Die ‚konservative Revolution‘ der deutschen Intellektuellen Mit ähnlich schrillen Tönen und bizarren Ideen warteten damals auch viele Vertreter der intellektuellen Elite Deutschlands auf. Auch sie träumten von der Zerstörung der westlichen Hegemonie, von der Zertrümmerung der bis dahin geltenden zivilisatorischen Normen. Nicht der Aufstand der Massen, sondern die Rebellion der intellektuellen Eliten habe dem europäischen Humanismus die größten Schläge zugefügt, sagte 1939 in diesem Zusammenhang der russische Histo395 Ebd. 396 Trubeckoj, Ob istinnom i ložnom nacionalizme, a.a.O., hier S. 84. 397 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 35–39; Alekseev, Das russische Westlertum, a.a.O., S. 149–162; Florovskij, O patriotizme pravednom i grechovnom, a.a.O., S. 230–293.

2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘ …

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riker und Publizist Georgij Fedotov.398 Einen besonders anschaulichen Beweis für diese These lieferte das Verhalten der sogenannten ‚Konservativen Revolution‘ in der Weimarer Republik. In ihrer Zerstörungswut ähnelten die Konservativen Revolutionäre durchaus den Bolschewiki. Der Politologe Hans Buchheim schreibt in diesem Zusammenhang: „Der nationale Stolz, der die Niederlage nicht anerkennen … wollte, gegen den Kriegsgegner jedoch vorerst nichts auszurichten vermochte, wendete sich deshalb gegen den eigenen Staat, als sei dessen Beseitigung die Vorbedingung … zum Wiederaufstieg.“399 Anders als die Bolschewiki wollten jedoch viele Verfechter der Konservativen Revolution das Vorhandene nicht im Namen der ‚lichten Zukunft‘, sondern im Namen der alten, mittelalterlichen Reichsidee zerstören.400 Unverkennbar liegen hier Parallelen zu den Eurasiern. Das radikal Neue stelle im Grunde die Erneuerung des ganz alten dar, sagte in diesem Zusammenhang Trubeckoj. Die Härten des Versailler Vertrages, der sich übrigens in seinem Cha­rakter nicht allzu stark von dem deutschen Siegfrieden in Brest-Litovsk vom März 1918 unterschied, hielten die Verfechter der Konservativen Revolution für einen ausreichenden Grund, um die bestehende europäische Ordnung ‚in die Luft zu jagen‘. Das Gefühl der gekränkten nationalen Eitelkeit wurde zu einem alles beherrschenden Motiv in ihrem Denken und Handeln und ließ sich durch keine Rücksichten auf das gemeinsame europäische beziehungsweise christliche Erbe zähmen. „Wir sind ein Volk in Bedrängnis“, schrieb 1923 einer der Vordenker der Konservativen Revolution Arthur Moeller van den Bruck: „Und der schmale Raum, auf den man uns zurückgedrängt hat, ist die unendliche Gefahr, die von uns ausgeht. Wollen wir nicht aus dieser Gefahr unsere Politik machen?“401 Die antiwestlichen und die antiliberalen Ressentiments waren bei den deutschen Kritikern des Westens im Grunde noch stärker ausgeprägt als bei den Eurasiern. Dies hatte sicher damit zu tun, dass die deutschen Intellektuellen mit dieser Kritik in erster Linie den innenpolitischen Gegner  – das seit 1918/19 im Lande herrschende System – treffen wollten. Die Eurasier hingegen betrachteten ihren 398 Georgij Fedotov, K smerti ili k slave? [Zum Tod oder zum Ruhm?], in: Novyi Grad 14 (1939), S. 102. 399 Hans Buchheim, Das Dritte Reich. Grundlagen und politische Entwicklung, München 1958, S. 54. 400 Siehe unter anderem Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O.; Ders., Der politische Mensch, hg. v. Hans Schwarz, Breslau 1933, S. 32–43, S. 69 ff., S. 102 f., S. 121 f. 401 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O., S. 71 f.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

innenpolitischen Kontrahenten – den Bolschewismus – trotz aller Skepsis als eine Art Alternative zum westlichen System. Zwar lehnten sie bestimmte Aspekte des sowjetischen Regimes ab – den Terror, vor allem aber seine Kulturpolitik. Die soge­nannte proletarische Kultur, die von den Bolschewiki propagiert werde, sei in Wirklichkeit nur eine primitive Nachahmung der westlichen Kultur, behaupteten die Eurasier.402 Zugleich hoben sie aber das Verdienst der Bolschewiki hervor, das 1917 zerfallene russische Reich weitgehend wiederhergestellt zu haben. Und auch die Solidarisierung des sowjetischen Regimes mit den kolonialen Völkern im Kampfe gegen die westlichen Metropolen wurde von den Eurasiern positiv registriert.403 In der Einstellung der Konservativen Revolutionäre zum eigenen Staat kann man hingegen keine versöhnlichen Töne entdecken. Der aus dem Westen importierte Liberalismus wird zum tödlichen Feind der Deutschen wie auch der gesamten Menschheit deklariert. Für Moeller van den Bruck ist der Liberalismus eine ‚moralische Erkrankung der Völker‘, die Freiheit, keine Gesinnung zu haben und dies als Gesinnung auszugeben.404 Die für die Konservativen Revolutionäre so typische moralisierende Attitüde wird hier besonders deutlich. Autoren, die aufgrund des in Versailles begangenen Unrechts bereit sind, die ganze europäische Ordnung in die Luft zu sprengen, die für die ‚Humanitätsduselei‘ nur Spott übrig haben, werfen im gleichen Atemzug dem Liberalismus seine moralische Gleichgültigkeit vor. Kein Wunder, dass dieser moralisierende Immoralismus, der den eigenen geplanten Taten die sofortige Absolution erteilte, den Gegner aber als einen unheilbaren Frevler darstellte, auf viele so anziehend wirkte. Die Ausdehnung des liberalen Systems auf Deutschland stellte für die deutschen Antiwestler das Ergebnis einer raffinierten Intrige des Westens dar. Der Westen sei gegen das liberale Gift immun, er nehme die liberalen Grundsätze gar nicht ernst, meint Moeller van den Bruck. In Deutschland werde hingegen der Liberalismus ernst genommen, daher führten seine zersetzenden Prinzipien das Land ins Verderben. Da die Westmächte nicht imstande gewesen seien, die Deutschen auf dem Schlachtfeld zu bezwingen, hätten sie dies mit Hilfe der revolutionären und der liberal-pazifistischen Propaganda versucht. Und die Deutschen hätten sich vergiften lassen.405 Dass es die deutsche Oberste Heeresleitung war, die 1917 Lenin die Durchreise nach Russland ermöglicht hatte und den Export der Revolution als legitimes Kampfmittel ansah, wurde in keiner Weise in Betracht gezogen. Von der 402 Siehe dazu Luks, Die Ideologie der Eurasier, a.a.O., S. 388. 403 Siehe unter anderem Trubeckoj, My i drugie, a.a.O., S. 66–81, hier S. 77. 404 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O., S. 69 ff. 405 Ebd., S. 69 ff.

2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘ …

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eigenen Schuld und vom eigenen Versagen musste unbedingt abgelenkt werden. Umso schriller und lauter waren die Anklagen gegen den vermeintlichen Feind. Für Hermann Rauschning, einen ehemaligen Vertreter der Konservativen Revolution, befanden sich beträchtliche Teile der deutschen Gesellschaft aufgrund der Mythen und Legenden, die der Niederlage von 1918 folgten, in einer Art Delirium. Auch die edelsten Pläne und Handlungen könnten die Nationen, die sich in einer solchen Gemütslage befänden, nicht davon abhalten, ihren Marsch in den Abgrund fortzusetzen.406 Das Selbstmitleid der Verfechter der Konservativen Revolution war ebenso grenzenlos wie ihr Größenwahn. Es stellte sich nun heraus, dass das einzige Mittel, das die Leiden der Deutschen lindern konnte, die Weltherrschaft war. So erklärte Moeller van den Bruck: „Die Beherrschung der Erde [ist] die gegebene Möglichkeit …, dem Volke eines überbevölkerten Landes das Leben zu ermöglichen. Über alle Gegensätze hinaus … stößt der Drang der Menschen in unserem überbevölkerten Lande in der gleichen Richtung vor, deren Ziel der Raum ist, den wir brauchen.“407 Auch die Eurasier sprachen von einer geopolitischen Neuordnung der Welt. Mit den uferlosen Plänen der Weimarer Rechten hatte indes ihr Programm nichts gemeinsam. Nicht die Beherrschung der Erde, sondern die Suche nach einer einigenden Klammer für das russische Vielvölkerreich interessierte sie. Sie wussten, dass der proletarische Internationalismus, mit dessen Hilfe die Bolschewiki das 1917 zerfallene Reich erneut zusammenfügten, Russland auf Dauer nicht zementieren könne – heute sehen und wissen wir, wie berechtigt ihre damaligen Zweifel waren. Nationale Emotionen seien bei Arbeitern in der Regel wesentlich stärker ausgeprägt als die Klassensolidarität, meinte 1927 Trubeckoj. Russland müsse deshalb, wenn es ein einheitlicher Staat bleiben solle, einen neuen Träger der Einheit finden, und dies könne nur die eurasische Idee sein, die das Gemeinsame zwischen allen Völkern Russlands hervorhebe.408 Den Eurasiern schwebte sogar die Ablösung der Bolschewiki durch die eurasische Bewegung vor. Sie waren stolz, dass ihre Ideen eine gewisse Resonanz nicht nur im Exil, sondern auch in Russland selbst fanden.409

406 Rauschning, The Conservative Revolution, a.a.O. 407 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O., S. 63, 71 f. 408 Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O., S. 24–30. 409 Pis’mo iz Rossii [Ein Brief aus Russland], in: Evrazijskaja chronika 6 (1926), S. 3–5; Strel’cov, Pis‘mo iz Rossii. XV Partkonferencija i Evrazijcy [Ein Brief aus Russland. Die 15. Parteikonferenz und die Eurasier], a.a.O., S. 3–5; Širjaev, Nadnacional‘noe

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2.3.4 Gemeinsamkeiten der Zivilisationskritik Die Eurasier waren ausgesprochene Isolationisten. Sie wollten nicht den Westen erlösen, sondern, ähnlich wie früher Leont’ev, Russland vor den ihrer Ansicht nach verderblichen westlichen Einflüssen schützen. In Deutschland hingegen träumten die Kritiker des Westens von einem neuen Waffengang gegen die Siegermächte. Der Krieg stellte ihrer Ansicht nach das Element dar, in dem sich die Deutschen besonders wohl fühlten. Im bürgerlichen Gewand mache der Deutsche eine unglückliche Figur, meinte Ernst Jünger. Der Grund dafür liege darin, dass dem Deutschen jedes Verhältnis zur individuellen Freiheit und damit zur bürgerlichen Gesellschaft fehle.410 Es gebe nur eine Masse, die nicht lächerlich wirke – das Heer.411 Und Oswald Spengler predigte: „Staatsgeschichte ist die Geschichte von Kriegen. Ideen, wenn sie zur Entscheidung drängen …, wollen mit Waffen, nicht mit Worten ausgefochten werden.“412 Der englische Historiker Lewis Namier bezeichnete den Krieg sogar als eine Form der deutschen Revolution.413 Die Heilserwartungen, die manche Verfechter der Konservativen Revolution mit dem ‚Kriegserlebnis‘ verknüpften, scheinen diese These zu bestätigen. Der amerikanische Historiker Henry A. Turner vertritt dagegen die Auffassung, der Erste Weltkrieg habe das alte europäische Tapferkeitsideal in Frage gestellt. Die anonyme, methodische Vernichtung von Menschen mit modernen Waffen habe eine Ablehnung traditioneller kriegerischer Ideale hervorgerufen. Jeder Glaube an individuelles Heldentum sei nun in den Augen von Millionen absurd geworden.414 Der deutsch-amerikanische Historiker Wolfgang Sauer spricht ebenfalls von den äußerst starken pazifistischen Bestrebungen in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die angeblich den Begriff des Soldatentums als solchen gefährdeten.415

gosudarstvo na territorii Evrazii [Der übernationale Staat auf eurasischem Territorium], a.a.O., S. 6–12; Evrazijstvo (formulirovka 1927 g.), a.a.O., S. 3–14. 410 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, 1932, Stuttgart 1982, S. 13 f. 411 Ders., Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1926, S. 56. 412 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920, S. 52 413 Lewis B. Namier, The Course of German History, in: Ders., Facing East, London 1947, S. 25–40. 414 Henry A. Turner, Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972, S. 168 f. 415 Wolfgang Sauer, National Socialism: Totalitarianism or Fascism?, in: The American Historical Review 72 (1967), S. 404–424, hier S. 411.

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Die Erfolge der kriegsbejahenden rechtsextremistischen Ideologie im Europa der Zwischenkriegszeit, vor allem in Deutschland und in Italien, weisen jedoch darauf hin, dass diese Thesen unzutreffend sind. Die Faszination, die die gewaltige Entfaltung der Kriegs- und Vernichtungstechnik hervorrief, war wesentlich stärker als der Zweifel an dem Sinn des Krieges. Dieses seltsame Phänomen beschäftigte bereits 1928 den deutschen Publizisten Moritz Julius Bonn. Die Idealisierung des Krieges, so Bonn, sei ein völliger Anachronismus. Der moderne Krieg sei kein intuitives Erlebnis der Heroenzeit mehr, sondern ein Massenvernichtungsunternehmen. Und trotzdem werde dieser Krieg verherrlicht.416 Die parlamentarische Demokratie galt ihren deutschen Verächtern als ,unritterlich‘. Die Novemberrevolution von 1918 habe bei der Landesverteidigung versagt, schreibt Ernst Jünger. Daher sei sie in einen Gegensatz zu den Frontsoldaten geraten. Sie habe auf solche Begriffe wie ‚Männlichkeit, Ehre, Mut‘ verzichtet.417 Spengler spricht seinerseits von der ,unbeschreiblichen Häßlichkeit der Novembertage‘: „Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel … .“418 Zugleich knüpften die Verfechter der Konservativen Revolution bei ihrer Kritik an parlamentarischer Demokratie und Liberalismus an den alten konservativen Topos an und bezeichneten den Liberalismus als lebensfeindliche Kraft. Er zersetze organische Bindungen eines Gemeinwesens und fördere niedere, egoistische Instinkte jedes Einzelnen. Nicht der Dienst an der Allgemeinheit stehe in der atomisierten liberalen Gesellschaft im Vordergrund, sondern der Kampf um die Durchsetzung der eigenen Interessen.419 Diese Anklagen sind der eurasischen Kritik am Westen zum Verwechseln ähnlich. Der Kampf ums Recht sei der rote Faden der europäischen Kultur, sagt der Eurasier N. Alekseev. Zunächst hätten die Stände um ihre Rechte gekämpft, seit der Renaissance die Individuen. Pflichten gegenüber der Gemeinschaft würden in Europa von verschiedenen Interessengruppierungen nur nach erbitterten Kämpfen akzeptiert.420 Diesem innerlich zerrissenen Westen versuchten die Eurasier ein altrussisches Harmonieideal gegenüberzustellen, das der Orthodoxie entsprang. 416 Vgl. Internationaler Faschismus. Beiträge über Wesedn und Stand der faschistischen Bewegung und über den Ursprung ihrer leitenden Ideen und Triebkräfte, hg. v. Carl Landauer u. Hans Honegger, Karlsruhe 1928, S. 131 f. 417 Vgl. Bastian, Das Politische, a.a.O., S. 66. 418 Spengler, Preußentum und Sozialismus, a.a.O., S. 11. 419 Siehe unter anderem Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O.; Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931; Ders., Legalität und Legitimität, München u. Leipzig 1932; Ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 1963. 420 Nikolaj Alekseev, Objazannost‘ i pravo [Die Pflicht und das Recht], in: Evrazijskaja chronika 10 (1928), S. 19–26.

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Im Zentrum der orthodoxen Welt stehe nicht der egoistische Kampf der Individuen, der ständige Konflikt, sondern die Idee der Solidarität der Menschen untereinander. Dieses Harmonieideal habe der altrussischen Gesellschaft eine beispiellose Homogenität verliehen.421 Auch die Konservativen Revolutionäre sprachen von einer Alternative zum liberalen Gesellschaftsmodell – dies war die durch das Kriegserlebnis von 1914 ‚geläuterte‘ deutsche Gesellschaft. In der Aufbruchsstimmung vom Sommer 1914 schienen die Deutschen alle politischen, konfessionellen, sozialen und regionalen Spannungen überwunden zu haben. Die ansonsten zerrissene Nation kannte plötzlich ,keine Parteien mehr‘. Die Weimarer Republik, die die Ideale von 1914 angeblich verriet, betrachteten die Konservativen Revolutionäre bloß als ein Provisorium. Es sollte durch das ,Dritte Reich‘ – das Endreich – abgelöst werden, in dem, ähnlich wie 1914, die Gegensätze zwischen Rechts und Links, zwischen Katholisch und Protestantisch, zwischen Nord und Süd keine Rolle mehr spielen sollten.422 Für Carl Schmitt war das liberale ‚Weimarer Provisorium‘ im Grunde kein Staat mehr. Hier bemächtigten sich einzelne Segmente der Gesellschaft – Parteien, Interessenverbände und so weiter – der Staatsgewalt und missbrauchten sie ausschließlich für ihre jeweiligen Interessen. Der Staat als die Verkörperung der Allgemeinheit werde praktisch abgeschafft. Leidenschaftlich setzte sich Carl Schmitt für die Errichtung eines Präsidialregimes mit dem ‚Hüter der Verfassung‘ – dem Reichspräsidenten – an der Spitze ein. Dieser Beamtenstaat sollte sich dem zersetzenden Einfluss der Gesellschaft entziehen, um erneut Politik im ursprünglichen Sinne betreiben zu können.423 Der Traum Schmitts ging 1930 in Erfüllung. Das angeblich überparteiliche Präsidialregime wurde nun in Deutschland errichtet. Es entzog sich weitgehend der gesellschaftlichen Kontrolle, um dann anschließend den Staat seinen Todfeinden auszuliefern. Als eine unheilbare Schwäche des liberalen Staates, des sogenannten Gesetzgebungsstaates, betrachteten sowohl die Konservativen Revolutionäre als auch die Eurasier seine angebliche Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, den sogenannten 421 Mstislav Šachmatov, Podvig viasti. Opyt po istorii gosudarstvennych idealov v Rossii [Die großen Aufgaben der Macht. Zur Geschichte der Staatsideale in Russland], in: Evrazijskij vremennik 3 (1923), S. 55–80; Ders., Gosudarstvo pravdy. Opyt po istorii gosudarstvennych idealov v Rossii [Der Staat der Wahrheit. Zur Geschichte der Staatsideale in Russland], in: Evrazijskij vremennik 4 (1925), S. 268–304; Suvčinskij, Strasti i opasnost, a.a.O., S. 27 ff. 422 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O.; siehe dazu auch Mohler, Die Konservative Revolution, a.a.O. 423 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, a.a.O.

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‚Ernstfall‘ zu bewältigen. Im Gesetzgebungsstaat herrschten nicht Menschen oder Obrigkeiten, sondern Gesetze, beklagt sich Carl Schmitt. Der ursprüngliche Begriff der Herrschaft werde hier aufgelöst und durch abstrakte Normen ersetzt.424 Der Schüler Schmitts, Ernst Forsthoff, fügte hinzu: „Ehre, Würde, Treue … entziehen sich der normativen Sicherung und Institutionalisierung … Der reine Rechtsstaat … ist der Prototyp einer Gemeinschaft ohne Ehre und Würde.“425 So verbreitete sich in den Reihen der Konservativen Revolutionäre die Sehnsucht nach einem wirklichen Herrscher, nach einem Cäsar. Der charismatische Führer, dessen Auftreten einige große europäische Denker bereits im neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit Sorge, andere mit großen Erwartungen vorausgesagt hatten426, sollte die Herrschaft der unpersönlichen Institutionen durch die Herrschaft des Willens ersetzen.

2.3.5 Suche nach dem Führer versus ‚Ideokratie‘ Die cäsaristische Idee hatte in der westeuropäischen Geschichte eine lange Tradition. Bereits Niccolò Machiavelli träumte von einem Führer, der durch seine Leistungen und Heldentaten Italien von den verkrusteten, traditionellen Einrichtungen befreien und das Land einigen würde.427 Das Vorbild für den ,Cäsar‘ Machiavellis lieferten die Kondottieri der Renaissancezeit. Sie kamen aus dem Nichts, verdankten alles nur sich selbst und erreichten aufgrund außergewöhnlicher persönlicher Eigenschaften Ruhm und Macht. Sie beseitigten alte Dynastien und Institutionen und führten umwälzende Änderungen in ihren Staaten durch. Auch Napoleon verkörperte später, wenn auch auf einer höheren Ebene, das gleiche Prinzip. Die Krise des parlamentarischen Systems, die nach 1918 mit einer besonderen Schärfe in Italien und in Deutschland auftrat, verstärkte in diesen beiden Ländern die Sehnsucht nach einem charismatischen Helden, der den ursprünglich persönlichen Charakter der Politik restaurieren sollte. Es sollten nunmehr wieder Hel-

424 Ders., Legalität und Legitimität, a.a.O. 425 Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, S. 13. 426 Vgl. dazu unter anderem Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Gesammelte Werke, hg. v. Richard Oehler, Max Oehler u. Friedrich C. Würzbach, Band 19, München 1926, S. 273; Max Weber, Gesammelte politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 21958, S. 21. 427 Niccolò Machiavelli, Der Fürst, hg. v. Rudolf Zorn, Stuttgart 1955.

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den und nicht Doktrinen, Klassen oder blutleere Institutionen herrschen.428 Der ehemalige Vertreter der Konservativen Revolution, Ernst Niekisch, schrieb nachträglich 1936: Die deutschen bürgerlichen Massen „waren der Herrschaft des unpersönlichen Gesetzes überdrüssig und verachteten die Freiheit, die diese gewährt; sie wollten einem Menschen dienen, einer persönlichen Autorität, einem Diktator. … Sie zogen die schwankende Laune und sprunghafte Willkür eines persönlichen ,Führers‘ der strengen Berechenbarkeit einer unantastbaren gesetzmäßigen Ordnung vor.“429 In ihrer Suche nach Alternativen für das liberale System unterschieden sich die Eurasier jedoch erheblich von den Konservativen Revolutionären. Die Sehnsucht nach einem ,Cäsar‘ war ihnen völlig fremd. Die neue Herrschaftsordnung sollte nicht in erster Linie von Personen, sondern von Ideen geprägt werden. In Europa sei nun ein ideologisches Zeitalter angebrochen, betonten die Eurasier; nur durch große, alle Lebensbereiche durchdringende Ideen könne man die gegenwärtige Krise bewältigen. Diese Ideen sollten zur Grundlage neuer Herrschaftsformen werden, die die Eurasier als ‚Ideokratien‘ bezeichneten.430 Damit knüpften die Eurasier an eine in der russischen Geschichte tief verwurzelte Tradition an. Schließlich handelte es sich bei der zarischen Selbstherrschaft ebenso wie bei der bolschewistischen Diktatur um ideokratische Systeme. Voraussetzungen für die Entstehung von cäsaristischen Sehnsüchten fehlen hingegen in der russischen Tradition. Eine Autonomie unpersönlicher, sozialer und politischer Institutionen und eine Autonomie unpersönlicher Rechtsnormen waren in Russland sowohl vor als auch nach der Revolution nur in einem begrenzten Ausmaß vorhanden. Aus diesem Grund war auch der Ruf nach einem ‚Cäsar‘, der den liberalen Staat ohne ‚Substanz‘ und ohne ‚Würde‘ zu beseitigen hätte, in Russland unbekannt. ,Cäsaristische‘ Gestalten traten in der russischen Geschichte praktisch nicht auf.431

428 Vgl. dazu Leonid Luks, Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921– 1935, Stuttgart 1985, S. 203–206. 429 Ernst Niekisch, Das Reich der niederen Dämonen, Hamburg 1953, S. 87. 430 Trubeckoj, O gosudarstvennom stroe i forme pravlenija, a.a.O., S. 3–9; Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, a.a.O., S. 52–55. 431 Vgl. Luks, Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie, a.a.O., S. 204.

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2.3.6 ‚Konservative Revolution‘ und Eurasiertum – trügerische Erfolge, faktische Marginalität Trotz einer gewissen Verwurzelung in der russischen Tradition hatten die Eurasier als geistige Formation mit ihren sowjetischen Zeitgenossen nur wenig gemeinsam. So war ihre Sehnsucht nach dem alten ,heiligen‘ Russland, nach den verlorenen Wurzeln, der Mehrheit der damaligen sowjetischen Intelligencija völlig fremd. In den zwanziger Jahren herrschte in Russland Zukunftsoptimismus. Die atheistische und materialistische Propaganda der Bolschewiki, die mit der Verfolgung der Kirche verbunden war, erzielte bei den breiten Massen Russlands einen beträchtlichen Erfolg. Die Popularisierung der ‚Wunder‘ der Wissenschaft und der Technik sollte den Glauben an die religiösen Wunder ersetzen. Und in der Tat nahm der Wissenschaftsglaube im bolschewistischen Russland einen beinahe religiösen Charakter an. Russland erlebe jetzt eine Periode naiver Aufklärung, schrieb 1930 Georgij Fedotov. Der Materialismus erhalte dort den Charakter eines neuen Glaubens.432 Kulturpessimistische Elemente der eurasischen Ideologie spiegelten im Grunde westeuropäische und nicht innerrussische Prozesse wider. Auch mit ihrer Kritik am Parlamentarismus und am Egoismus der Parteien und der Interessenverbände stützten sich die Eurasier in erster Linie auf westeuropäische und nicht auf russische Erfahrungen. Die Krise des Parlamentarismus mit ihren Begleiterscheinungen konnte in Russland gar nicht auftreten, weil der Parlamentarismus westlichen Musters hier nie zur vollen Entfaltung gelangt war. Trotz ihrer verzweifelten Versuche, sich in die nachrevolutionäre Entwicklung Russlands einzufühlen und sich mit ihr zu identifizieren, standen die Eurasier also in ihrer Geisteshaltung den Westeuropäern wesentlich näher als ihren Landsleuten in der Sowjetunion. Schließlich waren sie, ob sie es wollten oder nicht, Vertreter gerade derjenigen europäisierten Oberschicht, deren Beseitigung durch die Revolution sie im Wesentlichen begrüßten.433 Ganz anders als die Eurasier spiegelten die Konservativen Revolutionäre mit ihrer Haltung den geistigen Zustand eines großen Teils ihrer Gesellschaft wider. Mit ihrer Ablehnung der Moderne und der aufklärerisch-liberalen Tradition schwammen sie mit dem Strom der Zeit. Sie waren ein Symptom der Modernisierungskrise, die bereits um die Jahrhundertwende den Westen erfasste, die allerdings in solchen ‚verspäteten‘ Nationen wie Deutschland und Italien in einer besonders radikalen Form auftrat. 432 Georgij Fedotov, Novaja Rossija [Das neue Russland], in: Sovremennye zapiski 41 (1930), S. 276–311, hier S. 297. 433 Luks, Die Ideologie der Eurasier, a.a.O.

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Die Weltwirtschaftskrise von 1929 versetzte dem liberalen Denkmodell einen zusätzlichen Stoß. Der Glaube an die Selbstregulierungsfähigkeit des liberalen Systems ging verloren. Das freie Spiel der Kräfte und das Prinzip der Konkurrenz waren nicht imstande, ein wirtschaftliches Debakel beispielloser Art zu verhindern. Aber nicht nur das liberale, sondern auch das marxistische Denkmodell erlebte damals eine Krise, die an die spätere Krise von 1989 erinnert. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die der Verteidigung der Unterdrückten verlören nun eindeutig ihre Anziehungskraft, schrieb 1931 Georgij Fedotov. Demgegenüber wachse überall in Europa der extreme nationale Egoismus, das Streben nach maximaler Entfaltung der eigenen Nation auf Kosten anderer Völker.434 Es stellte sich nun heraus, dass der Liberalismus und der Marxismus eine Art Schicksalsgemeinschaft bildeten, dass die Kluft zwischen ihnen nicht so tief war wie zunächst angenommen. Was verband den unduldsamen, auf das Wahrheitsmonopol pochenden Marxismus mit dem relativistisch-pluralistischen Liberalismus? Dies war und ist in erster Linie der Glaube an die Vernunft, an die Fähigkeit des Menschen, sowohl die Natur als auch die sozial-wirtschaftlichen Prozesse zu beherrschen. Beide Lehren triumphieren in den Perioden, in denen der Fortschritts- und Wissenschaftsglaube vorherrscht. Dort, wo dieser Glaube schwindet, schlägt die Stunde der Kulturpessimisten, der Verfechter des Irrationalismus, die Stunde der ‚Konservativen Revolution‘. 1927 definierte Hugo von Hofmannsthal die Konservative Revolution als Revolte gegen das unerträglich unromantische neunzehnte Jahrhundert, als Suche nach Bindungen, die die Suche nach Freiheit nun ablöse. Diesen Suchenden begegne man nicht in Haufen, sondern einzeln, fügt Hofmannstahl hinzu, sie seien die Nation der Einzelnen.435 Die elitäre Attitüde der Konservativen Revolution spiegelt sich in diesen Worten besonders deutlich wider. Auf die sogenannten Massen, auch auf die Massenparteien, schaute sie herab. Sie hielt diese Parteien für einen Bestandteil des Weimarer Systems, das sie verabscheute.436 Einige Gruppierungen der Konservativen Revolution – in erster Linie der ‚Tat‘-Kreis um die gleichnamige Zeitschrift von Hans Zehrer – wollten sich der NSDAP geistig bemächtigen, um deren Anhängerschaft für eigene Ziele einzuspannen. Im Juli 1932 veröffentlichte der deutschrussische Sozialdemokrat Aleksandr Schifrin einen Artikel über den Tat-Kreis, 434 Georgij Fedotov, Social‘nyj vopros i svoboda [Die soziale Frage und die Freiheit], in: Sovremennye zapiski 47 (1931), S. 421–438; Ders., Sumerki otečestva [Die Dämmerung des Vaterlandes], in: Novyi Grad l (1931). 435 Hugo von Hofmannstahl, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in: Ders., Gesammelte Werke. Prosa, Band 4, Frankfurt am M. 1955, S. 390–413. 436 Vgl. Bastian, Das Politische bei Ernst Jünger, a.a.O., S. 59.

2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘ …

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in dem viele Thesen der heutigen Forschung zur Konservativen Revolution vorweggenommen wurden. Der ‚Tat‘-Kreis, so Schifrin, wolle sich der nationalsozialistischen Bewegung bedienen, um einen ‚deutschen Sozialismus‘ zu verwirklichen. Aber auch der Nationalsozialismus profitiere von dieser Komplizenschaft und erhalte zusätzliche geistige Unterstützung und zusätzliche Möglichkeiten, die öffentliche Meinung mit seiner Ideologie zu vergiften. Naivität könne bei Leuten wie Zehrer nicht als mildernder Umstand gelten, meint Schifrin, „denn diese Leute wollen betrogen werden, sie wollen in der Reaktion Sozialismus entdecken“.437 Schifrin hat sich hier allerdings geirrt. Dem Verhalten Zehrers und seiner Gesinnungsgenossen lag zweifellos eine ungewöhnliche politische Naivität zugrunde. Sie verstanden sich als kaltblütige Politiker, die dem Nationalsozialismus nur gestatteten, die Vorarbeit für eine ‚wirkliche‘ nationale Revolution zu leisten. Der Sturz der Weimarer Republik war nach ihrem Plan der wichtigste Teil dieser Vorarbeit. Danach wollten sie selbst die Führung der nationalen Revolution übernehmen. Nach dem 30. Januar 1933 hat sie aber niemand mehr gebraucht. Statt die Früchte der ‚Arbeit‘ der anderen zu ernten, leisteten sie in Wirklichkeit nur die Vorarbeit zum totalen Sieg der NSDAP.438 So war die Existenz der Konservativen Revolution mit der Existenz der von ihr so ungeliebten Weimarer Demokratie untrennbar verbunden. Die Zerstörung des Weimarer Staates – der größte ‚Erfolg‘ der Konservativen Revolution – zerstörte das eigentliche Fundament, auf dem sie agieren konnte. Den Eurasiern waren nicht einmal solche ‚Erfolge‘ gegönnt. Im Gegensatz zu den Weimarer Demokraten duldeten die Bolschewiki keine ideologischen Konkurrenten. Sie fühlten sich als Sieger der Geschichte, schienen unbezwingbar, und diese ihre Selbstsicherheit ließ auch viele Eurasier nicht unbeeindruckt. Ihre Einstellung zum Bolschewismus wurde immer unkritischer. 1929 hat sich die EurasierBewegung gespalten. In Paris konstituierte sich ein prosowjetischer Flügel der Eurasier unter Sergej Ėfron – dem Ehemann der Dichterin Marina Cvetaeva – und Dmitrij Svjatopolk-Mirskij, der sich um die Zeitung Evrazija gruppierte.439

437 Aleksandr Schifrin, Adelfaschismus und Edelfaschismus, in: Die Gesellschaft 7 (1932), S. 97–108. 438 Vgl. dazu unter anderem Kuhn, Das geistige Gesicht der Weimarer Zeit, a.a.O., S. 1–10. 439 Siehe dazu Gleb Struve, Russkaja Literatura v izgnanii [Die russische Literatur im Exil], New York 1956, S. 73–77; Ders., Kn. D. P. Svjatopolk-Mirskij o. P. B. Struve [Fürst D. P. Svjatopolk-Mirskij über P. B. Struve], in: Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 130 (1979), S. 232–236.

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2.3.7 Parallelen ohne Berührungen Die verblüffenden Parallelen im Denken der Eurasier und der Konservativen Revolutionäre führen zwangsläufig zur Frage, ob die beiden Strömungen im direkten Kontakt miteinander standen, ob sie sich gegenseitig beeinflussten. Dies war aber nur höchst selten der Fall. 1931 beklagt sich Petr Savickij über die unerwartet dürftige Resonanz der deutschen Öffentlichkeit auf die Publikationen der Eurasier. In solchen Ländern wie Polen, die Tschechoslowakei oder Jugoslawien verhielten sich die Dinge ganz anders.440 War dieses schwache deutsche Echo auf die eurasischen Schriften vielleicht durch die sprachliche Barriere bedingt? Wohl kaum. Das antiwestliche Manifest des Mitbegründers der Eurasierbewegung Trubeckoj Europa und die Menschheit aus dem Jahre 1920 wurde bereits 1922 ins Deutsche übersetzt. Ausführlich über die Eurasier schrieb 1927 in seiner Monographie Russland jenseits der Grenzen Hans von Rimscha.441 So war der von Savickij konstatierte Mangel an Erfolg der Eurasier in Deutschland sicher nicht durch die sprachliche Barriere verursacht. Er hatte zweifellos damit zu tun, dass ‚Russland jenseits der Grenzen‘ die Konservativen Revolutionäre weit weniger interessierte als der sowjetische Staat. Sie waren vom bolschewistischen Experiment, ähnlich übrigens wie die Eurasier selbst, fasziniert und wollten ‚von der Sowjetunion lernen, um gegen den Westen siegen zu lernen‘. Und wie verhielt es sich mit der Reaktion der Eurasier auf das Gedankengut der Konservativen Revolution? Auch diese Reaktion fiel relativ bescheiden aus. Zwar befassten sich die Eurasier intensiv mit den Schriften Oswald Spenglers und anderer rechter Intellektueller der Weimarer Re­publik. Mit dem Phänomen ‚Konservative Revolution‘ als solchem setzten sie sich aber sehr selten auseinander. Zu den wenigen Ausnahmen gehörte der Artikel Aleksandr Antipovs Die neuen Wege Deutschlands im eurasischen Sammelband Die neue Epoche von 1933.442 Antipov analysiert hier die Programme solch führender Gruppierungen der Konservativen Revolution wie des ‚Tat‘-Kreises von Zehrer und der Gruppe um Niekisch und dessen Zeitschrift Widerstand. Dem Autor fallen immer wieder Parallelen zum Denken der Eurasier auf. So seien diese ‚jungdeutschen‘ Gruppierungen ähnlich wie die Eurasier Gegner des liberalen Wirtschaftssystems und plädierten für einen 440 Petr Savickij, V bor‘be za evrazijstvo [Im Kampf um das Eurasiertum], o.O. 1931. 441 Hans von Rimscha, Rußland jenseits der Grenzen 1921–1926. Ein Beitrag zur russischen Nachkriegsgeschichte, Jena 1927, S. 182–193. 442 Aleksandr Antipov, Novye puti Germanii [Neue Wege Deutschlands], in: Novaja ėpocha, a.a.O., S. 35–43.

2.3 ‚Eurasier‘ und die ‚Konservative Revolution‘ …

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starken, interventionistischen Staat und für eine wirtschaftliche Autarkie. Sie glaubten an die Macht der Ideen und strebten die Errichtung eines ideokratischen Systems an. Mit Sorge betrachtete Antipov allerdings die geopolitischen Pläne der Konservativen Revolutionäre, ihren Glauben an die Mission Deutschlands, den mittel- und osteuropäischen Raum neu zu ordnen. Diese Neuordnung Europas durch das ,junge Deutschland‘ werde dieses unvermeidlich zu einer Konfrontation mit Russland führen, sagte der Autor. Antipov gehörte zu den wenigen Akteuren der damaligen Zeit, die die erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen den Gedankengängen der Eurasier und denjenigen der Konservativen Revolutionäre wahrnahmen – dies ungeachtet der Tatsache, dass beide Strömungen sich völlig unabhängig voneinander entwickelt hatten. Gemeinsam war ihnen in erster Linie die Ablehnung des Westens und die Suche nach einer Alternative zu den westlichen Entwicklungsmodellen. Und dieser gemeinsame Nenner erwies sich als ausreichend, um sie in weltanschauliche, wenn auch nicht politische Nähe zueinander zu bringen.443

2.3.8 Konjunkturen und Perspektiven Die Spaltung von 1929 hat die Eurasier-Bewegung nachhaltig geschwächt. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre löste sie sich weitgehend auf. Sie verschwand also beinahe zur gleichen Zeit wie die Konservative Revolution von der Bildfläche. Aber anders als die Verfechter der Konservativen Revolution schienen die Eurasier keine ideologischen Spu­ren hinterlassen zu haben. Das 1933 gegründete Dritte Reich mit einem ‚charismatischen‘ Führer an der Spitze stellte immerhin, wenn auch in einer pervertierten Form, die Verwirklichung mancher Träume der Konservativen Revolutionäre dar. Das von den Eurasiern erträumte eurasische Reich ist aber niemals entstanden. Die Lehre der Eurasier schien ein endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Dennoch sollten die in den 1930er Jahren scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen fünfzig Jahre später eine völlig unerwartete Renaissance erleben. Das Debakel ihres ideologischen Kontrahenten – des Bolschewismus – verhalf ihnen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre zu einer erneuten Popularität. Man suchte nun in Russland, nach dem Zusammenbruch des sogenannten ‚proletarischen Internationalismus‘, nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker 443 Zu ‚eurasischen‘ Komponenten im Denken einiger Vertreter der Konservativen Revolution vgl. Hans Hecker, ‚Die Tat‘ und ihr Osteuropa-Bild 1909–1939, Köln 1974, S. 96, S. 105 f.; Schüddekopf, Linke Leute von rechts, a.a.O., S. 188 f.

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und Religionsgemeinschaften des eurasischen Subkontinents. Es entbrannte ein neuer Streit über den russischen Entwicklungsweg. Die neuen russischen ‚Westler‘ betrachteten Russland, ähnlich wie ihre Vorgänger im neunzehnten Jahrhundert, bloß als ein rückständiges europäisches Land. Die Besonderheit Russlands bestand für sie vor allem in seiner ‚Rückständigkeit‘. Die westlichen Entwicklungswege stellten für sie eine ,Norm‘ dar, an die sich Russland früher oder später anpassen müsse. Dieser Standpunkt wird von den national gesinnten Gruppierungen als weltfremd und utopisch angesehen. Russland werde sich niemals in einen ‚normalen‘ europäischen Staat verwandeln, heben sie hervor. Seine Strukturen und Traditionen seien derart spezifisch, dass eine mechanische Übernahme der im Westen entwickelten Modelle zwangsläufig scheitern müsse. Der ehemalige Berater Boris El’cins, Sergej Stankevič, einer der schärfsten Kritiker der ‚Neowestler‘ – oder ‚Atlantiker‘, wie sie heute gelegentlich bezeichnet werden –, weist darauf hin, dass Russland mehr als zur Hälfte in Asien liege, dass es vom Westen nun durch einen Gürtel von neuentstandenen unabhängigen Staaten abgetrennt worden sei. Dieser Ostverschiebung müsse Moskau auch Rechnung tragen. Bei seinem Kampf um die Aufnahme in den Klub der westlichen Industrienationen dürfe es seine asiatische Komponente keineswegs vernachlässigen.444 Die von Stankevič vertretene Position wird oft als eine Neubelebung der eurasischen Ideologie angesehen. In einer viel aggressiveren Form wird diese Ideologie von den russischen Neoimperialisten um Aleksandr Prochanov vertreten, die mit Hilfe der eurasischen Idee das alte sowjetische Reich restaurieren möchten. Sein Presseorgan Den’ – Tag –, das er nach dem Verbot vom Oktober 1993 in Zavtra – Morgen – umbenannte, bezeichnet Prochanov sogar als ein eurasisches Organ. Der eurasische Gedanke wird auch von einigen anderen Zeitungen und Zeitschriften lanciert, insbesondere von der Zeitschrift Ėlementy, die in den Jahren 1992 bis 1998 von Aleksandr Dugin herausgegeben wurde.445

444 Sergej Stankevič, Deržava v poiskach sebja. Zametki o rossijskoj vnešnej poli­tike [Eine Großmacht auf der Suche nach sich selbst. Anmerkungen zur russischen Außenpolitik], in: Nezavisimaja gazeta v. 28. März 1992; Ders., Rossija, 1992-j. Predel dopu­sti­mogo [Russland im Jahre 1992. Die Grenzen des Zumutbaren], in: Komsomol‘skaja pravda v. 26. Mai 1992; siehe dazu auch Assen Ignatow, Der ,,Eurasismus“ und die Suche nach einer neuen russischen Kulturidentität. Die Neubelebung des ,,Evrazijstvo“-Mythos, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 15, 1992. 445 Vgl. dazu meinen nachfolgenden Aufsatz Der ‚dritte Weg‘ der ‚neo-eurasischen‘ Zeitschrift Ėlementy – zurück ins Dritte Reich? in diesem Band.

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Dennoch besteht die Schwäche des eurasischen Konzepts darin, dass es bisher keine Breitenwirkung zu erzielen vermochte. Sein Einfluss bleibt auf einige elitäre Kreise beschränkt, ähnlich übrigens wie dies in den 1920er und in den 1930er Jahren der Fall gewesen war. Für die russischen Nationalisten ist die eurasische Idee viel zu abstrakt, das Gleiche betrifft die Mehrheit der Intellektuellen aus den islamischen Republiken der ehemaligen UdSSR. So scheint das erneute Scheitern des eurasischen Programms wohl unausweichlich zu sein.

2.4

Der ‚dritte Weg‘ der ‚neo-eurasischen‘ Zeitschrift Ėlementy – zurück ins Dritte Reich?

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums wird von vielen Verfechtern des imperialen Gedankens im heutigen Russland als eine Art Apokalypse erlebt. Sie lassen sich nicht durch das Argument trösten, dass auch andere europäische Mächte im Verlaufe des 20. Jahrhunderts ihre Imperien verloren hatten, dass das Sowjetreich angesichts der Beschleunigung der emanzipatorischen Prozesse auf der ganzen Welt infolge des Zweiten Weltkriegs zu einem lebenden Anachronismus geworden war. Auf der anderen Seite kann man die in Russland zurzeit verbreitete Verunsicherung durchaus verstehen. Denn anders als Großbritannien oder Frankreich musste sich Russland nicht nur von einem Weltreich, sondern zur gleichen Zeit auch von seinem seit Generationen herrschenden politischen und wirtschaftlichen System wie auch von der Ideologie, die dieses System legitimierte, verabschieden. Insofern lassen sich die Ereignisse von 1991, die zum Zerfall des Sowjetimperiums führten, weniger mit der Auflösung der westlichen Weltreiche, viel mehr aber mit den Umwälzungen von 1917/18 in Russland selbst vergleichen. Denn auch damals erlebte Russland einen Zusammenbruch in vielfacher Hinsicht. 1917/18 zerfielen nicht nur das russische Imperium und das bestehende wirtschaftliche und politische System des Landes, sondern auch die Staatsdoktrin, die der russischen Staatlichkeit seit Jahrhunderten zugrunde lag. Nicht zuletzt deshalb war in der damaligen russischen Gesellschaft das Gefühl verbreitet, in einer apokalyptischen Zeit zu leben. Ähnliche Stimmungen scheinen auch im postsowjetischen Russland zu herrschen, vor allem in den national- beziehungsweise imperial-gesinnten Kreisen. Bereits in der Endphase der Perestrojka, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken – das Programm der 1921 im russischen Exil entstandenen

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und Ende der 1930er Jahre in der Versenkung verschwundenen Bewegung.446 Viele Gruppierungen und publizistische Organe im heutigen Russland bekennen sich zum eurasischen Programm. Mit besonderer Vehemenz tun dies jedoch der Publizist Aleksandr Dugin und dessen 1992 gegründete Zeitschrift Ėlementy, die sich in ihrem Untertitel sogar als ‚eurasische Umschau‘ – evrazijskoe obozrenie – bezeichnet.447 Da die Eurasierbewegung zu den originellsten ideologischen Strömungen im russischen Exil zählte, kann das Bekenntnis zu ihrem Gedankengut durchaus zur Steigerung des Renommees von entsprechenden Gruppierungen beitragen. Von dem Ruf der einstigen ‚Eurasier‘ versucht auch die Zeitschrift Ėlementy zu profitieren, die sich als eine Art geistige Erbin des ‚klassischen‘ Eurasiertums betrachtet. Ist dieser Anspruch berechtigt? Diese Frage wird im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen.

2.4.1 Die ‚klassischen‘ Eurasier und die Ėlementy-Gruppe Das ideologische Credo der Ėlementy-Gruppe weist durchaus Übereinstimmungen mit dem Programm der Eurasier auf. Bei beiden Gruppierungen handelt es sich um leidenschaftliche Verfechter des kulturellen Partikularismus und um radikale Gegner universaler Ideen. Die Eurasier hielten den Universalismus für eine Erfindung der Westeuropäer – der ‚romanisch-germanischen‘ Völker –, die ihren eigenen Wertvorstellungen und zivilisatorischen Normen einen allgemein gültigen, alle Völker der Welt verpflichtenden Charakter verleihen wollten. Wenn die Europäer von der menschlichen Zivilisation sprächen, verstünden sie darunter nur die europäische Zivilisation, schrieb 1920 einer der Gründer der Eurasier-Bewegung, Fürst Nikolaj Trubeckoj. Hinter dem angeblichen Universalismus und Kosmopolitismus der Westeuropäer verberge sich lediglich ihr Streben nach der Weltherrschaft.448 Nicht anders bewerten die Herausgeber der Ėlementy die heutigen Globalisierungstheorien, das ‚One-World‘-Modell oder die Idee von einer ‚Neuen Weltordnung‘. All diese ‚mondialistischen‘ Konzepte würden von den regierenden Kreisen des

446 Siehe dazu unter anderem Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O.; Riasanovsky, The Emergence of Eurasianism, a.a.O., S. 39-72; Luks, Die Ideologie der Eurasier, a.a.O., S. 374–395. 447 Die Zeitschrift existierte bis zum Jahre 1998. 448 Ich stütze mich hier auf die von Jakobsohn und Schloemer ins Deutsche übersetzte Fassung der Schrift von Trubeckoj, Europa und die Menschheit, a.a.O.

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Westens, vor allem von der amerikanischen Machtelite, lanciert, deren Ziel die Errichtung einer Weltregierung, das heißt die Weltherrschaft sei.449 Während die Eurasier den Westen insgesamt, genauer gesagt die ‚romanisch-germanischen‘ Völker, als den Feind der gesamten nichtabendländischen Menschheit betrachteten, reduziert sich das Feindbild der Ėlementy nur auf die angelsächsischen Seemächte, auf die sogenannten ‚Thalassokratien‘, deren Interesse den Interessen der Kontinentalmächte angeblich diametral widerspreche. Die Thalassokratien seien für die Abschaffung von Grenzen, für eine Vereinheitlichung von Kulturen, für eine ‚melting-pot‘-Gesellschaft. All dies werde von den westlichen beziehungsweise ‚atlantischen‘ Verfechtern des ‚Mondialismus‘ als Fortschritt apostrophiert. Die Kontinentalmächte hingegen seien traditionalistisch gesinnt, im Boden verankert. Die kulturelle Eigenart einzelner Völker stelle für sie ein kostbares Gut dar und keineswegs einen störenden Faktor, der dem sogenannten Fortschritt im Wege stehe. Diesen Gegensatz halten die Ėlementy für unüberbrückbar. Um ihren mondialistischen Plan zu verwirklichen, müssten die ‚Thalassokratien‘ danach streben, alle Kulturen der Welt ihrer Eigenart zu berauben, sie zu einem Einheitsbrei, zur sogenannten ‚Weltkultur‘ zu vermischen. Die Kontinentalmächte ihrerseits müssten versuchen, wenn sie überleben wollten, diese Offensive mit allen Mitteln aufzuhalten. Es gehe hier um Tod oder Leben.450 Neben der Ablehnung des ‚vom Westen lancierten‘ Universalismus verbindet die Ėlementy-Gruppe mit den Eurasiern auch eine radikale Absage an das liberal-demokratische System. Die Eurasier plädierten für einen starken, interventionistischen Staat und hielten den liberalen ‚Nachtwächterstaat‘ für ein Relikt der Vergangenheit. Er sei viel zu passiv, um den Herausforderungen der Moderne gewachsen zu sein. Die damalige Krise der parlamentarischen Demokratie führten die Eurasier darauf zurück, dass diese nicht imstande sei, die Menschen für ihre Ideale zu begeistern.451 Deshalb sei sie auch zum Scheitern verurteilt. Die Toleranz der im Westen herrschenden Demokraten gegenüber konkurrierenden Ideologien hielten die Eurasier für ein Zeichen der Schwäche. Ein vitaler Staat mit einer vitalen Ideologie brauchte nach Ansicht der Eurasier keine oppositionellen Strömungen zu dulden. Die programmatische Schrift der Eurasier Evrazijstvo aus dem 449 Vgl. dazu unter anderem Ėlementy 1 (1992), S. 3; 2 (1992), S. 1–8; 3 (1993), S. 2; 5 (1994), S. 7–11; Aleksandr Dugin, Paradigma konca [Das Paradigma vom Ende], in: Ėlementy 9 (1998), S. 2–70, hier S. 28 f., S. 69. 450 Ėlementy 2 (1992), S. 27; 3 (1993), S. 3 f.; 4 (1993), S. 48. 451 Siehe dazu unter anderem Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, a.a.O., S. 55 f.; Nikolaj Alekseev, Evrazijstvo i gosudarstvo [Das Eurasiertum und der Staat], in: Evrazijskaja chronika, vypusk IX., Paris 1927, S. 36 ff; Ders., Objazannost‘ i pravo, a.a.O., S. 23 f.

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Jahr 1926 plädiert für die Errichtung eines Einparteiensystems, in dem die alleinherrschende Partei alle staatlichen Institutionen ideologisch durchdringt und ein weitverzweigtes Netz von Organisationen und Verbänden errichtet. Die Autoren der Schrift waren sich darüber im Klaren, dass dieses System der faschistischen Diktatur in Italien oder dem bolschewistischen System ähnelte. Dies schreckte sie aber keineswegs ab.452 Das Mehrparteiensystem wurde von den Eurasiern auch deshalb abgelehnt, weil die einzelnen Parteien angeblich nur die egoistischen Interessen und Rechte ihrer Klientel und nicht das Interesse der Allgemeinheit als solcher im Auge hätten. Dieses Pochen auf eigene Rechte hielten die Eurasier für eine typisch westliche Erscheinung. Der Rechtswissenschaftler Nikolaj Alekseev, der zu den führenden Eurasiern zählte, schrieb 1928 in diesem Zusammenhang: Zunächst hätten im Westen die Stände, seit der Renaissance die Individuen um Rechte gekämpft, Pflichten gegenüber der Gemeinschaft würden im Westen nur nach erbitterten Kämpfen akzeptiert.453 Diesem innerlich zerrissenen Westen versuchten die Eurasier ein altrussisches Harmonieideal gegenüberzustellen, das der Orthodoxie entsprang.454 Auch die Ėlementy-Gruppe prangert den westlichen Individualismus und Egoismus mit äußerster Schärfe an und lehnt sowohl den wirtschaftlichen wie auch den politischen Liberalismus radikal ab. Anders als die Eurasier sehen indes die Ėlementy im Liberalismus nicht den ‚Verlierer‘, sondern den ‚Sieger der Geschichte‘. Und in der Tat hat sich das Kräfteverhältnis zwischen den Verfechtern und den Feinden der ‚offenen Gesellschaft‘ im ausgehenden 20. Jahrhundert grundlegend gewandelt. In den 1920er und 1930er Jahren, als die Eurasier den liberalen Staat wegen seiner Passivität und Schwäche verhöhnten, war dessen Lage außerordentlich prekär. Von den extremen Rechten und Linken unter Druck gesetzt, kämpfte er um sein Überleben. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, vor allem nach der Auflösung des Sowjetimperiums, ist aber der totgesagte Liberalismus wie der ‚Phönix aus der Asche‘ wiederauferstanden. Und dieser Sieg stellt für die Herausgeber der Ėlementy eine beispiellose Niederlage für die gesamte nichtokzidentale Menschheit dar. Sie wollen das Rad der Geschichte um jeden Preis zurückzudrehen, denn das Leben in einer von liberalen Prinzipien beherrschten Welt ist für sie nicht lebenswert.

452 Evrazijstvo, a.a.O., S. 52. 453 Alekseev, Objazannost’ i parvo, a.a.O. 454 Šachmatov, Podvig vlasti, a.a.O., S. 55–80; Ders., Gosudarstvo pravdy, a.a.O., S. 268– 304; Suvčinskij, Strasti i opasnosti, a.a.O., S. 27 ff.

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Die Zeitschrift bezeichnet den Liberalismus als die „konsequenteste, aggressivste und radikalste Form des europäischen Nihilismus“, als Verkörperung der Traditionsfeindlichkeit, des Zynismus und der Skepsis.455 Der Liberalismus zerstöre jede geistige, historische und kulturelle Kontinuität, er sei der Feind des Menschengeschlechts schlechthin. Die Zeitschrift hält es für ein fatales Missverständnis, dass Liberalismus und Demokratie oft in einem Atemzug genannt würden. In Wirklichkeit habe der Liberalismus mit der Demokratie – der Macht des Volkes – nichts gemein. Bei den Verfechtern des Liberalismus handele es sich um eine kleine, machthungrige und von niemandem gewählte Elite, die sich der demokratischen Rhetorik bloß bediene, um beim Volk den Eindruck zu erwecken, es habe mit den von der Oberschicht gefällten politischen Entscheidungen irgendetwas zu tun. In Wirklichkeit, so der Chefredakteur der Zeitschrift, Aleksandr Dugin, verfüge das Volk in keinem anderen politischen System über so wenig Macht wie in den sogenannten ‚Demokratien‘.456 Die politischen und die ideologischen Gegner der Eurasier und ihrer Epigonen aus der Zeitschrift Ėlementy sind also klar definiert. Wer sind aber ihre Gesinnungsgenossen? Dazu zählen in erster Linie radikale Gegner des Liberalismus und der parlamentarischen Demokratie, und zwar sowohl im rechten als auch im linken Lager. Bereits den ersten russischen Kritikern des eurasischen Programms fiel eine geistige Nähe der Eurasier zum Bolschewismus und zum italienischen Faschismus auf. Der Bolschewismus und der italienische Faschismus würden von den Eurasiern in einem durchaus positiven Licht gesehen, schrieb 1924 der russische Philosoph Fedor Stepun. Das einzige, was sie kompromisslos ablehnten und hassten, sei die Demokratie.457 Was verband die Eurasier, die ebenso wie andere Emigranten zu den Verlierern des russischen Bürgerkrieges zählten, mit ihren bolschewistischen Bezwingern? In erster Linie die vernichtende Kritik am vorrevolutionären Russland und die Anerkennung der historischen Notwendigkeit der Revolution von 1917. Die Eurasier lehnten das vorrevolutionäre, petrinische Russland vor allem aus kulturellen und ideologischen Motiven ab. Sie hielten die Europäisierung Russlands, die Peter der Große in Angriff genommen hatte, für einen Irrweg der Geschichte. Peter I. habe das Fundament, auf dem die innere Stärke Russlands ruhte, zerstört, schreibt Tru-

455 Ėlementy 5 (1994), S. 5. 456 Ebd., S. 8. 457 Stepun, Evrazijskij vremnennik, a.a.O., S. 403.

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beckoj.458 Insofern betrachteten die Eurasier die Revolution von 1917 als Gericht über das nachpetrinische Russland, als berechtigte Reaktion des einfachen Volkes gegen den Willen, der Russland gespalten hätte.459 Mit dieser Anerkennung der ‚inneren Logik und Wahrheit‘ der russischen Revolution stimmten die Eurasier im Wesentlichen mit den Bolschewiki überein, obwohl ihr Urteil über die Genese der Revolution sich von demjenigen der Bolschewiki grundlegend unterschied. Die Bolschewiki führten die Auflehnung der russischen Unterschichten gegen das bestehende System auf die wirtschaftliche und politische Unterdrückung zurück, die Eurasier hingegen auf die kulturelle. Auch die Erwartungen, die die Bolschewiki einerseits und die Eurasier andererseits mit der Revolution verknüpften, waren vollkommen unterschiedlich. Das vorrangige Ziel der Revolution war für die Bolschewiki die Überwindung der russischen ‚Rückständigkeit‘, die Elektrifizierung, die Industrialisierung und die Modernisierung des Landes; mit anderen Worten: die Vollendung des Werks Peters des Großen. Die Eurasier hingegen hofften, dass die Umwälzung von 1917 das ‚Fenster nach Europa‘, das Peter der Große geöffnet hatte, endgültig schließen werde. Sie träumten von einer Wiederanknüpfung an die kulturellen und religiösen Werte des alten, vorpetrinischen Russland. Mit ihrer Verklärung der ‚großen‘ alten Vergangenheit Russlands ähnelten die Eurasier keineswegs den Bolschewiki, sondern vielmehr den italienischen Faschisten, die ebenfalls an die große alte Vergangenheit ihres Landes wiederanknüpfen wollten – das alte Rom, die Zeit der Renaissance – und für die jüngste Geschichte Italiens, die von liberalen Gedanken geprägt worden war, nur Hohn und Verachtung übrig hatten.460

2.4.2 Das politisch-ideologische Profil der Ėlementy Die Affinität der Eurasier sowohl zum linksextremen als auch zum rechtsextremen Pol im damaligen politischen Spektrum Europas stiftete Verwirrung bei vielen Beobachtern, die die Eurasierbewegung politisch einordnen wollten. Die Eurasier selbst mokierten sich über diese definitorischen Schwierigkeiten ihrer Kritiker und erklärten, sie stünden weder rechts noch links, sondern jenseits von dieser tradi458 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 35–39; Alekseev, Das russische Westlertum, a.a.O., S. 149–162. 459 Florovskij, O patriotizme pravednom i grechovnom, a.a.O., S. 230–293. 460 Siehe dazu unter anderem Trubeckoj, U dverej reakcija? revoljucija?, a.a.O., S. 24–28; Ders., My i drugie, a.a.O., S. 70 ff.; Suvčinskij, K preodoleniju revoljucii, a.a.O., S. 46 ff.; Ders., Idei i metody, a.a.O., S. 28.

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tionellen Unterteilung und verträten eine ‚dritte‘ Position, die das Rechts-LinksSchema sprenge.461 Ähnlich argumentieren auch die Herausgeber der Ėlementy. Auch sie wollen vom Rechts-Links-Korsett nichts wissen und stilisieren sich zu einer ‚dritten‘ Kraft, die sich sowohl von rechten als auch von linken Ideologien inspirieren lasse. Das einzige, was sie an diesen Ideologien interessiert, ist deren Einstellung zum Liberalismus. Je radikaler diese das liberale Weltbild in Frage stellen, desto größer ist ihre Chance, in das geistige Pantheon der Ėlementy aufgenommen zu werden. Großes Interesse der Zeitschrift rufen zum Beispiel die sogenannten nationalbolschewistischen Strömungen hervor, die die abgrundtiefe Kluft zwischen dem Kommunismus und dem Rechtsextremismus zu überwinden suchten. Neben den Eurasiern ist es auch die ‚Smena-Vech‘-Bewegung462, die zu Beginn der 1920er Jahre aus ‚patriotischen‘ Motiven vor dem Bolschewismus kapitulierte – aus Dankbarkeit für die weitgehende Wiederherstellung des territorialen Bestandes des Russischen Reiches durch die sowjetische Führung. Eine besondere Faszination üben aber auf die Herausgeber der Ėlementy die Denker der deutschen ‚Konservativen Revolution‘ aus, die seinerzeit derart viel zur geistigen Aushöhlung der Weimarer Demokratie beitrugen. Alle diese Strömungen subsumieren die Ėlementy unter den Oberbegriff ‚Nationalbolschewismus‘, den sie als die interessanteste ideologische Erscheinung des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Im Leitartikel des 8. Heftes der Zeitschrift kann man lesen: „Alles, was uns am Bolschewismus und am Faschismus fasziniert, ist das Verdienst des Nationalbolschewismus. Alles, was diese Ideologien [Faschismus und Bolschewismus] zum Untergang führte, ist auf die Abweichung vom Geist und vom Buchstaben … der nationalbolschewistischen Doktrin zurückzuführen.“463 Als Bestandteile dieser Doktrin werden unter anderem genannt: 1. Eschatologische Erwartungen; 2. Hass gegen die weltbeherrschende westliche Zivilisation, die im Geiste der Aufklärung verankert sei; Gleichsetzung des kosmopolitischen expandierenden Kapitalismus mit dem absolut Bösen; antibürgerliches Pathos; 3. Spartanischer – preußischer – asketischer Stil; Anerkennung der Würde des arbeitenden Menschen; Suche nach einer Verschmelzung mit den einfachen Volksschichten, die durch die ‚degenerierten‘ Eliten des ‚alten Regimes‘ noch 461 Trubeckoj, U dverej reakcija? revoljucija?, a.a.O.; Ders., My i drugie, a.a.O. 462 Vgl. dazu Ėlementy 8 (1996/97). 463 Libo – my, libo – ničto [Entweder wir oder Nichts], in: Ėlementy 8 (1996/97), S. 2.

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nicht verdorben worden seien; Streben nach der Erschaffung einer ‚neuen‘ mit dem Volk verbundenen ‚Aristokratie‘; 4. Radikale Ablehnung des Individualismus, der Konsumideologie und des ‚Händlergeistes‘, den die Zeitschrift auf semitischen Einfluss zurückführt; und 5. schließlich gehört nach Ansicht der Zeitschrift zu den hervorstechendsten Eigenschaften des Nationalbolschewismus die Bereitschaft, sich selbst im Namen des Ideals aufzuopfern, Präferenz für radikale Lösungen und Ablehnung philisterhaften Geistes und des Mittelmaßes.464 Dieses aus der Weimarer Rumpelkammer herausgeholte ideologische Konstrukt, mit dem sich die Ėlementy weitgehend identifizieren, hält die Zeitschrift für die einzige Alternative zum liberalen Denkmodell, zum ‚liberalen Antichristen‘, der die Erde angeblich beherrsche. Der Liberalismus habe bereits alle anderen Gegner bezwungen. Es bleibe nur der Nationalbolschewismus übrig. Entweder die liberale Weltregierung und damit auch das Ende der Welt, oder der Nationalbolschewismus. So lautet das Credo der Ėlementy.465 Die Zeitschrift will sich keineswegs mit dem endgültigen Sieg ihres liberalen Erzfeindes abfinden und ruft zu einem Gegenangriff auf, zu einem Rachefeldzug, um die Schmach der Niederlage aller Gegner des Westens ungeschehen zu machen. Krieg und Gewalt werden von der Zeitschrift ähnlich wie von den Verfechtern der Konservativen Revolution in Weimar als legitime Kampfmittel angesehen, und gelegentlich sogar verklärt. Sie beruft sich auf den ‚Begriff des Politischen‘ von Carl Schmitt, für den die Unterscheidung zwischen Freund und Feind das wohl wesentlichste Kriterium der Politik darstellte. Auch die Ėlementy halten diese Unterscheidung für das A und O der Politik. Als Feinde betrachtet die Zeitschrift, wie bereits angedeutet: „Die neue Weltordnung, die offene Gesellschaft, die liberale Weltregierung, den globalen Markt, das One-World-Modell und den westlichen Universalismus.“466 Alle Gegner dieser ‚Feinde‘ werden von den Ėlementy in die Kategorie der ‚Freunde‘ eingestuft. Eine Versöhnung zwischen den beiden Lagern sei unmöglich, so die Autoren: „Zwischen ihnen herrscht nur Feindschaft, Hass, brutalster Kampf nach Regeln und ohne Regeln, der Kampf auf Vernichtung, bis zum letzten

464 Ebd.; siehe dazu auch Kogda nikogo net [Wenn niemand mehr da ist], in: Ėlementy 9 (1998), S. 1–4. 465 Ebd., S. 3. 466 Ruka tak i tjanetsja k kobure [Die Hand streckt sich mit Macht nach der Revolvertasche aus], in: Ėlementy 7 (1996), S. 2.

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Tropfen Blut. Zwischen ihnen liegen Berge von Leichen … Wer von ihnen wird das letzte Wort haben? … Dies wird der Krieg entscheiden, ‚der Vater aller Dinge‘.“467 Diese Diktion hat mit dem Vokabular der Eurasier nichts gemein. Das Ziel der Eurasier war keineswegs die Zerstörung des Westens, sondern die Abschirmung Russlands und des gesamten eurasischen Subkontinents von den kulturellen Einflüssen des Okzidents. Ihr Programm war keineswegs expansionistisch, sondern isolationistisch. Als ihr größtes traumatisches Erlebnis betrachteten sie den Zerfall des russischen Reiches infolge der Umwälzung von 1917, und sie wollten eine erneute Auflösung der russischen Staatlichkeit um jeden Preis verhindern. Nicht die Beherrschung der Erde, sondern die Suche nach einer einigenden Klammer für das russische Vielvölkerreich interessierte sie. Sie wussten, dass der proletarische Internationalismus, mit dessen Hilfe die Bolschewiki das 1917 zerfallene Reich erneut zusammenfügten, Russland auf die Dauer nicht zementieren könne. Russland müsse deshalb, wenn es ein einheitlicher Staat bleiben wolle, einen neuen Träger der Einheit finden, und dies könne nur die eurasische Idee sein, die das Gemeinsame zwischen allen Völkern Russlands hervorhebe.468 Eine derartige Selbstbeschränkung, wie sie für die Eurasier typisch gewesen war, kommt indes für die Herausgeber der Ėlementy nicht in Frage. Nicht die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Ost und West, sondern die gänzliche Bezwingung des westlichen Gegners halten sie für das einzig akzeptable Ziel – dabei nehmen sie auch eine totale Niederlage des eigenen Lagers in Kauf. Diese Vorliebe für Endkampfszenarien, für eine Art ‚Götterdämmerung‘ spiegelt den beispiellosen Kulturpessimismus der Ėlementy wider – eine für Russland recht untypische Haltung, wenn man von einigen Dichtern und Denkern des ‚silbernen Zeitalters‘ um die Jahrhundertwende absieht. Ganz anders verhielten sich die Dinge in Deutschland. Hier stellte der Kulturpessimismus seit der Jahrhundertwende, vor allem aber seit dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches, eine äußerst verbreitete Erscheinung dar – dies vor allem im nationalistischen, rechten Lager. Einige von den Ėlementy derart bewunderte Denker der ‚Konservativen Revolution‘ schwelgten geradezu in Weltuntergangsstimmung. Die Eurasier hingegen waren bei weitem nicht so pessimistisch, weil sie davon überzeugt waren, dass nach dem ‚Untergang des Abendlandes‘ das kulturelle Zentrum der Welt sich in Richtung Eurasien verlagern werde: „Bricht die Göttin der Kultur, die ihr Zelt vor mehreren Jahrhunderten im Westen aufgeschlagen hatte, jetzt nach Osten auf?“, fragt 1921 der Eurasier Petr Savickij.469 467 Ebd.; siehe auch Dugin, Paradigma, a.a.O., S. 69. 468 Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O., S. 28 ff. 469 Savickij, Povorot k vostoku, a.a.O., S. 3.

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2.4.3 Die Ėlementy und die Weimarer Rechte So knüpfen die Herausgeber der Ėlementy mit ihrer beinahe hysterischen Endzeitstimmung weniger an die Eurasier als vielmehr an die Weimarer Rechte an. Auch ihre Dämonisierung des Liberalismus mutet wie eine getreue Kopie der Programme der Weimarer Rechtsextremisten an und hat mit der herablassend höhnischen Einstellung der Eurasier zum machtlosen liberalen Staat wenig gemein. Dass die radikal-nationalistischen Kreise in Weimar und im postsowjetischen Russland den Liberalismus mit ähnlicher Intensität und mit ähnlichen Argumenten bekämpften beziehungsweise bekämpfen, hat sicher damit zu tun, dass die beiden Gruppierungen mit dieser Kritik nicht nur den außenpolitischen Rivalen – den Westen –, sondern auch den innenpolitischen Gegner treffen wollten beziehungsweise wollen. In beiden Fällen werden die liberalen Gruppierungen im jeweiligen Land als Marionetten des Westens, als Verkörperung des nationalen Verrats betrachtet. Wie damals in Weimar assoziiert sich auch im postkommunistischen Russland der Liberalismus und das pluralistische System mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung der beiden Länder auf dem europäischen Kontinent, mit dem Verlust von Territorien und mit der Entstehung einer neuen Diaspora. Zur nationalen Demütigung gesellen sich in beiden Fällen eine außerordentlich tiefe Wirtschaftskrise und ein Verlust der bis dahin als selbstverständlich geltenden Orientierungen. Dabei geschah dieser Zusammenbruch in beiden Ländern praktisch über Nacht, innerlich waren sie darauf völlig unvorbereitet. Im Wilhelminischen Deutschland hat man praktisch bis zuletzt an einen Sieg im Weltkrieg geglaubt. Ähnlich fassungslos reagierte die sowjetische Bevölkerung auf den Zusammenbruch des Imperiums, das noch bis 1991 gemeinsam mit den USA über die Geschicke der Welt entschied. Diesen plötzlichen Abstieg führen manche national gesinnte Kreise im heutigen Russland, ähnlich wie dies auch viele Nostalgiker in der Weimarer Republik getan hatten, auf die Verschwörung dunkler Mächte im Inland und im Ausland zurück. Besonders eifrig beteiligen sich an der Verbreitung derartiger ‚Dolchstoßlegenden‘ ausgerechnet Vertreter der früheren Machtelite, die durch die Überspannung der Kräfte der eigenen Nation während des Kalten Krieges zum Zusammenbruch des Imperiums wesentlich beitrugen. Ihre Argumente sind denjenigen der deutschen Verfechter der ‚Dolchstoßlegende‘ zum Verwechseln ähnlich. Der Zusammenbruch der beiden Reiche wird als Ergebnis einer raffinierten Intrige der westlichen Demokratien dargestellt. Im offenen, ‚ehrlichen‘ Kampf seien die Westmächte nicht imstande gewesen, ihre Kontrahenten zu bezwingen. Deshalb hätten sie zu den ‚heimtückischen‘ Mitteln der psychologischen Kriegsführung gegriffen. Durch die Propagierung ‚westlicher Werte‘ hätten sie den sowjetischen Koloss ausgehöhlt und zu Fall gebracht.

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So wird eine der tiefsten Umwälzungen in der russischen Geschichte die durch umfassende historische Prozesse vorbereitet wurde, lediglich auf die Intrigen eines kleinen Zirkels von Verschwörern zurückgeführt. Auch die russische Revolution von 1917 wurde von vielen Emigrantenkreisen, vor allem rechter Provenienz, als das Werk von kleinen Verschwörerzirkeln unterschiedlichster Couleur betrachtet. Die Eurasier lehnten indes dieses Erklärungsmodell rundweg ab.470 Für sie war die Revolution, wie bereits gesagt, das Ergebnis tiefgreifender historischer Prozesse. Insofern vertreten die Ėlementy mit ihrer Verschwörungstheorie eine weltanschauliche Position, die mit den ‚klassischen‘ Eurasiern keine Berührungspunkte aufweist. Wie alle Verfechter von Verschwörungstheorien halten die Autoren der Ėlementy die sichtbaren politischen Gegner bloß für Marionetten unsichtbarer und zugleich allgegenwärtiger Kräfte, die im Untergrund agierten und die das gesamte Weltgeschehen in ihrem Sinne zu bestimmen suchten. Die Zeitschrift räumt ein, dass es nicht leicht sei, die sogenannten ‚mondialistischen‘ Kräfte – den Feind des Menschengeschlechts par excellence – konkreter zu definieren: „Die Diktatur der heutigen – sc. Mondialistischen, L.L. – Elite ist deshalb so furchterregend, weil sie verschleiert ist. Es ist nicht leicht, gegen einen unsichtbaren Gegner zu kämpfen, seinen Herrschaftsanspruch in Frage zu stellen, denn – sc. Sogar – die Existenz der Weltregierung als solche wird sorgfältig vertuscht.“471 Trotzdem geben die Ėlementy nicht auf und begeben sich auf die Suche nach diesem kaum fassbaren Beherrscher der heutigen Welt. Und bei dieser Suche entdecken sie den alten Bekannten, der für die Verfechter beinahe aller Verschwörungstheorien rechter Provenienz das Böse schlechthin verkörpert – die Juden. Ganz unverhüllt vertritt die These von einer jüdischen Weltverschwörung der Militärexperte der Zeitschrift, Evgenij Morozov. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten im Nahost-Konflikt das kleine und arme Israel und nicht die rohstoffreichen arabischen Staaten unterstützten, könne nach Ansicht des Autors nur eine Erklärung haben: Jemand zwinge die Vereinigten Staaten gegen ihre eigenen Interessen zu handeln, die USA seien Jemandem untertan. Und dieser ‚Jemand‘ ist für den ‚Experten‘ – die zionistische Weltregierung.472 Subtiler als von Morozov wird die These von der jüdischen Weltverschwörung von den anderen Herausgebern der Ėlementy vertreten. Im Leitartikel des zweiten Heftes ist zum Beispiel von der religiösen Dimension der ‚neuen Weltordnung‘ die 470 Vgl. unter anderem Sofija Bochan, My [Wir], in: Utverždenija 3 (1932), S. 75–78. 471 Libo – my, libo – ničto, a.a.O. 472 Evgenij Morozov, Plan ‚Anakonda‘ [Der Plan ‚Anakonda‘], in: Ėlementy 4 (1993), S. 26.

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Rede. Zwar versuchten die ‚Mondialisten‘ beinahe alle Religionen und Glaubensgemeinschaft auszuhöhlen und zu zerstören, so die Autoren, dies bedeute aber nicht, dass sie keine eigenen religiösen Vorstellungen hätten. Ihr Streben nach der Weltherrschaft weise durchaus messianische Züge auf, sie warteten auf die baldige Ankunft von einer Lichtgestalt, die im Sinne der ‚Mondialisten‘, die Welt völlig neu gestalten werde – auf einen ‚Maschiach‘. Und diese Verwendung des Begriffes Messias in seiner ursprünglichen hebräischen Form ist sicher nicht zufällig. Damit will die Zeitschrift auf die angebliche Religionszugehörigkeit der ‚maßgeblichen Mondialisten‘ hinweisen.473 Zu den wichtigsten Agenten des ‚Mondialismus‘ in Russland selbst gehören nach Ansicht der Ėlementy ‚kosmopolitisch‘ gesinnte Kräfte und Vertreter ‚der kleinen Nation‘474 – beide Begriffe werden in Russland als Synonyme für die Juden verwendet. Den letzteren Begriff prägte der bekannte sowjetische Dissident und Antisemit Igor Šafarevič. Das konspirative Weltbild, die Verklärung von Krieg und Gewalt, das Streben nach einer totalen Bezwingung des Westens, statt nach einer Abgrenzung von seinen kulturellen Einflüssen – all das unterscheidet die Ėlementy grundlegend von ihren angeblichen eurasischen Vorgängern. Aber auch in einem anderen äußerst wichtigen Punkt ist das Programm der Zeitschrift demjenigen der Eurasier geradezu entgegengesetzt. Für die Eurasier lag die Zukunft Russlands nur im Osten, nur im Osten suchten sie nach Verbünde­ten, die sich an einer gemeinsamen Auflehnung gegen die kulturelle Hegemonie des Westens beteiligen sollten. Bei den Ėlementy hingegen spielt die östliche Komponente eine völlig untergeordnete Rolle. Zwar sprechen die Herausgeber gelegentlich vom islamischen Fundamentalismus, vor allem in seiner iranischen Variante, als von einem potentiellen Alliierten Russlands im Kampfe gegen den sogenannten ‚Mondialismus‘,475 ihre wichtigsten Bundes- und Gesinnungsgenossen befinden sich aber nicht im Osten, sondern im Westen. Dies sind in erster Linie westliche Rechtsextremisten. Vertreter der französischen, der belgischen, der deutschen und der italienischen Rechten melden sich in der Zeitschrift unaufhörlich zu Wort und einige gehören sogar zu ihren offiziellen Mitherausgebern. So handeln die Ėlementy eher nach dem Motto: ,Rechts473 Ideologija mirovogo pravitel‘stva [Die Ideologie einer Weltregierung], in: Ėlementy 2 (1992), S. 1 f. 474 Perspektivy graždanskoj vojny [Bürgerkriegsperspektiven], in: Ėlementy 6 (1995), S. 24–28. 475 Geopolitičeskie problemy bližnego zarubež‘ja [Die geopolitischen Probleme des nahen Auslandes], in: Ėlementy 3 (1993), S. 24 ff.; Os’ Moskva-Tegeran [Die Achse Moskau-Teheran], in: Ėlementy 6 (1995), S. 42 f.; Iranskij vzgljad na pravoslavie [Die Orthodoxie aus iranischer Sicht], ebd., S. 44; Dugin, Paradigma, a.a.O., S. 67 f.

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extremisten aller Länder – aus Ost und West – vereinigt euch!‘, statt nach der eurasischen Devise: ,Auszug nach Osten!‘ – Ischod k vostoku! –. Eine Zusammenarbeit mit den politischen Kräften des Westens, gleichgültig welcher Couleur, kam für die Eurasier nicht in Frage. Deshalb kritisierten sie sowohl die russischen Zaren, die sich aus legitimistischen Motiven mit den westlichen Monarchen solidarisierten, wie auch die Bolschewiki, die den westlichen Kommunisten aus Gründen der ‚proletararischen Solidarität‘ massive Unterstützung gewährten. In beiden Fällen hätten die russischen Regime Russland in unnötige Konflikte verwickelt.476 So verstoßen die Ėlementy aufgrund ihrer engen Anlehnung an die westliche Rechte wie auch aus anderen oben angeführten Gründen eindeutig gegen das Vermächtnis der Eurasier. Warum bekennt sich die Zeitschrift dessen ungeachtet zum eurasischen Programm? Man hat den Eindruck, dieses Bekenntnis stelle eine Art Tarnmanöver dar, um dem von der Zeitschrift propagierten rechtsextremen Programm einen Anschein von Respektabilität zu verleihen, um es salonfähiger zu machen. Wenn nicht die Eurasier, wer sind dann die tatsächlichen geistigen Vorläufer der Ėlementy? Dies ist, wie bereits gesagt, eindeutig die Weimarer Rechte, deren führende Vertreter in der Zeitschrift unentwegt zitiert werden. Das in der Sowjetzeit verbotene rechtsextreme Gedankengut fließt jetzt durch unzählige Kanäle nach Russland und die Ėlementy gehören hier zu einem der wichtigsten Vermittler. Anders als im Nachkriegsdeutschland hat sich in Russland keine immunologische Barriere gegen die rechtsextremen Versuchungen herausgebildet und dies nutzen die Ėlementy geschickt aus. Die Texte von Arthur Moeller van den Bruck, von Ernst Jünger wie auch von anderen radikalen Gegnern des Weimarer Staates, in denen der Liberalismus dämonisiert und der Rechtsstaat verhöhnt wird, werden von den Ėlementy als das letzte Wort des europäischen Geistes präsentiert.477 Dass diese Ideen im Westen, nicht zuletzt in Deutschland, bereits vor Generationen, vor allem aber nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, auf dem ‚Kehrichthaufen der Geschichte‘ gelandet sind, wird von der Zeitschrift sorgfältig verschwiegen. Man hat den Eindruck, dass die Herausgeber der Ėlementy und ihre Gesinnungsgenossen, Russland erneut in ein Experimentierfeld völlig veralteter westlicher Ideen verwandeln wollen, wie dies die Bolschewiki nach 1917 bereits einmal taten. So hielt damals die bolschewistische Führung ihre materialistische und atheistische Weltanschauung, ihren Glauben an die ‚Wunder‘ der Industrie 476 I. R. (i. e. Trubeckoj), Nasledie, a.a.O., S. 48 f. 477 Vgl. dazu unter anderem Ėlementy Nr. 1 (1992), S. 51 ff.; Nr. 3 (1993), S. 30 ff.; Nr. 4 (1993), S. 55 ff.; Nr. 8 (1996/1997), S. 24 ff.

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und Technik für das letzte Wort der europäischen Kultur. Mit diesem Glauben wollten sie Russland erneuern, in ein ‚normales‘ europäisches Land verwandeln. Im Westen dagegen war damals der Wissenschafts- und Technikglauben überholt. Die Zerstörungen des Ersten Weltkrieges, die zum Teil gerade wegen der technologisch-wissenschaftlichen Errungenschaften der industriellen Revolution solche Ausmaße erreicht hatten, hatten vielen Europäern die Augen über die zerstörerischen Aspekte des technischen Fortschritts geöffnet. So merkten die Bolschewiki nicht, wie ‚unmodern‘ ihre Bewunderung für die Moderne und ihr Fortschrittsoptimismus waren.478 Ähnlich verhält es sich mit den Herausgebern der Ėlementy, die anscheinend nicht realisieren, wie antiquiert die Ideen der Weimarer Konservativen Revolution heute anmuten, und zwar aufgrund ihrer weitgehenden Diskreditierung durch den Nationalsozialismus. Eine gewisse Analogie zur Diskreditierung des Marxismus durch den ‚real existierenden Sozialis­mus‘ ist unverkennbar. Dennoch handelt es sich beim Marxismus um ein Phänomen, das wesentlich ambivalenter ist als dies bei der Konservativen Revolution der Fall war. Denn der Marxismus enthält neben dem terroristisch-utopistischen Potential, das im Bolschewismus seine deutlichste Ausprägung fand, auch ein emanzipatorisches, das am stärksten die europäische Sozialdemokratie verkörperte. Eine derartige Ambivalenz lässt sich indes bei den Verfechtern der Konservativen Revolution, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, in der Regel nicht entdecken. Ihr Traum von einer nationalen Diktatur, von der Überwindung des liberalen Rechtsstaates „ohne Ehre und Würde“ – Ernst Forsthoff 479 – , von einem auf Krieg, Expansion, ja Weltherrschaft fixierten Deutschland, ihre Sehnsucht nach einem ‚Cäsar‘ und nach einem ,Dritten Endreich‘480 mussten beinahe zwangsläufig in das am 30. Januar 1933 tatsächlich errichtete Dritte Reich münden.481 Nur allmählich begannen sie wie der Zauberlehrling zu realisieren, welche Geister sie in Wirklichkeit gerufen hatten.

478 Vgl. dazu Luks, Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie, a.a.O., S. 197–199. 479 Forsthoff, Der totale Staat, a.a.O., S. 13. 480 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, a.a.O. 481 Siehe dazu unter anderem Rauschning, The Conservative Revolution, a.a.O.; Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, a.a.O.; Kurt Sontheimer, Der Tatkreis, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 229–260; Ders., Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1968; Kuhn, Das geistige Gesicht der Weimarer Republik, a.a.O., S. 1–10; von Klemperer, Konservative Bewegungen, a.a.O.; Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern 1963; Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993; Luks, ‚Eu-

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Und wie bewerten die Herausgeber der Ėlementy das Dritte Reich? Im Gegensatz zu den Konservativen Revolutionären der Weimarer Zeit kennen sie die Ergebnisse seines Wirkens. Inwiefern beeinflusst dies ihr Urteil? Man muss hervorheben, dass ihre Einstellung zum nationalsozialistischen Regime durchaus kritisch ist, allerdings wohlwollend kritisch. Anders als die liberalen ‚Mondialisten‘ werden die Nationalsozialisten keineswegs dämonisiert, sondern eher als Gesinnungsgenossen angesehen, die sich gelegentlich geirrt hätten. Hitler wird für seinen engstirnigen Nationalismus, für seine antirussischen und antislawischen Ressentiments kritisiert. Dies habe die Entstehung einer breiten paneuropäischen Allianz gegen die westlichen Demokratien verhindert.482 Der Zusammenbruch des Dritten Reiches wird von den Ėlementy im Allgemeinen bedauert. Das Dritte Reich habe zwar manche Postulate der Konservativen Revolution verfälscht, „dennoch stellte die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg eine verheerende Niederlage für die Ideologie des Dritten Weges dar“.483 Indes betrachtet die Zeitschrift das Dritte Reich keineswegs als ein einheitliches Gebilde. Neben den unduldsamen Germanozentristen habe es dort durchaus auch weltoffene, gesamt­europäisch gesinnte Kräfte gegeben. Sie hätten an beinahe alle Völker Europas appelliert, um am Kreuzzug gegen die westlichen ‚Plutokratien‘ und gegen den Kommunismus teilzunehmen. Diese völkerverbindende Ideologie vertrat nach Ansicht des Chefredakteurs der Zeitschrift, Dugin, in erster Linie die … Waffen-SS – sic! –, die von den Ėlementy als eine Art Insel der intellektuellen Freizügigkeit innerhalb des Dritten Reiches betrachtet wird: „Statt eines engstirnigen – sc. deutschen Nationalismus – propagierte die SS die Idee vom einheitlichen Europa …, in dem den Deutschen keine besondere Rolle zukommen sollte. Die Organisation – sc. die SS – hatte einen internationalen Charakter, sogar ‚nicht-weiße‘ Völker waren hier vertreten … Bei der SS handelte es sich um eine Art Ritterorden nach mittelalterlichem Vorbild mit solchen Idealen wie körperliche Askese, … Disziplin, meditative Praxis.“484 Unwillkürlich erinnert diese Lobeshymne auf die SS und an die von ihr verkörperten ‚Sekundärtugenden‘ an rasier‘ und ‚Konservative Revolution‘. Zur antiwestlichen Versuchung in Russland und in Deutschland, a.a.O., S. 219–239. 482 Aleksandr Dugin, Konservativnaja revoljucija. Kratkaja istorija ideologij tret’ego puti [Die Konservative Revolution. Eine kurze Geschichte der Ideologien des dritten Weges], in: Ėlementy Nr. 1 (1992), S. 53; siehe dazu auch Ėlementy, Nr. 3 (1993), S. 21; Nr. 5 (1994), S. 29; Nr. 8 (1996/1997), S. 29. 483 Dugin, Konservativnaja revoljucija, a.a.O., S. 53 f. 484 Ebd., S. 54.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

die berühmte Posener Rede Heinrich Himmlers vom Oktober 1943, in der er die SS dafür pries, dass sie bei der Erfüllung der ‚weltgeschichtlichen Aufgabe‘, nämlich der ‚Ausrottung des jüdischen Volkes … anständig geblieben‘ sei.485 Auch Hitler wird von den Ėlementy nicht nur negativ bewertet. Im sechsten Heft der Zeitschrift wird ein Interview mit Léon Degrelle abgedruckt – dem ehemaligen Führer der rechtsextremen wallonischen Rexistenpartei und zugleich dem Führer der SS-Division ‚Wallonie‘. Degrelle, der zu den Lieblingen des ‚Führers‘ zählte, bezeichnete Hitler als „die größte Gestalt der europäischen Geschichte. Er kämpfte für ein Ideal, für eine Idee. Er hat sich fortwährend innerlich entwickelt. Er begann – sc. seine Laufbahn – als ein rein deutscher Nationalführer, aber allmählich lernte er in europäischen und schließlich auch in globalen Kategorien zu denken … Er wird oft als Hysteriker und Psychopath mit zitternden Händen geschildert. Dies ist aber nur Propaganda. In Wirklichkeit war er ein erstaunlich wohlerzogener, bezaubernder, höflicher und aufmerksamer Mensch. Durch die Niederlage – sc. Hitlers – haben nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa, ja die ganze Welt ihre Zukunft verspielt. Betrachten Sie bloß die Welt, die seine Bezwinger und Feinde aufgebaut haben. Dies ist das Reich des Geldes, der Gewalt, der Degeneration und der niederen untermenschlichen Instinkte …, eine Welt ohne hohe Ideale. Wir haben für ein grandioses Ziel gekämpft, und wissen Sie, geistig haben wir nicht verloren. Denn sie – sc. die Sieger – haben im Gegensatz zu uns keinen Glauben … Dies war der Krieg der Idealisten und der Romantiker gegen zwei Arten von Materialismus – den kapitalistischen und den marxistischen. Sie – sc. die Siegermächte – können uns umbringen, aber unseren Glauben können sie uns nicht nehmen. Deshalb nannte ich mein Buch ‚Hitler für tausend Jahre‘.“486 Diese Apotheose eines Massenmörders durch einen seiner Gehilfen wird von der Zeitschrift lediglich mit folgenden Worten kommentiert: „Der letzte – sc. faschistische – Volksführer – sc. Degrelle – starb wie ein gläubiger Christ, er erhielt die letzte Ölung von einem Curé. Bis zur letzten Stunde blieb er seiner Idee treu.“487

2.4.4 Die Geopolitik der Ėlementy Zum ideologischen Profil der Ėlementy gehört neben der Identifizierung mit den nationalbolschewistischen und rechtsradikalen Positionen auch ein aus485 Zitiert nach Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berlin 1986, S. 703. 486 Poslednij fol‘ksfjurer [Der letzte Volksführer], in: Ėlementy Nr. 6 (1995), S. 48. 487 Ebd.

2.4 Der ‚dritte Weg‘ der ‚neo-eurasischen‘ Zeitschrift Ėlementy …

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gesprochenes Interesse für die geopolitische Problematik. Auf den ersten Blick scheint hier die Zeitschrift an die Eurasier anzuknüpfen, die in ihrem Programm den geopolitischen und geographischen Faktoren eine außerordentliche Bedeutung beimaßen. Dieser erste Eindruck täuscht jedoch. Die Eurasier, in erster Linie den bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler und Geographen der Bewegung, Petr Savickij, interessierten in erster Linie kulturelle und wirtschaftliche Aspekte der Geopolitik und der Geographie, die Frage, inwiefern die gleichen geographischen Bedingungen auf unterschiedliche Kulturen und Ethnien einwirken und zu ihrer allmählichen Annährung und Vereinheitlichung beitragen. Zugleich plädierten die Eurasier für eine wirtschaftliche Autarkie des eurasischen Subkontinents und untersuchten geographische Faktoren, die die Errichtung eines derartigen autarken Wirtschaftssystems begünstigten. All diese Fragen spielen für die Ėlementy eine zweitrangige Rolle. Die wichtigsten Aspekte, die sie im Zusammenhang mit der Geopolitik interessieren sind militär-strategischer Art, die Frage nach der günstigsten Ausgangsposition im künftigen Kampf der Kontinente, in dem von ihnen sehnsüchtig erwarteten Revanchekampf der ‚Tellurokratien‘ – Kontinentalmächte – gegen die vom Schicksal so begünstigten ‚Thalassokratien‘ – Seemächte –.488 Der Pax Americana, der Unipolarität der Welt, setzen die Ėlementy eine bipolare Konzeption entgegen, die auf die Erneuerung der Konfrontation zwischen Ost und West hinausläuft. Die Zeitschrift empfiehlt allen Gegnern der ‚Mondialisten‘ beziehungsweise der angelsächsischen Seemächte, ihre internen Rivalitäten zu beenden und sich auf die Errichtung einer großen kontinentalen Allianz zu konzentrieren – nur auf diese Weise könnten sie im bevorstehenden Endkampf die Chance eines Sieges haben. Diese Allianz müsse alle früheren, aktuellen und potentiellen Gegner der angelsächsischen Demokratien umfassen – Deutschland und Japan, Russland und China, Indien und die islamischen Staaten und schließlich auch das von den Vereinigten Staaten ,unterjochte‘ Westeuropa.489 Die Herausgeber der Zeitschrift geben zu, dass dieses strategische Bündnis mit Westeuropa den Vorstellungen ihrer angeblichen eurasischen Vorgänger widerspreche. Jedoch habe sich die politische Konstellation im Vergleich zu den1920er Jahren, als die Eurasier ihre Thesen entwickelt hätten, grundlegend gewandelt. Die Übermacht 488 Vgl. dazu unter anderem Geopolitičeskie problemy bližnego zarubež‘ja [Die geopolitischen Probleme des nahen Auslandes], in: Ėlementy 3 (1993), S. 18 ff.; Aleksandr Dugin, Ot sakral‘noj geografii k geopolitike [Von der sakralen Geographie zur Geopolitik], ebd., S. 37-39; Rossija i prostranstvo [Russland und der Raum], in: Ėlementy Nr. 4 (1993), S. 31-35; siehe dazu auch Aleksandr Dugin, Osnovy geopolitiki. Geopolitičeskoe buduščee Rossii [Die Grundlagen der Geopolitik. Die geopolitische Zukunft Russlands], Moskau 1997, S. 15–19, S. 214 ff. 489 Rossija i prostranstvo, a.a.O., S. 31–35.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

der ‚Mondialisten‘ sei inzwischen derart erdrückend geworden, dass ihre Gegner nun alle Kräfte mobilisieren müssten – ohne Rücksicht auf kulturelle Gegensätze, wie sie zum Beispiel zwischen Russland und Westeuropa durchaus bestünden.490 Von welchen Mächten sollte diese von den Ėlementy propagierte ‚antimondialistische‘ Großallianz dominiert werden? Nur zwei Staaten kommen hier nach Ansicht der Zeitschrift in Frage: Deutschland und Russland. Um dieser Rolle gerecht zu werden, müssten sich aber beide Staaten innerlich und äußerlich von den ‚mondialistischen‘ Einflüssen befreien und sich auf ihre imperialen Traditionen zurückbesinnen. Es wäre für diese Kontinental-Allianz vorteilhaft, wenn sie von einem erneuerten russischen Imperium geführt werden würde, so die Ėlementy. Strategisch liege Russland im Zentrum des eurasischen Großraums und sei daher weniger verwundbar als Deutschland, das sich an dessen Peripherie befinde. Außerdem könnte Deutschland im Falle der Steigerung seiner Macht erneut einem nationalistischen Größenwahn erliegen, wie dies bereits im Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen sei. Dies könnte für die Kontinental-Allianz verhängnisvolle Folgen haben. Trotz dieser Gefahr wäre für die Zeitschrift ein von Deutschland dominiertes und antiamerikanisch ausgerichtetes Europa dem jetzigen Zustand eindeutig vorzuziehen. Die Herausgeber der Ėlementy wären also bereit, auch unter der deutschen Flagge gegen den sogenannten ‚Mondialismus‘ zu kämpfen. Die russische würden sie aber natürlich vorziehen. Die Wiederherstellung des russischen Imperiums und der hegemonialen Stellung Russlands im gesamten eurasischen Raum halten sie für eine Schicksalsfrage des Landes. Sollte Russland auf seine imperiale Sendung verzichten, würden andere Staaten das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Machtvakuum ausfüllen und Russland in eine Kolonie verwandeln. Diese Auf­gabe könnte nach Ansicht der Ėlementy nicht nur das bereits erwähnte Deutschland, sondern auch China übernehmen. So steht Russland nach Ansicht der Herausgeber der Zeitschrift vor der Alternative: Entweder verwandele es sich in eine Provinz einer anderen Hegemonialmacht oder es restauriere seine frühere Hegemonialstellung. Aber anders als die unzähligen imperialen Nostalgiker im heutigen Russland wollen sich die Herausgeber der Ėlementy mit der Wiederherstellung des früheren Zustandes keineswegs begnügen. Die Restauration der früheren Grenzen des russischen Reiches stellt für sie nur die erste Stufe ihres strategischen Plans dar. Denn das eigentliche Ziel des wiederhergestellten Imperiums solle der Kampf gegen die amerikanische Welthegemonie, also der Kampf um die Weltherrschaft, der Endkampf sein. Damit zeigt die Zeitschrift erneut, welcher Abgrund sie von den ‚klassischen‘ Eurasiern trennt und wie stark ihr Programm an die ‚revolutionäre Raumpolitik‘ der Weimarer Rechten erinnert. So 490 Ebd., S. 31 f.

2.5 Ist Putin ein Eurasier?

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hielten manche Vertreter des radikalen Flügels der deutschen konservativen Revolution die Weltherrschaft für das einzige Mittel, das imstande sei, die Leiden der Deutschen zu lindern: „Die Beherrschung der Erde [ist], die gegebene Möglichkeit …, dem Volke eines überbevölkerten Landes das Leben zu ermöglichen“, schrieb 1923 Arthur Moeller van den Bruck in seinem Buch Das Dritte Reich. Zehn Jahre später begann das ‚real existierende‘ Dritte Reich manche Bestandteile dieses Programm zu verwirklichen. So handelt es sich beim Gedankengut der Ėlementy eindeutig um ein Importprodukt. Allerdings um ein verschimmeltes Produkt, dessen Verfallsdatum bereits längst, nämlich am 30. Januar 1933, abgelaufen war.

2.5

Ist Putin ein Eurasier?491

Seit Jahren kokettiert Vladimir Putin mit dem eurasischen Gedanken, den er als eine Alternative zur europäischen Idee zu popularisieren sucht. Die ‚Eurasische Union‘, die er 2015 gemeinsam mit einigen anderen postsowjetischen Staaten gründete, wurde von ihm als eine Art Gegenmodell zur EU konzipiert. Handelt es sich bei Putin aber wirklich um einen ‚Eurasier‘ im neuen Gewand, wie dies von vielen Interpreten vermutet wird? Wohl kaum. Um die 1921 im russischen Exil gegründete Eurasierbewegung ranken sich zur Zeit so viele Spekulationen, dass es zunächst erforderlich ist, einige der Kernsätze ihres Programms zu rekonstruieren, um zu zeigen, welch eine Kluft sie von den heutigen angeblichen Erben des eurasischen Vermächtnisses trennt. Als ihr größtes Trauma betrachteten die Eurasier den vorübergehenden Zerfall des russischen Reiches infolge der Revolution von 1917. Sie wollten eine erneute Auflösung der russischen Staatlichkeit um jeden Preis verhindern und suchten nach einer neuen einigenden Klammer für das russische Vielvölkerreich. Sie wussten, dass der proletarische Internationalismus, mit dessen Hilfe die Bolschewiki das 1917 zerfallene Reich erneut zusammenfügten, das Imperium auf Dauer nicht festigen konnte. Nationale Emotionen seien bei Arbeitern in der Regel wesentlich stärker als die Klassensolidarität, so einer der Gründer der Bewegung, Nikolaj Trubeckoj. Russland müsse deshalb, wenn es ein einheitlicher Staat bleiben wolle,

491 Revidierte Fassung meines Beitrags, der am 20. Mai 2014 in der Internet-Zeitschrift The European erschienen ist; vgl. dazu auch meinen Beitrag Endkampfszenarien – Aleksandr Dugins Ideologie der neoimperialen Revanche und die Ukraine-Krise, in: Ebd. v. 3. Mai 2014.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

einen neuen Träger der Einheit finden, und dies könne nur die eurasische Idee sein, die das Gemeinsame zwischen allen Völkern des russischen Reiches hervorhebe.492 All diese Gedankengänge haben mit dem Putinschen ideologischen Konstrukt nur wenig gemein. Das von Putin angestrebte imperiale Gebilde soll nicht auf einer multikulturellen Synthese, wie sie den Eurasiern vorschwebte, sondern in erster Linie auf dem russischen Nationalismus basieren. Als seine wichtigsten Verbündeten betrachtet der Kremlherrscher nicht die asiatischen Völker des ehemaligen Sowjetreiches, sondern die russischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten der UdSSR. In seiner Rede anlässlich der Angliederung der Krim an die Russische Föderation am 18. März 2014 bezeichnete Putin die Russen als eine der größten, wenn nicht als die größte geteilte Nation der Welt. Mit den eurasischen Ideen hat diese russozentrische Sicht demnach nur wenig Ähnlichkeit, denn bereits 1927 hob Trubeckoj hervor: Die Zeit der Alleinherrschaft der Russen im russischen Reich sei endgültig vorbei.493 Putins Russozentrismus führt zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Moskau und den islamischen Staaten der ehemaligen UdSSR, was keineswegs im Sinne der ‚klassischen‘ Eurasier wäre. Das Ausmaß dieser Entfremdung spiegelte sich während der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung zur Krim-Frage am 27. März 2014 wider. Kein einziger dieser Staaten hatte sich mit Moskau solidarisiert. Es gibt zwar trotz dieser fundamentalen Unterschiede auch einige Gemeinsamkeit zwischen dem Putinschen Weltbild und demjenigen der Eurasier: so die Ablehnung solch westlicher Werte wie Liberalismus oder die Verklärung eines starken und autoritären Staates. In einem entscheidenden Punkt trennen sich aber ihre Wege erneut, und dies betrifft die Einstellung zum sowjetischen Regime. Die Sowjetnostalgie wird in Russland seit Jahren von oben gefördert, die Sowjetsymbolik ist allgegenwärtig, die sowjetische Hymne, wenn auch mit einem neuen Text, stellt seit 2000 erneut die offizielle Hymne Russlands dar. Ganz anders verhielt es sich mit der Einstellung der prägenden Gestalten des Eurasiertums zum Sowjetsystem. Es existierte zwar in der Eurasierbewegung ein prosowjetischer Flügel, dem, wie man inzwischen weiß, auch einige sowjetische 492 Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O., S. 24–30; zur Ideologie der Eurasierbewegung siehe unter anderem Böss, Die Lehre der Eurasier, a.a.O.; Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln 2007; Marlène Laruelle, Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, Baltimore 2008. 493 Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, a.a.O.

2.5 Ist Putin ein Eurasier?

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Agenten angehörten und der 1929 zur Spaltung der Bewegung führte. Für die führenden Denker des ‚klassischen‘ Eurasiertums, so für Trubeckoj oder für Petr Savickij, kamen jedoch Kompromisse mit der Sowjetdiktatur nicht in Frage.494 All das zeigt deutlich, welch tiefe Kluft das Putinsche Programm von dem Gedankengebäude der ‚klassischen‘ Eurasier trennt. Bestehen aber vielleicht Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Konzepten Putins und denjenigen der heutigen ‚Neoeurasier‘, deren wichtigster Exponent Aleksandr Dugin ist? Diese These wird oft in den Medien vertreten, dies insbesondere seit der Verschärfung des russisch-ukrainischen Konflikts nach dem Sturz der Regierung Janukovič im Februar 2014. Die russische Ukrainepolitik schien sich damals nach einem Szenario zu entwickeln, das Dugin bereits im Jahre 1997 entworfen hatte. In seiner damals veröffentlichten Monographie Die Grundlagen der Geopolitik, die man als ‚Lehrbuch des Hasses‘ bezeichnen kann, schrieb er: „Das weitere Bestehen der Ukraine in ihren jetzigen Grenzen, mit ihrem Status als ‚souveräner Staat’ stellt einen ungeheuren Schlag für die geopolitische Sicherheit Russlands dar … Die Existenz einer einheitlichen Ukraine ist nicht hinnehmbar“.495 Die scheinbare Übereinstimmung zwischen den Duginschen plakativen Parolen und der tatsächlichen abenteuerlichen Ukraine-Politik Moskaus sowohl auf der Krim als auch im ukrainischen Südosten veranlasst einige Autoren dazu, Dugin als den eigentlichen ideologischen Drahtzieher der heutigen russischen Außenpolitik zu betrachten. In diesem Sinne argumentieren zum Beispiel die Autoren eines vor kurzem in Foreign Affairs erschienenen Artikels, der den Titel Putin’s Brain. Alexander Dugin and the Philosophy behind Putin’s Invasion of Crimea trägt.496 In Wirklichkeit bestehen aber, ungeachtet mancher Übereinstimmungen im Falle der Ukraine, beachtliche Unterschiede zwischen dem außenpolitischen Programm Putins und demjenigen Dugins, die man nicht vernachlässigen darf. Dies ist sogar dann der Fall, wenn die beiden die gleichen Begriffe verwenden. In den bereits erwähnten Grundlagen der Geopolitik ruft Dugin Russland zu einem letzten Gefecht gegen die liberalen Sieger des Kalten Krieges auf. Sollte Russland auf seine imperiale Sendung verzichten, würden andere Staaten das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Machtvakuum ausfüllen. Ehrfurcht gegenüber den anderen spiele im geopolitischen Kampf absolut keine Rolle, so Dugin. Hier zähle nur die Macht.497 Diese Worte weisen eine verblüffende Ähn494 Vgl. dazu unter anderem Trubeckoj, Istorija, a.a.O., S. 446. 495 Dugin, Osnovy, a.a.O., S. 379. 496 Anton Barbashin, Hannah Thoburn, Putins’s Brain. Alexander Dugin and the Philosophy behind Putin’s Invasion of Crimea, in: Foreign Affairs v. 31. März 2014. 497 Dugin, Osnovy, a.a.O., S. 172.

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2  Neue Akzente im Diskurs um die russische Identität …

lichkeit zu den Gedankengängen auf, die Hitler in seinem sogenannten Zweiten Buch von 1928 entwickelte: Jedes vitale Volk müsse expandieren, und zwar auf Kosten anderer, so schrieb Hitler damals. Der Verzicht auf Expansion bedeute Stagnation. Alle Mittel seien in diesem Kampf erlaubt.498 Die Wiederherstellung des russischen Imperiums stellt für Dugin keinen Selbstzweck dar. Das eigentliche Ziel des wiederhergestellten Imperiums soll der Kampf um die Weltherrschaft sein.499 Endkampfszenarien im Sinne Dugins prägen indes nicht die Vorgehensweise der heutigen russischen Führung. Zwar kann sie sich mit der Auflösung der Sowjetunion, die Putin im April 2005 als die ‚größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts‘ bezeichnete, nicht abfinden. Nach einer Weltherrschaft, wozu Dugin sie anspornen möchte, strebt sie aber nicht. Sie ist eher isolationistisch gesinnt und will sich, ähnlich übrigens wie die klassischen Eurasier, vor allem von westlichen Einflüssen abschirmen. Denn sie weiß, dass ihr System der ‚gelenkten Demokratie‘, das auf einer weitgehenden Entmündigung der Gesellschaft basiert, mit den westlichen Wertvorstellungen nicht zu vereinbaren wäre. Daher ihre panische Angst vor den emanzipatorischen Impulsen des Euromajdan. Was Dugin von der Putin-Equipe zusätzlich unterscheidet, ist die Einstellung zum Dritten Reich. Die heutige russische Führung gebärdet sich als entschlossene Kämpferin gegen die ‚faschistische Gefahr‘. Im russischen Parlament wurde vor kurzem ein Gesetzentwurf gebilligt, der für die ‚Rehabilitierung des Nationalsozialismus‘ hohe Strafe vorsieht. Dugins Einstellung zum Nationalsozialismus hingegen ist bei weitem nicht so eindeutig. In der von ihm in den Jahren 1992–98 herausgegebenen Zeitschrift Ėlementy kritisierte er zwar den Nationalsozialismus für seinen engstirnigen Nationalismus, bezeichnete aber zugleich den Zusammenbruch des Dritten Reiches als eine „verheerende Niederlage für die Ideologie des Dritten Weges“, 500 die Dugin sehr positiv bewertet. Im gleichen Artikel äußerte er auch seine Bewunderung für manche Aspekte der SS-Ideologie. Die SS selbst charakterisierte er als „eine Art Ritterorden nach mittelalterlichem Vorbild mit solchen Idealen wie körperliche Askese, Armut und Disziplin … “.501 Dass Dugin sich, ungeachtet derartiger Äußerungen, heutzutage zu einem ‚Vorkämpfer gegen den Faschismus in der Ukraine‘ stilisiert, kann nur als pure Heuchelei bewertet werden. 498 Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, hg. v. Gerhard L.Weinberg, Stuttgart 1961. 499 Dugin, Osnovy, a.a.O., S.213. 500 Dugin, Konservativnaja revoljucija, a.a.O., S. 54. 501 Ebd.

2.5 Ist Putin ein Eurasier?

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Obwohl Dugin zurzeit unzählige Lobeshymnen auf Putin verfasst, ist es ihm nicht gelungen, seine Endkampfideologie in den Status eines offiziellen Regierungsprogramms zu erheben. Was allerdings große Sorgen bereiten muss, ist die Tatsache, dass er seit Jahren seine Hasstiraden in den staatlich kontrollierten Medien ungehindert verkünden kann. Nicht weniger bedenklich ist auch der Umstand, dass Dugin in den Jahren 2008 bis 2014 das neu gegründete Zentrum für die Erforschung des Konservatismus an der Soziologischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität leitete. Damit erhielt er die Möglichkeit, seine abenteuerlichen Thesen als Professor der wohl einflussreichsten Hochschule Russlands zu verbreiten.

Veröffentlichungsnachweise

1. Gehört Russland zu Europa? Anmerkungen zu einer Debatte, revidierte Fassung meines Aufsatzes, der in der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideenund Zeitgeschichte (2003), Heft 2, S. 171-191, erschienen ist. 2. Freiheit oder imperiale Größe? Anmerkungen zur politischen Kultur Russlands, Erstveröffentlichung in: Eurasisches Magazin 1 (2009) – Internet-Zeitschrift. 3. Vladimir Pečerin – 1807–1885 – und die russische Sehnsucht nach dem Abendlande, Erstveröffentlichung in: Studies in East European Thought 48 (1996), H. 1, S. 21–36. 4. Dekadenzängste und Rußlandfurcht  – zwischen Wiener Kongreß und Krimkrieg, Erstveröffentlichung in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 24 (1995), S. 15–39. 5. Russlandsehnsucht und Russlandhass, Erstveröffentlichung in: Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, hg.v. Andreas Lawaty u. Hubert Orłowski, München 2003, S. 216–227. 6. Hassliebe?  – Aleksander Wats Russlandbild, Erstveröffentlichung in: Aleksander Wat und ‚sein‘ Jahrhundert, hg. v. Matthias Freise u. Andreas Lawaty, Wiesbaden 2002, S. 60–65. 7. Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, Erstveröffentlichung in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 34 (1986), H. 3, S. 374–395. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Luks, Europäisch oder Eurasisch?, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29626-1

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 Veröffentlichungsnachweise

8. Anmerkungen zum ‚revolutionär-traditionalistischen‘ Kulturmodell der ‚Eurasier‘, Erstveröffentlichung in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 7 (2003), H. 1, S. 141–161. 9. ‚Eurasier‘ und ‚Konservative Revolution‘. Zur antiwestlichen Versuchung in Rußland und in Deutschland, Erstveröffentlichung in: Deutschland und die bolschewistische Revolution 1917–1924, hg. v. Gerd Koenen u. Lew Kopelew, München 1998, S. 219–239. 10. Der ‚Dritte Weg‘ der ‚Neo-eurasischen‘ Zeitschrift ‚Ėlementy‘ – Zurück ins Dritte Reich?, Erstveröffentlichung in: Studies in East European Thought 52 (2000), H. 1–2, S. 49–71. 11. Eurasische Träumer  – Putins imperiale Vorbilder?, Erstveröffentlichung in: The European v. 20. Mai 2014 – Internet-Zeitschrift.

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Register der Namen und Sachen

Abendland 11, 14, 43, 46, 50 ff. Adrianopel 56 Agurskij, Michail 100 Aksakov, Konstantin 13 Alekseev, Nikolaj 108, 157, 170 Alexander I. 57, 82 Alexander II. 22, 23, 50 Alma-Ata 89 Amal’rik, Andrej 38 Anti-Hitler-Koalition 94 Antipov, Aleksandr 164 f. Aseev, Nikolaj 92 Baader, Franz von 14 Babeuf, François 46 Bakunin, Michail 50, 72 Barraclough, Geoffrey 79 Baumgart, Winfried 77, 79 Benda, Julien 149 Berdjaev, Nikolaj 3, 15, 32, 48, 111, 114 f., 118, 132, 144 f. Berlin 64, 68, 74 Bicilli, Petr 111 Blok, Aleksandr 132,135 Bochan, Sofija 108 Bojaren 7 Bojarenrat 7 Bolschewiki 18 f., 28–35, 37, 39, 84, 89, 91, 93, 96, 102, 107, 111, 113, 115 f., 118–122, 131, 136, 139, 145 f., 149 f., 152–155, 161, 163, 172, 175, 179 f., 185 Bolschewismus 32, 35, 89, 114, 116–121, 135, 142, 146 f., 149, 154, 163, 165, 171, 173, 180 Bolschewistische Revolution 18, 90, 140 Bolsover, George H. 56 Bonn, Moritz Julius 157 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Luks, Europäisch oder Eurasisch?, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29626-1

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  Register der Namen und Sachen

Bosporus 58, 76 Böss, Otto 100 f., 103 Brest-Litovsk 34, 153 Brežnev-Doktrin 20 Buchheim, Hans 153 Bulgakov, Sergej 48, 136 Bürgerrechtsbewegung 37 Byzanz 4 f., 8 f., 10, 143 Čaadaev, Petr 12 f., 44 f. Cadot, Michel 69 Cäsar 159 f., 180 Čcheidze, Konstantin 121 Čechov, Anton 3 Cereteli, Iraklij 29 Černov, Viktor 27 Cervantes, Miguel de 4 Cherniavsky, Michail 8 China 89, 183 f. Chomjakov, Aleksej 13, 137 Chrysostomus, Johannes 48 Čičerin, Boris 17 Cortès, Juan Donoso 55, 69, 71 Custine, Marquis de 21, 55, 62 f., 71 Cvetaeva, Marina 163 Dan, Fedor 33 Danilevskij, Nikolaj 1, 15 f., 54 Degrelle, Léon 182 Dekabristen 21 f., 58 Dekabristenaufstand 21, 43 Deutsch-Französischer Krieg 80 Deutschland 16, 18, 40, 44, 60, 62, 66, 71, 73, 80 f., 122, 124, 147, 149, 154, 156 ff., 164, 175 f., 179 f., 182 ff. Diezel, Gustav 71, 73 Dolchstoßlegende 40, 176 Don Quichotte 52 f. Doppelherrschaft 31 Dostoevskij, Fedor 3 f., 16, 25, 81, 134, 144 Drittes Reich 91, 147, 158, 165, 167, 180 f., 185 Drittes Rom 8 f., 20, 133, 140 Dschingis-Khan 89 Dublin 53 Dugin, Aleksandr 166, 168, 181, 187 ff. Ėfron, Sergej 125 Einiges Russland 41 Eisenstein, Sergej 93

Register der Namen und Sachen

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El’cin, Boris 87 Ėlementy 166, 168–185 Engels, Friedrich 72 f. England 75 Erster Weltkrieg 156, 180 EU 185 Eurasier 99–105, 108-119, 121–141, 143–146, 148–153, 155–161, 163–165, 168–173, 175– 179, 183, 185–188 Eurasierbewegung 35, 99 ff., 106, 111, 113, 122 f., 128 f., 133, 144, 146 ff. 151, 164, 168, 185 f. Eurasische Union 185 Europäisierung 1, 21, 70 f., 103, 114 ff., 130, 133, 141 f., 171 Evrazijskaja chronika 146 Fallmerayer, Jakob Philipp 55, 70 Faschisten 118, 122, 172 Februarrevolution 27 f., 31 Fedotov, Georgij 26, 36 f., 91, 114 f., 153, 161 f. Filofej 9 Fin de Siècle 18, 54 Fischer, Fritz 81 Fletcher, Giles 5 f. Florovskij, Georgij 111, 113 Forsthoff, Ernst 159, 180 Frank, Semen 3, 29, 43, 48, 135 Frank, Viktor 43, 45 Frankreich 6, 14, 46, 57, 60, 62, 64, 66, 69, 167 Franz Joseph 68 Franz von Assisi 111 Gazeta Wyborcza 87 Gefter, Michail 37, 91 Geopolitik 183, 187 Gercen, Aleksandr 12, 47–51, 63, 70, 72 Geršenzon, Michail 43, 48 Goebbels, Joseph 145 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 81 Goldene Horde 141 Gomułka, Władysław 86 Gor’kij, Maksim 135 Gorbačev, Michail 20, 38, 39 gosudarstvo pravdy 9 Groh, Dieter 79 Großfürstentum Moskau 104 Großherzogtum Warschau 82 Guizot, François 62

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  Register der Namen und Sachen

Halperin, Charles 100 Haxthausen, August von 73 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13 Herberstein, Sigmund Freiherr von 5 f. Herder, Johann Gottfried 13 Hess, Moses 73 Hilferding, Rudolf 18 Hitler, Adolf 127, 147, 181 f. Hitler-Stalin-Pakt 84 Hofmannsthal, Hugo von 81, 162 Ideokratien 119, 160 Intelligenzija 22 f., 26, 37 f. Israel 177 Italien 66, 157, 159, 170 Ivan der Schreckliche 7 Izvestija 94 Jakobson, Roman 106 Juli-Ereignisse 30 Julimonarchie 62, 64 Jung, Edgar J. 123, 147 Jünger, Ernst 147, 156 f., 179 Kamenev, Lev 52 Kandinskij, Vasilij 3 Karsavin, Lev 111, 128 Katharina II. 11 Katholizismus 13, 46, 48, 50 ff., 111, 144 Katkov, Michail 51 Katyń 84 Kaukasus 59 Kerenskij, Aleksandr 18, 118 Kireevskij, Ivan 13 Koestler, Arthur 88, 94 Kollektivierung der Landwirtschaft 92, 126 Kommunisten 40 ff., 52, 86 f., 91, 96 f., 179 Kommunistisches Manifest 133 Kondottieri 159 Königreich Polen 82 Konservative Revolution 122 f., 140, 147, 152 f., 155, 157, 160, 162–165, 174 f., 180, 185 Konstantinopel 5, 9, 62, 78 Kornilov, Lavr 30 Kosaken 69 kosakisch 70 KPdSU 38, 41

Register der Namen und Sachen

Kreml 41 f., 93, 95 Kriegskommunismus 33 Krim 78, 186 f. Krimkrieg 15 f., 24, 55, 72, 77–80, 83 Kuśmierek, Józef 87 Lagarde, Paul de 140 Lamartine, Alphonse de 66 Lamennais, Félicité de 45 Landwirtschaftliche Gesellschaft 83 Langbehn, Julius 140 Legitimisten 59, 63 Lenin, Vladimir 28, 30, 32, 34, 36, 93, 97, 139, 145, 150, 154 Leont’ev, Konstantin 17, 53, 138, 142, 156 Lhasa 10, 143 Liberalismus 16, 154, 157, 162, 170–174, 176, 179, 186 London 60, 64, 76 Ludwig XIV. 6 Machiavelli, Niccolò 159 Malevič, Kazimir 3 Mann, Thomas 3 Martin, Kingsley 76 Marx, Karl 72 f., 89, 134 Meerengen-Vertrag 61 Mekka 10, 143 Menschewiki 28 f., 33 Messianismus, slawischer 73 Michnik, Adam 86 f. Miljukov, Pavel 28 Miłosz, Czesław 88, 97 Mladorosy 112 Moeller van den Bruck, Arthur 123, 153 ff., 179, 185 Mondialismus 169, 178, 184 Morozov, Evgenij 177 Moskau 8 ff., 20, 34, 69, 81, 86, 91, 133, 141, 166, 186 Moskauer Russland 23, 109, 137, 140–143 Moskauer Staatsuniversität 189 Moskauer Zartum 133 Namier, Lewis B. 61 f., 67, 76, 80, 156 Napoleon 11, 55 f., 62, 70, 77 f., 80, 82, 159 Napoleon III. 78 Narodnaja volja 23 Nationalbolschewismus 35, 173 f. Nationalismus 55, 80, 106, 128, 132, 181, 186, 188

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  Register der Namen und Sachen

National-Maximalisten 112 Nečaev, Sergej 22 Neoeurasier 187 Neowestler 166 Nesselrode, Karl Robert von 67, 71 Neue Ökonomische Politik 116 Niekisch, Ernst 147, 160, 164 Nietzsche, Friedrich 54 Nifontov, Aleksandr 68 Nikolaus I. 15 f., 24, 43, 45, 50 f., 57 f., 65, 67 f., 71, 76, 78 NKVD 93 Norwid, Cyprian Kamil 86 Novemberaufstand 66, 83 NSDAP 126 Oberste Heeresleitung 154 Ogarev, Nikolaj 47, 51 Olechowski, Andrzej 87 Olmützer Punktation 74 Orthodoxie 5, 9, 13, 15 f., 48, 108, 111, 129, 132, 134, 137, 141, 144, 157, 170 Orwell, George 88 Osmanisches Reich 58 Österreich 60, 74, 85 Osteuropa 34, 80, 87 Ostrogorsky, Georg 4 Panslawisten 14 f., 17, 23 f., 132 Pariser Kommune 51 Pasternak, Boris 3, 90 Paustovskij, Konstantin 89 Pavlov’sche Reflextheorie 96 Pečerin, Vladimir 12, 42–54 Pejl, Vladimir 126 Perestrojka 86, 148, 167 Peter der Große 10 f., 19, 103, 113, 115, 137, 143, 171 f. Petersburg 63 f., 76, 84 Petersburger Russland 10 f., 123, 130, 134 ff., 140, 143 Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten 28 Pobedonoscev, Konstantin 17 Pogodin, Michail 24, 51, 58, 72 Polen 51, 59 ff., 66, 68, 82 ff., 86 f. Possevino, Antonio 5, 6 pravda 7 Preußen 24, 60, 78 Prochanov, Aleksandr 166 proletarische Weltrevolution 19

Register der Namen und Sachen

Provisorische Regierung 18, 66 Put’ 110 Putin, Vladimir 20, 41, 185–189 Rauschning, Herrmann 155 Rechtsextremisten 176, 178 f. Redemptoristen 47 Renaissance 5, 110, 132, 135 Revolutionskatechismus 22 Riasanovsky, Nicholas 100 f., 103, 139 Rich, Norman 79 Rimscha, Hans von 164 Rom 105 Romanow-Dynastie 28 Roosevelt, Franklin D. 94 Rousseau, Jean-Jacques 4, 11 Rozanov, Vasilij 54, 131 Rudnev, Vadim 114 Rus’ 133 Russische Föderation 41, 186 Russische KP 42 Šafarevič, Igor 178 Sankt Helena 70 Sauer, Wolfgang 156 Savickij, Petr 103, 123, 126, 129, 141, 146, 164, 175, 183, 187 Scheibert, Peter 43 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 13 Schieder, Theodor 22 Schifrin, Aleksandr 162 f. Schmitt, Carl 158 f., 174 Schroeder. Paul 75 Schweden 61 Šklovskij, Viktor 89 Slawische Völker 24, 78 Slawophilen 13 f., 17, 73, 109 f., 132, 141, 144, 150 f. Slawophilentum 117 ‚Smena-Vech‘-Bewegung 35, 112, 121, 173 sobornost’ 14 Solov’ev, Vladimir 3 Sorskij, Nil 8 Sovremennye zapiski 110 Sozialrevolutionäre 27 Spengler, Oswald 15, 54, 107, 149, 156 f., 164 spontane Entstalinisierung 37, 91 Staatsduma 26

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  Register der Namen und Sachen

Stalin, Iosif 36 f., 94 f. Stalingrad 93 Stalinismus 88, 90 f., 95, 146 Stankevič, Sergej 166 Starovojtova, Galina 39 f. Steklov, Jurij 94 Stepun, Fedor 32, 110, 112, 114 f., 117 f., 171 Stolypin, Petr 17 Stomma, Stanisław 85 f. Struve, Gleb 100 Struve, Petr 48 Suchanov, Nikolaj 27 Surkov, Vladislav 41 Suvčinskij, Petr 101, 113, 123, 134, 136 f., 146 Svjatopolk-Mirskij, Dmitrij 125 Tamerlan 76 Tataren 5, 11, 104, 138, 141 Taylor, Alan John Percivale 59, 77 Teleskop 12 Tellurokratien 183 Thalassokratien 169, 183 Time-Magazin 94 Tjutčev, Fedor 14, 24, 58, 64, 72, 78 Tocqueville, Alexis de 55, 64, 68, 71, 77 f. Tolstoj, Aleksej 92 Tolstoj, Lev 3 f. Transwolga-Starzen 8 Trockij, Lev 145, 149 Trubeckoj, Nikolaj 103–108, 117 f., 120, 123, 129, 133, 137, 139–142, 146 ff., 151 ff., 155, 164, 168, 171, 185 ff. Turner, Henry 156 Tygodnik Powszechny 85 UdSSR 38, 80, 148, 167, 186 Ungarn 59, 67 f. UNO 186 USA 176, 177 Ustrjalov, Nikolaj 35 Utechin, Sergej 100 Vasilij III. 9 Vechi 54, 110, 131 f., 143 Vejdle, Vladimir 10, 20, 115, 143 Vernadskij, Georgij 100, 103 Versailler Vertrag 153

Register der Namen und Sachen

Versailles 140, 154 Viskuli 40 VKP(b) 93 Volockij, Iosif 7, 8 Waräger 115, 133 Wat, Aleksandr 87–98 Weber, Alfred 18, 19, 103 Wehler, Hans-Ulrich 4 Weimarer Republik 40, 126, 140, 147, 153, 158, 163 f., 176 weiße Armeen 33, 111 Weltrevolution 107 Weltwirtschaftskrise 162 Westernisierung 1, 20 Westler 13, 17 f., 23, 45, 50, 110, 132, 150, 166 Wien 64, 68 Wiener Kongress 15, 55, 82 Wilhelm I. 80 Wilhelminismus 123 Williams, Robert 100 Witte, Sergej 17, 27, 81, 150 Wittram, Reinhard 25 Woźniakowski, Jacek 85 Wyszyński, Stefan 85 Zamoyski, Andrzej 84 Zar 7, 22, 24 ff., 58 ff., 67, 73 ff., 78, 113, 152 Zarenreich 11, 12, 16, 52, 58-65, 67, 73 ff., 79 f., 82 f., 86, 150 Zehrer, Hans 123, 162, 164 Zen’kovskij, Vasilij 100, 138

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2  Register der Namen und Sachen

Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft Herausgegeben von Christoph Böhr Bisher erschienen: Rémi Brague Europa: seine Kultur, seine Barbarei Exzentrische Identität und römische Sekundarität 2012, EUR 34,99. ISBN 978-3-531-18473-9

Martin Rhonheimer Homo sapiens: Die Krone der Schöpfung Herausforderungen der Evolutionstheorie und die Antwort der Philosophie 2016, EUR 39,99. ISBN 978-3-12074-0

Walter Schweidler Über Menschenwürde Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens 2012, EUR 29,99. ISBN 978-3-531-18725-9

Hg. v. Christoph Böhr Zum Grund des Seins Metaphysik und Anthropologie nach der Postmoderne Rémi Brague zu Ehren 2017, EUR 39,99. ISBN 978-3-658-15143-0

William J. Hoye Die Wirklichkeit der Wahrheit Freiheit der Gesellschaft und Anspruch des Unbedingten 2013, EUR 39,99. ISBN 978-3-658-01337-0 Leonidas Donskis Freiheit und Zugehörigkeit Europäischer Kanon, kulturelle Identität und postmoderne Krise 2014, EUR 59,99. ISBN 978-3-658-01335-6 Martin Hähnel Das Ethos der Ethik Zur Anthropologie der Tugend 2015, EUR 59,99. ISBN 978-3-658-08051-8 Hg. v. Christoph Böhr, Philipp W. Hildmann u. Johann Christian Koecke Glaube, Gewissen, Freiheit Lord Acton und die religiösen Grundlagen der liberalen Gesellschaft 2015, EUR 49,99. ISBN 978-3-658-08287-1 Hg. v. Christoph Böhr Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes Das Symbol, seine Anthropologie und die Kultur des säkularen Staates 2016, EUR 59,99. ISBN 978-3-658-11197-7

Richard Schaeffler Unbedingte Wahrheit und endliche Vernunft Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis 2017, EUR 44,99. ISBN 978-3-658-15133-1 Hans Otto Seitschek Religionsphilosophie als Perspektive Eine neue Deutung von Wirklichkeit und Wahrheit 2017, EUR 69,99. ISBN 978-3-658-12243-0 Rémi Brague Anker im Himmel Metaphysik als Fundament der Anthropologie 2018, EUR 29,99. ISBN 978-3-658-20529-4 William J. Hoye Die verborgene Theologie der Säkularität 2018, EUR 39,99. ISBN 978-3-658-21093-9 Hg. v. Christoph Böhr u. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Gott denken Zur Philosophie von Religion Richard Schaeffler zu Ehren 2019, EUR 69,99. ISBN 978-3-658-21944-4

Stand: Dezember 2019. Änderungen vorbehalten. Erhältlich im Buchhandel oder beim Verlag.

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2.5 Ist Putin ein Eurasier?

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Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft Herausgegeben von Christoph Böhr Bisher erschienen: Hg. v. Christoph Böhr, Claudia Crawford u. Lars Hoffmann Politik und Christentum Kohärenzen und Differenzen: Eine russisch-deutsche Sicht auf die Geschichte im 20. Jahrhundert 2019, EUR 74,99. ISBN 978-3-658-24799-7 Luigino Bruni Reziprozität Grundform der sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung 2020 Leonid Luks Europäisch? Eurasisch? Kontroversen um die russische Identität 2020

Rocco Buttiglione Die Wahrheit im Menschen: Jenseits von Dogmatismus und Skeptizismus 2019, EUR 59,99. ISBN 978-3-658-14027-4 Richard Schaeffler Philosophische Anthropologie 2019, EUR 37,99. ISBN 978-3-658-25870-2 Hg. v. Christoph Böhr Metaphysik: Von einem unabweislichen Bedürfnis menschlicher Vernunft – Rémi Brague zu Ehren 2020

Die nächsten Bände der Reihe: Norbert Hinske Von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums Zu einem neuen Verständnis Kants 2020 (in Vorb.) Johannes Hoff Performativer Realismus: Die Einheit von Kunst, Wissenschaft und Kontemplation heute 2019 (in Vorb.) Rémi Brague Gott und Gesetz – die Geschichte eines Bündnisses Zur Philosophie einer Idee 2020 (in Vorb.)

Hg. v. Christoph Böhr Auf dem Weg zum Menschen Zur Entwicklung des europäischen Menschenbildes, Band 1: Das Erste Rom 2020 (in Vorb.) Hg. v. Christoph Böhr Auf dem Weg zum Menschen Zur Entwicklung des europäischen Menschenbildes, Band 2: Das Zweite Rom: Byzanz 2020 (in Vorb.) Hg. v. Christoph Böhr Auf dem Weg zum Menschen Zur Entwicklung des europäischen Menschenbildes, Band 3: Das Dritte Rom: Moskau 2020 (in Vorb.)

Stand: Dezember 2019. Änderungen vorbehalten. Erhältlich im Buchhandel oder beim Verlag.

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