Die Romantik der Rationalität: Alva & Gunnar Myrdal - Social Engineering in Schweden [1. Aufl.] 9783839412701

Die »ambivalente Moderne« hat Spuren hinterlassen - auch in Schweden. Social Engineering schien eine Möglichkeit, die ne

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Die Romantik der Rationalität: Alva & Gunnar Myrdal - Social Engineering in Schweden [1. Aufl.]
 9783839412701

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung: Ein Weg durch die Moderne
1. Imaginary Landscape
2. »Jäten« oder »Hegen«? Die Ambivalenz der Moderne
3. Normalisierung
4. Social Engineering
5. Macht
6. Exempla: Alva und Gunnar Myrdal
7. Aufbau des Buches
II. Inszenierte Leben
1. Das Problem der Biographie
2. Drei Biographien
3. Ein Nachlaß
4. Zwei Erfolgsleben
5. Beobachtungen beobachten
III. Suchbewegungen
1. Heirat
2. Frühe Krisen
3. Karrierebeginn
4. Intellektuelle Orientierung: die USA
5. Die »Firma Myrdal« nimmt den Betrieb auf
IV. Das Projekt Moderne
1. 1930: Die »Stockholmausstellung«
2. Krise und Aufbruch der 30er Jahre
3. Die Moderne zelebrieren
4. Die Moderne beobachten
5. Die Moderne formen
6. Das »Volksheim«
7. Eine korporativ verfaßte Gesellschaft
8. Kollektiv/Individuum
V. Die Macht der kühlen Vernunft
1. »Ist der Schwede Mensch?«
2. Eine Blaupause
3. Bevölkerung, Krise, Politik
4. Inszenierungen
5. Wertprämissen
6. Weltbild
VI. Umbaupläne
1. »Ein Heim«
2. Funktionalismus
3. Zonierung/Freiheit
4. Haushalt/Gender
5. Das Kollektivhaus
6. Das neue Leben
VII. Das Projekt Kind
1. Die Kollektivkinderkrippe
2. Demokratisches Menschenmaterial
3. Die Erziehung der Erzieher
4. Kontexte
5. Jan, Sissela und Kaj
VIII. Ein exemplarisches Leben?
1. Villa Myrdal
2. Medienbilder
3. Eine »amerikanische« Ehe
4. »Frauensachen«
5. Konfl iktfreier Feminismus
6. Asymmetrischer Feminismus
IX. Amerika
1. »An American Dilemma«
2. Evolution statt Revolution
3. Die Julikrise 1941
4. Zu groß für Schweden
X. Weltbürger
1. Ehe/Karrieren
2. Nachkriegszeit
3. Revisionen?
4. Nationalistische Kosmopoliten
5. Nationale Ikonen
6. Keine Autobiographie
XI. Visualisierung
1. Piktogrammatische Bilder
2. Alva und Gunnar Myrdal
3. Erziehungsfragen
4. Moderne
5. Funktionalismus
6. Normalisierung
XII. Abschluß: Spielräume
1. Die Verteidigung der Normalität
2. Der »blinde Fleck«
XIII. Anhang
1. Dank
2. Wichtige Abkürzungen
3. Appendix 1: Zur Quellen- und Literaturlage
4. Appendix 2: »Tagebuch über ein Kind«
5. Appendix 3: Beispielhafter Tagesplan einer Kollektivkinderkrippe
6. Quellen und Literatur
7. Register

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Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität

H i s t o i r e | Band 10

Thomas Etzemüller (Dr. phil.) ist apl. Prof. für Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg. Er arbeitet zur Geschichte der europäischen Moderne sowie zur Wissenschaftsgeschichte.

Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bo Törngren, Reportagebild, Schweden Lektorat: Thomas Etzemüller Übersetzung: Alle Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen stammen von Thomas Etzemüller. Die Rechtschreibung im Schwedischen ist uneinheitlich. Der Buchstabe »å« wird »o« ausgesprochen und nach dem Buchstaben Z eingeordnet. Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1270-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt I 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Einleitung: Ein Weg durch die Moderne Imaginary Landscape ........................................................................ 9 »Jäten« oder »Hegen«? Die Ambivalenz der Moderne ................. 13 Normalisierung ................................................................................ 15 Social Engineering .......................................................................... 17 Macht ................................................................................................ 19 Exempla: Alva und Gunnar Myrdal ................................................ 21 Auf bau des Buches .......................................................................... 23

II 1. 2. 3. 4. 5.

Inszenierte Leben Das Problem der Biographie ........................................................... Drei Biographien .............................................................................. Ein Nachlaß ...................................................................................... Zwei Erfolgsleben ............................................................................ Beobachtungen beobachten ............................................................

27 29 32 36 45

III 1. 2. 3. 4. 5.

Suchbewegungen Heirat ................................................................................................ Frühe Krisen .................................................................................... Karrierebeginn ................................................................................. Intellektuelle Orientierung: die USA ............................................. Die »Firma Myrdal« nimmt den Betrieb auf .................................

47 51 58 65 70

IV 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Das Projekt Moderne 1930: Die »Stockholmausstellung« ................................................. 75 Krise und Auf bruch der 30er Jahre ............................................... 81 Die Moderne zelebrieren ................................................................. 83 Die Moderne beobachten ................................................................ 87 Die Moderne formen ....................................................................... 93 Das »Volksheim« ............................................................................ 104 Eine korporativ verfaßte Gesellschaft .......................................... 106 Kollektiv/Individuum .................................................................... 111

V 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Macht der kühlen Vernunft »Ist der Schwede Mensch?« ............................................................ 119 Eine Blaupause ............................................................................... 122 Bevölkerung, Krise, Politik ........................................................... 130 Inszenierungen .............................................................................. 137 Wertprämissen ............................................................................... 142 Weltbild ........................................................................................... 150

VI 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Umbaupläne »Ein Heim« .................................................................................... Funktionalismus ............................................................................ Zonierung/Freiheit ........................................................................ Haushalt/Gender ........................................................................... Das Kollektivhaus .......................................................................... Das neue Leben ..............................................................................

159 164 171 177 188 195

VII 1. 2. 3. 4. 5.

Das Projekt Kind Die Kollektivkinderkrippe ............................................................. Demokratisches Menschenmaterial ............................................ Die Erziehung der Erzieher .......................................................... Kontexte .......................................................................................... Jan, Sissela und Kaj ........................................................................

203 209 213 216 222

VIII 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Ein exemplarisches Leben? Villa Myrdal .................................................................................... Medienbilder .................................................................................. Eine »amerikanische« Ehe ............................................................ »Frauensachen« ............................................................................. Konfliktfreier Feminismus ........................................................... Asymmetrischer Feminismus ......................................................

227 234 240 249 258 268

IX 1. 2. 3. 4.

Amerika »An American Dilemma« ............................................................. Evolution statt Revolution .............................................................. Die Julikrise 1941 ............................................................................ Zu groß für Schweden ...................................................................

273 279 288 299

X 1. 2. 3. 4.

Weltbürger Ehe/Karrieren ................................................................................. Nachkriegszeit ................................................................................ Revisionen? ..................................................................................... Nationalistische Kosmopoliten .....................................................

311 319 324 330

5. Nationale Ikonen ............................................................................ 337 6. Keine Autobiographie .................................................................... 342 XI 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Visualisierung Piktogrammatische Bilder ............................................................ Alva und Gunnar Myrdal .............................................................. Erziehungsfragen ........................................................................... Moderne .......................................................................................... Funktionalismus ............................................................................ Normalisierung ..............................................................................

349 353 378 385 397 415

XII Abschluß: Spielräume 1. Die Verteidigung der Normalität .................................................. 421 2. Der »blinde Fleck« ......................................................................... 427 XIII 1. 2. 3. 4. 5.

Anhang Dank ................................................................................................ Wichtige Abkürzungen ................................................................. Appendix 1: Zur Quellen- und Literaturlage ................................ Appendix 2: »Tagebuch über ein Kind« ...................................... Appendix 3: Beispielhafter Tagesplan einer Kollektivkinderkrippe .......................................................... 6. Quellen und Literatur ................................................................... 7. Register ...........................................................................................

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I Einleitung : Ein Weg durch die Moderne

1. Imaginar y Landscape Mitte der 1930er Jahre fuhr ein Amerikaner nach Schweden. Die USA versuchten gerade, die schwere Wirtschaftskrise mit dem New Deal auf demokratischem Wege zu überwinden, Deutschland und Italien erregten mit ihren faschistischen Modellen Aufmerksamkeit. Was hatte Schweden zu bieten? Marquis Childs ließ sich das Land erklären. Als er zurückkehrte, publizierte er zwei Bücher, von denen das erste mit seinem programmatischen Titel zum Klassiker und Sinnbild werden sollte: »Sweden. The Middle Way«. Einer Großmacht auf der Suche beschrieb er, wie ein kleiner Staat im Norden Europas durch tiefverwurzeltes demokratisches Denken, kooperative Vernunft, unbestechlichen Pragmatismus und staatliche Interventionen den Kapitalismus gezähmt hatte, Dank eines »fairly welldesigned middle course« zwischen dem russischen und dem amerikanischen System: »The wisdom of the Swedes lies above all in their willingness to adjust, to compromise, to meet what appears to be reality. They have not been bound by a ›system‹, nor have they been committed to a dogma. In a sense they are the ultimate pragmatists, interested only in the workability of the social order.« 1 Die Unternehmer sind hart, aber verhandlungsbereit. Monopole sind durch Kooperativen gebrochen worden. In Boliden, Sandviken und Kiruna haben die Kapitalisten ganze Kommunen aufgebaut, regiert von sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern. Privatunternehmen führen staatliche Betriebe, weil Beamte zu Bürokratie, Korruption und Laxheit neigen; der Staat verdient blendend. Er sorgt für Sicherheit, die Gewerkschaften sichern das Einkommen, Kooperativen lehren sparsames Haushalten, Parteien und Volksbewegungen organisieren 1. M. Childs, Sweden, S. 161.

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Die Romantik der Rationalität

die politische Partizipation. Es gibt keine Rufmordkampagnen, niemand verschwendet Zeit auf Propaganda. Man diskutiert. Die Menschen wohnen in hochmodernen, preisgünstigen Wohnungen mit Aussicht, Balkon, Waschküche, Abfallschacht, Linoleumboden. Die natürlichen Ressourcen werden geschont. Schweden verspricht, ein Modell für die Zukunft zu sein: »The high type of trade-union leadership prevailing in the Scandinavian countries encourages the believe that real achievements will come out of this new approach; that it is the beginning of a new era of collective bargaining in an expanded sphere and not a dead end.«2 Schweden habe die selbstzerstörerische Kraft des Kapitalismus gebrochen, es sei das einzige Land, in dem das laissez faire noch existiere, weil die Gesetze von Angebot und Nachfrage nicht völlig durch die Monopole vernichtet worden seien. »The Middle Way« wurde enthusiastisch aufgenommen, auch in Schweden, das sich in seiner Avantgarderolle bestätigt sah. Nach 25 Jahren erschien sogar eine »Jubiläumsausgabe«.3 Noch einmal zehn Jahre darauf allerdings kratzte ein Brite am Lack. Roland Huntford fuhr in den Norden, suchte und fand die »New Totalitarians«. Kein Land, so schrieb er, stehe Aldous Huxleys »Schöner Neuer Welt« näher als Schweden. Eine technokratische Oligarchie regiert, die Menschen sind seit Jahrhunderten eingepaßt in einen zentralisierten, hierarchisierten Staat. Sie sind durch und durch materiell eingestellt, persönliche Sicherheit bedeutet ihnen so viel wie den Briten der Rechtsstaat, und diese Sicherheit erbitten sie vom Staat. Zweckmäßigkeit, nicht Ethik und Moral bestimmen Recht und Normen. Sich über Freiheit Gedanken zu machen, gilt als pathologisch. Die Behörden haben eine uneingeschränkte Macht über die Kinder, die Menschen werden dazu gebracht, kollektiviert in Wohnblocks zu leben, obwohl sie das nicht wollen; sie verleugnen ihre eigenen Wünsche ohne Auflehnung. Sie nehmen unangenehme Entscheidungen mit einer Art innerer Zustimmung an, als seien es ihre eigenen. Nicht einmal die sowjetischen Autokraten oder Mussolini sind von ihren Völkern mit einer derartigen Machtfülle ausgestattet worden, Schweden dagegen läßt eine starke Affinität zum Nationalsozialismus erkennen. »The price of contentment in Sweden is absolute conformity. Personal desires must be tailored to the desires of the group. Mostly this is forthcoming. Where it is not, society imposes uniformity. Methods are civilized, rational and humane, but still remorseless. Difference in the Swedish world has always been 2. M. Childs, This is Democracy, S. 160. 3. In dieser Ausgabe wehrte sich Childs energisch gegen Lesarten, er habe eine bereits verwirklichte Utopie beschrieben: Schweden sei kein »perfect little place« (M. Childs, Sweden [1961], S. 170). Ähnlich positiv: La Paix sociale en Suède; I. J[urkunas]-Scheynius, Resa i samverkans Sverige.

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I Einleitung

something undesirable, half sin, half disease. In the modern welfare state, its eradication has become an obsession, because its continued existence is a flaw in the system. […] And so, modern Sweden has fulfi lled Huxley’s specifications for the new totalitarianism. […] It has all been achieved with means known to the West. Nothing that the Swedes have done is, in itself, original; their originality lies in the application. […] The Swedish experience suggests that the choice before us is between technological perfection and personal liberty. The Swedes have chosen perfection. […] Pioneers in the new totalitarianism, the Swedes are a warning of what probably lies in store for the rest of us, unless we take care to resist control and centralization, and unless we remember that politics are not to be delegated, but are the concern of the individual. The new totalitarians, dealing in persuasion and manipulation, must be more efficient than the old, who depended upon force.« 4 Childs’ und Huntfords Bücher sind die bekanntesten Berichte über Expeditionen in das moderne Schweden. Dazu kann man außerdem Hans Magnus Enzensbergers leicht melancholischen »Schwedischen Herbst« rechnen, diesen Stoßseufzer über den »tiefe[n] Orgelton der Harmonie«,5 über Behörden, die ihr Selbstverständnis aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus herleiten, über eine Staatsphilosophie, der Gewaltenteilung und individuelle Freiheitsrechte fremd sind, über die »rüde Mißachtung aller symbolischen Formen«,6 über ein alles vereinnahmendes und erstikkendes Wohlwollen, über dieses »noch mehr Fürsorge, noch mehr Zentralisierung, noch mehr Staat«,7 wenn noch mehr Fürsorge, Zentralsteuerung und Staat bislang schon die Probleme nicht beseitigt haben. Oder Susan Sontag, die einen geradezu »sub-paranoid strain in Swedish culture, the polite suspicion that permeates all human contacts«, beschrieb.8 Oder Theo Sommer, für den das Land nur noch grau, entsaftet und ausgetrocknet war.9 Zahlreiche weitere Reiseberichte gibt es. Amerikaner sind grundsätzlich eher angetan, Briten und Deutsche deutlich kritisch.10 In allen Fällen aber handeln die Bücher nicht von Schweden, sondern vom eigenen Land. 4. R. Huntford, The New Totalitarians, S. 345, 348. 5. H. M. Enzensberger, Schwedischer Herbst, S. 12. Der Text geht auf eine

Artikelserie in »Dagens Nyheter« im Jahre 1982 zurück. 6. Ebd., S. 41. 7. Ebd., S. 44. 8. S. Sontag, A Letter from Sweden, S. 30. 9. T. Sommer, Schweden-Report, S. 13. 10. Beispielsweise M. Cole/C. Smith, Democratic Sweden; G. W. Scott, The Swedes; D. Jenkins, Sweden and the Price of Progress; R. F. Tomasson, Sweden;

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Die Romantik der Rationalität

Schweden ist ein Spiegel, eine imaginary landscape.11 Es ist die Projektionsfläche der eigenen Hoff nungen und Sorgen, nicht anders als den Europäern »Amerika« seit dem 19. Jahrhundert. Childs sah den New Deal in Schweden verwirklicht, sein Buch diente den Anhängern Roosevelts als Munition (und Schweden sah sein Modell durch Childs’ Buch und dessen positive Rezeption bestätigt 12). Huntford verteidigte ein britisches Freiheitsverständnis, wenn er vorgab, von Schweden zu sprechen. Sommer verabschiedete Schweden als Vorbild für die mittlerweile liberalisierte Bundesrepublik. Selbst die freundlich gesinnten Autoren störten Provinzialität, Titelhörigkeit, das Steife, Formelle, Konfliktangst, schlechtes Essen oder ein erbarmungslos regelhöriges Denken: Aufgabe der Straßenbahn ist es, den Fahrplan einzuhalten – selbst wenn man die Fahrgäste dafür stehen läßt. So wollte niemand sein. Aber bis heute werden die immer wechselnden eigenen Befindlichkeiten auf das Land projiziert.13 Mal ist es Sinnbild moralischer Verkommenheit (»Schwedenfi lme«), mal gilt es als vorbildlichster Sozialstaat der Welt. Aber nicht nur Schweden ist solch eine imaginäre Landschaft. Die ganze moderne Welt ist ein Flickenteppich selektiv und gerichtet wahrgenommener Landstriche, die für das stehen, was man im eigenen Land so bitter vermißt oder auf keinen Fall verwirklicht sehen möchte. Kein Land, keine Region wird wahrgenommen, wie sie »wirklich« ist. Und diese Projektionen lösen Energien aus. Die »Frontier«, der amerikanische »Westen«, steht für den unbändigen Willen der Amerikaner, Herausforderungen zu bezwingen. »Afrika« symbolisiert den zu verhindernden Zerfall nationaler Gesellschaften. Die finnischen Schulen treiben seit dem »Pisa-Schock« die deutsche Bildungsdebatte voran. Schweden beflügelt seit 70 Jahren die Sozialreformer aller Länder.

P. B. Austin, On Being Swedish. K. Nott, A Clean, Well-lighted Place, nimmt eine sympathisierend-kritische Haltung ein. 11. T. O’Dell, Culture Unbound, S. 55. Der Begriff ist in der Forschung bislang nicht definiert. Es handelt sich jedenfalls nicht um eine »mental map« im Sinne einer kognitiven Karte zur Orientierung im geographischen Raum. 12. Bereits in den 1920er Jahren hatten schwedische Sozialwissenschaftler ein positives Bild ihres Landes in den USA lancieren können, auch deshalb war Childs nach Schweden gefahren und nicht zu dessen skandinavischen Konkurrenten in Sachen Moderne, nach Dänemark; vgl. K. Musial, Tracing Roots of the Scandinavian Model. 13. Vgl. S. M. Schröder, More Fun with Swedish Girls?; T. Winkelmann, Alltagsmythen vom Norden.

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I Einleitung

2. »Jäten« oder »Hegen«? Die Ambivalenz der Moderne Zygmunt Bauman hat den Begriff der »ambivalenten Moderne« geprägt. Die Welt sei mit der Industrialisierung uneindeutig geworden. Klassifizieren, Ordnen, Mehrdeutigkeit beseitigen, um der Welt wieder eine Struktur zu geben und das Chaos unter Kontrolle zu bekommen, das sei die »typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens«, eine »Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte«.14 Der Staat wurde zum »Gärtner«, die Bevölkerung zur Gefahr. »Er [der Staat] entzog dem gegenwärtigen (wilden, unkultivierten) Zustand der Bevölkerung die Legitimation« und unterteilte sie »in nützliche Pflanzen, die sorgsam zu kräftigen und fortzupflanzen waren, und Unkraut – das entfernt oder samt Wurzeln herausgerissen werden mußte.«15 Der Holocaust sei das extreme Ergebnis dieser Weltsicht, aber ohne die technisierte und bürokratisierte Moderne nicht denkbar gewesen. Er war für Bauman »weder eine Anomalie noch eine Fehlfunktion […], sondern demonstriert, wohin die rational-technisierten Tendenzen der Moderne führen können, wenn sie nicht kontrolliert und abgemildert werden, wenn der Pluralismus sozialer Kräfte aufgehoben ist und mithin das moderne Ideal einer bewußt geplanten und gesteuerten, konfliktfreien, geordnet-harmonischen Gesellschaft nicht funktioniert.«16 Die Metaphorik des »Jätens« oder »Hegens« ist eingängig. Sie wird problematisch, wenn sie die Geschichte der klassifizierenden Moderne apodiktisch auf das Jäten zuschneidet: »Überall, wo Herrschaft ausgeübt wird, herrscht eine Ordnung. Sie beruht auf Informationen und Wissen, mit denen Unverstandenes kategorisiert und klassifiziert wird. Jede Klassifizierung aber ist ein Gewaltakt, der die Menschen zwingt, sich einer Ordnung zu unterwerfen. Wer sich nicht fügt, fällt aus der Ordnung heraus.«17 Für die nationalsozialistische bzw. die stalinistische Diktatur können Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel eindringlich beschreiben, was das »Herausfallen« im 20. Jahrhundert bedeuten konnte. Aber in dieser Konzentration auf Extremfälle liegt eine Gefahr. Referenzpunkt vieler Historiker ist nach wie vor die Löschung von Ambivalenz durch Vernichtung in totalitären Systemen. Durch diese Verengung der Perspektive 14. Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 22. 15. Ebd., S. 41f. 16. Z. Bauman, Dialektik der Ordnung, S. 129. 17. J. Baberowski/A. Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror, S. 15.

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Die Romantik der Rationalität

wird Europa tendenziell auf einen schmalen geographischen Korridor reduziert. Er beginnt tief im Osten, verläuft über Mitteleuropa (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) und reicht über den Atlantik bis in die USA. Durchwandert man ihn, triff t man im Osten auf die Sowjetunion, die sich als Opfer und Täter zugleich beschreiben läßt. Nach der Querung Ostmitteleuropas, das oft als Verfügungsmasse der Großmächte erscheint, erreicht man den Mittelpunkt, nämlich Deutschland, den zu erklärenden barbarischen Sonderfall. Gegen Westen hin dann folgen Frankreich, Großbritannien und die USA, die als Maßstab in punkto Demokratie und aufgeklärtem Denken gelten. Diesen Korridor meinen viele Neuzeithistoriker tatsächlich, wenn sie vermeintlich allgemeingültige Aussagen über »Europa« treffen.18 Die Regionen jenseits des Korridors, Italien, Spanien oder Skandinavien beispielsweise, bleiben Sache spezialisierter Kollegen. So wird implizit ein Bild konturiert, das die Moderne des 20. Jahrhunderts unterteilt in die prinzipiell demokratischen Staaten des Westens und die Diktaturen der Mitte und des Ostens. Entsprechend erscheinen der pluralistische, demokratische Sozialstaat und die totalitäre, eliminatorische Herrschaft als die beiden entscheidenden Weisen, die »Ambivalenz der Moderne« in den Griff zu bekommen; als zwei konträre, unvereinbare Arten, Ordnung zu schaffen. Es gab freilich andere Möglichkeiten, Ambivalenz zu bewältigen. Wie ging Schweden mit der Moderne um? Wurde sie im Norden ebenfalls als bedrohlich empfunden, und wie sahen Lösungsvorschläge aus? Setzte der schwedische Gärtnerstaat auf das Jäten oder das Hegen? Haben wir es mit einer erfolgreichen Alternative zu unserer deutschen Geschichte zu tun? Erneut kann Schweden als imaginäre Landschaft dienen, diesmal für Historiker. Deshalb ist auch mein Buch eher ein Reisebericht in den Norden, weniger ein »gerechtes« Bild des Landes. Mit diesem Bericht möchte ich einen anderen Blick auf die europäische Geschichte der Moderne vorschlagen. Auch ich werde einen »Mittelweg« beschreiben, einen höchst zwiespältigen Versuch allerdings, mit der Ambivalenz der Moderne zurechtzukommen, indem der Weg zwischen Pluralismus und Totalitarismus hindurchführen sollte.

18. Vgl. z.B. V. Berghahn, Europa im Zeitalter der Weltkriege; E. J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme; G. Jackson, Zivilisation und Barbarei; M. Mazower, Der dunkle Kontinent; B. Wasserstein, Barbarism and Civilisation; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte; H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen.

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I Einleitung

3. Normalisierung Michel Foucault unterschied drei große Regierungstechniken: Souveränität, Disziplin und Sicherheit.19 Der Souverän herrscht über ein Territorium und seine Untertanen. Er läßt sie leben, kann sie töten oder strafen. Durch das Gesetz zieht er die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem; die Menschen sind Rechtssubjekte, die juridischen Mechanismen unterliegen. Ordnung herrscht, wenn das Verbotene tatsächlich erfolgreich unterbunden wird; Unbestimmtes ist erlaubt. Die Disziplin ist im Verwaltungsstaat lokalisiert und zielt auf die Körper der Menschen. In architektonischen Ensembles (Kaserne, Hospital oder Fabrik) klassifiziert und zergliedert sie den einzelnen Körper zu Sequenzen, sie drillt ihn und macht ihn systematisch produktiv. Der Körper wird als optimales Modell im Hinblick auf ein gewünschtes Ergebnis hin konstruiert, auf den perfekten Soldaten, oder Arbeiter, oder Beamten. Die Vorschrift unterscheidet Norm und Abweichung. Ordnung herrscht, wenn die Vorschrift tatsächlich befolgt wird; Unbestimmtes ist untersagt. Die Souveränität bestimmt Grenzen durch Strafe und schlägt fallweise zu; die Disziplin regelt und kontrolliert permanent. Erstere wirkt durch Druck von außen ein, letztere diszipliniert die Körper von innen heraus. Ganz anders die Sicherheit. Sie zielt auf die Bevölkerung insgesamt. Die Sicherheit zieht keine Grenzen, sondern bestimmt Interventionsfelder. Sie nutzt nicht Gesetz und Vorschrift, sondern die Statistik, mit deren Hilfe sie die Verteilungshäufigkeit unterschiedlichster Phänomene erhebt. Das Modell ist das der Normalverteilungskurve samt einer Zone erlaubter Abweichung. Die Souveränität baut eine Mauer, die Disziplin installiert ein Fließband, die Sicherheit umreißt statistische Zonen. Innerhalb dieser Zonen gewährleistet und kontrolliert sie freie Zirkulation. Sie läßt bewußt gewähren, ist aber gleichzeitig beständig prognostizierend auf der Suche nach Risiken: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird eine zirkulierende Bewegung künftig den Raum der Normalität verlassen und sich krisenhaft verschärfen, wo muß gezielt interveniert werden, um eine Eskalation zu verhindern? Sie ist eine steuernde Antwort auf die Realität; Ordnung wird geschaffen, indem unzählige differenzierte Normalkurven erhoben und die ungünstigen Verläufe an die günstigen angeglichen werden. Die Norm bemißt sich nicht am Erlaß (Souveränität) oder der Effektivität (Disziplin), 19. Zum Folgenden: M. Foucault, Überwachen und Strafen; Ders.: Der Wille zum Wissen; Ders.: Geschichte der Gouvernementalität; Ders.: In Verteidigung der Gesellschaft; Ders.: Die Anormalen. Vgl. auch T. Lemke, Biopolitik zur Einführung; Ders.: Eine Kritik der politischen Vernunft; J. Link, Versuch über den Normalismus.

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Die Romantik der Rationalität

sondern an der Realität, einem dynamischen, fragilen Gewebe, das immer neu vermessen wird. Das neue Gesetz oder die detailliertere Vorschrift verändern die Norm, die durch Zirkulationen verschobene Häufigkeit verändert die Normalität. Deshalb ist die Unterscheidung von »Normation« und »Normalisierung« sinnvoll, die Michel Foucault an einer Stelle eingeführt hat.20 Die Normation ist die rigide Angleichung der Körper an eine Norm, die Normalisierung die flexible Annäherung der Bevölkerung an eine Kurve. Der Souverän tötet oder läßt leben. Disziplin und Sicherheit machen leben, d.h. das Leben wird zum Einsatz politischer Strategien. In Giorgio Agambens Sinne wird das Individuum zum »homo sacer«, zum »nackten Leben«, das einer absoluten Entscheidungsgewalt unterliegt. In »der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet«.21 Das ist die Konsequenz eines Machtsystems, das die Regierung von Individuen aus der Sphäre des Politischen in die des Humanitären verlegt. Nicht länger sichern unhintergehbare Bürgerrechte die Position des Einzelnen, sondern die Notwendigkeit einer Intervention in die Gattung Mensch bedroht sie. Diese Eingriffe können jeden treffen, sie zielen auf immer neu definierte Menschengruppen, die aus gesellschaftspolitischen Gründen aus der Gemeinschaft ausgegliedert werden. Aber diese Interventionen geschehen niemals willkürlich, sondern können sich immer auf die Legitimität wissenschaftlich fundierter politischer Entscheidungen stützen. Agamben schneidet die Biopolitik damit stark auf die Macht der Entscheidung des Tötens/Nichttötens zu. Die Konsequenzen, die sich aus seiner Beschreibung der Moderne ergeben – und die man in Baumans Metaphorik wiederfindet –, sind problematisch. Auch Foucault postuliert zwar einen Schnitt innerhalb des Sozialen, eine Trennungslinie zwischen dem, was Leben muß, und dem was Sterben darf. Doch ist es der deutliche Vorteil seiner Theorie, beide Seiten der Grenze in den Blick zu bekommen, die Exklusion wie auch die effektive Organisation des Lebenden. Während Agamben die düstere Vision des »Lagermenschen« zeichnet, entwirft Foucault ein neues Subjekt, das sich durch spezifische »Technologien des Selbst« erst konstituiert, das die eigene Lebensführung selbst so modifiziert, daß es sich auf der »richtigen« Seite der biopolitischen Grenze befindet, also auf effektive Weise lebt.

20. M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, S. 90. 21. G. Agamben, Homo sacer, S. 151.

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I Einleitung

4. Social Engineer ing Doch wer leitet die Menschen an, die richtige Seite zu leben? Im Lager gibt es Wächter, die strafen – in der Normalisierungsgesellschaft Experten, die planen. Der Experte ist eine typische Figur der Moderne. Er entstand im 19. Jahrhundert als eine Reaktion auf eine bislang ungekannte gesellschaftliche Dynamik, die ganz neuartige Formen der gesellschaftspolitischen Steuerung erforderte. Spezialisten waren gefragt, die ausgebildet waren, Prozesse und systemische Zusammenhänge zu erkennen und zu analysieren, die die Fähigkeit besaßen, die Welt als Problem zu entwerfen, Teil und System integriert zu denken (und diese Einheit in die Zukunft hinein zu extrapolieren) sowie Probleme und Lösungswege in Planung umzusetzen.22 Ein Spezialfall dieses Experten war der Sozialingenieur. Der Begriff des social engineering ist in europäischen und amerikanischen Quellen rar vertreten; noch weniger bezeichneten sich zeitgenössische Experten als »Sozialingenieure«. Auch heute wird der Begriff eher selten und unpräzise verwendet. Nur in Schweden spricht man recht unbefangen von der »sozialen Ingenieurskunst« und meint damit die Vorstellung, man könne durch rationale Gesellschaftsplanung das größtmögliche Glück schaffen, die »gute Gesellschaft«. Für das Schweden der 1930er und 40er Jahre sei dabei, so Yvonne Hirdman in ihrem einflußreichem Buch »Att lägga livet till rätta« (»Das Leben zurecht legen«), die Koppelung zwischen Staat, Politik und Experten charakteristisch gewesen, außerdem das zutiefst utopische Potential.23 Das habe das schwedische vom amerikanischen social engineering unterschieden, dem das schlagkräftige Instrument staatlicher Planung gefehlt habe. Die Kehrseite allerdings, so Hirdman, liege in der Verletzung der persönlichen Integrität; daraus leitet sich der Titel ihres Buches ab: Planung verwandelte schwedische Staatsbürger in Zielobjekte. Auf deren Alltagsleben (det lilla livet) mußte durchgegriffen werden, um die Utopie der guten Gesellschaft tatsächlich verwirklichen zu können. Das machte sie zu »Klienten« oder »Kindern«, die wehrlos weitgehenden Übergriffen von Experten und Behörden ausgesetzt waren. Nach Hirdmans Buch wurde der schwedische Sozialstaat der Zwischenkriegszeit längere Zeit unter dem Signum der Übermächtigung diskutiert.24 Allerdings muß der Begriff genauer gefaßt werden, das tun weder Yvon22. Vgl. H. Perkin, The Third Revolution; Ders.: The Rise of Professional Society; E. J. Engstrom/V. Hess/U. Thoms, Figurationen des Experten; B. Schumacher/T. Busset, Der Experte. 23. Y. Hirdman, Att lägga livet till rätta, S. 13. 24. Vgl. etwa für die Sterilisierungs- bzw. Abtreibungsfrage: M. Runcis, Steriliseringar i folkhemmet; E. Palmblad, Den disciplinerade reproduktionen.

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Die Romantik der Rationalität

ne Hirdman noch Karl Popper, der oft als Referenz herangezogen wird. Popper ging es in erster Linie darum, ein ideologiegeladenes social engineering von einem pragmatischen abzugrenzen, nicht darum, den Begriff zu definieren.25 Mittlerweile zeichnet sich ab, daß das social engineering, trotz nationaler Differenzen, eine transnationale Formation darstellt, die in der »Ersten Moderne« verortet ist. Es ist nur einer von vielen, aber ein sehr wirkmächtiger Versuch gewesen, die Moderne in den Griff zu bekommen. In Deutschland kulminierte er in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, doch das war keine notwendige Entwicklung, wie Schweden zeigt. Die einzelnen Komponenten für sich – Experten, Planung, der Imperativ der Ordnung – gibt es heute noch. Sie machen Planung nicht zum social engineering und Experten nicht zu Sozialingenieuren. Ich will den Begriff deshalb für ein Ensemble von Elementen verwenden, die für sich genommen überall auftauchen können, die aber in ihrer Kombination ein spezifisches Dispositiv bildeten, das wir vor 1880 und nach 1960 so nicht finden, und das eine eigentümliche Form, Gesellschaft ordnen zu wollen, gezeitigt hat.26 Die Akteure waren Experten, die in den zahllosen staatlichen Institutionen arbeiteten, die die Gesellschaft im Alltag gestalteten und steuerten. Dort gelangten sie zu immer größerem gesellschaftspolitischen Einfluß, weil sie nicht einfach technische Probleme lösten, sondern die Organisation der Gesellschaft deuteten. Paradigmatisch für das social engineering war nämlich die Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, so, wie das Ferdinand Tönnies 1887 auf den Punkt gebracht hatte: »Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger ›Organismus‹, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll.«27 Die Gemeinschaft als Organismus, als »Körper«, drohte sich unter den Einflüssen der Industrialisierung zu zersetzen und mußte »geheilt« werden. Deshalb auch wurde die Gegenwart grundsätzlich als krisenhaft diagnostiziert. Die Krise, die »Krankheit« des Organismus mußte sich zwangsläufig in die Zukunft hinein dramatisch verschärfen, wenn nicht interveniert würde. Allerdings war die Situation offen, »Heilung« war möglich, und das bedeutete, daß Nichthandeln für Sozialingenieure keine Option war. Sie waren geradezu 25. K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. 1, S. 22-25, 157-

168. 26. Vgl. zur Problematisierung und konzeptionellen Schärfung des Begriffs ausführlich: T. Etzemüller, Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. 27. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 5.

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gezwungen, Lösungswege zu entwerfen und sie in den entscheidenden gesellschaftspolitischen Institutionen zu implementieren. Dabei sollten sich die Interventionen stets am »menschlichen Maß« orientieren, den Menschen sollte nichts oktroyiert werden, was ihnen nicht entsprach. Vielmehr entstand durch aufwendige empirische Erhebungen ein »Normalmensch«, die Figur einer Spannweite menschlich »normalen« Handelns. Je nach Kontext gab es unterschiedliche Normalitäten; situationsgenau ließen sie sich in Zielprojektionen für Interventionen verwandeln. Diese Interventionen wiederum griffen zuerst auf die Menschen aus. Sie sollten dazu gebracht werden, sich selbst so zu konditionieren, daß sie sich »normal« verhielten, daß sie durch ihre alltägliche Lebenspraxis ganz zwanglos einen kontrollierten Spielraum schufen und dadurch die Grenze zwischen Normalität und Destruktion verteidigten und sicherten (eine Grenze, die freilich beständig verschoben wurde). Der Dualismus von Gesellschaft und Gemeinschaft, Zersetzung und Integration legte dann als ultima ratio – und eben nicht als zwingende Folge – tiefe Eingriffe in die Integrität einzelner Personen oder ganzer Personengruppen nahe, sei es durch Zwangssterilisierungen, sei es durch Vernichtung.

5. Macht Das sieht nun stark nach einer Übermächtigungsgeschichte aus, nach der »Kolonisierung der Lebenswelt« der »kleinen Leute« durch die Eliten. Tatsächlich ist die Konstellation komplizierter. »Macht« läßt sich mit Hilfe unterschiedlicher Modelle beschreiben. Eines findet sich in Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft, die »Macht« als ein Gewebe begreift, das die Menschen auf allen Ebenen umfängt.28 Dieses Gewebe entstand in unterschiedlichen Institutionen, die Techniken der Verteilung, Parzellierung, Klassifizierung, Hierarchisierung, Beurteilung, Sanktionierung und Sichtbarmachung entwarfen, um Menschen zu »lebenden Tableaus« ordnen, strukturieren und kontrollieren zu können. Je differenzierter die Tableaus ausfielen, desto präziser wurde das Wissen vom Menschen, desto feinere Zugriffe auf die Körper erlaubte dieses Wissen wiederum. Auf diese Weise entstand die Disziplinarmacht, die, so Foucault, in Jeremy Benthams Panopticon ihre ideale Architektur fand. In diesem Panopticon gab es keinen Souverän der Macht, denn die Gefangenen wurden zu ihren eigenen Kerkermeistern, weil sie nie wußten, wann sie in dem für kontrollierende Blicke völlig transparenten Raum beobachtet und dann für 28. Vgl. v.a. M. Foucault, Überwachen und Strafen; Ders., Dispositive der Macht, S. 55-95; Ders., Der Wille zum Wissen.

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eventuelles Fehlverhalten gestraft würden (das galt allerdings auch für das Aufsichtspersonal, das der Kontrolle durch unvorhergesehene Besucher unterlag). »[D]ie Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen.«29 Die Macht ist diskret, unsichtbar, allgegenwärtig; es gibt kein Außerhalb ihrer selbst. Aber »[w]o es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.« Machtverhältnisse »können nur Kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung […]. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame […], die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.« Aber die Widerstände sind keine reine Negativform, keine bloß trügerische Hoffnung. »Sie sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber. Darum sind auch sie unregelmäßig gestreut; die Widerstandspunkte, -knoten und -herde sind mit größerer und geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt, gelegentlich kristallisieren sie sich dauerhaft in Gruppen oder Individuen oder stecken bestimmte Stellen des Körpers, bestimmte Augenblicke des Lebens, bestimmte Typen des Verhaltens an. Große radikale Brüche, massive Zweiteilungen? Sowas kommt vor. Aber weit häufiger hat man es mit mobilen und transitorischen Widerstandspunkten zu tun.«30 Machtbeziehungen werden permanent umcodiert, am effektivsten allerdings nicht durch Repression.31 Sozialingenieuren etwa erschienen Verbote als kontraproduktiv. Sie versuchten vielmehr, Kommunikation zu regulieren – indem sie selber kommunizierten. Unzählige Texte, Reden und Bilder produzierten sie, um Einfluß auf die Gestaltung der sozialen Ordnung, der materiellen Welt und den Alltag der Menschen nehmen zu können. Ihre »Macht« baute eher auf Tausenden von Mikrohandlungen, weniger auf großen Entwürfen. Statt detaillierter Gesetzbücher voller Un29. M. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 258. 30. M. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 116f. 31. Vgl. M. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 75-82; Ders., Die Ordnung des Diskurses; A. Farge/M. Foucault, Familiäre Konflikte; N. Luhmann, Macht. Vgl. auch Ders., Legitimation durch Verfahren, wo untersucht wird, wie Verfahrensstrukturen Kommunikation steuern.

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tersagungen schrieben sie Hunderte von Ratgebern, deren Inhalte sich die Menschen aneignen sollten. Von der »Großen Weigerung« träumten sie nicht einmal, weil jede Form von »Revolution« die Ordnung zerschlagen würde. Sie akzeptierten eine Machtstruktur, die sich der großen Geste entzog. Die Ordnung mußte evolutionär geändert werden. »Gemeinschaft« ließ sich nicht verordnen, sie mußte sich »organisch« durch das Zusammenleben der Menschen entwickeln, sie war ein Lernprozeß, den die Experten lenkend begleiteten. Sie setzten auf die Evidenz der »Vernunft«: Was sie in empirisch rationalen Verfahren als »vernünftig« ermittelten, würden Menschen, denen Vernunft gelehrt worden ist, überzeugt und freiwillig als das Ihre annehmen. Widerstandspunkte entfielen, da Auflehnung in einer vernünftigen Welt sinnlos, mithin pathologisch ist (und erst da müßte dann Repression greifen). Im social engineering ging die Disziplinarmacht in die Sicherheit über. Der Zugriff erfolgte über individuelle Körper und Verhaltensweisen, die zu spezifischen Subjekten geformt werden sollten. Der Zugriff erfolgte nicht repressiv, sondern durch Codierung von Machtbeziehungen. Und das Ergebnis sollte die Einordnung der Subjekte in die Gemeinschaft sein, in den »Volkskörper«, der seinerseits mit den Mitteln der Bio-Macht geformt werden konnte. Die Bewegung verlief allerdings nicht einfach von oben nach unten. Die Macht der Experten gegen die Ohnmacht des kleinen Mannes, das triff t als Beschreibungsmodell für das social engineering nur unvollkommen zu. Denn grundsätzlich waren die Subjekte zu überzeugen, sie mußten kooperieren. Sie waren letztlich doch Widerstandspunkte, wenn sie sich beharrlich Zumutungen der Experten entzogen und diese zwangen – ganz dem Postulat der Vernunft folgend – ihre Modelle zu revidieren. Und zugleich waren die Sozialingenieure selbst in die Netze der Macht verwoben. Sie griffen auf das Leben der kleinen Menschen durch, und damit auf ihr eigenes, denn so, wie sie die Welt der anderen ordnen wollten, so unterwarfen sie selbst sich der Normalisierungsmacht.

6. Exempla : Alva und Gunnar Myrdal Ich werde einen Einblick in diese Verquickung von gutem Willen und normalisierenden Effekten versuchen, indem ich das Leben und die Werkstatt Alva und Gunnar Myrdals beschreibe. Die beiden gehörten zu den gewichtigsten Protagonisten des social engineering in Schweden, vielleicht sogar weltweit. Ihr Lebensweg zeichnete sich durch einen immensen Durchsetzungswillen, unerhörte Produktivität und erhebliches Glück aus. Gleich zweimal nämlich eröffneten sich ihnen Möglichkeitsräume, von denen viele Experten nur träumen können, zuerst im Schweden der 1930er Jahre, als 21

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der Auf bau des Sozialstaates die Implementierung radikaler gesellschaftspolitischer Reformentwürfe begünstigte, dann erneut nach 1945, als die UN im Kalten Krieg Fachleute aus neutralen Staaten suchte und diesen die Chance bot, internationale Beziehungen zu gestalten. Beide Male ließen sich Alva und Gunnar Myrdal die Gelegenheit nicht entgehen. Sowohl in ihrem Heimatland wie in der UN stiegen sie zu hohen Führungspositionen auf; dort versuchten sie erst die nationale, dann die Weltgemeinschaft neu zu organisieren. Es gibt kaum ein Ehepaar weltweit, daß derart großen gesellschaftspolitischen Einfluß erlangt hat. Die Myrdals bieten sich deshalb paradigmatisch an, das social engineering zu untersuchen. Ich werde im Folgenden ihrem politischen Projekt in der ersten Phase nachspüren, als sie Schweden einen Weg durch die Moderne bahnen und zugleich diese Moderne als Ehe exemplarisch vorleben wollten: als gleichberechtigte Kameradschaftsehe, als harmonische, rationale, Emotionen kontrollierende Beziehung, in der drei Kinder auf eine »vernünftige« Weise erzogen werden sollten. Die Ehe war ein Experiment. Sie sollte dem »kleinen Leben« der übrigen Menschen als Vorbild dienen und als Nukleus in das große sozialdemokratische Projekt eingehen, den Sozialstaat als folkhem (»Volksheim«) zu gestalten. Diese Utopie zielte nach vorne, wurzelte aber in der Vergangenheit; und das gibt dem Projekt der Myrdals eine paradoxe Note. Ihre Herkunft trugen sie immer vor sich her. Beider Eltern gehörten ursprünglich zur unteren Mittelschicht und hatten strebsam und bescheiden die »Klassenreise nach oben«, wie es in Schweden heißt, absolviert. Gunnar stilisierte sich zusätzlich als dalkarl, als Sohn des aufrechten, unverfälschten Menschenschlages in Dalarna. Ihre Herkunft verkörperte die positiven schwedischen Traditionen, die sie immer wieder zum Maßstab für die moderne Gesellschaft machen sollten. Zugleich aber galten ihnen Traditionen als »überkommen«. Soziale Hierarchien, die Ungleichheit der Geschlechter, ein ineffizientes politisches System, all das hatten sie als Jugendliche erleben müssen, hier lagen für sie die entscheidenden Defekte der alten Strukturen angelegt, die es zu überwinden galt. Deshalb mischten sie sich aktiv in die schwedische Sozialpolitik ein, und deshalb inszenierten sie ihre Ehe vor sich und der Öffentlichkeit als Überwindung der Tradition, dieser »irrationalen«, durch »Emotionen« und »Vorurteile« bedingten Verwerfung, die die Menschen an einem »vernünftigen« und »harmonischen« Leben hinderte. Sie waren aber stärker durch Traditionen geprägt, als ihnen bewußt war. Beide setzten sich beispielsweise für die Emanzipation von Frauen ein, beide hielten gleichzeitig an alten Geschlechterrollenbildern fest. Derartige Inkonsistenzen nahmen sie eher unscharf wahr, sie führten in ihrer Ehe zu verschleißenden Auseinandersetzungen. Sie führten auch dazu, 22

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daß ihr »radikales« Reformprogramm konservativer war, als es in der Öffentlichkeit den Anschein hatte. Die Emanzipation der Frauen etwa sollte durch Entlastung von Hausarbeit und Kindererziehung und durch die Reorganisation des weiblichen Lebensweges erreicht werden – nicht durch eine Umordnung der Geschlechterverhältnisse oder gar eine Neudefinition männlicher Lebensmuster. Zahlreiche der kritisierten Traditionsbestände und Verhaltensweisen waren so in den Habitus, die alltägliche Lebenspraxis von Alva und Gunnar Myrdal übergegangen, daß sie sie nicht reflektieren konnten. Sie erschienen als »natürlich« und schlichen sich dadurch unerkannt in den Entwurf der »Neuen Gesellschaft« ein. Und plötzlich zementierte die Utopie, trotz ihres gesellschaftsverändernden Potentials, die überkommenen Strukturen zumindest teilweise – und die eigene Lebensführung, samt ihrer problematischen Seiten. Mit diesem Befund vor Augen kann man Sozialingenieure nicht mehr einfach als »Kolonisatoren der Lebenswelt« stigmatisieren, als diejenigen, die paternalistisch das »kleine Leben« der »kleinen Leute« regulierten. Vielmehr hatten die Experten selbst ihr kleines Leben zu führen, und aus diesen Erfahrungen resultierte ein Reformwille, der in seiner humanitären und emanzipatorischen Zielsetzung ernst zu nehmen ist, der aber höchst problematische Effekte zeitigen konnte. Das macht eine Analyse von Machtmechanismen in der Gesellschaft sehr viel komplexer, vielschichtiger und ambivalenter. Ambivalente Lebenserfahrungen, ambivalente Moderne, ambivalente Sozialtechnologien und ambivalente Effekte – ich werde die Moderne am Beispiel der Myrdals als permanente Schwebesituation beschreiben.

7. Aufbau des Buches Sind Alva und Gunnar Myrdal repräsentativ für das schwedische oder gar das westliche social engineering? Ja und Nein. Sie waren vor allem Stockholmer Intellektuelle, die zwar zu Vortragsreisen und im Urlaub die schwedische Provinz besuchten, später auch ein Häuschen im kleinen Mariefred (beim Schloß Gripsholm) besaßen, doch bewegten sie sich fast ausschließlich in den internationalen Zirkeln von Spitzenwissenschaftlern oder der hohen Politik. Ihre Basis hatten sie in den großen bzw. politisch bedeutenden Städten der Welt: Stockholm, New York, Genf, Neu Delhi, Paris; ihre gesellschaftspolitischen Entwürfe orientierten sich stets an den Problemen der Städte, von Nationen oder Kontinenten. Außerdem waren sie für Intellektuelle außergewöhnlich produktiv, radikal, zugleich aber auch erfolgreich, was die Implementierung ihrer Vorstellungen in die Politik betraf. Noch ungewöhnlicher ist, daß beide schon äußerst früh führende 23

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Rollen in der schwedischen gesellschaftspolitischen Debatte einnahmen (auch wenn Alvas Karriere zäher verlief). Sie sind also nicht unbedingt repräsentativ, aber ein besonders plastisches Beispiel, an dem man untersuchen kann, wie das social engineering der ersten Moderne funktionieren konnte. Ich werde im Folgenden also keine Gesamtdarstellung der Moderne in Schweden bieten, sondern einen spezifischen, exemplarischen Pfad durch diese Epoche beschreiben. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Myrdal. Das folgende Kapitel thematisiert knapp die Schwierigkeiten, eine Biographie der beiden zu verfassen. Kapitel 3 skizziert frühe »Suchbewegungen« von Alva und Gunnar Myrdal. Sie fanden ihre Rolle als öffentliche Intellektuelle und versuchten, die Geschlechterrollen in ihrer Ehe auszutarieren. Diese bis zu ihrem Tod andauernde private Auseinandersetzung war ein wichtiges Motiv für ihre gesellschaftspolitische Arbeit. Kapitel 4 schildert den Kontext, den ersten Möglichkeitsraum, der sich ihnen eröffnete, nämlich Schwedens Weg in die Moderne. Dieses Kapitel bietet weniger eine Sozialdenn eine Wahrnehmungsgeschichte, die Beschreibung eines diskursiven Feldes. Es geht um die Frage, wie die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen rezipiert wurden, und wie ihre sprachlich-bildliche Gestaltung als Grundlage für die sozialpolitische Gestaltung des modernen Schweden diente. In diesem Kapitel skizziere ich auch entscheidende Züge der schwedischen Gesellschaftsverfassung, die das Land bis heute so erheblich von den bekannten westlichen Demokratien unterscheiden, und die das radikale Programm der Myrdals damals überhaupt erst plausibel gemacht hat. Dieses Programm, erste Ansätze seiner Implementierung in die Politik, die »Wertprämissenlehre« als schlagkräftiges Instrument in der intellektuell-politischen Auseinandersetzung und das Weltbild der Myrdals sind Thema des fünften Kapitels. Kapitel 6 dient erneut dazu, den Kontext zu beleuchten, nämlich die Bemühungen anderer schwedischer Sozialingenieure, die Gesellschaft umzubauen. Wichtigster Ansatzpunkt für den Umbau waren die Architektur (Kapitel 6) und die Erziehung der Kinder, für die sich besonders Alva Myrdal engagierte (Kapitel 7). Wohnen und Erziehung sollten maßgeblich dazu beitragen, einen »Neuen Menschen« zu schaffen. Kapitel 8 analysiert die Ehe der Myrdals als Projekt: ihre bewußte Stilisierung als exemplarisches Paar, das den anderen Menschen ein »modernes«, »rationales« Leben vorlebte. Gleichzeitig werden hier die Brüche in der Beziehung der Myrdals beleuchtet und Alvas Versuch, sie durch eine grundlegende Reform der Geschlechterbeziehungen insgesamt zu heilen. Die Schwierigkeiten in der eigenen Ehe nahm sie zum Anlaß, die Gesellschaft umbauen zu wollen, das wiederum sollte die Verwerfungen ihrer persönlichen Beziehung eliminieren. In Kapitel 9 beobachten wir die Eskalation der innerehelichen Konflikte, zugleich den 24

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Rollenwechsel der Myrdals. Von primär schwedischen Gesellschaftsreformern wandelten sie sich bereits in den 1940er Jahren zu global agierenden Intellektuellen, eine Rolle, die sie in der Nachkriegszeit wahrnahmen, als der Kalte Krieg ihnen den zweiten großen Möglichkeitsraum auftat. Der Wechsel von Schweden in die USA, in die UN und dann nach Asien zeigt, daß sich im Denkmodell der beiden nichts geändert hat. Welche Nation sie auch von ihren Problemen befreien wollten, überall sahen sie durch die Brille des »schwedischen Modells«. Die Reformideen, die sie im Schweden der 30er Jahre entwickelt hatten, versuchten sie nun global zu implementieren (Kapitel 10). Schließlich veranschaulicht das elfte Kapitel an Hand ausgewählter Bilder, daß das social engineering eine Ordnung des Sehens war. Ordnung sollte sich sichtbar in der Realität abbilden, die Ordnungsvorstellungen wurden mit Hilfe eines ausgefeilten, metaphorischen und suggestiven Bildprogramms visualisiert. Die Abbildungen zeigen außerdem, wie Alva und Gunnar Myrdal als »modernes« Paar in den Medien visuell gestaltet wurden. Aus dieser gezielten Gestaltung zogen sie einen Gutteil ihrer politischen Schlagkraft. Die Bilder dieses Kapitels sind also nicht als Illustrationen zu betrachten (das sind sie teilweise natürlich auch), sondern buchstäblich als Handwerkszeug der Sozialingenieure zu interpretieren – und sie sind der Beleg, wie sehr die Ordnung der Moderne eine konstruierte Ordnung ist.32 Um dieses Eigengewicht der Bilder zu betonen, sind sie in einem eigenen Kapitel zusammengefaßt. Sie sollen eben nicht, wie in vielen Publikationen, der bloßen Auflockerung des Textes dienen.

32. Zur Quellen- und Literaturlage siehe unten, Kap. II sowie Appendix 1.

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1. Das Problem der Biographie Wer von diesem Buch eine klassische Biographie über Alva und Gunnar Myrdal erwartet, wird enttäuscht werden. Ich werde nicht primär die Lebensgeschichte zweier Intellektueller schildern, wie es einer Biographie entspricht: Geburt, Jugendprägungen, Ausbildung, erste Arbeiten, erste Erfolge, die großen Erfolge, die Texte, die Bedeutung, der Lebensabend, Tod. Für ein solches Buch ließen sich im Falle der Myrdals mühelos 1000 Seiten mit zahllosen Details füllen. Einige Leser würde das ermüden, andere würden sich noch viel genauere Einblicke wünschen. Das Genre würde die Struktur vorgeben, indem es Subjekte zum Gegenstand machte, biologische Einheiten, die sich selber als psychisch-physische Einheiten wahrnehmen und auch von Beobachtern so wahrgenommen werden. Die Aufgabe der Biographen wäre es, möglichst umfassend das Leben der Subjekte von Geburt bis Tod zu beschreiben, alle wichtigen Ereignisse und Taten zu katalogisieren, Brüche und Widersprüche aufzuzeigen und zu erklären. Allzu Persönliches sollte diskreter behandelt werden, weil der seriöse Biograph seine Leser ungern durch ein Schlüsselloch blicken läßt. Am Ende der Biographie wäre deutlich geworden, daß man ein Buch nicht über irgendwelche Lebenswege, sondern über bedeutende Persönlichkeiten gelesen hat, weil die Portraitierten Einfluß auf ihre Umwelt genommen haben. Die Methode ist vor allem Fleißarbeit: Sammeln, lesen, schreiben. Lükken sind durch noch intensivere Recherchen zu füllen, notfalls zu akzeptieren. Für Erklärungen reichen relativ einfache Analogieschlüsse, oder man entnimmt sie gleich den Selbstzeugnissen seiner Protagonisten. Biographen, denen es an Material fehlt, müssen sich mit Verlegenheitslösungen behelfen, und dann können sie durchaus methodisch hohe Kreativität entwickeln, etwa wenn Alain Boureau das weitgehend dokumentenfreie Leben des jungen Ernst Kantorowicz versuchsweise in Ernst von Salomons 27

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»Figur des Partisanen« aufgehen läßt und, chronologisch immer neu ansetzend, seine Biographie in Parallelexistenzen durchspielt. Doch als Kantorowicz nach Amerika geht, produziert er endlich Quellen, und Boureau beendet, erleichtert seufzend, seine spannenden biographischen Experimente: »Nicht länger verliert sich, für uns so hinderlich, sein Lebensweg im Dunkeln; daher soll von nun an auf die Schilderung von parallelen Leben und metaphorischen Fiktionen verzichtet werden; künftighin ist das Leben Kantorowicz’ an seinem Werk ablesbar; Universitätsarchive liefern die Daten der Tätigkeiten, der Lehrveranstaltungen und Forschungsaufträge; in Hülle und Fülle gibt es Informationen aus erster Hand von Studenten und Kollegen, eine Arbeit schließt an die nächste.«1 Die Vollständigkeit der Quellen, die chronologische Ordnung und die Einheit des Subjekts, das erwarten viele Leser und Autoren. Am Ende der Biographie wollen sie die Lebensgeschichte der Protagonisten kennen wie die ihrer engsten Freunde. Nach wie vor folgen die weitaus meisten Biographien diesem Muster. Sie scheinen einen unmittelbaren Einblick in das Leben zu bieten. Gibt es aber diesen »Einblick«? Gibt es das »Leben« und die Einheit des Subjekts? Oder ist es eine Fiktion, die durch ein permanentes Spiel von autobiographischen und biographischen Versuchen konstruiert wird? Diese Deutung des Problems liegt nahe, wenn man Pierre Bourdieu und Michel Foucault folgt, die zwei Konzeptionen entwickelt haben, die Vorstellung eines vermeintlich einheitlichen Subjekts zu dekonstruieren, indem sie soziale Bedingungen herausarbeiten, unter denen sich jemand überhaupt erst als Subjekt konstituieren kann, und zwar je nach Kontext unterschiedlich. Und die soziologische Biographieforschung hat für das Genre »Biographie« aufgezeigt, daß zusammenhängende Lebensgeschichten durch verschiedene biographische Textarten in jeweils unterschiedlichen Formen überhaupt erst konstruiert werden. Folgt man diesen Überlegungen, dann sollte man das Subjekt als etwas beschreiben, das sich in sozialen Prozessen konstituiert, dessen Subjektstatus durch ganz unterschiedliche biographische Texte festgeschrieben wird, die wiederum Teil der Subjektbildung sein können.2 Wenn ein Biograph es also als seine Aufgabe versteht, Prozesse der Subjektivierung zu beobachten, dann repräsentiert nicht mehr die Fülle 1. A. Boureau, Kantorowicz, S. 95. 2. Ausführlicher und mit weiterer Literatur: T. Etzemüller, Die Form »Biographie« als Modus der Geschichtsschreibung. Vgl. außerdem zur Intellektuellenbiographie: R. Eyerman, Rationalizing Intellectuals; L. Larsson, Sanning & konsekvens; E. S. Lyon, The Use of Biographical Material in Intellectual History; B. Svensson, Lifetimes.

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der Details ein Leben. Vielmehr drängen sich solche Fragen in den Vordergrund: Was haben uns die Protagonisten aus ihrem Leben sehen lassen wollen, und warum? Und was will man als Biograph seinen Lesern zeigen? Es sind Bilder, die entstehen, Bilder erfolgreicher, turbulenter oder brüchiger Leben, je nach Material und Perspektive.3 Weder die Selbstbeobachtung noch die Beobachtung durch Biographen ist objektiv, sondern eine Stilisierung als »Ich« bzw. als »Subjekt«.

2. Drei Biographien Das Material, das zu Alva und Gunnar Myrdal verblieben ist, legt zunächst einmal drei biographische Perspektiven nahe. Zuerst die klassische Erfolgsgeschichte, wie sie in der Regel aus Publikationslisten, Ämtern, zahllosen Ehrungen usw. zur Biographie eines »Großen Mannes« gewoben wird. Gunnars Karriere ging demnach, in der Kurzform eines Curriculum vitae beschrieben, steil bergauf: 1927 Promotion in Nationalökonomie, anschließend Dozentur an der Stockholmer Universität, 1930/31 Professor in Genf, 1933 Nachfolger seines Lehrers, des angesehenen Nationalökonomen Gustav Cassel in Stockholm. Mitarbeiter bzw. Leiter zahlreicher staatlicher Untersuchungskommissionen in Schweden, Abgeordneter der Ersten Kammer 1936-1938 und 1944-1947, von 1938 bis 1942 Leitung eines großangelegten Forschungsprojekts der Carnegie-Stiftung, um das Rassenproblem der USA zu lösen (»An American Dilemma«). Seit Mitte der 1940er Jahre hohe Posten in der schwedischen Politik und der UN, ab 1957 Leitung einer ebenfalls großangelegten Untersuchung zur Situation Südostasiens und der »Dritten Welt« (»Asian Drama«). Seit 1938 etwa 30 Ehrendoktorwürden von Universitäten in der ganzen Welt, 1974 Nobelpreis für Ökonomie. Die Bibliographie seiner Texte umfaßt über 150 Seiten. Für Alva kann man eine ähnliche Vita verfassen. Sie studierte ab 1922 Religionsgeschichte, nordische Sprachen, Literaturgeschichte, Psychologie, Pädagogik und theoretische Philosophie in Schweden, der Schweiz, Eng3. »Bilder« verstehe ich als imaginäre Gebilde, die durch die Kombination materieller Bilder (Photographien, Karikaturen usw.) und sprachlicher Bilder (Beschreibungen, Metaphern, Adjektiven usw.) entstehen. Sie bilden nicht Personen, Ereignisse oder Landschaften ab, sondern gestalten sie auf eine spezifische Weise, und zwar im Wechselspiel zwischen Bildproduzent und -rezipient. Materialität, Visualität und Visionalität verschmelzen (vgl. dazu H. Gerndt/M. Haibl, Der Bilderalltag [dort S. 18 die Unterscheidung von Materialität, Visualität und Visionalität]; P. Geimer, Ordnungen der Sichtbarkeit; D. Gugerli/B. Orland, Ganz normale Bilder). Siehe auch unten, Kap. XI.

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land, Deutschland und den USA. Seit den 1930er Jahren regelmäßig Mitarbeiterin staatlicher Untersuchungskommissionen, machte sich außerdem durch Publikationen und Vorträge einen Namen als streitbare Sozialreformerin. 1949 Leiterin der UN-Abteilung für soziale Fragen, wechselte 1951 als Chefin der sozialwissenschaftlichen Abteilung zur UNESCO. 1955-61 schwedische Botschafterin in Indien, 1962-70 Reichstagsabgeordnete, 1962-72 Leiterin der schwedischen Abrüstungsdelegation in Genf, 196673 Ministerin für Abrüstungsfragen bzw. Ministerin für Kirchenfragen. Zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden, 1982 Friedensnobelpreis. Zusammen mit ihrem Mann 1970 Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Ihre Bibliographie umfaßt über 100 Seiten. Durch die Auswahl der Daten und Formulierungen zeichnet sich das Leben als stetig aufsteigende Linie zweier Karrieren ab: vom Studium zum Nobelpreis. Nur Andeutungen lassen den Verdacht auf kommen, daß Alvas »Karriere« offenbar weniger geradlinig verlief als die ihres Mannes. Und genau diese Brüche werden in einem zweiten biographischen Längsschnitt deutlicher, in der Medienbiographie der beiden, die sich aus unzähligen Zeitungsausschnitten destillieren läßt. Beide traten allmählich in die Öffentlichkeit. Die Zeitungen berichteten, wie üblich zu der Zeit, von Gunnars Disputation; ein erstes Photo zeigt das Ehepaar 1931 nach seiner Rückkehr aus Genf in seiner funktionalistischen Wohnung am Kungsholmsstrand. 1932 befanden sie sich mitten in der gesellschaftspolitischen Debatte. Von nun an lebten Medien und Myrdals in Symbiose. Die Myrdals zogen aus der permanenten Medienpräsenz die Schlagkraft für ihre sozialpolitischen Reformvorstellungen. Den Medien dienten sie als ideales Paar, als Inbegriff der emanzipierten, »amerikanischen«, intellektuellen Ehe, mit der sich – im Guten wie im Schlechten – das moderne Schweden inszenieren und der gesellschaftliche Wandel verhandeln ließen. Mal beschworen die Zeitungen die »Modernität« dieser Ehe, dann höhnten sie über Alvas »unweibliche« Karriereambitionen; mal priesen sie Gunnars Reputation im Ausland, dann karikierten sie ihn als Hitler oder Stalin, weil ihnen die sozialpolitischen Reformvorschläge der Myrdals entschieden zu radikal waren. Bei Gunnar spiegeln die Medien seine wachsende Berühmtheit. Alva wurde lange Zeit nur als Professorengattin wahrgenommen, und allmählich erst als eigenständige Person. Gunnars eher erfolglose Zeit als Handelsminister, kurz nach Kriegsende, war am härtesten. Nachdem er sich jedoch entnervt auf die UN zurückgezogen hatte und Alva Botschafterin in Indien geworden war, verklärte sich das Bild zunehmend. Gunnar entrückte in den Status eines Weisen, er durfte sich zu allem äußern, was ihm oder den Medien in den Sinn kam; Alva zählte zu den beliebtesten und mächtigsten Frauen Schwedens. Ende der siebziger Jahre waren beide zu Nationalheiligen aufgestiegen, ihre 30

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glückliche Ehe wurde beschworen und ihre politische Vergangenheit positiv gedeutet. In den 1980er Jahren allerdings beschädigten zwei Bücher ihren Ruhm, 1982 Jan Myrdals »Barndom« (»Kindheit«), 1988 Yvonne Hirdmans »Att lägga livet till rätta« (»Das Leben zurecht legen«). Nun firmierten sie über mehrere Jahre hinweg als eiskalte Sozialtechnokraten, verantwortlich für die schwere Jugend ihres Sohnes (eines bis heute einflußreichen linken Aktivisten), für Zwangssterilisationen und andere negative Seiten des schwedischen Sozialstaates. Dieser Sozialstaat war in den 1980er Jahren in die Krise geraten, und mit der Enttäuschung darüber wurde auch seine Geschichte sehr viel düsterer gedeutet. Seit der Jahrtausendwende, nach der wirtschaftlichen Erholung Schwedens, wird diese Vergangenheit differenzierter betrachtet, und seitdem erscheinen die Myrdals wieder in durchweg mildem Licht, als zwei der ganz großen Figuren der schwedischen Geschichte. Die unangefochten erfolgreichen Intellektuellen, als die die erste Geschichte sie erscheinen läßt, waren sie also nie; eher erscheint ihre Biographie als ein beständiges Auf und Ab in der Gunst der Schweden, und als zwei deutlich verschiedene Subjektwerdungsprozesse. Vollends brüchig wird das Bild in einem dritten biographischen Durchlauf, wenn man die Briefe liest, die beide sich Zeit ihres Lebens schrieben. Dieser Briefwechsel beginnt 1919 erstaunlich konventionell: Alva ordnete sich Gunnar bedingungslos unter und übernahm die Verantwortung für die sich rasch abzeichnenden Krisen. Über die Jahre hinweg läßt sich dann verfolgen, wie sie zunehmend über ihre Rolle als Frau in der Gesellschaft und in der Ehe reflektierte. Gunnar billigte und förderte die Karriere seiner Frau, aber die seine ging vor. Alva diente ihm vor allem als intellektuelle Sparringspartnerin und Mutter seiner Kinder. Alva zweifelte bis in die 1950er Jahre, ob es legitim sei, Karriere machen zu wollen – ihre eigentliche »Berufung« schien ja die der aufopferungsbereiten Mutter und Managerin der Familie. Erst 1949 war sie in der Lage, ihrem Mann indirekt mit dem Scheitern der Ehe zu drohen, sollte er weiterhin ihrer internationalen Karriere im Wege stehen. Auch danach hielt sie mit Mühe die allmählich desintegrierende Familie zusammen. Durch zahllose, teils heftige Krisen hindurch handelten beide ihre Ehe und die Geschlechterrollen aus. Zahllose Episoden beleuchten ihre doch recht konservativen Familienvorstellungen und den jahrzehntelangen Versuch beider, Verwerfungen mit dem Idealbild einer »modernen« Ehe zu vereinbaren. Denn das Bild, das sie von sich selbst zeichneten, war alles andere als konservativ. Immer wieder versicherten sie sich gegenseitig, wie »modern« sie im Gegensatz zu den angeblich zahllosen unglücklichen Ehen lebten, und bis zu ihrem Tode evozierten sie dieses Bild ihrer Ehe in den Medien, sorgsam alle Konflikte retuschierend. Aber kommt das 31

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»wahre« Bild zum Vorschein, wenn man nur die Retusche entfernt? Ist das öffentliche Erfolgsleben bloß eine Fassade, hinter der das »eigentliche« Bild freigelegt werden muß? Hat man das eigentliche Bild gefunden, wenn man die zutiefst privaten Briefe gelesen hat?

3. Ein Nachlaß Alva und Gunnar Myrdal haben keine Autobiographie geschrieben, es gibt also keine Selbstdeutung ihres Lebens in Buchform. Alva hat zwar einige Notizen gesammelt, eine Kladde mit Entwürfen gefüllt und eine Materialsammlung angelegt, doch weiter ist sie auf dem Weg einer Autobiographie nicht gekommen. 4 Gunnar hat in den Fußnoten einiger Bücher Erinnerungen preisgegeben5 und zu Beginn der 1980er Jahre eine Reihe von Tonbändern besprochen. Dazu kommen die Interviews, in denen beide ihre Herkunft und ihr Leben stilisierten. Ihre eigentliche und entscheidende Selbstdeutung ist ihr Nachlaß. 1973 begannen sie, ihn an das »Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek« (»Archiv und Bibliothek der Arbeiterbewegung«) in Stockholm abzuliefern.6 Er umfaßt mittlerweile etwa 1.600 Kartons, davon 107 Kartons mit der Korrespondenz Alvas (ab 1916), 205 Kartons mit Briefen Gunnars (ab 1920) sowie 46 Kartons mit Briefen, die das Ehepaar einander schrieb; allein dieser dritte Bestand umfaßt ca. 8.000 Schreiben auf 20.000 Blatt, die die Spanne zwischen 1919 und 1982 abdecken, und zwar, da sie über lange Phasen ihres Lebens immer wieder getrennt lebten, recht gleichmäßig. Dazu kommen 238 Kartons mit Zeitungsausschnitten, in denen sich das Bild materialisiert, das sich die Öffentlichkeit seit den späten 1920er Jahren von den beiden gemacht hat. Das Material deckt ziemlich lückenlos die schwedische Seite ab, seit den späteren 1930er Jahren sehr intensiv auch den amerikanischen Blick auf die Myrdals, seit der Nachkriegszeit zudem die indische, auch die deutsche Seite. Außerdem finden sich im Nachlaß zahlreiche Manuskripte von Aufsätzen, Büchern und Vorträgen, Sonderdrucke der publizierten Arbeiten, Terminkalender, Aufzeichnungen über die Einrichtungen der Myrdal’schen Wohnungen und die Plazierung der Gäste bei Empfängen, zudem 23 Kartons mit Photographien und 123 Ton- und Videobänder. Das ist, wenn man es mit anderen Nachlässen schwedischer Soziologen und Nationalökonomen vergleicht, exzeptionell viel Material. In der Regel sind Nachlässe Konstruktionen, die die Arbeit späterer 4. Siehe unten, Kap. X. 5. G. Myrdal, I stället för memoarer; Ders., Hur styrs landet? 6. S. Andersson, Alva och Gunnar Myrdals arkiv.

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II Inszenier te Leben

Biographen leiten sollen. Das muß gar nicht bewußt geschehen. Für deutsche Historiker beispielsweise (oder deren Nachfahren) war es selbstverständlich, daß ein Nachlaß die intellektuelle und wissenschaftspolitische Entwicklung ihrer Stifter abbilden sollte, während alles »Private«, nicht zuletzt die Spuren der Ehefrauen, weitgehend getilgt sind. So wie die wissenschaftliche Arbeit zu Lebzeiten von allen subjektiven Kontaminierungen bewahrt bleiben mußte, so sollte der Nachlaß dieses Ethos nach dem Tode nicht konterkarieren. Die Biographen dieser Historiker, selbst Historiker, reproduzieren dann – zwangsweise oder aus Überzeugung – diese Trennung und schreiben damit das Selbstbild der Wissenschaft fest. Andere gestalten ihren Nachlaß bewußt. Karin Kock, eine Freundin der Myrdals, säuberte und ordnete ihre Papiere ausgehend von ihrem Selbstbild gegen Ende ihres Lebens, und ausgehend von dem Bild, das sie der Nachwelt übermitteln wollte. Was ihr unwichtig oder zu privat erschien, reduziert sich im Material auf Andeutungen: Ihre Schwierigkeiten als Frau in der männlichen Welt der schwedischen Nationalökonomie oder die Schmutzkampagne, als sie mit einem in Scheidung lebenden Anwalt eine uneheliche Beziehung einging.7 Alva und Gunnar Myrdal scheinen ihren Nachlaß kaum bereinigt zu haben. Im Krieg sind einige Briefe auf dem Weg in die USA verloren gegangen, aber die restliche Korrespondenz enthält teilweise derart intime Details, daß es keinen Anlaß gibt, von bewußt vernichteten Briefen auszugehen (nur Material aus der Kindheit fehlt). Außerdem waren die Unterlagen bei Anlieferung weitgehend unsortiert, es sei, so Alva und Gunnar, nicht im Hinblick auf eine Archivierung gesammelt worden.8 Also kein Versuch, die Rezeption zu steuern? Im Gegenteil. Je mehr man sich in das überlieferte Material einliest, desto größer wird das Staunen über die immense Produktivität der beiden. Kaum ein Bereich der schwedischen und später der internationalen Gesellschaftspolitik, in dem sie nicht tätig gewesen sind. Eine Flut von Publikationen und Preisen; Spitzenämter; die Leichtigkeit, mit der sie die Bühnen wechselten, die der Themen, die der Länder. Ihr intellektueller Horizont war nicht durch eine Nation begrenzt, sondern umschloß die Welt insgesamt. Alva hätte gerne eine paar allzu private Briefe vernichtet, aber Gunnar soll gesagt haben: »Junge Forscher sollen einmal sehen, wie zwei große Menschen gedacht haben.«9 Damit haben sie selber nahegelegt, die Grenze von »privatem« und »öffentlichem« Leben aufzulösen. Ihr Nachlaß ist ein implizites Gegen7. K. Niskanen, Karriär i männens värld, S. 15-17. 8. S. Andersson, Alva och Gunnar Myrdals arkiv, S. 75. 9. Diese Geschichte erzählt Stellan Andersson, der Bearbeiter des Nachlasses im Arbetarrörelsens arkiv, gerne.

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modell zur dominierenden Wissenschaftsgeschichtsschreibung.10 Er stilisiert zugleich ihre politische Heimat, denn sie verstanden sich stets als Sozialdemokraten, auch wenn die Partei nicht immer glücklich mit ihnen war. Deshalb ist die Überführung ihres Materials ins Archiv der Arbeiterbewegung ein bewußt gesetztes Zeichen, die Feststellung, daß Intellektuelle und die Arbeiterbewegung seit den 1930er Jahren zueinander gefunden haben – und die Zementierung der Stockholmer Vorherrschaft im Reich, denn obwohl ja Gunnar seine Herkunft aus Dalarna überhöhte, blieben er und seine Frau immer Stockholmer Intellektuelle. Dort waren die Zentren der Macht und die Zentren der Erinnerung angesiedelt: Regierung, Arbeiterpartei, Gewerkschaft, Reichsarchiv, das Archiv der Arbeiterbewegung und nun der Nachlaß der Myrdals. Und der spiegelt – last not least – ihren Habitus der Transparenz. Ihre publizierten Texte enthalten keine dunklen Stellen, die gedeutet werden müßten, keine literarischen Formulierungen, die das Gesagte ästhetisch verschleiern. Sie sind in der pragmatischen, nüchternen Sprache von Kommissionsberichten geschrieben; was gemeint ist, wird gesagt. Während man in den Manuskripten von Philosophen Ursprungsfassungen und Varianten der Vorträge und Texte findet, deren Differenzen das Denken zusätzlich beleuchten oder gar erst erschließen, ist bei den Myrdals die Beziehung zwischen Manuskript und Druckfassung nahezu deckungsgleich: kaum ein Manuskript, kaum ein Gedanke, die nicht gedruckt wurden, eventuelle Abweichungen sind rein technischer Natur. Das intellektuelle Leben der Myrdals spielte sich nicht dunkel zwischen den Zeilen und in verschlossenen Manuskripten ab, sondern an der Oberfläche ihrer Texte. Nur die Fassade vor ihrem Privatleben rissen sie erst für die Zeit nach ihrem Tode ein (ihre privaten Briefe waren bis zum Jahre 2000 gesperrt). All das macht den Nachlaß zu einer offiziellen Selbstdeutung ihres Lebens. Einen Fehler bloß enthält die Kalkulation, nämlich die, daß jüngere Wissenschaftler notwendig der Faszination der »Größe« erliegen müßten. Die Leseanweisungen eines Nachlasses sind eben doch weniger eindeutig als die einer Autobiographie, die Verwendung des Materials ist schwerer zu kontrollieren und vor fremden Lesarten zu schützen. Die Myrdals haben nie Foucault zur Kenntnis genommen, der Begriff der »Normalisierung« wäre ihnen unverständlich gewesen. Das bietet die Chance, ihre Hinterlassenschaft auf eigene Weise auszuwerten und als Führer für die Reise in ein Schweden, das selbst einen Weg in die Moderne suchte, zu nutzen. Zugleich jedoch sorgt der Nachlaß für eine spezifische Schlagseite der Darstellung. Die Quellenüberlieferung läßt Gunnar Myrdal über weite Strecken in einem nicht so guten Licht erscheinen. In den Ehekonfl ikten 10. Vgl. M. Kohli, »Von uns selber schweigen wir.«

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ist Alva es, die reflektiert, die leidet und die Gunnar in ihrem Briefwechsel zu einer Auseinandersetzung zu zwingen versucht. Gunnar dagegen lamentiert in langen Briefen, er setzt sie massiv unter Druck und läßt sich kaum auf Alvas Gesprächsversuche ein. So mag er als Ehemann durchaus unsympathisch erscheinen. Freilich ist private Korrespondenz ein Genre, das mit Vorsicht zu behandeln ist. Alva macht in einzelnen Bemerkungen deutlich, daß ihre Briefe (und die wenigen Tagebucheintragungen) ihre Frustration überzeichnen. Sie versichert sich (und den Nachgeborenen) im Rückblick mehrfach, wieviel sie an Gunnar hatte. Und da wir nur schriftliche Überlieferungen (und einige Photographien) haben, wissen wir nicht, wie ihr konkreter Umgang im Alltag miteinander aussah.11 Bekannte und Mitarbeiter haben Gunnar regelmäßig als äußerst liebenswürdig und hilfsbereit beschrieben. Umgekehrt war Alva außergewöhnlich ehrgeizig und anspruchsvoll. Sie verlangte von Gunnar intellektuelle Höchstleistungen und die permanente Aushandlung ihrer Beziehung. Das stellte ihn vor eine ungewöhnliche Situation. Einerseits war er in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft aufgewachsen, in der der Mann eine Ehe selbstverständlich dominierte. Sein Freund, der Schriftsteller Fritz Thorén, lebte dieses Modell vor, und Gunnar fand durchaus Gefallen daran. Andererseits wechselte seine Stimmung über Jahrzehnte hinweg zwischen einem immensen Selbstbewußtsein und tiefer Niedergeschlagenheit. Immer wieder hatte er das Gefühl, beruflich nicht zu genügen. Alva stützte ihn, stachelte ihn geradezu an, setzte ihn aber ebenfalls unter gehörigen Druck, indem sie ihn forderte, selbst aber auch einen geradezu extremen Willen zeigte, sich gegen alle Widerstände zu behaupten. Diese mehrdeutige Lage aus psychischer Disposition und unkonventionellem Rollenverhalten mag seine harschen Reaktionen mit verursacht haben. Es darf nicht übersehen werden, daß Gunnar von Anfang an von Alva fasziniert war. Letztlich hätte er es mit einer reinen Hausfrau nicht ausgehalten, und wenn er sich Frauenfragen gegenüber distanziert zeigte, so stand er ihnen grundsätzlich doch aufgeschlossen gegenüber. Er überließ Alva dieses Feld, doch die leitenden Positionen, die ihm angetragen wurden, nutzte er, um auch ihre Agenda zu verfechten. So war er 1938 an einem Gesetzesentwurf beteiligt, der Frauen das Amt des Regierungspräsidenten 11. Diese Dunkelstellen bestehen leider auch bezüglich ihrer Tagesabläufe, ihrer gemeinsamen Diskussion und konkreten Zusammenarbeit oder ihres Umgangs mit Kollegen, Bekannten und Freunden, also all dessen, was so alltäglich ist, daß es nur in Ausnahmefällen verschriftlicht wird. Private Photographien erlauben ebenfalls nur höchst impressionistische Einblicke, so daß sie für eine umfassende Analyse und Darstellung dieser Aspekte unzulänglich sind.

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eröffnen sollte. Diese Seite ist im Nachlaß unterbelichtet, der vielmehr die klassische Arbeitsteilung abbildet: Gunnar ist für die großen Linien zuständig, Alva für praktische Lösungen, Erziehung und Frauenfragen. Er bildet außerdem eine Struktur ab, die allzu bekannt ist, nämlich daß der Mann rasch und verhältnismäßig mühelos Karriere macht, während die Frau sich in einem mühevollen Prozeß freikämpft und emanzipiert. Die Sympathie von Beobachtern ist dann leicht auf Seiten des »underdog«. Im Grunde reproduziert man damit jedoch das Klischee, daß der Mann den »Normalfall«, während die Frau das zu untersuchende Objekt darstellt. Dabei könnte man gerade am Beispiel Gunnars analysieren, wie ein erfolgreicher Mann in einer Geschlechterrolle gefangen und von dieser belastet ist: Die stete Angst zu versagen, seine Großspurigkeit als Schutzmantel oder die Frage, inwieweit das unproblematische männliche Rollenmuster ihm die Konzentration auf seinen Erfolgsweg ermöglichte – im Falle von Schwierigkeiten aber eine Reihe von Handlungsoptionen abschnitt, die Alva, die sich flexibel ihren Weg zum Erfolg aus zahlreichen Bruchstücken zusammenbasteln mußte, zur Verfügung standen. Dazu wäre das Material freilich auf eine ganz andere Weise zu lesen als ich das für meine Fragestellung getan habe. Obwohl ich also eher den Spuren folge, die der Nachlaß legt, sollte im Folgenden trotzdem nicht in den Hintergrund treten, daß Gunnar in Geschlechterfragen letztlich weit über das hinausging, was einem Mann in der damaligen Zeit abverlangt wurde.

4. Zwei Er folgsleben Ein knapper Abriß des Lebens von Alva und Gunnar Myrdal, in der Form einer Chronologie. Es entsteht dadurch ein Gerüst aus Daten, in das sich die systematischen Analysen der folgenden Kapitel einordnen lassen. Aber eine Chronologie ist mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Jahreszahlen und Ereignissen. In der Abfolge der Daten zeichnen sich Muster und Brüche ab und zugleich die Verflechtung der zeitlich auseinandergezogenen, ganz unterschiedlichen und vielfältigen Themenstränge, die aus dem Nachlaß herauszupräparieren sind. Die Chronologie gleicht einem Gemälde, in dessen Details man sich vertiefen muß. 6.12.1898

31.1.1902

Geburt Karl Gunnar Pettersson in Skattungbyn. Nach einigen Jahren ändert der Vater den Nachnamen seiner Kinder in Myrdal. Geburt Alwa Jansson in Uppsala. Ihr Name ist ein Komposit aus dem Namen ihrer Eltern: Albert und Lowa, spä-

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ter modernisiert in Alva. Einige Jahre nach ihrer Geburt ändert der Vater den Familiennamen in Reimer. Die Väter von Alva und Gunnar sind selbständige Entrepreneure, deren Geschäfte durch die beginnende Industrialisierung mit Erfolg gekrönt werden und die dadurch sozial aufsteigen. Ihre Familien müssen oft umziehen. 1904 Geburt von Alvas Schwester Rut, die sich zur engen Freundin entwickeln wird. 1906 Geburt ihres Bruders Folke. Im Rückblick berichtet Alva, wie deutlich wichtiger den Eltern der erste Sohn war. Frühjahr 1917 Alva beendet nach der Volksschule auch die Handelsschule. Ausbildung als Kontoristin in der Stadtverwaltung von Eskilstuna. Die Eltern halten bei ihr eine siebenjährige Schulbildung für ausreichend. 1917/18 Alva durchlebt eine schwere religiöse Krise. Am 29.4.1918 erklärt sie, nicht mehr an Gott zu glauben. Ihr Vater ist politisch in der Arbeiterbewegung verwurzelt und Atheist, ihre Mutter konventionell religiös. Mai 1918 Gunnar legt das Abitur ab, beginnt in Stockholm Jura zu studieren. Für die Familie ist das ein Erfolg, Gunnar wird nach Kräften unterstützt. 1919 Alva hat ihren Vater überredet, Privatunterricht organisieren (und bezahlen) zu dürfen. Einige Lehrer erklären sich bereit, Alva und weitere Schülerinnen auf das Abitur vorzubereiten. Juni 1919 Alva und Gunnar treffen einander zum ersten Mal. Sie ist 17, er 20 Jahre alt. Beginn eines intensiven Briefwechsels. Juni 1922 Alva legt in Stockholm das Abitur mit Auszeichnung und Erwähnung in der Eskilstunaer Presse ab. September 1922 Alva beginnt in Stockholm zu studieren: Literaturgeschichte, nordische Sprachen, allgemeine Religionsgeschichte. April 1923 Gunnar beendet sein Jurastudium. Sinnkrise. Beginn des Studiums der Nationalökonomie, angeblich, weil Alva ihm die Schriften Gustav Cassels aus der Bibliothek ausgeliehen hat. Frühjahr 1924 Gunnar vertritt eine Bürgermeisterstelle in Mariefred, anschließend wird er Staatsanwalt in Norrköping. Beide Stellen lassen ihm Zeit, seine Dissertation voranzutreiben. Oktober 1924 Hochzeit. Sie wohnen in Stockholm in einer Zweizim37

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merwohnung am Roslagstorg, an der äußersten Kante des Stadtteils »Sibirien«. Alva schließt ihr Studium mit dem Titel fil. kand. ab. Zuvor hat auf ihren Antrag hin die Regierung im Namen des Königs eine Ausnahmegenehmigung für eine Abschlußprüfung in ihrer Studienkombination erteilt. Studienreise Gunnars und Alvas nach Großbritannien (bis November). Gunnar bekommt von der Wissenschaftsakademie das bis dahin höchste vergebene Stipendium (2.500 Kronen), Alva von anderer Seite 700 Kronen. Erste Fehlgeburt. Erneutes Stipendium für Gunnar, der nach Deutschland und Großbritannien fährt. Gunnar wird in Stockholm mit der Bestnote promoviert. Ernennung zum Dozenten. Das erste regelmäßige Gehalt. Gunnar beginnt seine Wertprämissentheorie zu entwerfen. Geburt des ersten Kindes, des Sohnes Jan. Deshalb später Umzug in eine größere Wohnung in der Atlasgatan, in der Nähe der Hochschule. Gunnar bereitet in Stockholm, Kiel, Leipzig und London seine Studie »Vetenskap och politik i nationalekonomien« (»Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung«) vor. Alva hat die erste Fassung ihrer Kritik an Freuds Traumdeutung geschrieben, die sie bis 1934 überarbeitet. Das Manuskript wird nie, wie geplant, als Dissertation eingereicht – zum einen, weil der Nachfolger von Alvas avisiertem Doktorvater das Thema vehement ablehnt, zum andern hält sie es selbst offenbar nicht für ausgereift. Kurz vor dem Schwarzen Freitag kommen Alva und Gunnar mit – das ist ungewöhnlich – zwei gleichgroßen Rockefeller-Stipendien (je 750 $) in die USA. Zuvor (ab Juni) Aufenthalt in London. Der Aufenthalt in den USA wird prägend für beide; Alva sieht erstmals die Perspektive eines eigenen intellektuellen Lebens. »Vetenskap och politik i nationalekonomien« erscheint. Gunnars Bibliographie ist noch überschaubar. Er hat bislang elf Titel veröffentlicht, davon drei Aufsätze als Student im Jahre 1919. Dieses Buch und seine Dissertation

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Herbst 1932

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haben ihm aber bereits große Aufmerksamkeit beschert. Alva hat noch nichts publiziert. Genf: Gunnar tritt eine Gastprofessur am »Institut Universitaire de Hautes Études Internationales« an, Alva studiert bei Jean Piaget. Umzug in eine repräsentative Villa am Genfer See. Zweite Fehlgeburt, die für Alva lebensbedrohlich wird. Die Ärzte konstatieren einen Tumor und empfehlen die Entfernung der Eierstöcke. Alva hätte keine Kinder mehr bekommen können und lehnt ab. Den Winter über ist sie auf Grund einer mißlungenen Operation krank. Sie wird zwei Jahre an den Folgen laborieren. Rückkehr nach Stockholm. Einrichtung einer funktionalistischen Wohnung am Kungsholmsstrand. Die Jahresmiete beträgt 900 Kronen. Beginn des Lebens in der Öffentlichkeit. Alva startet ihren ersten Kurs zur föräldrafostran (»Elternerziehung«). Gunnar beginnt eine Vortragstournee durch Schweden und spricht zur Sozialpolitik und Planwirtschaft. Alva und Gunnar treten in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens ein. Alva wird Assistentin Olof Kinbergs in der Rechtspsychiatrischen Klinik des Stockholmer Zentralgefängnisses (bis 1934) und stellvertretende Vorsitzende des »Yrkeskvinnors klubb« (»Vereinigung berufstätiger Frauen«) in Stockholm (bis 1934). In Uppsala studiert sie theoretische Philosophie und Pädagogik (bis 1934). Als künftige Themenfelder kristallisieren sich aus: Kindererziehung, Elternausbildung, Kollektivhaus, Frauenfrage. Ihre erste Publikation erscheint. Gunnar wird vom sozialdemokratischen Finanzminister Ernst Wigforss beauftragt, die neue Wirtschaftspolitik der sozialdemokratischen Regierung theoretisch zu untermauern. Die erste Vortragstournee Alvas. Sie hält Vorträge zu Erziehungs- und Frauenfragen. Uno Åhrén und Gunnar Myrdal initiieren mit Unterstützung von Finanzminister Ernst Wigforss eine Pilotstudie zur Wohnungssituation in Göteborg. Gunnar wird der Nachfolger seines Lehrers Gustav Cas-

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sel. Alva hat bis Jahresende zwölf kleinere Artikel veröffentlicht, Gunnars Publikationsliste weist 42 Titel auf. In den norwegischen Bergen schreiben Alva und Gunnar gemeinsam ihr Buch »Kris i befolkningsfrågan« (»Krise in der Bevölkerungsfrage«). Der sozialdemokratische Verlag »Tiden« lehnt die Publikation ab. Bonniers publiziert die erste Auflage des Buches; 1935 erscheint die dritte Auflage, eine »Volksausgabe«, im selben Jahr die siebte und letzte Auflage. Der größte Teil der insgesamt etwa 10.000 Exemplare ist 1937 verkauft, der Restverkauf schleppt sich bis in die Nachkriegszeit. Das Buch begründet ihren Ruhm und kann als gesellschaftspolitisches Manifest gelesen werden. Sozialminister Möller setzt eine große Untersuchungskommission zum Wohnungssektor ein (»Bostadssociala utredningen«), Gunnar wird Vorsitzender. Geburt des zweiten Kindes, der Tochter Sissela, gerade noch rechtzeitig zum Erscheinen von »Kris i befolkningsfrågan«. Die Wertprämissentheorie ist in ihren Grundzügen skizziert und dient fortan in diversen Texten Gunnars, aber auch Alvas, als Argumentationsgrundlage. Alva Myrdals Buch »Stadsbarn« (»Stadtkinder«) erscheint. Damit ist Alvas Erziehungsprogramm publiziert. Umzug in eine gemietete Villa im Thaliavägen in Ålsten. Sozialminister Gustav Möller setzt die erste Bevölkerungskommission ein (»1935 års befolkningskommission«), in der Gunnar eine führende Position übernimmt, Alva wird Mitarbeiterin. Gunnar zieht als Abgeordneter der Sozialdemokraten in die Erste Kammer des Reichstags. 1938 scheidet er aus, 1944 wird er erneut in die Kammer gewählt (Niederlegung des Mandats 1947). Alva notiert 1939, daß fast alle seiner sozialpolitischen Anträge von ihr stammen. Gründung des »Sozialpädagogischen Seminars« auf Alvas Initiative. Sie wird die erste Rektorin und hat damit zum ersten Mal eine eigenständige berufliche Stellung – und einen offiziellen Titel. Im selben Jahr wählen die Yrkeskvinnor sie zur Vorsitzenden ihres Reichsverban-

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des. Sie gibt das Amt 1938 mit Abreise in die USA auf, bekleidet es aber erneut von 1940 bis 1942. August 1936 Geburt des dritten und letzten Kindes, der Tochter Kaj. Oktober 1936 Die erste home story. 1937 Bau der funktionalistischen Villa Myrdal. Wegen des USA-Aufenthaltes wird sie bereits im Herbst 1938 an Eva und Åke von Zweigbergk vermietet. Moderne Villa, modernes Leben und radikale Politik werden in Medienberichten über die Myrdals verschmolzen. August 1937 Anfrage der Carnegie-Stiftung, ob Gunnar eine großangelegte Untersuchung über die »Negerfrage« in den USA leiten möchte. Gunnar sagt nach langem Überlegen zu. Zu Jahresende hat Alva Gunnar in der Zahl der Publikationen überholt. Es handelt sich bei ihren Texten allerdings überwiegend um tagesaktuelle Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze, mit denen sie gewissermaßen den Untergrund für Gunnars prestigeträchtige, politische Positionen schaff t. Die einflußreichen Bücher schreibt zunächst weiterhin er. April 1938 Gunnar bricht in die USA auf, um in Harvard die »Godkin Lectures« zu halten, und um mit der CarnegieStiftung die Konditionen des Projektes auszuhandeln. Rückkehr im Juli. September 1938 Triumphale Abreise in die USA. Gunnar soll das »Negerproblem« untersuchen (und lösen), Alva studiert Kinderpsychologie an der Columbia-Universität, publiziert und hält zahlreiche Vorträge. Im selben Jahr wird sie zur Vizepräsidentin der »International Federation of Business and Professional Women« gewählt. Sie bekleidet das Amt bis 1947. 1939 Dritte Fehlgeburt. Mai 1940 Rückkehr nach Schweden, um dem Land im Krieg zu dienen. Die Selbstmobilisierung erzeugt in der Regierung ein für die Myrdals enttäuschend geringes Echo. Gunnar arbeitet wieder als Professor, Alva nimmt erneut die Tätigkeit am Sozialpädagogischen Seminar und für die Yrkeskvinnor auf. Sie schreiben gemeinsam »Kontakt med Amerika« (»Kontakt mit Amerika«). Januar 1941 Gunnar kehrt in die USA zurück. Schwere Ehekrise. Ein langes Tauziehen beginnt, bis Alva im November ebenfalls reist. Eine längere Wartezeit in Großbritannien 41

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nutzt sie, um »Stickprov på Storbritannien« (»Eindrücke aus Großbritannien«) zu schreiben. Alvas Buch »Nation and Family«, das sie während ihres vorangegangenen USA-Aufenthaltes geschrieben hat, erscheint, stellt aber nicht den erwarteten Durchbruch für sie dar. Vierte Fehlgeburt. Rückreise, nachdem die Arbeit an »An American Dilemma« weitgehend abgeschlossen ist. Die Akklimatisierung fällt erneut schwer. Sie ziehen wieder in die Villa Myrdal. Alva hat nun über 200 Texte veröffentlicht, Gunnar über 100. Zahlreiche Vorträge. Alva wird Mitglied zweier Kommissionen zur Nachkriegsplanung (Sozialdemokratische Arbeiterpartei und Regierung), das ist das erste wichtige öffentliche Regierungsamt für sie. Gunnar fährt erneut für vier Monate in die USA, um im Auftrage der Regierung Schwedens zukünftige Handelsverbindungen zu untersuchen. Gunnar wird zum Leiter der Kommission zur Planung der Nachkriegswirtschaft ernannt. Seine Krisenprognose »Varning för fredsoptimism« (»Warnung vor dem Friedensoptimismus«) erscheint. Gunnar wird zum Handelsminister ernannt. Er will die Wirtschaft durch Planung steuern, um der von ihm prognostizierten schweren Wirtschaftsdepression vorzubeugen. Die Wirtschaftskrise bleibt aus, Gunnar ist heftigsten Angriffen in der Öffentlichkeit ausgesetzt. Alva erhält bis zur Jahreswende 1947/48 nacheinander drei Angebote auf hohe UN-Posten. Sie lehnt die ersten beiden ab, weil sie Gunnar nicht verlassen will, der wiederum nicht bereit ist, ihr nach Genf bzw. New York zu folgen. Rücktritt als Handelsminister und von anderen politischen Ämtern, Wechsel als Exekutivsekretär der »Economic Commission for Europe« der UN nach Genf. Die Familie zieht mit. Sie wohnen in einer repräsentativen Villa. Alva hat zahlreiche Aufträge, ist aber unzufrieden, weil sie keine festbezahlte Arbeitsstelle hat. Alva nimmt das dritte Angebot der UN an. Sie leitet in New York die Abteilung für soziale Fragen mit etwa 200 Mitarbeitern. Sie kann ihr diplomatisches Talent entfal42

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ten und fühlt sich erstmals vollkommen ausgefüllt. Die Familie entspinnt eine rege Reisetätigkeit zwischen Europa und den USA. Die Ehe bleibt gespannt. Um wieder näher an Gunnar und den Töchtern zu sein, läßt sich Alva zur UNESCO nach Paris versetzen, »nur« eine Nachtzugreise von Genf entfernt. Sie wird Leiterin der sozialwissenschaftlichen Abteilung. Die Familie zerfällt allerdings zunehmend. Die Medien berichten nun fast durchweg positiv über Alva und Gunnar. Schwerer Autounfall Gunnars. Er altert deutlich und verliert seine körperliche Beweglichkeit. Dag Hammerskjöld wird zum neuen UN-Generalsekretär gewählt. Gunnar hatte sich gewisse Hoff nungen auf dieses Amt gemacht. Da er außerdem im Kalten Krieg gegen die Supermächte seine wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen nicht durchsetzen kann, plant er in den folgenden Jahren seinen Rückzug aus der UN. Ihm gelingt die Finanzierung eines großen Forschungsprojektes zu Asien, das an den Erfolg von »An American Dilemma« anschließen soll. Alva hat die schwedische Regierung erfolgreich gebeten, ihr den vakanten Posten der Botschafterin für Indien, Ceylon, Burma und Nepal anzuvertrauen. Die neue Botschaft in Indien wird von ihr als Propagandazentrale für schwedisches Kunsthandwerk und Design gestaltet. Alvas wohl bekanntestes Buch erscheint, »Women’s Two Roles«, das sie zusammen mit der britischen Soziologin Viola Klein verfaßt hat. Damit ist ihre Sicht auf die Rolle der Frauen in der Gesellschaft publiziert. Gunnar verläßt die UN und beginnt die Arbeit an seinem Forschungsprojekt zu Asien, das nach einem Jahrzehnt im dreibändigen Werk »Asian Drama« mündet. Es wird durch den »Twentieth Century Fund« finanziert. Seit Alvas Ernennung zur Botschafterin gelten die Myrdals in den schwedischen Medien als populärste Schweden, die von der UN geradezu mit dem Auftrag betraut wurden, die Welt zu retten. Daran wird sich – trotz zweier kleiner finanzieller Aff ären und der Kindheitserinnerungen ihres Sohnes – bis zu ihrem Tode nichts mehr ändern. Paul Streeten übersetzt und veröffentlicht Gunnars verstreute Texte zur Wertprämissentheorie. 43

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Alva und Gunnar kehren nach Stockholm zurück und lassen sich in der Altstadt nieder. Gunnar erhält von der Regierung eine persönliche Professur und ein »Institut für internationale Ökonomie«, um »Asian Drama« abschließen zu können. Noch einmal residiert er mit seinem Stab in einem »amerikanischen« Gebäude, im neu errichteten Wenner Gren-Center, nahe ihrer ersten Wohnung im Stadtteil »Sibirien«. Alva wird zur schwedischen Delegierten der internationalen Abrüstungskonferenz ernannt. Alva wird Reichstagsabgeordnete, ebenfalls in der Ersten Kammer (bis 1967) und Leiterin der schwedischen Abrüstungsdelegation in Genf (bis 1973). Sie versucht, die Supermächte unter Druck zu setzen, indem sie deren technische Argumente als falsch und vorgeschoben entlarvt. Desillusioniert muß auch sie feststellen, daß der Kalte Krieg mächtiger als ein Myrdal ist, und schreibt 1976 »Spelet om nedrustingen« (»Falschspiel mit der Abrüstung«). Alva wird zur Ministerin für Abrüstung ernannt (bis 1973), sie ist damit, nach Karin Kock und Ulla Lindström, die dritte Ministerin in Schweden. Gunnar wird als Professor pensioniert. Er forscht und publiziert weiterhin. Er versucht seine Überlegungen zur Wertprämissentheorie zu einer kohärenten Lehre zusammenzufassen. Das Büchlein »Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen« (»Objektivität in der Sozialforschung«) ist die Übersetzung einer englischsprachigen Vorlesung, die 1969 auf englisch und dann in weiteren Sprachen erscheint, 1971 auf deutsch. »Asian Drama« erscheint und ist kein Erfolg. Alva leitet bis 1973 die Gleichstellungskommission von SAP und Gewerkschaften; bis 1972 sitzt sie in der Untersuchungskommission zur Trennung von Kirche und Staat. Während Gunnar unter Mühen sein Forschungsprojekt abschließt, hat sie nun die einflußreichen und öffentlichkeitswirksamen Posten im politischen System Schwedens (und der Welt) übernommen. Alva wird Ministerin für Kirchenfragen, um die Trennung von Staat und Kirche durchzuführen (bis 1973). Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Alva und 44

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1. Februar 1986 17. Mai 1987

Gunnar. Alva hat 490 Titel veröffentlicht, Gunnar hat nachgelegt und kommt auf 780 Titel. An seinem Lebensende wird er weit über 1000 Texte publiziert haben. Für die schwedischen Medien sind beide geradezu Nationalheilige geworden, deren 50jährige, »vorbildliche« Ehe gepriesen wird. Offiziell wird Alva pensioniert. Sie publiziert weiter und nimmt eine Gastprofessur in den USA an. Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, den Gunnar sich mit seinem Rivalen Friedrich August von Hayek teilen muß. Friedensnobelpreis für Alva, den sie mit ihrem Freund und UN-Kollegen, dem mexikanischen Diplomaten Alfonso García Robles teilt. Kurz vorher ist der erste Band von Jan Myrdals Kindheitserinnerungen erschienen und läßt dessen Eltern in einem schlechten Licht erscheinen. Alva und Gunnar sind laut Sissela Bok die einzigen Ehepartner der Welt, die ihre Nobelpreise in unterschiedlichen Feldern erhielten. Alva stirbt. Gunnar stirbt.

5. Beobachtungen beobachten Drei biographische Folien, ein Nachlaß als »Autobiographie«, zwei Erfolgsleben als chronologische Kontinuität – aber keine Realität? Die Briefe und die übrigen Materialien sind opak. Man schaut nicht durch sie hindurch auf die Vergangenheit, wie sie wirklich gewesen ist. Die Archivalien modellieren vielmehr ganz unterschiedliche Oberflächen, und an diese Oberflächen muß man sich halten, an die Bilder, die sie evozieren. Alva und Gunnar Myrdal schrieben ihre Texte in einem Protokollstil, der vermeintlich die Realität abbildete. Tatsächlich beobachteten sie mit Hilfe spezifischer Begriffe und Unterscheidungen die Welt, die derart auf eine eigentümliche Weise für sie sichtbar wurde. Sie konstruierten Bilder, eine eigene Wirklichkeit, auf deren Basis sie dann ihre gesellschaftspolitischen Interventionen entwarfen.12 Sie bildeten sich selbst als ideale, avantgardistische Ehe 12. Die im konstruktivistischen Sinne wichtige Unterscheidung von »Realität« und »Wirklichkeit« bei G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 324f., 328-333 (die »Realität« existiert, ist aber kognitiv nicht erfaßbar. Die »Wirk-

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ab und setzten diese in Beziehung zu ihrem Bild der schwedischen Gesellschaft. Außerdem maßen sie einen idealen Soll-Zustand permanent an ihrer Beobachtung des Ist-Zustandes ihrer Beziehung; die Differenz ging ein in ihr Reformprogramm für Ehe und Gesellschaft. Schließlich wurden sie beobachtet, vor allem durch die Medien, die mit immer anderen Unterscheidungen ein jeweils neues Bild der Myrdals konstruierten. Teilweise übernahmen die Medien die (Selbst-)Bilder der Myrdals, zweifellos gingen die Medienbilder in die Wirklichkeitskonstruktion der Myrdals ein. Diese Vielfalt an Bildprogrammen wird uns im Folgenden interessieren. Es wird nicht entscheidend sein, ob sie als »realitätsnah« oder »verzerrt« einzuschätzen sind. Wichtig ist, welche Bilder produziert wurden – welche alternativen Bilder im Dunkel verblieben! –, und was mit ihnen erreicht werden sollte. Ich protokolliere also als Beobachtung zweiter Ordnung die Beobachtungen erster Ordnung,13 nicht um zu zeigen, »wie zwei große Menschen gedacht haben«, sondern wie zwei einflußreiche Intellektuelle die Welt beobachteten, und was das für andere Menschen bedeuten konnte.

lichkeit« ist das konstruierte Bild der Realität eines Systems. Sie muß nicht realitätsnah sein, sondern Orientierung erlauben). 13. Vgl. dazu v.a. N. Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion; Ders.: Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität; T. Etzemüller, »Ich sehe das, was Du nicht siehst«; außerdem A. Bänsch, »Wie hältst du’s mit der Wirklichkeit?«.

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III Suchbewegungen

1. Heirat Der Beginn ihrer Beziehung mutet traumhaft an. Im Juni 1919 radelt Gunnar mit zwei Kommilitonen durch Sörmland in Mittelschweden. Sie übernachten bei Bauern, bezahlen mit Zeichnungen, Gesang und Photographien, die sie gar nicht anfertigen können, weil sie keine Platte in der Kamera haben. In Eskilstuna kommen sie zu den Reimers. Der Vater läßt seine Töchter am Morgen Kaffee servieren; am Nachmittag laden die Jungen Alva in eine Konditorei ein. Alva ißt sechs Gebäckstücke vor Glück. Die Unterhaltung dreht sich um Literatur, Gunnar behauptet, Guy de Maupassant zu kennen, Alva, die bereits unzählige Bücher verschlungen hat, bemerkt den Bluff. Dann radelt sie mit den Dreien nach Torshälla, acht Kilometer entfernt, und bittet ihre Schwester Rut, den Vater zu belügen. Und damit hätte die Geschichte enden können. Alva kehrt zurück, die Studenten ziehen weiter. Aber Gunnar schreibt einen gewagten Brief: Er lädt Alva ein, an ihrer Tour teilzunehmen. Diesmal belügt sie ihren Vater nicht, sie erzählt ihm, daß sie mit zwei Studenten radeln wolle (einer war mittlerweile abgesprungen). Die Mutter, gerade außer Haus, hätte niemals zugestimmt, der Vater erhebt überraschenderweise keine Einwände. Er fragt auch nicht, genausowenig wie Gunnar, der sich den Kopf zerbricht, wie Alva diese ungewöhnliche Erlaubnis wohl bekommen hat. Zumeist schweigt Alva auf dieser Fahrt – bis sie in Dalarna bei Gunnars Eltern ankommen. Dort, so erinnerte sich Gunnar später, will er sich ein Herz gefaßt haben, er ging in Alvas Raum und küßte sie. Das Eis war gebrochen, es begann das, was die Medien lange Zeit als glückliche Liebe stilisieren sollten.1 Immer wieder haben auch Alva und Gunnar Myrdal diese wundersame Begegnung geschildert, wie zur Selbstvergewisserung, was da für ein hoffnungsvolles Projekt begonnen habe. 1. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 33-46.

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»[I]t was like a fairy tale«, schreibt die Tochter Sissela Bok im Rückblick.2 Gunnar studiert weiter in Stockholm, Alva nimmt in Eskilstuna Privatunterricht, um sich auf das Abitur vorzubereiten. Treffen können beide sich nur heimlich, dafür schreiben sie sich, oft mehrmals am Tag, lange Liebesbriefe.3 Gunnar fasziniert Alva: Er ist unendlich neugierig, diskutiert mit überlegener Geste Literatur und Philosophie – selbst wenn er das eine oder andere Werk nicht kennt –, er weiß ein Floß zu bauen, zu singen und die Laute zu spielen; er kombiniert einander widersprechende Gedanken und zieht mit naßforschem Selbstbewußtsein unerwartete Schlüsse. Er hat eine Aura, daß seine Umwelt in ihm einen künftigen hohen Beamten oder Richter sieht. 4 Und er nimmt Alva als denkende Person ernst.5 Sie erschüttert nachhaltig seine konservativen Vorstellungen von Frauen, denn sie vereint all das, was ihm bislang unvereinbar erschien: Sie ist süß, romantisch, bewundernd, eine anregende Gesprächspartnerin, philosophisch gebildet, energisch, dienstbar, ehrbar und erotisch.6 Alva selbst zieht einen Strich unter ihr bisheriges Leben. Sie verbrennt Briefe, Bücher, ihre Gedichte, selbst die Tagebücher. Alles Emotionale und Exaltierte ihrer Jugend wird über Bord geworfen, denn die Beziehung mit Gunnar soll auf Vernunft und Rationalität gründen. »The two would live, she hoped, as if in their own Enlightenment period.«7 Alvas Plan sieht zunächst denkbar einfach aus. Gunnar wird sie praktisch sofort heiraten, ihr viele Kinder schenken, die Treue halten und große Triumphe erringen. Sie setzt ihre Ausbildung zwar fort – das will er –, wird sich aber für ihn opfern und in ihm aufgehen.8 In den Liebesbriefen werden die Rollen bereits verteilt. Sie unterwirft sich ihm doppelt, dem Mann und dem Genie, für das sie ihn (und er sich) hält;9 sie spricht ihn in ihren Briefen als »Herrscher«, »mein Fürst« oder »Meister« an – und beklagt sich, daß er sich nicht ernsthaft mit ihr unterhalte. Sie dränge ihn, antwortet er, durch ihre unkritische, unterwürfige Art in die erniedrigende Rolle des Hanswursts, der, richte er ein vernünftiges Wort an sie, sich gleich selbst kritisch antworten müsse.10 Dabei ist Alva gar nicht die passive, künftige 2. S. Bok, Alva Myrdal, S. 50 (Hervorh. im Orig.). 3. Die Briefe vom Juli 1919 bis August 1920 liegen im Druck vor: Y. Hirdman, De blå kuverten. 4. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 12. 5. S. Bok, Alva Myrdal, S. 60. 6. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 14. 7. S. Bok, Alva Myrdal, S. 60. 8. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 16. 9. S. Bok, Alva Myrdal, S. 7-9, 68-76. 10. Gunnar an Alva, 1.5.1920 (Y. Hirdman, De blå kuverten, S. 250f.).

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III Suchbewegungen

Hausfrau. Auf ihrer Wanderfahrt hatte sich Gunnar gewundert, wie uninteressiert sie kochte. Sie selbst hatte sich nicht damit abgefunden, daß es in der Provinzstadt Eskilstuna kein Mädchengymnasium gab. Sie mußte eine Ausbildung zur Kontoristin der Stadtverwaltung beginnen, dort wurde sie wegen ihrer Geschwindigkeit im Rechnen bewundert. Sie sparte Geld und überredete ihren Vater, Privatunterricht organisieren zu dürfen; 1922 dann bestand sie, zusammen mit einigen anderen ehrgeizigen Eskilstunaer Mädchen, in Stockholm das Abitur, mit Auszeichnung und lobender Erwähnung in einer Lokalzeitung.11 Die Episode illustriert die Umbruchszeit, in der Alva aufwächst. Noch gibt es in vielen Provinzstädten kein Mädchengymnasium, aber Mädchen dürfen das Abitur ablegen; noch gelten die traditionalen Geschlechterrollen, aber es zeichnet sich ab, daß auch Frauen ein eigenständiges, kreatives Leben führen können. Alvas Projekt wird es werden, beide Rollen zu vereinen; Gunnar scheint dieses Projekt zu ermöglichen, denn er fördert, das ist damals ungewöhnlich, ihr Studium und später ihre Karriere. Es gibt allerdings kaum Vorbilder für diesen schwierigen Weg, Alva hatte, so Bok, »no wise older woman to turn to for advice or as a role model«.12 Für beide aber ist selbstverständlich, daß er das Genie werden wird und »Erfolg« keine Kategorie für Alvas Leben darstellt. Sie führen intensive Gespräche über alles, was sie erleben. In einem Diskussionszirkel mit Freunden in Stockholm ist Gunnar der Star, Alva die Muse. Sie erproben Ideen, die die Grundlage für die spätere Arbeit bilden. Sie spornt ihn an, fordert ihn und macht ihn produktiv.13 Das ist bitter nötig, denn Gunnars Stimmung wechselt zwischen großem Hochmut und tiefen Selbstzweifeln: »Spöttisch und anmaßend und hochmütig habe ich immer heißen dürfen. Mit Recht, denn ich bin unverschämt genug gewesen, als Ausgangsthese für meine Reflexionen zu setzen: ICH, Karl Gunnar Myrdal, habe ein besseres Herz als 99%, und einen besseren Kopf als 999% [sic] der Menschheit.« 14 Dann wiederum hält er sich für unfähig und will Volksschullehrer werden.15 Gerade ihr grenzenloser Glaube an seine Außerordentlichkeit setzt ihn unter Druck.16 Die Hochzeit findet im Oktober 1924 statt. Die Familien sind nicht 11. Eskilstuna Kuriren, 16.6.1922. 12. S. Bok, Alva Myrdal, S. 64. Zur Schulbildung von Mädchen vgl. I. Schånberg, De dubbla budskapen. 13. S. Bok, Alva Myrdal, S. 65-76. 14. Gunnar an Alva, 18.9.1919 (Y. Hirdman, De blå kuverten, S. 51 [Hervorh. im Orig.]). 15. Gunnar an Alva, 19.3.1920 (Y. Hirdman, De blå kuverten, S. 207f.). 16. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 17f.

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eingeladen, sowohl Gunnar als auch Alva wollen sich von ihnen lösen. Alvas Mutter ist seit Jahren unterfordert und hat ihre ganze Energie auf den Haushalt und auf zahllose Unpäßlichkeiten konzentriert. »Dear God, please let mother get a job!«, sollen Alva und Rut vor dem Schlafen gebetet haben, nur halb im Scherz.17 Gunnars Vater ist Alkoholiker, und um den Schein zu wahren, bezahlt sein Sohn noch auf Jahre stillschweigend dessen Schulden. Die Mutter leidet. Alva kann mit ihrem Vater stundenlang sozialpolitische Fragen erörtern, persönliche Dinge jedoch weder mit ihm noch mit der Mutter. Konflikte bleiben unausgesprochen. In Gunnars Familie sieht es ähnlich aus, und mit solchen Konventionen wollen sie brechen. Ihre Beziehung soll auf Ehrlichkeit bauen, und Alva will das Schicksal ihrer Mutter wie der Schwiegermutter vermeiden.18 Im Oktober 1924 scheint die Grundlage für den großen Auf bruch gelegt zu sein: »The world was hers and Gunnar’s; life lay before them, and it was going to be a life, entirely independent of old, ingrained traditions and disputes. Models were precisely what they believed they could do without.«19 Diese Familiengeschichte ist verführerisch, denn sie scheint spätere Verhaltensweisen von Alva und Gunnar zu erklären. Ihre Ehe und ihr politisches Projekt wurzelten offenbar in einer Welt, die sie abgelehnt haben und doch nicht wirklich verlassen konnten. Aber bestehen wirklich Kausalitäten? Sissela Bok, Hans Hederberg und Yvonne Hirdman machen diejenigen Passagen aus Alvas und Gunnars Vergangenheit stark, die diese Kontinuitäten nahelegen. Tatsächlich jedoch müssen sie sehr stark auf die Erinnerungen der beiden rekurrieren, denn es gibt kaum Archivalien aus ihrer Jugendzeit. Zweifellos werden Kindheitserfahrungen das spätere Leben der beiden geprägt haben, aber Erfahrungen kann ein Biograph nicht nachleben, er kann sie nur in Form von Erinnerungen zur Kenntnis nehmen. Erinnerungen aber erklären nicht, sondern sind Konstruktionen persönlich wahrgenommener Kausalitäten oder Brüche. Deshalb hat Jan Myrdal, ähnlich unfehlbar wie sein Vater, buchstäblich angeordnet, den Briefwechsel der beiden als »Briefroman« zu lesen, als von Anfang an bewußte Inszenierung ihres Lebens für ein Publikum.20 Die Idee ist überzogen, aber reizvoll. Denn in der Tat ist der Briefwechsel ein fortlaufender Dialog, in dem Alva und Gunnar immer neue Bilder von sich und ihrer Ehe entwerfen, um ihre Beziehung zu beobachten und zu kontrollieren. Bereits die Briefe 17. S. Bok, Alva Myrdal, S. 15. 18. Zur Jugendgeschichte der beiden: Ebd., S. 15-64; Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 17-41. 19. S. Bok, Alva Myrdal, S. 65. 20. Aftonbladet, 19.9.2004.

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der 1920er Jahre beschreiben deshalb nicht nur Ereignisse, sie imaginieren vielmehr zukünftige Bilder und postulieren vergangene Erfahrungen, um eine prekäre Balance zwischen dem, was sie abstreifen, und dem, was sie erreichen wollen, herzustellen. Nicht einmal in den Tagebuchfragmenten Alvas kann man daher auf unverfälschte Erfahrungen und die Realität durchgreifen, man bleibt an der Oberfläche und stößt auf Bilder.

2. Frühe Kr isen Vom Sommer 1919 bis zum Mai 1920 sehen sich die beiden acht Mal. Mal treffen sie sich bei Alvas Eltern, mal lügt sie und fährt heimlich nach Stockholm zu Gunnar. Die ersten Mißverständnisse entstehen. Sie kann nicht über sich sprechen, er versteht ihre Kälte nicht.21 Gunnar erklärt beständig, wie sehr er sie liebt, doch eine Realisierung von Alvas Plan zeichnet sich nicht ab. Da sie, noch nicht einmal volljährig, nach den Sittlichkeitsvorstellungen der damaligen Zeit ein »gefallenes Mädchen« ist, entscheidet Gunnar über ihren zukünftigen Wert als Frau – indem er sie heiratet oder es bei einer losen Verbindung beläßt. Alva fürchtet die hübschen Stockholmer Mädchen, die sich um die jungen Studenten scharen, Gunnars mögliche Untreue, den Alkohol und die Vergeudung seines Talents. Eifersucht, die Schwierigkeiten, sich kennenzulernen, sexuelle Probleme, die prekäre Stellung der unverheirateten Geliebten, das alles triff t jedoch nicht den Kern der künftigen Konflikte. Der liegt in Rollenbildern und einem komplexen Machtverhältnis zueinander. Gunnars Vorstellung von Frauen und Alvas Rolle sind in den ersten Jahren konventionell. Alva ist ein Geschöpf, das er nach seinen Vorstellungen formen will und zugleich von der harten Welt fernhalten muß: »Es wäre ein Verbrechen, mein kleines, zartes Traummädchen ins Leben zu entlassen. Die unsichere Realität soll ihr niemals in die Nähe kommen – sie soll sie durch die wahrheitsgefärbten [sannfärgade] Gläser der Literatur sehen und durch meine Vermittlung spüren; nicht anders. […] Alva, meine Geliebte, Du Liebste von allen, nicht bist Du der, der trotzen und streiten kann. – Versuch nicht, meine Bürde zu nehmen – sie wird Dir zu schwer werden. – Du kannst nicht das Leben eines Mannes leben und seinen Platz ausfüllen – könntest Du es, wärest Du gewiß nicht gerüstet, das Leben einer liebenden Frau zu leben und ihren Platz auszufüllen.«22 Sie ist die weibliche Unschuld: 21. Alva an Gunnar, 16.2.1920; Gunnar an Alva, 18.2.1920 (Y. Hirdman, De blå kuverten, S. 181-183). 22. Gunnar an Alva, 5.9.1920 (ARAB 405/3.3:6); ähnlich: Gunnar an Alva 9.1.1921 (ARAB 405/3.3:11).

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sexuell und intellektuell. Sollte er sterben, würde ihn sein Nachfolger verfluchen, »weil das Verhältnis, in dem Du zu mir standest, derart war, daß Du Gegenstand eines geistigen Einflusses gewesen bist, der, obwohl Du das auf Grund der Nähe vielleicht nicht gemerkt hast, Dich auf ewige Zeit als mein Habe gestempelt hat. Verstehst Du, Alva, warum ein Mann mit Instinkt so besorgt um seine Frau ist: Sie ist von Natur aus ›geistig nachgebend‹, empfänglich für Druck. Dieser Instinkt sagt mir, daß Du in Deiner Persönlichkeit nicht in selbem Maße wie ich durch innere, notwendige Kräfte vorausbestimmt bist, sondern durch Äußere, zufällige.«23 Er ist glücklich, daß er sie unfertig bekommen hat.24 Bei ihm wird sie frei und liebevoll werden; er wird die wunderbarsten Kräfte in ihr wecken. »Du sollst in mein Dasein passen und Dich wohlfühlen. Reif, mündig, sicher, liebevoll, mütterlich und aufmerksam. […] Ich werde Dich zu meiner Wunschfrau heranwachsen sehen. Dann sollst Du meine Kinder bekommen. Das mit Kraft, Mut und Verantwortungsfreude.«25 Allerdings ist er eifersüchtig, auf ihre Eltern, Lehrer und Bücher (weniger auf ihre Freundinnen, denn die sind von selber geistiger Struktur, also ohne Einfluß). Eifersucht, so erklärt er ihr, ist die Angst, die Geliebte nicht vollständig besitzen zu können.26 Er ist gekränkt, wenn sie ihm gegenüber ihre Gefühle zurückhält, denn er muß spüren, daß sie ihn braucht, um sich stark zu fühlen.27 Er verlangt alles von ihr.28 Wenn er jedoch in düsteren Gedanken versinkt, meint er ihrer, die in ihrer Güte über allen Menschen stehe, nicht würdig zu sein.29 Dann skizziert er in einem Brief ihr künftiges Leben. Für beide wäre es am Besten, wenn Alva Sprachen studierte. Dann könnte sie die ausländische Literatur seines Faches übersetzen und bei seiner Korrespondenz helfen, wenn er Wissenschaftler geworden sei.30 Jura solle sie auf keinen Fall studieren, das sei eine Verschwendung ihrer gemeinsamen Kräfte. Sie könnten heiraten, und wenn er genug verdiene, wären sie in der Lage, sich ein Kind 23. Gunnar an Alva, 26.10.1920 (ARAB 405/3.3:7 [Hervorh. im Orig.]). 24. Gunnar an Alva, o.D. [Datierung des Briefumschlags 25.10.1920] (ARAB 405/3.3:7). 25. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 4.3.1920] (ARAB 405/3.3:16). 26. Gunnar an Alva, 26.10.1920 (ARAB 405/3.3:7). 27. Gunnar an Alva, 27.9.1920 (ARAB 405/3.3:6). 28. Gunnar an Alva, 4.10.1920 (ARAB 405/3.3:7). 29. Gunnar an Alva, o.D. [Datierung des Briefumschlags 29.11.1920] (ARAB 405/3.3:7). Vgl. auch Gunnar an Alva, 12.9.1920 (ARAB 405/3.3:6), mit dem klassischen Topos, daß die geistige Arbeit des Mannes der größte Feind der Frau sei, diese aber ihre erotischen Kräfte einsetze und damit den Mann immer mehr schwäche. 30. Das war ein kleiner Scherz von ihm, schreibt er.

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zu leisten. Nach sechs Jahren könne sie hoffentlich ihre Erwerbstätigkeit aufgeben und ernsthaft Hausfrau werden. Aber wie soll sie alles bewältigen, das Haus, Haushalt, Kinder, ihm bei seiner Arbeit helfen und zudem noch ihren eigenen Interessen nachgehen? Ein Leben voll Arbeit und Mühen, will sie das wirklich wählen? Er ist müde und unentschlossen, er hat nicht das Recht, derart viel von ihr zu verlangen. Sie muß entscheiden.31 Und wie entscheidet Alva? »Herrscher-Mann! Was befiehlt der Große Häuptling? Siehst Du nicht, daß Deine kleine Freundsklavin [vänslavinna] in der Sehnsucht verschmachtet, etwas für Dich ausrichten zu können? […] Ist nicht Freundsklavin ein gutes Wort? Das läßt mich mehr sein als Deine Heimsklavin […], das gibt mir heiligen Teil an dir.«32 Immer wieder stilisiert sie sich in ihren Briefen zu seiner Dienerin. Sie wird als Bürosklavin – das ist Gunnars mißmutige Formulierung33 – zu beider Unterhalt beitragen, sie wird alle Arbeit für ihn tun. »Ich sehne mich danach, Arbeit von Dir zu bekommen. Liebster – was die Zukunft so viel verspricht! Wenn ich nicht so mit Blick auf sie lebte, käme mir diese Trennung noch unerträglicher vor.«34 Zugleich fordert sie. Sie werde ihren Willen durchsetzen, in den ersten Jahren die Familie zu versorgen, damit er seine Studien vollenden könne, »und das ist ein großes Vergnügen für mich, Dich darauf hinzuweisen. Das gibt mir zeitweilig fast die Illusion, daß meine Meinung von Wert wäre.«35 Denn als Beamter in Norrtälje darf er nicht enden. »In dem Fall bekommst Du niemals – das ist mein voller Ernst – die bleibende Freude, mich versorgen zu dürfen. Das wäre zu ruhig und maßvoll kummerfrei.«36 Er darf sich nicht, antwortet sie ihm einmal mehr auf seine schwarzen Gedanken, als gewöhnlichen Alltagsmenschen bezeichnen; er ist nicht lächerlich, sondern erweckt Furcht und Bewunderung.37 Einst, so gesteht sie in einem Brief, habe sie sich mit ihrer Freundin Märta geschworen, nicht weiblich sein zu wollen. Sie wollten »allgemeinmenschliche Eigenschaften« entwickeln und gleich ein paar männliche dazu übernehmen. Sie wollten sich selbst versorgen, einfach, robust und praktisch gekleidet sein und nicht verlernen, mit den Jungen zu klettern und zu springen. Diese Alva, mehr den Lausbuben als den Frauenrechtle31. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 22.4.1922] (ARAB 405/3.3:16). 32. Alva an Gunnar, o.D. [1920er Jahre?] (ARAB 405/3.3:10 [Hervorh. im

Orig.]). 33. Gunnar an Alva, o.D. [um 1921] (ARAB 405/3.3:46). 34. Alva an Gunnar, o.D. [später hinzugefügte Datierung: »Herbst? 1921«] (ARAB 405/3.3:8). 35. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 6.8.1921] (ARAB 405/3.3:10). 36. Alva an Gunnar, 4.7.1921 (ARAB 405/3.3:10). 37. Alva an Gunnar, o.D. [wohl Frühjahr 1922] (ARAB 405/3.3:8).

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rinnen ähnlich, habe er nie kennengelernt, denn gleichzeitig war sie voller innerlichster Romantik und einer tragischen Sehnsucht nach Harmonie, die von der absichtlichen »Lebensgestaltung« unberührt bleiben sollten. Am Ende dieses Projektes, schreibt sie, blieb nur die Lust, einen sportlichen Körper zu bewahren, und der maßlose Neid auf das freiere Leben der Jungen. Sie mochte diese Alva, das habe sie ihm mehrfach zu verstehen gegeben, und sie hielt sie in den letzten Jahren für etwas »Besseres« als sich selbst. Erst jetzt begreife sie, daß er einen umfassenden, schmerzhaften Prozeß in Gang gesetzt habe, sie in eine Frau zu verwandeln.38 »Ich fühle mich zur freien Frau geboren, verwunderlich frei. Und trotzdem hätte ich mich Dir als Sklavin hingeben können. Wenn Du nicht mit Liebe auf mich gesehen hättest. Seitdem bin ich für immer frei. Aber seitdem will ich Dir auch immer dienen, ohne gezwungen zu sein.«39 Am Tag darauf beschwört sie ihre Fähigkeit, für ihn opfern zu können. 40 Sie will nicht als Parasit und Luxuswesen von seinem Geld leben, sondern Arbeiten und Verantwortung tragen, und sie will ihre eigenen Interessen mit Macht vorantreiben – die alle ihm zu Gute kommen sollen. 41 Das Bild changiert so merkwürdig. Sie hält sich für einen nicht formbaren Klumpen, mit dem Gunnar unglücklich werden wird, 42 sie lebt, schreibt sie, ein oberflächliches Leben, das nicht einmal für Tagebuchaufzeichnungen taugt, immer wieder ist sie besorgt, ihm nicht genügen zu können – aber sie sprudelt vor Lebenskraft, und von den Schülerinnen des Privatunterrichts in Eskilstuna gelte nur sie bei ihren Lehrern als erwachsene Frau. »Das ist etwas sehr Merkwürdiges, ein Nimbus, eine Persönlichkeit zu sein, umgibt mich.«43 Sie fürchtet die Konkurrenz der Stockholmer Mädchen und kritisiert seinen Geschmack: Die aufgeputzten Mädchen zögen ihn an, unterschiedslos nenne er sie »Prinzessin«, die unscheinbaren dagegen, ungerechterweise, »häßlich«. 44 Mit der Lebensgefährtin eines Freundes von Gunnar meint sie nicht mithalten zu können, aber sie ist glücklich zu wissen, daß dieser Franciskus (der Schriftsteller Fritz Thorén) von seiner Frau nicht so viel Hingebung und liebevolle Pflege erfahre wie Gunnar von ihr. 45 38. Alva an Gunnar, o.D. [Juli 1921] (ARAB 405/3.3:8). 39. Alva an Gunnar, 9.1.1921 (ARAB 405/3.3:9). 40. Alva an Gunnar, 10.1.1921 (ARAB 405/3.3:9). 41. Alva an Gunnar, 13.7.1921 (ARAB 405/3.3:10). 42. Alva an Gunnar, o.D. [Ankunftsstempel 2.10.1921] (ARAB 405/3.3:10). 43. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 3.11.1921] (ARAB 405/3.3:10). 44. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 8.9.1921]; o.D. [Poststempel 29.10.1921] (ARAB 405/3.3:10). 45. Alva an Gunnar, Ende August 1922; 30.11.1922; 24.12.1922 (ARAB 405/ 3.3:15).

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Sie beklagt sich über die »polygame Natur« ihres Lebensgefährten, 46 und daß er von »Abenteuern« als »Mittel gegen die Gefahren des Hauslebens« (botemedel mot husfarligheten) spreche. 47 Immer wieder erklärt sie, ihn freigeben zu wollen – denn wäre er nicht dumm, wenn er die Tochter seines Lehrers Gustav Cassel, die ihm sofort zu Füßen fallen würde, verschmähte?48 Trotz all der Unterwerfungsrhetorik wird deutlich, wie Alva beständig den Zustand ihrer Beziehung beobachtet. Sie ist zwar fi xiert auf Gunnar, bietet jedoch immer wieder den radikalen Bruch an. Er muß sich bemühen – vielleicht nicht um sie, aber zumindest um seine eigenen Gefühle. Sie formuliert, daß es eine Grenze gibt, er muß entscheiden, ob er sie überschreiten und damit die Beziehung zerstören will. Er wird sich der Grenze oft genug nähern, sie aber erst in 30 Jahren fast kreuzen. Für Alva bedeutet das, daß sie sich auf Jahrzehnte zum Gegenstand eines immer drohenden Richtspruchs macht – der andererseits auch Gunnar treffen würde, denn je länger sie zusammenleben, desto mehr benötigte er ihre Stärke. Immer wieder beschwört er in seinen Briefen, wie sehr er sie braucht und sich nach ihr sehnt. Abwechselnd will er sie schützen, als Hausmädchen nutzen und mahnt sie, weniger Zeit für ihn zu vergeuden. In ein und demselben Brief kann er sich einem angeblich mediokren Politiker, dessen Biographie er liest, maßlos überlegen fühlen und sieht zugleich sein künftiges eigenes Mißlingen vor sich. »Ich bin nicht lebenstauglich in dieser Welt. Ich werde niemals wie dieser [Politiker, d.i. Louis Gerard De Geer] auf ein Werk zurückblicken dürfen, werde nicht sterben in der Gewißheit, etwas Wesentliches verändert zu haben. Ich trauere über meine unglückselige Gestalt jeden Tag, aber die wird sich nicht ändern lassen. Ich werde mißlingen, und all mein Ehrgeiz wird nur meinen Lebensunterhalt und bürgerlichen Erfolg erschweren. Wäre ich in größeren Verhältnissen geboren, würde ich tragisch sein.« 49 Mit 25 Jahren, so schreibt er, ist er nichts, weiß er nichts, kann er nichts und hat er nichts geschaff t.50 Ein Jahr später vertritt er das Bürgermeisteramt in Mariefred, dort ödet ihn das bürgerliche Leben an, er kann die Menschen nicht ertragen, fühlt sich klein und allein ohne Alva.51 Dieses Gejammer wird sich die nächsten Jahrzehnte durch seine Briefe ziehen, immer wenn er allein ist, fordert er sie, nicht nur ihre Briefe, 46. Alva an Gunnar o.D.; o.D. [wohl Frühjahr 1922] (ARAB 405/3.3:8). 47. Alva an Gunnar 19.10.1923 (ARAB 405/3.3:17). 48. Alva an Gunnar 24.4.1924 (ARAB 405/3.3:19). 49. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 2.8.1921] (ARAB 405/3.3:12 [Hervorh. im Orig.]). 50. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 12.4.1922] (ARAB 405/3.3:16); die wiederholte Betonung von Gunnar. 51. Gunnar an Alva, div. Briefe 1924 (ARAB 405/3.3:20).

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sondern auch ihre Anwesenheit. Alva gibt, bis zum Ende der 40er Jahre, mehr als einmal ihre eigenen Möglichkeiten preis. Aber die Machtbalance ist von Beginn an prekär, das zeigt die Art, wie sie zunehmend ihre Rollenkonflikte ausfechten. In den ersten Briefen nimmt Alva alle Schuld auf sich, wenn es auf ihren gedrängten, heimlichen Treffen zu Mißhelligkeiten kommt. Dann beginnt sie sich zu beklagen – indem sie ihr eigenes Verhalten erklärt. Schließlich kommt es zum Streit. Als Alva die eheliche Doppelmoral verheirateter Männer kritisiert – sie vergreifen sich bei der Heirat, wagen nicht, ihren Fehler zuzugeben, sondern »lallen« von Liebe und sind untreu –,52 schießt Gunnar scharf zurück. Er verbittet sich, daß sie ihre eigenen moralischen Maßstäbe bei der Bewertung anderer Menschen anlegt. Alva ist unglücklich: »Hoher Herr, sicher weißt Du wohl, daß ich nicht kränken wollte?«53 Als Gunnar im Krankenhaus freudig wahrnimmt, wie die Krankenschwestern an seinem Bett anstehen, um zu lindern, zu helfen und zu trösten, wie sie, glaubt er, ein instinktives Glück empfinden zu dienen,54 da bescheinigt ihm Alva kühl, einer realitätsfernen Idealisierung aufzusitzen. Krankenschwestern seien professionelle Helferinnen, die trotz aller Sanftheit ihre Patienten als »Fälle« betrachteten. Es mache sie müde, was er sich für ein Frauenbild zurechtphantasiere, offenbar wolle er eine »Krankenschwester« als Lebenspartnerin haben. »Ich bin nicht eifersüchtig, aber bereit, jederzeit aufzugeben.«55 Gunnar versteht nicht: »Wenn es wahr ist, daß Du so verrückt eifersüchtig bist, wie soll das da im Leben gehen? Stell Dir z.B. vor, daß ich in meiner täglichen Arbeit von Frauen umgeben sein werde! Geschmeichelt bin ich indessen, obwohl ich Dich bedaure.«56 Kurz darauf kommt die Episode mit der »Studentenmütze«. Mit dem anstehenden Abitur im Juni 1922 erwirbt auch Alva das Recht, eine weiße Mütze zu tragen, um ihren Status als angehende Studentin in der Öffentlichkeit zu demonstrieren (Abb. 757). Sie trägt sie, als sie mit Gunnar ausgeht, und dem mißfällt es offenbar. Er weist sie an, die Mütze abzusetzen, später schreibt er ihr einen Brief, in dem er sich rechtfertigt. Dieser Brief 52. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 29.10.1921] (ARAB 405/3.3:10). 53. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 3.11.1921] (ARAB 405/3.3:10 [Hervorh. im Orig.]). 54. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 16.3.1922] (ARAB 405/3.3:16). 55. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 17.3.1922] (ARAB 405/3.3:14 [Hervorh. im Orig.]). 56. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 21.3.1922] (ARAB 305/3.3:16). 57. Die Abbildungen sind in Kap. XI als Bildessay zusammengefaßt. Die Bildverweise im Text orientieren sich an der Anordnung der Abbildungen in Kap. XI.

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III Suchbewegungen

(der nicht überliefert ist) treibt Alva auf die Palme. Die Mütze habe ihr viel bedeutet. Sie habe kein würdiges Auftreten, sie habe nicht den Titel einer Ehefrau ( frutitel), sie könne sich nicht einmal »standesgemäß« als Bürosklavin kleiden. »Die Studentenmütze sollte mir Alter geben und es natürlich für mich machen, würdig aufzutreten zu beginnen.« Sie habe nicht ahnen können, daß er sich (wohl vor seinem dezidiert frauenfeindlichen Freund Franciskus) dafür schämte, ihr eine »soziale Gnade« zu erweisen, indem er sich mit ihr in der Öffentlichkeit zeigte. Und sie sei sogar zufrieden gewesen, seiner Anweisung zu folgen und ihm damit eine Freude machen zu können. In seinem Brief aber rechtfertige er seinen Befehl und mache sogar ein Zugeständnis, um sie zu trösten. Dieser Trost entwertet ihr Opfer. Entweder – oder: Er hat die Macht, er hat die Schuld an dem Konflikt, er trägt die Verantwortung für seine Anweisungen. Und dann will sie ihm gleich eine weitere Illusion rauben: Sie ist für die Gymnasialausbildung von Mädchen. »Wenn die da auch nur eine Luxusausbildung bekommen, warum nicht? Warum sollten sie von Kindheit an gezwungen sein, sich nur auf die nützlichen, praktischen Kenntnisse einzustellen? […] Ich kann nichts dafür, daß ich mich in allen Schulfächern wohlfühle, und daß ich, als ich cirka 15 Jahre alt war, rasend verrückt geworden wäre, wenn mir die Lektüre dieser Themen verboten gewesen wäre. Ich habe mich noch immer nicht damit versöhnen können, nur Mädchen zu sein.«58 Gunnar numeriert ihren Brief durch und arbeitet alle Punkte ab. Er habe sich gefreut, daß sie auf die Schule gegangen sei; was sie gelernt habe, werde ihnen praktisch nutzen. Aber mit ihr als Studentin habe er nie gerechnet. Männer wollen nicht, daß Studentinnen ihre ernsthaften Studien stören, sie wollen wirtschaftlich in der Lage sein, ihre Frauen vor einer ihnen unwürdigen und unpassenden Arbeit zu bewahren. »Kamerad in dieser Beziehung will ich nicht mit meiner Ehefrau werden. Eine andere Sache ist es, daß ich froh darüber bin, daß Du klug und kenntnisreich bist und eine intellektuelle Gesellschaft sein kannst, ja mir vielleicht sogar in meinen Studien helfen kannst. – Entweder – oder, sagst Du, Liebste. Ja, entweder sollst Du meine Frau sein, und da wird Deine äußerliche Tätigkeit gewiß nicht geprägt durch eine akademische Selbständigkeit – oder, aber das streichen wir.«59 Alva rudert mit einer Unterwerfungsgeste zurück, bleibt aber in der Sache hart. Es sei ihr nicht um die Ehre als Studentin gegangen, sondern um die Möglichkeit, eine Person zu werden. »Wie es jetzt ist, werde ich für ein Laufmädchen oder eine Verkäuferin gehalten – wenn Du 58. Alva an Gunnar, o.D. [vor dem 28.4.1922] (ARAB 405/3.3:14 [Hervorh. im Orig.]). 59. Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 28.4.1922] (ARAB 405/3.3:16 [Hervorh. und Streichung im Orig.]).

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mich manchmal aus größerem Abstand sähest, wüßtest du es selbst. Und was schlimmer ist – ich fühle mich so. Ich kann kaum in einem Geschäft einkaufen. Denn ich habe nichts von dem, was die Mädchen ›Sicherheit‹ nennen. Ich bin demütig gegenüber den Verkäuferinnen und höre und sehe mit lebhafter Verwunderung die Art der Mädchen – um nicht von den Frauen zu sprechen –, sich zu behaupten [att reda sig].«60 Der Ton der Briefe ändert sich unmerklich. Die frühen Briefe sind unerträglich schwülstig. Sie handeln nicht vom Alltag, sondern katapultieren die beiden in die Imagination einer großartigen Zukunft, weit oberhalb des Lebens armseliger Durchschnittsmenschen. Gunnar verkündet oder verzagt. Alva unterwirft sich und fordert. Dann schleichen sich die alltäglichen Reibereien ein. 1924 beginnt Alva, »alte« Erinnerungen zu beschwören, und es deutet sich an, daß die Sehnsucht der gemeinsamen Zukunft abgelöst wird durch die Sorge, ihre Zukunft könnte bereits vorbei sein.61 1926 ist der schwärmerische Ton in ihren Briefen erheblich reduziert. Sie beschwört weiterhin ihre große Liebe und seinen Einfluß auf sie, aber »Fürst« und »Herrn« nennt sie ihn kaum noch. Mittlerweile leben sie gemeinsam in Stockholm, sind jedoch wieder öfters getrennt, weil Gunnar im Ausland weilt. Alva berichtet aus ihrer gemeinsamen Wohnung, regelt Geldangelegenheiten, gibt Kaufanweisungen und Empfehlungen, wie er seinen rudimentären Haushalt führen soll. Durch den Beginn von Gunnars Karriere hat sich die Krisensituation verschärft. Alva deutet in ihren Briefen fortlaufend den Stand ihrer Beziehung, immer intensiver aber auch ihre eigene mögliche Zukunft. 1929 schreibt sie ihrer Schwägerin: »Laß uns ehrgeizig [äregiriga] sein, Elsa. Wir müssen ja nicht darüber reden, außerhalb der Familie, aber etwas wollen wir tun, nicht wahr?«62

3. Karr ierebeginn Gunnars Stern geht in der Nationalökonomie auf.63 1923, mit Ende seines Jurastudiums, stürzt er in eine tiefe Krise. Er ist davon ausgegangen, als Jurist das Funktionieren der Gesellschaft durchschauen zu können, eine Fehlannahme, die ihn sein künftiges Berufsleben plötzlich sinnlos er-

60. Alva an Gunnar, o.D. [Ankunftsstempel 3.5.1922] (ARAB 405/3.3:14). 61. Alva an Gunnar, div. Briefe, 1924 (ARAB 405/3.3:17, 3.3:19). 62. Alva an Elsa Gestad, 25.8.1929 (ARAB 405/1.1:9 [Hervorh. im Orig.]). 63. Vgl. zum Folgenden auch Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 115145; H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 11-61; S. Bok, Alva Myrdal, S. 74-80.

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scheinen läßt. Es war Alva, so berichtet er zwanzig Jahre später,64 die eines Tages mit den Werken Gustav Cassels nach Hause kam und ihn auf die Nationalökonomie ansetzte. Er liest Cassels »Theoretische Sozialökonomie« und alle Bände der »Ekonomisk tidskrift« durch, fängt an, bei Cassel zu studieren, und schon im Frühjahr darauf wird er in Gesprächen und Briefen als Genie gehandelt. Alva ist überglücklich, als Inga Cassel ihr berichtet, welche Freude ihr Vater an Gunnar habe.65 Cassels Frau schreibt ihrer Tochter Margit Wohlin, die in Tübingen weilt: »Ein anderer neuer Stern, dalkarl – Jurist –[,] ist plötzlich am Firmament aufgetaucht[:] Gunnar Myrdal – klingt das nicht wie ein Roman? Er hat eine geniale Abhandlung geschrieben, die Papa unerhört imponiert hat – über das Risikomoment. Er kennt keine Nationalökonomen und ist ganz von selbst auf all das gekommen, ist 25 Jahre alt und jur. kand., wortgewandt [ordsnäll], schlagfertiger Dalabauer [dalabonde].«66 Der Umgang der Myrdals mit den Cassels wird bald freundschaftlich, da Gunnar zu Cassels Lieblingsstudenten gehört; er entwickelt zu ihm eine vertraulichere Beziehung als zu seinem eigenen Vater – und vermag gleichwohl (intellektuell) gegen ihn zu rebellieren, ohne die Freundschaft zu gefährden.67 Im Frühjahr 1925 fahren Alva und Gunnar mit zwei schmalen Stipendien, die sie über sechs Monate strecken, nach Großbritannien. Sie sitzen eine glückliche Zeit lang gemeinsam in der Bibliothek des British Museum und lesen. 1926 unternimmt Gunnar längere Studienreisen nach Deutschland und erneut nach Großbritannien; Alva fungiert, wie schon zuvor, als seine Sekretärin. Sie leiht Bücher aus, übersetzt, schreibt seine Manuskripte ins Reine und führt den Haushalt. 1927 legt er seine Dissertation über das Problem der Preisbildung vor, wird mit der Bestnote belohnt und zum Dozenten ernannt.68 In vier Jahren manischer Arbeit hat er es vom Anfänger in diesem Fach bis zum Aspiranten einer Professur geschaff t. Sein Studienkamerad Alf Johansson hat ihn mittlerweile auf die Idee gebracht, die ältere Nationalökonomie fundamental anzugreifen. Der Probelauf wird eine Vorlesung im Frühjahr 1928, in der Gunnar den großen Nationalökonomen nachweist, wie sie unter dem Deckmantel vermeintlich objektiver Wissenschaft Politik betrieben haben. Ein gutes Jahr vergräbt er sich dann in den Bibliotheken von Stockholm, Leipzig, Kiel und London, 64. Aftontidningen, 16.8.1943. 65. Alva an Gunnar, 24.4.1924 (ARAB 405/3.3:19). 66. Johanna Cassel an Margit Wohlin, 17.3.1924 (ARAB 405/6.1:8). Wohlin hat die Briefe Cassels 1973 ausgewählt, redigiert und vervielfältigt. Ein Exemplar befindet sich im Nachlaß der Myrdals. 67. Vgl. S. Bok, Alva Myrdal, S. 78f. 68. G. Myrdal, Prisbildningsproblemet och föränderligheten.

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um Material für seine Studie zu sammeln, die 1930 erscheint und bald in mehrere Sprachen übersetzt wird: »Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung«, wie der Titel der deutschen Ausgabe lautet.69 Mit diesem Buch hat Gunnar einen Ansatz gefunden, der es ihm, paradoxerweise, erlaubt, seine wirtschaftswissenschaftlichen Analysen zu politisieren, indem er die Politisierung wirtschaftswissenschaftlicher Analysen anderer kritisiert.70 Sein Argument ist in Kürze, daß die älteren – und bald darauf auch sehr viele gleichaltrige, konkurrierende – Wirtschaftswissenschaftler die Wertprämissen ihrer Arbeit nicht offenlegen. Sie nutzen vermeintlich wertneutrale Begriffe wie »Natur«, »Nutzen« oder »Wohlfahrt«, und dadurch dringen gewichtige Wertannahmen in ihre Argumentationen ein, die damit nicht mehr »objektiv« und »wissenschaftlich« sind, sondern, beispielsweise, den laissez faire-Liberalismus zur »natürlichen« Wirtschaftsordnung erheben. Legt man dagegen seine Prämissen offen, können die Leser anhand glasklarer Wenn-dann-Folgerungen prüfen, ob sie überzeugend sind, oder aber messerscharfe Kritik üben. Der Angriff gilt zunächst einmal den Klassikern der Nationalökonomie, aber auch den Lehrern in Schweden. Gunnar ist nicht allein. Eine ganze Reihe erfolgversprechender und ehrgeiziger Nachwuchswissenschaftler steht bereit, die wenigen wirtschaftswissenschaftlichen Professuren in Schweden zu besetzen. Zusammengefaßt werden sie die »Stockholmer Schule der Nationalökonomie« genannt, und zu ihr kann man neben Gunnar Myrdal Erik Lindahl, Bertil Ohlin, Dag Hammarskjöld, Alf Johansson, Karin Kock, Johan Åkerman, Tord Palander und Erik Lundberg rechnen.71 Die Mitglieder dieser Gruppe bilden für Gunnar eine Bühne für seine Auftritte, sie sind Konkurrenten, Sparringspartner, teilweise auch Freunde, und sie gehören zu einem umfassenden sozialen Netzwerk, das er sich seit den späten 20er Jahren in Schweden auf baut. Auf der Stockholmer Handelshochschule (die zu der Zeit noch keine Universität ist) als institutioneller Basis gründet er seine internationale Reputation. 1930 vermittelt 69. G. Myrdal, Vetenskap och politik i nationalekonomien (die deutsche Übersetzung erschien 1932). 70. Siehe unten, Kap. V. 71. Auf ihre Bedeutung für die internationalen Wirtschaftswissenschaften werde ich nicht eingehen; dazu B. A. Hansson, The Stockholm School and the Development of Dynamic Method; B. Sandelin, Beyond the Stockholm School; H.-M. Trautwein, The Loose Link; B. Sandelin/H.-M. Trautwein, The Baltic Exchange; L. Ekdahl, Mot en tredje väg, S. 64-73. Zum großen Einfluß der Nationalökonomen auf die gesellschaftspolitische Diskussion vgl. E. Friman, Växt för välfärd; B. Carlson/L. Jonung, Hur såg de stora nationalekonomerna på sin roll i samhällsdebatten?

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Cassel ihm eine Gastprofessur in Genf, in wenigen Jahren will er ihn als seinen Nachfolger installieren.72 Als er dann doch zögert, sich in den Ruhestand zurückzuziehen, erklärt Gunnar ihm freundlich, aber bestimmt, daß er aufzuhören habe.73 Cassel gibt ohne Groll nach, und 1933 ist Gunnar ordentlicher Professor in Stockholm. In nur sieben Jahren hat Gunnar sich an die Spitze der schwedischen Wirtschaftswissenschaften vorgearbeitet und erhält bereits internationale Aufmerksamkeit. Gunnars Zweifel am Sinn seiner Karriere sind wie weggeblasen. Das macht die Ehe nicht einfacher. Während er allmählich vollkommen in seiner Arbeit aufgeht, erklärt Alva, nach der Rückkehr aus London, ihren Versuch endgültig für gescheitert, ihm eine Hausfrau zu sein. Sie hält die vereinsamende, nichtige Hausarbeit nicht aus und will ihm nicht durch ihre jämmerliche Laune auf die Nerven gehen.74 Der Brief ist als Bitte formuliert, doch er deutet an, daß ihr Vorhaben, ganz mit Gunnar zu verschmelzen, möglicherweise nicht funktioniert. Im Sommer 1926 formuliert sie es deutlicher: »Oft glaube ich, daß ich stark genug bin, mir ein eigenes Leben zu bauen, ohne Dich. Wenn es so ist. Aber warum dann eigentlich überhaupt sein? – Das ist ein Problem, vor dem ich zittere.«75 Schon 1919 hatte sie der Gedanke perplex gemacht, so schrieb sie 1921, sie könnte berühmt werden. Damals wollte sie, eher unrealistisch, eine Religion begründen oder eine große Dichterin werden.76 Seitdem zielte ihr Ehrgeiz grundsätzlich aber auf die Symbiose mit Gunnar, nicht auf ein eigenständiges Leben. Genau jedoch beobachtet sie die Risse in ihrer Beziehung und stellt den zukünftigen Weg zur Disposition: Wenn sein Einfluß auf sie schwände, würde sie ein fremder Mensch – aber wäre es nicht doch besser, sich zu trennen, statt ihre Gemeinschaft regelmäßig durch enervierende Diskussionen zu zerstören?77 Dann wieder träumt sie von ihrer gemeinsamen Wohnung, in der sie ihm ein behagliches Leben bereiten wird, listet die Einrichtung auf (mit Preisangaben), ist glücklich, daß sie beide seine Dissertation schreiben, und freut sich auf das kommende Kind.78 Sie würden lernen, ihre Gefühle auszudrücken und sich der Stille zwischen ihnen entledigen; sie selbst habe eine wunderbare Freiheit gewonnen, als ihr klar wurde, daß sie zu nichts tauge. Nun ist sie nicht mehr zum Fortkom72. Gustav Cassel an Gunnar, 8.3.1930 (ARAB 405/3.2.1:3). 73. So berichtet Gunnar später an Eli Heckscher, 21.4.1945 (KB L 67/38). 74. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 27.12.1925]; ähnlich Alva an Gunnar, o.D. [Juli 1926] (ARAB 405/3.3:21). 75. Alva an Gunnar, 6.7.1926 (ARAB 405/3.3:21). 76. Alva an Gunnar, o.D. [Juli 1921] (ARAB 405/3.3:8). 77. Alva an Gunnar, 14.7.1926 (ARAB 405/3.3:21). 78. Alva an Gunnar, 18.7.1926 (ARAB 405/3.3:21).

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men verpflichtet, sondern kann daran »arbeiten, etwas im Kleinen zu sein, um sich vom Wunsch frei zu machen, etwas Großes werden zu wollen.«79 Gunnar, wieder in London, geht in seinen Briefen auf Alvas Überlegungen nicht weiter ein, erkundigt sich nur nach dem werdenden Kind und beschwört ihre künftige Gemeinschaft. Er klagt über seine Einsamkeit, entschuldigt sich für seine langweiligen »Geschäftsbriefe«, verlangt ihre Hilfe und fühlt sich ihr gegenüber unsicher.80 Alvas Gesinnungswandel ist wohl dem Kind geschuldet. Endlich zeichnet sich für sie die Verwirklichung eines Traums ab, die Familie. Kinder wollte sie von Beginn an; Gunnar fiel der Gedanke schwer: »Ich habe nachgedacht und bemerkt, daß meine Sehnsucht nach Kindern sehr schwach und unausgereift ist. Ich sehne mich mehr nach, sagen wir, einem Segelboot mit Kajüte. Das ist jedoch unreif. Ich bin erwachsen genug, eine Frau über alles in der Welt zu lieben, aber nicht, mich wirklich nach Kindern mit ihr zu sehnen. Aber ich weiß, daß ich es tun werde!«81 Alva skizziert ihm auf ihre Art den Weg: »Liebster, ich möchte Dir danken, daß Du von Kindern gesprochen hast. Du weißt ja, wie diese Sehnsucht immer hinter meinen Zukunftsgedanken liegt, aber ich wollte Dich nicht allzu stark daran erinnern, ich will deine Gedanken keinesfalls in eine Richtung zwingen. Aus freien Stücken sollen sie kommen dürfen, bis sie die Stärke eines eigenen Wunsches haben. Und so denke ich noch immer. Aber sicher verstehst Du, daß deine Worte mir gut getan haben? Nun werde ich sie so erinnern, erinnern, daß mein Liebster wenigstens sich nicht sehr belastet von mir fühlen kann. Dank, Du mein Gunnar!«82 Als ihr eine Zigeunerin nur drei Kinder voraussagt, wird sie wütend;83 im Juni 1923 phantasiert sie sich auf einem Blatt Papier regelrecht eine Familie zusammen: sechs Kinder, deren Namen und Geburtsdaten, außerdem Korrelationstabellen, wie alt diese sind, wenn Alva bzw. Gunnar jeweils 60 Jahre alt geworden sein werden.84 Das Kind, das sich dann Ende 1925 abzeichnet, scheint als eine Art ErsatzGunnar und Eheretter zu fungieren: »Ein Stück von Dir, das ich betrachten darf, mit dem ich umgehen darf, [das ich] beeinflussen darf und küssen 79. Alva an Gunnar, 20.[?]7.1926; ähnlich Alva an Gunnar, 27.7.1926, mit der Forderung, nicht Hausfrau sein zu müssen (ARAB 405/3.3:21). 80. Gunnar an Alva, div. Briefe, Juli 1926 (ARAB 405/3.3:21). 81. Gunnar an Alva, o.D. [Datierung des Briefumschlags 25.10.1920] (ARAB 405/3.3:7 [Hervorh. im Orig.]); vgl. auch Gunnar an Alva, 4.9.1920 (ARAB 405/3.3:6), 14.1.1921 (ARAB 405/3.3:11). 82. Alva an Gunnar, o.D. [Ankunftsstempel 22.11.1921] (ARAB 405/3.3:10 [Hervorh. im Orig.]). 83. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 29.10.1921] (ARAB 405/3.3:10). 84. Alva Myrdal, handschr. Notiz, Juni 1923 (ARAB 405/3.3:17).

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darf, ohne Dich zu stören. Und das Du, ja, das Du wohl für eine gemütliche Beschäftigung für Deine Frau hältst.«85 Es wird die erste von insgesamt vier Fehlgeburten. 1919 hat Alva zwei Tagebücher angelegt. Das eine soll Gunnar, das andere sie führen, sie wollen es sich regelmäßig zu lesen geben – ein Symbol der gemeinsamen Seelenforschung und am Modell der Romantik orientiert. Gunnar hat diese Aufgabe nie erfüllt, Alva hat ihre Kladde zunächst mit denselben Schwülstigkeiten wie ihre Briefe gefüllt.86 1926 dann wird sie mit einer Heftigkeit deutlich, die in keinem ihrer Briefe zu finden ist. Die beschworene »Ehrlichkeit« zieht sich in einen Raum zurück, der Gunnar erst Jahrzehnte später zugänglich werden wird, als er ihre Tagebücher liest. Erst dann scheint er verstanden zu haben, was die frühen Jahre für Alva bedeutet hatten.87 »Das ist die wahre Einsamkeit, jahrelang Stunde auf Stunde mit einem Mann zu leben, der gesagt hat, alles mit mir gemeinsam haben zu wollen, aber der sein Leben zwischen seinen Büchern lebt, und der mich meins leben läßt oder nicht leben läßt, wie es mir behagt. Der in Verbindung mit mir steht durch seine Schreie: Setz die Kartoffeln auf! und durch seine gewohnheitsmäßige Frage: Wie steht’s?«88 Nach wie vor sieht sie keine eigene Zukunft vor sich; sie habe keine Freunde, seine Freunde grüßten sie nicht um Ihretwillen; selbst ihr noch ungeborener Sohn Jan werde ihr niemals zugetan sein, sie würden sich so fremd sein wie sie und Gunnar. »Gott, guter Gott – laß mein Junges wissen, daß ich manchmal von einer Liebe geküßt werden muß, die nichts will.«89 Gunnar vergräbt sich in seine Dissertation, sie kann ihm mit ihren Hilfsdiensten nie genügen und vergeht in seinem Schatten. »Um die Wahrheit zu sagen, so sind meine erfreulichsten Phantasien nicht dieser Kinderkörper gewesen, sondern wie ich mir ein starkes und reiches Leben zusammen mit meinem Kind schaffen würde, für Geld, das ich verdient habe, und wie unendlich schön die Einsamkeit sein würde, da alles um mich mein eigen wäre. […] Ich muß doch etwas werden. Die Tage müssen etwas für mich darstellen.«90 85. Alva an Gunnar, 20[?].7.1926 (ARAB 405/3.3:21); vgl. auch Alva an Gunnar, 10.7.1921 (ARAB 405/3.3:10). Später scheint dasselbe für Jan zu gelten: Alva an Jan Myrdal, 19.8.1927 [sic] (ARAB 405/3.3:21). 86. Alva Myrdal, Tagebuch, Einträge 1919-1928 (ARAB 405/1.1:2). 87. S. Bok, Alva Myrdal, S. 75f. 88. Alva Myrdal, Tagebuch, Eintrag 16.11.1926 (ARAB 405/1.1:2 [Hervorh. im Orig.]). 89. Ebd. 90. Alva Myrdal, Tagebuch, Eintrag 17.2.1927 (ARAB 405/1.1:2 [Hervorh. im Orig.]).

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Ihre Kontorechnung weist ein permanentes Saldo auf: Ihr Essen und das Nadelgeld »verdient« sie, indem sie für Gunnar putzt und kocht. Für die teure Miete aber muß sie ihm immer das Äquivalent schuldig bleiben. Sie verabscheut die männliche Einstellung, in Frauen nur eine Gerätschaft zu sehen. »Allein das, jemanden anbrüllen [vrålryta] zu können, den man fast am liebsten von allen zur Ehefrau haben will – das ist widersinnig [orimlig].« Sie will niemandes Liebhaberin sein, nur weil sie gerade zur Verfügung stehe, noch jemandes Freund, nur weil sie vollständig für dessen Interessen in Anspruch genommen werden könne.91 Die klassische Lebensperspektive, als Professorengattin in der Arbeit ihres Mannes aufzugehen und auf diese Weise eine harmonische, bereichernde Lebensgemeinschaft zu bilden, kollidiert stets mit ihrem Ehrgeiz. Sie kann jedoch keinem Modell folgen, um sich aus dem Dilemma zu befreien. Zunächst bieten sich nur drei Auswege an: Der Gashahn, das Kind oder die Verleugnung ihrer Fähigkeiten.92 Je mehr ihr dieser Konflikt aber bewußt wird, je mehr Gunnar ihre Beziehung spaltet, und je mehr sie in Gunnars Schlepptau, der ihr ihre eigenen Interessen ja nicht verbietet, in die Öffentlichkeit tritt, desto mehr rutscht sie allmählich in ein eigenes Leben hinein. Allerdings ist dieser Weg lang und schwierig. Den Gashahn erwähnt sie nur. Die Verleugnung ihrer Fähigkeiten kündigt sie in Briefen und Tagebuch mehrfach an – tatsächlich aber plant sie ein Psychologiestudium und ihre Dissertation.93 Aber auch Jan, geboren im Juli 1927, erweist sich zunächst als Sackgasse. Gunnar muß Alva plötzlich teilen, er sieht ihre »all-absorbing fellowship in love and work«94 durch das Baby bedroht. Alva fühlt sich noch eingeschlossener und merkt, daß sie sich nicht mit voller Hingabe der Familie und ihren Studien widmen kann.95 »Das ist eine der grausamsten Desillusionierungen mit kleinen Kindern, man schaff t sie sich an, um ›emotional satisfaction‹ zu bekommen, und dann tauchen praktische Fragen auf und machen es physisch unmöglich.«96 Immer noch versucht sie die Konfl ikte zu lösen, indem sie wechselweise nun wirklich häuslich werden97 oder eine »gewaltige Expansionslust«, die sie ergriffen 91. Ebd. (Hervorh. im Orig.). Vgl. auch Alva an Gunnar, 28.10.1927, 4.1.1928 (ARAB 405/3.3:21). 92. Vgl. Alva Myrdal, Tagebuch, Eintrag 17.2.1927 (ARAB 405/1.1:2); Alva an Jan Myrdal, 19.8.1927 [sic] (ARAB 405/3.3:21). 93. S. Bok, Alva Myrdal, S. 79. 94. Ebd., S. 80. 95. Ebd., S. 79f. 96. Alva an Elsa Gestad, 20.11.1929 (ARAB 405/1.1:9 [Hervorh. im Orig.]). 97. Alva an Gunnar, 6.12.1927, o.D. [Poststempel 29.12.1927] (ARAB 405/3.3:21).

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hat, bei ihm freigeben will.98 Sie beschwört ihre Gemeinschaft und ihre Liebe, hält aber auch mit ihrer Kritik an Gunnar nicht zurück. Im Herbst 1928 zieht sie im Tagebuch eine Bilanz: »Es war nicht richtig von mir, in diesem Buch mir die Bitterkeit von der Seele geschrieben zu haben. Es gibt ja so vieles anderes. Lange, lange Zeiten von verliebter Vertraulichkeit, von gemeinsamer Arbeit, die uns zu guten Freunden macht. Vielleicht muß ich trotzdem um der Ehrlichkeit Willen sagen, daß ich mit dem Großen, Wunderbaren, Himmelhohen in der Liebe alleine bin – und nicht mehr so oft wie früher. Gunnar hat gewiß ein alltagsfreundliches [vardagsvänlig] Dasein, mag mich als behagliche Atmosphäre – ich mag so vieles andere an ihm. Und so wird es, wie wir es haben wollen. Wir werden mehr und mehr zwei Kameraden, die besonders [särdeles] vertraulich miteinander reden, einander wohlwollen und es gut und ruhig miteinander haben. […] Wir sind ganz einfach glücklich. Auch wenn […] es sich etwas wie ein altkluges [snusförnuftig] Glück anfühlt. Aber das gibt uns reichlich Zeit zu intellektueller Arbeit.«99

4. Intellektuelle Or ientierung : die USA Schon früh orientieren sich Alva und Gunnar intellektuell am Ausland. Über Stipendien werden ihnen Reisen nach Deutschland, Großbritannien und in die USA finanziert. Deutschland war bis zum Ersten Weltkrieg der wichtigste internationale Bezugspunkt für schwedische Akademiker. Das schwächte sich in der Zwischenkriegszeit ab (und endete mit dem »Dritten Reich«), doch in der Nationalökonomie blieben enge Verflechtungen. Für Alvas Interessen in der Pädagogik sind Deutschland und die Schweiz wichtig. Beide sprechen Deutsch, rezipieren deutschsprachige Literatur, und vor allem Gunnar hält Kontakte zu deutschen Kollegen. Trotzdem aber wird dieses Land weder intellektuell noch vom Habitus seiner Akademiker her wichtig für die beiden Schweden. Großbritannien hätte sie prägen können. Hier gab es immerhin mit der »Fabian Society« einen Zirkel dezidierter und über Großbritannien hinaus bekannter Sozialreformer – und ein intellektuelles Ehepaar, das ein hervorragendes Rollenmodell für Alva und Gunnar hätte abgeben können: Beatrice und Sidney Webb. Beide waren wesentlich älter, hatten ihre intellektuelle Beziehung deshalb seit langem erprobt, und Beatrice hat es erfolgreich geschaff t, sich als Sozialreformerin neben Sidney zu etablie98. Alva an Gunnar, 4.1.1928 (ARAB 405/3.3:21). 99. Alva Myrdal, Tagebuch, Eintrag 9.10.1928 (ARAB 405/1.1:2 [Hervorh. im

Orig.]).

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ren.100 Doch es entwickeln sich keine engeren Kontakte. Und zum Kreis um Leonard und Virginia Woolf – »Keynes junge Garde, auf jeden Fall sozial pathetisch, mit feinem Relativismus und herrlich [kul] radikal«, wie Alva schreibt 101 – suchen sie ebenfalls keinen Zugang. Weder Alva noch Gunnar lassen sich, trotz aller Wertschätzung, von den britischen Intellektuellenzirkeln nachhaltig beeindrucken. Allerdings genießen sie auch ihre zweite Reise nach London im Juni 1926. Alva schreibt, daß sich ihrer beider Interessen immer stärker annähern; sie planen eine künftige Zusammenarbeit.102 Sie leben wie Maschinen, lesen von morgens bis abends, sind glücklich und effektiv. Britische Intellektuelle treffen sie kaum.103 Gunnar arbeitet an seinem Methodenbuch (»Vetenskap och politik i nationalekonomien«), will ein Buch darüber verfassen, wie die merkwürdige Vorstellung einer Freihandelstheorie entstehen konnte, ein weiteres Buch über Lebenshaltungskosten in Schweden fertigstellen, liest theoretische Indexliteratur und versucht, seine Lücken in technischer Mathematik zu schließen. »Wir haben es, wie gesagt, unmoralisch glücklich. Ich habe es sogar so gut, daß ich einen eigenen schwedischen Privatsekretär habe, außer einer erstklassigen Bibliothek, einem fähigen Übersetzer, einer treuen Hausfrau und einem gesunden und begabten Sohn zu Hause in Schweden. Der Privatsekretär ist wohl das Einzige, was Dich überrascht: Es ist das nette und fleißige Fräulein aus dem Institut, das hier im Urlaub ist und alles rechnet und schreibt, was ich will.«104 Die britische Sozialpolitik der 40er Jahre wird ihnen imponieren, 105 als entscheidend für beide erweisen sich jedoch die USA. Beide haben für das Studienjahr 1929/30 jeweils ein Rockefeller-Stipendium bekommen, diesmal in selber Höhe – das ist eine Seltenheit, denn in der Regel bekommt nur ein Ehepartner ein Stipendium. Jan wird zu Gunnars Eltern gebracht; Gunnar will Alva in den USA endlich wieder für sich haben. Sie fügt sich, ist aber von schweren Schuldgefühlen geplagt;106 Gunnar läßt sich durch

100. Vgl. B. Webb, Meine Lehrjahre; C. Seymour-Jones, Beatrice Webb; D. Epstein Nord, The Apprenticeship of Beatrice Webb. 101. Alva an Gunnar, 6.7.1926 (ARAB 405/3.3:21). 102. Alva an Elsa Gestad, 17.8.1929 (ARAB 405/1.1:9). Das Bild der glücklichen Kooperation scheinen sie erfolgreich nach Außen zu vermitteln, vgl. Gustav Cassel an Gunnar, 28.7.1929 (ARAB 405/3.2.1:1). 103. Gunnar an Gustav Cassel, 28.7.1929 (ARAB 405/1.1:9); Gunnar an Alf Ross, 8.8.1929 (ARAB 405/3.2.1:1). 104. Gunnar an Gustav Cassel, 20.7.1929 (KB Ep.C1a/1.17). 105. Vgl. A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien. 106. S. Bok, Alva Myrdal, S. 82.

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regelmäßige Berichte über Jans erfolgreiche Entwicklung beruhigen.107 Etwas hat sich deutlich verändert. Alva hat ein eigenes Projekt. In den USA bekommt sie einen Arbeitsplatz an der Columbia-Universität; Robert Lynd, Co-Autor von »Middletown«, unterstützt sie nach Kräften – und gibt ihr zu verstehen, daß er ihre Pläne für wichtig hält. Das ist ihr in der akademischen Welt bislang nicht widerfahren.108 Sie konzentriert sich auf die Kinderpsychologie und hat das Glück, daß Alfred Adler und Charlotte Bühler als Gastprofessoren in den USA weilen. Beide hinterlassen großen Eindruck bei ihr. Sie ist exaltiert wegen der Möglichkeiten, die sich auftun, sie sehnt sich nach Hause, um ihre Pläne in die Praxis umzusetzen.109 Sie hat ihr erstes großes Betätigungsfeld entdeckt: »Schul- oder besser gesagt ›Kindheitspflege‹politiker als der Verheißungen gelobtes Land. Ich weiß nicht, warum ich so ein großes Pathos dahinein lege. Fühle wie ein unrechtmäßig behandeltes Junges – sehe mich immer in deren Situation und habe wahrscheinlich deshalb eine gewisse Intuition für das, was gut auf sie wirkt. Und es gibt so vieles Gutes (und Billiges!) ihnen zu geben! Unachtsame Tyrannei von Seiten der Älteren hat die Behandlung von Kindern bis heute gekennzeichnet. Etwas kann man wohl machen.«110 Es geht aber auch um Jan. »Ich bin auf eine Weise froh, weg zu sein von Jan, denn ich konnte einfach nicht mit seiner Entwicklung mithalten. Konnte mir nicht in Ruhe Rechenschaft ablegen, welchen Erziehungsprinzipien ich folgen sollte, konnte mir nicht über seine Eigenart [särtyp] Rechenschaft ablegen, und was sie erforderte. Nun dagegen verwende ich dieses Jahr vornehmlich dazu, Kinderpsychologie zu studieren, zur Mentalhygiene, zur ›Elternerziehung‹. Und außerdem bewirkt allein der Abstand, daß ich an Perspektive gewinne. Ich glaube, es wird sehr bereichernd für künftige Eltern, einige Stunden am Tag von ihren Jungen getrennt zu sein – sie gewinnen an Bewußtsein, sie gewinnen Bekanntschaft mit ihrer eigenen Persönlichkeit, und sie gewinnen unendlich an Zuneigung im Vergleich zu dem, was die ständige Abnutzung fordert.«111 Gunnar kommt zunächst mit dem kulturellen Klima nicht recht zurecht. Schon auf dem Schiff hat er über »das überzivilisierte und halbbar-

107. Gunnar an Gustav Cassel, 29.10.1929 (ARAB 405/3.2.1:1). 108. S. Bok, Alva Myrdal, S. 85. 109. Alva an Elsa Gestad, 24.10.1929 (ARAB 405/1.1:9); Gunnar an Gustav Cassel, 29.10.1929; Gunnar an Gösta Bagge, 27.12.1929 (ARAB 405/3.2.1:1); S. Bok, Alva Myrdal, S. 90f. 110. Alva an Elsa Gestad, 1.2.1930 (ARAB 405/1.1:9 [Hervorh. im Orig.]). Vgl. auch S. Bok, Alva Myrdal, S. 94. 111. Alva an Elsa Gestad, 20.11.1929 (ARAB 405/1.1:9 [Hervorh. im Orig.]).

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barische Land hinter dem Atlantik« gelästert.112 Dann werden sie am ersten Tag durch zwei gewaltige Büromaschinen geschleust, in denen man ihnen freundlich und effektiv Rat gibt, was sie studieren können. Gunnar verweigert sich; Alva, weniger eigensinnig, sei anpassungsfähiger gewesen, teilt er in einem seiner langen Reiseberichte mit.113 Zu amerikanischen Studierenden muß man reden wie zu Kindern, Politiker sind korrupt, Intellektuelle ungemein zuvorkommend und manchmal, eher selten, intelligent, fast immer sind sie geschickte Spezialisten. Der europäische Sinn für Ironie fehlt ihnen vollkommen, alles wird blutig ernst genommen.114 Er vermißt das »Salz«: »Das ganze Milieu ist mir so fremd und im Innersten verhaßt. Eine mechanische Massenmenschlichkeit ohne religiösen Sinn (womit ich nicht Religionen meine, denn von denen hat man hier reichlich). Das Leben ist so nach Außen gewandt, es gibt so wenig Platz für Intimität. Die Menschen sind so machtlos. Alles Streben ist so machtlos vor der riesengroßen Maschine, deren Treibkraft business heißt. Kein ehrbarer Mensch widmet sich z.B. der Politik […]. Die Prosperitymaschine läuft mit voller Kraft, die Universitäten werden ausgebaut, die Forschung gigantisch organisiert, die Meisterwerke der Literatur und Kunst demokratisch nutzbar gemacht und verbreitet – aber das Resultat kann nichts anderes werden als zivilisierte Barbarei: Babbit. Ich habe niemals ein so starkes Empfi nden für das alte Bibelwort über den Menschen, der die ganze Welt gewinnt, aber an seiner unsterblichen Seele Schaden nimmt, gehabt.«115 Das sind Dünkel, die nicht einmal die wesentlich ältere Ehefrau Gustav Cassels teilt.116 Auch Gunnars Bild dominieren sie nicht. Eher sind er und seine Frau von der schieren Dynamik der Gesellschaft überwältigt, von einem offenen und anregenden intellektuellen Klima, das für sie vollkommen neu ist,117 und von dieser merkwürdigen Spannung zwischen Maschine und Geist: »Das [die »Library of Congress«] ist etwas zwischen einer wissenschaftlichen Fabrik und einem Gedicht«, die beste Bibliothek der Welt, mit wunderbaren Arbeitsbedingungen.118 Sie leben mit weit geöff neten Augen und Ohren, um soviel als möglich mitzubekommen,119 sie besuchen

112. Gunnar an Gustav Cassel, 20.7.1929 (KB Ep.C1a/1.17). 113. Gunnar an Gustav Cassel, 29.10.1929 (ARAB 405/3.2.1:1). 114. Gunnar an Gustav Cassel, 18.1.1930 (ARAB 405/3.2.1:3). 115. Gunnar an Gustav Cassel, 18.1.1930 (ARAB 405/3.2.1:3). 116. Johanna Cassel an Alva Myrdal, 8.12.1929 (ARAB 405/3.2.1:1). Die Cassels waren in den 1920er Jahren in den USA gewesen. 117. S. Bok, Alva Myrdal, S. 85. 118. Gunnar an Gustav Cassel, 18.1.1930 (ARAB 405/3.2.1:3). 119. Ebd.

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unzählige Institutionen in den USA und haben zahllose »appointments«.120 Gunnar nähert sich in ersten Überlegungen der Soziologie an121 und sitzt »wie in Trance« am letzten Kapitel seines Buches (»Vetenskap och politik i nationalekonomien«). Alva leistet für 14 Tage den »weiblichen Beitrag« zum Manuskript. Das Buch ist viel gewichtiger geworden als geplant, es imponiert ihr.122 Nun scheinen sie doch zu verschmelzen, wie ursprünglich erträumt: »Ein Ökonom + ein Sozialpsychologe, vereint in Ehe und Schriftstellerei[,] machen natürlich zusammen leicht einen Soziologen aus. Wir werden also nächstes Mal, wenn wir Zugang zu billiger Arbeitskraft haben, eine große Sozialgeschichte Schwedens während der Industrialisierung machen, auf der Basis des statistischen Migrationsmaterials. Genauso interessant wie Middletown und doppelt so zuverlässig.« 123 Das sind große Worte, wenn man bedenkt, daß ihre eigene Existenz noch nicht gesichert war 124 – und daß »Middletown« schon damals zu den Klassikern der Soziologie zählte. Überraschender sind die Zukunftspläne, die Gunnar referiert. Alva wolle nach der Rückkehr in Schweden nicht Professorin werden, Verantwortung und schlechtes Gewissen seien zu groß. Sie werde aber zahlreiche wissenschaftliche und praktische Vorhaben durchführen; beide würden sie viele Kinder bekommen und eng kooperieren.125 Die Briefe senden das Bild einer enthusiastischen intellektuellen Gemeinschaft nach Hause und deuten Möglichkeiten für Alvas Lebensweg an, die sie ein Jahr zuvor in ihren Briefen und dem Tagebuch nicht einmal ansatzweise formuliert hat. Etwas nüchterner sehen die Briefe der beiden untereinander aus, denn auch in den USA gehen sie mehrfach getrennter Wege. Gunnar beginnt sofort zu klagen, daß er sich in einem luftleeren Raum befinde, sich einsam fühle, alles so langsam vorangehe. Nur als er sich ein Oldsmobile kauft, vergißt er kurzfristig, wie sehr er sich nach ihr sehnt – das teilt er ihr in einem seiner knappen Briefe gleich mit.126 Alva bedauert ihn, bescheidet ihn aber zu warten.127 Auch ihre Briefe sind kurz, und geschäftsmäßig. Liebesbriefe werden auf später verschoben, Liebes-

120. Gunnar an Gösta Bagge, 7.4.1930 (ARAB 405/3.2.1:2). 121. Gunnar an Gösta Bagge, 3.2.1930 (ARAB 405/3.2.1:2). 122. Alva an Else-Merete und Alf Ross, 20.12.1929 (ARAB 405/3.1.2:4). 123. Ebd. 124. Alva an Elsa Gestad, 1.2.1930 (ARAB 405/1.1:9); Gunnar an Gösta Bagge, 8.2.1930 (ARAB 405/3.2.1:2). 125. Gunnar an Gösta Bagge, 8.2.1930 (ARAB 405/3.2.1:2). 126. Gunnar an Alva, 13.12.1929; o.D. [Poststempel 14.12.1929] (ARAB 405/3.3:21); 1.4.1930 (ARAB 405/3.3:22). 127. Alva an Gunnar, 10.3.1930 (ARAB 405/3.3:22).

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schwüre klingen verhaltener.128 Sie fragt sich zwar, ob sie nicht von ihren Ambitionen (ambitionsförföljelsen) ablassen und wenigstens zeitweise eine gute »wife« mit mehr Zeit für sie beide werden solle129 – aber offenbar macht ihr die Arbeit zu viel Spaß, um damit ernst zu machen. Ihr beider gehetztes Leben taucht als neues Thema in den Briefen auf, und der Appell, zurückzustecken.130 Er verhallt bei beiden ungehört. Das passive Verhalten der Amerikaner gegenüber der Great Depression irritiert Alva und Gunnar. Ihr bleibt unverständlich, daß die Amerikaner selbst in der Krise nicht zusammenfinden, um ihre Interessen in Gesetzgebung zu überführen. Er sieht seine kurz zuvor entwickelte Kritik am laissez faire auf brutale Weise bestätigt. Für beide wirft die Depression ein neues Licht auf Schweden, auf die zahlreichen staatlichen Institutionen, die derartige Krisen aufzufangen erlauben. Weder die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges, die die Menschen auch in Schweden hart getroffen haben, noch der Kampf der Frauenrechtlerinnen haben bei beiden das bewirkt, wofür die Wahrnehmung der dramatischen sozialen Ungleichheit in den USA sorgt: für eine nachhaltige Politisierung. Sie beginnen, den Begriff »radikal« zu verwenden und »Tradition« als Bezeichnung für »Rückschritt« und »Fortschrittsfeindlichkeit« zu nutzen. Bei ihrer Rückkehr ist ihnen klar, daß sie ihr gemeinsames Projekt nicht mehr der reinen Wissenschaft widmen können. Ohnehin werden Alvas Promotionspläne durch einen engstirnigen schwedischen Professor zunichte gemacht, das ist ein bitterer Rückschlag.131

5. Die »Firma Myrdal« nimmt den Betr ieb auf Aus den USA nehmen sie Anregungen in drei soziologischen Feldern mit: William Ogburn hat ihnen die Familiensoziologie nahegebracht, durch Robert und Helen Lynd sind sie mit der Gemeindesoziologie und durch Dorothy und William Thomas mit der Soziologie des Kindes in Berührung gekommen.132 Die Thomas’, mit dem sie sich angefreundet haben, dienen ihnen außerdem als Rollenmodell, »a couple united in work as well as in everyday living – more cosmopolitan, more given to enjoying the finer things of life, and wittier than any they had known before.« Dorothy, die mit rascher Auffassungsgabe disziplinäre Grenzen kreuzt, ist beson128. Alva an Gunnar, div. Briefe, Frühjahr 1930 (ARAB 405/3.3:22). 129. Alva an Gunnar, o.D. [vermutlich März 1930] (ARAB 405/3.3:22). 130. Alva an Gunnar, 12.2.1930 (ARAB 405/3.3:22). 131. S. Bok, Alva Myrdal, S. 86-88, 95-98. 132. E. S. Lyon, Education for Modernity.

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ders für Alva inspirierend, die sich über ihren eigenen Weg noch nicht im Klaren ist.133 Zusammen mit der Politisierung ihres Denkens sind die wichtigen Elemente benannt, die die »Firma Myrdal« – so wird die Ehe der beiden künftig genannt werden – auszeichnen: eine intellektuelle Gemeinschaft, die hohe Produktivität, ein holistischer Ansatz und die dezidierte reformpolitische Orientierung ihrer soziologischen Arbeit. Gunnars Wechsel als Gastprofessor nach Genf verspricht zunächst einen genauso anregenden Aufenthalt wie in den USA. 1930 beziehen sie eine Villa am Ufer des Genfer Sees, die Alva wie ein Paradies erscheint, mit Warm- und Kaltwasser in allen Schlafräumen, neu eingerichtetem Bad und zwei Toiletten, Speiseesaal mit langem Tisch und zwölf Gedecken, Salon, Raucherzimmer, Renaissancemöbeln, Alabasterlampen und einem wunderbaren Garten.134 Gunnar tritt seine Stelle am Institut für Internationale Studien an, Alva beginnt bei Jean Piaget zu studieren. Kurz nach der Ankunft in Genf erleidet sie jedoch eine zweite Fehlgeburt, muß operiert werden und dann auf Grund einer Fehlbehandlung den Winter über das Bett hüten. Dem Ansinnen der Ärzte, ihre Gebärmutter zu entfernen, verweigert sie sich. Sie geht ein hohes Risiko ein, um weitere Kinder bekommen zu können.135 Zahlreiche Gäste wollen in der Villa bewirtet werden; sie tut, wie so oft in ihrem Leben, alles, damit niemand etwas von dieser unansehnlichen privaten Seite ihres Lebens, der Krankheit, mitbekommt.136 Im Januar darf sie allmählich wieder aufstehen und triff t Piaget mehrmals zum Mittagessen.137 Gunnar zieht es zurück nach Stockholm, weil dort nun die Sozialwissenschaften etabliert werden, 138 Alva ebenfalls, weil sie endlich ein richtiges Heim haben will.139 Vor ihrer Rückkehr im Sommer 1931 suchen sie eine Wohnung. Jetzt sind sie verwöhnt. Ist der Treppenaufgang schön? Wird der Blick auf das Wasser durch Schuppen verstellt? Gibt es einen separaten Kücheneingang, 133. S. Bok, Alva Myrdal, S. 91f. (Zitat S. 92). 134. So beschreibt Alva die Villa, o.D. [1930] (ARAB 405/1.1:9). 135. S. Bok, Alva Myrdal, S. 99-101. 136. Alva an Elsa Gestad, 1.1.1931 (ARAB 405/1.1:9). Ähnlich zuvor Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 29.12.1927] (ARAB 405/3.3:21). 137. A. Myrdal, Auszüge aus Terminkalender und Kassenbuch für das Jahr 1931 (ARAB 405/1.1:9). Die Auszüge hat Alva später für ihre geplante Autobiographie angefertigt. 138. Gunnar an Gösta Bagge, 14.1.1931 (ARAB 405/3.2.1:2). Als regelrechtes Fach wird die Soziologie in Schweden allerdings erst nach dem Kriege etabliert: A. Larsson, Det moderna samhällets vetenskap. 139. Alva an Elsa Gestad, 10.2.1931. Dieser Wunsch ist schon älter: Alva an Elsa Gestad, 1.2.1930 (ARAB 405/1.1:9).

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Klingelleitung in der Wohnung und ein Zimmer für das Hausmädchen? Auch einen Eisschrank wünschen sie, er muß aber nicht elektrisch sein.140 Sie ziehen dann an den Kungsholmsstrand, mondän eingerichtet, direkt am Wasser (allerdings auf der Nordseite des Stadtteils Kungsholmen).141 Sie treten in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein und beginnen ihr Leben als radikale Gesellschaftsreformer. Gunnar, noch nicht als Nachfolger Cassels berufen, pflegt das Bild eines enfant terrible, wie Alva voller Stolz schreibt. Er will als Sachverständiger in das Finanzministerium einrücken, um den Staatshaushalt auf eine revolutionär neue Grundlage zu stellen; er will eine Zeitschrift gründen, »being a platform for young radical people who want to be free to criticise anything – they don’t care about their careers – but who are not going to be just intellectuals making a show, but keeping together as a group because they want to be constructive. They are all experts in different fields and all enjoying prestige in their fields, but they are at the same time all friends and probably the most outspoken group in this country […]. I simply love these people. Especially our architect friends. […] And the friendship and close collaboration with architects is not incidental. They form in Sweden the avant-garde of constructive social radicalism and are very far from sterile aesthetics.« 142 Das ist die Blaupause des neuen Selbstentwurfs, auch wenn Alva ihn zunächst nur für Gunnar, nicht für sich reserviert: jung, furchtlos, konstruktiv, grenzüberschreitend, anerkannt professionell. Und so treten sie auch in den Medien auf. Bis 1930 finden sie in den Zeitungen nur selten Aufmerksamkeit. Gunnars Disputation wird erwähnt, in der er die Querverweise und Wiederholungen seiner Dissertation als »amerikanische Art« verteidigt, um Lesern, die nicht das ganze Buch läsen, die Lektüre zu erleichtern.143 Danach das Referat einiger Vorträge und Notizen über den Ruf nach Genf. Im Herbst 1931 beginnt das öffentliche Leben. Gunnar reist durch das Land und hält zahlreiche Vorträge über Finanzpolitik, Planwirtschaft (planhushållning) oder die Sozialisierung des Wohnbaus, die die Zeitungen referieren.144 Eine bürgerliche Zeitung beginnt bereits von der »Diktatur Myrdal« zu sprechen und Gunnars Pläne mit Mussolinis Politik zu vergleichen;145 gleichzeitig widmet ihm ein anderes konservatives Blatt das »Portrait der Woche«, als »coming man«. Er gehöre zu den »Jungen«, die die »neue Sachlichkeit« im Blut hätten, sei nie 140. Alva an (vermutlich) Gunnars Vater, 4.6.1931 (ARAB 405/1.1:9). 141. Alva an Eve und Arthur Burns, 10.12.1932 (ARAB 405/3.1.2:1). 142. Ebd. 143. Nya Dagligt Allehanda, 11.4.1927. 144. Div. Artikel Winter 1931 bis Frühjahr 1932 (ARAB 405/5.1.1:4). 145. Dagens Nyheter, 17.11.1931.

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langweilig und so beschäftigt, daß die Zeitung dreimal um einen Termin habe nachsuchen müssen. Dann findet er eine Stunde Zeit, sitzt bequem in einem funktionalistischen Stuhl in seiner vollkommen funktionalistischen Wohnung, zündet sich eine Bridge an und berichtet über seinen Lebensweg und seine Ansichten. Spezielle Hobbies lehnt er ab – es sei ja alles interessant. Aber die Zeitung weiß zu berichten, daß er Laute spielt, Bellman-Weisen singt, schnelle Autos liebt und mit seinem Sohn Enten füttert. Es passe wohl nicht zur »neuen Sachlichkeit«, das als Hobbies zu bezeichnen.146 Kurz zuvor war das erste Pressephoto von ihm und Alva veröffentlicht worden, es zeigt sie in ihrem Wohnzimmer, einem »wirklichen Funkismilieu« (Abb. 1).147 Alva taucht 1933 in den Zeitungen auf; sie macht in zahlreichen Vorträgen Propaganda für eine vernünftige Erziehung von Eltern und Kinder. Ihre zugespitzte Kritik wird getreulich referiert – selbst die »Negermammas« in den New Yorker Slums seien interessierter an Kinderpsychologie als schwedische Mütter – und noch einmal überspitzt: »Schwarze Mama im Slum liest Kinderpsychologie.«148 Alva und Gunnar werden auf Photographien sichtbar, auch wenn es zunächst nur einige wenige Standardportraits sind, die immer wieder verwendet werden, vor allem stark stilisierte Studioaufnahmen (Abb. 2-4). So ganz passen diese Bilder nicht zu den beiden, sie verweisen auf weichgezeichnete Schauspieler eher elegischer Rollen, während »amerikanisch« und sogar »hard boiled« (hårdkokt) die Signa sind, die ihnen anhaften werden. Durch die Texte gewinnen sie zusätzlich Kontur, Gunnar, der als charmanter, eloquenter, direkter, offenherziger, scharfsinniger Professor eines neuen Typs beschrieben wird, Alva, deren Umrisse noch unscharf sind: Einerseits die »Frau Professorin« (professorskan), andererseits die in Amerika ausgebildete Expertin, und, ebenso wie Gunnar, durch ihre Wohnung charakterisiert: »In einem modernen, schönen Raum mit gelben Wänden und ›Svenskt Tenn‹-Möbeln empfängt Frau Myrdal den Korrespondenten der Morgenzeitung und berichtet über ihre Kurse und die ihnen zugrundeliegenden Ideen.«149 Das vorteilhafte Aussehen, der »moderne« Habitus, der mondäne Wohnraum, das sind fortan die Begleiter aller ihrer inhaltlichen Aussagen. Alva und Gunnar Myrdal sprechen nicht einfach, sie sind als Alva und Gunnar Myrdal präsent, als, so würde man heute sagen, spezifische Medienprodukte (Abb. 5, 6, 8, 9).

146. Nya Dagligt Allehanda, Söndagsbilaga, 29.11.1931. 147. Idun, 8.11.1931. 148. So die Überschrift in der Morgontidningen, 2.11.1933. Vgl. div. weitere Artikel, 1933 (ARAB 405/5.1.1:1, 5.1.1:5). 149. Morgontidningen, 24.1.1933.

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Gunnar macht zielstrebig Karriere. Im November 1933 tritt er die Nachfolge Cassels an und rückt in das staatliche Komiteesystem ein, das eine so wichtige Grundlage für sozialpolitische Ambitionen in Schweden bildet. Für Alva ist die Situation nach wie vor unklar. Sie ist durch die Krankheit geschwächt, müde, von Ehemann wie Sohn gefordert, und von einer Karriere kann weiterhin keine Rede sein. Sie hat in den letzten vier Jahren mehr erlebt, als sie es sich in ihrem Tagebuch ausmalen konnte. Sie setzt ihre Studien fort und wird für zwei Jahre Assistentin in der Rechtspsychiatrischen Klinik im Stockholmer Zentralgefängnis. Im Herbst 1931 startet sie ihren ersten Kurs zur Elternerziehung ( föräldrafostran) und entdeckt, daß sie trotz ihrer Schüchternheit gerne vor Menschen redet.150 Gunnars Lauf bahn ist institutionell und gesellschaftlich vorgezeichnet, eine hohe Position wird der nächsten folgen. Von Alva sind zwei eigene Zukunftsentwürfe erhalten: Die erwähnte Familienplanung vom Juni 1923 und ein projektierter Lebenslauf in Form einer Publikationsliste, die 1950 mit einem Werk zur Sozialpolitik abschließt.151 Tatsächlich bieten sich ihr zahlreiche Gelegenheiten, wo immer sie mit Gunnar wohnt. »She improvised and wove her life together, always making of it something greater and more alive than she or anyone else could have worked out in advance. But the whole time she contuinued to ask herself: How do I become myself? What should I do to guide my life better?«152 Früher idealisierte sie, trotz aller Reibereien, ihre Beziehung mit Gunnar als über den Alltagsproblemen stehend. Allmählich wird ihr nun bewußt, daß sie bestimmte Bedingungen mit anderen Frauen teilt, die sie daran hindern, Berufstätigkeit, Mutterschaft und Ehe zufriedenstellend zu vereinen. Dieses Rollenmodell ist neu, Alva eine Pionierin. Und so eröffnet ihr neues Lebensthema, die Kindererziehung, unversehens ein weiteres Aufgabenfeld, die Frauenfrage.153 Ein Jahr zuvor wäre das noch undenkbar gewesen: »Ich bin so glücklich, daß ich an die Decke springen kann. Wunderbar für die Beifrau [bihangskvinna] des schicken Myrdal, ein kleinwenig Eigenes zu sein. Interviews, Pressephotographen, Bösewichter warten mir auf. Und ich bin so süß in meinem blauen Kleid. Und ich bin so wild darauf, über Frauenfragen zu reden.«154

150. S. Bok, Alva Myrdal, S. 104. 151. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 160. 152. S. Bok, Alva Myrdal, S. 109. 153. Ebd., S. 112f. 154. Alva an Gunnar, 24.4.1933 (ARAB 405/3.3:22).

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IV Das Projekt Moderne

1. 1930 : Die »Stockholmausstellung« 1930 eröffnet König Gustav V. eine Ausstellung, die in die schwedische Geschichte eingehen wird, als »Durchbruch« des Funktionalismus und der architektonischen Moderne. Die Ausstellung hat ihre Vorbilder: Die Weltausstellungen seit 1851, größere Ausstellungen in Stockholm, auf denen Ingenieure, Architekten und Künstler ihre Leistung präsentierten und neue Trends in der Architektur vorzeichneten,1 jährliche Bau- und Wohnausstellungen in Stockholm (»Bygge och bo«),2 und dann die mehr oder weniger bekannten Ausstellungen des Neuen Wohnens in Paris (1925), Stuttgart (1927), Bergen (1928), Frankfurt, Turku, Kopenhagen oder Åbo (1929). In Schweden übertriff t die »Stockholmausstellung« alle Erwartungen.3 Von Mai bis September kommen (bei sechs Millionen Einwohnern) vier Millionen Besucher aus dem Inland, Mehrfachbesuche von Stockholmern eingerechnet, und etwa 25.000 ausländische Gäste. Zum Eröffnungs- und letzten Ausstellungstag werden jeweils 80.000, am letzten Sonntag vor Schließung 104.000 Besucher gezählt. Eine bessere Resonanz für ihre Propaganda hätten sich die Initiatoren der Ausstellung nicht wünschen können – denn es ist eine Propagandaausstellung. Gregor Paulsson, als einer der einflußreichsten Kunsthistoriker Schwedens und Direktor des Kunsthandwerksverbandes (»Svenska slöjdföreningen«) die treibende Kraft hinter der Ausstellung, benennt im Hauptkatalog die Motive. Sie soll informieren, wie die Alltagsgegenstände der modernen Welt gestaltet werden, und welchen Anteil die künstlerischen Kräfte daran haben. Es muß 1. U. Sörenson, När tiden var ung. 2. J.-E. Hagberg, Tekniken i kvinnornas händer, S. 88. 3. Zur Ausstellung (mit zahlreichen Abbildungen) ausführlich: E. Rudberg, Stockholmsutställningen 1930 (engl. Übers. 1999); P. G. Råberg, Funktionalistiskt genombrott, S. 150-215.

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Die Romantik der Rationalität

deutlich werden, daß diese Dinge für jeden Einwohner Schwedens von Bedeutung sind; und hinter diesem Muß liegt der Gedanke, »daß die Produktion von Gebrauchsgegenständen dienen soll, nicht bloß der Schaff ung von Reichtum oder einer erneuerten und entwickelten Technik, sondern vor allem der Bildung einer hochwertigen Gesellschaft. Die Gesellschaft ist insofern dem Menschen ähnlich, als daß sie ein Zusammenspiel auf bauender und zerstörender Kräfte, interesse- und idealbildender Kräfte auf der einen Seite, von Trieben und Begehren auf der anderen Seite ist. Letztere müssen beherrscht werden und an Ersteren ausgerichtet werden. Je größer die Beherrschung – desto höher die geistige Reife und Kultur.« 4 Das klingt etwas missionarisch, trotzdem aber soll Feststimmung die Ausstellung prägen, nicht die kühle, »deutsche« Sachlichkeit. Sie ist nicht in strengem Weiß gehalten, sondern farbenfroh; durch eine elaborierte elektrische Beleuchtung erhält sie eine eigene, nächtliche Identität.5 Die Ausstellung ist auf einem schmalen Landstreifen am Wasser situiert, gegenüber dem Erholungsgebiet Djurgården. Man betritt sie durch den Haupteingang an der Schmalseite und wird über den Corso bis zum Hauptrestaurant geleitet. Rechter Hand liegt der Festplatz, linker Hand eine Reihe funktionalistischer Ausstellungspavillons, in denen Serienmöbel, teure Möbel, Keramik, Metalle, Beleuchtung, Glas, Tapeten, Gewächse, Textilien, Bücher und Verkehrsmittel gezeigt werden, dazu kommt ein Planetarium. Längs des Wassers, vorbei an der Ausstellung »Svea Rike«, gelangt man zu den funktionalistischen Musterwohnungen und Musterhäusern führender schwedischer Architekten wie Sven Markelius, Kurt von Schmalensee, Uno Åhrén, Osvald Almqvist, Hakon Ahlberg, Sigurd Lewerentz und anderer. Ganz am Ende des Terrains befi ndet sich der Vergnügungspark mit Tanzbahn, Karussell, Konditorei, Bergbahn, Varieté und Zaubervorstellung. Auf dem gesamten Gelände sind die Kioske zahlreicher Firmen verteilt, eine Milchbar, ein »Konsum«Geschäft und als eines der markantesten Bauwerke der Radiomast, eine grazile Eisenkonstruktion mit beleuchteten Reklametexten in moderner Typographie. Die gesamte Ausstellung inszeniert Leichtigkeit. Besonders deutlich wird das auf einer Reihe von Aquarellen und Gouachen, die für die Planung der Ausstellung angefertigt wurden. Schlanke Gestalten bewegen sich auf einem luftdurchwehten Platz, dahinter die klaren Linien der funktionalistischen Bauten; rechts Wasser und hohe Lichtmasten, in der Mitte der fi ligrane Radiomast, oben blauer Himmel, links das freischwebende

4. Stockholmsutställningen 1930, Huvudkatalog, S. 35 (Hervorh. im Orig.). 5. E. Rudberg, Stockholmsutställningen 1930, S. 85-93.

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IV Das Projekt Moderne

Dach des Musikpavillons6 (Abb. 37). Anmut, Leichtigkeit, Klarheit, Großzügigkeit und Farbenfreude – so sollte die Ausstellung aussehen, so sollte die moderne Gesellschaft werden. Diese modernistische Botschaft ist für die Besucher nicht zu übersehen. Der gebaute Raum visualisiert nicht nur die Moderne, er soll sie die Menschen auf mehreren Ebenen erfahren lassen. Da ist der Konsum, der »modernes« Konsumieren demonstriert: ein kooperativ geführtes Unternehmen, das standardisierte Qualitätswaren zu einheitlichen Preisen anbietet, präsentiert in hygienischen, funktionalen, transparenten Tresen. Oder die Milchbar, in der Milchprodukte als Teil der »modernen« Ernährung angeboten werden. Oder der Nachrichtenmast, der drahtlos in die Welt funkt und durch die applizierte Reklame in betont moderner Typographie Zeichen des Konsumzeitalters ist. Oder die Musterhäuser, einer der wichtigsten Abschnitte der Ausstellung.7 Sie sind begehbar und führen hochwertigen Wohnraum für jede Bevölkerungsgruppe vor. Für die Mietwohnungen werden 15 »Bedarfstypen« unterschieden, vom single mit einem geringen Einkommen bis hin zum Sechs-Personen-Haushalt samt Dienstpersonal; die Spannbreite der Wohnungsgröße reicht von 29 bis 111 m2, die kleinste Wohnung weist eine Schlafecke auf, die größte Platz für einen Flügel. Dazu kommen exemplarische Einfamilienhäuser, so daß, im Unterschied zur zeitgleichen Diskussion auf dem Kontinent, nicht nur die »Wohnung für das Existenzminimum« propagiert, sondern auf die gesamte Bevölkerung ausgegriffen wird. Die Idee ist allerdings dieselbe, daß nämlich »jedem Menschen ›seine Ration Wohnung‹ zugeteilt werden muß«.8 Eine Schulausstellung zeigt neue Möbel für die Klassenzimmer. »Die groben und massiven Holzbänke sind hier ersetzt durch schlanke und elegante Schulbänke aus Stahlrohr, mit Sitz, Rückenlehne und Tischplatte aus heller Birke. Das Ganze wirkt luftig und hell und läßt keinen Platz für ›Staubfänger‹.«9 Die Möbel sind freistehend und lassen sich daher an die Körpergröße der Schüler und an unterschiedliche Unterrichtsformen anpassen.10 Eine Krankenhausabteilung präsentiert Räume geringer Tiefe, deren Fenster Luft und Sonne bis in die letzten Winkel gelangen lassen; alle Patienten haben Zugang zu einer Terrasse.11 Und die Kunstindustrieausstellung (d.i. Industriedesign) thematisiert das »Heim«, das 6. Dessen Dach mußte allerdings durch schlanke Säulen gestützt werden,

um schweben zu können; vgl. die Abb. in ebd., S. 129. 7. E. Rudberg, Stockholmsutställningen 1930, S. 141-153, 162-175. 8. Internationale Kongresse für Neues Bauen/Städtisches Hochbauamt in Frankfurt am Main, Die Wohnung für das Existenzminimum, S. 8. 9. Stockholmsutställningen 1930, Skolutställningen, S. 2. 10. Stockholmsutställningen 1930, Huvudkatalog, S. 190-192. 11. Ebd., S. 193-195.

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durch die Moderne zugleich an Bedeutung verliert und gewinnt. Ein Teil seiner früheren Aufgaben ist ausgelagert, auf Bäckereien, Restaurants oder Wäschereien. Doch »sozusagen als Gegengewicht gegen das aufreibende Erwerbs- und Vergnügungsleben der Gegenwart und den rücksichtslosen Kampf um das Dasein macht sich ein immer stärkeres Bedürfnis nach etwas geltend, das Ruhe und Sammlung bietet, ein Platz, wo die im tieferen Sinne guten und lebensbejahenden Kräfte gedeihen können. Und hier hat das Heim eine Aufgabe zu erfüllen, die nicht bloß eine Funktion ist, sondern eine Mission. Der Teil des Heims, der unseren materiellen Bedürfnissen dient, ist geschrumpft, standardisiert, unpersönlicher geworden. So viel mehr Raum konnte für die geistigen und persönlichen Bedürfnisse frei gemacht werden.« 12 Das Industriedesign muß die gesamte Lebenswelt durchformen, für alle Lebensbereiche sollen zweckmäßige Gegenstände zu Verfügung stehen, um die Auswüchse der kapitalistischen Moderne bekämpfen zu können, also die schlechte Qualität, die Vergeudung von Ressourcen, die unübersichtliche Vielfalt.13 Das Design der Ausstellung, die Kataloge, die Faltblätter für unterschiedliche Besuchergruppen, selbst die Anweisungen für das Wachpersonal sind typographisch sorgfältig gestaltet.14 Das »Logo« der Ausstellung ist ein stilisiertes Flügelpaar, das den Auf bruch in Architektur und Formgebung symbolisiert – als Vorbild diente eine altägyptische Gottheit.15 Viele Besucher sehen darin allerdings ein Rasiermesser, aber auch das ist nicht verkehrt: Scharf schneidet es das Alte und Verwelkte weg und gibt Raum für etwas Neues und Frisches. So vieldeutig ist auch die Ausstellung.16 Sie präsentiert nicht ausschließlich die modernistische Botschaft. Im Planetarium etwa wird modernste Technik gefeiert, mit präzisen Zeiss-Geräten wird der Sternenhimmel von 10.000 vor bis 14.000 nach Christi Geburt dargestellt, eine souveräne, ungehinderte Reise durch Zeit und Raum.17 Es gibt eine Kunstausstellung, sie führt mit sauber ordnenden Kategorien in die moderne Kunst ein: Kubismus, Post-Kubismus, Purismus, Konstruk-

12. Stockholmsutställningen 1930, Hemmet. Konstindustrien, S. 4. 13. Das ist bereits 1899 in einem Klassiker der Geschmackserziehung formuliert worden: E. Key, Skönhet för alla; vgl. auch G. Paulsson, Vackrare vardagsvara (diese beiden Schlüsseltexte liegen nunmehr in einer englischen Übersetzung vor). 14. Vgl. die Broschüren in der Königlichen Bibliothek (KB OKAT, Utställningar i Sverige). 15. E. Rudberg, Stockholmsutställningen 1930, S. 79. 16. Dazu auch C. Küster-Schneider, Schaufenster Zukunft. 17. N. V. E. Nordenmark, Zeiss’ planetarium och stellarium.

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tivismus, Neo-Plastizismus, Surrealismus.18 Die strenge Architektur der Ausstellungsbauten kontrastiert mit einer sorglosen Unregelmäßigkeit der Anpflanzungen; auf den »Weltverbesserungseifer« antworten Geschäfte, Restaurants und allerlei Festlichkeiten.19 Sigfrid Siwertz Schauspiel »Det stora bygget« (»Der große Bau«) thematisiert nachdrücklich die Angst vor der Maschinenwelt, verheißt aber eine gute Zukunft: »Laßt uns uns ohne Furcht der Zukunft anvertrauen. / Niemals soll der Gesang des Rades die Weise unseres Herzens töten, / niemals kann die Zukunft uns kalt und fremd sein, / denn es ist doch aus unserem Herzen, daß sie gehoben wird ans / Licht des Tages.«20 Außerdem widersetzen sich die Besucher und sogar die Dinge ihrer modernistischen Vereinnahmung. Es gibt zahlreiche Probleme.21 Das gläserne Restaurant heizt sich auf 40°C auf, auch andere Gebäude erweisen sich als wenig alltagstauglich. Papierkörbe und Toiletten fehlen; offenbar wurde die Hygiene sauberer Oberflächen unbewußt als selbstgenerierend angesehen. Viele Besucher sind nicht in der Lage, »modern« zu sehen, also ihren Blick im Sinne der Initiatoren zu rekonfigurieren; den Radiomasten etwa kritisieren sie als wirres Spiel von Linien und Winkeln mit prahlerischen, vulgären Anzeigen. Dafür wünschen sie sich ganz konventionell eine Abteilung mit Luxuswaren.22 Die neuen Baumaterialien, vor allem die großen Glasflächen, die Transparenz und Luftigkeit verkörpern, scheinen die Besucher vor eine kognitive – und praktische – Herausforderung zu stellen, jedenfalls sind von 42 Unfällen auf der Ausstellung die weitaus meisten durch Glas verursacht.23 Ohnehin bevorzugen sie den Vergnügungspark; der soll zwar »den höchsten Ansprüchen an populäre Volksvergnügungen genügen«, abends badet er im Licht und das Publikum wird in die richtige Feststimmung versetzt.24 Doch einigen Initiatoren der Ausstellung ist diese »Schießbuden-Kultur« zuwider.25 Und wie soll man das Erinnerungsbuch Gylfe Svedlunds deuten? 74 Abbildungen zeigen die 18. Stockholmsutställningen 1930, Internationell utställning av post-kubistisk konst, S. 10. 19. Stockholmsutställningen 1930, Hemmet. Konstindustrien, S. 23. 20. S. Siwertz, Det stora bygget, S. 45; ausführlich dazu C. Küster-Schneider, Schaufenster Zukunft, S. 108-125. 21. Hierzu Y. Habel, Modern Media, Modern Audiences, S. 35-46. 22. Das kritisiert N. S. Lundström, Det moderna hemmet på Stockholmsutställningen 1930, S. 78. 23. Y. Habel, Modern Media, Modern Audiences, S. 52. – Offenbar sind die Besucher in die Glasfl ächen gelaufen. 24. Stockholmsutställningen 1930, Huvudkatalog, S. 239. 25. Y. Habel, Modern Media, Modern Audiences, S. 35.

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Festessen unterschiedlicher Vereine, Verbände, Berufsgruppen und Standesorganisationen, die alle gleich aussehen: Reihen schwarz gekleideter Herren blicken in die Kamera, variiert ist nur die Aufstellung der Tische, mal gereiht, mal gezahnt.26 Spötter meinen später, daß die Stockholmausstellung vor allem ein Restaurantunternehmen war.27 Die Ausstellung wird in mehreren Katalogen und zahlreichen, reichhaltig illustrierten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln gedoppelt. Die Gegenstände sind abgebildet, die Musterwohnungen werden mit Grundrissen, Einrichtungslisten, den geschätzten Jahresmieten sowie den entsprechenden Einrichtungsfirmen präsentiert, Photographien überhöhen in den Ausstellungsberichten die ästhetische Wirkung der inszenierten Moderne. Außerdem geht das Publikum selbst in die Inszenierung ein, es erscheint – zumindest auf den Abbildungen – als lebendes Tableau sich selbst anordnender und bewegender Körper, das eine zukünftig verwirklichte Utopie bereits jetzt illustrierte und dadurch erst zu realisieren hilft. Aber ist diese Botschaft auch angekommen? Was die Besucher mitgenommen haben, bleibt im Dunkel. Wurde ihnen auf dem Weg zum Vergnügungspark genug Moderne beigebracht, hat sich der Funktionalismus wenigstens ins Bewußtsein eingeschlichen oder sind die Besucher immun geblieben? Die Initiatoren jedenfalls sind derart überzeugt von sich, daß sie die Kritik an der Ausstellung in extenso abdrucken, um sie der Nachwelt zu erhalten; die soll sich schon bald darüber amüsieren können.28 Tatsächlich aber ist die Ausstellung umstritten. Bertil Almkvist, der spitze Karikaturist des »Aftonbladet«, bringt die Kritik aller Traditionalisten auf den Punkt (Abb. 50). Und heftiger Einspruch kommt sogar aus dem eigenen Lager, von den Kunsthandwerkern des »Svenska Slöjdföreningen«, die eigentlich zur avant garde gehören. Ihnen geht die vermeintliche Dominanz industriegefertigter Waren zu weit (obwohl sie auf der Ausstellung eine der größten Leistungsschauen des älteren Kunsthandwerks gegen den reinen Funktionalismus haben setzen können).29 Von daher ist die Ausstellung kein messerscharfer Schnitt durch die Geschichte und auch nicht der Durchbruch des Funktionalismus.30 Aber sie wird fortan als Symbol dienen, eine einfach zu setzende Markierung, wenn es um die Haltung zur Moderne geht. Und mit der Ausstellung klingen eine Reihe Themen an, denen ich im Folgenden nachspüren werde.

26. G. Svedlund, Post Funkis, S. 44-80. 27. Ebd., S. 4. 28. Byggmästaren 9, 1930, utställningsnummer. 29. E. Rudberg, Stockholmsutställningen 1930, S. 187-201. 30. Dazu ausführlich P. G. Råberg, Funktionalistiskt genombrott.

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2. Kr ise und Aufbruch der 30er Jahre 1930 war durchaus kein Auf bruchsjahr. Schwedens Weg in die industrielle Moderne erwies sich als entbehrungsreich. Im 19. Jahrhundert galt das Land als »Armenhaus Europas«. Die Schwerindustrialisierung schlug erst in den 1880er Jahren durch und konnte die seit langem anhaltende Emigration in die USA nicht merklich reduzieren. Von den 1820er Jahren bis etwa 1930 verließen 1,2 Millionen Schweden das Land (200.000 kehrten zurück); 1910 wohnte jeder fünfte Schwede in den USA. Das Problem wurde als so bedrohlich für die Existenz der Nation empfunden, daß eine staatliche Untersuchungskommission in den Jahren 1907 bis 1913 die Ursachen der Emigration untersuchen sollte, um gesellschaftspolitische Lösungen entwickeln zu können (Emigrationsutredningen). Zwar wurde in der Folge der Sozialstaat gezielt ausgebaut, doch ein reiches Land wurde Schweden erst in den 1960er Jahren. 1905 löste sich Norwegen aus der Union mit seinem östlichen Nachbarn, das besiegelte den langen politischen Abstieg der einstigen Großmacht Schweden. Der Erste Weltkrieg verschärfte die sozialen Spannungen auf Grund der schlechten Versorgungslage, 1917 kam es zu Hungerdemonstrationen, die die Sorge vor einer Revolution aufkommen ließen. Im selben Jahr traten die Sozialdemokraten erstmals in die Regierung ein, sie bildeten mit den Liberalen eine Mehrheitsregierung, was als Durchbruch des Parlamentarismus gilt (zuvor benötigten die vom König ernannten Regierungen keine parlamentarische Basis). Die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts stärkte seit 1921 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) zusätzlich, die bereits 1920 erstmals den Regierungschef hatte stellen können. Die 20er Jahre waren allerdings durch wechselnde und kurzlebige Minderheitsregierungen geprägt, so daß, abgesehen von zwei wichtigen Schul- und Arbeitsmarktreformen, kaum größere politische Reformen gelingen konnten. Das Land war jedoch nicht unregierbar. Im Parlament suchten die Regierungschefs wechselnde Mehrheiten bzw. die Balance zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen Block zu halten, in den Ausschüssen tasteten sich die Parteien an Kompromisse heran. Die wirtschaftliche Lage zeichnete sich zunächst durch eine Nachkriegsdepression aus, in der die Arbeitslosigkeit auf über 25% stieg. Es folgte ab 1922 ein Aufschwung, der die materielle Situation vieler Menschen im Vergleich zu früher entspannte oder, für ganz wenige, geradezu eine Technisierung des Lebens bedeutete, indem ihre Haushalte elektrifiziert wurden, sie sich Autos, Radios und Telefon leisten konnten. Insoweit bedeuteten die 20er Jahre auch eine Umbruchszeit: Frauen durften wählen und sich wählen lassen (als erste weibliche Abgeordnete zog 1922 81

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Kerstin Hesselgren in den Reichstag), sie wurden zunehmend erwerbstätig, studierten und promovierten, kamen aber auch mit traditionalen Rollenbildern in Konflikt, denn nach wie vor war der Widerstand gegen diese Veränderungen heftig. Aber die soziale Mobilität nahm zu und alte Verhaltensmuster erodierten. Die 20er Jahre waren das letzte große Jahrzehnt des bürgerlichen Liberalismus in Schweden. 1930 erreichte die Weltwirtschaftskrise auch den Norden Europas. Die Arbeitslosigkeit stieg bis Januar 1933 auf 30%, wie in den 20er Jahren erschütterten schwere Arbeitskämpfe das Land. 1931 erschossen Militärs in Ådalen fünf Arbeiter, ein Ereignis, das bis heute nachwirkt.31 1932 kollabierte das Industriekonglomerat des Finanzmagnaten Ivar Kreuger; Kreuger beging Selbstmord und stürzte zahllose Landsleute in den Ruin. Die Landwirtschaft, die seit dem 19. Jahrhundert wie in anderen europäischen Ländern einen schmerzhaften Strukturwandel durchlief, wurde durch die Krise schwer getroffen. In dieser Situation gewannen die Sozialdemokraten unter Per Albin Hansson im Herbst 1932 die Reichstagswahl. Hansson bildete eine stabile Minderheitsregierung und ließ sich von der Bauernpartei tolerieren; die Sozialdemokraten sollten, abgesehen von einer dreimonatigen Phase im Sommer 1936, die Macht bis 1976 nicht mehr abgeben. Die Krisenpolitik der Arbeiterpartei zielte darauf, die Arbeitslosigkeit durch extensive, staatlich finanzierte Bereitschaftsarbeit zu bekämpfen, für die marktübliche Löhne gezahlt werden sollten. Auf diese Weise sollte die Kaufkraft gestärkt, die Wirtschaft angekurbelt und zugleich die Infrastruktur des Landes – vor allem im arbeitsintensiven Wohn- und Straßenbau – verbessert werden. Diese Politik bildete eine wichtige Grundlage für Sozialreformer wie Alva und Gunnar Myrdal; Gunnar Myrdal wiederum war als Mitglied der »Stockholmer Schule« daran beteiligt, diese Wirtschaftspolitik, die zu Unrecht allein John Maynard Keynes zugeschrieben wird, zu entwickeln. Ermöglicht wurde sie durch den »Kuhhandel« mit der Bauernpartei, die gegen Zugeständnisse an ihre Klientel das sozialdemokratische Krisenprogramm stützte. Es zeitigte letztlich nur begrenzte wirtschaftliche Auswirkungen – die Finanzpolitik und der internationale Aufschwung ab 1933/34 waren wichtiger –, doch es brach mit dem fatalistischen Glauben, wirtschaftliche Zyklen müßten sich selbst regulieren, und es schuf eine optimistische Grundstimmung. Die Kooperation (seit 1936 Koalition) mit der Bauernpartei war ungewöhnlich, weil eine sozialistische und eine konservative Partei erfolgreich zusammenarbeiteten, obwohl beider Klientel und Interessen ideologisch und inhaltlich weit auseinander lagen. Sie gehörten aber gemeinsam zu den Leidtragenden der Wirtschaftskrise. Die Kooperation brach die bür31. R. Johansson, Kampen om Historien.

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gerliche Front gegenüber der Sozialdemokratie auf, sie gab der Regierung erstmals eine breite parlamentarische Basis. Während zeitgleich die Demokratien auf dem Kontinent massiv an Vertrauen verloren hatten oder schon beseitigt waren, bewies Schweden, daß sowohl eine demokratische Regierung als auch Sozialdemokraten durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik die schwere Wirtschaftskrise bekämpfen konnten. Der Faschismus und andere autoritäre Modelle stellten deshalb für die schwedische Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Option dar. Statt dessen begann das, was bereits Mitte der 30er Jahre international als »schwedisches Modell« bewundert wurde, die Erfolgsgeschichte eines Systems, das auf sozialen Ausgleich und eine extensive Sozialpolitik setzte, um die Folgen der Wirtschaftskrise zu überwinden.32

3. Die Moderne zelebr ieren Zur Eröffnung der Stockholmausstellung wird eine Kantate aufgeführt, die einen fundamentalen Umbruch beschreibt: Einst lag ein stilles Schweden in der Welt, weit und menschenleer. Dann brach die Moderne brutal herein und trampelte rücksichtslos das Alte nieder. Doch schon bald wuchs ein neuerschaffenes Land heran, mit lebendigen Städten voller Stimmen und Gelächter, sonnig und luftig; Nachts strahlen ihre Lichter in die arktische Dunkelheit. Die schwedische Seele ist aus ihrem Schweigen befreit. Zerstörte Natur wird durch die Schönheit moderner Fabriken ersetzt, Flötenspiel mit dem Lärm der Maschinen versöhnt. Alles kann beseelt werden, und das Band zwischen Heute und Morgen wird besiegelt. Noch aber hat die neue Zeit ihre endgültige Form nicht gefunden.33 Die Kantate beschreibt die Suchbewegung Schwedens hinein in die Moderne. Sie thematisiert Verluste, gibt sich insgesamt aber optimistisch. Sie ist in einer Zeit entstanden, als sich, trotz der wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen, die Moderne über das ganze Reich ausbreitet, und diese Verwandlung des Landes nehmen die Schweden auf ganz unterschiedlichen Ebenen wahr. Der steigende Energiebedarf beispielsweise läßt den Staat große Wasserkraftwerke durch die Flüsse Norrlands spannen. Seit der Jahrhundertwende werden bei diesen Bauwerken nicht nur architek32. S. Hadenius/B. Molin/H. Wieslander, Sverige efter 1900, S. 11-127; M. Morell, Jordbruket i industrisamhället 1870-1945; L. Schön, En modern svensk ekonomisk historia, S. 209-358; L. Magnusson, Sveriges ekonomiska historia, S. 301-470. 33. Stockholmsutställningen 1930, Invigningsdagen 16 maj 1930, S. 5f.; Stockholmsutställningen 1930, Huvudkatalog, S. 36.

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tonisch avantgardistische Formen erprobt, sondern die Kraftwerke selbst stilisieren, wie beispielsweise in den USA, die Zukunft. Die gekachelten Maschinenhallen und die hellen Schaltzentralen evozieren das Bild, wie künftig die Gesellschaft gesteuert werden wird, durch wenige Techniker, in weiße Kittel gekleidet, die Schalter umlegen und Meßgeräte beobachten. Während draußen die Wassermassen toben, surren im Innern leise die in kühlem, glattem Metall verpackten Turbinen. Die Kantate besingt begeistert den Maschinenlärm der »schweren Moderne« – im Norden lärmt die Natur, während sich der Fortschritt durch eine gleichmäßig präzise Stille auszeichnet. Oder die Kooperativen (»Kooperativa Förbundet« [KF]), deren Architekturabteilung das Land mit funktionalistischen Silos, Fabriken und Geschäften überzieht. Besonders der »Konsum« wird zum Botschafter des funkis in fast jedem Ort Schwedens. Wer diese Läden betritt, der findet übersichtlich angeordnete Waren, glatte, hygienische Flächen, viel Glas, das jedem Blick freie Bahn gewährt, außerdem eine Waage, die das korrekt gemessene Gewicht, und die Registrierkasse, die den korrekten Preis garantiert.34 So inszeniert sich die Kooperative als dezidiert zukunftsorientierte Volksbewegung, die ihren Mitgliedern durch die simple Praxis des Einkaufs Schlichtheit, Sachlichkeit und Rationalität nahebringt. Vollgestopfte Läden, unhygienische Zustände, undurchsichtige Preise, ungenaues Wiegen, Betrug und Anschreiben sind nicht mehr möglich. Statt dessen leitet der Raum die Schritte und Blicke über kürzestmögliche Distanzen zur gewünschten Ware; der rasche Überblick, die gezielte Bestellung und die präzise Bedienung gehen ineinander über. Jeder Laden repräsentiert die Moderne en miniature, und jeder Einkauf macht die Moderne täglich aufs Neue zu einer sinnlichen Erfahrung. Aufwendige, ästhetisch anspruchsvolle Bildbände wiederum verdichten und überhöhen dieses Gefühl, indem sie an einem Ort konzentrieren, was der KF weit über das Land verstreut gebaut hat35 – eine virtuelle Reise durch das Reich (Abb. 38, 39). Auf der Stockholmausstellung gibt es eine weitere Sonderschau, sie heißt, betont an die Frühgeschichte anknüpfend, »Svea Rike« (»Svea-Reich«).36 Auch diese Ausstellung ist eine virtuelle Reise durch Schweden, »ein Bild 34. Detailliert und mit zahlreichen Abbildungen: L. Brunnström, Det svenska folkhemsbygget, S. 176-233. 35. Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1925-1935; Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1935-1949; A. Hedberg, Svenska hem i samverkan. 36. Schweden wird in drei Landschaften eingeteilt: Götaland im Süden, Svealand in der Mitte und Norrland im Norden. Svealand gilt als Wiege des schwedischen Reichs.

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unseres Landes und Volkes«.37 Der Begriff »Bild« ist dabei wörtlich zu nehmen, denn Zahlen und trockene Fakten werden gezielt übersetzt in statistische Bilder, eine riesige Reliefkarte Schwedens, Kartogramme, Dioramen, übergroße Photographien, Dia- und Filmbilder sowie ein bewegliches Statistikon. Farbe, bedienbare Apparaturen und ein spielerischer Tonfall werden bewußt eingesetzt, um Besucher anzuziehen. Die Botschaft der Ausstellung stammt von Ludvig Nordström, einem einflußreichen Autor und Journalisten. Durch Krieg, Wissenschaft und Industrialisierung, so schreibt er im aufwendig gestalteten Katalog, trat Schweden in den Kreis der Kulturnationen ein, »A-Europa«.38 Busse, Hochspannungsleitungen, Flugzeuge, Telefon, elektrifizierte Eisenbahnen und der Siegeszug der »weißen Kohle« (die Elektrizität) über die Sklaverei der »schwarzen Kohle«39 sind die sichtbaren Insignien dieser Bewegung. Stockholm ist straff organisiert, hübsch, reinlich, beherrscht und gediegen, etwas kühl, aber mit einer lächelnden Sonne am hohen Himmel; und Stockholm steht für das ganze Land. 40 Doch die Moderne fordert »ein intellektuell trainiertes und moralisch reifes Volk, das Svea Rikes wichtigstes Kapital zu werden beginnt. Die Schule wird der feste Grund der Fabrik Schweden. […] Gestützt durch dieses Volk, geschult, gebildet, wohlgenährt, gut gekleidet, organisiert, diszipliniert, frei, gesund und zielbewußt wird Svea Rike hinaus in die Welt gehen, um auf friedlichem Wege einen Platz an der Sonne zu erobern, und das geschieht, indem aus Schwedens Bergen, Wäldern, Boden und Wasserfällen höchste Qualitätswaren für den Weltmarkt geschaffen werden, Resultat sinnreicher Erfindungen, beruflichen Könnens und Arbeitsstolzes.«41 Je mehr dieser Produkte ihren Siegeszug um die Welt antreten, desto dichter wird Schweden mit den Zeichen des Erfolgs bedeckt, mit Fabriken, Städten, Villen, Eisenbahnen, Häfen und Kanälen. Aus dem Ausland holt sich Schweden die Kraft für den inneren Auf bau, durch seine wachsende Kraft wird es auf friedlichem Wege erneut eine Weltmacht werden. »Svea Rike« beschreibt die Geschichte einer zunehmenden Vernetzung des Landes durch Strom, Radio, Eisenbahn und Telefon. Die einzelnen Teile rücken für die Menschen zusammen, werden hör- und erfahrbar und bilden auf diese Weise ein Ganzes. Lange Zeit war es für viele Schweden durchaus nicht selbstverständlich, das Reich als nationale Einheit zu den37. Svea Rike, S. 4; vgl. ausführlicher zur Ausstellung: A. Alzén, Svea Rike. 38. Svea Rike, S. 8. Die Unterscheidung zwischen A- und B- wird im Folgenden eine wichtige Rolle spielen. 39. Ebd., S. 9. 40. Ebd. 41. Ebd., S. 7.

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ken. Deshalb begann der schwedische Tourismusverein (»Svenska turistföreningen«) Ende des 19. Jahrhunderts systematisch Photographien aus verschiedenen Landesteilen zu publizieren, um die Menschen zum Reisen zu bewegen. Ein Netz von Unterkünften wurde geknüpft, und als in den 1930er Jahren Freizeit und Einkommen steigen, erfahren immer mehr junge Menschen mit Rad und Zelt buchstäblich ihre Nation. Der moderne Tourist, der seine Freizeit auf eine »sinnvolle« Weise verbringen soll, wird zum Baumeister des inneren nation building. 42 Und wer nicht oder nur selten reisen kann, dem begegnet die Nation seit Jahrhundertbeginn in den unzähligen Mitteilungsblättern der zahllosen Vereine und Vereinigungen, in denen die Schweden organisiert sind, und natürlich in den Medien, Bildbänden, Filmen, Ausstellungen, der bebauten Landschaft – und in einem Klassiker wie »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen«. 43 In den 30er Jahren sind dann Nation und Moderne verschmolzen. Die Moderne wird als eine Kraft zelebriert, die das Land aus der bitterarmen Vergangenheit heraushebt und es zugleich als Nation zusammenschweißt. Die Moderne ist nicht einfach ein Zeitabschnitt, sie materialisiert sich nicht einfach in »modernen« Gegenständen, sondern sie ist eine Lebenshaltung, durch die Schweden sich selbst in einen neuen Zustand versetzt. Dieser Zustand verheißt für die nahe Zukunft eine saubere und gerechte Welt, die nicht mehr von den Folgen irrationaler Emotionen gebeutelt wird, also durch Krieg und ausbeuterisches Profitstreben, sondern durch Vernunft und Gemeinsinn geprägt ist. So wird die Moderne zum nationalen Projekt. Schweden imaginiert sich in den 1930er Jahren zwar – wie andere Nationen – auf eine geopolitisch konventionelle Weise, d.h. das Innere wird durch eine eineindeutige politische Grenze von einem Äußeren geschieden und die Umwelt zumeist undifferenziert, also faktisch gar nicht, das Innere dagegen detailliert kartographiert. Doch eigentlich soll – nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte, in denen das Land durch zahlreiche militärische Niederlagen erheblichen Raum und durch große wirtschaftliche Not unzählige Menschen hatte abgegeben müssen, als es also gleichsam zu zerfließen drohte – etwas anderes als die politische Grenze die Nation zusammenhalten. Die von Nordström propagierte Verflechtung Schwedens mit der Au-

42. L. Eskilsson, Svenska Turistföreningen från fjäll till friluftsliv; O. Löfgren, Learning to Be a Tourist; Ders., Längtan till landet annorlunda; Ders., Turism och resande. 43. L. Elenius, Selma Lagerlöf och Norrland; vgl. auch P. Fransson, Välkommen till hembygden!; C. Nordlund, Naturen och det nationella i det tidiga 1900-talets Sverigelitteratur; S. Sörlin, Framtidslandet, S. 49-114.

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ßenwelt soll nur in eine Richtung laufen, nach Außen: 44 Indem Schweden exportiert, wird im Innern ein riesiger Akkumulator in Gang gesetzt, der enorme materielle und ideelle Kräfte entfesselt und das Land innerhalb seiner Grenzen zu einem großen, klassenübergreifenden Projekt verbindet. Derart wird die Nation zur Gemeinschaft moderner Menschen mutieren. Doch dieses Projekt ist kein Selbstläufer. Die Moderne muß vielmehr gewissenhaft beobachtet werden, um verheerende Irrwege zu vermeiden. Und sie muß durch alltägliche Praktiken erlernt werden, um sie verwirklichen zu können. Nation und Moderne stellen nicht nur ein Territorium und eine Epoche dar, sondern eine moralische Qualität. 45

4. Die Moderne beobachten Zwei Beobachter der Moderne sind besonders einflußreich geworden, Ludvig Nordström und Fredrik Böök. Sie durchkreuzten Schweden in den 30er Jahren und beschrieben auf paradigmatische Weise das Land im Umbruch. Nordström publiziert 1938 den Klassiker »Lort-Sverige« (»DreckSchweden«). 46 Das Buch baut auf einer Radioreportage Nordströms auf. Es ist die erste große Sozialreportage im Radio; drei Studienzirkel werden organisiert und entwerfen Begleitmaterial. 47 Mit Auto und Aufzeichnungsgerät schlägt Nordström sich 1938 von Süden nach Norden durch und befragt 43 Bezirksärzte und 27 Pfarrer zu den Wohnbedingungen der Menschen. Die Reise faßt er so zusammen: »Schweden hat Schmutz innerhalb seiner Grenzen, zu viel Schmutz, als daß er ruhig toleriert werden könnte, und […] dieser Schmutz soll weg so schnell und so gründlich wie möglich, und das nicht nur um des nationalen Prestiges, sondern, was weit wichtiger ist, um der nationalen Effektivität Willen. Wir können es uns nicht leisten, so viel Schmutz in der nationalen Maschinerie zu haben.« 48 Nordströms Bild Schwedens besteht aus einer Reihe von Dichotomien. Einige sind konventionell, etwa Stadt und Land, Politik und Volk, Tradition und Moderne oder Tanzbahn und Selbstbildung. Die Dualität von Tradition und Moderne beschreibt er jedoch als Bewegung, die von der 44. 1924 übrigens war er davon ausgegangen, daß die Globalisierung das

alte Schweden erodieren werde: L. Nordström, Det okända Sverge [sic]. 45. Zu den Formen des schwedischen Nationalismus: P. Hall, Den svenskaste historien, bes. S. 180-269. 46. Zu Nordström: G. Qvarnström, Från Öbacka till Urbs; O. Fagerstedt/S. Sörlin, Framtidsvittnet. 47. K. Nordberg, Folkhemmets röst, S. 280-286. 48. L. Nordström, Lort-Sverige, S. 11 (Hervorh. im Orig.).

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Vergangenheit in die Zukunft verweist. Lort-Sverige besteht aus heruntergekommenen Hütten, in denen die Menschen zwischen Wanzen und unter löchrigen Dächern hausen müssen, ein Elend, das dieses Schweden auf eine Stufe mit dem Balkan oder dem vorderen Orient stellt. Dagegen blüht ganz langsam Villa-Sverige auf: ordentlich gebaute Einfamilienhäuser, mit Bad, Linoleumboden und guter Lüftung. Allerdings gilt das Hauptinteresse der Hausbesitzer noch zu stark der Fassade, es ist wichtiger, »sich fein zu zeigen als es zu sein«. 49 Dagegen zieht der Funktionalismus herauf, die vollkommene Reinheit von Form und Inhalt – hypermoderne, komfortable Pappkisten, die man wie löchrige Schuhe wegwerfen kann, weil sich Reparaturen am Haus so wenig lohnen wie die Besohlung eines billigen Schuhs.50 Dagegen allerdings stehen doch die soliden, schwedischen Holzhütten (småstugor), die für drei Generationen gebaut sind und sich reparieren lassen. Das ist etwas widersprüchlich und verschwommen, weil Nordström unterschiedliche Gewährsmänner sprechen läßt. Er selbst hält es eher mit der Wegwerf-Architektur, ein Arzt preist die småstugor, also das, was zum Lort-Sverige verfallen kann, wenn man es nicht pflegt. Aber die Gesamtbewegung ist eindeutig: Der schlechte, ungesunde Wohnraum dominiert im Land, der gute, hygienische muß ihn künftig verdrängen. Und im Wohnraum unterscheiden sich auch die beiden zentralen Protagonisten, die Schwedens Weg bestimmen wollen, der Pfarrer und der Bezirksarzt. Schon während der Reise verflucht Nordström seine Idee, sich bei Pfarrern zu Gesprächen angemeldet zu haben, denn sie seien allesamt Idioten.51 Aber sie lassen sich zu einer wunderbaren Gegenfigur stilisieren. Der Pfarrer ist von einer anderen Welt. Er lebt zwischen Grabsteinen, beschäftigt sich mit theologischen Lehrstreitigkeiten und der Restaurierung von Kirchen; er ist eine Stütze des Adels, in der modernen Gesellschaft aber isoliert – wie der Schloßherr, der Gutsherr oder der Professor. Sie alle sind der Bevölkerung entfremdet, sie wohnen in den Städten oder auf Schlössern, Relikten aus einer toten Zeit, mit hübschen, aber verlogenen Fassaden. Und so ist auch der Pfarrhof nicht mehr das Vorbild für die Menschen, sondern die Wohnung des Bezirksarztes. Diesen Typus zeichnen energisches Aussehen, energische Sprache, rasche und präzise Bewegungen, ein prüfender, aber freundlicher Blick und klare Ideen aus. »Er sah aus wie ein Poet voller 49. Ebd., S. 67 (Hervorh. im Orig.). 50. Ebd., S. 296-299. 51. So schrieb er an den Sender (K. Nordberg, Folkhemmets röst, S. 283). Als Ausnahmen erwähnt er freikirchliche oder Seemannspfarrer, die unter den Menschen lebten und deren Probleme teilten: L. Nordström, Lort-Sverige, S. 86, 272.

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Inspirationen, wie ein moderner, durchtrainierter Offi zier bei seiner Truppe vor einem entscheidenden Angriff, wie ein Sportsmann und wie ein Reformator und ein Revolutionär.«52 Sein Haus wird zur Norm, eine Kommandozentrale des Lebens, in dem er von Papierbergen umgeben sitzt, unaufhörlich läutet das Telefon, er gibt Anweisungen und beantwortet Fragen, während ruhige und ernste Menschen sich im Wartezimmer sammeln und weißgekleidete Krankenschwestern mit Berichten kommen und mit Anweisungen gehen. Der Arzt ist der geborene Führer, der nur noch Sachfragen gelten läßt. Die Pfarrer dagegen sabotieren jeden Fortschritt, weil die Knechte es nicht besser haben sollen als sie. Die Ärzte aber setzen sich durch, denn hier, so berichtet einer von ihnen, »gilt es nicht Probst und Tagelöhner, Herr und Knecht, wie der Probst auf seine gestrige Art meinte. Hier gilt es die Volksgesundheit, die Kraft der ganzen Nation. Was die Pfarrer nicht begreifen. Es gehört zur Geschichte, daß kurz danach [nachdem ein Probst die Ausrüstung einer Tagelöhnerwohnung mit einer Heizung zu verhindern suchte] der Pfarrhof abbrannte, und das erste, was der Probst verlangte, war eine Heizung.«53 Durch zahllose Geschichten baut Nordström die Problemlage auf, bis deutlich wird, daß der Zustand der Wohnungen das schwedische Volk durch Krankheit und Tod dezimiert. Seine Lösungsvorschläge sind, gemessen am Stand der damaligen Diskussion, nicht übermäßig radikal. Es müssen bessere Wohnungen gebaut werden, Zentralheizung, saubere Brunnen, Abwassersysteme und Generalplanung sind vonnöten, außerdem müssen die Frauen von der Erwerbstätigkeit befreit werden, damit sie sich dem Haushalt widmen können; der Haushalt muß rationalisiert werden, damit die Frauen kein Sklavendasein führen. Vor allem aber müssen die Menschen erzogen werden, denn sie sind noch nicht erwacht. Unverdrossen verteidigen sie ihre »Gute Stube«, diesen sinnlos ungenutzten Raum, der alle Architekten und Sozialreformer der 20er bis 40er Jahre bis aufs Blut reizt, und die Bedeutung von Hygiene haben sie nicht begriffen. Die Menschen müssen geführt werden, deshalb erziehen, leiten, lehren, züchtigen, ermahnen, ermuntern und belohnen die Bezirksärzte ihre Schützlinge. Der Arzt in Lappland ist gar ein Kolonialbeamter, »Vater, Vorsehung, Sprecher, Erzieher seiner Gegend«,54 denn den Samen (lapparna) muß selbst das Leben in Wohnungen noch beigebracht werden – notfalls mit Zwang. Am Geruch erkennen Nordström und die Ärzte schon beim Betreten einer Wohnung Fortschritt (Linoleum, Ölfarbe) oder Rückstand

52. L. Nordström, Lort-Sverige, S. 23. 53. Ebd., S. 20. 54. Ebd., S. 386.

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(Schimmel, menschliche Ausdünstungen), und wie die schlechten Wohnungen, so muß auch Lort-Sverige ausgelüftet werden. Das große Reinigungsprogramm gilt jedoch auch dem Volk. Mehrere Entwicklungen laufen für Nordström aus dem Ruder. Durch den Sozialstaat geht es den Menschen immer besser, die Kinder von Arbeitern und Tagelöhnern verdingen sich deshalb nicht mehr als Dienstpersonal. In bürgerlichen Familien drosselt die zusätzliche Hausarbeit die Kinderzahl, auf dem Lande werden die ersten Höfe verkauft, im Norden müssen Finnen angestellt werden. Damit grenzt die Arbeitsverweigerung geradezu an Landesverrat, denn einem »minderwertigen« Volk wird dadurch Einlaß gewährt. Zugleich werden die tüchtigen Menschen von den Städten und der Industrie aufgesogen, auf dem Land bleiben die »Idioten« und »Imbezilen«. Dank planloser Sozialleistungen mit der Gießkanne können sie mühelos überleben und sich vermehren, die Nation droht eugenisch zu degenerieren. »Es ist nicht zuletzt die fortschreitende Verschlechterung der Qualität der Menschen, die, wie ich meine, der ganzen Wohnungsfrage zu Grunde liegt, und das Problem läßt sich nicht durch bessere Wohnungen lösen. Es läßt sich nur lösen, indem das Volk selbst gereinigt und weitere Verschlechterung verhindert wird.«55 Von eugenischen Maßnahmen, die zeitgleich in ganz Skandinavien diskutiert werden, hält er nichts. Besser sei es, die Tüchtigen zu stärken und auf diese Weise die Untüchtigen, die neue Unterschicht des demokratischen Zeitalters, zu eliminieren. Fredrik Böök, ein führender Literaturkritiker und Sympathisant des »Dritten Reichs« veröffentlicht 1936 »Det rika och fattiga Sverige« (»Das reiche und arme Schweden«), im selben Jahr geht die zehnte Auflage in Druck; 1939 erscheint eine deutsche Übersetzung.56 Er beschreibt eine deutliche physiognomische Veränderung der Gesellschaft. Die Provinzstadt Bollnäs gleicht mit seinen funkis-Häusern einer »Main street« in den USA (Abb. 40). Die paradiesische Landschaft ist bevölkert von braungebrannten, nackten Menschen, die völlig ungezwungen mit der Natur umgehen (auf einer Fähre springt eine junge Dame einfach ins Wasser, folgt bis zum Anleger und setzt dann ihre Autofahrt fort); noch vor zwölf Jahren wäre das undenkbar gewesen. Der Krämerladen ist abgelöst durch den Konsum mit gleißend weißer Fassade, klaren Fensterflächen und blanken Verkaufstresen. Böök trauert der gemütlichen Unordnung und den Düften nach, aber »das Neue ist besser, es wäre unehrliche Romantik, das zu bestreiten; es ist besser, weil es rationeller und hygienischer ist, weil es ganz andere Ressourcen in den Dienst der Allgemeinheit stellt, weil es einen neuen 55. Ebd., S. 216. 56. T. Forser, Bööks 30-tal.

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Standard an Reinlichkeit, Exaktheit und Zweckmäßigkeit setzt.«57 Alle fahren Rad, verwundert stellt er fest, daß selbst das Vieh von Bauernmädchen auf Rädern gehütet wird. Überall dieselben Waren. In Porjus die gebändigte, flüsternde Kraft von 100.000 Pferdestärken; das Wasserkraftwerk erscheint ihm wie ein Tempel der puren Energie, in dem ein ungestörter Frieden, Reinheit und Eleganz herrschen. Boliden: die modernste Stadt Schwedens, in einem Guß durch Wissenschaft und Industrie erschaffen. »Alles ist so einfach, überschaubar, zweckmäßig angeordnet, daß man unwiderstehlich von Wohlbehagen und ästhetischer Lust ergriffen wird, während man zwischen den öffentlichen Institutionen und Wohnhäusern umherwandert, wo der Blick nie auf etwas Häßliches, Verwahrlostes oder Unhygienisches fällt.« Die Residenz des Betriebsdirektors blickt von einem Hügel auf den Ort. »Aber der Herrscher ist kein Individuum, sondern ein Grundgedanke: Die soziale Voraussicht, Verantwortungsgefühl, die ordnende Vernunft im Dienste der Gemeinschaft.«58 Die Kinder sehen gesünder und glücklicher aus, alle Institutionen sind mit vollendeter technischer Apparatur ausgestattet, die Waage der Goldgrube wiegt auf das millionstel Gramm genau. Diese Moderne ist blitzschnell. Als in Kiruna ein riesiger Erzbrocken in der Mühle klemmt, wird ein Loch gebohrt, Dynamit eingeschoben, und der Beobachter bekommt die Unterbrechung kaum mit. Im Norden stößt Böök ebenfalls auf eine Figur der Moderne, den Fahrer des Postbusses. Während Böök an der letzten Baustelle der Inlandsbahn vorbeifährt, wird ihm klar, daß die Zeit der Eisenbahn vorbei ist, die Gleisleger sind »die letzten Mohikaner«, ein aussterbender Arbeiterschlag.59 Der neue Arbeitertypus ist der Fahrer; der Postbus verbindet das Hinterland mit der Bahn und der Küste, bis in die Berge transportiert er Menschen, Post, Medizin und Geld. Wenn der Busfahrer in seiner schmukken Uniform und ledernem Beinschutz eine Gaststube betritt, ist er sofort der Mittelpunkt der Gesellschaft. Niemand will eine seiner wenigen, leisen Bemerkungen verpassen. »Er ist der geborene Mann von Welt, er hätte in jedem Salon von Europas Metropolen Erfolg gehabt.«60 Mit sicherem Augenmaß und ruhiger Routine steuert er das schwere Gefährt durch den nordischen Winter, räumt die verschneiten Wege frei und zieht mit mildem Lächeln die Autos aus dem Graben, die ihm hatten ausweichen müssen. Er spricht nicht viel, seine knappen Antworten sind lakonisch, treffend und humorvoll, denn die sekundenkurzen Aufenthalte und das Publikum, dem die Reise nicht zu lang werden darf, lassen nur diese kon57. F. Böök, Det rika och fattiga Sverige, S. 141f. 58. Ebd., S. 183. 59. Ebd., S. 143. 60. Ebd., S. 145.

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zise Flinkheit zu. Sein Stil ist demokratisch, er raucht und trinkt nicht, das ist die moderne Lebensweise. Auch Böök konstruiert eine externe Beobachterperspektive. Bei Nordström sind es die Ärzte (und Pfarrer), bei Böök ein junger Franzose, dem er das Land zeigt. Die Ärzte beglaubigen kraft ihres Amtes Nordströms Kritik, der Franzose als Angehöriger einer großen Kulturnation das Selbstlob Bööks. Nachdem ihn bester Wein, sauberste Städte, überkorrekte Polizisten, gründlichste Stationsvorsteher und höflichster Umgang der Schweden untereinander sprachlos gemacht haben, bricht es aus ihm heraus: »Ihr seid ein merkwürdiges Volk. Euer Land ist wie eine Wildnis – […] gleichwohl ist es wie eine Puppenstube, und es funktioniert wie ein Uhrwerk. Und niemand macht eine unnötige Geste und niemand hebt die Stimme!«61 Böök faßt zusammen: »Wenn es ein schwedisches Ideal, einen schwedischen Stil gibt, so ist er etwas in dieser Richtung, gab ich zu. ›Wie soll ich es ausdrücken? Wir möchten genauso gut, genauso pünktlich, gewissenhaft und effektiv wie die Deutschen arbeiten, und wir möchten es genauso ruhig, genauso selbstverständlich, sanft und geräuschlos machen wie der Engländer. Auf schwedisch wird ein solches Auftreten reell genannt, und das ist eine Kategorie, die aus dem praktischen Leben gewonnen ist, eine Art anspruchsloses und phrasenfreies Ideal, das Unterschicht und Oberschicht, Armen und Reichen gemeinsam ist […].‹ […] Ist es nicht nahe verwandt mit dem, was ein amerikanischer Beobachter the middle way genannt hat? Grenzt es nicht auf der einen Seite an Ordnung und die Qualitäten der Rationalität, auf der anderen Seite an Behaglichkeit und die moralischen Werte? Als nationales Ideal hat es jedenfalls den Vorteil, daß es weder verwirrt noch vergiftet, daß es alltagstauglich ist.«62 Beschreiben Nordström und Böök die Realität? Sicherlich. Vor allem aber gestalten sie Schweden als eine Nation, die ihren Weg in die Moderne sucht. Nordströms Buch ist eine der einflußreichsten Deutungen geworden, heftig kritisiert in den Landesteilen, die schlecht wegkommen.63 Bis heute versinnbildlicht »Lort-Sverige« die negative Seite der Moderne. Childs’ »Middle Way« besingt die schwedischen Erfolge, Nordström zeigt auf, was noch beseitigt werden muß, um das Land zu verwandeln. Bööks Buch liegt zeitlich verschoben zu »Lort-Sverige«, denn während Nordström überall die Relikte einer vergangenen Zeit ausmacht, die sich hartnäckig der Zukunft verwehren, so beschreibt Böök zwei Jahre vorher, wie weit Schweden auf dem Weg in die Moderne bereits gekommen ist. Beide schildern typische Figuren der Moderne, den paternalistischen Bezirksarzt und den 61. Ebd., S. 253. 62. Ebd., S. 253f. (Hervorh. im Orig.). 63. K. Nordberg, Folkhemmets röst, S. 284.

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lakonischen Busfahrer; beide schätzen auch den patriarchalischen Werksdirektor als Prinzip sozialer Verantwortung und ordnender Vernunft. Gemeinsam mit dem Ingenieur,64 dem Flieger65 oder dem Architekten (dem wir noch begegnen werden) sind diese Figuren Macher, die durch nüchternes und unbestechliches Expertentum das Land voranbringen. Eine blasse, aber bedrohliche Nebenfigur ist der degenerierte Sozialschmarotzer. Er geistert bereits lange durch die europäische Literatur, als Effekt und Bedrohung der Moderne, und deshalb ist Nordströms eugenisch durchtränkte Landesbeschreibung nichts Ungewöhnliches. Böök schildert positive Nebenfiguren, die verläßlichen Amtmänner und die unbekümmerten Freizeitmenschen. Auch letztere sind der Moderne zu verdanken, bedrohen sie aber nicht. Als Paradies erscheint bei beiden die urschwedische brukssamhälle, die die schwedische Frühindustrialisierung geprägt hat.66 Arbeiter und Werksbesitzer bildeten eine familiäre Gemeinschaft, Werk und Siedlung eine räumliche Einheit, das Werk sorgte für auskömmliche Wohnungen, die geographisch oft auf das Haus des Besitzers ausgerichtet waren (Abb. 51, 60). Nun ist der Herr nicht mehr Patron seiner Arbeiter, aber das Ideal einer überschaubaren Gemeinschaft, die nicht durch Arbeitskämpfe, sondern soziale Harmonie bestimmt ist, hat sich gehalten und wird vor allem in Bööks klinisch sauberem und technisiertem Boliden überhöht. Im Grunde vertritt auch Nordströms Bezirksarzt dieses Ideal. Wenn er seine Schützlinge mit harter Hand führt, dann nicht aus Eigeninteresse, sondern im Dienste Aller. Experten verwalten die moderne Gesellschaft, Technik löst Probleme, für Interessenkonflikte und parteipolitische Streitereien bleibt in einer Gesellschaft der Vernunft kein Raum.67

5. Die Moderne formen Die Moderne ist kein Selbstläufer und die schwedische Nation wird nicht mehr im Krieg geschaffen. Vielmehr steht in zahlreichen Texten der 30er Jahre der Körper jedes einzelnen Menschen im Mittelpunkt.68 Auto, Dampfmaschine und Muskelapparat treiben die Moderne voran. Diese Rei64. M. Lindqvist, Ingenjör Fredriksson i framtidslandet. 65. U. Boëthius, Mot gryningen! 66. E. Vikström, Platsen, bruket och samhället; Dies., Bruksandan och modernismen; Å. Lundqvist, Bygden, bruket och samhället; M. Isacson, Industrisamhället Sverige, S. 41-51. 67. Zu den Ähnlichkeiten zwischen Nordström und Böök: O. Fagerstedt/S. Sörlin, Framtidsvittnet, S. 75-77. 68. J. Frykman, In Motion; Ders., Pure and Rational.

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hung mag nach Rückschritt klingen, schließlich hat nicht die Körperkraft, sondern die Maschine der Industrialisierung zum Durchbruch verholfen. Als sich die Experten aber den Körper genauer anschauen, entdecken sie einen erstaunlichen Nutzungsgrad. Der der Dampflok beträgt 12%, der des Autos 20%, der Körper jedoch verwertet seinen Treibstoff, den Zucker, zu 30%. Schreit ein Säugling eine Stunde lang, so entwickelt er eine Kraft, die 1.900 Kilogramm einen Meter hoch heben könnte.69 Der Körper ist eine Fabrik, gebaut aus Eiweiß, Kohlehydraten, Fett und Wasser, Vitamine nutzt er als Werkzeuge, seinen Treibstoff verwandelt er in Energie. Aber der Körper ist bedroht. Wird er nicht gepflegt, werden Ressourcen vergeudet. Die Körper aller Schweden zusammen bilden das Kapital der Nation. Der Körper des Volkes und die Körper der Individuen sind symbiotisch verflochten. Deshalb muß der Einzelne sein Leben in ein Modernisierungsprojekt verwandeln, in dem jeder Tag neue Anstrengungen erfordert. Zugleich dringt die Forschung immer tiefer in die Geheimnisse des Körpers ein und stellt immer detailliertere Pflegeprogramme zur Verfügung. Gymnastik, Ernährung, Hygiene und Eugenik formen die Körper von außen wie Innen und gestalten damit den Körper der Nation. Gymnastik stärkt nicht nur die einzelnen Muskelapparate, sie schaff t Gemeinschaft und visualisiert eine strukturierte Moderne. Über den Siegeszug der Gymnastik in Schweden berichtet das Jahrbuch des »Reichsvereins für die Förderung der Gymnastik«,70 eine Institution, die 1933 gegründet wurde, nachdem die Mitgliedszahl in Turnvereinen von 8.000 (1918) auf 110.000 (1933) angewachsen ist. Deshalb soll nun das Turnen sozial ausgerichtet werden. Der Verein organisiert Gymnastiklager für Schüler, damit sie eine gesunde und natürliche Lebensweise erlernen. Die Lagerberichte präsentieren eine Mischung aus Vergnügen, Turnen, Rettungsübungen, Lagerfeuer und Besuchen des Kronprinzen bzw. von Regierungspräsidenten, aber ohne paramilitärische Elemente. Ein Konsulent reist über die Dörfer, um die Bauern für den Kauf preiswerter Saunas zu interessieren; auch hier sind große Erfolge zu verzeichnen. Für Industriearbeiterinnen werden Ferienlager eingerichtet, zur Olympiade in Berlin will man 2.000 Männer und Frauen senden (statt der von Deutschland angeforderten 300 Turner), durch Turnen sollen die Menschen ihren Charakter bilden und sich in die Einheit einer Gruppe einfügen. Junge Mädchen zeigen eine andere Einstellung zum Wettbewerb als frühere Generationen: Fröhlich und 69. I. Bolin, Vår föda, S. 149. vgl. auch M. Brunskog/E. Klarin, Vår hälsa och vår föda; C. Boalt, 27.000 måltider. Allgemein: A. Rabinbach, Motor Mensch. 70. Riksföreningens för Gymnastikens Främjande Årsbok (1934-1939). Vgl. auch J. Wijk, Idrott, krig och nationell gemenskap; M. Hellspong, Den moderna idrotten.

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voller Willenskraft mobilisieren sie alle Kräfte, eine Einstellung, die die Moderne erfordert. Immer aber soll die Gymnastik zuerst Vergnügen bereiten. Erst in den späten 30er Jahren geht etwas an Frohsinn verloren. Körperstählung und Aufmärsche werden wichtiger, athletische Körper nach antiken Mustern ästhetisiert und mit »entstellten Körpern« kontrastiert.71 Das Jahrbuch ist eine typische Propagandaschrift der 30er Jahre. Sie verheißt, daß, wer seinen Körper beherrscht und in der Serialisierung von 7.000 Turnern aufgehen kann, die Zukunft gestaltet (Abb. 42). Sie wirbt für ein neues Verhältnis zum Körper, postuliert einen Zusammenhang zwischen Individuum und Gemeinschaft, verbildlicht durch die Choreographie der Turner die Beherrschung der Moderne und greift auf andere Problemfelder aus: auf Eugenik, Freizeit, Gesundheit, Hygiene, Alkohol, Ernährung, Konsum (Abb. 41). Die Moderne ist ein Komplex von Problemlagen, aber auch von Gegenbewegungen, die miteinander koalieren. So dienen sich die Turner der Eugenik an, Abstinenzler erkennen den Wert gymnastischer Disziplin, die Gesundheitsexperten ohnehin, und die Mitglieder anderer Volksbewegungen beginnen zu turnen. Nicht einmal die Freizeit ist frei: »Verbringst Du die Ferien auf die richtige Weise?« Gymnastik, Wandern oder Feldarbeit sind Erholung, Nichtstun ist gefährlich.72 Einer der bösartigsten Feinde des Körpers ist der Kaffee. Nach der Jahrhundertwende erscheint eine Reihe kleiner Schriften über die angeblich entsetzlichen Folgen des maßlosen Kaffeegenusses in Schweden.73 Ganze Landstriche sind demnach diesem Getränk verfallen. Überarbeitete Hausfrauen putschen sich auf, lebensfrische Bauernmädchen werden fahl und kränklich, Schulkinder fordern verzweifelt Grütze, Mehlsuppe oder gekochte Milch zum Frühstück, selbst Säuglingen wird Kaffee eingeflößt. Nerven, Herz, Magen, Muskeln, Sehkraft und Gemüt werden zerstört, Adern verkalken, der Blutdruck steigt, ebenso die Bereitschaft zum Klatsch, 71. Riksföreningens för Gymnastikens Främjande Årsbok 5, 1938, S. 29. 72. Ebd., S. 69-82. Zum bedrohlichen Potential sinnlos angewandter Freizeit vgl. auch den Katalog der publikumswirksamen Ausstellung »Die Freizeit« (Ystad 1936): Fritiden; sowie C. D. Burns, Fritiden i det moderna samhället; M. Wicklin, Fritidens sociala ingenjörer. 73. H. Berg, Om kaffe; M. Huss, Om kaffe; A. Larson, Om kaffe och socker i Sverige; J. Lundell, Några ord om kaffe; Svenska vegetariska föreningen, 50 läkares utsagor om bruket av kaffe (Huss’ Broschüre erschien 1865, die übrigen zwischen 1911 und 1915, parallel zur Debatte um die Emigration aus Schweden). Vgl. auch S.-Å. Lindgren, Den hotfulla njutningen, S. 93-107, 134-141. Zur Geschichte des Kaffees in Schweden: S. Svensson, Hur kaffet blev svensk nationaldryck.

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Wahnsinn droht.74 Die Abstinenzler haben sich gleich doppelt verrechnet. Erst wollten sie Brandwein mit Bier, dann Bier mit Kaffee bekämpfen; nun wüten Alkohol und Tabak unter den Männern, der Kaffee unter Frauen und Kindern. Der Kaffeemißbrauch kostet die Volkswirtschaft angeblich 40 Millionen Kronen jährlich. Und wie so oft in der Geschichte der Moderne wird den Frauen die Hauptverantwortung an diesen Mißständen zugesprochen: Maßlosigkeit bedeutet »Risiko, und dieses Risiko ist für die Frau als Trägerin der kommenden Geschlechter mit einer weit größeren Verantwortung verbunden als beim Mann. Wie soll diese unterernährte, nervenzerstörte, blutarme, mit permanenter Übersäuerung und daraus resultierender schlechter Laune geschlagene Kaffeetrinkerin dem Kind Lebenskraft und Nahrung geben. Sie hat sich in dem Maße an Kaffee und Weißbrot gewöhnt, daß sie nicht einmal ordentliches Essen verträgt.«75 Im wesentlichen bestehen die Broschüren aus einer monotonen Aneinanderreihung apokalyptischer Klagen. Rudimentäre Statistiken dienen dazu, mit schaurigen Zahlen zu erschrecken, ohne daß die Autoren sich bemühen, Korrelationen herzustellen, etwa zwischen Bevölkerungswachstum und steigenden Kaffeeimporten oder zwischen Kaffeekonsum und gesundheitlichen Schäden – diese Daten gibt es gar nicht. Ärzte berichten vom Mißbrauch in ganz Europa, keiner macht sich die Mühe, seine Hiobsbotschaften zu belegen, alle spekulieren bloß (und nur wenige halten Kaffee in Maßen für ungefährlich76). Können sich Arbeiter tatsächlich jeden Morgen vier bis fünf Tassen teuren Bohnenkaffees leisten? Wohl kaum, aber auf die Realität kommt es nicht an. Der schwarze Kaffee ist vielmehr ebenfalls eine typische Figur der Moderne, keine reine Flüssigkeit, sondern die Verkörperung des degenerierten modernen Menschen, dem jede körperliche Selbstdisziplin fehlt (Abb. 46). Der Arzt Carl August Ljunggren führt zu Beginn der 30er Jahre einen raffinierten Feldzug gegen den Kaffee, ein Paradebeispiel für die Techniken der Normalisierung. Er hält 1932 eine Reihe von Radiovorträgen zur Gesundheit von Schulkindern und fordert die Lehrer auf, ihre Schüler Aufsätze schreiben und illustrieren zu lassen, um zu erfahren, inwieweit seine Vorträge verstanden wurden. Die besten Referate prämiert er im Radio. Nach einem Jahr sollen die Kinder berichten, wie sie selbst bzw. 74. Es ist typisch für derartige Verfallsszenarien, daß gleich eine ganze Batterie von Krankheiten aufgefahren wird; vgl. am Beispiel des Tabaks S.-Å. Lindgren, Den hotfulla njutningen, S. 111. 75. H. Berg, Om kaffe, S. 17; vgl. S.-Å. Lindgren, Den hotfulla njutningen, S. 135. 76. C. G. Santesson, Om kaffe (Santesson ist Abstinenzler); I. Bolin, Vår föda, S. 323-329, 335-337; C. Boalt, 27.000 måltider, S. 40f., 55, 58f.

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ihre Klassen seinen Ratschlägen folgten, auf welche Schwierigkeiten sie stießen und welche Resultate bezüglich ihrer Gesundheit sie beobachten. Die Lehrer engagieren sich und ermuntern die Kinder, über 6.000 Aufsätze gehen ein. Einige werden publiziert, um alle Schulkinder Schwedens zu erreichen; die Einnahmen gehen in eine Stiftung, die die schulhygienische Arbeit unterstützt, damit, wie Ljunggren eine Schülerin zitiert, »unser Land überschwemmt werde von schönen Mädchen und kräftigen Jungen«.77 Und dann berichten die Kinder von Kaffeevergiftungen, wie sie Weißbrot und Kaffee ablehnen, Milch trinken, nachts lüften und teures Obst und Gemüse von den Eltern erbetteln – auch wenn ihnen der Verzicht auf Kaffee, Süßigkeiten und Karamell zu Beginn nicht leicht fällt. Ein Mädchen besucht ein Kaffeekränzchen. Alle trinken Kaffee, die »kleine Heldin« aber bittet um ein Glas Wasser.78 Brita Skog aus Trelleborg sieht im Kaffee ein giftiges, schwarzes »Negergetränk«, das die »Neger« behalten sollen. Tränken alle Menschen Milch, wäre die Welt voller schöner Männer und Frauen; alle wollen sie weiß und schön werden, nicht schwarz und häßlich.79 Mit Zeichnungen sichern die Kinder ihre Botschaft ab (Abb. 70, 71), Lehrer nutzen ihre Autorität, um die Kleinen zu beeinflussen. Einer läßt sie einen Verein gegen den »Erbfeind« gründen, »Vita mjölksippan« (»Das weiße Milchwindröschen«), um das positive Ziel, die Förderung des Milchkonsums, zu unterstreichen. Es gibt eine Satzung, Mitgliedsmarken und bald ein kleines Fest, mit einem Schauspiel, in dem kaffeetrinkende Neger gegen die weißen Ritter der Milch kämpfen. Die Neger annoncieren: »Trink unseren Kaffee! Kaffee ist gut! U-hu, u-hu«, die Ritter: »Weg mit dem Kaffee! Spart 80 Millionen [Kronen]. Trinkt Milch!«80 Der Negerhäuptling und sein schwarzes Gefolge werden in die Flucht geschlagen. Die Erlebnisberichte, Gleichnisse und erfundenen Dialoge reproduzieren, was die Schüler an Informationen im Radio aufgenommen haben, Ljunggren hört darin »die aufrichtige Sprache der Kinderherzen«, die »viel ansprechender und anregender auf Kinder wirkt als Aufsätze des gelehrtesten Professors«.81 Kinder erziehen sich selbst und ihre Eltern, die Autorität der Experten leitet sie an, begleitet und belohnt sie. Je älter die Schüler werden, desto kritischer werden sie. Sie erzählen nicht mehr einfach nach, 77. C. A. Ljunggren, Hur vi blivit starka och friska, S. 6. 78. C. A. Ljunggren, Skolbarnens hälsouppfostran, S. 87. 79. C. A. Ljunggren, Hur vi blivit starka och friska, S. 106f. 80. Erfahrungsbericht des Lehrers Gunnar Thylén (C. A. Ljunggren, Skolbarnens hälsouppfostran, S. 89f.). 81. C. A. Ljunggren, Hur vi blivit starka och friska, S. 6. Das Buch wurde zum großen propagandistischen Erfolg für die schulische Gesundheitspflege: K. Johannisson, Folkhälsa, S. 168.

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sondern müssen mit Argumenten überzeugt werden, eine Herausforderung für die Lehrer.82 Genau das aber ist der ideale Ansatz des social engineering, dem wir immer wieder begegnen werden: Die Menschen dazu zu bringen, sich für das Richtige zu begeistern und dadurch sich selbst und die Welt in die Richtung zu verändern, die die Experten als notwendig erkannt haben. 1923 wird der Verein »Mjölkpropagandan« (»Die Milchpropaganda«) gegründet, um den Konsum von Milchprodukten anzukurbeln. Milch war zuvor ein gefährliches Nahrungsmittel. Sie verdarb rasch und übertrug TBC, nun läßt sie sich sterilisieren, hygienisch verpacken und über weite Strecken transportieren. Wissenschaftler erkennen das nahrungsphysiologische Potential der Milch, Bauern das ökonomische. Wie in Deutschland oder Norwegen83 soll sie auch in Schweden ernährungsphysiologischen und sozialhygienischen Zielen dienen.84 Der Verein entwickelt zunächst einmal eine immense Propagandatätigkeit: Broschüren in Massenauflagen, Filme, Vorträge, Plakate, Anzeigen, Verkaufswagen, Milchwochen, Werbung in den Schulen, Milchbars, Schaufensterwettbewerbe, Reichskäsewochen, Diplome, Kurse und die systematische Belieferung der Medien mit Material. Die ersten zehn Jahre werden als Erfolg gewertet. Die Zeitschrift »Mjölkpropagandan« erscheint 1933 in einer Auflage von 42.000 Exemplaren, 1950 hat der Verein etwa 100.000 Mitglieder, Hunderttausende von Schülern und Erwachsenen werden auf zahllosen Veranstaltungen erreicht. Die Filme und Broschüren klären auf: Wie wird Milch wissenschaftlich kontrolliert, wie wird sie mit moderner Technik zu Käse und Butter verarbeitet, welchen Nährwert haben Milchprodukte? Ansprechend montierte Bildstrecken spielen eine zentrale Rolle. Sie zeigen Reinheitsproben, Herstellung und Transport – vor allem aber Serien von gesund aussehenden, fröhlichen Milchtrinkern (Abb. 43-45).85 Das Prinzip der Reihung und der Wiederholung durchzieht die gesamte Milchpropaganda der 30er Jahre. Die Milchflaschen laufen über die Bänder der Befüllungsmaschinen, Milchgläser und -flaschen stehen in Kolonnen 82. Erfahrungsbericht des Lehrers Gunnar Thylén (C. A. Ljunggren, Skolbarnens hälsouppfostran, S. 90). 83. B. Orland, Milchpropaganda vor und nach dem ersten Weltkrieg; I. J. Lyngø, The National Nutrition Exhibition; Ders., The Oslo Breakfast. 84. [K. L. Schiött], Mjölkpropagandan 1923-1933, S. 4f. 85. Vgl. Meddelanden från Mjölkpropagandan; Mjölkpropagandan (tidskrift); Mjölkpropagandan (Östergötlands län); D. Ekdahl, Mjölkpropaganda under ett kvartssekel i Norrköping; P. K. Persson, Mjölken i ord och bilder; [K. L. Schiött], Mjölkpropagandan 1923-1933; A. Westerlund, Mjölken – ett skyddsnäringsmedel.

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auf den Tischen, Kinder und Erwachsene trinken in Serie ihre Milch; serielle Werbung, massenhafte Werbung, Plakate in unendlichen Reihen, die Menschenmassen erreichen. Die rhythmische Wiederholung derselben Themen – Veranstaltungen, Diplomverleihungen an Bauern, Eröffnungen von Milchbars, die Präsentation von Musterhöfen, Anzeigen, die auf Rationalisierung, Hygiene und Gesundheitsfürsorge abheben, der gesunde Milchbub gegen den schwächlich-unterentwickelten Kaffeetrinker gestellt – das soll die Botschaft (konsumiert Milch, Butter und Käse), die immer auf die Gesellschaft zielt (es geht um die Volksgesundheit), einschleifen. Ein fröhlicher, geballter, offensiver Charakter zeichnet die Milchpropaganda der 30er Jahre (und auch noch der Kriegszeit) aus. »Pure, fresh, white milk in glasses or bottles may be taken as the very symbol of the new national diet. In this glass of milk the ideas of agricultural policy and new scientific knowledge were united.«86 Die Obsession mit Krankheiten ist verständlich. Noch in den 30er Jahren sterben Menschen an TBC, und zwar auch in den besser gestellten Schichten, die Pocken brechen immer wieder aus. Dieses Leid zerstört die Körper von Individuen, doch es greift darüber hinaus den Volkskörper an. Je größer die Zahl kranker Individuen, desto geschwächter ist die Gemeinschaft und vice versa. Gesundheit ist nicht nur Freiheit von Krankheit, sondern, so schreibt der schwedische Ärzteverband im Jahre 1946, eine Form der »Bereitschaft«. Wie ein Land im Frieden, so müssen auch die Körper gegen eventuelle »Krankheitsangriffe« gerüstet sein.87 Deshalb starten die Ärzte 1945 eine großangelegte Gesundheitskampagne, um der schwedischen Bevölkerung endlich klar zu machen, daß sie ihr teuerstes Gut, die Gesundheit, schützen und bewahren sollte.88 Die Schadensdiagnose umfaßt sowohl physische wie soziale Probleme: schlechte Wohnungen, unsauberes Wasser, sinnlose Medikamente, mangelhafte Ernährung, Geschlechtskrankheiten, liederliche Lebensführung, Problemkinder, soziale Unangepaßtheit. In 14 Verhaltensregeln laufen Medizin und Alltagsleben ebenfalls ineinander. Regel 1: Einmal am Tag soll man seine Gedanken sammeln und planen, wie man den (Folge-)Tag zu nutzen gedenkt – die Rationalisierung des Lebens wirkt gesundheitsfördernd. Regeln 2-12: Ausgewogenes Essen, Zahnpflege, Frischluft usw. Regel 13: Die Freizeit muß richtig genutzt werden, man soll systematisch seine Möglichkeiten mustern und dann diejenigen wählen, die das Leben reicher, den Geist freier und den Körper gesünder machen. Regel 14: Ausreichender Schlaf. Wenn man es zuspitzt, so lautet die Botschaft: Bazillen zerstören die Gesundheit, 86. I. J. Lyngø, The National Nutrition Exhibition, S. 151. 87. Sveriges Läkarförbund, Ett friskare folk, S. 18. 88. Zum Umfang der Kampagne ebd., S. 276-283.

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Schundromane die Seele; Hygiene betriff t immer den Körper und die Gesinnung. Der Zerstörung muß vorgebeugt werden, und erneut steht die Hausfrau im Zentrum, diesmal als »Diktator der Volksgesundheit«.89 »Jede Hausfrau muß sich im Klaren darüber sein, daß die Fürsorge für die Familie nicht ihre Angelegenheit ist, sondern daß sie eine große staatsbürgerliche und humanitäre Verantwortung hat. Von ihren Fähigkeiten, ihrem Interesse, ihrer Genauigkeit und Umsicht hängt ein Gutteil der Gesundheit der kommenden Generationen ab.«90 Ihre Lebensführung entscheidet, mit welchen Voraussetzungen die Kinder in die Zukunft starten, es liegt an ihr, ob die Mitglieder ihrer Familie gesund, rüstig, arbeitstauglich und lebensfreudig sind. Vor einem großen Krankheitspanorama als Folie – physische, psychische, Berufs- und soziale Krankheiten, die angeblich alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzen – dringt die Hygiene in alle Mikrobereiche des menschlichen Lebens vor: Hände, Füße, Mund, Seele, Wille, Gefühl; Essen, Waschen, Husten, Niesen, Sexualität, Liebe, Kinder, Ernährung, Wohnen, Freizeit, überall sollen die Menschen ihr Verhalten ändern, um eine umfassende Gesundheitspflege zum Verhaltensideal zu machen. Wenn die Jahrhundertwende eine Medikalisierung des Lebens bedeutete, so wird seit den 20er Jahren die Medizin zusätzlich soziologisiert. Die Gesundheit der Bevölkerung ist kein rein medizinisches Problem, sondern primär ein soziales. Deshalb wird nun parallel zur Grenze gesund/krank regelmäßig die Grenze normal/abnormal ausgelotet. Die Medizin soll nicht nur heilen, sondern Lebenschancen verbessern. Das bedeutet aber auch, diese im Zweifelsfalle eugenisch abzuschneiden.91 Es sind, nach eigenem Selbstverständnis, die Ärzte, nicht die Politiker, die die Menschen durch ihre intensive Aufklärungsarbeit zu verantwortungsbewußten Staatsbürgern erziehen, nicht zu parteipolitisch, sondern zu gemeinschaftlich denkenden.92 Aus diesem Grund ist die Eugenik nicht einfach die »dunkle Kehrseite« dieses Projektes, sondern, in den Augen der Zeitgenossen, Teil eines unsentimentalen Gesundheitsprogramms, das allen Menschen zu Gute kommen soll.93 Es ist auffallend, wie selbstverständlich rassenhygienische 89. Ebd., S. 30. 90. Ebd. (Hervorh. im Orig.). 91. K. Johannisson, Folkhälsa; vgl. auch R. Qvarsell, »Ett sunt folk i ett

sunt samhälle«; Ders., Hälsa och sjukvård; M. Sundberg/J. Öhman, Hälsa och livskvalitet; E. Palmblad, Medicinen som samhällslära; J. Frykman, Pure and Rational; T. Forsslund, Frisk och stark med skolradion. 92. Vgl. Sveriges Läkarförbund, Ett friskare folk; J. A. Höjer/E. Sjövall, Folkhälsan som samhällsangelägenhet; E. Sjövall/J. A. Höjer, Medicinsk medborgarkunskap. 93. K. Johannisson, Folkhälsa, S. 178.

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Versatzstücke in den Quellen auftauchen. Die »Milchpropaganda« etwa schaltet Ende der 30er Jahre für einen kurzen Zeitraum Anzeigen mit Slogans wie »Ein gesünderes Geschlecht ist das Ziel... laßt uns alle A-Menschen werden«, »Laßt uns Gesundheits-Schweden bauen!«, »In diesem Haus können wir uns B-Menschen nicht leisten!«. Ein kräftiger Arbeiter, ein gesundes, junges Mädchen und eine besorgte ältere Hausmutter illustrieren die Botschaft, daß Milch, Butter und Käse A-Menschen schaffen; in anderen Anzeigen sind kräftige Bauernmädchen und Bauern zu sehen, die belegen, daß nur A-Menschen vollwertige Arbeitskräfte darstellen, oder eine mütterliche Ministergattin, die die Hausfrauen auffordert, Hälso-Sverige (»Gesundheits-Schweden«) zu bauen (Abb. 47, 48). Wer 1930 die Ausstellung »Svea Rike« betritt, wird bereits im Foyer auf eine prominente rassenbiologische Abteilung aufmerksam gemacht. Sie führt auf zahlreichen Schautafeln die unterschiedlichen Rassentypen, die Schweden besiedeln, sowie die demographische Entwicklung vor Augen und zeigt, wie sehr sinkende Geburtenzahlen und steigende Einwanderungsraten schon seit längerem den biologischen Bestand der Nation bedrohen.94 Verantwortlich für diesen Ausstellungsteil zeichnet Herman Lundborg, der seit der Jahrhundertwende mehrere aufwendige rassenkundliche Untersuchungen durchgeführt und (vor allem in Deutschland) publiziert hat, und der 1921 in Uppsala das weltweit erste Institut für Rassenbiologie begründete. 1946 halten sich seine Kollegen mit den Verbrechen des »Dritten Reichs« nicht auf, als sie in ihrer Gesundheitskampagne Sterilisierungen als wichtigstes Instrument im Kampf gegen Geistesschwäche bezeichnen und die Menschen auffordern, nur erbhygienisch vernünftige Ehen zu schließen. Eine gezielte Abtreibungspolitik soll »abnorme« und »zurückgebliebene« Kinder prophylaktisch verhindern.95 Andere Ärzte weisen zur selben Zeit auf Schwächen der schwedischen Sterilisierungsgesetze hin, auf das hinderliche Prinzip der Freiwilligkeit und zentralisierte (langwierige) Bewilligungsverfahren.96 Frappierend ist diese Indifferenz, der wir auch bei Alva und Gunnar Myrdal begegnen werden. Niemand setzte die Verbrechen der Nationalsozialisten in Beziehung zur immer extensiveren Sterilisierungspraxis in Schweden. Ärzte und Sozialreformer hielten es nicht einmal für nötig, sich wenigstens verbal vom »Dritten Reich« zu distanzieren oder die Differenz zu ihrer eigenen Praxis zu erläutern. Sie kritisierten die nationalsozialistischen Verbrechen, aber zu offensichtlich erschien es ihnen, daß die ei94. Svea Rike, S. 6, 9, 21, 36. 95. Sveriges Läkarförbund, Ett friskare folk, S. 87, 98f.; ähnlich bereits 1938: S. Höjer, Samhällets hjälp till barn, S. 98f. 96. J. A. Höjer/E. Sjövall, Folkhälsan som samhällsangelägenhet, S. 75-81.

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gentlich sinnvolle Eugenik vom deutschen Regime »mißbraucht« worden war. In Schweden sind ja tatsächlich keine Menschen umgebracht worden, niemand mußte sich also mit konkreten Verbrechen auseinandersetzen. Die demokratischen Nachbarn Dänemark, Norwegen und Finnland hatten ebenfalls Sterilisierungen per Gesetz ermöglicht, teilweise früher als Schweden. Politiker hatten wenig Einfluß auf die Sterilisierungspraxis. Sie erließen nur Rahmengesetze, die sich vermeintlich allein an praktischen Erfordernissen orientierten, nicht an irrationalen Weltanschauungen wie in Deutschland. Ausgeführt wurden die Sterilisierungen von nüchternen Praktikern in den Kliniken, kontrolliert von einer als unbestechlichen eingeschätzten Medizinalbehörde.97 Der politischen Debatte war die Sterilisierungspraxis damit entzogen, darüber hinaus wurde nicht einmal Bedarf für eine moralische Diskussion gesehen. Schließlich diente die Eugenik vermeintlich immer »humanitären« Zielen. Vor Kriegsende sollte sie die Gemeinschaft vor der angeblich rasant steigenden Zahl »Asozialer« und »Geistesschwacher« schützen. Das war die Grundangst in vielen industrialisierten Staaten seit dem späten 19. Jahrhundert: daß die Industrialisierung immer mehr Menschen ins Elend trieb, daß aber selbst die nur rudimentäre Sozialhilfe ihnen das Überleben ermöglichte. Das setzte angeblich den Prozeß der »natürlichen Auslese« außer Kraft, die »minderwertigen« Menschen vermehrten sich überproportional, vererbten ihre psychischen und sozialen Defekte, und diese demographische Entwicklung mußte sich bis zum biologischen Kollaps potenzieren.98 Seit den 40er Jahren verlor sich die Angst vor der kollektiven Degeneration allmählich, dafür kam in Schweden eine neue Klientel in den Blick: die »verschlissenen« Ehefrauen, deren Ehen durch alkoholisierte Ehemänner und viele Kinder bedroht waren. Sie sollten durch (freiwillige) Sterilisierungen vor weiteren Belastungen bewahrt werden; in Folge dieser Verschiebung stieg der Anteil der Frauen an allen Sterilisierungen von 63% (1942) auf 99% (seit 1965). Insgesamt wurden in Schweden zwischen 1935 und 1975 über 60.000 Personen sterilisiert, etwa 20.000 von ihnen gegen ihren Willen. 1975 wurden die alten Sterilisierungsgesetze stillschweigend als überholt kassiert.99 97. M. Tydén, Från politik till praktik. Tydén entlastet mit dieser – institutionentheoretisch plausiblen – Interpretation der Sterilisierungspraxis als bürokratischem Selbstläufer die schwedische Sozialdemokratie, der vorgeworfen wurde (M. Runcis, Steriliseringar i folkhemmet), durch die Sterilisierungspolitik Teile der schwedischen Bevölkerung übermächtigt und aus dem Wohlfahrtsstaat ausgeschlossen zu haben. 98. T. Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang, S. 27-40. 99. Ausführlich: G. Broberg/N. Roll-Hansen, Eugenics and the Welfare State; G. Broberg/M. Tydén, Oönskade i folkhemmet; M. Runcis, Steriliseringar i

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Für die »Milchpropaganda« waren B-Menschen eugenisch nicht minderwertig. Ihnen fehlten einfach Kraftreserven, um besondere Herausforderungen meistern zu können. Herman Lundborg bestritt niemandem das Recht auf Leben – wohl aber, Leben zu spenden.100 Die Bevölkerungskommission warnte 1935 vor übertriebenen Erwartungen, empfahl aber trotzdem freiwillige Sterilisierungen, restriktiv gewährt, damit die Menschen sie nicht als sicheres, aber irreversibles Verhütungsmittel nutzten.101 Immer wieder stößt man im Projekt Moderne auf die Grenzziehung zwischen Utopie und Bedrohung, beide sind der Moderne inhärent. Die Grenze muß genau beobachtet und mit allen Mitteln verteidigt werden, doch es reicht nicht, die Bedrohung abzuwehren. Die Utopie einer vernünftigen Gesellschaft muß tagtäglich praktiziert werden, und die Menschen müssen erst lernen, sie zu praktizieren, sei es durch richtige Ernährung oder Bewegungsabläufe im funktionalistischen Haus. Durch Nichtstun rutscht man automatisch auf die andere Seite der Grenze, in den Abgrund. Die Arbeit ist mühevoll und nie beendet. Von daher ist Zygmunt Baumans Metapher des jätenden Gärtners schief, denn dessen Arbeit ist mit dem Rupfen des Unkrauts nicht beendet. Sie ist niemals abgeschlossen. Beständig drohen Rückschläge auch mit den Zierpflanzen, und der Gärtner muß bei jeder Maßnahme Augenmaß wahren und Toleranz zeigen. Deshalb wurde in Schweden nicht vom »lebensunwerten Leben« gesprochen, deshalb werden auch heute noch regelmäßig Traditionsverluste gegen Modernisierungsgewinne verrechnet, deshalb muß die Moderne mit Vergnügen angeeignet werden, und deshalb weist Fredrik Böök in einer Episode seines Buches darauf hin, daß die technisierte Welt niemals ohne die menschliche Intuition auskommt.102 Auch die Praktizierung der Utopie muß unter Kontrolle gehalten werden, denn durch Einseitigkeit und (modernistische) Exzesse wird sie dysfunktional. Das illustrieren schwedische Autoren immer wieder am Beispiel Deutschlands. Unter Anleitung von Experten formt der Einzelne seinen Körper und fügt ihn in die Serie der übrigen Körper ein; Körper, Moderne und Nation gehören zusammen. Die Moderne wird zur Lebenshaltung, die die Körper der Menschen zur Nation vereint und als strukturierte Ordnung für jedermann sichtbar macht. Indem man das Neue baut, vergeht das Alte von selbst, es muß nicht »ausgemerzt« werden. folkhemmet; M. Tydén, Från politik till praktik; M. Zaremba, De rena och de andra; die Literatur zusammenfassend: T. Etzemüller, Sozialstaat, Eugenik und Normalisierung in skandinavischen Demokratien. 100. H. Lundborg, Rassenbiologische Übersichten und Perspektiven, S. 31; ähnlich J. V. Hultkrantz, Om rashygien, S. 49f. 101. SOU 1936:46, bes. S. 14-17, 68f. 102. F. Böök, Det rika och fattiga Sverige, S. 186f.

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6. Das »Volksheim« Bis heute steht ein Begriff wie kein anderer für diese Utopie: das folkhem (»Volksheim«). Der Begriff ist keine sozialdemokratische Erfindung gewesen, sondern wurde seit dem späten 19. Jahrhundert von konservativen Intellektuellen verwendet. Mal war es ein Ort, an dem sich die Angehörigen aller sozialen Klassen frei von Parteienstreit treffen sollten, mal eine Art Volksbibliothek für ärmere Menschen.103 Es war Per Albin Hansson, der 1928 in einer Rede vor dem Reichstag die Deutungshoheit über diesen flottierenden Begriff übernahm. Mit wenigen Sätzen umschrieb er ein nach wie vor gültiges Gesellschaftsideal: »Gemeinsamkeit und das Gefühl der Zusammengehörigkeit bilden das Fundament des Heims. Das gute Heim kennt keine Privilegierten oder Zurückgesetzte, keine Hätschelkinder und keine Stiefkinder. Da sieht nicht der Eine auf den Anderen herunter, da versucht niemand, sich Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen, der Starke unterdrückt nicht den Schwachen und beutet ihn aus. Im guten Heim herrschen Gleichheit, Umsicht, Kooperation und Hilfsbereitschaft. Übertragen auf das große Volks- und Staatsbürgerheim würde das das Niederreißen aller sozialen und wirtschaftlichen Schranken bedeuten, die jetzt die Staatsbürger in Privilegierte und Zurückgesetzte, in Herrschende und Abhängige, in Reiche und Arme, Begüterte und Verarmte, Ausbeuter und Ausgebeutete teilt.« 104 Seitdem gehört die Metapher des folkhem zu den wichtigsten Instrumenten sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik.105 Mit dem Begriff ließ sich ein gewichtiges ideologisches Problem sozialdemokratischer Parteien in den Griff bekommen, die Frage von Revolution bzw. Reform. Die schwedische Sozialdemokratie hatte sich im Grunde bereits in den 1920er Jahren von ihrem revolutionären Programm verabschiedet, benötigte deshalb aber eine neue, schlagkräftige Terminologie. Mit der folkhem-Metapher mußte sie sich nicht mehr als revolutionäre Partei des Klassenkampfes präsentieren, sondern konnte sich glaubwürdig als Volkspartei zur Wahl stellen. Denn es waren, so lautete die modifizierte Ideologie, nicht allein die Arbeiter, die (durch Produzenten) ausgebeutet wurden, vielmehr mußte das ganze Volk als Opfer (des kapitalistischen Systems) gesehen werden. Trotz formeller und politischer Gleichberechti103. H. Björck, Till frågan om folkhemmets rötter. 104. Per Albin Hansson, zit. nach H. Dahlqvist, Folkhemsbegreppet, S. 459. Zur Genese der Metapher: A. Isaksson, Per Albin, Bd. 3, S. 172-192. 105. Zur Begriffsgeschichte: V. Henze, Das schwedische Volksheim; H. Dahlqvist, Folkhemsbegreppet; J. Larsson, Hemmet vi ärvde; N. Götz, Ungleiche Geschwister, S. 190-280. Zur semantischen Abgrenzung vom deutschen Volksbegriff: L. Trägårdh, Varieties of Volkish Ideologies.

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gung zeichneten sich die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch schreiende Ungerechtigkeit aus; auf diesen Gebieten mußte die Demokratie vollendet werden. Die Vergesellschaftung von Unternehmen wurde allerdings bereits in den 1920er Jahren in Frage gestellt. Wichtiger erschien die Steigerung der Produktivität, um den Wohlstand der Menschen zu erhöhen. Die Sozialisierungsfrage wurde vertagt, staatliche Wirtschaftsplanung erschien als effektiveres Instrumentarium: Der Staat verschaff t sich die Kontrolle über Preise, Handel und Kapitalbildung, verwirklicht durch eine extensive Sozialpolitik die Gleichheitsidee, nutzt dadurch kurzfristig den Menschen, macht sich die Kräfte des Kapitalismus dienstbar, verdrängt ihn allmählich und verwirklicht langfristig die Ziele des Sozialismus mit evolutionären Mitteln.106 Diese Wirtschaftstheorie wies dem Heim einen wichtigen Platz zu. Gesteigerter Konsum bedeutete gesteigerte Produktion, aber über den Konsum ließ sich auch die Produktionsseite demokratisch steuern. Wenn nämlich die Unternehmer mangels Nachfrage keinen überteuerten Schund mehr absetzen könnten, so das Kalkül, wären sie gezwungen, volkswirtschaftlich sinnvolle, d.h. einfache, praktische, billige, haltbare Güter herzustellen. Das wäre dann »die Sozialisierung von der Konsumtionsseite her«.107 Auf diese Weise wurde das konkrete Heim jeder einzelnen schwedischen Familie als Chance begriffen, das große Heim der schwedischen Wohlfahrtsgemeinschaft zu bauen. Um die Individuen abzusichern, entwarfen die Sozialdemokraten ein umfangreiches Sozialstaatsprogramm. Dessen Fundament war bereits im späten 19. Jahrhundert gelegt worden, als liberale Politiker durch Sozialgesetze die überkommene Armenunterstützung optimieren wollten. Sozialhilfe sollte als Hilfe zur Selbsthilfe dienen, damit die Unterstützungsempfänger sich in ein bürgerliches Leben zurückarbeiten konnten. Dabei wurde stets zwischen »würdigen« und »unwürdigen« Leistungsempfängern unterschieden und nur ein Minimum an Leistungen gewährt, um eine »Empfängermentalität« zu verhindern. Diese Sozialhilfe sollte Nichtbedürftige abschrecken und als letztes Schutznetz dienen. Wichtige sozialpolitische Institutionen und Gesetze gehen auf diese Zeit zurück; nun wollten die Sozialdemokraten eine materielle Grundsicherung gewährleisten, die prinzipiell allen Mitbürgern zustehen, nach normierten, einheitlichen Bemessungsgrundlagen zuerkannt werden, steuerfinanziert 106. M. Hallberg/T. Jonsson, »Allmänanda och självtukt«; T. Tilton, The Political Theory of Swedish Social Democracy; T. Jonsson, »Att anpassa sig efter det möjliga«; Y. Hirdman, Vi bygger landet, S. 129-231; S. O. Karlsson, Det intelligenta samhället, S. 241-654; F. Sejersted, Socialdemokratins tidsålder, S. 21-355. 107. Y. Hirdman, Att lägga livet till rätta, S. 92-97 (Zitat S. 95).

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sein und prophylaktisch wirken sollte. Das war kein rein fürsorgliches Denken, vielmehr sollte Sozialpolitik explizit dazu dienen, ein »gesundes« und »frisches« Volk schaffen und für die Anforderungen der Moderne zu rüsten. Sie sollte die Verantwortung der schwedischen Bevölkerung für das eigene Volk und die eigene Nation wecken und eine Art sozialer Staatsbürgerschaft schmieden. Ausgegrenzt wurden nun »asoziale« oder auch nur sozial nicht hinreichend eingepaßte Menschen.108 Und damit lebte der paternalistische Zug aus dem 19. Jahrhundert fort. Der Staat war zwar verpflichtet, seinen Bürgern in Not zu helfen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, aber zugleich war es seine Aufgabe, ihre Lebensführung zu regulieren, sei es durch Wohnungskontrollen, durch die Rationierung von Alkohol oder die Bewilligungen von Abtreibungen, ein ganzes Bündel von Maßnahmen und Zugriffsmöglichkeiten, um Menschen am Maßstab einer »ordentlichen« Lebensführung auszurichten.109 Sozialpolitik blieb weiterhin ein moralisches Regime.

7. Eine korporativ ver faßte Gesellschaf t Der Auf bau des folkhem hatte nur in einer besonderen Gesellschaftsverfassung die Chance auf Verwirklichung. Wie sah diese Gesellschaft aus? Als Verfassungssystem entwickelte sich Schweden, wie andere Staaten, in einem langen Prozeß von einer absoluten Monarchie zu einer parlamentarischen Demokratie. Staatsoberhaupt blieb zwar der König, doch nach dem Ersten Weltkrieg lag die Macht endgültig in Händen der gewählten Regierung, die dem Parlament verantwortlich war. Die exekutive Seite dagegen unterscheidet sich nach wie vor erheblich von anderen westlichen Demokratien. Der Politologe Bo Rothstein unterscheidet mehrere Modelle: Im »legal-bürokratischen Modell« folgen unabhängige Beamte strikt einem Regelsystem. Das ist unflexibel und hierarchisch, aber nachvollziehbar; Entscheidungen werden durch die Interpretation von Regeln getroffen. 108. K. Åmark, Hundra år av välfärdspolitik; R. Nilsson, Kontroll, makt och omsorg, S. 107-143, 219-293; A. Berge, Medborgarrätt och egenansvar; P. G. Edebalk, Välfärdsstaten träder fram; S. E. Olsson, Social Policy and Welfare State in Sweden; M. Sjögren, Fattigvård och folkuppfostran; M. Hedin, Ett liberalt dilemma; B. Jordansson, Den goda människan från Göteborg; B. Plymoth, Fostrande försörjning; T. Kulawik, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft; F. Lundgren, Den isolerade medborgaren; K. Ohrlander, I barnens och nationens intresse; F. Lagergren, På andra sidan välfärdsstaten. 109. I. Knobblock, Systemets långa arm; K. Bruun/P. Frånberg, Den svenska supen; E. Palmblad, Den disciplinerade reproduktionen.

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Im »professionellen Modell« setzen ständische Berufsgruppen staatliche Vorgaben in die Praxis um. Sie zeichnen sich einerseits durch hohe Sachkenntnis, andererseits durch ein enges Verhältnis zu ihrer eigenen Klientel aus, sind also gleichzeitig Interessenorganisationen. Im »korporativen Modell« dagegen sind Interessengruppen auf eine ganz andere Weise in die Exekutive eingebunden. Sie verschmelzen institutionell mit dem Staat. Die Politik setzt durch Gesetze nur einen Rahmen, der durch die ausführenden Organe konkretisiert wird. Die Implementierung wird teilweise diesen Gruppen übertragen, die in die beschlußfassenden Organe integriert werden. Dadurch sind sie zu einem permanenten Aushandeln mit anderen Interessengruppen gezwungen, Entscheidungen werden in der Regel also als Kompromiß verwirklicht.110 Diese Modelle existieren natürlich nicht in Reinform, doch Schweden gilt für die Zeit von etwa 1935 bis 1970 als korporativer Staat.111 In den 20 Jahren darauf ist dieses System auf Reichsebene teilweise demontiert worden, während es in den Kommunen an Gewicht gewonnen hat.112 Rothstein argumentiert, daß dieses Modell dem Auf bau des Sozialstaates mit seiner hohen Steuerlast und seinen regulierenden Eingriffen die notwendige politische Legitimation verschaff t habe. Zum einen nämlich waren die Interessengruppen oft keine reinen Berufs- oder Ständeorganisationen, sondern folkrörelser (»Volksbewegungen«) wie etwa die Abstinenzlerbewegung oder die Gewerkschaften. Durch ihre Mitgliedschaft in solchen Bewegungen konnten, wenn auch indirekt, viele Bürger Einfluß auf die Ausgestaltung der Sozialpolitik nehmen. Waren diese Organisationen nicht direkt in die Entscheidungsprozesse integriert, so konnten sie sich oft zumindest über Stellungnahmen zu geplanten Gesetzen und den Vorschlägen der gewichtigen staatlichen Untersuchungskommissionen äußern (»Remißverfahren«). Als Nachteil dieses Modells mag gelten, daß auch hier die Größe 110. B. Rothstein, Den korporativa staten, S. 46-72. 111. Vgl. politologisch zum Korporatismus v.a. B. Rothstein, Den korporativa staten; L. Lewin, Samhället och de organiserade intressena; zum Verfassungsaufbau Schwedens T. Larsson, Det svenska statsskicket; I. Mattson/O. Petersson, Svensk författningspolitik; B. O. Birgersson/J. Westerståhl, Den svenska folkstyrelsen; sowie zur historischen Genese des korporativen Modells A. L. Johansson, Tillväxt och klassamarbete; S. Nycander, Makten över arbetsmarknaden; K. Samuelsson, Från stormakt till välfärdsstat; E. Uddhammar, Partierna och den stora staten. Die aus deutscher Sicht merkwürdigen Eigenarten der schwedischen Gesellschaftsverfassung zusammenfassend: B. Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, S. 357-377. 112. L. Lewin, Samhället och de organiserade intressena, S. 101. Zu den Kommunen: K. Östberg, Kommunerna och den svenska modellen, S. 252-254.

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einer Interessengruppe ihren Einfluß erhöht, daß Aushandlungen also durch Machtfaktoren gekreuzt werden. Ein weiteres Problem ist, daß die Einbindung dieser Gruppen in die Exekutive zu einem »Lagerwechsel« führen kann. Sie dienen dem Staat unter Umständen gegen ihre eigenen Mitglieder; das kann zu einem Legitimationsverlust sowohl für die Organisation wie die ausgehandelten Kompromisse führen. Grundsätzlich soll im korporativen Modell zwischen den Interessen des organisierten Schweden und des parlamentarischen Systems vermittelt werden, deshalb ist die Verwischung der Grenze zwischen Legislative und Exekutive programmatisch eingebaut. Es bleibt unklar, wo in diesem System Macht und Verantwortung verortet sind. Individuen müssen sich in Interessenorganisationen einbinden lassen, um Einfluß zu erlangen; gleichzeitig wählen sie aber Parlamentarier oder lassen sich wählen, sind also tendenziell mit je einer Stimme auf beiden Seiten ausgestattet. Es handelt sich um eine »parlamentarisch gesteuerte Institutionalisierung sozialer Interessengegensätze, die bewirkt, daß diese vom offenen Konflikt in verschiedene Formen der Kooperation überführt werden.« 113 Die Politik bestimmt, welche Organisationen in die Verwaltung integriert werden, wie deren Aufgabenbereich aussieht und welche finanziellen Mittel der Exekutive zur Verfügung stehen. Die Verwaltungsorgane wiederum werden nicht von den entsprechenden Ministern geleitet, sondern von unabhängigen (aber politisch ausgewählten) Direktoren. Die Judikative ist Teil der Verwaltung, keine unabhängige Gewalt (die Rolle der »Dritten Gewalt« wird traditionell der Presse zugeschrieben, die ihre Aufgabe allerdings bis weit in die 1950er Jahre eher als berichterstattend, nicht als investigativ verstand).114 Rahmengesetzgebung, indirekte Steuerung der Exekutive, keine unabhängig kontrollierende bzw. kontrollierende Gewalt (Justiz bzw. Medien), Einbindung unterschiedlicher Interessengruppen, institutionell organisierte Kompromißsuche, eine unklare Grenze zwischen Machtgruppierungen und Verantwortlichkeiten, vielleicht langwierige, aber vergleichsweise reibungsfreie politische Implementierungsprozesse, all das zeichnet das korporative Modell für unseren Untersuchungszeitraum aus. Es entstand allmählich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Mit dem »Arbeiterversicherungsrat« wurde 1888 ein erstes Verwaltungsorgan geschaffen, durch das soziale Reformen flexibler durchgeführt und besser legitimiert werden sollten. Partikular- sollten in Allgemeininteressen transformiert 113. B. Rothstein, Den korporativa staten, S. 64. 114. Deshalb gibt es in zwei grundlegenden Lehrbüchern zur schwedischen Staatsverfassung jeweils ein Kapitel zur Presse, aber keines zur Justiz (T. Larsson, Det svenska statsskicket; B. O. Birgersson/J. Westerståhl, Den svenska folkstyrelsen).

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werden; Streitfälle sollten, wegen der Verfahrenslängen und mangelnder Fachkenntnisse der Richter, nicht vor Gericht, sondern durch dieses Organ entschieden werden. Dadurch war die formale Gesetzesauslegung vor Gericht zumindest teilweise durch eine Interessenabwägung innerhalb der Korporation abgelöst. Zugleich durfte das Verwaltungsorgan Gesetzesentwürfe einbringen, es übernahm also Aufgaben der Legislative, Exekutive und Judikative zugleich. Vertreter der Arbeiterbewegung, der Arbeitgeber und Beamte der Sozialbehörden konferierten in den 1910er Jahren regelmäßig, um an der Ausgestaltung der Sozialpolitik mitzuwirken. Diese Treffen nahmen einen immer offizielleren Charakter an und stärkten den Kooperationswillen. Die Arbeitgeberseite wurde auf diese Weise in die Etablierung des Sozialstaates eingebunden, die Arbeitnehmerseite war lange vor dem Prinzip der demokratischen Repräsentation im Parlament in korporativen Institutionen präsent und einflußreich. In den 30er Jahren wurde der Verwaltungskorporatismus dann zementiert, als die Regierung die Wirtschaftskrise mit Hilfe der Bauernpartei und der Gewerkschaften zu bekämpfen suchte. Sie erhielten weitgehende Regelungskompetenzen in ihren jeweiligen politischen Feldern, und damit begann die systematische und enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Organisationen. Die Sozialdemokraten banden die Gewerkschaften in die Verwaltungsarbeit ein, um die Legitimität ihrer Arbeitsmarktpolitik zu sichern. Das konnte allerdings auch mißlingen, wie die Alkoholpolitik zeigt. Das Verfahren, Alkohol durch ein staatliches Verkaufsmonopol mit Hilfe von Rationierungsbüchern zu regulieren, stieß jahrzehntelang auf Widerstand, weil die Maßnahmen nicht durch Gesetz gedeckt waren, die Kontroll- und Bewilligungspraxis durch das Monopol als willkürlich und demütigend empfunden wurde, das System der Ausnahmen schwerfällig und ungerecht war, und weil sich die Abstinenzlerbewegung nicht richtig in das korporative System einspannen ließ.115 Umgekehrt konnten mißliebige Organisationen aus den beschlußfassenden Organen hinausmanövriert werden. Manchmal entledigten sich die Organisationen des Staates, beispielsweise 1938 im berühmten Abkommen von Saltsjöbaden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber vereinbarten ein Regelwerk für Auseinandersetzungen auf dem Arbeitsmarkt, durch das staatlicher Einfluß vermieden wurde. Der Name des Ortes ihres Treffens ist seitdem eine ähnlich eingängige Metapher für den korporativen Staat wie der Begriff des folkhem für den So115. Vgl. zu Genese und Scheitern dieser Alkoholpolitik v.a. I. Knobblock, Systemets långa arm; K. Bruun/P. Frånberg, Den svenska supen; S. Nycander, Svenskarna och spriten; S.-Å. Lindgren, Den hotfulla njutningen; P. Frånberg, Umeåsystemet.

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zialstaat. Umgekehrt erhielten Verwaltungsorgane manchmal das Recht, aus sachlichen Gründen (um beispielsweise die Flexibilität in Einzelfällen zu erhöhen) die Anwendung von Gesetzen auszusetzen, außerdem haben »Gerichte und andere Verwaltungsorgane«116 seit 1979 das Recht, Gesetze, die gegen die Verfassung verstoßen, im Einzelfall nicht anzuwenden – sie werden also weder insgesamt für verfassungswidrig erklärt noch ist ihre Anwendung für alle Verwaltungsorgane untersagt. Vor 1979 wurde der Umgang mit verfassungswidrigen Gesetzen pragmatisch gehandhabt, seitdem werden Gesetze vor ihrer Verabschiedung von einem Rat geprüft. Gegen ein Verfassungsgericht haben sich die Sozialdemokraten mit dem Argument gesperrt, daß Juristen auf diese Weise in die Ausgestaltung der Politik eingreifen könnten. Statt dessen wirkt oft die Regierung als letzte juridische Instanz in verwaltungsrechtlichen Streitfällen, da ein Verwaltungsakt als Resultat politischer Willensäußerung gelten kann und es deshalb sinnvoll erscheint, Streitfälle zurück an die Politik zu übertragen, um durch sie eine abschließende Interpretation vornehmen zu lassen.117 Kein Bereich der schwedischen Politik, nicht einmal die Verfassungspolitik, ist frei von korporativen Elementen. Bis Ende der 1980er Jahre wurde das nicht als Problem verstanden. Im Gegenteil: Das System, so Bo Rothstein, sei etwa dem der Sowjetunion, Großbritanniens oder Frankreichs überlegen, weil es »maßvoll« (lagom) ausfalle. Es zeichne sich durch eine hohe administrative Kapazität, die Ausrichtung auf das Gemeinwohl und eine weitgehende Offenheit des Staates gegenüber der Gesellschaft aus. Die politischen Parteien hätten lange Zeit geradezu gewetteifert, Machtbefugnisse des Reichstags auf Interessenorganisationen und damit auf die Ebene der Exekutive zu übertragen. Erst Ende der 80er Jahre, so Rothstein weiter, kam das Modell in die Kritik. Eine staatliche Untersuchung empfahl zur Überraschung einiger politischer Akteure, Interessengruppen nur noch beratend in das politische System zu integrieren. 1992 zog sich die Arbeitgeberseite einseitig aus den meisten korporativen Organen zurück. Und vor dem Europäischen Gerichtshof wird Schweden regelmäßig verurteilt, weil die fehlende Gewaltenteilung die Rechte der Bürger einschränkt – im Arbeitsgericht urteilten auch 1992 noch Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite gemeinsam, d.h. die jeweils beklagte Seite urteilte stets im eigenen Fall. Das höchste schwedische Gericht hatte trotzdem Befangenheit verneint, da die Interessenvertreter in den jeweiligen Spezialgerichten nicht die Aufgabe hätten, ihre Organisationen zu repräsentieren. Vielmehr 116. B. Rothstein, Den korporativa staten, S. 196 (Hervorh. im Orig.). 117. Diese in Schweden durchaus akzeptable Erklärung referiert T. Larsson, Det svenska statsskicket, S. 365. In unteren Instanzen werden Fälle oft von gerichtsähnlichen Verwaltungsorganen entschieden (ebd., S. 374).

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baue die Gesetzgebung darauf, daß sie unparteiisch urteilten; es sei also unangemessen, sie per se als voreingenommen zu betrachten. Der Europäische Gerichtshof folgte dieser etwas merkwürdigen Argumentation nicht und verurteilte Schweden mehrfach für den Bruch der Menschenrechte. Die schwedische Regierung wollte trotzdem das System der korporativen Spezialgerichte beibehalten – nur die Fälle, die Europas höchstes Gericht verwarf, sollten von anderen Instanzen verhandelt werden. Die kritische Diskussion über die Legitimität des korporatistischen Systems ließ sich jedoch auch in Schweden nicht mehr auf halten.118

8. Kollektiv/Indiv iduum Es gibt zwei wichtige Voraussetzungen dafür, daß die Interessenorganisationen sich tatsächlich auf die komplexen Aushandlungsprozesse einließen und schon in der autoritären Modellen zugeneigten Zwischenkriegszeit ihre Partikularinteressen zugunsten von Kompromissen und des Allgemeinwohls zurückstellten, nämlich eine spezifische Mentalität und eine spezifische Staatsphilosophie. Sozialhistorisch nicht zu unterschätzen sind die folkrörelser, die Schweden seit dem 19. Jahrhundert prägen. Zu den wichtigsten zählen die Freikirchen, die Abstinenzler- und die Arbeiterbewegung, die Kooperativen, die Bildungsbewegung, die Sport- und Gymnastikvereine sowie die Frauenbewegung. Diese Volksbewegungen gewannen großen Einfluß auf die gesellschaftliche wie politische Ausgestaltung der Nation. Zum einen bildeten sie durch hohe Mitgliederzahlen einen mächtigen politischen Faktor. Zum andern formten sie ihre Mitglieder mental. Kollektives Verhalten und die Ahndung von Abweichungen waren notwendige Tugenden dieser Bewegungen, um ihre Stärke zu sichern. Darüber hinaus jedoch verankerten sie das skötsamhets-Ideal bei ihren Mitgliedern.119 Skötsam zu sein bedeutet, sich in jeder Lebenslage ordentlich zu führen, sich nicht gehen zu lassen, keinen Lastern zu frönen. Es ist ein religiös motivierter moralischer Imperativ mit konkreten Effekten auf die Lebenspraxis der Menschen, indem er kollektive Verhaltensweisen stärkt. Sich skötsam zu führen, stellte für die Individuen eine Art Ehrenauszeichnung dar, während Organisationen dadurch ihre Respektabilität beweisen konnten. Auf diese Weise formierte sich allmählich ein Lebensstil, der bis heute durch das Bemühen geprägt ist, nicht aus dem Rahmen zu fallen, Konflikte zu vermeiden, Kompromisse zu schließen, das Kollektiv über das Individuum 118. B. Rothstein, Den korporativa staten, S. 350f. 119. Nach wie vor grundlegend zu diesem Thema: R. Ambjörnsson, Den skötsamme arbetaren.

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zu stellen und dem Kollektiv (vertreten durch die staatlichen Institutionen) weitreichende Entscheidungsbefugnisse über das Individuum zu übertragen.120 Das machte das korporative System überhaupt erst möglich und effektiv. Zu Beginn der 1990er Jahre waren nur sechs Prozent der Schweden nicht Mitglied einer Organisation, viele waren Angehörige mehrerer Vereine.121 Der auch früher hohe Organisationsgrad schulte im gesamten 20. Jahrhundert eine deutliche Mehrheit der Schweden in den Techniken des Verhandelns, Argumentierens und Organisierens; darin, Mehrheiten zu finden und Niederlagen hinzunehmen, und das verfestigte sich zum Ideal des Einvernehmens (samförstånd).122 Der »Geist des Einvernehmens« trug dazu bei, die Volksbewegungen korporativ in den Gesellschaftsapparat zu integrieren. Es handelte sich also nicht um Kaninchenzüchter und Kleingärtner, die sich mit stiller Vereinsmeierei begnügten, sondern um – in heutiger Sprache – Bürgerinitiativen, die darauf zielten, ihre Kandidaten und Vorstellungen in staatliche Entscheidungsprozesse einzuschleusen. Gewalt als politisches Mittel wurde – selbst als 1917 die Revolution drohte – zugunsten des Dialogs ausgeschlossen.123 Da sie auf die Gesellschaft, an deren Auf bau sie beteiligt waren, verändernd Einfluß zu nehmen wünschten, wurde für die Volksbewegungen Anpassung an gegebene Verhältnisse »ein natürliches Verhalten«.124 Damit war zugleich eine wichtige Legitimation für den behördlichen Kontrollapparat gelegt. Wer den eng gesteckten Rahmen »normalen« sozialen Verhaltens verließ, wurde zum Objekt von disziplinierenden Regulierungsmaßnahmen – innerhalb der Volksbewegungen durch die Mitglieder, in der Gesellschaft durch die Behörden. Dadurch übten Organisationen und Staat einen normalisierenden Effekt aus. Sie veranlaßten die Bevölkerung einschließlich der Eliten, sich durch von ihnen als Mitgliedern gutgeheißene Kontrolltechniken selbst zu disziplinieren und skötsam zu verhalten. Organisationen und staatliche Institutionen sind in diesem System derart eng verflochten, daß es kaum Sinn macht, »Staat« und »Gesellschaft« zu unterscheiden. Der Begriff samhälle kann sowohl den »Staat«, die »Gesellschaft«, die »Gemeinde« bzw. Ortschaften und die »Gemeinschaft« 120. Vgl. M. Micheletti, Det civila samhället och staten; H. Johansson,

Folkrörelserna i Sverige. Zur Bedeutung der Bildung in der Arbeiterbewegung: P. Sundgren, Kulturen och arbetarrörelsen; B. Olsson, Den bildade borgaren; B. Gustavsson, Bildningens väg. 121. T. Larsson, Det svenska statsskicket, S. 319f. 122. Dazu M. Åberg, Samförståndets tid; B. Jacobson, Slaget om Sverige. 123. C. G. Andræ, Revolt eller reform. 124. H. Johansson, Folkrörelserna i Sverige, S. 224.

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bezeichnen.125 Die schwach ausgeprägte Differenzierung entspricht einer Staatsphilosophie, die stark durch die Uppsala-Schule des »skandinavischen Realismus« beeinflußt ist. Sie gibt sich dezidiert antimetaphysisch und will nur Rechtsbegriffe verwenden, die sich auf empirische Phänomene in der realen Welt beziehen. Aus dieser Welt lasse sich kein Sollen ableiten, weshalb ethische Aussagen sinnlos seien.126 Diese Position mag extrem klingen, hat die schwedische Geschichte aber bis mindestens in die 1970er Jahre geprägt. Die Aufnahme der Grund- und Menschenrechte in die Verfassung wurde von langen Diskussion über deren metaphysischen Charakter begleitet. Noch 1992 warnte ein Staatsrechtler, daß ein Katalog der Freiheitsrechte die Arbeit der Justiz politisieren und notwendige Reformen einschränken könnte127 – ein Argument, das auch die Sozialdemokraten immer wieder gegen eine zu detaillierte Verfassung vorbrachten. Piero Colla argumentiert, daß Schweden aus dieser Haltung heraus bereits Schwierigkeiten gehabt habe, auf Distanz zum Nationalsozialismus zu gehen. In einem System, daß auf Kompromißfindung setze, werde Anpassung nicht einfach als Notwendigkeit, sondern als Zeichen für Vernunft gesehen, für eine undogmatische Wahrnehmung der Welt. Der Druck, die Position von Verhandlungspartnern verstehen zu müssen, habe eine Haltung begünstigt, verschiedene Formen der gesellschaftlichen Organisation grundsätzlich zu akzeptieren. Weil Legitimität außerdem stark an kollektive Interessen gekoppelt sei und den Schweden ein mächtiges, überpositiv begründetes Moralsystem gefehlt habe, sei das »Dritte Reich« tendenziell als eines von mehreren legitimen Gesellschaftssystemen wahrgenommen worden, so daß eine moralische Stellungnahme erschwert und der grundlegende Charakter des Konflikts zwischen Demokratie und Totalitarismus nicht erkannt worden sei.128 Die Stärke dieses Denkens ist es, jedes Individuum und jedes Gesellschaftssystem grundsätzlich als gleichberechtigt zu betrachten und Legitimation an die Kraft sachlicher Argumente, qualifizierter Mehrheiten und technischer Lösungen zu koppeln. Das stabilisierte das politische System in Schweden derart, daß beispielsweise zwischen 1906 und 1992 die Geschicke des Landes nur 33 Jahre lang von Mehrheits-, aber ganze 51 Jahre

125. Vgl. zur Begriffsproblematik B. Henningsen, Nachwort; A. Bänsch, Zur kulturellen Konstruktion von Gemeinschaften; J. Asplund, Essä om Gemeinschaft och Gesellschaft, S. 8. 126. Dazu J. Bjarup, Skandinavischer Realismus; vgl. auch N. Witoszek, Fugitives from Utopia. 127. T. Larsson, Det svenska statsskicket, S. 26, 33. 128. P. Colla, Race, Nation, and Folk.

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lang von Minderheitsregierungen geführt wurden.129 Man muß nicht in der Regierung sein, um die Interessen der eigenen Klientel erfolgreich zu vertreten. Man kann sich aus interessenspolitischen Erwägungen in die Opposition zurückziehen, ohne die Kosten – Einflußlosigkeit oder eine blockierte Regierung – tragen zu müssen, da die Konsenskultur beides verhindert. Deshalb war dieses System in der Lage, auch schwere Krisen effektiv zu bewältigen. Die Schwäche ist, daß eine moralisch oder ideologisch fundierte Position leicht als »irrational« pathologisiert wird. Dissens darf sich nicht aus prinzipiellen (metaphysischen) Gründen speisen, sondern ist nur legitim als pragmatisches Mittel zur Lösung konkreter Probleme. Gleichzeitig allerdings ist in Schweden das Vertrauen in die staatlichen Instanzen derart ausgeprägt, daß eine letzte Sicherung durch Metaphysik, überpositives Recht oder auch nur ein Verfassungsgericht kaum vermißt, ja sogar dezidiert abgelehnt wird. Die institutionellen Sicherungen durch Verfahrensregelungen waren selbst in den 30er Jahren hinreichend stark und wurden von den politischen Akteuren akzeptiert, um die Gefahr einer Entwicklung wie in Deutschland zu bannen. Henrik Berggren und Lars Trägårdh behaupten, daß Schweden einer der individualistischsten Staaten der Erde sei.130 Hans Fredrik Dahl stellt fest, daß die skandinavischen Staaten wenig Sinn für Pluralismus aufwiesen. »Auf manche Weise sind dies nicht besonders experimentierfreudige Gesellschaften, sie haben keine Freude am Unterschied, an exzentrischen Ideen, an echter Individualität. […] Ihre Fähigkeit, Alternativen zu tolerieren und eine Vielzahl von Gruppen und Meinungen hervorzubringen, ist relativ schwach ausgeprägt.«131 Wie paßt das zusammen? Bei einer Antwort vermag Nils Herlitz zu helfen, der in seiner »Schwedischen Gesellschaftslehre« 1929 vier Arten beschrieb, in denen sich das Individuum zum Staat verhalten könne. Negativ war ihm die Freiheit des Individuums vom Staat. Als passiv bezeichnete er die Erbringung von Schuldigkeiten gegenüber dem Staat, als positiv den Schutz des Individuums durch den Staat und als aktives Verhältnis die bewußte Wahrnehmung von Pflichten gegenüber dem Vaterland, etwa die Ausübung des Wahlrechts.132 Der erste und dritte Punkt passen zu Berggrens und Trägårdhs Postulat, daß das Individuum emanzipiert worden sei, indem man es von sozialen Beziehungen entledigt und unmittelbar zum Staat gestellt habe.133 Das begreifen sie als echte 129. Vgl. die Aufstellung in T. Larsson, Det svenska statsskicket, S. 172. 130. H. Berggren/L. Trägårdh, Är svensken människa?, S. 9-11. 131. H. F. Dahl, Die Gleichheit und ihre Folgen, S. 106f. 132. N. Herlitz, Svensk samhällslära, S. 125-132. 133. Siehe unten, Kap. V.

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IV Das Projekt Moderne

Freiheit, und folgerichtig bedeutet Freiheit vom Staat dann vollkommene Einsamkeit, die reine Leere – so wie es ein verzweifelter Mann 1967 in einem Brief an Alva Myrdal auf den Punkt brachte: »Ich bin immer nüchtern und ordentlich gewesen, habe meine Steuern ordentlich bezahlt, seit ich 16 Jahre alt war, und soll von der Gesellschaft ausgestoßen werden.«134 Der vierte Punkt deutet die Art an, durch die Individuum und Staat verbunden sein sollten, eben nicht durch die passive Erbringung von Schuldigkeiten (Punkt zwei), sondern durch ein aktives Verhältnis. Das Individuum muß Rechte wahrnehmen. Und das tut es, indem es sich in Volksbewegungen engagiert, in die große »Kompromißmaschinerie« einbringt und an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirkt.135 In dieser Maschine wäre es kontraproduktiv, durch exzentrische Positionen radikale Veränderungen bewirken zu wollen. Pluralismus beschränkt sich deshalb auf die unterschiedlichen Standpunkte der Interessengruppen, die am Ende des Verfahrens in einer realisierbaren, gemeinsamen Entscheidung münden sollen. Deshalb ist die dezidierte Einfügung in den Rahmen, der durch Gesetze, Verfahren und die permanente Notwendigkeit, sich verstehend und kompromißbereit aufeinander einzulassen, gezogen wird, unumgehbar. Der Rahmen ist sehr eng, und innerhalb dieses Rahmens werden dann durchaus radikale Lösungen für schwierige Probleme gefunden, zu denen stärker konfliktorientierte Gesellschaften oft nicht in der Lage sind, weil dort das Recht auf fundamentalen Widerstand akzeptiert ist. Ist in Schweden eine Entscheidung im Konsens gefallen, gibt es kaum noch eine Legitimationsgrundlage, sich ihr zu entziehen, es sei denn um den Preis, als »unvernünftig« zu gelten. Durch diese Maschine wurde ein Staat aufgebaut, der emphatisch auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Emanzipation setzt, und der zugleich eine extreme Individualität mit einem extremen Kollektivismus und einem dezidierten Antipluralismus verbindet. So läßt sich auch der paradoxe Beitrag der Kirche zur Genese dieses Modells erklären. Seit der Frühen Neuzeit war die Kirche Teil des Staates. Die Pfarrer, vom Staat besoldet, dienten als dessen Repräsentanten in den Kommunen. Sie erhoben Daten, verkündeten die Gesetze der Regierung und erzogen die Menschen jahrhundertelang auf eine doppelte Weise zur Konformität. Von ihnen als Untertanen des Königs verlangten sie Respekt vor der Obrigkeit, als Angehörigen der Kirche predigten sie ihnen einen 134. Gustaf W. an Alva, Nov. 1967 (ARAB 405/3.1.4:23). Diese tragische Feststellung faßt eine der größten existentiellen Bedrohungen, der ein schwedisches Durchschnittsleben ausgesetzt sein kann, zusammen. 135. Eine kleine Broschüre des KF fordert 1932 sogar, den Kompromiß zum »Kulturideal« zu erheben und zu wahren: R. Lindström, Om kompromiss (Zitat S. 30).

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puritanischen, orthodox-lutheranischen Glauben, »[that] consists in the idea of stability and continuance, in the assurance, that deep in ourselves is a core of authenticity that gives us faith in a unitary, indivisible social organization with a unified set of moral norms. These teach us that the good life is one lived in conformity. And conformity here means ›having the same form‹, with the emphasis on same.«136 Dazu gehörten außerdem Verhaltensweisen, die in die mentale Tiefenstruktur der Schweden übergegangen sind, nämlich Fleiß, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Askese, eine Lehre, die die (Selbst-)Verantwortung des Individuums und durch seine basiskirchlichen Züge (lågkyrklighet) das Gleichheitsideal stärkte – »all prerequisites for liberal democracy«.137 Das Monopol der Staatskirche wurde im 19. Jahrhundert durch religiöse Erweckungsbewegungen gebrochen. Da der Staat diese Entwicklung erst zwischen 1858 und 1863 durch mehrere Gesetze sanktionierte, boten die Freikirchen eine Reihe von Jahrzehnten die Möglichkeit zu echtem Dissens – der sich jedoch nicht zum offenen Konflikt auswuchs, weil die Staatskirche Boden preisgab. Zugleich bedeutete die Mitgliedschaft in einer Freikirche eine wichtige Schulung in organisierter Demokratie und Konsenskultur, und die Staatskirche wandelte sich unter dem Druck der Konkurrenz zu einer Volkskirche, die institutionell mit dem Staat verbunden blieb und von den Sozialdemokraten in ihr folkhem-Modell eingebunden wurde. Hatten die SAP die Kirche ursprünglich als »Instrument der Klassenherrschaft« zerschlagen wollen, so integrierte sie diese nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in den Staat. Was also wie ein Bruch aussieht, erweist sich tatsächlich als Transformation, durch die spezifische Merkmale der schwedischen Mentalität in die korporative Ausgestaltung des folkhem überführt wurden.138 Faßt man die hier angesprochenen Elemente zusammen, so wird plastisch, was die schwedische Gesellschaftsordnung so deutlich von totalitären Systemen der Zwischenkriegszeit unterschied, zugleich aber ein optimales Tätigkeitsfeld für Sozialingenieure schuf – ja, deren Denken prägte und in seiner Radikalität in Schweden überhaupt erst ermöglichte. Grundsätzlich ist die Konfliktarmut begünstigt worden, weil Schweden ein sozial, kulturell und religiös relativ homogenes Land mit einer relativ kleinen 136. H. Stenius, The Good Life is a Life of Conformity, S. 167 (Hervorh. im

Orig.). 137. D. Thorkildsen, Religious Identity and Nordic Identity, S. 158. 138. Vgl. B. Stråth, Der Volksbegriff in der Organisation der Religionsausübung Schwedens; D. Thorkildsen, Religious Identity and Nordic Identity; O. Bexell, Kyrka och gudtjänst; Ders., Uppbrottet ur enhetskyrkan; C. Bergström, Lantprästen.

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IV Das Projekt Moderne

Bevölkerung war. Bereits in der Frühen Neuzeit, darauf weist Heiko Droste hin, hat sich zudem der Staat durch eine starke Zentralgewalt, einen effizienten bürokratischen Apparat und die vergleichsweise präzise und weitgehende Erfassung der Bevölkerung und Ressourcen ausgezeichnet. Das erleichterte die Aushebung von Soldaten und das Eintreiben der Steuern. Bemerkenswert sei dabei, daß die weitgehenden staatlichen Eingriffe in der Bevölkerung kaum auf Widerstand gestoßen seien. Unruhen und Konflikte, die es natürlich auch in Schweden gab, seien zumeist gewaltfrei beendet worden. Der König sei durch eine Rhetorik der Partizipation in den Staat eingebunden worden, die von allen gesellschaftlichen Gruppen geteilt worden sei. Auf die Zeitgeschichte ausgreifend konstatiert Droste, daß Schweden nach wie vor eine unpolitische Gesellschaft ist. »Ihr Erfolg scheint nicht zuletzt im Mangel in prinzipiellen Auseinandersetzungen über Fragen politischer ›Wahrheit‹ zu liegen. An die Stelle einer ausformulierten Politik tritt die ›Policey‹, also die auf das Gemeinwohl orientierte Ordnungsfunktion des Staates, die als Idee deutlich an das Ordnungsdenken der Frühen Neuzeit erinnert.«139 Diese Entwicklung wurde durch weitere Faktoren begünstigt bzw. verfestigt. Die weitaus meisten Menschen lebten auf dem Lande, freie Bauern standen einem vergleichsweise wenig mächtigen Adel gegenüber. Die Kommunen genossen einen hohen Grad an Autonomie, in der Selbstverwaltung wurde die Aushandlung von Kompromissen geschult – wobei diese kleinen Einheiten zugleich den kontrollierenden Durchgriff des Staates erleichterten. In den ländlichen Industrieorten (brukssamhällen) verschwamm die Grenze zwischen »privat« und »öffentlich«, weil Unternehmen, Kirche und Schule eine paternalistische Dreieinigkeit bildeten. Die Vorstellungen von der Welt jenseits der eigenen Gemeinschaft waren diff us, Betriebsdirektor und Unternehmer vermittelten Geborgenheit, und diese protokapitalistische Gesellschaftsordnung war eine wichtige Quelle für das skötsamhets-Ideal und die Idee des Guten Staates sowie des Guten Heims.140 Die Volksbewegungen und das Institut der staatlichen Untersuchungskommissionen wiederum boten Bevölkerung wie Eliten eine Schule, in der sie lernten, durch unideologisch-empirische Arbeit zu pragmatischen Lösungen im Konsens zu finden. Auf der politischen Ebene wurde Konfliktpotential entschärft, weil das konservative Lager parteipolitisch schwach war und ohnehin keinem Manchesterliberalismus huldigte, während sich Sozialdemokraten und sogar Kommunisten dezidiert pragmatisch gaben; die Staatsphilosophie zeichnet sich nicht durch doktrinäre 139. H. Droste, Das schwedische Volksheim, S. 146. 140. J. Larsson, Hemmet vi ärvde, S. 160-162; R. Ambjörnsson, Den skötsamme arbetaren, S. 52.

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Wahrheiten, sondern die flexible Verwendung einer eher verwaschenen Begrifflichkeit aus. Nimmt man die Neigung zu technischen Lösungen,141 die Ritualisierung des alltäglichen Lebens und das berüchtigte »Jantelov« hinzu – »Du sollst Dir nicht einbilden, etwas Besseres zu sein« –,142 so erhält man das Bild einer Gesellschaft, deren Konfliktvermeidungspotential, in allen gesellschaftlichen Bereichen institutionalisiert, weniger auf pathologische Züge schließen läßt, wie Susan Sontag in einem berühmten Diktum suggerierte, sondern den Primat der Inklusion geradezu zur Staatsreligion erhebt, eine Inklusion, die sich an der jeweiligen Realität, nicht an Dogmen ausrichtet, und deshalb in einem permanenten Wechselspiel von Beobachtung, Aushandlung, Kontrolle und Durchgriff immer wieder neu vollzogen werden muß, das die Menschen selbst vollziehen und nicht vom Staat oktroyiert bekommen. Noch 2003 konnten in einem Nachschlagewerk zur schwedischen Geschichte Idealismus der Volksbewegungen, Pflichtbewußtsein der Beamten und die sozialdemokratische Disziplinierung durch Kontrolle und Regulierung gleichberechtigt als »moralische Elemente« bezeichnet werden, die in den 80er Jahren geschwächt worden seien.143

141. Dazu A. Elzinga/A. Jamison/C. Mithander, Swedish Grandeur. 142. Dieses »Gesetz der recht und billig Denkenden« hat der Schriftsteller Aksel Sandemose in seinem Roman »En flykting korsar sitt spår« (1933) formuliert. 143. J. Melin/A. W. Johansson/S. Hedenborg, Sveriges Historia, S. 412.

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1. »Ist der Schwede Mensch?« Das folkhem war rasch mehr als politische Rhetorik oder ein austauschbares Ideal, nämlich ein Ordnungsmodell, eine Lebenshaltung, eine normative Selbstbeschreibung der Nation. Konsens, Vernunft und Gemeinschaft machen, aus Sicht der Schweden, den großen Zivilisationsvorsprung ihres Landes gegenüber weiten Teilen der Welt aus. Das folkhem bedeutet für die Menschen eine geradezu vollkommene Geborgenheit, denn ein fürsorglicher Staat schirmt sie vor den materiellen Unbilden des Lebens ab und gibt ihnen einen ideellen Rahmen. Er formalisiert die sozialen Beziehungen, strukturiert eine überschaubare Möglichkeit von Lebenswegen und kompensiert durch seine Hilfe mögliche Schicksalsschläge, die sich nie ausschalten lassen. Seit 1989, so wird geklagt, zerfällt dieses Modell, weil immer mehr Akteure Einvernehmen (samförstånd) für unwichtig, mehr Konflikt aber für nützlich halten. Globalisierung, »Elitismus« und eine erneute »soziale Arroganz« der Oberschichten zersetze die Gemeinschaft, die unter Per Albin Hansson aufgebaut und durch seine Nachfolger ausgebaut worden sei.1 Ein weiterer, eigentümlicher »Reisebericht« entwirft 2006 noch einmal das Idealbild einer harmonischen, freiheitlichen Gemeinschaft, 2 und diese Schrift bildet eine ideale Folie, durch die sich Alva und Gunnar Myrdal als Sozialingenieure beobachten lassen. Die Historiker Henrik Berggren und Lars Trägårdh präsentieren in ihrem Buch »Är svensken människa?« (»Ist der Schwede Mensch?«) Schweden als eine extrem individualisierte Gesellschaft. In den meisten Gesellschaften, beobachten sie, bauen menschliche Beziehungen auf gegenseitiger Abhängigkeit, hierarchischer Einordnung und unmittelbarer Verpflichtung gegenüber den Nächsten 1. So die Kritik von B. Elmbrant, Så föll den svenska modellen. 2. H. Berggren/L. Trägårdh, Är svensken människa?

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auf. Der schwedische Wohlfahrtsstaat dagegen gewährt den Staatsbürgern maximale Freiheit von traditionalen Gemeinschaftsbanden, also Familie, Stand und Zunft, indem er sie unmittelbar zum Staat stellt. Alle Beziehungen der Menschen untereinander lassen sich notfalls mit Hilfe staatlicher Institutionen und von Gesetzen regeln, auf intransparente Systeme wie die »Ehre« ist man nicht mehr angewiesen. Zahlreiche Institutionen und Transferleistungen sorgen dafür, potentiell schwache Mitglieder der Gesellschaft der Macht ihrer Mitmenschen zu entziehen, etwa indem Sozialleistungen an Individuen, nicht an Familien (also Familienoberhäupter) gezahlt werden. Schon Platon, so Berggren und Trägårdh, identifizierte die Loyalität gegenüber Familien als demokratietheoretisches Problem, da es sich um traditionell nichtdemokratische Gemeinschaften handele, geradezu Feinde der Demokratie. Der schwedische Wohlfahrtsstaat habe daher begonnen, die Funktionen der Familie zu verstaatlichen, um Frauen und Kinder zu befreien – und deshalb könne schließlich auch der Mann seine traditionalen Rollenmuster aufgeben. In Schweden seien die Menschen nicht abhängig, verpflichtet und untergeordnet, weder wirtschaftlich, sozial noch emotional. Das nennen Berggren und Trägårdh »den schwedischen Staatsindividualismus« (den svenska statsindividualismen), er mündet in »der schwedischen Theorie der Liebe« (den svenska teorin om kärlek): Liebe baut nicht auf Abhängigkeit, sondern ruht auf dem festen Grund der persönlichen Autonomie. Nur autonome Subjekte können sich von Gleich zu Gleich begegnen, nur ein starker Staat kann diese Autonomie durch seine enge Allianz mit dem Individuum gewährleisten. Er setzt es derart frei, daß es kaum in die Verlegenheit kommt, sich abhängig fühlen zu müssen. Schweden zeichne sich also nicht durch soziale Kälte aus, sondern durch eine weitgehende Freiwilligkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen, und das heißt: durch Freiheit. Am Ende ist eine Gemeinschaft entstanden, die sich wahrer Empathie und konkreter Solidarität verdankt. Wer nicht dazugehören will, steigt aus. Das folkhem, so Trägårdh und Berggren, ist eine »besonders raffinierte und außerdem stabile Mischung aus Gemeinschaft und Gesellschaft«, eine Gemeinschaft, »die sich in Richtung einer atomisierenden Gesellschaft bewegt, die aber nicht den ganzen Weg zu Anomie und Entfremdung geht. Ein sozialer Kontrakt, der den anderen einladen kann, ohne ihn zu dominieren, wo das Gesetz und nicht die Ehre die leitenden Prinzipien sind.«3 Die Autoren stehen in einer mächtigen schwedischen Denktradition, die metaphysische und naturrechtliche Vorannahmen verwirft und statt dessen auf die Kraft des Faktischen setzt. Die zentralen Prämissen ihres 3. Ebd., S. 378, 388 (Hervorh. im Orig.; »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« im Orig. deutsch).

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Buches, daß sich nämlich die historische Entwicklung auch künftig unaufhaltsam in Richtung immer größerer Individualisierung und »Emanzipation« bewegt, entnehmen sie, so meinen sie, der Realität, nämlich der Geschichte. Sie vergleichen dann Schweden mit anderen Ländern, stellen dort den hohen Einfluß sozialer und emotionaler Abhängigkeiten fest, die Macht der Familien und der Kirche sowie unterentwickelte Sozialsysteme, und können so belegen, daß ihr Land historisch am fortschrittlichsten ist. Gleichzeitig sind Alternativen, z.B. eine fundamentale Kritik am schwedischen Modell, ausgeschlossen, denn daß sich etwa Menschen entschließen könnten, freiwillig ihre Souveränität zugunsten der Geborgenheit in der Familie aufzugeben, hat die historische Entwicklung ja definitiv als rückständiges Bewußtsein qualifiziert. Derart gewinnen Berggren und Trägårdh auf vermeintlich rein empirischem Weg die Norm für eine ideale, fortschrittliche Gesellschaft: das folkhem. Ihre Beschreibung vom (möglichen) Ende des folkhem her ist rückübertragbar auf dessen Beginn. Sie umreißt, zusammen mit dem im vorigen Kapitel skizzierten »Projekt Moderne«, den Kontext, die Utopie, die Sozialreformer wie Alva und Gunnar Myrdal geleitet hat. Diese Utopie wiederum macht verständlich, warum Berggren und Trägårdh ihre Prämissen gewählt und ein derartiges Buch geschrieben haben. Außerdem ist die Argumentationsstruktur typisch für Sozialingenieure wie die Myrdals, d.h. die Autoimmunisierung der eigenen Beobachtung durch die (unreflektierte) Wahl von Prämissen, die die empirischen Befunde so auswählen und anordnen, daß die Prämissen wie die daraus folgenden Schlüsse bestätigt werden. 4 Alternativen müssen als »Rückschritt« im Dunkel der Geschichte verschwinden. Durch dieses reentry des Beschriebenen in die Beschreibung und die zirkuläre Selbstimmunisierung zeigt das Buch Berggrens und Trägårdhs paradigmatisch, wie ein Bild generiert wird, das Kraft seiner Alternativlosigkeit Zielvorgaben setzt, die moralisch und politisch unanfechtbar scheinen, weil sie sich vermeintlich bereits evolutionär als vernünftigste Lösung erwiesen haben. Als Prinzip ist das folkhem deshalb unangreif bar. Es kann aber im Laufe der Geschichte zerfallen, also ist eine permanente, wachsame, adjustierende Arbeit vonnöten, um seine konkrete Form immer wieder einer sich stets verändernden Gegenwart anpassen zu können. Das folkhem ist kein ideologisches Dogma, sondern eine zu gestaltende historische Notwendigkeit.

4. Siehe unten, Abschn. 5.

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2. Eine Blaupause Alva und Gunnar Myrdal treten in dem Moment in das öffentliche Leben, an dem Schweden beginnt, sich in die Moderne hineinzutasten. Und sie werden mit einem Text schlagartig bekannt, der eine bis heute virulente Angst thematisiert, nämlich die Sorge vor dem Untergang der Bevölkerung. Diese Sorge, daß demographische Prozesse entgleisen könnten, ist damals bereits über 100 Jahre alt, und sie hält nicht nur den Norden in Atem. Besonders intensiv wird die Bevölkerungsfrage seit den 1930er Jahren diskutiert. Die rasant fallenden Geburtenziffern, die vermeintlich rapide Zunahme »geistesschwacher« Menschen und wachsende Immigrantenzahlen werden zur düsteren Prognose verdichtet, daß die Bevölkerung überaltere, degeneriere und schließlich aussterben werde, während Angehörige »minderwertiger« Ethnien in das Land drängten und es allmählich »überfremdeten«. Zahllose Texte in Deutschland, Schweden und anderen Ländern kultivieren dieses Szenario; wie eine Matrize prägt es auch heute noch die Diskussion.5 Alva und Gunnar schreiben sich gezielt in diese panische Stimmung ein, aber sie gehen weitaus raffinierter vor als die meisten anderen Autoren. Im Sommer 1934 ziehen sie sich in die norwegischen Berge, in eine einsame Hütte zurück, und verfassen gemeinsam ein Buch: »Kris i befolkningsfrågan« (»Krise in der Bevölkerungsfrage«). Mit der Publikation zünden sie im November desselben Jahres einen Sprengsatz.6 Die Krisendiagnose ist zunächst wenig originell. Die Geburtenziffern fallen dramatisch, ohne daß ein Ende abzusehen ist; im Verhältnis bekommt die Unterschicht trotzdem zu viele, die Mittelschicht zu wenig Kinder. Letztere versucht durch die drastische Reduzierung der Fruchtbarkeit ihren in wirtschaftlich schwierigen Zeiten bedrohten Lebensstandard aufrecht zu erhalten; zudem geben immer weniger Frauen ihre Berufstätigkeit zugunsten der Kindererziehung auf. So bleiben viele Familien kinderlos, obwohl sie eigentlich welche bekommen wollen, und zukünftig ist mit einer flutartigen Zunahme seniler Alter und unerwünschter Immigranten zu rechnen. Das Buch wird in dem Moment radikal, als es um die Identifizierung der Ursachen geht. Kampfeslustig setzen sich Alva und Gunnar zwischen alle Stühle. Von dem konservativen Argument, daß Geburtenkontrolle die Moral auflöse und den demographischen Niedergang beschleunige, halten sie nichts. »Und die Moralisten können gewiß sein: Die Moral als solche besteht. Sie hat starke Wurzeln in soziologischen Notwendigkeiten. Sie kommt immer wieder, obwohl nicht immer gleich; sie 5. Dazu ausführlich T. Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. 6. Zu diesem Buch: A. Carlson, The Swedish Experiment in Family Politics, S. 81-98.

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verändert sich. Aber das sollte man aus der Geschichte und der anthropologischen Forschung wohl gelernt haben, daß die Moral sich mit den Veränderungen der Gesellschaftsstruktur verschiebt.«7 Die Haltung der »populären Antimoralisten« verwerfen sie ebenfalls: »Krankhaft ressentimentgebunden und mit einem eigenartigen Zerstörungspathos preisen sie die moralische Auflösung als eine Befreiung von sozialmagischen [socialmagiska] Vorurteilen vergangener Zeiten und sehen zuweilen die Zukunft in einer fortgesetzten und immer größeren ›Befreiung‹ im Sinne einer atomistischen Anarchie auf dem Gebiet der Sexualität: ein Zustand zufälliger und unpersönlicher Sexualbeziehungen.«8 Nicht einmal die Neomalthusianer, die Gegner der »Moralisten«, kommen ungeschoren davon. Sie hätten im Wesentlichen ihre Ziele erreicht, hoffnungslos den Anschluß an die sozialen Veränderungen verloren und pflegten statt dessen den antiquierten Radikalismus der 1880er Jahre – denn Geburtenbeschränkungen sind nicht per se wünschenswert. Der englische Theologe Thomas Robert Malthus hatte 1798 als Naturgesetz formuliert, daß die Menschen sich zyklisch über die Grenzen des Nahrungsspielraumes hinaus vermehrten und sich damit regelmäßig selbst in fürchterliche Hungerkatastrophen trieben. Seine Nachfolger gingen davon aus, daß die Zahl der Kinder künstlich gesenkt werden könnte, um die Menschen vor dem Elend zu bewahren, sie propagierten eine aktive Präventionspolitik.9 Die Legalisierung von Abtreibungen, Sexualauf klärung und der Verkauf von Verhütungsmitteln, um Abtreibungen vorzubeugen, das sollte die Geburt von Kindern verhindern, wenn Eltern und Geschwister in materielle Not zu stürzen drohten. Alva und Gunnar stimmen diesen Neomalthusianern zu, mit der Volte allerdings, daß sie deren weiterhin pessimistische Prämisse ablehnen: Die Nahrungsgrundlage determiniert nicht automatisch den Lebensstandard der Menschen. Wenn man die materiellen Verhältnisse verbessert, läßt sich vielmehr die Bevölkerungszahl dramatisch steigern. Verhindert werden müssen Kinder, die zu sozialen Problemfällen zu werden drohen. Beides tut Not, wenn Schweden nicht untergehen soll. Gegen die »Radikalen« fordern sie also eine Steigerung der Geburtenrate, gegen die »Konservativen« eine Begrenzung von Geburten. Genau das bringt alle Seiten gegen sie auf und sichert ihrem Buch die Aufmerksamkeit der Medien. Denn eigentlich geht es um etwas ganz Anderes. Die 7. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 287. 8. Ebd., S. 286. 9. Am Wichtigsten für Schweden war 1880 ein Vortrag Knut Wicksells, der einen heftigen Tumult hervorrief: K. Wicksell, Några ord om samhällsolyckornas viktigaste orsak och botemedel med särskildt afseende på dryckenskapen; vgl. auch I. Wennemo, Arbetarrörelsen och befolkningsfrågan.

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Hauptursache der fehllaufenden demographischen Entwicklung machen Alva und Gunnar in der restlos veralteten Verfassung der schwedischen Gesellschaft aus, die strukturell die Zeugung von Nachwuchs erschwere. Das war, schreiben sie, in vorkapitalistischen Zeiten anders, als die patriarchalische Bauern- und Handwerkerfamilie eine der Umwelt angepaßte Produktions- und Konsumtionseinheit bildete. Mit der Industrialisierung entstand dann die »desorganisierte, halbpatriarchalische, individualistische Familie«.10 Sie konnte sich nicht an die Strukturen der »liberalkapitalistischen« Industriegesellschaft anpassen. Während nun der Mann auswärts Geld verdienen mußte, verlor die Frau ihre ehemals tragende Rolle, die Macht des Mannes innerhalb der Familie wurde gestärkt. Folge waren die Frauenbewegung, der Rückgang der Geburten und eine zunehmende Desorganisation der Gesellschaft. Erst jetzt, in Zeiten der »sozialistischen Volksgemeinschaft«,11 nehme als neuer Typ die moderne Familie Gestalt an, die sich endlich wieder an die ökonomischen und sozialen Bedingungen anpasse. Zwar sei auch diese Familie nur ein schlechter Kompromiß, sie könne aber als »gesellschaftliche Grundzelle, in der die wichtigsten sozialen Beziehungen der Menschen lokalisiert sind«,12 dienen. »In dieser neuen Familie soll – wie in der alten, patriarchalischen – die Ehefrau auch in der produktiven Arbeit wie ein Kamerad an der Seite des Mannes stehen, und das Recht der Kinder auf eine für ihr zukünftiges Leben zweckmäßige Erziehung soll erneut gesichert sein.« 13 Eine Gesellschaft, die trotz sinkender Nativität den Kindern kein menschenwürdiges Leben ermöglicht und zugleich zahllose Menschen in die Arbeitslosigkeit stößt, »diese Gesellschaftsordnung ist unsinnig, unvernünftig und unmoralisch, und sie ist durch ein solches Eingeständnis bereits verurteilt«.14 Ihr kann man nicht mit bloßen Justierungen beikommen, vielmehr ist eine tiefgreifende Reform nötig. Die entwerfen beide in ihrem Buch. Sie beginnen mit einer neuen Wirtschaftsordnung. Produktion und Export der schwedischen Wirtschaft müssen gesteigert werden, um dem Staat finanzielle Mittel für Reformen zu verschaffen. Sowohl Produktion als auch Konsum sind planwirtschaftlich zu lenken, die Produktion, um die massenhafte Herstellung qualitätsvoller, preisgünstiger Güter des Alltagsgebrauchs zu initiieren, der Konsum, um über eine systematische Erziehung der Konsumenten die Nachfrage nach eben solchen Gütern zu 10. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 289. 11. Beide Zitate ebd., S. 116. 12. Ebd., S. 319. 13. Ebd. – Vgl. auch Alva Myrdal, Familjens utveckling under de båda senaste generationerna, Vortrag, Sveriges Radio, 25.11.1935 (SRD B 34/94, Ms. 28). 14. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 285.

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steigern und deren Produktion zu verstetigen. Preiswerte Waren stimulierten den Konsum, Qualität verhindere die Vergeudung von Ressourcen. Seine Steuereinnahmen soll der Staat zugunsten der Familien umschichten, durch finanzielle Zulagen, Steuererleichterungen und eine prophylaktische Sozialpolitik materielle Lasten lindern und Sozialfälle verhindern. Nur so werde der »Volksstamm« es wieder lohnend finden, sich zu reproduzieren, und nur so könne die »Qualität des Volksmaterials« gesteigert werden.15 Dabei richtet sich der Blick vor allem auf die Frauen. Sie bekämen weniger Kinder, weil sich Berufstätigkeit, Hausarbeit und Mutterschaft nicht mehr vereinen ließen. Also soll der Staat den Bau neuer Wohnungen fördern, in denen ein durchdachter Grundriß und ausgeklügelte Küchen die Hausarbeit durch Rationalisierung auf ein Minimum reduzieren. Die Belastung durch Kinder wird verringert, indem der Nachwuchs bereits wenige Monate nach Geburt seine Tage in Kinderkrippen, dann Kindergärten, Vorschulen und der Schule zu verbringen beginnt. Statt in die »Sterilität« getrieben zu werden, nur »um arbeiten zu können«,16 sollen Frauen sich wieder für Kinder entscheiden dürfen, ohne ihren Beruf aufgeben zu müssen. Allerdings sind Gleichstellung und Gleichheit nicht dasselbe. »Soll die Frau mit dem Mann in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht gleichgestellt [ jämställd] sein, muß das unter Formen geschehen, die die nötige Rücksicht auf die Sonderstellung der Frauen in der Gesellschaft als Mütter der kommenden Geschlechter nehmen, nicht durch das Streben à tout prix nach einer absoluten und identischen Gleichheit [likställdhet] der Geschlechter untereinander.« 17 Jetzt werden die Leser zum Kern des Buches geführt, zum Programm, eine demokratische Volksgemeinschaft von unten her aufzubauen. »Als Problem für uns gilt: Entvölkerung oder Gesellschaftsreform. Und das Programm lautet: eine neue Gesellschaft, durchtränkt von sozialer Solidarität, in der die gesamte Nation in erweitertem Maße ihre gemeinsame Verantwortung für die Kinder kennt, die ihre nächste Generation bilden sollen. Erst durch die schrittweise Verwirklichung dieser Gesellschaft wird es möglich sein, allmählich den engen Individualismus zu brechen, der nun das gesamte Leben unseres Volkes vergiftet und geradezu dessen Existenz bedroht.«18 Alva und Gunnar wollen nichts weniger, als komplett neue Menschen zu erziehen, um den »exzessiven« und »falschen« Individualismus, der so viele »atomisierte Egoisten« hervorgebracht habe, zu überwinden. Die Kinder sind ihnen das Einfallstor. Sie werden von un15. Beide Zitate ebd., S. 11. 16. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1935], S. 379. 17. Ebd., S. 377 (franz. im Orig.). 18. Ebd., S. 16f.

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zufriedenen, überforderten Eltern befreit und in Krippen und Schulen kollektiv erzogen. Ihnen werden soziales Verhalten und die Grundzüge rationaler Lebensführung (Hygiene, Ernährung, Turnen) beigebracht, sie stehen unter der ständigen Kontrolle von Lehrern und Ärzten, deren Aufgabe es ist, jede mentale, soziale und gesundheitliche Abweichung zu notieren und, wenn nötig, zu korrigieren. Und dann werden Abend für Abend die physisch wie psychisch normalisierten Kinder in die Familien zurückkehren und ihrerseits helfen, die Eltern zu formen, soweit das noch möglich ist. So soll in wenigen Generationen ein Staatsbürger heranwachsen, der sich auf (für ihn selbst) harmonische und (für die Gesellschaft) optimierte Weise dem sozialen Leben einzupassen vermag. Diese spezifische Form der Individualität wird, im Unterschied zur nationalsozialistischen Unterordnung, kraft innerer Einsicht Gemeinschaft schaffen. Individuen verschmelzen erneut zur Familiengemeinschaft, diese wiederum geht in die übergreifende Gemeinschaft des schwedischen Volkes ein. So formt der Staat ganz ohne Zwang Individuen, Familien und Gesellschaft zu einer harmonischen, gesunden Einheit, denn nur das bietet die Gewähr für eine steigende Zahl qualitativ wünschenswerter Kinder. Wann aber sind Geburten zu verhindern – und wie? Wenn Eltern durch (zu viele) Kinder in materielle Not geraten, sollen ihnen Aufklärung und Verhütungsmittel ermöglichen, deren Zahl zu begrenzen. Nur diejenigen Kinder sollen zur Welt kommen dürfen, denen gute Lebensbedingungen in Aussicht stehen. Greifen dann finanzielle Hilfen des Staates, ist die Zeit für den Nachwuchs gekommen. An einigen Stellen rekurrieren Alva und Gunnar auf eugenische Ideen, allerdings verglichen mit dem, was die Rassenhygieniker ihrer Zeit fordern, eher skeptisch. Eine »Veredelung« von Menschen (positive Eugenik) scheint ihnen, wie den meisten Eugenikern, technisch nicht machbar. Die verbreitete Annahme, daß Unterschiede zwischen den sozialen Klassen erbbiologisch bedingt seien, lehnen sie – gegen viele Eugeniker – ab. Für sie werden die Menschen in erster Linie durch ihre Umwelt geprägt. Die Kinder der Oberschichten wachsen nämlich unter besseren sozialen Bedingungen auf, ihre soziale wird fälschlicherweise als biologische Überlegenheit gedeutet. Tatsächlich aber weisen die Angehörigen der Unterschichten zumeist keine schlechteren Erbanlagen auf. Sie können vor allem auf Grund der Umweltbedingungen ihre Fähigkeiten nicht entwickeln; viele werden durch die rasante Industrialisierung aus der Kurve geworfen. Verbessert man ihre Situation – und darum geht es Gunnar und Alva ja –, werden sie genauso »wertvolle« Mitglieder der Gesellschaft wie die privilegierten Oberschichten. Problemfälle – Körperbehinderte, Schwächliche und Alte –, die den gesteigerten Qualitätsansprüchen industrieller Lebensformen nicht gewachsen sind, sollen auf Spezialarbeitsplätzen in die Produktion und durch Lohnzahlung in die Konsum126

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gesellschaft integriert werden. Ihre Isolierung in Anstalten erscheint Alva und Gunnar als zu teuer und grausam. Einer kleinen Gruppe freilich, und nur hier schwenken beide ganz auf den mainstream eugenischen Denkens ein, muß die Reproduktion vollständig verwehrt bleiben, einem »Bodensatz der Gesellschaft«:19 Menschen, die mit nachweislich vererbbaren Geisteskrankheiten und Körperdefekten geschlagen sind, und »deren Fortpflanzung rassenhygienisch nicht wünschenswert ist«.20 Es sind nur wenige, aber eben »hochgradig lebensuntaugliche Individuen«, die »radikal aussortiert« werden müssen.21 »Daß eine Anzahl derartiger Individuen gehindert wird, zur Welt zu kommen, mindert also an und für sich den sozialen Druck erheblich, völlig unabhängig davon, welchen Effekt auf die künftige Qualität des Bevölkerungsbestandes eine solche Einschränkung möglicherweise hat.«22 Obwohl sie am Effekt zweifeln, befürworten sie sogar die Sterilisierung mündiger Personen, notfalls mit Zwang, falls die sich nicht freiwillig sterilisieren lassen wollten.23 »Topqualität«,24 »minderwertige Individuen«25 und »minderwertige Rasseneigenschaften«26 verstehen beide als ideologiefreie Kriterien, um Menschen auf ihre wirtschaftliche und soziale Produktivität hin zu sortieren; Sterilisierungen sind ihnen, als ultima ratio, ein rein technisches 19. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 74. 20. Ebd., S. 75. 21. Ebd., S. 217. 22. Ebd., S. 223. 23. In der Planung für eine Radioserie zur Bevölkerungsfrage befürwortet

Gunnar verschärfte Sterilisierungsgesetze, Abtreibungen auf Basis einer erbhygienischen Indikation und die Abgabe von Verhütungsmitteln an »rassebiologisch minderwertige Elemente«, um auf diese Weise die »minderwertigen Rasseeigenschaften« aus dem »Volkskörper« zu entfernen. Wunder seien nicht zu erwarten, die Materie sei zu verwickelt und zu wenig erforscht, aber alle Maßnahmen, die erbhygienischen Zielen dienten, sollten auch ergriffen werden – das bezog er übrigens ausdrücklich auch auf die positive Eugenik, die er und Alva in »Kris i befolkningsfrågan« als utopisch bezeichnet hatten (Gunnar Myrdal, Befolkningsfrågan som ett ämne för nästa studieverksamhet, in: Radiotjänsts konferens för ledare av lyssnargrupper och teatercirklar, 28-30 juni 1935, Ms., Bl. 15-19, hier Bl. 18 [SRD B 70/F3A:1]). 24. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 216. 25. Ebd., S. 215. 26. Gunnar Myrdal, Befolkningsfrågan som ett ämne för nästa studieverksamhet, in: Radiotjänsts konferens för ledare av lyssnargrupper och teatercirklar, 28-30 juni 1935, Ms., Bl. 15-19, hier Bl. 18 (SRD B 70/F3A:1). Ähnlich dezidiert ist seine Position in: K. A. Edin u.a., Vårt folks framtid, S. 28-54.

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Instrument, diese Produktivität zu schützen. Noch 1946 fordert Alva, daß die Einführung des Kindergeldes mit systematischen Sterilisierungskampagnen einhergehen müsse, um die Fruchtbarkeit von Menschen, die als Eltern erbbiologisch oder sozial unerwünscht sind, zu beschränken. Sie distanziert sich dabei nicht einmal verbal vom Nationalsozialismus, so normal scheint eugenisches Denken zu sein.27 Es ist nicht verkehrt, »Kris i befolkningsfrågan« als Blaupause für ein radikales Programm zu betrachten (das in den folgenden Kapiteln genauer beobachtet werden soll).28 Auch der Stil des Buches ist exemplarisch. Einige Stellen, für sie zeichnet Gunnar verantwortlich, sind würzig polemisch, der größte Teil des Textes jedoch ist in einer nüchternen, farblosen Sprache geschrieben, über 300 Seiten, so beschreibt es Yvonne Hirdman, »gefüllt mit endlosen Referaten statistischer Untersuchungen über Lebenshaltungskosten, Wohnungsgrößen, den Luftraum per Konsumtionseinheit, die Agrarproduktion – untersuchend [utredande] und umständlich. Heute nach 70 Jahren kann man sich wundern, wie dieses akademische Produkt einen so durchschlagenden Erfolg in einem Land haben konnte, das immer noch fast zur Hälfte von Bauern und Kätnern bewohnt wurde, und wo nur ein paar tausend Menschen im Jahr das Abitur ablegten. Trotzdem wurde es von sehr vielen Schweden mit großem Ernst gelesen, und es bildete auch die Grundlage für Studienzirkel im ABF [Arbeiterbildungsverein].«29 Die mangelnde stilistische Eleganz ist ein Signal der Transparenz an die schwedischen Leser: Hinter den kargen Sätzen verbirgt sich nichts, keine dunkle Formulierung muß gedeutet werden, alles, was gesagt wird, liegt offen zu Tage. Das ist die Lebenshaltung, Bericht ablegen zu wollen, die viele schwedische Texte auszeichnet. Sie bedürfen keiner Exegeten, sie sind prinzipiell Jedermann zugänglich. Typisch ist auch die Art der Argumentation, die durch überraschende Volten mehrere Gegner zugleich vor den Kopf stößt und dann, nachdem eingefahrene Denkmuster beseitigt sind, den Weg für ein radikales Programm ebnet. Und typisch ist der Werterelativismus, der keinerlei Sinn 27. A. Myrdal, Kontanta barnbidrag kräver skärpt steriliseringslag?, S. 60. Sie illustriert ihre Forderung mit gerade einmal zwölf, sehr knappen Fallbeispielen. 28. Und Yvonne Hirdman (Y. Hirdman, det tänkande hjärtat, S. 208-211) liest das Buch als autobiographischen Text. Das ist zugespitzt, weil das Buch mehr über die schwedische Gesellschaft als über die Ehe Myrdal sagt, aber nicht verkehrt, weil das sozialpolitische Programm tatsächlich vor allem die Suchbewegung Alvas spiegelt. 29. Ebd., S. 190.

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für metaphysische oder naturrechtliche Vorstellungen zeigt, sondern dogmatisch allein die empirische Erfahrung zum Maßstab aller Entscheidungen erhebt – und soziale Eingriffe nur an ihrer technischen Funktionalität mißt. Der Begriff des Sozialingenieurs ist deshalb nicht allein eine eingängige Metapher für »moderne« Gesellschaftsplanung, er enthält eine technokratische Weltanschauung, die sich in der vermeintlich transparenten Sprache verbirgt und sich dort als überlegene Alternative zu aller »irrationalen« Metaphysik inszeniert. Das aber ist selbst eine Art von Metaphysik, sie ist, wie wir beobachten werden, ihren Urhebern intransparent geblieben. Sie ist einer Moral geschuldet, die ausschließlich auf die soziale Organisation der Gesellschaft bezogen ist: »Die Moral gilt ja dem Verhältnis der Einzelnen zueinander im Rahmen äußerer Bedingungen, die wir Gesellschaft nennen. Eine vertiefte und sozial einsichtsvolle Moral muß sich deshalb mit der Organisation der Gesellschaft selbst befassen.« Und: »Die Moral ist wesentlich eine Funktion der Institution und nicht umgekehrt.«30 »Freiheit« ist folgerichtig eine Auflösungserscheinung des liberalen Zeitalters, »Zwang« von Seiten der Gesellschaft nicht »hauptsächlich bloß ein Ersatz für die andernfalls fehlenden zügelnden und begrenzenden Faktoren. Der Zwang ist nicht größer als der, der durch die Tradition und die Begrenzung der Wahlmöglichkeiten in alten Zeiten ausgeübt wurde. Innerhalb dieses Rahmens wird immer Freiheit bestehen. Aber eine Freiheit ohne vernünftigen Rahmen ist willkürlich und zudem eine gefährliche Art von Willkür, da die Freiheit in der Macht über die Lebensführung Anderer besteht.«31 Diese Moral zwingt die Experten, den Menschen Möglichkeiten bereitzustellen; erst, wenn diese ihren durch die Moral (also die Gesellschaft) vorgegebenen Pflichten nicht nachkommen wollen, darf Zwang greifen, um Schaden von der Gemeinschaft abzuwenden. Weder Ideologie noch Naturrecht legitimieren Zwang – damit bleibt aber umgekehrt kein moralischer Standpunkt außerhalb der Gemeinschaft, keine Verweigerungsmöglichkeit im Namen eines höheren Rechts.32

30. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1935], S. 14, 338. 31. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 300. Kurz zuvor ist die Rede von der »sadistischen Neigung, diese ›Freiheit‹ zu einem unbegrenzten und unkontrollierten Recht auszudehnen, über andere zu herrschen« (ebd., S. 299). 32. Siehe oben, Kap. IV.

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3. Bevölkerung, Kr ise, Politik Das Wort »Krise« im Titel des Buches nach 1934 ist kein Zufall, keine reine Dramatisierung. Die Krise ist ein integraler Teil aller Texte von Alva und Gunnar Myrdal. Bis in die 1980er Jahre beschwören sie immer wieder eine krisenhafte oder gar verzweifelte Situation. 1928 deutet Gunnar dieses Motiv bereits an,33 1970, als er mit seiner Frau den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, faßt er es in einer verschärften Form zusammen: Es kann kein Zweifel herrschen, daß die Situation der Menschheit verzweifelter ist denn je. Die Entwicklung kann jedoch geändert, die Gefahren können als Herausforderungen begriffen und in Möglichkeiten verwandelt werden. Realismus und der Mut der Verzweiflung sind gefragt, kein illusionärer Optimismus. Denn die »Geschichte ist kein blindes Schicksal, sie wird von uns Menschen gesteuert. Wenn wir unsere Völker, unsere Mitmenschen bewegen könnten, die Gefahren einzusehen – die Gefahren, die in letzter Linie ihren Ursprung in Unkenntnis und im opportunistischen, kurzsichtigen Verrat der Ideale haben [–], da können sie, da können wir alle unsere Regierungen zwingen, einen anderen Kurs einzuschlagen.«34 So sieht dann das Muster seit 1934 aus: eine drohende Apokalypse, aber die Chance, sie in eine hoffnungsvolle Zukunft zu verwandeln. Daß sich keine einzige Vorhersage materialisiert, hindert vor allem Gunnar nicht an immer neuen Katastrophenszenarien. 1940 verkündet er, daß der Geburtenrückgang früher oder später in allen Ländern heftige ideologische Konfrontationen zeitigen und sowohl Investitionen wie Konsum drosseln werde.35 1943 beginnt er in den Zeitungen eine massive Wirtschaftskrise für die Nachkriegszeit zu prognostizieren.36 Die Menschheit, schreibt er kurz darauf in einem umfangreichen Buch, wird nach dem Krieg krank sein, der Gesellschaftsorganismus schwer geschädigt, mehrere Jahrgänge junger Menschen werden verwildern, Weltchaos droht.37 Als Handelsminister will er diese Depression verhindern – und scheitert, weil sie ausbleibt. Kurz vor dem »Koreaboom« sieht er den Niedergang der amerikanischen Industrie nahen – vielleicht nicht jetzt, so doch in wenigen Jahren –;38 er sagt unfehlbar Hungersnöte voraus – »›Nun wissen wir, daß die Katastrophe kommt! Die Lebensmittel reichen

33. G. Myrdal, Lantbrukets bristande räntabilitet, S. 476. 34. G. Myrdal, Världsnöden, S. 94 (Hervorh. im Orig.). 35. G. Myrdal, Population, bes. S. 64-80, 124-173. 36. Div. Zeitungsartikel, 1943, 1944 (ARAB 405/5.1.1:53-5.1.1:61). 37. G. Myrdal, Varning för fredsoptimism, bes. S. 7, 14f., 68. 38. Gunnar Myrdal, Note on the Political Background of the Crisis in E.R.P., November 1949, Ms., Bl. 1 (ARAB 405/4.2:37).

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für noch höchstens zehn Jahre‹«39 –, eine schlimmere Wirtschaftskrise als in den 1930er Jahren 40 oder gleich, daß die Welt zur Hölle fährt: »Wir leben in einer Welt von Krisen. Es ist sehr gut möglich, daß alles zur Hölle fahren wird. […] Die einzige Möglichkeit, den totalen Zusammenbruch zu verhindern, ist eine internationale Zusammenarbeit.«41 Natürlich sichert sich Gunnar durch die große, laute Geste Aufmerksamkeit. Aber sowohl er als auch Alva, die sich weit weniger mit apokalyptischen Vorhersagen aus dem Fenster lehnt, nutzen die »Krise« in erster Linie als Instrument. Sie dient ihnen, um den Punkt einer fälligen Entscheidung zu markieren, als Krisis, in der die Menschen bewußt ihren Weg gestalten: entweder hinein in den Abgrund oder hin zu einer besseren Gesellschaft – eine Konzeption der Krise, die uns auch bei anderen europäischen Experten begegnet. 42 Diese Konzeption ist letztlich optimistisch, denn in keinem ihrer Texte geben Alva und Gunnar die Hoffnung endgültig verloren. Das würde nicht zur gestaltenden Rolle eines Sozialingenieurs passen. Über die populäre Bevölkerungsfrage wird vielmehr eine Krise evoziert, um Politik begründen zu können. Das Buch verdichtet effektiv die sozialpolitischen Ansätze und Probleme der letzten Jahrzehnte und wird zum Symbol für notwendige Sozialreformen, die Alva und Gunnar dann zu implementieren versuchen. Sie sind so erfolgreich damit, daß sie in weiteren Texten Stellung zur Bevölkerungsfrage beziehen – Gunnar bedient um 1935 stärker die schwedische Debatte, Alva informiert ab 1939 die schwedische und die amerikanische Öffentlichkeit über Ergebnisse der Bevölkerungspolitik in ihrem Land –, 43 sie gehen mit dem Thema auf ausgedehnte Vortragsreisen durch Schweden, 44 das Radio läßt in einer ersten reichsweiten Schaltkonferenz vier Experten zum Thema diskutieren (Abb. 49). 45 Am weitaus wichtigsten werden jedoch die Bevölkerungs39. Stockholms-Tidningen, 21.7.1965. 40. Dagens Nyheter, 6.12.1974. 41. Göteborgs-Posten, 22.10.1977. 42. T. Etzemüller, Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. 43. G. Myrdal, Befolkningsproblemet i Sverige (Grundlage ist ein Radiovortrag); Ders., Befolkningsfrågan och kvinnofrågan; Ders., Vad gäller striden i befolkningsfrågan?; Ders., Population; A. Myrdal, Befolkningskommissionens arbete 1935-1938; Dies., The Swedish Approach to Population Policies; Dies., A Nation’s Experience in Population Planning; Dies., Nation and Family; Dies., Folk och familj. 44. Vgl. div. Vortragsmanuskripte zur Bevölkerungsfrage, 1935-1939 (ARAB 405/2.3:1, 2.3:2, 4.2:3, 4.2:4). 45. Dagens Nyheter, 10.4.1935; Svenska Dagbladet, 10.4.1935; Röster i radio, 21.4.1935.

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kommissionen von 1935 (»Befolkningskommissionen«) und 1941 (»1941 års befolkningsutredning«). 46 Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gilt in Schweden als »goldenes Zeitalter« der Presse. Die Auflagenziffern der Zeitungen und Zeitschriften stiegen und die Berichterstattung wurde immer schneller und dichter. 47 Dazu kamen die wachsende Bedeutung des Radios und, wenn auch in viel geringerem Maße, der Filmberichterstattung. 48 Deshalb macht die heftige Mediendebatte um das Myrdal’sche Buch Eindruck auf die politischen Parteien, sogar ein Spielfilm nimmt sich des Themas an. 49 Kein halbes Jahr vergeht, als sich die Politik im Frühling 1935 Willens zeigt, durch sozialpolitische Reformen die Lage von Frauen, Kindern und Familien zu verbessern. Im Mai setzt Sozialminister Gustav Möller die erste Bevölkerungskommission ein. Wie üblich in Schweden besteht sie aus Mitgliedern unterschiedlicher politischer Lager und Professionen, die ihrerseits Mitarbeiter für die Detailarbeit rekrutieren. Auf diese Weise soll grundsätzlich sichergestellt sein, daß kein Lager die Arbeit dominiert und zugleich die Untersuchung des Problems breit angelegt ist. Leiter der Kommission ist der Generalzolldirektor Nils Wohlin (Bauernverband), Gunnar ist Mitglied, Alva Mitarbeiterin. Die anderen Kommissionsmitglieder brauchen einige Zeit, um zu bemerken, wie geschickt Gunnar sie um den Finger wickelt. Als Vorsitzender eines Unterausschusses für Ernährungsfragen überzeugt er sie, daß Produktions-, Gesundheits-, Schul- und Agrarfragen ebenfalls in seinen Aufgabenbereich fallen. So erweitert er seine Kompetenzen, er verschaff t sich durch engen persönlichen Kontakt zu den Kommissionsmitgliedern immer wieder Mehrheiten, wichtige Mitarbeiter der Kommission sind seine Vertraute, etwa den Statistiker Richard Sterner oder der Kommissionssekretär Torsten Gårdlund. Auf diese Weise kann er die Arbeit, trotz heftiger Auseinandersetzungen, erheblich beeinflussen, zumal Alva mehrere Einzeluntersuchungen zur Kinderpflege verfaßt und er ihrer beider Sache als Abgeordneter im Reichstag vertritt. Grundlegende Ideen 46. Ausführlich: U. Cervin, Makarna Myrdal och befolkningsfrågan; A. Carlson, The Swedish Experiment in Family Politics; A.-K. Hatje, Befolkningsfrågan och välfärden; A.-S. Kälvemark, More Children of Better Quality? 47. G. Lundström/P. Rydén/E. Sandlund, Den svenska pressens historia III, S. 142-381. 48. Vgl. S. Hadenius, Kampen om monopolet; K. Nordberg, Folkhemmets röst. 49. »Valborgsmässafton« (1935). Alva und Gunnar sollen den Film »steif vor Entsetzen« verlassen haben, weil die melodramatische Huldigung der Mutterschaft nicht ihren Intentionen entsprach (P. O. Qvist, Folkhemmets bilder, S. 308-313, Zitat S. 309).

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und Reformvorschläge, ja ganze Abschnitte aus »Kris i befolkningsfrågan« gehen in die Berichte der Kommission ein: Schulspeisung, Kleiderbeihilfen, Kinderhorte, Mutterschaftsgeld, Geburtenkontrolle durch Abtreibungen und Verhütung, Sexualaufklärung, Ehekredite, Steuerreform, Sterilisierungen.50 Besonders das Gutachten zur Sexualfrage, maßgeblich von Gunnar verfaßt, rollt noch einmal den Zusammenhang von Nativität, Sexualität und Ökonomie auf. Nüchtern wird konstatiert, daß die schwedische Bevölkerung bereits in ausgedehntem Maße Geburtenverhütung praktiziere. Dieser empirische Befund entzieht laut Gutachten der herrschenden, restriktiven Moral die Basis, sie entspricht nicht der Lebenspraxis der Mehrheit. Sie treibt diese Mehrheit jedoch in die Illegalität, mit teilweise verheerenden Folgen. Das Gutachten untersucht detailliert Praktiken und Gründe der Verhütung und empfiehlt dann eine radikale politische Reform. Den Menschen soll durch Sexualerziehung und technische Mittel die Möglichkeit geboten werden, einfach und legal zu verhüten (bzw. abzutreiben), die Verbesserung ihrer materiellen Lage soll sie in den Stand versetzen, nicht verhüten zu müssen.51 Der argumentative Stil, der durch logische Schlußfolgerungen auf Basis empirischer Befunde moralische Tabus in knappen Sätzen verwirft und Sozialreformen à la Myrdal als einzig mögliche Konsequenz verkündet, überzeugt nicht alle Kommissionsmitglieder.52 Zwar kann Gunnar durch geschickten Druck erreichen, daß das Gutachten einstimmig verabschiedet wird, doch als er 1937 den Auftrag der Carnegie-Stiftung annimmt, in den USA die »Negerfrage« zu lösen, wird sein Einfluß in der Kommission erheblich reduziert. Seine Kollegen entschärfen den Abschlußbericht.53 Bis 1938 legt die Kommission 17 Berichte mit Reformvorschlägen vor, die freilich auf Kritik stoßen. Mehrere Remißinstanzen und die Regierung lehnen die hohen Kosten der Reformen ab; eine Reihe von Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Kommunisten befürchten eine rein quantitative Bevölkerungspolitik; Konservative können sich nicht mit dem universalen Charakter der Reformen anfreunden; die sexualpolitischen Vorschläge 50. Ausführlich: A. Carlson, The Swedish Experiment in Family Politics, S. 129-162. 51. SOU 1936:59; eine Zusammenfassung für die breitere Öffentlichkeit: Familj och moral. Zur Debatte um die Sexualität in Schweden: L. Lennerhed, Sex i folkhemmet; H. Levin, Kvinnorna på barrikaden. 52. Auch einige Zeitungen kritisieren die Dominanz Myrdal’scher Ideen: Stockholms-Tidningen, 1.5.1935; Gefle Dagblad, 2.5.1935; Västerbottningen, 4.5.1935; Helsingborgs Dagblad, 23.5.1935. 53. A. Carlson, The Swedish Experiment in Family Politics, S. 177-184.

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sind umstritten. Es wird daher weniger zum Gesetz, als Gunnar und Alva sich vorgestellt haben, und sie erfahren, wieviel Experten auf dem Weg durch die politischen Instanzen preisgeben müssen. Aber die Kommission hat die ohnehin schon rege sozialpolitische Debatte befeuert.54 Und die Berichte, die schwedische Untersuchungskommissionen abgeben, verschwinden nicht in Archiven, sondern stehen gedruckt, Meter um Meter, Regal an Regal, in allen wichtigen Bibliotheken des Landes. Als »Statens offentliga utredningar« (»Staatliche öffentliche Untersuchungen«) – kurz: SOU – sind sie das Symbol einer effektiv arbeitenden Staatsmaschinerie. Welche Unebenheit auch statistisch hinreichend sichtbar wird, sofort steht eine Untersuchungskommission parat, die das Problem intensiv durchleuchtet und Vorschläge zur Justierung macht. Oft beginnt eine solche Untersuchung mit einer qualitativen Problemskizze und einem historischen Abriß. Die eigentliche Inventur der Situation baut zumeist auf zahllosen Befragungen betroffener Gruppierungen sowie detaillierten Gutachten unterschiedlicher Experten auf; das Problem wird komplex erfaßt, indem zahlreiche, höchst unterschiedliche Faktoren in Relation gesetzt werden. Ein internationaler Vergleich spezifiziert den Problemdruck. Das Material wird in Statistiken und Graphiken transformiert (dadurch entsteht ein spezieller Blick auf die Gesellschaft: Sichtbar wird oft nur das, was sich in quantitativ abbilden läßt), dann werden detaillierte, alternative Lösungswege entworfen und, unter Abschätzung zukünftiger Entwicklungen, abgewogen. Aufwendige Untersuchungen schließen mit einem besonderem Abschlußbericht. Jede der Untersuchungen läuft darauf hinaus, die Gesellschaft zu verändern – bis hin zur Kontrolle, ob die politische Macht das Land hinreichend effektiv steuert. Die SOU verkörpern eine permanente Reformdynamik, die selbst konservatives Denken produktiv aufgreift, weil es vor übertriebenen Veränderungen bewahrt. Ihre zahllosen Bände vermitteln geradezu haptisch ein Denken, das die Selbstevaluation des politischen Systems auf Dauer gestellt hat (und durch ihre einzigartige Präsenz und die Themenvielfalt dienen sie wiederum vielen Zeithistorikern als wichtigste Quelle ihrer Arbeit, sie schreiben den technokratischen Ansatz der SOU in die Historiographie ein).55 Der Krieg verschärft die Sorge vor der demographischen Katastrophe. Eine weitere Bevölkerungskommission wird im September 1941 eingesetzt, sie legt bis 1945 ebenfalls 17 Berichte vor. Alva und Gunnar sind wegen der 54. Sie ist außerdem Vorbild für dänische und norwegische Bevölkerungskommissionen: H. Gille, Svensk befolkningspolitik. 55. Vgl. H. Meijer, Kommittépolitik och kommittéarbete; J. Johansson, Det statliga kommittéväsendet; K. Zetterberg, Det statliga kommittéväsendet; sowie, sehr kritisch, G. C. O. Claesson, Statens Ostyriga Utredande.

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Carnegie-Studie nicht beteiligt. Wie bei der ersten Kommission sollen uns weniger die Reformvorschläge im Detail, die internen Differenzen zwischen den Experten oder die Frage, was genau in Gesetzgebung transformiert wurde, interessieren (Baukredite, Sommerreisen für Kinder, Haushaltshilfen usw. erregten keine Meinungsverschiedenheiten, allgemeines Kindergeld, Schulspeisung oder die Abtreibungsfrage wurden heftiger diskutiert).56 Wichtig ist, daß auch diese Berichte – und Parallelstudien anderer Institutionen – alle Belange des schwedischen Gesellschaftslebens akribisch durchleuchten: die Entvölkerung des Landes, den künftigen Arbeitsbedarf in der Landwirtschaft, die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung einzelner Regionen und aller Städte, die Wirtschaftsgeographie Schwedens, das Verhältnis von Stockholm zu seinem Umland, die Verteilung kleinerer und mittlerer Industriebetriebe in Schweden, die Verteilung der Berufsgruppen im Land, das Wegenetz Norrlands, die Elektrifizierung, die Kooperation von Wald- und Landwirtschaft im Norden, das Eisenbahnnetz Südschwedens, die Sozialstruktur von Baukreditnehmern, Kinderkrippen, Vorschulen und Schulspeisung, die Lebensverhältnisse unterschiedlicher Sozialschichten, die Familienstrukturen im Land, das Verhältnis von Familieneinkommen und Ausgaben, Nahrungs-, Bekleidungs- und Wohnungsstandards, den Technisierungsgrad der Hausarbeit, Kochgewohnheiten, die Auswahl der Kleidermodelle, die Qualität der Stoffe und Nähte, die Müttersterblichkeit, den Krankheitsgrad von Familien- bzw. Krippenkindern oder den Debilitätsgrad in unterschiedlichen Sozialschichten.57 Schweden erscheint in diesen Studien als eine umfassende Ganzheit, in der die unterschiedlichsten Elemente optimal zueinander angeordnet sein müssen, um zusammenspielen zu können. Sie tun es aber nicht. Also werden die Mißverhältnisse aufgespürt. Kein Bereich erscheint als zu unwichtig oder gar lächerlich. Fehlentscheidungen eines Stahlwerkdirektors oder eine schlecht ausgebildete Haushaltshilfe am Spülbecken werden auf dieselbe detaillierte Art untersucht, um den Schadensstand des Landes kartieren zu können. Doch auch die zahllosen Studien harmonieren nicht. Ihre Vielzahl ist unüberschaubar, teils gründen sie auf veraltetem Material, teils haben nicht einmal die planenden Behörden Kenntnis von ihnen. »Die Untersuchung möchte deshalb vorschlagen, daß die Organisation der Sozialstatistik und die damit am engsten verbundene soziologische Forschung zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht wird.«58 Denn wenn schon der komplexe Untersuchungsapparat nicht effektiv funktioniert, wie soll man dann Dysfunktionen der übrigen Elemente ausfindig machen? 56. Diese Details in: A.-K. Hatje, Befolkningsfrågan och välfärden, S. 66-86. 57. Diese beispielhafte Zusammenstellung in SOU 1946:53, S. 41-43, 47-52. 58. Ebd., S. 51 (Hervorh. im Orig.).

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Mit Antritt der Regierung Hansson bekommt die »Verwissenschaftlichung des Sozialen«59 – und umgekehrt: die Soziologisierung aller Wissenschaften – eine ganz neue Qualität. Die Bevölkerungsfrage wirkt wie ein Katalysator. Sie verleiht allen drängenden sozialpolitischen Problemen den schaurigen Glanz der nahenden Katastrophe, unzählige sozialpolitische Akteure und Institutionen finden einen Kristallisationspunkt für ihre eifrigen Bemühungen um eine Reform des Landes. Die politische Elite Schweden ist überschaubar, so daß die wichtigen Akteure in den Institutionen eng miteinander vernetzt und in den Medien präsent sind. In den Untersuchungskommissionen wird die Kooperation systematisiert und der Eindruck eines holistischen Zusammenhanges evoziert. Jede Nische des sozialen Lebens wird wissenschaftlich ausgeleuchtet, jede Wissenschaft soll sich an sozialen Problemen ausrichten. Frauenfrage, Kindererziehung, Ernährung, Gesundheit, Wohnbau, Küchenausstattung, Sexualität; Feministinnen, Erzieherinnen, Ärzte, Architekten, Ernährungswissenschaftler – kein Spezialist muß alleine kämpfen. Das perpetuiert ein Klima, in dem die detaillierte Kartierung (kartläggning) des gesamten Volkes als normal erscheint, ja geradezu notwendig, um in einer gemeinsamen, positiven Anstrengung das Land neu zu bauen. In Schweden symbolisiert die Statistik die fällige »Tat«, nicht Liktorenbündel oder Stahlhelm. Es marschieren keine Kolonnen, sondern die Rotationspressen stoßen Reihen von Untersuchungsberichten aus, um zu verheißen, daß man die bedrohliche Moderne im Griff behalten wird. Das bedeutet freilich auch, daß die Grenze zwischen »privat« und »öffentlich« unscharf wird. Wenn die Experten an der gemeinsamen Sache arbeiten, so fordern sie das auch von den Menschen, deren Lebensweisen sie untersuchen. Sie müssen sich erziehen lassen, ihr Verhalten zu kontrollieren und zu ändern, so daß sie sich einpassen in eine Gemeinschaft, die qua Evaluation aus sich selbst heraus die Nützlichkeitsprinzipien generiert, an die sich dann die Einzelnen anzupassen haben. Kein System ist weiter entfernt von einer totalitären Diktatur, und kaum ein System ermöglicht dem Staat problemloser tiefgehende Eingriffe in die Integrität einzelner Menschen, wenn diese sich, zum Schaden der Gemeinschaft, dem Utilitarismus verweigern. (Schadet es der Gemeinschaft nicht, ist »irrationales« Verhalten als Privatsache erlaubt, denn Staat und Experten wissen, daß kein Mensch sich immer rational verhalten kann und muß.)

59. Grundlegend dazu: L. Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts.

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4. Inszenierungen Um »Kris i befolkningsfrågan« (und die Bevölkerungskommissionen) entspinnt sich eine heftige Debatte. Die inhaltlichen Positionen der Kritiker und Anhänger des Buches, das Lob und die Verdammung, sind für unsere Fragestellung allerdings weniger wichtig.60 Keine Zeitung stellt in Frage, daß die Schweden bald aussterben werden, wenn niemand handelt, eine sieht sie gar in »einem schwedisch-deutsch-jüdisch-slawisch-fi nnischem Mischvolk« aufgehen.61 Aber die angeblich drohende »Sozialisierung«: daß bald Fünfjahrespläne erbarmungslos jeden Aspekt des Alltags bestimmen werden, treibt vor allem die bürgerliche Presse auf die Barrikaden, ebenso die Behauptung, daß nur tiefgreifende sozialpolitische Reformen das Problem lösen können. Die Auseinandersetzung erstreckt sich deshalb über die Sache hinaus auf die Autoren. Mit der Bevölkerungsfrage sind Alva und Gunnar politische Symbole geworden. Sie stehen seitdem für eine besondere Radikalität der gesellschaftspolitischen Debatte und für eine neue Form, die Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie personifizieren durch ihr Sprechen, Handeln, ihre Kleidung und ihren Habitus ein Bild, das fortan ganz unterschiedlichen Akteuren zur Markierung der jeweils eigenen weltanschaulichen Position dienen wird. Grundsätzlich neu ist das nicht. Die schwedische Öffentlichkeit ließ sich schon früher durch Intellektuelle nachhaltig provozieren, in der Bevölkerungsfrage etwa durch Knut Wicksell, der 1880 in mehreren skandalträchtigen Vorträgen eine aktive Verhütungspolitik propagierte. Als enfant terrible zog er mit Lust am Tabubruch durch Schweden und später sogar für einige Monate ins Gefängnis.62 Die Medien sicherten derartigen Tabubrüchen regelmäßig reichsweite Aufmerksamkeit, und gerade Alva und Gunnar profitierten davon. Sie haben ihr Buch gemeinsam verfaßt, beide stehen mit vollem Namen auf dem Umschlag, Alva als Erstautorin. Viele Zeitungen korrigieren 60. Dazu ausführlich: A. Carlson, The Swedish Experiment in Family Politics, S. 99-128. Alva und Gunnar haben einen Zeitungsausschnittsdienst beauftragt, die entsprechenden Artikel zu sammeln, um später eine soziologische Studie über die öffentliche Reaktion auf die Bevölkerungsdebatte (und ihr Reformprogramm) schreiben zu können (ARAB 405/5.1.1:6-5.1.1:40). 61. Skånska Dagbladet, 29.12.1934. 62. T. Gårdlund, Knut Wicksell. Er durfte sich in einem Gefängnis seiner Wahl eine bequeme Zelle mit Seeblick aussuchen und genoß fortan den Nimbus, für die Meinungsfreiheit in Haft gegangen zu sein. Seine größte Sorge war, ob die Haftzeit reichen werde, mehrere geplante Texte fertigzustellen. Schmerzhaft war, daß die Universität Lund ihm während der Haft das Gehalt strich.

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diese eher ungewöhnliche Entscheidung, indem sie in ihren Rezensionen Gunnar als Hauptautoren nennen und Alva als Ehefrau und Co-Autorin mitlaufen lassen. Wenn sie von den gemeinsamen Vortragsreisen der Myrdals berichten, rangiert Alva in der Regel als »Frau Professor« (professorskan), deren Vorträge (über Erziehung und Familie) die seinen (über die Wirtschaftsordnung) ideal ergänzten.63 Und sie selbst läßt sich mit den Worten zitieren, daß sie ihrem Mann folge, wie es sich für eine gute Ehefrau gehöre.64 Das ist das asymmetrische Bild der Geschlechterrollen, das zu erwarten war. Allerdings ist die Asymmetrie nicht ganz stabil. Beide nämlich werden in den Zeitungen vorgestellt, oft mit Bild, als Zweitplazierte genießt auch Alva Bekanntheit. Sie hält Vorträge über weibliche Minderwertigkeitskomplexe, die ausführlich referiert werden. »Die Frau Professor, eine entzückende Blondine, die selbst äußerst weiblich in ihrem Auftreten und wie alle schwedischen Damen stilvoll gekleidet ist, brachte ihre Ansichten mit einer dünnen Stimme vor, die in nettem Gegensatz zu ihren oft starken Worten stand.«65 Bis an ihr Lebensende werden sie die bewundernden Kommentare zu ihrem weiblich-stilvollen Auftreten begleiten. Sie setzen einen Kontrapunkt zur stets harschen Botschaft – harsch deshalb, weil Alvas Vorträge keine gemütlichen Plaudereien, sondern ungeschminkte Analysen sind, zu denen man Position beziehen muß.66 In den frühen 30er Jahren wird als Photographie nach wie vor das weichgezeichnete Portraitbild einer femininen Frau reproduziert; ihre Sprache wird im Text jedoch immer wieder, selbst wenn es ironisch gemeint ist, als deutlich selbstbewußt markiert: Sie unterbricht den anrufenden Journalisten, antwortet »frisch und rasch«,67 sie schlägt mit routinierter Kraft auf den Tisch »und sagt, so und so wollen wir es nicht haben und zieht ein gewaltiges Programm für die Betreuung der Kinder im Kleinkindalter auf«.68 Mal bürgt ihr Name für sachlich und formal hochstehende Vorträge,69 dann wieder ist sie Sozialpsychologin »und besonders ›fein‹ ist sie in der Kinder- und Familienpsychologie. Sie wäre also sicherlich ein gutes Kindermädchen [barnjungfru].«70 Alvas Bild in der Öffentlichkeit ist

63. So beispielsweise die Åbo Underrättelser, 22.3., 26.3.1934. 64. Berlinske Afton, 8.2.1934; ähnlich Ekstrabladet, 8.2.1934. 65. Politiken, 9.2.1934. 66. Dagens Nyheter, 20.10.1937: »Es kamen wie üblich Worte und keine Lieder aus Frau Myrdals Mund.« 67. Eskilstuna-Kuriren, 10.2.1934. 68. Dagens Nyheter, 16.9.1935. 69. Länstidningen (Östersund), 18.3.1937. 70. Folket i Bild, 26.5.1935.

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also mehrdeutig. Sie ist professorskan und eigenständig zugleich, immer aber Frau.71 Gunnar wird vollkommen anders beschrieben. Er ist jung. »Ein Professor sollte alt sein und Gicht haben und einen langen Bart. Er soll einen Kneifer tragen und so zerstreut sein, daß er jedes Mal seinen Schirm in der Straßenbahn vergißt. Seine Kleider sollen so blankgescheuert und uralt sein, daß Kolingen errötet, wenn er sie sieht. Gunnar Myrdal besitzt die Unverschämtheit, als lebendes Dementi dieser Auffassung der Professorenzunft herumzuspazieren. Er ist, wie gesagt, in erster Linie jung. So jung, daß, wer ihn nicht kennt, kaum weiß, wer der arme unwissende Kandidat ist und wer der grundgelehrte Professor, wenn er Myrdals Raum in der Stockholmer Hochschule betritt. Ich glaube auch nicht, daß er zerstreut ist. Man merkt im Gegenteil sofort, wenn man mit ihm spricht, daß er im Kopf wie ein gut geführtes Kassenbuch ist: klar, konzise, übersichtlich ist alles, was er sagt. Und das Wort spiegelt ja den Gedanken. Um ihn in allen Details mit dem Professor, den wir aus den Witzblättern kennen, zu vergleichen, kann man außerdem feststellen, daß er gut gekleidet und elegant ist – ja, wie ein Held in einem Hollywood-Film.« 72 Er ist jeden Zoll charmant, stattlich, sympathisch, intelligent, gesund und natürlich; trainiert, enthusiastisch, mit gutem Sinn für psychologische Effekte und sitzt in einem hypermodernen, als »amerikanisch« empfundenen Forschungsinstitut. »Er hat wohl auch einige Schwächen, die haben ja alle, aber man frage mich nicht, welche. Ich habe faktisch keine entdeckt.«73 Ein anderer Journalist sieht sich in der merkwürdigen Situation, Gunnar in der Bevölkerungsfrage zu prüfen. Der Professor besteht, der Prüfer zieht sich mit Verbeugung zurück.74 Schweden verdankt Gunnar, daß es in der Bevölkerungsfrage aufgewacht ist. Auch er wird bis ins hohe Alter immer wieder als elegant beschrieben – aber nicht, um, wie bei Alva, eine Geschlechterrolle zu zementieren, sondern um einen überkommenen Wissenschaftlerhabitus zu demontieren. Während seiner Frau von Gegnern die Weiblichkeit gelegentlich aberkannt, sie zum Mannweib gemacht wird, wird ihm seine Männlichkeit viel seltener abgesprochen – selbst dann nicht, wenn er als kleiner Junge neben erwachsenen Politikern karikiert oder auf eine

71. Ähnlich die Berichterstattung über Frederik und Else Marie Zeuthen, ein dänisches Intellektuellenpaar: Nya Dagligt Allehanda, 28.11.1935. 72. Folket i Bild, 26.5.1935. Ähnlich Göteborgs Morgonpost, 27.9.1935; Morgonbladet, 20.11.1935. – »Kolingen« ist die Figur einer schwedischen Satirezeitung, ein Vagabund. 73. Folket i Bild, 26.5.1935. 74. Såningsmannen, 4.5.1935.

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Stufe mit Mussolini, Stalin und Hitler gestellt wird.75 Er bleibt stets in einer »männlichen« Sphäre verortet (Abb. 16). Auch als Paar werden Alva und Gunnar wahrgenommen. Die Reporterin einer norwegischen Zeitung begibt sich nach Stockholm und befragt die Myrdals zu ihrem politischen Programm. »Sie beide gehören dem amerikanisierten, jüngeren Akademikertyp an, der nunmehr nicht selten ist in Schweden. Sie repräsentieren die personifizierte Effektivität, stehen bildlich gesprochen mit der Uhr in der Hand parat, um zu ihrer nächsten Konferenz zu rasen. Deshalb sprechen sie so schnell und so konzis, so geradeheraus und sachlich. Um ihn herum steht ein Funkenregen an Temperament und Ideen. Sie ist klein und hell, blaue Augen und klar wie Kristall. Das wissenschaftliche Training und die Interessen des Einen ergänzen die des Anderen vollkommen.«76 Sie gelten als Beatrice und Sidney Webb Schwedens. »Da ist nur der Unterschied, sagt er [Gunnar] verschmitzt, daß Beatrice Webb ihrem Mann intellektuell überlegen war. Aber Alva Myrdal darf ihrem Mann die Ehre geben, der Intelligentere zu sein, selbst wenn sie klüger ist als er. Das ist, wie bekannt, ein Unterschied. Sie hat großen Einfluß auf ihn, und selten habe ich einen Mann gesehen, der so seine Frau bewundert und zu ihr aufschaut wie Professor Myrdal.«77 Damit wird die angedeutete Symmetrie sogleich fragil, denn kluge Ehefrauen, die intelligente Männer leiten, werden kritisch beäugt. Das zeigt sich im Dezember 1934, als ein heftiger Streit zwischen den Ehepaaren Myrdal und Heckscher ausbricht. Eli Heckscher, der führende Wirtschaftshistoriker des Landes, schreibt mit seiner Frau Ebba eine beißende Kritik von »Kris i befolkningsfrågan«. Sie werfen dem Buch vor, eine demographische Krise, deren Existenz durch nichts bewiesen sei, für ein dezidiert antiindividualistisches Reformprogramm zu instrumentalisieren. In einem ähnlich langen Artikel antworten Alva und Gunnar, dann setzen die Heckschers zweimal, Alva einmal nach; auch Gustav Cassel greift, gegen die Myrdals, ein.78 Das letzte Wort behalten Alva und Gunnar, indem sie Eli Heckscher in der Volksausgabe ihres Buches bescheinigen, nichts begreifen zu wollen, »obwohl ihm die Sache ausdrücklich und beharrlich dargelegt wurde«.79 Der Kolumnist einer Zeitung hat nur Spott über – nicht für diesen Streit, sondern für die Verfasser: »Wenn öffentliche Dispute fortan paarweise geführt werden sollten, so daß das Paar [Rut und Sten] Dehlgren D[agens] N[yheter] redigiert und das Paar [Sigrid Vestdahl und Per Albin] Hansson 75. Z.B. Folkets Dagblad Politiken, 24.8.1935; siehe auch unten, Kap. IX. 76. Morgonbladet, 20.11.1935. 77. Ebd. 78. Dagens Nyheter, 5.12., 6.12., 7.12., 9.12., 12.12., 14.12.1934. 79. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1935], S. 207.

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die Debatten der Regierung führt etc. etc., wird die Teilnahme der Frau das Ganze gewiß noch lebendiger und vielleicht noch schwerer lösbar machen. […] Aber auf der anderen Seite bringt das System es ja mit sich, daß die Familieneinheit auf den Ehrenplatz gesetzt wird, unser Land wird erfüllt von Ehen, die eines Sinnes sind, und etwas Schöneres kann man wohl kaum wünschen.«80 Ein anderer Kolumnist preist die großartige Idee, Texte gemeinsam zu unterzeichnen. Das eröffne die Möglichkeit paarweiser Blockbildung in der Nationalökonomie, und er sieht bereits die Frauen der Minister, Regierungspräsidenten und Bischöfe die amtlichen Schreiben ihrer Männer unterzeichnen. So sicherten sie sich einen Platz im wärmenden Sonnenschein der Öffentlichkeit, wohin so viele sich in ihrer Eitelkeit sehnten.81 In solchen Glossen wird die Asymmetrie der Geschlechterrollen stabilisiert. Wenn Ehefrauen sich gleichberechtigt verhalten, dann sind sie ebenso lächerlich wie ihre Ehemänner, die sich zu Pantoffelhelden machen.82 Selbstverständlich werden Alva und Gunnar von den Karikaturisten veralbert. Jugendlich-dynamisch schlagen sie eine überdimensionierte Zeitung auf, in der nur Geburtsanzeigen zu lesen sind. Eine weibliche Alva trauert über einer Tonne mit Filmausschnitten: Küsse, die der Zensor geschnitten hat, oder sie bildet, mit Doktorhut, künftige Eltern aus. Ein junges Paar sitzt auf der Parkbank, Gunnar als Cupido lockt mit finanziellen Hilfen. Wie wäre Gunnar wohl tätowiert? Natürlich mit lauter Kindern.83 Und alles, was mit der Bevölkerungsfrage zu tun hat, bekommt den Namen Myrdal: das Myrdalsproblem, Myrdalsdebatte, Myrdalsmantel (das Umstandskleid), Myrdalshaus (für kinderreiche Familien), Myrdalslohn, Myrdalssteuer, Myrdal’sche Zeiten, myrdalisch aussehen, selbst zum Verb wird der Name: myrdalen (att myrdala) bedeutet Kinder zu zeugen.84 In 80. Stockholms-Tidningen, 6.12.1934. 81. Svenska Dagbladet, 15.12.1934. 82. Vgl. auch Vest-Svenska Dagbladet, 15.2.1936; Nya Dagligt Allehanda, 13.8.1936; Öresunds-Posten, 13.3.1937. 83. Stockholms-Tidningen, 14.4.1935; Stockholms Dagblad, 18.4.1935; Social-Demokraten, 7.11., 24.5.1935; Dagens Nyheter, 17.10.1935 (tatsächlich hatte Alva sich nicht gegen die Zensur von Liebesszenen verwahrt, sondern rohe Gewalt von den Kindern fernhalten wollen [Biografbladet, Mai/Juni 1935]). 84. Morgontidningen, 11.6.1935; Stockholms-Tidningen, 21.7.1935; Folkets Dagblad Politiken, 24.10.1935; Svenska Dagbladet, 2.5.1936; Avesta-Posten, 3.4.1936; Aftonbladet, 4.5.1936; Arbetaren, 7.5.1936; Säters Tidning, 9.5.1936; J.U.F.-bladet 16, 1936, S. 305; Social-Demokraten, 6.8.1936; Ny Dag, 7.1.1936; Landskrona Tidning, 18.1.1937 (Leserbrief); Dagens Nyheter, 16.1.1937. Vgl. auch K. Fölster, Die drei Blätter, S. 132f.

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fast schon unsinnigen Zusammenhängen wird auf die Myrdals verwiesen: wenn irgendwo Fünflinge geboren werden, eine Kinderwagenfirma ein neues Lager baut, ein 130jähriger Ägypter zum Unmut seiner Nachkommen zum 20. Mal heiraten will, Grundschullehrerinnen zum Myrdalsbataillon erklärt werden – oder die Störche ausbleiben.85 1938 verebbt der Rummel. Alva und Gunnar brechen in die USA auf und haben endlich ihr drittes Kind bekommen. Das ist in der Tat ein Problem gewesen. Sissela war noch rechtzeitig zum Erscheinen des Buches geboren worden und hatte den Spitznamen »Krisan« (»Kris’chen«) bekommen.86 1936, als die Medien bereits zu lästern beginnen, daß das Ehepaar Myrdal sein eigenes Programm nicht einhalte, wird die zweite Tochter Kaj geboren: »[J]a, die Herrschaften Myrdal bekamen dieser Tage ihr vorgeschriebenes drittes [Kind].«87 Und die dänische Freundin Else-Merete Ross schreibt: »Ich denke, es war eine ausgezeichnete Idee, Buch und Kind gleichzeitig herauszugeben.«88

5. Wer tprämissen Zu Beginn seiner Karriere hatte sich Gunnar daran gemacht, eine Erkenntnistheorie zu entwerfen, die ihm bis an sein Lebensende als schlagkräftiges Instrument dienen sollte, seine Gegner zu kritisieren und die eigene Position zu immunisieren. Als frischgebackener Dozent hält er, wie erwähnt, im Frühjahr 1928 eine Vorlesungsreihe in der er seinen Hörern »die Rolle der politischen Spekulation in der Nationalökonomie« aufdekken möchte.89 1930 publiziert er die Vorlesung als Buch. Es richtet sich, wie er 1968 rückblickend schreibt,90 gegen seine außerordentlich begabte, bedeutende und anregende Lehrergeneration – u.a. Heckscher und Cassel –, der er freilich eine ebenso außerordentliche Naivität in methodischer Hinsicht bescheinigt. Den Vorwurf, daß sie ihre wirtschaftswissenschaftlichen Theorien auf versteckten Wertannahmen auf bauten und damit die 85. Sala Posten, 3.7.1935; Morgonbladet, 20.11.1935; Östersunds-Posten, 2.9.1936; Dagens Nyheter, 5.11.1936; Halländingen, 16.12.1937; Västerbottens Kuriren, 23.8.1937; Stockholms-Tidningen, 7.12.1937 (eine Karikatur zu den ausbleibenden Störchen ist abgebildet in T. Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang, S. 71). 86. S. Bok, Alva Myrdal, S. 119. 87. Dagens Nyheter, 13.9.1936. 88. Else-Merete Ross an Alva, 19.1.1935 (ARAB 405/3.1.2:4). 89. G. Myrdal, Vetenskap och politik i nationalekonomien, S. 7. 90. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 14.

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bestehende bürgerliche Gesellschaftsordnung legitimierten, dehnt er wenig später auf die Wissenschaft insgesamt aus. 1934 wählt er erneut ein öffentlichkeitswirksames Forum, diesmal die Vorlesung bei Antritt der Lars Hierta-Stiftungsprofessor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, um seine erkenntnistheoretischen Überlegungen zu umreißen. Idealerweise müsse die Wissenschaft nach objektiver, voraussetzungsloser Wahrheit streben, faktisch jedoch entkomme sie niemals dem »Apriorischen«: einer Weltanschauung (världsåskådning), die die wissenschaftliche Fragestellung auf der theoretischen Ebene präge, und einer Lebensanschauung (livsåskådning), die die Wertprämissen auf der praktischen Ebene bestimme. Ohne Prämissen jedoch ließen sich gar keine Fakten erheben.91 »[A]ußerhalb eines Referenzrahmens von Begriffen und Theorien gibt es keine wissenschaftlichen Daten, nur Chaos.«92 – »For Lord’s sake, you can’t look on facts if you don’t look on it [sic] from a valuation point of view.«93 Fakten und Probleme existieren in der Realität, sind also kein Konstrukt,94 aber sie müssen geborgen werden, und das kann korrekt oder falsch geschehen. Man kann, so Gunnar, diese Voraussetzung wissenschaftstheoretisch naiv überspringen und seine Ergebnisse als »natürliche« Konsequenz angeblicher Tatsachen ausweisen. Oder aber man folgt der »wertkritischen« Methode, wählt bewußt Prämissen, weist sie aus und macht dadurch die empirische Erhebung transparent. Prämissen, Datenerhebung und Folgerungen werden der kritischen Prüfung zugänglich; konkurrierende Prämissen können argumentativ etabliert werden.95 1968 faßt Gunnar diverse Textabschnitte der vergangenen Jahre für eine Vorlesungsreihe zusammen und entwirft eine regelrechte Wertprämissenlehre.96 Sie lautet nun: Der Einfluß von Tradition, Umwelt und der eigenen Persönlichkeit können, wenn sie nicht kontrolliert werden, die Erkenntnisse eines Wissenschaftlers erheblich verzerren oder gar verfäl91. Dieser Gedanke wird erst später explizit gemacht: Gunnar Myrdal, Economics, Politics, Culture. Marshall Lectures, Cambridge, Februar/März 1951, Ms., Bl. 67 (ARAB 405/4.2:38). 92. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 16. 93. Ideas and Reality. Professor Gunnar Myrdal interviewed by professor John Vaizey. BBC Radio 3, 22.8.1975, Ms., Bl. 17 (ARAB 405/6.1:102b). 94. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 17. 95. G. Myrdal, Den förändrade världsbilden inom nationalekonomin, bes. S. 8-12. Ähnlich: Ders., Prisbildningsproblemet och föränderligheten, S. 3f.; Ders., Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie; Ders., Några metodiska anmärkingar rörande befolkningsfrågans innebörd och vetenskapliga behandling; Ders., An American Dilemma, S. 1027-1064; Ders., Value in Social Theory. 96. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen.

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schen. Er schützt sich, indem er die Werte offenlegt, die Theorie und Praxis der eigenen Arbeit bestimmen; indem er den Realitätsbezug der Wertprämissen prüft; indem er sie in präzise defi nierte, spezifische Prämissen umwandelt; indem er den methodischen Zugriff offenlegt und Begriffe analog zu den Wertprämissen definiert. Diese Prämissen müssen relevant sein, d.h. realen Wertungen der Menschen entsprechen, sie müssen signifikant sein, d.h. den Wertungen bedeutender Machtgruppen entsprechen, sie müssen plausibel, d.h. verwirklichbar sein. Sie sind nicht metaphysisch gegeben, werden nicht willkürlich gesetzt oder theoretisch abgeleitet, sondern in der Wirklichkeit vorgefunden. Grundsätzlich, so Gunnar, sind Wissenschaftler ebenso anfällig wie Laien. Gemeinsam zeichnet sie aus, daß ihre Meinungen (åsikter/opinions97) aus Annahmen (antaganden/beliefs) und Wertungen (värderingar/ valuations) zusammengesetzt sind. Annahmen drücken die Vorstellung aus, wie die Welt ist (oder war), Wertungen, wie sie (gewesen) sein sollte. Annahmen erheben Anspruch auf Wissen, Wissenslücken und Grad der Abweichung von der Realität können gemessen werden. Bei Wertungen geht das nicht. Das Problem ist nun, daß moralisch höhere und niedrigere Wertungen in Konflikt geraten können. In sozialen Institutionen kommen erstere zu ihrem Recht, die meisten Menschen dagegen stehen unter dem Einfluß kurzsichtiger Interessen und alltäglicher Sorgen, die sie durch Vorurteile kompensieren. Öffentlich mögen sie sich gegen rassistisches Denken aussprechen, privat pflegen sie ihre Vorurteile gegen »die Neger«. Sie ahnen den Konflikt, und das treibt sie dazu, ihre Vorurteile zu rationalisieren, indem sie Fakten, die ihren Vorurteilen widersprechen, systematisch ausblenden oder verzerren. Wissenschaftler können diese Verdrängungsarbeit kartieren. Sie müssen »die Menschen erziehen, richtigere Annahmen zu akzeptieren und daraus die Konsequenz zu ziehen, sich ihrer Vorurteile zu entledigen«.98 Aber sie unterliegen selbst der Versuchung zur Unwahrhaftigkeit. Die alten Nationalökonomen wollten die bürgerliche Gesellschaft verteidigen, amerikanische Sozialwissenschaftler zeigten sich der »Negerfrage« analytisch nicht gewachsen, die Probleme der »Dritten Welt« werden aus Gründen politischer Korrektheit nicht deutlich benannt – in seinen eigenen Forschungsfeldern findet Gunnar hinreichend Beispiele dafür, wie ein bewußter oder unbewußter Opportunismus Wissenschaftler dazu treibt, beschönigende Begriffe oder falsche Wertprämissen zu wählen, um Konfl ikte zu vermeiden. Es öffnet sich eine Kluft zwischen Grundlagen und Resultaten der wissenschaftlichen Arbeit, 97. Da das Buch zuerst in den USA publiziert worden ist, benutzt Gunnar schwedische und englische Begriffe parallel. 98. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 35.

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in die Wertungen als unkontrollierte Einflüsse eindringen können. Auch die Wissenschaftler müssen gezwungen werden, sich ehrliche Rechenschaft abzulegen, sonst können sie nicht »dem Ziel einer intellektuellen und moralischen Katharsis [dienen] – die im Grunde unsere Hoff nung auf eine Verbesserung der Gesellschaft und der Welt ist.«99 Seinen Vorstellungen zu Folge hätten deshalb im Besprechungsteil einer von ihm geplanten (aber nie realisierten) sozialwissenschaftlichen Zeitschrift regelmäßig die Wertprämissen der besprochenen Arbeiten offengelegt und die Datenbasis kritisiert werden sollen.100 Die Wertprämissentheorie ist nicht unbedingt verkehrt. Man kann sie, im Vergleich zu Wissenschaftssoziologen wie Ludwik Fleck, guten Gewissens als simpel bezeichnen. Das eigentliche Problem liegt jedoch in ihrer Anwendung durch Gunnar Myrdal selbst. Liest man seine theoretischen Ausführungen, so fällt rasch auf, daß er nie seine eigenen Analysen als Beispiel für eine verzerrte Weltwahrnehmung wählt. Er läßt vielmehr eine deutliche Hierarchie aufscheinen, ohne sie explizit zu machen. Unten stehen die meisten Menschen mit ihren Wertungen niederer Kategorie. Darüber stehen die sozialen Institutionen mit Wertungen höheren Niveaus sowie die Gesellschaftswissenschaften, die die Verdrängungsarbeit der Menschen offenlegen. Deren Verzerrungen wiederum bringt Gunnar Myrdal ans Licht. Er selbst korrigiert sich höchstens leicht, etwa seine ursprüngliche Vorstellung, daß, wenn man nur alle metaphysischen Elemente radikal beseitige, darunter das »gesunde Gerüst« einer positivistischen Wirtschaftstheorie verbleibe, vollkommen unabhängig von Wertungen. Das war, gibt er später zu, naiver Empirismus, den er abstreift. Seine Grundgedanken postuliert er jedoch als nach wie vor gültig und relevant.101 Noch frappierender ist sein Umgang mit Prämissen und Empirie. In seiner Theorie steckt ein Zirkel: Ohne Prämissen keine empirischen Daten – aber Prämissen müssen in Form empirischer Daten erhoben werden. Gunnar kümmert dieses Paradox nicht weiter. Bestimmte Prämissen liegen für ihn so offensichtlich zu Tage, daß sie nicht weiter hinterfragbar sind, etwa der »American Creed«, von dem später die Rede sein wird, der angeblich noch im härtesten amerikanischen Rassisten verwurzelte Glaube an Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Nur professionell erblindete Historiker oder doktrinäre Marxisten könnten die Bedeutung des »Creed« 99. Ebd., S. 69. 100. Gunnar Myrdal, P.M. med förslag om startandet av en socialvetenskaplig tidskrift, o.D. [ca. 1935], Ms. (ARAB 405/6.1:10); Ders., P.M. med förslag om startandet av en socialvetenskaplig tidskrift (våren 1935), o.D. [Frühjahr 1935], Ms. (ARAB 405/6.1:13). 101. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 16.

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für eine evolutionäre Lösung der »Negerfrage« übersehen.102 Ein anderes Beispiel ist sein Buch »Population« von 1940. Aus einer, wie er schreibt, impressionistischen und eher intuitiven Auswertung tausender Zeitungsartikel und Briefe schließt er, daß junge Menschen, die sich eigene Kinder vorstellen können, am ehesten offen sind für Reformen im Bereich der Bevölkerungspolitik: »[T]his means that, if their social valuations were such, they could feel as would-be parents, and thus also feel an indirect interest in those measures.«103 Daraus leitet er gegen konservative Skeptiker die – in einem »signifi kanten« Teil der Bevölkerung verankerte – Wertprämisse ab, daß nativitätssteigernde Reformmaßnahmen wünschenswert seien, denn eine schrumpfende Bevölkerung werde zu einem Rückgang von Investitionen und Konsum führen, Karrieren verbauen, die Miete kleinerer Wohnungen senken, und die schrumpfenden Familien »will cling to that standard of housing, even if they could afford to live in larger and better apartments. The existing stock of apartments of a lower standard will then block the tendency to raise the housing standard.«104 All diese Schlüsse sind freilich zutiefst unsicher: »In concluding this chapter, I do not need to emphasize how weakly founded the conclusions are.«105 Doch basierten sie nicht auf »armchair speculation«, sondern auf praktischer Erfahrung und »a rather wide, though unsystematized, observation«,106 zumeist durch schwedisches Material untermauert, das er als nicht repräsentativ bezeichnet und auch kaum präsentiert. Dann treibt er die Argumentation auf die Spitze. Er prognostiziert einen Fertilitätsrückgang für alle Länder, der früher oder später eine »ideological crisis in popular attitudes toward the population question« auslösen müsse, ein »furious clash of opinion […] soon must make itself felt.« 107 Daß das bislang nicht geschehen ist, überrascht ihn, läßt sich für den angelsächsischen Raum jedoch erklären durch die Dominanz der Neomalthusianer, durch die Immigrationsdebatte, fehlende Parteien und die Macht der Kirche in den USA, durch die Wirtschaftskrise, die in den USA die rationale Sicht auf praktisch alle sozialen Probleme verzerrt habe. Und selbst wenn sich seine Analyse als falsch erweisen sollte, wäre seine These nicht entkräftet, denn: »Assume, as I do, that the fertility trend is steadily downward. Sooner or later, then, an ideological crisis in the population problem will emerge. That the crisis has been postponed by these or other factors 102. G. Myrdal, An American Dilemma, S. 23. 103. G. Myrdal, Population, S. 123. 104. Ebd., S. 155f. 105. Ebd., S. 173. 106. Ebd., S. 120. 107. Ebd., S. 65.

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means only that the latent explosive power concealed within the decline of reproduction is accumulating, and that the crisis, when once it comes, will be all the more violent. In the long range, as I anticipate, this ideological crisis will have revolutionary effects upon all social policy and upon men’s attitudes toward all sorts of human problems. After this crisis, which must occur in western Europe within the next few decades but in America may be considerably deferred if the fall in fertility is not very rapid, the population problem will come to dominate all social life.«108 In allen Texten stoßen wir auf ähnliche Formulierungen und denselben Umgang mit Daten und Prämissen. Die Daten fehlen und die Prämissen sind Vermutungen. In »Amerikas väg« (»Amerikas Weg«) akzeptiert Gunnar 1963 zwar alternative Wertprämissen, doch wenn die Menschen frei wählen könnten, würden sie es als natürlich ansehen, und selbst ein Interesse daran haben, zu arbeiten. Arbeitslosigkeit ist daher zweifellos eine Einschränkung von Freiheit und Chancen. Die Medien schüren Vorurteile gegen den öffentlichen Sektor, doch das entspricht sicherlich nicht dem, was die Menschen vorzögen, wenn sie ihren Impulsen folgten: nützliche Qualitätsgüter zu kaufen, die kollektiv hergestellt und vertrieben werden.109 Durch diesen Sprung vom Konjunktiv zum Indikativ sieht er seine Prämissen empirisch bestätigt. Im »Politiskt manifest om världsfattigdomen« (»Politischen Manifest zur Weltarmut«) dienen ihm 1970 Sprichwörter als Beleg dafür, daß die Bevölkerung intuitiv die Unrichtigkeit der etablierten Außenhandelspolitik erkannt habe; Analogieschlüsse untermauern die Forderung nach raschen Reformen: es sei leichter, den Kopf rasch ins kalte Wasser zu stecken.110 Und im »Asian Drama« (1968) wird die Problematik besonders deutlich. Das Werk untersucht die Rückständigkeit Südasiens. Anders als seine Kollegen will Gunnar die Schwierigkeiten dieses Raums nicht auf ökonomische Fragen reduzieren. Statt einfach westliche Wirtschaftstheorien zu oktroyieren, um Probleme zu lösen, will er zuerst die sozialen Verhältnisse verstehen, durch institutional und behavior studies herausfinden, auf welche Weise dysfunktionale Institutionen, Strukturen, Traditionen und Verhaltensweisen einer Modernisierung nach westlichem Vorbild im Wege stehen. Deshalb sucht er die zentrale Wertprämisse aller Menschen in den verschiedenen asiatischen Staaten zu ermitteln, indem er ihre höchst heterogenen Werthaltungen harmonisiert. Und er findet die klassische, westliche Modernisierungstheorie der 60er Jahre. Die sei durch die westlich erzogenen Eliten als »official creed« in das allgemei108. Ebd., S. 72f. 109. G. Myrdal, Amerikas väg, S. 28, 85. 110. G. Myrdal, Politiskt manifest om världsfattigdomen, bes. S. 204, 278, 294f., 298.

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ne Gedankengut der Entwicklungsländer eingegangen. Durch die Wahl der Modernisierungstheorie als Wertprämisse werde man den asiatischen Nationen gerecht. Deren Angehörige wollten nämlich Produktivität, Lebensstandard, Verhaltensweisen und Gleichstellung der Menschen steigern, verändern und verbessern; sie akzeptierten Rationalität, Planung, Entwicklung und Ausbildung nach westlichem Vorbild. Die Belegbasis für diese zentrale Annahme ist höchst fragil. Sie besteht vor allem aus »illustrative and impressionistic information«,111 weil Statistiken fehlten oder irrelevante Informationen gesammelt worden seien. »The inevitable result is that considerable space in this book is allotted to such generalizing judgments, which are presented without the support of conclusive evidence.«112 Selbst die Ziffern für Pro-Kopf-Einkommen, Preise und Bevölkerungszahl sind »exceptionally shaky«113 – doch zugleich stößt man in dem Werk auf zahlreiche Tabellen, in denen Kalorienverbrauch und -defizite, Alphabetisierungsrate, jährlicher Zeitungskonsum bzw. Energieverbrauch in Kilogramm pro Kopf, der Anteil der Baumwolle am Textilkonsum insgesamt oder die Tonnage transportierter Güter und beförderter Personen bis auf die Nachkommastelle genau ausgewiesen werden. Der Vergleich mit Schweden, Großbritannien und den USA soll die Rückständigkeit Südasiens belegen, allerdings sind nicht einmal die Vergleichsdaten für Schweden kompatibel.114 Das hindert Gunnar nicht daran, die Tabellen anschließend als adäquate Beschreibung der Realität heranzuziehen, etwa als Beleg für die angebliche Monotonie von Kost und Kleidung, oder aber auf ihrer Basis dezidierte Empfehlungen auszusprechen: »Although our treatment of the problem has been in general terms, and although we have consistently avoided making it more specific than our knowledge of the facts and the relationship between the facts permits, we believe we can conclude that a consideration of the economic effects of population trends should give the governments of the South Asian countries strong reasons for instituting as soon and as vigorously as possible policy measures to get birth control practiced among the masses of the people.«115 Nicht einmal seine zentrale Wertprämisse kann Gunnar empirisch absichern. »The modernization ideals«, heißt es an einer Stelle, »were, and still are, proclaimed as a sort of state religion«. 200 Seiten zuvor hat er aber zugegeben, daß das Modernisierungsideal eigentlich nur von den Eliten 111. G. Myrdal, Asian Drama, S. 552. 112. Ebd., S. 44. 113. Ebd., S. 2168. 114. Vgl. ebd., S. 540 (den Daten für 1958 [Asien] werden die Daten von 1954-56 [Schweden] gegenübergestellt). 115. Ebd., S. 1472 (Hervorh. im Orig.).

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geteilt werde: »The modernization ideals are all, in a sense, alien to the region, since they stem from foreign influences. But they have come to be indigenous in the sense that they have been adopted and shaped by the intellectual elite, who, in turn, have endeavored to diff use them throughout the population. The other valuations, held by the mass of people and in large part also by the intellectual elite, are mainly ›traditional‹: they are part of an inherited culture long identified with a stagnating society.« Und bereits weitere sechs Seiten zuvor hatte er einräumen müssen, daß eigentlich niemand dieses Ideal teile: »We cannot claim that this ideal of a more disciplined nation is shared by a large number of people […]. It is another example of how our study has forced us to choose a value premise that is not widely accepted, in order that the system of value premises may be coherent and in accord with the primary quests for rationality and planning for development.«116 Doch das stört ihn nicht. Denn selbst wenn die Menschen die Prämissen nicht teilen, können sie relevant sein, sofern man nämlich Prämissen wählt, die »die Menschen haben sollten, wenn ihre Annahmen korrekt und nicht verzerrt wären.« 117 Teilen sie sie nicht, müssen sie gelehrt werden, die »richtigen« Prämissen als die ihren zu erkennen. So orientieren sich die »richtigen« Prämissen stets an dem, was die Menschen vernünftigerweise wünschen sollten, wären sie hinreichend aufgeklärt, und das ist für Gunnar die Realität. Im Umkehrschluß hieß das, daß konkurrierende Prämissen partikularen Interessen entspringen mußten. Schaut man sich also die praktische Anwendung dieser Theorie genau an, so zeigt sie sich eher als ein Glaubensbekenntnis, denn Gunnars Argumentation ist stets alternativlos.118 Ein Ideal (Prämisse) gibt eine Perspektive vor, die die empirische Erhebung determiniert, die dann das Ideal empirisch herleitet, so daß es zur Norm erhoben werden kann; also ein Ideal, das aus objektiven Gründen verwirklicht werden muß. Prämisse und Realität fallen in eins.119 Deshalb findet sich kaum ein Text, in dem er alternative Prämissen auch nur diskutiert; deshalb sind so viele seiner Texte im Stil apodiktischer Glaubenssätze geschrieben; deshalb kritisiert 116. Ebd., S. 276, 73, 67. 117. G. Myrdal, Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 61 (Hervorh. im Orig.). 118. Das übersehen J. M. O’Toole, An Analysis of Gunnar Myrdal’s Social and Educational Theory (die die Theorie kritiklos nachvollzieht); U. Beck, Objektivität und Normativität, S. 111-118 (der die Theorie nur referiert); R. Wundrak, Myrdals lära om värderingar; E. Ljungar, Gunnar Myrdals relevans för dagens sociologi; P. Streeten, Introduction; O. Sigurdson, Den lyckliga filosofin, S. 119125 (die Myrdals Theorie weitgehend vorbehaltlos folgen). 119. Als weiteres Beispiel: G. Myrdal, Världsekonomin.

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er regelmäßig andere Autoren für mangelnde Definitionen und bloße Annahmen; deshalb gibt es keine Textstellen, in denen er eigene Irrtümer einräumt. Man kann es auch so zusammenfassen: Was er richtig prognostiziert hat, baut auf vernünftigen Prämissen, was er falsch vorausgesehen hat, war unvorhersehbar.120

6. Weltbild Der oben erwähnte Streit zwischen den Heckschers und den Myrdals hat einen doppelten Boden. In den Zeitungsartikeln kritisieren sie sich öffentlich, parallel dazu tauschen sie umfangreiche Briefe aus. Besonders Alva legt Wert darauf, daß ihr Buch richtig verstanden wird; sie versucht den Heckschers minutiös Mißverständnisse nachzuweisen.121 Sie fühlt sich und Gunnar zu unrecht als »unintelligent und unwissend, so verantwortungslos und unmoralisch« dargestellt.122 Von der anderen Seite antwortet Ebba und bescheinigt beiden »eine wirklich religiöse Glaubensgewißheit«, 123 sie erinnert daran, welchen Eindruck von »intoleranter Selbstgerechtigkeit« ihr Buch auf Gustav Cassel gemacht habe, sie kritisiert, daß beide sich selbst als streitlustig, die Gegner aber als gehässig bezeichneten. »Indessen kann ich trotz allem nichts anderes glauben, als daß Sie unter ruhigeren Bedingungen auf eine andere Weise geschrieben hätten. Sonst muß der Eindruck eines mangelnden Vermögens zu objektiver Beurteilung sich leider vertiefen, und das wäre höchst unwillkommen.«124 Zwischen Gunnar und Eli Heckscher entgleist die Diskussion zu einer gegenseitigen Aufrechnung vergangener Meinungsverschiedenheiten,125 Ebba Heckscher rückt die Myrdals in die Nähe des Nationalsozialismus, 126 Alva verteidigt sich gegen den Vorwurf, individuelle Freiheitsrechte geringzuschätzen: »[D]as 120. Oder er hat aus idealistischen Gründen bestimmte Sachverhalte nicht ganz klar erkannt. In diesen, seltenen, Fällen nimmt er kleinere Adjustierungen vor: G. Myrdal, I stället för memoarer, S. 11, 296-302; Ders., Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, S. 16; Ders., Varning för fredsoptimism, S. 112; A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, S. 215-242. 121. Alva an Ebba und Eli Heckscher, 12.12.1934 (KB L 67:38 [Abschrift]), 14.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5). 122. Alva an Ebba und Eli Heckscher, 11.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5). 123. Ebba Heckscher an Alva, 12.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5). 124. Ebd. 125. Gunnar an Eli Heckscher, 14.12., 19.12., 26.12.1934; Eli Heckscher an Gunnar, 18.12., 23.12., 27.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5). 126. Ebba Heckscher an Alva, 18.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5).

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[behördliche Wohnungskontrollen] nennen Sie Freiheitsberaubung, wir, die Interessen des Kindes zu schützen.« Ebba Heckscher hänge dem alten liberalen Denken an, »das keine sozialen Lösungen für soziale Probleme haben will, sondern es vorzieht, von den Individuen selbst zu verlangen, daß sie sich behaupten oder untergehen, und die dann aus humanitärem Interesse nur einigen besonders Unglücklichen helfen.«127 Das sind verschiedene Welten: ein junger Professor, verheiratet mit einer berufstätigen Frau, ein alter Professor, verheiratet mit einer Hausfrau. Alva engagiert sich politisch für Sozialreformen, Ebba Heckscher ehrenamtlich für notleidende Individuen. Alva versteht Freiheit als Rahmung von Lebenswegen, Heckscher sieht in diesen Rahmungen Dekrete.128 Alva und Ebba siezen sich und argumentieren eng am Text, Gunnar und Eli sind per Du und rasch in die alten Hochschulstreitigkeiten verstrickt. Der Briefwechsel kennt selbst an Weihnachten keinen Frieden, aber jeder Brief endet doch mit höflichen Wünschen. Der Streit zeigt, wie Alva und Gunnar sich verstanden wissen möchten: als redliche Intellektuelle, die jede ihrer Behauptungen belegen und argumentativ verteidigen können. Den Vorwurf Ebba Heckschers, daß sie ihre Gegner auf rüde Art abkanzelten, begreift Alva gar nicht erst. Sie bescheinigt sich und ihrem Mann klare und sachliche, wenn auch scharfe Worte, die nötig seien, um eine Position deutlich zu markieren und dadurch für Gegenargumente zu erschließen – zumal sie ihre Gegner namentlich ja selten benennen würden. Es soll gerade nicht religiöse Gewißheit sein, die sie leitet, sondern kühle Vernunft. Gunnar hat dieses Selbstbild in einem anderen Text so zusammengefaßt: »Die neue sozialpolitische Ideologie trägt stark radikale und in gewissem Maße revolutionäre Möglichkeiten in sich. Sie ist intellektuell und kühl rationalistisch, während die alte, die immer noch herrscht, bedeutend sentimentaler war. Sie hat bedeutend weniger Respekt für die Rationalität des Bestehenden. Sie ist in hohem Grade befreit von den liberalistischen Ideenbremsen. Auf der anderen Seite ist sie zu technisch orientiert, um sich in rein allgemeinen und nichtweltlichen Idealkonstruktionen zu verlieren. Denn sie ist ›sachlich‹. Ihre Romantik ist die des Ingenieurs. […] Das Reißbrett und der Zeichenstift sind radikalisierend. Wenn man beginnt, mit Durchschnittswerten und Indexserien zu arbeiten, verliert man so viel Rücksicht [auf veraltete Zustände].«129 Noch knapper formuliert es Alva: »Die einzige Romantik ist die Romantik der Zweckmäßigkeit.« 130 Und

127. Alva an Ebba Heckscher, 19.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5). 128. Ebba Heckscher an Alva, 24.12.1934 (ARAB 405/3.2.1:5). 129. G. Myrdal, Socialpolitikens dilemma II, S. 25, 28. 130. A. Myrdal, Kollektiv bostadsform, S. 607.

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wenn ihr für ihre Arbeit die »komplette Abwesenheit von Sentimentalität« bescheinigt wird,131 faßt sie das als Kompliment auf. Alva macht sich Gunnars Wertprämissentheorie zu eigen, selbst wenn sie ihr etwas fremd erscheint.132 Auch sie formuliert Prämissen und legt Wert auf empirische Belege (die ihr ebenfalls fehlen), und sie verfeinert die Techniken der Selbstimmunisierung: Mal diskutiert sie alternative Prämissen – die durchweg aus totalitären Diktaturen stammen –, mal konstruiert sie einen zukünftigen Historiker, der im Rückblick beschreiben wird, was sie prognostiziert.133 Die Theorie ist Ausdruck eines eben doch quasi-religiösen Glaubens an die Vernunft, den beide teilen. Sie wollen aufklären, damit die Menschen rational handeln können. »Emotionen«, »Irrationalität« und »Traditionen« gehören primär auf die dunkle Seite des Lebens – allerdings widmen sie dieser Seite wenig Aufmerksamkeit. Romantik darf sein, ist aber Privatsache.134 Emotionen erwähnen sie nur selten, dann aber negativ. Etwas unbestimmter sieht es mit den Traditionen aus. Für die klassischen Volksbräuche zeigen Alva und Gunnar weder in ihrem Alltag noch ihren Texten Interesse. Die im Kunsthandwerk überhöhten schwedischen Traditionen werten sie positiv, weil sie Moderne und Herkunft auf geschmackvolle, handwerklich hochwertige Weise verbinden. Alva läßt ihre Wohnungen wie später die Botschaft in Indien durch die Firma »Svenskt Tenn« einrichten, einer kunsthandwerklichen Edelmarke. Gunnar wiederum stilisiert regelmäßig seine Herkunft aus Dalarna, dieser Landschaft rebellischer Bauern. Die modernistische Metapher vom »Messer des Chirurgen« und das Kontinuitäten beschwörende Bild seiner eigenen »Wurzeln in der Erde« kann er innerhalb weniger Zeilen desselben Briefes zusammen denken.135 Traditionen können der Moderne also ein sicheres Fundament bieten, wenn man sich nicht unter »Leutnantsherzen und leere Priesterköpfe verirrt«.136 Sie sind problematisch, wenn sie Schülerinnen überkommene 131. Dagens Nyheter, 16.9.1935. 132. Alva an Gunnar, 16.3.1940 (ARAB 405/3.3:25): Es brauche viel »Hirngymnastik«, um »Wertprämissen« und »Zielsetzungen« sauber zu unterscheiden. 133. Beispielsweise A. Myrdal, Folk och familj, bes. S. 127-140; Alva Myrdal: Det problematiska i familjens framtid är – FADERN, o.D. [1930er Jahre], Ms., Bl. 1f. (ARAB 405/2.3:27). 134. Porträttet: Alva Myrdal. Svenskare kan ingen vara (Bonniers månadstidning, April 1967, S. 20, 83). 135. Gunnar Myrdal an Boris Tullander, 4.5.1931 (ARAB 405/3.2.1:10). 136. Alva Myrdal: Invigningstal Frederika Bremerskolan i Handen, 19.3.1970, Ms., Bl. 5f. (ARAB 405/2.3:31).

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Rollenmuster wählen lassen, und gefährlich, »weil sie einem modernen Leben einfach konträr und außerdem schädlich sind, in dem [sic] sie Minderwertigkeitsgefühle und Erlebnisse von Demütigung hervorrufen, und das bei der Hälfte aller Kinder, nämlich den Mädchen.« 137 Traditionen dürfen bestehen bleiben, wenn sie der Modernisierung aus dem Weg treten.138 »Katholizismus« ist eine Chiffre für undemokratische Standesgesellschaften, religiöse Praktiken sind Alva suspekt. Den Glauben der Individuen respektiert sie, steht jedoch den sozialen Folgen kollektiver Frömmigkeit skeptisch gegenüber.139 Theologische Fragen tangieren sie nicht, wohl aber die gesellschaftspolitische Rolle der Kirche als moralische Instanz. Sie könne eine Inspirationsquelle für die soziale Entwicklung bedeuten, oder aber einen fortschrittshemmenden totalitären Anspruch auf den Gehorsam der Seelen erheben.140 Trotzdem ist Alva bis an ihr Lebensende von einem zutiefst religiösen, dichotomischen Weltbild geprägt, dem Kampf zwischen »Ormuzd, the good, and Ahriman, the evil«:141 »[I]ch habe gewissermaßen ein Bild, was eine Religion oder eine oberste Moral eigentlich sein sollte. […] Es sagt, daß Gott das Gute ist und die Entwicklung der Welt in einem Kampf zwischen den bösen und den guten Kräften besteht. Alles, was wir Menschen tun, schlecht oder gut, wird der einen Seite oder der anderen zugerechnet und ergibt eine Summe, so kann jeder der guten Seite zum Sieg verhelfen. Nun gebe ich zu, daß das ein Idealbild ist, und ich will nicht einmal sagen, daß ich daran glaube. Aber es ist für mich ein Denkschema für die bestmögliche Religion, an die zu glauben, und die bestmögliche Moral, nach der

137. A. Myrdal, Möglichkeiten und Gefahren für das Spielen unserer Kinder in der heutigen Leistungsgesellschaft, S. 12. 138. A. Myrdal, The Power of Education, S. 147. 139. Alva ist nach einer schweren religiösen Krise im Winter 1917/18 zur Freidenkerin geworden, vgl. den Briefwechsel mit Per Sundberg (ARAB 405/ 3.1.1:1); sowie S. Bok, Alva Myrdal, S. 40-42. Etwa zehn Jahre später plant sie ein Projekt, um die negativen Folgen der Religiosität zu untersuchen: die passive Empfänglichkeit für Phrasen, Verantwortungslosigkeit, fehlende Selbstprüfung (o.D., in der Kladde »Fatabur« mit handschr. Skizzen zu Forschungsprojekten, Herbst 1929ff. [ARAB 405/4.1:5]). 140. A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, S. 42-48; Intervju med Alva Myrdal angående kyrkan och moralen, o.D. [ca. März 1970], Ms. (ARAB 405/2.3:31). Vgl. auch ihr Plädoyer für eine »Befreiung des Staates von der Kirche«: A. Myrdal, Varning för utvidgning av statskyrkosystemet. 141. So Alva in ihrer bislang unpublizierten Nobelpreisrede im Dezember 1982, zit. nach C. Åse/Y. Hirdman, Alva Myrdal, S. 245.

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zu streben ist.« 142 Es erlaubt ihr, sich (und Gunnar) auf der Seite der guten Kräfte zu plazieren. Alvas Tochter meinte dazu: »And if one stands for such self-evident ideals as those of justice, equality, and peace, persons who express other points of view can easily seem irrational or blinded by prejudice or even in league with the powers of evil.« 143 Gunnars Sprache ist weniger gefärbt, doch er teilt genau diese Dualität, die es beiden mit dem Begriff der »Rationalität« erlaubt, jede ihnen unerwünschte Position als »irrational« zu kritisieren. Irrationalität verbleibt dabei stets die andere Seite der Unterscheidung. Sie wird nicht untersucht, sondern konturiert allein den Begriff der »Rationalität«. Umgekehrt weigert sich Alva, den Begriff der »Vernunft« zu definieren, weil es primär darum gehe, »Unvernunft« zu bekämpfen.144 Die Skala dieser Unvernunft beginnt mit überholten Auffassungen und reicht über Unwissen, gewolltes Unwissen (Charakterfehler), Angst vor dem Guten, fehlgeleitete Vernunft, Dummheit bis hin zur Bösartigkeit.145 Und die moderne Form ihrer Bekämpfung ist verstehend, nicht verurteilend, psychologisierend, nicht moralisierend, wissenschaftlich, nicht magisch, aufklärerisch, nicht romantisch.146 Ein Text, geschrieben wohl im Zorn unmittelbar nach dem Krieg, enthüllt deutlich die massive Pathologisierung der Unvernunft durch Alva: »Wir bräuchten eine kalt objektive, psychiatrische Untersuchung dieser Menschen [der Kriegsverbrecher]. Wie sind sie so geworden, daß sie kaum noch Menschen genannt werden können? Als Strafe reicht es sicherlich für sie, als abnorme, kranke Erscheinungen gestempelt zu sein und dann die Strafe zu erhalten, die unsere Lager bereits früher für schwere Verbrecher bereitgehalten haben. […] Das Wichtigste ist, daß wir gewöhnlichen Menschen exakt lernen, wie man menschlich so tief sinken kann, wie diese Typen als Kinder waren, welche Konstitution sie hatten, was sie beeinflußt hat, warum sie sich in den Vordergrund spielen mußten – so daß wir lernen, sie ein anderes Mal rechtzeitig wieder zu erkennen.«147 Gegenüber ihren Landsleuten klingt Alva versöhnlicher, aber auch 142. Intervju med Alva Myrdal angående kyrkan och moralen, o.D. [ca. März 1970], Ms., Bl. 12 (ARAB 405/2.3:31). 143. S. Bok, Alva Myrdal, S. 44; vgl. auch ebd., S. 43f., 294f. 144. Sydsvenska Dagbladet Snällposten, 27.9.1974 (»Man muß ja das Recht haben, der Unvernunft entgegenzuwirken, ohne vor die Forderung gestellt zu sein, die Vernunft zu definieren«). 145. Diese Aufstellung nach C. Åse/Y. Hirdman, Alva Myrdal, S. 23. 146. A. Myrdal, Mer människokunskap i utbildningen, S. 114. 147. Alva Myrdal, Barbarernas offer och straff [1945], zit. nach: C. Åse/Y. Hirdman, Alva Myrdal, S. 188 (Hervorh. im Orig.); ähnlich A. Myrdal, Mer människokunskap i utbildningen, S. 115.

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sie müssen sich einem Reinigungsprozeß unterziehen, indem ihre Annahmen und Wertprämissen, die ihnen selbst oft verborgen sind, sichtbar gemacht werden. »Die erste Aufgabe des Fachmannes ist es, falsche Wissenselemente im populären politischen Denken aufzudecken. Das ist eine sachliche Reinhaltungsaufgabe, die tatsächlich alle Ziele der Volksbildung und Volksauf klärung umfaßt: Sachfehler aus dem Feld der politischen Wertungen zu entfernen. Darüber hinaus besteht die größere und positivere sozialpolitische Aufgabe indessen darin, klarzulegen, welche praktischen Maßnahmen eine Person rational gesehen von ihren eigenen Wertungen ausgehend wünschen sollte, wenn sie über ein besseres Wissen verfügte.« 148 Mit Hilfe eines neuen Präzisionsinstruments, der Gallup-Umfragen, will sie den Menschen ihr Fehlverhalten beweiskräftig vor Augen führen.149 Zugleich werde so die Politik gesäubert, die sich zur Legitimierung ihrer Entscheidungen nur zu gern einer angeblichen »Volksmeinung« bediene. Meinungsumfragen teilten der Politik dagegen mit, welche Grenzen ihr gesetzt seien, und ob sie noch das Vertrauen ihrer Auftraggeber, der Wähler, besitze. Sie korrigierten außerdem das Bild der öffentlichen Meinung, das zu stark durch Querulanten geprägt sei. Die im Grunde kluge Masse, so Alva, verschaff t sich kaum Gehör; objektive Meinungsumfragen holen ihre Ansichten ans Licht.150 Nur auf dieser Basis, so Gunnar, können rationale politische Schlüsse gezogen werden.151 Da läßt sich erneut ein hierarchischer Dreischritt beobachten, dessen Inkonsistenz weder Alva noch Gunnar reflektieren. Sie lösen die Widersprüchlichkeit auf, indem sie die Schritte auf verschiedene Texte verteilen: Gegen verzerrte, irrationale Annahmen und Wertvorstellungen der Bevölkerung bringen sie Wertungen in Stellung, die die Menschen eigentlich wünschen sollten; gegen die Politik führen sie die reale Meinung der Bevölkerung ins Feld; und in beiden Fällen enthüllen sie unsachliche, partikulare Meinungsbildung, ihre Aufklärungsarbeit kann gezielt einsetzen. 148. A. Myrdal, Folk och familj, S. 127. 149. A. Myrdal, Opinionsmätningarnas mognadsprov; Dies., Hur folkopinionen studeras. Vgl. auch F. Croner, Gallup eller opinionsundersökningarnas problem, S. 9. Ähnlich: An enquiry into people’s homes; P. A. Sorokin/C. Q. Berger, Time-Budgets of Human Behavior (durch Umfragen werden minutengenaue Zeitstudien erstellt, die statistisch den Alltag der Menschen abbilden und Unvernunft sowie erhebliche kulturelle und demokratische Defizite enthüllen, etwa das im Schnitt täglich maximal sechssekündige [!] politische Engagement pro Person). – Eine schwedische Gallup-Dependance existierte von 1941 bis 1954. 150. A. Myrdal, Opinionsmätningarnas mognadsprov; Dies., Hur folkopinionen studeras; vgl. auch A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, S. 75-80. 151. G. Myrdal, Världsnöden, S. 81.

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Falsche Bilder verhindern die Möglichkeiten zur Realisierung eines glücklichen Lebens.152 Gallup-Umfragen sind der Beginn einer ganz neuen Informationsinfrastruktur: »Es müssen Statistiken erstellt werden können, die auf genaue Beobachtungen bauen, objektive, vielfältige Beobachtungen, ja, das verlangt, daß man weiß, was Objektivität ist, daß man den Beobachtungen vertrauen kann, daß man Kanäle hat, die Beobachtungen zu transportieren etc. Es erfordert also eine Infrastruktur, die es noch nicht gibt«, schreibt Alva 1969.153 Die Medien müssen von »Neuigkeit« auf »Information« umstellen, denn die Konsumenten haben mit dem Recht auf Meinungsfreiheit zugleich ein Recht auf richtige Information, darauf, daß Fakten überall korrekt wiedergegeben werden (nur Kommentare genießen Freiräume). Neben einer Neuorganisation der Medien erfordert das eine »gewaltige Sanierung des Gefühlslebens der Menschen, eine Befreiung von neurotischer Schadenfreude usw.«, damit sie überhaupt in der Lage sind, den Wert von Informationen zu schätzen.154 Begriffe müssen »rein und unbefleckt, logisch und realitätsangepaßt« gehalten werden. »Auf diesem schlüpfrigen Boden kann nur äußerster Purismus gebilligt werden.« 155 Beider Credo formuliert noch einmal Alva, als sie 1970 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennehmen: »Ich würde sagen: der größte Widerstand, das ist die Dummheit Aller! Ja, Dummheit eher als Bösartigkeit. Die Einfalt der Menschen hindert sie, das Richtige zu tun. Na, so muß ich ja antworten, nachdem wir beide uns so nachdrücklich zum Rationalismus bekannt haben. Ich glaube, wenn man die Menschen dazu bringen könnte, klarer ihren eigenen Vorteil zu sehen, wären sie bereit, rationale Lösungen gesellschaftlicher Probleme zu tragen. Das Beste der Menschen ist nämlich in wesentlich höherem Grad, als sie selbst oft glauben, übereinstimmend. Daß sie das nicht einsehen, hängt oft damit zusammen, daß sie die sozialen Zusammenhänge nicht begreifen.« 156 Aufklärung bedeutet die Reinigung von Ansichten und Wertungen, dann die Zuführung gereinigter Informationen. Mit ihren Vorurteilen und der Informationsflut alleingelassen, scheitern die Menschen. Wenn sie aber so geschult und geschützt werden, daß sie selbst sich für die Vernunft entscheiden können, dann ist einer rationalen Gesellschaftspolitik ein solides Fundament gebaut. Denn Vernunft kann nicht gegen eine 152. A. Myrdal, Die Veränderungen in der Struktur der Familie in den letzten Jahren, S. 230. 153. A. Myrdal, Människan i världen, S. 28. 154. A. Myrdal, Rätten till riktig information. 155. G. Myrdal, I stället för memoarer, S. 171. 156. Interview des NDR mit Alva und Gunnar Myrdal, in: U. Herz, Alva och Gunnar Myrdal, S. 134 (Hervorh. im Orig.).

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Mehrheit verordnet und durchgesetzt werden. Das zu glauben wäre irrational. Aufklärung heißt für Alva und Gunnar deshalb seit den 1930er Jahren bis zu ihrem Tod Freiheit und Konditionierung zugleich. Nur so läßt sich eine »rationale Utopie« verwirklichen.157

157. So Alva in einem Interview: L. Kjølsrød, Rasjonalistiske utopier er det vi trenger!, S. 10. – Zum Einfluß von Axel Hägerströms Philosophie, bes. des Gedankens des »Wertnihilismus«, auf Alva und Gunnar Myrdal vgl. S. Källström, Den gode nihilisten, S. 123-154; O. Sigurdson, Den lyckliga filosofin, S. 113152; J. Strang, Axel Hägerström och Gunnar Myrdal; sowie allgemein: J. Bjarup, Skandinavischer Realismus. – Posthum verorten beide die Grundlagen ihres Weltbildes in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Gunnar: »The literature which we read was of the period before the war, and taught us ›development optimism.‹ That is what we were nurtured on, and we became particularly interested in enlightment philosophy. Our deeper valuations are founded at that time. We have the same ideals now« (Interview mit Alva und Gunnar Myrdal [The Daily Texan, 3.2.1978]). Alva: »Ja, ich glaube nicht, daß ich verstanden habe, wieviel mir mein Vater für meine Gedankenwelt und meinen Willen, mich einzusetzen, bedeutet hat. Er hatte ein enormes Gerechtigkeitspathos und einen gewaltigen Respekt für gewöhnliche, einfache, praktische, gesunde Vernunft und Abscheu vor allem, das bloß konventionell war. Er liebte es, gegen die Traditionen zu revoltieren […]. Ja, er nannte sich ganz einfach Freidenker. Er war besonders kritisch gegenüber den Schwarzröcken, wie er sagte, die die Menschen, Mitbürger in Unwissenheit und Aberglauben gefangen hielten. Das war also eher eine kirchenfeindliche als religionsfeindliche Einstellung« (Intervju med Alva Myrdal angående kyrkan och moralen, o.D. [ca. März 1970], Ms., Bl. 4 [ARAB 405/2.3:31]).

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VI Umbaupläne

1. »Ein Heim« 1899 erscheint in Schweden ein Buch mit 24 Aquarellen und einem Einleitungstext, Carl Larssons »Ett hem« (»Ein Heim«). Die Abbildungen zeigen das Interieur eines Hauses sowie einige Ausschnitte der Umgebung, der Text, datiert auf den Weihnachtsabend 1898, beschreibt ein Familienidyll. Es handelt sich um Larssons Familie und Haus. Das Buch wird ein Klassiker. Larsson gestaltet darin seine Idealvorstellung eines Heims: ein Holzhaus in ländlicher Umgebung, innen gemütlich eingerichtet, mit Kandelabern, Blumen und Möbeln in einer Mischung aus Volkskunst, altnordischem und elegantem gustavianischen Stil geschmückt, ohne aber überladen zu sein. Die Bilder strahlen eine verträumte Ruhe aus. In einem Zimmer faulenzt ein Hund; Carl und seine Frau sitzen beim Licht der Petroleumlampe am Tisch, er liest, sie näht; im leeren Eßzimmer duckt sich eine Maus unter den Tisch; eine größere Tochter gießt Blumen; eine kleinere versucht sich in der Küche am Butterfaß; Atelier, Kinderzimmer und Vorgarten sind liebenswert unaufgeräumt; dazu kommen Winterbilder, sommerliche Ausflüge und ein Frühstück unter Birken. Die alte, mit Schindeln gedeckte Kirche im Gegenlicht beschließt den Band. »Ett hem« entspricht definitiv nicht dem schwedischen Durchschnittshaus. Es ist ein Künstlerhaus, mehrfach in verschiedenen Baustilen erweitert und im Innern in einer gekonnten Mischung aus Tradition und Moderne eingerichtet. Eine Schrankwand aus dem 17. Jahrhundert wird integriert, ältere Möbel sind umgestaltet, die Stoffe dagegen, von Karin Larsson gewebt, sind betont avantgardistisch. Ein individuelleres Haus als dieses gibt es nicht, in der Rezeption der Zeitgenossen aber wird es rasch zum zeitlosen Inbegriff des schlichten, bürgerlichen, harmonischen Lebens auf dem Lande. Larssons Bilder sind bis in die Gegenwart eingängige

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Postkartenmotive.1 Auf diese Weise ist das Buch im Effekt metaphorisch ähnlich wichtig geworden wie der Begriff des folkhem. Es kann heute als unbewußt vorweggenommene künstlerische Überhöhung eines politischen Ideals gelesen werden, aber eines Ideals, das den Zeitgenossen als realisierbar erschien – denn die Bilder zeigen keine Phantasielandschaft, sondern haben ihr Gegenstück in der schwedischen Realität. Das Haus erscheint als Synthese zahlreicher schwedischen Landhäuser, die namenlose Baumeister über die Jahrzehnte hinweg errichtet haben. Die Familie ist materiell besser gestellt als viele Schweden um die Jahrhundertwende, aber kein unerreichbares Vorbild. Deshalb ist Larssons Heim über den Regierungsantritt der Sozialdemokraten hinaus stilbildend geworden, es symbolisiert den Traum des kleinen, persönlichen Paradieses.2 Es ist kein Zufall, daß »Ett hem« ein Haus und eine Familie abbildet. Familie und Heim, oder, um es zunächst allgemeiner zu formulieren: gebauter Raum und soziale Gemeinschaft, sind in der gesellschaftspolitischen Debatte Europas und der USA seit dem 19. Jahrhundert immer wieder eng aufeinander bezogen worden. Vorläufer dieses Denkens findet man sogar in den frühneuzeitlichen Utopien Thomas Morus’ oder Tommaso Campanellas, die viel Wert darauf legten, die Wohnorte ihrer imaginären Gesellschaften zu beschreiben. In Morus’ »Utopia« (1516) leben die Menschen in 54 Planstädten desselben Aussehens. Kein Haus gestattet es, sich von der Gemeinschaft abzuschließen. Die Kleidung ist funktional und uniform, markiert aber soziale Unterschiede. Die Menschen sind produktiv, nicht müßig; Freizeit wird zur Bildung genutzt. Auch in Campanellas »Sonnenstaat« (1602) und anderen Utopien ist der gebaute Raum Voraussetzung einer vernünftigen Sozialordnung, auch hier wird eine gegliederte Gemeinschaft produktiver Individuen entworfen.3 Morus und Campanella haben zwar »Nicht-Orte« beschrieben, die dazu dienten, real existierende Gesellschaften durch einen politischen Gegenentwurf zu kritisieren. Aber sie illustrieren, wie sehr solche politischen Entwürfe offenbar an die Gestaltung der materiellen Umwelt gebunden sind. 1825 dann treffen wir auf Robert Owen, der eine Gegengesellschaft tatsächlich verwirklichen wollte. Dazu plante er, kleine Gemeinschaften von 500 bis 2.000 Personen in viereckigen Wohnanlagen zu situieren. Dort würden sie, funktional 1. C. Larsson, Ett hem; zum Kontext: M. Snodin/E. Stavenow-Hidemark, Carl och Karin Larsson. 2. In ihrem einflußreichen Klassiker der Geschmackserziehung nennt E. Key, Skönhet för alla, Larssons »Ett hem« explizit als Vorbild. 3. Vgl. K. J. Heinisch, Der utopische Staat; F. Seibt, Utopica; R. Saage, Utopische Profile, Bd. 1.

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und unprätentiös gekleidet, ihrem Handwerk nachgehen, ihre Freizeit zur geistigen Vervollkommnung nutzen und besondere Sorgfalt auf die kollektive Erziehung ihrer Kinder legen. Owen war klar, daß die vernünftige Ordnung nicht von selbst entstehen würde, weil die Menschen grundsätzlich anfällig für Müßiggang und unsoziales Verhalten seien. Sie mußten erzogen werden, um ihren Charakter zu bilden, erst dann rückte der gut regierte Staat in greif bare Nähe. Die Kinder waren in diesem Sinne am besten zu formen; von ihnen her wollte Owen eine standes-, partei- und glaubensübergreifende Gemeinschaft einsichtiger Menschen schaffen, als Kern der zukünftigen »höheren Gesellschaft«. 4 Ähnliche Überlegungen finden wir in Westeuropa bzw. den USA, im 19. und 20. Jahrhundert, etwa bei Victor Aimé Huber,5 Ebenezer Howard,6 Adriano Olivetti,7 Hans Bernhard Reichow8 oder Walt Disney, der bei der Präsentation von »Waltopia«, der »Experimental Prototype Community of Tomorrow«, das Selbstverständnis vieler radikaler Gesellschaftsplaner auf den Punkt brachte: »We think the need is for starting from scratch on virgin land and building a special kind of community.«9 Utopia, Gartenstadt, organische Stadt, das kennzeichnet eine diskursive Formation, auf die wir auch in Schweden stoßen: daß über die Reorganisation des Raumes eine soziale Gemeinschaft geschaffen werden kann. Wie auf dem Kontinent hatte das handfeste soziale Gründe. Mit der Industrialisierung veränderten sich auch die schwedischen Städte.10 Noch zur Jahrhundertwende waren die Straßenzüge zumeist durch Holzhäuser geprägt, viele ein- oder zweigeschossig. Aber seit den 1890er Jahren dehnten sich die Städte aus, ihre Einwohnerzahl stieg, und das verschlechterte die Lebensbedingungen vor allem für die Arbeiterschaft erheblich. Die Oberschicht dagegen zog sich in Villenvororte und Badeorte zurück, um 4. R. Owen, Eine neue Auffassung von der Gesellschaft, S. 85-117, 265-310, 329-404 (Zitat S. 373). Für den Kontext und ähnliche Entwürfe vgl. R. Saage, Utopische Profile, Bd. 3; Y. Hirdman, Att lägga livet till rätta, S. 25-61; F. Bollerey, Architekturkonzeptionen der utopischen Sozialisten. 5. V. A. Huber, V. A. Hubers ausgewählte Schriften über Socialreform und Genossenschaftswesen, S. 770-786, 807-820, 1069-1093. 6. E. Howard, To-morrow. 7. A. Olivetti, Society, State, Community. 8. H. B. Reichow, Organische Stadtbaukunst. 9. Dieses Projekt hat Walt Disney 1966 im »Florida Film« vorgestellt (URL: [Zugriff: 10.10.2008]). 10. Zum Folgenden: E. Eriksson, Den moderna stadens födelse; Dies., Den moderna staden tar form; N. Edling, Det fosterländska hemmet; T. Hall, Urban Planning in Sweden; H. Ranby, Stadsplanering och bostäder.

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den zunehmend schmutzigen und epidemieanfälligen Städten zu entgehen. Diese Entwicklung machte immer deutlicher, daß es nicht reichte, einfach neue Häuser zu bauen oder neue Städte (bzw. Stadtviertel) nach Idealvorstellungen auf dem Zeichentisch zu entwerfen, also die tabula rasa zu wagen. Vielmehr mußten bestehende soziale Strukturen berücksichtigt und der bereits existierende Stadtraum planerisch gestaltet, mußten die einzelnen Elemente der Stadt – Häuser, Straßen, Plätze und Grünflächen – als eine »organische« Einheit begriffen werden. Um die Jahrhundertwende gewann dieser stadtplanerische Holismus an Boden; zugleich setzte, nach mehreren großangelegten Untersuchungen, zögerlich der kommunale Wohnungsbau ein. Moderne Mietshäuser in den Städten und Eigenheimsiedlungen in der Peripherie sollten die sozialen Probleme lösen und die als immer bedrohlicher empfundene Emigration stoppen. Auf der Suche nach Vorbildern für ihre Planungen stießen schwedische Architekten – angeregt durch Ebenezer Howard, Raymond Unwin oder Camillo Sitte – auch auf die Siedlungstraditionen des ländlichen Schwedens, etwa die protoindustriellen Hüttenorte (brukssamhälle) des 18. Jahrhunderts, die auf durchdachte Weise räumlich organisiert waren. Die Anordnung von Herrenhaus, Arbeiterwohnungen und Werksgebäuden hatte funktionale Gründe, sie visualisierte zugleich die strikt patriarchalische Ordnung dieser Werksgemeinschaften. Idealpläne dieser Orte lehnten sich zunächst adeligen Schloßanlagen, später Gartenstädten an. Im 19. Jahrhundert wurde die brukssamhälle romantisierend umgedeutet. Mit solchen architektonisch-sozialen Gemeinschaften schien man den Kampf gegen die Formlosigkeit der modernen Industriegesellschaft führen zu können. Im frühen 20. Jahrhundert dann gestalteten Architekten einzelne Villenvororte nach dem Bild der brukssamhälle; selbst in die demokratische »Nachbarschaft« (grannskapsenhet) ließ sich 1940 die patriarchalische Werksgemeinschaft umdeuten (Abb. 51).11 Außerdem war 1891 in Stockholm das erste Freiluftmuseum Schwedens eröff net worden, »Skansen«. Es sollte helfen, die von der Auslöschung bedrohte traditionale Alltagskultur zu bewahren. Hierhin wurden typische Bauernhäuser der einzelnen Provinzen transloziert, eine Art vormodernes Idealschweden, das dann zum Referenzpunkt der Architekturstudenten wurde. Dem Museum ging es um die nationale Identität, Architekten nutzten das musealisierte Schweden, um positive Traditionsstränge in der modernen Stadtplanung zu implementieren, nämlich die sozial geschlossenen, selbstversorgenden Dorfgemeinschaften und die vermeintliche Verwurzelung der Menschen in ihrer Umwelt. Eine schwedische »Tradition« wurde konstruiert, eine Mischung aus Kunsthandwerk, Carl Larsson, den Renaissanceschlössern 11. E. Vikström, Platsen, bruket och samhället.

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der Vasa-Dynastie sowie den für Schweden heute so typischen, roten Holzhäuschen. Gerade das rote Häuschen (den röda stugan) entwickelte hohe Symbolkraft, und dieses Symbol schwor unterschiedliche politische und soziale Lager auf eine Reihe städtebaulicher Reformziele ein. Ende der 1920er Jahre, nach Frankreich, Deutschland oder Norwegen,12 begann sich der Funktionalismus in Schweden durchzusetzen und die gesellschaftspolitische Debatte zu prägen. Prominente Architekten und führende Kunsthistoriker stilisierten die funktionalistische Architektur geradezu zu einer Lebenshaltung, zur Voraussetzung und zum Äquivalent einer vernünftig organisierten Sozialordnung. Mit der Stockholmausstellung war er dann bei führenden Architekten zum etablierten Stil geworden. Die radikalsten unter ihnen postulierten einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Funktionalismus und der Architektur des 19. Jahrhunderts. Die übrigen Architekten nahmen es nicht so genau mit der stilistischen Reinheit. Sie akzeptierten die neue Richtung bereitwillig, weil er eine erhebliche Rationalisierung des Bauens ermöglichte, aber sie verschmolzen bis weit in die 30er Jahre hinein ältere Bauformen auf undogmatische Weise zu hybriden Bauwerken, zum funkis, der den Zorn der Puristen auf sich zogen.13 Dank der pragmatischen, weniger der zornigen, Architekten setzte sich der Funktionalismus in einer längeren Übergangszeit sachte durch. Allerdings verschoben sich zugleich die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die sich mit der neuen Architektur verbanden. Den radikalen Funktionalisten ging es nicht mehr allein um die soziale Frage und eine harmonische Gemeinschaft, sondern zugleich um die Vision einer klinisch reinen Stadt, in der Elend, aber auch Infektionskrankheiten eliminiert waren. Die Gartenstädte waren auch als Antwort auf Seuchen wie die Cholera entstanden, die in den überfüllten Elendsvierteln der Großstädte wüteten. Zu den wichtigsten Bauwerken des Funktionalismus gehörten dagegen Kliniken für TBC-Patienten.14 Das war eine ganz andere Krankheit. Sie wurde nicht durch Ratten oder verseuchtes Wasser übertragen, son12. A. Gunnarsjaa, Norges arkitekturhistorie, S. 382-403. 13. Beispielsweise G. Johansson, Funktionalismens framtid, S. 17 (Johansson sah den Funktionalismus bereits 1935 in der Defensive), oder seine beißende Kritik am Stockholmer Stadtviertel Gärdet: Ein »Barockplan im Zeilenhausbau«, ein »Versailles der Mietskasernen«, eine überladene, »quasifunktionalistische Fassadenarchitektur«, »plastisches Chaos«. In den schmalen, aber tiefen Wohnungen werde die Konkurrenz um die knappe Fassadenbreite fast grotesk: Die Zimmer liefen geradezu um die Wette zur Fassade, die unter dem Ansturm verbeule und berste (G. Johansson, Trettiotalets Stockholm, S. 56-68). Gärdet gilt heute als Musterbeispiel eines positiv besetzten funkis. 14. Vgl. A. Stiller, Finnland, S. 79.

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dern durch den sozialen Umgang der Menschen miteinander. Ihr wurde nicht durch den Bau von Kanalisationen begegnet, sondern durch Hygiene im Alltag – reale und mentale Hygiene, die durch eine funktionalistische Bauweise ermöglicht werden sollte: durch die serielle Anordnung, durch Licht, Luft und Sonne.15

2. Funktionalismus Die Entwicklung mag evolutionär verlaufen sein, damals wird sie von den wichtigsten Vorkämpfern des Funktionalismus gezielt als (Auf-)Bruch inszeniert, erneut mit einem Buch, das zum Klassiker wird. Diesmal trägt es den imperativen Titel »Acceptera« (»Akzeptiere«) und wird 1931, ein Jahr nach der Stockholmausstellung, von einem Kollektiv (den Architekten Gunnar Asplund, Uno Åhrén, Sven Markelius, Wolter Gahn und Eskil Sundahl sowie dem Kunsthistoriker Gregor Paulsson) herausgegeben. Es gibt sich »modern«, und zwar durch die Typographie, indem es ausgewogen-trocken argumentiert, altertümliche Formulierungen und Verbformen vermeidet, statt dessen aber einen nüchternen, journalistischen Stil zelebriert. Dem Text werden durchgehend zahlreiche Photographien und Graphiken gegengeschnitten, die die Botschaft der Verfasser visuell verstärken. Und Dialoge inszenieren eine offene Auseinandersetzung mit der Kritik am Funktionalismus. Ungenannte »Herren« dürfen phrasenhaften Unmut äußern, auf den die Autoren sachlich argumentierend oder, wie im Theater, mit emphatischen Deklamationen antworten:16 »– Eine ganz andere Sache! Die Wohnung, das ist ja mein Heim! Den ganzen Arbeitstag bin ich ein Rädchen in einer Maschinerie. Wenn ich zu Hause bin, will ich mich wirklich als Mensch fühlen! – Das verstehen wir so gut. Das ist vollkommen richtig. Sie brauchen eine gute, geräumige und bequeme Wohnung, in der Sie ausruhen und sich frei und glücklich fühlen können. Aber Sie brauchen sie billig, sonst können Sie sie sich nicht leisten. Die Wohnung, das Heim, ist nicht ›eine andere Sache‹ in dem Sinne, daß sie sich den heutigen Gesetzen der ökonomischen Produktion entzieht. Billig werden sie nur auf dieselbe Weise wie all die anderen Dinge, die Sie sich absolut nicht leisten könnten, wenn es nicht Industrieprodukte wären, Standard... 15. Das untersucht detailliert D. Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. 16. Bes. G. Asplund u.a., Acceptera, S. 167-171 (mittlerweile gibt es eine englische Übersetzung). Die Theatermetaphorik ist deutlich angelegt: Am Ende des Dialogs geht »Hr. T.« rechts von der Bühne ab, zugleich wird ein römisches Amphitheater als Beispiel für einen »organischen Rhythmus« abgebildet.

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– Verhaßte Worte!! Ich will ein Heim haben und Sie bieten mir ein Standardhaus mit Standardmöbeln!!! ... eine Wohnmaschine ... funkis ... – Schlagworte. – Ich will Gemütlichkeit fühlen! Ich will meine Persönlichkeit nicht erstickt haben!«17 Später beklagt »Ein Herr: Wir fragen nach Werten und bekommen Antwort in Kilowatt! / Wir: Wir fragen auch nach Werten und bekommen Antwort in Ornamenten, Dekorationen und Nebensächlichkeiten.«18

Das ganze Buch hindurch wird ein vergangenes B-Europa mit dem künftigen A-Europa kontrastiert. A-Europa ist »wie ein großer Organismus, in dem alle Funktionen zugleich spezialisiert wie zentralisiert sind, und in dem alle Zellen vom einsamen Bauernhof bis zur großen Fabrik oder Bank aufeinander angewiesen sind«.19 Schweden gehört noch zu B-Europa und stagniert in jeder Beziehung. Entlang weniger Verkehrsadern dämmern Dörfer und Bauernhöfe dahin, isolierte Unternehmen und die verschiedenen Volksgruppen werden nur durch Religion und Obrigkeit zusammengehalten. »A-Europa ist bis in die Landwirtschaft hinein industrialisiert, B-Europa ist Bauernland selbst in seinen Städten. B-Europa ist das, was A-Europa vor 150 Jahren war.«20 »Die Herren« sind der Meinung, daß BEuropa gemütlich und menschlich ist, und A-Europa eine kalte Maschine. »Acceptera« behauptet das Gegenteil: Die Mechanisierung muß helfen, die Widersprüche, die die moderne Gesellschaft zu zerreißen drohen – Quantität und Qualität, Masse und Individuum, das Allgemeingültige und das Persönliche –, in Einklang zu bringen. Dazu benötigen die Menschen zunächst »gesunden« Wohnraum. Der ist teuer, muß also klein gehalten und deshalb sehr viel stärker als früher differenziert werden. Eine Mikroküche rationalisiert die Hausarbeit und zwingt die Kinder hinaus ins besser durchlüftete Wohnzimmer. Die Funktionen Hausarbeit, Gemeinschaft und Ruhe sind nicht mehr räumlich durchmischt, Fenster öff nen die Wohnung für Sonnenlicht und Frischluft (Kälte wird durch die Heizung abgewehrt), das Wohnzimmer kann über den Balkon in die Natur hinein erweitert werden.21 Die Kontrolle über die Fortpflanzung begrenzt die Zahl der Kinder, steigert deren Wertschätzung und befreit die Frauen von ständiger Mutterschaft. Sie finden Zeit, Geld zu verdienen, und kön17. Ebd., S. 92 (Hervorh. im Orig.). 18. Ebd., S. 164. 19. Ebd., S. 16. 20. Ebd., S. 17. 21. Zur Untermauerung seiner Argumentation verweist das Buch extensiv auf die funktionalistische Architektur in Deutschland, Frankreich, Holland, Rußland, den USA, Finnland, Norwegen und Dänemark.

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nen sich aus der Fürsorge des Mannes befreien. Die ähnliche Lebenspraxis der Familien führt automatisch zu einer Vereinheitlichung der Lebensstile, weshalb die Standardisierung von Wohnungen und Alltagsgegenständen nicht als Zwang erscheint. Was diese Wohnungen ohnehin erfordern: daß man sich mit der Einrichtung beschränkt, entspricht zugleich einem »gesunden Geschmack«: Die Ausstattung mit notwendigen Gegenständen schaff t ein »echtes« Heim, das aber seine persönliche Note behält, weil man Opas Schaukelstuhl behalten darf und die standardisierten Produkte individuell variieren kann. Die natürliche Freude der Menschen, so »Acceptera«, liegt im Klaren, Schnörkellosen, Geordneten, Wohlorganisierten und Wohlfunktionierenden, nicht in »verlogenen« Ornamenten, »orientalischem« Schmuck, Imitationen, »sterilem« Luxus, barocken Fassaden. Die moderne Gesellschaft wird nicht die »Kleider von Gestern« tragen, sondern ist eine nackte Schönheit. Gebäude und Gegenstände sind nicht mehr mit einer Fassade umhüllt, hinter der sich ein dysfunktionaler Kern verbirgt, sondern sie bilden getreulich die Ästhetik der Funktionalität auf ihrer Oberfläche ab. Deshalb müssen sich die Formen immer aufs Neue den Funktionen anpassen, sich also vor der Realität bewähren. Der Funktionalismus ist mehr als ein architektonischer Stil, er ist eine Lebenshaltung. »Acceptera« gestaltet sie auf paradoxe Weise durch die Koppelung einer sportlichen Jugend, die in serieller Anordnung turnt und über Hürden sprintet, mit einer Sprache, die immer wieder dem »Ehrlichen« und »Gesunden« huldigt, einer Haltung, die vorgibt, Kritiker verstehen zu wollen und Transparenz propagiert, und einem argumentativen Stil, der durch lange Einerseits-andererseits-Schleifen mäandert. Das Ergebnis steht von der ersten Zeile des Buches an fest, und eine ernsthafte Alternative käme für die Autoren nicht in Frage: Wohnungen und Familien müssen zu harmonischen und zweckgerichteten Organismen geformt werden, sonst lassen sich die gesellschaftlichen Gegensätze nicht in einem Zustand der Konfliktfreiheit aufheben. Das propagiert ein unsentimentales Durchgreifen, um die Gesellschaft radikal umzubauen, formuliert mit revolutionärem Pathos in dezisionistischer Sprache. In Schweden ist dieser Dezisionismus jedoch nicht denkbar ohne die aufwendige Inszenierung eines diskursiven Stils, durch den die entscheidenden, »einsichtigen« Teile der Bevölkerung überzeugt werden sollten, also junge Menschen, die Familien gründen wollen und bereit sind, ihren Lebensstil neu auszurichten; von denen man erwarten kann, daß sie freiwillig das Leben führen, welches ihnen die Experten skizzieren (Abb. 52). Um zu überzeugen, verfassen die Verfechter des Funktionalismus zahlreiche weitere Texte. Zunächst wollen sie den Anwurf widerlegen, der Funktionalismus sei einfach ein modischer Stil, aus den materiellen Engpässen der Wirtschaftskrise hervorgegangen und mit ihrem Ende bald 166

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wieder verschwindend. Tatsächlich, so Gotthard Johansson, ein führender Kunsthistoriker, drücke sich jede Zeit in ihrem Stil aus, und dieser Stil habe gesellschaftlichen Funktionen zu entsprechen. Das sei beispielsweise in der Gotik oder im Barock der Fall gewesen: »Die fürstliche Repräsentationsarchitektur des Barock war ein Akt praktischer Politik, und wenn ein Haus laut Le Corbusier eine Wohnmaschine ist, so war das Schloß von Versailles die vollendetste Herrschaftsmaschine, die jemals konstruiert wurde.« Dann kam als »lange und verwirrende Parenthese« das 19. Jahrhundert, »das die Dissonanz zwischen Repräsentation und Funktion, zwischen Stil und Zweck, zwischen Fassade und Inhalt geschaffen hat«.22 Erst im Funktionalismus, so Johansson, werden beide Seiten erneut zusammengeführt. Erneut ist die architektonische Form »ein natürliches Produkt von Funktion und Konstruktion«,23 und als solche entwickelt sie eine eigene, vollkommen neue Auffassung von Schönheit, »die nackte Schönheit verwegener Konstruktionen – die Lyrik unserer Zeit«, wie die Bildunterschrift in einem seiner Texte lautet.24 Seinen Verfechtern gilt der Funktionalismus als die der demokratischen Gesellschaft eigene Form. Er verkörpert ihnen eine geometrisch einfache, logische, klare Ordnung, nämlich die gerade Linie menschlicher Planung statt des pittoresk verschlungenen Pfades, dem der Esel folge.25 Schematisch sei er nicht, denn das Spiel des Lichts auf nackten Wänden und Körpern erzeuge eine reichhaltige architektonische Wirkung – ohne etwas vorzugaukeln. Diese Identität von Form und Funktion verwurzele den Funktionalismus in den großen Epochen der Kunstgeschichte, nicht er, sondern die eklektizistische, parvenühafte Auftragstischlerei des 19. Jahrhunderts stellt für Funktionalisten den eigentlichen Stilbruch dar. Zeichnen sich nicht schon die schwedischen Bauernhäuser und Hütten der Lappen durch eine funktionalistische, standardisierte, sachliche Gestaltung aus?26 So wird das Pathos des großen Bruchs gedämpft, indem der Funktiona22. G. Johansson, Är funktionalismen en stil?, S. 74. 23. Ebd., S. 81. 24. Ebd., S. 82; vgl. auch U. Åhrén, Nyttokonstens estetik. 25. G. Paulsson, Hur bo?, S. 5-8; Ders., Arkitektur och politik; G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, S. 90. Daß sich der notwendige einheitliche Stil 1949 noch nicht durchgesetzt hat, merkt Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1935-1949, Bd. 1, S. 12, an. 26. G. Näsström, Svensk Funktionalism, S. 1-37 (Näsström verankert den Funktionalismus in der schwedischen Geschichte, bringt diese gegen das 19. Jahrhundert in Stellung und präsentiert dann ausführlich Musterbeispiele des neuen Stils). Ein ähnlicher Rückgriff auf die Geschichte: G. Asplund u.a., Acceptera, S. 173-175.

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lismus zum alten Bekannten erklärt wird. Doch durch die Bilder und Metaphern ist der Bruch existentiell überhöht. Die Grundstruktur aller Texte ist strikt dichotomisch.27 Auf der einen Seite das immer noch andauernde »19. Jahrhundert«. Die großbürgerlichen Wohnungen sind düster und voll formlosen, dekorativen Prunks, die der kleinbürgerlichen Aufsteiger ein hohles Imitat dieser Welt. Die Städte sind eine chaotische Ansammlung aufeinandergedrückter Steinhaufen, über die die Industrie eine Glocke aus Rauch legt. Zu viele Arbeiterfamilien vegetieren in überfüllten Mietskasernen, die Gesundheit und Moral zerstören. Dagegen das »20. Jahrhundert«, die Zukunft. Kleine Wohnungen, bestückt mit modernen Standardwaren, deren individuelle Kombination den Geschmack seiner Bewohner beweist. Die Häuser von der ruhigen Hand des Experten im Stadtplan angeordnet, im Abstand präzise errechneter Sonneneinfallswinkel und Luftzirkulationsschneisen. Die Fassaden spiegeln ehrlich die funktionale Schlichtheit der Wohnungen und bilden die klassenlose Gesellschaft ab. Durch großzügige Fenster werden die Mauern transparent, Wohnraum und Natur gehen ineinander über. Die Menschen greifen mit ungezwungenen Bewegungen in die Natur aus, die bis weit in die Stadt reicht; Sonne erhellt die Wohnungen und bräunt die Körper. Es riecht nicht mehr nach vermuff tem Biedermeier, sondern dem Benzin brausender Autos, nicht mehr nach Smog, sondern frischer Luft.28 Die Autoren vertrauen allerdings nicht allein ihrer metaphorischen, aber oft wenig farbigen Sprache. Wirkungsvoll bedienen sie sich zahlloser Abbildungen, um die beschriebene Differenz wirklich sichtbar zu machen.29 Sie zeigen regelmäßig düstere, enge, schmutzige und helle, weite, hygienische Wohnumgebungen. Beliebt sind Luftbildaufnahmen, die verschachtelte, überfüllte Mietskasernenkomplexe und großzügige, moderne Wohnviertel zeigen; dupliziert wird dieser Unterschied durch schematische Grundrisse und Perspektiven, die den radikal minimierten Verschattungsgrad funktionalistischer Stadtplanung aufweisen (Abb. 53-58). In vielen Bildserien werden Wohnhäuser, Innenräume, Möbel und Alltagsgegenstände präsentiert, dazu kommen Abbildungen aus dem Alltagsleben, die 27. Damit schreiben sich die schwedischen Texte in einen transnationalen diskursiven Kontext ein, vgl. exemplarisch S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, bes. S. 366-553. 28. Der Dualismus von Biedermeier und Benzin bei G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, S. 313. Muff und Smog ergänzen einander auch aus heutiger Sicht; Benzin galt damals jedoch, wie die frische Luft, als Duft des Fortschritts und war noch nicht für den Smog ursächlich. 29. »[Flugbilder] sagen mehr als Worte über die moderne Stadtbaukunst«: G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, S. 233.

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den Betrachtern unmittelbar eingängig sind: Verkehrschaos in der Stadt, überfüllte Wohnungen, Menschenmassen am Strand; durchtrainierte Körper, elegante Skifahrer in funktioneller Kleidung, entspannte Hausfrauen.30 Sprachbilder, also die andauernde Beschreibung des Aufeinandertreffens von morscher Vergangenheit und agiler Zukunft, von bequemlichem Traditionalismus und durchtrainierter Moderne, werden in Photographien materialisiert und in Grundrissen von Stadtvierteln und Wohnungen erneut abstrahiert. Dieser argumentativ-suggestiv-abstrakt inszenierte Dualismus konstruiert das Narrativ einer einzigen, großen Bewegung: vom Dunkel ans Licht. Von der Peripherie rückt der Funktionalismus ins Zentrum der Gesellschaft, die Menschen tauschen Krankheit gegen Gesundheit, Tradition gegen Aufklärung, Moral gegen Technik, sie wechseln von der Vergangenheit in die Zukunft, und die Fassaden werden transparent, sie verbergen nicht mehr die abgewirtschaftete Lebenswelt von gestern, sondern bilden das präzise arbeitende Uhrwerk der Moderne ab. Touristische Ausflüge konturieren das Bild, beispielsweise Gotthard Johanssons exemplarische Beschreibung einer Reise nach Paris, im Herbst, nicht im Frühling. Da vergoldet keine Sonne die Fassaden, kahle Bäume können nicht verbergen, wie schäbig, geflickt und ältlich alles wirkt. Hinter verlogener Barockpracht herrscht Kälte: dekorative Kamine, die kaum heizen, kalkweißes Licht und eine blutleere Kunst; schmutzige Hinterhöfe und düstere Gassen. Ihrer Verführungsmittel beraubt, entpuppt sich die Stadt als Illusion.31 Ebenfalls eine Art touristischer Reiseführer sind die Bildbände schwedischer Architektenverbände, die einen virtuellen Streifzug durch Schweden und durch die Entwicklung seiner modernen Architektur erlauben. In diesen Büchern sind die Bauten von gestern oft nur noch diff us im Bildhintergrund zu finden, man zieht vielmehr durch ein Land, das sich der Moderne scheinbar vollständig anverwandelt hat.32 Sie wird auf diese Weise überhöht, bis der Eindruck entsteht, es mit einer existentiellen Wegwahl zu tun zu haben, die vielerorts bereits erfolgreich getroffen wurde,

30. Exemplarische Beispiele für dieses Text/Bildprogramm: G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten; Ders., Trettiotalets Stockholm; G. Asplund u.a., Acceptera; G. Paulsson, Hur bo?; ähnlich außerhalb Schwedens und in der Nachkriegszeit: A. Sørensen, Funktionalisme og samfund; H. B. Reichow, Organische Stadtbaukunst. 31. G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, S. 143-157. 32. Svenska Arkitekters Riksförbund, Ny svensk arkitektur; Ders., Trettiotalets byggnadskonst i Sverige; Ders., Fyrtiotalets svenska bostad; Ders., Ny arkitektur i Sverige; Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1925-1935; Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1935-1949.

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und die zugleich durch eine positiv gewertete Vergangenheit abgesichert ist, nämlich die ländlich-funktionalistische Vormoderne. Wie die Stockholmausstellung gilt »Acceptera« bis heute als Manifest der Moderne in Schweden. Das Buch ist typisch für den Stil der Verfechter der reinen funktionalistischen Lehre und für die von ihnen eröff neten Fronten. Die Zahl der Protagonisten ist gar nicht einmal so groß: die Architekten Åhrén, Markelius, Asplund, Sundahl und Gahn sowie Tage WilliamOlsson, Helge Zimdal, Sven Wallander, Gunnar Sundbärg, Carl Fredrick Ahlberg und Jöran Curman, außerdem die Kunsthistoriker Paulsson, Gotthard Johansson und einige andere. Aber sie sind durch persönliche Beziehungen mit den jungen Nationalökonomen der Stockholmer Schule und weiteren zentralen Vertretern der schwedischen Sozialpolitik wie Axel Höjer, Brita Åkerman oder Nils Wohlin verflochten. Die Mitglieder dieses größeren Zirkels (und einige weitere Akteure) begegnen uns in immer neuen Mischungsverhältnissen als Autoren von Sammelbänden und staatlichen Untersuchungen zur Sozial- und Gesellschaftspolitik, ein relativ überschaubarer Kreis, der in den 30er Jahren die öffentliche Diskussion und die Reformpolitik prägt. Natürlich gibt es zwischen ihren Positionen Differenzen, doch läßt sich zugleich eine erstaunliche Homogenität der grundlegenden Bilder und Topoi beobachten, die in »Acceptera« paradigmatisch zusammengefaßt sind, vor allem das Bewußtsein, die technisierte Moderne konsequent nutzen zu müssen, um sie sozial bewältigen zu können. Deshalb auch nehmen Architekten eine führende Rolle in den Verhandlungen über die Moderne ein. Weit öffnen sich ihnen nämlich die Tore der Medienhäuser. In zahlreichen Zeitungs-, Zeitschriften-, Radiound Buchbeiträgen können sie den Funktionalismus gegen seine Kritiker in Stellung bringen und ihre Auffassung einer künftigen Gesellschaft darlegen.33 Gleichzeitig aber sitzen sie in kommunalen Planungsämtern, großen Baugenossenschaften und dem Architekturbüro des KF. Sie planen Städte, bekommen repräsentative Aufträge und können ihre Ideen also realisieren. Sie bauen insgesamt zwar vergleichsweise wenig. Doch weil ihre Bauwerke in den Medien dramatisch überhöht werden, sich daran die Angriffe der Kritiker heften und die Funktionalisten den Streit gezielt zuspitzen,34 kann in den 30er Jahren tatsächlich der Eindruck entstehen, 33. Exemplarisch für diese Koalition über Professionen und Medien hinweg mag das Buch »Moderna bostadsproblem« stehen: Grundlage war eine Radioserie, in der Architekten, Ärzte und Haushaltsexperten einem breiten Publikum die Anforderungen der Moderne darlegten, herausgegeben wurde das Buch vom KF. 34. Vgl. Ö. Hamrin, Funkisstriden. Im Stockholmer Stadtrat gab es angeblich den Antrag, funktionalistisches Bauen zu verbieten: G. Johansson, Trettio-

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als würde eine ideologisch geladene, architektonisch-gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung anstehen, die Schweden in eine radikal neue Zeit werfen soll – oder sie davor bewahren könnte.

3. Zonierung/Freiheit Die radikal neue Zeit soll eine Zeit der politischen Demokratie und der persönlichen Freiheit sein – was aber heißt »Freiheit«? Ist es das liberale, bürgerliche Verständnis individueller Freiheit? Man muß nicht viele Texte von Funktionalisten lesen, um zu begreifen, daß es um eine grundsätzlich andere Form geht, nämlich um Freiheit durch Zonierung. Zonierung bedeutet funktionale Trennung. Das beginnt in der Wohnung. Der kleine Raum rationalisiert Arbeit und Bewegungen; die Trennung in Küche, Wohnzimmer, Schlafraum und Bad scheidet Aktivitäten und errichtet hygienische wie sexuelle Barrieren; die genaue Portionierung des Raums für jedes Familienmitglied – eigenes Bett, Spielecke, Nähtisch, Schreibtisch usw. – stellt Distanz zwischen den Individuen her. So werden die moralisch problematische Vermischung der Geschlechter in der Nacht, die pädagogisch problematische Vermischung der Generationen am Tage, die hygienisch problematische Vermischung von Schlaf- und Wohnraum aufgehoben. Je Tageszeit, Aktivität und sogar Lebensabschnitt werden die Bewohner in der Wohnung unterschiedlich räumlich situiert (oder sie verlassen sie zur Arbeit, Schule, Kinderkrippe, zum Einkauf), das erleichtert zudem die Planung der Hausarbeit. Je Raum stehen bestimmte Aufgaben an, die sich in detaillierte Zeitpläne übertragen lassen und dadurch die Arbeit rationalisieren. Diese Entmischung und Planung macht das Leben räumlich, zeitlich und sozial überschaubarer. Der Alltag wird in ein Tableau verwandelt und erhält eine neue Qualität – denn das Tableau kann nur entstehen, wenn die Individuen mitspielen, sich selbst disziplinieren und auf diese Weise eine moderne Lebensweise inkorporieren. Die Wohnung ist ein Vehikel sozialer Erziehung, sie wird zum Maßstab bürgerlicher Reife und sie verleiht eine Art moralischer Staatsbürgerschaft.35 Die Wohnung ist eine »Zelle«, die sorgfältig in den »Gesellschaftskörper« (samhällskropp) integriert werden muß. Was Architekten wie Uno Åhrén aufregt, ist eine ungeordnete Bebauung, bei der die Baumeister Häuser talets Stockholm, S. 54. Zur ambivalenten Behandlung der Moderne im Spielfilm vgl. P. O. Qvist, Folkhemmets bilder, S. 167, 183, 222f., 246-248. Vgl. auch G. Sjödin, Funktionalismens dilemma. 35. Vgl. K. Saarikangas, Model Houses for Model Families; Dies., The Policies of Modern Home; S. M. Gaskell, Model Housing.

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ohne Generalplan, ohne ästhetisches Empfi nden in die Landschaft setzen. In Orten, deren Ortsbild heute als schützenswertes Kulturgut gilt und die Touristen in Scharen anziehen, sehen er und viele Kollegen wüste, amerikanische Goldgräberstädte. Aber auch eine strikt serielle Anordnung von Wohnungen, die durchaus die Zeilenbauweise des Funktionalismus vorweg nimmt, muß nicht notwendig Gefallen finden – wenn es sich nämlich um eine »aristokratische« brukssamhälle handelt, bei der »die Arbeiterwohnungen […] streng eingefügt [sind] in eine architektonische Einheit mit dem Herrenhaus im Hintergrund«.36 »Demokratisch« dagegen sind locker aufgereihte Holzhäuser in einer Gartenstadt, Eigenheime der Arbeiter, auf Abstand von Fabrik und Direktorenwohnung gelegen, oder aber die »gesunde Anordnung« funktionalistischer Lamellenhäuser (Abb. 52, 5961). Åhrén ist besonders radikal, wenn er die moderne Großstadt als vollkommen dysfunktional ablehnt. Zu der Zeit geht kaum noch ein europäischer Stadtplaner davon aus, daß man die urbanen Zentren auflösen und durch »Greenbelt Towns« oder »Gartenstädte« ersetzen könnte. Aber auf die Grundstruktur seiner Vorstellungen stoßen wir allerorten, auf die Idee der »Gruppenbildung« in der modernen Gesellschaft. Eine solche »Gruppe« wäre nach Åhrén ein Ort (samhälle) mit einer Mindestgröße von etwa 2-5000, aber nicht mehr als 20-50.000, idealerweise 10-15.000 Einwohnern. Zu viele Orte in Schweden sind ihm bislang zu klein oder zu groß, sie können die notwendige Infrastruktur nicht finanzieren, oder sie atomisieren die Menschen. Die Menschen wandern in die Städte ab, in vielen Gemeinden gerät die Alters- und Geschlechterstruktur der Bevölkerung aus der Balance, das führt zu »grober Mißwirtschaft mit dem Volksmaterial«.37 für ihn ist die Mischung der Berufsgruppen nicht optimal, industrielle Monokultur macht die Orte von einzelnen Firmen abhängig, Bodenspekulation erschwert den Wohnungsbau, die Zersiedelung der Landschaft läßt den Lebensstandard sinken, denn Fahrwege dehnen sich unnötig, die Infrastruktur reicht nicht aus und wird teuer, eine Minderheit beraubt die Mehrheit um die freie Natur, die diese zur Regeneration benötigt, Verkehr ist Vergeudung. Wenn man dagegen Bebauung und Lokalisierung der Bevölkerung auf eine rationalere Weise organisiere, könnten große Summen eingespart werden. Deshalb, so folgert Åhrén aus seiner Beschreibung der 36. U. Åhrén, Några synpunkter på Gästriklands nutida byggnadskultur, S. 147. Über denselben Siedlungstyp hieß es 1921 an anderer Stelle dagegen positiv: »Man beachte die gute Wirkung strenger Einheitlichkeit von Haus, Höhen, Dach und Material, mit dem wogenden Grün der mächtigen Bäume als Kontrast. Das Herrenhaus im Hintergrund schließt den Raum ab« (Praktiska och hygieniska bostäder, S. 248). 37. U. Åhrén, Stadsplanering och bostadsförsörjning, S. 17.

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Realität: »Sowohl wirtschaftlich als auch im Hinblick auf das Wohlbefi nden ist es eine Illusion, daß die ›separatistische‹, verstreute Siedlungsweise ein besseres Resultat geben sollte als die ›kooperative‹, geballte [tätortsmässiga].« Erstere »bietet keinen natürlichen, kollektiven Zusammenhalt, keine soziale Interessengemeinschaft. Das bedeutet wahrscheinlich, daß die Bedingungen des Aufwachsens [uppväxtmiljön] für die Kinder nicht als einwandfrei bezeichnet werden können, in der wichtigen Hinsicht, daß sie nicht im gewünschten Maße soziabel und anpassungstauglich werden dürften.«38 Die Menschen fühlen sich nicht länger an bestimmte Berufe gebunden, sie wechseln die Sozialschicht, reisen mehr und pflegen einen freieren Umgang mit ihren Mitmenschen – und werden unsicherer. Wie die ausgewogene Kost auf dem Tisch, so sollte in jedem Ort die Wirtschaftsstruktur vielseitig und, unter Beschäftigungsgesichtspunkten, wohl tariert sein, die Altersstruktur dem Reichsdurchschnitt entsprechen und in jeder Alterskohorte das Geschlechterverhältnis ausgeglichen sein. Schematisierte Pläne darf es jedoch nicht geben. Die Verhältnisse vor Ort sind genau zu erkunden und ein Plan ist zu entwerfen, der Schritt für Schritt ausgeführt, aber auch justiert werden kann. Die klare Struktur einer solchen sozial harmonisierten Einheit würde sich dann in ihrem Stadtplan abzeichnen und durch Luftbilder sichtbar werden. Mangelnde Balance dagegen schadet den Menschen und führt zu Unbehagen, Unlust und sinkender Effektivität, könnte also vielleicht »größeren Schaden anrichten, als wir uns das nun, mit unseren unzureichenden Kenntnissen über die Menschen und das Gesellschaftsleben, vorstellen können«.39 Eine derartig austarierte Gemeinschaft braucht einen neuen Menschentypus. Individualisten kann Åhrén nur als »Separatisten« begreifen, die sich durch ihren Lebensstil von anderen unterscheiden wollen. Sie nageln, ohne jede Ausbildung, baufällige Eigenheime zusammen, klinken sich aus dem kollektiven Produktionsprozeß aus und vergeuden dadurch die Ressourcen der Gemeinschaft. Sie binden sich an Abzahlungspläne, ohne zu wissen, ob ihr Haus künftig noch Wert besitzen wird. In ihrer Freizeit sollen sie sich erholen, bilden und in Vereinen engagieren, nicht der aufwendigen Pflege eines unprofessionell gebauten Hauses widmen. 40 Ihre Desorientierung im Dasein zeigen sie dadurch, daß sie auf »antiso38. U. Åhrén, Ett planmässigt samhällsbyggande, S. 600f. 39. U. Åhrén, Arkitektur och demokrati, S. 24 (auch Åhrén gibt also ganz beiläufig zu, daß seine Krisenprognose auf Unkenntnis der Datenlage baut); Ders., Samhällsplaneringens uppgifter och metoder; ders., På väg mot en social stadsplanering. 40. U. Åhrén/I. Olsson: Amatörbyggeri eller yrkesmässig småstugeproduktion (Åhrén und Olsson geben auf mehreren Abbildungen mauernde Väter und Fa-

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ziale Weise« ins Umland der Orte ziehen, um für sich zu wohnen. Ihnen fehlt der Sinn für praktische und kulturelle Gemeinschaftsinteressen. 41 Dagegen die Persönlichkeit: Sie drückt das Allgemeingültige aus, sie kann ihr Urteilsvermögen in gewissem Grad von den Beschränkungen individueller Eigenart befreien, sie bleibt aber immer Individuum. Der Persönlichkeit entsprechen das Kunstgewerbe, aber auch industriell hergestellte Produkte, die nach größter Allgemeingültigkeit streben. Die Persönlichkeit jagt nicht einer durch Dekor vorgegaukelten »Individualität« nach, sondern versteht es, modernste, standardisierte Produkte individuell zu variieren und dadurch dem Allgemeingültigen zu seinem Recht zu verhelfen. 42 Sie verkörpert »einen demokratischen Menschentyp, der sich durch Eigentätigkeit, Initiative und Kooperationswillen auszeichnet«. 43 An ihr liegt es, »ob wir die Form menschlicher Bewirtschaftung [mänsklig hushållning] schaffen können, die die einzige ist, die unsere Kultur nach diesem Krieg retten kann: eine geplante Demokratie.« 44 Die Planung ist Aufgabe des Architekten, 45 der Vollzug Aufgabe der Persönlichkeit. »Auf klärung, Kooperation, Zwang«, 46 so stellt sich Åhrén Demokratie vor. Wer von den Experten geschult ist, kann in deren Sinne kooperieren, wer sich – wider Erwarten – der Vernunft verweigert, wird gezwungen. Zonierung bedeutet Anordnung von Menschen, die Reduzierung ihrer Bewegungen, also Kontrolle und Stabilität. 47 Der Planer ruft den Plan ins Leben. Die betroffenen Menschen sind dessen Objekte, bekommen aber durch den Planer zugleich die Rolle zugewiesen, den Plan zu realisieren. 48 milien, die ihr Haus von unten nach oben anstreichen, der Lächerlichkeit preis). Ähnlich: S. Westholm, Bostadsplanens förändring under senare år, S. 77f. 41. U. Åhrén, Särskilt yttrande; Ders., Ett planmässigt samhällsbyggande, S. 597. 42. U. Åhrén, Standardisering och personlighet. 43. U. Åhrén, Ett planmässigt samhällsbyggande, S. 594. 44. U. Åhrén, Stadsplanering och bostadsförsörjning, S. 26 (Hervorh. im Orig.). 45. G. Johansson, Funktionalismens framtid, S. 43. 46. So lautet eine Zwischenüberschrift eines Artikels von Uno Åhrén: U. Åhrén, Stadsplanering och bostadsförsörjning, S. 23. 47. Vgl. I. Svennilson, Samhällsmiljön och näringslivets lokalisering; Stadskollegiets utlåtanden och memorial. Bihang nr 9:1945; T. Åkesson, Landsbygdens bostäder; C.-F. Ahlberg, Stadsplaneringens nya giv; J. Curman/H. Zimdahl, Gruppsamhällen. Vgl. zu Finnland: L. Kolbe, Brändö. 48. C.-F. Ahlberg, Vad vi vet och behöva veta för att planlägga, S. 42: »Ein guter Plan ist ein solcher, der so weit als möglich dazu beiträgt, daß alle nun oder künftig von ihm betroffene Menschen sich im Einklang mit dem Dasein

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Privateigentum ist das große Hindernis im Weg der Planung. Je tiefer die Eingriffe, desto effektiver die Planmäßigkeit. 49 Selbst Cafés auf dem Dorf erscheinen in dieser Perspektive als negative Auswüchse privater Initiative und fehlender Gemeinschaftseinrichtungen.50 Am Ende steht ein Raum, der von der Küche bis zur Region, nach biographischen Phasen der Menschen51 und dem Rhythmus der Wochentage gegliedert ist, wodurch, unter Rekurs auf vormoderne Zeiten, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in einer neuen, klassenlosen Gemeinschaft aufgehoben worden sein wird. Dieser Raum ist portioniert, überschaubar und strukturiert. Alles ist an seinem Platz (Abb. 62). Selbst kollektive Wascheinrichtungen sollen über Regionalpläne in die Gesellschaftsstruktur eingepaßt werden.52 In diesem Raum fühlen sich die Menschen wohl, er gibt ihnen Sicherheit und damit Freiheit.53 Zonierung ist keine schwedische Eigenart, der Moderne zu begegnen.54 Aber die Koppelung von »Heim« (Gemütlichkeit, Sicherheit), und »Freiheit« (Demokratie, Individualität) über das Scharnier der Planung sucht damals ihresgleichen in der westlichen Welt. Die radikale Einordnung befreit, weil Strukturierung Variationsmöglichkeiten eröffnet; ungeregelte Freiheit dagegen macht das Leben strukturlos und deshalb unsicher, das zerstört Freiheit: »Wenn nur das Individuum nach gängigem Brauch gekleidet ist, ist ihm eine gewisse Anonymität gesichert. Und da entgeht es besonderen Gruppen- oder Klassenurteilen, ebenso wie es von den gebietefühlen.« Ähnlich: E. W. Burgess/H. Blumer, The Human Side of Social Planning; D. Lilienthal, TVA. 49. U. Åhrén, Stadsbyggandet och stadsplanen, S. 27; C.-F. Ahlberg, Stadsplaneringens nya giv, S. 22f. 50. Vgl. T. Åkesson, Landsbygdens bostäder, S. 34. 51. L. Mumford, Planning for the Phases of Life. 52. SOU 1947:1, S. 178-182. 53. Vgl. auch J. Curman/H. Zimdahl, Gruppsamhällen: Jede ideale Nachbarschaftssiedlung (gruppsamhälle) umfaßt etwa 1000 Bewohner, drei Wohnformen (Reihenhaus, Mietshaus, Kollektivhaus) und wird von den Bewohnern selbstverwaltet. Die Individualität der Siedlungen ist gewährleistet, da keine Selbstverwaltung der anderen gleicht. So können sich die Individuen die ihnen genehme Siedlung (und Wohnform) wählen. Ähnlich A. Myrdal, Sätt bo tre gånger!; G. Johansson, Funktionalismens framtid, S. 48-74. 54. Besonders die britische Planung wurde in Schweden rezipiert (vgl. O. Danneskiold-Samsøe, Nutida engelsk samhällsplanering; Replanning Britain; B. Bardel, Fyrtiotalets samhällsplanering och stadsplaneåtgärder i Storbritannien), aber auch die deutsche (dazu L. Brunnström, Det svenska folkhemsbygget, S. 21-24; G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, S. 211-250).

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rischen Verhaltensregeln befreit ist, die mit Uniformen verbunden sind.«55 Oder die »allgemeine Brotreform«, die »sechs bekannte Hausfrauen« – unter ihnen Alva Myrdal – 1936 fordern. Wenige, standardisierte Brottypen, die nach Gewicht verkauft werden, ersetzen die zahllosen Brötchen- und Brotsorten zu überteuerten Stückpreisen. Zwischen den Grundtypen kann man frei wählen; Aufklärung wird vom sozialen Druck des Konsums befreien.56 Noch am Garten wird dieser existentielle Unterschied sichtbar. Entweder zerstückeln Rabatten und Blumen jede Struktur, oder zur Straße hin steht eine Hecke, dann dehnt sich viel Wiese mit kleinen Bäumchen bis zum Haus, das von Blumen umrahmt ist – eine praktische und unauffällige Ordnung die die Besitzer ins Kollektiv einschmelzen läßt.57 Ausgangspunkt aller Planung ist trotzdem der Mensch: »Gegen diesen Massenmenschentyp [das atomisierte Individuum] haben wir als Ideal einen Menschen gesetzt, dessen Lebensführung in humanistischen Werten gründet, oder den demokratischen Menschen in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Wir haben Formen gesucht, um eine zweckmäßige Gesellschaft für eine humanistische Lebensführung zu bauen.«58 Doch kann sich dieser Mensch nie von den Experten emanzipieren: »Ein Haus, das verschlissen und ungepflegt aussieht, deklassiert seine Einwohner. Der Eindruck der Nachlässigkeit schürt neue Nachlässigkeit und neue Schludrigkeit.« Deshalb sollen die Architekten verschleißstarke Materialien verwenden, um die Bewohner vor dem Abstieg zu bewahren.59 Wenn Wohnverhältnisse durchleuchtet werden, dienen Befragungen der Mieter als Ergänzung zu den Beschreibungen der Experten. Befragungen allein ergeben jedoch kein objektives Bild.60 Und: »Wir sind alle als Zähne in eine große Maschinerie eingepaßt, und die gesamte Maschinerie droht in Unordnung zu geraten, wenn nicht alle Zähne und Räder harmonisch zusammenwirken.« Man muß sich freilich als Mitarbeiter begreifen, nur so kann man als Rädchen funktionieren.61 Immer wieder wird das Individuum als 55. SOU 1938:7, S. 84. 56. Social-Demokraten, 7.11.1936. 57. U. Åhrén/I. Olsson, Amatörbyggeri eller yrkesmässig småstugeproduktion, S. 30. G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, S. 236, weist darauf hin, daß in der Frankfurter Römerstadt die Vorgärten von der Stadt gepflegt werden und deshalb einheitlich gestaltet sind. 58. So Gregor Paulsson, Referat av diskussion vid sammanträde [der »Gruppe Plan«] å Stockholms Högskolas Socialvetenskapliga institut den 17 december 1942, Ms., Bl. 8 (ARAB 405/4.1.4:1). 59. SOU 1935:2, S. 202. 60. G. Johansson, Bostadsvanor och bostadsnormer, S. 29f. 61. H. Stolpe, Familjen och samhället, S. 6, 8 (Zitat S. 16).

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vergesellschaftet gedacht (im Gegensatz zum egoistischen Individuum des Liberalismus). Es kann seine Fähigkeiten nur in der Gruppe entfalten, aber es muß stets durch Experten an der Hand geführt werden. Von den Fehlangepaßten (missanpassade) droht die Revolution. Baut man die Gesellschaft so um, daß sich jeder an seinem Platz fühlt, ist das eine Revolution.62 Die Historiker Mats Börjesson und Eva Palmblad haben dieses Verhältnis zwischen Experten und Laien so zusammengefaßt: Autorität muß anerkannt werden, denn die Regel besagt, daß die Laien unrecht haben. Doch übertriebene Autoritätshörigkeit ist nicht ratsam. Selbständige und selbstbewußte Laien sind gefragt, mit Respekt vor den Experten, hilfesuchend, doch mit Initiativkraft. Sie erkennen ihre unzureichenden Kenntnisse an, sind aber wißbegierig. Sie sind dankbar für Hilfe und Unterstützung. Sie öffnen den Experten ihr Leben und ihre Wohnungen, sie wissen, daß die Experten das Recht haben, sich in ihr Leben einzumischen.63

4. Haushalt/Gender Im Zentrum aller Planung stehen die Wohnung und der Haushalt. Sie stabilisieren die Familie, die Familie stabilisiert die Gesellschaft. Zugleich werden die Geschlechterverhältnisse auf eine eigentümliche Weise konserviert und umgestaltet. Grundsätzlich stellt niemand in Frage, daß es den Ehefrauen obliegt, den Haushalt zu führen und dem Ehemann ein gemütliches Heim zu bereiten. Aber seit Beginn des 20. Jahrhunderts nutzen Frauen diese Arbeit, um sich zu professionalisieren. Damit untermauern sie den Stellenwert ihrer Arbeit für die Gesellschaft. Gleichzeitig dienen die Wohnungen als Einfallstor für die Experten. Sie planen nicht nur Wohnungen und damit Familienleben, sie kontrollieren sie auch. Seit den 1910er Jahren gibt es eine lange Reihe von Untersuchungen über die Wohnverhältnisse der schwedischen Bevölkerung. Die erste Wohnungskommission (»Bostadskommissionen«) beginnt ihre Arbeit 1912. Auf Uno Åhrén und Gunnar Myrdal geht eine der wichtigsten Untersuchungen zurück, die 1934 beginnt (»Bostadssociala utredningen«); die intensivste Phase liegt in den 1940er Jahren bzw. in der Nachkriegszeit.64 Den Grund für diese utredningar beschreibt eine lakonische Feststellung 62. Vgl. auch C. Cederblad, Människormassor och massmänniskor; G. Inghe, De missanpassade och den sociala revolutionen. 63. M. Börjesson/E. Palmblad, I problembarnens tid, S. 42f. (Börjesson und Palmblad beschreiben die Vorstellung von den idealen Eltern, die Beschreibung läßt sich jedoch verallgemeinern). 64. Vgl. die Auflistung in G. Johansson, Bostadsvanor och bostadsnormer,

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aus dem Jahre 1934: »Eine Gesellschaft mit schlechten Wohnungen ist eine Gesellschaft mit vielen Sanatorien und Gefängnissen.«65 Die Lebensverhältnisse waren in der Tat für viele Menschen prekär, und keine der Untersuchungen wird müde, mit eindringlichen Fallbeispielen und Photographien unhygienische und viel zu kleine Wohnungen anzuprangern (trångboddheten). Erhebliche Mühe wird darauf verwendet, das Mikroklima des Wohnens zu durchleuchten und in Statistiken zu transformieren. Jede dieser Studien beschreibt auf Basis solcher Erhebungen, wie ideale Wohnungen gebaut und Stadtviertel geplant sein sollten. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt, Wohnungsbedarf, Zustand der Wohnungen, Wohnverhalten, Einrichtung, Baukosten, Rationalisierung und Finanzierung des Wohnbaus; ein internationaler Vergleich, bei dem Schweden regelmäßig schlecht abschneidet; die Korrelation von Personen, Raum, Luft und Moral wird gruppiert, klassifiziert, prozentualisiert und relationiert, je nach Ort, Wohnungs- und Haushaltsgröße sowie nach Sozialschicht. Der stete Parallellauf von Text, Tabellen, Abbildungen und Mustergrundrissen ergänzt einander auch in diesem Genre zu einem monumentalen Dyptichon des Wohnens im schwedischen Reich: ein düsteres Heute und ein helles Morgen.66 Für die miserablen Bedingungen wird teilweise den privaten Bauherren die Schuld gegeben, die an möglichst hoher Rendite interessiert seien. Deshalb sollen Staat oder Genossenschaften den Wohnbau unter kollektive Regie nehmen.67 Doch Bauherren bekommt man unter Kontrolle. Bedrohlicher sind die Mieter. Jöran Curman konstatiert 1944, daß deren Lebensgewohnheiten nicht zu den Idealgrundrissen passen. Sie pflegen die Unsitte, das Wohnzimmer als finrum (»Gute Stube«) für festliche Anlässe zu reservieren, das Schlaf- als Wohnzimmer zu nutzen und die Mahlzeiten in der viel zu engen Küche einzunehmen. Die Kinder verlieren ihren S. 31f.; Riksdagsbiblioteket, Förteckning över statliga utredningar 1904-1945, S. 353-355, 436-439. 65. Bostaden och vår ekonomi, S. 20. 66. Praktiska och hygieniska bostäder; G. Myrdal/U. Åhrén, Bostadsfrågan såsom socialt planläggningsproblem; I. Wærn Bugge/K. Göransson-Ljungman, Bostad och hushållsorganisation; I. Wærn Bugge, Lantbrukarebostaden; SOU 1935:2; SOU 1935:49; SOU 1937:43; SOU 1945:63; B. Åkerman, Familjen som växte ur sitt hem; J. Curman, Industriens arbetarebostäder; G. Johansson, Bostadsvanor och bostadsnormer (diese Untersuchung wurde erst 1964, zwei Jahrzehnte nach Fertigstellung, publiziert); L. Holm, Familj och bostad. 67. Vgl. T. Strömberg, Die Baumeister des Folkhems; K. Thörn, En bostad för hemmet; L. Brunnström, Det svenska folkhemsbygget, S. 234-281; O. Lundevall, HSB och bostadspolitiken; M. Boman, 1945; L. Larsson, Lära sig att bo.

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Platz im Heim (Abb. 69). Der finrum hat schon vorher, wie in Deutschland, eine jahrzehntelange Litanei hervorgerufen, nur daß auf die regelmäßige Anrufung der Experten, die Gute Stube als irrationale Raumvergeudung aufzugeben, die Laien monoton mit immer neuen finrum antworten, und zwar sowohl auf dem Lande wie in den Städten. Selbst in den funkis-Wohnungen unterlaufen die Bewohner die vorgebaute Differenzierung und drängen sich in der Küche.68 (Curman merkt allerdings auch an, daß einige der traditionellen Lebensweisen durchaus sinnvoll seien, daß man also die Wohnungen an ihre Bewohner anpassen solle.) Die Experten versuchen, mit den Laien ins Gespräch zu kommen, aber der »Dialog« ist auf eine eigentümliche Weise inszeniert. Lilly Arrhenius beispielsweise verfaßt das Handbuch zu einer Radioserie über die Einrichtung behaglicher Wohnungen. Sie selbst ist städtische Einrichtungsberaterin, das Material zur Serie ist im Rahmen eines Preisausschreibens gewonnen und durch Experten unterschiedlicher Professionen aufgearbeitet worden, gesendet wird die Serie unter Regie der Hauswirtschaftsschule (Husmorsskolan). Das Buch visualisiert den Hörern, wie Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und ohne untragbare Kosten, durch die Kombination alter und neuer Gegenstände, eine lebendige und heimelige Wohnungseinrichtung schaffen können, die sich den Funktionen des Heims anpaßt und realistisch den eigenen Möglichkeiten entspricht, statt Wunschträume verwirklichen zu wollen. Das erste Bild, ein Aquarell Carl Larssons, soll jenes Gefühl evozieren, das man schwedische Heimeligkeit (hemtrevnad) nenne. Niemandem wollen die Experten der Serie ihren Rat aufdrängen, im Gegenteil, so stellen sie erfreut fest: »Die Leute bitten um Rat. Sie gehen in Ausstellungen, lesen Bücher und nehmen an Kursen teil, um sich Kenntnisse und Fertigkeiten in der Einrichtung einer Wohnung zu verschaffen.«69 Den Hörern und Lesern wird nichts vorgegeben, sie werden ausdrücklich aufgefordert zu diskutieren, sogar gegenteilige Ansichten vorzutragen und zu begründen. Trotzdem müssen die Experten sich einschalten, denn nach wie vor möchten viele Menschen mit ihrer Einrichtung renommieren, und das geht stets zu Lasten der Kinder. Deren Interessen müssen vertreten werden. Ihnen soll der riesige Eßtisch nicht den Platz wegnehmen. Die Tuberkulosestatistik habe bewiesen, daß Kinder Licht und Luft brauchen; keine Statistik zeige dagegen, wie viele Neurosen und wieviel Jugendkriminalität in einer Kindheit entstünden, weil die Wohnungen zu 68. Erst in den 50er Jahren verlor der finrum seine Qualität als Statussymbol – und Architekten hatten die Wohnküche als Zentrum der Familie akzeptiert (siehe unten, Kap. X). 69. L. Arrhenius, Det levande hemmet, S. 5.

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fein seien.70 Diese Kinder rechtfertigen für die Experten eine großangelegte Erziehungsanstrengung, an der tatsächlich viele Menschen bereitwillig teilnehmen. Ausstellungen und Studienzirkel (bocirklar) sind die beiden effektivsten Propagandamedien dieser Bemühungen. 1936 verfaßt Herman Stolpe eine Ratgeber, wie man einen solchen Zirkel in Wohnungsfragen organisieren kann. Diskutiert werden sollte, so sein Vorschlag, immer an konkreten Beispielen aus den eigenen Wohnorten oder anhand selbst entworfener Grundrisse. Fragen sollten im Mittelpunkt stehen, nicht vorgegebene Antworten – wobei die Fragen schon die Antworten evozieren: Darf man die Menschen bauen lassen, wie sie wollen? Auf welche Weise fördert eine durchdachte Bauplanung die allgemeine Zufriedenheit? Welche Aufgaben muß eine Wohnung erfüllen, wie sollte sie möbliert sein? Warum sind helle, ungemusterte Tapeten vorzuziehen, welche Vorzüge hat der funktionalistische Stil, welche Vorteile ein kooperativ organisierter Wohnungssektor?71 Experten regen solche und andere Zirkel an, stellen Material zur Verfügung, halten Vorträge und machen Diskussionsvorschläge. Die Teilnahme ist freiwillig, vielfältige Meinungen sollen vertreten sein, die Diskussionen laufen auf eine von Experten kalkulierte Spannbreite konsensfähiger Ansichten hinaus – nicht aber auf eine simple Bestätigung ihrer Meinung. Vielmehr sollen die Zirkelteilnehmer deren Vorschläge im Lichte der eigenen praktischen Erfahrungen kritisch hinterfragen und korrigieren.72 Kontrolle der Zirkel durch die Experten ist dezidiert unerwünscht. Sie lassen sich allerdings die Studienhefte senden, um sie zu kommentieren.73 Exemplarisch berichtet in diesem Sinne 1945 ein Musterzirkel seine Erfolge. In Gustavsberg bei Stockholm schlägt der Personalchef der Porzellanwerke vor, den Umstrukturierungsprozeß des Wohnungssektors durch die Einwohner begleiten zu lassen. Das Unternehmen baut gerade Wohnungen für seine Angestellten – »[w]arum nicht die neuen Wohnungen als Experimentierfeld nehmen und ihre Brauchbarkeit prüfen, sie zur Probe möblieren und sehen, wie die verschiedenen Räume und Auf bewahrungsräumlichkeiten funktionieren, alles zur Anleitung für die, die hier wohnen wollen.«74 An den ersten Zirkelabenden tragen Experten vor, die Teilnehmer kritisieren Details und diskutieren. Auf Einladung eines 70. Vgl. auch M. Olsson, Det levande hemmet. 71. H. Stolpe, Bostadsfrågor. 72. G. Bergström, Köksinredning och köksutrustning, S. 13f. 73. Vgl. H. Stolpe, Studiecirkelledaren; O. Olsson, Folkbildning och självupp-

fostran. 74. K. Andersson, Så ska vi ha’t [Ausgabe 1946], S. 6 (die umfangreiche Broschüre liegt in zwei abweichenden Ausgaben vor).

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Stockholmer Kaufhauses findet eine Exkursion statt, um Preise und Qualität von Einrichtungsgegenständen zu prüfen. Museen werden besucht, Kunstgeschichte wird gepaukt, mit Textilien, Tapeten, Vasen, Blumen, kleinen Schmuckgegenständen und Geschirr geprobt, um billige von guter Kunst, Geschmackvolles von unnötiger Häßlichkeit scheiden zu können.75 Dann verwandelt sich der Studienzirkel in ein Arbeitskollektiv. Vier Gruppen richten mit wenig Geld Ausstellungswohnungen in den neuen Reihenhäusern ein. Sie gehen in die dunklen Keller der Möbelhändler, wo ihre Wunschmöbel hilflos beiseitegeräumt stehen – die Kataloge der Händler enttäuschen zu sehr –, und holen sie ans Licht. »Wir schnappten nach klaren, frischen Farben, so wie man in einem überfüllten Raum nach frischer Luft schnappt.«76 Die Arbeit schweißt sie zu einer Gemeinschaft zusammen, das Gefühl wächst, ein eigenes Heim, eine kleine Welt zu schaffen. Zur Eröffnung spielt das örtliche Musikkorps, die Presse berichtet freundlich, Vertreter von Reichstag, Reichsbank, des Sozialministeriums, der Bevölkerungskommission, zahlreicher Organisationen und die Leitung der Möbelbranche reisen an. Die Ausstellung, das »Gesellenstück«, wird »der Gesellschaft und ihren Einwohnern übergeben«,77 sie trägt den Namen »So woll’n wir’s haben« (»Så ska vi ha’t«) und führt als Programm das Motto: »Bessere Heime – bessere Gesellschaft«.78 Und das macht diesen Zirkel so typisch für viele andere schwedische Studienzirkel: Das Wir-Gefühl, die breite Verankerung im gesellschaftlichen Umfeld, der unbedingte Wille zu lernen und konkret auszuprobieren, das apodiktische Ziel, das freilich nur in Form von Varianten denkbar ist und in bewußt salopper Sprache indiziert, daß alle sich angesprochen fühlen sollen. Abschließend wird die Erfolgsgeschichte in einer Broschüre mit zahlreichen Abbildungen verbreitet und läßt sich vom Publikum nachvollziehen (und von Historikern nacherzählen). So funktionieren zahlreiche ähnliche Ausstellungen.79 Immer steht 75. Geschmackserziehung hat eine lange Tradition in Schweden, vgl. P. Sundgren, Smakfostran; M. Göransdotter, Smakfostran och heminredning; Dies., Möbleringsfrågan. Eine ähnliche Tradition in Deutschland scheint weniger erfolgreich gewesen zu sein, weil der »gute Geschmack« offenbar einerseits zu kanonisch und ästhetisch unattraktiv (im Stile von Verbrecherkarteien), andererseits nicht fl ächendeckend vermittelt wurde, vgl. B. Manske, Wie wohnen, bes. S. 26f., 39f., 46-50, 57, 112-119. 76. K. Andersson, Så ska vi ha’t [Ausgabe 1946], S. 17. 77. Ebd., S. 31. 78. Ebd., S. 6. 79. Vgl. Föreningen Hus och Hem, Hus och Hems Propaganda för Praktisk Heminredning och Sund Föda [sic] (Göteborg 1926); Vi bo i Ribershus (Malmö

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Anschaulichkeit im Vordergrund, sei es durch die Einrichtung von Musterwohnungen, sei es, wie im Malmöer »Ribershus«, durch fi ktive Lebensläufe, die hinreichend progressiv, hinreichend traditionell, hinreichend hoffnungsvoll und hinreichend humorvoll sind, so daß sich jeder in ihnen wiedererkennen kann. Im Ribershus wohnt ein Querschnitt der (materiell gesicherten) Mittelschicht: Major, Kapitän, Lektor, Direktor, Lokführer – alle mit Frau –, ein Unterarzt, der mit einer Bibliothekarin zusammenlebt, alleinstehend einzig eine Journalistin. Der Lokführer hat im Lotto gewonnen und kann sich endlich ein vernünftiges Heim leisten, früher hat er immer nur teure und unpraktische Möbel gekauft. Die Bibliothekarin hat mit ihrer radikalen Meinung zur Bevölkerungsfrage Aufsehen erregt und ist von ihrer Erbtante eine Zeitlang aus dem Testament gestrichen worden; Freunde geben zu verstehen, daß ihr Ruf sie eigentlich verpflichte, zum Bevölkerungswachstum beizutragen. Im Grunde ihres Herzens träumt sie von Kindern, will aber erst ihre Ausbildung abschließen. Nur zwei Ehefrauen sind berufstätig; die Journalistin gönnt sich nach harten Arbeitstagen ein »Luxusfrauenleben«.80 Mit solchen Ausstellungen – und zahlreichen Publikationen, zumeist reichhaltig illustriert,81 teils sogar aufwendig gestaltet mit eingeklebten Tapetenproben, Farbabbildungen und Farbskalen82 – soll den Mietern der Irrglaube genommen werden, Wohnen sei allein ein Mittel zum Zweck. Ob die Besucher und Leser allerdings mitspielten, ist unklar. Auf der Stockholmer Ausstellung »Bostad och färg« (»Wohnung und Farbe«) (1933) wurde als Kontrast zu den Idealwohnungen eine Schockwohnung (skräcklägenhet) eingerichtet, aber nichts deutet darauf hin, daß sich die Besucher tatsächlich abschrecken ließen.83 Ohnehin betrafen diese Ausstellungen und Publikationen nur die solide Mittelklasse. Unterste Grenze war der »respektable« Arbeiter, dem eine hygienische und funktionale Wohnung 1938); Bo bättre (Avesta 1944); Utställningen Bo bättre (Göteborg 1945); Norrköpings Bo-kommitté/Svenska Slöjdföreningen, Bo Bra på Såpkullen (Norrköping 1949); Bostaden (Helsingborg 1955). Vgl. auch K. Thörn, En bostad för hemmet, S. 173-198; E. Rudberg, »Stäng in arkitekten i kokvrån!«, S. 228f.; K. Wickman, Bohaget, S. 267, die zahlreiche weitere Ausstellungen nennen und beschreiben. Ende der 40er Jahre verebbt die Ausstellungswelle. 80. Vi bo i Ribershus. 81. Als Auswahl seit 1905: R. Östberg, Ett hem; Bostaden och vår ekonomi; E. Sundahl, Den moderna bostadens krav; Ders., Framtidens bostad; E. Lilliehöök, Bostaden som hem; Sveriges Riksbank, Bosättning; Odinsala studiekoloni, Bostadssocialism; H. Krantz-Jensen, Bosättning. 82. H. Rabén, Det moderna hemmet. 83. K. Thörn, En bostad för hemmet, S. 197.

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klar und deutlich sagen sollte: »Du bist kein Proletarier.«84 Für die Unterschichten gab es ein ganz anderes Programm. Arme, Kinder, Alkoholiker, TBC-Patienten, Schüler, Säuglinge, Kranke, Schwangere – für sie alle waren kirchliche und staatliche Inspektoren zuständig, die ihre Wohnungen aufsuchten, um nach dem Rechten zu sehen. Was die Mittelschicht sich in modernen Wohnungen selbst aneignen sollte, hatte der Unterschicht durch rigide Kontrolle eingetrimmt zu werden: selbst die baulich miserablen Behausungen in einem guten Zustand zu halten, d.h. richtig zu wohnen. Allerdings scheint dieses Disziplinierungsprogramm ineffektiv gewesen zu sein. In der »Bostadssociala utredningen« lesen wir die Rüge, daß die erhobenen Daten nicht zentral registriert würden. Eine Zentralisierung könne die Kontrollen reduzieren und effektiver machen. Die Inspektoren müßten zugleich beraten, der Respekt vor ihnen werde die Einsicht erhöhen. Die Untersuchung deutet zwar Konflikte an, sie diskutiert aber nicht einmal ansatzweise die Frage der Legitimität solcher Eingriffe.85 Medien klagten allerdings über das dichte Netz der Kontrollen (Abb. 75).86 Innerhalb der Wohnung bildet die Küche den »mechanischen Kern«,87 geprägt durch zunehmende Technisierung und Verdichtung nach dem Vorbild des Speisewagens. Der Haushalt erweckt eine Wohnung überhaupt erst zum Leben, sie wäre sonst nur eine leere, rasch verfallende steinerne Hülle.88 Seit Beginn des Jahrhunderts gerät der bürgerliche Haushalt allerdings unter Druck. Immer mehr Ehefrauen werden berufstätig, immer mehr junge Mädchen gehen in die Fabriken, so daß allmählich das Dienstpersonal fehlt.89 Das ist Konsens zahlreicher Studien, ihre Antwort ist die Forderung nach einer konsequenten Rationalisierung und Technisierung. Die Amerikanerin Christine Frederick gehört zu den ersten, die die Prinzipien des Taylorismus aus der Fabrik in die Küche transferieren. Sie publiziert zwei Bücher, in denen sie zuerst ihre Konversion zum Taylorismus inszeniert. Sie lauscht den Gesprächen ihres Mannes, läßt sich, 84. M. Boman, 1945, S. 166. 85. SOU 1935:49, S. 59*-79*, 79-89. 86. Z.B. Borås Tidning, 5.2.1936; Nya Dagligt Allehanda, 7.2., 9.2.1936. 87. Dieser Begriff bei S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, S.

673. 88. Husmoderns Redaktion, Husmoderns bok om kök och köksinredningar,

S. 9. 89. Zwischenzeitlich, in den frühen 1930er Jahren, sollten Bevölkerungskrise und Arbeitslosigkeit durch eine Rückkehr berufstätiger Frauen in den – rationalisierten – Haushalt gelöst werden (B. Lövgren, Hemarbete som politik, S. 25).

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noch skeptisch, da die Hausarbeit komplexer sei als das Fließband, von seinen Freunden in die Geheimnisse des scientific management einweihen, richtet eine Experimentierküche ein und bringt dann anderen Hausfrauen Schritt für Schritt bei, wie sie sich ebenfalls selbst zu »Ingenieuren« des Heims ausbilden können.90 Diesen Büchern folgen in Europa und Schweden zahllose, immer elaboriertere Haushaltsstudien.91 Sie versuchen, in das Innere einer unbekannten Struktur vorzudringen, indem sie zunächst detaillierte Daten sammeln, etwa Zeit- und Energieverbrauch, Nutzungshäufigkeit, Ergiebigkeit von Verbrauchsmitteln, Platzbedarf bei verschiedenen Tätigkeiten, sinnvolle Höhen verschiedener Küchenmöbel, ideale Körperhaltungen oder Materialverschleiß. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fällt die Datenerhebung noch sehr grob aus, Mitte der 1940er Jahre gibt es bereits 100seitige Untersuchungen allein über das Geschirrspülen, und Zeitstudien erfassen immer minutiöser, wieviel Zeit welche Tätigkeit kostet (Abb. 72-74).92 Zugleich geht es um Auf klärung. Ehefrauen müssen Hausarbeit als etwas Komplexes begreifen. Möbel und Gegenstände sollen so angeordnet sein, daß sie Bewegungen sparen; sie müssen so ausgewählt werden, daß 90. C. Frederick, The New Housekeeping; Dies., Household Engineering. 91. Z.B. L. M. Gilbreth, The Home-Maker and Her Job; A. Hedin, Arbetsglädje; E. Meyer, Der neue Haushalt; T. Hansson, Nutidsmat och hemhushållning; G. Bergström/C. Boalt/S. Lindegren, Kost och kök; C. Boalt, 27.000 måltider; Dies., Sund föda; C. Boalt/G. Carlsson, Mor och barn från morgon till kväll; H. Stolpe/C. Boalt, Husmodersfrågor; C. Boalt u.a., Diskning i hemmen; G. Bergström/E. Widhe, Hemmet, som vi bygga och vårda; Dies., Hemkunskap II; G. Bergström, Hemkunskap III; Dies., Köksinredning och köksutrustning; Dies., Varukunskap för hemmet; Föreningen Hus och Hem, Hus och Hems Propaganda för Praktisk Heminredning och Sund Föda; A. Hedberg, Svenska hem i samverkan (1927 und 1956); SOU 1947:46; SOU 1949:18; SOU 1956:32; I. Wærn Bugge/K. Göransson-Ljungman, Bostad och hushållsorganisation; B. Åkerman, Familjen som växte ur sitt hem; und 1905 bereits: E. Törne, Solidar; Dies., Solidar II; Dies., Solidar III. – Ausführlich dazu: B. Lövgren, Hemarbete som politik. Vgl. auch eine größere Untersuchung ehemaliger Protagonistinnen zur Geschichte der Hausarbeit, eine instruktive Mischung aus Erinnerung und Analyse: B. Åkerman u.a., Den okända vardagen; Dies., Kunskap för vår vardag; sowie P. Aléx, Skolkökslärarinnorna och kunskapen om hemmet; I. Beer, Architektur für den Alltag; M. Llewellyn, Designed by Women and Designing Women. 92. C. Boalt u.a., Diskning i hemmen; G. Bergström/C. Boalt/S. Lindegren, Kost och kök (um durchschnittliche Testpersonen auswählen zu können, zieht Hemmens forskningsinstitut beratend das Rasbiologiska institutet hinzu [ebd., S. 62]).

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sie die Arbeit durch ihre Praktikabilität reduzieren. Der Alltag muß präzise geplant werden. Jeden Tag und die Woche über müssen Abfolge und Zeitaufwand der Arbeit nach einem regelmäßigen Schema gestaltet werden, damit sich die Frauen nicht aufreiben. Sie müssen lernen, ihre Arbeit konsequent durchzuführen, ohne sich von spontanen Einfällen ablenken zu lassen, weil das die Choreographie der Arbeitsprozesse zerstört. Wenn sich die Hausfrau derart bewußt gestaltend durch Raum und Zeit bewegt, gewinnt sie Selbständigkeit zurück. Sie setzt Zeit frei, die sie zur Bildung nutzen sollte. Selbstbildung ist Ergebnis und Voraussetzung der Rationalisierung des Alltagslebens, denn wer sich nicht im Griff hat, kann nicht systematisch handeln, nicht Ernährung und Haushaltskasse in Balance halten, nicht die eigene Vitalität und Aufmerksamkeit kontrollieren, nicht die Natur – Phasen der Ermüdung beispielsweise – in einem balanced way in das eigene Leben integrieren. Diese spezifische Formierung des Selbst bedeutet zugleich, seine Aufgabe für die Gemeinschaft zu fi nden, sich einzugliedern. Und so lassen Haushaltsstudien in der Küche die Symbiose zwischen Frau und Technik, in der Familie die Kameradschaft der Ehepartner und Kinder und in der Nation die Gemeinschaft aller Individuen entstehen. Das große Versprechen ist die Entlastung und Aufwertung des weiblichen Alltags. In den USA wird eine elektrische Bügelmaschine mit dem Slogan »Ladies, please be seated!« beworben, weil Frauen beim Bügeln nun sitzen können. Sigfried Giedion nennt das eine »Demokratisierung«, weil es keine privilegierten Klassen mehr gibt, aber die Hausfrauen, weil moderne Haushaltsgeräte, preiswert und platzsparend, allen zur Verfügung stehen, trotzdem von der Hausarbeit entlastet sind.93 Schon Frederick hat in diesem Sinne den Haushalt als herausragende Möglichkeit der Emanzipation verstanden. Die Frau wird zur trainierten Konsumentin. Sie fällt nicht mehr auf die betrügerischen Praktiken der Händler herein, sondern lernt, einfache, aber qualitätvolle Waren von Schund zu unterscheiden. Durch »wise buying« wird sie ihrer Verantwortung gerecht, die Familie vernünftig zu versorgen, sie ist »the purchasing agent of her family and society«,94 der Haushalt ist das »clearing house« zwischen Hersteller und »homemaker«. Hier werden die Produkte auf ihre Tauglichkeit getestet. »Housework, the science of homemaking and motherhood, if followed out on an efficient plan, can be the most glorious career open to any woman – 93. S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 557-562, 623f. – Der schwedischen Journalistin Margit Palmær gelang es nur so, ihre berufliche Karriere zu retten: M. Palmær, En husmor lever farligt. Sie bereitet ihre Erfahrungen für andere Frauen auf. Ähnlich: M. Bonnevie, Äktenskap och arbete. 94. C. Frederick, The New Housekeeping, S. 114.

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one that will not stultify nor degrade, but which offers her peculiar talents their widest and most varied scope.«95 Schwedische Studien erklären die Hausfrau wahlweise zum »Kapitän« oder zum »Ingenieur« des Haushalts. Sie wird als die geborene Reformatorin des täglichen Lebens präsentiert. Sie versachlicht die Lebensführung. Ohne ihre Haushaltsführung fallen die Familien auseinander und mit ihnen die Gesellschaft.96 Nichts unterstreicht diese Bedeutung der Hausfrau so sehr wie ihr Tod: Sie ist umgehend zu ersetzen, damit der Betrieb weiterläuft.97 Sie ist das Äquivalent zum verschwundenen Dienstpersonal.98 Die Beziehung von Hausfrau und Haushalt ist freilich ambivalent. Man kann eine doppelte Bewegung feststellen. Zum einen wächst in den 40er Jahren die Kritik an den winzigen, von der Wohnung isolierten Küchen. Sigfried Giedion beschreibt am Beispiel der USA, wie sie allmählich gegen die Wohnräume geöffnet werden. Die »Einzelhaft« des Dienstpersonals, dessen Arbeitsbereich in den bürgerlichen Wohnungen abgeschottet war, ist der Hausfrau nicht zuzumuten, ihre Arbeit wird nicht länger vor Gästen und Familienmitgliedern verborgen. Sie kann die Kinder im Auge behalten und mit ihrem Mann kommunizieren, der, so ist zu vermuten,99 im Sessel die Zeitung liest.100 Ähnlich sieht es in Schweden aus.101 Der (fensterlosen) Kleinstküche bereiten verheerende Tests den Garaus: Eine kleine Mahlzeit für zwei Personen soll zubereitet werden; nach einer Stunde ist die Luftfeuchtigkeit von 61 auf 96 Prozent, die Temperatur von 23 auf 29 Grad gestiegen, Wasser rinnt von den Wänden, der Versuch wird abgebrochen.102 Diese Küchen werden schon in den 40er Jahren durch Glaswände zu einem allrum (»Allzweckraum«) hin geöffnet, in dem sich ein Großteil des 95. Ebd., S. 101. 96. Vgl. beispielsweise L. Harmaja, Husmoderns ekonomiska gärning. – Zur Idee des »vernünftigen« Konsums: P. Aléx, Den rationella konsumenten; C. Fredriksson, Ett paradis för alla. 97. B. Åkerman, Familjen som växte ur sitt hem, S. 208. 98. Das wird besonders deutlich auf zahlreichen Abbildungen in S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. 99. Weil Giedion Männer in seinem monumentalen Werk durchgehend nur als Erfinder, nicht im Zusammenhang mit der Hausarbeit erwähnt. 100. Vgl. S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 665-675 (den Begriff »Einzelhaft« zitiert Giedion [ebd., S. 668] nach dem New York Times Magazine vom 10.6.1945). 101. So schon 1933 S. Westholm, Bostadsplanens förändring under senare år, S. 80f. 102. B. Lövgren, Hemarbete som politik, S. 114, zitiert hier aus einer Studie von 1934.

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Familienlebens abspielen soll.103 Zum andern weitet sich der öffentliche Raum für Hausfrauen, denn sie bauen seit den 30er Jahren ein enges Netzwerk von Akteurinnen und Institutionen auf, das über Personen wie Karin Kock, Brita Åkerman, Gotthard Johansson, Tage Erlander, Signe Höjer oder Ingeborg Wærn Bugge in der Politik und den Expertenzirkeln Schwedens fest verankert ist. Sie profi lieren sich durch Haushaltsstudien erfolgreich als Expertinnen und erlangen großen publizistischen und praktischen Einfluß.104 Selbst die Verteilung der Geschlechterrollen wird vorsichtig thematisiert. Hausarbeit bedrohe zwar grundsätzlich die Männlichkeit, doch zahlreiche Leserbriefe wissen zu berichten, daß Ehemänner sich im Haushalt durchaus tüchtig anstellen können. Sie werden als verborgene Ressource entdeckt.105 Die Hausarbeit ist also deutlich aufgewertet als moderne, gesellschaftsstabilisierende Profession – gleichzeitig zementiert in ihrer gesellschaftlich dienenden Funktion. Jungen sollen Einsicht in diese anspruchsvolle Tätigkeit bekommen – um als Ehemänner die Arbeit ihrer Frauen würdigen zu können (Mädchen erhalten eine Intensivausbildung in Kindererziehung, Haushaltsführung und Ernährungsfragen).106 Die Hausarbeit bedroht die Selbständigkeit der Frauen und die Männlichkeit ihrer Gatten, Technik und Planung versprechen jedoch, die Last durch eine gut geölte Maschinerie in Leichtigkeit zu transformieren. Die überkommene Rollenverteilung muß deshalb nicht grundlegend überdacht werden, weil die Haushaltsmaschine – zumindest in der sprachlich-visuellen Inszenierung zahlloser Publikationen – fast schon depersonalisiert läuft. Im Gegensatz zum düster gezeichneten dysfunktionalen Haushalt scheint

103. E. Rudberg, »Stäng in arkitekten i kokvrån!«, S. 212. 104. B. Lövgren, Hemarbete som politik; B. Åkerman u.a., Kunskap för vår vardag. Nicht wenige dieser Protagonisten sind mit einander verwandt. Zur Professionalisierung der Hausfrauen, vgl. B. Berner, Sakernas tillstånd, S. 223-309, bes. das Schema S. 298f. 105. Beispielsweise G. Bergström/E. Widhe, Hemmet, som vi bygga och vårda, S. 56; Dies., Hemkunskap II, S. 12; vgl. auch J.-E. Hagberg, Tekniken i kvinnornas händer, S. 178-190. 106. Sveriges husmodersföreningars riksförbund: Hem och familj i skolans undervisning jämte några synpunkter på utbildningen för husligt arbete, S. 68f.; SOU 1945:4. Ähnlich sah es auf dem Kontinent aus, vgl. P. Noever, Die Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky; B. Taut, Ein Wohnhaus; Ders., Die neue Wohnung; Arbeitsgemeinschaft Hauswirtschaft e.V./Stiftung Verbraucherinstitut, Haushaltsträume. – Die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky stellte diese Asymmetrie nicht einmal in ihren Memoiren (2004) in Frage: M. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, bes. S. 150, 153, 163, 170, 179.

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niemand mehr zu leiden: »Die Hausarbeit wird zur Freizeitbeschäftigung, bei der man singt.«107

5. Das Kollektivhaus Ein Gebäudetyp faßt die architektonisch/gesellschaftspolitische Diskussion der 30er Jahre zusammen, das »Kollektivhaus«.108 Kollektives Wohnen als Idee finden wir bereits bei Owen und anderen; in der jungen Sowjetunion werden erste Entwürfe gegen Ende des Ersten Weltkriegs diskutiert, in Schweden veranstaltet die Tageszeitung »Svenska Dagbladet« einen Architektenwettbewerb. Der katastrophale Wohnungsmangel nach dem Krieg triff t auch relativ gut gestellte Haushalte, die zugleich unter einer schrumpfenden Bedienstetenschar leiden: »Die Bedienstete steigt im Preis und wird zu einer immer selteneren Jagdbeute der Mittelklassefamilie. Die Folge ist, daß man sich ohne sie behelfen muß, und da passen nicht länger die alten Wohnungen. Sie sind zu unpraktisch und fordern zu viel Arbeit, um sie in Ordnung zu halten.« 109 Deshalb werden neue Formen des Wohnens diskutiert. Technisierung und Taylorismus, Zerlegung und Rekombination von Alltagssequenzen gliedern bereits die funktionalistischen Wohnungen. Noch besser wäre es freilich, die Hausarbeit gleich ganz in zentrale Serviceeinrichtungen auszulagern. Allerdings erweisen sich erste Entwürfe zunächst als unrentabel. Nur die finanziell kräftigen Schichten könnten sich Wohnungen mit solchen Serviceeinrichtungen leisten, doch setzen die, soweit es eben geht, weiterhin auf Dienstpersonal. In den schwedischen und österreichischen Arbeiterbewegungen wird eine Art »Haushaltskommunismus« – innerhalb bestehender Wohnanlagen – seit der Jahrhundertwende diskutiert, aber offenbar nicht realisiert.110 1932 veranstaltet die Stockholmer Ortsgruppe des »Yrkeskvinnors klubb« (»Vereinigung berufstätiger Frauen« [YK]) einen Vortrags- und Debattenabend zum Kollektivhaus. Eine Arbeitsgruppe bildet sich, der u.a. Sven Markelius, Sigfrid Hansson (der Bruder des Ministerpräsidenten Per 107. So Alva Myrdal in einem Interview, das am 7.6.1946 publiziert wurde

(auf dem Zeitungsausschnitt ist der Name der Zeitung nicht mehr zu rekonstruieren). 108. Dazu C. Caldenby/Å. Walldén, Kollektivhus; D. U. Vestbro, Kollektivhus från enkökshus till bogemenskap; S. Lamm/T. Steinfeld, Das Kollektivhaus. 109. So 1920 der Architekt Sven Wallander, zit. nach C. Caldenby/Å. Walldén, Kollektivhus, S. 158. 110. Ebd., S. 151f.

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Albin Hansson), Alva und Gunnar Myrdal, Ernst und Eva Wigforss, Andrea Andreen, Célie Brunius, Karin Kock, Olle Engqvist und Gotthard Johansson angehören. Diese Schwergewichte der Gesellschaftspolitik verankern die Gruppe in den Medien, der jungen sozialdemokratischen Regierung, in den Kreisen von Bauunternehmern bzw. Medizinern, der Nationalökonomie und in der Architektenzunft; die Zeitungen berichten ausführlich über den folgenden Planungsprozeß. Alva nimmt rasch eine führende Rolle ein. Sie hat in den USA »Familienhotels« kennengelernt, nun soll man auch in Schweden die »irrationale Lebensform« der isoliert lebenden Familie aufgeben. Ein »starrer, komplexbeladener, persönlicher Moralbegriff« verhindert, schreibt sie in ihrer typischen, technokratisch-polemischen Diktion, die Familie als Organisationsproblem zu begreifen, als Problem einer institutionellen Anpassung. »Verändern sich die Wohnformen, passen sie sich geschmeidig den veränderten Familienformen an?«111 Die vormoderne Familie sei eine selbstversorgende Gesellschaft im Kleinen gewesen, sie habe den Kindern eine bereichernde soziale Umgebung geboten und eine stabile Zelle der Gesellschaft gebildet. Die moderne Familie könne das nicht mehr leisten. Sie müsse durch Rationalisierung von mehreren Aufgaben befreit werden, um noch funktionieren zu können. Immer noch brutzelten die Hausfrauen in kleinen Küchen über- und nebeneinander jede ihre Fleischbällchen, jedes winzige Kinderzimmer beherberge »seinen kümmerlichen Menschensprößling«.112 Die kollektive als die einzig zweckmäßige Wohnform der modernen Familie werde diese Doppelbelastung beseitigen und den Kindern eine dienlichere Umgebung bereiten. Alva zielt dabei ausdrücklich auf die Mittelklasse (denn die Oberschicht wird nicht in diese Häuser einziehen, für die niedrigsten Einkommensklassen ist der Staat zuständig). Diese Schicht wird das »soziale Experiment«, das Kollektivhaus als »Propagandazentrale für gute Kindererziehung, für rationelle Kost etc.«, mit Leben füllen. Das »psychologisch wesentliche« Bedürfnis nach Individualität – damit meint sie: Einsamkeit, d.h. Abgrenzung – bleibt gewahrt. Die eigene Wohnung muß nur dem Schlaf, der Arbeit, dem Familienleben und eventuellen Mahlzeiten dienen, der Rest wird hotelmäßig geführt.113 Auch für die »größte Komplikation«,114 die Kinder, gibt es eine Lösung. Der erzwungene Individualismus, zu dem sie erzogen werden, ist geradezu lebensfeindlich. Die moderne Gesellschaft erfordert eine soziale Erziehung; die kollektive Kindererziehung verspricht eine

111. Alle Zitate: A. Myrdal, Kollektiv bostadsform, S. 601. 112. Ebd., S. 602. 113. Alle Zitate: ebd., S. 604. 114. Ebd., S. 605.

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»konstruktive Erziehung psychisch gesunder Individuen für eine moderne Gesellschaft.«115 Ein größeres Projekt im Stadtteil Alvik kann die Gruppe nicht finanzieren, deshalb wird ein kleineres Haus in der John Ericssonsgata geplant. Auch dieses Projekt wird der Öffentlichkeit präsentiert, zuerst in der Kunsthalle Liljevalchs in der Ausstellung »Standard -34«, dann, nach Fertigstellung des Hauses, in der großen Ausstellung »Hem i kollektivhus«. Das Haus ist in den Dienstleistungs- und den privaten Bereich unterteilt. Im Erdgeschoß befinden sich die Serviceeinrichtungen, also Zentralküche, Restaurant, Waschküche und die storbarnkammare (»Kollektivkinderkrippe«). In den sechs Etagen darüber sind die Wohnungen lokalisiert, vom winzigen Typ I (ein Zimmer) bis zur zweigeschossigen Atelierwohnung des Typs X. Auf dem Dach befindet sich die für den Funktionalismus übliche Sonnenterasse. In den Wohnungen gibt es winzige Bäder und Kochnischen. Will man seine Mahlzeiten nicht im Gemeinschaftsrestaurant einnehmen, ruft man die Küche an, läßt das Essen in einem Aufzug direkt zur Kochnische transportieren, wo man es auf einer Herdplatte erwärmen kann. Das schmutzige Geschirr geht wieder nach unten. Gerade an der Kochnische läßt sich ablesen, wie Utopie, Rationalisierung und indirekter Zwang gekoppelt sind. Das Restaurant reduziert zweifellos Kochen und Abwasch auf Null. Die minimierte »Küche« spart Raum und damit Baukosten. Aber Kochen ist für die, die es wollen, faktisch unmöglich geworden. Niemand wird gezwungen, das Restaurant und die Gemeinschaft der Mitbewohner aufzusuchen. Es ist umgekehrt: Der gebaute Raum schließt fast alle Alternativen aus (ähnlich wie die Großküche die freie Wahl der täglichen Mahlzeit durch eine Speisekarte zugleich ermöglicht und beschränkt) (Abb. 63-65). Wieder werden Broschüren publiziert, die das ideale Leben schildern. Das Haus soll es den Bewohnern ermöglichen, ein gesundes und harmonisches Leben zu führen; die Wohnungen richten sich nach ihren Erfordernissen; die Kollektivkinderkrippe soll kein »Parkplatz« für die Kinder sein, sondern ihnen die bestmögliche Erziehung zukommen lassen. Ein »Isolationszimmer« steht für Krankheitsfälle »in der kleinen Kolonie« zur Verfügung.116 Die einzelnen Wohnungen werden zu einer größeren organischen Einheit koordiniert, doch in diesem großen Haushalt kann jede Familie ihr eigenes Leben führen. »Was die Kleinkinder betriff t, steht es frei, sie ganz in der Kinderabteilung in Pension zu geben oder sie die Nacht in der Familienwohnung zubringen zu lassen. Viele Kombinationen sind 115. Ebd., S. 607. 116. G. Näsström, Svenska Slöjdföreningens utställning Hem i kollektivhus,

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denkbar, ganz nach dem Raumbedarf und den Arbeitsbedingungen der Familien (– man denke daran, daß es auch Mütter mit Abend- und Nachtarbeit gibt!).« 117 Die Grundrisse der Wohnungen und acht fi ktive Portraits denkbarer Bewohner sollen zeigen, wie Einkommen, Lebensführung und Interessen die Wahl der Einrichtung beeinflussen, »also wie acht unterschiedliche Heime treulich acht unterschiedliche Arten der Zufriedenheit widerspiegeln. Kollektiv ist im Kollektivhaus nur die äußere Organisation. Zwischen den eigenen Wänden wird das Leben mindestens so individuell wie zu Hause bei Ihnen geführt.« 118 Eine bekannte Schauspielerin gibt nach der Scheidung ihr Domizil im Luxushotel auf und zieht samt Kind ins Kollektivhaus. Die Frau eines Telefonarbeiters rechtfertigt die helle und luftige Krippe mit dem Leben der »Oberklassefrau«. Der sehe man es ja auch nach, daß sie ihre Kinder einem privaten Kindermädchen überlasse, um sich beim shopping und auf Cocktailparties vergnügen zu können. Ein Angestellter und seine Frau holen nach der Arbeit die Kinder aus der Krippe, und nach einem harmonischen Abend voll Spiel und pädagogischem Eifer werden sie zurückgebracht, die Eltern verbringen die Abendstunden mit Lesen und Nähen. Ein Leutnant und seine Frau – Abteilungsleiterin einer Modefirma – lieben es bürgerlich-repräsentativ. Bei einer Verkäuferin fällt der Text recht kurz aus. Ein alleinstehender Architekt wohnt im Haus; ein Anstreicher solidarisiert sich mit der Arbeiterklasse, spielt nach der Arbeit Violine, leitet einen soziologischen Studienzirkel und bildet sich politisch weiter. »Das prächtig volkstümliche in seinem Charakter kommt in der Wahl der Möbeltypen und des Materials zum Ausdruck: Es sind kräftige, aber trotzdem schwedisch graziöse Stücke in Kiefer mit Bezügen aus Kunsthandwerksstoffen. Einer der Gäste des Kollektivhauses hat darauf hingewiesen, wie harmonisch Herr Holmbergs traditionalistische Gemütlichkeit in einen so typisch modernen Wohnkomplex eingefügt werden konnte.«119 Ein Dozent und seine studierte Frau verzichten widerwillig auf Kinder, aber sie wollen sich, befreundet mit den Myrdals, beide der Bevölkerungsfrage widmen und Karriere machen, er an der Handelshochschule, sie in der Sozialbehörde. Ein Bild zeigt, wie er am Schreibtisch sitzt, sie tippt sein (?) Manuskript. Offenbar sind weite Teile des folkhem in das Kollektivhaus gezogen. Alleinerziehende Mütter, bürgerliche Ehen, rechtschaffene Arbeiter, moderne Paare, berufstätige Frauen, volkstümliche Handwerker.120 Sie alle 117. Ebd., S. 2. 118. Ebd., S. 3. 119. Ebd., S. 19. Gemeint ist der Anstreicher. 120. So sieht auch die faktische Zusammensetzung der Bewohner aus; vgl. die Liste vom November 1938 in C. Caldenby/Å. Walldén, Kollektivhus, S. 216f.

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vereinen Moderne und Tradition, ihre Jahresgehälter reichen von 2000 bis 12.000 Kronen, die Miete von 500 bis 1300 Kronen, die Einrichtungskosten von 840 bis knapp 4000 Kronen. Die Kinder sollen sich frei und selbstbewußt fühlen, aber Rücksicht lernen und kleine Mitbürger werden. Für jeden, der will, hält das Haus einen Platz bereit. Wenn sich die Familienstruktur ändert, wird der Wohnungstyp gewechselt. Es wird angedeutet, wer hier nicht wohnen wird: die »Oberklassefrau« und der Schwerarbeiter (das konturieren die Schauspielerin, per se einem individualistischen Menschenschlag zugehörig, die aber ihr Luxusleben aufgibt und sich neben der Arbeit ihrem Kind widmet, und der einzige Arbeiter, der jedoch in der »Zukunftsindustrie« beschäftigt ist). Die Spannung zwischen Gehältern und Lebensstilen ist hinreichend groß, um jeden Anschein von Uniformität zu vermeiden, und doch schert kein Bewohner allzu individualistisch aus. Die Photographien, die die Bewohner zeigen, entschärfen außerdem allzu modernistische Anklänge. Der Mann spielt Ukulele für die Frau, liest Zeitung, raucht oder sitzt am Schreibtisch und exzerpiert; die Frau schenkt ein, liest im Bett eine Zeitschrift, stickt auf dem Sofa oder sitzt am kleineren Schreibtisch an der Schreibmaschine. Wie im Ribershus wird alles in Maßen gehalten (lagom), ist maßvoll modern, maßvoll traditionell, und auf diese Weise entsteht eine balancierte, harmonische Gemeinschaft.121 All diese Lebensbeschreibungen handeln zudem von einer spezifisch schwedischen Moral, in der Kapitalismus, soziale Utopie und Religion verschmelzen. Das kollektivhus ist auf eine ganz besondere Art kongenial zum folkhem. Das Ziel ist die gerechte, harmonische Gesellschaft. Mittel sind die – tayloristisch inspirierte – Rationalisierung und Funktionalisierung der alltäglichen Lebenspraxis sowie ein – protestantisch geprägtes – Leistungsethos. Um das folkhem verwirklichen zu können, müssen die Kräfte des Kapitalismus genutzt werden; die Wirtschaft jedoch funktioniert nur mit Arbeitskräften, die produktive Leistungsbereitschaft und rationales Denken internalisiert haben, die es akzeptieren, die Gesellschaft als eine Maschinerie zu begreifen, in der sie genau deshalb willig als Zahnrad funktionieren, weil sie sich als Teil eines Ganzen sehen. Im Kollektivhaus werden sie für die kapitalistische Produktionsweise konditioniert, dort werden sie regeneriert, doch gerade die Einfügung in die Wohn- wie die Produktionsmaschine verheißt ihre Befreiung von Konkurrenzkampf und Elend – denn in beiden Fällen sind sie es, die sowohl das Wohnen als auch die Produktion als Gemeinschaft organisieren, d.h. gegen privatkapitali121. Diese Bilder sind nur im Wiederabdruck der Ausstellungsbroschüre in der Zeitschrift »Form« (31, 1935, S. 104-126) zu finden. – Vgl. auch Kollektivhuset i Stockholm; Kollektivhus; S. Markelius, Kollektivhusens framtid; Ders., Kollektivhuset; B. Waagensen/J. Rubin, Kollektivhuset og dets forutsætninger.

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stische Vermieter und Unternehmer vergesellschaften. Nur das zumeist weibliche Dienstpersonal des Kollektivhauses dürfte nach Feierabend in traditionelle Wohnungen zurückkehrt sein, um dort – nun unbezahlt – erneut dieselbe Hausarbeit wie in der John Ericssonsgatan zu verrichten.122 Freilich sind die Planungen für das Kollektivhaus umstritten.123 Provinzzeitungen machen die Idee lächerlich, die Stockholmer Presse ist gespalten.124 Frauen würden zu Tausenden in die Erwerbstätigkeit getrieben, die sie nur nervös mache, Menschen würden zu Produktionsfaktoren reduziert, zu Robotern gemacht, die Kindererziehung serialisiert (Abb. 66). Ein unnatürliches, mechanisches Leben nach dem Fahrplan drohe. Mütter könnten die Sehnsucht nach ihren in Krippen verschwundenen Kindern verlieren, Männer ihren Platz als Väter, weil die Kinder ganz unter den Einfluß von Erzieherinnen gerieten. Der Nachwuchs werde Mutter und Staat als allmächtige Versorgungsinstitutionen ansehen, nicht mehr den Vater. Der Frau werde nur vermeintlich eine »Bürde« genommen, tatsächlich aber das Beste, was sie im Leben geben könne, nämlich ihre unablässige Sorge um das Kind. Die Kollektivhäuser sollten über dem Portal die Schrift tragen: »Das Paradies der faulen, selbstbezogenen und gleichgültigen Mütter«.125 Es »bereitet hysterischen oder exzentrischen, zweitklassigen Frauen [kvinnor av halvklass] eine Möglichkeit, sich ganz der mechanisierten Arbeit zu widmen und den Folgen des Liebeslebens zu entgehen«. Immerhin: Schon die Kinder gewöhnten sich an ein Leben in Zellen.126 122. S. Lamm/T. Steinfeld, Das Kollektivhaus, S. 68f., weisen darauf hin, daß das von keinem Verfechter des Kollektivhauses erwähnt wurde. 123. Das gilt nicht nur für Schweden: E. Meyer, Der neue Haushalt, und C. Frederick, Household Engineering, lehnen Kollektivhäuser als nicht funktionierend ab, C. Richter, Das Ökonomiat, und M. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, propagieren sie. 124. Kollektivhus – reservat för lyckliga smitare?, Sveriges Television, TV 2, 28.8.1980. – Vgl. aus der Fülle der Artikel: Svenska Dagbladet, 10.12., 13.12., 14.12.1932; Dagens Nyheter, 6.12., 10.12., 12.12., 14.12.1932; Nya Dagligt Allehanda, 15.12.1932; Stockholms-Tidningen, 6.12., 10.12.1932, 8.1., 12.1.1933; Idun, 15.12.1932; Social-Demokraten, 7.12.1932, 12.1., 16.1.1933; Helsingborgs Dagbladet, 26.4.1933; Öresundsposten, 26.4.1933; Ystads Allehanda, 27.4.1933; Arbetet, 24.4.1933; Gefle Posten, 7.12.1932; Smålands Folkblad, 8.12.1932; Tranås Posten, 9.12.1932; Ulricehamns Tidning, 13.12.1932; Laholms Tidning, 14.12.1932 (und weitere Artikel in den folgenden Anmerkungen). 125. Dagens Nyheter, 11.12.1932. Zwei Tage später übernimmt das eine Provinzzeitung: Ulricehamns Tidning, 13.12.1932. 126. Dagens Nyheter, 8.12.1932; ähnlich Barometern, 10.12.1932: Nummeriert leben die Kinder in der Krippe und verbringen ihre Nächte in hygienischen,

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Die Vorträge der Kollektivhaus-Verfechter werden allerdings ebenfalls getreulich referiert; Sven Markelius und Alva Myrdal kommen ausgiebig zu Wort. Außerdem wird über eine Reihe lebhafter Diskussionsveranstaltungen berichtet, auf denen die Kritiker es durchaus verstehen, Schwachpunkte ausfindig zu machen – etwa die Kostenfrage. Alva muß zugeben, daß Kollektivkinderkrippen nicht unbedingt Geld sparen. Ein anderes Mal dagegen genießen »Individualisten« bei den Teilnehmern einer solchen Veranstaltung wenig Sympathie.127 Im Frühjahr 1933 ebben die Berichte ab, dann kommt die Debatte um »Kris i befolkningsfrågan«, bevor das Kollektivhaus mit Einweihung des Hauses in der John Ericssonsgatan wieder auf der Tagesordnung steht. Und plötzlich – man nimmt in Schweden Neuerungen, die sich durchgesetzt haben, rasch hin – sehen die Medien das Haus eher positiv.128 Die Idee setzt sich jedoch nicht durch. Alva Myrdal und Elsa Brandström haben noch 1939 die »wilde Idee«, zusammen mit Walter Gropius ein Kollektivhaus zu bauen.129 Insgesamt werden bis in die 1980er Jahre nur 18 Projekte in Schweden (und 80 weltweit) verwirklicht.130 Die Serviceeinrichtungen sind rasch zu kostspielig, die storbarnkammare in der John Ericssonsgata wird unzureichend frequentiert,131 und 1943 findet Gallup heraus, daß trotz der intensiven Propaganda 80% der befragten Frauen es ablehnen, in einem Kollektivhaus zu wohnen. »Es muß m.a.W. andere Werte mehr irrationaler Art geben, Gemütswerte und Herzenswerte, die die Frauen zu bewahren wünschen, wenn sie die gegenwärtigen, recht beschwerlichen, aber gemütlichen Unbequemlichkeiten den bequemen, aber kollektiven Glaszellen. Gläserne Isolationsboxen waren tatsächlich Alvas Plan: Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 20 (ARAB 405/2.3:1). 127. Sydsvenska Dagbladet, 25.4.1933; Kristiansstads Läns Tidning, 28.4.1933. 128. Dagens Nyheter, 22.1., 26.1., 17.4., 18.5., 21.5.1935; Templar Kuriren, 26.1.1935; Uppsala Nya Tidning, 26.1.1935; Svenska Morgonbladet, 15.3.1935, 14.9.1937; Stockholms-Tidningen, 15.3.1935, 17.8.1938; Svenska Dagbladet, 15.3.1935; Aftonbladet, 16.3.1935; Tidevarvet, 13.4.1935; Göteborgs Handelsoch Sjöfartstidning, 1.6.1935; Karlstads-Tidningen, 7.6.1935; Östersunds-Posten, 8.6.1935; Arbetet, 20.6.1935; Folket i Bild, 9.7.1935; Östgöta Korrespondenten, 14.9.1935; Svenska Pressen, 21.3.1936; Arbetaren, 18.5.1936; Dagens Nyheder (Dänemark), 30.6.1936. 129. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 6.11.1939] (ARAB 405/3.3:25). 1946 meint sie etwas Ähnliches im Peckham Health Centre verwirklicht zu sehen: A. Myrdal, Hälsan är fritidsnöje i PECKHAM. 130. So D. U. Vestbro, Kollektivhus från enkökshus till bogemenskap, S. 229f. 131. Ebd., S. 92.

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kalt rationalistischen Hausmaschinen vorziehen. […] In einer kalt vernünftigen Welt, die mit derselben Präzision rationalisiert und erschlägt, repräsentiert ein warmes und unvernünftiges Frauenherz eine der wenigen verbleibenden Reserven wirklicher Menschlichkeit.«132 Im Grunde lebten die Menschen nie so, wie sie eigentlich sollten, denn die Kollektivhäuser, so listet ein wehmütiger Historiker noch 1982 kritisch auf, scheiterten angeblich an Unwissen und Vorurteilen, an den Verlockungen des Kleinfamilienlebens, am Arbeitsmarkt, welcher Hausfrauenideal, Individualismus und Konkurrenzdenken förderte, an der antikollektivistisch orientierten kapitalistischen Wirtschaftsordnung, an der Arbeiterbewegung, die ebenfalls auf die klassische Familienstruktur und das Eigenheim setzte, an der männlich dominierten Gesellschaft, an der Vorstellung, daß Muttern am besten koche, und an der Wohnbaupolitik, die Masse und Gewinnstreben begünstigte, nicht Experimente.133 Die Sehnsucht aber, gegen eine »kalte« Gesellschaft, die das Leben der Menschen isoliere und industrialisiere, in kleinen Gruppen eine Gemeinschaft zu schaffen und in einem Haus zu lokalisieren, bleibt noch lange virulent.134

6. Das neue Leben Alvas Idee eines Kollektivhauses hat Gunnar nie interessiert. Beide denken nicht einmal daran, in die John Ericssonsgata zu ziehen. Aber Gunnar engagiert sich in einer Debatte, welche Rolle Architekten in der Gesellschaft einnehmen sollen. Die Verfechter des Funktionalismus wollen nicht warten, bis sie gefragt werden, sondern aktiv eingreifen in die (bauliche) Gestaltung der Gesellschaft. Gunnar plädiert, wie schon 1932,135 für planwirtschaftliche Methoden, um den gewinnorientierten Bauherren das Wasser abzugraben.136 1933 marschiert er mit Uno Åhrén zum Sozialminister Gustav Möller, den aber läßt das Ansinnen, die Wohnungsverhältnisse in den Städten zu untersuchen, kalt. Also überreden sie Finanzminister Ernst Wigforss, die Studie zu finanzieren, weil ihm der Bereich »Wohnungssta132. Göteborgs Morgonpost, 23.12.1943. 133. D. U. Vestbro, Kollektivhus från enkökshus till bogemenskap, S. 248-

250. 134. Vgl. Bostadsstyrelsen, God Bostad 5; SOU 1954:3; Magasinet, Sveriges Television, TV 2, 12.11.1979 (in dieser Sendung kommt Alva Myrdal ausführlich zu Wort); Kollektivhus – reservat för lyckliga smitare?, Sveriges Television, TV 2, 28.8.1980. 135. G. Myrdal, Kosta sociala reformer pengar? 136. Stockholms-Tidningen, 24.1.1933; Social-Demokraten, 30.3.1933.

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tistik« untersteht. Gunnar und Åhrén konzentrieren sich auf Göteborg. 1933 erscheint die Studie als offi zielle Untersuchung, kurz darauf unter einem neuen Titel als Privatdruck,137 den beide zu Tausenden an Jugendund Frauenorganisationen sowie Studienzirkel im ganzen Lande versenden, um von unten Druck für radikale Reformen aufzubauen. Die Studie findet ein lebhaftes, teils positives, teils kritisches Medienecho,138 und nach dem Wirbel um »Kris i befolkningsfrågan« bestellt Möller beide im Herbst 1934 zu sich, um ihnen die Einsetzung ihrer Kommission zu verkünden, der »Bostadssociala utredningen«. Åhrén, Gunnar und eine Reihe ihrer Freunde übernehmen führende Rollen, um eine radikale Reform des Wohnungssektors zu skizzieren.139 Die Arbeit dieser Untersuchung spielt für unsere Fragestellung keine Rolle, ihre Ergebnisse habe ich bereits skizziert. Interessant sind aber drei Promemoria und ein Vortrag im Umfeld der Studie, die Gunnar (mit-) verfaßt hat. Sie verdeutlichen, wie sehr der Wohnbau in den Dienst des social engineering gestellt werden sollte, und wie tiefgehend die Eingriffe in das Leben einzelner Menschen ausfallen sollten. Grundsätzlich ging es darum, die schlimmste Wohnungsnot, also die slums in den Städten, zu beseitigen. Der Zustand einer Wohnung und die Moral der Menschen, so Gunnar und seine Kollegen, bedingen einander. Zu enge Wohnungen sind der Grund für »psychische Kränklichkeit [ohälsa], allgemeine Minderwertigkeit und asoziale Tendenzen«. Die Ehe gerät aus dem Lot, Inzestfälle nehmen zu – mit den Folgen: Angst vor Strafe, Schuldbewußtsein, psychischen Spannungen und Hemmungen teils schwerer Art –, ebenso Alkoholismus, Prostitution und desorganisierende Lebensweisen.140 Deshalb soll der Staat den sozialen Wohnungsbau finanziell unterstützen. Kommunen vergeben die Bauaufträge an Baugenossenschaften oder Unternehmen, die die Häuser auf eigenes Risiko bauen und dann an Verwaltungsgesellschaften übertragen. Diese kontrollieren die Finanzen der Mieter und entlassen diejenigen, deren Einkommen hinreichend gestiegen ist, auf den freien Wohnungsmarkt. Die Bedürftigen sollen erzogen werden, um die oft zu

137. SOU 1933:14; G. Myrdal/U. Åhrén, Bostadsfrågan såsom socialt planläggningsproblem. 138. Vgl. nur Social-Demokraten, 18.3.1933; Stockholms-Tidningen, 18.3.1933; Svenska Dagbladet, 18.3.1933; Svenska Morgonbladet, 18.3.1933; Tidevarvet, 25.3.1933, und zahlreiche weitere Artikel. 139. Diese Geschichte berichtet Gunnar 1968: G. Myrdal, Bostadssociala preludier. 140. Gunnar Myrdal, Bostadsfrågan såsom socialt planläggningsproblem [Vortrag in Kopenhagen], o.D. [1935?], Ms., Bl. 4f., Zitat Bl. 4 (ARAB 6.1:10).

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beobachtende Wechselwirkung zwischen schlechtem Wohnstandard und asozialer Lebensweise aufzubrechen.141 Zwei Gruppen stehen im Mittelpunkt dieser Überlegungen. Zuerst die Kinder. Ältere Menschen wohnen zwar auch in miserablen Wohnungen, scheinen daran aber nicht zu leiden. Kinder jedoch drücken das Einkommen und damit die Wohnungsgröße, obwohl sie eigentlich das Gegenteil erfordern: mehr Platz. Die Bauaufsicht (bostadsinspektionen) müsse deshalb weniger bautechnisch denn sozial ausgerichtet werden und beispielsweise Familien mit Kleinkindern registrieren und in kurzen Abständen kontrollieren. Die Verordnungen über die Belegdichte der Wohnungen (trångboddhetsbestämmelserna) sollten den Gesundheitsbehörden – die nur Körper kontrollieren – entzogen und ins Kinderschutzgesetz (barnavårdslagen) überführt werden. Sozialbehörden sind nämlich sozial und pädagogisch besser ausgebildet, sie nehmen ganze Familien in den Blick und können sie aus zu engen in angemessene Wohnungen umsetzen (omplacera); außerdem können sie Kontrollen effektiver durchführen.142 Die zweite Gruppe sind die asozialen Eltern. Gunnar rät davon ab, ihnen die Sozialhilfe bei mangelndem Fleiß und Ordnung (skötsamhet) zu verweigern, das treffe nur die Kinder. Besser sei eine notfalls harte, überwachende Erziehung in speziellen Erziehungshäusern. »Betreffend dieser [asozialen] Familien muß glattweg bestritten werden, daß ihre Lebensweise sozial weniger störend sein könnte, sofern sie verteilt wohnen. Im Gegenteil, solche Familien üben wegen der Macht des Beispiels eine größere soziale Gefahr aus. Betreffend der asozialen Familien ist es deshalb statt dessen sozial wünschenswert, daß sie, im Zusammenhang mit einer [auf] dem Subventionswege erreichten Erhöhung ihres Wohnstandards, tunlichst in gewissen Gebäuden konzentriert werden, in denen die öffentlichen Organe größere Befugnisse besitzen sollten, in verschiedener Hinsicht durch eine stark sozial betonte Hausverwalterschaft überwachende und erziehende Maßnahmen zu vollziehen, um rascher und effektiver ihre Lebensgewohnheiten zu ändern (bzw. in allen Fällen ihre soziale Schädlichkeit einzuschränken).« Als Vorbild nennt er Erziehungshäuser in Amsterdam.143 Zwar soll 141. Bertil Nyström u.a., P.M., angående vissa omedelbara åtgärder för förbättring av slumbostadsbeståndet i städer och stadsliknande samhällen m.m., 19.2.1934, Ms., Bl. 18-22 (ARAB 405/6.1:10). 142. Gunnar Myrdal, P.M. angående bostadssociala utredningens julbetänkande, 18.6.1934, Ms. (ARAB 405/6.1:10). Zum »sanften Paternalismus« und der Intensität der tatsächlich in erheblichem Ausmaße durchgeführten Wohnungsinspektionen vgl. J. Björkman, Rätten till det goda hemmet. 143. Gunnar Myrdal, P.M. 2 angående bostadssociala utredningens julbetänkande, 26.6.1934, Ms., Bl. 8-11, Zitat Bl. 13 (ARAB 405/6.1:10).

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man »Rücksicht auf seine schwachen Brüder (und Schwestern) nehmen«. Die Eingriffe haben dem Gemeinwohl zu dienen. Es geht nicht darum, Menschen zu terrorisieren oder zu gängeln, Ziel ist Befreiung. Selbst bei den Insassen der Erziehungshäuser soll der Wille geweckt werden, sozial aufzusteigen. Aber gegen »die vorherrschende liberale Ideologie«, daß jeder sein Geld ausgeben dürfe, wie es ihm beliebe, muß das Interesse der Kinder gestellt werden. Ihre psychische und physische Gesundheit leidet unter der »sozial fehlerhaften Konsumtionswahl« der Eltern, die in Vergnügungen und Kleider statt in die Wohnung investieren. Deshalb »soll die Familie gezwungen werden, [die] Konsumtionswahl zu ändern und in bessere und geräumigere Wohnungen zu ziehen«, das ändert auch ihre Lebensgewohnheiten. Die Gesellschaft soll sich »darauf einrichten, die Menschen schrittweise an praktisches Wohnen zu gewöhnen, sie zu einer von ihrem eigenen Gesichtspunkt aus richtigen Wohnungsnachfrage zu erziehen«.144 Diese radikale Haltung wird Gunnar nie aufgeben, allerdings wird die Sprache weniger brutal. In den frühen 30er Jahren ist auch in Schweden das Bewußtsein für Persönlichkeitsrechte – vor allem von Angehörigen der Unterschichten – schwach ausgeprägt, umgekehrt die Sorge vor dem zersetzenden Einfluß »asozialer« Menschen sehr groß. Beides ändert sich nach dem Kriege allmählich. Der Impetus, Menschen zu ihrem Besten erziehen zu müssen, bleibt erhalten, er verlagert sich bei Gunnar jedoch nach kurzer Zeit von der Frage des Wohnens auf globalere Zusammenhänge. Alva dagegen schreibt sich für mehrere Jahre ganz in den Kontext der schwedischen Umbaupläne ein. Auch nachdem das erste (und einzige) ihrer Kollektivhäuser gebaut worden ist, engagiert sie sich in der Wohnungsfrage. 1937 kritisiert sie den Wohnungsbau, der schematisch an der tatsächlichen Sozialstruktur der Bevölkerung vorbeibaut: »Die gefährlichste Illusion, der die Wohnungsproduktion folgt, ist die, daß das Volk aus Familien bestehen sollte. […] Die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ist indes alleinstehend.«145 Für die Alleinstehenden oder für berufstätige Frauen muß gebaut werden, und die Wohnungen müssen weniger kinderfeindlich ausfallen, stärker aus der Perspektive dieser kleinen Menschen geplant 144. Gunnar Myrdal, Bostadsfrågan såsom socialt planläggningsproblem

[Vortrag in Kopenhagen], o.D. [1935?], Ms., Zitate Bl. 6, 13 (ARAB 405/6.1:10). Vgl. auch Brita Åkerman: »Wie man die Menschen lehren muß, Tomaten zu essen und die Zahnbürste zu nutzen, so müssen sie auch trainiert werden zu wohnen.« (Dagens Nyheter, 20.10.1937) 145. Alva Myrdal, Konzept für ein P.M. angående diskussion om Yrkeskvinnornas bostadskrav (Föreslagsvis kallat Olika människor – olika bostadskrav), tisdagen den 19 okt. 1937, Ms. (AMA AM 1972-10/101 [alle Hervorh. im Orig.]).

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werden. 1942 ist sie Mitglied der »Gruppe Plan«, der neben Uno Åhrén erneut wichtige Protagonisten der sozialpolitischen Debatte angehören.146 Åhrén schlägt vor, daß die Gruppe sich der »Reorganisation bereits befindlicher größerer Orte [samhällen] zu community groups, genauer neighborhood units (man sieht, wie sehr wir hinterher sind – uns fehlen alle diese Begriffe)«, widmet.147 Alva hält im selben Jahr im Stockholmer Konzerthaus einen Vortrag, in dem sie die Situation etwas anders darstellt. Zwar preist auch sie das englische Vorbild. Auf der Insel habe der Bombenkrieg eine breite Volksbewegung hervorgerufen, selbst arme Bäuerinnen träfen sich in Studienzirkeln, um Le Corbusiers kühne Architektur zu diskutieren. Dann aber rückt sie – und das wird typisch für den Rest ihres Lebens – Schweden energisch in den Vordergrund. Das Land bedarf keines Bombenkrieges, um für die anstehende Renaissance des Städtebaus gerüstet zu sein, es hat schon gute Vorarbeit geleistet. Es soll auch nicht mehr, wie noch zehn Jahre zuvor, nur die eigenen Städte planen, sondern Vorbild werden. »Anregungen von schwedischer Seite könnten wichtig dafür sein, wie die kriegsverheerten Länder eines Tages bebaut werden, und wie die Familien in den entlegenen Ländern, die wir zurückgeblieben nennen, Heime bekommen, die ihnen zu einem höheren Gesundheitsstand und höherer Lebenskultur verhelfen.« Die Botschaft – angeblich »von Außen« an sie herangetragen – lautet: »Die Welt erwartet etwas von den schwedischen Architekten.« Das ist ein im Manuskript handschriftlich entschärfter Hochmut, denn in der ersten Fassung hieß es noch, die Welt warte auf sie.148 Dann schneidet sie eine Reihe bekannter Themen an: Schlechte Wohnungen deformieren das Leben der Familien; private Bauunternehmer sind nicht in der Lage, die breite Masse mit Wohnraum zu versorgen und den Umbau der Städte koordiniert zu planen (ge oss de effektivt samplanerade städer vi vill ha); Planung zentralisieren, Wohnen lernen; Wohnungen nach Familientypen differenzieren; »Wohngewohnheiten und Wohnform müssen einander angepaßt werden, um der individuellen Weise einer Familie zu funktionieren, gerecht zu werden.«149 Im Gegensatz zu früher wird die Gemeinschaftsrhetorik nun im englischen Denkmodell ausgedrückt. Alva möchte die Gesellschaft um »community centres« herum gliedern, das Bedürfnis der Menschen, aktiv zu sein, gegen das Maschinenzeitalter ver146. Mitgliederverzeichnis, o.D. [vermutlich Ende 1942], Ms. (ARAB 405/

4.1.4:1). 147. Uno Åhrén an Alva Myrdal, 31.10.1942 (ARAB 405/4.1.4:1). 148. Alle Zitate: Alva Myrdal, Morgondagens hem och städer, 12.11.1942, Ms., Bl. 2 (ARAB 405/2.3:8). 149. Ebd., Bl. 8.

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teidigen und Freizeit in Gemeinschaftseinrichtungen (gemensamhetsresurser) organisieren. Erst wenn man bewußt eine neue Nachbarschaftskultur (grannskapskultur) in den Städten entwickele, könne die Demokratie auch im alltäglichen Leben verwirklicht werden.150 Sie wechselt deshalb sprachlich die Seite. Nicht als Expertin, sondern als eine der zahllosen Konsumenten, die sich bislang zu wenig geäußert hätten, trägt sie im Konzerthaus vor. »Wir, die vielen, die zuäußerst Betroffenen, […] müssen gerade in dieser Zeit, in der die Experten höchst aktiv sind, um die Baupläne der Zukunft zu entwerfen, die Macht der öffentlichen Meinung [en folklig opinionsbildning] mobilisieren.«151 Um aber dieser öffentlichen Meinung Form und Einfluß zu verleihen, ist eine gewaltige Erweckungsbewegung vonnöten, die Formierung einer aufgeklärten Volksmeinung ( folkopinion) in einer großen, freiwilligen Bildungsbewegung ( folkbildningsrörelse). Und die Frauen müssen sich endlich Gehör verschaffen, ihre Kenntnisse werden in der Wohnbaupolitik bislang nicht genutzt. Sie müssen sich über Ausbildung für die Entscheidungspositionen in Politik und Verwaltung qualifizieren. Alvas »Dreieinigkeit« lautet an anderer Stelle: preiswert durch Standardisierung, gemütlich durch Differenzierung, Erleichterung durch Kollektivierung.152 In den 40er Jahren hat sich die Sprache gegenüber dem Jahrzehnt zuvor geändert. Von Zwangserziehung ist nicht mehr die Rede, dafür von Mitbestimmung. Doch das Credo ist dasselbe geblieben. Vollkommen offensichtlich sei es, so Alva, »daß die sog. freie Initiative Gleichrichtung und Zwang für die Konsumenten bedeutet, während Planung dagegen Variation und größere Freiheit für die Konsumenten bedeutet.«153 Und die »Gruppe Plan« diskutiert in den alten Denkmustern.154 Sie entwirft ideale Siedlungsstrukturen, will die Menschen untersuchen – ihre Bedürfnisse, aber auch ihre überkommenen, überraschend zählebigen Gewohnheiten –, die Produktionsstruktur reichsweit optimieren, sogar Unternehmer, die 150. Ebd., Bl. 5. 151. Ebd., Bl. 6 (Hervorh. von mir). 152. A. Myrdal, Att bebygga landet med goda hem och bostäder, S. 21. 153. Alva Myrdal, Morgondagens hem och städer, Vortrag Stockholm, 12.11.1942, Ms., Bl. 10 (ARAB 405/2.3:8). 154. Vgl. Referat av diskussion vid sammanträde [der »Gruppe Plan«] å Stockholms Högskolas Socialvetenskapliga institut den 17 december 1942, Ms. (ARAB 405/4.1.4:1); Sammanträde med gruppen för plandiskussion hölls torsdagen den 25 februari [wohl 1943], Ms. (ARAB 405/4.1.4:1). – Kleinere Differenzen in der Gruppe, etwa daß Axel Höjer Åhréns ideale Siedlungsgrößen für nicht sinnvoll hält oder Alva mehr auf Freiwilligkeit, Åhrén auf Kontrolle setzt, fallen nicht ins Gewicht.

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oft »eine eigentümlich große Rücksicht auf die Arbeiter und den Standort« nehmen und sich weigern, verlustbringende Werke zu schließen, durch Ratschlag, Ansiedlungs- und Expansionsverbote sowie Zwangsumzüge dirigieren (Letzteres sei freilich schwierig, wenn man an der Prämisse des freien Unternehmertums festhalte).155 Die gesellschaftliche Entwicklung ist als ein Prozeß zu begreifen, dem weder Bewohner noch Unternehmer mit Stillstand begegnen dürfen. Letztere müssen ihre Fabriken verschieben, um die Produktionsstruktur in Balance zu halten, Erstere ihre Behausung wechseln, wenn sich die Familiengröße ändert. »Eine Familie ist eine elastische Sache.«156 Wohnungen lassen sich typisieren, aber die Raumaufteilung beginnt erst in den 50er Jahren dynamisch zu werden. Bis dahin obliegt es den Menschen, sich geschmeidig in die optimale Struktur einzupassen. »Ett hem« versinnbildlicht das ästhetische und soziale Ideal des schwedischen folkhem. Man kann es außerdem als implizite Zielprojektion schwedischer Sozialingenieure begreifen. Die Verkitschung dieses Ideals verdeckt, daß das social engineering der 30er und 40er Jahre knallharte Technologien entwickelt hat, das Leben der Menschen so zu regulieren, daß sie sich selbst in Stand setzen, Larssons Idyll auch in den Städten und in winzigen Wohnungen zu realisieren. Das allerdings unterscheidet das schwedische von der eliminatorischen Radikalisierung des social engineering in Deutschland. Den Schweden stand eine höchst konkrete, die gesamte Nation prägende Utopie vor Augen, die, wie Larsson und unzählige Kunsthandwerkskurse zeigen, alles andere als ein »Nicht-Ort« war, sondern realisierbar erschien. Der Weg dorthin war mühsam. Aber am Ende all der rabiaten Eingriffe stand eben nicht das Konzentrationslager, sondern es sollte entstehen: ein Heim.

155. Sammanträde med gruppen för plandiskussion hölls torsdagen den 25 februari [wohl 1943], Ms., Bl. 4 (ARAB 405/4.1.4:1). 156. A. Myrdal, Sätt bo tre gånger!, S. 19 (Hervorh. im Orig.).

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1. Die Kollektivkinderkr ippe »Wir müssen die Kinder stärker von uns selbst befreien.« 1 Alvas großes Thema werden die Kinder. In den USA ist sie mit den wichtigsten Pädagogen ihrer Zeit in Kontakt gekommen, sie ist mittlerweile dreifache Mutter, in »Kris i befolkningsfrågan« hat sie ihre Vorstellungen skizziert, wie Kinder in die Gesellschaft einzupassen sind, zusammen mit dem Architekten Sven Markelius hat sie versucht, diese Ideen architektonisch umzusetzen. Alva ist also fachlich für dieses Thema prädestiniert – und für die Öffentlichkeit, als Frau aus »natürlichen« Gründen. Deshalb ist Erziehung das Thema, mit dem sie in der Öffentlichkeit und beruflich reüssieren kann. Nach wie vor hat sie ja weder einen »richtigen« Beruf erlernt noch eine feste Stelle bekommen. Sie ist bekannt, steht Mitte der 1930er Jahre aber nicht einmal am Beginn einer »Karriere«, d.h. eines institutionalisierten beruflichen Aufstiegs, so wie er sich schon längst für Gunnar abzeichnet. Sie nutzt deshalb, so wie die Haushaltsexpertinnen die Küche instrumentalisieren, die Erziehungsfrage als einen Professionalisierungsweg, der parallel zu den etablierten Karrieremustern verläuft. Und darin ist sie letztlich höchst erfolgreich. Denn Kinder stehen schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Zentrum der schwedischen Gesellschaftspolitik. Nicht zu Unrecht ist Schweden, neben den anderen skandinavischen Ländern, eine »child-centered society« genannt worden, weil Sozialpolitik erheblich stärker als in Zentraleuropa auf die Ausbildung und Förderung des Nachwuchses ausgerichtet ist.2 Für diese Politik sind Kinder allerdings kein Selbstzweck. Sie werden als Wechsel auf die Zukunft gehandelt, als 1. A. Myrdal/G. Myrdal, Kris i befolkningsfrågan [Aufl . 1934], S. 301. 2. G. Esping-Andersen, A Child-Centered Social Investment Strategy. Esping-Andersen sieht die gezielte Investition in Kinder in jungen Jahren als Voraussetzung für spätere soziale Inklusion (ebd., S. 30).

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Investition. Es wird deshalb nicht nur in Kinder investiert, sondern ein feinmaschiges Netz kontrollierender Institutionen wird um sie und ihre Familien herum gesponnen – weitgehende, paternalistische Erziehungsversuche schon lange vor Regierungsantritt der Sozialdemokraten, um die Investitionen zu sichern.3 Die funktionalistische Avantgarde knüpft nahtlos daran an. Und deshalb ist Alva die Aufmerksamkeit sicher, als sich 1935 und 1936 mit zwei schmalen Büchern am Schnittpunkt von Avantgarde und Politik ansiedelt, mit »Stadsbarn. En bok om deras fostran i storbarnkammare« (»Stadtkinder. Ein Buch über ihre Erziehung in der Kollektivkinderkrippe«) und »Riktiga leksaker« (»Richtiges Spielzeug«). Das sind auf den ersten Blick Bücher, die nur Pädagogen zu interessieren scheinen. Aber sie enthalten ein revolutionäres Erziehungsprogramm und ein radikales Menschenbild. 4 Alva beginnt, wie üblich, mit einer Situationsanalyse. Kleinkinder passen nicht in die moderne Industriegesellschaft und deren Städte. Sie sind für die Familien zum ökonomischen Problem geworden, belasten die Ehen mit Konflikten, bringen die Mütter um ihr Recht auf Erwerbstätigkeit und verhindern dadurch deren Einpassung in die moderne Industriegesellschaft. Aber die Erwachsenen sind auch zum Problem der Kinder geworden. Sie folgen völlig veralteten Erziehungsmethoden und verhindern dadurch die Einpassung der Kinder in die moderne Industriegesellschaft. Ein doppeltes Einpassungsproblem also. Das Leben der Kinder und der Erwachsenen ist in Konflikt geraten. Die Eltern reagieren mit Kinderverzicht, die Zahl der »sterilen und halbsterilen Familien wächst«.5 Wie reintegriert man den Nachwuchs? Zuerst müßten die Städte umgebaut werden (da3. Vgl. die kritische Analyse von K. Ohrlander, De värdefulla Svenska Barnen. Yvonne Hirdman stieß 1988 noch auf heftigen Widerstand, als sie Sozialpolitik als Kontrollsystem interpretierte; mittlerweile untersuchen eine Reihe von Studien diesen Aspekt am Beispiel der Kinder, etwa Å. Bergenheim, Barnet, libido och samhället; H. Bergman, Att fostra till föräldraskap; E. L. Bjurman, Barnen på gatan; E. Gullberg, Det välnärda barnet; A.-K. Hatje, Från treklang till triangeldrama; L. Holme, Konsten att göra barn raka; U. Jönson, Bråkiga, lösaktiga och nagelbitande barn; A.-L. Lindgren, Att ha barn med är en god sak; A.-C. Münger, Stadens barn på landet; L. Näslund, Uppdrag barn; K. Ohrlander, I barnens och nationens intresse; M. Sundkvist, De vanartade barnen; G. Weiner, De räddade barnen. Zum Vergleich: M. Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. 4. Die Vorarbeit hat sie 1932 in einem umfangreichen Manuskript mit dem Titel »Die Kinder im Kollektivhaus« geleistet: Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms. (ARAB 405/2.3:1). 5. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 10.

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VII Das Projekt Kind

rauf geht Alva jedoch nicht weiter ein). Als zweites sind die Wohnungen kinderfreundlicher zu gestalten, weil enge, undifferenzierte Behausungen unaufhörlich Spannungen und Hemmungen, moralische Infektionen und sozialen Verschleiß unter ihren Bewohnern produzieren.6 Als Drittes die Vorschuleinrichtungen: Die barnkrubba (»Kinderkrippe«) hat einen düsteren Ruf als »Parkplatz« für Kinder der Unterschichten. Der Kindergarten (kindergarten) betreut nur wenige Jahre und hat den Ruf einer Luxuseinrichtung. Was fehlt ist eine koordinierte Gemeinschaftsbetreuung, die den Nachkommen eine pädagogisch fundierte Erziehung und eine sozial bessere Pflege zukommen läßt. Die Klientel einer solchen Institution wären Kinder aus engen Wohnungen (trångbodda barn), Kinder berufstätiger Mütter und von Hausfrauen (die zeitweise Trennung fördere Zuneigung und Nervenstärke auf beiden Seiten), Einzelkinder (die Kameradschaft lernen sollen), Problemkinder (bei denen erbliche und Umweltschäden durch eine »rekonstruktive« Erziehung ausgeglichen werden sollen) sowie die Kinder reicher Eltern. Die unterschiedlichen Betreuungseinrichtungen müssen koordiniert und Mütter erzogen werden, ihre Kinder in die storbarnkammare zu geben. Alva will »in Gemeinschaft unser Leben auf eine gerechtere, vernünftigere und lebensbeförderndere Weise organisieren«.7 Es gilt nicht mehr die Maxime, daß die Mutter am besten weiß, was gut für ihr Kind sei. Das kostet jährlich Tausende von Säuglingen das Leben,8 und Mängel in der psychischen und moralischen Pflege können zu Unzufriedenheit, psychischem Unwohlsein, schlechten Gewohnheiten, mangelnder Anpassung, Ineffektivität, Ressentiments und Kriminalität führen. Das klingt freudlos. Alva will aber das genaue Gegenteil. Der Ausspruch eines puritanischen Pfarrers aus dem England des 18. Jahrhunderts – »Your child is never too little to go to hell« – markiert für sie ein Leben in ständiger Angst vor Hölle und Sünde, das sie den Kleinen ersparen will.9 Sie betont deren Recht auf Glück. Und deshalb sind die Kollektivkinderkrippen zuerst einmal ganz an den Kindern orientiert. Detailliert beschreibt sie Räumlichkeiten und Spielzeug. Die Möbel sind der geringen Körpergröße angepaßt, Waschbecken, Handtuchhalter usw. niedrig angebracht, so daß die Kinder sich früh selbst die Hände waschen können. In der Krippe gibt 6. Vgl. die äußerst detaillierten Überlegungen, in denen der Raum bis zur

abschließbaren Schublade – um Jugendlichen die in der Pubertät wichtige Heimlichtuerei zu ermöglichen – durchgeplant wird: Bostaden och barnavården. Preliminär P.M. av Märta de Laval och Alva Myrdal, 1940, Ms. (ARAB 405/2.3:8). 7. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 47. 8. Diese Bemerkung findet sich in Alvas unveröffentlichten Aufzeichnungen, zit. nach G. Halldén, Alva Myrdals föräldracirkel 1931, S. 168. 9. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 53.

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es einen Sandkasten, damit sie auch bei schlechtem Wetter im Sand spielen können. Lärmendes Spiel, in den Wohnungen unerwünscht, ist in der Krippe willkommen. Wollen die Kinder Wände bemalen, so wird eine dafür präpariert. Draußen gibt es Rutschbahn, Klettergestell, Bälle, rollendes Spielzeug und den Sandkasten, am besten auch einen Garten und lebende Tiere; im Haus große Kästen, Holzspielzeug, Tafeln, Bauklötze, Montessorimaterial, Puzzle, Holztiere sowie Handwerksbänke, ein reichhaltiges, anregendes Material.10 Dazu kommen alte Haushaltsgegenstände, Papier, Schnüre, weggeworfene Dinge, alles, was die Phantasie der Kinder anregt. Mädchen und Jungen sollen dasselbe Spielzeug nutzen: »Gibt es einen ›natürlichen Unterschied‹ zwischen den Geschlechtern, so zeigt der sich von selbst, muß aber nicht herbeisuggeriert werden. Die Mädchen verpassen viel, wenn sie nicht mit Autos oder Handwerkszeug spielen dürfen; die Jungen brauchen und mögen Haushaltsspiele.« 11 Spielzeug ist kein Luxus, sondern von größter Bedeutung für die Entwicklung der Kinder. Das Spiel muß vollkommen frei sein, es darf nicht korrigiert oder vorgegeben werden – außer, die Kinder wünschen das –, spontane Aktivität darf nicht durch Regeln eingeschränkt werden.12 Sie haben ein Anrecht auf eine Spielecke in der Wohnung, sie müssen das Spielzeug ihr Eigen nennen dürfen, und ihr Spiel darf nicht respektlos unterbrochen werden (Abb. 30, 35, 36). Spaß, kein Zwang, dann folgt automatisch der Nutzen: »Das, was gelernt werden soll, wird am Besten durch Lustbetonung gelernt.«13 Spielzeug kompensiert nämlich, so Alva, den Mangel an praktischen Erfahrungen, die die Kinder im Alltag der vormodernen Großfamilien noch machen konnten. Deshalb wird ihnen nun Spielzeug vorgesetzt, daß sie zum Experimentieren verleitet. Sie arbeiten sich von Erfolg zu Erfolg voran und lernen dabei Handgriffe, Wahrnehmungs- und Kombinationsvermögen, Materialkenntnisse, Farb- und Formempfinden, aber auch Ordnung und feste Gewohnheiten. Das spielerische Lernen ist also nicht gesellschaftspolitisch unschuldig. Es ist, wie Alva schreibt, die Arbeit der Kinder.14 Sie sieht die Kleinen in erster Linie als zukünftige Erwachsene, und in der Tat ist das gesamte Erziehungsprogramm auf diese Rolle ausgerichtet (Abb. 32). Erneut gerät der Liberalismus ins Visier. Der »Ultraindividualismus« von »Freiheitsenthusiasten«, so Alva, produziert kleine, asoziale Despo10. Vgl. auch Alvas aufwendige Skizzen und Berechnungen für die Ausstattung von Spielplätzen und Krippen: Alva Myrdal, Olika former för lekplatser, o.D., Ms. (ARAB 405/2.3:1). 11. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 123. 12. Vgl. auch A. Myrdal, Riktiga leksaker. 13. Ebd., S. 9. 14. Ebd., S. 6.

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ten, keine Mitbürger.15 Zwang, die totalitäre Kehrseite des Liberalismus, schaff t dagegen die zukünftigen Opfer von Despoten. Die Erziehung in der Familie wiederum ist durch emotionale Faktoren kontaminiert, durch persönliche Beziehungen, die Eltern wie Kinder verletzbar machen. In der Kollektivkinderkrippe jedoch findet die »demokratische« Erziehung statt: weder Zwang noch enthemmte Freiheit, sondern »Ordnung« durch den unpersönlichen Charakter allgemeiner Regeln. Erziehung soll die »Menschen dazu bringen, das Benehmen, das wir als sozial wünschenswert ansehen (›Die Moral‹), anzuerkennen und zugleich die eigenen Kräfte zu besseren Leistungen [prestationsduglighet] und größerem Glück zu entwickeln. […] Die Kunst ist es, das Kind zu veranlassen, die allgemeinen Regeln für unser Handeln, die ohnehin notwendig sind, ohne verzehrende Konflikte von innen heraus anzunehmen.«16 An anderer Stelle formuliert sie, daß die Kinder sich »geschmeidig und ohne pochenden Egoismus, aber doch mit Selbstvertrauen in das Arbeits- und Gesellschaftsleben einfügen« sollen, um ein »psychisch gesünderes und stärkeres Geschlecht als früher« bilden zu können.17 Das gelingt eher durch positive Erziehung, durch Aufmunterung statt Strafe. Das Schädliche an der Strafe sei das Persönliche. Sie entspringe willkürlicher Entscheidungen und schaffe Ressentiment zwischen Erziehern und Kindern. Sinnvoller scheint es Alva, von unerwünschten Tätigkeiten (Masturbation, Daumenlutschen, Nagelknabbern) abzulenken und erwünschte Gewohnheiten zu verankern. Sie sind der beste Schutz vor Konflikten. Sie lassen den kleinen Machtdemonstrationen von Kindern keinen Raum. Die Kinder lernen, ihren Hunger zu bezwingen, bis Essenszeit ist, und dann zu essen, weil »das Essen ohne Kommentar eine halbe Stunde lang auf dem Tisch steht, und weil als selbstverständlich erwartet wird, daß alle essen.«18 Solche Sachlichkeit gewinnt, dieser sozialen Macht fügen sich selbst Problemkinder. Muß gestraft werden, dann durch Isolierung – aber das Kind darf Spielzeug mitnehmen 19 – oder durch »soziale Mißbilligung«. »Wenn es [das Kind] nicht den Regeln des Spiels folgt, darf es nicht mitspielen. Das ist das Grundthema unseres gesamten sozialen Lebens, das das Kind dort lernt.«20 Notwendige Verbote können als Regeln kaschiert werden. Diese Regeln können sich die Kinder in Form einer »Selbstver15. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 85. 16. Ebd., S. 87. 17. SOU 1938:20, S. 67. 18. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 90f. 19. Da zeigt sich ein weiterer Nachteil beengter Wohnungen: Sie machen diese Form der Strafe unmöglich (SOU 1938:20, S. 14). 20. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 94.

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waltung« (självstyrelse) als Gebote selbst auferlegen. So wächst dann ein »ganzes System sozialer Tabus heran, dem sich die Kinder als einer selbstverständlichen Sache unterwerfen.«21 Plötzlich erscheinen sie als natürlich wirkende Verkehrsregeln. Welches Kind sollte gegen Regeln opponieren, die es selbst beschlossen hat? »Die soziale Erziehung, der die Kameraden einander aussetzen, ist die wirksamste aller [Erziehungsmethoden].«22 Kanten werden abgeschliffen, ohne daß Individualität zerstört wird, Emotionen kontrolliert, ohne daß Angst- oder Wutgefühle ins Unterbewußte verdrängt werden. Diese Form von Kollektivismus preßt die Kinder gerade nicht gewaltsam in dieselbe Form. Im Gegenteil: Sie gelangen durch Ordnung zur Freiheit (Abb. 31). »Dieselbe freudige Anregung zu Tätigkeit [verksamhetsutlösning], dieselbe Offenheit und Ehrlichkeit, dieselbe Regelmäßigkeit, dieselbe liebenswerte Ansprache, dieselben festen Forderungen und dieselbe Erziehung in ermunternden statt tadelnden Worten, und schließlich: dieselbe absolute Zurückweisung der Erziehung, die durch das Einjagen von Furcht erfolgreich war, dieselbe Ruhe und dasselbe Verständnis sollen die beiden Erziehungswelten [zu Hause und in der Krippe] prägen.«23 Drei Jahre zuvor hatte sie in einem Manuskript wesentlich drastischer geschrieben: »Es kann nicht genug unterstrichen werden, daß griesgrämige, bösartige, trotzige, grausame und auf andere Weise ›unmögliche‹ Kinder krank sind, und daß ihre Krankheit sehr oft ihre Wurzeln in einer ungeeigneten Behandlung hat.« Um »ihre Gewohnheiten [behavior] umzugestalten«, gilt es, »allmählich gewisse Gewohnheiten niederzubrechen und langsam mit anderen, sozial geeigneteren zu ersetzen«. Das ist »eine Art pädagogischer Rekonstruktion«, die ein ergiebiges »Recycling [återvinningar] sozial angepaßter Individuen« bringen kann.24 Kinder sind als Kapital der Zukunft genau unter Kontrolle zu halten. Die storbarnkammare im Kollektivhaus ist mit einer einseitig verspiegelten Scheibe versehen worden, um die in der Krippe spielenden Kinder durch Experten beobachten lassen zu können.25 Auch in den übrigen Kollektivkinderkrippen soll das Personal jeweils mit einem Arzt zusammenarbeiten. Die Ergebnisse täglicher Gesundheitsprüfungen werden auf einer Stammkarte (hälsokort) verzeichnet, auch Entwicklungs- und Gemütsstörungen, eventuelle Erziehungsmaßnahmen, die Ergebnisse der vorgenommenen Intelligenz- und Reifetests. In einem Journal sind psychoanalytische oder 21. Ebd., S. 95. 22. Ebd., S. 96 (Hervorh. im Orig.). 23. Ebd., S. 79. 24. Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 25 (ARAB 405/2.3:1). – Der Begriff »Recycling« ist eine von mir zugespitzte Übersetzung. 25. S. Lamm/T. Steinfeld, Das Kollektivhaus, S. 59-62.

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behavioristische Protokolle, exakt quantifizierende Beobachtungen oder subjektive Beurteilungen, detaillierte Stichprobenprotokolle oder zusammenfassende Aufzeichnungen vom Ende eines jeden Tages festgehalten. Diät, eventuelle Zornesausbrüche, Beschäftigung und soziale Kontakte sollen besondere Beachtung finden, ob das Kind neugierig ist, passiv oder führend, ob es mit vielen oder wenigen, mit verschiedenen oder immer denselben Kameraden spielt. Einmal jährlich wird ein zusammenfassender Bericht nach Hause gesendet, in dem Entwicklungsstand, Reifegrad und Charaktertyp festgestellt werden. Eltern (faktisch: Mütter) sollen ebenfalls in die Krippe kommen, beobachten und protokollieren. Vom Arzt fließt ein stetiger Strom an Informationen über Gesundheit, Gewicht und eventuelle Eß- bzw. Schlafstörungen an die Eltern, von denen man im Gegenzug ähnliche Informationen erwartet. Speisezettel werden nach Hause gesandt, um Überschneidungen mit der Krippenkost zu vermeiden, Ratschläge gleich beigelegt. Dazu kommen Hausbesuche und monatliche Konferenzen mit Elterngruppen, und so wird eine völlig konfliktfreie Zusammenarbeit zwischen den an der Erziehung des Kindes interessierten Seiten gesichert. Jede Form von Abweichung kann erfaßt und sofort korrigiert werden. (Ein Jahrzehnt später fordert Alva immerhin großen Takt bei der Beobachtung der Kleinen. Der Notizblock sollte nicht zu sichtbar sein, das Leben nicht die Atmosphäre eines Laboratoriums bekommen. Es empfiehlt sich die verspiegelte Scheibe.26)

2. Demokratisches Menschenmater ial So sieht der Plan aus. Dagens Nyheter verulkt diese Beobachtungsmanie (Abb. 34 und Appendix 2).27 Alva nutzt aber jede Gelegenheit, um in Aufsätzen, Artikeln und der Bevölkerungskommission – selbst wenn sie in den von ihr verantworteten Berichten starke Kompromisse schließen muß28 – ihre Vorstellungen einer vernünftigen Erziehung zu propagieren.29 Es ist eine merkwürdige Verbindung aus technokratischem Optimismus, Effi26. A. Myrdal, Mer människokunskap i utbildningen, S. 118. 27. Dagens Nyheter, 30.9.1937. 28. Vgl. beispielsweise SOU 1938:20, wo sie Zugeständnisse an die Gegner der storbarnkammare machen muß. 29. Vgl. u.a. A. Myrdal, Demokrati också i morgon; Dies., Education for Democracy in Sweden; Dies., Förskolålderns socialpedagogiska problem; Dies., Fostran till frihet, kritik och kulturkamp; Dies., Gymnasieskolan som livsform för ungdomen; Dies., Konstbegåvade barn och andra; Dies., Livet segrar över skolan!; Dies., The Role of the Teacher for Economic Development; Dies., Vem

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zienzdenken, unzweifelhaft demokratisch-emanzipatorischer Gesinnung, einer Pädagogik, die das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt stellt, und – Mißtrauen. 1932, als sie das Kollektivhaus plante, waren ihre Überlegungen noch besonders radikal. Damals nämlich sollte die Krippe eine abgeschlossene Welt sein, eine Art permanenter gesundheitlicher und sozialer Quarantäne. Wie die Bakterien wollte sie die Eltern fernhalten, indem der (von ihr vorgeschlagene) Tagesablauf kaum noch Zeit für den Kontakt mit den Kindern vorsah (Appendix 3).30 Und diese Kinder sollten dann erzogen werden, sich endgültig von den Eltern zu lösen.31 Ideal scheinen es in diesem Sinne die englischen Kriegswaisen getroffen zu haben. Vielleicht, so Alva, würden sie den Krieg dereinst lobpreisen, weil sie in staatlicher Obhut besser aufgewachsen seien als bei ihren Eltern.32 Für diese Überlegung gibt es nur eine einzige Belegstelle, aber sie zeigt die äußerste Konsequenz ihres Denkens auf. Über Jahrzehnte hinweg meint sie, die Kinder schützen zu müssen: vor der modernen Wettbewerbsgesellschaft, vor Konkurrenzdruck und Reizüberflutung, vor den Eltern und vor Bakterien. Begeistert stellt sie fest, wie schnell kleine Kinder lernen – aber die Massenmedien ersticken ihren Eifer durch unsortierte Informationen, was verheerend für ihre Entwicklung ist. Kinder und Jugendliche sollen neugierig auf die Welt sein, 1981 noch traut Alva ihnen freilich nicht zu, ihre Neugier auf die richtigen Dinge zu konzentrieren.33 Deshalb, so hat sie 1972 einem deutschen Publikum mitgeteilt, muß das Spielen »systematisch durch neue Maßnahmen neu gestaltet« und der Gesellschaft durch die Pädagogen diktiert werden.34 Vom Märchen bis zum Kinderprogramm im Fernsehen »wird viel Nachdruck auf Erfolg und Versagen gelegt«; König und Prinzessin zu spielen übt den Willen zum sozialen Aufstieg ein, als Indianer und Cowboys lassen die Kinder »völkische und sogar radikale, rassistische Feindschaften aufleben«.35 Dabei ist es ja gerade die »sehr große Aufgabe […], die vererbten Trahar råd att bli intellektuell?; A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, bes. S. 90-121. 30. Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 32f. (ARAB 405/2.3:1). 31. A. Myrdal, Fostran till frihet, kritik och kulturkamp, S. 67. 32. A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien, S. 87. 33. Fackläraren, 6.4.1981. 34. A. Myrdal, Möglichkeiten und Gefahren für das Spielen unserer Kinder in der heutigen Leistungsgesellschaft, S. 11; ähnlich bereits 1943: Dies., Ny fostran – ny värld, S. 301f. 35. A. Myrdal, Möglichkeiten und Gefahren für das Spielen unserer Kinder in der heutigen Leistungsgesellschaft, S. 12. Ähnlich 1939: Dies., Förord (Kin-

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ditionen zu reformieren, weil sie einem modernen Leben einfach konträr und außerdem schädlich sind, indem sie Minderwertigkeitsgefühle und Erlebnisse von Demütigung hervorrufen, und das bei der Hälfte aller Kinder, nämlich den Mädchen.«36 Kontrolle ist notwendig. Effektiver erscheint ihr jedoch die Hochrüstung der Kinder mit Kenntnissen: Psychologische Allgemeinbildung als »›psychologischer Minimalbereitschaft‹«,37 Buchführung ihres Verbrauchs an Schulmaterial etc., Wohnungskunde, Ernährungswissenschaft, Kleiderkunde, Haushaltstechnik, Kindererziehung, Familienkunde (die Familie als natürliche Grundlage aller Gesellschaften – aber nicht naturnotwendig als patriarchalische Familie), ja geradezu ein Überlebenstraining am Campingkocher, damit das Kind sich alleine zu behaupten lernt.38 Je besser ein Mensch die eigene Psyche durchschaut, desto besser kann er andere verstehen, ohne zu urteilen; je mehr er weiß, desto unabhängiger ist er. Durch Verständnis und Unabhängigkeit werden Konflikte vermieden und findet Kooperation auf einer versachlichten Basis statt. In einem Brief an die Geschwister Moberg bringt Alva ihr Bildungsideal 1939 auf den Punkt: »Auf eine Sache sollte man übrigens sein Augenmerk richten, daß nämlich die Neigung, ›große Führer‹ [stora ledare] in sterblichen Männern zu sehen, fast ausschließlich deutsch ist. Sie haben einige ihrer Dichter, Komponisten, Industrielle, Parteivorsitzende zu Führern [Führer] gemacht – haben sie aus dem Rahmen menschlicher Zusammenhänge genommen. […] In der französischen und anglo-sächsischen Kultur – und der schwedischen, wage ich zu sagen – ist man demokratischer, mehr darauf ausgerichtet, das Produkt als die Person zu schätzen. Man neigt mehr dazu, ein Werk [en verksamhet] durch den Einsatz mehrerer Generation wachsen zu lassen, statt von Beginn an ängstlich zu bestimmen, welche Person als ›größte‹ betrachtet werden soll. Das Wachstum ist stärker, wenn man mehr an die Zukunft als an die Vorzeit denkt.«39 In diesem Sinne skizziert sie 1948 erneut – nun für eine staatliche Untersuchung zur Reform der Schule – den idealen Staatsbürger, den die ideale Schule erzieht, indem sie die Klassen als Kameradenkreise und Arderbücher müssen sich endlich an den Interessen der Kinder orientieren und die Kinder an die Realität heranführen, statt die sentimentale Moral konventioneller Märchen zu konservieren). 36. A. Myrdal, Möglichkeiten und Gefahren für das Spielen unserer Kinder in der heutigen Leistungsgesellschaft, S. 12. 37. A. Myrdal, Familjen, fostran och den nya tiden, S. 15. 38. Ebd., bes. S. 14-32. 39. Alva an Ellen und Maria Moberg, 25.2.1939 (ARAB 405/3.1.2:2 [Hervorh. im Orig.]).

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beitsgemeinschaften organisiert. Die Schüler werden freie Persönlichkeiten, die gleichwohl ihre Kameraden respektieren, einander helfen, ihre individuellen Talente zur Verfügung stellen, sich in die Gemeinschaft einfügen und für die gemeinsame Sache opfern. Sie lernen Sitzungen zu leiten, Protokolle, Berichte und Referate zu schreiben und sich mit Diskussionsbeiträgen zu Wort zu melden. Die Diskussionen zwingen sie, ihre Behauptungen zu begründen, ihre Standpunkte zu modifizieren, Kompromisse zu schließen, sich Mehrheitsbeschlüssen loyal zu fügen – und trotzdem für die eigene Meinung zu kämpfen, bis ein Beschluß sich eventuell ändern läßt. Schon in der Schule, so Alva, wachsen sie in jene besondere politische Struktur hinein, die föreningssverige (»Vereinsschweden«) genannt wird, das Schweden der Studienzirkel, Vereinssatzungen, Mehrheitsbeschlüsse und der Selbstorganisation der Bürger auf allen gesellschaftspolitischen Ebenen. So entsteht durch die Macht des Beispiels eine soziale und politische Grundeinstellung, die die Schüler aus der Schule nach Hause, in den Freundeskreis, das Vereinsleben und den Beruf mitnehmen sollen. Gewissenhaftigkeit, Ordnung, Pünktlichkeit und Verantwortungsbewußtsein; die Fähigkeit, sich effektiv in Post, Eisenbahn, Zoll und Banken zurechtzufinden, in die Krankenkasse einzutreten, die Haushaltskasse zu führen und Hilfe bei juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen zu suchen; Liebe zu Volk, Nation, Freiheit und Frieden; Sinn dafür, wie die Schönheit von Natur und Kunst das Leben der Einzelnen bereichern; Verständnis für andere Völker und Rassen, Sitten und Ansichten; Respekt vor dem Wert der Menschen sowie internationale Gesinnung; und schließlich ein praktischer Sinn, der sie zur Wahl des richtigen Berufs leitet – all das sollen die Schüler als innere Gesinnung annehmen. 40 Alva will nichts weniger als ein »Umerziehungsprogramm«, eine neue Charaktererziehung schaffen: »Sollten wir ehrlich eine neue Welt schaffen wollen – und nicht einfach darüber reden –, müssen wir uns demütig niedersetzen und die Behandlung des Menschenmaterials, das die nächste Generation bilden soll, selbst reformieren.« 41 Jede noch so kleine Alltagssituation muß neu gedacht werden (und so macht sie selbst sich im Ausland auf die Suche nach übersetzbaren Kinderbüchern 42). Schon der Mangel an zärtli40. SOU 1948:27, bes. S. 34-37. Ähnlich: A. Myrdal, Gymnasieskolan som

livsform för ungdomen; vgl. auch S. R. Herman, Alva Myrdal’s Campaign for the Swedish Comprehensive School. 41. A. Myrdal, Ny fostran – ny värld, S. 295f. (Hervorh. im Orig.). 42. Alva an Herman Stolpe/KF, 25.9.1948; Åke Löfgren/KF an Alva, 27.9.1948; Alva an Åke Löfgren, 30.9.1948, mit Vorschlägen aus Frankreich und der Schweiz. Beide Seiten sind sich einig, daß süßlicher Kitsch à la Disney vermieden werden sollte (ARAB 405/3.1.2:3).

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cher Fürsorge im Säuglingsalter reduziert vollkommen unnötig das soziale Potential eines Menschen. Die Ethnologen haben gezeigt, wie ein kooperatives Volk seine Kinder erzieht, und wie eine mißmutige Konkurrenzgesellschaft sich perpetuiert. Die Erziehungsmethoden lassen sich präzise wählen. »Wir können unsere Lehrmeister wählen, wir können studieren, wie Liebenswürdigkeit im pädagogischen System uns eine recht reibungsfreie, kooperative Gesellschaft [samarbetssamhälle] geben kann, wir können sogar exakt lernen, wie man Kinder erzieht, wenn man sie zu Kannibalen machen will (das kannibalische Mundugumorvolk ist erforscht).« 43 Die liebevolle Erziehung entspricht einer demokratischen Gesellschaft, Aggressivität und Strenge dagegen sind die Methoden von Kirche und Nationalsozialismus. Wie man wählt, ist eine politische Entscheidung. Sie hängt davon ab, welchen Gesellschafts- und Menschentyp man wünscht. Die Wahl der »Investition« in die Kinder ist der Modus, in dem Alva den Unterschied politischer und moralischer Systeme denkt. 44 Nur eines zu lernen ist offenbar so vollkommen unnötig, daß es in keinem Text wenigstens als Möglichkeit ausgeschlossen werden müßte: sich gegen die Gruppe aufzulehnen. In diesem Schweden kann es keine Gruppe geben, gegen die eine Auflehnung ethisch gerechtfertigt wäre. Die Möglichkeit der Auflehnung wird nicht einmal theoretisch diskutiert, etwa als Widerstand gegen eine Diktatur. Dieser Gedanke scheint für Schweden derart unsinnig, daß er unformulierbar ist (abgesehen von den Schwierigkeiten einer positivistischen Gesellschaftsphilosophie, moralisch absolute Grenzen zu ziehen 45). Wer derart erzogen sein wird, wie Alva es sich vorstellt, der kann nur noch um den Preis auf begehren, als psychisch gestört in die Korrekturinstitutionen eingeschleust zu werden. 46

3. Die Erziehung der Erzieher Alvas Erziehungsmodell verläuft nicht linear von oben nach unten, es ist etwas verwickelter. Zuerst einmal sollen sich die Kinder gegenseitig erziehen. Natürlich benötigen sie parallel dazu Erzieher, in den Krippen und zu Hause. Die Erzieher wiederum müssen ausgebildet werden, durch Experten, die allerdings ebenfalls nicht an der Spitze der Ausbildungshierar43. A. Myrdal, Ny fostran – ny värld, S. 302. 44. Vgl. auch A. Myrdal, The Public Investment in Children; A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, S. 107-110. 45. Siehe oben, Kap. IV. 46. Denn wer psychisch krank ist, ist in seiner sozialen Fungibilität gestört – und vice versa: Sveriges Läkarförbund, Ett friskare folk, S. 177.

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chie stehen. Vielmehr sollen Eltern, Ärzte, Lehrer und Kinderpsychologen gemeinsame Studienzirkel bilden und sich Sachkenntnis in Spezialproblemen erarbeiten. Das dient zwar dezidiert der Befriedung potentieller Konfliktparteien, 47 doch es setzt die Experten der Kontrolle durch die Erzieher aus – so wie die Eltern wiederum durch ihre Kinder erzogen werden, wenn die die neuesten Erkenntnisse in Sachen Hygiene, Ernährung usw. nach Hause bringen. Die Erziehung der Erzieher will Alva mit Hilfe des »Socialpedagogiska Seminariet« (»Sozialpädagogisches Seminar«) erreichen. Als Rektorin des Seminars bekleidet sie erstmals eine Position, auf der sie selbst gestalten kann. Und sie erhält einen, in Schweden damals so wichtigen, offiziellen, eigenen Titel. Fortan ist sie Frau Rektorin, nicht professorskan Myrdal. Das Seminar geht auf ihre Anregungen zurück. Sie verbündet sich mit dem Chefarchitekten der Wohnbaugenossenschaft HSB, Sven Wallander, mit dem sie bereits Kinderkrippen für die HSB-Häuser geplant hat. Im Vorstand sitzt, erneut, ein Teil der sozialpolitischen Elite, u.a. die stellvertretende Vorsitzende des schwedischen Fröbelverbundes, die wiederum Alva in den Vorstand ihres Verbandes wählen läßt. Das Seminar bietet einen zweijährigen Kurs, um Erzieherinnen für Vorschulkinder nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft auszubilden. Sie sollen freilich nicht nur lernen, jedes Kind psychologisch zu verstehen, sondern selbst zu harmonischen, starken Persönlichkeiten mit gutem Kooperationsvermögen und hohem Verantwortungsgefühl reifen (ein Vorstoß, christliche Ethik in den Lehrplan aufzunehmen, wird auf Alvas Betreiben energisch abgewehrt. Man dürfe keine religiösen Konflikte provozieren). Alva ermuntert ihre Schülerinnen, Tanzen zu gehen und Männer kennen zu lernen, um später eine Familie zu gründen. Daß regelmäßig einige Mädchen die Schule wegen ihrer Heirat aufgeben, bringt sie allerdings auf die Palme. Die Investition ist vergeudet und, schlimmer, die Mädchen verwerfen leichtfertig eine Chance, für die Alva lange hat kämpfen müssen, die Chance auf Unabhängigkeit! Jedes Jahr bewerben sich auf etwa 30 Ausbildungsplätze doppelt so viele Mädchen. Sie müssen für Studiengebühren, Material und das Internat pro Jahr über 4000 Kronen aufbringen, bis in den Krieg steigt die Summe um knapp 1000 Kronen. Das können sich nur Mädchen der höheren Mittelklasse leisten; einen staatlichen Zuschuß erhält das Seminar erst nach dem Krieg. Ihre Ausbildung ist vielfältig und umfaßt pädagogische, psychologische, soziale sowie medizinische Aspekte, dazu kommen Haushaltskunde, 47. Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 33-35, 38. Sie spricht sogar (Bl. 33) von »zwei Großmächten« – Elternhaus und Krippe –, die schlecht kooperierten und zwischen denen die Kinder zerrieben würden (ARAB 405/2.3:1).

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Handwerk, Musik; Lehrer sind zum größten Teil externe Experten. Für den Unterricht präferiert Alva, weil sie den überkommenen, schematisierten Schulunterricht ablehnt, Seminare und selbständiges Arbeiten. Der theoretische Stoff wird umgehend in praktischen Übungen umgesetzt, mindestens 100 Stunden müssen die Schülerinnen in Krippen oder Kindergärten das Verhalten von Kindern genau beobachten und protokollieren – u.a. durch Beobachtungsfenster in HSB-Krippen. Zugleich werden sie selbst beobachtet. Als künftige Normalisierer der Kinder wird auch ihre geistige und physische Gesundheit Gegenstand regelmäßiger ärztlicher Untersuchungen und Berichte, am Ende der Ausbildung steht eine Röntgenuntersuchung, um mögliche TBC erfassen zu können. Der Lehrplan ist, wie Alvas Buch, ganz auf die Janusköpfigkeit der Kinder ausgerichtet, auf deren Individualität, die verstanden und respektiert werden muß, besonders aber auf die potentiell pathologischen Anlagen, denen vorzubeugen ist. Die gewöhnlichsten Krankheiten und geistigen Defekte, die pädagogischen Ideen der Aufklärung, die modernen pädagogischen Ansätze des 20. Jahrhunderts, Gesellschaftsanalyse, die Umsetzung der staatlichen Gesundheits- und Epidemieverordnungen, Ernährungsphysiologie, Entwurf und Fertigung hygienischer Kinderkleidung – mit diesen Ausbildungsinhalten werden die Kinder eingekreist als Potential und Gefahr für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung, auf die sich die angehenden Erzieherinnen professionell einzustellen haben. 48 In »Stadsbarn« bemerkt Alva, daß Mütter ihre Kinder nicht einfach lieben, sondern klug lieben müßten. 49 Und da ihr viele Eltern (und Kindermädchen ohnehin) als eher inkompetent gelten,50 ist eine reichsweite föräldrafostran (»Elternerziehung«) vonnöten. Das hat Alva in den USA gelernt.51 Diese Ausbildung muß »die Eltern in Stand setzen, ihre Berufsprobleme, nämlich die Kindererziehung, einigermaßen fachgemäß zu behandeln und zu diskutieren«,52 und die erste Etappe beginnt bei den Kindern selbst. Sie sollen bereits in der Vorschule für ein späteres Familienleben empfänglich gemacht werden, indem sie durch praktische Übungen (Kinder wickeln usw.) die Grundzüge der Kinderpflege beigebracht

48. Ausführlich: E. Bergseth, Socialpedagogiska Seminariet; vgl. auch S.

Bok, Alva Myrdal, S. 126-132. 49. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 152. 50. Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 2f. (ARAB 405/ 2.3:1). 51. Dort hat sie einen Kongreß zur Elternerziehung besucht, berichtet Gunnar an Gustav Cassel, 29.10.1929 (ARAB 405/3.2.1:1). 52. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 166.

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bekommen.53 In der Schule wird sich die Ausbildung fortsetzen, Familien- und Sexualkunde, Hauswirtschaft und Kinderpflege sind Themen, die Alva gelehrt wissen möchte, um »eine verständnisvollere und interessiertere Einstellung zu Kind und Familie« hervorzurufen.54 In der nächsten Etappe wird extensiv Aufklärungsmaterial an werdende Eltern verteilt, schließlich folgt deren Erziehung im engeren Sinne, wenn sie sich freiwillig in Studienzirkeln organisieren und in Sommerlagern treffen. Auch an die Kollektivkinderkammer werden Eltern schrittweise herangeführt. Sie kommen still herein und nehmen am Rande Platz. Sie dürfen ihre Kinder beobachten, aber nicht ansprechen, sich nicht mit dem Personal oder anderen Gästen unterhalten, nichts kommentieren. Bereiten Kinder Erziehungsschwierigkeiten, kann die Mutter um einen längeren Besuch gebeten werden, um das fragliche Benehmen zu protokollieren. Dann werden die Erfahrungen mit dem Personal ausgetauscht und Maßnahmen überlegt. So bekommen die Eltern einen klareren Blick auf ihre Kinder.55 Bereits 1931 startet Alva ihren ersten Studienzirkel für Eltern,56 1936 referiert sie in einer staatlichen Untersuchung ausführlich das amerikanische Vorbild,57 1977 sieht sie Schweden trotzdem noch nicht vorangekommen: »[D]ie Gesellschaft muß den Eltern helfen, so gut und menschlich zu sein, wie sie es sein wollen. Eine allgemeine Ausbildung für die Elternschaft muß nun zustande kommen.«58

4. Kontexte Auch diese Pläne finden ihren Weg in den öffentlichen Reformprozeß. Alva verfaßt einen Bericht zur Elternerziehung für die Bevölkerungskommission.59 »Stadsbarn« und »Riktiga leksaker« werden in den Medien ausführlich besprochen (ein geplantes Buch über die Elternerziehung verwirklicht sie nie60), ebenso berichten zahlreiche Artikel über die Einweihung des

53. A. Myrdal, Familjen, fostran och den nya tiden, S. 30. 54. A. Myrdal, Stadsbarn, S. 167. 55. Ebd., S. 165-174; A. Myrdal, Föräldrauppfostran. Ähnlich: Föräldrafrågor. 56. Dazu: G. Halldén, Alva Myrdals föräldracirkel 1931. 57. A. Myrdal, Föräldrafostrans socialpedagogiska uppgifter och organisa-

tion. 58. A. Myrdal, Jämlikhetens villkor, S. 12. 59. A. Myrdal, Föräldrafostrans socialpedagogiska uppgifter och organisa-

tion. 60. G. Halldén, Alva Myrdals föräldracirkel 1931, S. 149f.

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Sozialpädagogischen Seminars.61 Das Thema wird zu Beginn der 1930er Jahre kontrovers diskutiert, und Alva scheut keine Worte, um die Mängel des herrschenden Erziehungssystems in der Öffentlichkeit aufzuzeigen.62 Zeitungen machen sich die dualistische Chiffre von inkompetent/ausgebildet zu eigen: »Sentimentale Gesichtspunkte auf Kinder und Ehe müssen einer wissenschaftlicheren Betrachtungsweise weichen.«63 Später wird Alva als geradezu charismatische Chefin des Seminars beschrieben.64 Ihr Erziehungskonzept fügt sich nahtlos in die moderne pädagogische Diskussion ein, die die extrem rigide Erziehung in Internaten, die fehlende Erziehung in armen Familien, die mangelnde Förderung von Anlagen oder die Erziehung durch Dienstpersonal statt Eltern kritisiert.65 Eine Reihe wichtiger Namen muß genannt werden, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in den USA oder Schweden dazu beigetragen haben, eine kindgerechte Erziehung zu etablieren: Ellen Key etwa, die 1900 ihren Klassiker »Barnets århundrade« (»Das Jahrhundert des Kindes«) publiziert.66 Die Geschwister Ellen und Maria Moberg, die die Institution des Kindergartens in Schweden stark machen und 1909 das »Fröbelinstitut« zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen gründen. Maria Montessoris Methoden finden Eingang in die schwedische Erziehung. John Dewey, als Pädagoge in Schweden bereits früh rezipiert, William I. und Dorothy Thomas, Jean Piaget, William Ogburn, Arnold Gesell, Charlotte Bühler und Alfred Adler beeinflussen Alva.67 Dazu kommen eine Reihe von Mitstreiterinnen wie Margit Cassel-Wohlin, Eva Wigforss oder Brita Åkerman. Diese und andere gesellschaftspolitisch einflußreiche Frauen sind wichtig, weil sie die Vorherrschaft der Kinderärzte brechen, die die Säuglingspflege und 61. Vgl. div. Zeitungsartikel, 1936 (ARAB 405/5.1.1:26). 62. Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning, 2.11.1933, vgl. auch Svenska Dagbladet, 11.1., 12.2.1933; Morgontidningen, 24.1., 2.11.1933; Göteborgs-Posten, 27.10., 2.11.1933; Ekstrabladet, 8.2.1934; Nyköpings Tidningar, 3.4.1935; Dagens Nyheter, 16.9.1935, 10.8.1938; Arbetaren, 18.5.1936; Västerbottens Folkblad, 24.10.1944. 63. Ny Tid, 2.11.1933. 64. Alle kvinners blad, Nr. 22, Mai 1938. 65. Ähnliche Ansätze wie »Stadsbarn«: M. Cassel-Wohlin, Småbarn; G. Mattsson, Barn i skapande verksamhet; E. G. Regnér, Läraren och barnets nervhälsa; M. Wohlin, Fostran till gemenskap. Zum Hintergrund: A.-K. Hatje, Från treklang till triangeldrama; P.-J. Ödman, Kontrasternas spel. 66. E. Key, Barnets århundrade; vgl. dazu M. S. Baader/J. Jacobi/S. Andresen, Ellen Keys reformpädagogische Vision. 67. Vgl. S. O. Karlsson, Det intelligenta samhället, S. 153-188. Vgl. auch F.M. Konrad, Der Kindergarten.

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-erziehung lange Zeit mit geradezu diktatorischen Ansichten dominiert haben – besonders mit »Der deutschen Uhrentyrannei«, einem Schema, das strikt das Stillen der Säuglinge alle vier Stunden vorschreibt (mit einer achtstündigen Pause in der Nacht), so strikt, daß in der Diskussion nach einem Vortrag Alvas im Publikum plötzlich ein Kinderarzt aufsteht und sagt: »Frau Myrdal hat eigentlich nicht das Recht hier zu sein und auf Fragen zu antworten. Im Namen der Anständigkeit soll sie nach Hause gehen und stillen.«68 Gegen diese Anmaßung, daß sie von Männern entworfenen medizinisch-pädagogisch-moralischen Richtlinien zu folgen haben, profi lieren Frauen sich als Expertinnen in Kinderfragen. Sie bringen die junge Psychologie in Stellung, die sie Dank ihrer Medienpräsenz in zahllosen Artikeln und einigen Büchern popularisieren können. Sie initiieren eine Reihe empirischer Untersuchungen, in denen sie den eigenen Alltag beleuchten, etwa den typischen Tagesablauf einer Mutter. Durch diese Ergänzung der primär ökonomisch orientierten staatlichen Untersuchungen tragen sie dazu bei, die sozialpolitische Reformdebatte genauer auf ihre Bedürfnisse zuzuschneiden.69 In Ernährungsfragen können die Ärzte ihre Herrschaft noch bis in die 50er Jahre behaupten, die Erziehung ab dem Kleinkindalter geht auf eine neue Profession über, der auch Alva angehört. Sie stimmt zwar nicht mit allen ihren Mitstreiterinnen überein. Ellen Key setzte auf Individuen, die lernen, notwendigen Regeln zu folgen – aber diejenigen zu brechen, die nicht mit ihrem Gewissen vereinbar sind. Das ist Alva suspekt: Wenn Regeln und Gewissen in Konflikt geraten, müssen beide Seiten reformiert werden, bis sie einander annähern. Die Geschwister Moberg fühlen sich durch despektierliche Bemerkungen zu den »Luxuskindergärten« in »Stadsbarn« provoziert; Alva lehnt deren politisch liberalkonservative und religiöse Prägung ab. Der Fröbelverbund wiederum kritisierte, daß die storbarnkammare im Kollektivhaus die Familien als Erziehungsinstanz ablösen solle.70 Alva hat zwar starken Rückhalt in der Sozialdemokratie und der kulturellen Avantgarde des Landes, trotzdem muß sie Kompromisse schließen und in dem von ihr verantworteten Bericht für die Bevölkerungskommission akzeptieren, daß Kinderbetreuungseinrichtungen nur als Ergänzung zur

68. Svensk Damtidning, 25.11.1975. Alva scheint diese Episode noch 1975 aufzuregen, sie notiert jedenfalls am Rande des Artikels: »10 Uhr am Abend, Jan. 1935 (Dr. Gyllensvärd war sein Name)« (ARAB 405/5.1.1:171). Gyllensvärd war offenbar der Kinderarzt Jans; vgl. Alvas Auszüge aus den Terminkalendern, Eintrag 7.2.1933 (ARAB 405/1.1:9). 69. Ausführlich: K. Pehrsson, Barn i goda händer, bes. S. 84-106. 70. Svenska Dagbladet, 28.2., 1.3.1933.

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familiären Erziehung empfohlen werden.71 Das aber ist nur die Frage des richtigen Weges. Übereinstimmung herrscht in der Meinung, daß die Pädagogik sich auf die Kinder und deren Interessen und Vorlieben einlassen muß, statt in erster Linie zu strafen und zu züchtigen, und daß gegen die Zumutungen der Moderne soziale Kinder erzogen werden müssen. Die Ärzte verschließen sich diesen Idealen nicht, doch sie setzen primär auf elaborierte Kontrollutopien. Oberarzt David Lindsjö etwa berichtet von einer grundlegenden Reform an den Stockholmer Volksschulen. Dort haben sie die Gesundheitskarte (hälsokort) für jedes Kind eingeführt, die einen konzentrierten Überblick über die Klasse als Einheit wie über die Individuen erlaubt. Auf dieser Karte werden Gesundheitszustand, Arztbesuche, notwendige Sommerurlaube, erbliche Belastungen, Untersuchungen der Psyche, Augen, Ohren, Nase und des Mundes samt der Haltungs- und Bewegungsorgane verzeichnet. Angaben zu den sozialen Verhältnissen sind freiwillig. Eine Schulschwester besucht die Familien der Erstklässler aller Sozialschichten, um sich einen Überblick über die Lebensverhältnisse zu verschaffen. Die Schwester wird angeblich überall freundlich aufgenommen, niemand verheimlicht ihr etwas. »Mein Traum ist es, […] daß wir den Kindern vom Mutterleib bis zur Beendigung der Schule folgen können.« Bislang gibt es eine Kontrollücke zwischen den ersten Lebensjahren und dem Beginn der Schulzeit, die wird durch die Gesundheitskarte geschlossen. Und wenn der Schularzt dann noch Zugang zu den Akten der baranvårdscentraler (»Kinderpflegeinrichtungen«) bekäme, würde er wahr: »Der Traum des Schuloberarztes: Die Kinder vom Beginn an in der Hand der Ärzte«.72 Carl August Ljunggren, der die Kinder ja zu Kampftruppen gegen den Kaffeekonsum ausgebildet hat, entwirft in seinem Buch Standardtabellen über die Relation von Körpergröße und Gewicht, außerdem Verteilungstabellen über das jährliche Wachstum, nach Alter und nach prozentualer Häufigkeit differenziert, so daß man je Altersstufe Abnormitäten in Fragen des Gewichts und des Wachstums an objektiven Normziffern messen kann. Sind die Werte positiv, darf man ihnen freilich noch lange nicht trauen. Hinter ihrem Schutz können sich schwere Krankheiten verbergen, die nur durch hygienisch-soziale Untersuchungen ans Licht gezerrt werden können. Er stellt einen Katalog visueller Zeichen für physisch gesunde Kinder (leicht feuchte, schwach rötliche Haut, weiches, glänzendes Haar, strahlende, klare Augen, fröhlicher, nicht mißmutiger Gesichtsausdruck, hübsche, kariesfreie Zähne usw.) sowie Standards 71. SOU 1938:20. Zwei dänische Beobachter des schwedischen Kollektivhauses postulieren das 1949 als herrschende Meinung schwedischer Psychologen: B. Waagensen/J. Rubin, Kollektivhuset og dets forutsætninger, S. 98, 100. 72. Social-Demokraten, 28.11.1937.

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für psychisch stabile Kinder auf: Intelligenz, Aufmerksamkeit, Interesse, Selbstvertrauen, Aktivität, Freundlichkeit, Mut, Geselligkeit, die Fähigkeit, sich entweder als Leiter oder Untergeordneter in Gruppen einzupassen. Die Indizien für körperliche oder seelische Störungen bilden eine ähnliche Mischung aus physiologischen und ästhetischen Kriterien wie die Zeichen für Gesundheit. All diese Kriterien kreisen weniger Krankheiten ein, als daß sie soziale Positionen bestimmen, und zwar stets aus der Perspektive der bürgerlichen Mittelschicht. Durch seine Tabellen beschreibt Ljunggren die eigene Sozialschicht. Und er gibt einen Normenkatalog vor, mit dessen Hilfe die Eltern ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern erziehen. Präziser gesagt: Er inszeniert für die Eltern – die die Adressaten seines Buches sind – deren Erziehung durch ihre Kinder: »In Euren Heimen sollt Ihr erreichen, daß die Fenster auch während des Winters geöff net werden, um die frische Luft und Sonnenstrahlen, die die Bakterien töten, einzulassen. Wenn Eure Eltern sagen sollten: ›Wir können es uns nicht leisten, die teure Wärme zu verlieren‹, so könnt Ihr antworten: ›Liebe Mama und Papa, in der dünnen Luft in einem Raum befindet sich nur 1/500 der Wärme, da die meiste Wärme ja in Boden, Decke, Wänden und Möbeln sitzt, die, einmal aufgewärmt, Wärme ausstrahlen.‹ Wenn Eure Eltern einwenden sollten: ›Da glauben wir kaum dran‹, so sagt nur: ›Laßt uns ein Thermometer mitten in den Raum hängen, das wird die Antwort geben.‹«73 Kindermund tut Wahrheit kund, erst recht, wenn die Kinder am Ende die Technik das objektive Urteil fällen lassen. Die Eltern ersparen sich den realen Dialog mit ihren Sprößlingen und können ihn durch Nachlesen beliebig oft auffrischen; der Experte tritt scheinbar zurück und überläßt die notwendigen Reformen den Familien. Der Experte stellt Tabellen und Wissen zur Verfügung und nimmt die notwendigen Messungen vor. Schon die Kinder verstehen die Tabellen zu lesen und ihre eigene Normalität zu bewerten. Gesundheitskarten verschwinden oft im Schrank des Lehrers, Tabellen lassen sich an die Wand hängen und regen die Kinder an, die »Risikozone der Mißanpassung«74 zu verlassen. Und weil Erzieher wie zu Erziehende das Risiko laufen, in ihrem Eifer nachzulassen, sollen die Ärzte mehrmals im Jahr die Klassen besuchen, um den Eifer mit plaudernden Vorträgen erneut zu befeuern. Die Bevölkerungskommission nennt die Kinder in der Risikozone kontrollbarn (»Kontrollkinder«), diese schwächlichen, kranken oder von Krankheit bedrohten Kinder, die besonders anfällig sind für die Belastungen der 73. C. A. Ljunggren, Skolbarnens hälsouppfostran, S. 36. 74. E. G. Regnér, Läraren och barnets nervhälsa, S. 100; vgl. auch D. S. Thomas/W. I. Thomas, The Child in America; O. Kinberg, Socialläkarens uppgifter i samhället, bes. S. 8-37.

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Schularbeit, für Infektionen samt Kälte und Dunkelheit. Sie werden durch eine Enquete der Kommission erfaßt. 52 von 58 befragten Städten mit über 8000 Einwohnern melden bei Kriegsende ihre Zahl und in begleitenden Kommentaren die Gegenmaßnahmen, die sie ergriffen haben. Demnach bedürfen insgesamt 15.000 oder zwölf Prozent der Schüler jährlicher Aufenthalte in Winterkolonien auf dem Lande, um zu Kräften zu kommen.75 Ob nun der Arzt der storbarnkammare im Kollektivhaus bestätigt, daß unfähige und abgestumpfte Eltern gesundheitlich und seelisch weitgehend heruntergewirtschaftete Kinder abliefern, die in der Krippe dann zu gesunden und glücklichen Menschen modelliert werden müssen,76 oder ob in »Medelby« (dem Pendant zu »Middletown«) der Zahnbestand aller Schulkinder erfaßt wird77 – das Kind ist ein von der Gesellschaft zu schützendes und zu pflegendes Wesen, von dem die Zukunft einer freien Nation abhängt. Das rechtfertigt ein enges Netz tiefgehender Kontrollen der Eltern und ihres Nachwuchses,78 und das zwingt Ärzte, Erzieher, Nationalökonomen oder Architekten aus jeweils unterschiedlicher Perspektive zu einem ganzheitlichen Zugriff auf die Bevölkerung. Sie alle treffen sich in dem Bemühen, die Leistungsfähigkeit des produktiven Teils der Bevölkerung zu erhalten und zu steigern. Kontrolle soll die bedrohlichen Kräfte in Schach halten, vor allem aber die positiven Kräfte freisetzen79 – dabei immer zwischen extremen Haltungen und Eigenschaften hindurchsteuernd, etwa: perfektionistisch – sorgfältig – schlampig, Jasager – folgsam – Negativist, einschmeichelnd – zuverlässig – selbstgefällig.80

75. P.M. angående kontrollbarnen, 19.12.1945, Ms., Bl. 1; 1941 års befolkningsutrednings socialpedagogiska delegation ang. vinterkoloniverksamhet för s.k. kontrollbarn [samt Anlagen], 9.2.1946, Ms. (RA YK 1671/38). – Der Begriff »Kontrollkinder« geht auf staatliche Verordnungen zur Schulhygiene zurück. 76. Arbetaren, 18.5.1936. 77. M. S. Allwood/I.-B. Ranemark, Medelby, S. 306f. 78. Vgl. auch J. A. Höjer/E. Sjövall, Folkhälsan som samhällsangelägenhet; und die Erinnerungen Axel Höjers, einer der führenden Hygieniker Schwedens: J. A. Höjer, En läkares väg. 79. Vgl. auch K. Ohrlander, I barnens och nationens intresse, bes. S. 276291. »Positiv« ist zu Beginn der 1930er Jahre zu einem Leitbegriff aufgestiegen: A. Helldén, Ernst Wigforss, S. 105. 80. Vgl. diese Übersicht über ideale wie negative Veranlagungen in M. Börjesson/E. Palmblad, I problembarnens tid, S. 30.

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5. Jan, Sissela und Kaj Es gibt zwei Modi: Das Kind als Seiendes (varande), das nicht umgeformt, sondern geleitet werden soll, und das Kind als Projekt, als Medium, die Gesellschaft umzubauen.81 Für Alva sind Kinder immer beides. Sie sieht sie nie als rein gesellschaftspolitisches Reformkapital an, aber auch nie als vollkommen freie Menschen. Sie meint es ernst, wenn sie das Glück der Kinder schützen und fördern will, aber im Gegenzug müssen diese Kinder ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft stellen. Sie haben gewissermaßen eine Schuld abzutragen – im eigenen Interesse, denn diese Gesellschaft ist ihre Lebenswelt. Das ist kein Zwiespalt, sondern holistisch gedacht. Gesteigertes Glück macht Kinder gesellschaftlich produktiver, der Einsatz für die Gesellschaft steigert ihre Zufriedenheit: »Mit anderen Worten, der Gesichtspunkt des Glücks und der Gesichtspunkt des Nutzens sind vereint.«82 Umstandslos greift sie 1980 auf Gedanken der 30er Jahre zurück, wenn sie die Schule als Arbeitsplatz und als Lebensform begreift. Die Jugendlichen sollen für die Gunst lernen zu dürfen bezahlen, indem sie in der Schule eine Arbeit ausführen. Arbeit ist ein Privileg, Arbeitslosigkeit ein Unding, auch während der Schulzeit. Passivität kann nicht toleriert werden, sei sie schlechter Systemplanung oder Gleichgültigkeit der Jugendlichen geschuldet. »Um den Jungen ihre Arbeitsverantwortung einzuprägen, können mehrere Wege gewählt werden. Einer ist der, ihnen klar zu Bewußtsein zu bringen, was sie kosten. Ich pflegte halb im Scherz vorzuschlagen, daß meine vom Sozialpädagogischen Seminar abgehenden Schülerinnen auf der Bluse einen Zettel oder eine Plakette tragen sollten mit der Inschrift: ›Ich habe eine Ausbildung erhalten, die die Gesellschaft (ev[entuell] und die Eltern) x Kronen gekostet hat. Für diese Jahre, die ich bekommen habe, muß ich im Leben gewisse Einsätze vorweisen können.‹«83 Als sie das schreibt, sitzt Jan Myrdal bereits an seinen Kindheitserinnerungen. Der erste Band erscheint 1982, verursacht einen gewaltigen Rummel und beschädigt das vorher so positive Bild von Alva und Gunnar. Alva ist nicht mehr »Schwedens meist bewunderte Person«,84 die sich für soziale Gerechtigkeit, weltweite Abrüstung, die »Dritte Welt« und die Rechte der Kinder einsetzt; Gunnar nicht mehr der weltberühmte Ökonom und fortschrittliche Ehemann, der ihr die zur Arbeit nötige Freiheit einräumt.85 81. Å. Bergenheim, Barnet, libido och samhället, S. 127f. 82. A. Myrdal, Gymnasieskolan som livsform för ungdomen, S. 56. 83. Ebd., S. 72. 84. Hänt, 6.6.1980. 85. Svensk Damtidning, 25.11.1975.

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Im Buch ihres Sohnes erscheinen sie als elitäres Paar, das sich von einem Dienstmädchen ein ausgewähltes Frühstück zubereiten und samt Tageszeitungen ans Bett bringen läßt. Noch verheerender ist seine Schilderung der Erziehungsmethoden Alvas. Als er mit der Tochter Margit Wohlins spielen soll – während sich die Erwachsenen unterhalten –, ist er zu laut und wild. Er stört. Auf der Rückfahrt küßt er seiner Mutter zweimal die Hand und bittet um Verzeihung. Alva beginnt die Verfehlung ruhig und sachlich zu diskutieren. Innerlich weint Jan, aber er darf es nicht zeigen. Jan muß bereuen. Er bietet an, sich am Telefon zu entschuldigen. Alva ist nicht sicher, ob er sich wird ausdrücken können und schlägt einen Brief vor. Jan soll diktieren. Seine Sätze verbessert sie, dann muß er den Brief zum Postkasten tragen und bekommt zur Belohnung eine Tasse Kakao. Er hört, wie sie Gunnar berichtet, daß er weich wie Wachs geworden sei. Aber ihr fehlt, schreibt er, vollkommen die Intuition, Zeichen zu deuten. Sie versteht nicht, wenn er seine Träume, sein Verhalten erklärt, sie kann noch nicht einmal Tiere verstehen. Da die Lehrbücher erklären, daß Tierliebe bei Kindern auf eine emotionale Störung schließen läßt, dauert es lange, bis Jan sich die Genehmigung erbettelt, einen Dackel halten zu dürfen. Als Alva Jahrzehnte später seine Katze im Zug nach Göteborg bringt, schlägt diese wütend mit dem Schwanz und raunzt, weil sie es haßt, in einem Korb eingesperrt zu sein. Alva hat gelesen, daß Schwanzwedeln und Schnurren bei Katzen auf Zufriedenheit schließen lassen und ist erfreut. Ihre Hände und ihr Gemüt, so Jan, sind kalt. Sissela ist eher ein Debattenbeitrag denn ein Kind für sie; sie verdoppelt sich in ihrer Tochter: mager, amerikanisch blond, starres Gesicht, hohe Stimme und immer wieder unmotiviertes, kaltes Gelächter während des Sprechens. Unter allen Umständen muß der Schein gewahrt sein. Das Dienstmädchen darf so nur genannt werden, wenn es das nicht hören kann; wenn Gunnar verkündet, daß für ihn keine Verbote gelten, darf das niemand mitbekommen; ohnehin schweigt man besser, weil man nicht weiß, wer lauscht oder wer die Eltern der Spielkameraden sind. Er wird als Problemkind behandelt. Wie ein riesiges Hörrohr wirkt das Treppenhaus der funktionalistischen Villa Myrdal und trägt ihm zu, was sie sich über ihn erzählen. Mit ihm reden sie nicht. Gunnar brüllt, Alva zwitschert Konflikte mit pädagogischem Gerede hinweg. Während ihrer zutiefst bürgerlichen Empfänge (samt anschließendem Geläster über die Gäste) muß er in seinem Kinderzimmer bleiben, einer engen, zugigen Zelle mit schallisolierter Tür, ein Pott steht ihm zur Verfügung, wenn er zur Toilette muß. Am Ende sieht sich Jan von seiner Mutter verleugnet, die wegen seiner kommunistischen Überzeugung Abstand hält – um ihrer Reputation als Angehörige der UN bzw. der schwedischen Regierung nicht zu schaden. Durch insgesamt drei Bände zieht sich diese überaus böse Beschrei223

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bung seiner Eltern.86 Er schildert ein zutiefst konformistisches, arrogantes, verlogenes und feiges Elternhaus, aus dessen erstickender Atmosphäre er sich in langen Jahren der Selbstbeherrschung, Verstellung und Selbstbehauptung befreit. Natürlich geben die überaus detaillierten Beschreibungen nicht die damalige Realität wieder. Ein Achtjähriger wird sich kaum getreulich an ganze Gesprächssequenzen erinnern. Die »Erinnerungen« sind vielmehr eine gewaltige Stilisierung. Sie stellen einen kleinen Jungen, dessen Ego von Anbeginn ebenso groß ist wie das seines Vaters, gegen eine Welt heuchlerischer Erwachsener, die seine Talente nicht erkennen. Jan Myrdal heuchelt auch, aber nur, um gegen den Strom schwimmen zu können. »Kindheit« und die Folgebände beschreiben, wie er sich an der übermächtigen Konkurrenz seines Vaters abarbeitet, die »Erinnerungen« können dann als Befreiungsschlag am Ende dieses Prozesses gelesen werden. Er triff t seine Eltern schwer.87 Gunnar, gesundheitlich bereits erheblich angeschlagen, bespricht zahlreiche Tonbänder, in denen er falsche Tatsachen zu korrigieren sucht. In Interviews bemüht er sich, seinen Sohn zu widerlegen und ruiniert damit sogar die festliche Stimmung, als Alva den Nobelpreis erhält. Sissela und Kaj werden einige Jahre später ihre Erinnerungen publizieren, in denen sie einige recht unangenehme Seiten ihres Bruders andeuten und Alva als eine Frau schildern, die ihre Eigenständigkeit gegen gleich zwei Egomanen behaupten mußte und von inneren Konfl ikten zerrissen wurde.88 Alva selbst schweigt in der Öffentlichkeit zu dem Skandal, muß aber starke Schlafmittel einnehmen und flüchtet sich in die Arbeit. Sie beginnt ihren Verwandten zu mißtrauen, denn offenbar haben sie Jan Myrdal mit Informationen versorgt. Gegenüber ihrer Schwägerin Elsa reagiert sie auf ihre Art: »Vielleicht könnten wir zu unseren gemütlichen Kaffeestunden zurückkehren, ohne ›Aussprache‹? Ich will ja am liebsten an dem Ganzen nicht rühren. Aber ich will nun, daß Du weißt, warum ich so still bin. Vielleicht können wir so tun, als sei nichts gewesen?«89 Die »Erinnerungen« Jan Myrdals sind nicht einfach eine perfide Konstruktion, um mit den Eltern abzurechnen. Sie sind kein Abbild seiner Kindheit, aber auch nicht unwahr. Man sollte sie besser als Spiegel eines bestimmten Verständnisses, mit Kindern umzugehen, betrachten, im Nachhinein verdichtet zu einer überdimensionierten Passionsgeschichte. Tatsächlich hat Alva bereits zu Beginn der 30er Jahre in einer Kladde das 86. J. Myrdal, Barndom; Ders., En annan värld; Ders., Tolv på det trettonde. Vgl. dazu C. Cervin, Det illojala barnets uppror. 87. Vgl. S. Bok, Alva Myrdal, S. 340-342; K. Vinterhed, Kärlek i det tjugonde seklet, S. 293-302. 88. K. Fölster, Die drei Blätter; Dies., De tre löven; S. Bok, Alva Myrdal. 89. Alva an Elsa Gestad, 26.3.1983 (ARAB 405/1.1:8).

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Projekt »Sissela« skizziert: die systematische Beobachtung eines einjährigen Kindes samt Verhaltenstests, die die Grundlage eines Musterbuchs ( formulärbok) bilden sollten, an dem andere Eltern ihre eigenen Beobachtungen orientieren können. Später notiert sie: »So viel getan. Besser, Sisselas Sozialisation zu studieren. Behavior towards Jan, parents, strangers. Situationen schaffen, die wiederholt werden. Langsam andere. Reaktion auf Dominanz von Jan […] usw.«90 Zehn Jahre darauf weilt sie mit Gunnar in den USA und gibt ihrer Schwägerin, die mit ihrem Mann den zurückgelassenen Jan hütet, vorsichtig Ratschläge. Er befinde sich in einer Pubertätskrise, in der sich die Proportionen verschöben, außerdem habe er mit seinem Gewicht zu kämpfen. Die notwendige Behandlung solle für Jan als Überraschung, als etwas, was er bekomme, präsentiert werden – nicht, um ihn hereinzulegen, sondern weil Alva ihm das Beste will. In einer anderen Sache müsse man ebenfalls Diplomat spielen. Er identifiziere sich mit seinem Großvater, jede Andeutung, daß der »krank« gewesen sein könnte (er war Alkoholiker), könne Jan zur Idee veranlassen, unter der Herrschaft eines »Schicksals« zu stehen.91 Und in einem Interview mit »Dagens Nyheter« erklärt sie 1938, ihre Kinder hätten absolutes Anrecht auf eine Stunde am Morgen sowie je eine vor und nach dem Mittagessen, in denen sie mit ihnen spiele und ihnen Sagen vorlese. Wenige Zeilen darauf endet das Interview mit dem Satz: »Wenn man akademische Kurse in Kinderpsychologie belegt, ist man übrigens froh über eigenes lebendes Material für praktische Studien.«92 Jan stilisiert sich als Experimentierkaninchen. Sissela und Kaj dagegen betonen, daß ihre Mutter sich ernsthaft um sie bemüht hat. »[W]hen she was home and had free time, she was a joy to be with. Then she would read, draw, and take long walks or bicycle trips with us; she would sew clothes for us and help us with our stamp collections and cut out costumes for families of paper dolls and play word games for hours. With her we could talk freely; with her we could do puzzles and fantasize. And our lives were enriched through Alva’s having inherited her mother’s talent for storytelling.«93 Aber die Zeit, die sie ihnen widmet, ist ein Luxus. Sie geht so sehr in ihrer Arbeit auf, daß sie ihre Kinder nicht wirklich programmgemäß erziehen kann. Sie dürfen die Schule schleifen lassen, im Keller Schwarzpulver herstellen, und auch an der Hygiene hapert es. Sie gelten als wild und schlecht erzogen. In all ihren pädagogischen Programmtexten interessiert Alva die 90. Kladde »Fatabur« mit handschr. Skizzen zu Forschungsprojekten, Herbst 1929ff., hier 1931-33 [ARAB 405/4.1:5]). 91. Alva an Elsa und Gösta Gestad, 11.11.1941 (ARAB 405/1.2:9). 92. Dagens Nyheter, 10.8.1938. 93. S. Bok, Alva Myrdal, S. 179f. Ähnlich K. Fölster, Die drei Blätter.

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Kinderpfl ege wenig. Sie setzt auf Kinder, die sich durch Kontrolle und Anregungen formen lassen. Da sie oft abwesend ist und ihre Töchter sich ihren Erziehungsmaßnahmen zu verweigern beginnen, bleibt zu Hause nur ihre Vorbildfunktion: »Alva was […] fascinating, always intensely alive. […] She was living proof, that women can reshape their lives, escape from the conventional role that we saw so many other mothers play.«94 Zum Glück, so schließt Sissela Bok, habe ihre Mutter nie die Zeit gefunden, sie zu dem Menschenmaterial zu formen, das sie für sozial erwünscht hielt. Statt dessen erzog sie durch ihr Leben.95

94. S. Bok, Alva Myrdal, S. 180f. Gunnar dagegen kümmert sich nie um die

Kinder. »[H]e often said that children simply did not interest him.« Sie plagen ihn und werden erst in dem Alter interessant, in dem sie zu argumentieren lernen. Aber auch seine Welt ist ein faszinierendes Exempel für die Kinder, ein soziales Netzwerk, das die gesamte Welt umspannt (ebd., S. 184). 95. Zur Erziehung der Kinder gibt es nur spärliche Quellen. Der Briefwechsel der Myrdals mit ihren Verwandten, der in dieser Frage vermutlich aufschlußreich ist, war bei Projektabschluß noch gesperrt.

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1. Villa Myrdal Carl Larssons »Heim«, Bruno Tauts »Wohnhaus« oder das Kollektivhaus, das sind nicht einfach Behausungen, die vor den Unbilden der Natur schützen, sondern dort wird ein exemplarisches Leben geführt und der Öffentlichkeit vermittelt. Alva und Gunnar beginnen ein solches Leben bereits 1931 am Kungsholmsstrand, als sie es sich finanziell leisten können, ihre funkis-Wohnung »modern« einzurichten. Und sogleich beschreiben Reporter die Konvergenz von modernem Ehepaar und modernem Wohnen. Statt später aber in das neue Kollektivhaus zu ziehen, bauen sie ein eigenes Haus, die »Villa Myrdal«. Im Juli 1937 pachten sie auf 60 Jahre von der Stadt Stockholm ein Grundstück im Villenvorort Äppelviken, für die jährliche Summe von 420 Kronen. Die Stadt setzt fest, bis wann das Haus gebaut sein muß, wie groß es maximal sein darf, daß es »zweckmäßig« und »geschmackvoll« gestaltet sein muß, und reguliert bis ins Detail sogar, wie der Grundstückszaun beschaffen sein soll.1 »Geschmackvoll« wollen Alva und Gunnar ihr Haus in der Tat gestaltet sehen, es wird eine rein funktionalistische Villa, die ihr Freund Sven Markelius entwirft. Eine Architektin ist eigens für die Gestaltung des Gartens zuständig. Während Larssons »Heim« symbolisch für vermeintlich urschwedische Wohntraditionen steht – wobei die Larssons bewußte Stilbrüche schufen –, ist die Villa Myrdal betont »modern« angelegt. Das Haus ist in drei Etagen geteilt. Der Keller nimmt Technik, Haushalts- und Vorratsräume auf, das Erdgeschoß beherbergt Küche, die Räume für das Dienstpersonal, die Kinderzimmer, das gemeinsame Bad für Kinder und Dienstmädchen sowie das große Wohnzimmer. Das Obergeschoß ist Alva und Gunnar vorbehalten, hier finden sich ihr(e) Schlafzimmer, Bad, Toilette, Arbeitszimmer, Ar1. Stadt Stockholm/Gunnar Myrdal: Pachtvertrag, 13.7.1937 (ARAB 405/

1.3:4).

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chivraum und die große Sonnenterasse. Das Obergeschoß ist ein dezidiert privater, das Erdgeschoß ein öffentlicher Raum. Bereits der Keller zeigt den hohen Standard, den sich Alva und Gunnar leisten. Kellerboden und Treppen sind aus geschliffenem Zement, teilweise mit Wasserablauf. Vor der Tür nimmt ein in den Boden eingelassener galvanisierter Eisenrahmen die Fußmatte auf. Die Wände werden verputzt und mit Kalkfarbe gestrichen, die Tür mit einem Sicherheitsschloß versehen. Regale, die Kiste für Schmutzwäsche und der Waschtisch sind aus Kiefer hergestellt, die Kanten sind abgerundet, der Spültrog ist aus Zement, der Waschkessel faßt 100 Liter und wird mit Gas geheizt. Der Keller ist funktional differenziert. Je ein Raum für Müll, Heizung, Wäsche, Bügeln, Werkstatt, Vorräte, Kühlung – das sind mehr Räume allein für die Hausarbeit als eine durchschnittliche funktionalistische Wohnung insgesamt aufweist. Ähnlich sieht es im Erdgeschoß aus. In Haupteingang, Windfang und Garderobe sind Böden aus Schiefer, Gumminoppenmatten bzw. Linoleum erster Güte (auf den Treppen mit Gummikanten), gesinterte Platten an Sockeln und Wänden, reine Kiefer, Industrieglas (maskinglas) und galvanisiertes bzw. verchromtes Metall verarbeitet. In der Küche bestehen die Arbeitsplatten aus rostfreiem Stahl und Teak, die Einbauschränke aus Kiefer, die Wände sind teilweise gekachelt, es gibt einen Kühlschrank und einem Müllschlucker nach neuestem HSB-Modell. Bad und WC sind mit Mischarmaturen sowie Waschbekken, Bidet und Toiletten aus Porzellan versehen. Das Wohnzimmer weist Eichenparkett und einen offenem Kamin auf, hier finden die Empfänge mit bis zu 28 Personen statt. Ein großes Fenster öff net den Raum auf den Garten. Die Zimmer für Kinder und Dienstmädchen sind mit einfachem Linoleumboden, Sperrholzschränken und Kiefernregalen ausgestattet; das Wohnzimmer wird durch schallisolierte Türen gegen die Kinderzimmer abgeschirmt. Auch im Obergeschoß sind die Materialien von hoher Güte. Im ganzen Haus sind Wände und Decken verputzt und mit Kalk- oder Ölfarbe gestrichen. Es gibt also keine Tapete, dafür in fast jedem Raum Gemälde, über die wir allerdings nicht viel erfahren (eines stammt von Uno Åhrén). Die Möblierung besteht aus älteren Stücken der vorhergehenden Wohnungen und ausgewählten Gegenständen des modernen skandinavischen Designs. Ein »Aalto-Stuhl« findet sich im Arbeitszimmer, für das Dienstmädchen ist ein neuer Tisch von »Aalto od. Ähnliches« vorgesehen, im Wohnzimmer sollen u.a. der Eßtisch von »Svenskt Tenn« sowie ein oder zwei Stahlrohrstühle stehen. Die Heizkörper bestehen aus schlankem Schmiedeeisen, die Heizanlage arbeitet selbstzirkulierend und wird mit Öl befeuert. Die Wasserrohre sind aus Kupfer statt aus Eisen. Im Garten werden über 1200 genau ausgewiesene Pflanzen ausgebracht. Das alles kostet viel Geld: die Anlage des Gartens über 5600 Kronen, der Unterhalt durchschnittlich 47 Kronen im Monat, die Gartenarchitektin 228

VIII Ein exemplar isches Leben?

läßt sich 246 Kronen für Planungen und den Kauf von Pflanzen überweisen; ein neuer Thermostat für den Kühlschrank wird mit 33,50 Kronen berechnet, ein Staubsauger mit 280 Kronen, ein Piano kostet 1400 Kronen, Luftschutzmaßnahmen schlagen später mit 300 Kronen zu Buche (zur Erinnerung: Für das Kollektivhaus waren Monatsmieten von 500 bis 1300, sowie Jahreseinkommen von 2000 bis 12.000 Kronen veranschlagt worden).2 Die Verträge schließt Gunnar ab, die Rechnungen gehen an ihn, Alva kontrolliert, macht detaillierte Änderungswünsche geltend (z.B. kein Rittersporn, keine Lupinen, sondern Tulpen, Salbei, mehr wilde Pflanzen usw.), kürzt Rechnungen, weist die Zahlungen an und diskutiert eventuelle Probleme mit den Handwerkern und Lieferanten. Bereits im September 1938 wird das Haus für 3600 Kronen Jahresmiete an die Journalistin Eva von Zweigbergk und ihren Mann Åke vermietet, weil Gunnar in den USA die »Negerstudie« beginnt.3 Das Haus sendet also uneindeutige Signale. Familie Larsson zog eine gewisse Grenze zwischen dem Vater und dem Rest der Familie, Carl Larsson beanspruchte ein großes, eigenes Schlafzimmer. Ansonsten aber nutzten, das suggeriert zumindest »Ett hem«, Kinder, Erwachsene und Tiere alle Räume gleichermaßen. Die Villa Myrdal zieht dagegen einen deutlichen räumlichen Schnitt zwischen der ersten Etage der Eltern und dem Raum der Kinder, der zusätzlich vom öffentlichen Bereich getrennt werden kann. Dafür werden im Bad Dienstpersonal und Kinder vereint. Das entspricht eher dem Modell einer großbürgerlichen Familie, in der sich die Familienmitglieder mit einer gewissen (oder sogar ausgeprägten) Distanz gegenüberstanden. Außerdem greift die Villa die Struktur des Kollektivhauses auf: oben die von Kindern unbehelligten Eltern, die unten hinter schallisolierten Türen vollständig verschwinden können. Das Zusammentreffen kann je nach Bedarf reguliert werden. Gleichzeitig bildet das Haus im ersten Stock das moderne Ideal der Kameradschaftsehe ab, denn alle Räume werden von Ehemann und Ehefrau gemeinsam genutzt; selbst die Schiebewand, von der noch die Rede sein wird, trennt ein gemeinsames Schlafzimmer. Die bürgerliche Hierarchie zwischen Mann und Gattin ist also, im Unterschied zu den Larssons, bewußt aufgelöst worden. Diese Anordnung unterstreicht den merkwürdigen Charakter der Familie Myrdal. Sie ist – wesentlich stärker von Alva, weniger von Gunnar – als familiäre Einheit 2. Vgl. die Baubeschreibungen von 1937 (ARAB 405/1.3:4) und den Möblierungsplan (ARAB 405/1.3:5). In der Siedlung Gärdet wurden ebenfalls Kupferrohre verwendet (Dagens Nyheter: 20.5.1935). Die Rechnungen finden sich in den Unterlagen zum Hausbau (ARAB 405/1.3:4). 3. Mietvertrag zwischen Gunnar Myrdal und Åke von Zweigbergk (Entwurf), o.D. (ARAB 405/1.3:5).

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gedacht, tatsächlich aber eher eine Ehe mit Kindern. Insoweit erscheint das Haus also als ein technisch verwirklichter Kompromiß zwischen zwei Lebensweisen, die Alva und Gunnar nicht perfekt vereinen können, zwischen der möglichst ungestörten Produktivität ihrer Arbeitsgemeinschaft und dem Kernelement ihres Gesellschaftsentwurfes, der Familie. 4 Eine reine Freude kann das Haus nicht gewesen sein. Im Januar 1940 müssen sie enttäuscht feststellen, daß die Kosten der ölfressenden Heizung ein Drittel über den Prognosen des Herstellers liegen. Außen sieht die Villa rasch etwas unansehnlich aus. Die Firnis auf dem Holz ist verschwunden, der Anstrich des Terrassengeländers weggerostet. Innen schimmeln Schuhe in feuchten Räumen.5 Zahlreiche Reparaturen am Haus summieren sich Anfang der 40er Jahre auf 4.644 Kronen.6 Solche Defekte gehören jedoch zum funktionalistischen Leben, da die Bautechniken – besonders für Flachdächer und große Fensterflächen – in den 30er Jahren noch nicht ausgereift sind. Die Journalisten sehen das Haus ohnehin anders. Mit der Villa können sie Alva und Gunnar hervorragend als Vertreter der Moderne in Szene setzen. Seit Mitte der 30er Jahre sind die beiden »public personalities«,7 die auf Reisen nicht mehr nur mit ihrem Gepäck, sondern gleich auch mit einen Pulk Journalisten zurechtkommen müssen.8 Sie sind gefragte Interviewpartner, und die Medien wollen ihren Lesern Bilder von Alva und Gunnar vermitteln, nicht nur Abbildungen, sondern visualisierte Interpretationen der beiden. Und da kommen die weißen Wände, die klare Gestaltung des Baukörpers, die Sonnenterasse auf dem Dach, das große Fenster des Wohnzimmers zum Garten hinaus und die Empfänge in der Villa Myrdal wie gerufen. Alva und Gunnar leben seit der Hochzeit in zunehmend aufwendigeren Wohnungen. Vor ihrem Karrierebeginn sind sie spartanisch eingerichtet, weil das Geld fehlt, von einem richtigen Heim träumend.9 Seit den 30er Jahren dann mieten sie, beginnend in Genf, repräsentativ gestaltete 4. Möglicherweise meinte Alva das, als sie das Haus während der Planungen kurzzeitig als »jämmerlichen Kompromiß« bezeichnete: Alva an Gunnar, Ostersonntag [21.4.]1935 (ARAB 405/3.3:22). 5. Alva an Eva von Zweigbergk, 10.1., 13.3.1940; Eva von Zweigbergk an Alva, 7.10.1938, 9.9., 10.11.1939, 1.2.1940 (ARAB 405/3.1.2:6). 6. Undatierte Aufstellung in den Unterlagen zum Hausbau (ARAB 405/ 1.3:4). 7. Alva an Gunnar, 18.10.1938 (ARAB 405/3.3:23). 8. Alva an Gunnar, 6.7., 9.7.1938 (ARAB 405/3.3:23). 9. Alva hat schon früh detaillierte, aber noch nicht ganz stilsichere Vorstellungen (z.B. weißgekalkte Wände und dunkelbraune Holzmöbel): handschriftliche Aufstellung Alvas, o.D. [18.7.1926] (ARAB 405/3.3:21).

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Villen oder Wohnungen, entweder vorübergehend und möbliert – hochwertig antik eingerichtet 10 oder einen rosaroten Cottagestil hinnehmend 11 –, oder aber längerfristig. In diesen Fällen nutzt Alva die Gelegenheit, darin einer eher traditionell-bürgerlichen Frauenrolle nachkommend, ihren Geschmack zum Ausdruck zu bringen. Und der Geschmack wiederum dient als Propagandamittel. Ihrer Wohnung am Kungsholmsstrand war, wie wir gesehen haben, schon eine kleine Rolle in der Dramatisierung des Ehepaares Myrdal zugeteilt worden.12 Eine erste home story datiert dann auf den Oktober 1936. Unter der Überschrift »Rektor Myrdal bei sich zu Hause« handelt der Text in erster Linie von ihren Ansichten zu Erziehung und Frauenemanzipation, sechs Photographien zeigen zugleich etwas vom Inneren der Villa (sie wohnen zu der Zeit in einem gemieteten Haus im Vorort Ålsten), nämlich Wohn- und Arbeitszimmer. Alva und Gunnar posieren, an Schreibtisch, Bücherregal oder sitzend, »Alltagsleben«. Die Bilder zeigen ein intellektuelles Paar, das gleichwohl bodenständig und damit nicht unsympathisch erscheint. Zugleich konterkarieren sie den Text unmerklich. Sie ähneln darin dem Bildprogramm in den fi ktiven Lebensläufen zum Kollektivhaus, denn sie zeigen Gunnar in eher männlichselbstbewußten Posen (als Geistesarbeiter am Schreibtisch, mit übergeschlagenem Bein in einem tiefen Sessel sitzend, entspannt rauchend auf einer Balustrade). Alva dagegen ist als Mutter für ihre Tochter Sissela da, sie stellt sich, während Gunnar scheinbar nur abgelichtet wird, deutlich für die Kamera auf, sitzt adrett mit seitlich gefalteten Beinen auf dem Sofa, den Blick auf Gunnar gerichtet (der in die Kamera sieht), oder sie steht in gebückter Haltung am Bücherregal bzw. ihrem Schreibtisch und scheint dadurch tendenziell eher ordnende als geistige Tätigkeiten zu verrichten.13 Dann ist die Villa Myrdal erbaut. Zuerst läßt sich »Dagens Nyheter« das Haus von Sven Markelius beschreiben und berichtet knapp über die Räumlichkeiten. Es sei für das Alltagsleben konzipiert: »Myrdals bauen praktisches Haus […] – Kein Paraderaum«, so lauten Überschrift und Unterzeile des Artikels.14 Eine Provinzzeitung übernimmt ihn, überhöht die Villa im Vorspann aber zu einem nationalen Symbol: »Wie die Herrschaften Myrdal wohnen, sollte das schwedische Volk interessieren – und da der Professor und seine Frau Alva in Kürze in eine hypermoderne Villa ziehen, 10. Vgl. die Beschreibung der Genfer Villa, o.D. [1930] (ARAB 405/1.2:9). 11. Etwa eine Maisonette in New York, aber sie sei wenigstens perfekt funktional eingerichtet: Rundbrief Alvas an ihre Verwandten, o.D. [4.7.1949] (ARAB 405/1.2:9). 12. Siehe oben, Kap. III. 13. Vecko-Journalen, 25.10.1936; ähnlich: Husmodern, 11.7.1943. 14. Dagens Nyheter, 29.9.1937.

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die Sven Markelius entworfen hat, so kann man davon ausgehen, daß sie etwas baulich Besonderes darstellen wird.«15 Ein anderes Blatt nennt die Villa »Das Myrdal’sche Idealheim, gebaut für Kinder und Familienleben«, und beschreibt enthusiastisch selbst das Interieur des Kellers;16 die Fachzeitschrift »Byggmästaren« (»Der Baumeister«) ist angetan von der einfachen, fast spartanischen Form, der »literarischen Klarheit« und dem »Eindruck von Ehrlichkeit«, den das Haus vermittele.17 Es sei keine unpersönliche, standardisierte Wohnmaschine, sondern ein echtes, persönliches Heim, lichtdurchflutet, raffiniert geplant, spartanisch und gemütlich.18 Das Haus »ist eine Zusammenfassung dessen, wie das ganze schwedische Volk nach Ansicht der Herrschaften Myrdal wohnen sollte«.19 Keine Gardinen vor den Fenstern, Telefon und Radio am Bett, im Wohnzimmer Grünpflanzen, die Sonnenterasse als »Kommandobrücke«,20 das sind die Insignien der Modernität – vor allem aber das gemeinsame Arbeitszimmer, in dem zwei gleichgroße Schreibtische einander gegenüberstehen. Dieses Bild wird in Variationen bis in die 1980er Jahre immer wieder publiziert, denn nichts symbolisiert besser die vermeintlich gleichberechtigte, intellektuelle Symbiose der beiden als diese Sitzordnung (Abb. 10-13).21 Allerdings zeigen diese Bilder Gunnar grundsätzlich von vorne, über ein Blatt Papier gebeugt, also offenbar schreibend oder korrigierend, während Alva entweder gar nicht, seitlich stehend und in Papieren suchend, an der Schreibmaschine sitzend oder aber von hinten gezeigt wird. Letztlich entspricht auch das in seiner Häufung einem eher konservativen Bildprogramm. Alva wird ästhetisch vor allem als hübsche Form in Szene gesetzt, Gunnar stärker als individueller Intellektueller abgebildet.22 Wenige Ausnahmen, die Gunnar von hinten, Alva von vorne zeigen, bestätigen die Regel.23 15. Åmåls-Tidningen, 6.10.1937. 16. Eskilstuna Kuriren, 10.12.1938. Auch in der Folge findet die »Funkisschachtel« Eingang in die Medien, vgl. Stockholms-Tidningen, 16.4.1942; Ny Dag, 12.9.1945. 17. E. Ahlsén, Villor, S. 302f. 18. M. Strömberg, Idealhemmet, som Myrdals måste lämna. 19. Femina, 28.8.1945. 20. Ebd. 21. Ein anderes, in Schweden berühmtes Ehepaar, arrangierte seine Schreibtische ebenso: Anna Bugge Wicksell und Knut Wicksell (L. Wicksell Nordqvist, Anna Bugge Wicksell, S. 117). 22. Vgl. Vecko-Journalen, 25.10.1936; M. Strömberg, Idealhemmet, som Myrdals måste lämna, S. 235; E. Ahlsén, Villor, S. 303; Husmodern, 11.7.1943; Femina, 28.8.1945; Vi, 26.11.1981. 23. Z.B. Afton-Tidningen, 12.7.1943.

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Alva und Gunnar setzen nach dem Krieg die Tradition des exemplarischen Wohnens fort. Ihre Wohnungen werden immer gediegener.24 Zwar integrieren sie Mobiliar und Accessoires aus ihren früheren Wohnungen, aber als sie 1947 erneut nach Genf ziehen, stellt ihnen allein »Svenskt Tenn« bereits weit über 20.000 Kronen in Rechnung. Keinen geringeren als den Designer Josef Frank zieht Alva für den Entwurf der Einrichtung des neuen Domizils beratend hinzu;25 über 1000 Gäste schleust sie durch diese Propagandaausstellung für schwedische Einrichtungskunst, wie sie schreibt.26 Als sie wenige Jahre darauf für die UN in Paris arbeitet, richtet sie auch die dortige Wohnung ein, und eine home story weiß zu vermelden, daß nur das Haus und der dienstbare Geist noch französisch sind. Die Wohnung selbst ist »typisch Svenskt Tenn. […] Alles ist modern, kühl und sachlich, es gibt nicht einen einzigen unschönen Gegenstand, aber auch keine einzige sentimentale Antiquität. Hier lebt man für die Gegenwart und die Zukunft.« (Abb. 21).27 Später versucht sie in der Botschaft in Indien ebenfalls eine schwedische Atmosphäre zu schaffen: »Denn schwedisch ist sie in ihrer ganzen Einstellung geblieben, trotz aller internationalen Erfolge.«28 In Indien habe sie karolinischen und gustavianischen Stil mit Carl Larsson und »Svenskt Tenn« kombiniert zu einer reinen, kühlen, leicht asketischen Schönheit, wie sie nur der beste Funktionalismus hervorbringen könne; und »[d]ie Küchenabteilung ist ein hochrationalisierter Traum in Teak und rostfrei[em Metall]«, schreibt eine tonangebende Journalistin, Marianne Höök, in einem langen Artikel.29 Die Amerikaner schotteten sich ab, um ihren way of living zu pflegen (den sie ihren indischen Bediensteten vergeblich aufzudrängen versuchten), die Briten hätten noch immer keinen Baustil entwickeln können, der dem tropischen Klima angemessen sei, nur die Schweden schmiegten sich rücksichtsvoll in die einheimischen Traditionen hinein und an die Lebensweisen ihrer Bediensteten an, ohne ihre eigenen zivilisatorischen Errungenschaften zu verleugnen. »Botschafterin Alva Myrdal und das Haus kleiden einander, sie stimmen überein in nüchterner schwedischer Kühle und blonden 24. Vgl. die Rechnungen, Inventarlisten und Einrichtungsskizzen zu den einzelnen Wohnungen (ARAB 405/1.3:6). 25. Svenskt Tenn an Alva, 30.6., 15.7.1947 (ARAB 405/1.3:6). Auch die profilierte Einrichtungsarchitektin Lena Larsson, künstlerische Leiterin der Wohnungsabteilung des Nobelkaufhaus NK, wird herangezogen; vgl. Alva an Lena Larsson, 17.10.1947; Lena Larsson an Alva, 28.10.1947 (ARAB 405/1.3:6). 26. Alva an Svenskt Tenn, 15.2.1948 (ARAB 405/1.3:6). 27. Vecko-Journalen, 3.4.1954. 28. Hemmets Veckotidning, 3.2.1956. 29. Svenska Dagbladet, 18.1.1960.

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Farben. Alva Myrdal sieht ein klein wenig aus wie eine mondäne Mutter Schweden [Moder Svea], wohltuend frei von dem allzu Prachtvollen, das ein schwedischer Nationalfehler ist. Raffiniert und sozial, das läßt sich also vereinen.« Allerdings könnten die Inder diese stilvolle Geschmacksprobe nicht wirklich schätzen, weil sie durch eine gnadenlose Kommerzialisierung des Lebens das Gefühl für Qualität verloren hätten. Und der Gedanke beunruhigt Höök, daß dieses Haus einer Botschaftergattin in die Hände fallen könnte, die das raffinierte Ensemble ästhetisch nicht mehr beherrsche, die Stickkissen auf die kaltblauen Sofas und Deckchen auf die sidebords lege. »Das ist ein Haus, das Ansprüche an seine Bewohner stellt, aber das macht es nur interessanter.«30 Schließlich, 1961, das neue Haus in der Stockholmer Altstadt: »[E]ine stilvolle Mischung aus raffiniert modernem und bürgerlicher Gemütlichkeit«, moderne Kunst an weißen Wänden, Stühle von Bruno Mathsson, alles photographiert von der bekannten Photographin Anna Riwkin. »Das ist so großartig vollschwedisch [storstilad helsvenskt] wie es nur sein kann.« Alva habe eines der schönsten Heime in dieser Stadt geschaffen, »eine harmonische Ganzheit mit tausend Überraschungen« (Abb. 22).31

2. Medienbilder Eigentlich sind das keine richtigen home stories, weil das private Leben der beiden nur angedeutet wird.32 Es wird auf einigen Photographien gezeigt, die eine gewissen Nähe suggerieren und das Paar durch gemäßigte Geschlechterstereotypen »normalisieren«. Die jeweiligen Artikel behandeln vor allem ihre gesellschaftspolitischen Themen. Der Besuch in den modernen Wohnungen dient den Medien als Aufhänger. Sie werden als Synonym für ein modernes, erfolgreiches Paar verwendet, dessen politische Botschaft durch diese gedoppelte Modernität effektvoll unterstrichen wird.33 Alva und Gunnar sind mit dieser Bildproduktion einverstanden, 30. Alle Zitate: Svenska Dagbladet, 18.1.1960 (Hervorh. im Orig.). 31. Vecko-Journalen, 20.10.1961; vgl. auch Vi, 26.11.1981. 32. Das wird auch deutlich bei der Vorbereitung eines Interviews, für das

Alva und Gunnar nur unwillig private Details preisgeben (und dieser Unwille soll offenbar zum Teil der Darstellung gemacht werden: Die Radioreporter präsentieren sich als die ersten, die nach langen Verhandlungen Zutritt zum Privathaus der Myrdals bekommen hätten): P.M. för Myrdahlsintervjun [sic], o.D. [im Brief vom 13.9.1935 an Alva (?) gesendet] (ARAB 405/3.2.1:8). 33. Exemplarisch: Ute hos... Ambassadör och u-landsexpert Alva Myrdal tar emot på Garvargården i Mariefred, Sveriges Radio, TV 1, 31.7.1963 (Alva zeigt

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zumal sie die Besuche durch Absprachen mit den Redakteuren gestalten können. Nur einmal verlieren sie die Kontrolle, und ein Detail, ein Echo der gegenüberstehenden Schreibtische, dringt in die Öffentlichkeit. Das Echo aber klingt häßlich. Das Schlafzimmer in der Villa Myrdal kann durch die erwähnte Schiebewand geteilt werden. Mitten durch das Ehebett wird diese Wand gezogen, Sven Markelius hat sie auf Alvas Wunsch hin erfunden.34 Alva hält es für hilfreich, wenn die Ehepartner zeitweise auf Distanz zueinander gehen können. Über diese Schiebewand berichtet die Morgenzeitung »Dagens Nyheter« nur in einem kurzen Satz, stellt das Phänomen im Vorspann und einer Unterzeile aber prominent heraus. Am selben Tag spottet die konservative Abendzeitung »Nya Dagligt Allehanda« über das Haus und auch über die Schiebewand. Markelius habe vergessen zu erwähnen, wer den Schlüssel zur Wand bekommen solle, sicherlich Alva, aber man könne nie wissen (Abb. 14, 15).35 Noch am selben Tag verfassen Alva und Gunnar eine lange und zornige Eingabe, mit der sie die Zeitung bei der Presseschiedsstelle (»Opinionsnämnden«) anzeigen. Keine zwei Wochen darauf hat auch die übrige Presse Kenntnis von diesem Schriftsatz und faßt die Beschwerde zusammen:36 Der Artikel appelliere an die »simplen Instinkte« der Leser, zerre das »intimste Privatleben einzelner Mitbürger« an die Öffentlichkeit, er wolle diese Personen verletzen, Widerwillen gegen sie erregen und sei erniedrigend. Alva und Gunnar wollen ein Exempel statuieren, denn auch von anderen Berichten fühlen sie sich angegriffen. Das »Örebro Dagblad« meint zwar: »Wer sich ins Spiel [der Öffentlichkeit] begibt, muß das Spiel ertragen«, hält die Erwähnung der Schiebewand allerdings für eine geschmacklose Grenzüberschreitung.37 »Nya Dagligt Allehanda« stichelt weiter und verspricht, den Richtern eidem Fernsehteam kurz das Haus, dann wird sie zu ihren politischen Projekten befragt). 34. So erinnert sich Alva vage in einem Brief an Eva von Zweigbergk, 21.12.1966 (ARAB 405/3.1.4:19), die einen Artikel über die Villa Myrdal vorbereitet (Dagens Nyheter, 15.1.1967). Offenbar hatten sie bereits früher getrennte Betten eingeführt, vgl. Alva an Gunnar, 2.6.1926 (ARAB 405/3.3:21), 6.3.1930, o.D. [Poststempel 2.4.1930] (ARAB 405/3.3:22). 35. Dagens Nyheter, 29.9.1937; Nya Dagligt Allehanda, 29.9.1937. Ein anderer Kolumnist spottet, daß er diese Wand bei den »nativitätseifernden« Myrdals nicht erwartet habe (Stockholms Förstadsblad, 2.10.1937). 36. Svenska Dagbladet, 9.10.1937; Svenska Morgonbladet, 9.10.1937; Halland, 9.10.1937; Stockholms-Tidningen, 9.10.1937; Skånska Dagbladet, 11.10.1937; Örebro Dagblad, 11.10.1937; Jönköpings-Posten, 11.10.1937; Tidning för Skaraborgs Län, 15.10.1937. 37. Örebro Dagblad, 11.10.1937. Ähnlich: Jönköpings-Posten, 11.10.1937.

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ne kleine Feierstunde mit frechen, witzigen und polemischen Zitaten aus Myrdals Werken zu bereiten. Wer sich unaufhörlich mit den Ellenbogen ins Rampenlicht vorarbeite, müsse eine kleine Glosse hinnehmen. Werde die Sache erst ausgestanden sein, würden »nur die gekränkte Würde, der grandiose Mangel an Humor und – der Zeigefi nger!« bleiben.38 In ihrer Eingabe an die Schiedsstelle geben sich die Myrdals als eher medienscheu. Sven Markelius, so schildern sie, hatte den Journalisten von »Dagens Nyheter« zu überzeugen versucht, daß der Hausbau keinerlei Neuigkeitswert besitze. Erst als der sich nicht abschütteln ließ, gab er das Interview, um den Informationsfluß wenigstens zu kontrollieren. Korrigieren durfte er den Artikel nicht, aber er wurde ihm am Telefon verlesen. Sofort erschien ihm die Erwähnung der Schiebewand, eigentlich ja nur ein bautechnisches Detail neben anderen, in Überschrift und Vorspann als zu »sensationsbetont«. Die Zeitung hielt ihr Versprechen, das zu ändern, nicht; den daraus resultierenden Artikel empfinden Alva und Gunnar als überflüssig und unangemessen, allerdings nicht als anstößig. Sie seien derartiges gewohnt. Auch die Verballhornung ihres Namens zu Vokabeln wie »Myrdalerei« hätten sie bislang, unangenehm berührt, hingenommen. Die Lästerei im »Nya Dagligt Allehanda« sei jedoch der Höhepunkt ordinärer Ergüsse über ihr Familienleben, die sie nun gezielt unterbinden wollten. Seit Jahren verteidigten sie ihre Kinder und ihr Privatleben gegen die »Hyäneninstinkte« von Teilen der Öffentlichkeit und der Journalisten. »Wer hat etwas mit der Einrichtung unseres Heims, unserem Zusammenleben, unseren Kindern zu schaffen«, zitieren sie ihre Klage.39 Die Kritik, ihr Debattenverhalten sei polemisch oder frech, weisen sie zurück. 40 Wenn aber eine Zeitung derart das Niveau absenke, schade sie der vernünftigen Meinungsbildung in sozialen Fragen. Es entstehe das Bild einer zerstrittenen Elite. »Vor den Mitbürgern wird die große Einigkeit in sehr wichtigen Dingen verschleiert, die faktisch unter den verantwortlichen Personen herrscht, und die unaufhörlich in unserer politischen Arbeit in beschlußfassenden Organen und staatlichen Untersuchungen deutlich wird. […] In einer weiteren nationalen Perspektive ist das eine Verfälschung der volks38. Nya Dagligt Allehanda, 10.10.1937. Ähnlich: Tidning för Skaraborgs Län, 15.10.1937: Nachdem Alva und Gunnar – dem Publikum bekannt durch ihre unfehlbaren Verkündigungen – endlich in das ersehnte Rampenlicht getreten seien, seien sie offenbar zu solcher Größe aufgestiegen, daß sich ihnen niemand mehr ohne sieben Verbeugungen nähern dürfe. 39. Abschrift der Eingabe an Pressens Opinionsnämnd, 29.9.1937, Ms., Bl. 5 (ARAB 405/6.1:13). 40. Alva und Gunnar an Pressens Opinionsnämnd, 25.10.1937 (ARAB 405/ 6.1:13).

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psychologischen Grundlage der Gesellschaftspolitik [samhällsarbete] selbst, die nicht ohne Gefahr ist.« Das Vertrauen der Mitbürger in Ehre und Verstand der Eliten wird verdorben, die sensibleren der angegriffenen Verantwortungsträger wiederum könnten sich verbittert zurückziehen. »Dadurch wird eine irrationale Auswahl der öffentlich engagierten Personen getroffen«, all das schade der Demokratie. 41 Darauf reagiert »Nya Dagligt Allehanda« gereizt und wirft den beiden indirekt »persönliche Glücksjägerei«, »politisches Strebertum« und »Bevormundungstendenzen« vor. 42 Die Schiedsstelle lehnt den Einspruch ab, worauf hin Alva und Gunnar aus der Publizistenvereinigung austreten. 43 Es scheint ihr einziger Versuch gewesen zu sein, sich jemals auf diesem Wege gegen die Presse zu wehren. 44 Die Episode zeigt dreierlei. Zuerst eine gewisse Dünnhäutigkeit von Alva und Gunnar, die in ihren öffentlichen Beiträgen »Nya Dagligt Allehanda« an sarkastischer Polemik nicht nachstanden und sie in ihren privaten Briefen sogar übertrafen. Als nächstes, daß beide sich als »modernes« Ehepaar bewußt in den Medien stilisierten, aber offenbar das Risiko scheuten, diese Lebensweise offensiv zu verteidigen, wenn der klassische »Mann unter dem Pantoffel«-Topos mobilisiert wurde – immerhin hätte sich die Schiebewand mühelos in ihr ehepolitisches Programm integrieren und an die Botschaft der Schreibtische koppeln lassen, als doppeltes Symbol der Emanzipation: gemeinsame Arbeit und einvernehmliche Separierung. Die Trennwand wurde aber gerade nicht zum Symbol für eine moderne, emanzipierte Ehe, sondern die zusammenstehenden Schreibtische, »Eheschreibtische«, wie Gunnar 1967 sagen sollte. 45 Schließlich wird erneut deutlich, was Alva und Gunnar unter politischer Rationalität verstanden, nämlich die konsensorientierte Arbeit von Experten, ungestört von Medien, die die Öffentlichkeit durch verzerrte Bilder verführen, was die Legitimation der Experten bedroht und ihrer Rekrutierung Schlagseite verleiht. Gebiete

41. [Alva und Gunnar an Pressens Opinionsnämnd], o.D. [November 1937?], Bl. 2f. (ARAB 405/6.1:13). 42. Anders Byttner, P.M. angående herrskapet Myrdals anmälan till Opinionsnämnden, 23.11.1937 (RA 770124/F1:4). Die detaillierte Erwiderung Alvas und Gunnars datiert vom 10.12.1937 (ARAB 405/6.1:13). 43. G. Myrdal, Hur styrs landet, S. 281 (der Bescheid der Schiedsstelle ist weder in den amtlichen Akten noch im Nachlaß zu finden). 44. Jedenfalls läßt sich in den Registern des Opinionsnämnd (die der Sperrfrist unterliegen) kein weiterer Schriftsatz der Myrdals finden (schriftliche Auskunft des Reichsarchivs vom 28.2.2007). 45. »Ja, wir haben Eheschreibtische [äkta skrivbord], so wie wir ein Ehebett [äkta säng] haben« (Världen är hans arbetsfält, Sveriges Radio, P 4, 24.1.1967).

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man nicht Einhalt, würden die politisch dominieren, die Schmutz werfen und Schmutz aushalten können. 46 Seit »Kris i befolkningsfrågan« müssen sie in der Tat einiges hinnehmen. Gunnar wird immer wieder als kleiner Junge neben erwachsenen Politikern karikiert, mit Hitler und Mussolini verglichen, oder, zusammen mit Alva, sozialistischer Tendenzen geziehen. 47 Zugleich sind sie zu Prominenten geworden. Als Alva einen schweren Skiunfall hat, berichten gleich mehrere Zeitungen darüber. 48 Und sie berichten natürlich über die Vortragsreisen der beiden, über Alvas Engagement für die Yrkeskvinnor, selbst die Anfrage der Carnegie-Stiftung, ob Gunnar nicht eine großangelegte Studie zur »Negerfrage« in den USA leiten wolle, wird reichsweit vermerkt. 49 Alva und Gunnar bieten drei Projektionsflächen: Man kann sie für alles Übel der neuen Zeit verantwortlich machen, für alle Fortschritte bewundern oder die eigene Unsicherheit über die gesellschaftlichen Veränderungen in Häme über beide ummünzen. Eine Meldung im Jahre 1934, daß Gunnar für den Posten des Finanzministers im Gespräch sei, spiegelt diese Ambivalenz. Denn sie enthält zugleich die Mitteilung, daß Alva damit für einen Ministerposten nicht mehr in Frage komme, da die Verfassung Ehepartner als Minister untersage. »Sie wäre sonst nicht ungeneigt gewesen, Hr. [Gösta] Bagge als Kultusminister zu folgen.«50 Das war unrealistisch, aber schon denkbar genug, um darüber zu ironisieren. Dann beginnt die Erfolgsgeschichte in den USA, und die Medienbilder ändern sich.51 Die Myrdals werden zu Kosmopoliten und Repräsentanten Schwedens stilisiert. Gunnars Abreise auf der »Gripsholm« wird notiert, als er 1938 zu einer zweimonatigen Vortragstournee in die USA aufbricht. Bei seiner Rückkehr hat er eine neue Doppelrolle gefunden. Er ist zum Deuter der USA in Schweden und zum Vertreter Schwedens in den USA geworden. Mit einiger Übertreibung erklärt er, warum Schweden ein Monopol auf Amerikas Sympathien habe: »Gehen wir die Welt aus amerikanischer Perspektive durch, gibt es nicht so viel, worauf der Durchschnittsamerikaner seine Sympathie richten kann.« Weder die europäischen Diktaturen noch 46. In anderen Artikeln kann die Schiebewand erwähnt werden, ohne daß es bei den Myrdals Anstoß erregt: M. Strömberg, Idealhemmet, som Myrdals måste lämna, S. 234, 236; Femina 28.8.1945; Dagens Nyheter, 15.1.1967. 47. Diverse Zeitungsartikel, 1935, 1936 (ARAB 405/5.1.1:18-5.1.1:21). 48. Dagens Nyheter, 27.3.1937; Göteborgs-Posten, 27.3., 31.3.1937; Östersunds Länstidningen, 30.3.1937; Jämtlandstidning, 31.3.1937; Östersunds-Posten 31.3.1937. 49. Div. Artikel, 1937, 1938 (ARAB 405/5.1.1:27-5.1.1:41). 50. Aftonbladet, 10.5.1934. 51. Siehe unten, Kap. IX.

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das von einem Advokatenparlament regierte Frankreich kämen in Frage, auch Chamberlain werde kritisch gesehen. »Die Amerikaner haben den Eindruck, daß das öffentliche Leben, die politische und soziale Arbeit dort [in den neutralen Staaten], insbesondere in Schweden, von Idealen beherrscht wird, die der Durchschnittsamerikaner als die seinen erkennt.«52 Daß er in Harvard fast als einziger Ausländer (und gemeinsam mit Walt Disney) die Ehrendoktorwürde bekommt, schmeichelt den schwedischen Journalisten deutlich, ebenso der Auftrag zur die Untersuchung der »Negerfrage«.53 Er bedient außerdem fortan den schwedischen Nationalismus mit einer patriotischen Formel: »Wir Sozialdemokraten« waren schon immer Internationalisten, doch in Schweden habe er, Gunnar, seine Wurzeln.54 »Natürlich verlasse ich mit Wehmut mein Heimatland«, läßt er wissen, als er mit Alva erneut in die USA aufbricht, um die »Negerstudie« in Angriff zu nehmen.55 Und er entwirft eine globale Mission für sich und seine Frau: »Im Grunde ist es immer dasselbe Ziel, für das wir arbeiten, nämlich eine besser organisierte menschliche Gemeinschaft [samhälle], wenn auch auf einem anderen Fleck der Erdkugel.«56 Alva dagegen wird von der Schriftstellerin Eva von Zweigbergk über Kinderpsychologie und Frauenfragen interviewt, und zur Frage, wie sie ihren Haushalt in den USA führen werde.57 In den Medien gerät die Abreise zum Fest. Die glückliche Familie wird von den Größen der Stockholmer Intellektuellenszene und Schülerinnen des sozialpädagogischen Seminars in einer Prozession zum Zug begleitet. Tränen in den Augen, Rosensträuße, sie lassen die Familie hochleben, und eine der Schülerinnen folgt gleich als Kindermädchen mit in die USA. »Wir kommen unbedingt zurück in zwei Jahren, versprach Frau Alva felsenfest – das wird keine lange Zeit. […] So long! Für den Professor: u.a. Studien in der Negerfrage; für mich: Studium der Kinderpsychologie an der Columbia-Universität. So long! So long, Sweden!«58 In Göteborg am Schiff 52. Stockholms-Tidningen, 12.7.1938. 53. Vgl. Göteborgs-Posten, 9.8.1938; Göteborgs Morgonpost, 9.8.1938; Social-Demokraten, 12.8.1938. 54. Göteborgs-Posten, 9.8.1938; Ny Tid, 2.9.1938. In Ny Tid klingt ein dritter Aspekt dieser Formel an: Die Schweden sind zu provinziell, um sich für die Umbrüche in den USA zu interessieren. 55. Social-Demokraten, 12.8.1938. 56. Ny Tid, 2.9.1938. 57. Dagens Nyheter, 10.8.1938; Übernahme bzw. Referat des Interviews durch Göteborgs-Posten, 10.8.1938; Eskilstuna-Kuriren, 11.8.1938; Berlinske Aftenavis, 22.8.1938. 58. Stockholms-Tidningen, 1.9.1938. Vgl. auch Ny Tid, 2.9.1938; Göteborgs Morgonpost, 2.9.1938; Nya Dagligt Allehanda, 3.9.1938.

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ein erneuter öffentlicher Abschied, erneut wird die Familie photographiert. Von der »Stockholms-Tidningen« wird Alva kurz darauf zu einer der zehn wichtigsten Frauen Schwedens gekürt,59 in den USA beschreibt dieselbe Zeitung sie in den Farben der Nationalfahne: »strahlend schön in ihrem enganliegenden blauen Kleid und ihrem schwedischgelben Haar – […] ein Flattern in Blau und Gelb, wie ein Mädchen um die Zwanzig, statt einer Mama mit einem Professor, drei Kindern und zahlreichen Untersuchungsberichten, um die sie sich kümmern muß. Die hübsche Wohnung liegt nahe dem Zentrum und der Universität, in den Bücherregalen stehen lange Reihen schwedischer Bücher, mehrmals klingelt das Telefon, Alva antwortet frei und nicht ohne New Yorker Zungenschlag.«60 Zu einem Vortrag Gunnars wiederum, so wird zufrieden vermerkt, marschieren zahlreiche Angehörige des diplomatischen Korps, des Obersten Gerichtshofes und des Kongresses auf. »Gunnar Myrdal und Schweden hatten einen großen Abend«, denn von Applaus unterbrochen und sprachlich so elegant wie ein Amerikaner, habe er andächtig lauschenden Zuhörern erklärt, »wie die schwedische Demokratie immer rationaler funktioniert und in der Nachbarschaft der roten und braunen Diktaturen an Stabilität gewinnt. […] Der Abend war ein Volltreffer für den Redner und das Land, das er repräsentierte.«61 So geht es zwei Jahre weiter, bis Alva und Gunnar mitten im Krieg, auf abenteuerliche Weise, nach Schweden zurückkehren, und das Land plötzlich zu klein für sie geworden scheint.

3. Eine »amer ikanische« Ehe Immer wieder wird Alva und Gunnar versichert, daß sie als ein ideales Paar bewundert (und beneidet) werden.62 Allen Konflikten und allen Selbstzweifeln zum Trotz63 imaginieren sie sich auch in den 30er Jahren als eine Einheit zweier gleichberechtigter Intellektueller, denen ein großes Projekt gelingt: »Uns soll glücken, was anderen mißlingt, denn wir sollen

59. Stockholms-Tidningen, 19.9.1938. Vier Jahre darauf gehört sie auf Platz vier zu den 20 Frauen, die das gegenwärtige Schweden repräsentieren (Svensk Damtidning, 5.12.1942). 60. Stockholms-Tidningen, 12.11.1938. 61. Social-Demokraten, 15.4.1939. 62. Z.B. Alf Ross an Gunnar, 7.3.1926; Johanna Cassel an Alva, 8.12.1929 (ARAB 405/3.2.1:1); Eve Burns an Alva, 26.11.1931, 25.1.1934 (ARAB 405/3.1.2:1); Erik Lundberg an Gunnar, 8.11.1932 (ARAB 405/3.2.1:6). 63. Siehe oben, Kap. III.

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sein, was kein anderer ist: ehrlich.«64 Nach wie vor wollen sie an den fundamentalen Gegensatz zwischen sich und »all den armen, armen Anderen« glauben.65 Alva ist weiterhin von dem überzeugt, was sie 1925 beschworen hat: »Mein Liebster [älskeman] – nun habe ich das Wort gelernt, mit dem ich unser Verhältnis charakterisieren [särteckna] will. Wir sind nicht allein ›intelligent verliebt‹ und ›bewußte Geschöpfe‹ und bodenständig [ jordfasta], ehrlich, freudbelesen oder relativistisch, denn das alles und sehr viel mehr findet sich in dem französischen Adjektiv lucide. Oder? Denn das ist ja unsere große Überlegenheit [övertag] über die Mitmenschen, daß wir es vermocht haben, die wunderlieblichste [underljuvaste] Liebe in die modernste Lebensauffassung hinein zu retten, die unbegrenzteste Romantik in das kausalitätsbewußteste Sein. […] [Wir müssen] uns noch einmal erinnern, daß unser gemeinsames Leben keine hilflose Gewohnheit ist, sondern daß es unsere selbst geschaffene Lebensform ist, daß sie uns mehr wert ist als alles Andere, und daß der Andere etwas weit Größeres ist als ein [bloßer] Mitbewohner.«66 Selbst wenn, wie wir sehen werden, hier einer Ehe gehuldigt wird, die so nicht existiert – der Anspruch, den meisten Schweden sowohl emotional wie auch intellektuell überlegen zu sein, steigert sich im Laufe der 30er Jahre erheblich. 1938, bei Auf bruch in die USA, versichern sie sich gegenseitig, daß die schwedische Politik ihre bevölkerungspolitischen Linien nicht selbständig fortzuführen versteht. »Es ist eine klare Sache, daß Leute von unserem Schlage fehlen. Es ist sicherlich nicht so einfach, die Plätze zu füllen und uns zu entbehren, wie man vielleicht glaubt«;67 Gunnar antwortet, daß sie in zwei Jahren in Schweden noch unabkömmlicher sein werden.68 Alvas Eigenlob thematisiert allerdings zugleich Verlustängste: »Komisch fühlt sich das an, ganz plötzlich nichts mehr zu repräsentieren. Vielleicht komme ich nie mehr zurück in irgendwelche inneren Zirkel. […] Wenn ich nicht so sicher wäre, daß wir eigentlich viel wertvoller sind, als was man auf Grund unserer leicht errungenen [lättfångna] Popularität glauben könnte, müßten wir sicher damit rechnen, vergessen zu werden. […] Aber unsere Plätze, unsere Gedanken, all das werden 64. Gunnar an Alva, 4.10.1920 (ARAB 405/3.3:7 [Hervorh. im Orig.]). 65. Alva an Gunnar, o.D. [Ankunftsstempel 11.10.1921] (ARAB 405/3.3:10).

Vgl. auch Alva an Gunnar, o.D. [Ende Oktober 1920] (ARAB 405/3.3:4); Gunnar an Alva, 12.9.1920 (ARAB 405/3.3:6); Gunnar an Alva, o.D. [Poststempel 10.4.1922] (ARAB 405/3.3:16). 66. Alva an Gunnar, 30.7.1925 (ARAB 405/3.3:21 [Hervorh. im Orig.]); ähnlich Alva an Gunnar, 5.7.1932 (ARAB 405/3.3:22). 67. Alva an Gunnar, 17.5.1938 (ARAB 405/3.3:23). 68. Gunnar an Alva, 5.6.1938 (ARAB 405/3.3:24).

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andere Menschen vereinnahmen.«69 Vielleicht auch deshalb beobachten sie jederzeit genau, wie intensiv die Medien sie wahrnehmen. Sie sind beunruhigt, wenn ihre Artikel nicht gedruckt zu werden scheinen.70 Sie registrieren aufmerksam, wenn die Zeitungen ihre Auftritte als große Ereignisse loben.71 Alva sendet Ausschnitte, in denen sie Erwähnung fi nden, bündelweise über den Ozean an Gunnar;72 die Sammlung der Ausschnitte offenbart, daß sie in den Artikeln nicht nur penibel ihre Namen unterstrich, sondern sogar – nach dem Druck! – zahlreiche, selbst marginale sachliche Fehler korrigierte.73 Als Gunnar 1968 in einem amerikanischen Kreuzworträtsel auftaucht (»Myrdal of Sweden«, sechs Buchstaben), wird auch das markiert und archiviert.74 Sie sind verwundert, wenn die Zeitungen ihre Reisen nicht vermelden: »Aber stand da nie ein Wort in einer Zeitung, daß ich [in die USA] gereist bin? Kein einziger Kommentar? Du verstehst, das ist ja von recht großem persönlich-politischem Interesse für uns, deshalb wäre es gut, das zu wissen, auch wenn Du keine Zeitungsausschnitte senden kannst, sondern nur darüber schreibst.« 75 Dann wiederum beruhigen sie ihre Verwandten, daß sie – irgendwo auf dieser Welt – schon wohlbehalten leben würden, wenn die Zeitungen nicht ihren Tod vermeldeten.76 Da ist natürlich Ironie im Spiel: »Gunnar is thriving like a prince with his great new job in the Post-War Planning Commission«, schreibt Alva zu einer späteren Gelegenheit. »He concocts a new scheme every other day, gets his committee members to work like slaves, attending two meetings of the commission a day. They don’t dare to play truant in fear he should socialize the country while they are absent! I suppose you can just see him gay in his saddle, when he is steering his twelve sub-committees along, the one with the higher number always a little bit more explosive than the 69. Alva an Gunnar, 8.6.1938 (ARAB 405/3.3:24). 70. Alva an Elsa und Gösta Gestad, 11.11.1941 (ARAB 405/1.2:9). 71. Z.B. Alva an Sissela Bok, 21.10.1956 (ARAB 405/1.1:9). 72. Eine maschinengeschriebene Liste von über 100 am 24.8.1941 (?) gesendeten Rezensionen, Notizen, Berichten, Interviews und Kommentaren, in denen sie erwähnt, besprochen oder portraitiert werden, ist erhalten (ARAB 405/ 2.3:12). 73. Das tut sie noch in den 70er Jahren. Als die Presse berichtet, sie sei mit einer Hirnblutung ins Krankenhaus eingeliefert worden, notiert sie an jedem Artikel, daß es sich als Herzinfarkt erwiesen habe (ARAB 405/5.1.1:175). 74. Name der Zeitung und Datum [1968] sind auf dem Ausschnitt nicht vermerkt (ARAB 405/5.1.1:128). 75. Alva an Else Kleen, 30.11.1941 (ARAB 405/1.1:9 [Hervorh. im Orig.]). 76. Alva an (vermutlich) Gunnars Mutter, 22.10.1957 (ARAB 405/1.1:9).

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previous one.«77 Aber letztlich ist es beiden ernst mit der Selbststilisierung als radikalen und unentbehrlichen Reformern. Geschickt flechten sie in ihre Bücher ein, wie bedeutend sie sind. Als sie mitten im Krieg aus den USA zurückkehren wollen, wird eine »phantastische diplomatische Aktion« in Gang gesetzt, damit die Briten ausnahmsweise einen der raren Passierscheine für die Ozeanreise (navycert) für sie ausstellen.78 Und als Gunnar 1974 gefragt wird, warum er sich nunmehr so wenig um Schweden kümmere, antwortet er: »Nja, ich denke schon, daß sich ein Doktor den ernsthafter Kranken zuwenden soll...«79 Damit setzen sie allerdings nur eine Tradition fort, die Gunnars Lehrer Gustav Cassel bereits gepflegt hat. Dessen Memoiren mit dem selbstbewußten Titel »Im Dienste der Vernunft« ist eine Leistungsbiographie in Reinform. Seite um Seite schildert er sich ohne jede Bescheidenheit als einen der innovativsten Ökonomen, der die ganze Welt bereist, die entscheidenden wirtschaftlichen Probleme durchschaut und originelle Lösungen entwickelt hat. Mit zahllosen Zitaten belegt er, daß er ein umjubelter Redner war, und daß die Zeitungen all seine Reisen aufmerksam beobachteten. Bei jeder Rückkehr nach Schweden suchten die Interviewer ihn an Bord des Schiffes auf. Schon er nutzte die Medien regelmäßig, um seine Botschaft an den Mann zu bringen, den Primat der Vernunft, der Gesellschaftsplanung und der Kooperation aller gesellschaftlichen Gruppen.80 Cassels Selbstüberschätzung war nicht einmal grundlos, denn als er 1929 durch Europa tourte, wurde die gesamte Reiserroute durch mündliche Berichte für die daheimgebliebenen Schüler nachgezeichnet.81 1945 schreibt Gunnar, in einer Diktion, die seinem Lehrer Ehre macht, einen Nachruf auf Cassel. Selbst mediokre Studenten würden nun die Fehler und Oberflächlichkeiten in dessen wissenschaftlicher Arbeit erkennen; in seiner »genialen Naivität« und überragenden Egozentrik habe er einem Kind geähnelt, über menschliche Beziehungen sei er von »unschuldsvoller Unwissenheit« gewesen. Aus Mangel an Erinnerungen und psychologischem Feingefühl erschöpften sich seine Memoiren in der Aufzählung, »wie recht er stets hatte, und für wie gut ihn alle andern hielten«, sowie in der Wiedergabe seiner Terminkalender: »Festlichkeiten zu seinen Ehren und andere kleine Triumphe«. Diskussionen habe er freilich vermieden, weil er die Positionen anderer nicht präzise zu erfassen und zu prüfen 77. Alva an Eve und Arthur Burns, 31.12.1944 (ARAB 405/3.1.2:1). 78. A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, S. 22f. 79. Aftonbladet, 29.9.1974. 80. G. Cassel, I förnuftets tjänst. 81. Gunnar an Gustav Cassel, 20.7.1929 (KB Ep.C1a/1.17).

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verstand. Seine Genialität sei es gewesen, sich die Gedanken seiner Kollegen anzuverwandeln und zu konstruktiven, systembildenden Ideen zu verschmelzen. Und in einem von Mißgunst, Neid, Engstirnigkeit, Kriecherei und falscher Würde durchsetzten Schweden sei Cassels fröhlicher, offener und selbstverständlicher Hochmut auf seltene Weise hervorstechend gewesen. Gunnar zeichnet das Bild eines kindlich-naiven, offenherzig-arroganten, durchaus generösen Wissenschaftlers und begnadeten Lehrers, dem seine eigenen Unzulänglichkeiten vollkommen verborgen geblieben sind.82 Für diesen Nachruf bieten sich drei Lesarten an. Oberflächlich betrachtet sieht das wie ein veritabler Vatermord aus. Allerdings läßt sich kein Grund finden, warum Gunnar sich rächen sollte. Er hatte bereits 1933 Cassels Lehrstuhl beerbt und sich schon vorher als einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler Schwedens profi liert. Es gab keine Konkurrenzsituation, denn die Jungen der »Stockholmer Schule« hatten sich recht mühelos anstelle ihrer Lehrer etablieren können. Die zweite Lesart erschließt sich aus einer Passage des Nachrufs und einem Briefwechsel mit Eli Heckscher. Nachdem Gunnar ausführlich Cassels problematische Persönlichkeit vorgestellt hat, kommt er zur heiklen Frage, warum dieser der intellektuellen Arbeit anderer keine Referenz erwiesen habe. Cassel, so Myrdal, habe eklektizistisch gelesen und rasch vergessen – was hängen blieb, hielt er bald für seine eigenen Gedanken.83 Das scheint viele von dessen Kollegen regelmäßig vor den Kopf gestoßen zu haben. In der Tat kritisiert Heckscher Gunnars Nachruf als viel zu freundlich. Cassels »Vergeßlichkeit« deutet er recht unverhohlen als plagiierendes Verhalten, Generosität habe er bei ihm nicht entdecken können, und er deutet persönlich ungute Erfahrungen mit Cassel an. Außerdem kritisiert Heckscher zweimal heftig, wie überaus schlecht Cassel seine Frau Johanna behandelt habe; Gunnar erwähne das mit keinem Wort. Er ist erstaunt, wie positiv der seinen Lehrer erfahren hat. Gunnar gibt zu, die Erinnerungen gar nicht gelesen zu haben, schon das Durchblättern sei zutiefst peinigend gewesen. Nur habe er eben den späten Cassel als kindlich, aber persönlich liebenswürdig und großzügig erlebt. Cassel sei über Gunnars wissenschaftliche wie politische Positionen verärgert und besorgt gewesen, habe sie nach hitzigen Diskussionen jedoch respektiert. Der Nachruf sollte deshalb Cassels Fehler deutlich machen, die so gravierend waren, daß nicht einmal das großmütige Genre des Nachrufs sie zu leugnen erlaubt hätte, zugleich aber zeigen, warum man ihn trotzdem habe mögen können – 82. Der Nachruf wurde 1953 erneut publiziert: G. Myrdal, Gustav Cassel 1866-1944 [sic] (Zitate S. 346f.). 83. Ebd., S. 350f.

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eine Verteidigungsschrift also.84 Und das legt möglicherweise eine dritte Lesart nahe, eine autobiographische. Zum einen zeichnet Gunnar Cassels Portrait über weite Strecken als Gegenbild zu sich selbst. Das GenialischUnreflektierte entspricht nicht seinem Selbstbild eines rationalen, seine Prämissen offen reflektierenden, empirisch arbeitenden Intellektuellen, der sein Unterbewußtsein durch wissenschaftliches Training kontrolliert.85 Der wissenschaftlichen Überwindung der »Alten«, die Gunnar mit seinem Buch »Vetenskap och politik i nationalekonomien« geleistet hat, entsprechen die unterschiedlichen persönlichen und wissenschaftlichen Stile, die er im Nachruf zeichnet. Zum andern aber mag er sich in einer ähnlichen Situation wie Cassel gesehen haben, denn mehrere Briefwechsel indizieren, daß Gunnar sich manchmal so heftig mit seinen Kollegen stritt, daß mühevolle Versöhnungsprozesse erforderlich waren.86 Den Vorwurf des Hochmuts konnte man durchaus auch dem oft polarisierend und durchaus verletzend argumentierenden Gunnar machen. Inszeniert er sich im Nachruf also indirekt selbst als wissenschaftlich rationaler, aber intellektuell ebenso großzügig und, trotz der manchmal rabiaten Fassade, persönlich als ähnlich schätzenswert wie sein Lehrer? War das eine vorweggenommene Entschuldigung? Das ist eine sehr weitgehende Lesart, doch seine eigenen Erinnerungen, die Gunnar später fragmentiert in verschiedenen seiner Bücher publizieren wird, ähneln denen Cassels in ihrer Großspurigkeit sehr. Vermutlich drückt sich in diesem Nachruf eine Unsicherheit aus, die Gunnar in seinen Briefen immer wieder erkennen läßt, jedenfalls beschreibt er für Cassel ein Wechselspiel von »Fassade« und »Wirklichkeit«, das sich auch für ihn ausmachen läßt: Die Sorge, daß die Umwelt hinter der Fassade nicht den »wahren« Charakter erkennt – und die Notwendigkeit einer lärmenden Fassade, um eine verletzliche Persönlichkeit zu schützen.87 Dasselbe läßt sich für den Lebensstil des Ehepaares Myrdal behaupten. Natürlich sind beide eng vernetzt in der intellektuellen und politischen Szene Schwedens. In staatlichen Untersuchungen, wissenschaftlichen 84. Eli Heckscher an Gunnar, 19.4., 23.4., 29.4.1945 (KB L 67/75:1); Gunnar an Eli Heckscher, 21.4., 27.4.1945 (KB L 67/38). Gunnar gibt zu, wie irritiert er und Alva waren, als Cassel seine Frau unmittelbar nach deren Tod vollkommen aus der Erinnerung ausgelöscht hatte. 85. Gunnar an Eli Heckscher, 21.4.1945 (KB L 67/38). 86. Beispielsweise Gunnar an Gösta Bagge, 13.4.1935; Gösta Bagge an Gunnar, 14.4.1935 (ARAB 405/3.2.1:2); Gunnar an Nils Wohlin, 4.6.1943 (ARAB 405/3.2.1:17). Vgl. auch H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 164f. 87. Vgl. G. Myrdal, Gustav Cassel 1866-1944 [sic], S. 349.

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Zirkeln, zahlreichen Diskussionskreisen, halbstaatlichen Organisationen, Mediendebatten, Radiodiskussionen, im Reichstag, in Ministerien und der Königlichen Wissenschaftsakademie treffen sie regelmäßig auf ihre intellektuellen und politischen Freunde und Gegner. Seit den 30er Jahren haben sie zudem Zugang zu intellektuellen Kreisen in den USA gewonnen, seit Ende der 40er Jahre sind sie durch ihre Posten bei der UN weltweit vernetzt. Brieflich werden über weitere Strecken hinweg Freundschaften und Erinnerungen an bereits genossenes oder Erwartungen an künftiges gemütliches Beisammensein formuliert.88 Die Sammlung mit (privaten) Photographien in ihrem Nachlaß zeigt, wie sie habituell in offi zielle Empfänge, politische Beratungen oder das gediegene intellektuelle Lebensmilieu der USA einschmelzen (wo die Frauen Tee ausschenken, kochen oder wie Skulpturen als Teil der Hauseinrichtung drapiert werden, während die Männer diskutieren). Gäste zu empfangen oder Gast zu sein, ist in diesem Leben zum Normalzustand geworden. Für die 40er und 50er Jahre sind mehrere Gästebücher erhalten, in denen Alva notiert hat, wer geladen war, was serviert wurde und manchmal sogar die Gesprächsthemen. Die Listen sind bevölkert mit schwedischen und ausländischen Ministern und Staatssekretären, Direktoren, Legationsräten, Professoren, Verlegern, Hofgerichtsräten und Anwälten, Behördenleitern, Architekten, Botschaftern, Chefärzten, den Professorengattinnen der Stockholmer Hochschule und einigen Frauen ohne Titel, manchmal auch ohne Namen. Ihnen werden – selbst im Krieg und stets auf edlem Geschirr – mehrgängige Menus mit beispielsweise Cocktails, Hummersuppe, geräuchertem Truthahn, Gänseleberpastete, Chateaubriand, Pommes Frites, Renrücken, Lammrücken, Apfelsinen, Wiener Mokkatorte und anderen österreichischen Spezialitäten, warmen Muffins oder Eis gereicht. Bei formloseren Einladungen gibt es Schnittchen, und der Abschlußkurs X des Sozialpädagogischen Seminars bekommt »nur Kohl und Hausgemachtes«, außerdem Mandelkuchen und Eis.89 Gesprochen wird über die schwedische Neutralität, Norwegen 88. Diese Briefe bilden ebenfalls ein eigenes Genre. In ihnen wird selten inhaltlich diskutiert, zumeist wird, über große Entfernungen und seltene Treffen hinweg, persönliche Nähe regelrecht inszeniert — in der Form von Entschuldigungen, sich nicht gemeldet zu haben, und der Versicherung, in Gedanken stets bei einem zu sein, ergänzt durch ausgewählte vertrauliche Mitteilungen, etwa über die Kinder, berufliche Rückschläge oder den Stand der Ehe. Deshalb kann aus diesen Briefen kaum auf die realen Beziehungen dieser Freundschaften geschlossen werden, sie zeigen vielmehr, wie die spezifische soziale Situation transnational vernetzter Intellektueller schriftlich operationalisiert wird. 89. Gästebuch Alva und Gunnar Myrdals, geschrieben von Alva, Eintrag Dezember 1946 (ARAB 405/1.3:2).

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oder die anstehende Umerziehung der Deutschen, es werden alte Erinnerungen ausgetauscht oder bei einem Herrenessen die Neuausrichtung der sozialdemokratischen Zeitschrift »Tiden« geplant. Die Dichte reicht von einer Einladung im Monat bis zu zweien pro Woche, bis zu 28 Personen werden empfangen. Bei den Gästen vom Kontinent vermerkt Alva (nach dem Krieg) manchmal politische Haltung und persönliche Eigenschaften. In Genf und Paris geht es so weiter, da schwillt die Zahl der Geladenen bis auf 200 Personen an. Unendliche Listen müssen geführt werden, Vorschläge für Einladungslisten, die Einladungslisten selbst, Listen über Zubzw. Absagen. Hin und wieder findet sich der qualifizierende Hinweis, daß ein Empfang »sehr gut« oder »sehr geglückt« war.90 Die Sitzordnung lehnt sich an traditionelle Formen an, d.h. Alva und Gunnar residieren an den Schmalseiten des Tisches. Man darf bei dieser Aufzählung nicht vergessen, daß Alva und Gunnar nun einmal mit der schwedischen Führungselite bekannt waren und die Empfänge in Genf zu den repräsentativen Aufgaben eines hohen UNBeamten gehörten. Trotzdem hat Hans Hederberg recht, wenn er die Gästelisten »überdeutlich ambitioniert« nennt (vgl. Abb. 17).91 Die Empfänge zielten schon in der Wohnung am Kungsholmsstrand auf die eigene Größe. Die vorgedruckten Gästebücher, die Alva nutzt, scheinen für aufstrebende bürgerliche Familien gedacht, die ihre Einladungen durch feierliche Einträge der Geladenen, ihrer Plazierung am Tisch, des Speiseplans, der kredenzten Weine und »erinnerungswerter« Ereignisse überhöhen und als Baustein in die Familiengeschichte einfügen können. Alvas Einträge dagegen laufen krakelig über die gedruckten Linien hinweg, die ihr nur einen, oft mißachteten, Anhaltspunkt für ihre Notizen geben – aber sie führt diese Bücher, selbst wenn sie keine Zeit hat, nennt für jeden Gast Titel und Funktion, und sei es nur »Verfasser«, »Frau« oder »Fräulein«. Ehefrauen führt sie selbst in den 70er Jahren noch unter dem Namen des Mannes (»Abteilungsleiter und Frau XY«). Ein Einladungsschreiben aus dem Jahre 1964 zeigt, wie die Struktur solcher Empfänge möglicherweise auch in der Kriegszeit ausgesehen hat. Das Schreiben ist hektographiert, beginnt jedoch mit dem Personalpronomen »Du«: »Du bist hiermit zu einem Drink und einer Diskussion über handelspolitische Probleme mit schwedischen Wirtschaftswissenschaftlern sowie Robert Schwenger und Michael Nicholson, visiting research professors am Institut [für Internationale Ökonomie] in meine Wohnung 90. Gästebücher Alva und Gunnar Myrdals, geschrieben von Alva, 19431948, 1953-1967 (ARAB 405/1.3:2), 1968-1981 (ARAB 405/1.3:3). 91. Vgl. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 69; vgl. auch ebd., S. 84f., 206.

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Västerlånggatan 31, Mittwoch, den 23. September, 20 Uhr, eingeladen. Robert Schwenger wird die Diskussion mit einer Plauderei [kåseri] mit dem Titel: Considerations on International Trade Policy on the basis of expierence working in the U.S. Reciprocal Trade Agreements Program einleiten.« Zu- oder Absagen werden bis spätestens zum 21.9. an Gunnars Sekretärin erbeten; die Einladung datiert vom 8.9.92 Wie läßt sich diese Quelle lesen? Es ist eine unpersönliche Serieneinladung. Das »Du« (in der Kriegszeit allerdings noch unüblich) signalisiert eine persönliche Ansprache. Die Drinks und die Plauderei stehen für einen lockeren Rahmen, Diskussion und Titel der Plauderei für ernste Unterhaltung und geordnete Form, die Gastprofessoren für die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Einladungsdatum und Zusagefrist zeigen, daß die Einladung keine spontane Veranstaltung ist, sondern von beiden Seiten geplant werden muß. Und das ist durchaus typisch für das schwedische Gesellschaftsleben. Trotz des Informalisierungsprozesses, den das Land seit den 40er Jahren durchlaufen hat – am radikalsten ist die »Du-Reform« der späten 60er Jahre –,93 hat sich die Sitte, selbst unprätentiöse private Einladungen unter Freunden zu formalisieren, im Grunde bis heute gehalten. Es ist eine spezifische Form, Unsicherheit im geselligen Umgang zu kontrollieren. Durch die Formalisierung wird Lockerheit kanalisiert, durch die Plauderei Streit vorab entschärft (dieser Mechanismus wird besonders bei schwedischen Doktordisputationen deutlich: Zwei Opponenten gehen den Doktoranden inhaltlich hart an und zwingen ihn zu einer Verteidigung seiner – in der Regel bereits publizierten – Arbeit, ein dritter Opponenten muß währenddessen das Procedere durch scherzhafte Einwürfe auflockern). Und diesen Versuch, Unsicherheit aufzufangen, ohne die Begegnungen durch Überritualisierung erstarren zu lassen, dokumentieren wohl auch die Gästebücher. Durch die Empfänge versichern sich Alva und Gunnar selbst ihrer Bedeutung: ihrer Zugehörigkeit zu den führenden Schichten Schwedens. Die Formalisierung der Empfänge sichert ihre Inszenierung eigener Größe vor überraschenden Konfliktsituationen und verleiht ihnen gesellschaftlichen Glanz. Durch die Gästebücher fügen sie sich in einen bürgerlichen comment ein, durch die nachlässige Führung erheben sie sich über diejeni92. Hektographierte Einladung Gunnars, 8.9.1964 (ARAB 405/1.3:2). 93. Vgl. O. Löfgren, Hej, det är från försäkringskassan; Adelswärd, Tilltalsproblem och språkklyftor, S. 508-516. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die »Sie-Reform« gescheitert ist – die Ersetzung der unpersönlichen Anrede mit Nennung des Titels durch das Personalpronomen »Sie« –, legte der Direktor der Medizinalbehörde 1967 fest, daß sich alle Mitarbeiter fortan Duzen sollten. Das schien verwegen, machte aber nur eine Entwicklung offiziell, die sich bereits länger abgezeichnet hatte.

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gen, die sklavisch den Regeln (den vorgedruckten Linien) folgen. Deshalb spiegeln die Gästebücher das Selbstbild der Myrdals, zugleich die Formen der Gesellschaft zu beherrschen und über diesen zu stehen, und sie entsprechen Alvas Neigung zur exzessiven Kontrolle, in diesem Fall einer posthumen, genauen Kontrolle der eigenen Biographie. Nach außen hin geben sie sich durch ihre Umgangsformen als hinreichend schwedisch, also eingepaßt, aber sie zeigen sich stets »amerikanisch« genug, um als etwas Besonderes gelten zu können. Johanna Cassel spottete schon früh milde darüber: »Gestern Abendessen bei den Myrdals, fast ein Seminar […], sehr intellektuell und funkis. […] Etwas zu rosarot naiv in ihrem Glauben, daß, wenn man nur in Häusern mit runden Ecken und Metallstühlen wohnt, die Rätsel des Lebens gelöst sind.«94

4. »Frauensachen« Das immer wieder beschworene Ideal, die eigene Ehe als Liebesverhältnis zu erleben, wird allerdings weiterhin strapaziert. So jedenfalls erfährt es Alva. Sie schwankt zwischen Rührung, daß es auch Gunnar mit dem »Wir« ernst sei, der Sorge, zur Hausfrau zu degenerieren, und dem Trost, daß sie beide mit der Arbeit eine Welt haben, aus der die alltäglichen Bekümmernisse ausgeschlossen sind.95 1926 bejubelte sie den »großartigen Liebesroman«, den sie tagein, tagaus lebten.96 Die Briefe der frühen 30er Jahre zeigen aber, daß die alte Asymmetrie fortlebt. Alva berichtet über Jan, beschwört die Familie, appelliert an Gunnars Vaterliebe und fragt, was er denke. Der Gedanke, »richtig« zu arbeiten, erfüllt sie noch mit Schrekken, sie äußert Angst vor dem harten Weg und seiner Verachtung.97 Gunnar antwortet stets nur knapp. 1933 und 1934 sind ihre Briefe entspannter und fröhlicher, die vorher so spürbare Distanz und der beschwörende Ton fehlen.98 1935 liegen ein erfolgreiches Buch und der Beginn von Alvas öffentlicher Rolle hinter ihnen. Ihre Briefe werden deutlich kürzer, nüchterner, geschäftsmäßiger und ebenbürtiger. Beide machen nämlich eine neue Erfahrung: Ihnen fehlen »20 Leben«, um all die verlockenden Ange-

94. Johanna Cassel an ihre Kinder, Herbst 1932 (zit. nach I. Giöbel-Lilja, Gustav Cassel, S. 316f. [Hervorh. im Orig.]). 95. Alva an Gunnar, 19.3., 8.12.1930, 7.11., 29.12.1931 (ARAB 405/3.3:22). 96. Alva an Gunnar, 6.7.1926 (ARAB 405/3.3:21). 97. Alva an Gunnar, Juni (?) 1932 (ARAB 405/3.3:22). 98. Div. Briefe Alvas an Gunnar und vice versa, 1932-1934 (ARAB 405/ 3.3:22).

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bote annehmen zu können.99 Sie hetzen zu Vorträgen, Interviews und ins Ausland. Gunnar muß die Einladung ablehnen, in Island am Auf bau der Planwirtschaft mitzuwirken; Alva organisiert die zahlreichen Reisen und Interviews der beiden. Ihre Briefe teilen sie mittlerweile in »Geschäftsbriefe« und »Liebesbriefe« auf, wobei die Abteilung Liebe nun selbst bei Alva oft recht kurz kommt. Sie setzt sich dann manchmal hin und versucht ihm (und sich) dezidiert deutlich zu machen, wie wichtig ihr die Ehe ist, die nicht einfach eine Arbeitsbeziehung sein, sondern die gesamte Familie umschließen soll:100 »Gunnar – ich will ganz einfach etwas verliebt sein. Ich bin fed up mit den beiden Kindern und Vorträgen und Bevölkerungsfrage. Und trotzdem will ich nicht, daß Du das ganz wegschneidest: Meine Ambition ist ja, das alles zu vereinen. Ich würde so glücklich sein wollen, daß ich die generöse Einstellung zu meinem eigenen Leben hätte: daß alle diese Sachen in denselben Armen Platz fänden. Daß Du und die Kinder und die Arbeit zusammenwohnten, ohne einander Probleme zu bereiten. Aber willst Du das nicht auch? Was jagen wir eigentlich hinterher?« 101 Alva interpretiert weiterhin den Stand ihrer Ehe. Nach wie vor ist sie unsicher, wie sie Gunnar gegenüber auftreten soll, deshalb fordert sie, daß er die Initiative ergreife, bevor sie sich vorwagen könne.102 Zugleich will sie immer noch vereinen, was sich bislang als unvereinbar erwies und was sie auch künftig nicht in Einklang bringen wird, nämlich Gunnars Arbeit, die Familie und ihre eigene Entwicklung. Während sie systematisch eine »echte« Familie zu schaffen versucht, entzieht sich Gunnar ihrer Zumutung, seine Kinder zu lieben. Er kann mit ihnen nicht viel anfangen, nur das Zugeständnis, sich etwas nach ihnen zu sehnen, ringt er sich hin und wieder ab.103 Familie, das ist für ihn, zumindest in seinen Briefen, eine Skizze seines Arbeitsprogramms und die Klage: »Alva – warum verläßt Du mich so?«104 Auf Alvas Gesprächsversuche geht er nie ein. Und selbst Alva sabotiert ihren Traum. Sie mahnt zwar regelmäßig, daß sie ein weniger nervöses, weniger einseitiges, mehr auf die Gegenwart orientiertes Leben führen sollten (damit Jan nicht merke, wie unfähig sie zu Unmittelbarkeit und einfacher Freude seien), daß sie weniger reisen und mehr Zeit miteinander verbringen müßten. Aber auch sie zwängt die Mußestunden in enge Terminpläne hinein und ihre Klagen oft in die begeisterte Beschreibung 99. Alva an Gunnar, 21.4.1935 (ARAB 405/3.3:22). 100. Div. Briefe Alvas an Gunnar, 1935, 1936 (ARAB 405/3.3:22). 101. Alva an Gunnar, 28.1.1935 (ARAB 405/3.3:22). 102. Alva an Gunnar, o.D. [liegt dem Brief vom 28.1.1935 bei] (ARAB 405/

3.3:22). 103. Gunnar an Alva, 18.4.1935 (ARAB 405/3.3:22). 104. Gunnar an Alva, 28.1.1935 (ARAB 405/3.3:22 [Hervorh. im Orig.]).

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ihrer Arbeit.105 Gunnar stimmt in dieses Lied ein. Er sehnt sich in das ruhige Leben eines Wissenschaftlers zurück bzw. nach einem neuen Leben mit Alva.106 Doch 1948 ist selbst sein Geburtstag zu einem »konzentrierten festlichen Abend« geworden, den seine Frau ihm im Hotelraum bereitet. »In gewisser Weise viel richtiger als sich feiern zu lassen: in Paris zu sitzen und für ein nahezu hoff nungsloses Berlin zu arbeiten, und schließlich einfach gezwungen zu sein, etwas persönliche Wertschätzung zu erfahren.« 107 Alva wird zur Feministin (kvinnosakskvinna). 1931 werden in Schweden zwei Frauenorganisationen gegründet, der »Svenska Kvinnors Vänsterförbund« (»Verbund linksgerichteter schwedischer Frauen«) und der erste lokale »Yrkeskvinnors klubb«; im Jahr zuvor war der Anteil verheirateter berufstätiger Frauen bei Arbeitern auf 25%, bei Akademikern und Angestellten auf 10% gestiegen. Der Anteil der Arbeiterinnen hatte bereits seit 1860 bei 20% gelegen, weil ihre Löhne 30-50% unter denen der Männer lagen und sie zumeist arbeiten mußten. Akademikerinnen hatten sich ihre Position dagegen mühsam erkämpft. Erst 1925 durften verheiratete Frauen in den Staatsdienst eintreten, 1939 wurde die Praxis vieler Versicherungen und Banken verboten, den Frauen bei Heirat zu kündigen. Als die Wirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre Schweden erreichte, wurde diskutiert, ob und wie man berufstätige Frauen zugunsten arbeitsloser Männer aus der Berufstätigkeit drängen könne. Grundsätzlich setzte sich in den parlamentarischen Debatten seit 1925 mit knapper Mehrheit eine Mittellinie durch, die gleiche Rechte für Frauen forderte, aber die Hoff nung äußerte, daß diese freiwillig auf den Beruf verzichteten und ihrer »natürlichen« Berufung folgten. Auch die Frauenbewegung war gespalten. Sozialdemokratische Frauen standen, in Krisenzeiten, einem Recht verheirateter Frauen auf Anstellung im Staatsdienst durchaus skeptisch gegenüber. Es gab nicht weniger als vier Frauenideale: die Mutterschaft als Berufung für die Nation (samhällsmodern), die Hausfrau als Hüterin des Heims, die berufstätige Frau, ihre Familie versorgend, und die Feministin, die für die weibliche Staatsbürgerschaft kämpft (Det kvinnliga medborgarskapet). In den Klassenkämpfen der 20er Jahre genoß die Frauenfrage allerdings keine politische Priorität. Das änderte sich in den 30er Jahren, als Frauen in den Diskurs um die Moderne eingefügt wurden. Dadurch veränderten sich die Ideale. 105. Alva an Gunnar, 12.2.1930 (ARAB 405/3.3:22), 6.10.1938 (ARAB 405/3.3:23); Alva an Eve und Arthur Burns, 31.12.1944 (ARAB 405/3.1.2:1). 106. Gunnar an Alf Ross, 8.8.1929 (ARAB 405/3.2.1:1); Gunnar an Alva, 18.4.1935 (ARAB 405/3.3:22), 9.10.1943 (ARAB 405/3.3:27); Gunnar an Arnold Rose, 11.2.1947 (ARAB 405/3.2.1:16); Gunnar an Sigfrid Hansson, 25.2.1939 (ARAB 405/3.2.1:5). 107. Alva an Richard Sterner, 12.12.1948 (ARAB 405/3.1.2:5).

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Das Modell der samhällsmoder überzeugte kaum noch, im Mittelpunkt der Debatte stand nun stärker die berufstätige, funktionalistische Kameradschaftsehefrau, die Beruf, Ehe und Mutterschaft vereint, die gesellschaftspolitisch engagiert und eine bewußte Konsumentin ist, dadurch die Produktion stimulierend. Die Modelle der traditionellen, berufstätigen Frau, der Hausfrau, die die Hausarbeit als modernen »Beruf« ausübt, sowie der radikal gesellschaftskritischen Feministin blieben in der Diskussion allerdings ebenfalls präsent.108 Weibliche Erwerbstätigkeit war also selbst bei Frauen durchaus umstritten. Der Staat in der Wirtschaftskrise hatte ein Interesse, Frauen aus dem Arbeitsmarkt zu drängen, der entstehende Sozialstaat dagegen setzte auf die berufstätige Mutter, die die Produktion stützte und künftige Arbeitskräfte gebar. Daß die Frauenfrage derart ins Zentrum der Politik gerückt war, eröffnete den Raum für eine politische Diskussion der Frauenfrage und die Kritik der traditionellen Geschlechterordnung.109 Für die Yrkeskvinnor ging es in dieser noch uneindeutigen Situation zunächst darum, die bedrohten Errungenschaften zu verteidigen und dann auszuweiten. Zugleich stellte sich das Problem der »Doppelbelastung«. Für Arbeiterinnen machte eine staatliche Untersuchung in dieser Frage noch 1938 keinen Handlungsbedarf aus. Für berufstätige Ehefrauen der Mittelklasse sah das anders aus. Sie sollten von der Hausarbeit entlastet werden. Deshalb engagierte sich der YK in der Debatte um das Kollektivhaus und baute 1939 sogar ein eigenes, das »YK-Haus«.110 Der Verband veranstaltete Diskussionsabende, gab eine Zeitschrift heraus und publizierte Bestandsaufnahmen, in welchen gehobenen Berufen Frauen der Mittelschicht erfolgreich arbeiteten und welche Schwierigkeiten sie hatten.111 Die Zeitungen berichteten ausführlich über die Aktivitäten und die zunehmende internationale Vernetzung der Yrkeskvinnor.112 Dabei zeichneten sich auch diese Frauen durch eine charakteristische Ambivalenz aus. Im redaktionellen Teil der Zeitschrift »Yrkeskvinnan« fochten sie für die Sache berufstätiger Frauen, im Anzeigenteil ließen sie zahlende Unternehmen das traditionelle Frau108. Ausführlich: R. Frangeur, Yrkeskvinna eller makens tjänarinna?; vgl. auch C. Caldenby/Å. Walldén, Kollektivhus, S. 145-149; S. Neunsinger, Die Arbeit der Frauen – die Krise der Männer. 109. R. Frangeur, Yrkeskvinna eller makens tjänarinna?, S. 358. 110. C. Caldenby/Å. Walldén, Kollektivhus, S. 149. 111. Z.B. M. Palmær, Nutidskvinnan i närbild; C. Hermelin, Kvinnorna i arbetslivet; E. Wigforss, Kvinnors arbete och löner; E. Liliedahl, Svensk yrkeskvinna. 112. Div. Zeitungsartikel, 1937, 1938 (ARAB 405/5.1.1:32, 5.1.1:365.1.1:40).

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enbild transportieren: Frauen interessieren sich für Kleidung und Kosmetik und sollen in erster Linie attraktiv aussehen. Genau dieses Doppelbild begleitete selbst profi lierte Politikerinnen ihr Leben lang. Karin Kock, die sich als höchst begabte Angehörige der »Stockholmer Schule« seit den 30er Jahren systematisch, aber mühsam einen Platz in der öffentlichen Diskussion auf baute – 1945 verlieh ihr die Regierung einen persönlichen Professorentitel, also keinen Lehrstuhl, 1947 war sie erste Ministerin Schwedens –, wurde, wie Alva, stets auf ihre Weiblichkeit bzw. Vermännlichungserscheinungen hin abgeprüft.113 Ähnlich erging es Camilla Odhnoff. 1938 war ein Gesetzesantrag abgelehnt worden (an dem u.a. Gunnar Myrdal beteiligt gewesen war), der Frauen das Amt des Regierungspräsidenten eröffnet hätte. Die Begründung wurzelte noch ganz im latenten Bürgerkriegsdenken der 30er Jahre: In Unruhesituationen müsse der Regierungspräsident vor Ort sein und physisch seine Autorität geltend machen können.114 Als Odhnoff 1967 Ministerin ohne Portfeuille wurde (zuständig u.a. für Familienangelegenheiten), besuchte das Fernsehen sie zu Hause, zeigte sie mit ihren Kindern Kartoffeln schälend, während ihr Mann Zeitung las. Als Mutter, so sagt sie dann im Interview, wisse sie, welche Probleme sie als Ministerin angehen müsse.115 1975 wechselte sie als erste schwedische Regierungspräsidentin in die Provinz Blekinge. Dagens Nyheter beschrieb sie als attraktives, tüchtiges, wißbegieriges Schulmädchen, das sich auf immer neue Probleme stürze. Sie sage, was sie denke, habe trotzdem, dank der sozialdemokratischen Frauenorganisationen, so wird insinuiert, steile Karriere gemacht und entdecke nun die Mühen des politischen Alltagsgeschäfts. Eine Gattin (landshövdinska) bringe sie aus natürlichen Gründen nicht mit ins Amt. Und so portraitierte die Zeitung Odhnoffs Chauffeur, ein fähiges »Mädchen für Alles«. Tatkräftig gleicht er aus, was die Regierungspräsidentin offensichtlich zu tun versäumen muß: Er bekocht die Gäste (und anders als eine landshövdinska, so muß man hinzufügen, wird er für seine Unterordnung bezahlt).116 Die Kommunalpolitiker und Mitarbeiter geben sich freilich begeistert von Odhnoff, sie gilt als hartnäckig, unbestechlich und frei von Opportunismus. Auch das schildert der Artikel und ist daher durchaus nicht einseitig. Entscheidend ist jedoch, daß Frauen noch in den 70er Jahren zu113. Vgl. K. Niskanen, Forskning och vetenskap som social miljö; Dies., Karriär i männens värld. 114. Dagens Nyheter, 6.4.1938. 115. Aktuellt, Sveriges Radio, 28.12.1966. 116. Dagens Nyheter, 8.6.1975. Vgl. auch die Erinnerungen der zweiten schwedischen Ministerin, Ulla Lindström: U. Lindström, I regeringen; dazu: M. Sjögren, Statsrådet och genusordningen.

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erst als Frauen wahrgenommen wurden, denen man durchaus auch etwas zutraue. Dieses Muster war so wirkmächtig, daß es von den Yrkeskvinnor nur umgedreht, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt wurde: Frauen können viel leisten, sie sind aber doch auch Frauen. Und genau das charakterisiert Alvas Engagement für die Emanzipation von Frauen. Sie gehört den sozialdemokratischen Frauenzirkeln an und tritt dem Stockholmer YK bei, dessen stellvertretende Vorsitzende sie zwischen 1932 und 1934 ist, von 1936 bis 1938 und 1940 bis 1942 ist sie Vorsitzende des Reichsverbandes berufstätiger Frauen, 1938 bis 1947 Vizepräsidentin des Weltverbandes. Sie wird in das Netzwerkes liberaler Frauen eingewoben, schreibt in den wichtigen Zeitschriften »Morgonbris«, »Idun« und »Hertha«, hält Vortragsreisen und schaff t sich auf diese Weise eine eigene Plattform.117 Jetzt beginnt sie, das Problem, das sie seit ihrer Jugend begleitet, politisch und publizistisch anzugehen.118 Den Auftakt bilden einige spektakuläre Vorträge und Zeitungsartikel, in denen sie die systematische Erziehung der Mädchen zum Weibchendasein (quinnlighet) kritisiert. Sie würden zu Weibchen (Quinnor) gemacht, statt sich zu Frauen (kvinnor) entwickeln zu können.119 Ihre Existenzberechtigung steige mit dem Grad ihrer Hilflosigkeit und Abhängigkeit, ihre natürliche Aktivität und Initiativkraft werde erstickt. Das kompensierten sie durch eine geradezu neurotische Eigenliebe. Sie kaprizierten sich auf Schmuck, Flirts, ihre Eitelkeit, Intrigen, kleine billige Siege, und sie sammelten »Eroberungen« wie Kinder Briefmarken. Alva will keine Mannweiber, versichert sie auf Nachfrage, aber Frauen sollten sich die guten Eigenschaften der Männer aneignen. Die sogenannte »echte Weiblichkeit« sei nur eine hohle Fassade.120 Für Alva liegt die Ungleichheit der Geschlechter eindeutig in der Erziehung begründet, für konstitutionelle Unterschiede sieht sie keine Beweise. Sie führt eine lange »Klageliste«, wie Mädchen im Alltag durch zahllose kleine Handlungen und Verpflichtungen untergeordnet werden, wie sie durch die Hausarbeit systematisch unterfordert und ihrer Selbständigkeit beraubt werden und nicht einmal ihre Spielsachen frei wählen dürfen. Der Druck der Konventionen und Traditionen hält ein »von den Poeten gehegtes Frauenideal« aufrecht: »Man muß fein, weich, gefügig, empfindsam, still, schüchtern, süß usw. 117. Vgl. das Verfasserinnendiagramm, das die Vernetzung und Alvas zen-

trale Stellung zeigt: R. Frangeur, Yrkeskvinna eller makens tjänarinna?, S. 223. 118. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 175. 119. »Quinnor« und »quinnlighet« sind Kunstschöpfung, das »Q« soll den Weibchencharakter typographisch sichtbar machen. Die uneinheitliche Orthographie im Original. 120. Alva im Interview mit dem Ekstrabladet, 8.2.1934, sowie dem Eskilstuna-Kuriren, 10.2.1934.

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sein. Im Grunde nichts Schlimmes, wenn man nur nicht gleichzeitig darauf verzichten müßte, gewisse andere Eigenschaften zu entwickeln, die männlich genannt werden: sachlich zu sein, tüchtig, logisch, ehrgeizig, selbständig.«121 Das leichtfertige Gerede über angebliche natürliche Interessen und angeborene Charakterzüge seien ungeprüfte Hypothesen. Es ist ein Axiom für Alva, daß Frauen ein Recht auf die gleiche Arbeit wie die Männer haben.122 Biologische Differenzen leugnet sie nicht, aber sie spielten für die Berufstätigkeit keine Rolle. Unterschiede in Körperkraft oder Sprachbegabung ließen sich immer nur in Bezug auf den statistischen Durchschnitt belegen, daraus aber dürfe kein Berufsverbot für Individuen abgeleitet werden.123 Kurz darauf will sie zusammen mit drei weiteren Gattinnen die weiblichen Titel abschaffen. Sie fanden es lächerlich, wenn sich Ehefrauen gegenseitig – wie in Schweden damals üblich – ständig als professorskan usw. titulierten.124 Gerade diese Titel würden überdeutlich die sekundäre Stellung der Frauen unterstreichen.125 Das Fach Haushaltslehre an den Schulen stört sie, weil es die Jungen nicht einbeziehe und, im Falle einer geplanten Ausweitung, die Mädchen von der Staatsbürgerkunde ausschließe. Überdeutlich, und durch den Staat sanktioniert, werde das Vorurteil zementiert, daß gesellschaftspolitisches Engagement nichts für Frauen sei.126 Frauen sollen Priester, Professoren und Regierungspräsidenten werden dürfen. Mit untergründigem Zorn referiert sie, wie viele Frauen es in leitenden Positionen gibt: Drei weibliche Rechtsanwälte, 16 Verfasserinnen und Journalistinnen, ein deutliches Übergewicht an Frauen im Pflegedienst, aber nur sieben Ärztinnen, 25 Zahnärztinnen und 41 Apothekerinnen auf je 100 Männer; keine staatliche Veterinärin.127 »Eine unsichtbare Hand dirigiert sie sanft, aber bestimmt davon [von den höheren Posten] weg. Es ist etwas eigenartig, in der Statistik für ›höhere Verwaltungsposten im Dienst des Staates‹ 44, ich sage 121. A. Myrdal, Uppfostran till »äkta quinnlighet«, S. 203. 122. Social-Demokraten, 8.2.1935, in Kurzform: Arbetaren, 9.2.1934. 123. Alva Myrdal, Karlgöra och kvinnoarbete, o.D. [1935?], Ms., Bl. 5 (ARAB 405/2.3:1). 124. Ein solcher Dialog klänge folgendermaßen: »Würde Professorin X wohl die Liebenswürdigkeit haben, der Ingenieurin [d.h. »mir«] die Milch zu reichen?« – »Aber gerne doch, Ingenieurin Y. Ich sehe jedoch, daß Redakteurin Z keinen Kuchen mehr hat. Würde Ingenieurin ihr noch ein Stück reichen können?« 125. Göteborgs-Tidningen, 14.8.1936; Idun, 15.8.1936. 126. A. Myrdal, Medborgarkunskap efter kön. 127. A. Myrdal, Den svenska kvinnan i industri och hem, S. 208-212; ähnlich deprimierende Zahlen bei E. Wigforss, Kvinnors arbete och löner, S. 71-75.

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44, Frauen und 4700 Männer zu finden. […] So sieht die erwerbstätige Frauenwelt also heute aus: viel schwere, graue Arbeitsbelastung und wenige Spitzenkarrieren.« 128 Die Barrieren müssen weg, aber dann, so Alva, sollen die Frauen weniger reden und mehr handeln. Sie müssen sich abhärten, Ausbildung verschaffen und höhere Examen ablegen. Zwei Dinge vor allem hinderten sie oft am Erfolg: Sie begnügten sich mit niederen Diensten und hätten keine richtig straffe Arbeitsmoral.129 Sie träumten von einer fi lmreifen Ehe, die ihre Probleme löse. »Die gefährlichsten Vorurteile gründen letztlich in der Blindheit der Mädchen und der Eltern.«130 Doch der Krieg ist die große Chance. Wenn nicht jetzt, dann wird sich nie etwas ändern. Als Offizierinnen und Ingenieurinnen zeigen die britischen Frauen, was sie leisten können, und nach dem Kriege werden die Klischees von »männlich« und »weiblich« auf dem Arbeitsmarkt zerschlagen sein.131 In den Zeitungen findet Alva wohlwollendes Gehör. Man stimmt zu – aber auf eine merkwürdige, die Probleme glattbügelnde Weise. Die Zeitschrift »Idun«, in der Alva ihre Ansichten zuerst veröffentlicht hat, hat vier Männer aufgetan, die ebenfalls keine Quinnor wollen, sondern kvinnor. Letztere seien ohnehin der Normalfall geworden, Mädchen, die Quinnor würden, täten das aus Bequemlichkeit und freien Stücken. Dann schildert Agne Alm seine Ehe. Alms Frau hat einen Beruf – wie er. Sie hat einen Haushalt zu führen – wie er. Nun, das stimmt nicht ganz. Im Haushalt tut sie doch mehr. Nicht aus Prinzip, sie hätte durchaus das Recht zu fordern, daß er den Abwasch zur Hälfte übernähme. Allein, er ekelt sich vor dem Abspülen und trocknet lieber ab. Doch bevor er diesen Gedanken fertiggedacht hat, hat sie in der Regel auch diese Arbeit schon erledigt. Im übrigen kommt zweimal die Woche eine Quinna mit Q und führt den Haushalt. Damit ist er sehr zufrieden. Die Redaktion schließt den Artikel optimistisch: so klingen Männer der jungen Generation. In vielen Kreisen scheint die quinnlighet ausgedient zu haben, da wird nur die kvinnlighet geschätzt. Aber reaktionäre Winde wehen noch und könnten der quinnlighet als trotzige Gegenreaktion wieder Auftrieb verschaffen – diese Gefahr werde professorskan Myrdal wohl bedacht haben, als sie gegen die quinnlighet 128. De unga kvinnorna och yrkesvalet. Radiodiskussion (förslag), torsdagen den 3 sept., o.J. [zwischen 1932 und 1934], Ms., Bl. 6f. (ARAB 405/4.1:5 [Hervorh. im Orig.]). 129. A. Myrdal, Kvinnliga präster, landshövdingar och mera sådant. Vgl. auch Dies., Nu måste kvinnorna visa sitt politiska och sociala intresse; Dies., Kommentarer, S. 151-156. 130. Alva Myrdal, Karlgöra och kvinnoarbete, o.D. [1935?], Ms., Bl. 7 (ARAB 405/2.3:1). 131. A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien, S. 51-71.

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zu Felde zog.132 Noch offensichtlich ambivalenter demonstriert »Aftontidningen« die Problematik. Sie inszeniert das Theaterstück »Myrdal contra Myrdal«. Szene ist die Terasse ihrer Villa an einem Hochsommersonntag. Ein Photo (Abb. 8) zeigt beide in ihrer Hollywoodschaukel (hammock), ein Möbelstück, das Schweden erst in den 60er Jahren erreichte, Alva sieht man akkurat weiblich gekleidet und in damenhafter Haltung Gunnar zugewandt zur Seite sitzend, Gunnar sitzt raumgreifend entspannt, eine Sonnenbrille in der Hand, zwar mit Krawatte, aber Hausschuhen an den Füßen. Gegeben wird ein »Gespräch über männlich und weiblich«. Es beginnt so: »Gunnar: weiblich und männlich – aber das sind zwei Rollen, die die Gesellschaft uns aufgezwungen hat. / Alva: (Eintritt mit einem Tablett nach einer sekundenschnellen Demonstration, wie sich ihr amerikanisches Sommerkleid mit einem Handgriff in Sonnenkleidung verwandeln läßt).« Erst dann kommt sie zu Wort.133 Sie argumentiert mit Herzblut und allem Ernst, er assoziiert mehr und bewahrt eine deutlich ironische Distanz zum Thema. Alva demonstriert bis zu den hochhackigen Schuhen hin eine perfekt gestaltete Weiblichkeit, Gunnar äußert, nach eigener Aussage in Geschlechterfragen von seiner Frau ausgebildet, Meinungen, die heute als Satire gelten müssen. Frauen könnten sich einfacher im Lebenskampf behaupten, ihnen stünden Prostitution und Heirat offen. Die klassische bürgerliche Ehe sei entsetzlich, mit einer Frau, die sozusagen zum Mobiliar gehöre – Gunnar pflegt sie Eichenbuffet zu nennen –, die aber weder gut koche, noch ihre Kinder erziehen könne, noch erotisch anziehend sei, und einem armen Kerl, der hinnehme, daß er so wenig für sein Geld und all seine Schinderei bekomme. Alva antwortet mit ihrer »Lieblingsthese«, daß ein je sechsstündiger Arbeitstag für Mann und Frau ihnen gemeinsame Freizeit beschere, die sie zusammen mit ihren Kindern verbringen könnten, ohne die ihnen aufgezwungenen Geschlechterrollen spielen zu müssen. Ganz begeistert projiziert sie diesen Zustand auf ihre eigene Ehe: »Alva: Das [Alvas und Gunnars silberne Hochzeit] ist genau das, was so herrlich ist. Und einen richtigen Unterschied, was weiblich und männlich ist, sehe ich nicht. Während eines langen Zusammenlebens verschwindet das Gefühl dafür, was das Eine oder das Andere ist. / Gunnar: Zumindest, was die Arbeit betriff t. Du kannst wohl nicht sagen, daß Du unterdrückt worden bist. Es passiert ebenso oft, daß ich ein Manuskript für Dich ins Reine schreibe wie Du für mich.« 134 An anderer Stelle wird sie befragt, wie sie als Hausfrau 132. Idun, 4.3.1934. 133. Aftontidningen, 5.7.1944. Verfasserin des Gesprächs war Célie Brunius, Vorsitzende der YK. 134. Ebd.

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und Mutter nebenbei noch so fordernde politische Aufgaben bewältige? Sie lächelt still und etwas überlegen und erklärt, daß sie gut organisiert sei. Im übrigen habe sie während der Arbeit an »Kris i befolkningsfrågan« die Hausarbeit mit Gunnar geteilt. Wenn sie schrieb, kochte und spülte er, und umgekehrt.135 Abgesehen davon, daß sie in den zitierten Passagen ihren nie verwirklichten Traum auf blitzen läßt – Arbeit, Haushalt und Mutterschaft zu vereinen, alles gleichberechtigt mit dem Mann zu teilen –, lassen diese noch etwas anderes erahnen: Alvas Feminismus ist tendenziell konfliktfrei. Sie hätte nämlich auch anders reagieren können.

5. Konfliktfreier Feminismus Mit einem Fragebogen will die »International Federation of Business and Professional Women« 1939 erkunden, welche persönlichen Erfahrungen herausragende Frauen im öffentlichen Leben gemacht haben. Alva füllt den Entwurf aus. Das Bild, daß sie durch eine dreistufige Skala und einige handschriftliche Kommentare von sich zeichnet, ist verhalten optimistisch. Finanziell ist sie von ihrem Mann »etwas«136 abhängig, der Haushalt hindert sie »etwas« in ihrer Tätigkeit, aber immerhin hatte sie im letzten Jahr 50 Wochen arbeiten können, nur zwei war sie wegen Krankheit ausgefallen. Als Mann hätte sie es leichter, aber ihren Erfolg schreibt sie in erster Linie ihrer eigenen Leistungsbereitschaft, guter Presse, ihrem Redevermögen und der relativen Freiheit von Haushaltspflichten zu, weniger einflußreichen Freunden oder dem Mangel an qualifizierten männlichen Kontrahenten. Gewisse Schwierigkeiten bereite Gunnar, der in einem ähnlichen Gebiet wie sie tätig und ihr bei der Vergabe wichtiger Posten mehrfach vorgezogen worden sei: »wurde einer für ausreichend gehalten?«, fügt sie, interessanterweise in der Vergangenheitsform, hinzu. Insgesamt schätzt sie sich als politisch interessierter, radikaler, weniger neidisch und weniger intuitiv handelnd als die Mehrzahl schwedischer Frauen ein; sie kann besser einer Mehrheitsmeinung widerstehen, hat »viele« absolut richtige Ansichten, die der Politik dienen könnten, und ist der Meinung, daß Gesetze Männer und Frauen gleich behandeln müßten (in beiden Fragen stimmten nur »wenige« Frauen mit ihr überein). Sie sieht sich als zugänglicher für Untergebene und kann in ihrem Innersten eventuell bessere Argumente

135. Nya samhället, 1.5.1935. Der Artikel unter dem Titel »Tüchtige Frauen«, erschien wortgleich in über zwölf Zeitungen. 136. Die Skala lautet für die meisten Fragen: »sehr« – »etwas« – »gar nicht«.

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eines Gegners eher anerkennen.137 Eine Reihe von Antworten evoziert geradezu den Anschein, als engagiere Alva sich in erster Linie, weil ihr das soviel Spaß macht, und erst dann, weil sie Reformen für notwendig hält. Problematisch scheinen für sie weniger gesellschaftliche Strukturen oder Männer – das legt nur kleinere Hindernisse in den Weg – als vielmehr die Mehrzahl der Frauen, die unpolitisch denkt oder sich von Emotionen und Intuitionen leiten läßt. Eine andere Episode illustriert diesen Eindruck. Im Februar 1934 treffen sich elf Frauenverbände in Kopenhagen. Der Saal des »Kvindelig læseforening« (»Leseverein der Frauen«) ist gefüllt mit Zuhörerinnen und Zuhörern, die die Situation berufstätiger Frauen diskutieren. Nach einigen Vorträgen – unter anderem hat Gunnar Werbung für das Kollektivhaus gemacht –, »explodierte die Bombe«. Der sozialdemokratische Bürgermeister Peder Hedebol erhebt sich und erklärt das Kollektivhaus für überflüssig. Frauen wollten nämlich keine Kinder mehr bekommen, weil sie lieber reisten, ins Kino gingen oder Jazz tanzten. Als eine Zuhörerin ihn verärgert unterbrechen will, weist er sie zurecht: »Kleine Frau Arenholt, nun sollen Sie stille schweigen und einen vernünftigen, alten Mann sprechen hören.« Die wirtschaftliche Lage spiele keine Rolle, die Hausfrauen wünschten keine Kollektivhäuser (»Doch, doch«, tönt aus dem Publikum). »Nein, sie wollen keine, sagte Hedebol und trocknete sich die Stirn, denn wir sind kein diszipliniertes Volk, wir wollen nicht marschieren und im Takt gehen, sondern jeder für sich in seiner eigenen Gangart schlendern.« Es ergeht ihm allerdings nicht gut. Zuerst halten drei Männer dagegen, Gunnar als zweiter. Dann ergreift die Fabrikinspektorin Julie Arenholt das Wort und zahlt Hedebol mit gleicher rhetorischer Münze zurück. Sie bescheinigt ihm, sachlich vollkommen unbeschlagen zu sein. Seine Behauptungen träfen allenfalls auf »ein paar gleichgültige Luxusfrauen« zu.138 Der Abend, und das ist das eigentlich Interessante, sorgt für erheblichen Aufruhr in den Zeitungen.139 Mehrere dänische und schwedische Blätter berichten über den Eklat und machen damit publik, daß eine konservative männliche Position auf entschiedenen Widerstand stößt. »Svenska Dagbladet« ist allerdings unglücklich. Hedebol und Arenholt seien sich auf kindische und unwürdige Weise gegenseitig über den Mund gefahren. Das sei ein weiterer Beweis für die Gehässigkeit, die zwischen Männern und Frauen 137. Anschreiben und Fragebogen, Ms., o.D. [1939] (ARAB 405/4.1.2:4). 138. Alle Zitate nach Politiken, 10.2.1934. 139. Dagens Nyheder (Dänemark), 10.2.1934; Politiken, 10.2.1934; Aalborgs Stiftstidende, 10.2.1934; Berlingske Tidende, 10.2.1934; Social-Demokraten, 11.2.1934; Svenska Dagbladet, 11.2.1934; Katrineholms Kuriren, 12.2.1934; Göteborgs-Posten, 12.2.1934; Västerbottens Folkblad, 20.2.1934.

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entstanden sei. »Wenn eine solche Sache wie das Heim, das wohl unter allen Umständen für beide Geschlechter von Interesse sein muß, nicht unter praktischen und sozialen Gesichtspunkten debattiert werden kann, wie es für oben genannten Vortrag [Gunnar Myrdals] gilt, ohne daß sich die beiden Gesprächspartner gegenseitig mit Beschuldigungen angreifen, dann ist es wirklich traurig bestellt! […] Es sieht aus, als ob nun fast alles eine gehässige, politische Streitfrage zwischen den beiden Geschlechtern werden könnte. Ist es nicht traurig und sonderbar in einer Welt, die so unglücklich und solche Schlagseite hat, daß man denkt, es bedürfe aller Mann an den Pumpen – selbst der Frauen...«140 Genau dieses Bestreben, konkrete Konflikte zwischen den Geschlechtern in einer vorgeblichen Interessengemeinschaft Aller aufzuheben, spiegelt sich in Alvas Reformvorschlägen. Natürlich sagt sie ihre Meinung, sogar sehr deutlich, wenn sie Ehefrauen mit den pet negroes vergleicht, die sich Amerikaner gerne hielten,141 und sie eckt damit an. Aber zumeist reagiert die Medienöffentlichkeit mit freundlicher Geschmeidigkeit auf die Kritik der Geschlechterrollen, und Alva stößt nicht nach, um einen Agne Alm und dessen Leser aus ihrer bequemen Lebenshaltung aufzustören. Würde der nämlich schneller denken, könnte er vor seiner Frau abtrocknen. Darauf hätte Alva hinweisen können. Yvonne Hirdman hat diese Art Feminismus als »konfliktfrei« und als eine »akteursfreie Unterordnung« charakterisiert.142 Und Alva führt uns vor, wie man derart versuchen kann, die gesellschaftlichen Probleme von Frauen zu lösen, ohne die gesellschaftlichen Fundamente der Geschlechterordnung abzutragen. Die erste Lösungsstrategie ist, wie wir gesehen haben, die Ausgliederung der Kinder, um die Mütter von der Erziehungsaufgabe zu entlasten, die Ehepartner von den Reibereien zu befreien, die Kinder in einer Familie verursachen, und die Kinder vor überforderten Eltern und den daraus resultierenden Fehlentwicklungen zu schützen.143 Die zweite Lösungsstrategie ist technischer Natur und baut auf der Faszination des amerikanischen Lebensstils. Frauen müssen dem Haushalt entgehen können, sei es durch den Bau von Kollektivhäusern, sei es durch staatliche Maßnahmen: »Die Gesellschaft muß eingreifen und die Hausarbeit durch Halbfabrikate und andere arbeitserleichternde Maßnahmen reduzieren.«144 In den USA hat sie erfah140. Svenska Dagbladet, 12.2.1934. 141. Aftontidningen, 5.7.1944. Ähnlich argumentierte bereits 1934 Elin Wägner (U. Knutson, Kvinnor på gränsen till genombrott, S. 144). 142. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 179. 143. So argumentiert sie noch 1970: Intervju med Alva Myrdal angående Kyrkan och moralen, o.D. [März 1970], Ms., Bl. 7 (ARAB 405/2.3:31). 144. So Alva Myrdal in einem Interview, das am 7.6.1946 publiziert wurde

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ren, so schreibt sie zumindest, wie zauberhaft leicht das Leben einer Frau durch avancierte Technik und gute Organisation werden kann: »Wenn sie [die amerikanische Hausfrau] sich zum Putzen über den Fußboden bewegt, geschieht das mit leichten Schritten und sieht für den Beobachter nicht so aus, als handele es sich um dieselbe schwere Arbeit wie in Schweden. Wenn sie in ihrer Küche pusselt [plocka] und das Abendessen mit den üblichen vier Gängen hervorzaubert, scheint nichts schmutzig zu werden, alles sieht aus wie das geschickteste Spiel, alles scheint zu glücken. Nichts scheint Zeit in Anspruch zu nehmen: Wir sitzen und unterhalten uns, die Gastgeberin geht hinaus und macht einen kleinen Schnipser hier und dort – nach einem Weilchen ist alles fertig.« 145 Moderne Herde mit Thermostat, einfache Rezepte mit klaren Zeitangaben, standardisierte Maße und exakt gleichbleibende Qualität der Waren – nichts kann mißlingen. Und das, so Alva, »ist die Hauptursache für die Ruhe, die Fröhlichkeit, den Mangel an Nervosität und Eifer, die die Atmosphäre in einer amerikanischen Küche so harmonisch macht«.146 Dann gleitet die Hausarbeit ins Familienleben hinein, jeder bekommt eine kleine Rolle zugewiesen, und die Arbeit wird geadelt, weil sie offen und gemeinsam geschieht, statt in die Hände dienstbarer Geister abgeschoben zu werden. Die dritte Taktik besteht in der Heimholung der Väter. Bereits in den frühen 30er Jahren hatte sie ein Manuskript mit dem Titel »Das Problematische in der Zukunft der Familie ist – der Vater« verfaßt. Ein zukünftiger Kulturhistoriker – das ist ein rhetorischer Kniff, um ihre Thesen durch den Vorgriff auf eine zurückblickende Zukunft gegen Kritik zu immunisieren – werde zweifellos konstatieren, daß die Krise der Familie vor allem eine Krise der Vaterschaft gewesen sein wird. Er wird die meisten Väter als juristische Fiktion beschreiben, die zwar Kinder hatten, diese aber nur kurze Zeit des Tages sahen. Schon heute könne man in »kalten Zahlen« die Bürde der Väter beschreiben; noch interessanter wäre es, mit exakten Methoden ihren Tagesablauf zu erfassen. Aus diesen Studien (die es also noch nicht gibt) werde der künftige Kulturhistoriker mit Sicherheit ablesen, daß der Vater ein schwindendes Wesen gewesen sei. Dann spricht wieder Alva. Eine große Gruppe nimmt ihre Vaterschaft nicht ernst und setzt uneheliche Kinder in die Welt, die weitaus meisten Väter aber sind Opfer der industriellen Gesellschaft. Als Junggesellen haben sie keine Familie. Als Ehemänner tragen sie eine schwere Bürde in der Ernährung ihrer Familie. Und als Scheidungsopfer werden sie aus der Familiengemeinschaft ausge(auf dem Zeitungsausschnitt ist der Name der Zeitung nicht mehr zu rekonstruieren). 145. A. Myrdal, Lovsång till den amerikanska husmodern, S. 6. 146. Ebd., S. 7.

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schlossen, sie verlieren, was sie im ersten Fall nicht haben und im zweiten kaum sehen, ihre Kinder. Mehrfach wird also ihre Rolle entwertet, deshalb müssen sie sich anstrengen, um von einer juristischen Person und einem bloßen Ernährer wieder zu einem lebendigen Kameraden ihrer Kinder zu werden (Abb. 33).147 Auch hier sind Strukturen zu verändern. Die Familien müssen ihre Freizeit so organisieren, daß ausreichend Zeit für die Kinder abfällt. Die Arbeitszeit soll auf sechs Stunden verkürzt werden, damit die Männer ihr Recht an ihren Sprößlingen zurückerhalten. Erst so werden sie ihren Frauen ein ebenbürtiger Ehepartner wie umgekehrt die, wenn sie einem Beruf nachgehen können. Die Frau ist nicht mehr durch die Hausarbeit frustriert, Konflikte verebben, und der genervte Mann fi ndet seinen Weg zurück aus den Kneipen. Beide bringen dann ihre Erfahrungen nach Hause, tauschen sich aus, führen den Haushalt und widmen sich dem Nachwuchs.148 Es entsteht eine harmonische »Kameradschaftsehe«, eine neue Gemeinschaft, nun auf der Basis größerer Unabhängigkeit für beide Ehepartner, gemeinsamer Interessen, geteilter Kenntnisse und gegenseitigen Respekts.149 Die vierte Strategie setzt erneut bei der Frau an, verlangt eine rationale Planung des weiblichen Lebensweges, d.h. eine Entzerrung der temporalen Struktur. Das ist eine typisch paradoxe Alva-Lösung, wie Yvonne Hirdman schreibt: sich nicht zu entscheiden, sondern kollidierende Rollen in getrennte (zeitliche) Räume zu verlegen.150 1956 publiziert Alva zusammen mit der britischen Soziologin Viola Klein das Buch »Women’s Two Roles«, im selben Jahr wird es ins Deutsche, im Jahr darauf ins Schwedische übersetzt.151 Das Buch baut auf der Diagnose auf, die Alva und Gunnar 147. Alva Myrdal: Det problematiska i familjens framtid är – FADERN, o.D. [1930er Jahre], Ms. (ARAB 405/2.3:7). Daß im Kollektivhaus die Kinder ebenfalls nur kurz bei ihren Familien weilen sollten, ist ein Widerspruch, auf den Alva nicht näher eingeht. Wie abwesend die Väter sind, zeigt auch die Zeitstudie von C. Boalt/G. Carlsson, Mor och barn från morgon till kväll, in der Väter kaum auftauchen. Vgl. zur Debatte um die »abwesenden Väter« auch K. Pehrsson, Barn i goda händer, S. 110-113. 148. Nya Samhället, 28.10.1944; Blekinge Läns Tidning, 28.10.1944. 149. A. Myrdal, Familjen, fostran och den nya tiden, S. 32; Dies., Den nya familjen, S. 34. Die Idee der Kameradschaftsehe ist nicht neu und keine schwedische Erfindung: B. B. Lindsey/W. Evans, Die Kameradschaftsehe; K. Fjelkestam, Ungkarlsflickor, kamrathustrur och manhaftiga lesbianer, S. 131-151; 150. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 344. 151. Zur Entstehungsgeschichte des Buches und zu der für Viola Klein nicht einfachen Zusammenarbeit vgl. E. S. Lyon, Kvinnor skriver om kvinnors dilemma.

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bereits in »Kris i befolkningsfrågan« gestellt haben, und die Alva in ihren Texten zur Frauenfrage immer wieder aufgegriffen hat.152 Die Frau ist in der modernen Industriegesellschaft zum Problem geworden, weil sie nicht mehr richtig eingepaßt ist. Ihre beiden Rollen – Haushalt/Mutterschaft und Erwerbstätigkeit – sind in Konflikt geraten. Die Technisierung des Lebens verspricht, daß sie künftig nicht mehr das eine »Vergnügen« (den ena sfärens glädjeämnen) für das andere wird aufgeben müssen,153 doch um beide Rollen wieder zu einer harmonischen Einheit zu verschmelzen, sind erhebliche Reformen nötig, in der Einstellung von Männern und Frauen, auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Myrdal und Klein gehen dabei einerseits von einer teleologischen Entwicklungsstruktur aus: Wissenschaftliche Entdeckungen führen zu technischem Fortschritt, der wiederum die Organisation der Gesellschaft umwälzt. Im Troß folgt schließlich die Anpassung von Einstellungen und Ansichten der Menschen an die neuen Verhältnisse.154 Andererseits muß dieser Gesellschaftswandel durch steuernde Eingriffe reguliert werden, und »Women’s Two Roles«, in einer solchen Umbruchszeit verortet, soll dazu beitragen. Zentral für das Buch ist der Entwurf eines Dreiphasenmodells für den Werdegang einer Frau. Ein langes und inhaltsreiches Leben will genau geplant sein, deshalb schlagen die Autorinnen vor, daß die Frauen ihr Leben als eine Serie dreier Abschnitte betrachten sollen, die jeweils von einer Aufgabe geprägt sind. In der ersten Phase sollen die Mädchen sich für einen Beruf ausbilden. Eine effektive Beratung muß sicherstellen, daß der Beruf ihren Talenten und Interessen entspricht, um keine Ressourcen zu vergeuden; ideal sind Berufe, die auch im Familienleben zu nutzen sind, etwa Krankenpflege, Ausbildung, Sozialarbeit, Personalführung oder im Restaurantwesen.155 Ungeeignet sind Tätigkeiten, die durch Reisen und unregelmäßige Arbeitszeiten geprägt sind (Diplomat, Chirurg) oder eine komplizierte Ausbildung erfordern – das erlernte Wissen kann nämlich in der zweiten Phase verloren gehen. In diesem zweiten Lebensabschnitt gründen die Frauen eine Familie, ziehen die Kinder groß und vermeiden 152. Exemplarisch: A. Myrdal, Den nyare tidens revolution. 153. A. Myrdal/V. Klein, Kvinnans två roller, S. 11. Ähnlich: M. Palmær, En husmor lever farligt; M. Bonnevie, Äktenskap och arbete. 154. A. Myrdal/V. Klein, Kvinnans två roller, S. 227. 155. Ebd., S. 165. In den 30er Jahren ist Alva davon ausgegangen, daß die Berufswahl vor dem Hintergrund »des bei allen Mädchen schlummernden – davon kann ich wohl ausgehen – Wunschtraum nach Heim und Mann und Kindern in der Zukunft« gesehen werden muß: De unga kvinnorna och yrkesvalet. Radiodiskussion (förslag), torsdagen den 3 sept., o.J. [zwischen 1932 und 1934], Ms., Bl. 2 (ARAB 405/4.1:5).

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es, ihr fachkundliches Kapital (yrkesskicklighetskapital) zu vergeuden, das in sie investiert wurde. Das wäre eine Sünde wider die Gesellschaft.156 Sind die Kinder dann aus dem Haus, beginnt die dritte Phase. Dank ihrer Ausbildung stellen die Mütter ein gewaltiges Reservoir an Arbeitskräften dar, das genutzt werden muß.157 Früher zerfielen Ehen, weil die Frauen zuerst unter der Doppelbelastung litten und nach der Kindererziehung plötzlich nichts mehr zu tun hatten. 1946 nannte Alva es das »Problem der überflüssigen Frau«.158 Diese bürdete ihrem berufstätigen Mann die ganze überschüssige emotionale Hingebung auf, und der hielt es rasch nicht mehr aus. Mit dem neuen Modell jedoch wären Frauen an keinem Punkt der Lebensbahn unvorbereitet, sie würden Unruhe und Enttäuschung vermeiden, weil sie nicht zu viel auf einmal machten, sondern sich der nächstliegenden Aufgabe widmeten, und sie hätten die Gewißheit, in einem langen Leben ihre Ziele letztlich auch verwirklichen zu können. Nun fänden sie in jedem Lebensabschnitt ihre Erfüllung: in der Ausbildung, in der Mutterschaft, im Beruf. Das Buch ist merkwürdig revolutionär und konservativ zugleich. Es schreibt Alvas Ansichten fort, die in den 30er Jahren radikal waren: daß Frauen ein Recht auf Erwerbstätigkeit und Selbstverwirklichung haben. Wenige Jahre zuvor hatte sie bei einem weiteren Aufenthalt in Genf schmerzhaft erleben müssen, daß sie als Frau in der hochkonservativen Schweiz nicht berufstätig sein konnte. Es konserviert aber die überkommenen Geschlechterstrukturen, indem es Frauen in die Gesellschaft einpaßt und die Gesellschaft nur soweit verändert, daß ein Freiraum für berufstätige Frauen entsteht. Mutterschaft und Beruf geraten nicht mehr in Konflikt, weil sie in hintereinander liegende Zeitphasen gegliedert werden. Und es signalisiert erneut eine ambivalente Haltung, wenn die Berufswahl der Mädchen zwar nach Neigung erfolgen soll, ihre Ausbildung grundsätzlich aber doch vor allem als Ressource für das Familienleben bzw. die Gesellschaft verstanden wird. An anderer Stelle zitieren Alva Myrdal und Viola Klein eine hohe britische Politikerin, die zufriedener mit einem guten Pudding sei, den sie gekocht habe, als mit jeder ihrer Reden im Unterhaus. Ähnlich habe sich eine Kollegin geäußert. Es sei richtig, so Myrdal und 156. A. Myrdal/V. Klein, Kvinnans två roller, S. 185. 157. Auch dieser Gedanke ist älter: De unga kvinnorna och yrkesvalet. Radiodiskussion (förslag), torsdagen den 3 sept., o.J. [zwischen 1932 und 1934], Ms., Bl. 4 (ARAB 405/4.1:5). 158. So Alva in einem Interview, das am 7.6.1946 publiziert wurde (auf dem Zeitungsausschnitt ist der Name der Zeitung nicht mehr zu rekonstruieren). Derselbe Gedanke wird 1939 angedeutet von U. Hjärne, Kvinnan, yrket och barnet, S. 17.

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Klein, daß beide Berufspolitikerinnen geworden seien, weil ihre Beschränkung auf häusliche Talente Vergeudung gewesen wäre – aber das Klischee, daß die Frau grundsätzlich dem Haushalt den Vorzug gibt, bedienen sie im Vorbeigehen eben doch.159 Und wenn beide fordern, daß die Ehemänner sich an der Hausarbeit beteiligen sollen, so sind es die »produktiven Hobbies« (skapande hobbies), die sie in die Interessengemeinschaft mit der Frau zurückführen und ihnen einen Anteil an deren Arbeit, ein Heim zu richten ( fruarnas »bobyggande« verksamhet), geben sollen.160 Derart wird der emanzipatorische Aspekt des Buches immer wieder konterkariert durch eine subkutane Propagierung der klassischen Geschlechterrollen. Die Uneindeutigkeit rührt daher, daß Alva, in Fortführung von »Kris i befolkningsfrågan«, weiterhin zwei Bereiche vereinen will. Zum einen hält sie bis weit in die Nachkriegszeit an der Beobachtung fest, daß sich die Familien unter dem Einfluß der Industrialisierung auflösen und deshalb neue Formen geschaffen werden müssen, um diese zentrale soziale Institution zu erhalten.161 Der Frau kommt dabei eine wichtige Rolle zu, die sie freilich nur wahrnehmen kann, wenn sie sich von einem erstickenden 159. A. Myrdal/V. Klein, Kvinnans två roller, S. 166. Natürlich ist es in einigen Berufen ein Topos zu betonen, daß das Private »wertvoller« ist als der Beruf, um sich selbst als »Mensch« zu zeigen. Aber welche privaten Aspekte heben Männer hervor? Selbst heute noch selten den Haushalt. 160. Ebd., S. 45f. 161. Vgl. einige exemplarische Texte, die zwischen 1933 und 1965 entstanden sind: A. Myrdal, Familjen göres om; Dies., Familjen, fostran och den nya tiden; Dies., Factors in Changing Family Patterns; Dies., Den nya familjen; Dies., Die Veränderungen in der Struktur der Familie in den letzten Jahren. Vgl. zur Diskussion um die Krise der Familien und zu den bis zum Jahrhundertbeginn zurückreichenden Versuchen, ihren Kern durch sozialpolitische Maßnahmen zu rekonstruieren: H. Bergman/P. Johansson, Familjeangelägenheter; Å. Lundqvist/C. Roman, Construction(s) of Swedish Family Policy; H. Bergman, Att fostra till föräldraskap, S. 229-277; B. Plymoth, Fostrande försörjning, S. 165189, 225f.; sowie diverse Untersuchungsberichte, die ganz unterschiedliche Probleme anschneiden, aber allesamt auf die Familien zielen, z.B. SOU 1935:2; SOU 1936:13; SOU 1936:14; SOU 1936:51; SOU 1936:59; SOU 1937:6; SOU 1937:43; SOU 1938:6; SOU 1938:7; SOU 1938:13; SOU 1938:15; SOU 1944:51; SOU 1945:4; SOU 1945:63; SOU 1947:46; SOU 1954:3. Vgl. auch T. Bohlin, Äktenskapets kris och förnyelse; C. Boalt, Familjeekonomi; M. Brunskog, Familjefrågor; H. Stolpe, Familjen och samhället; E. Sundahl, Framtidens bostad; Sveriges husmodersföreningars riksförbund, Hem och familj i skolans undervisning jämte några synpunkter på utbildningen för husligt arbete; sowie G. Bock/P. Thane, Maternity and Gender Policies.

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Lebensmuster befreit fühlt, so daß sie sich für ein modernes, weibliches Lebensmuster freiwillig selbst konditioniert. Sie kann erst dann die von der Gesellschaft verweigerte volle »Staatsbürgerschaft« (medborgarskap) erringen, wenn sie produktiv ist. Die drei Phasen im Leben einer Frau ordnet Alva in ein zweites Dreiphasenmodell ein: In den präproduktiven Jahren wird ein Kind erzogen, zwischen 18 und 68 liegt die produktive Zeit, dann folgt die postproduktive Phase als Rentner. In der ersten und letzten Phase ist der Staat durch Sozialleistungen gefordert, in der zweiten dürfen sich weder Männer noch Frauen ihrer Verantwortung entziehen (Abb. 29). 50 Jahre stehen der Frau zur Verfügung, um sich auszubilden, Kinder zu erziehen und berufstätig zum Familien- und Staatseinkommen beizutragen. Die Mühe, die sie dabei den Kindern widmet, sollte durch Dienstleistungen des Staates reduziert werden.162 Alvas gesamtes Denken läuft auf Effizienz hinaus. Noch die mangelnde Zärtlichkeit gegenüber Babies reduziert unnötig das soziale Potential von Menschen.163 Das aber setzt unproduktive Menschengruppen einer besonderen sozialen Wertigkeit aus: »The old age persons have no further economic value as human resources; their maintenance on the social budget is justified as a matter of gratification of past services and of pure humanitarian feelings. The concern for temporary periods of unproductivity takes on the character of restoring human resources. But for the young society’s interest is the vital one of investing in human resources. […] Sums allotted to the young are investments on which profits can be expected.«164 In Kinder wird investiert, Arbeitslosen und Alten wird das Überleben gesichert und ihr Konsum subventioniert.165 Durch Produktivität haben sich Arbeiter und

162. Enhancing Women’s Chances. Alva Myrdal Luncheon speaker, Wellesley Center’s opening conference »Restructuring the World of Work«, Center for Research on Women in Higher Education and the Professions, Wellesley College, Wellesley/MA, 15.3.1975, Ms. (ARAB 405/2.3:50); A. Myrdal, Det är arbetarrörelsen som skall driva jämlikhetspolitiken, S. 187. Dasselbe Modell findet sich bereits 1938 bei C. Boalt, Familjeekonomi, S. 169, und 1942 bei Alva Myrdal, International Guidance for Developing Human Ressources / (World-wide Social Security) / International Guidance to Social Security, 1942, Ms., bes. Bl. 7, 15, 19 (ARAB 405/2.3:8). 163. A. Myrdal, Ny fostran – ny värld, S. 299. 164. Alva Myrdal, International Guidance for Developing Human Ressources / (World-wide Social Security) / International Guidance to Social Security, 1942, Ms., Bl. 19 (ARAB 405/2.3:8). 165. Alva Myrdal, P.M. om socialiseriung från konsumptionssidan, o.D. [Sommer 1943], Ms., Bl. 8, 12 (ARAB 405/4.1.4:1).

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Farbige in der Vergangenheit ihre Bürgerrechte erstritten, sind sie in die Gesellschaft integriert worden, nun müssen das auch die Frauen tun.166 Staatsbürgerliche Integration durch Leistung, das ist ein Muster des nordischen Pietismus,167 die historische Erfahrung der Arbeiterbewegung und die persönliche Erfahrung Alvas. Deshalb darf man »Women’s Two Roles« durchaus als eine Autobiographie Alvas lesen.168 Kaum jemand scheint in seiner produktiven Phase produktiver als Alva gewesen zu sein. Sie ist ja schon in den 30er Jahren viel gereist und hat Beruf, Familie und Haushalt parallel geführt. Das war freilich beschaulich im Vergleich zur Nachkriegszeit, als sie für die UN bzw. die schwedische Regierung zwischen gleich drei Kontinenten pendeln sollte. Zugleich aber beschwört sie ihr Leben lang die Sehnsucht nach Ruhe und die Integration von Familie und Beruf. Sie fühlt ihr Ungenügen, eine gute Hausfrau zu sein. Ihre Ehe kriselt ununterbrochen, in den 50er Jahren fällt die Familie fast auseinander.169 Das Buch beschreibt also, wie ihre Ehe hätte funktionieren sollen. Ihr eigenes Experiment der Integration paralleler Leben hat nicht funktioniert, nun entwirft sie die Anleitung zu einem neuen Experiment, das andere Frauen durchführen sollen. Wie in ihren frühen Träumen von ihrer Ehe, wie in ihren Vorstellungen von der Kindererziehung, so bedingen Emanzipation und Einordnung einander auch hier. Ihre Überlegungen sind für die damalige Zeit progressiv. Alva kritisiert, daß »wir uns Konventionen unterwerfen und vergessen, daß man an ihnen rütteln kann«.170 Sie rüttelt kräftig. Ihre Radikalität mag für viele Schweden revolutionär geklungen haben, wird es aber nie. Eine tabula rasa der Geschlechterbeziehungen, wie sie angeblich »den fanatischen [und angeblich lesbischen!] Feministinnen der reinen Lehre« am Herzen liegt,171 kommt für sie nicht in Frage. In einer Zeit, als sich die Sozialpolitik auf Frauen konzentriert, Frauen die 166. A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien, S. 42, 46. Daß die Einpassungsfrage zentral für sie ist, formuliert sie bereits 1935: Alva an Kerstin Hesselgren, 26.8.1935 (KB L 55/6). 167. H. Stenius, The Good Life is a Life of Conformity, S. 164f.; vgl. auch M. Sjögren, Samhällets drägg och fattigdomens adel, S. 15 (zum Produktivitätsgedanken in der Sozialhilfe); J. Frykman, Mellan mössbränning och champagneyra, S. 149-151 (zur Produktivität als Lebenshaltung, die sich in Titeln und professioneller Kompetenz ausdrückt). 168. Zwar ist Viola Klein Mitverfasserin, aber das Lösungsmodell ist eindeutig durch Alva dominiert. 169. Siehe unten, Kap. X. 170. Alva Myrdal, Karlgöra och kvinnoarbete, o.D. [1935?], Ms., Bl. 2 (ARAB 405/2.3:1). 171. A. Myrdal/V. Klein, Kvinnans två roller, S. 183. 1979 vermutet Alva in

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Verantwortung für Ehe und Kindererziehung aufgebürdet wird,172 Frauen per se für alle psychischen Probleme ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden,173 thematisiert sie die Rolle der Väter und erregt damit Aufsehen. Dazu bedarf es nur weniger Artikel, und bei denen beläßt sie es dann. Die Väter bekommen in ihren Lösungsvorschlägen keine zentrale Rolle zugewiesen, letztlich verweigert sie ihnen die geforderte Emanzipation schon in ihren Texten. So bleibt ihre Radikalität zu einem Gutteil Rhetorik, hinter der sich immer erneute Anläufe verbergen, die Probleme der Frauen – und ihre eigenen – in einer harmonischen Lösung aufzuheben.174 Bereits in den frühen 60er Jahren wird deutliche Kritik an diesem Modell geübt.175

6. Asymmetr ischer Feminismus Gunnar nimmt die gesamte Thematik durchaus ernst, sie berührt jedoch nicht seine Identität. Letztlich hält er andere Fragen für drängender und überläßt Alva diesen Komplex.176 Alva wiederum analysiert die Fragen konsequent aus Perspektive der Frauen. Sie werden systematisch an ihrer einem Interview, daß radikale Feministinnen lesbisch sind: L. Kjølsrød, Rasjonalistiske utopier er det vi trenger!, S. 7. 172. Vgl. beispielsweise S. Höjer, Samhällets hjälp till barn, die 1938 die Mutter im wahrsten Sinne des Wortes in den Mittelpunkt stellt: Auf der einen Seite verantwortlich für das Wohl des Kindes, ist auf der anderen Seite ihr Wohl vom Ehemann abhängig. Ähnlich A. Andreen, Mödrahjälp. Vgl. auch Alvas zustimmenden Bericht aus Großbritannien: Dort würden Eltern, die ihre Kinder verkommen lassen, nicht länger interniert, sondern es würden nur noch – als Form der Bewährungsstrafe – die Mütter in einem Reformatorium in der Kindererziehung unterwiesen (P.M. angående den engelska befolkningspolitiken, 8.6.1945, Ms., Bl. 2 [RA YK 1671/4]). 173. Å. Bergenheim, Barnet, libido och samhället, S. 297f. 174. Das ist allerdings auch nicht unverständlich, wenn man sich bewußt macht, daß noch 1950 ein »Hausmann« in einer Radiosendung eine »demokratische« Teilung der Hausarbeit vorschlug und damit heftige Proteste an den Sender provozierte (K. Nordberg, Folkhemmets röst, S. 337). 175. Ein Schlüsseltext ist E. Moberg, Kvinnans vollkorliga frigivning, der direkt auf Myrdal/Klein Bezug nimmt. Eva Moberg fordert statt zweier Rollen für die Frau für alle Menschen eine Hauptrolle, die Menschenrolle. Solange Frauen wirtschaftlich und sozial nicht vollkommen unabhängig von den Männern seien, sei ihre Freiheit nur eine »Entlassung auf Bewährung« (so der Titel des Textes). 176. Dazu ausführlicher Y. Hirdman, Gunnar Myrdal – feministen?

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Entwicklung gehindert, sie haben also ein Problem. Aber zugleich sind sie ein Problem. Gunnar und Alva negieren in den 40er Jahren jeweils, daß es eine »Neger-« bzw. eine »Judenfrage« gebe. Nicht die Farbigen oder Juden stellten ein Problem dar, sondern irrationale rassistische Einstellungen der Menschen.177 Bei Frauen beurteilt Alva die Lage anders.178 Die destruktive Kraft von Strukturen sieht sie sehr klar. Frauenfeindliche Einstellungen benennt sie noch deutlich. Doch wenn es zu konkreten Akteuren kommt, wird man bei ihr kaum mehr fündig. Die »abwesenden Väter« sind in erster Linie Opfer. Auf die Agne Alms reagiert sie nicht. Männer müssen ihre Einstellungen ändern, etwas weniger arbeiten und sich für ihre Familien interessieren. Erst bei den Frauen wird sie wirklich konkret, denn sie verhalten sich in ihren Augen definitiv falsch. Wenn den Frauen durch den Umbau der Gesellschaft ein Freiraum geschaffen wird, dann müssen sie ihn nutzen. Noch 1970 klagt sie, daß Mädchen den falschen Weg wählten, lasse man ihnen freie Hand. Aus Bequemlichkeit würden sie nach wie vor Sekretärinnen und zementierten die Geschlechterdifferenzen. Deshalb fordert sie die Einheitsschule, um eine gleiche Ausbildung für Jungen und Mädchen obligatorisch und die falsche Wahl von vornherein unmöglich zu machen.179 Es sind Frauen, die von Traditionen gehindert werden.180 Es sind die Frauen, die sich in die Gesellschaft integrieren müssen. Es sind Frauen, die ihre Familie zur Mithilfe auffordern müssen, wenn die Hausarbeit überhand nimmt.181 Es sind Frauen, die sich ihre »Staatsbürgerschaft« erarbeiten müssen. Es sind technisch-organisatorische Lösungen, die sie von Belastungen befreien sollen. Und die Befreiung der Frau geschieht nie allein um ihretwillen, sondern primär, um sie als Ressource für die Gesellschaft nutzen zu können. Befreiung zur Produktivität erfährt die Frau in Alvas Denken als Emanzipation. Erst eine Familie zweier produktiver Einkommensverdiener mit ausgegliederten Kindern kann als der modernen Gesellschaft angemessen bezeichnet werden; und in dieser Familienstruktur

177. G. Myrdal, An American Dilemma, passim; A. Myrdal, Kommentarer, S.

75-101. 178. S. Bok, Alva Myrdal, S. 139f. 179. Alva Myrdal, Invigningstal Frederika Bremerskolan i Handen 19.3.1970, Ms., Bl. 5 (ARAB 405/2.3:31). 180. Bei einem kurzen Japanbesuch schnappt sie ein illustratives Beispiel auf, die angeblich in Kimonos gezwungenen japanischen Frauen (A. Myrdal, Kimonon som hindrar). 181. Vgl. z.B. Hemmet och fritiden. AM:s förslag till utställningen »Fritiden«, Ystad, o.D. [1935?], Ms., Bl. 3 (ARAB 405/2.3:11).

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sind alle Beteiligten automatisch zufrieden. Von diesem Modell weicht sie selbst Ende der 70er Jahre nicht ab.182 Die Frauenbewegung Schwedens war, wie ich angedeutet habe, differenziert. Die unterschiedlichen Fraktionen waren nicht zerstritten, sie konnten pragmatisch miteinander kooperieren, wie Alvas Vernetzung in der gesamten Szene zeigt.183 Aber die Vorstellungen, in welchem Verhältnis Frauen zur Gesellschaft standen, unterschieden sich so stark, daß teilweise Funkstille zwischen den Protagonistinnen herrschte.184 Sie einte die Überzeugung, daß ein größerer gesellschaftspolitischer Einfluß der Frauen die Gesellschaft verändern würde. Sie entwarfen und praktizierten selbständige weibliche Rollenmodelle, um die konventionellen Abhängigkeitsmuster zu unterlaufen. Die Visionen, wie die reformierte Gesellschaft und der Weg dorthin aussehen sollten, unterschieden sich freilich erheblich. Eine revolutionäre Gesellschaftskritik vertrat nur die schillernde Hagar Olsson, für die weibliche Sexualität und Unterdrückung der Frauen unlösbar zusammenhingen. Aus dieser Kopplung sollten sich die Frauen durch Rebellion befreien, um nicht weiterhin als bloßer männlicher Anhang zu existieren.185 Einflußreicher war der Entwurf der Schriftstellerin Elin Wägner. Wägner gehört zu den großen Feministinnen Schwedens und ging davon aus, daß eine uralte weibliche Kultur von der modernen patriarchalischen Gesellschaft verdeckt oder sogar zerstört worden sei. Diese weibliche Erfahrung und Lebensweise mußte freigelegt werden, dann würde sich auch die Gesellschaft verändern. Für Alva stellten Frauen in der modernen 182. Vgl. A. Myrdal, Afterword; Alva Myrdal, Women and Social Change;

Kvinnan i arbetsliv, familj och samhälle. Anförande av stadsrådet Alva Myrdal vid Kommunalarbetarförbundets internationella kongress (Public Services International), Stockholm, den 27 april 1970, Ms. (ARAB 405/2.3:31); sowie in einem Interview mit Lise Kjølsrød: L. Kjølsrød, Rasjonalistiske utopier er det vi trenger!, bes. S. 6-8. 183. Vgl. M. Lindholm, Elin Wägner och Alva Myrdal, S. 59-93; M. Berger, Fruar & damer; U. Manns, Den sanna frigörelsen; U. Knutson, Kvinnor på gränsen till genombrott; K. Östberg, Efter rösträtten; E. Österberg/C. Carlsson Wetterberg, Rummet vidgas; C. Florin/L. Sommestad/U. Wikander, Kvinnor mot kvinnor; A. Wischmann, Auf die Probe gestellt. Biographisch: U. Isaksson/E. H. Linder, Elin Wägner; H. Levin, En radikal herrgårdsfröken; autobiographisch: A. Nilsson, Glimtar ur mitt liv som läkare. 184. Das kann man beispielsweise am Briefregister Alvas ablesen, das kaum Korrespondenz mit Elin Wägner, Brita Åkerman oder der Fogelstad-Gruppe ausweist. 185. R. Frangeur, Yrkeskvinna eller makens tjänarinna?, S. 242; L. Eskilsson, Drömmen om kamratsamhället, S. 123.

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Gesellschaft eine Anomalie dar; eine Reform der Gesellschaft würde die Frauen auf produktive Weise wieder in die Gesellschaftsmaschine einfügen. Frauen waren nicht grundsätzlich von Männern unterschieden, sie besaßen keine Eigenschaft, die der Gesellschaft extern war. Wägner dagegen begriff Weiblichkeit als grundverschieden zur männlichen Welt. Das schloß an die Schriftstellerin und Publizistin Ellen Key an, die Weiblichkeit als Komplement zur Männlichkeit entworfen hatte. Durch ihren liebevollen Dienst an Ehemann und Gesellschaft würde die Frau als samhällsmoder die Verhältnisse ändern.186 Wägner, für die es ein eindrückliches Erlebnis gewesen war, als junge Journalistin Key interviewen zu dürfen, begriff dagegen das Weibliche als etwas, das das männliche Prinzip ersetzen mußte. Das Verhältnis der Geschlechter war ein Machtverhältnis, das erst durch die Befreiung der Frauen gebrochen werden konnte. Während Key einen kompromißlosen Individualismus vertrat, wollte Wägner den Kampf kollektiv führen.187 In dem Punkt traf sie sich mit Alva, die allerdings keinen unüberbrückbaren Geschlechtergegensatz sah, sondern eine Allianz mit den Männern verfocht. Wägner sah darin eine destruktive Kollaboration. Sie hoff te am Ende des Kampfes auf Versöhnung – Alva auf Harmonie bereits im Prozeß der Einschmelzung.188 Trotz dieser Gegensätze zwischen Differenz- und Gleichheitsfeminismus (särarts- bzw. likhetsfeminism), individuellen und kollektiven Ansätzen, gingen die meisten Feministinnen davon aus, daß der Konflikt weniger zwischen den Geschlechtern als zwischen den Frauen und der Gesellschaft angelegt und auf kooperativem Wege zu lösen sei, vor allem durch ein enges Bündnis mit dem Staat, durch die Implementierung ihrer Forderungen in staatliche Untersuchungen und Gesetzgebung. Das wird die »feministische Staatsstrategie« genannt.189 Alva konnte mit ihrem tendenziell konfliktfreien Lösungsmodell also auf Zustimmung bauen, sowohl bei Männern, in den Medien und bei ihren Mitstreiterinnen. Ihre Haltung 186. E. Key, »Missbrukad kvinnokraft« och »Naturenliga arbetsområden för kvinnan«; Dies., Das Jahrhundert des Kindes, S. 48-73. 187. E. Wägner, Väckarklocka. 188. Zum Vergleich Wägner/Myrdal: M. Lindholm, Elin Wägner och Alva Myrdal. Vgl. auch B. Lövgren, Hemarbete som politik, S. 125-145. Alva hat 1980 selbst rückblickend ihre Distanz zu Wägner und der Fogelstad-Gruppe markiert: Sie waren ihr zu komplexgebunden und feministisch, während sie es eher mit dem pragmatischen Ansatz der sozialdemokratischen Frauen hielt (C. Åse/Y. Hirdman, Alva Myrdal, S. 88). 189. M. Lindholm, Elin Wägner och Alva Myrdal, S. 92f.; R. Frangeur, Yrkeskvinna eller makens tjänarinna?, S. 269. Grundlegend: C. Florin/B. Nilsson, »Something in the nature of a bloodless revolution...«.

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sollte allerdings bald auf die Probe gestellt werden, als nämlich an Gunnar die Anfrage der Carnegie-Stiftung kam, die »Negerstudie« zu leiten. Ihm bot sie eine große Chance. Für Alva, die sich innerhalb weniger Jahre zu einer der wichtigsten Sozialpolitikerinnen und Feministinnen emporgearbeitet hatte, bedeutete sie einen fundamentalen Einschnitt. Die Yrkeskvinnor verabschiedeten sie 1938 als Vorsitzende des Reichsverbandes, weil sie sich in den USA wieder ihrem großen Lebensthema widmen und ihre sozialen Studien vollenden wolle. Sie habe nach ihrem Einsatz für die Frauensache nun ein Recht, Studien auf eigene Rechnung zu betreiben und neue Erfahrungen zu sammeln.190 Nicht einmal die Yrkeskvinnor wagten anzudeuten, daß Alva in Wahrheit alles, was sie sich in Schweden aufgebaut hatte, hinter sich lassen mußte, daß sie nach wie vor ihre Lebenspläne in die Karriere ihres Mannes einzupassen hatte. Einmal mehr bewies ihre eigene Ehe, wie schwierig die Integration von Frauen in die Gesellschaft aussehen konnte, wenn sie unter dem Primat der »Harmonie« stand. Erst 1949 sollte sich eine Lösung dieses Konfliktes andeuten, die auch Alva neue Perspektiven eröffnete.

190. C. B[runiu]s, Ordförandeskifte i Riksförbundet.

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1. »An Amer ican Dilemma« Im August 1937 erreicht Gunnar eine Anfrage der Carnegie-Stiftung, ob er eine großangelegte Untersuchung zur »Negerfrage« leiten wolle, die Arbeit werde voraussichtlich zwei Jahre in Anspruch nehmen. Gunnar soll die Strukturen des fortdauernden Rassismus, d.h. die systematische und oft brutale Verweigerung der Bürgerrechte für Schwarze im Süden der USA untersuchen. Der Anfrage war eine längere Diskussion in der Stiftung vorausgegangen und die Suche nach einem »exceptional man«, der eine solche Studie leiten könne. Letztlich erschienen amerikanische Sozialwissenschaftler befangen, und so erkundigte sich der Präsident der Carnegie-Stiftung, Frederick P. Keppel, nach einem herausragenden europäischen Wissenschaftler, der allerdings nicht aus einem Land mit kolonialer Tradition kommen sollte. Erst einen Monat vor der Anfrage war Gunnar ins Gespräch gekommen, empfohlen von der Rockefeller-Stiftung, deren Stipendiat er ja gewesen war, und deren Funktionäre er durch Brillanz und Effizienz beeindruckt hatte. Weder war Gunnar zu der Zeit der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt, noch wusste Keppel wohl von Gunnars planwirtschaftlichen Überzeugungen. Er sah in ihm einen profilierten Wissenschaftler, der ihm von vertrauenswürdigen, amerikanischen Kollegen empfohlen worden war.1 Die Carnegie-Stiftung hatte sich bislang nicht mit Rassenfragen beschäftigt, deshalb gab es kein internes Wissen, keine stiftungseigenen Experten und keine erprobten Programme, durch die die Stiftung die avisierte Studie hätte kontrollieren können. Von dieser Freiheit und der kommenden Schinderei weiß Gunnar nichts, als er die Anfrage Keppels erhält, von den amerikanischen Rassenproblemen hat er wenig Ahnung. Er über1. Zur Vorgeschichte ausführlich W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 10-35.

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legt drei Wochen und sagt dann ab. Nach weiteren drei Wochen möchte er zur Freude der Stiftung das Projekt doch diskutieren.2 Als, so schreibt er, »Mrs. Myrdal and I first discussed the question raised by your proposal, she did not find it possible to leave this country for two years. […] But reconsidering the whole problem Mrs. Myrdal has come to the same conclusion as I have, that she is prepared to leave these interests [Mitarbeit in zwei Untersuchungskommissionen und das Sozialpädagogische Seminar] for the time being.«3 Er selbst müsse als Abgeordneter der Ersten Kammer zurücktreten, mehrere Untersuchungskommissionen und Beratungsposten aufgeben sowie Dispens von der Universität erhalten. Mit der Zusage befreit er sich von der zunehmend quälenden Arbeit am Abschlußbericht der Bevölkerungskommission. Im September 1938 kommt er mit seiner Familie und dem Statistiker Richard Sterner samt Frau in New York an. Er stellt seine Arbeitsgruppe zusammen, knüpft Beziehungen zu zahllosen amerikanischen Intellektuellen, um sich mit ihrer Hilfe in die Materie einzuarbeiten. 4 Und er macht seine ersten Erfahrungen mit dem Süden, etwa in einer High School für Schwarze, wo er in einer, wie er meint, höflichen Rede den schwarzen Schülern Mut macht, daß auch sie, wie einstmals die Schweden, durch harte Arbeit und gute Bildung in Führungspositionen aufsteigen könnten. Weil die weißen Vertreter der Schulbehörde zunehmend bedrückt aussehen, beschließt Gunnar, die Stimmung aufzulockern, indem er sich für ein Konzert der Schüler zu Beginn der Veranstaltung bedankt – indem er seinerseits ein schwedisches Volkslied singt. Zu seiner großen Überraschung, und zum Ärger der Behördenvertreter, wird er mit stehenden Ovationen bedacht, denn es ist das erste Mal, daß ein Weißer für Schwarze singt.5 Zusammen mit Ralph Bunche, einem wichtigen amerikanischen Soziologen, engen Mitarbeiter und bald auch Freund, bereist er den Süden, beschaut sich die Verhältnisse und spricht mit zahlreichen Intellektuellen und Offiziellen. Um diese Reise ranken sich eine Reihe von Anekdoten, etwa wie er mit Bunche kaltblütig Hotels betritt, obwohl der als Schwarzer dort nicht wohnen darf. Das ist so dreist, daß Bunche unter den irritierten Blicken der Angestellten als Weißer durchgeht. Gunnar testet neugierig die Grenzen der color line, Bunche lebt öfters in der Sorge, gelyncht zu werden.6 2. Gunnar an Frederick P. Keppel/Carnegie Corporation, 30.8., 5.10.1937; Frederick P. Keppel an Gunnar, 12.8., 15.9., 5.10.1937 (ARAB 405/4.2.5:3). 3. Gunnar an Frederick P. Keppel, 7.10.1937 (ARAB 405/4.2.5:3). 4. Zum Folgenden ausführlich: W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 88-134. 5. Ebd., S. 91. 6. Wenig erfreut ist Gunnar, als selbst das Restaurant des schwedischen

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Arthur Raper wiederum, ein anderer Reisepartner, schildert Gunnar als brillanten Interviewer. Er habe, um nicht mit oberflächlichen Bekenntnissen zu den amerikanischen Idealen abgespeist zu werden, oft den naiven Schweden gegeben und die Sheriffs gefragt, wie das denn so mit den »Negern« sei. »The Sheriff, who would have been suspicious of the motives of any American interviewer asking such questions, would gladly oblige the foreign visitor by candidly providing a full inventory of his prejudices.«7 In anderen Fällen provoziert er seine Gesprächspartner und zwingt sie in kontroverse Diskussionen; einen wichtigen Senator, Verfechter des New Deal und einer Deportation der Schwarzen nach Afrika, führt er aufs Glatteis, indem er zu Gesprächsbeginn Übereinstimmung signalisiert. Der Senator enthüllt ihm seinen heimlichen Plan, eine Millionen »nigger« für eine Demonstration in Washington zu organisieren, so daß der Kongreß das Deportationsgesetz verabschieden werde.8 »Few social investigators have ever had access to so many corners of American society.«9 Ein immenser Arbeitsstab unterstützt Gunnar. Er besteht aus sechs führenden und 31 weiteren Feldforschern, 36 Assistenten sowie einem Pulk von Sekretärinnen und Schreibkräften. Gunnar residiert mit seinem Stab in einem der Symbole des Kapitalismus, im 61. Stockwerk des Chrysler Building. Ihm stehen 15 Büros, ein Konferenzraum und eine hypermoderne Technik zur Verfügung, wie ein schwedischer Journalist fasziniert nach daheim berichtet.10 Seine Mitarbeiter beschaffen Fakten, aggregieren statistische Daten und schreiben umfangreiche Memoranden zu Teilfragen des Projekts. Gunnar läßt ihnen einerseits weitgehende Freiheiten. Er gibt kaum methodische Vorgaben, sie dürfen ihre Manuskripte unter eigenem Namen publizieren, und in den Fußnoten seines Buches weist er auch ihre unpublizierten Manuskripte genau aus. Er schätzt ihre intellektuelle Vielfalt, vermeidet es aber bewußt, seinen Stab in einen kollektiven Diskussionszusammenhang zu bringen und das Projekt verhandeln zu lassen, um seinen Status »as unbiased foreign scholar« zu wahren. Er sucht die Meinung seiner Mitarbeiter, kommuniziert mit ihnen jedoch zumeist in Einzelgesprächen.11 Und er treibt sie so unerbittlich an wie sich selbst, setzt aberwitzige Fristen, droht ihnen und nennt sie zum Spaß »›niggers on the Ausstellungspavillons in New York einem schwarzen Freund den Zutritt verweigert. Er nimmt sich die Zeit, einen langen und scharfen Brief zu verfassen: Gunnar an Graf Folke Bernadotte af Wisborg, 21.5.1939 (ARAB 405/3.2.1:10). 7. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 118. 8. Ebd., S. 118-120. 9. Ebd., S. 134. 10. Dagens Nyheter, 20.6.1939. 11. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 116.

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project‹«.12 Einmal kommt es sogar zur Revolte, die Bunche mit der Bemerkung leitet, die Sklaverei in den USA sei seit langem abgeschaff t. Gunnar muß sich allerdings auch mit Zuträgern auseinandersetzen, die schlechte oder gar keine Ergebnisse liefern, die kein größeres Interesse für das Projekt auf bringen, und von denen er überwiegend auch nicht viel hält.13 1942 hat er aus Tausenden Seiten von Unterlagen und Memoranden ein unförmiges Manuskript zusammengestellt, das mehrere Kritiker, darunter der renommierte Soziologe Louis Wirth, durch lange Stellungnahmen zu straffen helfen. Das Buch, das unter diesen Produktionsbedingungen nach fast übermenschlichen Mühen entsteht, heißt »An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy«. Es wird 1944 publiziert und umfaßt knapp 1500 einzeilig bedruckte Seiten, auf denen eingehend die Strukturen der Rassendiskriminierung in den USA beschrieben werden, die wahlweise subtilen oder groben Techniken, Farbige aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auszuschließen, und der »Vicious Circle«, eine kumulative, interdependente Abwärtsspirale vielfältiger Faktoren, die die Situation für die Schwarzen immer hoffnungsloser macht. Zweifellos ist es ein großartiges und schonungsloses Werk, das der amerikanischen Öffentlichkeit und, besonders im Norden, Intellektuellen wie Politikern schockierend vor Augen führte, wie rassistisch ihr Land unter seiner demokratischen Oberfläche war.14 Zugleich jedoch ist es ein zutiefst zwiespältiges Buch, weil es nämlich unreflektiert ein spezifisches Weltbild transportiert, dieses durch rhetorisch-narrative Strategien immunisiert und damit alternative Deutungen des amerikanischen Rassismus delegitimiert. Gunnar hat eklatant gegen seine eigene Wertprämissentheorie verstoßen, aber genau das hat wohl den Erfolg der Studie ausgemacht. Im Grunde, so beschreibt er es den Amerikanern, produziert das System nur Opfer. Unterdrückte wie Unterdrücker sind eigentlich Gegner des Rassismus. Eben diesem System ist jedoch zugleich die Lösung inhärent, die zu allem Optimismus Anlaß gibt: der »American Creed«. Mit dem Creed wird sich der Teufelskreis brechen lassen.15 Durch zahllose Gespräche und Dokumente sieht Gunnar seine zentrale Prämisse empirisch gesichert, daß nämlich alle Amerikaner, auch die übelsten Rassisten, prinzipiell rationale und moralische Menschen sind. 12. D. W. Southern, Gunnar Myrdal and Black-White Relations, S. 25. 13. Ebd., S. 37. 14. Ausführlich zum Buch: W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 186-230. 15. Die Idee eines Konflikts zwischen Creed und Diskriminierungen war nicht neu: W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 190.

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Sie alle wollen im Grunde dem American Creed folgen: »We shall find that even a poor and uneducated white person in some isolated and backward rural region in the Deep south, who is violently prejudiced against the Negro and intent upon depriving him of civic rights and human independence, has also a whole compartment in his valuation sphere housing the entire American Creed of liberty, equality, justice, and fair opportunity for everybody.«16 Aus der Logik der amerikanischen Geschichte ergibt sich, daß Reiche wie Arme identische soziale Ideale teilen, so daß, beispielsweise, selbst einfache Amerikaner eine rassisch unparteiische Justiz fordern. Der Creed ist ein Moralsystem höherer Ordnung – das allerdings in Konflikt gerät mit irrationalen Vorurteilen und partikularen Egoismen.17 Denn die überwältigende Mehrzahl der Weißen will zweifellos keine Schwarzen im Land haben. Sie fürchtet, das Leben würde unerträglich, dürften Schwarze tatsächlich wählen. »[W]e cannot avoid observing that what white people really want is to keep the Negroes in a lower status.«18 Da aber der Creed eine staatlich sanktionierte Diskriminierung verhindert und selbst das Wahlrecht der Schwarzen sichert, konstruieren die Weißen durch eine gezielt selektive Wahrnehmung der Realität das Zerrbild des rassisch inferioren, dummen, devoten, lustigen »Negers«. Nur durch diese Dehumanisierung können die Weißen sich dem Creed entziehen. So können sie den Schwarzen die Ausübung des Wahlrechts verweigern und all die rassistischen Taktiken des Alltags legitimieren. Trotzdem aber will niemand bewußt diskriminieren. Die Weißen wollen rational sein, aber sie sind sich des tieferliegenden Wertkonflikts zwischen ihren Gleichheitsidealen und ihrem aus Angst verzerrten Bild noch nicht wirklich bewußt. Es ist deshalb Aufgabe des Wissenschaftlers, durch präzise Methoden den Grad der Falschwahrnehmung zu bestimmen. So kann er realitätsblockierende Stereotype zerstören, falsche Ansichten und fehlerhafte Kausalzuschreibungen widerlegen, opportunistische Rationalisierungen unmöglich machen, ja ganze Lügengebäude zum Einsturz bringen. Konfrontiert man die Weißen mit der Realität, werden sie verstehen, welche verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Effekte die Diskriminierung der Schwarzen zeitigt. Sie selbst, so Gunnar, erkennen ihre Vorurteile verbal bereits als irrational an und verlieren langsam das Vertrauen in Rassentheorien. Allein schon eine offene und nüchterne Diskussion über die Rassenbeziehungen wird 16. G. Myrdal, An American Dilemma, S. lxxii. 17. Den Creed begreift Gunnar übrigens nicht als statisch. Im 20. Jahrhundert sanktioniere er staatsinterventionistische, sozialpolitische Maßnahmen (ebd., S. 212). Da erscheint der Creed etwas wie eine Formel, die Gunnars sozialpolitisches Denken mit höchster Moral versieht. 18. Ebd., S. 591 (Hervorh. im Orig.).

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das Unterbewußte beschleunigt bereinigen, besonders im Süden. Bildung ist also essentiell, damit die Weißen zum Creed finden können. Das »Negerproblem« bezeichnet Gunnar konsequent als Problem der Weißen, als deren Konstruktion. Er geht zwar von tatsächlichen genetischen Unterschieden zwischen Schwarzen und Weißen aus (ohne sie, aus Mangel an Daten, genauer bestimmen zu können). »Rasse« jedoch sieht er als ein soziales Konzept, die Lage der Schwarzen sei durch die Umwelt, nicht Erbanlagen bestimmt. Selbst in der Physis der Schwarzen verwischten sich die Unterschiede. Je nach Konditionierung des Blicks würden Schwarze für Weiße gehalten und umgekehrt, das hat er bei seinen Reisen mit Ralph Bunche erfahren dürfen. Die grundsätzliche biologische Differenz zwischen Schwarzen und Weißen stellt er trotzdem nicht in Frage. Das ist etwas widersprüchlich. Er beläßt es bei zwei Entitäten, von denen die eine, nämlich die weiße, liberale Mittelklassegesellschaft, als Normalfall erscheint, die andere als sozial exkludiert. Die weißen Rassisten müssen den Creed zu finden lernen, aber das löst das Problem noch nicht. Zusätzlich müssen nämlich die in langen historischen Prozessen ausgeschlossenen Schwarzen wieder in die weiße Gesellschaft eingepaßt werden. Bildung wird sie und ihre Kinder befähigen, sich aus aufgezwungenen vormodernen, im Grunde sozial pathologischen Lebensweisen zu lösen und an die Normen der Mehrheitsgesellschaft zu anzupassen.19 Gunnar schlägt in bester Manier des social engineering eine technische Lösung der Probleme vor. Zu viele Schwarze leben im Süden und verschärfen durch ihre Präsenz die Konflikte. Sie sollen durch eine rational geplante Migration aus dem stagnierenden ländlichen Süden in kleinere Städte des Nordens gelenkt werden, wo sie einerseits Arbeit finden, andererseits aber wegen geringer Zahl weniger anstößig wirken. Für diese »transplantation« seien allerdings nur wenige Schwarze geeignet. Handverlesen müßten sie in den Norden geschleust werden, begleitet von einem Erziehungs- und Informationsprogramm, das die Schwarzen an den Norden und die Weißen an die Schwarzen akklimatisieren würde. »Without direction they [Southern Negroes] will migrate to localities which are not best suited to receive them. The problem is rather whether Negro migration should continue to be determined by an irrational tradition, which brings the Negroes haphazardly to a restricted number of places where the Negro population quickly outgrows the existing employment opportunities; or whether it should be expertly planned to cause a minimum of friction and human wastage and a maximum of labor utilization and human efficiency.«20 Das ist das gleiche Muster, mit dem Alva Frauen beschrieben hat: ohne Anlei19. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 227. 20. G. Myrdal, An American Dilemma, S. 388.

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tung verhalten sie sich irrational, sie müssen geschmeidig und leise eingepaßt werden, damit die Umwelt (die ja eigentlich das Problem ist) sich nicht verletzt fühlt, und last but not least muß die Produktivität gesichert werden. Auch Gunnar beschreibt die Probleme von Individuen als Probleme der sozialen Gemeinschaft und zementiert damit auf gewisse Weise die Unterscheidungen, die er kritisiert. Anders als Alva nimmt er jedoch die Unterdrücker in den Blick.

2. Evolution statt Revolution Gunnar hält sich zugute, eine ungeschminkte Analyse der Verhältnisse geleistet zu haben.21 Es fällt aber rasch auf, daß er über Hunderte von Seiten hinweg auf eine eigentümliche Weise unkonkret bleibt. Stilistisch hat er sich an den Enqueten der SOU orientiert, d.h. er hat sich entschieden, einen nüchtern argumentierenden Text zu verfassen, statt seine Thesen mit emotional aufrührenden Fallbeispielen zu belegen. Interessanterweise operiert er auch mit Statistiken vergleichsweise sparsam und entscheidet sich so gegen eine zweite erprobte Plausibilisierungsstrategie. Für eine lange Reihe generalisierender Behauptungen führt er nur selten handfestes empirisches Material an. Weder Interviews, noch statistische Messungen oder psychologische Tests dienen als Beleg für seine These, daß der Creed in allen Amerikanern verwurzelt sei. Die Studie nimmt, so schreibt er, ihren Ausgang »in the ordinary man’s own ideas, doctrines, theories and mental constructs»,22 doch präsentiert er diese Vorstellungswelt nirgendwo. Statt dessen aggregiert Gunnar Daten – soweit sie zur Verfügung stehen – zu idealtypischen Fallbeispielen und Handlungsstrukturen. Auf diese Weise gerinnen sowohl Täter wie Opfer zu abstrakten Entitäten, in denen sich Leser wiedererkennen können, aber nicht müssen. So gleicht das Buch einem langen Räsonnement, in dem Gunnar Tatsachen weniger belegt denn verkündet und sich einer Diskussion seiner Thesen weitgehend entzieht: »The Negro preacher, doctor, lawyer, journalist, real estate dealer, insurance man, banker, mortician, and retail merchant has his business founded upon Negro purchasing power. If he serves only the upper strata, his interests are, nevertheless, indirectly tied to the interests of the masses, as the majority of his customers live off [sic] the common Negroes. He might sometimes exploit the masses mercilessly. But fundamentally he must want the Negroes to get employment and good pay, or, if employment shrinks, he must want them to get public relief, because otherwise 21. G. Myrdal, Historien om An American Dilemma. 22. G. Myrdal, An American Dilemma, S. lxxiv (Hervorh. im Orig.).

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he will fail himself.«23 Es mag sein, daß diese abstrahierte Beschreibung einer im tiefsten Grunde solidarischen Gemeinschaft der Schwarzen tatsächlich das Ergebnis seiner Erhebungen ist. Seine Sprache schiebt sich jedoch vor die empirische Grundlage. Gibt es tatsächlich keine alternativen Lebensentwürfe, etwa den Schwarzen, der nicht die geringste Solidarität mit ärmeren Farbigen verspürt, weil er lieber der weißen Oberschicht angehören will, oder den skrupellosen Geschäftsmann, der die schwarzen Unterschichten ohne Nachhaltigkeitsgedanken ausbeutet, Figuren, die also Zweifel an Gunnars Bild auf kommen lassen könnten? Er diskutiert diese Möglichkeit nicht. Vielmehr entsteht eine Welt, in der schemenhafte Akteure sich durchaus unethisch verhalten mögen. Tatsächlich geprägt jedoch werden sie alle angeblich durch eine Interessengemeinschaft von Weißen und Farbigen, Oberschicht und Unterschicht. Gunnar beschreibt auf seine Art durchaus eindringlich die unzähligen alltäglichen Diskriminierungen: »Again Negroes failed to get into most of the new and expanding industries in the South. Only one per cent of the workers employed at Southern oil and gas wells in 1930 were Negroes. Only as wood cutters and in certain other laboring capacities did Negroes get into the paper and pulp industry. Gas and electric companies have never used Negroes to any appreciable degree. Negroes do not operate streetcars and buses. Telegraph and telephone companies exclude them almost altogether. Furniture factories depend in the main on white labor. The vast expansion in wholesale and retail trade, banking, insurance, and brokerage benefited the Negroes only in so far as they could be used as delivery men, porters, janitors, charwomen and so on. The policy of excluding them from production jobs in the textile factories continued.«24 Er schildert ein nahezu perfektes Unterdrückungssystem – um dann regelmäßig zu behaupten, daß die Unterdrücker das gar nicht wollten, daß man ihnen helfen müsse, sich von ihren Vorurteilen zu lösen, daß, wenn sie dem tiefverwurzelten Creed folgten, wie sie es eigentlich wünschten, das gesamte Unterdrückungssystem einfach zusammenbräche: »Much of the judicial discrimination against Negroes in the South seems to be backed or tolerated by public opinion because of carelessness and ignorance in regard to the Negro, rather than by an intentional and considered aim to discriminate. As far as public opinion is part of the problem, the task is, therefore, mainly one of adult education. White people must be taught to understand the damaging effects upon the whole society of a system of justice which is not equitable.«25 23. Ebd., S. 805. 24. Ebd., S. 287. 25. Ebd., S. 556.

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Konsequent läuft die Beschreibung darauf hinaus, ein evolutionäres Weltbild zu untermauern. Dem »Vicious Circle« stellt Gunnar nämlich eine zweite Spirale entgegen. Industrialisierung, Technisierung, bessere Ausbildung, wachsenden Wohlstand, die Bürgerrechtsbewegung, der Oberste Gerichtshof und die öffentliche Weltmeinung sind für ihn Faktoren, die sich gegenseitig kumulativ verstärken und die Entwicklung allem Rassismus zum Trotz zum Besseren treiben. Darum habe es niemals seit der Reconstruction stärkeren Anlaß gegeben, fundamentale Verbesserungen in den amerikanischen Rassenbeziehungen hin zu einer Verwirklichung der amerikanischen Ideale anzunehmen. Niemand spreche es offen aus, aber der Süden werde allmählich amerikanisiert. »Negro disfranchisement is gradually withering away.«26 Die Südstaatenzeitungen schreiben Negro allmählich mit einem respektvoll großen N, in liberalen Zeitungen tauchen gelegentlich sogar Bilder von Schwarzen auf den hinteren Seiten auf. Man wird höflicher. Mit dem besseren Status der Farbigen wachsen zwar die Vorurteile, doch das sieht Gunnar als ein nur temporäres Phänomen an. Künftig werden sich die großen Parteien um die Wählerstimmen der Negroes streiten. Deren Führer sollten Verhandlungen mit den Parteien aufnehmen (denn sie können nur mit ihnen, nicht gegen sie gewinnen). Aus dem Dilemma, daß bei einer Parteibindung Verhandlungsfreiheit, bei Parteiabstinenz jedoch Einflußmöglichkeit verloren gingen, gebe es nur einen rationalen Ausweg, die Arbeitsteilung zwischen »Negro politicians«, die in den Parteien arbeiteten, und unabhängigen »Negro representatives«, die Dank ihres höheren Prestiges Kollektivverhandlungen führten. »The former group represents the Negroe people’s necessary allegiance to the American party system, the latter group their separate interests as an independent unit.« 27 Weder Faschismus noch Kommunismus werden die Schwarzen verführen können, weil sie Gesetz, Religion und das Versprechen auf Gleichheit und Freiheit auf ihrer Seite wissen, selbst wenn die Verwirklichung ihrer Rechte noch in weiter Ferne steht. »No social Utopia can compete with the promises of the American Constitution and with the American Creed which it embodies.«28 Und die Schwarzen zeigten, daß ihr Vertrauen in den Creed nicht erschüttert war. Der Wandel braucht allerdings Zeit. Er muß schrittweise vorangetrieben werden, ohne soziale Unruhen. Er muß oben beginnen, dann wird die politische Partizipation immer weiter zu den unteren Schichten ausgedehnt, gleichzeitig die »civic education of the masses who are bound to have

26. Ebd., S. 514. 27. Ebd., S. 507. 28. Ebd., S. 510 (Hervorh. im Orig.).

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votes in the future« intensiviert.29 Die Weißen bremsen zwar. »The chances that the future development will be planned and led by intelligently – and that, consequently, it will take the form of cautious, foresighted reforms instead of unexpected, tumultuous, haphazard breaks, with mounting discords and anxieties in its wake – are indeed small.«30 Aber es gibt kein unabwendbares Schicksal. Geschichte kann gestaltet werden. Entscheidend ist es, die Reformen so unauff ällig durchzuführen, daß konservative Weiße sie kaum wahrnehmen. Es läßt sich nur durchsetzen, was die Weißen zuzubilligen bereit sind. Die aber sind umgekehrt durch den Creed gehindert, offensiv entlang der Rassenlinien zu denken und ein effektives System der Unterdrückung zu organisieren: »The white man can humiliate the Negro; […] but he does not have the moral stamina to make the Negro’s subjugation legal and approved by society. Against that stands not only the Constitution and the laws which could be changed, but also the American Creed which is firmly rooted in the American’s hearts.«31 Deshalb müssen spezialisierte Interessenvertretungen mit beschränkten politischen Zielen organisiert werden, um die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu erreichen und gleichzeitig eine Massenbewegung zu formieren. Nur so läßt sich »the Negro people’s political bargaining power« steigern.32 Das ist nichts anderes als das schwedische Modell, das Gunnar auf die USA projiziert. Radikalisierte oder emotionalisierte Massenbewegung, wie sie etwa Marcus Garvey organisiert habe, stießen die Weißen dagegen vor den Kopf.33 Und das ist die Perspektive, die im gesamten Buch auff ällig unterbelichtet bleibt. Überrascht stellt Gunnar fest, daß eine kleine Gruppe farbiger, radikaler Intellektueller bei »Negro professionals« und sogar der »Negro press« Gehör findet. Er folgt dieser Spur aber nicht weiter, sondern verzichtet auf die Diskussion konfrontativer Strategien, den Rassismus zu bekämpfen. Für Henry Thoreau, dessen berühmter Essay »On the Duty of Civil Disobedience« (1849) später immerhin Mahatma Gandhi und Martin Luther King als Richtschnur dienen sollte, erübrigt er nur eine Fußnote. Der Essay sei der extreme Ausdruck einer populistisch-anarchistischen 29. Ebd., S. 519. 30. Ebd., S. 519f. (Hervorh. im Orig.). 31. Ebd., S. 1009f. 32. Ebd., S. 507. 33. Noch 1962, im Vorwort zur Jubiläumsausgabe von »An American Dilemma«, war Arnold Rose der Meinung, daß die jungen Schwarzen sich zu Unrecht radikalisierten. Sie könnten die langsamen Veränderungen, die die Experten deutlich ausmachten, nicht wahrnehmen, würden aber die angeblichen Fortschritte in den dekolonisierten afrikanischen Staaten im Vergleich zu den USA deutlich überbewerten (ebd., S. xliv).

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Tendenz, »founded upon a primitive concept of natural law«, die bestehenden Gesetze im Namen eines »Höheren Rechts« zu mißachten.34 Zwar zitiert er einen »competent Negro social scientist«,35 daß unter bestimmten Bedingungen »race riots« einen positiven Effekt haben könnten: »›They stir up people’s conscience. People will have to think matters over.‹«36 Letztlich aber sollen auch die Radikalen innerhalb des Systems verbleiben: »There must be radicals, liberals and conservatives. Viewed as a going system of collective action all three factions and many others have their ›functions‹ in the concert. The intelligent citizen should be able to see this. It is required of him, of course, to take his own stand and to fight by his individual opinion, but, nevertheless, to be able not only to ›see the viewpoint of the other fellow,‹ but actually to understand and appreciate his ›function‹ in the system. When this mutual understanding is reached in a nation – which is a high stage of political culture – the radical or the conservative will fi nd that it does not decrease in the least his efficiency in fighting for his own opinions. On the contrary, he can strike harder and better – at the same time as he becomes a little more careful about where he hits.«37 Wohl auch deshalb bezeichnet er die »National Association for the Advancement of Colored People«, die die Rechte der Farbigen vor allem auf dem Gerichtswege durchzusetzen suchte, als »militant«,38 um ihr zugleich zu bescheinigen, daß alle Gründe für ihre Strategie sprächen – weil sie gewaltfrei, respektabel, effizient und guten Willens sei. Gunnar kommt nie auf die Idee, daß nicht der Creed, sondern vielmehr der Rassismus bei den Amerikanern tief verwurzelt sein könnte. Allen gegenteiligen Erfahrungen zum Trotz wird er in den nächsten Jahrzehnten auf dieser »›realistischen‹ Theorie der Rassenbeziehungen« beharren.39 Hochdekorierte farbige Veteranen kehren aus dem Zweiten Weltkrieg zurück und müssen feststellen, daß sich die Diskriminierungen fortsetzen, als sei nichts geschehen. Gunnar schreibt 1948, daß sich das Problem durch das dynamische Spiel vielfältiger Faktoren evolutionär lösen werde. Die zunehmende Brutalität gegenüber Schwarzen sei nur »the smoke from the fire«, 40 das »horrifying picture of lawlessness and inequality« verdan34. Ebd., S. 16, 1183 (dort Anm. 22). 35. Er identifiziert ihn erst später als seinen mittlerweile gestorbenen

Freund Charles S. Johnson (G. Myrdal, Amerikas väg, S. 204). 36. G. Myrdal, An American Dilemma, S. 1014. 37. Ebd., S. 856. 38. Ebd., S. 854. 39. Ebd., S. 736. 40. G. Myrdal, Social Trends in America and Strategic Approaches to the Negro Problem, S. 208.

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ke sich zu einem Gutteil reiner Nachlässigkeit sowie dreister Mißachtung formaler Prozeduren und professioneller Standards. 41 1963, da haben der »Montgomery Bus Boycott«, die sit ins in Greensboro und die heftigen Auseinandersetzungen in Little Rock stattgefunden, äußert er Verständnis für die Ungeduld junger, schwarzer Intellektueller und greift auf das Zitat des »schwarzen Soziologen« zurück, daß Unruhen auf Dauer eine positive Wirkung haben könnten. Letztlich sei das jedoch eine »erhabene philosophische Sichtweise«. 42 Denn: »Trotzdem behaupte ich, daß klar einzusehen ist, daß die Entwicklung strikt vorwärts zielt. […] Je mehr der Schulunterricht verbessert und ausgeweitet wird, desto tiefer werden diese [Gleichheits-]Ideale verankert. Die falschen und erniedrigenden Ansichten über die Neger, die dazu dienten, die Vorurteile zu rechtfertigen, können künftig nur von denen geäußert werden, die willig sind, ihre mangelnde Bildung zu offenbaren.« 43 1970, mittlerweile hat Martin Luther King in Birmingham (Alabama) gezielt die Gewalt der rassistischen Polizei provoziert und über die Medien der Nation vorgeführt, mußten die »Freedom Rides« durch Bundespolizei vor dem rasenden Mob geschützt werden, haben in Los Angeles und an anderen Orten heftige Rassenkrawalle stattgefunden, wurden schwarze und weiße Bürgerrechtler brutal ermordet, haben die »Black Panther« einen Strategiewechsel praktiziert und sind die Symbolfiguren Malcolm X sowie Martin Luther King erschossen worden, plädiert er weiterhin für eine »Allianz zwischen dem Negerradikalismus und der weißen Reaktion«. 44 Nach wie vor macht er das Problem in einer moralischen Verwirrung der Weißen aus, die Ideale verkündeten, gegen die sie im Alltag unverblümt verstießen. 45 Selbst 1987, als er seine Erinnerungen an die Entstehung von »An American Dilemma« publiziert, benennt er ein Teilkapitel dieses Buches ausdrücklich: »Ich verstehe nicht richtig« – warum nämlich die schwarze Revolte entstand, warum so viele schwarze Kirchen sich radikalisierten, warum so viele Schwarze zu friedlichen Märschen mobilisiert werden konnten, und wie sie und King den immensen Druck und die Gewalt aushielten. 46 Nichts davon paßt zu seinem Verständnis, wie das politische System funktioniert und wie man es verändert. Schon in der Arbeit für »An Ame41. Ebd., S. 210. 42. G. Myrdal, Amerikas väg, S. 204f. Ironischerweise beriefen sich die Initiatoren des sit in in Greensboro neben Gandhi auf Gunnar Myrdal: D. W. Southern, Gunnar Myrdal and Black-White Relations, S. 233. 43. G. Myrdal, Amerikas väg, S. 205. 44. N. Åkerman, Gunnar Myrdal, S. 41. 45. G. Myrdal, I stället för memoarer, S. 291, 307. 46. G. Myrdal, Historien om An American Dilemma, S. 148.

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rican Dilemma« hat er, wie er später zugibt, die Bedeutung der Kirche nicht erfaßt. 47 Zur Erklärung für den Erfolg der Revolte im Süden kann er allein Martin Luther Kings Persönlichkeit als Führer anbieten. Daß es sich um eine genuine grass roots-Bewegung handelt, übersieht er. 48 Die Wirkung des Drucks von Unten muß er anerkennen, doch letztlich ist er überzeugt, daß das politische System die Diskriminierungen nicht aus Angst vor der Revolte, sondern aus Reue zu beseitigen versuche. 49 Er bleibt seinen Prämissen treu, wenn er eingehende Untersuchungen über die Bedeutung der moralischen Kräfte für politische Veränderungen fordert.50 Für ästhetische, kulturelle und religiöse Fragen hat er keinen Sinn; trotz eines kompetenten Mitarbeiters, Sterling Brown, sind ihm die Bedeutung der Musik bzw. der Geschichte der Schwarzen für die Tradition des Widerstandes entgangen.51 Weil er soziale Pathologien überbetont, kann er die Leistungen der schwarzen Kultur nicht erfassen, zumal er ohnehin annimmt, »that the social and cultural life of blacks could be explained primarily by the denial of political power and economic opportunity«.52 Schon in »An American Dilemma« ist er intensiv auf »Biases in the Research of the American Negro Problem« eingegangen. Allerdings hat er sie immer nur bei anderen Autoren ausmachen können, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage oder Willens seien, ihre Prämissen zu benennen, und folgerichtig inkonsistente Schlüsse gezogen hätten.53 An keiner Stelle geht er auf den schwedischen bias in seinem Denken ein. Seine Analyse läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, und seine Lösungsvorschläge sind für viele Intellektuelle anregend gewesen. Indem er aber das schwedische Modell der ganz anders gestrickten amerikanischen Gesellschaft implementieren wollte, es zur einzig rationalen Lösung erklärte und alternative Ansätze ohne Diskussion verwarf, verstieß er eklatant gegen seine eigene Wertprämissentheorie. Er verstieß dagegen, weil er seine eigene Voreingenommenheit nicht erkannte. 1987 beschrieb er seine Forschungsstrategie für »An American Dilemma« so: Nachdem er den American Creed als Prämisse akzeptiert hatte, sei er gezwungen gewesen, den amerikanischen Alltag sorgfältig auf jede Abweichungen 47. Ebd., S. 146. 48. Ebd., S. 139f. Der Abschnitt heißt »Das große Fragezeichen«. 49. Ebd., S. 160f. 50. Ebd., S. 162. 51. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 131f. Alva hat sich dagegen mit Hilfe Browns eine Plattensammlung aufgebaut (S. Bok, Alva Myrdal, S. 135). 52. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 219. 53. G. Myrdal, An American Dilemma, S. 1035-1064.

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von diesem Ideal abzuklopfen, um zu einer ungeschminkten Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft zu kommen.54 Tatsächlich aber war ihm unter der Hand der Creed mit der schwedischen Gesellschaftsmoral verschmolzen,55 so daß er mit jeder Seite des Werkes die Abweichung zu schwedischen Vernunftvorstellungen vermaß. Dieser bias war so mächtig, daß es ihm bis zu seinem Tode unmöglich war, eine fundamental andere Kultur auch nur zu verstehen – geschweige denn sie, gemäß der Wertprämissentheorie, unvoreingenommen zu diskutieren.56 Die Rezensenten nehmen solche Schwächen wahr. Die ersten Kritiken fallen zwar durchaus freundlich aus, machen aber deutliche Vorbehalte geltend. Robert Lynd etwa »wondered whether Myrdal’s Ideas about induced change had not been predicated on the homogeneity of Sweden rather than on the large, heterogeneous, loosely administered state of America«.57 Schon die Mitarbeiter hatten die These des Creed kritisiert,58 auch viele Intellektuelle und Sozialwissenschaftler überzeugt Gunnars zentrale Annahme nicht. Sie sehen erhebliche methodische Schwächen und halten seine Schlußfolgerungen für allzu optimistisch. Autoren wie Ralph Ellison ärgert Gunnars Einschätzung der schwarzen Kultur als pathologisch und bloße Reaktion auf die Kultur der Weißen: »Are American Negroes simply the creation of white men, or have they at least helped to create themselves out of what they found around them?«59 Daß »An American Dilemma« von konservativer Seite als Teil einer »kommunistischen Verschwörung« abgelehnt wird, überrascht nicht. Gewichtiger ist der Vorwurf radikaler bzw. marxistischer Intellektueller, seine Analyse kranke an einem grundlegenden Fehler. Durch den moralischen Zugriff verdecke sie die wahren Gründe für das Rassenproblem, nämlich die Bedeutung der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung.60 Immerhin teilen die meisten Kritiker die Grundlinien des Buches und 54. G. Myrdal, Historien om An American Dilemma, S. 45. 55. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 190f., 211. 56. Es hat Stunden gedauert, Gunnar davon zu überzeugen, daß sein liberaler Freund Arthur Raper in Georgia niemals zum Gouverneur gewählt werden würde, wenn er, wie Gunnar wiederholt vorschlug, kandidierte (ebd., S. 214). 57. D. W. Southern, Gunnar Myrdal and Black-White Relations, S. 76. 58. Ebd., S. 33f. 59. W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 307. Ellisons Rezension, verfaßt 1944, erschien erst 1964 im Druck. 60. Detailliert zur Rezeption: D. W. Southern, Gunnar Myrdal and BlackWhite Relations, S. 71-99, 155-185; W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 241-311.

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schätzen das reichhaltige empirische Material, das die Studie ihnen bietet. Schwarze Intellektuelle erkennen außerdem rasch deren Bedeutung für die Bürgerrechtsbewegung, liberale Kirchenführer untermauern fortan ihre moralische Perspektive auf das Rassenproblem mit ihr. Bald schon gehört sie zum amerikanischen Kanon bedeutender Werke. Das liegt auch am »exquisite timing« – ein Jahrzehnt zuvor hätte das Thema die weiße Öffentlichkeit mäßig interessiert, in den McCarthy-Jahren wäre Gunnar nicht mit der Arbeit beauftragt worden, in der Black Power-Ära hätte das Buch nicht mehr gezündet – sowie an Gunnars Fähigkeit, seine wissenschaftliche Untersuchung in die »American flag and Judaeo-Christian values« zu kleiden und damit in den liberalen Diskussionszirkeln zu implementieren.61 Am größten ist deshalb sein Einfluß in der Nachkriegszeit, als der Kampf der Bürgerrechtsbewegung sich verschärft, aber noch nicht militant ist. In mehreren Gerichtsentscheidungen, in denen Schwarzen die Bürgerrechte Schritt für Schritt zuerkannt werden, spielt »An American Dilemma« eine wichtige Rolle. Gerade der Erfolg der Bürgerrechtler in diesen formalisierten Justizverfahren scheint Gunnar ja recht zu geben. Selbst der militante Widerstand Weißer gegen diese Entscheidungen läßt sich aus seiner Perspektive als letztes Auf bäumen interpretieren. So ist die Metapher des »Dilemmas« zwei Jahrzehnte lang attraktiv für Gerichte, Studenten und liberale Intellektuelle, um die Kluft zwischen Idealen und Realität zu interpretieren.62 »Myrdal’s study seemed especially fashioned for the conservative revolution sought by most white liberals and black activists in the decade after the Brown decision because Myrdal envisioned a peaceful, orderly, and limited revolution in racial arrangements. The battle would not be one of raw power, group against group, culture against culture, but a struggle within the white conscience.«63 In den 60er Jahren gerät dieser Ansatz zunehmend in die Kritik. Empirische Studien stellen Gunnars These und Folgerungen in Frage; unverblümt wird seine Analyse als simplifizierend und deshalb als Bärendienst bezeichnet, weil sie die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Rassismus heruntergespielt habe. Vergleichende Untersuchungen zeigen außerdem auf, daß der Rassismus kein isoliertes Phänomen eines zurückgebliebenen Südens, sondern weltweit tief verwurzelt ist, die Lösung also nicht in der Erziehung einiger Weißer und der Umsiedelung einiger Schwarzer besteht. Deshalb verliert das Buch ab 1965 rapide an Einfluß. Seine Vor61. D. W. Southern, Gunnar Myrdal and Black-White Relations, S. 293f.; vgl. auch W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 232-241. 62. D. W. Southern, Gunnar Myrdal and Black-White Relations, S. 101-150, 196. 63. Ebd., S. 225.

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stellung, daß die Menschen im Grunde »rational« und »gut« sein wollen, überzeugen nicht länger.64 »The European scholar greatly underestimated the tenacity of American racism, and he missed the tragic aspect of the race problem that lay beyond legal equality.«65 Gunnar ignoriert seine Kritiker und die Entwicklungen, blendet die wissenschaftliche Diskussion aus, kommentiert aber weiterhin, wie wir gesehen haben, die Situation in den USA im Lichte von »An American Dilemma«.66 Es überrascht kaum, daß in seinen Erinnerungen an Entstehung und Aufnahme des »Dilemmas« von der Kritik an ihm keine Spur zu finden ist.67

3. Die Julikr ise 1941 Nach seiner Zusage an die Carnegie-Stiftung erhält Gunnar eine weitere Einladung in die USA. Er soll im Frühjahr 1938 in Harvard die »Godkin Lectures« halten. Mit seiner Abreise setzt ein altes Muster ein: Auf dem Schiff beginnt er zu klagen. Die Aufgaben schrecken ihn, Geldsorgen plagen ihn, er fühlt sich einsam und elend.68 Auch hatte es, Andeutungen nach zu schließen, sexuelle Differenzen mit seiner Frau gegeben.69 Diese Schwierigkeiten und die Reibereien in ihrer Ehe spitzen sich in den nächsten drei Jahren dramatisch zu, und sie werden ihr Verhältnis zueinander ein weiteres Mal verändern. Alva beruhigt ihn,70 und als sein Schiff in den USA landet, fühlt sich Gunnar von allen Kümmernissen befreit. Er schreibt einen siebenseitigen optimistischen Brief, daß Alva auf die Arbeit am Sozialpädagogischen Seminar »pfeifen« und für längere Zeit in die USA kommen solle, und dann weitere Briefe, in denen er begeistert über das Land und über seine erfolgreichen Verhandlungen mit der Carnegie-Stiftung berichtet. Ständig werde er eingeladen, anders als in Schweden höre man ihm hier zu wie einem Propheten. Zu Hause hätten sie keinen Raum mehr für ihre Ambitionen. Immer dringlicher fordert er sie auf, Schweden für zwei bis drei Jahre zu verlassen. Im Telegrammstil stellt er die Verhältnisse klar: 64. Ebd., S. 187-292. Vgl. auch O. Clayton Jr., An American Dilemma Revisited; sowie die Beiträge in Dædalus 124, 1995, H. 1. 65. D. W. Southern, Gunnar Myrdal and Black-White Relations, S. 295. 66. Ebd., S. 307-310; W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience, S. 259. 67. G. Myrdal, Historien om An American Dilemma. 68. Mehrere Briefe Gunnars von der MS Gripsholm an Alva, 21.-29.4.1938 (ARAB 405/3.3:23). 69. Vgl. Gunnar an Alva, 8.5.1938 (ARAB 405/3.3:23). 70. Alva an Gunnar, 5.5.1938 (ARAB 405/3.3:23).

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«[D]iese Chance [sein Auftrag] wichtiger [als ihr Seminar]. Viel wichtiger. Einmalig«.71 Er will sie bei sich haben, für Verzögerungen von ihrer Seite hat er kein Verständnis.72 Alva dagegen äußert sich ebenso glücklich über ihre Erfolge in Schweden und ahnt, was es bedeuten wird, sie aufzugeben.73 Zunächst aber feiern beide in ihren Briefen geradezu einen Rausch von Erfolg, Vertraulichkeit und einer neu entdeckten Sexualität. Ihre Beziehung erscheint ihnen enger denn je. Nur zu den Kindern hat Gunnar – immerhin sind zwei dicke Mappen mit Briefen allein für den Juni 1938 überliefert – wenig zu sagen. Der Familienalltag interessiert ihn nicht weiter. Im Juli kehrt Gunnar zurück. Im September verläßt er Schweden erneut, diesmal mit der Familie im Schlepptau. Nun beginnen, je nachdem, welchen Teilbestand des Nachlasses man liest, zwei parallele Geschichten unterschiedlichen Tenors. In Zeitungsartikeln und Briefen an Freunde und Kollegen zeichnet sich ein erfolgreicher Aufenthalt ab (der er zweifellos war), in Briefen untereinander eine kumulierende Ehekrise. Nach Außen hin läßt sich das Leben für beide gut an. Sie wohnen in einer altmodischen Wohnung hoch über dem Hudson, im Sommer wollen sie ein Haus in den Bergen mieten, um einen großen Stapel an Büchern zu bewältigen. Die Kinder sind eingeschult. Gunnar arbeitet an der »Negerstudie«, Alva hat ein Büro in der Columbia-Universität und schreibt ein neues Buch.74 Sie ist gebeten worden, »ein source-book« über die sozialpolitischen Reformen in Schweden zu verfassen, weil die Amerikaner auf der Vorstellung beharrten, Schweden sei eine Art Idealland.75 »Our little Swedish colony is happy and working hard. […] Our children are adjusting themselves very happily.«76 Dabei ist sich Alva ihrer Sache gar nicht so sicher. »Veckojournalen« fragt bei ihr einen Artikel über die amerikanische Sicht auf den drohenden Krieg an. Im ersten Moment will sie nicht: Keine Zeit, keine Lust, als Autorität aufzutreten, kann von Anderen etwas auf die Finger bekommen, beschreibt sie Gunnar ihre Reaktion. Dafür spricht: »›will immer zeigen, daß ich kann und will, exakt, um was ich gebeten werde.‹ Dann kam das Irrationale: Ich habe mich hingesetzt und überlegt, 71. Gunnar an Alva, 12.5.1938 (ARAB 405/3.3:23 [Hervorh. im Orig.]). 72. Gunnar an Alva, 8.5., 10.5., 12.5., 31.5.1938 (ARAB 405/3.3:23), 5.6.1938 (ARAB 405/3.3:24). 73. Alva an Gunnar, 11.5.1938 (ARAB 405/3.3:23), 8.6.1938 (ARAB 405/ 3.3:24). 74. Gunnar an Karin Kock, 3.8.1939 (KB L 244:3); Gunnar an Sigfrid Hansson, 25.2.1939 (ARAB 405/3.2.1:5). 75. So Alva an Kerstin Hesselgren, 16.11.1938 (ARAB 405/3.2.2:2). Es handelt sich um »Nation and Family«. 76. Gunnar an Gösta Eberstein, 12.1.1939 (ARAB 405/3.2.1:3).

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was ich schreiben soll. Und es wurde ganz von selbst ein richtig netter Artikel – gut formuliert da und da. Nun überschlafe ich den Beschluß und hoffe, daß Du Dich mir im Traum offenbaren und mir sagen wirst, welches meiner Telegramme [Zu- oder Absage] ich senden soll. Noch habe ich nicht gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen.«77 Die Briefe untereinander (Gunnar ist im Oktober bereits auf Reisen durch die USA) klingen nun wesentlich weniger enthusiastisch. Alva ist zerrissen. Sie bewundert ihren Mann für sein kommendes Werk, sie macht sich Gedanken um die Familie und versucht Ruhe in ihr gemeinsames Leben zu bringen, hat Angst vor dem anonymen Leben einer Studentin an der Columbia-Universität und davor, erneut in die Bedeutungslosigkeit zu verfallen. Andererseits hat sie ihren ersten öffentlichen Auftritt in einem exklusiven New Yorker luncheon club für Frauen und spricht vor Publizisten, Künstlern und Schauspielern; ein Literaturagent will anschließend ein Buch von ihr. Es scheint sie doch weniger die Sorge zu plagen, ob sie jemals Wissenschaftlerin oder Sozialpolitikerin werden wird, als vielmehr die Frage, welcher der beiden Karrieren die Bessere sei. Ihre Publikationspläne reichen von einer gründlichen Studie zur Kinderpsychologie bis hin zu einem detaillierten sozialpolitischen Plan für Schweden.78 Bereits im Jahr darauf klagt sie, daß sie sich mit Artikeln, Vorträgen und den vielen Verabredungen zum lunch verzettele,79 fühlt sich aber auch marginalisiert, weil ihr Wort kein Gewicht besitze und ihre Vorträge zu Erziehungs- und Frauenfragen nur in den Gesellschaftsspalten der Zeitungen referiert würden. Es sei sehr viel schwerer als in Schweden, öffentlich Gehör zu finden.80 Gunnar ist von seiner Studie absorbiert, Alva hat mittlerweile vier Rollen zu erfüllen: Mutter, Studentin, Autorin und Vortragende. Bald nach ihrer Ankunft wird sie zur Vizepräsidentin der »International Federation of Business and Professional Women« gewählt.81 Immer noch formuliert sie, daß sie für Gunnar alles aufgäbe. Wenn es nötig sei.82 Dann naht die »Julikrise 1941«.83 Alva und Gunnar sind mittlerweile zu einem Schwedenaufenthalt aufgebrochen, der ihre Erwartungen enttäuscht. Nach dem Überfall auf Dänemark und Norwegen hatten sie sich 77. Alva an Gunnar, 4.10.1938 (ARAB 405/3.3:23 [Hervorh. im Orig.]). 78. Alva an Gunnar, 4.10., 6.10., 11.10., 14.10., 18.10.1938 (ARAB 405/

3.3:23). 79. Alva an Gunnar, o.D. [Ende Oktober 1939] (ARAB 405/3.3:25). 80. Alva an Gunnar, o.D. [Poststempel 13.2.1940] (ARAB 405/3.3:25). 81. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 231f. 82. Alva an Gunnar, 1.4.1940 (ARAB 405/3.3:25). 83. Dieselbe Bezeichnung hat Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 245, ge-

wählt.

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der schwedischen Regierung zur Verfügung gestellt, um ihrem Land im Falle einer Invasion zu dienen. Regierung und Öffentlichkeit wissen ihren Einsatz jedoch nicht zu schätzen,84 also macht Gunnar sich im Januar 1941 erneut auf den Weg in die USA. Alva folgt später. Eine dürre Chronologie Alvas verbirgt vollkommen das Abenteuer, das sich mit dieser doppelten Rückreise verband. Sie liest sich so: Januar: Gunnar verläßt Stockholm, März: Ankunft in den USA, April: russisches Visum für Alva, Mai: Reisewarnung, August: Flug nach Großbritannien, November: »AM arriving Princeton, reunion«.85 In Gunnars Briefen wird es plastischer. Er kann nämlich nicht den direkten Weg nehmen, sondern muß auf dem Land- und Seeweg über die Sowjetunion und Japan reisen. In 20 numerierten Briefen schildert er seine Erlebnisse, beschwört ihre »Zweisamkeitsgemeinschaft« und kündigt an, nach dem »Negerbuch« eine neue sozialwissenschaftliche Begriffsbildung und Ideologie schaffen zu wollen, geprägt durch Empirie und Glauben.86 In Hawaii phantasiert er von einem vierten Kind, dem er in Japan schon ein Kleid gekauft hat, zurück in den USA wundert er sich, daß seine Frau nichts von ihren Reiseplänen schreibt.87 Im letzten dieser Reisebriefe setzt er sie dann mit einer Mischung aus Drohungen, Verzweiflung, Schmeicheleien und Versprechungen unter Druck: »Dein Seminar und Deine (sehr unsicheren) Karrierepläne in Schweden sind Kleinkram. […] Wir werden Dir niemals verzeihen, wenn Du mehr als unbedingt notwendig zauderst, und wenn das dazu führt, daß Du nicht kommen kannst!!« Wenn er nicht die Gewißheit habe, daß sie komme, werde alles zusammenbrechen. Sie soll Ehrgeiz zeigen: »Dein Schicksal ist nicht, bloß schwedischer Studienrektor und Reichstagskomitee- und Ministerialratskandidat zu sein (und es nie zu werden), Du wirst es sicherer mit einer Großtat [världsgärning] im Rücken […]).«88 Die nächsten vier Monate sendet er verzweifelte, seitenlange Monologe in kaum lesbarer Handschrift über den Ozean. Er telegraphiert, läßt Freunde telegraphieren und lockt: »Mercury convertible red leather / Myrdal«, »Lovenest rented / Myrdal«, »Geliebte / Myrdal«.89 Wenn sie endlich kommt, wird er ein anderer Mensch werden. Er wird so nett werden. Er wird versuchen, maximal liebenswürdig zu werden. Er erwartet unmiß84. Siehe unten, Abschn. 4. 85. Notes on journey US 1940-43, o.D. (ARAB 405/1.1:8). 86. Gunnar an Alva, 9.2.1941 (ARAB 405/3.3.26). 87. Gunnar an Alva, Februar/März 1941 (ARAB 405/3.3.26). 88. Gunnar an Alva, 14.3.1941 (ARAB 405/3.3.26 [Hervorh. im Orig.]). Mit der letzten Bemerkung meint er das soeben erschienene »Nation and Family«, das sie weltberühmt machen werde. 89. Telegramme Gunnars an Alva, 24.5., 26.5., 28.5.1941 (ARAB 405/ 3.3:26).

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verständlich, daß sie täglich alles unternimmt, um zu ihm kommen zu können. Daß er nach Schweden zurückkehrt, ist ausgeschlossen. Sie kann es nicht verantworten, daß er seine Kräfte und Talente durch ihre Abwesenheit vergeudet. Ohne ihre unersetzliche Mitarbeit wird das Buch nichts, sie muß sich ihm ganz widmen. Sie muß sich auf eine eigene, große Aufgabe konzentrieren und sie selbst sein, sonst sind beide mißgelaunt.90 Im Juli hat er sich im kleinen Universitätsstädtchen Hanover installiert und versucht, mit Hilfe einer Sekretärin 16.000 Blatt Material in ein Manuskript zu verwandeln. Diese Aufgabe fordert ihn maßlos. Zwischendurch wechselt er zu einer zweiten Schreibmaschine, die er auf einem kleinen Tischchen postiert hat, und hackt immer wieder einen Absatz an Alva in die Tasten. So entstehen über jeweils mehrere Tage hinweg lange Briefe, eine ungeplante Aneinanderreihung von Erlebnissen, Vorwürfen und verzweifelten Ausbrüchen. Grund für die nahende Krise ist Alvas Ausbleiben. Ihre Abreise verzögert sich, weil der deutsche Überfall auf die Sowjetunion ihren Reiseweg sperrt, dann hängt sie zwei Monate in England fest. Yvonne Hirdman zweifelt, ob Alva wirklich reisen wollte. Sie ist wieder Vorsitzende des YK, ist mit dem unpräzisen Auftrag, über die Verwendung von Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit nachzudenken, in die staatliche Arbeitsmarktkommission gewählt worden, publiziert fleißig und beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie die Demokratie verteidigt werden könnte. Außerdem ist unerwartet ihre Schwester Maj gestorben, ein Ereignis, das sie sehr mitnimmt.91 Gunnar wird unterdessen immer irritierter über die unklaren Botschaften und kryptischen Telegramme, die sie sendet. Zwischenzeitlich gewöhnt er sich zwar an den Gedanken, daß die Reise für sie zu gefährlich ist. Selbst Keppel habe ihm abgeraten. Drei Wochen lang kann er diktieren, doch dann fängt er an zu trinken. Die Julikrise beginnt.92 Sie wird durch den Umstand verschärft, daß die Briefe Alvas und Gunnars nicht aufeinander antworten, weil sie auf beiden Seiten des Ozeans von der Post angestaut und dann stoßweise auf eine unsichere Reise abgelassen werden. Sie laufen aneinander vorbei, tauchen beim Empfänger unerwartet in Stapeln und nach langem Warten aus dem Dunkel auf, treffen aber auf eine Situation, die sich seit Absendung der letzten Briefe bereits erheblich verändert hat. Da außerdem eine Reihe von Briefen 90. Div. Briefe Gunnars an Alva, April-Juni 1941 (ARAB 405/3.3:26). 91. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 242-244; S. Bok, Alva Myrdal,

S. 154. 92. Vgl. zum folgenden das umfangreiche Konvolut mit Briefen Gunnars an Alva, Juli/August 1941 (ARAB 405/3.3:26); sowie H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 113-147; Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 245261.

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Alvas auf dem Postweg verschwindet, läßt sich die folgende Auseinandersetzung nur noch durch Gunnars Augen beobachten. In der Julikrise zieht er eine Bilanz ihrer Beziehung. Zuerst mischt sich sein Selbstmitleid noch mit Hochmut, wenn er sich wie ein ungeheurer »Intelligenzakkumulator« fühlt. »Wir – Du und ich und einige andere – sind das Salz der Welt und das ewige Leben.« Deshalb solle sie sich nicht mehr durch Lappalien kompromittieren lassen, ganz egoistisch die Kontakte daheim kappen und sich in den USA auf etwas Großes konzentrieren.93 Doch gerät er in die schwerste Krise seines Lebens. »Ich trinke, weine, arbeite, arbeite, arbeite, weine, trinke, arbeite, arbeite.«94 Zwischendurch grübelt er, gesteht ein, seine Sekretärin mehrmals geküßt, aber nicht verführt zu haben, und beginnt eine doppelte Balancerechnung, seine Soll- und Habenseite gegen die ihre. Er hat sich entschlossen, schonungslos offen zu sein, und rechnet seine Seitensprünge auf. Die Bilanz lautet auf Bankrott im Verhältnis zu ihr. Deshalb sucht er auf der Habenseite zusammen, was zu finden ist: Daß er seine Studenten immer gut behandelt hat, daß er nie darauf aus war, jemandem zu schaden, daß die USA-Reise keine Flucht war, daß das Buch (gemeint ist »Kontakt med Amerika«) sie tatsächlich eng zusammengebracht hat, und daß er sich mit diesen Bekenntnissen freiwillig selbst ausliefere.95 Was er in der Rechnung nicht auff ührt, aber ausführlich beschreibt, ist, wie er die jungen Frauen, mit denen er ein Verhältnis angefangen hatte, sozusagen ausbildete. Er habe sie gelehrt, was sie von ihrem Ehemann wünschen sollten, und sie gestärkt. Sie würden sich nun ändern und aus ihrem Leben etwas machen. Im übrigen hätten ihm diese Aff ären nichts bedeutet, er habe sie jedesmal auf eine anständige Weise zu Ende geführt, ohne jemandem zu schaden (sollte doch eine der Ehen zerbrechen, liege es an den jeweiligen Gatten, die er als Schwächlinge beschreibt). Sein Zusammenbruch rührt offenbar daher, daß Alva ihrerseits vorher eine Aff äre eingestanden und ihm eine Art Kontrakt angeboten hat: Sie sind quitt, beide sollen von nun an frei sein. Alva scheint ihren Seitensprung mit einem Kollegen Gunnars allerdings gezielt als Experiment angelegt zu haben, ohne die Absicht, daraus eine Lebenshaltung zu machen. Gunnar steht für sie noch immer im Mittelpunkt. Er jedoch hat das offenbar als Aufkündigung ihrer Gemeinschaft verstanden. Er ist eifersüchtig, fühlt sich wegen seiner Negativbilanz moralisch unterlegen und erfährt seine Frau als kühl überlegen, sich selbst als ihr Produkt. Mehrfach betont er, daß er nicht ihr »Problemkind« sein wolle, sondern ein starker, reifer Mann. Er 93. Gunnar an Alva, 6.7.1941 (ARAB 405/3.3:26). 94. Gunnar an Alva, 22.7.1941 (ARAB 405/3.3:26). 95. Gunnar an Alva, 2.8.1941 (ARAB 405/3.3:26).

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beschimpft sie für den »zwitschernden«, unschuldigen, tröstenden Tonfall ihrer Briefe oder flüchtet sich in die rhetorische Struktur der nüchternen Argumentation, als würde er den Abschlußbericht einer Enquete entwerfen, wenn er eine neue Beziehungsgrundlage für sie beide entwirft, die auf Ehrlichkeit und einem stabilen platonischen Kern gründen soll. Gunnar scheint von ihrem Kontrakt deshalb so schwer getroffen, weil er ihre Unabhängigkeit fürchtet. Die Formulierungen seiner Briefe legen nahe, daß ihm unheimlich davor ist, mit ihr den eigenen Rahmen zu verlieren: »Ich stehe nun frei, frei vom Dunst hinter mir, frei gegenüber der Zukunft. Ich gedenke nicht, das Leben ohne System laufen zu lassen. Ich begrüße dieses Eremitendasein, das ich um mich herum geschaffen habe, und werde es nicht verlassen, bevor ich mein System so klar habe wie meine Wissenschaft.«96 Ihr bürdet er die Verantwortung für das Gelingen des Kontraktes auf: »Du hast die Hauptverantwortung für die Formulierung unserer Moral getragen: Du darfst uns nun nicht im Stich lassen.«97 Andernfalls, schreibt er pathetisch, gäbe es nur noch eine Aufgabe in seinem Leben: das Buch fertigzustellen. »Das ist das Finale meines Lebens, und das soll nicht schlecht ausfallen.«98 Im August bilanziert er die Krise und geht detailliert auch auf ihr Leben ein. »Was Du damit meinst, daß ich stets mein Leben habe, während Du es nicht hast, ist nach wie vor ein Rätsel für mich.« Sie sei eine unabhängige Person, er sei sich bewußt, was sie seit 20 Jahren für seine Karriere geopfert habe, und nehme selbstverständlich die Pflicht auf sich, sie und die Kinder zu versorgen. Ihr stünden alle Wege offen, all sein Geld stehe ihr als Startkapital zur Verfügung, er mache sich nichts aus Geld. Gunnar geht davon aus, daß ihr Stolz gekränkt ist, weil sie nicht zum Familienhaushalt beiträgt, und daß sie unter »sekundär übersteigerten feministischen Minderwertigkeitsambitionen« leidet.99 »Berufsmäßig stehst Du gut da (und lüge nicht völlig die Wirkungen unserer Ehe in diesem Punkt weg: In gewisser wichtiger Hinsicht hat sie Dich sehr gehindert, ich weiß das, aber die Firma hat auch ihre positiven Seiten gehabt, und von mir bist Du nicht nur gedrückt, sondern auch inspiriert worden – ich spreche ehrlich in dieser Auseinandersetzung). Du stehst Dich in gewisser Hinsicht gut als führende Frau des Landes; das hättest Du vielleicht auch ohne mich geschaff t, aber das ist nicht richtig sicher. Das Einkommen ist durch Deine 96. Gunnar an Alva, 30.7.1941 (erster Brief) (ARAB 405/3.3:26 [Hervorh. im

Orig.]). 97. Gunnar an Alva, 30.7.1941 (zweiter Brief) (ARAB 405/3.3:26). 98. Gunnar an Alva, 12.8.1941 (ARAB 405/3.3:26). 99. Gunnar an Alva, o.D. [wohl die Nacht zum 17.8.1941] (ARAB 405/

3.3:26).

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Stellung als Ehefrau [ frustaellningen] unten gehalten worden, aber das verändert sich umgehend, wenn Du Dich selbständig machst. […] [N]un bist Du immer noch jung und stark; häng mir nicht an, daß ich Dich eingeengt und gehindert habe, denn in der Summe ist das nicht wahr. – Du darfst Dir nicht unnötige Minderwertigkeitskomplexe in dieser Krise aufladen. […] Ich will Dich ganz einfach nicht voll von solchen Minderwertigkeits- und Gleichgewichtstendenzen haben. Das ist in Deinem Fall vollkommen irrational, und sollte durch intellektuelle Analyse ausgerottet werden können. Du sollst zu mir kommen – und Du kommst –, denn das vergnügt Dich mehr als alle anderen Lebenslinien […]. Für mich ist die Sache nun klar: ich bin an diese blutsaugende Arbeit gekettet, dahinter gibt es nichts.« 100 Sie dagegen diene sogar der Frauenbewegung, wenn sie sich von der Kastenund »Untergeschlechterpsychologie« (underkönspsykologien) befreie.101 Das ist erneut der überlegene Ton von früher. Noch ist die Verzweiflung da, und er hat wohl ernsthafte Sorgen, daß die Ehe zerbricht. Aber er hat sich wieder in die Rolle dessen eingefunden, der Alva die komplizierte Situation zerlegt, analysiert und erklärt. Noch in den schwärzesten Stunden sieht er sich als denjenigen, der redlich die Katastrophe seziert, er besitzt darüber hinaus die Größe, nicht nachtragend, rechthaberisch, nicht einmal großmütig zu sein, denn das könnte als billiger Trick, seine Schuld zu mindern, verstanden werden – während ihr »Edelmut« dazu diene, ihn moralisch zu erniedrigen. Und er ist kompromißlos wie eh und je. Kaum führt er kurz nach der Krise ein glücklich verlaufendes Telefongespräch mit ihr, verplant er wieder ihr Leben. Nicht nur das Thema des Buches, über das sie in den USA schreiben soll, empfiehlt er ihr, auch auf ihrer beider Wohnort, Princeton statt Baltimore, hat er sich weitgehend festgelegt. Durch die Krise sieht er sich am Boden absoluter Klarheit an-, sie aber zu größerer Selbständigkeit gekommen. Dann erfährt er von Alva, daß ihre Aff äre länger gedauert hat, als zunächst von ihr zugegeben, und er wütet wieder. Ihre »Ehrlichkeit« verdammt er, ihre Briefe bezeichnet er als ein Gewebe aus Lügen und im »Vorbeigehen« erklärt er ihr, daß er seine jüngste Liebhaberin nicht verführt habe, sondern einer »Behaviorsituation« ausgesetzt gewesen sei, in der es »auf Grund einer uralten geschlechterdifferentiellen Erziehung bedeutend schwerer für einen Kavalier ist, sich aus dem Spiel zu ziehen, als für eine Dame«.102 Trotzdem sollte man die Julikrise nicht einfach als Ausdruck einer fortgesetzten Unterdrückungsgeschichte lesen. Im Grundsatz handelte sie 100. Gunnar an Alva, 12.8.1941 (ARAB 405/3.3:26 [Hervorh. im Orig.]). 101. Gunnar an Alva, o.D. [wohl die Nacht zum 17.8.1941] (ARAB 405/

3.3:26). 102. Gunnar an Alva, o.D. [ca. 24.8.1941] (ARAB 405/3.3:26).

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von der in Konventionen und eigener Hilflosigkeit begründeten Unfähigkeit eines hochbegabten Mannes, eine wirklich gleichberechtigte Ehe zu leben. Es spricht nichts dafür, Gunnars endlose Wiederholungen, er sei am Ende, einsam, hilflos, hoffnungslos und komme ohne sie nicht klar, als bloße Rhetorik abzutun. Dasselbe gilt für seine verzweifelten Liebesschwüre. Tatsächlich konnte er intellektuell offenbar nur funktionieren, wenn er Alva als Muse, Diskussionspartnerin und Kontrahentin um sich hatte. Er ging vollkommen in seiner Arbeit auf, und die Vorstellung der großartigen Lebensgemeinschaft, die er Ende August in immer bunteren Farben schilderte, um sie zu locken, hielt ihn aufrecht. Den Preis, den Alva das kostete, ahnte er, nahm ihn aber in Kauf. Das Entsetzen darüber, Alva könnte sich aus der 20 Jahre lang beschworenen Gemeinschaft ausklinken – und der Preis, den ihn das kosten würde –, ließ ihn in seinen Briefen geradezu randalieren. Yvonne Hirdman bietet eine weitere Interpretation an. Sie sieht die Julikrise und Gunnars Diagnose für »An American Dilemma« ineinander verflochten. Gunnar habe beobachtet, wie die Weißen ihren hohen Idealen im Alltag nicht gerecht wurden, und daß ihm dasselbe in seiner Ehe widerfahren sei. Und wenn in den USA die Kluft nur durch schonungslose Offenheit geschlossen werden konnte, so habe er dasselbe für seine Beziehung zu Alva gelten sehen. Aus seiner Ehe habe er seine zentrale These gewonnen, an seiner Ehe habe er probiert, ob sie trage.103 Gunnar selbst hat in einem Brief darauf hingewiesen: »[V]on der ersten bis zur letzten Seite handelt es [das ›Negerbuch‹] ja nur von mir und uns; und um mein schicksalsschweres Lebensproblem: Es soll mit meinem Blut geschrieben sein, soll handeln vom Seufzen der Kreaturen und der Menschheit Not, aber sei unbesorgt: es soll trotzdem das Buch über die Neger werden, mit allen Fakten und Daten, mit feinen Kurven und inspirierenden methodischen Diskussionen für die künftige Forschung: Das große Muster ist mein Lebensproblem, aber es wird auf jeden Fall wahrhaftig, denn es ist nicht zufällig, sondern ›natürlich‹ im eigentlichen Sinne, gesprungen aus der Natur durch mich: auf diese generalisierte Ebene gehoben ist nämlich all das Zufällige in meinem Lebensproblem bereinigt, und zurück bleibt nur die elementare Tragik der Menschheit: daß gute Menschen das Leben zu so einer Hölle machen, wenn sie in sozialen Beziehungen leben sollen: in Familie und Gesellschaft. Nun bin ich wieder im Faustischen: Aber mein Punkt war, daß die gemeinsame Arbeit an unserem Buch [›Kontakt med Amerika‹] von meiner Seite kein Betrug [livsförfalskad] war.«104 103. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 252-254. 104. Gunnar an Alva, 27.7.1941 (ARAB 405/3.3:26 [Hervorh. im Orig.]). – Hirdman weist auf diesen Brief nicht hin.

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Und Alva? Ihre wenigen erhaltenen Briefe sind ebenfalls widersprüchlich, schwanken zwischen Fatalismus und der Hoffnung auf Wiederherstellung der alten Einheit zwischen ihnen.105 Gleichzeitig macht sie ihm erbittert deutlich, wie sie ihr Leben sieht: »Meine Einsätze in der Welt sind Flickwerk [udda ting], die zustande kommen, wenn sie nicht Deinen Lebensplan stören. Nimm ein kleines Beispiel als Gedankenexperiment: Daß der kleine Auftrag, den man mir in Persien zu organisieren angeboten hat, doch eine größere Sache wäre (ein zentraleres Land, etwa). Was machen wir? Niemals im Leben würde es uns einfallen, deshalb mit der Familie umzuziehen. Noch weniger zu verlangen, daß Du alles aufgeben würdest, um mir um der Liebe Willen dorthin zu folgen. Karin [Kock] wird nicht Professor in Göteborg. […] Ich werde keine Reichstagsabgeordnete, weil Du in Amerika sein mußt, um der ehrenvollen Kontinuität und der weltdienenden [världsopportuna] Kontinuität Deiner Arbeit Willen. Und Du sagst mir: ›Wenn Du eine gewöhnliche Frau gewesen wärst‹. Ja.«106 Sie habe ihm alles geopfert, und nun zeige er ihr wie nebenbei, daß sie nicht einmal Seiner sicher sein könne. Dann benennt sie ihr Dilemma, ihre Unsicherheit um ihn und sich selbst, den Konflikt zwischen »unserem Liebesproblem und meinem höllischen Problem, was den ›Platz der Frau‹ betrifft. Zwischen meinem Vermögen, auch zu ahnen, was Freiheit, Stärke, ›einsam, aber mein eigenes Ich‹, sind – und meiner tatsächlichen Abhängigkeit. – Das ging mir das letzte Mal zuerst auf. Da machte es mich zu einer Feministin [kvinnosakskvinna].«107 Erst im August erhält sie mit großer Verspätung einen Brief Gunnars, in dem er zugibt, daß eine seiner Aff ären sehr viel länger gedauert und stattgefunden hatte, als sie im Sommer 1940 durch das Schreiben von »Kontakt med Amerika« ihre Gemeinschaft beschworen. Ihre kleine Hoffnung auf einen neuen Anfang bricht schlagartig zusammen.108 Kurz darauf führen sie das oben erwähnte »glückliche Telefongespräch«109 und Alva macht sich auf die mühsame und lange Reise in die USA. Die Kinder bleiben in Schweden, ein geheimer Flug bringt Alva nach England, wo sie mehrere Wochen warten muß. Sie nutzt die Zeit, in einer Reihe schwedischer Zeitungsartikel den britischen Kriegseinsatz

105. Mehrere Briefe Alvas an Gunnar, alle vom 14.8.1941 (ARAB 405/

3.3:26). 106. Alva an Gunnar, 14.8.1941 (ARAB 405/3.3:26). 107. Ebd. 108. Alva an Gunnar, 16.8.1941 (ARAB 405/3.3:26). Es handelt sich um die Ingrid Gårdlund, die Frau von Gunnars Sekretär in der Bevölkerungskommission, Torsten Gårdlund. 109. Gunnar an Alva, 21.8.1941 (ARAB 405/3.3:26).

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zu preisen.110 Dann fliegt sie nach Portugal und bekommt mit viel Glück den letzten Sitz in der letzten Maschine Richtung USA. Auf dem langen Flug mit seinen vielen Zwischenlandungen schließt sie Bekanntschaft mit Erika Mann, Jan Masaryk und Louis Fischer. Mitte November 1941 ist sie wieder mit Gunnar vereint. Sie debattiert seine Kapitelentwürfe und organisiert das soziale Leben; arbeitet außerdem an einem Buch mit dem Titel »Women and Wars«, das sie allerdings nicht fertigstellen wird.111 »Nation and Family« erscheint, doch der Kriegseintritt der USA überschattet dieses Ereignis, das Buch bringt nicht den von Gunnar vorhergesagten Durchbruch Alvas. Im Oktober 1942 ist die Arbeit am »American Dilemma« soweit abgeschlossen, daß beide nach Schweden zurückkehren können. Das Eheleben wird nicht einfacher. Jan rebelliert, vor allem gegen seinen Vater, und Alva versucht zu schlichten. Im Rückblick schreibt ihre Tochter Sissela über die Situation: »With Gunnar, Alva still had to walk a mine field. His threats to seek refuge from family life hung in the air. […] How could she placate Gunnar, she wondered, make him feel that he alone counted for her in the midst of all other demands on her time? […] And at home, she promised, she would do all she could to keep their own top floor [in der Villa Myrdal] all to themselves, free of family pressure, a sanctuary for them both. […] The accommodation with Gunnar succeeded, but at a cost in submissiveness and in smoothing over problems in need of airing that she would later regard as having been to high.«112 Als Gunnar dann 1943 erneut für vier Monate in die USA reist, sind seine Briefe von zuversichtlicher Grundstimmung.113 Er fühlt sich wieder Schweden, der Familie und ihr verbunden; er ist treu, nicht unglücklich, aber einsam und sehnt sich nach ihr und ihrem neuen Leben, das sie nun wirklich ruhiger angehen lassen müssten.114 Alva sendet ihm enggeschriebene Tagebuchbriefe, in denen sie aus der Heimat berichtet.115 Weiterhin ist sie mit ihrem Leben und den zahlreichen Aufgaben, zwischen denen sie hin und her springt, nicht zufrieden und versucht, den »Grundfehler« ausfindig zu machen.116 Weiterhin beschwört sie ihre Gemeinschaft. 110. Kurz darauf werden die Artikel zu einem Buch zusammengefaßt: A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien. 111. S. Bok, Alva Myrdal, S. 156-159. 112. Ebd., S. 162-168 (Zitate S. 166f.). 113. Vgl. das Konvolut schwer leserlicher Briefe Gunnars an Alva, AugustNovember 1943 (ARAB 405/3.3:27). 114. Gunnar an Alva, 12.9., 9.10.1943 (ARAB 405/3.3:27). 115. Vgl. das Konvolut mit Briefen Alvas an Gunnar, August-November 1943 (ARAB 405/3.3:27). 116. Alva an Gunnar, 5.10., 3.11.1943 (ARAB 405/3.3:27).

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4. Zu groß für Schweden Anfang 1940 wollen sich Alva und Gunnar von der schwedischen Regierung mobilisieren lassen, um ihrem Land in einem drohenden Krieg beizustehen.117 Zunächst planen sie, in den USA Vorträge über die Lage Schwedens zu halten und Propaganda für die finnische Sache zu machen, aber sie denken für den schlimmsten Fall bereits an ihre Rückkehr: »Denn hier werde ich [Alva] nicht herumspazieren, wenn es zu Hause gefährlich wird. Und niemals würde ich das tun, was einige unserer Freunde bereits begonnen haben, nämlich Fühler auszustrecken, um hierhin in Sicherheit zu fliehen. […] Schweden als Bittsteller – das wäre eine zu große Scham für ein Volk, das hauptsächlich durch seine Sturheit [backstyvhet] bekannt geworden ist.«118 Nach der deutschen Invasion in Dänemark und Norwegen machen sie dann ernst. Ein mit Sprengstoff beladenes Frachtschiff bringt sie ins (damals noch) finnische Petsamo. Unterwegs hängen sie am Radio, hören von der Invasion in Belgien und Holland, und fragen sich besorgt, ob Schweden seinen Widerstandwillen bereits verloren habe. Wider alles Erwarten teilen ihnen schwedische Diplomaten in Petsamo mit, daß ihr Land deutschen Ultimaten widerstanden und den Krieg riskiert habe.119 Mit Bus und Zug fahren sie durch das karge und vom Krieg gegen die Sowjetunion verwüstete Nordfinnland zur schwedischen Grenze, dann geht es weiter nach Stockholm.120 Daheim fällt es ihnen schwer sich zu akklimatisieren. Direkt aus den 30er Jahren, so formuliert es Gunnar, steigen sie in ein verändertes Schweden hinein, dessen Probleme sie nicht mehr richtig begreifen.121 »We left a country in its successful thirties. […] That is, the direction was always only forward. […] The political struggle was only concerned with the tempo in our activities to reform ourselves, to ›step lively‹ or ›step carefully‹. Now all

117. Alva an Dagmar Edqvist, 10.1.1940 (ARAB 405/3.1.2:2); Alva an Disa Västberg, 11.1., 26.2.1940; Alva an Eva von Zweigbergk, 13.3.1940 (ARAB 405/ 3.1.2:6); Gunnar an Sven Thunberg, 12.1.1940 (ARAB 405/3.2.1:14); Gunnar an Frederick Keppel, 22.4.1940; Gunnar an Ralph Bunche, 29.4.1940 (ARAB 405/ 4.2.5:3). 118. Alva an Célie Brunius, 11.1.1940 (ARAB 405/3.1.2:6). 119. So schildert es Gunnar in einem Brief an Richard Sterner, 25.6.1940 (ARAB 4.2.5:3). 120. Stockholms-Tidningen, 26.5.1940; Social-Demokraten, 28.5.1940; Dagens Nyheter, 28.5.1940; Höganäs Tidning, 29.5.1940; Sundsvall-Posten, 29.5.1940; Södermanlands Läns Tidning, 29.5.1940. 121. Gunnar an Richard Sterner, 25.6.1940 (ARAB 4.2.5:3).

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our resources are being taken for defense and not for progress.« 122 Bonniers bittet sie, ein Buch über ihre Eindrücke in den USA zu verfassen, und sie ergänzen gemeinsam das Manuskript, das sie bereits auf der Schiffahrt begonnen haben. »Kontakt med Amerika« wird ein patriotisches Buch, das den Verteidigungswillen der Schweden stärken soll. Gunnar bekleidet wieder seine Professur, seine Frau nimmt erneut die Arbeit am Sozialpädagogischen Seminar und für den YK auf, »and is member of all sorts of funny and semiimportant councils and boards.«123 Alva »has taken on the burden of representing the family firm alone in public life.« 124 Aufs Neue halten beide zahlreiche Vorträge, die die Zeitungen referieren. Sie erklären den Schweden Politik und Mentalität in den USA, wie beliebt Schweden in den USA ist; Alva spricht außerdem zu Erziehungs- und Frauenfragen und Gunnar spitzt in einem Vortrag seine These des Creed noch einmal grotesk zu: Ein aus Italien eingewanderter Gangster habe ihm die amerikanischen Freiheitswerte erklärt, ein Ku Klux Klan-Mitglied erwies sich als Antifaschist, und eine kreolische Prostituierte aus einem New Yorker Slum kenne sich vermutlich besser mit der amerikanische Gesellschaft aus als ein respektabler Schwede mit den Hauptprinzipien der schwedischen Demokratie.125 Beide hatten schon bei der kühlen Aufnahme durch ihre Regierung an die Rückreise gedacht,126 und als aus den USA bald die immer dringlichere Bitte um Rückkehr Gunnars kommt,127 reist er im Januar 1941 ab. Alva folgt im November, im Herbst 1942 kehren sie zurück; dazwischen liegt die Julikrise.128 Wieder fällt die Anpassung schwer, die Distanz zur Heimat ist noch weiter gewachsen. »[T]heir minds [die der Schweden] are fi xed on local matters while we are thinking of America and the big world.«129 Trotzdem sieht es zunächst so aus, als würden sie nicht nur an Einfluß, sondern sogar an Gestaltungsmacht gewinnen. Gunnar wird 1944 ein weiteres Mal in die Erste Kammer des Parlaments gewählt, im selben Jahr zum Leiter der »Kommissionen för ekononomisk efterkrigsplanering« (»Kommission für die Planung der Nachkriegswirtschaft«, bald »Myrdalkommission« ge122. Alva an Eve und Arthur Burns, 21.7.1940 (ARAB 405/3.1.2:4). 123. Gunnar an Richard Sterner u.a., 26.8.1940 (ARAB 405/4.2.5:3). 124. Gunnar an Guy Johnson, 27.8.1940 (ARAB 405/3.2.1:14). 125. Dagens Nyheter, 6.8.1940; Göteborgs Morgonpost, 8.8.1940. 126. Gunnar an Richard Sterner, 25.6.1940 (ARAB 4.2.5:3); Alva an Lena Madesin Philipps, 8.7.1940 (ARAB 405/3.1.2:4). 127. Richard Sterner an Gunnar, 15.7.1940, 6.10.1940 (ARAB 405/4.2.5:3). 128. Vgl. auch S. Bok, Alva Myrdal, S. 145-153; H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 108-111. 129. Gunnar an Ruth Moulik, 14.10.1942 (ARAB 405/3.2.1:15).

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nannt) und 1945 zum Handelsminister ernannt. Es ist das erste Mal, daß er aus der Position des Experten an die Hebel der Macht gelangt. 1932, im selben Jahr, als er mit Alva in die SAP eintrat (noch bevor die andauernde sozialdemokratische Herrschaft begann), war er der dezidierten Meinung gewesen, daß Experten die anstehenden Probleme besser lösen würden als das politische System.130 Allerdings hatte er schon damals für die USA einen evolutionären Weg in Richtung Sozialstaat behauptet; die Verwerfungen des Kapitalismus würden aus sich heraus »das Streben hin zu planmäßiger ›social control‹« generieren.131 Als Aufgabe des Sozialingenieurs hatte er bestimmt, diesen Prozeß zu steuern, und als Mittel favorisierte er seitdem planwirtschaftliche Methoden.132 Dazu ist in Schweden der Begriff des planhushållning (wörtlich: »Planhaushalt«, d.i. »Planwirtschaft«) üblich. Gunnar hatte ihn vom Nationalökonomen Emil Sommarin übernommen und (in der Agrarfrage) definiert als »eine einheitliche und zukunftsorientierte Agrarpolitik, gestützt auf die Ressourcen der modernen Forschung, und bereit, sehr viel dezidierter [als die herkömmliche Politik] die zersplitterten und unterschiedlichen Kräfte zu einem organisierten Zusammenspiel zu führen.«133 Die Kriegswirtschaft des Ersten und Zweiten Weltkrieges, die den Anspruch gehabt hatte, alle Ressourcen rational und optimal zu verwalten und gerecht zu verteilen, sowie die Allparteienregierung Per Albin Hanssons bildeten dann die Blaupausen für dieses Planungsverständnis: Kooperation über Partikularinteressen hinweg und eine zentrale Verwaltung, die moralischen (und patriotischen) Kriterien gehorcht. Deshalb betont Gunnar, selbst wenn er (im Krieg) die Sozialisierung von Unternehmergewinnen, die Abschöpfung von Mieteinnahmen und die Reduzierung der Einkommen auf das Existenzminimum androht, das Prinzip der Freiwilligkeit, des gemeinsamen Opfers für die Sache.134 »Wir müssen das gesamte ökonomische System freier und geschmeidiger gestalten, die inneren Kontrollen zugleich demokratischer und konkurrenzbetonter, die einzelnen Einheiten selbständiger und von formellen Regeln entbundener, aber doch zugänglicher für den Einfluß der zentralen Staatsführung auf die Richtung insgesamt. Vor allem sollten wir nicht unnötig regulieren.«135 130. G. Myrdal, Socialpolitikens dilemma I; Ders., Socialpolitikens dilemma

II. 131. G. Myrdal, Socialism eller kapitalism i framtidens Amerika?, S. 205. 132. Vgl. G. Myrdal, Det svenska jordbrukets läge i världskrisen; Ders., Socialpolitikens dilemma II; Ders., Kontant eller natura i socialpolitiken. 133. G. Myrdal, Det svenska jordbrukets läge i världskrisen, S. 40. 134. Gevle Dagblad, 17.6.1940. 135. G. Myrdal, Socialiseringsdebatten i Borgarskolan, S. 5.

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Argumente pro oder contra Planwirtschaft müsse man allerdings nicht austauschen. »In reality, it was never, and is certainly not now [März 1950], a choice. It is a destiny.«136 Die Streitlinie verläuft nicht zwischen freier und gelenkter Wirtschaft. Die Wirtschaft wird längst reguliert. Die Frage ist, ob diese Regulierung »unter demokratischer Mitbürgerkontrolle oder unter dem Einfluß anonymer, kapitalistischer Kräfte stehen soll«.137 Gunnar traut weder der Evolution allein noch dem Heilsversprechen einer totalen Regulierung. Er hält dezidiert am legalistischen Rechtsstaat fest,138 mit dessen Hilfe die Freiheit garantiert und kontrolliert werden soll. Und Planung ist das Instrument, staatliche Eingriffe zu reduzieren, denn sie bezieht die gesellschaftspolitischen Organisationen, in denen wiederum alle Bürger Einfluß ausüben können, ein.139 1944 legt Gunnar die Krisenprognose »Varning för fredsoptimism« (»Warnung vor dem Friedensoptimismus«) vor.140 Über weite Strecken des Buches nimmt er die Rolle Gustav Cassels an, ohne es wohl zu merken. Wie sein Lehrer entnationalisiert er sich und läßt seine Person in der Welt aufgehen, die für ihn nur noch drei Zonen umfaßt, nämlich Länder die er kennt (USA, Großbritannien und Schweden), die Sowjetunion, mit der er sympathisiert, und die faschistischen Herrschaften, die er schon vor Churchill und anderen Politikern abgelehnt haben will. Er selbst sieht sich als so amerikanisch wie einen Amerikaner, bleibt aber über den nationalistischen Parteien stehender Schwede und kann die Briten objektiver beurteilen als die Amerikaner es können. Die gäben sich noch der Illusion hin, Großbritannien könne einer eigenständigen politischen Linie folgen. Gunnar dagegen stilisiert sich als knallharter (hårdkokt) Empiriker, der das Messer wie ein Chirurg mit sicherer Hand führt und tief verborgene Schäden aufspürt, der kontrolliert durch Wertprämissen, ohne seine Ideale verloren zu haben, die Wahrheit hinter der Propaganda aufdeckt. Die Informationen, die er von seinen zahlreichen Gesprächspartnern erhalten hat, sollen derart geheim sein, daß ihre Erwähnung die Kriegsführung der Alliierten beeinflussen könnte. Wohl auch deshalb setzt er auf 355 Seiten nur 16 Fußnoten, von denen zwölf auf Texte von ihm und Alva verweisen, vier 136. G. Myrdal, The Trend Towards Economic Planning, S. 40. Vgl. auch Ders., The Theoretical Assumptions of Social Planning; Ders., National Planning for Healthy Cities; Ders., Opening Adress; Ders., The Need for More Intensive Planning. 137. Gunnar Myrdal, Socialdemokratiska framtidslinjer, o.D. [1945?], Ms., Bl. 7 (ARAB 405/6.1:20) 138. Ebd., Bl. 5. 139. G. Myrdal, Amerikas väg, S. 118. 140. Zum Folgenden: G. Myrdal, Varning för fredsoptimism.

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enthalten Informationen ohne Nachweis. Gegen seinen Willen, so redlich gibt er sich, hat ihn seine Methode zu pessimistischen Schlußfolgerungen geführt. Die Botschaft lautet: Amerikaner und Briten werden nach dem Krieg keine stabile internationale Wirtschaftsordnung auf bauen können. Statt dessen werden Depression und Massenarbeitslosigkeit herrschen, Weltchaos droht. Ein internationale Kontrolle der Wirtschaft müsse aufgebaut werden – schon 1943 hatte Gunnar von einer europäischen Konkursverwaltung gesprochen, um wirtschaftlichen Zusammenbruch, Not und soziale Revolution zu verhindern; für die Diskussion von Verfassungen und Staatsgrenzen sei bei Kriegsende gar keine Zeit 141 –, die Logik der Entwicklung (hin zur Abschottung der Märkte) lasse aber den katastrophalsten Fehlschlag der Geschichte befürchten, das Scheitern des Friedens nach dem Krieg. Die Schweden aber glaubten der amerikanischen Propaganda auf derart einfältige Weise, daß die Amerikaner sicherheitshalber nur noch das »Time Magazine« über den Ozean sendeten. Gunnar übernimmt die Aufgabe, die Illusionen und den höchst leichtfertigen Friedensoptimismus der Schweden zu zerstören. Das amerikanische Volk sei unsicher, Isolationismus drohe, reaktionäre Veteranen und deren Anhänger würden die Politik dominieren, eine Epidemie schwerer Arbeitskämpfe werde die Wirtschaft erschüttern, die ohnehin unter der Umstellung auf die Friedensproduktion ächzen werde. Lasse dann der Konsum nach, drehe sich die Depressionsspirale rasant abwärts. Die Konsequenzen dürften weniger ernst für die USA ausfallen, denn die würden einen neuen, radikaleren, rein nationalistischen New Deal auflegen. Die restliche Welt aber sei auf eine »ökonomische Magna Charta« angewiesen, um zum alten Freihandelssystem zurückkehren zu können. Die Hoff nungen auf ein Gelingen schätzt Gunnar jedoch als minimal ein. Daß alle Prognosen unsicher sind und alles passieren kann, wie er mehrfach einräumt, bremst nicht seine missionarische Gewißheit. Bereits 1945 bezeichnet er das Buch als überholt.142 Alva fühlt sich zur selben Zeit weiterhin an den Rand gedrängt. Karin Kock gegenüber klagt sie, daß sie in den Medien auf Frauenfragen reduziert werde. Für »einige in Frauenkreisen fallengelassene Worte scheinen regelmäßig einige Spalten zur Verfügung zu stehen, wenn man dagegen eine ernsthafte Sache außerhalb [der Frauenkreise] leistet, z.B. ein dickes Buch, so wird das gar nicht auf dieselbe Weise gewertet. Es muß etwas 141. G. Myrdal, Amerika mitt i världen, S. 114. 142. Gunnar an Ignazio Silone, 22.11.1945 (ARAB 405/3.2.1:16); Gunnar an Ruth Moulik, 18.3.1946 (ARAB 405/3.2.1:15). Er wehrt sich gegen eine italienische Übersetzung.

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für ein denkendes Frauenzimmer Verletzendes darin liegen – Du bist dem nicht ganz so ausgesetzt wie ich, weil Du nicht so viele dieser Randbemerkungen fallen läßt, die in Frauenkreisen auf eine überproportionierte Weise aufgegriffen werden. Ich käme ganz gerne ohne diese auf gewisse Weise billige Popularität aus, die man gewinnen kann, weil man nur auf der Frauenskala eingeordnet wird. Das klingt sicherlich sentimental, aber das ist wirklich eine Sache, die mein besseres Ich peinigt.« Je wichtiger Gunnar in der Politik werde, desto weniger sei ihre Meinung in diesen Zusammenhängen gefragt. Vielmehr werde ihr Leben und was sie tue bloß als »Frauenvereinsvariante« der Firma Myrdal interpretiert.143 Sie hat zwar zahlreiche offizielle Aufträge – u.a. Mitarbeit in den Nachkriegs- bzw. Programmkommissionen der SAP, in der Schulkommission, als Leiterin der Kommission für Sozialaufklärung bzw. der internationalen Kommission für Volksschulbildung oder als Delegierte auf der ILO-Konferenz in Paris –, doch reiche, wie sie mißmutig feststellt, die finanzielle Entschädigung für diese Arbeit nicht einmal an den Lohn einer Kleinschullehrerin heran.144 Trotzdem stürzt auch sie sich in die Nachkriegsplanung. Das beginnt 1941, als sie auf der langwierigen Reise in die USA Großbritannien beobachten kann. Sie schreibt Artikel für schwedische Tageszeitungen und kompiliert daraus dann das Buch »Stickprov på Storbritannien« (»Eindrükke aus Großbritannien«). Dort schildert sie den Schweden ein Land, das sich zu einer einzigartigen Solidargemeinschaft verwandelt. Die Menschen engagieren sich freiwillig in der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft und verschmelzen zu einem Kollektiv; durch ihre Leistungen werden nun auch die Arbeiter in die Gesellschaft integriert. Die staatliche Planwirtschaft ist zwar stramm zentralisiert, aber eher Rahmen als Diktat und unter der Kontrolle der Gesellschaft stehend. Sie wird mit Kriegsende auslaufen, bis dahin aber grundlegend die Gesellschaft verändern. Sie wird die Menschen daran gewöhnen, daß sich die Verhältnisse umgestalten lassen. Die große Krise des Krieges bietet die Möglichkeit, die Demokratie zu demokratisieren, also der politischen die soziale und wirtschaftliche Demokratie folgen zu lassen, indem eine kluge Wirtschaftspolitik im Namen einer höheren Moral das gemeinsame Wohl der Vielen befördert und den individuellen Profit der wenigen reduziert. Trotzdem wird dieses Land Freiheit gewähren. Schon jetzt empfinden sich die Briten durch die harte Planwirtschaft nicht gegängelt. Die Menschen bleiben Individuen (das beobachtet Alva gerade an den Soldaten), der Rahmen bietet ihnen Freiräume, trotz Plan 143. Alva an Karin Kock, 20.4.1945 (KB L 244/3). 144. Alva an Per Nyström, 25.9.1946 (ARAB 405/3.1.2:4). Der Brief trägt den Vermerk: »Nicht gesendet – aber wahr!«

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werden die Details nicht vorgeschrieben, und durch Meinungsumfragen, Vertrauensaufträge und das Engagement in sozialen Organisationen fließt der Wille der Menschen zurück in die planende Politik. Auch ihr Alltag gewinnt durch Planung. Die zerstörten Städte werden um »Community centers« [sic] herum wieder aufgebaut, in denen die Menschen sich wohlfühlen.145 Verkehrswege werden reduziert und damit Schulkinder wie Erwachsene von der nervösen Hetze der Mittagspause befreit. Freizeit soll nicht mehr der passiven, individualistischen und launenhaft gewählten Erholung dienen, sondern Raum für gesellschaftliches Engagement bieten. So beschreibt Alva den Krieg als eine gewaltige Staatsbürgerschule, und sie kann beobachten, daß die Betroffenen all diese Veränderungen begrüßen.146 Später wird ihr vorgeworfen, das Bild maßlos idealisiert zu haben.147 Es bildet aber das typische Gesellschaftsideal radikaler schwedischer Sozialingenieure aus den 30er Jahren ab, das die Briten nun endlich zu verwirklichen scheinen, und das auch in Schweden realisiert werden soll: ein Rahmen für das Ganze, die freiwillige Einordnung der Menschen, Entstehung einer Gemeinschaft und Freiräume in den Details. Oder anders: »[I]mmer weniger Privilegien für die Wenigen und immer zuverlässigere, selbstverwaltete Sicherheit für die Vielen.«148 Dabei sind hier wie in späteren Texten drei Dinge auff ällig: Erstens die stete Betonung von Freiräumen für die Individuen – die aber durch die Gemeinschaft gezielt geschaffen werden. Freiheit außerhalb eines Rahmens ist für Alva nicht denkbar. Zweitens die Integration von Menschen in die Gemeinschaft. Sie erwerben sich das Recht dazu durch Leistung. Sie können es sich durch irrationale Zugehörigkeiten verbauen, etwa durch ihre Religion. Am Beispiel der Juden (aber auch von orthodoxen Protestanten und Katholiken) könne man, 145. A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien, S. 147. 146. Ebd. – Etwas später entwirft sie das Exposé zu einem Kurzfilm über den Beveridge-Plan. Sie selbst will mit einem kleinen Kommentar beginnen, der die Kriegsanstrengungen aller Briten schildert, aber auch die verwegene, siegesgewisse Stimmung, in der man bereits detailliert die Zukunft plant. Dann sollen William Beveridge und sein radikales Reformprogramm als Vorbild präsentiert werden. Auch über die Bilder macht sie sich Gedanken, damit der Film in Schweden rezipiert werde: »All these film sections must be light coloured, modernistic, made to compete with best Swedish things, selected for their value of suggesting [a] bright, encouraging future« (Alva an Knut Martin/ Svensk Filmindustri, 2.2.1943 [ARAB 405/3.1.2:3]). 147. Brinley Thomas an Alva, 3.7.1943 (ARAB 405/3.1.2:5). 148. A. Myrdal, Stickprov på Storbritannien, S. 98. vgl. auch Dies., Efterkrigsplanering.

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so Alva, beobachten, daß sich die soziale Isolierung einer Gruppe direkt proportional zu den Eigenheiten ihrer Religion verhalte, und sie schlägt eine radikale Beseitigung aller religiösen Dogmen vor – der Glaube darf Privatsache sein, nicht aber die soziale Integration hemmen.149 Und drittens sind alle Dinge im Fluß. Beständig müssen beispielsweise die Inhalte der Schulausbildung geprüft und von überflüssigem Wissen bereinigt werden. Lehrbuch nach Lehrbuch, Kursplan nach Kursplan muß durchforstet, gesäubert und erneuert werden, damit »wir, gerade durch unsere Auswahl dessen, was wir die Jungen lernen und was wir sie vernachlässigen lassen, bewußt den Kulturboden, auf dem wir stehen, formen.« 150 Selbst das kulturelle Gedächtnis wird also geplant und permanent revidiert. Andere Felder nutzt sie ebenfalls, um ihre Reformanliegen zu propagieren. Sie setzt sich für die Produktion qualitätsvoller »Volkswaren«, für die Kontrolle der Verkaufspreise und für die Ausbildung der Konsumenten in Geschmacksfragen und Warenkunde ein, um die Sozialisierung der Industrie von der Konsumtionsseite her voranzutreiben.151 Staatliche Institutionen sollen den Bedarf der Konsumenten ermitteln, Warenlisten anfertigen, die Qualität kontrollieren, den Konsum von Kindern subventionieren (als Investition in deren künftige Produktivität); sie sollen, kurz gesagt, den Konsum stimulieren, um die Produktion zu steigern, zugleich aber die Konsumenten vor der Produzentenseite schützen.152 Standardisierung, so erneut das Credo, führe nicht zu Uniformität; einmal spielt sie sogar mit dem Gedanken, einige »Volkswaren« mit einer Luxusoberfläche zu verse149. Alva verwirft in zwei Artikeln kompromißlos jede Form von Antisemi-

tismus als »ansteckende Massenverrücktheit« und »Symptom für Geistesschwäche und Charakterdefekte«; außerdem benennt sie deutlich die Mitverantwortung der Schweden an der Judenvernichtung (A. Myrdal, Kommentarer, S. 75-79 [urspr. Aftontidningen, 14.4.1943]). Ihre Abneigung gegen kulturell sich absondernde gesellschaftliche Gruppen legt sie aber auch bei Juden nicht ab: »Die ›radikale‹ Lösung einer Assimilation zwischen den Juden und ihrem Wirtsvolk [värdsfolk] wäre natürlich auf lange Sicht die glücklichste, weil das ganze Problem verschwände, wenn die Einzelgruppe [särgrupperandet] verschwände.« Um sich in die nationale Einheit zu integrieren, ist die kulturelle Assimilation für sie immer Voraussetzung (ebd., S. 95-101, Zitat S. 99 [urspr. Aftontidningen, 10.6.1943]). 150. Ebd., S. 180-183, Zitat S. 183 (urspr. Aftontidningen, 10.6.1943). 151. A. Myrdal, Folkvaror – kvalitetsvaror; Dies., Orienterande inledning om tendenser och problem; sowie SOU 1949:18. Später mit ähnlicher Tendenz: SOU 1964:4; SOU 1968:58; SOU 1971:37; SOU 1985:32. 152. Alva Myrdal, P.M. om socialisering från konsumtionssidan, Sommer 1943, Ms. (ARAB 405/4.1.4:1).

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hen, so »daß der Einzelne für nur ein paar Kronen Aufschlag die Illusion einer vollkommen freien Konsumtionswahl erhielte.«153 Sie beteiligt sich am Plan, ein »Sozialmuseum« zu gründen, das Kenntnisse über die sozialen Verhältnisse und sozialpolitischen Maßnahmen in Schweden verbreiten soll. Touristen, besonders amerikanische Touristen, könnten bislang nicht hinreichend mit Informationen versehen werden, wie die schwedische Staatsmaschinerie arbeite; den einheimischen Staatsbürgern würden auf anschauliche Weise ihre gesellschaftlichen Rechte und Pflichten vermittelt.154 Und die Schulfrage nutzt sie, um ihre Credo zu verkünden, daß nämlich Freiheit, Flexibilität und Anregung nötig sind statt des starr schematisierten, mechanisch kollektivierten Paukunterrichts, der passive Massenmenschen erzieht. Die Schulmahlzeiten sollten genutzt werden, den Schülern gesunde Ernährung, Selbstbedienung und soziales Verhalten bei Tisch zu lehren – als Gegengewicht zur Ernährung daheim.155 Gunnar ist nach wie vor der Star in der Öffentlichkeit. Seine Myrdalkommission organisiert er, so wird es wahrgenommen, mit »amerikanischer« Effizienz, indem er sie in zehn relativ selbständige Delegationen teilt, die größere Sachfragen behandeln und ihrerseits Experten hinzuziehen. Eine Kanzlei koordiniert die Arbeit, in einer Plenarkommission werden die Ergebnisse diskutiert. Die Kommission zeichnet sich durch hohes Tempo, hohe Produktivität und thematische Breite aus. In einem knappen Jahr legt sie zehn Berichte und 26 Gutachten vor. Bald jedoch verliert sie an Einfluß, weil sich die Bedenken gegen Gunnars planwirtschaftliches Modell mehren.156 Auch als Handelsminister kann er sich nicht durchsetzen. Mehrere politische Fehler und höchst umstrittene Entscheidungen schwächen seine Position.157 Zunächst steht er in den Medien allerdings gut da. Seine wirtschaftspolitischen Nachkriegsprognosen werden ausführlich referiert (ebenso Alvas Vorträge zur Wohnungsfrage und ihre Pläne einer demokratischen

153. Ebd., Bl. 16 (Hervorh. im Orig.). 154. Gösta Berg u.a. an das Sozialministerium, 9.1.1945 (AM 1981-14/1). Vgl. außerdem die Unterlagen des »Kommittén för social upplysning« (RA YK 1067); sowie SOU 1949:31. 155. A. Myrdal, Visa mig din skolsal...; Dies., Pedagogiska synpunkter på skolmåltiden. Vgl. auch SOU 1938:6, S. 3-73; SOU 1945:47; sowie E. Gullberg, Det välnärda barnet; E. Virgin, Skolmåltider; K. Waltersson, Från mammas husmanskost till social ingenjörskonst. 156. K. Vinterhed, Kärlek i tjugonde seklet, S. 142-144. 157. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 166-179; ausführlich: Ö. Appelqvist, Bruten brygga.

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Einheitsschule),158 und ihm werden erneut, zusammen mit Alva, mehrere Portraits gewidmet, in denen beide ihr ideales Bild von sich vermitteln. In der Serie »Schweden an der Spitze« der »Aftontidningen« wird Alva das 45. Portrait, Gunnar das 50. gewidmet. Alva schildert sich als »romantische Rationalistin«, die mit Leidenschaft und kühler Ehrlichkeit für Gerechtigkeit auf der Welt kämpft. »Gattin und Mutter. Gegenwartsmensch und Wegbereiter. Mutige Frau«, umreißt die Zeitung ihre Persönlichkeit im Vorspann, Gunnars hingegen so: »Schwedischer Patriot und Internationalist. Mann des Volkes. Intelligenzaristokrat. Frei von Allüren und falscher Würde.« Er selbst verwurzelt sich in der dörflichen Kultur des tiefsten Dalarna und einem Stammbaum, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Auf dieser Grundlage sei er zum weltgewandten Internationalisten geworden. Er kokettiert mit einem nietzscheanischen Übermenschentum und spricht Alva das Verdienst zu, ihn für die sozialen Probleme der Menschen empfänglich gemacht zu haben. Was sie allerdings nie formulieren würde, ist für Gunnar selbstverständlich: »Die Wissenschaft wie das ganze Leben sind für mich von Anfang bis Ende ein strahlendes Abenteuer gewesen.« Alva wird viel unromantischer zitiert: »Wovon pflegt Rektor Myrdal nachts zu träumen? Nichts, das tagsüber eine Rolle spielt. Haben Sie Tagträume? Gewiß, Tagträume sind ja der eigentliche Produktionsprozeß, aus dem hervorgeht, was dann geschrieben oder gesprochen werden soll.«159 Mit Gunnars Ernennung zum Handelsminister schießen sich die Zeitungen seit 1945 auf ihn und Alva ein. Schon seit ihrer endgültigen Rückkehr aus den USA, seit sie sich erneut in der schwedischen Politik etabliert haben, wird jedes ihrer Worte auf die Goldwaage gelegt. Ein mißverständlicher Satz zur finnischen Stadt Hangö wird Alva ausgelegt, als wolle sie selbstherrlich die territorialen Verhältnisse Finnlands zugunsten der Sowjetunion ändern.160 Ihre Kritik der polnischen Exilregierung, die nur negativ auf sich aufmerksam gemacht habe – etwa durch die Anprangerung der Verbrechen von Katyn –, gilt als nonchalant.161 Als sie die »Herrenmentalität« schwedischer Studenten unsympathisch fi ndet und fordert, sie sollten selbst putzen und Kleider waschen, wird das nun nicht mehr freundlich hingenommen. Ihr wird Schwatzsucht attestiert.162 Gunnar dagegen werden Sympathien mit Stalin oder die Neigung, ein neuer Führer 158. Vgl. div. Zeitungsartikel, 1943, 1944 (ARAB 405/5.1.1:53-5.1.1:61). 159. Aftonbladet, 17.7., 16.8.1943. Enthusiastische Portraits der beiden auch in Frihet, 20.8.1943; Allt 3, 1943, S. 4-8. 160. Aftonbladet, 11.2.1943; Svenska Dagbladet, 21.2., 24.2.1943; Södermanlands Läns Tidning, 1.3.1943. 161. Göteborgs Morgonpost, 21.1.1944. 162. Skånska Dagbladet, 27.4.1946.

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werden zu wollen, unterstellt (Abb. 16). Der Planhaushalt (planhushållning) wird in Zwangshaushalt (tvångshushållning) umbenannt; Gunnar gilt als machtversessen, opportunistisch, mit einem ehrgeizigen Weib an seiner Seite, das viele seiner Schwächen teile, einige eigene habe, aber nichts von seiner Genialität: »Er ist sich sicherlich vollkommen bewußt darüber, daß die Gesellschaftsform, für die er plädiert, eine Diktatur des geistigen wie des wirtschaftlichen Lebens bedeutet, ausgeübt von einer machtvollkommenen Bürokratie, in der Staat und Partei eine unlösbare Verbindung eingegangen sind, wie in Rußland – oder, bis ganz vor kurzem, in Deutschland. […] Sein Programm ist in Wahrheit immer das denkbar einfachste gewesen, es lautet: Gunnar Myrdal, und er hat vor allem ein Ziel: sich selbst, seinen Erfolg, seine Größe, seine Macht.«163 Mit einem begabten Kind wird er verglichen, das mit seinem Metallbaukasten (meccanolåda) spiele. »Der Vergleich ist sehr spaßig. Es ist nur so, daß es ihm in den Sinn kam, daß die schwedische Wirtschaft, dieser empfi ndliche Organismus, von dem der Wohlstand unseres Landes abhängt, sein Meccano sein soll.«164 Mit Polen hat er ein Abkommen auf Kohlelieferungen geschlossen. Die Kohlen kommen nicht, dafür fehlen nun angeblich die für den Transport abgezogenen Güterwagen in Schweden. In einem weiteren Handelsabkommen werden Rußland schwedische Waren auf Kredit geliefert, angeblich verursacht das Mangel in Schweden. Eine Politik, die sich um alles kümmere, aber völlig ziellos sei, fortdauernde Rationierungen, und natürlich seine Sozialisierungspläne – das sind schwere politische Fehler, die Gunnar vorgehalten werden. Dazu kommen Petitessen, etwa daß er Dänemark als einzig zivilisiertes Land Skandinaviens bezeichnet, die Standardisierung von Möbeln angeordnet oder per Telegramm ein ganzes Abteil Erster Klasse im Zug für sich geordert haben soll. Ob denn die normalen Reisenden dieser Klasse nicht fein genug für den prätentiösen Minister seien? 165 Mittlerweile beginnen sich die Zeitungen gegenseitig zu zitieren, zu kritisieren und zu verhöhnen, je nach politischer Façon, ein streitender Dialog, der durch die Gazetten wabert, mal für, mal gegen Gunnar.166 Alva durchzieht die Zeitungswelt erneut primär als Frau. Wieder ist sie – wenn sie gelobt wird – süß, elegant und klug, eine ausgezeichnete Wirtin mit hübscher Jungmädchenfigur und 1000 Eisen im Feuer, oder aber – kritisch betrachtet – eine schwatzsüchtige Ministergattin, die sich 163. Gotlands Allehanda, 4.7.1945. 164. Gotlands Allehanda, 13.7.1945 (Hervorh. im Orig.). 165. Stockholms-Tidningen, 9.4.1946. Am Tag darauf die Korrektur: Ein Unternehmer habe das Abteil reservieren lassen, um Zeit zu bekommen, mit Gunnar zu konferieren. 166. Vgl. div. Zeitungsartikel, 1945-1947 (ARAB 405/5.1.1:62-5.1.1:84).

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in alles einmischt,167 jeden Fachmann auf seinem Gebiet zu belehren weiß und als »erste Repräsentantin der höheren Demagogie« auf Vortragstournee geht.168 Tiefpunkt ist der Vorwurf der Hamsterei. Noch stärker wogt der Blätterwald pro und contra Myrdal. Ihr Mann soll ihr gesteckt haben, daß erneute Rationierungen anstehen, woraufhin sie angeblich Kaffee, Konserven und Schokolade für mehrere Hundert Kronen gekauft hat; zusätzlich soll sie eine halbe Million Kronen nach Frankreich verschoben haben. Verkäufer und anonyme Zeugen melden sich zu Wort und bezeugen eine exorbitante Hamsterei, »Expressen« wirft sich mit voller Wucht für sie in die Bresche, widerlegt die Anschuldigungen und analysiert in einem Artikel sogar, wie Gerüchte gezielt konstruiert werden.169 Alva selbst ist gezwungen, ihre Einkäufe öffentlich vorzurechnen. Die angebliche Kapitalflucht entpuppt sich als Reisekasse. Dann sind die Anschuldigungen nicht länger haltbar, und die Zeitungen diskutieren mit Inbrunst mediale Niedertracht und aufkommendes Denunziantentum. Ob die Angriffe Gunnar treffen sollten (wie einige Zeitungen vermuten), oder ob die erneuten Rationierungen die Bevölkerung endgültig aufgebracht haben, ist unklar. Gunnar jedenfalls zermürben die Kampagnen. Im Frühjahr kommen erste Rücktrittsforderungen auf und das Gerücht, daß er einen hohen Posten bei der UN bekommen solle. Einige Blätter nennen diese Ernennung eine Ehre, andere sind froh, daß er gehen werde. Jetzt zeigen ihn die Zeitungen öfters wieder im familiären Umkreis, vor allem Sissela muß mit ihm für Photos posieren. Im April tritt er als Handelsminister zurück und wechselt auf einen Führungsposten bei der »Economic Commission for Europe« (ECE) der UN. Sein neuer Dienstsitz ist Genf, die Familie zieht mit ihm. Sie verkaufen die Villa Myrdal, und wie 1938 reisen sie unter den Augen der Presse ab – begleitet sowohl von Elogen170 wie der Unterstellung, finanziell einen guten Schnitt machen zu wollen.171

167. Und in dem Punkt wird sie zu alledem mit der kompromißlosen und von vielen angefeindeten Else Kleen verglichen: Kalmar Läns Tidning, 26.4.1946. 168. Halland, 30.4.1946. 169. Expressen, 23.3.1947. 170. Z.B. Morgontidningen, 28.4.1947. 171. Helsingborgs-Posten, 8.4.1947.

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1. Ehe/Karr ieren Noch einmal folgt ihre Ehe dem alten Muster, dann ändern sich die Verhältnisse. Im Herbst 1946 reist Alva als schwedische Delegierte zu Sitzungen der ILO und der UNESCO nach Genf und Paris. Julian Huxley, Generaldirektor der UNESCO, bietet ihr einen hohen Posten an, und sie ist von der Aufgabe (internationalen Erziehungsfragen) sowie dem intellektuellen Klima, das sie erwartet, überwältigt. Ihr Freund Sven Stolpe ist bereits nach Genf gezogen. Sie versucht Uno Åhrén zu einem Posten bei der UNESCO zu verhelfen. Sie selbst aber? Kann ohne Gunnar nicht wählen. Also versucht sie ihn zu überreden, ihr zu folgen. Er hatte seinerzeit gedrängt, ihm in den USA zur Seite zu stehen, damit er nicht zusammenbreche. Nun will sie ihn zu einem Urlaub in die Schweiz locken, damit er sich aus dem Klammergriff der Arbeit befreie – und sie das faszinierende Projekt vielleicht doch in Angriff nehmen kann. Gunnar sperrt sich und sie gibt auf.1 Kurz darauf sucht Trygve Lie, erster Generalsekretär der UN, einen Direktor für soziale Fragen in seinem Sekretariat. Gunnar wird um Rat gefragt, bringt sich selbst ins Spiel, um dann sogleich einen Rückzieher zu machen. Er könne der schwedischen Regierung schwerlich erklären, warum er sie für einen Posten verlasse, der nicht zu seinen fachlichen Schwerpunkten gehöre. Lie hat auch an Alva gedacht, die Stelle würde kongenial zu ihren Interessen passen. Gunnar schreibt: »But the difficulty is a very personal one: we do not want to have the ocean between us. And I could hardly explain to my people that I followed her even if, perhaps, I could find something suitable in my field over there. For these reasons she cabled yesterday to Trygve Lie, explaining her position and declining, with 1. Alva an Gunnar, 10.11., 13.11., 20.11., 23., 24.11.1946 (ARAB 405/ 3.3:27).

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great reluctance, the proposal.«2 Wenige Monate später dann wohnt sie mit ihrem Ehemann, dem neuen Exekutivsekretär der ECE, doch in Genf, in einer großen Villa gegenüber der UN, mit Blick auf den Genfer See und, an schönen Tagen, auf den Mont Blanc. Hier geben sie nun noch größere Empfänge als in Stockholm, hohe Diplomaten und die Spitzenkräfte der UN gehen ein und aus. Aber Alva bestreitet diese Empfänge nicht als Spitzenbeamtin der UN, sondern als Ehefrau. Sie hat, wie zuvor, den Umzug organisiert, französisch mit den Kindern gelernt und in Schweden alles aufgegeben, was sie sich aufgebaut hat. Als Ausländerin stehen ihr in der Schweiz keine beruflichen Möglichkeiten offen, außer bei der UN. Deren Regelwerk aber schließt Ehepartner aus. Sie könnte ein weiteres Buch schreiben, und sie publiziert in der Tat, arbeitet in Kommissionen und für Konferenzen, knüpft Kontakte, doch sie sieht keine Möglichkeit, etwas zu bewegen – anders als Gunnar, der einen großen Stab von Mitarbeitern dirigiert und dessen Auftrag es ist, Europa wirtschaftlich zusammenzuhalten. Das wird sich wegen des Kalten Krieges und weil der Marshallplan ohne Hilfe der UN implementiert wird, als Illusion erweisen, doch vorerst stürzt er sich in die Arbeit, um seine Krisendiagnosen der Jahre zuvor in produktive Politik zu verwandeln. Sissela Bok hat beschrieben, was das für die Familie bedeutete.3 Von seinen Mitarbeitern wird er als brillanter Analytiker und passionierter, fürsorglicher Chef verehrt, 4 für seine unkonventionellen und mutigen Konzepte wird die Kommission in der europäischen Politik hoch geschätzt, er selbst »was increasingly treated as a great man – with grandeur in his ideas, forceful, charismatic, and courageous enough to withstand all cold war pressures from both East and West.«5 Aber sein Terminplan schließt alles aus, was nicht mit der Arbeit zu tun hat, die Familie und erstmals auch Alva. »Alva never understood why she had been so abruptly excluded from the partnership with Gunnar that they had both taken for granted until then. […] All that she had believed and written about marriage – the full-fledged companionship, both as spouses and as partners in work – had now been abandoned.«6 Sie schweigt und frißt den Kummer in sich hinein. Die Familie beginnt zu zerfallen; die jüngste Tochter Kaj sucht sich sogar eine Ersatzfamilie. Doch trotz ihrer Klagen über mangelnde Chancen und die Zerfase2. Gunnar an Arnold Rose, 28.2.1947 (ARAB 405/3.2.1:16). 3. S. Bok, Alva Myrdal, S. 210-216. 4. Neben anderen bestätigt der Emigrant Fritz Croner, wie sehr Gunnar bereit war, sich um andere Menschen zu kümmern: F. Croner, Ett liv i vår tid, S. 195f., 207-209, 220f., 224. 5. S. Bok, Alva Myrdal, S. 199. 6. Ebd., S. 200.

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rung ihrer Arbeit in zahlreiche kleine Aufträge hat sie sich die letzten Jahre durch Vorträge, Publikationen, Konferenzteilnahmen, Kommissionsarbeit und Untersuchungsberichte erfolgreich einen internationalen Namen als Sozialexpertin gemacht. Sie erhält eine dritte Chance. Im Herbst 1948 bittet Lie sie erneut, die Abteilung für soziale Fragen zu leiten. Gunnar rät ihr zu, falls dieser Posten ihr Vorteile brächte. Ihm sei bewußt, daß sie sich für zehn Jahre binden müsse und sie lange Zeiten getrennt leben müßten. Ob das nötig sei? Kein Mensch binde sich auf diese Weise. Es betreffe ja sie beide, wie sie sich auch entscheide.7 Sie nimmt an. Mit Februarbeginn des Jahres 1949 leitet sie über 200 Mitarbeiter. Sie kann Gelder an bedürftige Länder verteilen und Sozialprogramme umstrukturieren. Sie geht vollkommen in dieser Arbeit auf; Gunnar weigert sich, nach New York zu ziehen. Er drängt sie, den Sommer über nach Genf zu kommen; vier Wochen, die sie ihm anbietet, sind ein Kompromiß, den er ablehnt. Bekäme sie keinen längeren Urlaub, müsse sie erwägen, ihre Stelle aufzugeben.8 Aber Alva bricht die internationale Karriere, die sie begonnen hat, nicht mehr ab. Gunnar dagegen wird amtsmüde. Zum ersten Mal überlegt er sich einen alternativen Weg: »Es ist weiterhin wahr, daß mir Deine Karriere nun wichtiger ist als meine. Ich kann immer mit Papier und Stift ein großes und weltberühmtes Buch schreiben, und ich kann das überall und auf jeden Fall tun. Deshalb soll Deine Karriere den festen Punkt bilden, um den wir uns anordnen sollen. Ich werde versuchen zu Dir zu kommen, und nicht umgekehrt. […] Ich bin so glücklich, daß Du etwas Eigenes erleben darfst und nicht als Anhang lebst.«9 In Brief nach Brief diskutiert er die Möglichkeit, Professor in den USA werden zu können und ist schließlich ungehalten, daß sie philosophiere und moralisiere, nicht aber ernsthaft auf diese Frage eingehe.10 Von den Töchtern berichtet er hin und wieder, aber er scheint nicht mehr wirklich zu wissen, was sie tun. Alva schreibt über ihre Arbeit, sehnt sich, wie er, nach einem ruhigen Leben, doch nach Genf in die untergeordnete Rolle zurückzukehren, sei unmöglich.11 Und trotzdem bleibt sie Frau und Ehefrau. In der UN macht sie die erstaunliche Erfahrung, daß die Männer sich um sie scharen, weil sie intelligent ist. Doch es sei schon verwunderlich, »daß, wo ich endlich Höhen erreicht habe, die professionell so weit über das Gewöhnliche hinausgehen, so leistet mir die ›weibliche‹ Karriere Gesellschaft: Ich könnte 7. Gunnar an Alva, 28.11.[vermutlich 1948] (ARAB 405/3.3:27). 8. Gunnar an Alva, 1.3.1948 (ARAB 405/3.3:27). 9. Gunnar an Alva, undat. Brieffragment, Ende August 1949 (ARAB 405/ 3.3:29 [Hervorh. im Orig.]). 10. Gunnar an Alva, 26.10.1949 (ARAB 405/3.3:29). 11. Vgl. die Briefe Alvas an Gunnar, 1949 (ARAB 405/3.3:28).

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nun leichter frivole Eskapaden haben denn als Luxusfrau.« 12 Zugleich aber plagen sie die alten Zweifel, daß sie nicht hätte gehen dürfen. Sie hätten sich in Genf ansiedeln, er hätte Stadt und Sprache akzeptieren, sie hätte mit Piaget arbeiten müssen, dann hätten sie gemeinsam etwas Großes aus ihrem Aufenthalt machen können.13 Sie sieht sie sich vor eine Wahl gestellt, die sie nicht beherrscht. Einerseits: Sie wollen zusammensein, sie müssen nicht unmittelbar zusammensein, sie will eine erfüllende Arbeit haben, seine Arbeit ist wichtiger als ihre. Die Lösungsmöglichkeiten, die sie durchspielt, laufen darauf hinaus, daß er seinen Posten nicht aufgibt, weil das seine Lebenslinie verderbe. Besser sei es da, sie schriebe in Genf ein Buch. Andererseits: Die UN – das sind ihre Menschen und ihre Probleme, hier leistet sie wirklich etwas. Und dann kommt noch einer ihrer »wenigen Götter in der Gegenwart« auf sie zu, Lewis Mumford, und zeigt sich froh, sie, deren Bücher er so bewundere, endlich treffen zu dürfen. Solche Erlebnisse stimulieren sie und verleihen ihr Sicherheit.14 Als Hausfrau würde sie häßlich und langweilig sein.15 Der Fehler liege darin, daß sie die Gemeinsamkeit mit ihm gewählt, sich dann aber auf das Experiment eingelassen habe, ein eigenes, anregendes Leben zu führen – in der Hoffnung, daß sich etwas zeige, was sie beide vereine. Sie würde alles opfern, kann aber nicht mehr als Anhang zurückkehren nach Genf.16 Sie ist immer noch Frau, aber auf eine neue Weise. Die Menschen vertrauen ihr und schätzen sie, sie wird sogar »geschätzt als sehr eigenes Ich: intelligent und tüchtig, humorvoll und freundlich, warm und weiblich; was man niemals als jemandes Frau wird.« 17 Als Opfer und Kompromiß betreibt sie erfolgreich ihre Versetzung nach Paris – da überlegt ihr Mann, ob er nach Rom gehen soll. Gegen seine Vorwürfe wehrt sie sich. Er ist der Wichtigere von beiden, er ist ein großer Mann, seine Dominanz ist gerechtfertigt, sie muß ihn stützen, aber sie ist glücklich mit ihrer Arbeit. 1950 ist Gunnar wieder versöhnlicher und bereit seine Karriere aufzugeben, dann ist er, mit der zerfallenden Familie im Rücken, niedergeschlagen; seine Frau ist zunehmend zerschlissen vom »Dilemma des Feminismus (der Frau, wenn das nicht so sentimental klänge)«.18 Aber sie setzt ihn auch unter Druck. Franciskus, der Schriftsteller Fritz Thorén, ist gestorben, der sich vor Jahrzehnten daran gestört 12. Alva an Gunnar, 31.3.1949 (ARAB 405/3.3:28). 13. Alva an Gunnar, 9.5.1949 (ARAB 405/3.3:28). 14. Alva an Gunnar, 31.10.1949 (ARAB 405/3.3:28). 15. Alva an Gunnar, Anfang November 1949 (ARAB 405/3.3:28). 16. Alva an Gunnar, 1.12.1949 (ARAB 405/3.3:28). 17. Alva an Gunnar, 6.12.1949 (ARAB 405/3.3:28 [Hervorh. im Orig.]). 18. Alva an Gunnar, 22.4.1949 (ARAB 405/3.3:30 [Hervorh. im Orig.]).

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hatte, daß Alva ihre Studentenmütze trug. Er hatte eine Aff äre, ein außereheliches Kind, und seiner Frau Tote (der Alva sich damals so überlegen gefühlt hatte) war es verboten gewesen, ihn am Ende im Krankenhaus zu besuchen.19 Erneut nimmt Alva diese, offenbar weitgehend mißlungene Ehe, als Gegenbild. Sie weigert sich, ein Leben zu akzeptieren, das aus gegenseitigem Desinteresse bestehe (denn das sei es in Genf, trotz seiner Erinnerungen an schöne Ausflugstage, gewesen), weigert sich zu glauben, daß sie sich nicht mehr nah sein könnten. Wenn sie analysierten und verstünden, könnten sie die Glut wieder schüren. Beide seien sie nun einmal für ein viel intensiveres Leben als die meisten anderen Menschen geschaffen.20 Aber sie finden kaum Ruhe, treffen einander nur, wenn sich ihre Reisen kreuzen oder Alva mit dem Nachtzug nach Genf pendelt. In ihren Briefen beschwören sie ihre Gemeinschaft, jetzt aber als Appell, zusammenzuhalten.21 Gunnar hat mittlerweile mehrere schwere Jahre hinter sich. Seine Nachkriegsprognosen sind nicht eingetroffen, als Handelsminister war er härtester Kritik ausgesetzt gewesen, der Kalte Krieg zerstörte die Hoff nung auf Verwirklichung seiner ordnungspolitischen Ideen auf europäischem Niveau, und 1953 ist auch noch Dag Hammerskjöld zum neuen UN-Generalsekretär gewählt worden. Gunnar hatte sich selbst gewisse Hoffnungen gemacht. Der neue Generalsekretär aber lehnt sein Angebot einer engen Mitarbeit ab, angeblich wollte er sogar die ECE abwickeln. Kurz zuvor hatte Gunnar zudem einen schweren Autounfall erlitten, fortan muß er einen Stock nutzen und fühlt sich, der er immer auf seine jugendliche Attraktivität stolz war, plötzlich gealtert. »This awareness made him newly uncertain vis-à-vis with Alva. He increasingly experienced her absence as a form of personal rejection and urged more and more insistently that they move back together again. He needed her far more than she needed him.«22 Alva dagegen begreift das Ende seiner »Glamour Boy-Zeit« als Chance. Vielleicht schaffe er es jetzt, sich aus seiner Verbissenheit zu lösen und etwas Neues anzugehen.23 Sie wolle nicht länger seine »Klagen« und sein »Gezeter« hinnehmen, weil das ihren Stolz verletze. Selbst sei sie in Paris so glücklich, daß Depressionen keine Chance mehr hätten. Gerade deshalb ist sie nun regelrecht aufgebracht über ihn, daß er ihre Gemeinschaft mit seinem ständigen Unmut vergifte und sich selbst seiner Freiheit berau19. Gunnar an Alva, 23.6.1950 (ARAB 405/3.3:31). 20. Alva an Gunnar, 28.6.1950 (ARAB 405/3.3:30). 21. Vgl. die Briefe Alvas und Gunnars untereinander, 1950-1954 (ARAB 405/ 3.3:30-3.3:34). 22. S. Bok, Alva Myrdal, S. 221. 23. Alva an Gunnar, 26.10.1953 (ARAB 405/3.3:34).

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be. Er müsse endlich sein Leben ins Reine bringen.24 Und Gunnar, der sich bald sogar in der intellektuellen Welt isoliert und vor einem ähnlichen Schicksal wie Gustav Cassel stehen sieht,25 beginnt tatsächlich, ein neues, großes Forschungsprojekt zu planen, um nach dieser wenig fruchtbaren Zeit den Erfolg von »An American Dilemma« zu wiederholen. Die nächsten Jahre werden nicht weniger chaotisch, aber noch anregender für Alva.26 In Paris arbeitet sie für die UNESCO, nimmt die Töchter für längere Phasen bei sich auf und schreibt mit Viola Klein »Women’s Two Roles«. Gunnar, der über Asien arbeiten will, drängt sie, sich eine Stelle in Indien zu suchen. Das triff t sich mit ihren Interessen. 1952 ist sie nach Indien gereist und war hellauf begeistert von der dortigen Reformpolitik. So schreibt sie später von Paris aus an ihre Freundin, Entwicklungsministerin Ulla Lindström, daß sie gerne wieder für die schwedische Regierung arbeiten würde, eventuell als Botschafterin für Indien, Ceylon, Burma und Nepal.27 Die Regierung hat keine Einwände, im Juni 1955 wird sie ernannt. Sie richtet die neu erbaute Botschaft zum Aushängeschild für schwedisches Design her, arbeitet sich in die indische Reformpolitik ein und schließt enge Freundschaft mit Nehru, ein, wie sie später schreibt, platonisches Liebesverhältnis.28 Gunnar sichert die Finanzierung seines Projektes, verläßt 1957 die UN und siedelt sich in New Delhi an. Als Botschafterin genießt Alva rasch einen hervorragenden Ruf. Da sie aber in Vorderasien unterwegs ist und er zwischen Asien, den USA und Schweden pendelt, besteht die Ehe weiterhin vor allem aus langen, gegenseitigen Tagebuchbriefen und der vagen Hoff nung, irgendwann einmal die letzten Jahre gemeinsam zu verbringen. 1961 kehrt Alva nach einer Krankheit nach Schweden zurück. Gunnar hat seine amerikanischen Forschungsgelder aufgebraucht, und nun ziehen beide doch zusammen, in ein Haus in der Stockholmer Altstadt. Alva organisiert erneut den Umzug. Endlich sieht sie den Wendepunkt in ihrem Leben gekommen. Doch aus der erhoff ten Ruhe wird nichts. Außenminister Östen Undén bezieht Alva umgehend in Abrüstungsfragen ein. Ursprünglich soll sie nur seine große Abschiedsrede als Politiker vorbereiten helfen, der Erfolg dieser Rede macht sie zur schwedischen 24. Alva an Gunnar, 17.1.1953 (ARAB 405/3.3:34). 25. Gunnar an Alva, 5.12.1955 (ARAB 405/3.3:36). 26. Vgl. S. Bok, Alva Myrdal, S. 207-319; Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat, S. 290-369; H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen, S. 181-221; sowie die Briefe Alvas und Gunnars untereinander, 1955-1965 (ARAB 405/3.3:353.3:43). 27. U. Lindström, I regeringen, S. 78. 28. Alva Myrdal, Aufzeichnungen vom Oktober 1982, Ms. (ARAB 405/1.1:8).

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Chefdelegierten der internationalen Abrüstungsverhandlungen in Genf. Letztlich sitzt sie – wie zuvor Gunnar in seiner Arbeit für die UN-Wirtschaftskommission – der Illusion auf, daß rationale Verhandlungen aller Beteiligten die weltpolitische Entwicklung hin zum Vernünftigen lenken könnten.29 Gunnar gibt sich ebenfalls falschen Hoff nungen hin. Er bekommt von der schwedischen Regierung eine persönliche Professur und ein »Institut für internationale Ökonomie«, um sein Projekt beenden zu können. Seine Stockholmer Antrittsvorlesung in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal wird als Ereignis gefeiert. Er residiert mit seinem Institut in einem der modernsten Gebäude der Stadt, dem Wenner GrenCenter, einem Hochhaus, das »amerikanische« Verhältnisse evoziert.30 Doch die Arbeit am Buch geht trotz seines Mitarbeiterstabes schleppend voran. »Asian Drama« erscheint erst 1968 und ist dann nicht der Erfolg, den Gunnar sich gewünscht hat. Ihre Rolle in der Ehe erfährt Alva weiterhin als ambivalent. Als Gunnar Mitte der 50er Jahre für den Umzug nach Indien ihre Papiere packen sollte, beginnt er statt dessen ihre alten Briefe und die Tagebücher der 30er Jahre zu lesen. Jetzt wird ihm klar, was er ihr angetan hat, und er schreibt einen langen, reuevollen Brief. Er habe durch seine Selbstsucht ihre Gemeinschaft zerstört, deshalb stehe sie nun auf eigenen Füßen, während ihm die Einsamkeit drohe. Die einzige Hoffnung sei, daß sie noch einmal ganz von vorn anfangen könnten, irgendwo, gemeinsam in einer kleinen Wohnung. Er sieht allerdings ganz klar, daß Alva sich darauf nicht einlassen kann und wird. Tatsächlich bringt sie ihr ganzes diplomatisches Geschick auf, um ihm seine Rolle als Botschafterinnengatte zu erleichtern. Später wird sie ihm schreiben, daß sie niemals die Situationen mochte, in denen eine(r) von ihnen beiden zu bemitleiden und dem anderen nicht ebenbürtig war. Sie wollte ihn immer stark und unabhängig haben, zuerst, weil sie in ihm ihren genialen »Gebieter« sah, nun, damit nicht ihre Unabhängigkeit eingeschnürt würde.31 Wenn sie ursprünglich von der Verschmelzung ihrer beider Personen geträumt, dann in der Kameradschaftsehe einen notwendigen Kompromiß gesehen hatte, so benutzt sie seit den 40er Jahren eine neue Metapher, ihr Verhältnis begriffl ich positiv zu fassen: Sie sind »consort battleships«, »the two of them criss-crossing the world, each fully capable of maneuvering alone but strengthening the other whenever they joined forces – ›sister ships,‹ as Gunnar would sometimes say, sending

29. Ihrer Enttäuschung verschafft sie 1976 Luft: A. Myrdal, Spelet om nedrustningen. 30. Vgl. S. Lindqvist, Forskningens fasader. 31. S. Bok, Alva Myrdal, S. 244-246, 262.

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one another signals no matter how far apart they might be.«32 Ihr gemeinsamer Kampf gilt Frieden und Fortschritt; sie operiert in den Gewässern der Politik, er in denen der Wissenschaft.33 Noch 1964 schreibt sie ihm: »Aber wenn wir zusammen sind, stehe ich vor einem Dilemma: Soll ich mich dieser Zärtlichkeit hingeben, die fordert, daß ich ›Dich verwöhne‹, daß ich umsichtig Dir gegenüber bin, daß ich Dich ›behandele‹. Oder soll ich im Gegenteil alles in eine normalere Situation überführen, in der ich ganz einfach ich bin, die auch etwas von Dir haben will, und die rücksichtslos sozusagen die einzelnen Rücksichtnahmen [de särskilda hänsyntagandena] übergeht und sich um Dich nur kümmert wie ein Du, das stets der Mittelpunkt im Dialog meines Lebens gewesen ist. Die Haupttendenz ist letzteres, aber Gedanken in der ersten Richtung finden sich als Hemmungen ein.«34 Dann zieht sie eine Bilanz ihrer bisherigen Auseinandersetzungen und ihres andauernden Dilemmas: »Etwas zu konstatieren, in kategorischen Begriffen, ist immer falsch. Zu analysieren ist die einzige Art. Dazu sind wir beide ungewöhnlich fähig. Aber nicht mit dem gesprochenen Wort. Wenn ich in allen derartigen Situationen still werde – oft –, so nicht deshalb, weil ich verletzt bin, sondern weil ich nur innerlich die richtige Balance halten kann, die rationale Abstandsschätzung [avståndsbedömandet]. Wenn Du wüßtest, wie nuanciert ich die Probleme sehe, wenn wir ›zanken‹. Aber ich weiß, daß die Gelegenheit für uns verloren ist, gemeinsam diese Nuancierung zu vollenden – auch meine ich, daß es besser ist, Mißverständnisse, die nicht existieren, wenn wir ruhig darüber nachdenken, nicht festzunageln. Du hältst wahrscheinlich mein ›detachment‹ für Kühle. Oder glaubst, daß ich zürne. Aber das tue ich ja praktisch nie. Dagegen schätze ich es als etwas sehr Kostbares, daß ich – in mir selbst – alle Faktoren mit ihrem vom Leben geprüften Gewicht am selben Platz haben kann und deshalb niemals (fast niemals) von Wut gegen Dich hingerissen werde. Du bist immer da als der Mann, den ich kenne und mit dem ich zusammensein will. Und es ist klar, daß ich Deinen Affekt als vorübergehend, als unverbesserlich ansehe – und so ist das Dilemma wieder da – soll ich ›pädagogisch‹ und ›verstehend‹ sein und Dich ›behandeln‹ oder – ist es nicht würdevoller für uns beide, daß ich ich bleibe.«35

32. Ebd., S. 264. 33. Ebd., S. 294. 34. Alva an Gunnar, 23.2.1964 (ARAB 405/3.3:42 [Hervorh. im Orig.]). 35. Ebd. (Hervorh. im Orig.).

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2. Nachkr iegszeit Nach dem Kriege zeichnete sich Schweden wie zahlreiche andere westliche Länder durch den Übergang zur Konsumgesellschaft aus. Grund dafür war das beispiellose Wirtschaftswachstum im Gefolge des Koreakrieges. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren noch durch harte Arbeitskämpfe, Rationierungen und ideologische Auseinandersetzungen geprägt. Im Wahlkampf des Jahres 1948 trat die SAP mit dem Konzept des »Planhaushalts« und der Parole »Freiheit der Wahl« an, das bürgerliche Lager mit dem »Rahmenhaushalt«, um die »Freiheit des Individuums« zu wahren. Die Sozialdemokraten gewannen den Urnengang, und danach beruhigte sich die Lage, denn die Partei suchte den Sozialismus weiterhin auf pragmatischem Wege zu realisieren. Hanssons Nachfolger als Regierungschef, Tage Erlander, griff Ernst Wigforss’ Idee aus den 30er Jahren auf, daß Staat und Wirtschaft gemeinsam für eine krisenfreie, reibungslos funktionierende Wirtschaft planen sollten. Damals hatte das in der Sozialisierung der Wirtschaft münden sollen, jetzt lautete das Ziel, den Lebensstandard der Menschen zu erhöhen, um von der Konsumtionsseite her den Produktionssektor zu verändern. Soziale Reformen sollten dabei den einmal erreichten Lebensstandard garantieren – also nicht mehr bloß vor dem Absturz in Not bewahren. 1946 wurde die allgemeine Volkspension auf das Existenzminimum erhöht und die obligatorische Krankenversicherung beschlossen (eingeführt 1953), 1948 das allgemeine Kindergeld eingeführt, die mödravård (»Mütterhilfe«) ausgebaut und das Bildungswesen reformiert (Einheitsschule, Erhöhung der Studentenzahlen). Die 50er Jahre waren durch Hochkonjunktur, steigende Löhne, hohe direkte Steuern, hohe Staatseinkünfte, steigenden Lebensstandard und eine immer extensivere Sozialpolitik geprägt. »Wohlfahrt« als dritter, nahezu konfliktloser Zustand, der den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit einebnen sollte, schob die Alternativen »Sozialismus« wie »Kapitalismus« beiseite, und Erlanders Regierung definierte »Demokratie« als eine Art Überideologie, als geradezu totale Interessengemeinschaft. »Freiheit« sollte die Freiheit des Einzelnen sein, im Rahmen des Kollektivs sein Leben nach eigenem Vermögen zu gestalten; die klassenlose Gesellschaft wurde über den gleichen Zugang aller zu den sozialen Errungenschaften angepeilt. Noch war Schweden kein reiches Land. In den 40er Jahren wohnte der Großteil der Stockholmer Unterschichten in engen und übervölkerten Wohnungen, und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hatten mehr als 75 Prozent der schwedischen Wohnungen weder Dusche noch Badewanne; noch seltener war ein Wasserklosett zu finden. Erst seit 1946 war ein Durchschnittspensionär nicht mehr auf ergänzende Armenhilfe angewiesen. 1939 gab es in Stockholm etwa 30.000 Autos, d.h. fünf auf 100 319

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Einwohner, 1955 hatte sich diese Zahl auf zehn verdoppelt. Spezialisierte Einzelhandelsgeschäfte dominierten, in der Landwirtschaft war das Pferd auch nach dem Kriege die Hauptzugkraft, und die Exportwirtschaft führte vor allem Rohwaren und Halbfabrikate aus. Erst im Laufe der 50er Jahre setzten sich dann Fließband, Automatisierung und Rationalisierung allmählich in der schwedischen Industrie durch. Die Haushalte wurden zunehmend mit Elektroherd, Waschmaschinen und Kühlschränken ausgerüstet. In großangelegten Sanierungsprogrammen wurden die engen, verwinkelten Viertel schwedischer Städte abgerissen und durch klar gegliederte Blockbauten ersetzt. Selbstbedienungsläden hielten Einzug in Schweden. Die Erwerbstätigkeit der Frauen nahm zu, damit veränderten sich nachhaltig die Geschlechterrollen. Die Chemie-, Holz-, und Papierindustrie expandierten, ebenso die Metall- und Maschinenbaubetriebe. Verlierer des Strukturwandels waren die Textil-, Bekleidungs- und Lebensmittelbranche und klassische Industriestädte wie Borås, Norrköping oder Örebro. Deren Niedergang betraf in erster Linie Arbeiterinnen, zugleich aber schuf der massive Ausbau des Öffentlichen Sektors neue Arbeitsplätze, was vor allem besser ausgebildete Frauen begünstigte. Schließlich durchlief die Landwirtschaft eine drastische Rationalisierung und Umstrukturierung. Bis 1970 verließen etwa 750.000 Menschen diesen Sektor, der durch Mechanisierung trotzdem die Produktion steigern konnte.36 »All das«, so faßt der schwedische Wirtschaftshistoriker Lennart Schön die Nachkriegszeit zusammen, »was seit den 1970er Jahren als Teil eines geradezu selbstverständlichen Lebensstandards in den Industrieländern aufgefaßt wird – das Auto, das TV, die Stereoanlage, der Kühlschrank, die Ferienreisen – sind 20 Jahre zuvor Möglichkeiten von nahezu utopischem Charakter gewesen, oder ein Luxus, der einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten war. Eine solche Spannung zwischen Alt und Neu und eine solche Umwandlung im Laufe des Aufwachsens einer Generation war niemals vorher vorgekommen.«37 Und das Wachstum erwies sich in der gesamten westlichen Welt bis weit in die 70er Jahre hinein als stabil. Keynesianische Wirtschaftspolitik, »Koreaboom«, expandierender Welthandel und der Auf bau sozialer und wirtschaftlicher Institutionen, die Einkommen, Konsum und Wirtschaftsentwicklung stabilisierten, all das trug zu einem anhaltenden Aufschwung bei, der in Schweden als »Goldenes Zeitalter der Industrialisierung« bezeichnet wird. Immer mehr Menschen stiegen in die Mittelklasse auf, als Folge verschob sich, wie in anderen westlichen Ländern auch, der Wertehaushalt der Schwe36. Zum Strukturwandel: L. Schön, En modern svensk ekonomisk historia, S. 325-432; G. Ahrne/C. Roman/M. Franzén, Det sociala landskapet. 37. Schön, En modern svensk ekonomisk historia, S. 366.

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den. Die »Konsummentalität« erodierte in den Augen von Kritikern den solidarischen folkhem-Gedanken; umgekehrt stieg die Wertschätzung individualisierter Lebensweisen.38 Strukturell läßt sich damit eine ähnliche Entwicklung wie in den USA oder auf dem Kontinent feststellen,39 und seit den 90er Jahren wird ein mögliches Ende des »Modells Schweden« ernsthaft diskutiert. 40 Für Sozialingenieure galt es, ihr technokratisches Denken an diese Veränderung anzupassen. Das ging mühelos, wie man beispielsweise an der Küchenplanung sehen kann. Die Kleinküche der 30er Jahre hatte sich nicht durchsetzen können. Faktisch ist die Küche zentraler Ort der Wohnung und Lebensmittelpunkt vieler Familien geblieben. Das endlich akzeptierend, errechneten Architekten in den 50er Jahren erneut Optimalmaße, nun für große Wohnküchen. Den doch immerhin sehr grundlegenden ideologischen Wechsel thematisierten sie nicht. Es reichte der Hinweis, daß die Forschung neue, realistischere Daten geliefert habe. 41 Die Bewohner wurden dann erneut aufgefordert, von ihren Träumen zu lassen und die Wirklichkeit zu akzeptieren – daß nämlich die Wohnküche Lebensmittelpunkt der Familien sei, und ein kleiner, intimer finrum (»Gute Stube«) sich besser stehe als ein großes, ungenutztes Zimmer. 42 Uno Åhrén, einer der kompromißlosesten Planer, hatte bereits 1942 die funktionalistische Praxis der 30er Jahre kritisiert. Technische Fragen hätten dominiert, über die Lösungsstrategien habe man vergessen, was das Beste für die Menschen sei. Deren Bedürfnisse seien nie systematisch erhoben worden, deshalb seien die Küchen zu reinen Kochwerkstätten mutiert, arbeitstechnisch optimal, aber ungeeignet für »eine gesunde und glückliche Lebensweise« der Menschen. Die Küche müsse Teil der menschlichen Lebensumgebung werden, der Faktor Wohlbefi nden mehr Beachtung fi nden. Im Namen dieser Korrekturen plädierte Åhrén dann 38. Vgl. exemplarisch den Katalog der konsumkritischen Ausstellung »Sein und Vermeiden« von 1978: M. Boman, Vara & undvara; sowie S. Thiberg, Dags att undvara. 39. Vgl. A. Marwick, The Sixties; G. Hägg, Välfärdsåren. 40. Vgl. B. Elmbrant, Så föll den svenska modellen; B. Rothstein/J. Bergström, Korporatismens fall och den svenska modellens kris. Vgl. auch P. Thullberg/K. Östberg, Den Svenska Modellen. 41. Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1935-1949, Bd. 2, S. 42. Zu diesem Schwenk ausführlich Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. 42. M. Hofsten, Bo, S. 6. Vgl. auch Kungl. Bostadsstyrelsen, God Bostad; L. Holm, Familj och bostad. – L. Holm, Bostadens form som ideologisk spegel, analysiert 1968 dann kritisch Grundrisse als ideologische Vorstellungen vom »richtigen Leben«.

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einmal mehr dafür, sozial und wirtschaftlich wohl austarierte Ortschaften zu planen, um Leistungsfähigkeit und Wohlbefi nden der Menschen zu steigern. 43 Sven Markelius, kaum minder radikal, blickte 1950 sehr skeptisch auf das Jahrzehnt zuvor. Die technische Entwicklung sei in einer »Kettenreaktion« außer Kontrolle geraten, und mit ihr die Tendenz zu Kontrolle und Konzentration. Die Menschen lebten von Konserven und Fertigmahlzeiten, an deren Nährwert die Forschung mittlerweile zweifele. Ihr Leben habe sich auf ungute Weise beschleunigt: »Chaplins Schilderung eines unbarmherzig hetzenden, mechanisierten Daseins – ›Modern Times‹, 1936 – ähnelt mit jedem Tag mehr der Wirklichkeit, in der wir leben.«44 Verdienst der 30er Jahre sei es gewesen, die Möglichkeiten der Technik vorbehaltlos akzeptiert zu haben, um eine neue und bessere Welt zu bauen. Effektivität, Mechanisierung und Spezialisierung wurden freilich überbewertet und zum Lebensstil erklärt, da habe »man« die «Parole, die Wirklichkeit zu akzeptieren« mißverstanden. 45 Deshalb müssen nun Experten die Notbremse ziehen und die Gesellschaft durch Planung erneut in »Einklang mit Lebensformen, die die Menschen gesünder und glücklicher machen«, bringen. Rationalisierung darf nicht auf Kosten der Überschaubarkeit und des Wohlbefindens gehen. Die historische Entwicklung habe Ebenezer Howards Gartenstadtidee recht gegeben, durch die Warteschlangen derer, die auf ein Eigenheim warten, sieht sich wiederum Markelius bestätigt, der verkündet, daß Einfamilienhäuser »ohne den geringsten Zweifel die beste Wohnstatt für Familien repräsentieren«. 46 Ortsgrößen begrenzen, Grüngürtel anlegen, Einfamilienhäuser bauen, Gärten zur Versorgung mit frischen, unbehandelten Lebensmitteln – vom angeblich nun ins Zentrum gerückten Menschen läßt sich Markelius ermächtigen, die Gemeinschaftsideale der 30er Jahre fortzuschreiben. Kleinstwohnung, Mikroküche und Fertigessen werden der Anpassung an neue Zeiten, teilweise stillschweigend, geopfert, die eigene Rolle im historischen Rückblick durch das Indefinitpronomen »man« verschleiert. Diese Form der adjustierenden Kontinuität wird durch eine weitere wichtige Ausstellung unterstrichen, die »Hälsingborgausstellung« im Jahre 1955, kurz »H55«. Die Organisatoren der Ausstellung – u.a. Brita Åkerman, Gregor Paulsson und Gotthard Johansson – sind zum Teil die der Stockholmausstellung von 1930, und H55 ist von ihnen als kritische 43. U. Åhrén, Arkitektur och demokrati, S. 16-25 (Zitat S. 20). – Siehe auch oben, Kap. VI. 44. S. Markelius, Människan i centrum?, S. 53. 45. Ebd., S. 57. 46. Ebd., S. 56f.

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Sichtung gedacht, welche Zukunftsvisionen seit 1930 hatten verwirklicht werden können. Ähnlich wie damals werden am Beispiel von fünf Einfamilienhäusern und mehreren Musterwohnungen neue Baumethoden und Möglichkeiten der Rationalisierung präsentiert. Diesmal sind allerdings auch Architekten aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern eingeladen worden, damit die Schweden deren Zielsetzungen bei der Wohnungsplanung begutachten können; geplant werden nun 100 m2 große Wohnungen. Die Einfamilienhäuser sind hochgradig standardisierte Systembausätze, deren Elemente aber vielfach variiert werden können, so daß die Wohnstatt auf einfache Weise den unterschiedlichsten Familientypen angepaßt werden kann. Innen dominieren offene Planlösungen. Die Raumflächen sind immer noch funktional differenziert, gehen aber ineinander über. Auch die Möbel fallen nun anders aus. Niedriger, leicht zu bewegen und viel stärker auf ruhende Körperhaltungen ausgerichtet. Die Bewohner dieser Häuser müssen nicht mehr wie in den 30er Jahren diszipliniert werden. Weniger Wände erlauben es ihnen, sich freier zu bewegen, die Möbel gestatten ihnen eine beschäftigungsfreie Entspannung; ein Architekt genehmigt ihnen sogar eine Gute Stube! Es gibt Einzelausstellungen, die Themen wie in den 30er Jahren aufgreifen, etwa zum Industriedesign, die an die Kunsthandwerksdebatte der ersten Hälfte des Jahrhunderts anknüpft, zur Bedeutung der Elektrizität für die gegenwärtigen Veränderungen der Lebenswelt, zur Rationalisierung der Arbeit in Werkstatt, Büro und Küche, oder zur Frage, wie die wachsende Freizeit sinnvoll verbracht werden könne. Die Kinder dürfen in einer Verkehrsschule lernen, vom schwedischen Links- zum dänischen Rechtsverkehr zu wechseln; ihre Eltern werden über Kinderkleider und Schulmahlzeiten informiert und beobachten, daß die Kinder vor dem Essen ihre Hände waschen. Sie können eine dänische Vorschule und ein schwedisches Klassenzimmer betreten; und natürlich gibt es ein Restaurant, in dem sie verköstigt werden. Das ist also dieselbe Mischung aus Belehrung, Anschaulichkeit und Vergnügen wie 1930, geographisch nun stärker auf Dänemark und den Kontinent ausgerichtet, also internationaler angelegt. Hinzu kommen neue Materialien wie Kunststoff, Ytong oder Aluminium, die architektonisch eine neue Zeit einläuten (das Restaurant ist freilich inspiriert von Le Corbusiers »Villa Savoye« von 1928), und auf den entstehenden Lebensstil einer immer flexibleren Konsumgesellschaft ausgelegt sind. Die Botschaft lautet nun, daß alle Menschen unterschiedlich sind. Doch das Vertrauen, daß die soziale Ingenieurskunst diese Vielfalt weiterhin vernünftig rahmen wird, ist ungebrochen. Die Ausstellung ist mit 1,1 Millionen Besuchern ein großer Erfolg – nur eine öffentlichkeits-

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wirksame Kontroverse wie 1930 bleibt, anders als sich die Initiatoren das erhoff t haben, aus. Der Funktionalismus polarisiert nicht mehr. 47

3. Rev isionen? Als Alva 1952 Indien besucht, will sie die dortige Familienplanung fasziniert allein mit der schwedischen Bevölkerungspolitik der 30er Jahre vergleichen. 48 Das Land hat sie schon als Kind begeistert, in ihrer Zeit als Botschafterin vertieft sich diese Sympathie noch. Aber es ist immer das schwedische Modell, das sie bei ihren Beobachtungen zu Grunde legt, etwa wenn sie geradezu einen Lebenstraum verwirklicht findet: den ersten indischen Fünfjahresplan, den sie Gunnar am liebsten im Goldband als Weihnachtsgeschenk überreichen würde. »Nicht weil das etwas Neues für uns ist. Sondern weil es eine so durchgearbeitete Bestätigung all dessen ist, was wir wollten. Ich lese ihn und finde nicht einen falschen Ton. Und ich würde Seite für Seite mit Dir diskutieren wollen. Entlang zweier Linien: 1) ob nicht das richtig gut ist für Indien […], 2) was dafür verantwortlich war, daß Dir und der schwedischen Planungskommission nicht derselbe vergleichende Zugriff gelang.« 49 Daß die Menschen – anders als im Norden – so viel bodenständiger und näher an ihren Mitmenschen leben, sieht sie ebenfalls positiv. Doch nimmt es sie mit, »daß diese selben Menschen nicht integriert sind, daß sie nicht vollwertige [ fullmogna] Staatsbürger sind und sein können, daß sie nicht aufrecht stehen und ihre eigenen Interessen verfolgen. Gerade weil sie außerhalb leben, und ohne Ambitionen, Haltung, Aufgaben, Ziel, individuelle Leidenschaft und Gedanken, das ist mir ja wichtig. Deshalb meinte ich es so ernst, als ich heute in meinem Vortrag sagte, daß Ausbildung vor allem andern kommen muß. Wenn wir die neuen Teile der Welt auf Augenhöhe [likvärdig] mit uns haben wollen.«50 Mit diesen Zitaten ist sowohl Gunnars wie Alvas Haltung zur »Dritten Welt« umrissen. Sie machen sich mit derselben Haltung daran, die Entwicklungsländer zu modernisieren, wie sie das Schweden der 30er Jahre 47. Vägledning; Bostaden; K. Gustavsson, Den byggda optimismen; Dies./ L.-E. Jönsson, En fest i 80 dagar; L.-E. Jönsson, Inom det möjligas gränser; E. Klein, Stockholmsutställningen 1930 och H55; K. Wickman, På en smal tunga ut i havet; S. Silow, Gröningen. 48. Alva an Gunnar, 31.12.1950 (ARAB 405/3.3:32). 49. Alva an Gunnar, 22.12.1952 (ARAB 405/3.3:33 [Hervorh. im Orig.]). 50. Alva an Gunnar, 18.12.1952 (ARAB 405/3.3:33 [Hervorh. im Orig.]). Daß »Integration« ihre zentrale Wertprämisse ist, schreibt sie an anderer Stelle: Alva an Gunnar, 20.9.1957 (ARAB 405/3.3:35).

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modernisieren wollten. Grundsätzlich, so argumentieren beide, dürfen nicht einfach schwedische bzw. westliche Modelle übertragen werden, die Problemlagen sind zu unterschiedlich. Man sollte besser die bestehenden Besonderheiten nutzen, statt sich brüsk über sie hinwegzusetzen, etwa indem man Fahrrad- statt Autofabriken aufbaut. Ebenso grundlegend für jede Form von Entwicklung, so Alva, sind jedoch Investitionen ins »Menschenmaterial«. Bildung allein reicht allerdings nicht, den Menschen muß eine neue Lebenseinstellung vermittelt werden, sie müssen sich dem Zwang der Religion entziehen lernen, ihre Dialekte gegen eine einheitliche Hochsprache austauschen und Werte wie Rationalität, Vernunft, Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Mobilität und Eigeninitiative internalisieren. Auf dieser Basis kann dann das Wirtschaftsleben kooperativ organisiert werden, wobei die Dorfräte als basisdemokratische Selbstverwaltungsorgane dienen sollen. Am Ende haben die Menschen die Fähigkeit errungen, die richtige Bahn zu wählen, sich also gegen Traditionen bzw. das überkommene Feudalwesen und für Rationalität bzw. moderne kollektive Wirtschaftsformen zu entscheiden.51 Allerdings stößt dieses Ideal, so Gunnar, auf der Makroebene auf ein Hindernis. Die Stufe der Agrarrevolution kann nicht mit Hilfe einer Brachialindustrialisierung übersprungen werden. Das ist in mehreren Ländern schiefgegangen. Erst muß der Agrarsektor reorganisiert werden, um durch gesteigerte Produktivität die Menschen versorgen zu können (und überkommene Sozialstrukturen zu zerbrechen), dann läßt sich in die Industrialisierung investieren, dann steigen Einkommen und Konsum und stehen Staatseinnahmen für sozialpolitische Programme zur Verfügung, erst dann ist der Aufschwung selbstgenerierend. Bis dahin müssen die Konsumwünsche der Menschen massiv beschnitten werden. Die Industriestaaten der westlichen Welt hatten diese Schwierigkeit seinerzeit umgehen können, weil ihre Regierungen nur semidemokratisch legitimiert waren. Die Entwicklungsländer müssen jedoch umgehend volldemokratische politische Systeme aufbauen, um die Herrschaft der sich bereichernden Cliquen brechen zu können. Dann aber fehlt ihnen die Legitimation, Konsumwünsche ihrer Bürger zu beschränken. Diesem Dilemma entkommt man nur, wenn man die Entwicklung der »Dritten Welt« radikal beschleunigt – oder, notfalls, doch Entwicklungsdiktaturen akzeptiert. 51. A. Myrdal, Vårt ansvar för de fattiga folken; Dies., Education and the Standards of Living; Dies., The Power of Education; Dies., A Scientific Approach to International Welfare; Dies., A World Picture of Social and Educational Needs in Relation to Community Development; Dies., Time Table for a Newly Developing Welfare State; Dies., Den onda cirkeln; Dies., Utveckling eller hunger; Dies., Utlandshjälpen och vår levnadsstandard; Dies., Nehru; Dies., Jag blev gripen av att en sådan människa funnits.

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Mit Hilfe von »Nationalplänen« wollte Gunnar diese Entwicklungswege detailliert entwerfen, steuern, kontrollieren und adjustieren. Die Pläne mußten außerdem die Geburtenrate begrenzen helfen, um die Gleichheitsdoktrin, die in allen großen Religionen und Denksystemen angelegt sei, verwirklichen zu können; diese Doktrin wiederum legitimiere eine Planwirtschaft, die privatwirtschaftliche Gewinn/Verlustbilanzen außer Kraft setze. Dem Kriterium marktwirtschaftlicher Preisbildung sprach Gunnar keinerlei objektive Gültigkeit zu, weil sich gesellschaftliche Gewinne nicht an eventuellen unternehmerischen Verlusten orientieren dürften. Nachteil einer solchen Planung sei, daß sie zwar zur nationalen Integration beitrage, damit aber Autarkietendenzen stärke, die wiederum die Desintegration internationaler Ordnungssysteme vorantrieben. Dieser Konflikt werde allerdings nicht durch eine Verdammung des Nationalismus gelöst, sondern nur, wenn die internationalen Strukturen so geändert würden, daß nationale Interessen in ihnen aufgehen könnten; und am besten förderten hohes Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand die internationale Integration.52 Ohne jeden Zweifel haben sich die Myrdals für die Entwicklungsländer eingesetzt, Alva eher durch ein direktes Engagement, Gunnar mit dem Versuch, die Verhältnisse komplexer zu analysieren statt westliche Modernisierungsideale unreflektiert zu übertragen, wie das viele Experten seinerzeit taten. Im Effekt aber lesen wir zum dritten Mal die Geschichte einer Integration von Außenseitern in die Mehrheitsgesellschaft. Wie bei den Frauen die männlichen und bei den Schwarzen die Werte der weißen Gesellschaft, so sind es nun die Ideale der Modernisierungstheorie, die als »Normalität« erscheinen. So wie Alva den Frauen und Gunnar den Schwarzen, so wollen sie nun beide der »Dritten Welt« helfen, sich die Werte der westlichen Mehrheitsgesellschaften anzueignen. Erneut soll eine Menschengruppe von »irrationalen«, »unvernünftigen« Verhaltensweisen befreit, d.h. ihrer pathologischen Züge entledigt werden. Als technisches Instrumentarium dient wieder das erprobte »schwedische Modell«, also: Vernunft, Verhandlungsbereitschaft, Kompromißwille, Selbstorganisation, Expertenleitung. Diese Verhaltensweisen sollen nicht oktroyiert, sondern durch Ausbildung in das Alltagsverhalten der Menschen überführt werden, so daß sie von selbst lernen, diese Werte nachzufragen, weil sie sich als erfolgreicher erwiesen haben. Die Normen der anderen Seite, diesmal der westlichen Gesellschaften, müssen auf diese Weise nicht in Frage gestellt, nur justiert werden. Daß sich aus kulturellen Eigenarten 52. G. Myrdal, Asian Drama; Ders., Rika och fattiga länder; Ders., Vår onda värld; Ders., Världsekonomin; Ders., Politiskt manifest om världsfattigdomen; Ders., The »Soft State« in Underdeveloped Countries.

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der »Außenseiter« alternative Gesellschaftsmodelle entwickeln könnten, nehmen Alva und Gunnar abermals nicht wahr. »Eigenarten« sind etwas, dem in einem planmäßig geschaffenen Raum Freiheit geboten wird, nachdem sie hinreichend gezähmt worden sind. Und nach wie vor postulieren sie implizit eine deutliche Hierarchie der Strukturen und Akteure des Veränderungsprozesses. An der Spitze stehen historische Entwicklungen, aus denen sich »natürliche Notwendigkeiten« ableiten lassen. Kumulative Zirkel sozioökonomischer Faktoren treiben die Entwicklung konkret in den Abgrund oder in Richtung Fortschritt. Experten analysieren die Situation und entwerfen Handlungsprogramme, um die Entwicklung zu lenken. Die Führer sozialer Bewegungen und der Staat implementieren sie; am Ende stehen die Menschen, die angeleitet werden, ihr Bestes zu erkennen, und die dann eine legitimierende Massenbasis für die expertokratischen Entwürfe bilden. Im Hintergrund stets: irrationale, gefühlsgeleitete Gegenkräfte. Seltener tauchen sie in Alvas und Gunnars Publikationen im Gewande von Klerikern, reaktionären Eliten oder Adeligen als bösartige Blockierer auf, meist sind es irregeleitete Geister, die an ihren Vorurteilen leiden und sich nach Aufklärung sehnen. Gerade bei Alva, die ihr Themenspektrum nach dem Krieg noch einmal erweitert, stößt man in zahlreichen gedruckten und ungedruckten Texten auf dieselbe Gedankenstruktur, ob es sich um Sozialpolitik, Entwicklungspolitik, Erziehungsfragen, die Trennung von Staat und Kirche oder den Konsum handelt. Sie fordert Vernunft und rationales Handeln ein, will irrationale Verhaltensmuster aus den internationalen Beziehungen entfernen, fordert eine drastische Modernisierungspolitik für die »Dritte Welt«, um den »Vicious Circle« zu brechen, ohne aber rücksichtslos spezifische Strukturen in den Entwicklungsländern zu zerschlagen. Jede Veränderung muß evolutionär entstehen, nicht revolutionär.53 Konsum, Wahlfreiheit und Individualismus begreift sie nach wie vor als moralische und konkrete soziale Gefahren: »[B]eware that the tenuous traditions of pêtite [sic] bourgeoisie are not taking hold over us all. The automobile, home ownership, and the forces of consumerism are the great risks run not

53. Vgl. Canadian Conference of Social Work. Vancouver June 14th, 1950.

Speech by Mrs. Alva Myrdal, Acting Assistant Secretary-General of United Nations, in Charge of Social Affairs, 17.7.1950, Ms.; Tentative Steps toward solving the Social Problems of the World (Speech by Alva Myrdal before the Canadian Women’s Club, 15 June 1950, Vancouver), 15.7.1950, Ms. (ARAB 405/2.3:16); A. Myrdal, World Action Against Social Ills; Dies., The Role of the Teacher for Economic Development; Dies., Education and the Standards of Living; Dies., The Power of Education.

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only in capitalist but also in socialist societies.«54 Sicherheit bedingt Freiheit, nicht eine rahmenlose Wahllosigkeit. Die Rolle der Frau definiert sie weiterhin über ihre Produktivität, weiterhin soll sie ihr Leben in drei Phasen organisieren. Ehen sollen auf Kameradschaft gründen, Konflikte sind in Politik wie Sozialbeziehungen zu vermeiden. Kameradschaft, Freude und Mäßigkeit sollen das Leben der Menschen prägen, nicht Konkurrenz und Prestige.55 Für die Kinder formuliert sie 1968 sogar eine regelrechte Hypothek. Sie sollen die Investition in ihr Humankapital durch Dienst an der Gesellschaft verzinsen.56 Rahmung, Sicherheit, Freiheit, das bleiben die Koordinaten ihres Weltbildes.57 Weder bei Gunnar noch bei Alva läßt sich eine grundlegende Revision 54. Alva Myrdal, Towards Social Equality. The Roots of Social Democracy’s Planning for the Future. (A first draft). University of Wisconsin, Madison, Wisconsin, September-Oktober 1977. For Private Use Only, September 1977, Ms., Bl. 66 (ARAB 405/2.3:63). 55. Vgl. A. Myrdal, Varning för utvidgning av statskyrkosystemet; Dies., Politiskt nytänkande nödvändigt i jämlikhetsfrågorna; Dies., Jämlikhetens villkor; Dies., En wigforsskt djärv anda måste blåsa in i jämlikhetsdebatten; Dies., Tekniken är en fara – teknikerna en resurs; Dies., Tekniken styr oss – vem styr tekniken?; Dies./K. Andersson, Ett samtal om JÄMLIKHETEN; Intervju med Alva Myrdal angående Kyrkan och moralen, o.D. [März 1970], Ms.; Alva Myrdal, Invigningstal Frederika Bremerskolan i Handen 19.3.1970, Ms.; Alva Myrdal, Women and Social Change. Kvinnan i arbetsliv, familj och samhälle. Anförande av stadsrådet Alva Myrdal vid Kommunalarbetarförbundets internationella kongress (Public Services International), Stockholm, den 27 april 1970, Ms. (ARAB 405/2.3:31); Enhancing Women’s Chances. Alva Myrdal Luncheon speaker, Wellesley Center’s opening conference »Restructuring the World of Work«, Center for Research on Women in Higher Education and the Professions, Wellesley College, Wellesley/MA, 15.3.1975, Ms. (ARAB 405/2.3:50). 56. A. Myrdal, Det är arbetarrörelsen som skall driva jämlikhetspolitiken, S. 187. 57. Vgl. die Interviews, die Nordal Åkerman mit Alva (und Gunnar) geführt hat: N. Åkerman, Gunnar Myrdal; Ders., Med jämlikheten som riktmätare; sowie ein umfangreiches Manuskript aus dem Jahre 1977, in dem Alva die Religionsund Geistesgeschichte durchmustert, um die historische Notwendigkeit ihrer Ideale zu belegen: Alva Myrdal, Towards Social Equality. The Roots of Social Democracy’s Planning for the Future. (A first draft). University of Wisconsin, Madison, Wisconsin, September-Oktober 1977. For Private Use Only, September 1977, Ms. (ARAB 405/2.3:63). Ihre Ideale macht sie zugleich zum Maßstab, um rückblickend die Fortschrittlichkeit von Protagonisten der Geschichte bewerten zu können.

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erkennen. Gunnar neigt in den letzten Jahrzehnten seines Lebens ohnehin dazu, nur noch sich selbst zu zitieren. Sogar seine Skepsis gegenüber Übersetzungen belegt er mit einem eigenen Text.58 In einer grandiosen Form der Gedankenübertragung scheint das auch beim Drucker eines Konferenzberichtes angekommen zu sein. Gunnar hatte seinen Beitrag mit der Bemerkung eingereicht: »I am looking forward to seeing the papers submitted to this conference, and to readjust my own ideas.« Der Drucker fügt nur ein zusätzliches, falsches Leerzeichen ein: »I am looking forward to read just my own ideas.«59 Letztlich sind Alva und Gunnar keine Wissenschaftler in dem Sinne, daß ihr primäres Interesse auf dem Erkenntnisprozeß liegt, für den die Revision des Denkens ein elementarer Bestandteil ist. Wissenschaft ist für sie vielmehr ein Instrument, um soziale Reformen entwerfen und in der Politik implementieren zu können. Dieses Instrument soll ihr gesellschaftspolitisches Weltbild nicht revidieren, sondern verwirklichen helfen. Deshalb sind es grundsätzlich eher stillschweigende Justierungen, die sie vornehmen, etwa wenn in ihren Texten seit 1946 von Sterilisierungen nicht mehr die Rede ist,60 oder wenn Alva 1981 über ihre Erziehungsansichten spricht. »Stadsbarn«, so heißt es in dem Gespräch, repräsentiere weiterhin ihre Sicht auf die Vorschule und deren Funktion. »Grundlegend war, den Kindern sowohl Pflege als auch Erziehung zu geben, sagt sie [Alva]. Es handelte sich um eine geordnete Spielgemeinschaft [leksamvaro] für die Kinder, so drei, vier Stunden Kameradengemeinschaft [kamratsamvaro] und erziehende Beschäftigung.«61 Der Kontrollaspekt, der in den 30er Jahren so existentiell wichtig war, fällt unter den Tisch, und aus der sozialen Quarantäne werden im Rückblick wenige Stunden erziehenden Spiels.62

58. G. Myrdal, I stället för memoarer, S. 12. Vgl. auch S. Bok, Alva Myrdal,

S. 222. 59. Zit. nach P. Streeten, Gunnar Myrdal, S. 118. 60. Gunnar soll aber noch 1959 Sterilisierungen in der »Dritten Welt« befürwortet haben, um (ungeborene) Kinder vor dem Hungertod zu retten: A. Berg, Den gränslösa hälsan, S. 409. 61. Fackläraren, 6.4.1981; vgl. auch Dagens Nyheter, 21.4.1981. 62. Ähnlich zuvor in einem anderen Interview: Kinder sollten Krippen nahe ihrer Familien besuchen, um nicht so sehr von ihnen getrennt zu werden (Magasinet, Sveriges Television, TV 2, 12.11.1979).

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4. Nationalistische Kosmopoliten In den USA sind Alva und Gunnar zu nationalistischen Kosmopoliten geworden. 1941 publizieren sie bei Bonnier »Kontakt med Amerika«. Das Buch handelt von Schweden. Es beschreibt die USA (und zwar in einer derart idealisierten Form, daß sich später selbst Alva und Gunnar davon distanzieren werden), um durch dieses Vorbild die schwedische Demokratie zu stärken. Der Glaube an Vernunft, die positive Lebenseinstellung, freundliche Umgangsformen, all das erleichtert, so beschreiben sie das Land, das Leben in den USA und macht es konfliktfreier. Das politische System wird von Korruption gereinigt und setzt auf Wechsel, offene politische Prozesse und die korrigierende Macht der Gerichte. Der Isolationismus ist bankrott. Immigranten werden integriert, das Rassenproblem offen diskutiert, die protestantischen Freikirchen sind Resonanzboden der amerikanischen Ideale, selbst die hierarchisch-undemokratische katholische Kirche nähert sich den amerikanischen Freiheitswerten an. Das Erziehungssystem soll gezielt einen freien Menschentyp heranziehen. Unter Einfluß des New Deal ist Amerika zu sozialer Verantwortung erwacht; der starke Individualismus wird sozial gewendet, ohne in Kollektivismus zu münden. Davon könne Schweden, das gerne seine historischen Wurzeln verleugnet, wo viel geklagt werde und ein bequemes Vertrauen in die Obrigkeit herrsche, einiges lernen. Andererseits seien bislang Scharen amerikanischer Reisender gekommen, um sich von Schweden inspirieren zu lassen. Es gebe also Grund, Schweden (und seine nordischen Nachbarn) als neue moralische Weltmacht zu präsentieren, die fest an Seiten der USA stehe: »Amerika und der Norden waren die einzigen größeren Teile der westlichen Welt, in denen die Menschen während der 30er Jahre ein gesundes subjektives Sicherheitsgefühl verspürten, wo sie nicht schon vor der Katastrophe die Bekanntschaft mit Giftmischungen, schrecklichen Sprengladungen und unterirdischen Schutzräumen machten. Es gibt Landsleute, die meinen, daß man sich dafür schämen müsse. Die Verfasser meinen ganz im Gegenteil, daß uns das zum ewigen Stolz gereicht, der Welt aber zur Schande. Wir hatten recht und die Welt unrecht. Erfolgreicher als andernorts demonstrierten wir, wie eine Gesellschaft in Ordnung und Freiheit langsam aber sicher die Lebensbedingungen der Menschen verbessern kann, und die Menschen selbst.«63 Nach dem Krieg müsse der barbarische und autarkistische Nationalismus durch eine globale, vernünftige internationale Ordnung ersetzt werden. Dann werde die Stunde der kleinen, kulturell homogenen und deshalb effektiven Nationen schlagen. »Die ganze gewaltige 63. A. Myrdal/G. Myrdal, Kontakt med Amerika, S. 20.

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Expansion Schwedens baute [bislang] nicht auf politischer Herrschaft über Kolonien. Sie baute auf unserer eigenen Volkskraft und unseren Ressourcen im eigenen Land – und auf dem Austausch von Waren und Diensten durch die friedliche Nutzung der Märkte in der ganzen Welt. Wir Schweden erkennen, daß nichts weniger als die Welt unser einziger und wirklicher Lebensraum ist. Um uns geltend machen zu können, benötigen wir offene Türen und freien Wettbewerb, aber nicht Kolonien und politische Hegemonie. Wir verlangen, uns bewegen zu dürfen, produzieren zu dürfen, kaufen und verkaufen zu dürfen, schaffen und dienen zu dürfen, aber nicht zu unterdrücken und zu bevormunden [att polisa].«64 Einen geradezu schrankenlosen Stolz auf Schweden fi ndet man seit den 40er Jahren in zahlreichen weiteren Texten der beiden. Besonders Alva läßt 1941 in einem Propagandaaufsatz jede Form der Selbstreflexion fahren.65 Schweden werde gerühmt, gelte als Vorbild, habe einen Ehrenplatz unter den modernen Nationen. Besonders angloamerikanische Autoren, die sie das schwedische Modell lobpreisen sieht, und die sich bescheiden von Schweden zu lernen bereit zeigen, finden ihr Wohlgefallen. Französischen Beobachtern bescheinigt sie demgegenüber geringere Sachkenntnis, übertriebene Artigkeit und größere Ungenauigkeit, aber auch sie bestätigen die Legende vom Land des goldenen Mittelwegs. »So ungern wir an diese unsere Stellung als besonders vernünftiges unter den Ländern dieser Welt erinnert werden wollen, so scheint es schwer zu sein, ein anderes Land zu finden, daß diese Bezeichnung verdient hätte.«66 Selbst die Deutschen bewunderten die Fähigkeit, sich auf Basis der Traditionen an die Moderne anzupassen, die Vernunft und die sozialen und politischen Errungenschaften Schwedens; und nur Neuseeland kann um den Titel des Modellstaates konkurrieren, ein Antipode, gegen den man den Wettkampf aufnehmen sollte.67 Kritik an Schweden kommt kurz. Sie ergibt sich vor allem aus vergleichenden Statistiken, wenn Schweden in einzelnen Bereichen keine Spitzenposition einnimmt; daß die Sozialreformen an fehlender menschlicher Wärme und Bürokratisierung litten, erwähnt Alva nebenbei.68 64. Ebd., S. 16. 65. A. Myrdal, Vår plats bland nationerna. 66. Ebd., S. 58. 67. Ebd., S. 69. 68. 1941 entwirft Alva einen Katalog von Kriterien, um Schweden mit anderen Ländern vergleichen zu können. Die Kriterien umfassen u.a. wirtschaftliche Faktoren, historische Voraussetzungen, soziale Strukturen und Reformen sowie die Effektivität von Staat und Gesellschaft. Bestimmte Kriterien, die in anderen Ländern hochgehalten werden, fehlen völlig, z.B. das kreative Potenti-

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Sie ist sich nicht wirklich sicher, ob die Schweden ihre Demokratie wirklich gegen das siegreiche und nach wie vor attraktive Deutschland verteidigen wollen. Mit ihrem Aufsatz will sie den Patriotismus ihrer Landsleute befeuern, und das macht die fehlenden Nuancierungen verständlich. Aber die Grundeinstellung ändert sich selbst in den 60er Jahren nicht. Alva und Gunnar sind nämlich nicht nur schwedische Patrioten – getragen vom Stolz auf das eigene Land und dessen internationalem Renommee –, sondern lupenreine Nationalisten. In ihren Augen kann nur am schwedischen Wesen die Welt genesen. Das ist nicht überspitzt formuliert. Im Krieg sehen sie Schweden (neben anderen kleinen Nationen) als Garanten für eine künftige demokratische Welt(handels)ordnung. Nach dem Krieg propagieren sie ganz offen den Export des schwedischen Modells in die »Dritte Welt«: »Wie können wir, mit anderen Worten, unser Idealbild von uns selbst auf die neuen Länder der alten Kulturen übertragen und sie dazu bringen, es zu akzeptieren? Wenn das kraß und ethnozentrisch klingt, so können wir uns verteidigen: Je mehr unsere demokratischen Werte zu überzeugen vermögen, desto wertvollere Führung bieten wir.« Deshalb sei zu überlegen, »wie die sogenannte Schwedenpropaganda in den unterentwickelten Ländern angelegt werden sollte – in unserem Interesse insgesamt, im Interesse unserer Märkte, im Sinne unserer politischen Interessen, aber auch um dieser Länder Willen.«69 Nobles Verhalten, Toleranz, Rationalität, das zeichne Schweden vor seinen internationalen Konkurrenten aus; im Grunde müßte sich jeder Repräsentant des Landes – und dessen Ehefrau! – vor seiner Abreise in Studienzirkeln mit dem schwedischen Modell so vertraut machen, daß er als »Agent« das Ansehen der Nation im Ausland gezielt zu stärken wisse.70 Wenn seine Einsätze in der »Dritten Welt« moralisch unangreif bar ausfallen, kann Schweden musterbildend wirken. Und es hat die Pflicht, den in politische Ränke verstrickten Großund Supermächten die Wahrheit zu sagen.71 Die Mission dieser Nation lautet: »Wir können niemals unsere Verantwortung leugnen. Wir können nicht die Antwort auf die Frage vermeiden: Tun wir wirklich alles, was wir können, für eine Welt, die im Großen und Ganzen soviel unglücklicher ist als wir selbst?«72 Alva konzediert, daß es Schattenseiten gibt. Sie sollten nicht verschwieal des Landes, Originalität usw. (Alva Myrdal, Förslag till utredningsuppdrag för jämförelse mellan svenska och utländska förhållanden, 16.6.1941, Ms. [ARAB 405/2.3:8]). 69. A. Myrdal, Sveriges profil i Österland, S. 3. 70. Ebd., S. 6. 71. A. Myrdal, Sverige i världen, S. 46. 72. Ebd., S. 61. Ähnlich: Dies., Människan i världen.

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gen werden, denn Erfolg wecke Neid und gebe dem schwedischen Bild einen negativen Anstrich, den der Selbstgerechtigkeit.73 Auch hatte es im Krieg Mißstimmungen gegeben. Vor allem Norwegen, so mußte Gunnar seinerzeit feststellen, habe Schweden in den USA erfolgreich in Mißkredit gebracht. Es sei, berichtete er seinen Landsleuten, der unsinnige Eindruck entstanden, ihr Land paktiere mit den Deutschen. Finnland wiederum behaupte, um amerikanische Kritik am Bündnis mit Deutschland abzuwehren, eine angebliche nordische Einheit und bringe Schweden damit ebenfalls in den Verdacht der Deutschfreundlichkeit. Doch selbstlos verzichte Schweden auf eine Korrektur dieses negativen Bildes, um dem Ruf seiner Nachbarn in den USA nicht zu schaden und der nordischen Sache zu dienen. Ohnehin habe sich das Land nichts vorzuwerfen. In der norwegischen Diplomatie sei es dagegen seit 1905 (als Norwegen gegen den schwedischen Willen die Union der beiden Königreiche aufkündigte) Usus, Schweden an ausländischen Höfen in Verruf zu bringen. Auch der – bewundernswerte – norwegische Widerstand sei kein Anlaß zu Selbstanklagen. Im Gegenteil: Die Erfahrung der Besatzung habe Norwegen und Dänemark nicht, wie es eine fromme Lüge wolle, moralisch über Schweden erhöht, sondern auf lange Sicht derart zersetzt, daß man nach dem Krieg dort nur mit Mühe Rechtssicherheit, Gesetzestreue und die soziale Ordnung werde wiederherstellen können.74 Als selbstgerecht empfinden weder Gunnar noch Alva ihre Haltung. Sie stilisieren Schweden als internationalistische Nation, die niemals um eigener Vorteile Willen die Interessen der Menschheit verraten werde. Sie sehen ihr Land als besonders auserwählt, Anwalt der Weltinteressen zu sein. Während die Umwelt in nationalistischer Hetze versinke, werde Schweden nach dem Krieg seinen Konsum zugunsten der verheerten Teile Europas einschränken und Hilfe für alle Kriegsopfer einfordern. Deshalb auch müsse sich die neu gegründete »United Nations Relief and Rehabilitation Administration« auf die schwedischen Bedingungen eines Beitritts einlassen, denn das Land werde sich nicht durch Regeln binden lassen.75 Und während die anderen Länder nach blutigen Gemetzeln regelmäßig Weiß-, Gelb- und Rotbücher entwerfen, um die Kriegsschuld der jeweils anderen zu beweisen, plant Alva ein blaugelbes Buch, durch das dem zerschlissenen Europa und der unterentwickelten Welt die besten Resultate schwedischer Politik geschenkt würden.76 »Bei uns ist glücklicherweise 73. A. Myrdal, Sveriges profil i Österland, S. 10. 74. G. Myrdal, Amerika mitt i världen, S. 38-52; Ders., Varning för fredsoptimism, S. 51-55, 303f., 310, 312, 314. 75. G. Myrdal, Varning för fredsoptimism, S. 237f. 76. Radiovortrag Alvas, 20.12.[1941], Ms., Bl. 3 (ARAB 405/3.1.2:2).

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keine nationale Propaganda nötig. […] Wir brauchen keine Vaterlandsliebe in Schweden zu predigen.«77 Das glauben Alva und Gunnar tatsächlich – und führen doch in zahllosen Publikationen, Vorträgen, Memoranden und Briefen lauter nationale Autostereotypen auf, die just diese Vaterlandsliebe zu befördern geeignet sind: die eigene Regierung, die so rational und effektiv ist, wie keine andere der Welt,78 Europa, das so undemokratisch, korrupt und katholisch dominiert ist,79 das ineffektive Frankreich, das durch 2000 schwedische Beamte einmal auf Vordermann gebracht werden müßte,80 das schwedische Theater, das das beste der Welt ist, besser als das in London und Paris.81 Zwilling dieses unreflektierten Eigenlobs ist eine empfindliche Dünnhäutigkeit gegenüber Kritikern Schwedens. Susan Sontag veröffentlicht 1969 den bereits erwähnten, langen »Letter from Sweden«,82 in dem sie das Land als ein geradezu autistisches Sozialgebilde beschreibt. Die Schweden vermeiden Kontakt, leiden an Angst, interessieren sich nicht für ihre Umwelt. Der Artikel gipfelt im oft zitierten Diktum: »The Swedish avoidance of antagonism sometimes goes to really supersonic extremes.«83 Alva geht den Artikel Zeile für Zeile durch und versieht ihn mit beleidigten Randbemerkungen, die sie mit dem Kommentar »S. läßt alles als falsch erscheinen« zusammenfaßt.84 Sie versucht, Sontags pauschale Kritik mit Einzelbeispielen oder Korrekturen zu entkräften – das Desinteresse am Ausland stimmt nicht im Falle des sowjetischen Einmarsches in der Tsche77. Prof. Gunnar Myrdal vid medborgarfester i Gävle och Sandviken, söndagen den 16 juni [1940], Ms., Bl. 1 (ARAB 405/6.1:16). 78. So Gunnar in der Sendung I svaromål, Sveriges Radio, 16.10.1962. 79. T. Ekström/G. Myrdal/R. Pålsson, Vi och västeuropa. Es handelt sich um eine unverhohlen einseitige Streitschrift gegen den EU-Beitritt Schwedens, die das simple Muster »Wir sind besser als die, und da ist alles schlecht« bedient. 1972, nach neun Jahren, wird die zweite Aufl age mit einem bekräftigendem Vorwort publiziert. Nicht nur in diesem Buch ist »Katholizismus« die Chiffre für »Irrationalität«. 80. Alva an Gunnar vom 23.11.1946, zustimmend einen Kollegen zitierend (ARAB 405/3.3:27). 81. Erneut Gunnar in der Sendung I svaromål, Sveriges Radio, 16.10.1962. – Dieses Muster findet sich noch in den 70er Jahren, vgl. nur Statsrådet Alva Myrdals anförande i radio nyårsafton, 31.12.1970, Ms. (ARAB 405/2.3:32); Alva Myrdal, Sverige i Europa – kulturellt (och kyrkligt), 18.2.1971, Ms. (ARAB 405/ 2.3:35). 82. S. Sontag, A Letter from Sweden (siehe auch Kap. I). 83. Ebd., S. 26. 84. Alvas Notiz auf Sontags Artikel, S. 32 (ARAB 405/5.1.1:135).

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choslowakei; die Tüten des Alkoholmonopols sind nicht aus Papier, wie Sontag behauptet, sondern aus Plastik; die Schweden verstecken die Alkoholeinkäufe nicht vor den Blicken ihrer Mitmenschen in Akten- und Einkaufstaschen, sondern tragen sie darin – oder sie fragt: Was ist falsch an der »marked avoidance of aggression«?85 Und sie weicht ins Persönliche aus. Sontag beklagt sich über die regelmäßige Unzuverlässigkeit der Schweden, die ein dinner zusagen und dann nichts mehr von sich hören lassen. »Perhaps they didn’t like her?«, vermutet Alva. Nicht einmal Kritik, die sie sonst selbst übt, gesteht sie Sontag zu – nur 14% aller Parlamentarier seien Frauen? »And in other Countries?«86 Ganz offensichtlich versteht sie nicht, daß die Amerikanerin Sontag Schweden als Gegenbild zur Weltsicht liberaler Amerikaner beschreibt – und daß diese Weltsicht dieselbe Legitimität wie Alvas beanspruchen kann. Sontag ist es ein Greuel, daß die Schweden »a whole system of anxieties, a perception of the world as extremely dangerous, treacherous« verhaftet seien. Alva notiert: »It is!«87 Sontag sieht eine grandiose Fehlwahrnehmung der Welt, Alva ist unbegreifl ich, wie man eine offenkundige Wahrheit in Kritik an Schweden ummünzen kann. In ihren Augen wertet Sontag alles falsch, in Sontags Augen ist die schwedische Lebenshaltung falsch.88 Alva und Gunnars Nationalismus ist keine Ausnahmeerscheinung. Die schwedischen Zeitungen registrieren – bis heute – aufmerksam Schwedens Erfolge in der Welt und stilisieren Intellektuelle wie die Myrdals, die Messestände auf diversen Weltausstellungen oder begeisterte Ausländer zu Botschaftern der schwedischen Sache. Fredrik Böök schildert 1936 ausländische Touristen, die hingerissen sind von Frieden und Wohlstand, der Sauberkeit und dem sicheren Geschmack selbst der armen Menschen in seiner Heimat;89 die Nationalökonomen Anna Hedborg und Rudolf Meidner beschreiben 1984 nicht einfach das schwedische Modell, sondern preisen es als anderen sozio-ökonomischen Systemen überlegen an;90 und das erwähnte Buch von Henrik Berggren und Lars Trägårdh feiert Schweden geradezu als Gipfel des zivilisatorischen Fortschritts.91 Noch in der heftigsten Selbstkritik drückt sich dieser Nationalismus aus. Ein anderer Klas85. Dass., ebd., S. 26. 86. Dass., ebd. S. 33 (Hervorh. im Orig.). 87. Dass., ebd. (Hervorh. von mir). 88. Wenige Jahre darauf lobt Gunnar die USA, weil sie einen außenstehenden Kritiker wie ihn sehr ernst nehme. Wie reagiere man dagegen, fragt er rhetorisch, in Schweden auf solche Kritiker? (Aftonbladet, 29.9.1974). 89. F. Böök, Det rika och fattiga Sverige, S. 8f. 90. A. Hedborg/R. Meidner, Folkhemsmodellen. 91. H. Berggren/L. Trägårdh, Är svensken människa? (siehe auch Kap. V).

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siker der schwedischen Literatur stammt aus dem Jahre 1911, ein Nebenprodukt der staatlichen Emigrationsstudie. Deren Leiter, Gustav Sundbärg, schrieb ein Büchlein, um die psychischen Grundlagen der bedrohlichen Emigration zu erforschen. Bereits im Erscheinungsjahr wurde die zwölfte Auflage gedruckt, es gilt bis heute als wichtiger Beitrag zur schwedischen Mentalitätsgeschichte.92 Vordergründig fällt es sehr kritisch aus. Sundbärg stört sich über 130 Seiten hinweg an Bequemlichkeit, Steif heit, Desinteresse, Menschenunkenntnis, Mißmut, Flachheit, Feigheit und mangelndem Nationalgefühl seiner Landsleute. Aber schon auf den ersten Seiten, als er eine Reihe positiver Eigenschaften skizziert, hat Sundbärg klar gemacht, wie seine eigentliche Botschaft lautet: Schweden ist das beste Land der Erde, aber es vergeudet sein Talent. Tapferkeit, Ritterlichkeit, Selbstopferung; Humanität, Organisationsvermögen und noble Rechtschaffenheit; freundliche Umgangsweise, Naturliebe und ein tiefverwurzelter Freiheitswille – das charakterisiert ihm die Nation, die, als sie beispielsweise im 12. Jahrhundert Finnland erobert hatte, die Beute zu einem gleichberechtigten Bruderland erzogen habe.93 »Und wo immer einmal schwedische Herrschaft ausgeübt wurde – wie in den Ostseeprovinzen, Pommern und anderswo – lebt sie in guter Erinnerung als Herrschaft der Gerechtigkeit und der Humanität fort, die dort niemals um des eigenen Vorteils Willen zu unterdrücken versuchte, sondern wohl, soweit möglich, zu entwickeln und zu heben.«94 Derart eingeordnet, erscheint Alva und Gunnars Haltung nicht außergewöhnlich. Auff ällig ist aber, gerade wegen ihres dezidiert reflektierenden Anspruchs, der blinde Fleck in ihrer Weltwahrnehmung, daß sie sich nämlich als Patrioten und Kosmopoliten fühlen, tatsächlich aber Nationalisten sind. In einem Promemorium zum Wiederauf bau in der Nachkriegszeit formuliert Alva diesen Zusammenhang, ohne ihn zu begreifen. Gerade wenn man die englische Wiederauf bauplanung anschaue, müsse Schweden die Sorge ergreifen, daß die eigene Nation im internationalen Vergleich zurückfallen könnte. Gleichzeitig jedoch erfahre es Schweden als Verlust für die Welt, daß in anderen Ländern so vieles schlechter gemacht wird, als es mit schwedischer Hilfe möglich wäre.95 Die Sorge um die eigene Nation kann man als Patriotismus bezeichnen. Der Glaube an die 92. G. Sundbärg, Det svenska folklynnet. 93. Ebd., S. 1-7. 94. Ebd., S. 3 (Hervorh. im Orig.). 95. So Alva in einem Promemorium an Sozialminister Gustav Möller, in dem sie ausführlich skizziert, wie Schweden in die Planung Nachkriegseuropas eingreifen sollte (Förtroligt P.M. till statsrådet Gustav Möller från A. Myrdal. London september 1941, Ms., Bl. 5 [ARAB 405/2.3:8]).

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Überlegenheit der eigenen Nation wird normalerweise als Nationalismus verstanden – nicht aber von Alva. »Nationalismus« ist für sie (und Gunnar) der Versuch, Partikularinteressen gegen andere Nationen durchzusetzen. In diesem Sinne können sie und ihr Mann sich den zahllosen konventionellen Nationalisten durchaus überlegen fühlen. Partikularinteressen vertreten sie in der Tat nicht – weil sie den Export des schwedischen Modells als Dienst an der Welt begreifen. In ihren Augen koppeln sie Patriotismus und Weltinteressen, tatsächlich aber vereinen sich bei ihnen Patriotismus, Nationalismus und Chauvinismus im Bild der vermeintlich selbstlosen, kosmopolitischen »Weltbürger«. Ihren Chauvinismus, das unreflektiert Intolerante ihres sozialen Sendungsbewußtseins, bemerken sie nicht. Denn allen Bekundungen zum Trotz, daß die Eigenheiten der zu entwickelnden Länder zu respektieren seien, gehen Alva und Gunnar letztlich stets davon aus, daß traditionale (also »irrationale«) Strukturen in diesen Ländern weitgehend zerbrochen werden müssen, um ihnen zu ihrem Besten (also schwedischen Verhaltensmustern) verhelfen zu können.96 Sie wollten zwar keine Militärs in die Welt schicken, aber doch ähnlich rücksichtslose Sozialexperten. Wie das Schweden der 30er Jahre, sollte nun die Welt an deren fürsorglicher Profession genesen.

5. Nationale Ikonen 1947, fast unmittelbar mit Gunnars Abreise zur ECE nach Genf, ändert sich sein Bild in den Medien. »Ein Mann versucht den Frieden zu retten«, titelt die Weltwoche,97 sinngemäß ist das auch der Tenor schwedischer Zeitungen. Natürlich gibt es weiterhin Kritik,98 doch daß er sich nun daran macht, die Probleme der Welt zu lösen, stößt in der Heimat überwiegend auf große Zustimmung. Jetzt faszinieren erneut seine Brillanz und schnelle Auffassungsgabe sowie der riesige administrative Apparat, den er zu leiten hat, die langen Flure in seiner Behörde, das babylonische Sprachgewirr, das einigende Ziel.99 Als Alva dann 1949 ihren hohen Posten bei der UN 96. Vgl. zum schwedischen Nationalismus auch P. Hall, Den svenskaste historien (S. 248-257 zu Sundbärg und seinen Nachfolgern). – Daß Sundbärg einen »Blut und Boden«-Nationalismus vertrat (ebd., S. 256 [dt. im Orig.]) ändert nichts an der Tatsache, daß er, wie die Myrdals und andere schwedische Nationalisten, eine friedliche und kulturelle Überlegenheit Schwedens postulierte. 97. Weltwoche, 25.7.1947. 98. Z.B. Bohuslänningen, 2.8.1947; Arbetaren, 2.8.1947; Sydsvenska Dagbladet, 28.6.1955. 99. Vi, 28.6.1947; Aftonbladet, 29.7.1947; Morgon-Tidningen, 1.10.1947; Ar-

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bekommt, greifen einige Blätter die Frage auf, ob ein steuerfreies Jahreseinkommen von 54.000 Kronen für eine Familie nicht ausreiche. »Dagens Nyheter« weiß zu berichten, daß einige UN-Mitarbeiter ungehalten sind, daß Alva nun dasselbe Gehalt wie Gunnar bekommt, weil normalerweise bei Heirat zweier UN-Mitarbeiter einem gekündigt werde.100 Eine andere Zeitung wärmt den Vorwurf auf, daß eigentlich Alva Gunnar steuere,101 erneut werfen sich andere Blätter gegen solche »ultrareaktionären« Angriffe in die Bresche.102 Aber auch bei Alva überwiegen nach kurzer Zeit die positiven Artikel.103 Schweden bekommt mitgeteilt: die Myrdals haben sich mit bekannter Effektivität der Welt angenommen. Äußerlich werden beide in den alten Schemata beschrieben, Gunnar als jugendlich und frei von jeder Attitüde, Alva als elegant-feminin, dabei noch immer das einstige Mädchen aus Eskilstuna. Ihrer beider Energie bringt die Umgebung geradezu zum Leuchten, Alvas persönliche Eigenschaften verschmelzen mit denen der schwedischen Nation. In der Arbeit rational, privat romantisch: »Schwedischer kann niemand sein.« 104 Mit Alvas Bestellung zur Botschafterin und Gunnars Ausscheiden aus der UN versiegt auch das letzte Rinnsal kritischer Artikel.105 Gunnar entrückt in den Status eines Weisen, der als einer der weltbesten Experten gilt, zu allem befragt wird, der nun in langen Photostrecken abgebildet wird, die ihn breit gestikulierend präsentieren. Als er für knapp zwei Tage im kanadischen Victoria weilt, empfiehlt er umgehend die Abschaff ung von drei der vier dortigen Verwaltungsbezirke, weil der Trend zu »bigger and more unified urban areas« gehe.106 Er spricht von sich gerne als Bauernsohn aus Dalarna, dessen Vorväter seit Urzeiten gegen die Vögte des Königs gefochten hätten. Daraus leitet er seine Berechtigung zu unverblümter Gesellschaftskritik ab,107 und immer, wenn Journalisten polternde Gesellschaftsbetet, 13.6.1948; Kvällsstunden, 13.11.1948; Frankfurter Hefte, 6, 1951, S. 275279; Expressen, 16.1.1954. 100. Dagens Nyheter, 7.1.1949. Das Skånska Aftonbladet (8.1.1949) mißgönnt ihnen das doppelte Gehalt zwar nicht, findet es aber merkwürdig. 101. Arbetar-Posten, 6.8.1949. 102. Morgon-Tidningen, 8.1.1949. 103. Expressen, 7.3.1950; Veckojournalen, 3.4.1954; Göteborgs Handelstidning, 23.6.1955; Lübecker Nachrichten, 3.7.1955; Basler Nachrichten, 29.7.1955; Idun, 26.9.1955. 104. Bonniers Månadstidning, April 1967; ähnlich Arbetet, 21.6.1955. 105. Vgl. div. Zeitungsartikel, 1956-1983 (ARAB 405/5.1.1:95-5.1.1:199). 106. The Daily Colonist, 21.5.1969. 107. Aftontidningen, 25.6.1950; Aftonbladet, 7.2.1971, 29.9.1974, 5.12.1978; Sörmlandsbygden, 25.7.1974; The Times, 19.7.1976; Land, 18.5.1979;

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kritik und saftige Zitate benötigen, bitten sie ihn um ein Gespräch (Abb. 23, 24). Alva dagegen wird aufgesucht, wenn es um Fragen der internationalen Sicherheit geht. Sie gilt als Praktikerin, wird regelmäßig unter die 25 beliebtesten Frauen Schwedens gewählt, und eine amerikanische Zeitung bescheinigt ihr eine Eisenhand im Samthandschuh. Sie sei der »softestspoken, gentlest woman diplomat of the whole present day battalion. The iron will beneath that pleasant exterior is only apparent through the things she’s done and is doing.« 108 Das Selbstlob Gunnars, wenn er sich zu den unterschiedlichsten Fragen zu Wort meldet, kennt kaum noch Grenzen. Genau berichten die Zeitungen über alles, was Alva und Gunnar öffentlich tun, gewissenhaft sammeln diese, was von ihren Taten kündet. Jeder Artikel, der sie nur erwähnt, wird verwahrt. Markiert wird, wenn Gunnar im Zusammenhang mit Camus, Kierkegaard oder Heinemann genannt oder Alva in Parlamentsanträgen positiv charakterisiert wird. Gunnar sammelt Anzeigen seiner Bücher mit ihren lobenden Werbetexten, Alva überliefert der Nachwelt, wenn sie ein Artikel nur als Tischdame erwähnt. Ted Kennedy will auf seiner Schwedenreise unbedingt Gunnar treffen, es wird, wie »Expressen« schreibt, der Höhepunkt von dessen Reise.109 Richard Sterner, enger Mitarbeiter und Freund Gunnars, darf eine vierteilige Artikelserie verfassen, in der er die 30er und 40er Jahre zur reinen Erfolgsgeschichte umschreibt.110 Kurz darauf räsoniert er, daß Gunnar für eine sachkundige Biographie zu groß geworden sei.111 Am Ende scheint Gunnar derart unkritisch geworden zu sein, daß er sich, allerdings schwerkrank, vom schwedischen Fernsehen für eine hölzerne, pro-kubanische Propagandasendung für Kinder rekrutieren läßt.112 Alva wird zu einer Art Nationalheiligen der Schweden. Sie darf in den Medien ausführlich über ihren Werdegang und ihre Wertvorstellungen berichten.113 Dabei bleibt sie an ihre Rolle als Frau gebunden, im doppelten Världen är hans arbetsfält, Sveriges Radio, P 4, 24.1.1967. Diese Stilisierung hatte er schon früher begonnen: »Ich bin ein Bauernjunge mit allen Wurzeln in der Erde. Für mich ist die Stadt genauso fremd wie das ganze Land [Schweden] für Dich« (Gunnar an Boris Tullander, 4.5.1931 [ARAB 405/3.2.1:10]). Bereits in einem Schulaufsatz von 1917 huldigt er dem Freiheitswillen des Dalfolket (S. Andersson, Gunnar Myrdal, Bl. 14). 108. Weekly Tribune, 13.8.1964. 109. Expressen, 19.9.1971. 110. Arbetet, 3.7., 5.7., 7.7., 9.7.1960. Ähnlich geschieht es mit Alva: Aftonbladet, 23.1.1972. 111. Julfacklan, 1961. 112. Vi pratar om Kuba, Sveriges Television, TV 2, 6.11.1982. 113. Aftonbladet, 23.1.1972, 18.7.1974, 24.1.1976; Fackföreningsrörelsen,

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Sinne. 1956 läßt »Bonniers Månadstidning« die Botschafterin Myrdal als Mannequin auftreten und ihren »nachahmenswerten Kleidungsstil« vorführen. Wie die Architektur solle Kleidung rein und von wohlabgestimmten Farben sein, diskret und leicht zu pflegen, verkündet ihr Model. »Das rechte Maß [Det lagoma] ist Alva Myrdals Signum geworden: hübsch, diskret, perfekt in Farbe und Form.« Ihren Sekretärinnen versucht sie ein Vorbild zu sein, so wird sie zitiert, denn allzu viele dieser jungen Mädchen verspielten rasch ihre beruflichen Chancen, weil sie sich durch zu auff ällig-geschmacklose Kleidung blamierten.114 Zehn Jahre später beklagt Alva sich in der »Svensk Damtidning«, daß Frauen zu oft Berufe wählen, in denen sie vor allem liebenswert, dienend und aufgeputzt sein müssen. »Schöne Botschafterin ist der Geschlechterrollendebatten leid«, titelt die Zeitschrift den Artikel und beschreibt Alva als »hübscheste Botschafterin Schwedens«, von allen bewundert, elegant gekleidet, 20 Jahre jünger aussehend.115 »Hübsche Mädchen sind selten begabt«, habe es früher geheißen. »Nun ist das anders. Auch die hübschen Mädchen dürfen gerne einen Kopf auf dem Rumpf haben.« So beginnt ein anderer Bericht über Alva, die auf diese Weise, wie viele kompetente Frauen, zum tüchtigen Mädchen reduziert wird – »tüchtig« konnotiert kindlich-eifrig, und ein »Mädchen« ist keine dem Manne ebenbürtige Erwachsene.116 Und Alva bedient die Klischees. Gerade weil feminine Kleidung und Unterordnung der Frauen für sie so eng zusammenhängen, fordert sie ein diskretes Äußeres; die ästhetische Perfektion wiederum soll Geschmack beweisen und damit auf inhaltliche Kompetenz schließen lassen. In Alvas Augen ist das ein Weg zur Emanzipation – während den Medien die Oberfläche weiterhin dazu dient, die klassischen Geschlechterrollenbilder zu perpetuieren.117 Sie verkündet sogar ungerührt, daß sie als Frau immer zwischen interessanten Herren zu sitzen komme. »Wäre ich selbst Mann gewesen, hätte ich riskiert, mit einer langweiligen Dame am Tisch zu sitzen, die vielleicht nicht einmal Sprachen kann!« 118 Und sie bekommt das Wechselgeld in gleicher 28.6.1973; Husmodern, 20.8., 27.8.1973; Folket, 9.10.1973, Veckojournalen, 18.6.1974; Hänt, 5.6.1980; Året runt, 28.7.1980. 114. Bonniers Månadstidning, Januar/Februar 1956. 115. Svensk Damtidning, 25.5.1966. 116. Hemmets Veckotidning, 3.2.1956. 117. Kein einziger Mann wird in irgendeinem Artikel auf diese Weise als Mann charakterisiert. Wenn beispielsweise Gunnars jugendliches und schickes Aussehen beschrieben wird, dann verleiht ihm das oft eine Note als Frauenheld. Dagegen kann gleich eine ganze Riege von hohen UN-Beamtinnen in erster Linie als Frauen gemustert werden (Idun, 10.11.1949). 118. Idun-Veckojournalen, 9.9.1966. – In handschriftliche Korrekturen an

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Währung. Noch die 65jährige wird ungeniert als ehrgeiziges Schulmädchen bezeichnet, das erklären darf, wie es sich manchmal erfolgreich vor den Hausaufgaben drückt.119 Regelmäßig wird betont, daß sie nichts gegen Hausarbeit hat; deutsche Zeitungen sind dankbar, sie schon in der Überschrift als »Bewährte Diplomatin, Mutter und Hausfrau« vorstellen zu dürfen;120 und wenn sie als frisch ernannte Ministerin zur Pressekonferenz ins private Heim lädt, wird sie Waffeln backend gezeigt, nicht Gunnar.121 Beide Seiten bewegen sich im selben Sprach- und Bildspiel. Alva nutzt Insignien der Weiblichkeit, um die Rollenmuster verändern zu können, die Zeitschriften stellen diese überkommenen Rollenmuster heraus, um den Wandel erträglicher zu machen. Schließlich wird die Ehe seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre als glücklich und ein lebenslanger, kreativer Dialog thematisiert. Bereits vor 30 Jahren hätten beide gewußt, wie eine Ehe heute, 1967, aussehen solle, schreibt »Expressen«. Der knapp 50 Jahre lange Aushandlungsprozeß der beiden wird von der Zeitung und den Myrdals auf sein Ergebnis reduziert: daß beide Partner ihre eigenen beruflichen Wege gehen (nachdem die Frau die Lebensphase der Mutterschaft durchlaufen hat) und die Ehe einen sozialen Umgang etabliert, der zu einem echten Gemeinschaftserlebnis vertieft werden kann.122 Gunnar, so heißt es, habe es weder unter seiner Würde noch besonders schwer gefunden, sich zeitweise an den Arbeitsort seiner Frau anzupassen.123 Sie selbst gibt zu Protokoll, daß Gunnar immer an ihrer Seite gestanden habe – »er sollte Ehrenmitglied in allen Frauenorganisationen werden.« 124 Sie leben, sagt sie, wie sie es immer propagiert haben, mit geteilter Hausarbeit. Gunnar bereitet das Frühstück, sie kocht das den gedruckten Artikeln behauptet Alva zuweilen, daß ihr Behauptungen in den Mund gelegt worden seien. 119. Bonniers Månadstidning, April 1967. Ähnlich: Dala-Demokraten, 26.9.1968. 120. Sonntagsblatt (Hamburg), 19.3.1967; ähnlich: Lübecker Nachrichten, 3.7.1955. 121. Dagens Nyheter, 29.12.1966. 122. Expressen, 29.1.1967. – Das ist genau die Vorstellung, die Henrik Berggren und Lars Trägårdh 2006 dann zur »schwedischen Theorie von Liebe« enthistorisiert und überhöht haben (siehe Kap. V). 123. Die Presse, 29.1.1972. 124. Husmodern, 27.8.1973. Der »Feminist« Gunnar pflegte allerdings den bis heute zitierten Scherz zu erzählen, daß er und John Kenneth Galbraith alle Probleme Asiens lösen könnten, würden sie sich nur ein Wochenende mit fünf süßen Sekretärinnen auf eine Hütte zurückziehen (Asiatiskt drama, Sveriges Radio, TV 1, 13.5.1968).

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Abendessen.125 Er selbst überbrückt alle Differenzen noch einmal, wenn er in einem Interview ihre erste Begegnung im Jahre 1919 schildert, um dann Alvas jüngstes, die früheren Illusionen umschiffendes Ehemodell zum Teil einer positiven Kontinuität zu machen: »Well, we have been together ever since. Sometimes we have been in different parts of the world, but we have always written long letters, like sister ships giving signals to each other.«126 (Abb. 25-28).

6. Keine Autobiographie Spätestens mit dem Abschied von ihren Ämtern beginnen Personen des öffentlichen Lebens oft, an die Abfassung ihrer Autobiographie zu denken. Da Gunnar und Alva seit 1967 bzw. 1973 nur offiziell »Volkspensionäre« sind, tatsächlich aber ununterbrochen weiterarbeiten, finden sie nie die Zeit zu einem solchen Werk, das die eigenen Leistungen resümiert. Gunnar veröffentlicht eine Aufsatzsammlung unter dem expliziten Titel »I stället för memoarer« (»An Stelle von Memoiren«), da er im Rückblick auf sein Leben mehr an den wissenschaftlichen Problemen, mit denen er gerungen habe, als an seinen Erlebnissen interessiert sei.127 In einer Fußnote weist er zwar auf verstreute autobiographische Fragmente hin, doch der Drang, der Nachwelt eine Erfolgsbilanz des eigenen Lebens vorzulegen, schlägt sich nicht in einem Werk Cassel’scher Art nieder (auch wenn er diesem in Großspurigkeit in nichts nachsteht). Alva nimmt zwei Anläufe, um eine Autobiographie zu schreiben. Der zweite findet in den 80er Jahren statt und kommt über eine Zusammenstellung ausgewählter Dokumente und 125. Expressen, 23.2.1974. Vgl. auch Svensk Damtidning, 25.11.1975; Dagens Nyheter, 3.12.1978; People Weekly, 11.8.1980; Aftonbladet, 28.7.1981. In einer Fernsehdokumentation über Gunnars Leben erwähnt Alva die Schwierigkeiten ihrer Ehe nicht einmal andeutungsweise (Världen är hans arbetsfält, Sveriges Radio, P 4, 24.1.1967). An anderer Stelle gibt sie zu, daß Gunnar keine große Hilfe im Haushalt war, und daß sie diese Arbeit nur Dank ihrer Hausmädchen geschafft hat (L. Kjølsrød, Rasjonalistiske utopier er det vi trenger!, S. 11). 126. The Times, 19.7.1976. Er scheint sich der Differenzen aber bewußt gewesen zu sein. 1962, in einem Fernsehinterview hatte er nämlich mit – im Vergleich zum restlichen Gespräch – auffällig zögerlichen Worten beschrieben, daß Alva ihre Ehe mit »Consort Battleships« vergleiche und er davon ausgehe, daß sie wieder in denselben Hafen einlaufen würden (I svaromål, Sveriges Radio, 16.10.1962). 127. G. Myrdal, I stället för memoarer, S. 9f.

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Daten aus ihren Terminkalendern – Verabredungen, Vorträge oder Umzüge – nicht hinaus. Es ist unklar, ob sie eine konventionelle Autobiographie geplant hat. Der erste Versuch hätte zahllose Leser, die ein chronologisches Narrativ von Handlungen, Ereignissen und Begegnungen (oder auch pikante Enthüllungen) erwartet hätten, enttäuscht. Sie beginnt 1944, ein Wachstuchheft mit Erinnerungen zu füllen, insgesamt gut 150 Blatt. Ein rudimentäres zweites Heft schließt sich an, es greift mit 18 beschriebenen Blättern auf die 50er Jahre aus.128 Im ersten Heft zeigt gleich der erste Eintrag, wohin die Reise in die Vergangenheit möglicherweise hätte gehen sollen. Alva beginnt mit dem detaillierten Bericht eines Traumas, das ihre gesamte Kindheit beherrscht habe; erst nach 30 Jahren habe sie die zugrundeliegende Episode anderen Menschen berichten können. Als Erstkläßlerin trägt sie einer Kameradin das Schulbuch nach Hause. Als sie sich trennen, vergißt sie, das Buch zurückzugeben. Sie kann ihr nicht nach Hause folgen (wußte möglicherweise nicht, wo sie wohnt), aber auch nicht das Buch zu sich mitnehmen. Ihre Mutter packt den Ranzen, sie würde über diese Unachtsamkeit schimpfen, sähe sie zwei Schulbücher. Alva könnte die Situation nicht beherrschen. Sie versteckt das Buch auf der Kellertreppe eines Nachbarhauses, und es kommt, wie es der Leser bereits ahnen mag, am nächsten Tag ist es verschwunden. Erneut kann sie sich nicht offenbaren. Der Lehrerin präsentiert sie die nächsten zwei Wochen immer absurdere und, um die Glaubwürdigkeit zu steigern, variierende (!) Lügengeschichten. Die Lehrerin läßt sie gewähren, dann ruft sie die Eltern an; Alva wird als verstockte Lügnerin vor der ganzen Klasse abgestraft. Als die Familie dann mehrfach umzieht, hat das Elend kein Ende, denn Alva befürchtet, daß jede neue Schule von ihrer Schandtat unterrichtet werde. Nun folgt sie ihrem Weg zurück, um zu klären, warum sie nie ein hinreichend vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Eltern hatte gewinnen können, das es ihr möglich gemacht hätte, ihr Versäumnis gleich zu Beginn einzugestehen – die schon als Zweijährige verspürte Unfähigkeit, ihre Wünsche ausdrücken zu können; die Geburt eines Bruders, so daß die gesundheitlich angeschlagene Mutter sich kaum noch um Alva kümmern kann; der durchaus warmherzige, aber sehr verschlossene Vater; das Feuerwehrauto, das der Bruder zu Weihnachten bekommt, während Alva mit einem langweiligen Küchenherd bedacht wird; lang anhaltende Schuldge128. Alva Myrdal, Självbiografi, zwei Wachstuchhefte, 1944-1952 (ARAB 405/6.3.1:9). Möglicherweise handelt es sich bei diesem Versuch nur um Fingerübungen oder ein Tagebuch mit dem Titel »Autobiographie«, dessen Einträge von vornherein eher für Alva selbst denn einen breiten Leserkreis gedacht waren.

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fühle für verschiedene Vergehen; die Scham gegenüber einer weniger gutgestellten Freundin für ihr geräumiges Haus mit elektrischem Licht und goldenen Zierleisten; ein weiterer Bruder, dessen Existenz sie ein halbes Jahr lang vollkommen negiert und den sie, weil ungetauft, »Heidenhund« nennt (und der Ärger über die Eltern, die die Schwangerschaft bis zur Geburt zu verheimlichen suchten); weitere absurde Lügen (sie leugnet die Existenz des Bruders noch, als ihre Umwelt die Mutter schon mit Kinderwagen gesehen hat). Der Text ist nicht konsistent. In die Erklärungen für ihren Charakter mischen sich eine Reihe zunehmend längerer und eher konventioneller Passagen, die von ihrer sexuellen Entwicklung, der Pubertät, Religiosität, Lektüre, ihrem erwachenden politischen Interesse, der Freundschaft mit Märta Arnesen oder der Schule berichten. Später geht sie dazu über, ihr feministisches Interesse (kvinnosaksintresset) aus ihrer Kindheit herzuleiten, aber auch ihr lebenslanges Gefühl der Begrenzung. Die ersten 75 Blatt hat sie im April und Mai 1944 gefüllt. Im einleitenden Satz ermahnt sie sich, die Aufzeichnungen unverzüglich aufzunehmen, »so daß der Stoff sich nicht nach Prinzipien zu ordnen beginnt«. Doch am Anfang steht ein Kindheitstrauma! Stärker kann eine Autobiographie gar nicht durch ein Muster formatiert sein. Allerdings läßt sich dieser Einstieg auf gleich zwei Weisen lesen. Einmal als »Ursprung« eines Charakterzuges, der sich durch Alvas gesamtes Leben zieht: zu vertuschen, was unangenehm ist, und so zu tun, als sei nichts gewesen, statt die Dinge offen auszusprechen. Das ist eine konventionelle biographische Lesart, die durchaus nicht unplausibel ist. Mehrfach taucht in späteren Texten und Briefen das Motiv des Verschweigens auf, persönliche Aggressionen habe sie gelernt zu objektivieren, sagt sie,129 und zahlreiche Bemerkungen gerade in den Briefen, in denen sie Gunnar immer wieder zur Auseinandersetzung fordert, zeigen, daß zwischen beiden vieles ungesagt blieb. Die Tochter Sissela, eine ausgebildete Psychologin, hat dieses »Urtrauma« eines absurd sich auftürmenden Lügengebäudes gewissermaßen mit Alvas (und Gunnars) späterem technokratischen Denken zu einer Pathologie des Lügens verschmolzen. In einer Studie schreibt sie, daß kleine Lügen erklärbar sein mögen, aber nicht entschuldbar sind. Sie können sich kumulativ bis zur Erosion des Gesellschaftssystems auswachsen. Selbst Placebos, die Patienten verabreicht werden, zerstören das Vertrauen, das zum Zusammenleben notwendig ist.130 In Alvas Urtrauma kann man deshalb sogar ein generationenübergreifendes Muster angelegt sehen, denn Sissela 129. »Ich überführe diese Wut von der persönlichen Ebene in etwas, das allgemeingültiger ist« (Husmodern, 27.8.1973; ähnlich: Veckojournalen, 18.6.1974). 130. S. Bok, Lügen.

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Boks übertriebene Angst vor der destruktiven Wirkung von Lügen und der Glaube an die Rationalität rückhaltloser Offenheit ist das Gegenbild zum Leben ihrer Mutter – und zugleich aus deren Weltbild gewonnen. Die zweite Lesart geht in eine andere Richtung. Offenbar hätte diese Autobiographie weniger von Alvas Erfolgen in der Welt berichtet als vielmehr in ihr Inneres geführt. Und diese Selbstanalyse wiederum, das legt die erste Episode nahe, wäre als Kommentar zu ihrem Erziehungsprogramm zu lesen gewesen. Sie hätte an sich selbst vorgeführt, wie kompliziert Kinder sind, und wie wenig ihnen veraltete, autoritäre Erziehungsmethoden gerecht werden. Es wäre eine suggestive und höchst eindrückliche Beweisführung für eine moderne Pädagogik geworden, eine Art »Experimentalbeschreibung« zur Untermauerung einer neuen Theorie. Sie hält diesen vielversprechenden Ansatz allerdings nicht lange durch. Nach dem Trauma, ihren Eltern und den konventionelleren Passagen über ihre Jugendzeit kommt sie auf die Frauenfrage und damit auf ihre Situation in den 40er Jahren zu sprechen, auf die Ambivalenz, in der Liebe ganz dem weiblichen Geschlechterklischee gemäß hingebungsvoll zu reagieren, zugleich aber nicht das geringste Interesse an den für Frauen zurechtgeschnittenen Rollenmustern zu haben. Schon als Jugendliche habe sie parat gestanden, sich zu verlieben, gleichzeitig Angst gehabt, anschließend »nur verheiratet« zu sein. Isolierung, Unproduktivität, Abhängigkeit und das Nichtanregende stießen sie am Hausfrauendasein ab. »Also: biologisch-erotisch vollkommen glücklich mit einer weiblichen Rolle; geistig-aktiv ganz eingestellt auf eine männliche Rolle. ›Ganz‹ ist eine Übertreibung; das Dilemma selbst und der Zwang der Gesellschaftsordnung [världens arrangemang] führen dazu, die Begrenzung bewußt zu machen. Eine Menge emotionaler Energie, die der Arbeit und dem eigentlichen Leben zu Gute kommen sollten, gehen für den Kampf gegen die künstlichen Schranken, die dem weiblichen Geschlecht gesetzt werden, drauf. (Auf diesem Gebiet, könnte ich mir denken, habe ich noch eine Rechnung offen; just die emotionale Verzerrung [snedvridning] zu studieren, die der weiblichen Psyche zugefügt wird. Das ist in allzu großer Müdigkeit geschrieben, um klar zu sein.)« 131 Parallel zum autobiographischen Fragment zeichnet sie Träume auf. Sie handeln von merkwürdigen Geschichten und komischen Zusammenhängen; rasche Schnitte fügen disparate Ereignisse zu bizarren Narrativen zusammen. Bei einer Reihe von Episoden drängen sich naheliegende Charakteranalysen geradezu auf, etwa bei jener Toilette Sven Markelius’, deren Abwasser in einen durch Glas sichtbaren Wasserfall stürzt – aber nur reines Wasser fließt dort. Persönliche Hygiene, Mentalhygiene, der Komplex Mo131. Alva Myrdal, Självbiografi, zwei Wachstuchhefte, 1944-1952, H. 1, Bl. 73f. (ARAB 405/6.3.1:9 [Hervorh. im Orig.]).

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derne und Hygiene böten sich an; Alva verzichtet jedoch durchgehend auf eine Analyse. Einmal löst sich ein Traum auf eine, wie sie schreibt, Freuds Theorie bestätigende Weise auf – ob sie so träumt, weil sie Freud liest, diskutiert sie nicht. Sie notiert die Träume und korreliert sie ausschließlich mit ihren Erlebnissen der jeweiligen Vortage. »Träume voll tagesaktuellen Stoffs«, schreibt sie.132 Nicht einmal in einer gewollt unkonventionellen Autobiographie wäre das spannend gewesen, weil sie die Verarbeitung ihres Alltags in Träumen nicht zu etwas Überpersönlichem generalisiert.133 Vielleicht hat das mit ihrer Skepsis Freud gegenüber zu tun. Das Manuskript ihrer Kritik seiner Traumdeutung (1929 und 1934) schließt sie mit der Bemerkung, daß es ihm an der Fähigkeit gemangelt habe, selbstkritisch und Schritt für Schritt seine Schlüsse und Hypothesen logisch zusammenzufassen. Was er mit großartiger Einbildungskraft eher intuitiv an Erkenntnissen gewonnen habe, habe zu einem »verwegenen« und anregenden Angriff auf die Mauer kompakten Unwissens geführt, die die Psychologie der Träume umgebe. Doch seine wenig intelligenten Epigonen überhöhten seine Konstruktionen fast schon religiös und führten sie damit in die Sterilität. Um unter allen Übertreibungen Freuds einen positiven Rest freilegen zu können, müsse »eine kritisch-logische Reinigungs- und Auf bauarbeit einsetzen, […] um die Psychoanalytiker auf das Niveau wissenschaftlicher Methodik zu bringen, auf dem logischer Zusammenhang und empirische Verifizierung gefordert sind – und nicht bloß Phantasie und Glauben.«134 Sie selbst leistet diese Reinigungsarbeit nicht, nutzt Freud auch nicht weiter in ihrem sozialpolitischen Engagement, ebensowenig für ihre Autobiographie. Letztlich ist die Soziologie ein wesentlich wichtigeres Instrument für sie als die Psychoanalyse. Alle ihre Texte machen deutlich, daß Probleme für sie erst dann sichtbar und relevant werden, wenn sie in Statistiken transformierbar sind. Zu einem solchen vermeintlich »harten« und »präzisen« Instrument läßt sich Freuds Lehre nicht ummodeln. Ihre Autobiographie exemplarisch zu nutzen – so wie sie das mit ihren Wohnungen und ihrer Ehe macht –, um ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen zu transportieren, scheint Alva deshalb nicht lange zu reizen. Das zweite Heft dient denn schon wieder als Tagebuch, allerdings nur für drei Episoden. In der ersten, im Dezember 1944, kommt sie zum Schluß, daß Gunnar sie möglicherweise nicht wirklich mag, wenn er sie mit anderen Frauen vergleicht. Und sie erträgt es nicht länger, die glückliche Hausfrau zu spie132. Ebd., Bl. 191. 133. Ähnlich hält es übrigens Simone de Beauvoir in ihren Erinnerungen: S. de Beauvoir, Alles in allem, S. 106-122. 134. Alva Myrdal, Utkast till en kritik av Freuds drömlära (zweite Fassung), o.D. [1934], Ms., Bl. 132f., Zitat Bl. 133 (ARAB 405/4.1:1).

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len, von Gunnar als Animateur (glädjefödare), der gleichwohl regelmäßig versage, angestellt zu sein, außerdem als diejenige zu gelten, die das Glück aus ihrer beider Leben vertrieben habe. Sie erwägt die Scheidung. Wenige Tage darauf spielt die zweite Episode, sie handelt von ihrem Berufsleben. Es gibt eine ungute Intrige in einer Kommission zur Gleichstellungsfrage (»Kommittén för ökad kvinnorepresentation«), und sie überlegt, ob sie sich nicht grundsätzlich von Aufträgen zurückziehen soll, bei denen sie ihre Energie erfolglos vergeudet. Knapp acht Jahre später der dritte Eintrag, vom 30. August 1952. Sie hat beim Auszug aus der Genfer Villa die Hefte gefunden. Sie begreift, notiert sie, die Notwendigkeit, warum sie ausgebrochen ist, um auf eigene Faust zu leben und zu arbeiten. »Die Balance zwischen Gunnar und mir scheint fast immer unausgeglichen gewesen zu sein, trotzdem anderes so sehr schön gewesen war. Nach der Passivität, mit der ich offenbar in den 20er Jahren reagiert habe, und der auflodernden äußeren Aktivität in den 30er Jahren, waren die 40er Jahre eine abwartende, ungeduldige Zeit. Man kann sich fragen, wieviel anders gewesen wäre, wenn die frühen Ansätze zu Aktivität, gegründet in Selbstvertrauen, ihren normalen Weg hätten nehmen können. […] Aber in dem Maße, wie die Ehe ein Abweichen vom eigenen Entwicklungsweg bedeutete, soll doch trotzdem immer hervorgehoben werden, wie viel anderes an guten Dingen sie mit sich brachte. Hier und jetzt habe ich keine Lust, einen vollständigen Abschluß zu machen. Wollte nur sicherstellen, daß die vorhergehenden Tagebuchblätter nicht als das letzte überlassen bleiben, was ich über mich und Meines zu sagen habe.« 135

135. Alva Myrdal, Självbiografi, zwei Wachstuchhefte, 1944-1952, H. 2, Bl. 17f. (ARAB 405/6.3.1:9).

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1. Piktogrammatische Bilder Die gesamte Moderne durchzieht das Bemühen, mit Bildern sichtbar zu machen, was der menschlichen Erfahrung nicht zugänglich ist, sei es, weil sich physische Vorgänge dem Auge bzw. Bewußtsein entziehen, sei es, weil die geographische Distanz zu groß ist. Das konnten die in Einzelbilder zerlegte Bewegung eines galoppierenden Pferdes sein, das in Bewegungsschemata transferierte verschachtelte Wesen der Hausarbeit, die eigene Nation, die durch staatlich initiierte Dokumentarfi lme und Reisen plastisch wird, oder die »dunklen Kontinente«, die heruntergekommenen Viertel einer Großstadt, die sich, wie die Stadtsoziologie gezeigt hat, bereits wenige hundert Meter entfernt von den vornehmen Stadtzentren auftun. Durch das Auge sollte das Bewußtsein erreicht werden, denn wenn das Medium Bild richtig genutzt werde, so die Überzeugung, ließen sich komplexe Verhältnisse übersichtlich und eindringlich darstellen, bewußt machen und dann reformieren. Der visuellen Kraft dessen, was buchstäblich vor Augen geführt wurde, ließ sich nur schwer begegnen. Bilder sind also, wenn man so will, eine Fortsetzung der Argumentation mit propagandistisch schlagkräftigen Mitteln. Allerdings sollten wir bei Bildern nicht nur an die gängigen Medien denken, also an Photographien, Gemälde oder Zeichnungen. Vielmehr evozieren Metaphern, Symbole, Allegorien, Vergleiche, Analogien und Modelle, Organigramme, Tabellen, Skizzen, Kurven und Grundrisse ebenfalls Bilder. Selbst Gegenstände können zum Bild werden, etwa die amerikanischen Staudämme und Freeways, die den heroischen Optimismus des New Deal visualisieren, die Stromlinienform, die »flüsternde« Geschwindigkeit verheißt, die sans serife-Schrift oder große Glasflächen, die eine leichte, reine Moderne demonstrieren. Durch sich wiederholende Praktiken entstehen Bilder performativ, wenn sich beispielsweise vor den Augen der Touristen (und durch die begleitende bildlich-literarische Produktion) die 349

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Eindrücke einer Reise zum Bild der Nation verdichten. All diese einfachen oder vielfach zusammengesetzten Abbildungen präsentieren einen Teil der Wirklichkeit aus ihrer je eigenen Perspektive. Sie gehen Allianzen untereinander und mit den »eigentlichen« Bildträgern ein und können auf diese Weise eine eigene diskursive Struktur ausbilden, die ein Eigenleben zu führen und die Wahrnehmung der Menschen zu strukturieren beginnt.1 Deshalb sind die folgenden Abbildungen nicht einfach als Illustrationen zu betrachten, denn für meine Argumentation ist es unerheblich zu wissen, wie ein Konsum-Geschäft oder Alva und Gunnar Myrdal ausgesehen haben. Wesentlich wichtiger ist, daß diese Bilder Gestaltungen des Abgebildeten sind. Sie sollten deshalb, über den reinen Informationswert hinaus, auf drei Weisen gelesen werden: zuerst als spezifische Präsentation eines Gegenstandes – wie sollte etwas gezeigt werden und wie wurden oder konnten die Bilder wahrgenommen werden?2 Alva und Gunnar sind auf solchen Bildern nicht einfach ein junges Ehepaar, das abgelichtet wurde, sondern man sah, im Kontext anderer Bilder, ein »amerikanisches« Paar, das kongenial zum Funktionalismus paßte. Dann als gesellschaftspolitisches Instrument. Sozialingenieure waren sich der gestalterischen Kraft von Photographien und Graphiken im höchsten Maße bewußt, und sie setzten sie gezielt ein, um ihren vertexteten Botschaften suggestive Durchschlagkraft zu verleihen – wenn sie sie nicht ohnehin als Abkürzung nutzten: »Bilder sagen mehr als Worte« (Gotthard Johansson). Schließlich als Teil meiner Argumentation, die die Machtpotentiale von Bildern analysiert, um Denkstrukturen sichtbar zu machen, die die damaligen Protagonisten nur verschleiert oder gar nicht wahrgenommen haben. Grundsätzlich scheinen diese Abbildungen »leer« zu sein. Zweifellos wollten die Produzenten etwas zeigen. Aber es ist der Betrachter, der etwas in den Bildern sieht. Sie haben noch nicht einmal illustrativen Charakter, wenn er sie als langweilig oder irrelevant empfindet. Bilder werden doppelt mit Bedeutung geladen, durch Produzenten wie Rezipienten. Während Ersterer in seinem Bild zumeist eine eindeutige Botschaft erkennen wird, kann Letzterer das Motiv auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, als Information, als ästhetisches Erlebnis oder als politische Botschaft. Diese Botschaft wiederum kann vollkommen konträr gedeutet werden, Seriali1. Vgl. P. Geimer, Ordnungen der Sichtbarkeit; H. Gerndt/M. Haibl, Der Bilderalltag; D. Gugerli/B. Orland, Ganz normale Bilder; U. Pörksen, Weltmarkt der Bilder. 2. H. Gerndt, Bildüberlieferung und Bildpraxis, S. 18, 25, unterscheidet drei Ebenen: Materialität (Bildobjekt), Visualität (Bilddarstellung) und Visionalität (Bildvorstellung) bzw. Ausdrucksfeld (Abbildung), Bedeutungsfeld (Sinn) und Handlungsfeld (Zweck).

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sierung etwa als Uniformität oder als geordnete Welt, als rein technisches Instrument, den Überblick zu behalten, oder als ideell und sozial harmonisierte Gesellschaftsstruktur. Mögen die Bilder also in diesem Sinne »leer« sein, so läßt sich ihre Aufladung durch die Produzenten doch formatieren. Das geschieht einmal durch die eher unbewußte Wiederholung derselben Motive auf der Bild- und Sprachebene, beispielsweise die durch Photographien illustrierte fortwährende Beschreibung Alvas und Gunnars als »amerikanisch«, samt der dazugehörenden Gegenbilder – explizit das des »altmodischen Professors« (der allerdings nie mit einer konkreten Person identifiziert wird), implizit das der traditionellen Ehe (die ebensowenig vorgeführt wird). Weil die Medien in Verhandlung der Moderne ihren Lesern ein konkretes »modernes« Ehepaar vorführen wollten, weil »amerikanisch« ein Synonym für »modern« war, und weil sie mit Alva und Gunnar Myrdal ein Paar gefunden hatten, das sich auf das Spiel einließ, konnten diese visuell (bildlichsprachlich) als »progressive« Ehe gestaltet werden. Die Formatierung kann jedoch zum andern durch eine gezielte Bildpolitik geschehen, und um die bemühten sich Sozialingenieure sehr intensiv. Die Bilder, die das social engineering einsetzte, haben geradezu den Charakter von Piktogrammen. So wie der Totenkopf auf der Flasche oder das Fahrkartensymbol im Bahnhof dem Nutzer signalisiert, wo Gefahr droht oder der Schalter zu fi nden ist, so sollen die durch Sozialingenieure verwendeten Abbildungen dem Betrachter auf einen Blick signalisieren, wie Unordnung aussieht oder eine gut geplante Sozialstruktur. Durch die stete Verwendung des Gegensatzes von dunkel und hell konnte die Wahrnehmung der Moderne auf eine spezifische Weise strukturiert werden. Dunkle, oft flächig schwarze Abbildungen zeigen die gedrängte, unhygienische, sozial desintegrierende Welt der Hochindustrialisierung, helle Strichzeichnungen die lichte, luftige, sozial integrierte Welt der Zukunft. Dieses Bildprogramm ließ sich in verschiedenen Bildmedien transportieren, in Grundrissen, Zeichnungen, Photographien oder sprachlich, immer wieder wurde so die zeitliche Bewegung von einer negativen Vergangenheit (und Gegenwart) in eine positive Zukunft visualisiert und in einen moralischen Imperativ transformiert. Die Piktogramme führten damit nicht mehr allein schlagkräftig vor Augen, was »gut« und »schlecht« war, sondern sie waren bereits Teil der angestrebten guten Ordnung. Eine prospektive Abbildung der vernünftigen Zukunft diente als Blaupause für die zu verwirklichende Ordnung, sie formulierte die Handlungsanweisung an Experten in moralischen Kategorien, und sie überzeugte die übrigen Betrachter von den unhaltbaren Zuständen und dem einzuschlagenden Weg. Deshalb müssen wir, wenn wir Texte von Sozialingenieuren lesen, auf die Illustrationen achten – weil sie dezidiert mehr sind als reine Abbildungen. 351

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Sozialingenieure wußten, daß ihre Bilder so ideal nicht funktionieren würden. Deshalb versahen sie sie mit begleitenden Texten, um »Fehlrezeption« zu reduzieren. Durch die Bild-Text-Kombination sowie die Wiederholung sollten die Bilder ihre suggestive, die Wahrnehmung der Welt strukturierende Macht entfalten. Trotzdem blieben sie so offen, daß sie auch anders gelesen, sogar als Piktogramm einer völlig entgegengesetzten Aussage verwendet werden konnten. Diese Offenheit werde ich in den folgenden fünf Abschnitten allerdings weniger thematisieren. Ich werde durch eine Auswahl von Abbildungen zu zeigen versuchen, wie Bildproduzenten Bildprogramme entwarfen, wie Sozialingenieure »leere« Bilder mit Bedeutung füllten, und was sie selbst – ausweislich ihrer Bildtexte zumindest – in den Bildern sahen. Der erste Abschnitt zu Alva und Gunnar Myrdal reproduziert dabei die Perspektive der Tageszeitungen und Zeitschriften, die folgenden Abschnitte zu Erziehung, Moderne, Funktionalismus und Normalisierung vor allem die von Sozialingenieuren, teilweise die der Massenmedien.

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2. Alva und Gunnar Myrdal

Abb. 1: Das erste Pressebild zeigt Alva und Gunnar in ihrer funktionalistisch eingerichteten Wohnung am Kungsholmsstrand in Stockholm. Man beachte, wie auf den weiteren Bildern, Plazierung und Körperhaltung der beiden. Gunnar sitzt, mit lässig übereinander geschlagenen Beinen, zurückgelehnt in einem Sessel und ist offensichtlich in ein Papier vertieft. Alva sitzt in aufrechtdamenhafter Haltung auf einer Liege, sie hält ein halb aufgeschlagenes Buch in der Hand und blickt in Richtung der Kamera. Gunnar scheint wie zufällig vor die Kamera geraten zu sein, seine Frau posiert deutlich. Der Bildtext lautet: »Der Dozent Gunnar Myrdal und seine Frau, geborene Reimer, sind nun zurück aus Genf und wohnen in einer richtigen Funkis-Umgebung am Kungsholmsstrand« (Idun, 8.11.1931).

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Abb. 2: Alva Myrdal. Das ist ein für die 30er Jahre typisches Portraitphoto, das durch Weichzeichner und elegischen Blick die Weiblichkeit Alvas unterstreicht. Andere Frauen werden zu dieser Zeit auf die gleiche Weise in Szene gesetzt (Studio Wahlberg, 1933 [ARAB]).

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Abb. 3, 4: Zweimal Gunnar Myrdal. Das linke, 1931 vom renommierten Studio Riwkin aufgenommene Bild entspricht nicht ganz seinem Image, das in Texten evoziert wird; vermutlich aus Kostengründen wurde aber dieses Klischee mehrfach von verschiedenen Zeitungen reproduziert. Es läßt Gunnar durch die halbverschlossenen Augen, das zurückgekämmte Haar und die hohe Stirn einem sentimentalischen Stummfilmschauspieler ähneln. Das Bild steht noch in der ästhetischen Tradition der Kunstphotographie um die Jahrhundertwende, während das rechte Bild (Photograph und Aufnahmedatum unbekannt) ihn sehr viel »moderner« und »amerikanischer« zeigt, so wie er in zahlreichen Zeitungsartikeln beschrieben wird. Der Blick ist direkt und freundlich, der Weichzeichner fehlt (beide ARAB).

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Abb. 5: Alva hält einen Vortrag, vermutlich 1936. So wird Alva in vielen Artikeln als Rednerin geschildert: engagiert, direkt, energisch, dabei elegant gekleidet (Reportagebild [ARAB]).

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Abb. 6: Gunnar spricht 1931 vor Studenten in Uppsala über die Wirtschaftskrise. So wird Gunnar dargestellt: locker, eloquent und kompetent (ARAB).

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Abb. 7: Alva und Gunnar mit Studentenmütze. Diese Mütze markiert ihre Träger in Schweden als Teil der Bildungselite. Als Alva 1922 mit dem Abitur diese Mütze tragen durfte – und sie in der Öffentlichkeit auch tragen wollte –, rebellierte Gunnar. So weit ging sein Sinn für die Gleichberechtigung von Mann und Frau damals noch nicht, obwohl er Alva zu Abitur und Studium ermuntert hatte. Ein knappes Jahrzehnt später hat er seine Frau in dieser Beziehung offenbar als gleichberechtigt anerkannt und dieses Bild konnte entstehen. In der Mitte Jan (undatiertes privates Photo [ARAB]).

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Abb. 8, 9: In einigen home stories nutzten Zeitungen und Zeitschriften Alva und Gunnars Wohnungen und ihr Privatleben, um Texte zu begleiten, in denen Sachthemen verhandelt wurden. Diese Geschichten gaben nicht wirklich etwas vom Privatleben der Myrdals preis, sie halfen aber, die Rezeption der Texte zu gestalten. Sie suggerierten nämlich Nähe, wahrten zugleich aber Distanz, denn der distinguierte Lebensstil der beiden war für die meisten Schweden kaum erreichbar. Die Bilder zeigten ein »modernes« Paar, das aber durch eine klassische Geschlechterrollenverteilung nicht fremd erschien. Oben ein Zeitungsphoto (in der damals noch schlechten Qualität), das sie 1944 in einer Hollywoodschaukel (die sich in Schweden erst in den 60er Jahren durchsetzte) auf der Terrasse ihrer Villa zeigt. Mit dem Bild wird ein Gespräch zwischen Alva und Gunnar »über männlich und weiblich« photographisch begleitet. Es reproduziert genau die Rollenbilder, die der Text als »aufgezwungen« kritisiert: ein legerer Mann, ihm zur Seite eine perfekte Ehefrau, klug und attraktiv. Wurde dadurch die radikale Botschaft abgemildert oder gar konterkariert? Auf der nächsten Seite ein ähnliches Bild acht Jahre zuvor. Dort sitzen Alva und Gunnar auf denselben Möbeln wie fünf Jahre zuvor am Kungsholmsstrand. Wieder wird die Balance zwischen Nähe und Distanz gehalten, sie sind ein Paar, dessen Lebensstil vorbildhaft, aber nicht mühelos kopierbar ist (Aftontidningen, 5.7.1944; Vecko-Journalen, 25.10.1936).

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Abb. 9

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Abb. 10-13: Eines der wichtigsten Photomotive sind die beiden gleichgroßen, gegenüberstehenden Schreibtische, die für die Medien seit den 40er Jahren die gleichberechtigte, intellektuelle Ehe symbolisierten – wobei Gunnar zumeist in unzweideutiger Arbeitshaltung und von vorne abgebildet wurde, Alva eher als attraktive Silhouette und von hinten oder seitlich bei Tätigkeiten, die stärker mit denen einer Sekretärin assoziiert werden können (Vecko-Journalen, 25.10.1936; Arne Holmström, 1940er Jahre [ARAB]; Femina 28.8.1945; Vi, 26.11.1981).

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Abb. 11

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Abb. 14, 15: »Mein Heim – meine Burg«. Während sich »Nya Dagligt Allehanda« mit der Karikatur über die Schiebewand zwischen den beiden Betten in der Villa Myrdal lustig machte, wird dieses Detail in der Abbildung rechts ohne jede anzügliche Anspielung präsentiert: »Frau Alvas Schlafzimmer ist einfach, aber praktisch geplant. Die Wand am Bett zum Schlafzimmer des Professors ist verschiebbar« (Nya Dagligt Allehanda, 29.9.1937; M. Strömberg, Idealhemmet, som Myrdals måste lämna).

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Abb. 16: Die Karikatur zeigt, wie Gunnar und Finanzminister Ernst Wigforss das schwedische Volk in einen faschistischen Sozialismus führen werden. Sie ist ein Beispiel für die erhitzte politische Debatte nach dem Krieg, als der Handelsminister Myrdal die Wirtschaft umgestalten wollte. Hier ist er nicht mehr der progressive Intellektuelle, sondern ein Büttel des Diktators Wigforss (Barometern, 1945 [genaues Datum nicht ermittelbar]).

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Abb. 17: Dieses Portrait Alvas erinnert stark an John Singer Sargents Gemälde der Lady Agnew of Lochnaw von 1892. Sargent ist unter anderem durch seine Gesellschaftsportraits eleganter Damen des englischen Adels und der upper class bekannt geworden. Das Portrait der Lady Agnew machte diese seinerzeit zu einer Berühmtheit; dieses Photo schreibt Alva in diesen Kontext ein. Wie Sargents Gemälde ist es sorgfältig komponiert und betont dekorativ gestaltet. Aufgenommen wurde es in der Wohnung Eva Hökerbergs, von 1928 bis 1962 Chefredakteurin der für Frauenfragen wichtigen Zeitschrift »Idun«, und vermutlich nicht publiziert (Stig Göth, 1946 [ARAB]).

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Abb. 18: Alva (links) als Botschafterin in Indien, »Republic Day« 1957. Die Szenerie ist Lichtjahre entfernt von ihren Anfängen als Angestellte in der Stadtverwaltung von Eskilstuna – und sie zeigt nichts von ihren Zweifeln über ihre Rolle als Frau all der Jahre zuvor (Universal News Photo [ARAB]).

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Abb. 19, 20: Alva und Gunnar Mitte der 50er Jahre an ihren Arbeitsplätzen. Ein Artikel präsentiert Alva 1955 als Leiterin der sozialwissenschaftlichen Abteilung der UNESCO in Paris, und hier ist sie unzweideutig in der Haltung eines Chefs abgelichtet. Sie sitzt in dozierender Haltung hinter einem mit Papieren beladenen Schreibtisch, ihre Mitarbeiter, eng gedrängt und auf Distanz gehalten, hören zu und notieren (die übrigen Abbildungen des Artikels zeigen sie von ihrer »menschlichen« Seite, in Cafés, beim Straßenbuchhändler, in ihrer Wohnung, Blumen gießend). Gunnar posiert 1956 – vermutlich in New Delhi – an seinem Schreibtisch. In den Händen ein Kugellager, das seit seiner Zeit als Handelsminister immer wieder auf den Photographien auftaucht, an den Wänden die Bilder seiner berühmten Freunde, die er systematisch gesammelt und in jedem seiner Büros plaziert hat (Idun, 26.9.1955; ARAB).

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Abb. 21: Home story. Alva in ihrer Pariser Wohnung. Sie ist, wie immer in der Öffentlichkeit, elegant gekleidet. Im Raum die Insignien einer distinguierten, aber gemütlichen Moderne: Möbel von Bruno Mattson, kunsthandwerkliche Accessoires von »Svenskt Tenn« und moderne Kunst an den Wänden. Der Artikel mit dem Titel »Halbe Myrdals und die ganze Welt« portraitiert Alva als erfolgreiche UN-Beamtin und als diejenige, die mit Sissela und Kaj die Kernfamilie Myrdal ausmacht. Die Bildunterschrift vermerkt, daß Gunnars Liegestuhl im Vordergrund nur deshalb leer ist, weil er sich eine halbe Tagesreise von den Seinen entfernt auf hält. »Desto lustiger wird es, wenn Vater heimkommt, da versucht man so zu leben, als ob er sich immer bei seinen Mädchen Alva [!], Sissela und Åsa-Kaj befinde.« Der Zustand der Familie ist damit zugleich recht präzise beschrieben und geschönt. Die Pariser Wohnung Alvas wird kurzerhand zum Heim der Familie erklärt, der zumeist abwesende Gunnar aber zum Zentrum dieser Familie (Vecko-Journalen, 3.4.1954).

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Abb. 22: Home story. »Die Altstadt – das neue Heim der Myrdals«. Ihre Wohnung wird beschrieben als »stilvolle Mischung aus raffinierter Moderne und bürgerlicher Gemütlichkeit um das Professorenpaar, das einst eine konventionelle Welt schockierte«. Moderne Kunst an den Wänden, bequeme Möbel zur Entspannung (darunter die parallel ausgerichteten Liegen der Pariser Wohnung) – und erneut ein klassisches Geschlechterrollenmodell: Der Mann sitzt in selbstbewußter Haltung, hinter ihm steht seine zurückhaltendere Ehefrau (Vecko-Journalen, 20.10.1961).

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Abb. 23: Gunnar posiert im April 1971 für das Titelbild der amerikanischen Zeitschrift »Nation’s Business« vor dem Wenner Gren-Center im Stadtteil »Sibirien«. Neben den fünf Hochhäusern am Sergels Torg in der Innenstadt gab auch dieses Bauwerk der Stadt das Image einer amerikanischen Großstadt. Hier residierte Gunnar mit seinem »Institut für internationale Ökonomie« in einer Etage hoch über der Stadt.

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Abb. 24: Nach Abschluß des Mammutwerkes »Asian Drama« ist Gunnars neue Rolle die der öffentlichen Kassandra geworden, des »Angry Old Man«, zu dessen Selbstbild es gehört, daß er um der Wahrheit Willen auf niemanden mehr Rücksicht nimmt. Hier mahnt er: »Drohende Krise schlimmer als in den 30er Jahren«. Die Bildzeile lautet: »Gunnar Myrdal warnt vor einer weltweiten Depression« (Dagens Nyheter, 6.12.1974).

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Abb. 25: 1975 ist die Ehe endgültig zu einem lebenslangen gleichberechtigten Projekt stilisiert worden – wobei der Bildtitel allerdings unrefl ektiert die Asymmetrie reproduziert (und zugleich die wahren Verhältnisse verschleiert): »Alva und Gunnar Myrdal haben zusammen ein fesselndes Leben in einer ungewöhnlichen Ehe gelebt: Er hat ihr immer die Freiheit gegeben, die ihre Arbeit erforderte.« (Svensk Damtidning, 25.11.1975 [Hervorh. von mir])

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Abb. 26: Alva bekommt 1982 den Nobelpreis. Diese zärtliche Geste Gunnars wurde seitdem mehrmals als Beleg für die liebevolle Ehe der beiden angeführt (ARAB).

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Abb. 27, 28: Doppelte Doppelportraits. Sie verdeutlichen, im Kontext der übrigen Bilder der beiden, wie wenig sich – zumindest äußerlich – die klassische Rollenverteilung nach drei Jahrzehnten verändert hat. Auf dem Bild oben sehen wir Alva und Gunnar nach ihrer Rückkehr aus den USA im Jahre 1942. Gunnar blickt entspannt in die Kamera. Von zwei Seiten fällt der Blick auf ihn – vom Betrachter des Bildes und von Alva –, das stellt ihn ins Zentrum. Alva dagegen ist Teil der Bilddiagonale. Sie doppelt den Blick auf Gunnar und schirmt ihn zugleich gegen den optisch konkurrierenden Hintergrund ab. Auf diese Weise ist sie nicht als eigenständige Person abgebildet, sondern als graphisches Element eingefügt. Das zweite (undatierte) Bild ...

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Abb. 28: ... zeigt sie in hohem Alter in ihrer Stockholmer Wohnung. Hier sitzen beide in einer Bildebene und blicken in die Kamera. Alvas Haltung kann als dominant interpretiert werden, andererseits sitzt nach wie vor Gunnar im Sessel, d.h. im Mittelpunkt. Das mag seinem Hüftleiden geschuldet sein, doch hätte es andere Möglichkeiten gegeben, beide zu portraitieren, beide in Sesseln etwa (Bo Törngren; Reportagebild [ARAB]).

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3. Erziehungsfragen

Abb. 29: Vereinfachtes Schema der Lebensphasen. So stellte sich Alva noch 1975 die Einbettung der produktiven in die unproduktiven Lebensabschnitte der Menschen vor. Aus dem Schema (1) ergeben sich »soziale Implikationen« (2), und als Antwort darauf die schwedischen Vorschläge, das Leben rationaler zu strukturieren (3). Diese einfache Graphik ist die Zusammenfassung von Alvas sozialpolitischem Denken und zugleich ein Propagandamittel, um die sozialpolitische Diskussion zu strukturieren. Wer dieses Schema akzeptiert, hat sich tendenziell bereits auf Alvas Lösungsvorschläge eingelassen statt auf konkurrierende (Enhancing Women’s Chances. Alva Myrdal Luncheon speaker, Wellesley College, Wellesley/MA, Ms., 15.3.1975 [ARAB]).

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Abb. 30: »Gleiches Spiel und dieselbe Bedienung für Jungen wie Mädchen«, fordert Alva in ihrem Büchlein »Richtiges Spielzeug«. Mehrere Bilder zeigen jedoch die traditionale Rollenverteilung und unterlaufen damit auf der visuellen Ebene Alvas radikale Botschaft (A. Myrdal, Riktiga leksaker, 1936).

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Abb. 31: »Die Erziehung zu sozialem Verhalten wird durch gemeinsames Spiel gefördert. Aber die Gemeinschaft hindert die Kinder nicht, allein zu spielen« – das ist die permanente Gratwanderung zwischen Kollektivität und Individualität (A. Myrdal, Stadsbarn, 1935).

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Abb. 32: »Die häuslichen Aufgaben werden auch im Spiel eingeübt« (A. Myrdal, Stadsbarn, 1935).

Abb. 33: »Jeden Tag kehrt das Kind (gesünder und glücklicher) zu seiner Mutter zurück oder warum nicht zu seinem Vater?«, schreibt Alva. Wesentlich genauer äußert sie sich nicht zur Rolle der Väter; das Bild oben ist zudem eines der wenigen, auf dem sie einen Vater zeigt (A. Myrdal, Stadsbarn, 1935).

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Abb. 34: »Tagebuch über ein Kind«. Eine Zeitung verulkt Alvas Methode, detailliert das Treiben der Kinder aufzuzeichnen. Es scheint über den tagtäglichen Beobachtungen keine Zeit zu bleiben, die Kinder, die offenbar mit scharfen Pfeilen schießen und Tiere plagen, tatsächlich zu erziehen (Dagens Nyheter, 30.9.1937 [siehe auch unten, Appendix 2]).

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Abb. 35: Diese Abbildungen stammen aus einem aufwendigen Bildband, der die Arbeit der Wohnungsgenossenschaft HSB preist (»Bildregie« hat Andreas Feininger geführt). Der Band stellt u.a. die modernen Kinderkrippen vor, an deren Planung Alva Myrdal beteiligt war. Aber genau die hier abgebildete Geschlechterdifferenz wollte sie vermeiden. Der Bildtext spricht übrigens geschlechtsneutral von »Kindern« (oben) bzw. »Jugendlichen« (unten). Man beachte auch das Geschlecht der Ausbilder (HSB, 1937).

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Abb. 36: So sollte Haushaltskunde nach dem Willen von Alva eigentlich aussehen: Junge Männer und Frauen lernen gemeinsam zu kochen (Aktiv hushållning, o.D. [RA]).

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4. Moderne

Abb. 37: Leicht, luftig, farbenfroh, weite Flächen, hoher Himmel, schlanke Gestalten und der filigrane Radiomast – so sollte auf der »Stockholmausstellung« 1930 die Moderne gestaltet werden (Rudolf Persson, Gouache, 1929 [AMA]).

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Abb. 38, 39: Das Äußere und das Innere eines Konsumladens auf dem Lande. Die Photos inszenieren eine Klarheit, die deutlich zu den üblichen Krämerläden – und selbst zu den Geschäften der Kooperativen nur 20 Jahre zuvor – kontrastiert. Hygiene, Waage (korrektes Gewicht), Kasse (korrekter Preis) und einzeln verpackte Waren symbolisieren die Moderne (Kooperativa Förbundets Arkitektkontor 1925-1935; Bildarchiv des KF). 386

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Abb. 40: Schwedischer Funktionalismus als amerikanische Main Street – so überhöhte Frederick Böök 1936 seine Reise durch das moderne Schweden (F. Böök, Det rika och fattiga Sverige, 1936).

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Abb. 41: Das Bild mag unmittelbar an den Gemeinschafts- und Körperkult im Nationalsozialismus erinnern, zeigt aber junge Schweden, die vor Gesundheit und Kraft strotzen. »Liegt nicht ein Glanz von Gesundheit, Harmonie und sprudelnder Kraft über diesen braungebrannten, wohltrainierten Jünglingsgestalten. Ist es nicht eine solche Jugend, die wir unserem künftigen Schweden wünschen?« Im Unterschied zu Deutschland sollten diese Jünglinge nicht für den Krieg gestählt, sondern für die Moderne ertüchtigt werden. Die körperliche Oberfl äche sieht allerdings in beiden Ländern gleich aus (Riksföreningens för Gymnastikens Främjande Årsbok, 1936).

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Abb. 42: Die Choreographie von »7000 blaugekleideten Damen« auf dem »Stockholm-Fest 1930«, anläßlich des 25jährigen Jubiläums des schwedischen Gymnastikverbandes. Das Bild zeigt, wie eine Menschenmasse in Gestalt verwandelt wird. Jedes der Mädchen (Männer geben auf dem Fest ähnliche Vorführungen) beherrscht seinen eigenen Körper perfekt und kann ihn deshalb in ein übergeordnetes Ganzes einfügen. Die Darbietung hat ästhetischen Wert, sie ist eine Leistungsschau der Turner, aber sie verheißt darüber hinaus die Strukturierung der ungestalten Moderne, weil sie die Auf hebung der »Masse« in »Gemeinschaft« visualisiert. Dieses Bild ist typisch für zahllose ähnliche Auff ührungen – und Abbildungen dieser Auff ührungen. Im Vordergrund die Medien, die diese erfolgreiche Beherrschung der Moderne verewigen (Riksföreningens för Gymnastikens Främjande Årsbok, 1934).

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Abb. 43: »Käse in jeden Brotbeutel«: Avantgardeästhetik, Klassenfrage und Gesundheit sind auf diesem Plakat, das in der Zeitschrift »Milchpropaganda« verkleinert reproduziert wurde, vereint. In Serie werden gesunde Arbeiter dynamisch und kraftvoll zur Arbeit marschieren und das Land in die Moderne bringen. Das gerundete Bein symbolisiert das Gegenteil des militärischen Stechschritts (Meddelanden från mjölkpropagandan 5, 1928 [Skaraborgsnummer]).

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Abb. 44, 45: Bilder von der Arbeit der Milchpropaganda: Ausstellungen, Diplome und immer wieder die Serialisierung von Milch, Milchwerbung und Milchtrinkern. Ähnlich das Bild, das Kinder aus Norwegen zeigt, die ein »Oslo-Frühstück« zu sich nehmen. Man beachte die Reihung von Kindern, Frühstück, Milch und das Aufsichtspersonal am Tischende (Mjölkpropagandan 15, 1938; Photosammlung Carl Schiøtz, Stadtarchiv Oslo [o.D.]).

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Abb. 46: Entwurf für das Titelbild einer Broschüre. »Der Milchjunge ist gesund und kräftig« – »Der Kaffeejunge ist kränklich und schwach.« Milch und Kaffee scheinen nicht einfach Getränke zu sein, sondern sie verkörpern sich geradezu in zwei Typen von Menschen (Mjölkpropagandan 3, 1926 [Original schwarz/ weiß]).

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Abb. 47: Diese Anzeige klinkt sich kongenial in den Diskurs um die Moderne ein, indem sie Zivilisationskritik, Eugenik und das Ziel, ein ganzes Volk zukunftstauglich zu machen, vereinnahmt. »Ein gesünderes Geschlecht ist das Ziel... laßt uns alle A-Menschen werden! Die Hast der Zeit greift um sich. Sie zwingt uns zu einer verkünstelten Lebensform, die uns vergessen läßt, daß wir trotz allem die Kinder der Natur mit Wurzeln in der Erde sind, und nicht bloß Rädchen in einer Maschinerie. Heute mehr denn je müssen wir unsere Widerstandskraft aus den Quellen der Natur schöpfen. Wir benötigen eine Kost, die uns hilft, auf Basis unserer unterschiedlichen Voraussetzungen die höchstmögliche Gesundheit zu erreichen, gesunde, lebenstaugliche A-Menschen zu werden. […] Ein frischerer Geist weht durch die Zeit. Eine Generation von A-Menschen wächst heran, die durch Sport und Freiluftleben eine natürliche Sehnsucht nach Gesundheit entwickelt hat – Gesundheit selbst in der Kost.« Der Arbeiter visualisiert den Unterschied zwischen A- und B-Menschen, der im kleinen Kasten erläutert wird: »Es gibt einen Unterschied zwischen gesund und gesund. Ganz oben auf der Gesundheitsskala stehen die A-Menschen – nur sie sind wirklich gesund. Die Grenze zum B-Menschen ist schwer zu ziehen – aber sie existiert. Die meisten B-Menschen sehen sicherlich gesund aus – aber ihre Gesundheit verträgt keine Herausforderungen. Sie haben keine Kraftreserven für eine zusätzliche Anspannung in der Arbeit.« B-Menschen sind also nicht per se eine Gefahr für das Volk, sondern (noch) nicht gerüstet für die Anforderungen der Moderne. Milchprodukte, so das Versprechen unten, werden auch sie zu A-Menschen machen (Mjölkpropagandan 14, 1937). 394

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Abb. 48: In einer ähnlichen Rhetorik, in der die Sozialdemokraten den Auf bau des Wohlfahrtsstaates propagieren, wirbt diese Anzeige mit dem Kopf eines strahlenden und kerngesund wirkenden Mädchens für den Butterkonsum: »Laßt uns Gesundheits-Schweden bauen. Die Gesundheit ist auf dem Vormarsch – langsam, aber sicher. Jedes Jahr erkennen neue Scharen von Hausfrauen die Bedeutung des Essens für die Gesundheit. Aus Perspektive der Volksgesundheit ist es besonders erfreulich zu beobachten, daß das Verständnis für die lebenswichtige Bedeutung der Vitamine immer größer wird. Der Boden für Gesundheits-Schweden ist bereitet. Laßt uns weiterbauen – in rascherem Takt.« Anschließend werden die Vorteile der Butter als »Lebenskraft aus der Natur« gepriesen. Die Geschlechterdifferenz – der starke Arbeiter und das hübsche Mädchen – ist im Vergleich zur vorhergehenden Abbildung unverkennbar (Mjölkpropagandan 16, 1939 [Hervorh. im Orig.]). 395

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Abb. 49: Eine der ersten reichsweiten Konferenzschaltungen des schwedischen Radios bringt eine Reihe von Experten zur Bevölkerungsfrage zusammen. Die beiden größten Städte Stockholm und Göteborg und die beiden wichtigen Universitätsstädte Uppsala und Lund sind verbunden, die Teilnehmer sind durchweg sozialpolitische Schwergewichte. Gunnar wird in dieser Karikatur etwas lächerlich gemacht: kleiner als seine Kollegen, dafür aber mit einer Nuckelflasche versehen, die fast so groß ist wie er (Dagens Nyheter 10.4.1935).

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5. Funktionalismus

Abb. 50: In der Karikatur von Bertil Almqvist machen sich traditionalistische, ornamentierte Möbel über einen armen funkis-Stahlrohrstuhl lustig: »Sieh Dir den an! So’n Möbel!« (Möbelvärlden 10, 1930).

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Abb. 51: 1925 wird auf der Insel Lidingö, vor den Toren Stockholms, eine (bis heute existierende) Ausstellungssiedlung errichtet, für die bekannte Architekten wie Sven Markelius moderne Einfamilienhäuser entwerfen, stilistisch im damals populären, extrem reduzierten Neoklassizismus, der in seiner formalen Sparsamkeit nahe am ästhetischen Ideal des Funktionalismus liegt. Interessant ist, daß diese Siedlung auf das historische Vorbild der patriarchalisch verfaßten protoindustriellen Hüttenorte (brukssamhälle) zurückgreift, hier aber auf eine nachbarschaftlich verfaßte Gemeinschaft aller Bewohner zielt. Die Anlage reproduziert die typische Struktur der brukssamhälle (die axiale Ausrichtung der Arbeiterwohnungen auf das Herrenhaus), widmet die Häuser aber in Villen für die Mittelschicht um. Entsprechend bildet das Titelbild des Katalogs diese »brukssamhälle« in einer verniedlichten, sommerlich leichten Form ab (Program för Lidingöutställningen Bygge och Bo, 1925, Titelblatt). 398

XI Visualisierung

Abb. 52: Auf der Insel Kvarnholmen vor Stockholm errichtete der KF eine Getreidemühle und dazu eine Mustersiedlung für seine Arbeiter. Auch dieses Aquarell von Eskil Sundahl (1928) zeigt nicht allein, wie sich das Architekturbüro des KF die Siedlung vorstellte. Vielmehr noch ist es eine ideelle Überhöhung dessen, was Uno Åhrén eine »gesunde« Bebauung nannte: ein »demokratischer« Zeilenhausbau, rechts Mietwohnungen, links kleine Reihenhäuser, weite Flächen, blauer Himmel und grüne Natur; oben als Signum der Moderne ein Luftschiff und ganz im Hintergrund die Kirchtürme Stockholms (AMA).

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Abb. 53, 54: Diese Abbildungen zeigen ein typisches visuelles Narrativ: Lebensverhältnisse, die dem Gestern angehören sollen, in der Gegenwart aber noch allzuoft anzutreffen sind, und solche, die in der Gegenwart bereits verwirklicht werden und die Zukunft ausmachen sollen – hier das Beispiel von Kindern, die in einem »ver wahrlosten« Milieu mit zufällig gefundenen Gegenständen spielen bzw. denen in der gestalteten Landschaft einer neu erbauten Siedlung richtiges Kinderspielzeug und ein Sandkasten zur Verfügung stehen (A. Johansson, Staten och bostadsfrågan, 1944).

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XI Visualisierung

Abb. 55, 56: Dasselbe Narrativ aus der Luft, die drangvolle Enge verschachtelter, unhygienischer Mietskasernenviertel (Paris) gegen die klare, luftige Großzügigkeit der funktionalistischen Siedlung (FrankfurtRömerstadt). Hier zeigt sich die suggestive Kraft der Photographie. Der »Fliegerblick« suggeriert, daß tatsächlich das Ganze erfaßt wird und nicht nur ein willkürlicher Ausschnitt. Der technisch zwar notwendige Bildausschnitt legt dem Betrachter jedoch eine Fortsetzung des Dargestellten über die Bildkanten hinweg nahe, also ad infinitum Enge bzw. Weite, »kranke« bzw. »gesunde« Bebauung. Auf die eindringliche Kraft der Bilder wird explizit verwiesen: »Vergleiche die Flugbilder S. 165 und 172! Das sagt mehr als Worte über moderne Stadtbaukunst.« (G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, 1931)

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Abb. 56

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Abb. 57, 58: Eine dritte, oft gewählte Darstellungsform desselben Narrativs sind Grundrisse und Perspektiven. Grundrisse verdichten die Geschichte der Moderne auf den Dreischritt von chaotischer Mietskasernenstadt hin zur verbesserten Blockbebauung mit großen Höfen und zur modernen Zeilenhaussiedlung, die Licht und Luft am effektivsten zu den Menschen läßt. Mit wenigen diagrammartigen Strichen wird die Bewegung vom Elend zum Paradies umrissen. Durch axonometrische Darstellungen kann der radikal minimierte Verschattungsgrad funktionalistischer Siedlungen visualisiert werden (L. Bladini, Praktisk handledning i bostadsinspektionen, 1941; G. Johansson, Funktionalismen i verkligheten, 1931). 403

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Abb. 59: Der Architekt Uno Åhrén führte mit diesen Bildern ein bedrohliches städtebauliches Chaos vor Augen. Der Bildtext lautet: »Oben: Ungeordnete Bebauung in Hedesunda. – Unten: Ockelbo Hauptstraße. Dieses Bild, das in fast jedem beliebigen Bahnhofsort [stationssamhälle] Schwedens aufgenommen worden sein könnte, hat etwas von Klondyke. Der primitive Pioniergeist [nybyggarandan] müßte bloß einmal eine kräftig ordnende Hand spüren.« Diese Form des Siedelns wollte er überwunden sehen – heute dagegen gilt das Ortsbild von Ockelbo als »schützenswertes Kulturgut« (kulturmiljö av riksintresse) (U. Åhrén, Några synpunkter på Gästriklands nutida byggnadskultur, 1932).

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XI Visualisierung

Abb. 60: Auch diese Form der Architektur sah Åhrén kritisch: »Die aristokratische Gesellschaft. Die Arbeiterwohnungen sind streng eingefügt in eine architektonische Einheit mit dem Herrenhaus im Hintergrund.« Dieser Zeilenhausbau ist, im Gegensatz zum funktionalistischen, aus seiner Sicht nicht »gesund«, sondern symbolisiert die undemokratische, paternalistische, kapitalistische Gesellschaftsordnung. Derselbe Siedlungstyp konnte auch ganz anders bewertet werden (Praktiska och hygieniska bostäder, 1921): »Man beachte die gute Wirkung strenger Einheitlichkeit von Haus, Höhen, Dach und Material mit dem wogenden Grün der mächtigen Bäume als Kontrast. Das Herrenhaus im Hintergrund schließt den Raum ab.« (U. Åhrén, Några synpunkter på Gästriklands nutida byggnadskultur, 1932)

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Abb. 61: In diesem Bild hingegen erblickte Åhrén »[d]ie demokratische Gesellschaft. Die Arbeiterwohnungen bilden eine vollkommen moderne Gartenstadt, auf Abstand gelegen von Fabriken und Direktorenwohnung.« Die Abbildungen 59-61 zeigen besonders gut, wie »leer« Illustrationen sein können, wie sehr sie der textlichen Interpretation bedürfen, damit die Betrachter den Unterschied zwischen »gut« und »schlecht« tatsächlich sehen können (U. Åhrén, Några synpunkter på Gästriklands nutida byggnadskultur, 1932).

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Abb. 62: Erneut die Bewegung von einer ineffizienten Vergangenheit hin zur klaren Zukunft, diesmal auf dem Lande. Kleinteilige Parzellierung, niedrige Produktivität und eine ansatzweise kollektive Lebensweise prägen die vormoderne Landwirtschaft (oben). Gegenwart: Die Flurbereinigung ermöglicht eine höhere Produktivität, doch die Dorfgemeinschaft ist in Einzelgehöfte aufgelöst, eine kostenintensive Bauweise (Mitte). Die Zukunft: »Kleinbetriebe zusammengelegt zu einer Großproduktion – Anteilslandwirtschaft, Gemeinschaftslandwirtschaft od[er] dergl[eichen]. Starke Mechanisierung, hohe Produktivität. Wohnbebauung konzentriert. Kollektivgesellschaft« (unten). Man beachte die extrem aufgeräumte Fläche, in der nicht einmal mehr Platz für Weiher und Bach zu sein scheint (T. Åkesson, Landbygdens bostäder, 1944).

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Abb. 63: Ein Bild aus der Planungsphase des ersten Kollektivhauses in Stockholm. So sollten es sich die Leser vorstellen: Sonne in alle Räume, Bibliothek und Restaurant im Haus, eine Sonnenterasse mit Bad und Gymnastikmöglichkeiten auf dem Dach, die »Ultraküche« mit Essensaufzug, Wärmeplatte und Müllschlucker auf engstem Raum beieinander (und durch einen Vorhang von der Wohnung getrennt), schließlich die Säuglingskrippe und der »Kleinkinderparkplatz«, wo die Eltern ihre Kleinen abgeben können. Im Gegensatz zur Abb. 66 handelt es sich hier nicht um eine kritische Karikatur, sondern um die zeichnerische Gestaltung, weil photographische Illustrationen noch nicht zur Verfügung standen (Stockholms-Tidningen, 6.12.1932).

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Abb. 64: Hier wird in einer Publikation zum geplanten Kollektivhaus der fiktive Lebenslauf des Dozenten Dr. Sven Åhsberg und der Assistentin Margit Rendahl dargestellt. Sie haben den Wohnungstyp Nr. 5 bezogen. Beide sind verheiratet, haben aber, damals ungewöhnlich, offenbar ihre Namen behalten. Åhsberg hoff t auf eine Professur, Rendahl hat Aussicht auf eine (nicht spezifizierte) »ehrenvolle Beförderung«. Wegen der Karriere haben sie schweren Herzens ihren Kinderwunsch zurückgestellt und sind dafür von Åhsbergs Studienkamerad Gunnar Myrdal scharf getadelt worden. Das Bild scheint auf den ersten Blick zu zeigen, daß Rendahl ein Manuskript ihres Mannes tippt. Im Text verbirgt sich allerdings die Information, daß sie an ihrer eigenen Dissertation arbeitet. Der Bezug auf die Myrdals ist gewollt; eher ungeplant ist wohl, daß Åhsberg und Rendahl bis in die Körperhaltung hinein auch die Asymmetrie der Myrdal’schen Ehe einfangen – wobei das Paar in einer Parallelpublikation (Form, 31, 1935) wesentlich gleichberechtigter abgebildet wird (G. Näsström, Svenska Slöjdföreningens utställning Hem i kollektivhus, 1935). 409

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Abb. 65: Dieser Bildstreifen zeigt noch einmal konzentriert, daß auch im Kollektivhaus mit seinen modernen Bewohnern die Geschlechterrollen von den Initiatoren des Hauses eher konventionell angelegt waren. Der Grund dürfte darin liegen, daß das Haus einerseits modernen Formen der Partnerschaft Raum bieten sollte, weil die Industriegesellschaft flexiblerer Familienmodelle bedurfte, andererseits sollten die potentielle Klientel und die Öffentlichkeit nicht durch zu radikale Unkonventionalität verschreckt werden (Form, 31, 1935). 410

XI Visualisierung

Abb. 66: »Paradies der Kinder«. Diese Form der Serialisierung kritisierten die Zeitungen oft, auch die sozialdemokratische Presse. Sie fürchten, daß Kollektivhäuser das Leben uniformierten. Die Texte lauten: »Alle schlafen zugleich (?) – Kollektive Verköstigung – Kollektiver Keuchhusten – Windeln etc. werden zugleich gewaschen – Alle schreien zugleich.« Das macht deutlich, daß Befürworter und Gegner lagerübergreifend zu finden waren. Zugleich zeigt das Bild, wie die Diskussion in Schweden teilweise geführt wurde, nämlich mit Hilfe von Karikaturen, die humoristisch Kritik übten und dadurch Konfrontationen aus dem Wege gingen (Social-Demokraten, 7.12.1932).

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Abb. 67: Eine andere Form der Serialisierung dagegen kritisieren funktionalistische Architekten, nämlich »Das Inferno des individuellen Haushalts« – in Zelle neben Zelle kocht jede Frau für sich allein (links). Daneben (rechts) ein Kollektivhaus, äußerlich dieselbe Zellenstruktur, aber, in den Augen funktionalistischer Architekten, eine positive, weil »rationale« Form der Serialisierung (Stockholms-Tidningen, 10.12.1932).

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XI Visualisierung

Abb. 68: Genau diese Form der Uniformität haben Alva und Gunnar sowie die funktionalistischen Architekten abgelehnt. Serialisierung, so ihre Gewißheit, werde nie zu diesem Ergebnis führen: »Verzeihung! Sin’ Sie zum Abendess’n oben bei uns oder wir zum Abendess’n bei Ihnen unten?« Die Zeichnung stammt vom bekannten Karikaturisten mehrerer großer Tageszeitungen, Bertil Almqvist, der die funktionalistische Moderne immer wieder kritisch aufgespießt hat (Stockholms-Tidningen, 13.2.1946).

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Abb. 69: Ein Meisterwerk der Visualisierung. »Der arme Junge steht wie so viele seiner Kameraden in der Türöff nung zur Guten Stube der Familie, in der er sich nie auf halten darf, weil die Möbel allzu empfindlich und allzu viele sind. Er hat keinen richtigen Platz im Heim.« Aus dem Schatten schaut er ins Licht, dem er nicht nahekommen darf, schlagender läßt sich die verheerende Wirkung der »Guten Stube« kaum darstellen (Sveriges Riksbank, Bosättning, 1944).

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XI Visualisierung

6. Normalisierung

Abb. 70: Der Arzt C. August Ljunggren setzt bei Schulkindern mustergültig Foucaults »Technologien des Selbst« in Gang. Sie hören seine Vorträge im Radio, fassen die Ratschläge in kurzen Aufsätzen und Zeichnungen zusammen, versuchen, sie umzusetzen, und berichten dann von ihren Erfolgen. In diesen beiden Abbildungen stellt eine Klasse gemeinsam mit ihrer Lehrerin ihre Gewohnheiten um. Der Text oben lautet: »Wenn wir die Fenster geschlossen haben, sehen wir so aus. Es ist so stickig, daß wir kaum denken können. Öff net die Fenster!« Und unten: »Nun, da wir die Fenster geöff net haben, sehen wir so aus. Wir sind aufmerksamer als vorher und können besser folgen.« Die Botschaft wird zu einem rasch begreif baren Piktogramm verdichtet, und daß die Zeichnung von Kindern stammt, verleiht Ljunggrens sozialtechnologischem Ansatz geradezu die Legitimation einer Volksbewegung (C. A. Ljunggren, Hur vi blivit starka och friska, 1932). 415

Die Romantik der Rationalität

Abb. 71: Ljunggren nutzt auch das Jahrbuch der Gymnastikbewegung, um für sein Anliegen zu werben. Hier zwei Kinderzeichnungen, die er einem Bericht über seine Arbeit mit Grundschülern beigefügt hat. Die Bildtexte lauten: »Trink Milch! Fort mit Kaffee«, und: »Du, Negerjunge, behalte Du Deinen Kaffee. Und Du, schwedisches Mädchen, trink Du die gute, weiße Milch!« Der Gegensatz von »Hell« und »Dunkel«, der ein wichtiges Motiv vor allem des architektonischen social engineering ist, wird hier rassistisch umgedeutet (Riksföreningens för Gymnastikens Främjande Årsbok, 1934 [schwarz/weiße Reproduktion vermutlich farbiger Originale]).

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XI Visualisierung

Abb. 72: Horizontalprojektion der Bewegungen beim Abspülen. Die Felder 1 bis 7 zeigen an, welche Sorte Geschirr wohin bewegt wird. Die Stärke der Linien indiziert die Zahl der Bewegungen (je Millimeter Strichstärke vier Bewegungen), differenziert für die linke und die rechte Hand. In der Mitte jeweils das Spülbecken. Bis auf den Millimeter genau konnten Zahl und Länge der Handbewegungen beim Abspülen für verschiedene Spülanordnungen vermessen werden, um Zeit- und Arbeitsaufwand zu ermitteln. Das Schema macht zahllose alltägliche Mikrobewegungen als eine systemische Einheit sichtbar und dadurch Rationalisierungsbemühungen zugänglich. Die Publikation, der die Abbildung entnommen ist, richtete sich an Haushaltsexpertinnen und interessierte Laien. Sie ist Teil des großen Projektes, das Leben der Menschen auf jeder Ebene zu rationalisieren (C. Boalt u.a., Diskning i hemmen, 1946).

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Die Romantik der Rationalität

Abb. 73: Diese Graphik bildet das Teilergebnis einer empirischen Untersuchung ab, nämlich den durchschnittlichen Tagesablauf einer Familie. Es handelt sich um eine Zeitstudie von Müttern und Kindern, in diesem Fall einer Mutter mit zwei Töchtern, deren Tätigkeiten sowie die Aufenthaltsdauer, die sie in verschiedenen Räumen verbringen, minutiös erfaßt sind. Die berufstätigen Väter sind in den untersuchten Familien zumeist abwesend. Diese Studie diente ebenfalls dazu, eine selbstverständliche, aber unbekannte Welt sichtbar und damit bewußt veränderbar zu machen – wobei die Reform auch hier auf eine Effektivierung, nicht Umgestaltung bestehender Geschlechterstrukturen zielte. Das Schema ist außerdem ein hervorragendes Beispiel dafür, wie komplexe Zusammenhänge in komprimierten Graphiken visualisiert werden können (C. Boalt/G. Carlsson, Mor och barn från morgon till kväll, 1948/49).

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XI Visualisierung

Abb. 74: »Auch die Hausarbeit wird untersucht, um sie dann rationalisieren zu können.« Es wird der Verbrauch der Atemluft beim Abspülen gemessen, um ihn durch eine Verbesserung bzw. Reorganisation der Gerätschaften reduzieren zu können. Zielgruppe der Publikation, aus der diese Photographie stammt, sind ebenfalls Experten und Laien (Runda bordet 2, 1946).

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Die Romantik der Rationalität

Abb. 75: »My home is my castle«. Eine weitere Karikatur, die die Myrdals angreift. Wenn die Gesellschaft erst nach Planhaushaltsund Wohnungsinspektionsprinzipien organisiert sei, würden beim Durchschnittsschweden (Medelsvensson) zahlreiche Kontrolleure auflaufen. In den Zeitungen wird zwar die Intensität der befürchteten Kontrollen kritisiert, durchaus aber nicht deren Legitimität in Frage gestellt. Diese Haltung entspricht den Anweisungen der Behörden, die in der Regel detailliert beschreiben, was zu kontrollieren ist, sich aber kaum der Vorgehensweise widmen. In einer Anweisung der Medizinalverwaltung (Samling av författningar och cirkulär m.m. angående medicinalväsendet, Serie A, Nr. 109, 21.12.1936) heißt es lapidar: »In Ausübung seiner Tätigkeit soll das Personal es sich angelegen sein lassen, mit Takt, Bedacht und Unparteilichkeit aufzutreten, das Verständnis der Öffentlichkeit – Hauswirten und Mietern – für seine gesundheitsschützende Tätigkeit zu gewinnen und alle Äußerungen und Maßnahmen zu unterlassen, die Mißtrauen am Ziel der Untersuchungen wecken könnten, daß es um anderes als das eigene gesundheitliche Wohl der Mitbürger gehe.« Die Frage, ob kontrolliert werden soll, orientiert sich nicht an ethischen, sondern an rein praktischen Erwägungen. Sehen die Behörden Anlaß zum Eingreifen, sollen sie eingreifen – diesen Grundsatz fechten auch konservative Zeitungen nicht an. Bei der Karikatur fällt auf, daß Gunnar (wie der Arzt Axel Höjer) beim Nachnamen genannt wird und überbordendes statistisches Material sammelt, während »Alva«, zusammen mit namenlosen Dienstmännern, praktisch orientiert mit der Lupe im Bett herumschnüffelt (Nya Dagligt Allehanda, 9.2.1936).

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XII Abschluß : Spielräume

1. Die Ver teidigung der Normalität Die Auffassung des 19. Jahrhunderts, Gesellschaft und Individuum seien die entscheidenden sozialen Einheiten, bezeichnet Alva Myrdal 1941 als »steril«.1 Daß sich die Liberalen fragen, welche Freiheiten ein Individuum in und gegenüber der Gesellschaft genießen sollte, sehen Sozialingenieure wie die Myrdals als politischen Irrweg an. Diese Frage sei irrelevant, denn das Verhältnis zwischen Makro- und Mikroebene, zwischen Einzelnem und Gesellschaft sehen sie durch die Industrialisierung längst aus dem Lot geraten; die Gesellschaft befinde sich in Auflösung – dadurch sei die Freiheit des Individuums bedroht. Es verliert den schützenden Rahmen, trägt durch destruktives Alltagsverhalten allerdings selbst dazu bei, daß sich die Strukturen zersetzen. Die beiden Seiten müssen neu austariert werden, und das ist das große Projekt des schwedischen social engineering im 20. Jahrhundert. Es setzt nicht bei der Befreiung und nicht bei der Internierung an, es will weder das angeblich vollkommen autonome Individuum des Liberalismus noch Giorgio Agambens »Lagermenschen«. Sozialingenieure wie die Myrdals wollen das, was Marquis Childs so gepriesen hat, den Mittelweg. Deshalb denken sie gesellschaftspolitisch weder von der Mikro- noch von der Makroebene, sondern von einer Mesoebene her, die zwischen Gesellschaft und Individuum liegt. Diese Mesoebene ist das »Heim«, eine Metapher für das Ineinandergreifen von Familie, Wohnung, Nachbarschaft und Nation. Das Heim soll zum Transformator werden, um Individuum und Gesellschaft auf eine neue Weise zu verflechten, indem es nämlich beide Seiten als Gemeinschaft integriert und konkret verortet. Wie geht das? Wie muß die Mesoebene organisiert sein, um den sozialen Zerfall aufzuhalten und in einen zivilisatorischen Fortschritt zu verwandeln? Wie muß diese Organisation aussehen, um das destruktive Sozial1. A. Myrdal, Familjen, fostran och den nya tiden, S. 23.

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verhalten der Menschen in ein konstruktives zu verwandeln, ohne Zwang auszuüben? Ich fasse die wichtigsten Punkte zusammen: • »Rahmung« und »Freiheit« stehen in ihrem Zentrum. Freiheit ohne einen Rahmen ist eine Bedrohung der Individuen. Je größer ihre Wahlfreiheit, desto unsicherer fühlen sie sich, desto inkompetenter fällt die Wahl aus, desto stärker ist diese durch sozialen Druck der Umwelt geprägt. Wahlfreiheit erzieht geradezu zu unsozialem, ressourcenvergeudendem und ineffektivem Verhalten; es verhindert die »verantwortungsvolle« Nutzung von Freiheit, die nur im Rahmen sozialer Bindungen möglich ist. • Planung soll diese Rahmung schaffen und dadurch wirkliche Freiheit realisieren. Pläne sind jedoch keine einmal erstellten und dann zu erfüllenden Normvorgaben, sondern dynamische Prozesse, die immer wieder adjustiert und der Realität angepaßt werden müssen. • Empirie ist deshalb die Grundlage jeder Planung. Die Kartierung noch der kleinsten Alltagspraktiken der Menschen soll ein realistisches Bild des Ist-Zustandes geben, nur so lassen sich Mängel in der »Gesellschaftsmaschine« registrieren. • Die Totalvermaßung des Lebens macht aber zugleich deutlich, wie vielfältig die Welt ist, und mahnt zur Vorsicht, wenn es um die Frage des Soll-Zustandes geht. Ganz offensichtlich gibt es nicht einen und unveränderlichen Idealzustand, sondern eine Spannbreite sinnvoller, vernünftiger, sich mit dem gesellschaftlichen Wandel ständig ändernder Verhaltensweisen. • Die Verdatung der Realität bildet sowohl Streuung als auch Häufung menschlichen Verhaltens ab. Die Häufung indiziert dem Beobachter, was in der Realität offenbar »normal« ist. Dieses »Normale« wird zur Zielvorgabe der Planung, nicht aber zu einer dogmatischen Norm, auf die der Ist-Zustand zwanghaft zugerichtet wird. • »Normalität« konstituiert vielmehr Grenzwerte, jenseits derer Verhalten als dysfunktional zu werten ist, innerhalb derer es aber einen Spielraum individueller Verhaltensweisen gibt, sofern diese nicht über die Grenzwerte hinausstreben. Zugleich werden die Grenzwerte korrigiert, wenn sich menschliche Praktiken als unüberwindbar erweisen oder Streuungen und Häufungen sich verschieben. • Durch die Strukturierung von Möglichkeiten sollen die Menschen dazu gebracht werden, sich im Bereich der Normalität aufzuhalten. Wichtiges Instrument ist die Organisation des Raums. Der funktional differenzierte und flächenmäßig verknappte Raum soll das Sozialverhalten der Menschen rationalisieren und damit das Bewußtsein der Menschen formatieren. Sie sollen geradezu körperlich lernen, funktional und rational zu leben, weil sie andernfalls buchstäblich anecken. 422

XII Abschluß









Sie nehmen wahr, daß ihr Leben leichter fl ießt, wenn sie es an rationalisierte Räume und Dinge anpassen. Kaum minder wichtig ist die Standardisierung der Alltagsgegenstände. Die industrielle Massenfertigung weniger Typen erlaubt die Herstellung von Qualitätsgütern zu niedrigem Preis. Reduzierte Typenvielfalt entlastet vom Druck der sozialen Distinktion. Das wiederum konvergiert mit dem in der schwedischen Gesellschaft verwurzelten Gleichheits- und dem skötsamhets-Ideal. Die Menschen werden von künstlich geweckten kommerziellen Wünschen befreit; die Standardisierung erlaubt es ihnen, in die Gemeinschaft einzuschmelzen, das Maß zu halten (lagom) und sich skötsam zu geben. Auf diese Weise werden sozialökologische Umwelten gestaltet, die die Menschen verorten und verketten, und die Metapher des »Heims« konkret materialisiert. Durch die Verschränkung von realem Raum und sozialer Ordnung können Individualität und Gesellschaft zugleich verwirklicht werden; »Ortlosigkeit« ist in diesem Denken gleichbedeutend mit »Heimatlosigkeit« im Sinne einer Freiheit von sozialen Bindungen. Uniform wird dieses Leben trotzdem nicht werden, weil sich durch die Variation von Standardprodukten und durch den Umzug in jeweils anders geschnittene Wohnungen oder andere Siedlungen individuelle Bedürfnisse befriedigen lassen. Die materielle Welt muß so gestaltet sein, daß sie sich elastisch dem sich ändernden sozialen Körper aus Individuen, Familien und Bevölkerung anpaßt. Umgekehrt dürfen die Menschen nicht in Gewohnheiten verharren, sondern müssen sich flexibel veränderten Bedingungen anpassen. Sie beweisen ihr individuelles Talent durch die Nutzung des Spielraums innerhalb des Rahmens und ihren Geschmack durch Reduktion. Diese Rahmung verhindert Uniformität und Beliebigkeit auf einen Schlag. Freilich ist diese Balance stets gefährdet. Ihr droht die Bürokratie, die Lebensvorgänge mechanisiert und darüber die Bedürfnisse der Menschen vergißt. Planung kann durch Schematisierung Freiheit reduzieren. Und das Leben wird allzuleicht geruhsam – was die Entwicklung der Kinder hemmt. Selbst in der wohlgeordneten Gesellschaft muß maßvoll Raum für Abenteuer, gar »Irrationalität«, gesichert werden.2

2. »Ist es nicht schade, daß Mann und Ehefrau so häuslich [stadig] werden, sollten sie nicht weiterhin etwas spielen können, seit die anregende Jugenderotik vorbei ist? Bedürfte es nicht etwas mehr Phantasie und Sorglosigkeit, etwas weniger blanke Möbel und, direkt gesprochen, etwas nachlässigerer Gardinen? […] In dieser friedsamen, ordentlichen, gewissenhaft eingehegten und abgegrenzten Umgebung wird das Kind gehemmt. Es wird zu eng. […] Das Kind er-

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Für Experten ist die Strukturierung von Möglichkeiten dreifach legitimiert. Zum ersten durch historische Entwicklungen, etwa durch soziale Angleichungsprozesse oder die Erosion der Klassengrenzen, die automatisch zu einheitlicheren Lebensweisen führen werden.3 Gegen derartige Bewegungen auf der Makroebene ist Auflehnung sinnlos. – Zum zweiten durch die Kraft des Exempels. Die erlebte Zeitersparnis in einer modernen Wohnung ist der beste Propagandist rationalen Verhaltens; und je mehr Menschen sich vernünftig verhalten, desto größer wird der Druck auf die übrigen, ihnen zu folgen. Gegen den spürbaren Erfolg der Vernunft ist Verweigerung absurd. – Zum dritten aber durch die Selbstbildung. In basisdemokratisch organisierten Studienzirkeln bringen sich die Menschen selbst die neuen Lebensweisen bei. Die Teilnahme ist freiwillig, die Diskussionen laufen auf eine von Experten kalkulierte Spannbreite konsensfähiger Ansichten hinaus, ohne aber die Expertenmeinung simpel zu bestätigen. In diesem Rahmen strukturierter Meinungsfreiheit ist Widerstand nicht einmal denkbar. Die Ordnung muß sichtbar werden. Das extensive Bildprogramm des social engineering dient drei Dingen zugleich. Erstens der Abbildung: Es führt den Menschen vor, was »gut«, was »schlecht« ist, wie vernünftige Ordnung aussieht, und wie Dysfunktionalität. – Zweitens der Überzeugung: Piktogrammatische Bilder sind Dank ihrer visuellen Kraft besonders geeignet, Positionen polemisch zuzuspitzen und für die Betrachter auf den Punkt zu bringen. – Drittens als Instrument: Die neue Ordnung läßt sich nur realisieren, wenn sie sich technischer Mittel wie der piktogrammatischen Bilder bedient. Bilder changieren demnach zwischen Information, Übermächtigung und Instrument, das macht sie so hilfreich für Experten, die nicht herrschen, sondern den Menschen das rechte Leben gestalten wollen. Die Betroffenen sind also Verfügungsmasse und aktiv Handelnde. Ihre Bedürfnisse sollen die Grundlage jeder Planung bilden, aber sie müssen erst gelehrt werden, »richtig« zu wollen. Sie werden als grundsätzlich vernünftig begriffen, lassen sich aber immer von »falschen« Bedürfnissen verführen. Sie sollen von überkommenen Herrschaftsstrukturen und Verhaltensweisen befreit werden, aber sicherheitshal-

hält Pflege und Sicherheit in diesem Heim, aber es wird nicht angeregt zu Selbständigkeit, zu Entwicklung« (B. Åkerman, Familjen som växte ur sitt hem, S. 237 [Hervorh. von mir]). Vgl. auch Aftontidningen, 22.6.1943 (ein Kommentar Alva Myrdals unter dem Titel »Das Recht auf Abenteuer«); A. Myrdal, Rezension von Gun Nihlén: Vardagsbarn, S. 241; Familj och moral, S. 7f., 105f. 3. U. Åhrén, Några synpunkter på Gästriklands nutida byggnadskultur, S. 145-148.

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XII Abschluß



ber sollen Abweichungen und Anlagen, Persönlichkeit und Intelligenz lückenlos und ganzheitlich auf Gesundheits- und Personenkarten erfaßt werden, damit jeder Schwede wissen kann, wen er vor sich hat. 4 Sie werden keinem Zwang ausgesetzt, sondern die Verhältnisse werden so geändert, daß die Menschen freiwillig die »richtige« Wahl treffen. Ihre Gewohnheiten werden so konditioniert, daß die gute Gesellschaft möglich wird.5 Sie haben die freie Wahl, aber eine Entscheidung gegen den Konsens ist eine rein persönliche Angelegenheit. Sie bietet niemals eine verallgemeinerbare Alternative.6 Aber es gibt das »Widerstandsaviso« (Ludwik Fleck), denn in einer zwar totalen, aber eben nicht totalitären Gesellschaft gibt es zahlreiche Punkte der expliziten oder stillschweigenden Verweigerung. Obwohl Politik und Experten grundsätzlich darin übereinstimmten, daß erhebliche regulierende Durchgriffe auf die Bevölkerung gestattet seien, folgten mehrere mächtige Sozialdemokraten wie Sozialminister Gustav Möller oder Finanzminister Ernst Wigforss einer (teilweise) anderen Agenda als die Sozialingenieure. Konservative bzw. Liberale wie Eli Heckscher, Herbert Tingsten, Gustav Cassel und andere machten in den Medien und hinter den Kulissen der Politik ihren mäßigenden Einfluß geltend. Die Menschen konnten sich den Zumutungen der Sozialingenieure entziehen, indem sie derart hartnäckig auf ihren Lebensweisen beharrten, daß die Experten nachgaben. Die technisch-ökonomische Welt leistete Widerstand, etwa die sich überhitzende Kleinküche, oder die Kollektivhäuser, die nicht wirtschaftlich zu führen waren. Und der fortlaufende soziale Wandel unterminierte das social engineering, indem er langfristig die grundlegenden Axiome zerstörte, die Angst vor der Desintegration, den Glauben, Kontingenz kontrollieren zu müssen, weil sie automatisch dazu neige, sich in Formlosigkeit und Zersetzung zu verwandeln.

So entsteht Ordnung als Balance idealer Größen, idealer Zusammensetzungen, idealer Verteilungen, idealer Anordnungen – die sich gleichwohl immer an veränderte Gegebenheit adjustieren läßt. Dynamik ist als Primat geradezu in das social engineering eingebaut. Die Anpassung der Umwelt an die Menschen verwandelt sich zu einem moralischen Gebot an diese, 4. Runda bordet 2, S. 36-41. 5. In drastischer Form hat B. F. Skinner, Futurum Zwei, dieses Ideal geschil-

dert. 6. So argumentiert beispielsweise Alva Myrdal in der Frage, ob Eltern ihre Kinder von der Kollektivkinderkrippe fernhalten dürfen (Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 10f. [ARAB 405/2.3:1]).

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sich ebenso geschmeidig der sich ändernden Umwelt anzupassen. Zugleich aber soll durch die Gestaltung der materiellen Welt eine Atmosphäre der Sicherheit geschaffen werden. Es wird eine Grenze gezogen, die die Menschen vor existentiellen Katastrophen bewahrt und die diesseits der Grenze, durch technische Lösungen, emotionale Konflikte zwischen Menschen zumindest entschärft. Die Menschen sollen nicht mehr in eine Lage geraten, in der sie die Kontrolle verlieren können, weil sie von Emotionen oder materieller Not überwältigt werden. Die Kontrolle zu behalten, ist die Voraussetzung für eine Gesellschaft, die Dynamik nicht als ein konfliktgeladenes Hin und Her begreift, sondern als ein permanentes, alles erfassendes Optimieren, an dem jeder beteiligt sein sollte. So soll die demokratische Kontrolle der Moderne funktionieren. Sie strukturiert Kontingenz und ermöglicht dadurch eine eingeschränkte, aber hinreichende Vielfalt. Der Möglichkeitsraum wird eröff net, strukturiert und begrenzt. Yvonne Hirdman und andere Autoren beschreiben das social engineering als Versuch, mit den elaborierten Methoden das »kleine Leben« der Menschen zu regulieren, also als eine Übermächtigung, als eine »Kolonisierung der Lebenswelt« (Jürgen Habermas), als eigentlich illegitimes »Beiwerk« des Sozialstaates oder gar als dessen »wahre« Fratze. Ich interpretiere es dagegen als Versuch, Rahmenbedingungen so zu strukturieren, daß sich Menschen freiwillig ein bestimmtes Verhalten aneigneten. Sozialingenieure taten das nicht aus Gründen der Selbstermächtigung, sondern weil sie eine fundamentale Krise wahrnahmen, die sie selbst betraf. Die »selbstregulierenden Kräfte der Natur« 7 schienen ihnen weitgehend erlahmt. Sie sahen die Notwendigkeit, mit technischen Mitteln eine vernünftige soziale Ordnung zu schaffen, die die weitgehend zerstörte natürliche Ordnung zu ersetzen in der Lage war. In Schweden standen ihre Lösungen dabei vollkommen in der Tradition der schwedischen Gesellschaft, für die die permanente Selbstbeobachtung und Selbstjustierung der sozialen Verhältnisse wie des eigenen Lebens geradezu einen moralischen Imperativ darstellten. Das social engineering in Schweden ist deshalb sehr viel stärker als in anderen Ländern ein Teil des korporativen Selbststeuerungsmechanismus gewesen. Es gab sich sprachlich radikal und inszenierte in den Medien verbale Konfrontationen, doch es war nichts, was die schwedische Gesellschaft irgendwie »übermächtigte«. Es kam im Wesentlichen aus ihrem Innern.

7. So Gunnar Myrdal im Entwurf zu einem Interview (P.M. för Myrdahlsintervjun [sic], o.D. [mit Brief vom 13.9.1935 an Alva (?) gesendet], Ms., Bl. 3 [ARAB 405/3.2.1:8]).

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XII Abschluß

2. Der »blinde Fleck« Im Grunde paßte das schwedische social engineering kongenial zum korporativ eingehegten Kapitalismus. Es wollte das »kleine Leben« der Menschen verbessern, trug aber dazu bei, Menschen flexibel für die Anforderungen einer modernen Leistungsgesellschaft zu konditionieren, ohne dabei konsensfähige Grundlagen – zu denen beispielsweise die Asymmetrie der Geschlechterverhältnisse gehörte – tatsächlich in Frage zu stellen. Das gilt nicht nur für Schweden. Die österreichische Architektin und Schöpferin der »Frankfurter Küche«, Margarete Schütte-Lihotzky, hat noch 2004 in ihren Erinnerungen mustergültig den blinden Fleck jedes Sozialingenieurs präsentiert, die Unfähigkeit, Intentionen und ungewollte Effekte aufeinander zu beziehen: »Manche machten uns in Frankfurt den Vorwurf, […] die Problemstellung der ›Wohnung für das Existenzminimum‹ und die ganze Rationalität des ›Funktionalismus‹ seien derart auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zugeschnitten, daß sie die niedrigen Löhne und die kapitalistische Wirtschaftsordnung nur noch zementieren helfen. Auch in Bezug auf die Frankfurter Küche kam mir diese Theorie zu Ohren, was mich sehr erregte. Die These wäre darauf hinausgelaufen, daß wir, weil wir für die Gleichberechtigung der Frau waren, in den zwanziger Jahren den Frauen, die durch Doppelbelastung vorzeitig alterten und sich der Erziehung ihrer Kinder nicht genügend widmen konnten, durch Arbeitsersparnis das Leben nicht erleichtern durften. […] Es ist grotesk anzunehmen, Einrichtungen für die Arbeitsersparnis im Haushalt der zwanziger Jahre hätten den Weg zur Gleichberechtigung der Frauen verbaut und die damaligen Zustände zementiert.«8 Nicht anders hatte das bereits ein Jahrzehnt zuvor die Schwedin Brita Åkerman gesehen, die in einer Rezension Yvonne Hirdmans Buch »Att lägga livet till rätta« kritisierte. Sie warf Hirdman vor, daß sie den Abschlußbericht der staatlichen Untersuchung »Familjeliv och hemarbete« (»Familienleben und Hausarbeit«)9 von 1947 gründlich mißverstanden habe. Der Bericht sei keine Weisung an Frauen, wie sie die Hausarbeit zu rationalisieren hätten, sondern er sei eine Botschaft von Frauen, wie sie die Verhältnisse zu ändern gedachten. Er sei ein Plan gewesen, wie die ausgeschlossenen Frauen mit der modernen Gesellschaft umgehen sollten – indem sie das Heim auf bauten und sich auf diese Weise integrierten. Wie Alva Myrdal thematisierte auch Åkerman nicht die Rolle der Männer oder die asymmetrische Struktur der sozialen Ordnung. Genau diesen Aspekt hatte Hirdman kritisch aufgespießt; Åker8. M. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 200f. (kursiv im

Orig.). 9. SOU 1947:46.

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man hielt ihr deshalb vor, »sauer und gekränkt am Spültisch der 1940er Jahre zu stehen«. Wo Hirdman Übermächtigung kritisierte, sah Åkerman Emanzipation.10 Alva und Gunnar Myrdal führen exemplarisch Ziele, Mechanismen und blinden Fleck des social engineering vor. In der Zeit, in der die korporative Verfassung Schwedens ausgebaut wurde und das social engineering seine Blüte erlebte, begannen sie ihr Doppelprojekt: ihre Ehe als Exempel und die tiefgreifende Reform der Gesellschaft. Beides bedingte einander. Die in Schweden mental tief gründende und politisch aktuelle Vorstellung, gemeinsam an der »Guten Gesellschaft« zu bauen, verband sich bei den Myrdals mit der persönlichen Erfahrung einer Gesellschaft im Umbruch. Alva wurden zahlreiche Hindernisse in den Weg gelegt, dennoch gelangte sie nach nur wenigen Jahren zu erheblichem politischen Einfluß. Kaum eine Schwedin damals hat, trotz aller Umwege, eine derart steile Karriere gemacht wie sie. Gunnars Aufstieg verlief nach den Mustern der männlichen Welt programmgemäß; Anfang der 30er Jahre zählte er zu den führenden Intellektuellen Schwedens und galt als politisches Talent. Eine Erfahrung teilte er allerdings mit Alva, beide litten als Kinder unter der Ehe ihrer Eltern. Die unterforderte Mutter Alvas, die sich in ostentativer Hypochondrie ausdrückte, der Alkoholismus von Gunnars Vater, die Unfähigkeit der Eltern miteinander und mit ihren Kindern zu kommunizieren, der emotionale Verschleiß in ihren Familien – sie hatten ein Familienmodell erlebt, das Individuen einengte, das nicht mehr in die moderne Zeit zu passen schien, und das sie selbst nicht reproduzieren wollten. Demgegenüber beschworen sie ihre Ehe als eine Gemeinschaft, in der beide intellektuell und politisch gleichberechtigt sein sollten, als Prototypen einer rationalen, gleichberechtigten Kameradschaftsehe, als Kernstück der entworfenen künftigen Struktur einer reformierten schwedischen Gesellschaft. Das praktische Exempel sollte die traditionsbelasteten Geschlechterrollen der damaligen Zeit fortentwickeln helfen. Ihre nicht einfach errungenen Erfolge und ihre Ehe zeigten Alva, daß sich die Verhältnisse verändern ließen. Der Widerstand in der Gesellschaft und die Schwierigkeiten ihrer Ehe mit Gunnar machten freilich ebenso deutlich, daß die überkommenen Rollenmuster nicht ohne weiteres zu beseitigen waren. Gunnar gab sich Geschlechterfragen gegenüber durchaus aufgeschlossen, aber nur so lange sie Frauen betrafen. Er verfolgte in seiner Arbeit die großen Linien der Gesellschaftspolitik, was ihm rasch öffentliche Anerkennung einbrachte, 10. Åkerman, Varför så surt och kränkt? (Zitat S. 323). – Das Zitat bezieht sich auf eine Bemerkung Hirdmans, sie empfinde das Abspülen als unendlich öde. Åkerman macht hierin die »einfache psychologische Erklärung« dafür aus, daß Hirdmans Kritik übte (ebd., S. 323).

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XII Abschluß

Alva entwarf pragmatische Lösungen für relativ begrenzte Problemfelder, was sie lange als Vollzugsorgan ihres Mannes erscheinen ließ. Alva sah sich in einer zwiespältigen Situation: Erfolge auf der einen Seite, das stete Gefühl der Zurücksetzung auf der anderen. Auf der einen Seite wollte sie Ehe, Kinder und Arbeit nahtlos verbinden, auf der anderen sich durch Arbeit selbst verwirklichen. Das funktionierte nicht. Um die Friktionen zu beseitigen, folgte sie einem widersprüchlichen Kurs. Öffentlich sprach sie eine deutliche Sprache, ohne aber ihre Hörer vor den Kopf stoßen zu wollen. In ihrer Ehe war sie fordernd und zäh, gab zugleich aber regelmäßig nach. Sie kritisierte Geschlechterrollenstereotype als willkürliche gesellschaftliche Konstrukte, verhielt sich aber dezidiert weiblich. In der Beschreibung eines Zahnarztbesuches ihrer Tochter Sissela verdeutlicht sie letztlich ihr Ethos und ihre Lebenshaltung: »Das war ein Erlebnis, sie dort sitzen und reagieren zu sehen: verschlossen [inbunden], gebunden [bunden], etwas starr, aber eindeutig in ihrer konventionellen Gewißheit, daß man nicht jammert. Kein Wort sagte sie die ganze Zeit, aber sperrte den Mund auf und exerzierte exakt wie sie sollte. Liebes, ruhiges, kleines, mutiges Junges.«11 Deshalb wohl führten ihre Erfahrungen nicht zu einer Radikalisierung ihrer Position, sondern zu der für sie charakteristischen Ausweichstrategie, Konflikte durch technisch-organisatorische Lösungen obsolet zu machen, statt sie wirklich zu lösen. Das Kollektivhaus mit der Kollektivkinderkrippe sollte emotionale Friktionen durch weitgehende Entfernung der Kinder und Reduzierung der Hausarbeit beseitigen. Die Einführung des sechsstündigen Arbeitstages war eine andere Idee, die Bedingungen so zu gestalten, daß Mann und Frau auf eine zwanglose Weise zueinander finden würden, über ihre Freizeit. Als diese technischen Lösungen nicht anschlugen, entwarf sie das Dreiphasenmodell, das die Widersprüche durch biographische Entzerrung entschärfen sollte. Das Kollektivhaus und das Modell einer »Doppelrolle der Frau« waren zwei wichtige Versuche, die prekäre Situation moderner Mittelklassefrauen in der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Sie unterschieden sich auf eine signifikante Weise von radikaleren Lösungen. Betty Friedan etwa hat 1963 in effektvoller Sprache beschrieben, wie amerikanische Frauen nach dem Kriege systematisch aus Berufen und von Hochschulen verdrängt wurden, wie ihnen ihre Ehemänner in den gut situierten suburbs ein bequemes Leben spendierten, wie sie aber an der Ödnis dort so sehr verzweifelten, daß sie sich immer neue Arbeiten im Haushalt erfanden, nur um beschäftigt zu sein, bis sie, vollkommen neurotisch geworden, keinerlei Zeit mehr zu haben meinten für geistige Tätigkeiten und öffentliche 11. Alva an Gunnar, 11.5.1938 (ARAB 405/3.3:23).

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Ämter, für das also, was ihnen so sehr fehlte. Mit Friedans Buch wurde eine psycho-soziale Struktur schlagartig sicht- und damit in den folgenden Jahren von Feministinnen angreif bar.12 Alva dagegen zeigte sich weniger an einer bewußtseinsschaffenden Sprache interessiert als daran, auf experimentellem Wege einen neuen Codex des Umgangs, neue Verhaltensmuster zu schaffen – sei es durch das Kollektivhaus, ein neues biographisches Muster für Frauen oder durch die wechselnde Metaphorik, mit der sie fortlaufend ihre Ehe beschrieb. Wollte sie zu Beginn mit Gunnar verschmelzen, so sollte es ihr die Kameradschaftsehe dann ermöglichen, sich mit ihm gemeinsam zu entwickeln, als »consort battleship« schließlich machte sie neben ihm Karriere. Mit diesen Beschreibungen verbildlichte sie ihre Hoffnungen und Enttäuschungen sprachlich, doch vor allem strukturierten sie Lebensmuster. Sie dienten nicht der Reflexion, sondern als Lösungen. Sie sollten nicht einen radikalen Bruch vorbereiten, sondern eine Anpassung an bestehende Strukturen ermöglichen, die wiederum moderat verändert werden mußten, um die Anpassung zu einer realistischen Möglichkeit zu machen. Ähnlich sah es bei Gunnars Lösungsvorschlägen zur »Negerfrage« aus, oder bei beiden bezüglich der »Dritten Welt«. Und genau das charakterisiert die Mikrophysik des social engineering: Sozialingenieure verweigerten sich bewußt der »Großen Weigerung«, um statt dessen die Großen Veränderungen auf evolutionärem Wege durchzusetzen. In ihren Augen bezogen sie dabei eine zur Gesellschaft exzentrische Position. Sie sahen sich als Ingenieure, die die Maschinerie des sozialen Wandels kontrollierten. Expertenposition und Sprache der Dezision verschleierten ihnen jedoch, daß sie das System nicht steuerten, sondern Teil von dessen Selbststeuerung waren. Statt des radikalen Umbaus konditionierten sie Menschen – einschließlich ihrer selbst. Sie legten der industriekapitalistischen Moderne ihrer aller Leben zurecht.

12. B. Friedan, The Feminine Mystique.

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1. Dank Ein Forschungsprojekt in Stockholm durchführen zu dürfen, ist ein unschätzbares Privileg. Das versteht jeder, der einmal den Weg in diese Stadt gefunden hat. Ich danke der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Finanzierung der ersten vier Forschungsreisen, der DFG für fünf weitere umfangreiche Aufenthalte in Schweden. Die Projektmittel der DFG haben außerdem die Drucklegung dieses Bandes ermöglicht. Im Wenner Gren-Center in Stockholm habe ich mehrfach wohnen dürfen, das hat erheblich Zeit bei der Wohnungssuche gespart und die Kosten reduziert, weil die Wenner-GrenStiftung die Miete für Gastwissenschaftler mit einem Stipendium subventioniert. Für die angenehme Heimstatt und dieses Stipendium danke ich der Stiftung. Die Arbeitsbedingungen im Arbetarrörelsens arkiv sind umwerfend. Ich danke dem Archiv dafür, daß es meine Arbeit in jeder Beziehung erleichtert hat, und besonders dem Nachlaßverwalter Stellan Andersson für seine unermüdliche Hilfe und die zahlreichen wertvollen Hinweise. Ohne diese Grundlagen hätte ich das immense Material nicht in fünf Jahren auswerten können. Reichsarchiv und Königliche Bibliothek stehen dem ARAB an institutioneller Perfektion nicht nach (im RA bekommt man seine Akten 15 Minuten nach Bestellung); die KB hält praktisch die gesamte Literatur und alle gedruckten Quellen (sowie einige wichtige Nachlässe) vorrätig, so daß ich die Arbeit auch hier effizient durchführen konnte. Dasselbe gilt für das Archiv des Schwedischen Radios (SRD) und das Staatliche Bild- und Tonarchiv (SLBA, nunmehr Teil der KB). ARAB, KB, RA, KF, das Stadtarchiv Oslo und das Archiv des Architekturmuseums in Stockholm haben mich außerdem unkompliziert mit reichhaltigem Bildmaterial versehen. Wieder einmal war Iris die erste, kritische und anregende Leserin. Ich habe sehr stark von ihrer Perspektive als Volkskundlerin, ihrer immensen 431

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Neugier, ihren zielgenauen Fragen und ihrer dezidierten Kritik profitiert. Sehr aufmerksam ist das gesamte Manuskript außerdem von Michael Hochgeschwender und Ariane Leendertz sowie von David Kuchenbuch, Timo Luks und Anette Schlimm gelesen worden. Mit ihnen allen diskutiere ich – teilweise in einem DFG-Forschungsprojekt zum social engineering im 20. Jahrhundert – seit Jahren die Moderne in Europa. Sie haben mir viel beigebracht und zum Feinschliff meines Textes beigetragen. Für die Entzifferung einiger besonders unleserlicher Briefstellen danke ich Yngve Kant (Vallentuna), für Hinweise und Gespräche Julia Angster (Tübingen), Heiko Droste (Stockholm), Yvonne Hirdman (Stockholm), Dirk Thomaschke (Oldenburg), Hans-Michael Trautwein (Oldenburg) und Anja Zimmermann (Bensheim) sowie den Teilnehmern mehrerer Kolloquien, in denen ich das Projekt seit dem Jahr 2001 vorgestellt habe. Last not least danke ich Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Anselm DoeringManteuffel. Sie haben sich der Mühe unterzogen, diesen Text im Winter 2009 als Habilitationsschrift zu begutachten und weitere hilfreiche Hinweise gegeben. Hamburg, im Januar 2010

2. Wichtige Abkürzungen AMA ARAB Bl. ECE HSB ILO KB KF Ms. ND NK RA SAP SOU

Arkitekturmuseets arkiv (Archiv des Architekturmuseums) Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek (Archiv und Bibliothek der Arbeiterbewegung) Blatt Economic Commission for Europe Hyresgästernas Sparkasse- och Byggnadsförening (Sparkassenund Bauverein der Mieter) International Labour Organization Kungliga biblioteket (Königliche Bibliothek) Kooperativa Förbundet (Der Kooperative Verbund) Manuskript Neudruck Nordiska Kompaniet (Nordische Kompanie) Riksarkivet (Reichsarchiv) Sveriges Socialdemokratiska Arbetarepartiet (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens) Statens offentliga utredningar (Staatliche öffentliche Untersuchungen)

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XIII Anhang

UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization YK Yrkeskvinnors Klubb (Vereinigung berufstätiger Frauen)

3. Appendix 1: Zur Quellen- und Literaturlage Ich stütze mich vor allem auf den gut auf bereiteten und voluminösen Nachlaß von Alva und Gunnar Myrdal, auf den ich im zweiten Kapitel genauer eingegangen bin. Das Material befindet sich im ARAB; die zentralen Quellenbestände für mich waren der Briefwechsel zwischen Alva und Gunnar, die immense Sammlung von Zeitungsausschnitten sowie die umfangreiche Bildsammlung. Durch dieses Material lassen sich Selbstund Fremdbilder gut beschreiben. Die Korrespondenz mit Kollegen war ebenfalls aufschlußreich, und selbst aus den Manuskripten ließen sich, obwohl beide fast alles, was sie niedergeschrieben haben, auch drucken ließen, wichtige Aspekte erschließen. Chronologisch stand das Material aus den 30er und 40er Jahren im Zentrum, und hier wiederum Ehe, Medienleben und die sozialpolitischen Entwürfe der Myrdals, weniger ihre erfolgreiche Implementierung in die Politik. Die ist nicht unwichtig, aber für die hier gewählte Fragestellung, die die »Mikrophysik« des social engineering untersucht, sekundär. Weiteres Aktenmaterial, etwa zu den Bevölkerungskommissionen, befindet sich im Reichsarchiv und im Archiv des Schwedischen Radios; wichtige Nachlässe – die übrigens bei weitem nicht den Umfang des Myrdal’schen Materials erreichen – habe ich in der KB und im Architekturmuseum eingesehen. Im Staatlichen Ton- und Bildarchiv (nunmehr Teil der KB) sind Film- und Fernsehaufzeichnungen über Alva und Gunnar Myrdal zu finden, vor allem aus der Nachkriegszeit. Das umfangreiche gedruckte Quellenmaterial (Zeitungsausschnitte, Broschüren, Graue Literatur etc.) findet sich im Nachlaß der beiden bzw. in der KB. Trotz der internationalen Bedeutung der Myrdals gibt es keine umfassende Biographie des Paares, sondern nur einige biographische Skizzen,1 die wichtigen und – besonders was Alva Myrdals Situation betriff t – aufschlußreichen Erinnerungen der Kinder2 und das merkwürdig unentschiedene Buch Jan Olof Nilssons, der weder eine herkömmliche Biographie der 1. S. Eliæson, Gunnar Myrdal; B. Gustafsson, Ekonomporträttet; Ders.: Art. »Gunnar Myrdal«; H. Ekerwald, Alva Myrdal; P. Thullberg, Art. »Alva Myrdal«; B. Åkerman, Alva Myrdal. 2. S. Bok, Alva Myrdal; K. Fölster, De tre löven; J. Myrdal, Barndom; Ders.: En annan värld.

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frühen Jahre Alva Myrdals, noch aber eine konsequente Kontextualisierung ihres Lebens in ihre gesellschaftliche Umwelt hinein vornimmt.3 Der Journalist Hans Hederberg hat 2004 auf Basis eines umfangreichen Briefkonvoluts eine Darstellung des Ehelebens von Alva und Gunnar Myrdal verfaßt, die allerdings den Konnex zwischen gender-Praktiken und intellektueller Arbeit allenfalls andeutet und keinerlei Quellennachweise enthält. 4 Kerstin Vinterheds Biographie ist derart oberflächlich, daß sie nur denjenigen Neues zu bieten vermag, die überhaupt nichts über die Myrdals wissen.5 Lotta Gröning hat allenfalls vordergründig eine Biographie Alva Myrdals verfaßt. Tatsächlich benutzt sie Alva als Spiegel, um sich selbst als Außenseiterin in der schwedischen Sozialdemokratie zu stilisieren.6 Ein anderes Korpus von Texten konstruiert eine spezifische Differenz zwischen Alva und Gunnar. Er wird als genialer Denker behandelt und mit Titeln bedacht wie »Gunnar Myrdal and His Works«, »Einer der Großen: Gunnar Myrdal«, »Myrdal weiterhin meistzitiert« oder einfach: »Wegweiser«.7 Bei Alva dagegen steht ihre Rolle als Frau in der modernen Gesellschaft und an der Seite ihres Mannes im Mittelpunkt, d.h. sie dient als Medium, die Defizite des folkhem und der männerzentrierten folkhemGeschichte kritisch zu beleuchten.8 Zwei Studien zu den Myrdals sind unhintergehbar, einmal Sissela Boks eindringliche und nach wie vor mit großem Gewinn zu lesende Biographie Alva (und Gunnar) Myrdals (1991),9 zum andern Yvonne Hirdmans Buch über Alva Myrdal (2006). Beide Autorinnen heben allerdings vor allem auf eine Beschreibung der Situation Alva Myrdals als Frau in einer männlich

3. J. O. Nilsson, Alva Myrdal. 4. H. Hederberg, Sanningen, inget annat än sanningen. 5. K. Vinterhed, Kärlek i tjugonde seklet. 6. L. Gröning, Kvinnans plats. 7. Vgl. nur J. Angresano, The political Economy of Gunnar Myrdal; Ö. Appelqvist/S. Andersson, Vägvisare; G. Dostaler/D. Ethier/L. Lepage, Gunnar Myrdal and His Works; S. Eliæson, Gunnar Myrdal’s Failure as Sweden’s »Grumpy Old Man«; W. A. Jackson, Gunnar Myrdal and America’s Conscience; W. J. Barber, Gunnar Myrdal; N. Sarafoglou/B. Sandelin, Myrdal fortfarande mest citerad; R. Wundrak, Myrdals lära om värderingar; J. M. O’Toole, An Analysis of Gunnar Myrdal’s Social and Educational Theory. 8. Vgl. E. Gunnarsson, Makarna Myrdal, befolkningspolitiken och abortfrågan; Y. Hirdman, Alva Myrdal – en studie i feminism; Dies.: Folkhemstanken och kvinnorna; E. S. Lyon, Biographical Constructions of a Working Woman; B. Mral, »Den nya kvinnan«; E. Wennström, Drömmen om den nya familjen. 9. S. Bok, Alva Myrdal.

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strukturierten Gesellschaft ab.10 Hirdman ist außerdem die Erste gewesen, die den äußerst umfangreichen, im Jahre 2000 freigegebenen Briefwechsel zwischen Alva und Gunnar Myrdal vollständig ausgewertet hat.11 Mit dem Erscheinen ihres Buches dürfte der »Myrdal-Boom« in der schwedischen Forschung vorerst abgeklungen sein. Eine umfassende Biographie stünde vor der Schwierigkeit, ein immenses Material und buchstäblich die Welt als Tätigkeitsfeld der Myrdals aufarbeiten und in die Geschichte einordnen zu müssen.12 Zur schwedischen Eugenik, Abtreibungspolitik, dem Hygienediskurs, Funktionalismus, folkhem-Utopien und -Praktiken sowie den sozialpolitischen Vergleichsfeldern (USA, Großbritannien, Deutschland, Dänemark, Sowjetunion) steht umfangreiche Sekundärliteratur zur Verfügung. So lassen sich Diskurse und Praktiken, die das folkhem konstituierten und konturierten, nachzeichnen. Dabei setzt die schwedische Forschung bestimmte Schwerpunkte. Bei der Parteiengeschichte liegt ein solcher Schwerpunkt deutlich auf der Sozialdemokratie,13 zu den übrigen Parteien gibt es kaum Literatur. Dasselbe gilt für die Ideengeschichte, so daß die Geschichte des Liberalismus und erst recht des Konservatismus unterbelichtet bleibt.14 Auch die Texte etwa zur schwedischen Sozialpolitik sind – kritisch oder affi rmativ – überwiegend aus der Perspektive des modernen (sozialdemokratischen) Wohlfahrtsstaates geschrieben. Die schwedische Geschichte des 20. Jahrhunderts bekommt auf diese Weise implizit eine sozialdemokratische Färbung, die dem faktischen politischen Gewicht der bürgerlichen Seite nicht gerecht wird. Bezeichnenderweise lauten wichtige Buchtitel zur Geschichte der Sozialdemokratie: »Wir bauen das Land«, »Die Gesellschaft der Sozialdemokratie«, »Das Zeitalter der Sozialdemokratie«, »Die intelligente Gesellschaft«. Das ist Ergebnis einer geschickten Geschichtspolitik der Sozialdemokraten, aber auch der Arbeit bürgerlicher 10. Y. Hirdman, Det tänkande hjärtat (das Buch ist 2008 ins Englische übersetzt worden). 11. Vinterhed und Gröning behaupten dasselbe von sich, an ihren Büchern wird aber deutlich, daß sie die Briefe höchstens stichprobenartig gelesen haben können. Hederberg hat diesen Bestand zur Grundlage seines Buches gemacht. 12. »Die Welt ist sein Arbeitsfeld«, so lautet denn auch der Titel einer Sendung über Gunnar Myrdal: Världen är hans arbetsfält, Sveriges Radio, P 4, 24.1.1967. 13. Y. Hirdman, Vi bygger landet; K. Misgeld/K. Molin/K. Åmark, Socialdemokratins samhälle; S. O. Karlsson, Det intelligenta samhället; ähnlich der Norweger F. Sejersted, Socialdemokratins tidsålder. 14. Vgl. M. Hedin, Ett liberalt dilemma; F. Lagergren, På andra sidan välfärdsstaten; S. Ljungren, Folkhemskapitalismen.

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Historiker, die die politische Hegemonie der Linken akzeptiert haben.15 Ohnehin wird ein nicht unerheblicher Teil der Forschung zur schwedischen Zeitgeschichte von Protagonisten dieser Geschichte verfaßt, oder sie ist als Evaluation des folkhem-Modells angelegt, verrechnet also die erfolgreiche Entstehungsgeschichte mit Defiziten des Modells in der Gegenwart. Die gesamte kritische Auf bereitung der schwedischen Sterilisierungspolitik verdankt sich diesem Impetus. Eine wissenschaftlich fundierte Synthese der schwedischen Geschichte gibt es erstaunlicherweise nicht. Erst kürzlich hat der Signum-Verlag seine schwedische Kulturgeschichte mit dem achten Band abgeschlossen. Dieses Werk reicht von der Frühgeschichte bis fast in die Gegenwart. Allerdings folgt es keiner analytisch oder theoretisch konsistenten Linie; die einzelnen Kapitel sind von unterschiedlichen Autoren verfaßt, die Themen wirken manchmal wie zufällig ausgewählt (so gibt es im Band zum 19. Jahrhundert ein langes Kapitel zum Stockholmer [!] Dialekt, nicht aber zur Durchsetzung der Hochsprache – das wäre einem Band mit dem Titel »Durchbruch der Moderne« durchaus angemessen gewesen), außerdem schließt es als Kulturgeschichte die politische Ereignisgeschichte vollkommen aus.16 Dazu sind zwar andere Werke erschienen,17 doch ein Gesamtbild – oder wie in Deutschland sogar zahlreiche konkurrierende Synthesen – der schwedischen Geschichte findet man nicht. Zur Sozialpolitik gibt es eine Reihe von Überblicksstudien,18 detaillierter wurde vor allem die Erziehung und Disziplinierung von Kindern,19

15. Vgl. dazu die kritische Analyse von Å. Linderborg, Socialdemokraterna skriver historia. 16. J. Christensson, Signums svenska kulturhistoria. 17. Z.B. S. Hadenius/B. Molin/H. Wieslander, Sverige efter 1900. 18. A. Berge, Medborgarrätt och egenansvar; P. G. Edebalk, Välfärdsstaten träder fram; U. Lundberg/K. Åmark, Social Rights and Social Security; R. Nilsson, Kontroll, makt och omsorg; S. E. Olsson, Social Policy and the Welfare State in Sweden; K. Åmark, Hundra år av välfärdspolitik. 19. Vgl. neben den in den vorigen Kapiteln nachgewiesenen Titeln beispielsweise E. L. Bjurman, Barnen på gatan; M. Börjesson/E. Palmblad, I problembarnens tid; H. Friman u.a., Skolbarn; E. Gullberg, Det välnärda barnet; L. Hammarberg, En sund själ i en sund kropp; K. G. Hammarlund, Barnet i barnomsorgen; L. Holme, Konsten att göra barn raka; U. Jönson, Bråkiga, lösaktiga och nagelbitande barn; P. Lundquist Wanneberg, Kroppens medborgarfostran; T. Lundström, Tvångsomhändertagande av barn; A.-C. Münger, Stadens barn på landet; K. Ohrlander, I barnens och nationens intresse; M. Sundkvist, De vanartade barnen; G. Weiner, De räddade barnen.

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die Konstruktion von Mutterschaft und weibliche Berufstätigkeit,20 die Suchtprävention,21 Armenpflege und frühe Sozialpolitik22 sowie Zwangsmaßnahmen der Behörden23 untersucht. Dazu kommen Studien zu Konsum und Hausarbeit,24 zur Eugenik 25 und zu wichtigen Aspekten der Geschichte der Moderne, d.h. zur Ernährungs-, Freizeit- und Körpergeschichte (hier ist die Literatur allerdings sehr viel impressionistischer)26 sowie zum Wohnbau und zur Stadtplanung.27 Hilfreich, um Akteure, Zu20. Z.B. L. Evertsson, Välfärdspolitik och kvinnoyrken; Y. Hirdman, Den socialistiska hemmafrun och andra kvinnohistorier; Dies., Med kluven tunga; W. Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat; T. Kulawik, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft; S. Neunsinger, Die Arbeit der Frauen – die Krise der Männer; G. Sköld, Från moder till samhällsvarelse; C. Tornbjer, Den nationella modern; G. Bock/P. Thane, Maternity and Gender Policies. 21. Vgl. K. Bruun/P. Frånberg, Den svenska supen; J. Edman, Torken; P. Frånberg, Umeåsystemet; I. Knobblock, Systemets långa arm; S.-Å. Lindgren, Den hotfulla njutningen; S. Nycander, Svenskarna och spriten. 22. Etwa D. Rauhut, Fattigvård, socialbidrag och synen på fattigdom i Sverige 1918-1997; B. Jordansson, Den goda människan från Göteborg; F. Lundgren, Den isolerade medborgaren; B. Plymoth, Fostrande försörjning; M. Sjögren, Fattigvård och folkuppfostran; P. Wisselgren, Samhällets kartläggare. 23. J. Björkman, Vård för samhällets bästa; K. Engwall, »Asociala och imbecilla«. 24. P. Aléx, Den rationella konsumenten; Ders., Konsumera rätt – ett svenskt ideal; C. Fredriksson, Ett paradis för alla; M. Björk/E. Kaijser, Svenska hem; O. Husz, Spara, slösa och alla de andra; J.-E. Hagberg, Tekniken i kvinnornas händer; B. Lövgren, Hemarbete som politik; A. Nyberg, Tekniken – kvinnornas befriare? 25. G. Broberg/N. Roll-Hansen, Eugenics and the Welfare State; G. Broberg/M. Tydén, Oönskade i folkhemmet; M. Runcis, Steriliseringar i folkhemmet; M. Tydén, Från politik till praktik; M. Zaremba, De rena och de andra. Zusammenfassend: T. Etzemüller, Sozialstaat, Eugenik und Normalisierung in skandinavischen Demokratien. 26. Vgl. L. Eskilsson, Friluftsliv; Dies., Fritid och demokratisering; Dies., Svenska Turistföreningen från fjäll till friluftsliv; R. Qvarsell, »Ett sunt folk i ett sunt samhälle«; Ders., Hälsa och sjukvård; M. Sundberg/J. Öhman, Hälsa och livskvalitet; L. E. Thorsen, Skis, Skates, and Language. 27. P. Blundell Jones, Gunnar Asplund; C. Engfors, Folkhemmets bostäder 1940-1960; E. Eriksson, Den moderna stadens födelse; Dies., Den moderna staden tar form; M. Franzén, Der Bau des Folkhems; A. Gullberg/E. Rudberg, Byggare i Stockholm; T. Hall, Urban Planning in Sweden; G. Holmdahl/S. I. Lind/K. Ödeen, Gunnar Asplund, Architect 1885-1940; L. Nilsson, Den urbana transitio-

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sammenhänge, Themen und Netzwerke zu erschließen, sind eine Reihe von Biographien und Autobiographien.28 Der Begriff des social engineering – in der schwedischen Historiographie wie erwähnt »soziale Ingenieurskunst« genannt – wird in der Literatur zwar oft gebraucht, aber, außer bei Hirdman und Ulf Olsson,29 nirgendwo für größere analytische Linien operationalisiert.30 Der jüngste Versuch, den Begriff zu schärfen, reduziert das social engineering auf den Ansatz, gesellschaftspolitische Fragen in Metaphern und Begriffen der technischen Welt zu diskutieren.31 Ohnehin ist es nicht die Stärke der schwedischen Historiographie, Konzeptionen zur Interpretation der Geschichte zu entwerfen. Sie versucht in der Regel eher, durch die Neusichtung bekannten Materials neue Antworten auf alte Fragen zu geben, die allerdings – und hier ist die schwedische Geschichtswissenschaft möglicherweise durch das schwedische Modell der Kompromißfindung geprägt – nicht kreativradikal ausfallen, sondern den Rahmen bisheriger Interpretationen nur vorsichtig verschieben.32 Zur Frage der Geschlechterbeziehungen, die in dieser Studie eine wichtige Rolle spielen, gibt es eine unüberschaubare Menge an Publikationen. Ich nenne hier nur diejenigen Texte, die mir entweder auf der nen; H. Ranby, Stadsplanering och bostäder; T. Strömberg, Die Baumeister des Folkhems; O. Svedberg, Planerarnas århundrade. 28. L. Asklund, Uppbrott; R. C. Bannister, Dorothy Swain Thomas; G. Cassel, I förnuftets tjänst; F. Croner, Ett liv i vår tid; L. Ekdahl, Mot en tredje väg; I. Giöbel-Lilja, Gustav Cassel; G. Greider, Rudolf Meidner; T. Gårdlund, Knut Wicksell; A. Helldén, Ernst Wigforss; A. Höjer, En läkares väg; A. Isaksson, Per Albin; U. Isaksson/E. H. Linder, Elin Wägner; N. C. Jönsson/P. Lindblom, Politik och kärlek; A. L. Johansson, Gunnar Sträng; H. Levin, En radikal herrgårdsfröken; K. Mann, Ellen Key; Y. Möller, Per Edvin Sköld; L. Näslund, Uppdrag barn; A. Nilsson, Glimtar ur mitt liv som läkare; E. Ottesen-Jensen, Och livet skrev; Dies., Och livet skrev vidare; K. Niskanen, Karriär i männens värld; G. Paulsson, Upplevt; E. Rudberg, Sven Markelius; Dies., Uno Åhrén; S. Wallander, Mitt liv med HSB; B. Åkerman, 88 år på 1900-talet. 29. U. Olsson, Drömmen om den hälsosamma medborgaren, der eine hervorragende Analyse der schwedischen »Normalisierungsgesellschaft« durchführt – um sie effizienter zu machen! 30. Vgl. H. Björck, Den sociale ingenjören på intressekontoret; B. Carlson, Amerikansk välfärdskapitalism och social ingenjörskonst; Y. Hirdman, Social Engineering and the Women Question; Dies., Att lägga livet till rätta; G. B. Nilsson, Social ingenjörskonst; D. Östlund, Det sociala kriget och kapitalets ansvar. 31. H. Björck, Folkhemsbyggare, S. 199-237. 32. So explizit ebd., S. 335f.

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theoretischen Ebene33 oder als empirische Studien hilfreich waren.34 Um die Beziehungen intellektueller Paare über die Ehe der Myrdals hinaus zu erschließen, scheinen Autobiographien wenig ergiebig zu sein.35 Sehr viel hilfreicher ist die Sekundärliteratur, die sich dann aber eher auf den weiblichen Teil einer solchen Ehe konzentriert.36 Die Literatur zu intellektuellen Paaren ist bislang eher enttäuschend. Eine kurze Skizze über das Künstlerehepaar Sigrid Hjertén och Isaac Grünewald zeigt im gezielt performativen Einsatz ihrer Ehe und ihres Heims als Teil ihrer Kunst und Avantgardeexistenz Ähnlichkeiten zu Alva und Gunnar Myrdal; dasselbe bietet ein anregender Katalog für andere Künstlerpaare. Zugleich wird deutlich, wie prekär die Stellung von Künstlerehefrauen war, die entweder ihr eigenes Schaffen zugunsten des Mannes aufgaben oder aber produktiv blieben, dafür jedoch in der Öffentlichkeit kritisiert wurden.37 Eine ganze Reihe von Sammelbänden gibt hilfreiche Hinweise auf Ehen von beispielsweise Theologen und Schriftstellern, die Beiträge fallen oft aber eher deskriptiv oder sehr stark wertend aus, oder sie stellen die Frauen neben ihre genialen Ehemänner – nehmen allerdings selten eine eingehende Analyse der Geschlechterbeziehungen in Relation zur sozialen Ordnung vor.38 Anregende 33. J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter; Dies., Körper von Gewicht; Y. Hirdman, Genus; Dies., Genussystemet; A. Dietzen, Soziales Geschlecht; A. Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft; P. Bourdieu, Die männliche Herrschaft. 34. L. Carls, Bland nuckor och våp i den akademiska världen; L. Eskilsson, Drömmen om kamratsamhället; C. Florin/B. Nilsson, »Something in the nature of a bloodless revolution...«; C. Florin/L. Sommestad/U. Wikander, Kvinnor mot kvinnor; U. Frevert, »Mann und Weib, und Weib und Mann«; Y. Hirdman, Alva Myrdal – en studie i feminism; Dies., Gunnar Myrdal – feministen?; Dies., När Anaïs Nin mötte Alva Myrdal; U. Knutson, Kvinnor på gränsen till genombrott; U. Manns, Den sanna frigörelsen; S. Nicklasson, Kvinnors väg till fullvärdigt medborgarskap; I. Schånberg, De dubbla budskapen; G. Åström/Y. Hirdman, Kontrakt i kris. 35. Darauf lassen zumindest die Erinnerungen zweier der berühmtesten weiblichen Hälften intellektueller Ehen schließen: S. de Beauvoir, Alles in allem; Dies., Der Lauf der Dinge; Dies., In den besten Jahren; B. Webb, Meine Lehrjahre. 36. Vgl. D. Epstein Nord, The Apprenticeship of Beatrice Webb; C. SeymourJones, Beatrice Webb; T. Moi, Simone de Bouvoir; M. Sjögren, Statsrådet och genusordningen; L. Wicksell Nordqvist, Anna Bugge Wicksell. 37. S. Behr, Moderniteten, familjen och modet. Vgl. auch M. Gynning, Konstnärspar kring sekelskiftet 1900; R. R. Hubert, Magnifying Mirrors. 38. Vgl. W. Chadwick/I. de Courtivron, Significant Others; C. S. Chiu, Frau-

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Ausnahme sind Hazel Rosenstrauchs Biographie Caroline und Wilhelm von Humboldts – ein Ehepaar, das erstaunliche Parallelen zum Leben der Myrdals aufweist – sowie Lisbeth Larssons Buch über Ludvig Nordström und Marika Stiernstedt, die sich literaturwissenschaftlich auf die spannende Frage konzentriert, wie sich dieses Paar in (auto-)biographischen Texten gegenseitig konstruiert hat.39 Ebenfalls erstaunliche Parallelen weist das schwedische Ehepaar Axel und Signe Höjer auf, nur zehn Jahre älter und mit den Myrdals befreundet. Annika Bergs Buch reißt den ähnlichen Geschlechterrollenkonflikt zwischen den beiden immer wieder an, konzentriert sich aber v.a. auf ihr Lebensprojekt, eine »Volksgesundheits-Idelogie« ( folkhälsoideologi) in die Praxis umzusetzen, die sie als Arzt bzw. Krankenschwester in den 1920er Jahren in einem Stockholmer Armenviertel entwickelten, in den 30er Jahren für den Auf bau des folkhem nutzbar machen und nach dem Krieg auf die „Dritte Welt“ übertragen wollten. 40 Es gibt demnach reichhaltige Sekundärliteratur zum gesellschaftspolitischen Umfeld von Alva und Gunnar Myrdal, aber kein Vorbild für eine Studie, die systematisch das »private« Leben zweier Intellektueller mit deren »öffentlichem« gesellschaftspolitischen Handeln verwebt, und die Regulierung des »kleinen Lebens« der »kleinen Leute« analytisch im »kleinen Leben« der Experten zu verwurzeln trachtet.

4. Appendix 2: »Tagebuch über ein Kind« »Dagens Nyheter« verulkt die Manie, über den Tagesablauf von Kindern genauestens Protokoll zu führen (siehe auch Abb. 34):41 »Bei einer kinderpsychologischen Versammlung am Dienstagabend wurde geäußert: Eine gute Art, Klarheit sowohl über sich selbst als Erzieher sowie über seine Kinder zu bekommen, ist es, während einer Woche genaue Aufzeichnungen über seine eigenen Tätigkeiten und die seiner Kinder zu führen. Zur Handrei-

en im Schatten; U. Fölsing, Geniale Beziehungen; J. Meyers, Married to genius; I. Stephan, Das Schicksal der begabten Frau; H.-P. Rieschel, Komponisten und ihre Frauen; E. Röhr, Ich bin was ich bin; K. Roiphe, Uncommon Arrangements; F. Weissensteiner, Die Frauen der Genies. Sehr fundiert jedoch: H. Pycior/N. G. Slack/P. G. Abir-Am, Creative Couples in the Sciences. 39. L. Larsson, Sanning & konsekvens; Rosenstrauch, Wahlverwandt und ebenbürtig. 40. A. Berg, Den gränslösa hälsan. 41. Dagens Nyheter, 30.9.1937.

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chung für diejenigen, die diesem Rat zu folgen gedenken, wird hier ein Auszug aus einem derartigen mustergültigen Tagebuch geboten. Donnerstag, der 30. September 1937. 6 Uhr 54: Erwachte der kleine Jan. Weckte lächelnd seine Mutter, indem er sie an den Haaren zog, was wehtat. Nahm Vorwürfe entgegen. 6 Uhr 59: Wurde der kleine Jan gewaschen. Schrie. Wurde hernach angekleidet. 7 Uhr 15: Wünschte der kleine Jan, seinen Morgenbrei nicht zu essen. Wurde mit Güte und freundlichen Worten dazu gebracht, denselben gleichwohl zu verzehren. Stieß dabei einen Milchtopf um und nahm dafür Vorwürfe entgegen. Bedauerte seine Handlungsweise. 8 Uhr 06: Wurde der kleine Jan nach draußen gelassen. Fand eine rostige Blechbüchse. Wünschte dieselbe an Stelle einer Mütze auf den Kopf zu setzen. Schrie, da Mama ihm die Büchse aus hygienischen Gründen wegnahm. Wurde erst ruhig 8 Uhr 24: als die kleine Kaj kam, durch das Schreien angelockt. 8 Uhr 25: Spielte der kleine Jan Dampfwalze mit der kleinen Kaj. Sprang dabei vor und zurück und ächzte. Ließ nicht zu, daß die kleine Kaj gleichfalls ächzte, weshalb die kleine Kaj ins Haus rannte und weinte. 9 Uhr 33: Begann der kleine Jan Giraffe zu spielen. Wandte die Mutter ihm den Rücken zu. 9 Uhr 34: War der kleine Jan spurlos verschwunden. 9 Uhr 35–12 Uhr 06: Suchte Mama nach dem kleinen Jan, um Journal über seine Tätigkeiten führen zu können. 12 Uhr 07: Wurde der kleine Jan im großen Einmachtopf im Küchenschrank gefunden, Dampfboot spielend. 12 Uhr 15: Wurde Mittag gegessen. Ließ der kleine Jan gebratene Heringe in sein Milchglas, damit sie schwämmen. Nahm Vorwürfe entgegen. 12 Uhr 45: Wurde der kleine Jan zum Mittagsschlaf hingelegt. 14 Uhr 15: Rief der kleine Jan, er habe ausgeschlafen. 14 Uhr 16: Wurde befunden, daß der kleine Jan statt zu schlafen mit einer Schere Löcher in alle Kissen geschnitten sowie große Freude darin gefunden hatte, die Daunen auf den Boden zu zerren. 14 Uhr 17: Bekam einen Klaps auf den Popo. Schrie verzweifelt. 14 Uhr 18: Erweichte Mamas Herz. Erhielt der kleine Jan 5 Öre, um Karamell dafür zu kaufen.

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14 Uhr 19:

Ging das Dienstmädchen, das seinen freien Nachmittag hatte. 14 Uhr 20–14 Uhr 55: Spazierte der kleine Jan lieb mit seiner Mutter, um Karamell zu kaufen. Erbettelte sich außerdem einen Lutscher. Aß denselben auf. 14 Uhr 56: Mußten Mama und der kleine Jan auf Grund von Regen zurückeilen. 14 Uhr 57: Wünschte der kleine Jan, ein Märchen vorgelesen zu bekommen. 14 Uhr 59–15 Uhr 15: Las Mama das Märchen vom Rotkäppchen. Wollte der kleine Jan wissen, wie es im Magen des Wolfes aussehe. Antwortete Mama, daß es dort dunkel sei. Fragte der kleine Jan, warum es dort keine Lampe gebe. Antwortete Mama, daß es in Mägen nie Lampen gebe. Fragte der kleine Jan nach, warum das nicht. Antwortete Mama, das verstünde wohl der kleine Jan. Sagte der kleine Jan, er wünsche, daß Beleuchtung im Magen des Wolfes installiert werde. Antwortete Mama, daß das nicht möglich sei. Fragte der kleine Jan, warum das nicht. Antwortete Mama, daß es im Magen des Wolfes wehtun würde, würden Leitungen dorthin verlegt. Äußerte der kleine Jan, daß es wohl gut sei, wenn es im Magen schmerze. Meinte Mama, daß es gleichwohl schade wäre. Fand der kleine Jan, daß das Gespräch nicht länger lustig sei. Wünschte lieber mit der Deckenlampe zu spielen, um dieselbe in Jemandes Magen einzumontieren, gleich wessen. Erhielt jedoch keine Erlaubnis hierzu. Schrie. 15 Uhr 17: Hörte der kleine Jan auf zu schreien. 15 Uhr 18–17 Uhr 03: Zeichnete der kleine Jan Lastautos auf die Eßzimmertapete, drückte Zwecken ins Klavier, sang Bäh, Bäh, weißes Lamm,42 spielte lieb mit seinen Bauklötzen, warf einen Blumentopf um, blies Blechtrompete. Nahm abwechselnd Aufmunterungen und Vorwürfe entgegen. 17 Uhr 05: Heimkam Papa. Wollte freundlich wissen, was er Gutes zum Abendessen bekäme. 17 Uhr 06: Antwortete Mama, daß sie keine Zeit gehabt habe, Abendessen zu kochen, da sie Tagebuch über Klein-Jans Tätigkeit führen mußte. 17 Uhr 07: Wollte Papa wissen, wozu dieses gut sein sollte. 42. Ein in Schweden berühmtes Kinderlied, das auf »Baa Baa Black Sheep« zurückgeht.

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17 Uhr 08: 17 Uhr 09: 17 Uhr 10:

17 Uhr 11: 17 Uhr 12: 17 Uhr 13:

Antwortete Mama, daß die Professorin Myrdal gesagt habe, es sei von großem Nutzen. Fragte Papa, was es nun mit dem Abendessen würde. Sagte, er sei hungrig wie ein Wolf. Wollte der kleine Jan wissen, ob es mithin dunkel in Papas Magen sei? Erbot sich, dortselbst die Deckenlampe einzumontieren. Lächelte Papa. Verfinsterte sich Papa wieder. Fluchte über die Kinderpsychologen. Wurde der kleine Jan hinausgebracht, damit er nicht häßliche Worte von Papa lernen möge. Einsah Mama, daß es schade um Papa wäre. Beschloß, seinen Hunger zu stillen. Ging in die Küche und heizte den Herd mit diesem Protokoll.«

5. Appendix 3: Beispielhaf ter Tagesplan einer Kollektivkinderkr ippe Dies ist ein besonders weitgehender Vorschlag, wie der Tagesablauf in einer Kollektivkinderkrippe aussehen sollte. Die Eltern sind zeitlich kaum noch in den Alltag der Kleinen eingeplant. Alva entwarf ihn 1932 für die Krippe im Kollektivhaus:43 »7.[00] 7.30

Aufstehen, Morgentoilette, Zähneputzen, Halskontrolle. Frühstück: Brei oder Flocken mit Milch, Butterbrot. Besuch bei den Eltern oder Spiel im Haus nach freier Wahl. 9.30 Apfelsinensaft (1 gepreßte Apfelsine), ev. andere Frucht. Spielen außer Haus. 11.15 Im Haus. Rhythmik, Gesang, ein Teil der Kinder deckt die Tische, Toilette für alle, ev. Märchenstunde. 12.15–12.30 Relaxation (»Entspannung«: Die Kinder liegen ausgestreckt, ruhig, ruhen, vor dem Essen). 12.30 Mittagessen: Fleisch, Fisch oder Eier + gekochtes Gemüse + Nachtisch + Butterbrot und Milch. 1-2.30 Mittagsschlaf (Die Kinder ziehen ihre Betten aus, entledigen sich aller Straßenkleider, schlafen. (Brauchen diesen Schlummer bis 6, 7 Jahre, auch wenn die letzte Zeit ein Ruhen ohne Einschlafen

43. Alva Myrdal, Barnen i kollektivhuset, o.D. [1932], Ms., Bl. 32f. (ARAB 405/2.3:1).

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2.30 2.45 5.30 7[.00]

ist.) Können gerne bei weit geöffnetem Fenster und Türen schlafen, tief eingebettet). Anziehen, Toilette. Ein Glas Milch als Zwischenmahlzeit. Spielen draußen oder zu den Eltern. Abendessen: Käsebrot, Milch, Tomate oder Salat. Ruhiges Spiel drinnen, ev. mit den Eltern. Sukzessive Abendtoilette mit Bad jeden zweiten Tag, Schlafengehen.«

6. Quellen und Literatur A ) UNGEDRUCK TE

Q UELLEN

AMA – Arkitekturmuseets arkiv, Stockholm: • Sven Markelius’ samling • Uno Åhréns samling ARAB – Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm: • 405: Alva och Gunnar Myrdals Arkiv44 • 1187: Tidens förlag KB – Kungliga biblioteket, Stockholm: • OKAT, Utställningar i Sverige: Stockholmsutställningen 1930 (div. Broschüren) • Ep.C1a: Gustav Cassel • L 55: Kerstin Hesselgren • L 67: Eli Heckschers papper • L 244: Karin Kock RA – Riksarkivet, Stockholm: • YK 542: Befolkningskommissionen • YK 1067: Kommittén för social upplysning • YK 1671: 1941 års befolkningsutredning • 770124: Pressens opinionsnämnd SLBA – Statens ljud- och bildarkiv, Stockholm (nunmehr Teil der KB):45 • Aktuellt, Sveriges Radio, 28.12.1966 • Aktuellt spezial: Så styrs Sverige, Sveriges Television, TV 1, 28.11.1982 44. Infolge mehrfacher Umordnung des Nachlasses sind die Signaturen der Gruppe 4.2 noch nicht endgültig festgelegt. Sie sind hier unter der alten Signatur 6.1 nachgewiesen; nach der endgültigen Ordnung des Archivs wird eine Konkordanzliste die Auffindbarkeit sicherstellen. 45. Die Bezeichung der Fernehkanäle ist uneinheitlich.

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Asiatiskt drama. En utfrågning av professor Gunnar Myrdal i samband med att första delen av hans verk om utvecklingsproblem i Sydasien kommer ut på svenska, Sveriges Radio, TV 1, 13.5.1968 • Första maj i Olofström. Direktsändning från demonstrationståget och Folkets park, Sveriges Radio, TV 1, 1.5.1963 • I svaromål, Sveriges Radio, 16.10.1962 • Kollektivhus – reservat för lyckliga smitare?, Sveriges Television, TV 2, 28.8.1980 • Kvällsöppet, Sveriges Radio, TV 2, 18.2.1976 • Magasinet, Sveriges Television, TV 2, 12.11.1979 • Magasinet, Sveriges Television, TV 2, 18.1.1984 • Möte med Gunnar Myrdal, Sveriges Television, TV 2, 12.5.1982 • Ute hos... Ambassadör och u-landsexpert Alva Myrdal tar emot på Garvargården i Mariefred, Sveriges Radio, TV 1, 31.7.1963 • Världen är hans arbetsfält. Ett porträtt av Gunnar Myrdal, tecknat av vänner och medarbetare, Sveriges Radio, P 4, 24.1.1967 • Veckorevy 30.9.1935 • Vi pratar om Kuba, Sveriges Television, TV 2, 6.11.1982 SRD – Sveriges Radio AB, dokumentarkivet, Stockholm: • B 34: Kulturredaktionen • B 70: Utbildningen. Kulturredaktionen. Vuxenundervisning

B ) GEDRUCK TE

Q UELLEN

UND

S EKUNDÄRL I TER AT UR

Adelswärd, Viveka: Tilltalsproblem och språkklyftor, in: Christensson, Jakob (Hg.): Signums svenska kulturhistoria. 1900-talet, Stockholm 2009, S. 501-521 Adler-Karlsson, Gunnar: Funktionssocialism. Ett alternativ till kommunism och kapitalism, Uppsala, Stockholm 1967 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main 2002 Ahlberg, Carl-Fredrik: Stadsplaneringens nya giv, in: Social årsbok 1947, Stockholm 1948, S. 16-24 —: Vad vi vet och behöva veta för att planlägga, in: Ders. u.a.: Bygg bättre samhällen, Stockholm 1943, S. 42-47 — u.a.: Bygg bättre samhällen, Stockholm 1943 Ahlsén, Erik: Villor, in: Byggmästaren 20, 1941, S. 301-336 Ahrne, Göran/Roman, Christine/Franzén, Mats: Det sociala landskapet. En sociologisk beskrivning av Sverige från 50-tal till 90-tal, Göteborg 2 1996

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Die Romantik der Rationalität

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Die Romantik der Rationalität

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XIII Anhang

Bostaden. En översikt med redovisning av bostadsavdelningen på H55. Hälsingborgsutställningen 1955. Internationell utställning av konstindustri, bostäder, inredningar, anordnad av Hälsingborgs stad och Svenska slöjdföreningen, 10 juni-28 augusti, Hälsingborg 1955 Bostaden och vår ekonomi, Stockholm 1934 Bostadsstyrelsen: God Bostad 5. Kollektivhus, o.O. [Stockholm] o.J. [1978] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 31989 —: Die männliche Herrschaft, Frankfurt/Main 2005 —: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main 1979 —: Homo academicus, Frankfurt/Main 1992 Boureau, Alain: Kantorowicz. Geschichten eines Historikers, Stuttgart 1992 Brevskolan: Den svenska livsformen. Korrespondenskurs, Stockholm 1942 Broberg, Gunnar/Roll-Hansen, Nils (Hg.): Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing/MI 22005 —/Tydén, Mattias: Oönskade i folkhemmet. Rashygien och sterilisering i Sverige, Stockholm 1991 B[runiu]s, C[élie]: Ordförandeskifte i Riksförbundet, in: Yrkeskvinnan 6, 1938, H. 6, S. 2 Brunnström, Lisa: Den rationella fabriken. Om funktionalismens rötter, Umeå 1990 —: Det svenska folkhemsbygget. Om Kooperativa Förbundets arkitektkontor, Stockholm 2004 Brunskog, Margareta: Familjefrågor. Handledning för studier och diskussion utgiven av Kooperativa Förbundets korrespondensskola, Stockholm 1936 —/Klarin, Edit: Vår hälsa och vår föda, Stockholm 31936 Bruun, Kettil/Frånberg, Per (Hg.): Den svenska supen. En historia om brännvin, Bratt och byråkrati, Stockholm 1985 Burgess, Ernest W./Blumer, Herbert (Hg.): The Human Side of Social Planning. Selected Papers from the Proceedings of the American Sociological Society 1935, Chicago o.J. [1935] Burns, C. Delisle: Fritiden i det moderna samhället, Stockholm 1936 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 2003 —: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/Main 1997

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Die Romantik der Rationalität

Friman, Eva: Växt för välfärd: Den ekonomiska expansionens löften kring sekelskiftet 1900, in: Hatje, Ann-Katrin (Hg.): Sekelskiftets utmaningar. Essäer om välfärd, utbildning och nationell identitet vid sekelskiftet 1900, Stockholm 2001, S. 255-275 Friman, Helena u.a.: Skolbarn. En folkundervisning växer fram, Stockholm 1985 — u.a.: Storstadsungdom i fyra generationer, Stockholm 1991 Fritiden. Utställning i Ystad 19 juni-23 aug. 1936. Katalog, Ystad 1936 Frykman, Elin: The Cutting Edge: A Sterilisation Campaign in Sweden, in: Kaye, James/Stråth, Bo (Hg.): Enlightenment and Genocide, Contradictions of Modernity, Brüssel u.a. 2000, S. 213-242 Frykman, Jonas: Becoming the Perfect Swede: Modernity, Body Politics, and National Processes in Twentieth-Century Sweden, in: Ethnos 58, 1993, S. 259-274 —: Dansbaneeländet. Ungdomen, populärkulturen och opinionen, Stockholm 1988 —: In Motion. Body and Modernity in Sweden between the World Wars, in: Ethnologia Scandinavica 22, 1992, S. 36-51 —: I rörelse. Kropp och modernitet i mellankrigstidens Sverige, in: Kulturella perspektiv 1, 1992, S. 31-42 —: Mellan mössbränning och champagneyra. Fest och vardag i tre generationer, in: Ders./Löfgren, Orvar (Hg.): Svenska vanor och ovanor, Stockholm 1991, S. 136-158 —: Modernitet som svensk mentalitet, in: Agrell, Wilhelm (Hg.): Nationell säkerhet utan gränser, Stockholm 1991, S. 151-179 —: Pure and Rational. The Hygienic Vision: A Study of Cultural Transformation in the 1930’s. The New Man, in: Ethnologia Scandinavica 11, 1981, S. 36-63 —/Löfgren, Orvar: Den kultiverade människan, Malmö 1979 — u.a.: Modärna tider. Vision och vardag i folkhemmet, Malmö 1985 Frånberg, Per: Umeåsystemet. En studie i alternativ nykterhetspolitik 19151945, Umeå 1983 Gaskell, S. Martin: Model Housing. From the Great Exhibition to the Festival of Britain, London, New York 1986 Gebhardt, Miriam: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009 Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002 Gerndt, Helge: Bildüberlieferung und Bildpraxis. Vorüberlegungen zu einer volkskundlichen Bildwissenschaft, in: Ders./Haibl, Michaela (Hg.):

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XIII Anhang

Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft, Münster u.a. 2005, S. 13-34 —/Haibl, Michaela (Hg.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft, Münster u.a. 2005 Giedion, Sigfried: Architektur und Gemeinschaft. Tagebuch einer Entwicklung, Reinbek b. Hamburg 1956 —: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt/Main 1982 [urspr. 1948] Gilbreth, Lillian Moller: The Home-Maker and Her Job, New York, London 1938 Gille, Halvor: Svensk befolkningspolitik, Kopenhagen 1949 Giöbel-Lilja, Ingrid: Gustav Cassel. En livsskildring, Stockholm 1948 Göransdotter, Maria: Möbleringsfrågan: Om synen på heminredning i 1930-1940-talens bostadsvaneundersökningar, in: Historisk tidskrift 199, 1999, S. 449-474 —: Smakfostran och heminredning. Om estetiska diskurser och bildning till bättre boende i Sverige 1930-1995, in: Söderberg, Johan/Magnusson, Lars (Hg.): Kultur och konsumtion i Norden 1750-1950, Helsinki 1997 Götz, Norbert: Att lägga historien till rätta. Försöket att göra folkhemmet folkhemskt, in: Tvärsnitt 24, 2002, H. 1, S. 28-43 —: Provisorische Utopie und konkrete Ordnung. Zur Abgrenzung schwedischer und deutscher Gemeinschaftskonstruktionen 1932/33-1945, in: Bänsch, Alexandra/Henningsen, Bernd (Hg.): Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften. Schweden und Deutschland im Modernisierungsprozeß, Baden-Baden 2001, S. 123-143 —: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001 Greider, Göran: Rudolf Meidner. Skärvor ur ett nittonhundratalsliv, Stockholm 1997 Griesebner, Andrea: Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005 Gröning, Lotta: Kvinnans plats – min bok om Alva Myrdal, Stockholm 2006 Gugerli, David/Orland, Barbara (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002 Gullberg, Anders/Rudberg, Eva: Byggare i Stockholm. Byggmästarerollen under 1900-talet, Stockholm 2001 Gullberg, Eva: Det välnärda barnet. Föreställningar och politik i skolmåltidens historia, Stockholm 2004 Gunnarsjaa, Arne: Norges arkitekturhistorie, Oslo 2006

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XIII Anhang

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XIII Anhang

—: Det fria organisationslivet, in: Nordisk samhörighet. En realitet, Stockholm 1946, S. 91-122 —: Die Veränderungen in der Struktur der Familie in den letzten Jahren, in: Neue Sammlung 5, 1965, S. 220-230 —: Education and the Standards of Living, in: Social Service and the Standards of Living. Proceedings of the Sixth International Conference of Social Work, Madras, December 12-19, 1952, Bombay 1953, S. 159-174 —: Education for Democracy in Sweden, in: Education for Democracy. The Proceedings of the Congress on Education for Democracy, held at Teachers College, Columbia University, August 15, 16, 17, 1939, New York 1939, S. 169-180 —: Efterkrigsplanering, Stockholm 1944 —: En wigforsskt djärv anda måste blåsa in i jämlikhetsdebatten, in: Fackföreningsrörelsen 48, 1968, S. 154-158 —: Factors in Changing Family Patterns, in: Transactions of the Third World Congress of Sociology/Actes du trosième Congres mondial de Sociologie. Koninklijk Instituut voor de Tropen, Amsterdam, 22-29 August, 1956, 8 Bde., London 1956/1957, Bd. 4, S. 1-13 —: Familjen, fostran och den nya tiden, in: Hem och familj i skolans undervisning jämte några synpunkter på utbildningen för husligt arbete. Betänkande framlagt av Sveriges husmodersföreningars riksförbund, Stockholm 1941, S. 7-43 —: Familjen göres om, in: Morgonbris 29, 1933, H. 12, S. 13-15 —: Föräldrafostrans socialpedagogiska uppgifter och organisation, in: SOU 1936:59. Betänkande i sexualfrågan, avgivet av Befolkningskommissionen, Stockholm 1936, S. 442-452 —: Föräldrauppfostran, in: Morgonbris 29, 1933, H. 12, S. 31f. —: Förord, in: Sprague Mitchell, Lucy: Här och nu. Sagobok för barn, Stockholm 1939, S. 3-7 —: Förskolålderns socialpedagogiska problem, in: Wangson, Otto (Hg.): I socialvårdens tjänst. Ett samlingsverk om svensk socialvård och dess företrädare, Stockholm 1944, S. 30-41 —: Folk och familj, Stockholm 1944 —: Folkvaror – kvalitetsvaror, in: Vi 32, 1945, H. 8, S. 2, 24f. —: Forskningen om individ och samhälle måste internationaliseras, in: Människan och samhället. En bok till Tage Erlander på 50-årsdagen, Stockholm 1951, S. 155-162 —: Fostran till frihet, kritik och kulturkamp, in: Kulturfront [I.], Stockholm 1936, S. 64-70 —: Gymnasieskolan som livsform för ungdomen, in: Ekholm, Lars (Hg.): En framtida gymnasieskola – så vill vi ha den!, Stockholm 1980, S. 5492 473

Die Romantik der Rationalität

—: Hälsan är fritidsnöje i PECKHAM, in: Vi 33, 1946, H. 34, S. 7f. —: Hälsan beror på politiken, in: Vi 35, 1948, H. 11, S. 8f., 23 —: Hur folkopinionen studeras, in: Tiden 33, 1941, S. 269-277 —: Jämlikhetens villkor. Ett manifest av Alva Myrdal, Solna 1977 —: Jag blev gripen av att en sådan människa funnits. Alva Myrdal om Gandhi, in: Vi 70, 1983, H. 10, S. 5f., 43 —: Kimonon som hindrar, in: Vi 41, 1954, H. 37, S. 3f., 30f. —: Kollektiv bostadsform, in: Tiden 24, 1932, S. 601-608 —: Kommentarer, Stockholm 1944 —: Konstbegåvade barn och andra, in: Mattsson, Gustaf (Hg.): Barn i skapande verksamhet, Stockholm 1941, S. 31-46 —: Kontanta barnbidrag kräver skärpt steriliseringslag?, in: Tidskrift för barnavård och ungdomsskydd 21, 1946, S. 55-60 —: Kvinnliga präster, landshövdingar och mera sådant, in: Yrkeskvinnan 6, 1938, H. 3, S. 2f. —: Livet segrar över skolan!, in: Vecko-Journalen 30, 1939, H. 2, S. 14f., 36f. —: Lovsång till den amerikanska husmodern, in: Idun 52, 1939, H. 27, S. 6f., 19 —: Människan i världen, in: Svärd, Stig (Hg.): Dokument från Örebro, Stockholm 1969, S. 14-30 —: Medborgarkunskap efter kön, in: Morgonbris 33, 1937, H. 6, S. 5, 20 —: Mer människokunskap i utbildningen, in: Social årsbok 1945, Stockholm 1945, S. 114-162 —: Möglichkeiten und Gefahren für das Spielen unserer Kinder in der heutigen Leistungsgesellschaft, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Nr. 63, April 1972, S. 10-13 —: Nation and Family. The Swedish Experiment in Democratic Family and Population Policy, ND, London 1998 [urspr. 1941] —: Nehru: Social Justice and National Development, in: Nehru and the Modern World. International Round Table on Jawaharlal Nehru, New Dehli, September 1966, New Dehli 1967, S. 39-52 —: Nu måste kvinnorna visa sitt politiska och sociala intresse, in: Yrkeskvinnan 5, 1937, H. 11, S. 4f. —: Ny fostran – ny värld, in: Freden och framtiden. Våra problem efter kriget, Stockholm 1943, S. 280-303 —: Opinionsmätningarnas mognadsprov, in: Tiden 34, 1942, S. 397-414 —: Orienterande inledning om tendenser och problem, in: Runda bordet 1: Folkvaror »Svensk Garantie«, Stockholm 1946, S. 7-59 —: Pedagogiska synpunkter på skolmåltiden, in: Svensk lärartidning 65, 1946, S. 386-390

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XIII Anhang

—: Politiskt nytänkande nödvändigt i jämlikhetsfrågorna, in: Fackföreningsrörelsen 48, 1968, S. 114-119 —: Population Trends in Densely Populated Areas, in: Proceedings of the American Philosophical Society 95, 1951, S. 1-7 —: Radion åt folket. Radion åt föräldrarna, in: Morgonbris 33, 1937, H. 9, S. 9f. —: Rätten till riktig information, in: Tiden 39, 1947, S. 588-595 —: Rezension von Gun Nihlén: Vardagsbarn (Stockholm 1942), in: Tidskrift för barnavård och ungdomsskydd 17, 1942, S. 240f. —: Riktiga leksaker, Stockholm 1936 —: Sätt bo tre gånger!, in: Idun 54, 1941, H. 14, S. 4, 19 —: Spelet om nedrustingen, Stockholm 21978 [urspr. 1976] —: Stadsbarn. En bok om deras fostran i storbarnkammare, Stockholm 1935 —: Stickprov på Storbritannien, Stockholm 1942 —: Sverige i världen, in: Kyrkan i världen. Föredrag och rapporter vid 28:e allmäna kyrkliga mötet i Malmö 1967, Stockholm 1967, S. 37-61 —: Sveriges profi l i Österland, in: Information / Svenska Institutet, Nr. 1, 1962, Stockholm 1962 —: Tekniken är en fara – teknikerna en resurs, in: Teknisk Tidskrift 97, 1967, S. 963-966 —: Tekniken styr oss – vem styr tekniken?, in: Örnkloo, Ulf (Hg.): Angeläget nu. Angelägna åsikter, Stockholm 1969, S. 22-26 —: The Power of Education, in: Hughes, Emmet John (Hg.): Education in World Perspective. The International Conference on World Educational Problems, New York 1962, S. 137-159 —: The Public Investment in Children, in: Social Work in the Current Scene. Selected Papers, 76th Annual Meeting [of the] National Conference of Social Work, Cleveland, Ohio, June 12-17, 1949, New York 1950, S. 70-85 —: The Role of the Teacher for Economic Development, in: Central Institute for Education, Foundation Day Adress (January 19, 1960), New Delhi o.J. [1960] —: The Swedish Approach to Population Policies. Balancing Quantitative and Qualitative Population Philosophies in a Democracy, in: The Journal of Heredity 30, 1939, S. 111-115 —: Time Table for a Newly Developing Welfare State, in: The Indian Journal of Social Work 17, 1957, S. 340-347 —: Uppfostran till »äkta quinnlighet«, in: Idun 47, 1934, H. 8, S. 190, 202f. —: Utlandshjälpen och vår levnadsstandard, in: Morgonbris 57, 1961, H. 12, S. 13f., 24f. 475

Die Romantik der Rationalität

—: Utveckling eller hunger, in: Vi 48, 1961, H. 27/28, S. 22f. —: Varning för utvidgning av statskyrkosystemet, in: Tiden 65, 1973, S. 528-545 —: Vem har råd att bli intellektuell?, in: Morgonbris 33, 1937, H. 1, S. 5f. —: Vi föräldrar måste fostra oss, in: Idun 49, 1936, H. 27, S. 7, 21f. —: Visa mig din skolsal..., in: Svensk lärartidning 65, 1946, S. 809f., 830f. —: Vår plats bland nationerna, in: Cedergren, Elsa u.a. (Hg.): Diskussion om demokratin, Stockholm 1941, S. 48-74 —: Vårt ansvar för de fattiga folken. Utvecklingsproblem i social närbild, Stockholm 1961 —: World Action Against Social Ills, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 264, 1949, S. 98-105 —/Andersson, Kent: Ett samtal om JÄMLIKHETEN, in: Fackföreningsrörelsen 49, 1969, S. 416-420 —/Klein, Viola: Kvinnans två roller, Stockholm 1957 —/Klein, Viola: Women’s Two Roles. Home and Work, London 1956 —/Myrdal, Gunnar: Kontakt med Amerika, Stockholm 1941 —/Myrdal, Gunnar: Kris i befolkningsfrågan, ND der 2. Aufl., Falun 1997 [urspr. 1934] —/Myrdal, Gunnar: Kris i befolkningsfrågan, Stockholm 31935 [erweiterte »Volksausgabe«] Myrdal, Gunnar: Alkoholens vinst- och förlustkonto, in: Tirfing 24, 1930, S. 106-109 —: All debatt är av godo, in: Vi 33, 1946, H. 6, S. 11f. —: Amerika mitt i världen, Stockholm 1943 —: Amerikas väg – en uppfordran till överflödssamhället, Stockholm 1963 —: An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy. Twentieth Anniversary Edition, New York, Evanston, London 1962 [urspr. 1944] —: Asian Drama. An Inquiry into the Poverty of Nations, Harmondsworth 1968 —: Befolkningsfrågan och kvinnofrågan, in: Hertha 22, 1935, S. 81-83 —: Befolkningsproblemet i Sverige. Radioföredrag den 27 jan. 1935, Stockholm 1935 —: Bostadssociala preludier, in: Bostadspolitik och samhällsplanering, Stockholm 1968, S. 9-14 —: Das gestörte Gleichgewicht der Weltwirtschaft. Zur Problematik der »unterentwickelten Gebiete«, in: Außenpolitik 4, 1953, S. 19-26 —: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1965 —: Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 4, 1933, S. 305-329

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XIII Anhang

—: Den förändrade världsbilden inom nationalekonomin, in: Samhällskrisen och socialvetenskaperna. Två installationsföreläsningar, Stockholm 1935, S. 5-41 —: Det svenska jordbrukets läge i världskrisen. Föredrag vid Lantbruksveckans allmäna sammanträde den 14 mars 1932, in: Lantbruksveckans handlingar 1932, Stockholm 1932, S. 21-41 —: Ett bra land som borde kunnat vara mycket bättre, in: Herin, Jan/Werin, Lars (Hg.): Ekonomisk debatt och ekonomisk politik. Nationalekonomiska föreningen 100 år, Stockholm 1977, S. 235-248 —: Familjesynpunkten på bostaden, in: Andra allmäna svenska bostadskongressen. Stockholm den 29-30 nov. 1935. Föredrag, förhandlingar och beslut. Stenografiskt protokoll, Stockholm 1936, S. 22-80 —: Gustav Cassel 1866-1944 [sic], in: Joseph A. Schumpeter: Stora nationalekonomer, Stockholm 1953, S. 341-353 [urspr. 1945] —: Historien om An American Dilemma, Stockholm 1987 —: Hur styrs landet?, Stockholm 1982 —: I stället för memoarer. Kritiska essäer om nationalekonomin, Stockholm 1973 —: Jordbrukspolitiken under omläggning, Stockholm 1938 —: Jordbrukspolitikens svårigheter, in: Nationalekonomiska Föreningens Förhandlingar 60, 1938, S. 57-98 —: Kontant eller natura i socialpolitiken, in: Nationaløkonomisk Tidsskrift 76, 1938, S. 69-91 —: Kosta sociala reformer pengar?, in: Arkitektur och samhälle 1, Stockholm 1932, S. 33-44 —: Lantbrukets bristande räntabilitet, in: Svensk Tidskrift 18, 1928, S. 463476 —: National Planning for Healthy Cities: Two Challenges to Affluence, in: Warner Jr., Sam Bass (Hg.): Planning for a Nation of Cities, Cambridge/ MA, London 1966, S. 3-22 —: Några metodiska anmärkingar rörande befolkningsfrågans innebörd och vetenskapliga behandling, in: SOU 1936:59. Betänkande i sexualfrågan, avgivet av Befolkningskommissionen, Stockholm 1936, S. 149-158 —: Objectivity in Social Research, Latrobe/PA 1969 —: Objektivitetsproblemet i samhällsforskningen, Stockholm 1968 —: Opening Adress: The Relation between Social Theory and Social Policy, in: The British Journal of Sociology 4, 1953, S. 210-242 —: Planhushållning i välfärdsstaten, Stockholm 1961 —: Politiskt manifest om världsfattigdomen. En sammanfattning och fortsättning av Asiatiskt drama, Stockholm 1970 —: Population. A Problem for Democracy, Cambridge/MA 1940 —: Prisbildningsproblemet och föränderligheten, Uppsala 1927 477

Die Romantik der Rationalität

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Die Romantik der Rationalität

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Die Romantik der Rationalität

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XIII Anhang

SOU 1938:19. Yttrande med socialetiska synpunkter på befolkningsfrågan, avlämnat av Befolkningskommissionen, Stockholm 1938 SOU 1938:20. Betänkande angående barnkrubbor och sommarkolonier m.m., avgivet av Befolkningskommissionen, Stockholm 1938 SOU 1938:24. Betänkande med vissa demografiska utredningar, avgivet av Befolkningskommissionen, Stockholm 1938 SOU 1938:57. Slutbetänkande, avgivet av Befolkningskommissionen, Stockholm 1938 SOU 1944:26. Befolkningspolitik i utlandet. En redogörelse utarbetad av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1944 SOU 1944:51. Betänkande i abortfrågan, avgivet av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1944 SOU 1945:4. Betänkande angående den husliga utbildningen, avgivet av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1945 SOU 1945:47. Betänkande om skolmåltiderna, avgivet av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1945 SOU 1945:53. Statistiska undersökningar kring befolkningsfrågan, utförda av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1945 SOU 1945:63. Slutbetänkande, avgivet av Bostadssociala utredningen. Del I: Allmänna riktlinjer för den framtida bostadspolitiken. Förslag till låne- och bidragsformer, Stockholm 1946 SOU 1946:53. Betänkande om befolkningspolitikens organisation m.m., avgivet av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1946 SOU 1947:1. Kollektiv tvätt. Betänkande med förslag att underlätta hushållens tvättarbete, avgivet av 1941 års befolkningsutredning, Stockholm 1947 SOU 1947:18. Kommitténs för partiellt arbetsföra betänkande II. Förslag angående yrkesvägledning och yrkesutbildning för partiellt arbetsföra m.m., Stockholm 1947 SOU 1947:46. Betänkande angående familjeliv och hemarbete, avgivet av Utredningen för hem- och familjefrågor, Stockholm 1947 SOU 1948:27. 1946 års skolkommissionens betänkande med förslag till riktlinjer för det svenska skolväsendets utveckling, Stockholm 1948 SOU 1949:18. Kvalitetsforskning och konsumentupplysning. Betänkande, avgivet den 10 maj 1949 av 1946 års utredning angående kvalitetsforskning och konsumentupplysning, Stockholm 1949 SOU 1949:31. Social upplysning. Betänkande avgivet av Kommittén för social upplysning, Stockholm 1949 SOU 1954:3. Kollektivhus. Bostadskollektiva kommitténs betänkande II, Stockholm 1954 SOU 1955:8. Tvätt. Bostadskollektiva kommitténs betänkande III, Stockholm 1955 487

Die Romantik der Rationalität

SOU 1956:32. Hemmen och samhällsplaneringen. Bostadskollektiva kommitténs slutbetänkande, Stockholm 1956 SOU 1964:4. Effektivare konsumentupplysning. Betänkande avgivet av Konsumentupplysningsutredningen, Stockholm 1964 SOU 1968:58. Konsumentupplysning. Principer och riktlinjer. Betänkande av 1963 års konsumentupplysningskommitté, Stockholm 1963 SOU 1971:37. Konsumentpolitik – riktlinjer och organisation. Betänkande avgivet av konsumentutredningen, Stockholm 1971 SOU 1985:32. Hushållning för välfärd. Den framtida konsumentpolitikens inriktning. Betänkande av konsumentpolitiska kommittén, Stockholm 1985 SOU 2000:20. Steriliseringsfrågan i Sverige 1935-1975. Historisk belysning. Kartläggning. Intervjuer. Slutbetänkande av 1997 års steriliseringsutredning, Stockholm 2000 Southern, David. W.: Gunnar Myrdal and Black-White Relations. The Use and Abuse of An American Dilemma, 1944-1969, Baton Rouge, London 1987 Sprague Mitchell, Lucy: Här och nu. Sagobok för barn, Stockholm 1939 Stadskollegiets utlåtanden och memorial. Bihang nr 9:1945. Det framtida Stockholm. Riktlinjer för Stockholms generalplan, Stockholm 1945 Stenius, Henrik: The Good Life is a Life of Conformity: The Impact of the Lutheran Tradition on Nordic Political Culture, in: Sørensen, Øystein/ Stråth, Bo (Hg.): The Cultural Construction of Norden, Oslo u.a. 1997, S. 161-171 Stephan, Inge: Das Schicksal der begabten Frau. Im Schatten berühmter Männer, Stuttgart 1989 Stiller, Adolph (Hg.): Finnland. Architektur im 20. Jahrhundert, München 2000 Stokholm Banke, Cecilie Felicia: Alva og Gunnar Myrdals familievision, in: Arbejderhistorie 19, 2000, H. 4, S. 16-32 —: Den sociale ingeniørskunst i Danmark. Familie, stat og politik fra 1900 til 1945, Diss., Univ. Roskilde 1999 Stockholmsutställningen 1930: Hemmet. Konstindustrien, Stockholm 1930 —: Huvudkatalog, Stockholm 1930 —: Internationell utställning av post-kubistisk konst, 19 aug-30 sept, Stockholm 1930 —: Invigningsdagen 16 maj 1930, Stockholm 1930 —: Officiellt vyalbum, Stockholm 1930 —: Skolutställningen, o.O. o.J. Stockholmsutställningen 1930 av konstindustri, konsthantverk och hemslöjd. Specialkatalog över bostadsavdelningen, Stockholm 1930 488

XIII Anhang

Stolpe, Herman: Bostadsfrågor. Handledning för studier och diskussion, Stockholm 1936 —: Familjen och samhället. Handledning för de kooperativa gruppernas och gillenas diskussioner, o.O. [Stockholm] 1936 —: Studiecirkelledaren. Några råd och anvisningar, Stockholm 1947 —/Boalt, Carin: Husmodersfrågor. Handledning för de kooperativa grupperna, Stockholm 1938 Strang, Johan: Axel Hägerström och Gunnar Myrdal. Om den svenska värdenihilistiska traditionen, in: Historisk tidskrift för Finland 88, 2003, S. 43-61 Streeten, Paul: Gunnar Myrdal. The Man and the Theorist, in: Dostaler, Gilles/Ethier, Diane/Lepage, Laurent (Hg.): Gunnar Myrdal and His Works, Montreal 1992, S. 111-127 —: Introduction, in: Myrdal, Gunnar: Value in Social Theory. A Selection of Essays on Methodology, New York 1958, S. ix-xlvi —: Ungleichgewichtiges Wachstum, Programme und Prognosen und der ideale Plan, in: Myrdal, Gunnar: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1965, S. 261-274 Strömberg, Martin: Idealhemmet, som Myrdals måste lämna, in: Svenska hem i ord och bilder 27, 1938, S. 231-236 Strömberg, Thord: Die Baumeister des Folkhems. Lokale Wohnungsbaupolitik in Schweden, in: Comparativ 6, 1996, S. 127-147 Stråth, Bo: Der Volksbegriff in der Organisation der Religionsausübung Schwedens, in: Hölscher, Lucian (Hg.): Baupläne der sichtbaren Kirche. Sprachliche Konzepte religiöser Vergemeinschaftung in Europa, Göttingen 2007, S. 168-195 Sundahl, Eskil: Den moderna bostadens krav, in: Svenska Slöjdföreningens årsbok 1929, Stockholm 1929, S. 3-28 —: Framtidens bostad. Den barnrika familjens bostadsproblem, in: Hem och Hushåll 1935: Den moderna familjens problem, Stockholm 1935, S. 31-48 Sundbärg, Gustav: Det svenska folklynnet. Aforismer, Stockholm 1911 Sundberg, Marie/Öhman, Johan: Hälsa och livskvalitet, in: Sandell, Klas/ Sörlin, Sverker (Hg.): Friluftshistoria. Från »härdande friluftsliv« till ekoturism och miljöpedagogik, Stockholm 2000, S. 102-117 Sundgren, Per: Kulturen och arbetarrörelsen. Kulturpolitiska strävanden från August Palm till Tage Erlander, Stockholm 2007 —: Smakfostran. En attityd i folkbildning och kulturliv, in: Lychnos 2002, S. 138-175 Sundkvist, Maria: De vanartade barnen. Mötet mellan barn[,] föräldrar och Norrköpings barnnavårdsnämnd 1903-1925, Uppsala 1994 Svea Rike, Stockholm 1930 489

Die Romantik der Rationalität

Svedberg, Olle: Planerarnas århundrade. Europas arkitektur 1900-talet, Stockholm 51996 Svedlund, Gylfe: Post Funkis, Stockholm 1931 Svennilson, Ingvar: Samhällsmiljön och näringslivets lokalisering, in: Social årsbok 1947, Stockholm 1948, S. 57-61 Svenska Arkitekters Riksförbund (Hg.): Fyrtiotalets svenska bostad, Stockholm 1950 — (Hg.): Ny arkitektur i Sverige. 1950-talets svenska byggnadskonst, Stockholm 1961 — (Hg.): Ny svensk arkitektur, Stockholm 1939 — (Hg.): Trettiotalets byggnadskonst i Sverige. Från akademiska opponenter till oakademisk arkitektur, Stockholm 1943 Svenska vegetariska föreningen (Hg.): 50 läkares utsagor om bruket av kaffe, Stockholm 1913 Svensson, Birgitta: Lifetimes – Life History and Life Story. Biographies of Modern Swedish Intellectuals, in: Ethnologia Scandinavica 25, 1995, S. 25-42 Svensson, Sigfrid: Hur kaffet blev svensk nationaldryck, in: Bringéus, NilsArvid (Hg.): Mat och miljö. En bok om svenska kostvanor, Lund 1970, S. 182-195 Sveriges husmodersföreningars riksförbund: Hem och familj i skolans undervisning jämte några synpunkter på utbildningen för husligt arbete, Stockholm 1941 Sveriges läkarförbund (Hg.): Ett friskare folk. Typföredrag till Hälsokampanjen 1945. Utarbetade av Hälsökampanjens Medicinska Expertråd i samarbete med särskilt anlitade sakkunnige, Stockholm 1946 Sveriges Riksbank (Hg.): Bosättning, Stockholm 1944 Sykora, Katharina: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst. Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art, Würzburg 1983 Taut, Bruno: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig 1924 —: Ein Wohnhaus, Berlin 1995 [urspr. 1927] Terling, Barbro: Alva Myrdal. Kommenterad bibliografi 1932-1961, Stockholm 1987 Thiberg, Sven: Dags att undvara. 1970-talet: Insikt om de ändliga resurserna, in: Wickman, Kerstin (Hg.): Formens rörelse. Svensk form genom 150 år, Lund 1995, S. 268-283 Thörn, Kerstin: En bostad för hemmet. Idéhistoriska studier i bostadsfrågan 1889-1929, Umeå 1997

490

XIII Anhang

—: En god bostad för det riktiga livet. Den moderna bostadens ideologiska förutsättningar, in: I framtidens tjänst. Ur folkhemmets idéhistoria, Stockholm 1986, S. 196-213 Thomas, Dorothy Swaine/Thomas, William I.: The Child in America. Behavior Problems and Programs, New York 1928 Thorkildsen, Dag: Religious Identity and Nordic Identity, in: Sørensen, Øystein/Stråth, Bo (Hg.): The Cultural Construction of Norden, Oslo u.a. 1997, S. 138-160 Thorsen, Liv Emma: Skis, Skates, and Language. Traits of Norwegian Urban Young Girls’ Culture in the 1930s, in: Ethnologia Scandinavica 27, 1997, S. 48-64 Thullberg, Per: Art. »Alva Myrdal«, in: Svenskt biografiskt lexikon, bislang 32 Bde., Stockholm 1918ff., Bd. 26, S. 161-178 —/Östberg, Kjell (Hg.): Den Svenska Modellen, Lund 1994 Tilton, Tim: The Political Theory of Swedish Social Democracy. Through the Welfare State to Socialism, Oxford 1990 Tingsten, Herbert: Statskunskapen och den politiska utvecklingen, in: Samhällskrisen och socialvetenskaperna. Två installationsföreläsningar, Stockholm 1935, S. 43-68 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887 Törne, Elsa: Solidar. En livsfråga för hemmen, Stockholm 31906 [urspr. 1905] —: Solidar II. Renhet. En hafstång för den enskilde och samhället, Stockholm 1906 —: Solidar III. Hemmens lönereglering, Stockholm 1907 Törnqvist, Ingvar: Oscar Olsson – studiecirkelns fader. En historik inför studiecirkelns 100-årsjubileum 2002, Stockholm 2002 Tomasson, Richard F.: Sweden: Prototype of Modern Society, New York 1970 Tornbjer, Charlotte: Den nationella modern. Moderskap i konstruktioner av svensk nationell gemenskap under 1900-talets första hälft, Lund 2002 Trägårdh, Lars: Varieties of Volkish Ideologies. Sweden and Germany 18481933, in: Stråth, Bo (Hg.): Language and the Construction of Class Identities, Göteborg 1990, S. 25-54 Trautwein, Hans-Michael: The Loose Link. Hayek, Lindahl and Myrdal on Money, in: Bellet, Michel/Gloria-Palermo, Sandye/Zouache, Abdallah (Hg.): Evolution of the Market Process. Austrian and Swedish Economics, London, New York 2005, S. 94-113

491

Die Romantik der Rationalität

Tydén, Mattias: Från politik till praktik. De svenska steriliseringslagarna 1935-1975. Rapport till 1997 års steriliseringsutredning, Stockholm 2 2002 Uddhammar, Emil: Partierna och den stora staten. En analys av statsteorier och svensk politik under 1900-talet, Stockholm 1993 Utställningen Bo bättre med anledning av Svenska slöjdföreningens 100-årsjubileum anordnad av Göteborgs stad, Statens byggnadslånebyrå, Svenska slöjdföreningen. Katalog, Göteborg 1945 Vägledning. Hälsingborgsutställningen 1955. Internationell utställning av konstindustri, bostäder, inredningar, anordnad av Hälsingborgs stad och Svenska slöjdföreningen, 10 juni-28 augusti, Hälsingborg 1955 Vestbro, Dick Urban: Kollektivhus från enkökshus till bogemenskap, Stockholm 1982 Vi bo i Ribershus. Svenska slöjdföreningens utställning av moderna hem, Malmö 7-28 september 1938, Malmö 1938 Vikström, Eva: Bruksandan och modernismen. Brukssamhälle och folkhemsbygge i Bergslagen 1935-1975, Stockholm 1998 —: Platsen, bruket och samhället. Tätortsbildning och arkitektur 18601970, Stockholm 1991 Vinterhed, Kerstin: Kärlek i tjugonde seklet – en biografi över Alva och Gunnar Myrdal, Stockholm 2003 Virgin, Ebba: Skolmåltider – förr och nu, Stockholm 1970 Waagensen, Bent/Rubin, Jenny: Kollektivhuset og dets forutsætninger, Kopenhagen 1949 Wägner, Elin: Väckarklocka, Stockholm 1941 Wærn Bugge, Ingeborg: Lantbrukarebostaden, Stockholm 1938 —/Göransson-Ljungman, Kjerstin: Bostad och hushållsorganisation. Studie över ett aktuellt rationaliseringsproblem, Stockholm 1936 Wallander, Sven: Mitt liv med HSB, Stockholm 1968 Waltersson, Kent: Från mammas husmanskost till social ingenjörskonst. Debatten om fria skolmåltider under 1930- och 40-talet i Sverige, Linköping 1997 Wasserstein, Bernard: Barbarism and Civilisation. A History of Europe in Our Times, Oxford 2007 Webb, Beatrice: Meine Lehrjahre, Frankfurt/Main 1988 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987-2008 Weiner, Gena: De räddade barnen. Om fattiga barn, mödrar och fäder och deras möte med fi lantropin i Hagalund 1900-1940, Uppsala 1995 492

XIII Anhang

Weissensteiner, Friedrich: Die Frauen der Genies, Wien, Frankfurt/Main 3 2001 Wendt, Georg von: Kost och kultur. En bok om föda, hälsa och motståndskraft, Stockholm 1936 Wennemo, Irene: Arbetarrörelsen och befolkningsfrågan – Knut Wicksells och makarna Myrdals befolkningsteorier, in: Arkiv för studier i arbetarrörelsens historia 1991, Nr. 50, S. 61-73 Wennström, Elsy: Drömmen om den nya familjen. Alva Myrdal och befolkningsfrågan, in: I framtidens tjänst. Ur folkhemmets idéhistoria, Stockholm 1986, S. 148-165 Westerlund, A.: Mjölken – ett skyddsnäringsmedel, Stockholm 1934 Westholm, Sigurd: Bostadsplanens förändring under senare år, in: Moderna bostadsproblem. Från stadsplan till bostaden som hem, Stockholm 1933, S. 67-81 Wicklin, Martin: Fritidens sociala ingenjörer. Den svåra konsten att ha semester, in: Tvärsnitt 19, 1997, H. 3, S. 56-69 Wickman, Kerstin: Bohaget – kvinnans trygghet och verk, in: Åkerman, Brita u.a.: Den okända vardagen. Om arbetet i hemmet, Stockholm 1983, S. 230-273 —: På en smal tunga ut i havet. Tingen, leken, teknologin och de gemensamma rummen, in: Dies. (Hg.): Formens rörelse. Svensk form genom 150 år, Lund 1995, S. 188-199 Wicksell, Knut: Några ord om samhällsolyckornas viktigaste orsak och botemedel med särskildt afseende på dryckenskapen, Uppsala 1880 Wicksell Nordqvist, Liv: Anna Bugge Wicksell. En kvinna före sin tid, Malmö 1985 Widenheim, Cecilia (Hg.): Utopi och verklighet. Svensk modernism 19001960, Stockholm 2000 Wigerfelt, Berit: Ungdom i nya kläder. Dansbanefröjder och längtan efter det moderna i 1940-talets Sverige, Eslöv 1996 Wigforss, Eva: Kvinnors arbete och löner, in: Myrdal, Alva u.a.: Kvinnan, familjen och samhället, Stockholm 1938, S. 42-82 Wijk, Johnny: Idrott, krig och nationell gemenskap. Om riksmarscher, fältsport och Gunder Hägg-feber, Stockholm, Stehag 2005 Winkelmann, Thomas: Alltagsmythen vom Norden. Wahrnehmung, Popularisierung und Funktionalisierung von Skandinavienbildern im bundesdeutschen Modernisierungsprozeß, Frankfurt/Main 2006 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1990, 2 Bde., München 62005 [urspr. 2000] Wischmann, Antje: Auf die Probe gestellt. Zur Debatte um die »neue Frau« der 1920er und 1930er Jahre in Schweden, Dänemark und Deutschland, Freiburg 2006 493

Die Romantik der Rationalität

Wisselgren, Per: Kollektivhuset och Villa Myrdal. Om samhällsvetenskapens rum i folkhemmet, in: Mårald, Erland/Nordlund, Christer (Hg.): Topos. Essäer om tänkvärda platser och platsbundna tankar, Stockholm 2006, S. 130-151 —: Samhällets kartläggare. Lorénska stiftelsen, den sociala frågan och samhällsvetenskapens formering 1930-1920, Stockholm, Stehag 2000 Witoszek, Nina: Fugitives from Utopia: The Scandinavian Enlightenment Reconsidered, in: Sørensen, Øystein/Stråth, Bo (Hg.): The Cultural Construction of Norden, Oslo u.a. 1997, S. 72-90 —/Trägårdh, Lars (Hg.): Culture and Crisis. The Case of Germany and Sweden, New York, Oxford 2004 Wohlin, Margit: Fostran till gemenskap, in: Ester Hermansson (Hg.): Social fostran. En handbok för lärare. Utgiven på initiativ av kursplanedelegationen inom 1946 års skolkommission, Stockholm 1952, S. 201-208 Wundrak, Richard: Myrdals lära om värderingar, in: Ekonomisk Debatt 19, 1991, S. 675-678 Zaremba, Maciej: De rena och de andra. Om tvångssteriliseringar, rashygien och arvsynd, Stockholm 1999 Zetterberg, Hans L.: Die Philanthropen der Vernunft, in: Graubard, Stephen R. (Hg.): Die Leidenschaft für Gleichheit und Gerechtigkeit. Essays über den nordischen Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 7795 Zetterberg, Kent: Det statliga kommittéväsendet, in: Departementshistoriekommittén (Hg.): Att styra riket: Regeringskansliet 1840-1990, Stockholm 1990, S. 284-309 Åberg, Martin: Samförståndets tid. Konflikt, samarbete och nätverk i svensk lokalpolitik, Lund 1998 Åhrén, Uno: Arkitektur och demokrati, Stockholm 1942 —: Ett planmässigt samhällsbyggande, in: SOU 1945:63. Slutbetänkande, avgivet av Bostadssociala utredningen. Del I: Allmänna riktlinjer för den framtida bostadspolitiken. Förslag till låne- och bidragsformer, Stockholm 1946, S. 580-640 —: Nyttokonstens estetik. Försök till distinktioner, in: Svenska slöjdföreningens tidskrift 23, 1927, S. 71-76 —: Några synpunkter på Gästriklands nutida byggnadskultur, in: Svenska turistföreningens årsskrift 1932, Stockholm 1932, S. 144-167 —: På väg mot en social stadsplanering, in: Svenska stadsförbundets tidskrift 39, 1947, S. 413-415 —: Reflexioner på Werkbunds utställning i Stockholm 1928, in: Svenska slöjdföreningens årsbok 1928, Stockholm 1928, S. 43-52 494

XIII Anhang

—: Särskilt yttrande, in: SOU 1937:43. Betänkande med förslag rörande lån och bidrag av statsmedel till främjande av bostadsförsörjning för mindre bemedlade barnrika familjer i egnahem m.m. jämte därtill hörande utredningar, avgivet den 11 november 1937 av Bostadssociala utredningen, Stockholm 1937, S. 117f. —: Samhällsplaneringens uppgifter och metoder, in: Social årsbok 1947, Stockholm 1948, S. 5-15 —: Stadsbyggandet och stadsplanen, in: Moderna bostadsproblem. Från stadsplan till bostaden som hem, Stockholm 1933, S. 23-36 —: Stadsplanering och bostadsförsörjning, in: Bostadsförsörjning och samhällsplanering. Två radioföredrag av Uno Åhrén och Torvald Åkesson, Stockholm 1944, S. 5-26 —: Standardisering och personlighet, in: Svenska Slöjdföreningens årsbok 1929, Stockholm 1929, S. 44-50 —/Olsson, Ivar: Amatörbyggeri eller yrkesmässig småstugeproduktion, o.O. [Stockholm] 1941 Åkerman, Brita: Alva Myrdal. Från storbarnkammare till fredspris, Stockholm 1997 —: Familjen som växte ur sitt hem, Stockholm 1941 —: Varför så surt och kränkt?, in: Tiden 83, 1991, S. 322f. —: 88 år på 1900-talet. Bland vänner och idéer, Stockholm 1994 — u.a.: Den okända vardagen. Om arbetet i hemmet, Stockholm 1983 — u.a.: Kunskap för vår vardag. Utbildning och forskning för hemmen, Stockholm 1984 — u.a.: Vi kan, vi behövs. Kvinnorna går samman i egna föreningar, Stockholm 1983 Åkerman, Nordal: Gunnar Myrdal. En Interview av Nordal Åkerman, in: Ders. (Hg.): Internationell makt och förtryck, Stockholm 1970, S. 33-41 —: Med jämlikheten som riktmätare. Interview med Alva Myrdal, in: Tiden 66, 1974, S. 14-31 Åkesson, Torvald: Landsbygdens bostäder, in: Bostadsförsörjning och samhällsplanering. Två radioföredrag av Uno Åhrén och Torvald Åkesson, Stockholm 1944, S. 27-40 Åmark, Klas: Hundra år av välfärdspolitik. Välfärdsstatens framväxt i Norge och Sverige, Umeå 2005 Åse, Cecilia/Hirdman, Yvonne (Hg.): Alva Myrdal. »Något kan man väl göra«. Texter 1932-1982, Stockholm 2002 Åström, Gertrud/Hirdman, Yvonne (Hg.): Kontrakt i kris. Om kvinnors plats i välfärdsstaten, Stockholm 1992

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Die Romantik der Rationalität

7. Register Enzensberger, Hans Magnus 11 »Ett hem« (C. Larsson) 159f., 201, 227, 229 Eugenik 90, 95, 100-103, 126-128, 394f.

»Acceptera« (G. Asplund u.a.) 164166, 170 »Är svensken människa?« (H. Berggren/L. Trägårdh) 119-121, 335 Agamben, Giorgio 16, 421 »An American Dilemma« (G. Myrdal) 41-43, 145f., 273-288 »Asian Drama« (G. Myrdal) 43f., 147f., 316f. »Att lägga livet till rätta« (Y. Hirdman) 17f., 31 Baberowski, Jörg 13 »Barndom« (J. Myrdal) 31, 222-224 Bauman, Zygmunt 13, 103 Behaviorismus 295 Berggren, Henrik 119-121, 335 Bevölkerungsfrage/-kommissionen 40, 122f., 131-137, 142, 145f., 204f., 220f., 396 Bild s. Visualisierung Biographie, Problem der 27-34, 45f., 50f. Böök, Fredrik 87, 90-93, 103, 335 Bok, Sissela 345f. Brukssamhälle (Hüttenort) 93, 162, 172, 398, 405 Campanella, Tommaso 160 Cassel, Gustav & Johanna 59, 68, 243-245, 249 Childs, Marquis 9-12, 92, 421 »Det rika och fattiga Sverige« (F. Böök) 90-93 »Det svenska folklynnet« (G. Sundbärg) 335f. Disney, Walt 161 Doering-Manteuffel, Anselm 13

föräldrafostran (Elternausbildung) 39, 215f. folkhem (Volksheim) 104, 119-121, 159f., 191-193, 201 Foucault, Michel 15f. 19f. Frauenfrage 251-260, 270-272, 429f. Frederick, Christine 183f. Freiheit (s.a. Individuum, Standardisierung/Variation) 129, 197, 171-177, 200, 208, 304f., 422-424 Friedan, Betty 429f. Funktionalismus 76-80, 88, 160177, 322-324, 385-387, 397-414 Gemeinschaft (s.a. folkhem, Funktionalismus, Haushalt, Wohnen) 93, 119f., 126, 161f., 171-177, 192, 195, 199f., 304f., 398, 421 Gymnastik 94f., 388f. Hälsingborgutställning H55 (Helsingborgausstellung) 322-324 Haushalt/gender 177, 183-188, 203, 260f., 321f., 417-419, 427 Heckscher, Ebba & Eli 140, 150f., 244 Hirdman, Yvonne 17f., 31, 296, 426-428 Huntford, Roland 10-12 Hygiene/Volksgesundheit 99-103, 164

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XIII Anhang

imaginary landscape 9-12 Individuum 111-121, 125f., 173, 206208, 211-213, 221, 423f. Johansson, Gotthard 167, 169 Kaffee 95-99, 393, 416 Kindererziehung 217-221 Kock, Karin 33, 253, 297, 303 kollektivhus (Kollektivhaus) 188195, 210, 221, 227, 408-412, 429f. Kollektivismus 111-118 Kollektivkinderkrippe s. storbarnkammare Korporatismus 106-112 »Kris i befolkningsfrågan« (A. Myrdal/G. Myrdal) 40, 122-131, 137-140, 203, 263 Larsson, Carl 159f., 229 Ljungren, C. Aug. 95-98, 219f., 415f. »Lort-Sverige« (L. Nordström) 8790, 92 Macht 19-23, 425f., 430 Markelius, Sven 322 Milch/Milchpropaganda 97-99, 101, 103, 390-395, 416 Moderne, ambivalente 13f., 75-80, 83-103, 159-201, 349f., 385-396, 426f. Morus, Thomas 160 Myrdal, Alva & Gunnar – Autobiographie/Nachlaß 32-34, 63, 342-347 – Biographie 29-46 – Botschaft, Indien 43, 233f., 316f. – Deutschland 38, 65, 331 – »Dritte Welt« 324-327, 332

– Ehe/gender 31f., 34-36, 47-59, 61-65, 69f., 74, 229f., 240f., 249-251, 257f., 274, 288-298, 310-318, 341f., 346f., 374, 376f., 428-430 – Eltern, Geschwister 36f., 47, 50, 292, 428 – Eugenik 101, 126-128 – »Firma Myrdal« 71, 294, 304 – Frauenfrage 249-272, 297, 303f., 314, 345, 428f. – gesellschaftspolitisches Programm 122-129, 188-201, 299307, 428 – Großbritannien 38, 41f., 59, 65f., 297f., 304 – Jan, Sissela, Kaj 31, 38-43, 62-67, 142, 222-226, 298, 312, 316, 429, 440-443 – Karrieren 42f., 58-61, 69, 74, 203, 214, 273f., 290, 300-304, 307, 310-317, 428 – Kindererziehung 67, 189f., 203219, 222-226, 329, 345, 378-384, 440-444 – Krise/Krisis 130f., 303f. – Medieninszenierung/gender 44, 72f., 137-142, 230-240, 307-310, 337-342, 350-377 – Nationalismus/Patriotismus/ Internationalismus 239, 330337 – USA 38, 41f., 66-70, 238-242, 273-301, 330, 333 – Weltbild/Selbstsicht 72, 150-157, 203-213, 236-240, 243-249, 264-269, 278-285, 288, 302, 324-337, 346 – Wertprämissentheorie 38, 40, 43f., 59f., 121, 142-152, 155, 276278, 285f.

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Die Romantik der Rationalität

– Wohnungen/Villa Myrdal 39, 41, 71-73, 152, 227-234, 346, 353, 359, 370f., 377 »Nation and Family« (A. Myrdal) 42, 289, 291, 294 Nordström, Ludvig 85-90, 92 Normalisierung 15f., 19-23, 34, 9598, 106, 125f., 206-209, 213-216, 219-221, 415-425 Odhnoff, Camilla 253f. Owen, Robert 160f. Photographie s. Visualisierung Popper, Karl 18 »Population« (G. Myrdal) 130, 146f. »Riktiga leksaker« (A. Myrdal) 204, 216, 379 Schütte-Lihotzky, Grete 427 Schweden – Du-Reform 248 – Geschichte 81-83, 319-321 – Gesellschaftsverfassung 106-121, 134-136 – Nation, Nationalismus 85f., 103, 106, 335f. – Sozialismus, funktionaler 104f. – Sozialstaat 105f. Serialisierung 98f., 164, 166, 172, 175f., 350f., 405, 412 social engineering (s.a. Freiheit, Funktionalismus, Gemeinschaft, Haushalt, Individuum, Wohnen) 17-23, 98, 116, 119, 121, 129, 134-136, 151, 196, 201, 278, 301, 305, 321-324, 350f., 421-430 Socialpedagogiska seminariet (Sozialpädagogisches Seminar) 40, 214f., 217

Sommer, Theo 11f. Sontag, Susan 11, 118, 334f. »Stadsbarn« (A. Myrdal) 40, 204, 215f., 329, 380f. Standardisierung/Variation (s.a. Freiheit) 166, 174, 176, 200, 232, 306, 323, 423 Statens offentliga utredningar (Staatliche öffentliche Untersuchungen) 134-136, 177f., 220f. Stockholmutställningen (die Stockholmausstellung) 75-80, 84, 163, 170, 385 storbarnkammare (Kollektivkinderkrippe) 190, 194, 205, 208, 210, 221, 443f. Sundbärg, Gustav 336 »Sweden. The Middle Way« (M. Childs) 9f., 92 »The New Totalitarians« (R. Huntford) 10-12 Tönnies, Ferdinand 18 Thomas, Dorothy & William I. 70f., 217 Trägårdh, Lars 119-121, 335 »Varning för fredsoptimism« (G. Myrdal) 42, 302f. »Vetenskap och politik i nationalekonomien« (G. Myrdal) 38, 60, 66, 69, 142, 245 Visualisierung 25, 29f., 45f., 85, 137, 168f., 230, 349-420, 424 Volksheim s. folkhem Webb, Beatrice & Sidney 65f., 140 Wohnen 40, 177-201, 321-324, 420 »Women’s Two Roles« (V. Klein/A. Myrdal) 43, 262-265, 267, 316, 429

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Yrkeskvinnors klubb (Vereinigung berufstätiger Frauen)/International Federation of Business and Professional Women 39-41, 188, 252, 254, 290, 292, 300 Zonierung s. Freiheit Åhrén, Uno 171-174, 199, 321f., 404406 Åkerman, Brita 198, 423f., 427f.

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Histoire Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen Juli 2010, ca. 394 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3

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Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (2., unveränderte Auflage 2009) 2007, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-773-8

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