Die Religionshermeneutik Max Webers 311050085X, 9783110500851, 9783110502770, 9783110498721

Die Untersuchung interpretiert Max Webers Religionssoziologie vor dem Hintergrund seiner Theorie des Handlungsverstehens

244 118 2MB

German Pages 434 [432] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Religionshermeneutik Max Webers
 311050085X, 9783110500851, 9783110502770, 9783110498721

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
1 Einleitung
2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens
3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext
4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen
5 Schluss
Literatur
Personenverzeichnis

Citation preview

Georg Neugebauer Die Religionshermeneutik Max Webers

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel

Band 178

Georg Neugebauer

Die Religionshermeneutik Max Webers

ISBN 978-3-11-050085-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-050277-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049872-1 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 2015 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung habe ich sie in Teilen überarbeitet und erweitert. Ulrich Barth, Rochus Leonhardt und Gert Pickel fertigten die Gutachten an, wofür ich ihnen vielmals danke. Ebenso gilt mein Dank Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel, die das Buch in die Theologische Bibliothek Töpelmann aufgenommen haben. Danken möchte ich auch dem an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelten Landesforschungsschwerpunkt Aufklärung–Religion–Wissen, an dem ich dieses Projekt als post-doc-Stipendiat begonnen habe. Albrecht Döhnert, Antje-Kristin Mayr sowie Stefan Selbmann sei für die verlegerische Betreuung gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt Ulrich Barth, der dieses Projekt betreut und mir immer wieder neue Denkanstöße und wertvolle Ratschläge für die Auseinandersetzung mit Webers Werk gegeben hat. Rochus Leonhardt möchte ich für die konstruktive Begleitung der Arbeit sowie für die Freiräume danken, die er mir als wissenschaftlichem Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl gewährt hat. Besondere Erwähnung verdient auch Karsten Holste, mit dem ich viele, lange und vor allem anregende Gespräche über Weber geführt habe, auf die ich dankbar zurückblicke. Danken möchte ich darüber hinaus meinem Bruder Matthias Neugebauer, der mir bei der Fertigstellung des Manuskripts immer wieder mit Rat und Tat zur Seite stand. Dank sagen möchte ich zudem Friedemann Barniske, Matthias Finke, Arne Lademann, Christian Mette, Kathrin Mette, meinen Eltern Birgit und Ernst Neugebauer, meinen Geschwistern Anna und Johannes Neugebauer, Matthias Paul, Constantin Plaul, Marianne Schröter und Jan-Hinnerk Stender. Sie alle haben mich auf unterschiedliche Weise dabei unterstützt, dieses Projekt erfolgreich zum Abschluss bringen zu können. Schließlich möchte ich meiner Frau Grietje Neugebauer von Herzen danken, die wie niemand sonst das Werden dieses Buches miterlebt, begleitet und unterstützt hat. Halle (Saale), im August 2017

https://doi.org/10.1515/9783110502770-005

Georg Neugebauer

Inhalt Vorwort | V Abkürzungen | IX 1

Einleitung | 1

2

Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens | 30 Einleitung | 30 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs | 45 Wert und Sinn | 47 Handlung und Sinn | 53 Das Verhältnis von Wertungs- und Handlungssinn | 62 Empirischer und ideeller Sinn | 67 Exkurs: Webers Stellung zur Psychologie | 72 Methoden der Deutung | 75 Die wertbeziehende Interpretation | 75 Das nacherlebende Verstehen | 85 Das Verstehen aus Motiven | 95 Die Theorie der objektiven Möglichkeit | 110 Das nomologische Wissen der Erfahrungsregeln | 122 Schemata des Alltagsverstehens | 126 Die rationale Deutung | 141 Die Ausdifferenzierung der Deutungsschemata | 150 Zusammenfassung | 155

2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 2.4.8 2.5 3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2

Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext | 163 Einleitung | 163 Allgemeine Charakteristik der Religiösen Gemeinschaften | 167 Die Anfänge der Religion | 173 Religiöse Diesseitsbezogenheit | 174 Religionsethnologische Begriffe | 181 Naturalismus und Symbolismus | 193 Konzeptionen des Charisma | 198 Die Enthusiasmus- und Charismadebatte um 1900 | 200 Der Charismabegriff der Religiösen Gemeinschaften | 208

VIII | Inhalt

3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.7

Religiöse Spezialisten | 213 Der Begriff des Zauberers | 213 Der Begriff des Priesters | 228 Der Begriff des Propheten | 243 Wege der Erlösung | 263 Der Begriff der Erlösung | 263 Der Begriff der Mystik | 285 Der Begriff der Askese | 297 Zusammenfassung | 321

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4

Systeme religionssoziologischer Idealtypen | 327 Einleitung | 327 Idealtypen religiöser Sinngebung | 330 Der Aufbruch ins Jenseits – der Zauberer | 330 Die traditionale Vermittlung des Sinns – der Priester | 338 Die universale Sinngebung – der Prophet | 344 Idealtypen religiös motivierten Handelns | 355 Der weltflüchtige Mystiker | 355 Der innerweltliche Asket | 362 Zusammenfassung | 366

5

Schluss | 372

Literatur | 387 Personenverzeichnis | 418

Abkürzungen Schriften Max Webers AA ASW Br II/3 Br II/4 Br II/5 Br II/6 Br II/7 Br II/8 Br II/10 E EK GpG GS H HB JI J II K KS KT NV O PB PE PE2 R RG RK I RK II RK III RS SdW Soz WB ZB

Agrarverhältnisse im Altertum (1897/1898) Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1919/1920) Briefe 1895–1902 Briefe 1903–1905 Briefe 1906–1908 Briefe 1909–1910 Briefe 1911–1912 Briefe 1913–1914 Briefe 1918–1920 Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung (1916) „Energetische“ Kulturtheorien (1909) Die Grenznutzlehre und das „psychophysische Grundgesetz“ (1908) Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft (Nachlaß) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus (1916/1917) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum I (1917–1919) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum II (1917–1919) Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913) Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus (1915–1920) Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895) Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) Politik als Beruf (1919) Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/1905) Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (2 1920) Wirtschaft und Gesellschaft. Recht (Nachlaß) Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften (Nachlaß) Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie I (1903) Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie II (1905) Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie III (1906) R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung (1907) Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1918) Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie (unvollendet, 1919–1920) Wissenschaft als Beruf (1917/1919) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung (1916)

https://doi.org/10.1515/9783110502770-009

X | Abkürzungen

Schriften anderer Autoren A AR As EB EM G GdG GdP Gö GP I GP II HdW IJG KR L LzA OM PI P II PdG PGI V

Meyer, Geschichte des Altertums. Anthropologie (3 1910) Lehmann, Die Anfänge der Religion und die Religion der primitiven Völker (1913) Seeberg, Askese (1897) Holl, Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum (1898) Troeltsch, Englische Moralisten (1903) Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902) Gottl, Die Grenzen der Geschichte (1904) Münsterberg, Grundzüge der Psychologie (1900) Usener, Götternamen (1896) Ritschl, Geschichte des Pietismus I (1880) Ritschl, Geschichte des Pietismus II (1884) Gottl, Die Herrschaft des Wortes (1901) Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte (1894) Sohm, Kirchenrecht. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen (1892) Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie (1893) Harnack, Die Lehre der zwölf Apostel (1884) Kries, Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit (1888) Rohde, Psyche I (2 1898) Rohde, Psyche II (2 1898) Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (2 1905) Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels (4 1895) Schneckenburger, Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs (1855)

1 Einleitung Max Weber (1864–1920) nimmt in der Erinnerungskultur der gelehrten Welt den Platz einer Lichtgestalt ein. Das hat verschiedene Gründe. So war er maßgeblich an der Etablierung der Soziologie als einer eigenständigen Disziplin beteiligt, was umso schwerer wiegt, als sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Leitwissenschaft durchsetzen sollte. Doch nicht nur Webers intellektuelle und wissenschaftliche Leistung gilt als herausragend. Auch seiner Persönlichkeit wurde vielfach eine besondere Aura bescheinigt.¹ Weber verkörpere gleichsam den modernen Prototyp eines Menschen, der die Wissenschaft zu seinem Beruf gemacht hat und darin mit „Leidenschaft und Disziplin“² zu Werke ging. Sodann ist es Weber wie kaum einem anderen Vertreter der akademischen Welt in der Moderne gelungen, den „Sprachschatz der Gebildeten“³ zu prägen und zu bereichern. All das machte ihn zu einem geistigen Übervater, was sich nicht zuletzt in dem keineswegs nur im Feuilleton kultivierten Pathos niederschlägt, wenn er etwa als Mythos von Heidelberg, als ein Heros oder als einer der Riesen bezeichnet wird, auf deren Schultern die geistige Nachkommenschaft wie ein Zwerg steht. Es handelt sich daher im Grunde genommen um ein vergleichsweise nüchternes Urteil, ihn zu den Klassikern der Sozial- und Geisteswissenschaften zu zählen.⁴ Doch wie auch immer die Wortwahl über ihn im Einzelnen ausfällt, Tatsache ist, dass er zu den wenigen Autoren gehört, die bis zum heutigen Tag disziplinenübergreifend rezipiert und weitergedacht werden. Weber hat seinen festen Platz nicht nur in der Soziologie und Wirtschaftswissenschaft, sondern ebenso in der Geschichts-, Rechts-, Politik- und Religionswissenschaft sowie der Ethnologie. Dass sich die Wirkmächtigkeit von Webers Denken in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll entfaltete, ist schon vielfach bemerkt worden, genauso wie die dann einsetzende und sich explosionsartig verbreitende

1 Die Grundlagen dieser besonderen Weber-Memoria wurden schon in den 20er Jahren geschaffen, allen voran von Marianne Weber (vgl. Weber 1984), aber auch durch Webers „Jünger“ (Kaube 2014, 432) Karl Jaspers (vgl. Jaspers 1988). Vgl. dazu auch Löwith 2007, 18–20 sowie Dahrendorf 1994, 79. 2 Sukale 2002. Vgl. auch Radkau 2005. 3 Graf 2005a, 1319. 4 In verschiedenen Überblickswerken zu den Klassikern der Sozial- und Geisteswissenschaften, die in den letzten Jahren im Verlag C.H. Beck erschienen sind, wird Weber als Klassiker der Geschichtswissenschaft (vgl. Torp 2006), der Religionswissenschaft (vgl. Kehrer 2004), der Soziologie (Kaesler 2006) sowie des politischen Denkens (Zöller 2007) verhandelt. Innerhalb der Philosophie gilt Weber als ein „Klassiker der Rationalitätstheorie“ (Adolphi 1996, 93). Vgl. dazu auch Kaube 2014, 428–440. https://doi.org/10.1515/9783110502770-011

2 | Einleitung Erforschung seines Werks.⁵ Das „Gebirge der Weberliteratur“ (Wilhelm Hennis) türmte sich auf und kaum eine der nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten geistes-, kultur- oder sozialwissenschaftlichen Leittheorien arbeitete sich nicht an Weber ab.⁶ Dementsprechend wird keinem anderen Theoretiker der klassischen Moderne in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften unserer Tage eine so große Aufmerksamkeit geschenkt wie Weber. Umso erstaunlicher ist der zuletzt von Friedrich Wilhelm Graf festgehaltene Befund, dass die Theologie in dieser Hinsicht aus der Rolle falle. Graf spricht in diesem Zusammenhang pointiert von einer „Rezeptionsaskese“.⁷ Diese Lageeinschätzung ist überraschend, weil sie aus verschiedenen Gründen kontraintuitiv erscheint. Zunächst hat sich kein anderer Vertreter aus der Gründergeneration der Soziologie so intensiv mit der Geschichte und der Theologie des Protestantismus befasst wie Weber. Zudem befand er sich in einem intensiven Dialog mit der protestantischen Theologie seiner Zeit. Darüber hinaus hat er von Seiten der Soziologie das umfangreichste Œuvre zum Thema der Religion vorgelegt. Schließlich verdient hier auch sein Engagement für den Evangelisch-Sozialen Kongress Erwähnung, wofür verschiedene Stellungnahmen sowie Beiträge in dem liberal-protestantischen Zentralorgan Die christliche Welt beredte Beispiele sind.⁸ Vor diesem Hintergrund 5 Welche Faktoren dafür ausschlaggebend waren, ist innerhalb der Forschungsliteratur umstritten. Die nach wie vor am stärksten verbreitete Sicht wurde maßgeblich von M. Rainer Lepsius geprägt. Diesem zufolge sei die soziologische Weberforschung in Deutschland 1934 zum Erliegen gekommen und die Emigranten müssten als „die Verwalter des Erbes der großen Entwürfe von Max Weber, Georg Simmel, der Wissenssoziologie, Ideologiekritik und der politischen Wissenschaft“ (Lepsius 1981, 468) angesehen werden. Die Erfolgsgeschichte des Weberschen Denkens in Deutschland nach 1945 ist dieser Interpretation zufolge über die US-Amerikanische Soziologie (Talcott Parsons, Reinhard Bendix) vermittelt worden. Demgegenüber betont Carsten Klingemann, dass Weber innerhalb der Sozialwissenschaften in Deutschland nach 1933 „nicht nur breit rezipiert wurde, sondern häufig Teile seiner Soziologie argumentativ in fachspezifische Kontexte eingebaut wurden, was nicht umstandslos als antisoziologische und perfide Akkomodation mit dem NS-Regime abzutun ist.“ (Klingemann 1996, 211) In Deutschland habe sich eine Vielzahl von Soziologen „vor und nach 1945 mit Weber auseinandergesetzt.“ (Klingemann 1996, 214) Klingemann nennt Carl Jantke, Eduard Baumgarten, Hans Freyer, Arnold Gehlen, Karl Heinz Pfeffer, Max Graf zu Solms, Georg Weippert, Carl Brinkmann. Auf diese Autoren bezogen hält er fest: „Ihre Rolle in der Nachkriegssoziologie ist in Bezug auf die westdeutsche Weber-Rezeption noch nicht beschrieben worden.“ (Klingemann 1996, 215). Vgl. zu diesem Thema auch Klingemann 2009. 6 Als ein besonders prominentes Beispiel sei Jürgen Habermas’ Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (1981) genannt, vgl. Habermas 1995. 7 Graf 2005a, 1320. Diese Rezeptionsaskese bezieht Graf vor allem auf den religionssoziologischen Teil aus Wirtschaft und Gesellschaft. 8 Otto Baumgarten hält fest, dass er gemeinsam mit Max Weber das Programm der Schriftenreihe Evangelisch-soziale Zeitfragen entworfen habe (vgl. Baumgarten 1929, 215). Diese wurde von Baumgarten herausgegeben. Vgl. dazu Drehsen 2009, 375f sowie Weiß 1992, 116–125.

Einleitung

| 3

betrachtet, ist es nun reizvoll und angebracht zugleich, einen genaueren Blick auf die Geschichte der Weberrezeption in der evangelischen Theologie zu werfen und auf diesem Wege die These von der Rezeptionsaskese auf den Prüfstand zu stellen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit ist damit nicht verbunden. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich darauf, einen exemplarisch und chronologisch angelegten Überblick über die besagte und bislang kaum erforschte Geschichte zu verschaffen.⁹ Zuallererst ist hier Ernst Troeltsch (1865–1923) zu nennen, den eine „Fachmenschenfreundschaft“¹⁰ mit Weber verband, die sich im Spannungsfeld von Konkurrenz und gegenseitiger Anerkennung bewegte und die von Graf in forschungsgeschichtlicher und biographischer Perspektive grundlegend kontextualisiert und analysiert wurde.¹¹ Troeltsch sah in Weber, mit dem er in Heidelberg von 1910–1915 sogar im gleichen Haus lebte, einen der wichtigsten intellektuellen Impulsgeber seiner Zeit, in dessen „Bannkreis“¹² auch er geraten war. Der Nationalökonom und Soziologe regte den Theologen wesentlich dazu an, die sozialwissenschaftliche Perspektive für die Theologie fruchtbar zu machen. Allerdings handelte es sich keineswegs um eine einseitige Abhängigkeit des Theologen vom Soziologen und auch eine klare Beantwortung der Frage, welcher der beiden Autoren der bedeutendere sei, liegt keineswegs auf der Hand, weil sie auf unterschiedlichen Forschungsgebieten wegweisende Leistungen erbracht haben, zu denen der jeweils andere nicht in der Lage gewesen wäre. In einer Replik auf Felix Rachfahls Kritik an seiner und Webers Interpretation der protestantischen Ethik bringt der Theologe das Verhältnis vermutlich auf den Punkt, wenn er bemerkt: „Nun hat in der Tat eine besonders glücklich sich ergänzende Arbeitsgemeinschaft in Heidelberg eine Anzahl von Gelehrten zu verwandten wissenschaftlichen Neigungen und Problemstellungen geführt. Sie verknüpfen sich in dem Interesse an soziologischen Problemen.“¹³ Doch nicht allein Troeltsch wurde innerhalb der Theologie auf Webers Denken aufmerksam. Bemerkenswert ist an dieser Stelle die in der Praktischen Theologie einsetzende Weberrezeption, die sich vor allem auf die Methodologie des Nationalökonomen konzentrierte. Hier sind – wie schon Volker Drehsen gezeigt hat – Friedrich Niebergall (1866–1932) und Paul Drews (1858–1912) zu nennen. Ihre Beschäftigung mit Weber fällt mit der Ausarbeitung eines Programms religiöser

9 Ein unverzichtbares Hilfsmittel bildet in diesem Zusammenhang die Max-Weber-Bibliographie von Seyfarth und Schmidt 1977. Allerdings ist diese keineswegs vollständig. 10 Graf 1988, 314. 11 Vgl. Graf 1987; Graf 1995; Graf 2002; Graf 2003; Graf 2005c. 12 Troeltsch 1925b, 11. 13 Troeltsch 1968, 188. Damit spielt Troeltsch auf den 1904 in Heidelberg gegründeten Eranos-Kreis an, vgl. dazu Treiber 2005, 75–153.

4 | Einleitung Volkskunde zusammen, die laut Drehsen „eine andere Titulatur für Soziologie“¹⁴ sei.¹⁵ In seinem Aufsatz Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule (1909) fragt Niebergall nach den methodischen Voraussetzungen einer „Phänomenologie des religiösen Lebens“.¹⁶ Die Antwort liegt seines Erachtens in einem typologisierenden Verfahren, das auf die Religiosität bzw. Frömmigkeit bestimmter Gruppen angewendet werden solle. Das aber wiederum mache es erforderlich, den Begriff des Typus gedanklich zu durchdringen und genau das unternimmt er im Anschluss an Weber:¹⁷ „Die Anregung zu der folgenden Ausführung und ihre Hauptgedanken verdanke ich dem Aufsatz von Max Weber über ‚Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis‘“.¹⁸ Der von Niebergall und Drews verfolgte Forschungsansatz konnte sich jedoch innerhalb der Praktischen Theologie nicht durchsetzen. Webers Studien zum antiken Judentum, die zwischen 1917 und 1919 erschienen waren, wurden in Teilen der exegetischen Literatur der 20er Jahre rezipiert. Den Auftakt bildete die 1922 erschienene Abhandlung Die Gottesgemeinde vom Sinai und das nachmalige Volk Israel. Auseinandersetzungen mit Max Weber. Sie floss aus der Feder des Kieler Alttestamentlers Wilhelm Caspari (1876–1947) und zielte auf eine sozialgeschichtliche Erforschung der im Alten Testament erkennbaren vorstaatlichen Gemeinschaftsformen. Für die Beantwortung dieser Fragestellung habe Weber wegweisende Überlegungen angestellt. Dementsprechend befasst sich Casparis Untersuchung in erster Linie mit dessen Judentumsstudien und wird – wie es in der Einleitung heißt – „wohl den Beweis für ihre Notwendigkeit erbringen.“¹⁹ Allerdings nimmt er dabei nicht unerhebliche Neuakzentuierungen vor. Vor allem grenzt er sich von Webers militärgeschichtlicher Ausrichtung in der Erörterung der ursprünglichen Gemeinschaftsform Israels ab. Letztere wird von ihm im strikt religiösen Sinne als „Kultverband“²⁰ begriffen. Die Ausweitung zu einem Militärverband und damit die Vorstellung von Jahwe als einem Kriegsgott ist seiner Auffassung nach eine sekundäre, auf das Konto der kanaanäischen Umwelt zurückgehende Erscheinung.²¹

14 Drehsen 2009, 328. 15 Vgl. Drehsen 1988a, 402ff. 16 Niebergall 1909, 424. 17 Sofern Hervorhebungen in Zitaten mit dem Original übereinstimmen, wird im Folgenden auf einen entsprechenden Hinweis verzichtet. 18 Niebergall 1909, 4241. Fußnoten- bzw. Anmerkungsziffern werden im Folgenden nach der Angabe der Seitenzahl tiefgestellt wiedergegeben. 19 Caspari 1922, 7. 20 Vgl. zu Casparis Weberdeutung Schäfer-Lichtenberger 1983, 13f; Otto 2002, 2774. 21 Caspari 1922, 119f.

Einleitung

| 5

Diesen Faden greift Martin Noth (1902–1968) in seiner Untersuchung Das System der 12 Stämme Israels (1930) auf und geht der Frage nach, ob die 12 Stämme in historischer Perspektive betrachtet überhaupt ein Gemeinschaftssytem darstellen und, wenn das der Fall sein sollte, um welches genau es sich dabei handelt. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, nimmt er zunächst verschiedene Abgrenzungen vor. Zum einen wendet er sich gegen die Annahme, dass die einzelnen Stämme im alten Israel ihr „Eigenleben“²² geführt hätten und nicht miteinander verbunden gewesen seien. Zugleich wendet er sich gegen die gleichsam entgegengesetzte Ansicht, sie seien durch einen „‚Jahwismus‘“ – hier verweist er auf Caspari – verbunden bzw. man könne von einer „‚idealen Einheit Israel‘“²³ reden. Noth ist vielmehr der Überzeugung, dass sich dieses Problem allein traditionsgeschichtlich lösen lasse und schlägt vor, die „‚Amphiktyonien‘“²⁴ der altgriechischen Geschichte als traditionsgeschichtlichen Hintergrund jenes Systems zu begreifen.²⁵ Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass er Weber ausdrücklich zu den Vorläufern seiner These zählt. „Auch bei M. Weber schwebt offenbar bei der Behandlung des vorstaatlichen Israel die Analogie der griechischen Amphiktyonien vor, und er spricht gelegentlich von einigen in der alttestamentlichen Überlieferung aus der sogenannten Richterzeit berichteten kultischen Handlungen als von ‚amphiktyonischen Ritualakten‘ und von einem ‚kultischen Bund‘ im Alten Israel.“²⁶ Die in der Theologie geführte Auseinandersetzung mit der Protestantischen Ethik Webers dauerte zum Zeitpunkt des Erscheinens von Noths berühmter Studie bereits seit über zwei Jahrzehnten an.²⁷ Diese wohl berühmteste Abhandlung Webers wurde seit ihrer Veröffentlichung in den Jahren 1904/1905 in der Theologie

22 Noth 1930, 61. 23 Noth 1930, 62. 24 Noth 1930, 46. 25 Der Gruppierung der griechischen Stammesverbände liege einerseits die Zwölf- oder Sechszahl zugrunde, andererseits hätten sie ein gemeinsames Kultheiligtum als lokal feststehenden Mittelpunkt besessen. Der Begriff der Amphiktyonie bedeutet dementsprechend die Vereinigung der „‚Umwohnenden‘“ (Noth 1930, 46). 26 Noth 1930, 47. Verweise auf Weber finden sich auch an folgenden Stellen, vgl. Noth 1930, 292. 911. 1071. 1132. 27 Ganz euphorisch äußerte sich Gottfried Traub (1869–1956) in der Theologischen Rundschau des Jahres 1905. Er spricht von den „hochinteressanten Arbeiten von Professor Weber in dem Archiv für Sozialpolitik . . . , die wir auch sonst unseren Lesern warm empfehlen möchten. Welch neue Gesichtspunkte aus der Geschichte des reformierten Christentums sind uns hier für das Verständnis des Kapitalismus und die Wirkung dogmatischer Gedanken für die ethische Lebenshaltung gegeben worden! Die reformierte Frömmigkeit erscheint deutlich als der Nährboden kapitalistischen Denkens und Handelns. Und diese These wird in den ausführlichsten und feinsten dogmenge-

6 | Einleitung kontrovers diskutiert.²⁸ Von den vielen Bezugnahmen sei hier die des Berliner Kirchenhistorikers Karl Holl (1866–1926) herausgehoben.²⁹ Während seine Einschätzung dieser Untersuchung anfangs überwiegend positiv ausfiel, distanzierte er sich nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend davon. So hielt er in seiner 1909 anlässlich des 400. Geburtstags Calvins gehaltenen Rede noch fest, dass Weber den Zusammenhang von Calvinismus und kapitalistischem Geist „in glänzender Weise“³⁰ aufgezeigt habe. In seiner Untersuchung zur Geschichte des Wortes Beruf (1924) ist jedoch die Würdigung des Beitrags, den der Nationalökonom zum Verständnis des Berufsbegriffs geleistet hat, mit einer deutlichen Kritik gepaart. Demnach erweise sich dieser „blendende Lösungsversuch“, wonach das Mönchtum die weltliche Berufsauffassung vorbereitet hätte, „als trügerisch“, „sobald man ihn mit der Wirklichkeit vergleicht“.³¹ Diese Abgrenzung tritt schließlich mit der zweiten und dritten Auflage seines ersten Bandes der Gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte – Luther (1923) – deutlich zutage,³² wobei es sich hier um Fragen handelt, die Weber und Troeltsch gleichermaßen betreffen. Die Kritik fällt jedoch gegenüber dem Theologen um ein vielfaches harscher aus als gegenüber dem Nationalökonomen, nicht zuletzt deswegen, weil Troeltsch den modernespezifischen Zuschnitt von Holls Lutherdeutung in Zweifel gezogen hatte. Zum einen wirft Holl beiden Autoren Unklarheiten in der Verwendung des Begriffs lex naturae vor. Die Grenzen zwischen der natürlichen und der sittlichen Bedeutung dieses Gesetzes seien nicht klar gezogen worden und ihre Vermischung vor allem bei Troeltsch „ins Grelle gesteigert“.³³ Die von Holl in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen kulminieren schließlich in der Formulierung: „Für Luther löst sich die bei Troeltsch herrschende Verwirrung, sobald man erkennt, daß der ganze Begriff von lex naturae, so wie ihn M. Weber und Troeltsch zumeist verstehen, in Luther nur eingetragen ist.“³⁴

schichtlichen Untersuchungen durch alle möglichen Wandlungen hindurch bewiesen.“ (Traub 1905b, 507f) Vgl. auch Traub 1905a, 942–946. 28 Vgl. Graf 1988, 32655. 29 Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass auch Holl selbst in den Gründungsjahren der Soziologie von dieser rezipiert wurde. So zieht Karl Mannheim im Zuge seiner historischen Exemplifizierungen der Entwicklung des utopischen Bewußtseins Holl als zentralen Referenzautor heran, vgl. Mannheim 2015, 185–189. 197f. 30 Holl 1928d, 281. 31 Holl 1928c, 200. 32 Darauf weist bereits Emanuel Hirsch hin, vgl. Hirsch 1999, 172. 33 Holl 1923a, 2442. 34 Holl 1923a, 2442. Holl identifiziert verschiedene Stellen, an denen es offenkundig sei, „daß Troeltsch nicht auf Grund von Quellen, sondern unter dem Zwang der von ihm von vornherein feststehenden Begriffe urteilt.“ (Holl 1923a, 2484).

Einleitung

| 7

Über die Naturrechtsproblematik hinaus zieht er zum anderen die heuristische Leistung der idealtypischen Begriffe Kirche und Sekte in Zweifel, die Weber konzeptualisiert und Troeltsch in den Soziallehren aufgegriffen habe. Holl bezieht sich zunächst auf das historische Material, dem diese Differenz entnommen wurde. Der von Weber und Troeltsch verwendete Sektenbegriff sei den „englischen ‚Sekten‘ des Revolutionszeitalters abgelesen“, was es aber ausgesprochen problematisch mache, ihn auf die Jahrhunderte vor der Reformation anzuwenden. Denn das hieße, „überall schiefe Bilder zeichnen“.³⁵ Holl wirft Weber somit letztlich Defizite in der religionssoziologischen Begriffsbildung vor.³⁶ Diese betreffen weniger das methodische Instrumentarium als vielmehr die historischen Grundlagen, denen diese Begriffe entnommen worden sind.³⁷ Auch Holls bekanntester Schüler, Emanuel Hirsch (1888–1972), streift das Webersche Œuvre. In der kurzen Studie Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie (1921) nimmt dieser auf Webers Methodologie Bezug und bemerkt, dass es sich bei seiner Abhandlung um den Versuch handele, „die von Max Weber für die neuere Wirtschaftsgeschichte angebahnte Betrachtung auf die Geistesgeschichte zu übertragen und so die von Nietzsche und dann wieder in andrer Weise von Troeltsch wesentlich verneinend beantwortete Frage nach dem notwendigen Zusammenhang von Protestantismus und modernem Denken im bejahenden Sinne aufzulösen“.³⁸ Nicht nur über diese Formulierung ist Troeltsch gestolpert, was dessen 1923 erschienene Rezension zeigt, die Hirschs Schrift einer massiven Kritik

35 Holl 1923a, 2442. In diesem Zusammenhang deutet Holl an, dass die vor dem 16. Jahrhundert entstandenen Sekten dem Typus der katholischen Kirche angehören würden, was er am Beispiel der Donatisten, Katharer, Waldenser zu untermauern versucht, vgl. Holl 1923a, 2452. Doch auch die nachreformatorischen religiösen Gruppen lassen sich seiner Ansicht nach nicht jener Typendifferenz entsprechend verständlich machen. So umfassen nachreformatorische Sekten Elemente des Kirchentypus und der reformatorische Kirchengedanke Elemente des Sektentypus. Vgl. dazu auch Holl 1923b, 2973. 36 Das hinderte Holl freilich nicht daran, bestimmte Begriffe Webers aufzugreifen. Das lässt sich etwa im Rahmen seiner Augustininterpretation beobachten, wenn er davon spricht, dass Ciceros Hortensius den Kirchenvater über das „Fachmenschtum“ hinausgehoben hätte, was eine Reminiszenz an Webers Kapitalismusstudie sein dürfte (Holl 1928a, 55). Zuletzt hat Heinrich Assel die wechselseitige Beeinflussung beider Autoren thematisiert. Diese Ausführungen sind allein schon deswegen aufschlussreich, weil ihnen bislang unveröffentlichte Briefe Holls zugrunde liegen, die zeigen, dass sich der Kirchenhistoriker in viel stärkerem Maße mit Webers Schriften befasst hat, als es in der Forschungsliteratur bislang gesehen wurde, vgl. Assel 2016, 211–248. 37 Hartmut Lehmann weist darauf hin, dass durch die von Holl inaugurierte Lutherrenaissance mit Troeltsch auch Weber „bei den Kirchenhistorikern weitgehend in Vergessenheit geriet.“ (Lehmann 1996a, 132). 38 Hirsch 1921, 291.

8 | Einleitung unterzieht. Er versteht sie als „Nachzügler der Kriegs- und Propaganda-Literatur“³⁹ und kommentiert die Bezugnahme auf Weber wie folgt: „Daß auch Hirsch sich auf Max Weber für seine Methode beruft, würde diesen lediglich entsetzt haben.“⁴⁰ Troeltschs Kritik zum Trotz stellt sich die Frage, was Hirsch dazu bewogen haben könnte, sich auf den Soziologen zu beziehen. Vermutlich sah er in Webers Auseinandersetzung mit der protestantischen Ethik einen Anhaltspunkt dafür, den Zusammenhang zwischen der Theologie Luthers und der Moderne wieder stärker untermauern zu können, was zugleich bedeuten würde, Troeltschs Differenz zwischen Alt- und Neuprotestantismus unterlaufen zu wollen.⁴¹ Dieses Manöver könnte dann als der Versuch interpretiert werden, Weber und Holl miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn letzterer ist für Hirsch der eigentliche Gewährsmann für die Korrekturbedürftigkeit von Troeltschs Lutherdeutung.⁴² Schließlich lassen sich auch in Hirschs theologiegeschichtlichem Hauptwerk Reminiszenzen an Weber identifizieren, wenn er die soziokulturellen Umwälzungen des 17. und 18. Jahrhunderts mit dem wohl berühmtesten Stichwort Webers von der „Entzauberung der Welt“⁴³ verknüpft. Hirsch ist jedoch nicht der einzige Vertreter der sogenannten Frontgeneration, der sich mit Weber auseinandergesetzt hat. Zu ihnen gehört vor allem auch der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich (1886–1965), der in seinen Vorlesungen und Schriften immer wieder auf Webers Werk zu sprechen kommt. Vor allem in der Beurteilung technischer Rationalität sieht sich Tillich mit diesem in Über-

39 Troeltsch 2010, 630. 40 Troeltsch 2010, 632. 41 Der Kirchenhistoriker Heinrich Hoffmann (1874–1951) weist darauf hin, Hirsch hätte Troeltschs Position damit verkannt: „Zusammenhänge zwischen Protestantismus und modernem Denken hat auch Troeltsch nicht geleugnet, sondern ist ihnen gerade auf soziologischem und politischem Gebiete gerne nachgegangen. Aber er hat allerdings in den Nachwirkungen der Reformation nur einen Einschlag gesehen, während Hirsch allzu ausschließlich eigentlich die ganze von ihm vorgeführte Ideenwelt letztlich auf die Reformation zurückführen will, was meines Erachtens dem Tatbestande durchaus nicht entspricht.“ Daher stellt Hoffmann unmittelbar daran anschließend fest, dass Hirschs Untersuchung zu „konstruktiv“ sei, „zu wenig den Erweis tatsächlicher realer Zusammenhänge“ bringe und „zu wenig die ungeheure Kompliziertheit des Werdens der modernen Ideen, insbesondere nicht die Neuansätze durch die soziologischen und geistigen Wandlungen nach der Reformation“ (Hoffmann 1924, 391) beachte. 42 Vgl. Hirsch 1999, 168f. Einen Lösungsversuch für diese Diskussion, an der ja keineswegs nur Weber, Troeltsch und Hirsch beteiligt waren, hat später Gerhard Ebeling unternommen. Er spricht davon, dass Luthers Theologie den besagten Gegensatz transzendiere, was ihn zur Kritik nach beiden Seite befähige, vgl. Ebeling 1972, 211. Rochus Leonhardt kritisiert an Ebelings „scheinbar salomonischer Lösung . . . , daß Luthers Denken durch eine quasi-Enthistorisierung in den Rang einer theologia perennis erhoben wird“ (Leonhardt 1998, 280). 43 Hirsch 1984, 204.

Einleitung

| 9

einstimmung. Weber gilt ihm als ein Vordenker der Dialektik der Aufklärung.⁴⁴ In seiner nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA entstandenen Schrift Der Mut zum Sein heißt es: „Der Soziologe Max Weber, einer der größten Gelehrten des 19. Jahrhunderts, sah die tragische Selbstzerstörung des Lebens kommen, nachdem die technische Vernunft zur Herrschaft gelangt ist.“⁴⁵ In den 20er Jahren ist Weber ein wichtiger Gesprächspartner Tillichs, um das Verhältnis von „Wissenschaft und Leben“⁴⁶ auf den Begriff zu bringen. Ohne diese beim Namen zu nennen, bezieht er sich hier auf Webers Rede Wissenschaft als Beruf. Er stimmt dem Soziologen in der Forderung „wissenschaftlicher Askese“⁴⁷ zu, wendet aber zugleich ein, dass sich diese Askese nicht von der Dynamik der Geschichte zu isolieren vermag, womit er sich indirekt gegen das berühmte Wertfreiheitspostulat sowie die Lehre vom Idealtypus richtet: „Wenn die ältere Generation der Wissenschaftler (z. B. Max Weber) das asketische Element betont, das Schaffen einer Entfremdung vom Leben in der akademischen Welt, so betonen die Wissenschaftler der jüngeren Generation immer stärker das aktive Element in der Erkenntnis und die Notwendigkeit der Teilhabe an allen Seiten des Lebens.“⁴⁸ Aber auch noch im späten Hauptwerk macht sich der Einfluss Webers auf Tillichs Denken bemerkbar, dort allerdings weniger die Kapitalismustheorie und das Wissenschaftsverständnis als vielmehr die Religionssoziologie. Im zweiten Band der Systematischen Theologie kommt der Theologe auf „Wege der Selbst-Erlösung“⁴⁹ zu sprechen. In diesem Zusammenhang unterscheidet er sieben Selbsterlösungstypen: der legalistische, der asketische, der mystische, der sakramentale, der doktrinelle und der emotionale.⁵⁰ Nicht nur der Begriff der Selbsterlösung, auch die Erörterung der besagten Wege verweist unmittelbar auf den Abschnitt 10 der Religiösen Gemeinschaften – „Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung“ (RG, 305) –, in der Weber eine entsprechende Typologie entwickelt hat. Es ist unverkennbar, dass diese von Tillich aufgegriffen und im Rahmen seiner Dogmatik verarbeitet wurde.⁵¹

44 Vgl. Neugebauer 2013; Neugebauer 2014. 45 Tillich 1982, 104f. Adolf Müller stellt in seinen Erinnerungen an Tillich ausdrücklich heraus, dass dieser Webers postum erschienenes Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft sehr schätzte, vgl Müller 1972, 547, sowie Pauck 1978, 73. 46 Tillich 1962b, 48. 47 Tillich 1962b, 48. 48 Tillich 1962a, 96f. 49 Tillich 1987, 89. 50 Vgl. Tillich 1987, 89–96. 51 Spuren seiner Weberlektüre lassen sich auch innerhalb der Sündenlehre identifizieren, vgl. Tillich 1987, 44.

10 | Einleitung Zu der Generation Hirschs und Tillichs gehört auch der heute fast vergessene Theologe Georg Wünsch (1887–1964). Dieser nimmt in seinem wert- und handlungstheoretisch fundierten Hauptwerk – die Evangelische Sozialethik (1927) –, das als ein „Meilenstein“⁵² dieser Disziplin angesehen werden kann, immer wieder auf Weber Bezug. Er lässt keinen Zweifel daran, dass diesem mit der Religionssoziologie ein großer Wurf gelungen sei.⁵³ Allerdings konzentrieren sich seine Ausführungen in erster Linie auf dessen Kapitalismustheorie und in diesem Zusammenhang auf die Protestantismusthese. Er ist der Überzeugung, Weber habe die Bedeutung des Calvinismus für die Entstehung des kapitalistischen Geistes überbewertet, worin er sich mit seinem Lehrer Karl Holl einig weiß.⁵⁴ Die „Ethisierung der Rastlosigkeit und des Niezurruhekommens des Erwerbsstrebens“,⁵⁵ die für den modernen Kapitalismus signifikant sei, habe nichts mit dem Calvinismus zu tun. Wünsch zieht – ähnlich wie etwa auch Tillich – die Verbindungslinien vielmehr zum „Geist der Aufklärung“.⁵⁶ Nicht die protestantische Ethik, sondern die „Ethik der Aufklärung, des liberalistischen Zynismus und Harmonismus oder des naturwissenschaftlichen Darwinismus“⁵⁷ bilden die historischen Grundlagen, auf denen sich die moderne Erwerbswirtschaft entfalten konnte. Einen ganz anderen Zugang zu Weber fand Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), der sich schon während seines Theologiestudiums mit dessen Werk beschäftigt hatte.⁵⁸ Die Auseinandersetzung mit Weber – und Troeltsch – hinterlässt deutliche

52 Stübinger 1995, 63. 53 Es handele sich dabei um Untersuchungen, in denen „mit einer großartigen Ueberschau versucht wird, die soziologische Gestaltung aus den Heilslehren und dem durch sie bedingten Verhältnis zur Welt heraus zu verstehen.“ (Wünsch 1925, 241). 54 „Man sollte M. Weber nicht ohne den erwähnten Hollschen Aufsatz lesen, sonst wird das Bild der Wirtschaftsethik des Kapitalismus schief.“ (Wünsch 1927, 3372) Mit besagtem Aufsatz ist Holls Beitrag Die Frage des Zinsnehmens und Wuchers in der reformierten Kirche (1922) gemeint. Wünsch moniert somit auch historische Ungenauigkeiten, die er bereits in seiner kurzen Abhandlung Religion und Wirtschaft (1925) angedeutet hatte. Dort weist er einerseits darauf hin, dass Troeltsch und Weber maßgeblich an einer historisch-deskriptiven Durchdringung des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft beigetragen hätten. Andererseits stellt er zugleich nicht minder deutlich heraus: es „blieb eine Fülle von exakt-historischer Arbeit zu tun übrig“ (Wünsch 1925, 1). 55 Wünsch 1927, 4761. 56 Wünsch 1927, 4761. 57 Wünsch 1927, 4761. 58 In einem Brief an seine Mutter vom 5. August 1924 kommt er auf seine Lektüre soziologischer, theologischer und philosophischer Literatur zu sprechen: „Ich habe augenblicklich eine sehr interessante Arbeit: die Religionssoziologie von Max Weber. . . . Ich habe nun nach dem Weber vor noch Troeltsch: Soziallehren der christlichen Ethik zu lesen und den Husserl zu Ende durchzuarbeiten, wenn ich zum Schluß noch Zeit habe, mir Schleiermacher gründlich vorzunehmen.“ (Bonhoeffer 1986a, 141; vgl. auch Bonhoeffer 1986a, 145. 157).

Einleitung

| 11

Spuren in seiner bei Reinhold Seeberg (1859–1935) geschriebenen Dissertation Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, die er 1927 an der Berliner Theologischen Fakultät eingereicht hatte und die drei Jahre später in den Druck ging. Bonhoeffer zielt darauf, die Religionssoziologie für die Ekklesiologie fruchtbar zu machen.⁵⁹ Dazu entwickelt er auf der einen Seite einen christologisch begründeten Kirchenbegriff, in dessen Mittelpunkt der Gedanke der Stellvertretung steht. Der Einfluss der Soziologie schattet sich in diesem Unternehmen dann dahingehend ab, es nicht bei einer dogmatischen Bestimmung des Kirchenbegriffs zu belassen. Er hält es auch für erforderlich, diesem einen Ort innerhalb der Gesellschaft zuweisen zu können,⁶⁰ weswegen er sich ausführlich mit den von Weber und Troeltsch auf den Begriff gebrachten Sozialtypen der Kirche und der Sekte befasst. Beide hält er jedoch für ungeeignet, den Kirchenbegriff soziologisch angemessen zu konzeptualisieren. Er bemängelt die einseitige historische Ausrichtung ihrer Untersuchungen, die zu einer Vernachlässigung der sozialphilosophischen Dimension der jeweiligen Sozialtypen geführt habe. Denn erst durch die Berücksichtigung dieser Dimension können überhaupt die geistigen und wesenhaften Grundlagen von Gesellschaftsverhältnissen in den Blick kommen.⁶¹ Der Hinweis auf die Sozialphilosophie sowie auf den mit letzterer verbundenen Wesensbegriff ist für das Verständnis von Bonhoeffers Untersuchung insofern von elementarer Bedeutung, als der Wesensbegriff gleichsam das Scharnier zwischen der Theologie und den Sozialwissenschaften bzw. zwischen der Entfaltung eines dogmatisch begründeten Wesensbegriffs von Kirche und dessen empirischem Ausweis mittels sozialwissenschaftlicher Begriffe darstellt.⁶² Und erst unter diesen Voraussetzungen lässt sich sein Vorschlag verständlich machen,

59 Vgl. Bonhoeffer 1986b, 18. 60 „Es wurde gesagt, daß im Begriff der Kirche zwei Gedankenreihen zusammenstoßen: daß sie von Gott gestiftet und daß sie doch empirische Gemeinschaft wie jede andere auch ist. Das erschwert die Erkenntnis des soziologischen Typus.“ (Bonhoeffer 1986b, 173f). 61 „Es ist kaum verständlich, wie Max Weber dort von Religionssoziologie reden konnte, wo er die Beziehungen von Politik, Wirtschaft und Religion, d. h. mehrerer verschiedener Kulturgebiete zu einander darstellte, mithin historische Arbeit leistete. . . . auch die scheinbar systematische ‚Religionssoziologie‘ in ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘ . . . ist letztlich nur historisch interessiert . . . . E. Troeltsch hat in seinen ‚Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen‘ 1911 die Geschichte der christlichen Gemeinschaftsideen entwickelt mit selbständigem systematisch-soziologischem Interesse. Freilich steht im Vordergrunde die Betrachtung der historisch zufällig gewordenen Sozialgebilde, nicht aber die soziale Wesensstruktur christlicher Art.“ (Bonhoeffer 1986b, 17f). 62 Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass Bonhoeffers Abhandlung von Georg Wobbermin ausgesprochen wohlwollend rezensiert wurde. Lediglich in methodischer Hinsicht formulierte dieser monita, vgl. Wobbermin 1931, 591.

12 | Einleitung die „sanctorum communio“ als „Typus der christlichen Liebesgemeinschaft“⁶³ zu bestimmen. Später finden sich in Bonhoeffers Werk nur noch vereinzelte Hinweise auf Weber, wobei seine Fragment gebliebene und postum erschienene Ethik besondere Beachtung verdient. Der dort verwendete Verantwortungsbegriff weist Übereinstimmungen zur Ethik Webers auf, worauf die Herausgeber dieses Entwurfs ausdrücklich hinweisen.⁶⁴ Schließlich sei an dieser Stelle die in Mitschriften vorliegende, 1931/1932 gehaltene Vorlesung zur Geschichte der Systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts erwähnt, in der Bonhoeffers letztlich zwiespältiges Verhältnis zu Webers Denken zum Ausdruck kommt. Auf der einen Seite bescheinigt er diesem eine „Unwilligkeit vor dem Metaphysischen“. Auf der anderen Seite hält er aber auch fest: „Unerhörte Sachlichkeit, das ist das Einzige, was die Theologie von ihm lernen kann.“⁶⁵ In den dreißiger Jahren sind noch weitere Spuren einer theologischen Weberrezeption erkennbar. Das gilt zunächst für Werner Elert (1885–1954), einem späten Vertreter der sogenannten Erlangener Erfahrungstheologie, der sich vor allem durch seine Morphologie des Luthertums (1931/1932) einen Namen gemacht hat. In dem zweiten Band, der unter der Überschrift „Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums“ steht, geht er auf Webers „Konfessionssoziologie“ ein. Trotz partieller Zustimmung formuliert er dieser gegenüber eine deutliche Kritik, in der sich Elerts pointiert lutherischer Standpunkt widerspiegelt.⁶⁶ Dementsprechend versucht er die These zu entkräften, dass das Luthertum als ein Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden könne. Die Bezugnahme auf Weber beginnt jedoch – im Unterschied etwa zur Soziologie – insgesamt mehr und mehr auszudünnen. Im Jahre 1935 kommentierte der Kirchenhistoriker Horst Stephan (1853–1954) mit wenigen Zeilen die bei Mohr neu aufgelegte Protestantismusstudie.⁶⁷ Doch ist diese Rezension schon symptomatisch für die folgenden Jahre, in denen die theologische Weberrezeption – zumindest 63 Bonhoeffer 1986b, 188. Dieser Typus sei an das „Wort Gottes geknüpft und sonst an nichts, sie ist in jeder historischen Gestalt, in der das Wort gepredigt wird, vorhanden nach der Verheißung Jes. 55, 11. Die Weber-Troeltsch’sche Distinktion von Kirche und Sekte ist historisch und soziologisch unhaltbar, auch in dem soziologischen Eigentypus der katholischen Kirche ist sanctorum communio zu glauben kraft der Wirksamkeit des Worts. Das Streben nach der wahren Kirche und der reinen Lehre ist notwendig.“ (Bonhoeffer 1986b, 188). 64 Vgl. Bonhoeffer 1992, 2198, vgl. auch Bonhoeffer 1993, 95f. 65 Bonhoeffer 1994, 193. 66 Vgl. Elert 1932, 492–520. 67 Stephans Rezension umfasst die folgenden Formulierungen: „In mannigfacher Auseinandersetzung mit dem Satze ‚Die Wirtschaft unser Schicksal‘ begriffen, muß die Gegenwart diesen Sonderdruck doppelt würdigen. Denn ihr gibt W.s berühmter Aufsatz noch mehr als nur eine (stark

Einleitung

| 13

publikationsmäßig – nur noch auf Sparflamme kocht. Zu den Ausnahmen gehört erneut ein Alttestamentler. Der seit 1923 in Leipzig lehrende Albrecht Alt (1883–1956) verweist in dem Aufsatz Erwägungen über die Landnahme der Israeliten in Palästina (1939) auf Weber, weil dieser bereits angeregt habe, für die Bearbeitung dieses Themas Vergleichsmaterial aus der Gegenwart sowie der mündlichen Tradition der jüngsten Vergangenheit hinzuzuziehen.⁶⁸ Damit spielt er auf die sogenannte Transhumanztheorie an, die Weber in seinen Judentumsstudien ausdrücklich erwähnt (vgl. J I, 294) und die von Alt weiterentwickelt wurde.⁶⁹ Abgesehen von solchen vereinzelten Bezugnahmen auf Weber kommt in diesen Jahren dessen Rezeption innerhalb der Theologie weitgehend zum Erliegen.⁷⁰ Erst nach 1945 treten vermehrt Anzeichen für eine Rückbesinnung bzw. (Wieder)-Entdeckung zutage. Drei Jahre nach Kriegsende erschien eine Auswahl Aus den Schriften zur Religionssoziologie Max Webers, die von dem Sozialwissenschaftler Max Ernst Graf zu Solms (1893–1968) vorgenommen, eingeleitet und mit Bemerkungen versehen wurde. Diese Ausgabe ist zwei Jahre später von dem Göttinger Theologen Wolfgang Trillhaas (1903–1995) in der Theologischen Literaturzeitung kommentiert und einer zwar knappen, dafür aber umso deutlicheren Kritik unterzogen worden. Sie lässt bereits indirekt sein Interesse an der Religionssoziologie im Allgemeinen und an Webers Beitrag zu diesem Thema im Besonderen erkennen.⁷¹ Trillhaas gehört zu den interessantesten Vertretern der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt deswegen, weil er sich nicht auf eine bestimmte Schulzugehörigkeit festlegen lässt. Er wurde von so unterschiedlichen Theologen wie Karl Barth (1886–1968), Emanuel Hirsch und Werner Elert geprägt. Darüber hinaus stand er unter dem Einfluss Alexander Pfänders (1880–1941), einem Vertreter der Münchener phänomenologischen Schule.⁷² Dass Trillhaas in dieser Zeit, in der seine eigene Disziplin von der Wort-Gottes-Theologie weitgehend bestimmt war, am Religionsbegriff festhielt und an der außertheologischen Religionsforschung interessiert war, bestätigt auch seine 1954 veröffentlichte Rezension der ins Deutsche umstrittene und doch immer wieder fruchtbare) historische Erkenntnis: nämlich die Hoffnung, daß religiöse Erneuerung auch weiterhin helfen könnte, die Wirtschaft (wie das geschichtliche Leben überhaupt) auf neue Bahnen zu führen – – wenn sie so wahrheitsmächtig wäre, wie einst der Puritanismus! So stellt er uns, ohne es zu wollen, vor eine schicksalsschwere Frage“. (Stephan 1935, 286). 68 Vgl. Alt 1953, 1413. 69 Zu dieser Theorie vgl. Donner 2007, 143. 70 Hinweise auf Weber finden sich auch bei Schrey 1939, 147; Köhler 1941; Teufel 1942, 27. 34. 71 Vgl. Trillhaas 1950, 155. 72 Im Jahre 1948 wurden Pfänders Vorlesungen zur Philosophie der Lebensziele (1921/1922) von Trillhaas publiziert.

14 | Einleitung übertragenen, ursprünglich in den USA erschienenen vierten Auflage von Joachim Wachs Religionssoziologie. Sie setzt mit den Worten ein: „Als G. Mensching 1947 seine ‚Soziologie der Religion‘ vorlegte, mußte er mit Recht darauf hinweisen, daß bislang eine systematische Darstellung des Gebietes in Deutschland fehlte. Das war und ist umso erstaunlicher, als ja in M. Weber und E. Troeltsch zwei deutsche Forscher der Religionssoziologie (RS) unverlierbare Anregungen und Gesichtspunkte mit auf den Weg gegeben haben.“⁷³ Trillhaas macht an dieser Stelle auf die Rückständigkeit der religionssoziologischen Forschung in Deutschland aufmerksam, die sich einerseits an dem Vergleich zu den amerikanischen Verhältnissen ablesen lasse. Andererseits liege sie auch darin begründet, dass die klassischen Entwürfe Troeltschs und Webers in Vergessenheit geraten seien.⁷⁴ Aber auch wenn die protestantische Theologie die Problemstellungen der Religionswissenschaft seit einigen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt habe, vermag Trillhaas erste Anzeichen für deren Wiederbelebung zu identifizieren, was aus seiner Sicht der Dinge unmittelbar zu begrüßen ist:⁷⁵ „Denn die Religionswissenschaft ist nun einmal die Unruhe in der modernen Theologie.“⁷⁶

73 Trillhaas 1954, 93. Gustav Mensching (1901–1978) war ein Schüler des Marburger Theologen und Religionswissenschaftlers Rudolf Otto (1869–1937). 74 „Die von Wach herangezogene Literatur ist geradezu erdrückend. Sie entstammt freilich überwiegend der amerikanischen Forschung und wird hierzulande vielfach kaum zugänglich sein. Andererseits vermißt man, da die herangezogene, europäische, vor allem deutsche Forschung kaum über das Jahr 1930 hinausreicht, manchen Titel. So wirkt das Buch wie ein Mahnzeichen an den Stand der Wissenschaft in der westlichen Welt, wie eine Frage vor allem an die deutsche Theologie, wie sie es denn seither mit dem Erbe von M. Weber und E. Troeltsch gehalten habe.“ (Trillhaas 1954, 95) Ganz ähnlich urteilte der mit Weber verwandte Soziologe und Philosoph Eduard Baumgarten (1898–1982) in einem 1949 gehaltenen Vortrag über Die Bedeutung Max Webers für die Gegenwart, vgl. Klingemann 1996, 215. 75 „Die Religionsphilosophie ist ohnehin ad acta gelegt. Die Religionspsychologie kehrt langsam, aber von außen, in den Kreis der Interessen zurück in dem Maße, wie die Fragen des persönlichen Lebens brennend werden. Die Religionsgeschichte klopft an die Tore der alttestamentlichen Wissenschaft und Missionskunde. Sie bringt beunruhigende Fragen mit. Möchte das gewichtige Werk Wachs, dessen großes Werk zur Hermeneutik unvergessen und unveraltet unter uns ist, auch dazu beitragen, jene Fragen dringend zu machen, die die moderne Theologie nicht länger ignorieren kann.“ (Trillhaas 1954, 96). 76 Trillhaas 1954, 96. Dass Trillhaas sich an dem Versuch, einen Paradigmenwechsel innerhalb der Theologie herbeizuführen, selbst beteiligt hat, lässt sich aber nicht nur an solchen flammenden Plädoyers, sondern auch an konkreten Buchprojekten ablesen, zu denen seine Grundzüge der Religionspsychologie (1946, 2 1953), seine Studien zur Religionssoziologie (1949), seine anthropologisch begründete Ethik (1959, 2 1965, 3 1970) sowie seine Religionsphilosophie (1972) gehören. Auch unter diesem Blickwinkel betrachtet, kristallisiert sich die besondere theologiegeschichtliche Stellung von Trillhaas heraus, die bislang zu wenig gewürdigt worden ist.

Einleitung

| 15

Ein Aufschwung der Religionssoziologie im Allgemeinen sowie der Weberrezeption im Besonderen ließ innerhalb der Theologie gleichwohl auf sich warten. So kann etwa der Systematische Theologe Ernst Steinbach (1906–1984) in einem Vortrag, den er im Rahmen der „Soziologischen Ringvorlesung der Tübinger Universität“⁷⁷ hielt, den Zuhörern mitteilen: „Vielleicht sind Sie enttäuscht darüber, daß eine soziologische Betrachtung im Sinne der empirischen Gesellschaftslehre hier nicht angewandt wurde. Natürlich ist Religionssoziologie auch in diesem Sinn, etwa in der Art, wie sie Max Weber vorschwebte und wie er sie zum Teil verwirklicht hat, möglich und sinnvoll; eine grundsätzliche Bedeutung für die Theologie kann ihr freilich nicht zukommen.“⁷⁸ Erst ab den 60er Jahren schenkte die Theologie der Religionssoziologie wieder größere Aufmerksamkeit, was maßgeblich der Säkularisierungsdebatte geschuldet war, an der sich allen voran Trutz Rendtorff beteiligte. Dieser hatte in seiner Münsteraner Antrittsvorlesung die „neuzeitliche Säkularisierung“ noch vergleichsweise unkritisch als „gemeinsame Voraussetzung unseres Denkens und Handelns“⁷⁹ bezeichnen können. In den folgenden Jahren kommt es jedoch zu nicht unerheblichen Verschiebungen in der Beurteilung dieses Themas, die wesentlich durch die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen (religions)soziologischen Literatur angeregt wurden.⁸⁰ Dass Rendtorff dem Säkularisierungsbegriff nun mit einem größeren Reflexionsabstand begegnet, spiegelt sich in seinem Vortrag Die Säkularisierungsthese bei Max Weber wider, den er im Zuge der Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages (1964) in Heidelberg zur Diskussion stellte. Bereits die Verwendung des Ausdrucks Säkularisierungsthese deutet auf ein Umdenken im Umgang mit diesem Problemfeld hin. Rendtorff betont in diesem Beitrag die Ambivalenz und Ideologieanfälligkeit des Säkularisierungsbegriffs. Dabei richtet er sich vor allem mit Blick auf die moderne Gesellschaft gegen die Annahme, einem Transformationsprozess den „Charakter einer Endgültigkeit“ verleihen zu können, „weil er nun einmal stattgefunden hat.“⁸¹ Bei dieser auf die Säkularisierungsvorstellung gemünzten Einschätzung handele es sich um eine Suggestion. Weber kommt nun insofern ins Spiel, als dessen historisch ausgerichtete Religionssoziologie materia-

77 Steinbach 1950, 941. 78 Steinbach 1950, 105. 79 Rendtorff 1962, 318. 80 Rendtorff nennt Schelskys Aufsatz Ist Dauerreflexion institutionalisierbar? (1959), Lübbes Studie Säkularisierung (1966), Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit (1966) sowie Luckmanns Untersuchung Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (1963). Interessant und erhellend ist in diesem Zusammenhang auch Rendtorffs eigene Darstellung seiner intellektuellen Biographie, vgl. Rendtorff 1998, 59–77. 81 Rendtorff 1965, 243.

16 | Einleitung liter Belege für eine solche genealogische Interpretation der Moderne, an deren Ende die Säkularisierung im Sinne der Dichotomie von Religion und Gesellschaft steht, an die Hand zu geben scheint. Das aber ist für Rendtorff eine Fehldeutung, die aus einer Vernachlässigung des Weberschen Wissenschaftsverständnisses resultiert. Gerade am Beispiel der Kapitalismusthese lasse sich zeigen, dass Webers Untersuchungen nicht auf Eindeutigkeit zielen. Vielmehr diene dessen Religionssoziologie „einem differenzierteren Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaft, die scheinbare Selbstverständlichkeiten wieder zu verflüssigen vermag.“⁸² Aus diesem Grunde konnte der Nationalökonom kein Interesse an einer Fixierung des Säkularisierungsbegriffs haben, den er ohnehin nur selten verwandte. In dem ein Jahr später publizierten Aufsatz Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie (1966) nimmt Rendtorff Umakzentuierungen in der Beurteilung Webers vor. Diesem bescheinigt er nun eine Ambivalenz in der Verhältnisbestimmung von moderner Gesellschaft und Kapitalismus. Die Erwerbswirtschaft sei Weber zufolge einerseits konstitutiver Bestandteil der Moderne. Andererseits dürfe daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass letztere vom Geist des Kapitalismus vollständig abhängig wäre. Das belegten nicht zuletzt die historisch-soziologischen Untersuchungen Webers. Damit spielt Rendtorff wiederum auf dessen Wissenschaftsverständnis an, das es diesem ermögliche, Freiheitsspielräume gegenüber dem stahlharten Gehäuse des Kapitalismus auszuloten und letztlich selbst zu repräsentieren. Die historische Perspektive bricht den vermeintlichen Determinismus des gegenwärtigen Gesellschaftssystems auf. Allerdings – und dieser Gesichtspunkt wurde von Rendtorff zuvor nur angedeutet – behalte bei Weber „die erdrückende Selbstverständlichkeit des gegebenen ‚siegreichen Kapitalismus‘ die Oberhand.“⁸³ Damit erscheint nun Weber selbst als Exponent des bereits zwei Jahre zuvor kritisierten Prozessdenkens, das auf eine dichotomische Gegenüberstellung von Religion und Gesellschaft hinausläuft. Diese Dichotomie bildet innerhalb gegenwärtiger Debatten den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis dieses Gesamtprozesses, sodass sich Gesellschaftsanalysen, die sich im „aporetischen Schatten Webers“⁸⁴ befinden, nur innerhalb des damit abgesteckten Rahmens bewegen können. Rendtorffs Auseinandersetzung zielt am Ende auf den Versuch, die Analogie zwischen Webers Deutung der modernen kapitalistischen Gesellschaft und dem Stellenwert der Säkularisierungsthese innerhalb der Kirchensoziologie offenzulegen. Beide operieren mit der Annahme eines „absolut gesetzten End-

82 Rendtorff 1965, 242. 83 Rendtorff 1967, 218. 84 Rendtorff 1967, 219.

Einleitung

| 17

zustandes der gesellschaftlichen Entwicklung“.⁸⁵ Die Eindeutigkeit dieses wertgebundenen dichotomischen Grundschemas gelte es aufzubrechen, womit eine grundlegende Voraussetzung erfüllt sei, um die Kirchensoziologie zur Religionssoziologie erweitern zu können. Die Dominanz der Säkularisierungsthese in der damaligen Religionssoziologie artikuliert sich auch in Volker Drehsens Weberinterpretation. Drehsen, der neben Theologie auch Sozial- und Rechtswissenschaften studiert hatte, gehörte innerhalb der Theologie zu den besten Kennern von Webers Werk. Schon im Alter von 26 Jahren fertigte er einen scharfsinnigen und ausgesprochen anregenden Beitrag zum Thema Religion und Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1975) an. Die heftigen Diskussionen um die Säkularisierungsthese spiegeln sich auch in diesem Beitrag wider. So bezeichnet Drehsen die „Säkularisierung“ als das „Leitmotiv“ von Webers Religionssoziologie.⁸⁶ So sehr er damit im Bannkreis der Säkularisierungsdebatte steht, seine Auseinandersetzung mit Weber geht insgesamt weit darüber hinaus und betrifft dessen Religionssoziologie im Ganzen. Drehsens Untersuchungen zu diesem Bereich des Weberschen Denkens zeichnen sich dadurch aus, die Grundlinien einer Gesamtinterpretation zu ziehen.⁸⁷ Das gilt zunächst für die weitreichende Vermutung, dass die hermeneutischen Grundsätze der religionssoziologischen Schriften für das spezifische Gepräge von Webers Methodologie insgesamt bestimmend seien.⁸⁸ Dementsprechend formuliert Drehsen die pointierte These, dass bei Weber die „Religion nicht nur ein Anwendungsfall der kulturwissenschaftlichen Logik ist, sondern auch umgekehrt, geradezu deren genuine Vorläuferin. Es hat den Anschein, daß die Hermeneutik der Kulturwissenschaften der Hermeneutik der Religion nachempfunden ist; genauer: Kulturwissenschaft, wie sie Weber versteht, ist der auf die Spitze getriebene, gleichsam um seine metaphysische Spitze gebrachte Anwendungsfall einer mittlerweile total ‚entzauberten‘, ursprünglich jedoch eben religiös abkömmlichen Logik.“⁸⁹ Die von Henrich später formulierte Annahme, wonach sich beide Schriftengruppen „wechselseitig stützen“,⁹⁰ erfährt hier bereits eine massive Zuspitzung. Denn die Religionssoziologie wird gleichsam zum Paradigma kulturwissenschaftlicher Reflexion stilisiert. Die – mit Drehsen gesprochen – Logik der Religion wird von ihm sodann nach zwei Aspekten hin entfaltet. Seiner Interpretation von Webers

85 Rendtorff 1967, 229. 86 Dieses Leitmotiv wird von ihm noch einmal nach verschiedenen Explikationshinsichten ausdifferenziert, vgl. Drehsen 1975, 147–154. 87 Vgl. Drehsen 1975, 89–154. 88 Vgl. Drehsen 1975, 97. 113. 148. 89 Drehsen 1975, 113f. 90 Henrich 1988, 12. So auch Lehmann 2009, 76.

18 | Einleitung Begriff der Religion zufolge muss letztere einerseits als ein jenseitsbezogenes „Deutungskonzentrat“⁹¹ und andererseits als diesseitsbezogenes „Normkonzentrat“⁹² begriffen werden. Religion bewegt sich damit im Spannungsfeld von Sinn- und Handlungsorientierung.⁹³ Schließlich muss in diesem Zusammenhang Drehsens Dissertations- und Habilitationsschrift Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der praktischen Theologie (1988) genannt werden, die an vielen Stellen dessen große Vertrautheit mit Webers Denken verrät und mehrfach auf Desiderate der Weberforschung zu sprechen kommt. So ist Drehsen m. W. der erste, der auf die Dringlichkeit hingewiesen hat, das „‚Ritschlsche Erbe‘“⁹⁴ in Webers Denken angemessen zur Geltung zu bringen.⁹⁵ In den 80er Jahren nahm die theologische Weberforschung weiter an Fahrt auf, wobei die Schwerpunkte sich wiederum auf die alttestamentliche Forschung sowie auf die Systematische Theologie verlagerten. Ein Jahr nachdem Wolfgang Schluchter den Sammelband Max Webers Studie über das antike Judentum herausgegeben hatte, veröffentlichte der Münchener Alttestamentler Eckart Otto einen Aufsatz zum Thema Hat Max Webers Religionssoziologie des antiken Judentums Bedeutung für eine Theologie des Alten Testaments? (1982). Seither versucht er, Webers Deutung der Geschichte Israels und des Judentums in ihrer Relevanz für die alttestamentliche Forschung auszuloten. Als Höhepunkt seines diesbezüglichen Schaffens können die beiden in der Max Weber-Gesamtausgabe im Jahre 2005 erschienenen Bände zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum angesehen werden, die er ediert, eingeleitet, kommentiert und herausgegeben hat. Auf diesem Wege ist es Otto gelungen, Webers religionssoziologische Studien wieder mit der Fachdiskussion seiner eigenen Disziplin ins Gespräch zu bringen. Darüber hinaus verfolgt er den Plan, an Weber anknüpfend eine „Religionssoziologie des antiken Israels und Judas“⁹⁶ abzufassen. Schließlich kommt ihm das Verdienst zu, die bislang nicht aufgearbeitete Weberrezeption innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft einerseits als Forschungsdesiderat ausgewiesen

91 Drehsen 1975, 115. 92 Drehsen 1975, 116. 93 In einem gut 10 Jahre später veröffentlichten Aufsatz formuliert er diese Unterscheidung noch pointierter. Dort heißt es, dass die Religion bei Weber „sowohl als verhaltensorientierendes Normkonzentrat der Alltagsethik als auch als weltanschauungsorientierendes Deutungskonzentrat der Lebenssicht“ (Drehsen 2009, 340) zu stehen komme. 94 Drehsen 1988b, 292. 95 Darauf wird in der vorliegenden Untersuchung genauso zurückzukommen sein wie auf die zuvor angerissenen Aspekte von Drehsens Weberinterpretation. 96 Otto 2002, 276.

Einleitung

| 19

zu haben. Andererseits hat er bereits erste Hinweise gegeben, auf welchem Wege diesem Desiderat zu begegnen ist.⁹⁷ Auf Webers – bereits erwähnten – Einfluss auf Albrecht Alt und Martin Noth wies ebenfalls Christa Schäfer-Lichtenbergers Dissertation Stadt und Eidgenossenschaft im Alten Testament (1983) hin. In dieser Arbeit bestimmt sie die Reichweite und die Grenzen zweier idealtypischer Begriffe Webers für das Verständnis der Sozialgeschichte Israels: den Begriff der antiken Stadtherrschaft und den Begriff der Eidgenossenschaft. Im Ergebnis bescheinigt sie allein letzterem, auf die Frühgeschichte Israels anwendbar zu sein. Dieser Sozialtyp, der sich durch das „Fehlen einer Zentralgewalt und der hierarchischen Organisation der Gesellschaft“⁹⁸ auszeichne, sei eine „adäquate Abbildung der Gesellschaftsorganisation des frühen Israel.“⁹⁹ Aber nicht nur im Bereich der Exegese lässt sich seit den 80er Jahren ein verstärktes Interesse der Theologie an Webers Religionssoziologie verzeichnen. Selbiges gilt – wie schon angedeutet wurde – auch für die Systematische Theologie. So legte Falk Wagner in seiner Monographie Was ist Religion? (1986/2 1991) eine Analyse der Weberschen Religionssoziologie vor. Der zuerst in München, später in Wien wirkende Theologe spitzt darin Webers Religionsverständnis ganz auf den Irrationalitätsbegriff hin zu. Wagner entwickelt in seiner Weberdeutung eine konzeptionelle Klimax, die in dem Gedanken der „Ursprungsirrationalität“¹⁰⁰ der Religion ihren Ausgangspunkt nimmt. Damit ist gemeint, dass jede Form religiöser Lebensführung eine „immer auch irrational motivierte“¹⁰¹ Handlungsweise darstelle. Das gelte auch für die protestantische Askese, deren Spezifikum jedoch darin bestehe, die besagte Ursprungsirrationalität ins Rationale übersetzen zu können, womit der berühmte Zusammenhang von calvinistisch-puritanischer Ethik und modernem Kapitalismus in den Blick kommt. Auf diesem Wege sei es Weber gelungen, eine funktionale Kompatibilität zwischen dem religiös und dem wirtschaftlich motivierten Handeln auf den Begriff zu bringen. Durch die Loslösung des kapitalistischen Geistes von seinen religiösen Wurzeln habe sich die Rationalität in Wirtschaft und Gesellschaft jedoch verselbständigt,¹⁰² was im Effekt ein erneutes

97 „Eine Geschichte der Rezeption von M. Webers ‚Antikem Judentum‘ durch A. Alt, W. Caspari, M. Lurje, A. Menes, M. Noth, G. von Rad in Deutschland, A. Causse, A. Lods und A. Neher in Frankreich sowie W. F. Albright, H. Hahn, G. Mendenhall und R. North in Amerika ist ein forschungsgeschichtliches Desiderat.“ (Otto 2002, 2775). 98 Schäfer-Lichtenberger 1983, 421. 99 Schäfer-Lichtenberger 1983, 426. 100 Wagner 1991, 191. 101 Wagner 1991, 189. 102 Vgl. Wagner 1991, 189.

20 | Einleitung Abdrängen der Religion ins Irrationale zeitigte.¹⁰³ Wagner spricht in diesem Zusammenhang von einer „Reaktionsirrationalität“,¹⁰⁴ die aber unter den Bedingungen der Moderne nur noch „Ausdruck einer Ghetto- oder Sektenmentalität“¹⁰⁵ sein könne. Diese Bewegung von der Ursprungs- zur Reaktionsirrationalität unterzieht Wagner schließlich einer vertiefenden Betrachtung, indem er sie mit dem Säkularisierungsbegriff in Beziehung setzt. Auf Überlegungen Rendtorffs aufbauend werden von ihm zweierlei Perspektiven unterschieden. Die Säkularisierungsthese könne bei Weber sowohl auf die Religion als auch auf die Gesellschaft bezogen werden. Im ersten Fall werde jedoch nicht die Religion als solche säkularisiert. Vielmehr werden religiöse Gehalte zu Säkularisaten, was die bereits angesprochene Kompatibilität von religiösen Vorstellungen und rationalem Handeln zur Voraussetzung hat. Daneben rede Weber der Verselbständigung der Gesellschaft von der Religion das Wort, womit die zweite Bedeutung der Säkularisierungsthese in den Blick kommt. Die Religion stehe in dieser Perspektive „der rationalen Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft dichotomisch“¹⁰⁶ gegenüber. Wagner belässt es jedoch nicht bei der bloßen Feststellung beider Perspektiven. Darüber hinaus zeichnet er sie in ein „Folgeverhältnis“¹⁰⁷ ein, wonach die erste Säkularisierungsgestalt durch die zweite abgelöst werde. Das Auseinanderfallen von Religion und Gesellschaft lasse schließlich eine zweifache Deutung zu. Die eine, radikale Interpretation besage, dass die Religion zu Ende gehe, die andere rede einem kirchensoziologischen Ansatz das Wort, der die Refugien des Religiösen in der Gegenwart in dessen institutionalisierten Gestalten aufspüre. Doch welcher Deutung man auch immer folge, für Wagner ist es entscheidend, dass die Säkularisierungsthese sich nicht auf „die Religion“¹⁰⁸ ausdehnen lasse. Sie betreffe ausschließlich – und das habe Weber deutlich gemacht – das Christentum Nordamerikas und Europas. Die Säkularisierungsthese sei allein „für das Verhältnis von moderner Gesellschaft und christlicher Religion plausibel“.¹⁰⁹ In den 90er Jahren veröffentlichte der hallesche Systematiker Ulrich Barth zwei Aufsätze zu Weber. Im Jahre 1991 erschien der in der Zeitschrift für evangelische Ethik publizierte, Trutz Rendtorff gewidmete Habilitationsvortrag Ethische

103 104 105 106 107 108 109

Wagner 1991, 190. Wagner 1991, 191 u. ö. Wagner 1991, 193. Wagner 1991, 197. Wagner 1991, 198. Wagner 1991, 198. Wagner 1991, 198.

Einleitung

| 21

Aspekte der Kapitalismus-Deutung Max Webers.¹¹⁰ Die dort angestellten Überlegungen stehen in Kontinuität zu der schon von Löwith, Henrich u. a. verfolgten anthropologischen Fragestellung, die von Barth auf den Handlungsbegriff hin zugespitzt wird, um „Ansatzpunkte einer normativen Ethik des Kapitalismus zu gewinnen“.¹¹¹ Diese Ansatzpunkte entzünden sich an der Ambivalenz, die er der Kapitalismustheorie Webers bescheinigt: der Kapitalismus sei einerseits Ausdruck „höchst möglicher ökonomischer Rationalität“ und stelle andererseits den „Inbegriff des wirtschaftlichen Überlebenskampfes“¹¹² dar. Aus dieser Zweideutigkeit leitet er verschiedene Problemkreise ab, die als gedanklicher Ausgangspunkt einer normativen Ethik dieser Wirtschaftsform dienen können. Dabei konzentrieren sich seine Überlegungen einerseits auf die Analyse der Eigengesetzlichkeiten von Webers Begriff des Kapitalismus sowie der unter diesen Bedingungen denkbaren externen Steuerungsmöglichkeiten dieser Wirtschaftsform. Andererseits geht er Webers Überlegungen nach, die den Einfluss des modernen Kapitalismus auf die menschliche Lebensführung und Rationalität betreffen.¹¹³ Die Ansatzpunkte, die Barth auf diesem Wege für eine normative Ethik des Kapitalismus herausarbeitet, implizieren „ethische Antinomien“¹¹⁴, was Webers Wirtschaftssoziologie einen „realitätsnahen wie ideologiekritischen Gesamtcharakter“¹¹⁵ verleihe. Auch der zweite Aufsatz – Okzidentaler Rationalismus und fernöstliche Religion (1997) – betont die grundlegende Bedeutung der Handlungstheorie für das Verständnis der Weberschen Soziologie. Die Religionssoziologie nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein, weil hier der handlungs- und der deutungstheoretische Ansatz Webers in besonderer Weise miteinander verflochten sind. In Barths Rekonstruktion fließt damit die von Volker Drehsen formulierte Unterscheidung zwischen der Religion als Deutungs- und als Normkonzentrat ein. In dieser doppelten Theorieausrichtung liege die eine Voraussetzung, die für eine Interpretation von Webers Indienstudien unerlässlich sei. Die andere bilde die Berücksichtigung von Webers universalgeschichtlichem Zugang zu den asiatischen Religionen. Die110 Im Jahre 2003 wurde dieser Beitrag unter dem Titel Die Antinomien des modernen Kapitalismus. Wirtschaftsethische Überlegungen im Anschluß an Max Weber wiederveröffentlicht. 111 Barth 2003a, 396. 112 Barth 2003a, 385. 113 „1. Ist der Kapitalismus im Sinne Webers überhaupt von außen beeinflußbar, ohne daß man sein Wesen aufhebt? Wenn ja, 2. wo liegen die inhaltlichen Ansatzpunkte? 3. Was für Steuerungsebenen stehen zur Verfügung? 4. An welcher Leitnorm soll sich jene Steuerung orientieren? 5. Inwiefern tangiert der Kapitalismus die individuelle Lebensführung? Und schließlich, 6. wie wirkt sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung auf die menschliche Vernunft aus?“ (Barth 2003a, 385). 114 Barth 2003a, 396. 115 Barth 2003a, 397.

22 | Einleitung ser diene dem Zweck, „ex negativo die innere Genealogie der westlichen Kultur“¹¹⁶ zu bewähren, was aber zugleich deutlich mache, dass Webers Zugriff auf das religionsgeschichtliche Material ausgesprochen tendenziös sei.¹¹⁷ Im Jahre 1992 erschien Michael Murrmann-Kahls Dissertation Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920. Mit dieser Untersuchung reagiert er auf das in den Theologien des Neuen Testaments nicht gelöste Problem, in welchem Verhältnis die Genesis ihres Materials zur Geltung ihrer Inhalte steht. Um diese Problemstellung historisch einordnen und systematisch reflektieren zu können, diskutiert Murrmann-Kahl die Historismusdebatten um 1900. In diesem Zusammenhang setzt er sich auch ausführlicher mit Max Webers Wissenschaftsverständnis auseinander, nicht weil dieser ein Exponent jener Debatten gewesen wäre, sondern vielmehr, weil Weber einen anspruchsvollen und wegweisenden Versuch unternommen habe, den an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die Krise geratenen Historismus zu überwinden.¹¹⁸ Murrmann-Kahl rekonstruiert Webers Forschungsprogramm im Spannungsfeld von Fachwissenschaft, Philosophie und Soziologie. Besondere Beachtung schenkt er Webers Abgrenzung von der historistisch geprägten Nationalökonomie sowie von der Geschichtswissenschaft, weil diese mit dem Anspruch verbunden gewesen seien, es gäbe „wissenschaftlich begründetes Sollen“.¹¹⁹ Auf dieses Geltungs- bzw. Normproblem reagiere Webers methodologisches Prinzip der Werturteilsfreiheit, das dieser in den Mittelpunkt des Wissenschaftsverständnisses gerückt habe. Eine besondere Pointe der Weberinterpretation Murrmann-Kahls besteht schließlich darin, die Neuausrichtung von Webers Wissenschaftsprogramm einerseits und dessen Abgrenzung vom Historismus andererseits als komplementäre Phänomene auszuweisen.¹²⁰ Vonseiten der protestantischen Theologie ist der bereits erwähnte Münchener Systematiker Friedrich Wilhelm Graf der in den Sozial- und Geisteswissenschaften am stärksten rezipierte Weberforscher. Aus dessen Feder flossen eine Vielzahl von Studien, die das Leben und Denken Webers zum Thema haben. Hier ist – wie schon angedeutet wurde – allen voran die „Fachmenschenfreundschaft“ zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch zu nennen,¹²¹ die in verschiedenen Publikationen in vor allem historischer Perspektive minutiös ausgeleuchtet wurde. Auf diesem Wege ist es ihm gelungen, die ausgesprochen enge Verbindung Webers zur protestantischen 116 Barth 2005b, 398. 117 Vgl. Barth 2005b, 438. 118 Vgl. Murrmann-Kahl 1992, 205–243. 119 Murrmann-Kahl 1992, 224; vgl. auch 234. 120 Vgl. Murrmann-Kahl 1992, 241. 121 Graf 1987; Graf 1988; Graf 1995; Graf 2002; Graf 2003; Graf 2005c.

Einleitung

|

23

Theologie ins Bewusstsein zu heben und damit zugleich deren grundlegende Bedeutung für die Anfänge der Weberschen Religionssoziologie zu plausibilisieren.¹²² Im neuen Jahrtausend wurde das soziologische Werk Webers verschiedentlich auf seine bleibende wirtschaftsethische Relevanz hin befragt. Das lässt sich an den Beiträgen illustrieren, die in dem von Georg Pfleiderer und Alexander Heit herausgegebenen Band Wirtschaft und Wertekultur(en). Zur Aktualität von Max Webers ‚Protestantischen Ethik‘ versammelt sind. Sie richten den Fokus weniger auf eine historische Rekonstruktion dieses Aufsatzes, sondern zielen in erster Linie darauf, die von dem Nationalökonomen entwickelten Gedanken weiter zu denken und auf diesem Wege „mit Weber über Weber“¹²³ hinauszugehen. Und auch die Dissertation Martin Eberles Verstehende Wirtschaftsethik. Max Webers Studien zum antiken Judentum in theologisch-ethischer Perspektive (2008) beschäftigt sich mit Webers Wirtschaftsethik, um deren Bedeutung für die heutige Diskussion auszuloten.¹²⁴ Mit einem dezidiert hermeneutischen Interesse tritt Günter Thomas’ soziologische Dissertation Implizite Religion (2001) an Webers Religionssoziologie heran. In dieser Untersuchung erarbeitet der Bochumer Systematiker ein methodisches und theoretisches Instrumentarium zur Identifikation von Religion. Die besondere Pointe seiner Fragestellung besteht darin, solche Formen von Religion identifizieren zu wollen, „die im wissenschaftlichen common sense gemeinhin nicht als Religion betrachtet werden.“¹²⁵ Nicht nur im Hinblick auf die Identifikationsproblematik, sondern auch im Vorgehen orientiert er sich an Niklas Luhmanns System- und Kommunikationstheorie und erweitert diese durch die Inanspruchnahme neuerer kulturwissenschaftlicher und religionstheoretischer Reflexionsmuster. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei das sogenannte polythetische Religionsverständnis ein. Hier kommt dann Max Weber ins Spiel, der mit einem mehrdimensionalen Religionsbegriff operiere. Thomas arbeitet insgesamt fünf Dimensionen

122 Für die vorliegende Studie sind Grafs Beiträge vor allem im Hinblick auf die Bestimmung der religionswissenschaftlichen und theologischen Einflüsse auf Webers Protestantische Ethik einschlägig und werden in diesem Zusammenhang genauer besprochen. 123 Pfleiderer 2008, 33. 124 Vgl. Eberle 2008, 17. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht jedoch nicht Webers Protestantische Ethik, sondern dessen Judentumsstudien. Diese eignen sich nach Meinung Eberles gerade in methodischer Hinsicht, weil sie nicht nur – wie die Protestantismusstudie – den Einfluss von Ideen auf die Gesellschaft verfolge, sondern auch in umgekehrter Richtung verfahre. Den religionssoziologischen Teil aus Wirtschaft und Gesellschaft zieht Eberle gleichermaßen hinzu. Obgleich seine Dissertation Verstehende Wirtschaftsethik betitelt ist, wird Webers Verstehenstheorie nur am Rande gestreift (vgl. Eberle 2008, 81–88). Auffällig ist zudem, dass Webers Wirtschaftssoziologie weitgehend außen vor bleibt. 125 Thomas 2001, 9.

24 | Einleitung dieses Begriffs heraus,¹²⁶ sodass Webers Religionsforschung als Theoriemotor der von ihm verfolgten Fragestellung in Anspruch genommen wird. Schließlich sei auf einen bemerkenswerten Beitrag verwiesen, den Friedemann Voigt im Jahre 2002 unter dem Titel Das protestantische Erbe in Max Webers Vorträgen über ‚Wissenschaft als Beruf‘ und ‚Politik als Beruf‘ veröffentlichte. Er geht über die v. a. von Drehsen und Graf unternommenen Versuche hinaus, den Einfluss der protestantischen Theologie auf Webers Religionssoziologie zu bestimmen, indem er die im Titel seines Beitrags angegebenen Reden auf diesen Zusammenhang hin befragt. In inhaltlicher Perspektive stellt Voigt zum einen Webers Forderung intellektueller Redlichkeit und zum anderen dessen Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik heraus. In beiden, für Webers Denken signifikanten Aspekten lassen sich seiner Auffassung nach deutliche Spuren identifizieren, die zu dem von Julius Wellhausen (1844–1918) gezeichneten Prophetenbild führen.¹²⁷ Das protestantische Erbe Webers betrifft also – Voigts Interpretation zufolge – nicht allein dessen Religionssoziologie, sondern erstreckt sich bis in Grundüberzeugungen des Wissenschafts- und Politikverständnisses hinein. Damit sind zentrale Stationen der theologischen Weberrezeption vorgestellt worden. Von einer breit aufgestellten Auseinandersetzung mit dem Weberschen Werk kann – gerade im Vergleich mit anderen Sozial- und Geisteswissenschaften – zwar nicht die Rede sein, von einer Rezeptionsaskese allerdings auch nicht. Weber wurde und wird innerhalb der Theologie rezipiert und für die gedankliche Durchdringung verschiedenster Themengebiete herangezogen. Dazu gehören methodologische Überlegungen im Bereich der Praktischen Theologie sowie der Kirchengeschichte, die alttestamentliche Erforschung vorstaatlicher Vergemeinschaftungsformen in Israel, die Säkularisierungsthese, die Kapitalismustheorie sowie der Religionsbegriff.

126 „Für die aus einer beobachtenden Außenperspektive vorgenommene Identifikation von Religion ist 1.) die Funktion der Bearbeitung der anthropologischen Problematik des Leidens grundlegend. Zu der funktionalen Bestimmung treten zwei strukturelle und zwei deskriptive Merkmale: 2.) Als deskriptives Merkmal kann die Entwicklung der religiösen Deutung im Medium von Symbolisierungen und deren Stabilisierung in Ritualen gelten. 3.) Das erste strukturelle Elemente (sic!) besteht in der Unterscheidung von alltäglich/außeralltäglich. 4.) Zumindest im Fall entwickelter Religionen erfordert die Auffaltung einer eigenen symbolisch zugänglichen Wirklichkeit die zweite strukturelle Differenzierung von Welt/Hinterwelt, bzw. diesseitig/jenseitig. Auch dieses Merkmal zeichnet die kulturellen Formationen, die die erste Leitdifferenz bearbeitet. 5.) Als letztes ist auf das deskriptive Merkmal der religiösen Ethik zu verweisen, die eine intendierte oder faktische Gestaltungsdynamik der Religion anzeigt.“ (Thomas 2001, 84) Dass Thomas sich an Geertz berühmter Religionsdefintion orientiert, deutet sich in diesen Bestimmungen genauso an wie in seinem eigenem Religionsverständnis vgl. Thomas 2001, 422ff. 127 Voigt 2002, 253–265.

Einleitung

|

25

Auffällig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass der tragende Grund der Weberschen Soziologie – der Handlungsbegriff – in den hier genannten Veröffentlichungen wenn überhaupt dann nur am Rande gestreift wurde. Die größte Aufmerksamkeit schenkte Drehsen diesem Begriff. Doch handelt es sich hierbei um allenfalls erste Überlegungen zu der Frage nach der konzeptionellen Relevanz der Handlungstheorie für die Religionssoziologie Webers. Von einer umfassenderen Analyse kann auch bei ihm nicht die Rede sein. Damit nähern wir uns dem Thema der vorliegenden Untersuchung an, in der diesem Begriff eine zentrale Funktion für das Verständnis der Weberschen Religionssoziologie eingeräumt werden soll. Dieser Angabe könnte sogleich entgegengehalten werden, Eulen nach Athen tragen zu wollen. Denn dass Webers Soziologie im Allgemeinen und seine Religionssoziologie im Besonderen auf einem handlungstheoretischen Fundament stehen, kann beinahe als eine Binsenweisheit angesehen werden. Und wenn Hartmann Tyrell jüngst bemerkt hat, dass Weber dieser Begründungszusammenhang vielfach angelastet worden sei,¹²⁸ vermittelt das den Anschein, dieser Zusammenhang sei längst erforscht und keiner weiteren Untersuchung mehr bedürftig. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass dessen gedankliche Durchdringung vernachlässigt wurde. Dieses Desiderat betrifft nun aber nicht nur die Theologie, sondern die Weberforschung insgesamt.¹²⁹ Es ist fast so, als ob die Selbstverständlichkeit dieses Zusammenhangs dazu geführt hat, auf eine genauere Untersuchung desselben zu verzichten. Der Versuch, die Religionssoziologie von der Handlungstheorie her zu lesen, wurde bislang nur ansatzweise unternommen.¹³⁰ Doch handelt es sich dabei um ein Problem, dass keineswegs nur die Diskussion der Religionssoziologie Webers betrifft, sondern die Erforschung sämtlicher Bereiche seiner materialen Soziologie. Diese werden vielfach unter Absehung ihrer handlungstheoretischen Voraussetzungen und Implikationen erörtert. Das

128 Vgl. Tyrell 2014, 222. 129 Beispielhaft genannt seien Dux 1971; Küenzlen 1980; Weiß 1992; Hagenloch 1995. Diese Einschätzung spiegelt sich auch in den meisten der in dieser Untersuchung noch mehrfach heranzuziehenden Beiträge wider, die in dem von Hans G. Kippenberg und Martin Riesebrodt herausgegebenen Sammelband Max Weber ‚Religionssystematik‘ (2001) aufgenommen sind. Aber auch die Einleitungen in die Neuedition der religionssoziologischen Texte in der Max WeberGesamtausgabe schenken dem Handlungsbegriff kein oder nur ein geringes Interesse, vgl. SchmidtGlintzer 1989; Schmidt-Glintzer 1996; Kippenberg 2001a, 25–27; Schluchter 2014. 130 Vgl. Tyrell 1992, 185–190; Krech 2001a, 65–73. Obgleich Wolfgang Schluchters opus magnum zu Weber unter dem Titel Religion und Lebensführung steht, ist es schwierig, die systematische Reichweite des Handlungsbegriffs in seinen Analysen zu Webers Religionssoziologie zu fassen. Worin diese Schwierigkeiten begründet liegen, wird an späterer Stelle zu diskutieren sein, vgl. 2. 2. 3.

26 | Einleitung bedeutet zugleich, dass sich die entsprechenden Untersuchungen primär auf die Analyse der jeweiligen materialsoziologischen Gebiete beschränken und Webers methodologische Schriften, in denen der Handlungsbegriff entfaltet wird, oftmals nur am Rande streifen.¹³¹ Wenn wir uns vor diesem Hintergrund das bereits angesprochene Bild vom Gebirge der Weberliteratur erneut vor Augen führen, dann ragen nun aus diesem zwei Hauptgipfel heraus. Der eine steht für die Untersuchungen zu Webers methodologischen Schriften, der andere für die Abhandlungen, die den unterschiedlichen Feldern der materialen Soziologie gewidmet sind. Der Weg, der beide Gipfel miteinander verbindet, wurde bislang jedoch nur selten betreten. Die vorliegende Untersuchung verfolgt daher das Ziel, dieses weitgehend unerforschte Terrain gleichsam zu kartographieren, wobei wir uns auf den Bereich der Religionssoziologie beschränken werden. Webers methodologische Schriften für eine Interpretation seiner Religionssoziologie zu berücksichtigen, ist aber nicht allein ihres handlungstheoretischen Fundaments wegen geboten. Hinzu kommt – und dieser Sachverhalt trägt dem methodologischen Charakter dieser Schriften noch mehr Rechnung –, dass er darin zugleich eine Theorie des Verstehens entwickelt hat, deren vollendete Gestalt das berühmte Programm einer verstehenden Soziologie darstellt. Beide Gesichtspunkte – die Handlungs- und die Verstehenstheorie – stehen nun aber keineswegs unverbunden nebeneinander. Vielmehr fordern sie sich wechselseitig. Der originäre Gegenstand seiner Verstehenstheorie ist das menschlichen Handeln und seine Analysen zum menschlichen Handelns stehen im Dienst seiner Theorie des Verstehens. Vor diesem Hintergrund schält sich die Bedeutung des Hermeneutikbegriffs heraus, der in dieser Untersuchung Verwendung findet. Unter Hermeneutik soll hier nichts anderes als Verstehenstheorie begriffen werden und Webers methodologische Schriften können nachgerade als ein Ringen um eine der Kultur- und Sozialwissenschaften angemessene Verstehenstheorie und damit Hermeneutik gelesen werden. Die entscheidende Pointe seines hermeneutischen Ansatzes besteht darin, diesen ganz auf den Handlungsbegriff gemünzt zu haben, sodass sich sein Verstehensbegriff nicht unabhängig vom Handlungsbegriff verständlich machen

131 Vgl. etwa Bendix 1962; Loos 1970; Breuer 1991; Petersen 2014. Ausführlicher behandeln Andreas Anter in staatstheoretischer und Werner Gephart in rechtssoziologischer Perspektive die Relevanz der Handlungstheorie für den von ihnen verhandelten materialsoziologischen Bereich, vgl. Anter 1996, 93–101; Gephart 1998, 43–90. Webers Wirtschaftssoziologie bzw. genauer die Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens nehmen hier insofern eine Sonderstellung ein, als sie unmittelbar an die Soziologischen Grundbegriffe (Soz, 147–215) anknüpfen, in deren Mittelpunkt sich der Begriff des Handelns befindet. Die handlungstheoretischen Implikationen dieses Bereichs der Soziologie werden von Thomas Schwinn umrissen, vgl. Schwinn 2010, 201–205.

Einleitung

|

27

lässt. Diese Spezifikation des Hermeneutikbegriffs gilt dann freilich auch für den hier verwendeten Begriff der Religionshermeneutik. Webers Religionshermeneutik setzt die handlungstheoretischen Grundlagen seiner methodologischen Schriften voraus und ist eine Theorie des Verstehens religiös bestimmten Handelns sowie der darauf aufbauenden Formen religiöser Vergemeinschaftung.¹³² In methodischer Hinsicht werden die folgenden Überlegungen zum einen werkgenetisch verfahren. Auf die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens wurde gerade auch bezogen auf Webers Methodologie verschiedentlich hingewiesen.¹³³ Das heuristische Potential eines solchen Zugangs ist indes noch nicht ausgeschöpft worden. Das gilt vor allem für Webers Handlungsbegriff und die auf diesen bezogene Verstehenstheorie, die von Roscher und Knies (1903–1906) bis zu den Soziologischen Grundbegriffen mehrere Umformungen durchlaufen haben. Dieser Prozess hat in der Weberforschung bislang kaum Beachtung gefunden, nicht zuletzt deswegen, weil die Webersche Methodologie zu stark vom berühmten Objektivitätsaufsatz (1904) her gelesen wird. Neben dem werkgeschichtlichen Zugang zu Webers Schriften ist zum anderen ein problemgeschichtlicher zu wählen. Das bedeutet hier aber nicht, diese in einer diachronen Perspektive zu kontextualisieren. Vielmehr gilt es die zeitgenössischen Diskussionskontexte zu berücksichtigen und für das Verständnis der Weberschen Untersuchungen fruchtbar zu machen.¹³⁴ Was den Aufbau dieser Studie betrifft, so wird im folgenden Kapitel (2) der Fokus auf Webers Handlungsbegriff zu richten sein, den er in den gesammelten Aufsätzen seiner sogenannten Wissenschaftslehre entfaltet hat.¹³⁵ Dabei müssen zwei Perspektiven auseinandergehalten werden. Weber thematisiert den Handlungs132 In Anbetracht der vielfältigen Verwendungsweisen des Hermeneutikbegriffs sowie der hochgradig komplexen Problemgeschichte hermeneutischen Denkens ist diese Präzisierung des auf Weber bezogenen Hermeneutikbegriffs erforderlich. Innerhalb der Forschungsliteratur zu Weber ist verschiedentlich mit dem Ausdruck Hermeneutik operiert worden, vgl. Habermas 1982, 104–106; Nusser 1988, 187ff; Schwinn 1993, 576; Anter 1996, 93. 133 Vgl. Schütz 1993, 318; Mommsen 1974a, 208–232; Tenbruck 1988, 338; Tenbruck 1994, 372. 134 Die Dringlichkeit einer solchen Zugangsweise wurde bereits von Graf 1987, 123 betont. 135 Der Titel Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre geht auf Marianne Weber zurück. Diese Entscheidung, Webers methodologische Schriften unter diese Überschrift zu fassen, muss im Rückblick als zumindest ambivalent beurteilt werden, weckt sie doch Assoziationen, die einer Interpretation dieser Beiträge im Wege stehen können. So ruft sie den Wissenschaftslehrer Johann Gottlieb Fichte genauso in Erinnerung (vgl. Winckelmann 1973, IX) wie den spekulativen ‚Enzyklopädisten‘ Georg Friedrich Hegel. Allerdings dürfte der Titel auf einen weit späteren Vertreter der nachkantischen Problementwicklung gemünzt sein, nämlich auf Heinrich Rickerts Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die der südwestdeutsche Neukantianer ausdrücklich als „Wissenschaftslehre“ (G, 15) bezeichnet hatte. Zwar arbeitet sich Weber an Rickerts Beitrag ab (vgl. dazu 2. 1 sowie 2. 4. 1), seine eigene Leistung ist jedoch weit davon entfernt, eine vollständige Wissenschaftssystematik auf den Begriff zu bringen. Das war auch nicht seine Absicht. Diese

28 | Einleitung begriff einerseits in konstitutionstheoretischer Hinsicht, in der er die Strukturelemente kenntlich macht, die für den Aufbau menschlichen Handelns bestimmend sind. Andererseits ist mit dem Handlungsbegriff der spezifische Gegenstandsbereich seiner Theorie des Verstehens bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist ein besonderes Augenmerk auf den Stellenwert der neukantianischen Werttheorie in Webers Denken zu legen, der innerhalb der Forschungsliteratur nach wie vor sehr hoch veranschlagt wird. Damit ist die Frage verbunden, in welchem Verhältnis die werttheoretische Dimension seiner Methodologie zur handlungstheoretischen steht. Die Beantwortung dieser Frage betrifft keineswegs nur einen Nebenkrater der Weberinterpretation, sondern führt zu einem ihrer neuralgischen Punkte. Denn die jeweilige Antwort schlägt sich unmittelbar in der Bestimmung der konstitutionstheoretischen Grundlagen von Webers Sinn- und Kulturbegriff nieder. Des Weiteren dient die Rekonstruktion der systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens dem Ziel, die Konstruktionselemente herauszuarbeiten, die Webers kultur- und sozialwissenschaftlicher Hermeneutik zugrunde liegen. Die werkbiographische und die handlungstheoretische Perspektivierung der methodologischen Schriften Webers bringt schließlich den gedanklichen Prozess zum Vorschein, der in der Konzeptualisierung des Programms einer verstehenden Soziologie seinen Abschluss gefunden hat. Das dritte Kapitel (3) wendet sich der Religionssoziologie Webers zu und bestimmt den religionswissenschaftlichen Anteil einer Auswahl dort verwendeter Begriffe. Das bedeutet vor allem, sie auf das historische Material hin zu befragen, das ihnen zugrunde liegt. Um diese Aufgabe leisten zu können, ist es erforderlich, das intellektuelle Feld zu berücksichtigen, das auf diese Begriffsarbeit Einfluss genommen hat. Die zuletzt angegebene Fragestellung kann allerdings nicht in allen religionssoziologischen Schriften gleichermaßen verfolgt werden. Der Schwerpunkt ist hier auf die Religiösen Gemeinschaften zu legen, die Weber in einem Brief an Heinrich Rickert (1863–1936) einmal als seine „Religionssystematik“ (Br. II/8, 262) bezeichnet hat. Besonderes Gewicht wird in diesem Teil der Frage zu verleihen sein, in welchem Maße die ausgewählten Begriffe durch die protestantische Theologie geprägt wurden. Der vierte Hauptteil (4) nimmt die zuvor untersuchten religionswissenschaftlichen Begriffe im Horizont der im zweiten Kapitel (2) rekonstruierten Handlungs-

Schriften repräsentieren vielmehr den Prozess des gedanklichen Ringens um die methodologischen Grundlagen eines auf dem Handlungsbegriff fußenden kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansatzes. Aber auch dieses Ziel ist keineswegs von vornherein ersichtlich, weil der Weg dorthin mehrere Transformationsschritte umfasst. Der Ausdruck „Wissenschaftslehre“ soll in dieser Untersuchung vermieden werden, gerade um besagten Assoziationen von vornherein die Grundlage zu entziehen.

Einleitung

|

29

und Verstehenstheorie in den Blick. Er zielt damit auf eine Vervollständigung der für diese Begriffe maßgeblichen Konstruktionsvoraussetzungen. Während Kapitel drei den materialen bzw. historischen Anteil bestimmt, gilt es nun, die handlungstheoretischen Implikationen und damit die unterschiedlichen Theorieebenen dieser Begriffe kenntlich zu machen. Allerdings wird es hier nicht allein darum gehen, die religionswissenschaftlichen Begriffe im Lichte des Handlungsbegriffs zu lesen. Vielmehr soll auch geprüft werden, inwiefern Webers Religionsforschung auf sein Handlungsverständnis abgefärbt hat. Um diesen Gesichtspunkt greifbar machen zu können, soll Webers berühmte Handlungstypologie herangezogen und mit religionswissenschaftlichen Begriffen abgeglichen werden. Unter diesen Voraussetzungen wird es dann möglich sein, Webers Methodologie und Religionssoziologie so miteinander in Beziehung zu setzen, dass deren jeweilige Prägekraft näher bestimmt werden kann. In den Schlussbemerkungen (5) soll in einer über die zuvor erörterten Detailfragen hinausgehenden Perspektive das spezifische Profil des religionssoziologischen Ansatzes Webers noch stärker herausgearbeitet werden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf das religionshermeneutische Potential zu legen, das in den im Folgenden zu untersuchenden Schriften angelegt ist.

2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens 2.1 Einleitung Es gibt gute Gründe, eine Annäherung an die systematischen Grundlagen von Webers Theorie des Handlungsverstehens mit dem Satz zu eröffnen: am Anfang war Heinrich Rickert. Denn zu den Voraussetzungen, unter denen sie entstand, gehört zweifelsohne Webers intensive Beschäftigung mit dem Werk, das der Philosoph im Jahre 1902 vollendete und das ihn berühmt machen sollte – Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. In dieser Untersuchung fand der gedankliche Weg, den Rickert mit seiner Dissertationsschrift – Zur Lehre von der Definition (1888) – angetreten hatte, seinen vorläufigen Abschluss.¹ Über die außerordentliche Leistung dieses Buchs bestand innerhalb der Fachwelt disziplinenübergreifend kein Zweifel. In verschiedenen Organen wurde es von namhaften Autoren rezensiert.² Und auch Weber wendete sich diesem Werk kurz nach dessen Erscheinen zu.³ Schon oft zitiert ist seine Reaktion, die er im Jahre 1902 während einer Erholungsreise in Italien seiner Frau mitteilte, nachdem er die Lektüre von Rickerts Grenzen abgeschlossen hatte: „Rickert habe ich aus. Er ist sehr gut, zum großen Teil finde ich darin das, was ich selbst, wenn auch in logisch nicht bearbeiteter Form gedacht habe. Gegen die Terminologie habe ich Bedenken.“⁴ Die Auseinandersetzung mit Rickert scheint den entscheidenden Impuls für Webers kurze Zeit später beginnende, intensive Beschäftigung mit den Fragen der logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner eigenen Disziplin, der Nationalökonomie, gegeben zu haben. Diese Beschäftigung schlägt sich in seinem in drei Lieferungen (1903, 1905, 1906) erschienenen Beitrag Roscher und Knies und die

1 Weitere Wegmarken zu seinem Hauptwerk sind die Habilitationsschrift Der Gegenstand der Erkenntnis (1892), der Aufsatz Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1894), die Veröffentlichung der ersten Hälfte der Grenzen im Jahre 1896 sowie sein Vortrag Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899). 2 Exemplarisch sei hier auf Troeltsch verwiesen, der zu den Grenzen bemerkt: „Es [sc. das Buch] ist in der Sündflut literarischer Ueberproduktion eines der wenigen wirklichen Denk- und Lernbücher, die ernstlich klären und vorwärtsbringen.“ (Troeltsch 1913b, 678). 3 Marianne Weber weist darauf hin, dass sich Rickert und Weber schon seit Kindheitstagen kannten und dass ihr Mann mit dem philosophischen Werk Rickerts insgesamt vertraut war, vgl. Weber 1984, 216. 4 Weber 1984, 273. Auf dieses Zitat wird später zurückkommen sein, vor allem auf Webers Skepsis gegenüber der von Rickert verwendeten Terminologie. https://doi.org/10.1515/9783110502770-040

2.1 Einleitung | 31

logischen Probleme der Nationalökonomie⁵ sowie in seiner wohl berühmtesten frühen Abhandlung zu Fragen der Methodologie – Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) – unmittelbar nieder.⁶ Jeweils

5 Wilhelm Roscher (1817–1894) und Karl Knies (1821–1898) gelten neben Bruno Hildebrand (1812– 1878) als die Begründer der sogenannten historischen Schule der Nationalökonomie, vgl. dazu (Winkel, 1977, 82–121). Zu deren Schülergeneration gehörte auch Max Weber, der seit 1894 als Ordinarius für Nationalökonomie an der Universität Freiburg lehrte und zwei Jahre später die Nachfolge von Karl Knies in Heidelberg antrat. Zum nationalökonomischen Methodenstreit zwischen Gustav Schmoller (1838–1917) und Carl Menger (1840–1921), an dem sich auch Weber abarbeitete, vgl. Winkel 1977, 138–150. Zur genaueren Verortung Webers innerhalb des komplizierten Geflechts der damaligen nationalökonomischen Schulen vgl. Hennis 1988, 41–83; Schön 1988, 84–97; Osterhammel 1988, 147–195; Schluchter 1991a, 25–40; Murrmann-Kahl 1992, 210–212. 6 Zur Anfertigung von Roscher und Knies sei Weber – wie seine Frau herausstellt – von der philosophischen Fakultät in Heidelberg gebeten worden, welche aus Anlass einer Gedenkfeier der Universität die Herausgabe einer Festschrift plante (vgl. Weber 1984, 272). Friedrich Tenbruck weist zurecht darauf hin, dass Weber bereits vor diesem Anlass und der damit verbundenen Bitte mit methodologischen Fragen befasst war, sodass ihre verbreitete Kennzeichnung als Gelegenheitsschriften missverständlich ist: „Niemand, der die Aufsätze in ihrer bohrenden Eindringlichkeit liest, kann denn auch verkennen, daß über ihnen tua res agitur steht und Weber dort nach Klarheit über Fragen sucht, die ihn selbst beschäftigten und auch ohne die Bitte der Fakultät beschäftigt hätten.“ (vgl. Tenbruck 1994, 371) Für die Interpretation von Roscher und Knies ist es entscheidend, die drei Lieferungen nicht über einen Kamm zu scheren. Vielmehr lassen sich von der ersten zur zweiten signifikante Umakzentuierungen identifizieren, die in besonderer Weise unter dem Blickwinkel des Handlungs- und Deutungsbegriffs zutage treten, worauf im Folgenden einzugehen sein wird. Innerhalb der Forschungsliteratur wurde dieser Gesichtspunkt bislang unzureichend gewürdigt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Studie zu Roscher und Knies einen ausgesprochen schlechten Ruf genießt, was darauf zurückgeführt werden kann, dass der Text an vielen Stellen stilistisch rhapsodisch und inhaltlich hermetisch ist. Schon Marianne Weber, die diese Abhandlung als „Seufzeraufsatz“ (Weber 1984, 291) bezeichnete, wies auf diese Eigentümlichkeiten hin: „So muß denn vieles hastig in lange Schachtelsätze gepackt und was dort nicht Platz findet, in Fußnoten untergebracht werden. Mag sich doch der Leser ‚gefälligst‘ ebenso damit plagen wie er [sc. Weber] selbst!“ (Weber 1984, 322) Erst seit wenigen Jahren setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass die frühen methodologischen Untersuchungen Webers für das Verständnis seines weiteren Schaffens von kaum zu überschätzender Bedeutung sind. Wesentliche Anregungen dazu dürften von Tenbrucks, die eigene frühere Position revidierendem Beitrag Die Wissenschaftslehre Max Webers sowie von Wolfgang Schluchter ausgegangen sein (vgl. Tenbruck 1994, 369; Schluchter 1998, 69ff). Vgl. darüber hinaus Oakes 1975a, 1–51; Morikawa 2001, 167ff; Radkau 2005, 400ff; Šuber 2007, 279ff. Zuletzt hat Edoardo Massimilla sich mit diesen frühen Arbeiten ausführlich beschäftigt, denen er bescheinigt, „eine Art Zusammenfassung aller zukünftigen Probleme“ (Massimilla 2012, 109) darzustellen. Wilhelm Hennis Feststellung: „Für das Verständnis von Webers Werk würde uns nicht viel abgehen, wenn die Roscher-, Knies-, die Eduard Meyer-, die Stammler-, Ostwald- etc. Auseinandersetzungen, die Weber durchweg nie zu Ende führte, von ihm gar nicht begonnen worden wären“ (Hennis 1996, 206), kann als überholt gelten.

32 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens auf den ersten Seiten dieser Untersuchungen wird dem Leser unmissverständlich deutlich gemacht, dass ihr Verfasser sich im hohen Maße an Rickerts Grenzen zu orientieren beabsichtigt (vgl. RK I, 71; vgl. auch O, 1461). Auch Rickert selbst war davon überzeugt, seinen Freund und ehemaligen Freiburger Kollegen durch sein Hauptwerk maßgeblich beeinflusst zu haben. Das belegt die Einleitung in die 1921 erschienene dritte und vierte Auflage der Grenzen. „Dem Andenken an Max Weber gewidmet“ hält der Philosoph fest: Erst als ich ihm 1902, nachdem er Freiburg längst verlassen hatte, die beiden letzten Kapitel über historische Begriffsbildung und historische Objektivität vorlegte, überzeugte er sich als einer der ersten davon, daß auf Grund meines Begriffes der theoretischen Wertbeziehung das begriffliche Verfahren der wissenschaftlichen Geschichte als das einer individualisierenden Kulturwissenschaft zutreffend gekennzeichnet sei. Die methodologischen Arbeiten, in denen er dann selber bald darauf diese Einsicht für seine eigene Wissenschaft fruchtbar machte, bedeuten für mich bis heute den schönsten Erfolg meiner Bemühungen um die Aufklärung des logischen Wesens aller Historie.⁷

Obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, dass Rickerts Hauptwerk Webers Denken nachhaltig beeinflusst hat, ist es alles andere als einfach, die hier in Frage kommenden Faktoren genau zu benennen und in ihrer Bedeutung zu würdigen. Daher nimmt es auch nicht wunder, dass Rickerts Bedeutung für Webers intellektuelle Entwicklung innerhalb der Fachliteratur kontrovers diskutiert wird.⁸ Die folgenden Ausführungen können dieses vielschichtige Problemfeld keinesfalls erschöpfend bearbeiten. Es kann hier allein dessen Relevanz für die infrage stehende Theorie des Handlungsverstehens erörtert werden. Und aus diesem Blickwinkel betrachtet, kristallisieren sich besonders zwei Grundgedanken der Grenzen heraus. Es handelt sich einerseits um die von Rickert diskutierte Frage nach der erkennt-

7 Rickert 1921a, XIXf. Dass diese Formulierung stilisiert und den Einfluss Rickerts auf Weber überhöht, werden die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Zum Begriff der Wertbeziehung vgl. 2. 4. 1. 8 Exemplarisch sei einerseits auf Wilhelm Hennis Weberdeutung verwiesen, der diesen Einfluss immer wieder zu marginalisieren versucht hat (vgl. Hennis 1996). Aus anderen Motiven kommt Fritz Ringer zu einem ganz ähnlichen Ergebnis (Ringer 1997, 50). Andererseits versuchen Henrich 1952, 4f; Schluchter 1991a, 44–60; Schluchter 1998, 69ff; Oakes 1990; Nusser 1986; Merz 1990; Isenböck 2006 sowie Massimilla 2012 die grundlegende Abhängigkeit der Weberschen Methodologie von der Erkenntnistheorie Rickerts zu plausibilisieren. Die im Folgenden zu entfaltende Position schlägt einen Mittelweg ein, den bereits Freyer betreten hatte. Freyer spitzt das infrage stehende Problem dahingehend zu, dass „die Rickertsche Wissenschaftslehre . . . bis zuletzt in Spannung blieb mit der wirklichen soziologischen Arbeit M. Webers, und daß sich M. Weber mit der Sicherheit seines wissenschaftlichen Instinkts dieser Methodenlehre, zu der er sich bekannte und mit der er arbeitete, überall dort zu entziehen wußte, wo sie ihn einengte.“ (Freyer 1930, 147) Ähnlich argumentiert auch Murrmann-Kahl 1992, 207f.

2.1 Einleitung |

33

nistheoretischen Parallelisierbarkeit von physischen und psychischen Vorgängen. Andererseits kommen hier Rickerts Reflexionen zur Verallgemeinerungsfähigkeit kulturwissenschaftlicher Analysen historischer Vorkommnisse in Betracht. Auf diese beiden Gesichtspunkte gilt es zunächst kurz einzugehen, bevor deren Relevanz für Webers Denken bestimmt wird. Im Kampf gegen den naturwissenschaftlichen Positivismus und Naturalismus versuchte Rickert, die schon seit langem schwelende Debatte um die spezifischen Differenzen zwischen den Natur- und den Kultur- bzw. Geisteswissenschaften auf ein neues Fundament zu stellen. Nicht gegenüber der weit verbreiteten Überzeugung, dass sich an der Konzeptualisierung des Geschichtlichen das Schicksal der Kulturwissenschaften entscheiden würde, hatte er Neuland betreten. Das Innovationspotential seiner „Wissenschaftslehre“ (G, 15) besteht vielmehr darin, logische Differenzkriterien aufzustellen, nach denen sich beide Wissenschaftsbereiche unterteilen lassen.⁹ Um die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aufzeigen zu können, kommt dem Begriff des Individuellen eine Schlüsselstellung zu. Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein.¹⁰ An dieser Stelle ist zunächst seine Kritik an einer Wissenschaftssystematik entscheidend, die jene Differenz materialiter an der Bestimmung eines bestimmten Gegenstandsbereichs festzumachen sucht, dass es also die Naturwissenschaften mit der Körperwelt und die Kultur- und Geisteswissenschaft mit der Seele bzw. dem Geist zu tun hätten. Diese Sichtweise lässt sich Rickerts Auffassung nach nicht halten, weil sich seelische und körperliche Vorkommnisse in ihrer prinzipiellen Gegebenheitsweise nicht unterscheiden. Beide gehören zur „empirischen Wirklichkeit“ (G, 180) und stellen eine unendliche Mannigfaltigkeit dar, die allein durch Begriffsarbeit überwunden werden kann. Und dazu ist die Naturwissenschaft imstande. Die für ihn entscheidende Frage: „Setzt das geistige Sein der Naturwissenschaft eine Grenze?“ (G, 150), muss daher strikt verneint werden. Und er fügt hinzu: „Nichts scheint uns einer klaren Einsicht in das Wesen der historischen Wissenschaften mehr hinderlich gewesen zu sein, als die Einführung des Gegensatzes von physischen und psychischen Vorgängen in diese Probleme.“¹¹ (G, 28)

9 Logik ist hier im Sinne der Begriffsbildungstheorie zu verstehen. Sie gibt die formalen Kriterien dieser Theorie an die Hand. 10 Vgl. unten sowie 2. 4. 1. 11 Unter die historischen Wissenschaften fasst Rickert sämtliche Nicht-Naturwissenschaften, vgl. G, 24. Im Nachwort zu seiner fünften Auflage der Grenzen weist er noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass die Differenz zwischen psychisch und physisch logisch sekundär gegenüber der von Allgemeinem und Besonderem sei, auf deren jeweils spezifische Verknüpfung in den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen es ihm aber primär ankomme (vgl. Rickert 1929c, 758).

34 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Damit richtet er sich allen voran gegen Wilhelm Diltheys (1833–1911), aber auch gegen Wilhelm Wundts (1832–1920) Position, die seiner Ansicht nach eine generalisierende, naturwissenschaftliche Betrachtung seelischer Vorgänge ausgeschlossen hätten (vgl. G, 150).¹² Auf diesem Wege redeten sie aber einer gegenstandsbezogenen Differenzbestimmung zwischen Natur- und Nicht-Naturwissenschaften das Wort, womit weitreichende wissenschaftssystematische Konsequenzen verbunden sind. Denn letztlich zielten sie mit ihrer Argumentation darauf, die auf das Individuelle bezogene Geschichtserkenntnis psychologisch zu begründen und damit die Psychologie als geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Leitdisziplin zu etablieren (vgl. G, 150). Die kultur- bzw. geisteswissenschaftliche Aufwertung der Psychologie bildet für Rickert eine Folgeerscheinung der kategorialen Trennung von Natur und Geist. Wenn Rickert diese Trennung logisch zu unterlaufen versucht, schlägt sich dieses Vorgehen wiederum unmittelbar auf die Einschätzung der Psychologie nieder. Letztere wird von ihm in den Bereich der Naturwissenschaften verwiesen. Denn sie vermag – wie er im Anschluss an Wilhelm Windelband (1848–1915) formuliert – lediglich „Thatsachen . . . zu konstatiren, zu beschreiben oder auch in ihrer naturnothwendigen Genesis zu begreifen“ (G, 15).¹³ Damit hebt er auf die Differenz zwischen der Genesis und der Geltung von Erkenntnissen ab. Und mit genau der geltungstheoretischen Perspektive sind für ihn die wissenschaftssystematischen Grenzen der Psychologie gesetzt.¹⁴ In enzyklopädischer Perspektive – und damit gerät der zweite Grundgedanke in den Blick – ist für Rickert nicht die inhaltliche Differenz zwischen Natur und Geist entscheidend, sondern die zwischen dem Begriff des Individuellen und 12 Rickert bezieht sich hier auf Diltheys Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) sowie auf die zweite, umgearbeitete Auflage von Wundts zweibändiger, drei Abteilungen umfassender Logik (1893–1895), vgl. G, 150. 153f. Wie hart auch Weber mit jener Schrift Diltheys ins Gericht ging, lässt sich einem Brief an Rickert vom 3. November 1907 entnehmen. Dort bezieht er sich auf eine Partie aus Rickerts Geschichtsphilosophie (1907), in der letzterer zur besagten Schrift Diltheys Stellung nimmt: „Dilthey kommt SS. 393 oben doch wohl zu gut weg: sein Aufsatz ist doch konfus u. er wollte doch ‚Idealtypen‘, nicht Ihre ‚Kulturpsychologie‘ schaffen?“ (Br II / 5, 416f). Vgl. dazu auch RK II, 531 sowie Br II / 4, 523. 13 Vgl. Windelband 1907a, 363. 14 Rickerts Vorbehalte gegenüber der Psychologie werden von ihm bereits in der Einleitung zu den Grenzen namhaft gemacht. Dort betont er mit Nachdruck, dass die Erkenntnistheorie, um die es ihm in diesem Werk ginge, „nicht Psychologie“ (G, 14) sei. Letzterer sei es zwar möglich, das Erkennen – als psychischen Prozess betrachtet – in seinem Hergang zu untersuchen. Doch komme es ihm auf diesen speziellen Gegenstandsbereich nicht an. Er wolle sich vielmehr darauf besinnen, „was eine abschließende Welt- und Lebensauffassung uns geben soll“ (G, 15). Mit einer solchen – an dieser Stelle nicht näher erläuterten – letzten Sichtweise sei der Maßstab an die Hand gegeben, die „Bedeutung“ und den „Werth“ (G, 15) der unterschiedlichen, wissenschaftlichen Erkenntnismethoden beurteilen zu können.

2.1 Einleitung | 35

des Allgemeinen. Mit dieser logischen Bestimmung sei ein – jedenfalls in einem ersten Zugang – belastbares Differenzkriterium zwischen den Natur- und den NichtNaturwissenschaften bezeichnet. Rickert ist zwar der Auffassung, dass sich beide Wissenschaftsgruppen auf identische Gegenstände richten können. Während sich erstere aber auf das beziehen, was sich an diesen Gegenständen verallgemeinern lässt, konzentrieren sich die Kulturwissenschaften auf deren individuelle Qualitäten. Allerdings bleibt Rickert bei dieser Zuordnung nicht stehen. Vielmehr bedarf die Annahme, dass die nomothetischen Wissenschaften es mit dem Allgemeinen und die idiographischen mit dem Individuellen zu tun hätten, einer Präzisierung.¹⁵ Denn die bisherige Sicht der Dinge würde den Wissenschaftscharakter der Letzteren unterlaufen: „Man kann nämlich sagen, daß ohne ‚Allgemeines‘ Wissenschaft überhaupt nicht möglich sei, und daraus dann den Schluß ziehen, daß die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen einen Widerspruch enthalte.“¹⁶ Diese Bestimmungen lassen sich am „historische[n] Kausalzusammenhang“ (G, 413) verdeutlichen, womit die Ursache-Wirkungs-Relation zweier historischer und damit individueller Größen in den Blick kommt. Auch wenn Rickert den damit angesprochenen Begriff der Kausalität von dem der Naturgesetze strikt unterschieden wissen will (vgl. G, 412f), geht es ihm hier um die Frage der Verallgemeinerbarkeit der auf individuelle bzw. historische Vorgänge bezogenen Ursache-WirkungsRelation: „Wie gewinnt der Historiker eine allgemein verständliche und übertragbare Einsicht in den individuellen Zusammenhang einer bestimmten historischen Ursache mit einem bestimmten historischen Effekt?“ (G, 429) Dies sei, so Rickert, nicht anders möglich als durch den Einsatz allgemeiner Begriffe (vgl. G, 429). Die Ausführungen, auf welchem Wege eine solche Begriffsarbeit möglich sei, müssen hier nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass es von diesen Begriffen heißt, sie seien größtenteils „nicht eigentlich wissenschaftliche Begriffe“ (G, 432). Im Rahmen der Analyse von historischen Kausalzusammenhängen kommen vielmehr „in der ‚Erfahrung des Lebens‘ entstandene allgemeine Sätze über ursächlichen Zusammenhang“ (G, 433) zur Anwendung.

15 Zentrale Aspekte der folgenden Überlegungen hatte Rickert bereits im Jahre 1901 in der Zeitschrift Revue des Synthèse Historique unter dem Titel Les quatre modes de l’„Universel“ dans l’histoire dargelegt. Die Grundgedanken dieses Aufsatzes flossen in die Grenzen ein. In der fünften Auflage der Grenzen wurde dieser Aufsatz – ins Deutsche übertragen – wieder abgedruckt, vgl. Rickert 1929b, 737–754. Weber nimmt auf diese Untersuchung ausdrücklich Bezug: „Ueber die so einfachen und doch so oft verkannten Unterschiede der Bedeutungen von ‚allgemein‘ voneinander, mit denen wir immer wieder zu tun haben, ist grundlegend der Aufsatz von Rickert, Les quatre modes de l’universel en histoire, in der Revue de synthèse historique 1901.“ (RK I, 151). Vgl. dazu Massimilla 2012, 10ff. 16 Rickert 1929b, 739.

36 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Mittels solcher Sätze bzw. mittels der darin veranschlagten Begriffe sei es möglich, Aussagen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen individuellen Vorgängen des geschichtlichen Lebens zu treffen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Diese beiden zuletzt skizzierten Grundgedanken, also sowohl Rickerts Kritik an dem Versuch, die Trennung von Natur- und Nicht-Naturwissenschaften an der Differenz von Natur und Geist festzumachen, als auch seine Überzeugung, dass die kulturwissenschaftliche Analyse historischer Kausalverhältnisse zwar auf das Individuelle bezogen, aber gleichwohl durch die Anwendung spezifischer, dem Alltag entlehnter Begriffe verallgemeinerungsfähig ist, stießen in besonderer Weise auf Webers Interesse. Um die Reichweite dieser Gesichtspunkte für Webers Denken ausloten zu können, muss jedoch ins Kalkül gezogen werden, dass der Nationalökonom die wissenschaftssystematischen Überlegungen von vornherein unter pragmatischen Gesichtspunkten rezipiert hat. In Roscher und Knies hält er ausdrücklich fest: „Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors [sc. Rickerts] für die Methodenlehre unserer Disziplin [sc. der Nationalökonomie] zu erproben.“¹⁷ (Vgl. RK I, 71). Für die weitere Erörterung seiner Rickertrezeption ist es nun entscheidend, dass Weber die besagten Gedanken unmittelbar mit dem spezifischen Gegenstandsbereich seiner Disziplin in Verbindung bringt, auf den deren Methodologie bezogen ist: das menschliche Handeln (vgl. RK II, 67). Es gilt sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, dass es für die historische Schule der Nationalökonomie, der Weber ursprünglich angehörte, kennzeichnend war, sich als „Wissenschaft vom menschlichen Handeln“¹⁸ zu verstehen. Weber überträgt also grundlegende erkenntnistheoretische Prämissen der Rickertschen Wissenschaftslehre auf das eigene Fach und überprüft auf diesem Wege deren Brauchbarkeit. Die strikte Bezugnahme auf das menschliche Handeln bringt es nun mit sich, dass die skizzierten Gesichtspunkte der Rickertschen Wissenschaftssystematik von Weber auf

17 Zum Leidwesen für den Interpreten seiner Gedanken fügt Weber hinzu: „Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder einzelnen Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte.“ (RK I, 71). 18 Weber 1964, 138. 578. Vgl. auch RK II, 44. Weniger spezifisch heißt es bereits in seiner berühmten und umstrittenen Freiburger Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), dass die Volkswirtschaftslehre eine „Wissenschaft vom Menschen“ (NV, 559) sei. Mit dieser Bestimmung der Nationalökonomie stand Weber – wie gesagt – keineswegs allein. Vielmehr gab es einen breiten Strom nationalökonomischer Ansätze, die das menschliche Handeln als primären Gegenstand ihrer Wissenschaft verstanden, vgl. dazu Hennis 1988, 49ff; Gephart 1998, 43ff. Bei Hennis ist zu lesen, dass Webers handlungstheoretischer Ansatz „unmittelbar“ (Hennis 1988, 67) auf Knies zurückgehe. In solchen Formulierungen spiegelt sich das verschiedentlich zu beobachtende und berechtigte Interesse wider, die nationalökonomische Herkunft Webers und deren prinzipielle Bedeutung für dessen intellektuelle Biographie zu unterstreichen.

2.1 Einleitung |

37

der einen Seite zwar verarbeitet werden, auf der anderen Seite aber durch den handlungsbezogenen Zugriff signifikante Umformungen erfahren. Das sei kurz erläutert. Auf den ersten der zuvor skizzierten Grundgedanken der Rickertschen Grenzen geht Weber gleich zu Beginn der ersten Lieferung zu Roscher und Knies (1903) ein: Dass die Art, wie uns psychische Objekte ‚gegeben‘ sind, keinen spezifischen, für die Art der Begriffsbildung wesentlichen Unterschied gegenüber den Naturwissenschaften begründen könne, ist eine Grundthese Rickerts. . . . Der in dieser Studie weiterhin zugrunde gelegte Standpunkt nähert sich dem Rickertschen insofern, als dieser meines Erachtens ganz mit Recht davon ausgeht, daß die ‚psychischen‘ bzw. ‚geistigen‘ Tatbestände – wie immer man diese vieldeutigen Termini abgrenzen möge – prinzipiell der Erfassung in Gattungsbegriffen und Gesetzen durchaus ebenso zugänglich sind wie die ‚tote‘ Natur.¹⁹ (RK I, 121)

Rickerts Parallelisierbarkeitsthese und damit auch der Annahme, dass mentale Vorgänge einer naturwissenschaftlichen Betrachtung prinzipiell zugänglich sind, pflichtet Weber also ausdrücklich bei. Ebenso verbindet er die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung mit der Kategorie des Individuellen. Dieses sei zwar jenem Wissenschaftsbereich nicht prinzipiell entzogen. Doch bleibt das „Bedürfnis nach Kausalerklärung“ (RK II, 66) bzw. das – wie es verschiedentlich heißt – kausale Bedürfnis (vgl. RK II, 65. 67–69) hier unbefriedigt. Die Grenzen naturwissenschaftlicher Analysen individueller physischer oder psychischer Größen bestehen darin, nicht über das Ergebnis hinauszukommen, dass die untersuchten Objekte nicht im Widerspruch zum nomologischen Wissen naturwissenschaftlicher Gesetze stehen (vgl. RK II, 65f). Es handelt sich demnach um ein lediglich negatives Wissen individueller Vorkommnisse. Webers Argumentationsgang, der sich bis hierin weitgehend in Rickertschen Gedankenbahnen bewegt, nimmt sodann eine signifikante Wendung, die – was bereits angedeutet wurde – mit der Berücksichtigung des für die Nationalökonomie charakteristischen Gegenstandsbereichs zu tun hat. Der Nationalökonom ist der Überzeugung, dass sich im Falle des individuellen menschlichen Handelns das besagte Bedürfnis nach Kausalerklärung noch in einer ganz anderen Weise befriedigen lasse, worin sich dieser Gegenstandsbereich prinzipiell von bloßen Naturvorgängen unterscheide. Das „Plus von ‚Berechenbarkeit‘“ (RK II, 69) menschlichen Sichverhaltens sei in dessen „Deutbarkeit“ (RK II, 67) begründet. Damit gerät unverkennbar ein hermeneutischer Zug in Webers Argumentationsgang, was

19 Vgl. auch RK III, 126: „Die logische Eigenart ‚historischer‘ Erkenntnis im Gegensatz zu der im logischen Sinn ‚naturwissenschaftlichen‘ hat mit der Scheidung des ‚Psychischen‘, der ‚Persönlichkeit‘ und des ‚Handelns‘ vom toten ‚Naturobjekt‘ und ‚mechanischen Naturvorgang‘ durchaus nichts zu schaffen.“ Auch in diesem Zusammenhang verweist er auf Rickert, vgl. RK III, 1261.

38 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens die von ihm nun in den Mittelpunkt gerückten Termini Verstehen, Deutung und Interpretation unterstreichen. Zu denken gibt diese hermeneutische Wendung allein schon deswegen auf, weil sie von Weber nach Maßgabe der Kausalitätskategorie eingeführt wird. Wenn er – das sei hier vorausgeschickt – darauf zielt, eine Theorie des Handlungsverstehens zu entwerfen, dann muss es sich um eine solche Konzeption handeln, die das angesprochene kausale Bedürfnis zu befriedigen weiß. Um dieses Ziel einzulösen, rückt nun ein Begriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, der für das Verständnis seines kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansatzes insgesamt von grundlegender Bedeutung ist. Es handelt sich um den Begriff des Motivs.²⁰ Um das bereits benannte Berechenbarkeitsplus gedanklich auszuweisen, bedient er sich dieses Begriffs und spezifiziert das Verstehen menschlichen Sichverhaltens in einem ersten Zugang in der Weise, „ein ‚innerlich‘ ‚nacherlebbares‘ konkretes ‚Motiv‘ oder einen Komplex von solchen zu ermitteln, dem wir es . . . zurechnen“ (RK II, 67). Diese Formulierung ist für das Verständnis von Webers Theorie des Handlungsverstehens von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn zum einen gibt sie die strikte Bezugnahme seines Interpretationsansatzes auf den Motivbegriff zu erkennen. Entscheidend ist dabei, dass der Motivbegiff der Ursache-WirkungsRelation entsprechend veranschlagt wird. Der handlungstheoretische Begriff des Motivs kommt als Ursache eines Verhaltens zu stehen. An dieser Stelle knüpft er in formaler Hinsicht durchaus an Rickert an. Denn in dieser Zuordnung von Motiv und Verhalten artikuliert sich nichts anderes als ein – mit Rickert gesprochen – historischer Kausalzusammenhang. Vom Philosophen unterscheidet er sich aber wiederum insofern, als er diesen Zusammenhang strikt hermeneutisch perspektiviert. Zum anderen weist diese Formulierung – und das unterstreicht das zuletzt Gesagte – auf die Komplexität seines Deutungsbegriffs hin, der verschiedene hermeneutische Operationen umfasst.²¹ Das gilt zunächst für das innere Nacherleben, das in problemgeschichtlicher Perspektive vor allem mit den Namen Friedrich

20 Damit verwendet Weber einen Begriff, der zu den klassischen Ausdrücken der Handlungstheorie gehört und im 20. Jahrhundert in der vor allem durch Kurt Lewin (1890–1947) angestoßenen modernen Motivationspsychologie eine große Konjunktur erlebt hat (vgl. Rheinberg 2008, 42ff). Helmut Johach weist darauf hin, dass auch Wilhelm Dilthey ursprünglich auf die „Analyse von Motivationen“ zielte. Im Nachlass Diltheys heißt es: „Wie der Mensch ein psychophysisches Ganzes ist, so setzt sich die Geschichte zusammen aus Handlungen der Menschen als körperlichen Vorgängen und aus den geistigen Inhalten, welche diese begleiten.“ (Zitat aus Johach 1974, 20). 21 Weber weist bezogen auf den Deutungsbegriff selbst daraufhin, dass dessen „erkenntnistheoretisches Wesen ein komplexes ist“ (RK II, 701). Vgl. auch Br II / 4, 588.

2.1 Einleitung |

39

Schleiermachers (1768–1834) und Wilhelm Diltheys verbunden wird.²² Aber auch wenn Weber das argumentative Gewicht zuerst auf das nacherlebende Verstehen eines Handlungsmotivs legt, lässt sich der zuletzt zitierten Formulierung unschwer entnehmen, dass sich die Deutung des Handelns darin nicht erschöpft. Weber sieht es vielmehr für erforderlich an, das innere Nacherleben durch ein kausales Zurechnungsmodell zu ergänzen. Dass es sich bei Lichte besehen nicht nur um eine Ergänzung handelt, sondern dass mit diesem Modell der neuralgische Punkt seiner Verstehenstheorie markiert ist, zeichnet sich ab, wenn er wenig später und losgelöst vom Akt des Nacherlebens von einer „kausalen Deutung aus ‚Motiven‘ heraus“ (RK II, 68) spricht. Anders und vor dem Hintergrund von Webers Rickertrezeption formuliert: die kulturwissenschaftlichen Analysen historischer Kausalzusammenhänge werden in eine Theorie des Handlungsverstehens überführt. Bereits hier sei sodann der systematisch weitreichende Sachverhalt angesprochen, dass der Motivbegriff mit dem des Sinns eng verbunden ist, der bekanntlich ebenfalls zu den Spitzenbegriffen des Weberschen Werks gehört, in der Erstauflage der Rickertschen Grenzen aber nur am Rande Erwähnung findet. Motiv und Sinn werden von Weber als Strukturelemente im Aufbau des menschlichen Handelns ausgewiesen und scheinen verschiedentlich fast austauschbar zu sein. Das legt bereits die in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) vorgenommene Konkretion des auf Handlungsmotive gerichteten Verstehens als „Interpretation auf den ‚Sinn‘ des Handelns hin“ (RK II, 69) nahe. Die Deutung des Handelns ist sowohl auf dessen Sinn als auch auf dessen Motiv bezogen, sodass die beiden entsprechenden Begriffe sehr eng aneinanderrücken. Die Frage, in welchem Verhältnis beide Ausdrücke genau zueinander stehen, ist jedoch ausgesprochen schwierig zu beurteilen und muss später erneut aufgegriffen werden.²³ Die hier nur in einem ersten Zugang angegebenen verstehenstheoretischen Bestimmungen Webers sind also unmittelbar auf die Struktur menschlichen Handelns bezogen, das sich – grob gesagt – durch das Innenelement des sinnhaften Motivs und das Außenelement des bloßen Verhaltens auszeichnet. Die Deutung besteht dementsprechend nicht allein darin, das Motiv nacherleben zu können.

22 Wenn Weber festhält, dass zu „manchen der folgenden Ausführungen“ (RK III, 922), die dem Begriff des Verstehens gelten, Diltheys Beiträge zur Entstehung der Hermeneutik sowie zur Grundlegung der Geisteswissenschaften verglichen werden sollen, so könnte diese Formulierung auf jene erlebnistheoretische Dimension gemünzt sein. 23 Vgl. 2. 2. In Webers Ausführungen finden sich sowohl Hinweise auf ihre Identifikation als auch darauf, dass sie voneinander abgesetzt werden müssen. Dementsprechend sind in der Forschungsliteratur beide Möglichkeiten anzutreffen. Während Schütz von einer „Gleichsetzung“ (Schütz 1993, 27) spricht, plädiert Kippenberg für eine Trennung von Sinn- und Motivbegriff (vgl. Kippenberg 2001c, 28. 30).

40 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Hinzu kommt – und darauf ist Webers Fokus gerichtet –, dass einem Verhalten ein Motiv zugerechnet werden kann. Menschliches Sichverhalten lässt sich nur durch ein „erklärendes Verstehen“ (Soz, 155) angemessen deuten, womit der hermeneutische Spitzenbegriff Webers auf den Plan tritt. Der Verstehensbegriff baut auf einem Zurechnungsmodell auf, sodass das Verstehen zugleich ein Erklären darstellt. Damit kündigt sich bereits ein bekanntes Grundanliegen Webers an, das Verfahren des Verstehens mit dem der Erklärung so zu koordinieren, dass der Methodendualismus zwischen beiden unterlaufen wird.²⁴ Dass er damit an einem naturwissenschaftlichen Methodenideal orientiert ist, liegt nahe und wird von ihm auch ausdrücklich betont: „Die ‚deutende‘ Motivforschung . . . ist in absolut dem gleichen logischen Sinn kausale Zurechnung wie die kausale Interpretation irgendeines individuellen Naturvorganges, denn ihr Ziel ist die Feststellung eines ‚zureichenden‘ Grundes (mindestens als Hypothese) genau so, wie dies bei komplexen Naturvorgängen, falls es auf deren individuelle Bestandteile ankommt, allein das Ziel der Forschung sein kann.“ (RK III, 134). Und dennoch stellte es ein grobes Missverständnis der deutenden Motivforschung dar, wenn man meinte, sie ließe sich umstandslos auf das Methodenideal der Naturwissenschaften abbilden. Dagegen sprechen bereits die zuvor geltend gemachten Schranken individueller Vorkommnisse der Wirklichkeit für die generalisierende Begriffsarbeit der Naturwissenschaften. Wie aber lässt sich der gerade skizzierte Begriff der Deutung, der in kategorialer Hinsicht den Kausalitätsbegriff und in operationaler das Verfahren des Erklärens bzw. der Zurechnung umfasst, als eine spezifisch kultur- bzw. sozialwissenschaftliche Methode plausibilisieren, die es mit individuellen Handlungsformationen zu tun hat? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss der Begriff des Allgemeinen in den Fokus rücken. Denn der Sachverhalt, um den es hier geht, lässt sich auch dahingehend bestimmen, in Webers hermeneutischem Ansatz ein generalisierendes Moment aufzuspüren, das nicht auf dem Boden der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung liegt. Es muss sich also um eine Form von Allgemeinheit handeln, die sich mit den methodischen Mitteln der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung vereinbaren lässt. Und auch hier konnte sich Weber wieder an Rickert orientieren. Er greift dessen oben bereits eingeführten Gedanken auf, für die Rekonstruktion historischer Kausalzusammenhänge (vgl. RK III, 132) „in der ‚Erfahrung des Lebens‘ entstandene allgemeine Sätze über ursächlichen Zusammenhang“ (G, 433) anzuwenden. Weber selbst spricht von „allgemeinen

24 Jürgen Habermas hält pointiert fest, Weber ziele darauf, die Sozialwissenschaften als „nomologische Geisteswissenschaften“ (Habermas 1982, 103) konzeptualisieren zu wollen. Vgl. dazu auch Schluchter 2000, 121.

2.1 Einleitung |

41

kausalen Erfahrungsregeln“ (RK III, 129).²⁵ Der Begriff der Erfahrungsregel steht für das nomologische Wissen innerhalb der Kulturwissenschaften, das als Ermöglichungsbedingung eines Allgemeingültigkeitsanspruchs von Geschichtserkenntnis fungiert. Die Annahme dieser Regeln bildet für Weber die entscheidende Voraussetzung dafür, einerseits die Kausalitätskategorie innerhalb der Verstehenstheorie veranschlagen und andererseits die Deutung als ein Verfahren der Zurechnung bzw. Erklärung ausweisen zu können. Allerdings gilt auch hier wiederum: Webers bleibt hier nicht bei dem nicht weiter spezifizierten Begriff historischer Kausalzusämmenhänge stehen, sondern wendet diesen Gesichtspunkt strikt auf die Struktur menschlichen Handelns, also auf das kausale Verhältnis von Motiv und Verhalten an. Wie es Weber im Einzelnen gelingt, diesen Zusammenhang herzustellen, wird an späterer Stelle zu untersuchen sein.²⁶ Damit sind die Wege bzw. Umwege kenntlich gemacht worden, auf denen Weber – aus der Perspektive des Handlungsbegriffs betrachtet – Rickerts Grenzen rezipiert hat. Vor dem Hintergrund der zuletzt angestellten Überlegungen wird deutlich, dass er Grundannahmen des Philosophen auf der einen Seite übernimmt, sie aber auf der anderen Seite gleichzeitig den eigenen Theorieinteressen anpasst. Dass damit nicht unerhebliche Verschiebungen und Umakzentuierungen einhergehen, ist unvermeidlich. Die weitreichendste Abweichung dürfte mit dem Sachverhalt verbunden sein, dass Weber zwar auf der einen Seite der Rickertschen Parallelisierbarkeitsthese folgt, diese aber letztlich wiederum unterläuft. Er pflichtet Rickert darin bei, dass sowohl Prozesse der Natur wie psychische Ereignisse mittels naturwissenschaftlicher Begriffe analysiert werden können, was zugleich bedeutet, aus der Differenz zwischen Natur und Geist keine prinzipiellen enzyklopädischen Folgerungen ableiten zu können. Durch seine strikte Fokussierung der Handlungswelt und der damit verbundenen Motiv- und Sinndimension redet er aber letztlich doch wiederum einem gegenstandsbezogenen, wissenschaftssystematischen Differenzkriterium das Wort. Unter Bezugnahme auf die sinntheoretischen Implikationen menschlichen Handelns, durch die letzteres von der „toten“ Natur unterschieden ist, heißt es: „Die Möglichkeit dieses Schrittes über das ‚Gegebene‘ hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen.“²⁷

25 Obgleich Massimilla das Verhältnis zwischen Rickerts und Webers Methodologie detailliert rekonstruiert und dabei zugleich neue Forschungsperspektiven zu eröffnen vermocht hat, bleibt dieser Zusammenhang zu Webers Begriff der Erfahrungsregel unberücksichtigt. 26 Vgl. 2. 4. 5. 27 „Mag man insbesondere seine [sc. Rickerts] These, daß die Objekte der ‚äußeren‘ und ‚inneren‘ Erfahrung uns grundsätzlich in gleicher Art ‚gegeben‘ seien, annehmen, so bleibt doch, gegenüber

42 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens (RK I, 131) In der Zuspitzung seiner Methodenreflexion auf die für ihn zentrale Frage nach der Interpretation menschlichen Handelns unterscheidet sich Weber deutlich von Rickerts Hauptwerk, der nicht nur die Handlungstheorie, sondern auch die Hermeneutik – zumindest in der Erstauflage der Grenzen – weitgehend ausklammert.²⁸ Bei dem letzten Zitat handelt es sich zudem um eine der wenigen Stellen in Webers Œuvre, an denen er den Begriff Geisteswissenschaften in einem positiven Sinne verwendet, worin sich eine Annäherung an Diltheys Wissenschaftssystematik artikulieren könnte. Gleichwohl darf dieser Gesichtspunkt nicht überstrapaziert werden, ist der Ausdruck Geisteswissenschaft ein für Webers Denken ganz untypischer Begriff. Dementsprechend lässt er diesen in seinen folgenden Schriften wieder fallen und wendet die angesprochenen Theoriedimensionen erst kulturund später auch sozialwissenschaftlich. Aufschlussreich ist dieser Passus letztlich weniger für Webers Verhältnis zu Dilthey als vielmehr zu Rickert; zeigt doch dieses Zitat die Distanz zu Rickerts Wissenschaftssystematik auf. Die handlungs-, sinnund deutungstheoretischen Fluchtlinien in Webers methodologischen Schriften weisen über dessen Grenzen hinaus. Die Beantwortung der Frage, in welcher Weise Weber auf Rickerts Wissenschaftslehre Bezug genommen hat, führt also zu einer differenzierteren Sicht auf die eingangs formulierte Feststellung, wonach es gute Gründe gäbe, Rickert an den Anfang einer Beschäftigung mit Webers Theorie des Handlungsverstehens zu stellen. Sie präzisiert aber nicht allein das komplizierte Verhältnis, das zwischen dem Denken des Philosophen und dem des Nationalökonomen besteht. Auf diesem Wege sind zugleich zentrale Theoriedimensionen von Webers hermeneutischem Ansatz sichtbar geworden, die es in den folgenden Kapiteln zu diskutieren gilt. Dazu gehört auch ein Begriff des Weberschen Denkens, der in den bis hierher angestellten Überlegungen außen vor geblieben ist. Es handelt sich um den des Werts, der hier allerdings nicht im ökonomischen Sinne, sondern im Horizont der Philosophie des südwestdeutschen Neukantianismus zu verstehen ist. Für letzteren ist dieser Begriff von fundamentaler Bedeutung. Es gibt kaum einen anderen Ausdruck, der für diese philosophische Richtung kennzeichnender wäre. Nicht umsonst wird diese auch als Wertphilosophie bezeichnet. Daher kann der Stellenwert dieses Begriffs innerhalb des Weberschen Denkens als ein weiterer Gradmesser

der von Rickert stark betonten ‚prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens‘, bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Aeußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist“ (RK I, 121). Weber zitiert hier G, 319f. 28 In der Zweitauflage der Grenzen von 1913 nimmt die Verstehenstheorie einen viel größeren Stellenwert ein, worin sich möglicherweise auch Webers Einfluss auf Rickert artikuliert. Das gilt nicht zuletzt auch für den Sinnbegriff.

2.1 Einleitung |

43

dafür angesehen werden, wie stark es sich in den gedanklichen Bahnen dieser neukantianischen Schule bewegt. Auch wenn dieser Gesichtspunkt – wie schon angedeutet wurde – innerhalb der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert wird, existiert nach wie vor eine starke Fraktion, die die Bedeutung gerade der Werttheorie für Webers Erkenntnistheorie und Methodologie betont.²⁹ Ihr gegenüber versuchen die folgenden Überlegungen, eine schleichende Depotenzierung der Werttheorie in Webers Denken plausibel zu machen. Es lassen sich verschiedene Indikatoren dafür identifizieren, dass mit der Etablierung von Webers Theorie des Handlungsverstehens die systematische Relevanz der Werttheorie in den Hintergrund tritt.³⁰ Die Bereiche, in denen dieser Gesichtspunkt zur Sprache kommen wird, macht die folgende Skizze zum Aufbau dieses zweiten Kapitels kenntlich. Das an diese Einleitung (2. 1) anschließende zweite Unterkapitel wendet sich Webers Sinnbegriff zu (2. 2). Dieser kommt dort jedoch nicht gleich in hermeneutischer Perspektive zu stehen. Vielmehr gilt es ihn zunächst als Grundbegriff von Webers kulturtheoretischem Ansatz zu thematisieren, der allerdings nur ansatzweise greifbar ist. Mit dem Sinnbegriff ist das Fundament der Kulturwirklichkeit gelegt, auf die sich die Nicht-Naturwissenschaften beziehen. Die Frage, der in diesem Kontext nachzugehen ist, besteht darin, auf welchem Wege es Weber gelingt, den Sinnbegriff zu installieren. Dass sich die Antwort auf diese Frage nicht von selbst versteht, ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich in Webers methodologischen Schriften zwei unterschiedliche Begründungszusammenhänge finden. Der Sinnbegriff ist einerseits werttheoretisch (2. 2. 1) und andererseits handlungstheoretisch (2. 2. 2) fundiert, was wiederum das Problem aufwirft, wie sich das Verhältnis von Wert- und Handlungsbegriff näher bestimmen lässt (2. 2. 3). Im Anschluss an diese im weitesten Sinne konstitutionstheoretischen Reflexionen ist in einem vierten Unterabschnitt eine sinntheoretische Binnendifferenzierung in den Blick zu nehmen, die für die weitere Darstellung wegweisend ist (2. 2. 4). Es handelt sich um Webers Differenz zwischen dem empirischen und dem ideellen Sinn des Handelns. Mit dieser Unterscheidung kommt ein Perspektivitätsproblem in den Blick, das in diesem Zusammenhang besagt, dass das menschliche Handeln sowohl aus dem Blickwinkel des Akteurs als auch aus dem des Beobachters thematisch werden kann. Die Analyse von Webers gedanklicher Durchdringung und Zuordnung beider Sinndimensionen trägt zugleich zur Spezifikation des Gegenstandsbereichs bei, auf den sich seine Verstehenstheorie bezieht, sodass die Überlegungen, die dort angestellt werden, zugleich einen Brückenschlag zum Kapitel 2. 4 leisten.

29 So etwa schon Henrich 1952, 48: „Max Weber hat den Begriff der Bedeutung und des Sinns am Wertbegriff verankert.“ Vgl. dazu auch Weiß 1992, 41–45. 30 Darauf deutet bereits Barth 2005a, 347 hin.

44 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Im Anschluss an den Teil 2. 2 ist auf den Stellenwert der Psychologie in Webers methodologischen Schriften einzugehen. Diese Frage ist umso dringlicher, als der Nationalökonom darin einerseits mit Elementen operiert, die dem psychischen Leben zugerechnet werden können. Andererseits unterzieht er die Psychologie als Disziplin einer massiven Kritik. Wie sich beide Aspekte zueinander verhalten bzw. miteinander vereinbaren lassen, soll in einem kurzen Exkurs diskutiert werden (2. 3). Unter den Methoden der Deutung (2. 4) verbergen sich Interpretationstheorien, mit denen sich Weber vor allem in den Jahren 1902–1906 auseinandergesetzt hat und auf die er im Zuge seiner Konzeptualisierung einer Theorie des Handlungsverstehens Bezug nimmt. Hierzu gehört zunächst die wertbeziehende Interpretation (2. 4. 1), die er an Rickert anknüpfend erörtert. Die oben angesprochene Frage nach der Reichweite der neukantianischen Werttheorie wird hier erneut virulent. Am ausführlichsten geht Weber auf das Modell des nacherlebenden Verstehens ein (2. 4. 2), das er jedoch nicht – wie man zunächst vermuten könnte – unter Bezugnahme auf Diltheys Schriften diskutiert.³¹ Ein anderer Autor steht hier im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Es handelt sich um den heute kaum mehr bekannten Psychologen und Philosophen Hugo Münsterberg (1863–1916). Der Herausbildung des im dritten Unterkapitel zu behandelnden Interpretationsansatzes – des Verstehens aus Motiven (2. 4. 3) – hat Weber zufolge Georg Simmel (1858–1918) mit der Zweitauflage der Untersuchung Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905) wesentlich Vorschub geleistet. Dieses Werk nimmt innerhalb der Genese von Webers Deutungsbegriff eine Schlüsselstellung ein und bedarf daher einer ausführlicheren Erörterung. Von nicht minder großer Bedeutung für die Entstehung seines Verstehensbegriffs ist 31 Gegenüber Diltheys Begriff des Verstehens führt Weber aus: „Dilthey . . . schränkt den von der ‚Hermeneutik‘ zu behandelnden Vorgang des ‚Verstehens‘ auf die ‚Interpretation aus äußeren Zeichen‘ ein, was nicht einmal für das ‚Verständnis des Gesprochenen‘ (im Sinne Simmels) restlos zutrifft. Anderseits ist nach ihm (ebenda S. 187) die ‚Erhebung der Verständlichkeit des Singulären zur Allgemeingültigkeit‘ ein spezifisches Problem der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften – was zu weit geht.“ (RK II, 934) Mit beiden Angaben bezieht er sich auf Diltheys Beitrag zur Entstehung der Hermeneutik (1900). Zum ersten Gesichtspunkt vgl. unten 2. 4. 3. Der andere, von Weber nicht weiter erläuterte Aspekt kritisiert im weitesten Sinne die von Dilthey vorgenommene Abgrenzungsvariante von Geistes- und Naturwissenschaften. Der Ton liegt darauf, dass der Generalisierungsversuch von Verstehensakten, die auf das Individuelle bezogen sind, etwas den Geisteswissenschaften Spezifisches wäre. Indem Weber aber genau das in Zweifel zieht, deutet er indirekt an, dass es zumindest ähnlich gelagerte Probleme auf dem Feld der Naturwissenschaften gäbe, was allerdings seinen eigenen, an anderer Stelle vorgenommenen Angaben zu diesem Wissenschaftsbereich nicht entnommen werden kann. Während er dort den Verallgemeinerungsanspruch geisteswissenschaftlichen Verstehens betont, kommt er auf den naturwissenschaftlichen Versuch, eine allgemeingültige Erkenntnis von Singulärem zu gewinnen, nicht zu sprechen. Insofern wirkt der zweite Einwand unausgereift.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

45

der ursprünglich für den Bereich des Strafrechts entwickelte Begriff der objektiven Möglichkeit, der auf den Physiologen Johannes von Kries (1853–1928) zurückgeht und den Weber für seine eigene Hermeneutik fruchtbar zu machen sucht (2. 4. 4). Danach ist der bereits angesprochene Begriff der Erfahrungsregel einer genaueren Analyse zu unterziehen (2. 4. 5). Ein weiterer Faktor, der zu den Aufbaumomenten von Webers Verstehenstheorie gehört, ist mit den methodologischen Untersuchungen seines Schülers Friedrich Gottl (1868–1958) bezeichnet. Dieser interpretiert die Wirklichkeit mit Hilfe von Schemata der Alltagserfahrung und entwickelt damit einen methodischen Ansatz, der in Webers Werk deutliche Spuren hinterlassen hat (2. 4. 6). All diese Elemente fließen schließlich in Webers Begriff der rationalen Deutung ein, der sich im Jahre 1906 erstmals greifen lässt und in dem Webers hermeneutischer Ansatz einen ersten vorläufigen Abschluss findet (2. 4. 7). Die weitere Entwicklung seines Deutungsbegriffs und vor allem die damit einhergehende Ausdifferenzierung des hermeneutischen Instrumentariums gilt es daran anschließend zu thematisieren (2. 4. 8). Vor dem Hintergrund dieses Programms wird deutlich, dass dieses Kapitel (2) nicht allein einen Beitrag zur gedanklichen Durchdringung der Weberschen Verstehenstheorie leistet. Es gewährt darüber hinaus Einblick in einen Ausschnitt der hermeneutischen Diskussion um 1900, die damals keineswegs nur einen Nebenschauplatz innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaften bildete. Nicht wenige ihrer Vertreter waren vielmehr der Überzeugung, dass der durch die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften fraglich gewordene Selbständigkeitsanspruch jener Disziplinen von der Plausibilisierbarkeit einer Theorie des Verstehens abhängt.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs Der moderne Sinnbegriff wurzelt in der philosophischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts.³² Die Diskussion um diesen Begriff zeitigte vor allem in der klassischen Moderne eine solche Eigendynamik, dass er in beinahe allen nichtnaturwissenschaftlichen Disziplinen Einzug hielt. Auch Max Webers Beiträge zur Methodologie der Nationalökonomie und Sozialwissenschaften gehören in diesen Zusammenhang. Deren Entstehung war einerseits durch die besagte Entwicklung beeinflusst. Andererseits trugen sie wesentlich dazu bei, dass sich der Sinnbegriff innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften durchsetzte.³³ Was 32 Vgl. Gerhardt 1995; Thürnau 1995; Barth 2003b; Barth 2014. 33 Als die Soziologie der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, allen voran vertreten durch Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, den Sinnbegriff zu dem Grundbegriff der Soziologie erhob

46 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Webers Sinnbegriff im Einzelnen betrifft, so merkte bereits Schütz treffend an, dass es sich um einen „Titel für eine vielverzweigte und der weiteren Durchdringung sehr bedürftige Problematik“³⁴ handele. Und in der Tat macht Weber einerseits in Roscher und Knies, im Kategorienaufsatz und in den Soziologischen Grundbegriffen unentwegt vom Sinnbegriff Gebrauch, sodass kein Zweifel daran bestehen kann, dass dieser zu den Spitzenbegriffen seiner Methodologie gehört. Andererseits stellt es eine enorme Herausforderung dar, denselben auf seine Theoriegrundlagen hin zu bestimmen. Weder in den späten noch in den frühen methodologischen Schriften Webers lassen sich Passagen ausfindig machen, in denen er klar und deutlich formuliert, was er unter diesem Begriff verstanden wissen will. Um diese Schwierigkeit zu illustrieren, sei auf Webers zweite Lieferung zu Roscher und Knies (1905) verwiesen. Darin fordert er – worauf bereits hingewiesen wurde – „die Interpretation auf den ‚Sinn‘ des Handelns hin“ (RK II, 69), fügt aber unmittelbar daran anschließend hinzu: „wir lassen vorerst ununtersucht, welche Probleme dieser Begriff [sc. des Sinns] birgt“ (RK II, 69f). Zwar ließe diese Formulierung auf eine spätere Klärung schließen, doch hat Weber in Roscher und Knies nichts dergleichen unternommen. Im Unterschied zu Schütz, der den Weberschen Sinnbegriff mit den Mitteln der Husserlschen Phänomenologie gedanklich zu durchdringen und damit theoretisch abzusichern versuchte, werden die folgenden Überlegungen darauf zielen, die Theoriegrundlagen herauszuarbeiten, die Weber selbst – allerdings nur verstreut und ansatzweise – angegeben hat. Wie schon angedeutet wurde, handelt es sich dabei einerseits um einen werttheoretischen (2. 2. 1) und andererseits um einen handlungstheoretischen (2. 2. 2) Begründungszusammenhang. Danach wird der Frage nachzugehen sein, in welchem konzeptionellen Verhältnis sich beide Begründungszusammenhänge zueinander befinden (2. 2. 3). Abschließend ist Webers sinntheoretische Binnendifferenzierung zwischen dem Begriff des empirischen und dem Begriff des ideellen Sinns in den Blick zu nehmen (2. 2. 4).

(vgl. Luhmann 1990 sowie Habermas 1990, 171–202), bewegte sie sich somit auf einem längst bestellten Feld. Die Etablierung des Sinnbegriffs ist im gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs so weit vorangeschritten, dass jener nicht mehr nur als Leitbegriff der Soziologie verstanden wird. Jörn Rüsen bezeichnet ihn sogar etwas pathetisch als das „Lebenselixier des kulturwissenschaftlichen Denkens“ (Rüsen 2004, 539) insgesamt. Und Ulrich Barth weist in dieselbe Richtung, wenn er bemerkt: „Man behauptet kaum zu viel, wenn man ‚Sinn‘ zu den Begriffen rechnet, denen in der Selbstverständigung der Gegenwart eine Schlüsselrolle zukommt.“ (Barth 2014, 435). 34 Schütz 1993, 15.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

47

2.2.1 Wert und Sinn Innerhalb der Forschungsliteratur ist immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen worden, Webers eigenes Wissenschaftsverständnis zeichne sich dadurch aus, strikt wirklichkeitsbezogen zu sein. Als Beleg für die damit angesprochene empirische Ausrichtung seiner Untersuchungen dient oft eine Formulierung aus dem Objektivitätsaufsatz (1904): „Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft.“ (O, 170) Aber auch wenn beide Ausdrücke – Wirklichkeit und Empirie – in Webers Denken fest verankert sind, ist damit noch lange nicht geklärt, was er darunter verstanden wissen will. Insbesondere sein Wirklichkeitsverständnis erweist sich als überaus schillernd. Das verdeutlicht ein Blick in seine frühen methodologischen Schriften.³⁵ Dort wird Wirklichkeit – im Anschluss an Rickert – zunächst als eine unendliche Mannigfaltigkeit (vgl. RK I, 4; RK II, 61; O, 177) bestimmt, was jedoch per definitionem keine Annahme ist, die sich empirisch belegen lässt.³⁶ Weber geht jedoch in diesem Zusammenhang noch weit über den Philosophen hinaus, indem er Wirklichkeit als sinnloses Chaos spezifiziert (vgl. O, 197. 213; RK II, 50. 61), womit eine der vielen Spuren sichtbar wird, die zu seiner Nietzsche-Rezeption führen.³⁷ Wenn nach den Motiven Webers gefragt wird, sich eines solchen Wirklichkeitsbegriffs zu bedienen, so verweist eine mögliche Antwort auf den hier infrage stehenden Sinnbegriff. Denn wenn die Wirklichkeit als solche ein sinnloses Chaos ist, dann stellt sich das Problem, wie unter diesen Voraussetzungen deren Sinnhaftigkeit möglich sein soll. Genau auf diesen Gesichtspunkt kommt Webers Objektivitätsaufsatz zu sprechen, in dem der sogenannte Kulturmensch zur Möglichkeitsbedingung kulturwissenschaftlichen Arbeitens instantiiert wird:³⁸ „Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist . . . daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr

35 Dass der Wirklichkeitsbegriff in der Zeit um 1900 kontrovers diskutiert wurde, belegt auch ein Blick in das Werk Georg Simmels, vgl. etwa Simmel 2012a, 43f. 36 Johannes Weiß sieht darin hingegen – an Dieter Henrich anknüpfend – einen „empirischen Sachverhalt“ (Weiß 1992, 34). 37 Dafür, dass Friedrich Nietzsche (1844–1900) hier im Hintergrund stehen könnte, spricht Webers bereits angedeutete Bestimmung, dass die unendliche Mannigfaltigkeit bzw. das Chaos sich durch Sinnlosigkeit auszeichne. Nietzsche ist der Auffassung, dass der Wirklichkeit als solcher weder teleologische noch kausale Zusammenhänge eingestiftet seien (vgl. Abel 1998, 139). Vielmehr ist der „Gesammt-Charakter der Welt“, wie es in der Fröhlichen Wissenschaft heißt, „in alle Ewigkeit Chaos“ (Nietzsche 1973, 145). Einen Überblick zur Nietzsche-Rezeption Webers – einschließlich der Forschungslage – bietet Treiber 2011, 520–526. 38 Die Rede vom Kulturmenschen war zum damaligen Zeitpunkt verbreitet, vgl. etwa Dilthey 1990, 157.

48 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens einen Sinn zu verleihen.“³⁹ (O, 180) Die für Webers Denken schlechterdings grundlegende Sinndimension hat in der 1904er Abhandlung demnach seinen Ankerpunkt in stellungnehmenden Akten des Menschen. Bei den bewussten Stellungnahmen handelt es sich jedoch nicht primär um Urteils-, sondern um Beurteilungs- bzw. Bewertungsakte.⁴⁰ Das macht Webers berühmte Abhandlung Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) deutlich, in der er einerseits unter „‚Wertungen‘“ „‚praktische‘ Bewertungen“ von Erscheinungen als „verwerflich oder billigenswert“ (SdW, 499) versteht. Andererseits lässt sich seinen Ausführungen zugleich unschwer entnehmen, dass er den Ausdruck „Stellungnah-

39 Ganz ähnlich ist dieser Aspekt in folgenden, noch berühmteren Worten festgehalten worden: „Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, . . . .“ (O, 154). 40 Damit greift Weber Grundüberlegungen des südwestdeutschen Neukantianismus auf. Dass der Wertbegriff seit der Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb der Philosophie in Deutschland Karriere machen sollte, ist eng mit dem Namen Rudolf Hermann Lotze (1817–1881) verbunden, dessen Denken wie kaum ein anderes für den Übergang vom Spätidealismus zum Neukantianismus steht (zu Lotze vgl. Neugebauer 2002, 153–172; Neugebauer 2010, 86–91). Aber auch wenn ohne Lotzes Beitrag zu diesem Thema die Karriere dieses Begriffs kaum nachvollziehbar wäre, galt auf dem Höhepunkt der wertphilosophischen Debatte gleichwohl nicht Lotze, sondern Kant als Ahnherr der Werttheorie, worauf beide Hauptvertreter des südwestdeutschen Neukantianismus ausdrücklich hinweisen, vgl. Windelband 1907b, 51f; Rickert 1921b, 319. Dabei handelt es sich um eine Einschätzung, die auf urteilstheoretischen Voraussetzungen, genauer gesagt auf der Unterscheidung zwischen Urteilen und Beurteilungen beruht. Wilhelm Windelband spezifiziert diese Unterscheidung dahingehend, dass im Urteil „die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte“, in der Beurteilung „ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zu dem vorgestellten Gegenstande ausgesprochen“ wird (Windelband 1907b, 52). Während Urteile der Erkenntnis von Dingen dienen, setzen Beurteilungen diese Erkenntnis voraus und tragen nichts mehr zu deren Bestimmung bei. Daher weichen auch die Prädikate von Beurteilungen grundlegend von denen eines Urteils ab. Bei jenen handelt es sich um „Aeußerungen des Beifalls oder des Mißfallens von seiten des vorstellenden Bewußtseins“ (Windelband 1907b, 53). Für das Verständnis von Beurteilungen ist es sodann entscheidend, dass sich in deren Prädikationen die Bewertung eines vorgestellten Gegenstands nach Maßgabe eines Zwecks widerspiegelt, der gegenüber dem erkannten Gegenstand einen externen Beurteilungs- bzw. Bewertungsmaßstab darstellt. Anhand dieser kurzen Reflexionen lässt sich bereits erahnen, inwiefern sich Windelbands werttheoretische Ausrichtung seines Philosophieverständnisses auf Kant zu berufen vermag. Die von ihm vorgenommene, letztlich auch ganz im Geiste Lotzes formulierte Differenzierung zwischen Urteilen und Beurteilungen begreift er in Kontinuität zu der Kantischen Unterscheidung zwischen der bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft, vgl. dazu Neugebauer 2002, 115–127. Damit verschmelzen im südwestdeutschen Neukantianismus konzeptionelle Überlegungen der kantischen Urteilstheorie und der spätidealistischen Wertphilosophie Lotzes.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

49

me“ (SdW, 490) als Wechselbegriff zu „Wertung“ bzw. „Werturteil“ verwendet.⁴¹ In Webers Begriff der bewussten Stellungnahme fließen also Elemente der Werturteilsund der Sinntheorie ineinander. Um diesen – von Weber nirgends eigens entfalteten – Zusammenhang von Wertund Sinntheorie zu verdeutlichen, soll an dieser Stelle eine Passage aus der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) herangezogen werden. Weber setzt sich darin mit der Frage nach dem Konstitutionsgrund von Bedeutung bzw. Sinn – Weber verwendet beide Begriffe synonym – auseinander, wobei es in letzter Instanz um die „‚Bedeutung der Persönlichkeit‘ für die Geschichte“ (RK II, 47) geht. Es handelt sich somit um ein geschichtswissenschaftliches Problem, das die Voraussetzungen der Historiographie berührt. Um dieses Problem zu illustrieren und zu vertiefen, geht Weber auf Wilhelm Wundts System der Geisteswissenschaften ein, das dieser damals überaus einflussreiche Leipziger Psychologe in seiner mehrbändigen und mehrfach überarbeiteten Logik (1880/1883) entfaltet hat. Zunächst greift Weber die von Wundt vorgenommene Gegenüberstellung physischer und psychischer Gebilde auf – eine Konstellation, die uns bereits in der Einleitung bezogen auf die Rickertschen Grenzen beschäftigte.⁴² Die physischen Gebilde, z. B. Kristalle, können – wie Weber herausstellt – nach Auffassung des Psychologen „für den Naturforscher ‚nichts anderes‘ sein als die ‚Summe seiner Moleküle samt den ihnen eignen äußeren Wechselwirkungen‘.“ (RK II, 52) Vorstellungen, Urteile, Schlüsse, also psychische Vorgänge, hingegen seien auf der einen Seite zwar – und das ist für Webers Wundtdeutung entscheidend – wie jene von einem Kausaldeterminismus bestimmt. Auf der anderen Seite besäßen sie jedoch zugleich „‚neue Eigenschaften, die in jenen einzelnen Elementen ‚nicht enthalten sind‘.“⁴³ (RK II, 52) Der Begriff des Neuen spielt nun insofern eine zentrale Rolle, als dieser von Wundt mit dem der Bedeutung verknüpft wird. Den Psychologen zitierend hält Weber fest: „denn, so fügt er [sc. Wundt] hinzu, ‚was diesen Vorgängen erst die Bedeutung gibt, das entsteht‘ (in strenger kausaler Determination, dürfen wir auch hier unzweifelhaft Wundts Ansicht interpretieren) ‚. . . aus den Bestandteilen, ohne daß es doch in ihnen enthalten ist.‘“ (RK II, 53f) Weber verbindet nun mit exakt dieser Formulierung Wundts berühmtes „Prinzip der ‚schöpferischen Synthese‘“ (RK II, 54), das dem Leipziger Gelehrten zufolge

41 Vgl. auch RK II, 91. 102; RK III, 123; O, 159. 180; KS, 245. 42 Vgl. 2. 1. 43 Damit deutet Weber bzw. vielmehr Wundt den auch für die spätere Gestaltpsychologie grundlegenden Gedanken an, dass psychisches Leben mehr als die Summe seiner einzelnen Elemente darstellt.

50 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens ausschließlich auf psychische Vorgänge anwendbar sei.⁴⁴ Dieses Prinzip hat die Funktion, „Bedeutung“ als ein emergentes Phänomen kausaldeterministisch konzeptualisierten, psychischen Lebens auszuweisen. Doch bleibt Webers Auffassung nach diese Funktionsbestimmung theoretisch unabgegolten. In dem Anspruch, mittels jenes Prinzips die Bedeutung psychischer Vorgänge aus den kausal determinierten Bestandteilen derselben abzuleiten, obgleich sie nicht in ihnen enthalten seien, artikuliert sich für ihn eine metˆbasij eÊj Šllo gènoj.⁴⁵ Webers Überlegungen zielen also darauf, die Kategorie der Bedeutung von naturwissenschaftlichen Begründungsmustern abzugrenzen. Der Begriff der Bedeutung kommt für ihn auf einer davon kategorial grundlegend zu unterscheidenden Explikationsebene zu stehen, wobei Weber ausdrücklich betont, dass diese Ebenendifferenz rein gar nichts damit zu tun habe, ob es sich um physische oder psychische Vorgänge handele. Weder in den einen noch in den anderen sei irgendeine Bedeutung „‚vorgebildet‘“ (RK II, 54). Vielmehr stehe die Annahme, dass einem Vorgang Bedeutung zukomme, unter der Voraussetzung von bedeutungsbzw. sinnkonstituierenden Wertungen oder – wie Weber an dieser Stelle an Rickert anknüpfend auch schreibt – Wertbeziehungen:⁴⁶ „In allen diesen Fällen ist vielmehr der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d. h. die Beziehungen auf ‚Werte‘, die wir vollziehen, dasjenige, was der ‚Ableitung‘ aus den ‚Elementen‘ als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt.“⁴⁷ (RK II, 54) Für unseren Zusammenhang ist diese Formulierung von grundlegender Relevanz, stellt

44 Dieses Prinzip wird von Wundt erst in der Zweitauflage der Logik (1895) eingeführt, vgl. Wundt 1895, 267ff. Greifbar ist es aber bereits in der zweiten Auflage seiner Vorlesung Menschen- und Tierseele (1892). Unter der schöpferischen Synthese, so heißt es dort, „verstehe ich die Tatsache, daß die psychischen Elemente durch ihre kausalen Wechselwirkungen und Folgewirkungen Verbindungen erzeugen, die zwar aus ihren Komponenten psychologisch erklärt werden können, gleichwohl aber neue qualitative Eigenschaften besitzen, die in den Elementen nicht enthalten waren, wobei namentlich auch an diese neuen Eigenschaften eigentümliche, in den Elementen nicht vorgebildete Wertbestimmungen geknüpft werden. Insofern die psychische Synthese in allen solchen Fällen ein Neues hervorbringt, nenne ich sie eben eine schöpferische.“ Zitat aus: Dilthey 1990, 167. 45 Vgl. dazu auch Br II / 4, 550ff. 46 „Daß wir ihnen [sc. psychischen oder physischen Vorgängen] aber historische ‚Bedeutung‘ beilegen, war bei keinem von ihnen aus der Art ihrer kausalen Bedingtheit abzulesen.“ (RK II, 54) Auf Rickerts Wertbeziehungslehre sowie deren Rezeption durch Weber wird später zurückzukommen sein, vgl. 2. 4. 1. 47 Ganz ähnlich heißt es im Objektivitätsaufsatz: „Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen haben

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs | 51

Weber mit ihr doch ausdrücklich heraus, dass naturwissenschaftliche Erklärungen sowie bedeutungs- bzw. sinntheoretische Annahmen heterogenen Ursprungs sind und somit nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Letztere haben ihren Wurzelgrund im Vollzug von Wertbeziehungen, wobei Weber unter diesen – um es noch einmal zu wiederholen – an dieser Stelle unterschiedliche Formen der Wertung bzw. Stellungnahme begreift.⁴⁸ Dazu gehören einerseits rationale Werturteile, andererseits spricht Weber aber auch vom „undifferenzierte[n] ‚Wertgefühl‘“ (RK II, 54) bzw. von „gefühlsmäßigen Stellungnahmen“ (RK II, 89).⁴⁹ Allerdings muss im gleichen Atemzug herausgestellt werden, dass diese prädiskursive, werttheoretisch begründete Sinndimension im Werk des Nationalökonomen ausgesprochen sporadisch verwendet wird. Gleichwohl weist das wertende Gefühl in sinntheoretischer Perspektive auf die gleiche Struktur wie das bewusst gefällte Werturteil. Der ihnen gemeinsame Nenner ist der der sinnkonstituierenden Wertbeziehung. In beiden Fällen wird einem Objekt ein Sinn beigelegt.⁵⁰ Auch wenn Weber in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies neben dem bewusst gefällten Werturteil das prädiskursive Wertgefühl in sinntheoretischer Perspektive namhaft macht, ist für den Übergang von der als chaotisch und sinnlos bezeichneten Wirklichkeit zur – wie Weber sagt – „Kulturwirklichkeit“ (RK I, 121; O, 181) bzw. „‚Kultur‘“ (O, 180) die bewusst vollzogene, wertende Stellungnahme ausschlaggebend. Diese Kulturwirklichkeit hat werturteilsmäßige Sinngebungen zur Voraussetzung, wobei diese Akte hier noch nicht auf der Ebene einer wissen-

keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander.“ Rickert nimmt auf Webers Wundtkritik in der Zweitauflage der Grenzen positiv Bezug, vgl. Rickert 1913, 553. 48 Diesen Gesichtspunkt herauszustellen, ist insofern geboten, als in der Forschungsliteratur hin und wieder zu lesen ist, dass Weber das Werturteil „strictissime“ (Fischer 2002, 297) von der Wertbeziehung unterscheide. 49 Die verschiedentlich formulierte Annahme, Webers Sinnbegriff besitze ein ausschließlich rationalistisches Gepräge, wird damit relativiert. 50 Damit bedient sich Weber einer klassischen Figur der Hermeneutik, die in der damaligen Diskussion vor allem aus den Schriften Nietzsches bekannt gewesen sein dürfte. Der Philosoph schreibt: „Ein ‚Ding an sich‘ ebenso verkehrt wie ein ‚Sinn an sich‘, eine ‚Bedeutung an sich‘. Es giebt keinen ‚Thatbestand an sich‘, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Thatbestand geben könne“ (Nietzsche 1974, 138). Ähnlich heißt es in antipositivistischer Ausrichtung: „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ‚es giebt nur Thatsachen‘, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ‚an sich‘ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ‚Es ist alles subjektiv‘ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ‚Subjekt‘ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.“ (Nietzsche 1974, 323).

52 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens schaftlichen, sondern einer alltäglichen Einstellung zu stehen kommen.⁵¹ Dementsprechend wird Kultur als „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (O, 180) definiert.⁵² Schließlich ist mit den zuletzt angestellten Überlegungen der spezifische Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaften abgesteckt. Denn unabhängig davon, welchen Inhalts die bedeutungsverleihenden und damit kulturkonstituierenden Stellungnahmen sind, allein auf die „Kulturbedeutung“ (O, 181) der entsprechenden Erscheinungen sei das wissenschaftliche Interesse bezogen. Die Kultur bzw. Kulturwirklichkeit oder – wie Weber auch oft sagt – die „Kulturvorgänge“ (O, 148) bilden den originären Bezugspunkt kulturwissenschaftlicher Reflexionen. Letzterer gegenüber stellen sie die „unmittelbar gegebene[] Wirklichkeit“ (O, 207) dar, die im Medium der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung denkend bearbeitet und das heißt für Weber transformiert wird. Die „denkende Bearbeitung“ der Kultur entpuppt sich als eine „denkende Umbildung“ (O, 207) derselben. Damit kristallisiert sich das hohe Maß an Komplexität heraus, durch das sich Webers Wirklichkeitsverständnis auszeichnet. In seinen methodologischen Untersuchungen lassen sich mindestens drei unterschiedliche Begriffe identifizieren: a) die Wirklichkeit als sinnloses Chaos, b) die Kulturwirklichkeit, die auf das Konto des Kulturmenschen geht, c) die wissenschaftlich rekonstruierte Wirklichkeit.

51 Dass zwischen beiden Ebenen der Wertbeziehung unterschieden werden müsse, wird auch von Johannes Weiß betont, vgl. Weiß 1992, 35f. 52 Dieser Begriff der Kultur bzw. der Kulturwirklichkeit wird von Weber sodann – zumindest andeutungsweise – in sozialtheoretischer Perspektive vertieft. Ausgehend von der oben bereits zitierten Definition des Kulturmenschen fügt er hinzu: „Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen.“ (O, 180f) In dieser Formulierung deutet sich Webers – zwei Jahre später auch in der dritten Lieferung zu Roscher und Knies (1906) wiederholte – Überzeugung an, dass sinnkonstituierende Werturteile einen Geltungsanspruch implizieren, zu dem sich andere Subjekte zustimmend oder ablehnend verhalten, was also wiederum zu wertenden Stellungnahmen führt (vgl. RK III, 123). In sozialtheoretischer Perspektive bezeichnet die Kulturwirklichkeit ein – mit Clifford Geertz zu reden – intersubjektiv begründetes Sinn- bzw. „Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1983a, 9). Geertz weist in seiner Untersuchung ausdrücklich darauf hin, dass sein kulturtheoretischer Ansatz auch von Webers Denken beeinflusst ist. Es sei zumindest noch am Rande bemerkt, dass auch Thomas Luckmanns – extrem weiter – Religionsbegriff mit ganz ähnlich gelagerten Figuren operiert: „‚Religion‘ findet sich nach dieser Auffassung überall dort, wo das Verhalten der Gattungsmitglieder zum sinn-orientierten Handeln wird, wo ein Selbst sich in einer Welt findet, die von seinesgleichen bevölkert ist, mit welchen, für welche und gegen welche es wertend handelt – wissend, daß sein Handeln von anderen beurteilt wird.“ (Luckmann 2004, 138).

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

53

Für uns entscheidend ist jedoch, dass die dem Kulturbegriff eingestiftete Sinndimension in den frühen methodologischen Schriften werttheoretisch begründet ist. Stellungnehmende Akte, die einen Wertbezug implizieren, bilden für Weber eine Form der Sinngebung, durch welche die als sinnlos und chaotisch vorgestellte Wirklichkeit über ihren natürlichen Bedingungszusammenhang hinaus zur Kulturwirklichkeit wird. Bevor die werkgenetische Reichweite, die den werttheoretischen Figuren in Webers Denken für die Sinntheorie zukommt, bestimmt werden kann, ist es zunächst erforderlich, den handlungstheoretischen Zusammenhang von Webers Sinnbegriff zu erörtern.

2.2.2 Handlung und Sinn „‚Handeln‘ soll . . . ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“⁵³ (Soz, 149) Mit diesen berühmten Formulierungen, mit denen die Soziologischen Grundbegriffe einsetzen, gibt Weber eine Strukturbestimmung menschlichen Sichverhaltens an die Hand, die zu den wirkmächtigsten innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften gehört und dementsprechend bis zum heutigen Tage rezipiert und diskutiert wird. Doch soll es an dieser Stelle weder um die Rezeptionsgeschichte dieser Definitionen gehen, noch ist es erforderlich, sämtliche Elemente derselben zu berücksichtigen. Vielmehr ist das Augenmerk auf den für uns entscheidenden Gesichtspunkt zu legen, der in der handlungstheoretischen Verknüpfung von menschlichem Verhalten und Sinn besteht. Diese Operation wird von Weber in unterschiedlichen Schriften in verschiedenen Varianten zum Ausdruck gebracht. In den Soziologischen Grundbegriffen heißt es – wie bereits bemerkt –, dass im Begriff des Handelns menschliches Verhalten und Sinn miteinander verbunden sind (vgl. Soz, 149). Im Kategorienaufsatz hingegen ist die Rede von einer Spezifikation des Sichverhaltens durch einen Sinn 53 Im Kategorienaufsatz heißt es bekanntlich ganz ähnlich: „‚Handeln‘ aber (mit Einschluß des gewollten Unterlassens und Duldens) heißt uns stets ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen, sei es auch mehr oder minder unbemerkt, ‚gehabten‘ oder ‚gemeinten‘ (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu ‚Objekten‘. . . . Das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln nun ist im speziellen ein Verhalten, welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden nach auf das Verhalten anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar ist.“ (K, 429).

54 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens (vgl. K, 439). In der Besprechung Rudolf Stammlers ‚Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung‘ (1907) koordiniert Weber das „‚Wesen‘“ des (sozialen) Handelns, das er an der Tauschhandlung zweier Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen exemplifiziert, mit dem „Sinn“, „den beide diesem ihrem äußern Verhalten beilegen“ (RS, 332).⁵⁴ Darüber hinaus findet analog dazu ein „Gebaren“ (RS, 332) Erwähnung, das mit einem Sinn – wiederum – verbunden wird. Alle drei Schriften bieten somit Anhaltspunkte dafür, Webers Begriff des Handelns additiv in der Formel Handeln = Verhalten + Sinn zusammenzufassen, womit Wittgensteins berühmte Frage anklingt, was dasjenige sei, das übrigbleibe, „wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt?“⁵⁵ Webers Antwort auf diese Frage würde lauten: der subjektiv gemeinte Sinn.⁵⁶ So eingängig diese Spezifikation menschlichen Handelns auf 54 Obgleich diese Studie – wie Weber selbst andeutet (vgl. Soz, 148; K, 4271) und wie im Folgenden noch mehrfach unter Beweis zu stellen sein wird – für das Verständnis seiner Methodologie insgesamt von grundlegender Bedeutung ist, wird sie innerhalb der Weberforschung bis auf wenige Ausnahmen weitgehend vernachlässigt, (vgl. Parsons 1980, 152; Löwith 1988; Oakes 1975b). Sie gehört zu den Arbeiten Webers, in denen er, wie Karl Löwith treffend formuliert, mit „ausschweifender und unerbittlicher Gründlichkeit“ vorgeht (Löwith 1988, 328). Doch hat dieses Vorgehen den negativen Effekt, dass die auf diese Weise verfertigte Arbeit dem Leser die größten Verstehensschwierigkeiten bereitet. Daraus jedoch abzuleiten, dass eine Analyse von Webers Beschäftigung mit Stammlers rechts- und sozialphilosophischem Hauptwerk Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (1906) keinerlei Gewinn für das Verständnis seiner intellektueller Entwicklung hätte, wäre verfehlt. Eine Reduktion dieser Arbeit auf deren Obskurität, wie es in der Weberforschung verbreitet ist, wird ihr – wie Joachim Radkau zurecht bemerkt – keineswegs gerecht (vgl. Radkau 2005, 421). So deutet Wolfgang Schluchter bereits an, dass diese Schrift den „Übergang zur Ausarbeitung der Handlungs- und Ordnungstheorie markiert“ (Schluchter 1991a, 4346). 55 Wittgenstein 1989, 467. 56 Dieses additive Verständnis klingt in Webers Stammler-Studie deutlich an: „Scheiden wir nun, gedanklich, den ‚Sinn‘, den wir in einem Objekt oder Vorgang ‚ausgedrückt‘ finden, von den Bestandteilen desselben, die übrig bleiben, wenn wir von eben jenem ‚Sinn‘ abstrahieren, und nennen wir eine Betrachtung, die nur auf diese letzteren Bestandteile reflektiert, eine ‚naturalistische‘, – dann erhalten wir einen weiteren, von den früheren wohl zu unterscheidenden Begriff von ‚Natur‘. Natur ist dann das ‚Sinnlose‘, richtiger: ‚Natur‘ wird ein Vorgang, wenn wir bei ihm nach einem Sinn nicht fragen.“ (RS, 332f) Der im Kategorienaufsatz erstmals terminologisch eingeführte Begriff des „subjektiv gemeinten Sinn[s]“ (K, 429) ist demnach schon in der 1907er Untersuchung der Sache nach präsent, sodass die Stammler-Studie als das Entstehungsdokument von Webers Begriff des subjektiv gemeinten Sinns bezeichnet werden kann. Dass diese Sichtweise keineswegs selbstverständlich ist, zeigt folgende Bemerkung von Johannes Weiß: „Der Grundbegriff Sinn wird von Weber im Zuge der expliziten Begründung einer spezialwissenschaftlichen und kausalanalytischen Soziologie terminologisch eingeführt.“ (Weiß 1992, 45) Damit bezieht er sich – wie seine folgenden Ausführungen zeigen – auf den Kategorienaufsatz und die Soziologischen Grundbegriffe.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

55

den ersten Blick auch erscheinen mag, jedes ihrer Strukturvorkommnisse verbirgt unter sich ein ganzes Bündel von Problemen. Weder ist deutlich, was Weber unter menschlichem Verhalten versteht, noch was der subjektiv gemeinte Sinn ist, und ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, worin die Möglichkeitsbedingung ihrer Verknüpfung besteht. Insofern sich in der Verbindung von Verhalten und Sinn keine analytische, sondern eine synthetische Relation verbirgt, stellt sich die Frage nach ihren Synthesisprinzipien. Um diese Fragen zu beantworten, sollen im Folgenden die genannten Elemente einer genaueren Analyse unterzogen werden. Zunächst wird der Begriff des menschlichen Verhaltens in den Blick zu nehmen sein, der uns sodann wiederum zu dem des Motivs führen wird. Wie bereits angedeutet wurde, gehört der Motivbegriff zu den schwierigsten und komplexesten Begriffen in Webers methodologischen Schriften. Das betrifft vor allem dessen sinntheoretische Implikationen, die es hier herauszuarbeiten gilt. Zunächst aber wenden wir uns dem ersten Punkt, Webers Konzeptualisierung des Verhaltensbegriffs, zu. In seinen methodologischen Schriften kommt Weber in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) erstmals ausführlich auf den Verhaltensbegriff zu sprechen.⁵⁷ Dort bezeichnet er das Verhalten als einen wahrnehmbaren Zustand oder Vorgang der Außenwelt, sodass dieser Begriff mit individuellen Naturereignissen aller Art in Verbindung gebracht werden kann. Er hält fest, dass zwischen dem von einer Felswand herabstürzenden Stein (vgl. RK II, 65) und dem bloßen Verhalten eines Menschen keine grundsätzliche Differenz bestehe (vgl. RK II, 64). Und auch in der Stammler-Studie spezifiziert Weber den Verhaltensanteil des menschlichen Handelns als die „‚Physis‘ des Hergangs“ (RS, 331) und fügt ergänzend hinzu, dass das menschliche Handeln in dem Augenblick als „‚Natur‘“ (RS II, 332) angesehen werden könne, in dem bei diesem nicht mehr nach dem Sinn gefragt werde. Als bloßes Verhalten fällt es somit gleichsam in den Naturzustand zurück.⁵⁸ Zu den zentralen Fragen, die Weber in der wissenschaftlichen Bearbeitung individueller Vorgänge der Außenwelt leiten, gehört diejenige, inwiefern sich jene Vorgänge mittels der Kausalitätskategorie analysieren lassen.⁵⁹ Sowohl das menschliche Verhalten als auch der herabstürzende Felsblock werden dementsprechend in eine Ursache-Wirkungs-Relation eingezeichnet. In einer solchen

57 Im Objektivitätsaufsatz verwendet er zwar den Verhaltensbegriff, jedoch nicht im handlungstheoretischen Sinn des Worts. Vielmehr ist dort einerseits vom Verhalten des Staates (vgl. O, 162) und andererseits vom Verhalten im Rahmen sozialpsychologischer Untersuchungen die Rede (vgl. O, 189). Letztere werden einer massiven Kritik unterzogen. 58 Schütz hingegen vertritt die These, dass Weber den Begriff des Verhaltens und des Handelns nicht in dieser Weise voneinander abgrenzt. Verhalten ist demnach nicht sinnlos. Vielmehr komme beiden ein je spezifischer Sinn zu, vgl. Schütz 1993, 28. 52. 59 Vgl. 2. 1.

56 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Perspektive können nun Webers Auffassung nach eine Vielzahl von Determinanten in Betracht kommen, die jene Einzelvorgänge kausal bestimmen. Aber auch wenn die kausale Determination sowohl für menschliches Verhalten als auch für andere mundane Zustandsveränderungen angenommen werden kann, ist es möglich, ersteres gerade in dieser Beziehung von letzteren zu unterscheiden. Denn unter den möglichen Wirkursachen, die bloßes menschliches Verhalten in seinem Ablauf bestimmen, befindet sich eine, die sich ausschließlich für den Bereich des menschlichen Verhaltens geltend machen lässt. Dabei handelt es sich um eine Größe, deren zentraler Stellenwert in Webers Denken bereits angesprochen wurde und die nun einer genaueren Betrachtung unterzogen werden soll.⁶⁰ Es handelt sich um Motive. Wie andere Determinanten von Vorgängen der Außenwelt wird auch das Motiv von Weber unter die Kategorie der Kausalität subsumiert. Es ist somit gleichermaßen als Teil einer Ursache-Wirkungs-Relation anzusehen, innerhalb derer es die Position der Ursache einnimmt. Diese Position hat es aber – wie gesagt – ausschließlich in Korrelation zum menschlichen Verhalten. Motive werden somit zwar als Ursachen mundaner Zustandsveränderungen vorgestellt, aber eben nicht als Ursachen jedweder Art von Vorgängen der Außenwelt. Im Hinblick auf menschliches Verhalten ist das Motiv eine – so könnte man sagen – causa efficiens sui generis.⁶¹ Webers Bestimmung des Motivbegriffs ist damit aber noch nicht erschöpfend beschrieben. Denn bislang ist keineswegs hinlänglich deutlich geworden, was das Motiv von anderen möglichen Ursachen menschlichen Verhaltens abhebt und eben zu einer Ursache eigener Art macht. Die Antwort auf diese Frage verweist nun auf Webers Sinnbegriff. Das Motiv zeichnet sich gegenüber anderen möglichen Ursachen menschlichen Verhaltens durch Sinnhaftigkeit aus, weswegen es von Weber explizit als „sinnhafter ‚Grund‘ eines Verhaltens“ (Soz, 159) bestimmt wird. Diese sinntheoretische Zuspitzung des Motivbegriffs schlägt sich in dieser Formulierung nun auch terminologisch unmittelbar auf den kausalen Sonderstatus des Motivbegriffs nieder, indem hier nicht von der Ursache, sondern vom Grund des Verhaltens die Rede ist.⁶²

60 Vgl. 2. 1. 61 Zu den ausführlichsten und anregendsten Erörterungen zu der Frage nach dem Stellenwert des Motivbegriffs für Webers Methodologie gehören nach wie vor diejenigen von Schütz, vgl. Schütz 1993, 34–55. 115–130. Die von ihm vorgenommene Unterscheidung zwischen Um-zu- und Weil-Motiven, die unterschiedliche Zeitstellen der Handlungsbestimmung markieren, wird von Weber noch nicht berücksichtigt. 62 Vgl. dazu auch Graumann 1980, 21. Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass innerhalb der handlungstheoretischen Diskussion der Grund- und der Motivbegriff voneinander abgegrenzt

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

57

Um die sinntheoretische Signatur des Motivbegriffs des Näheren zu bestimmen, ist zunächst Webers Unterscheidung zwischen rationalen (vgl. RK III, 129; Soz, 168) und irrationalen (vgl. K, 435) Motiven in Betracht zu ziehen. Für erstere ist in der Regel der Zweckbegriff reserviert. So spezifiziert er den Zweck als Motiv (vgl. RK II, 95), parallelisiert Motive und Zwecke (vgl. K, 460) und führt explizit zweckrationale Motive an (vgl. RK III, 129; Soz, 168. 183. 191 u. ö.). Ein zweckrational motiviertes Verhalten ist ein solches, dass durch eine Zweck-Mittel-Folgen-Kalkulation bestimmt ist.⁶³ Zu den rationalen zählen aber auch „wertrationale Motive“ (Soz, 450), die von der Überzeugung oder Gesinnung eines Menschen bestimmt sind.⁶⁴ Als irrational bezeichnet er hingegen „affektuelle“ Motive (Soz, 449f). Als Beispiele nennt Weber „‚Würdegefühl‘, ‚Stolz‘, ‚Neid‘, ‚Eifersucht‘“ (K, 430; vgl. auch Soz, 155). Ist ein Verhalten durch letztere begründet, handelt sich um „Affekthandlungen“ (K, 430).⁶⁵ Zum anderen gehören zu dieser Klasse von Verhaltensgründen auch „traditionelle Motive“ (SSP, 39, vgl. auch Soz, 183f).⁶⁶ Das Verhalten ist dann von einer „Bindung an das Gewohnte“ (Soz, 175) bestimmt.⁶⁷ Webers Motivbegriff ist somit sehr weit gespannt. Die gedankliche Schwierigkeit besteht nun darin, diese disparaten Artikulationsgestalten der motivationalen Struktur menschlichen Verhaltens als sinnhafte Gründe desselben bestimmen zu können. Wenn der kausale Sonderstatus der Motive auf ihrem sinnhaften Charak-

werden. Johannes Fischer etwa bestimmt den Grund einer Handlung dahingehend, das mit ihm die Begründung derselben durch den Handelnden selbst thematisch werde. Der Handelnde stelle sich durch die Angabe seines Handlungsgrundes als Urheber der Handlung dar. Das Motiv hingegen erkläre die Handlung aus der Beobachterperspektive. Fischer kritisiert jedoch die aus Gründen, Motiven und – darüber hinaus – Ursachen heraus begriffenen Handlungen sämtlich als neuzeitliche Reduktionismen des Handlungsbegriffs, vgl. dazu Fischer 2002, 104–120. 63 Zu Webers Begriff zweckrationalen Handelns vgl. unten 2. 4. 7 sowie 4. 3. 2. 64 Zu Webers Begriff wertrationalen Handelns vgl. unten 4. 2. 3. 65 Zu Webers Begriff affektualen Handelns vgl. unten 4. 2. 1 sowie 4. 3. 1. 66 Zu Webers Begriff traditionalen Handelns vgl. unten 4. 2. 1–2. 67 Auch wenn an dieser Stelle die jeweilige Bedeutung der unterschiedlichen Motivgruppen nur in einem ersten Zugang festgehalten wurde, spiegelt sich in den aufgeführten Beispielen die berühmte Handlungstypologie Webers wider, in der er bekanntlich zwischen zweckrationalen, wertrationalen, affektualen und traditionalen Bestimmungsgründen (sozialen) Handelns differenziert (vgl. Soz, 175–177, vgl. auch Br II / 10, 1040). Zwar verwendet er dort den Motivbegriff selbst nicht, es handelt sich dabei aber auch um eine Typologie von Handlungsmotiven. Die mit dem Motivbegriff verbundene Kausalitätsdimension deutet sich dort zumindest in dem Bestimmtheitselement an, das auf einen Determinationszusammenhang hinweist. Dementsprechend heißt es in den Soziologischen Grundbegriffen ausdrücklich, dass (soziales) Handeln auf diese vier Weisen „bestimmt“ (Soz, 175) sein könne. Allerdings können nur die Bestimmtheitsmodi menschlichen Handelns als Motive angesehen werden, die sich durch das Merkmal der Sinnhaftigkeit auszeichnen, was nicht für alle von ihnen gilt.

58 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens ter beruht, dann muss diese Eigenschaft für alle angeführten Motivformen gelten können. Weber äußert sich zu dieser Frage leider nicht mit der Deutlichkeit, die ihrer Relevanz angemessen wäre. Lediglich indirekt kann anhand einer Passage aus den Soziologischen Grundbegriffen auf eine Antwort geschlossen werden, in der er auf den Zusammenhang von Motiven und menschlichem Verhalten zu sprechen kommt und dabei explizit Beispiele für rationale und irrationale Motive anführt. Ihnen gegenüber hält er fest: „In all diesen Fällen, auch bei affektuellen Vorgängen, wollen wir den subjektiven Sinn des Geschehens, . . . als ‚gemeinten‘ Sinn bezeichnen (darin also über den üblichen Sprachgebrauch hinausgehend, der von ‚Meinen‘ in diesem Verstand nur bei rationalem und zweckhaft beabsichtigtem Handeln zu sprechen pflegt).“ (Soz, 155) Dieser Formulierung zufolge zeichnen sich auch irrational motivierte Handlungen durch einen subjektiv gemeinten Sinn aus, was zu der Annahme Anlass gibt, dass bezogen auf die kausale Begründung menschlichen Handelns die Sinndimension eine notwendige Bedingung für die Verwendung des Motivbegriffs darstellt.⁶⁸ Das aber bedeutet zugleich, dass es ausgeschlossen ist, von einem sinnlosen menschlichen Verhalten zu behaupten, ihm läge ein Motiv zugrunde. Gegenüber dieser Interpretation ließe sich nun der Einwand erheben, dass Weber selbst darauf hingewiesen habe, dass das affektual und das traditional bestimmte Verhalten oftmals an der Grenze des Sinnhaften stehen würden (vgl. Soz, 149. 175).⁶⁹ Nach Maßgabe der zuvor angestellten Überlegungen müsste darauf erwidert werden, dass ein affektuelles oder ein traditionales Verhalten, das eines Sinnes entbehrt, auch nicht als durch Motive hervorgebracht angesehen werden könnte.⁷⁰ Der Begriff der Affekte bzw. der der Tradition ist an dieser Stelle somit von dem der affektiven und traditionalen Motive zu unterscheiden. Es handelt sich in beiden Fällen um quasi natürliche Wirkursachen, die sich – wie es andernorts heißt – unter der Grenze des „‚Noëtischen‘“ (RK II, 83) bewegen. Darauf weisen Webers erläuternde Bemerkungen zum „streng traditionale[n]“ und „streng affektuelle[n] Sichverhalten“ unmissverständlich hin. Während er das eine als ein „Reagieren auf gewohnte Reize“ (Soz, 175) bezeichnet, nennt er als Beispiel für das andere ein „hemmungsloses Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz“ (Soz, 175).⁷¹

68 Schütz spricht sogar von einer „Gleichsetzung“ der Begriffe subjektiv gemeinter Sinn und Motiv (Schütz 1993, 27). 69 Hermeneutisch gewendet beschreibt Weber diesen Sachverhalt wie folgt: „Das Verständliche hat für die empirischen Disziplinen flüssige Grenzen.“ (K, 428). 70 Ähnlich fallen auch Wolfhart Pannenbergs Andeutungen zum Handlungsbegriff aus, vgl. Pannenberg 2011, 353140. 71 Zum Begriff des Außeralltäglichen vgl. unten 3. 4. 2 sowie 5.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

59

Es handelt sich dabei also nicht um sinnhafte Ursachen bzw. Gründe (Motive), sondern um sinnlose Ursachen. Um die Differenz von den nicht-motivationalen Ursachen menschlichen Verhaltens noch deutlicher herauszustreichen, bietet es sich an, auf den mentalen Charakter der Motive zu sprechen zu kommen. Diese Zuspitzung ist nun keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern in Webers Schriften selbst vermerkt. Sowohl im Objektivitätsaufsatz (1904) als auch in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) – und nur dort – werden die Motive explizit als „geistige“ (RK II, 44; O, 173) Größen ausgewiesen. Dieser Befund korrespondiert mit Webers Verwendung des Begriffs ‚Geisteswissenschaft‘, der auch nur in den frühesten methodologischen Schriften vermerkt ist. Vor allem ein entsprechender Passus aus dem Objektivitätsaufsatz ist für unseren Zusammenhang einschlägig. Dort heißt es, dass in der sozialwissenschaftlichen Analyse der Kulturwirklichkeit die „Mitwirkung geistiger Vorgänge“ (O, 173) Berücksichtigung finden müsste. Diese Synergie wird wenige Zeilen später als „Mitwirkung ‚geistiger‘ Motive“ (O, 173) spezifiziert, was deren mentalen Charakter unterstreicht. Dass der Motivbegriff im bewussten Leben des Geistes wurzelt, lässt sich in zweierlei Hinsicht präzisieren. Die eine ist bereits angesprochen worden. Gemeint ist der Akt des Sinn-Beilegens. Dieser wird von Weber jedoch noch durch einen weiteren Aspekt ergänzt, der bislang noch nicht thematisch wurde und somit auch nicht mit jenem Akt verwechselt werden darf. Weber verwendet für diesen vielfach den Begriff der Sinnbeziehung. Der Sinn, der einem Verhalten beigelegt wird und durch den dieses Verhalten als ein Handeln bestimmt werden kann, zeichnet sich durch eine darüber hinausgehende Objektbezogenheit aus. Mit ihr tritt eine zweite Gestalt der Sinnkonstitution auf den Plan, die Weber im Rahmen seiner Handlungstheorie entwirft. Sowohl im Kategorienaufsatz als auch in den Soziologischen Grundbegriffen wird sie ausdrücklich herausgestellt. In ersterem führt Weber den Begriff des Handelns als ein „durch irgendeinen . . . (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu ‚Objekten‘“ (K, 439) ein. Dem Sichverhalten bzw. dem Verhalten – Weber differenziert nicht streng zwischen beiden Begriffen – ist zum einen ein Sinn beigelegt worden. Zum anderen ist dieser Sinn zugleich auf Objekte bezogen vorzustellen, wobei es zunächst einmal vollkommen irrelevant ist, worum es sich dabei genau handelt. Lediglich für den Begriff des sozialen Handelns ist die Annahme notwendig, dass das Objekt das „Verhalten anderer“ (K, 429; vgl. auch Soz, 149) darstellt. Der subjektive Sinn, der dem eigenen Verhalten beigelegt wird, ist in diesem Fall auf das Verhalten anderer bezogen.⁷² Dass der Sinnbezug menschli-

72 Als ein Paradebeispiel kann der von Weber mehrfach herangezogene Tauschakt angesehen werden, vgl. RS, 331.

60 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens chen Handelns aber nicht allein sozialen Vorgängen vorbehalten bleibt, wird von Weber an verschiedenen Stellen kenntlich gemacht. In seiner späten Methodologie exemplifiziert er diesen Sachverhalt an Artefakten. Die Sinnhaftigkeit derselben ist unmittelbar mit der „Bezogenheit menschlichen Handelns darauf“ (Soz, 153) verbunden.⁷³ Für uns entscheidend ist jedoch, dass auch diese sinntheoretische Perspektive auf den Motivbegriff zurückverweist. Insofern der Sinngehalt des Sinnbezugs mit demjenigen Sinn koordiniert ist, den das Handlungssubjekt dem eigenen Verhalten beilegt, ist er gleichermaßen mit der motivationalen Struktur menschlichen Sich-

73 Diesen Gesichtspunkt reichert Weber in seiner Stammler-Studie zeichentheoretisch an. „Wenn ich mir ein ‚Lesezeichen‘ in ein ‚Buch‘ lege, so ist das, was nachher von dem Resultat dieser Handlung ‚äußerlich‘ wahrnehmbar ist, offenbar lediglich ‚Symbol‘: der Umstand, daß hier ein Streifen Papier oder ein andres Objekt zwischen zwei Blätter eingeklemmt ist, hat eine ‚Bedeutung‘, ohne deren Kenntnis das Lesezeichen für mich nutz- und sinnlos . . . wäre.“ (RS, 332) Die zuletzt genannte Bedeutung hat die praktische Kontextualisierung des Papierstreifens als eines äußeren Zeichens zur Voraussetzung, was dieses zu einem Symbol mache. Weber versucht, diese Reflexionen durch weitere Beispiele zu verdeutlichen: „Oder, um lieber wieder ganz auf den Boden der Robinsonade zu treten: Wenn Robinson sich, da der Waldbestand seiner Insel ‚ökonomisch‘ der Schonung bedarf, bestimmte Bäume mit der Axt ‚bezeichnet‘, welche er für den kommenden Winter zu schlagen gedenkt, oder wenn er, um mit seinen Getreidevorräten ‚Haus zu halten‘, diese in Rationen teilt, einen Teil als ‚Saatgut‘ besonders verstaut, – in allen solchen und zahllosen ähnlichen Fällen, die sich der Leser selbst konstruieren möge, ist der ‚äußerlich‘ wahrnehmbare Vorgang auch hier nicht ‚der ganze Vorgang‘: der ‚Sinn‘ dieser ganz gewiß kein ‚soziales Leben‘ enthaltenden Maßnahmen ist es, der ihnen erst ihren Charakter aufprägt, ihnen ‚Bedeutung‘ gibt, im Prinzip ganz genau ebenso, wie die ‚Lautbedeutung‘ den schwarzen Fleckchen, die man in ein Faszikel von Papierblättern ‚gedruckt‘ hat, oder wie die ‚Wortbedeutung‘ den Lauten, die ein anderer ‚spricht‘, oder endlich wie der ‚Sinn‘, den jeder der beiden Tauschenden mit seinem Gebaren verbindet, dem äußerlich wahrnehmbaren Teil desselben.“ (RS, 332) Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass diese Beispielwahl Webers eine auffällige Nähe zu Husserls Logischen Untersuchungen besitzt, auf die der Nationalökonom verschiedentlich Bezug nimmt (RK II, 75. 77. 103; RK III, 109f; K, 427). In der ersten Untersuchung Husserls heißt es: „Was den deskriptiven Unterschied zwischen der physischen Zeichenerscheinung und ihrer sie zum Ausdruck stempelnden Bedeutungsintention anlangt, so tritt er am klarsten hervor, wenn wir unser Interesse dem Zeichen für sich zuwenden, etwa dem gedruckten Wort als solchem. Tun wir dies, so haben wir eine äußere Wahrnehmung . . . wie irgendeine andere, und ihr Gegenstand verliert so den Charakter des Wortes. Fungiert es dann wieder als Wort, so ist der Charakter seiner Vorstellung total geändert.“ (Husserl 1992b, 46) Eine ausdruckstheoretische Note klingt auch bei Weber an, wenn er von dem Sinn spricht, „den wir in einem Objekt oder Vorgang ‚ausgedrückt‘ finden“ (RS, 332). Insofern ist Schluchters strikte Abgrenzung der Weberschen Handlungstheorie vom „Sinn-Ausdrucks-Schema“ zu hinterfragen (Schluchter 2009, 133). In welchem Maße Theorieelemente der Husserlschen Phänomenologie in Webers Methodologie eingeflossen sind, ist jedoch ausgesprochen schwierig zu beurteilen und bislang nur ansatzweise erforscht, vgl. Mühlmann 1966, 24–35; Schütz 1993; Rossi 1994; Sukale 2002, 421f; Muse 1981. Zum Symbolbegriff bei Weber vgl. Weiß 1992, 163f.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

61

verhaltens verwoben. Denn der Akt des Sinnbeilegens ist – wie wir gesehen haben – in den subjektiven Bestimmtheitsgründen des Verhaltens verankert. Allerdings wird dieser sehr weitreichende systematische Stellenwert des Motivbegriffs von Weber auch in diesem Fall eher vernebelt als deutlich zu erkennen gegeben. Die hier angeführten Aspekte haben die sinntheoretische Signatur des Motivbegriffs freigelegt und tragen damit dazu bei, Webers Bezeichnung desselben als eines sinnhaften Verhaltensgrundes verständlich zu machen. Dass damit – theoriegeschichtlich betrachtet – zugleich eine nicht unerhebliche Umakzentuierung in der Begründung des Handlungsbegriffs erfolgt, wird spätestens in dem Augenblick deutlich, in dem die Frage nach dem Stellenwert des Freiheitsbegriffs aufgeworfen wird. Die Antwort fällt überwiegend negativ aus. Weber blendet den Gedanken der Autonomie, der für die philosophische Konzeptualisierung des Handlungsbegriffs von fundamentaler Bedeutung ist, weitgehend aus. Lediglich in der zweiten und dritten Lieferung zu Roscher und Knies kommt er auf den Freiheitsbegriff in kulturtheoretischer wie -hermeneutischer Perspektive zu sprechen (vgl. RK II, 69; RK III, 132f).⁷⁴ Die Relevanz dieser Ausführungen für die Konzeptualisierung des Handlungsbegriffs darf jedoch nicht überbewertet werden. Denn zum einen stellt Weber ausdrücklich heraus, dass jenseits der von ihm vorgenommenen instrumentellen Einordnung des Freiheitsbegriffs „das ‚Problem‘ der ‚Willensfreiheit‘ in allen Formen, die es überhaupt annehmen kann“ (RK III, 133), für den Aufbau und das Verständnis der empirisch ausgerichteten Kulturwirklichkeit bedeutungslos ist.⁷⁵ Zum anderen spielt in den folgenden methodologischen Schriften der Freiheitsbegriff eine ausgesprochen marginale Rolle. Im Kategorienaufsatz sowie in den Soziologischen Grundbegriffen findet er gar keine Erwähnung. Wenn Weber von einer Inanspruchnahme des Freiheitsbegriffs absieht, dann artikuliert sich hierin möglicherweise sein Emanzipationsbestreben gegenüber dem südwestdeutschen Neukantianismus, dessen Philosophie von einem Primat der praktischen Vernunft ausgeht. Das könnte indirekt jedenfalls die bereits erwähnte Passage aus der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies nahelegen, in der sich Weber zum Begriff der Willensfreiheit äußert. Dort paraphrasiert er diesen Begriff als „‚Freiheit des Handelns‘“ (RK II, 69) und verweist in der dazugehörigen Anmerkung „[f]ür alles Nähere“ auf Windelbands Vorlesungen Ueber Willensfreiheit (1904). Die von

74 In Henrichs Rekonstruktion von Webers Wissenschaftslehre bilden die Ausführungen zum Freiheits- und Persönlichkeitsbegriff aus der dritten Lieferung zu Roscher und Knies „den Schlüssel zu allen ihren Gehalten“ (Henrich 1952, 45). Henrich ist der Auffassung, dass mit den besagten Begriffen das Fundament sowohl der Methodologie als auch der Ethik Webers bezeichnet ist. 75 Auch Friedrich Gottl, mit dessen später (2. 4. 6) zu analysierender Habilitationsschrift sich Weber intensiv befasst hat, siedelt die Frage nach der Willensfreiheit jenseits der Erfahrungswissenschaften an und weist sie in den Bereich der Metaphysik, vgl. HdW, 203.

62 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens ihm angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die zweite, der „Freiheit des Handelns“⁷⁶ gewidmeten Vorlesung, womit Weber unmissverständlich anzeigt, an dieser Stelle dem zum damaligen Zeitpunkt in Heidelberg lehrenden Philosophen zu folgen. Wenn Weber später davon absieht, die Autonomie als konstitutives Aufbaumoment des Handlungsbegriffs auszuweisen, so könnte das als ein Indiz für eine Abgrenzung vom Neukantianismus interpretiert werden. Doch kommt es hier nicht primär auf Webers Verhältnis zur Wertphilosophie an. Entscheidend ist vielmehr, dass nicht die freiheitliche, sondern die sinnhafte Bestimmtheit des Handelns im Zentrum seiner methodologischen Schriften steht.⁷⁷ Der Begriff des sinnhaften Motivs bildet gleichsam ein handlungstheoretisches Äquivalent zum Freiheitsbegriff. Zusammenfassend betrachtet, kann Webers Motivbegriff als das heimliche Zentrum seiner Handlungstheorie angesehen werden. Dieser Begriff stellt einerseits das gesuchte Synthesisprinzip von menschlichem Verhalten und Sinn dar. Andererseits baut ebenso die sinnhafte Objektbezogenheit menschlichen Handelns, die im Falle des sozialen Handelns das Verhalten anderer betrifft, auf dem Motivbegriff auf. Damit lassen sich Webers methodologischen Schriften zweierlei Begründungsmuster des Sinnbegriffs entnehmen, die unabhängig voneinander entfaltet werden. Wie sich das Verhältnis zwischen diesen beiden fassen lässt, versuchen die folgenden Überlegungen zu klären.

2.2.3 Das Verhältnis von Wertungs- und Handlungssinn Weber hat sich zu der Frage, in welchem Verhältnis der durch Wertungen begründete und der im Handeln realisierte Sinn zueinander stehen, nirgends geäußert. Versucht man es gleichwohl zu bestimmen, kommen zwei Modelle in Betracht. Das eine kann als Ablösungs-, das andere als Integrationsmodell bezeichnet werden. Mit ersterem ist die Annahme verbunden, dass der Wertbegriff in konstitutionstheoretischer Hinsicht zugunsten des Handlungsbegriffs aufgegeben wurde. Das zweite hingegen geht von einer Implementierung der Handlungs- in die Werttheorie aus. Beide Varianten gilt es kurz zu erläutern. Für die erste spricht bereits der äußere Befund, dass sich die Spuren der systematischen Verbindung von Wert- und Sinnbegriff in Webers Schriften zum Ende der

76 Windelband 1904, 19. 77 Damit grenzt er sich ebenso von Teilen der Geschichtswissenschaft ab. Exemplarisch sei auf Eduard Meyer verwiesen, für den der „freie zwecksetzende Wille“ (A, 184) ein Grundmerkmal von Geschichtsereignissen ist.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

63

ersten Dekade des 20. Jahrhunderts mehr und mehr verlieren.⁷⁸ Dementsprechend kommen die Begriffe Wert und Handeln sogar in einem umgekehrt reziproken Verhältnis zueinander zu stehen. Je weiter der eine in den Hintergrund rückt, desto stärker setzt sich der andere durch. Bereits dieser wortstatistische Befund könnte als Anhaltspunkt dafür angesehen werden, dass an die Stelle der werttheoretischen die handlungstheoretische Begründung des Sinnbegriffs getreten ist und diese in der Perspektive der Sinnkonstitution die Funktion von jener übernommen hat. Dafür würde des Weiteren sprechen, dass der für Weber grundlegende Übergang von der Natur zur Kultur in der Stammler-Studie ausdrücklich im Medium des Handlungsbegriffs reflektiert wird und in diesem Zusammenhang nicht im Entferntesten von der Werttheorie die Rede ist. Darüber hinaus könnte geltend gemacht werden, dass der handlungstheoretisch begründete Sinnbegriff ähnlich elastisch ist wie der werttheoretische. Denn der Sinn des Handelns zeichnet sich dadurch aus, auf Objekte jedweder Art bezogen sein zu können, wodurch sie gleichsam – mit Husserl zu sprechen – beseelt werden. Das aber würde dann auch bedeuten, dass sich die Kulturwirklichkeit nicht unabhängig vom Handlungsbegriff verständlich machen ließe. Transzendentale Voraussetzung der Kultur- bzw. Sozialwissenschaften wäre dann – zugespitzt formuliert – nicht der wertende, sondern der im engeren Sinne, also durch den Verhaltensbegriff spezifizierte, handelnde Mensch.⁷⁹ Allerdings müsste bei dieser Lesart der Umstand Berücksichtigung finden, dass die Werttheorie in Webers Spätwerk nicht verschwunden ist, sondern auch weiterhin thematisch wird. Exemplarisch sei dafür auf Webers berühmte Abhandlung Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) sowie auf den Begriff wertrationalen Handelns (vgl. Soz, 175f) hingewiesen, den es später eigens zu thematisieren gilt.⁸⁰ Das zweite Modell geht davon aus, dass Weber auch noch im Spätwerk am Primat eines werttheoretisch begründeten Sinn- und damit einhergehend Kultur-

78 Darauf wies bereits Johannes Winckelmann hin (vgl. Winckelmann 1976, 11). Dieser Hinweis fand in der Forschungsliteratur jedoch kaum Berücksichtigung. So deutet etwa Herbert Schnädelbach lediglich an, dass die wertphilosophische Prägung der Methodologie Webers „mit dem Programm einer verstehenden Sozialwissenschaft nur schlecht zusammenpasst.“ (Schnädelbach 2005, 108). 79 Wenn Merz-Benz/Wagner den Kulturmenschen des Objektivitätsaufsatzes unmittelbar mit dem „Handelnden“ identifizieren – „Das macht die Handelnden zu ‚Kulturmenschen‘, die fähig und willens sind, ‚bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen‘“ (Merz-Benz und Wagner 2007, 54) – wird die hier herausgearbeitete Ebenendifferenz zwischen Wert- und Handlungstheorie verwischt. 80 Vgl. 4. 2. 3.

64 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens begriffs festgehalten hat. Für eine solche Lesart plädierte schon Henrich.⁸¹ In ihr spiegelt sich zugleich die Überzeugung wider, dass Webers Erkenntnistheorie in ihren wesentlichen Grundsätzen eine neukantianische Signatur besitze bzw. – genauer gesagt – maßgeblich durch die Philosophie Rickerts geprägt wurde. Diese Position Henrichs wurde von Schluchter aufgegriffen und systematisch ausgearbeitet. Der Heidelberger Soziologe betreibt den bislang größten argumentativen Aufwand, eine für Webers methodologische Schriften insgesamt grundlegende Relevanz der Werttheorie zu plausibilisieren, wobei er ausdrücklich zu bedenken gibt, dass Weber der neukantianischen Philosophie nicht einfach folge und dessen Denken somit nicht einfach darunter verbucht werden könne.⁸² Dass die Frage nach dem Stellenwert der Werttheorie zu den zentralen Themen seiner Weberinterpretation gehört, zeigt bereits der erste Band seiner großen Untersuchung Religion und Lebensführung an, der unter dem Titel Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie steht. Wenn dieser Titel Programm ist, lässt sich schon von diesem her erahnen, dass die Begriffe Handeln und Sinn dem des Werts systematisch nachgeordnet sind. Aber auch seine Überlegungen zum Zweck- und zum Wertbegriff, die er in verschiedenen Publikationen dargelegt hat,⁸³ schlagen in diese Kerbe. So trifft er im Rahmen dieser aufschlussreichen Ausführungen die weitreichende 81 „Max Weber setzt die Termini Sinn, Bedeutung und Wert zumeist in eines. (Die feinen Gewichtsverlagerungen, durch die in den späteren Schriften der ‚Sinn‘ mehr genannt wird, können wir deshalb außer acht lassen, weil sie keine sachlichen Differenzen enthalten.) . . . Der Begriff der Bedeutung nimmt als Definition des menschlichen Seins den Sinn von ‚Wertbedeutung‘ ein.“ (Henrich 1952, 76). 82 Schluchter 2009, 133. In einer früheren Abhandlung akzentuiert Schluchter den Einfluss des südwestdeutschen Neukantianismus auf Webers Methodologie noch stärker. Im Anschluss an die Wiedergabe eines Zitats aus Roscher und Knies, in dem Weber auf das Programm einer Verstehenstheorie zu sprechen kommt, urteilt er: „Ich vermag nicht zu sehen, wo Weber diese der Rickert-Laskschen Philosophie verpflichtete Grundposition außer in der Ausdrucksweise aufgegeben hätte, auch dort nicht, wo er den logischen Begriff der Geschichte mit einem materialen Begriff der Kultur kombiniert.“ (Schluchter 1998, 734; so auch schon Schluchter 1991a, 62) Darüber hinaus konstatiert er, dass das terminologische Zurücktreten der Werttheorie in Webers Schriften nicht gleichbedeutend damit ist, „daß er auch deren zentrale Prämisse aufgegeben hätte.“ (Schluchter 1998, 702) Unter der zentralen Prämisse versteht Schluchter die neukantianische Geltungslehre. 83 Vgl. Schluchter 2000, 124; Schluchter 2005a, 27ff; Schluchter 2009, 133ff. Für Schluchters Interpretation des Zweckbegriffs ist es bezeichnend, ihn werttheoretisch zu imprägnieren. Neben dessen teleologischer Bedeutung stehe der Zweck für die „Spezifikation eines ‚Werts‘ als Antizipation eines Wünschenswerten (nicht des Wünschbaren).“ (Schluchter 2005a, 28) Schluchter bescheinigt aber auch dem Wertbegriff eine doppelte Bedeutung. Er komme einerseits als das bereits erwähnte Wünschenswerte in Betracht, andererseits aber auch als ethischer Orientierungsmaßstab. In dieser Perspektive sei der Wert die Vorstellung eines „Geltenden“ (Schluchter 2009, 133) bzw. einer „Geltung, welche Ursache einer Handlung wird“ (Schluchter 2000, 124; Schluchter 2009, 133). Damit greift Schluchter die beiden rationalen Handlungsmotivationen der Weberschen

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

65

Feststellung, dass Weber von einer „Gleichrangigkeit“⁸⁴ zweck- und wertrational bestimmten Handelns ausgehe. Diese Gleichrangigkeitsthese kann aber wiederum als ein Indiz für sein Interesse an einer Aufwertung der werttheoretischen Grundlagen von Webers Methodologie begriffen werden. Die mit der Integrationsthese bezeichneten Theoriedimensionen lassen sich aber auch noch in einer anderen Weise gewichten. Denn es wäre durchaus denkbar, dass Weber die in seinen frühen methodologischen Schriften entfalteten Elemente der Werttheorie in seine Handlungstheorie eingeschmolzen hat. Einen Anhaltspunkt für diese Vermutung gäbe wiederum der Motivbegriff. Denn die Motive als die subjektiven Bestimmungsgründe menschlichen Verhaltens könnten in der Weise spezifiziert werden, dass ihnen der Vollzug mentaler Operationen zugrunde läge. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, den Motivbegriff mit der Werttheorie zu verbinden. Denn die für letztere signifikanten Operationen der Stellungnahme und der Wertung, die – wie wir gesehen haben – bei Weber von prädiskursiven Wertgefühlen bis zu rationalen Werturteilen reichen, wären durchaus geeignete Kandidaten, um etwaige bewusstseinstheoretische Konstitutionsbedingungen der Motive auf den Begriff zu bringen. Käme den Stellungnahmen und Wertungen der Status von mentalen Prämissen des Motivbegriffs zu, dann ließe sich plausibilisieren, wie es Weber gelingt, mit dem Motivbegriff Sinngebungsakte zu verbinden. Denn in seinen methodologischen Schriften konstatiert er lediglich, dass im Handeln dem Verhalten ein Sinn beigelegt werde und dass dieser Sinn zugleich auf andere Objekte bezogen sein könne. Auf welchem Wege sich die Sinngebung aber genau vollzieht, ist damit noch nicht geklärt und wird auch von Weber nicht eigens thematisiert. Diese Lücke ließe sich schließen, wenn der Motivbegriff seinerseits auf einer bewusstseinstheoretischen Grundlage stünde, die im Falle Webers neukantianisch imprägniert vorzustellen wäre. Die Sinngebung erfolgte dann nicht durch die Motive, sondern durch die ihnen zugrunde liegenden Bewusstseinsoperationen.⁸⁵ Handlungstypologie auf, die er pointiert als eigenwertorientiert (Wert) und als erfolgswertorientiert (Zweck) bestimmt (vgl. Schluchter 1991a, 75f; Schluchter 1991b, 290; Schluchter 2005a, 28). Vom „Eigenwert“ sittlicher Autonomie sowie von „Erfolgsethik“ spricht auf die Kantische Moralphilosophie bezogen auch schon Rickert, vgl. Rickert 1999a, 391. 396. 84 Schluchter 2009, 134. Rainer Adolphi ist sogar der Auffassung: „Für das rationale Subjekt selber gibt es, zugespitzt gesagt, als Rationalität . . . nur ‚Wertrationalität‘“ (Adolphi 1996, 103). Wertrationalität stehe für die „Rahmenpräferenzen“ (Adolphi 1996, 102), innerhalb derer zweckrationale Entscheidungen getroffen werden. 85 In dieser Richtung versucht bekanntlich Schütz Webers Sinnbegriff theoretisch zu fundieren, indem er sich der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Husserlschen Phänomenologie bedient. Die Möglichkeit, den Sinnbegriff werttheoretisch zu begründen, zieht Schütz jedoch nicht in Betracht.

66 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Bei den zuletzt angestellten Überlegungen handelt es sich aber lediglich um einen Versuch, die einerseits wert- und andererseits handlungstheoretische Begründung des Sinnbegriffs, die bei Weber weitgehend unverbunden nebeneinander liegen, in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Weber selbst hat sich dazu allerdings nicht geäußert. Insofern fällt die Beantwortung der oben formulierten Frage, in welchem Verhältnis beide Begründungsvarianten des Sinnbegriffs zueinander stehen, nach wie vor überaus schwierig aus. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht wiederum Argumente, die gegen eine Verschränkung beider Theorieebenen sprechen. Hier spielt wiederum Webers Anspruch mit hinein, Wirklichkeitswissenschaft zu betreiben bzw. einem empirischen Wissenschaftsansatz verpflichtet zu sein. Freilich haften die Werte nach Auffassung des südwestdeutschen Neukantianismus an den Gegenständen und insofern besitzt die Wertphilosophie notwendig einen empirischen Bezugspunkt. Aber – wie Friedrich Vollhardt festgehalten hat – diesem Bezugspunkt wird nicht methodisch Rechnung getragen.⁸⁶ Auf die empirisch ausgerichtete Methodologie kommt es Weber aber an und vor diesem Hintergrund betrachtet, konterkarierte es die Leistungsfähigkeit des handlungstheoretischen Ansatzes, machte er diesen von werttheoretischen bzw. -philosophischen Prämissen abhängig. Dem entspricht die zuvor bereits geltend gemachte Beobachtung, dass Webers Objektivitätsaufsatz zwar noch stark unter dem Einfluss der neukantianischen Werttheorie steht, was unmittelbar auf sein Verständnis von Kulturwissenschaften abfärbt. In den folgenden Jahren entzieht er sich jedoch mehr und mehr diesem Einfluss, um die Wirklichkeitswissenschaft von metaphysischen Prämissen möglichst frei zu halten, was wiederum für das Ablösungsmodell spricht. Diese Variante fügt sich schließlich auch besser in die sinntheoretische Großwetterlage jener Zeit ein. Zwar wurzelt der Sinnbegriff auf der einen Seite in den werttheoretischen Debatten des 19. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite emanzipierte sich jener zusehends von diesen.⁸⁷ Dieser Ablösungsprozess lässt sich selbst innerhalb der Wertphilosophie ansatzweise beobachten. Die Erfolgsgeschichte des Sinnbegriffs in der Zeit um 1900 ist am südwestdeutschen Neukantianismus keineswegs spurlos vorübergegangen. Das belegt ein Blick auf Rickerts Werk. Während er in der ersten Auflage der Grenzen (1902) dem Sinnbegriff keine besondere

86 „Der Philosophie wird mit dem Reich der geltenden Werte ein Forschungsfeld eröffnet, zu dem es zwar einen empirischen Zugang – die historischen Kulturobjekte –, nicht aber empirische Arbeitsmethoden gibt;“ (Vollhardt 2003, 282). 87 Das gilt etwa für Gottlob Frege (1848–1925), der den Sinnbegriff zeichentheoretisch konzeptualisiert, vgl. Thürnau 1995, 810. Zu Freges Sinnbegriff vgl. Barth 2014, 104–110. Husserl ergänzt diese Zugangsweise durch eine intentionalitätstheoretische Begründung des Sinnbegriffs, vgl. Barth 2014, 97–104.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

67

Aufmerksamkeit schenkte, nimmt dieser spätestens in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts eine prominente Rolle in seinem Denken ein. Das gilt etwa für den 1910 erschienenen Beitrag Vom Begriff der Philosophie, in welchem er gegenüber dem Sinnbegriff von einem „dritten Reich“⁸⁸ neben Wert und Wirklichkeit spricht. Entscheidend ist für uns, dass er dabei den Boden der Wertphilosophie nicht verlässt. Er versucht, den Sinnbegriff unter wertphilosophischen Prämissen zu plausibilisieren.⁸⁹ Doch war diesem Versuch wirkungsgeschichtlich betrachtet kein großer Erfolg beschieden und auch Weber ist diesem Weg nicht weiter gefolgt. Vielmehr exemplifiziert dessen Denken, wie sich der Sinnbegriff Anfang des 20. Jahrhunderts als Leitbegriff der Nicht-Naturwissenschaften durchsetzte und zugleich von den werttheoretischen Grundlagen loslöste. Das hier diskutierte Problem erscheint damit in einem weit über die Weberexegese hinausgehenden Horizont. Es ist Bestandteil eines der weitreichendsten Paradigmenwechsel innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften des letzten Jahrhunderts, der sich mit der Formel vom Wert zum Sinn zusammenfassen lässt.⁹⁰ Wir können uns nun den sinntheoretischen Binnendifferenzierungen zuwenden, die Weber in der Stammler-Studie sowie in den Soziologischen Grundbegriffen angestellt hat. Sie eigens zu diskutieren, bietet sich jedoch nicht allein aus Gründen der gedanklichen Vertiefung des Sinnbegriffs an. Sie sind auch insofern wegweisend, als sich an ihnen konzeptionelle Gründe aufzeigen lassen, die Weber dazu veranlasst haben, eine eigene Theorie des Verstehens zu entwickeln. Dabei handelt es sich vor allem um die Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem ideellen Sinn (vgl. RS, 333f).

2.2.4 Empirischer und ideeller Sinn Weber illustriert die empirische Bedeutung des Handlungssinns an zwei Beispielen. Einerseits kann der empirische Sinn dafür stehen, daß die Handelnden bewußt eine sie ‚verpflichtende‘ Norm auf sich nehmen wollten, daß sie also der (subjektiven) Ansicht waren, daß ihr Handeln als solches einen sie verpflichtenden Charakter trage: es wurde eine ‚Norm-Maxime‘ bei ihnen gestiftet; – oder aber es soll nur gemeint sein: daß jeder von ihnen mit dem Tausch bestimmte ‚Erfolge‘ erstrebte, zu denen sein Handeln nach seiner ‚Erfahrung‘ im Verhältnis des ‚Mittels‘ stand, daß der Tausch einen (subjektiv) bewußten ‚Zweck‘ hatte. (RS, 334)

88 Rickert 1999c, 21. 89 Vgl. Rickert 1999c, 28f. 90 Freilich ohne diesen Sachverhalt zu erörtern, ist schon bei Simmel zu lesen: „Daß Sinn und Wert nicht zusammenfallen, liegt auf der Hand.“ (PG, 366).

68 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Der Sinn, in empirischer Bedeutung betrachtet, der einem Verhalten – in beiden Fällen – bewusst beigelegt wird, kommt hier somit einerseits als Vorstellung einer Pflicht und andererseits als erfahrungsgesättigte Zweck-Mittel-Kalkulation zu stehen, womit Weber Anleihen an der kantischen Unterscheidung zwischen dem kategorischen und hypothetischen Imperativen macht.⁹¹ Doch ist in diesem Zusammenhang weder die deontologische noch die konsequentialistische Spezifikation der Handlungsbestimmung entscheidend. Viel wichtiger ist an dieser Stelle, dass sowohl die Normmaxime als auch die auf das Verhalten bezogene Zweck-Mittel-Relation unterschiedliche Formen von subjektiven Beweggründen menschlichen Handelns, also von Motiven darstellen.⁹² Dementsprechend ist bei Weber analog zum empirischen Sinn des Handelns auch von der „empirischen Motivation“ (RS, 372) bzw. von „wirklichen Motive[n]“ (Soz, 171) die Rede.⁹³ Sie stellen Aufbaumomente des „realen Handelns“ (K, 440) dar. Ein reales Handeln ist für Weber ein solches, das sinnlich wahrgenommen werden kann. Es ist also nicht bloß begrifflich konstruiert, sondern hat sich raumzeitlich manifestiert.⁹⁴ Das reale Handeln nimmt nun in Webers Methodologie einen systematisch enorm weitreichenden Stellenwert ein. Es markiert den empirischen Anknüpfungspunkt kultur- und sozialwissenschaftlicher Analysen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass er von einem „‚naiven Realismus‘“ (K, 437) spricht. Er bezeichnet den Realismus des empirisch arbeitenden Kultur- bzw. Sozialwissenschaftlers deswegen als naiv, weil von einer unmittelbaren und voraussetzungslosen Wahrnehmung des reales Handeln umfassenden Objektbereichs nicht im Entferntesten die Rede sein kann und das betrifft allen voran die Sinnstelle des Handelns.⁹⁵ Davon betroffen ist aber nicht allein die Perspektive des Fremdverstehens.⁹⁶ Um die Problematizität zu untermauern und zu steigern, weist Weber zudem auf die Handlungssubjekte selbst, denen seiner Ansicht nach die Bestimmungsgründe des eigenen Sichverhaltens in der Regel keineswegs durchsichtig

91 Vgl. Schluchter 2005b, 105. 92 Dass in diesem Zusammenhang der Motivbegriff im Schwange ist, bestätigt Weber in seiner Stammler-Studie nicht zuletzt damit, dass er an anderer Stelle Maximen als „reales Agens . . . empirischen Handelns“ bezeichnet (RS, 330), womit er indirekt die für den Motivbegriff signifikante Kausalitätsdimension anspricht. 93 In seiner Abhandlung zur Wertfreiheit führt Weber „wirkliche letzte Motive“ (SW, 503) auf. 94 Er spricht auch von „empirisch gegebenen äußeren ‚Handlungen‘“ (KS I, 2241) oder auch nur vom „empirische[n] Handeln“ (RS, 329). 95 Daher erweist sich auch die Formulierung von Wagner und Zipprian, wonach durch den Erfahrungsbezug der Weberschen Methodologie „die transzendentalistische Wirklichkeitsauffassung durch eine realistische“ (Wagner und Zipprian 1985, 129) ersetzt werde, als zu holzschnittartig. Zum Begriff des naiven Realismus vgl. auch Schluchter 1991a, 57. 96 Zum Perspektivitätsproblem innerhalb der Handlungstheorie vgl. Fischer 2002, 107–109.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs |

69

sind: „Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ‚gemeinten Sinns‘. Der Handelnde ‚fühlt‘ ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder ‚sich klar machte‘, handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig.“⁹⁷ (Soz, 172) Wenn Weber aber davon ausgeht, „daß Vorgänge bestimmter Art mit einem gewissen, nicht im einzelnen klar durchdachten, sondern unklar vorschwebenden ‚Sinn‘ vorstellungsmäßig verbunden faktisch vorkommen“ (RS, 333), so bedeutet das zugleich, dass er den bezogen auf den Akteur vielfach geltend gemachten privilegierten Zugang zur motivationalen Struktur des eigenen Handelns marginalisiert.⁹⁸ Sind aber dem Handlungssubjekt die Bestimmtheitsgründe des eigenen Verhaltens vielfach verborgen, so verschärft sich das Problem, wie sich menschliches Handeln aus einer externen Perspektive heraus verständlich machen lässt. Ausgeschlossen ist für Weber ein Verstehensmodell, welches auf dem „‚Axiom aller historischen Erkenntnis‘ von der ‚prinzipiellen Gleichheit‘ der Menschennatur“ aufruht, das „von Ranke ebensowohl wie von neueren Methodologen“ betont worden sei (RK II, 101f). Aus der mit diesem Axiom bezeichneten Strukturisomorphie humanen Lebens könne die Möglichkeit einer einfachen „Nachbildung“ (RK II, 102) der „Innenseite“ menschlichen Handelns nicht abgeleitet werden. Weber gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass es nicht ausreiche, diese Gleichheit, die als eine transzendentale Prämisse interpersonalen Verstehens spezifiziert werden kann, zu postulieren. Vielmehr hält er gegenüber dem Verstehen menschlichen Handelns fest: „Inwieweit dies ‚Gleichheit‘ voraussetzt, wäre alsdann zu untersuchen.“ (RK II, 1011) Denn zunächst seien „der ‚normale‘ Mensch und das ‚normale‘ Handeln“ genauso gedankliche, einem heuristischen Zweck verpflichtete Konstruk97 Darauf weist auch Kaesler 2003, 196 hin. An anderer Stelle heißt es bei Weber: „Es verhüllen vorgeschobene ‚Motive‘ und ‚Verdrängungen‘ (d. h. zunächst: nicht eingestandene Motive) oft genug gerade dem Handelnden selbst den wirklichen Zusammenhang der Ausrichtung seines Handelns derart, daß auch subjektiv aufrichtige Selbstzeugnisse nur relativen Wert haben.“ (Soz, 156, vgl. auch RS, 333) Dieses Problem ist freilich keineswegs neu. Vielmehr lässt es sich schon bei Luther finden, worauf Holl hingewiesen hat: „niemand ist sich selbst so durchsichtig, daß er die sein Tun tatsächlich bestimmenden Beweggründe vollkommen zu erkennen vermag.“ (Holl 1923c, 139). Einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert auch Georg Simmel: Es ist „die fruchtbare Idee Schopenhauers, daß die wirklichen Motive der Menschen ein eigentlich ganz zufälliges Verhältnis zu dem Bewußtsein ihrer Motive haben“ (Simmel 2012b, 345). Solche Überlegungen spielen auch in neueren Methodenreflexionen der qualitativen Sozialforschung eine wichtige Rolle, vgl. Wohlrab-Sahr und Przyborski 2008, 32–35. 98 So heißt es etwa bei Schurz: „Nun mag man zustimmen, dass ein Mensch zu seinem eigenen Seelenleben einen privilegierten introspektiven Zugang hat (obzwar spätestens seit Sigmund Freud bekannt ist, dass wir uns auch über unsere eigenen Seelenzustände täuschen können). Aber beim Verstehen anderer Personen haben wir keinen direkten Zugang mehr.“ (Schurz 2004, 156).

70 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens tionen „wie . . . das bekannte ‚kranke Pferd‘ in Hoffmanns ‚Eisernem Rittmeister‘“ (RK II, 102). Damit hinterfragt Weber die vor allem durch Dilthey vertretene Position, wonach die „Gleichförmigkeit“⁹⁹ des psychophysischen Lebens eine der grundlegenden Prämissen für das interpersonale und kulturelle Verstehen ist. Wenn Weber jedoch die Geltung dieses Axioms problematisiert, steht er unter dem Zugzwang, ein alternatives Modell plausibilisieren zu müssen. Das führt uns zu dem Begriff des ideellen Sinns, der von dem des empirischen Sinns prinzipiell unterschieden ist.¹⁰⁰ Dementsprechend weist Weber in seiner Einführung der Differenz von empirischem und ideellem Sinn ausdrücklich darauf hin: „Der ‚Sinn‘ des ‚äußern‘ Verhaltens der beiden Tauschenden kann . . . in zweierlei logisch sehr verschiedenen Arten betrachtet werden.“ (RS, 333) Der ideelle Sinn zeichnet sich nun dadurch aus, ausschließlich der Perspektive des „Beobachtenden“ (RS, 333) vorbehalten zu sein, wobei schon an dieser Stelle festgehalten werden kann, dass Weber diese Perspektive mit einer wissenschaftlichen Einstellung verbindet.¹⁰¹ Der ideelle Sinn stelle ein „in sich widerspruchsloses Gedankengebilde“ (RS, 333) dar. Dessen Konstruktion gehe zwar einerseits vom realen Handeln aus. Andererseits aber verlassen wir „alsdann das Gebiet des Empirischen und fragen: wie läßt sich der ‚Sinn‘ des Handelns der Beteiligten derart gedanklich konstruieren, daß ein in sich widerspruchsloses Gedankengebilde entsteht. Wir treiben dann ‚Dogmatik‘ des ‚Sinns‘.“¹⁰² (RS, 333f) Damit betritt Weber den Boden seiner Theorie des Handlungsverstehens, die hier aber noch zurückgestellt werden muss.¹⁰³ An dieser Stelle ist der Fokus vielmehr auf die Frage zu richten, in welchem Verhältnis die Unterscheidung von empirischem und ideellem Sinn zu den – viel bekannteren – sinntheoretischen Binnendifferenzierungen der Soziologischen Grundbegriffe steht, die Weber im unmittelbaren Anschluss an die Definition des (sozialen) Handelns anführt. Um die Frage präzisieren zu können, ist es zunächst erforderlich, die entsprechende Passage aus Webers Spätwerk heranzuziehen: „‚Sinn‘ ist hier entweder a) der tatsächlich a. in einem historisch gegebenen Fall von einem Handelnden

99 Dilthey 1990, 148 u. ö. 100 Agathe Bienfait schwächt diese Differenz ab, wenn sie bemerkt, „dass die von Deutenden zugeschriebenen Gründe“ nicht „völlig mit den Handlungsgründen der Akteure übereinstimmen.“ (Bienfait 2011, 9). 101 Diese zentrale Differenz hat Schütz übersehen, wenn er unterstellt, Weber unterscheide nicht zwischen „Selbst- und Fremdverstehen“ (Schütz 1993, 15). 102 Ähnlich spricht Weber auch in den Soziologischen Grundbegriffen vom „Abstand gegen die Realität“ (Soz, 172), durch die sich die historischen und sozialwissenschaftlichen Sinnkonstruktionen auszeichnen. Vgl. dazu auch Nusser 1988, 193. 103 Vgl. 2. 4. 3–8.

2.2 Theoriedimensionen des Sinnbegriffs | 71

. . . oder b) in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinte Sinn“ (Soz, 149).¹⁰⁴ Liest man diese Passage vor dem Hintergrund der sinntheoretischen Ausführungen der Stammler-Studie, so kommen zwei mögliche Lesarten ihrer Verhältnisbestimmung in Betracht. Die eine besagt, dass die Unterscheidung von empirischem und ideellem Sinnbegriff diejenige von a) und b) präfiguriert. Die andere lautet, dass a) und b) gleichermaßen Formen ideeller Sinnkonstruktion darstellen. Dass b) unter letztere fällt, liegt auf der Hand. Zur Diskussion könnte allein die Zuordnung des tatsächlich subjektiv gemeinten Sinns a) zur Unterscheidung von empirischem und ideellem Sinn stehen. Doch lässt sich die Lesart, die für eine Identifikation mit dem empirischen Sinn sprechen würde, recht problemlos entkräften. Ein erster Anhaltspunkt dafür, dass der empirische und der tatsächlich subjektiv gemeinte Sinn nicht zusammenfallen, ist mit Webers Verständnis des Begriffs der Tatsache verbunden. Diesen will er keineswegs im positivistischen Sinne verstanden wissen. Die Erhebung von Tatsachen ist für ihn das Ergebnis eines wissenschaftlichen Verfahrens. Es stecke in der Tatsache – wie er Goethe zitierend bemerkt – immer schon Theorie (vgl. KS, 275). Gegen eine Identifikation des empirischen mit dem tatsächlich subjektiv gemeinten Sinn spricht aber noch viel mehr, dass Weber letzteren mit den Geschichtswissenschaften koordiniert. Diese zeichnen sich jedoch gleichermaßen durch eine Methodologie aus, in deren Mittelpunkt sich ein idealtypologisierendes Verfahren befindet, was Weber schon in seinen frühen Schriften zur sogenannten Wissenschaftslehre festhält und worauf später zurückzukommen sein wird.¹⁰⁵ Die sinntheoretischen Binnendifferenzierungen, die Weber in den Soziologischen Grundbegriffen anstellt, repräsentieren somit ausschließlich Typen ideellen bzw. idealtypischen Sinns.¹⁰⁶ Bevor wir uns Webers eigener Verstehenstheorie zuwenden, gilt es danach zu fragen, welchen Stellenwert Weber der Psychologie sowie psychisch-mentalen Prozessen in seinen methodologischen Schriften einräumt. Diese Frage drängt sich auf, weil er – wie wir gesehen haben – die Motive als Vorkommnisse mentalen Lebens ausweist, womit er sich im Grenzbereich zur Psychologie bewegt. Sodann gilt es zu berücksichtigen, dass er – wie Rickert – die Bedeutung der Psychologie für

104 Der zweite Fall des tatsächlich subjektiv gemeinten Sinns, den Weber als „b. durchschnittlich und annähernd in einer gegebenen Masse von Fällen von den Handelnden“ (Soz, 149) spezifiziert, kann hier außen vor bleiben. 105 Vgl. 2. 4. 4 sowie 2. 4. 7–8. 106 Auch Dirk Kaesler spricht bezogen auf die Sinnbegriffe der Soziologischen Grundbegriffe von der „Konstruiertheit“ (Kaesler 2003, 194) derselben.

72 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens die kultur- und geisteswissenschaftliche Reflexion immer wieder in die Schranken verweist.¹⁰⁷ Diesem gegenläufigen Befund gilt es im Folgenden nachzugehen.

2.3 Exkurs: Webers Stellung zur Psychologie Was den wissenschaftssystematischen Ort der Psychologie betrifft, so ist Weber der Überzeugung, dass sie keinesfalls als kultur- oder geisteswissenschaftliche Grundlagendisziplin angesehen werden könne. Damit wendet er sich gegen eine Position, die von Dilthey zum damaligen Zeitpunkt prominent vertreten wurde. Auf letzteren möglicherweise gemünzt heißt es in Roscher und Knies:¹⁰⁸ Denn die zuweilen gehörte Behauptung, daß die ‚Psychologie‘ im allgemeinen oder eine erst zu schaffende besondere Art von Psychologie um deswillen für die Geschichte oder die Nationalökonomie ganz allgemein unentbehrliche ‚Grundwissenschaft‘ sein müsse, weil alle geschichtlichen und ökonomischen Vorgänge ein ‚psychisches‘ Stadium durchlaufen, durch ein solches ‚hindurchgehen‘ müßten, ist natürlich unhaltbar. Man müßte sonst, da alles ‚Handeln‘ heutiger Staatsmänner durch die Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, also durch Schallwellen und Tintentropfen usw. ‚hindurchgeht‘, auch die Akustik und die Lehre von den tropfbaren Flüssigkeiten für unentbehrliche Grundwissenschaften der Geschichte halten.¹⁰⁹ (RK II, 82)

107 Zur Frage nach dem hermeneutischen Stellenwert der Psychologie im Denken Webers vgl. Frommer, Sabine/Frommer, Jörg 1990; Hahn 1995; Hettling 1997. Bezogen auf die Protestantische Ethik stellt Lehmann heraus, dass sich Weber einerseits von der Psychologie abgegrenzt habe, sich aber zugleich „auf dem ureigensten wissenschaftlichen Feld der Psychologie“ (Lehmann 2009, 79) bewege. Die Frage, wie sich beide Aspekte miteinander vereinbaren lassen, wird von ihm jedoch nicht weiter verfolgt. 108 In Diltheys Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) heißt es, „daß jeder Versuch, eine Erfahrungswissenschaft des Geistes ohne Psychologie herzustellen, ebenfalls unmöglich zu einem benutzbaren Ergebnis führen kann.“ (Dilthey 1990, 147) Darüber hinaus macht er in verschiedenen Wissenschaften die Tendenz aus, „psychologische Grundlegungen gänzlich auszuscheiden.“ (Dilthey 1990, 146). 109 Ganz ähnlich formuliert Weber im Objektivitätsaufsatz: „und vor allem ist die Ansicht noch heute nicht ganz verschwunden, daß es eben die Aufgabe der Psychologie sei, eine der Mathematik vergleichbare Rolle für die einzelnen Geisteswissenschaften zu spielen, indem sie die komplizierten Erscheinungen des Soziallebens auf ihre psychischen Bedingungen und Wirkungen hin zu zergliedern, diese auf möglichst einfache psychische Faktoren zurückzuführen, letztere wieder gattungsmäßig zu klassifizieren und in ihren funktionellen Zusammenhängen zu untersuchen habe. Damit wäre dann, wenn auch keine Mechanik, so doch eine Art von Chemie des Soziallebens in seinen psychischen Grundlagen geschaffen.“ (O, 173) Und auch in einer Replik auf die von Karl Fischer formulierte Kritik an der Protestantischen Ethik äußert sich Weber in ähnlicher Weise, vgl. Weber 2014b, 511–514.

2.3 Exkurs: Webers Stellung zur Psychologie | 73

Der Vergleich der Psychologie mit den physikalischen Größen zeigt an, dass Weber sie – mit Dilthey gesprochen – auf die erklärende Psychologie, d. h. auf eine naturwissenschaftlich-experimentell verfahrende Wissenschaft reduziert.¹¹⁰ Dieser Reduktion entspricht es, dass an den Stellen, an denen er auf die Psychologie zu sprechen kommt, regelmäßig von der Psychophysik (vgl. RK II, 50. 55 u. ö.) die Rede ist. Dabei handelt es sich um eine strikt experimentell orientierte Ausrichtung der Psychologie, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem von Ernst Heinrich Weber (1795–1878) und Gustav Theodor Fechner (1801–1887) etabliert wurde. Auf beide, vor allem in Leipzig wirkenden Gelehrten geht das sogenannte Weber-Fechnersche-Gesetz zurück, das von der Annahme bestimmt ist, dass zwischen durch äußere Reize hervorgerufenen Nervenerregungen und Empfindungen Wechselwirkungen bestehen, die sich logarithmisch darstellen lassen. Auf diesen experimentalpsychologischen Ansatz kommt Weber verschiedentlich zu sprechen. Seine ausführlichsten Erörterungen dazu finden sich in seinem, in der Weberforschung eher selten rezipierten Beitrag Die Grenznutzlehre und das ‚psychophysische‘ Grundgesetz (1908) sowie im Kategorienaufsatz (1913).¹¹¹ Eine andere Frage betrifft die Reichweite der experimentellen Psychologie für die Entschlüsselung der motivationalen Struktur menschlichen Handelns. Weber führt dazu aus, dass es ihr ausschließlich gelänge, einzelne Elemente derselben zu bestimmen. Dazu gehören „‚psychophyische[]‘ Erscheinungsformen: Pulskurven z. B. Verschiebungen des Reaktionstempos und dergleichen“ sowie „nackt psychologische[] Gegebenheiten, z. B. die Kombination der Spannungs-, Lust- und Unlustgefühle“ (K, 430; vgl. K, 431; GpG, 393). Von einer vollständigen Durchdringung der von ihm auch als „‚Innenseite‘ des Handelnden“ (RK II, 78) bezeichneten psychischen Struktur sei die experimentelle Psychologie aber noch weit entfernt. Diese Innenseite stelle „Bewußtseinsinhalte von unerhört komplexem Charakter“ dar, „so komplex, daß vorerst noch kaum der erste Anfang einer Auflösung der-

110 Das aber bedeutet zugleich, dass die mögliche Abgrenzung von Dilthey in sich nicht ganz schlüssig ist, weil der Berliner Philosoph die erklärende Psychologie keineswegs als das Fundament geisteswissenschaftlicher Reflexion angesehen hat. Diesen Stellenwert nimmt bei ihm vielmehr die sogenannte beschreibende und zergliedernde Psychologie ein. Auf diese Differenz kommt Weber im Rahmen seiner Kritik an der Psychologie aber nicht zu sprechen. 111 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem ersten Beitrag hat Schluchter vorgelegt, vgl. Schluchter 1995, 1–58. Es sei hier zumindest am Rande bemerkt, dass auch Dilthey die Psychophysik unter die erklärende Psychologie gefasst hat. Sie bildet für ihn eine „Mechanik des Seelenlebens“ (Dilthey 1990, 164), die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb der Psychologie auf breiter Flur durchgesetzt habe (vgl. Dilthey 1990, 165).

74 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens selben in einfache Empfindungen oder andere, auch nur vorläufig nicht weiter zerlegbare Elemente vorliegt.“¹¹² (RK II, 78) Aber selbst wenn es der Psychologie gelänge, komplexe Ausdrucksgestalten psychischen Lebens vollständig zu elementarisieren, hieße das nicht, des Sinns dieses Lebens habhaft zu werden. Das hält Weber unter den Bedingungen naturwissenschaftlicher Methodenideale insgesamt für ausgeschlossen, was seine Beurteilung von Wundts Prinzip der schöpferischen Synthese schon gezeigt hat.¹¹³ Vor diesem Hintergrund lässt sich verständlich machen, warum es in den Soziologischen Grundbegriffen heißt: der Sinn eines Handelns „ist doch nicht ‚psychisch‘“ (Soz, 169).¹¹⁴ Und dementsprechend schätzt er auch die Bedeutung der Ergebnisse experimentalpsychologischer Analysen für die Nationalökonomie und Soziologie ausgesprochen gering ein. Weber räumt ihnen – und damit knüpft er vermutlich an Simmel an – die gleiche Relevanz ein wie „klimatischen oder pflanzenphysiologischen Sachverhalten“ (K, 431).¹¹⁵ Damit können wir unseren kurzen Exkurs zusammenfassen. Webers Kritik an der Psychologie betrifft in erster Linie deren naturwissenschaftliche Ausrichtung. Er ist der Überzeugung, dass es für einen experimentalpsychologischen Ansatz ausgeschlossen sei, komplexe psychische Erscheinungsformen, die – und das ist für ihn entscheidend – in einer Beziehung zum Verhalten eines Menschen stehen, vollständig zu entschlüsseln. Der in ihnen enthaltene sinnhafte Gehalt ist jenem Ansatz prinzipiell entzogen. Aus dieser Kritik an einem letztlich reduktionistischen Verständnis der Psychologie die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Weber keinen konstruktiven Zugang zur Dimension des Psychischen 112 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt Weber in seiner gerade angesprochenen Abhandlung zur Grenznutzlehre. Darin exemplifiziert er das Problem anhand der für nationalökonomische Prozesse grundlegenden Bedürfnisstruktur menschlichen Lebens. Die „rohe und ‚vulgärpsychologische‘ Kategorie“ (GpG, 391) des Bedürfnisses sei – „wenn wir uns denn einmal ‚psychologisch‘ ausdrücken wollen: – ein Komplex von ‚Empfindungen‘ und ‚Gefühlslagen‘, ‚Spannungs‘-, ‚Unlust‘und ‚Erwartungs-Zuständen‘ u. dgl. von jeweilig eventuell höchst komplexer Beschaffenheit, kombiniert überdies mit ‚Erinnerungsbildern‘, ‚Zweckvorstellungen‘ und, unter Umständen, miteinander kämpfenden ‚Motiven‘ verschiedenster Art.“ (GpG, 388) Wenn Weber – wie wir später noch sehen werden – innerhalb seiner Religionssoziologie mit dem Bedürfnisbegriff operiert (vgl. 3. 6. 1), lässt sich bereits von hieraus erschließen, dass er diesen nicht im disziplinär-psychologischen Sinne verstanden wissen will. 113 Vgl. 2. 2. 1. 114 Ähnlich äußert sich Weber auch in einem Brief an Robert Liefmann vom 9. März 1920, vgl. Br II / 10, 948. 953. Vgl. dazu auch Soz, 217. 115 In Simmels Problemen der Geschichtsphilosophie heißt es ganz ähnlich: „Die Beschaffenheit von Boden und Klima würde für den Lauf der Geschichte so gleichgültig bleiben, wie Boden und Klima des Sirius, wenn sie nicht direkt oder indirekt die psychologische Verfassung der Völker beeinflußte.“ (PdG, 233).

2.4 Methoden der Deutung | 75

gefunden hätte, wäre gleichwohl ein Missverständnis. Um ein solches Missverständnis zu vermeiden, ist es daher angebracht, zwischen Webers disziplinärem Verständnis der Psychologie und den von ihm konstruktiv veranschlagten Erscheinungsformen sinnhaft-mentalen Lebens zu unterscheiden.¹¹⁶ Wenn er es aber gleichwohl unterlässt, letztere als Ausdruck psychischen Lebens auszuweisen, so spiegelt sich darin vermutlich das Interesse wider, sich von vornherein gegenüber dem Vorwurf zu immunisieren, Vertreter eines nomologisch-psychologischen Ansatzes zu sein.¹¹⁷

2.4 Methoden der Deutung 2.4.1 Die wertbeziehende Interpretation Die folgenden Überlegungen werden sich auf Webers Rezeption der sogenannten Wertbeziehungslehre zu konzentrieren haben (b), die Rickert in der Erstauflage der Grenzen entwickelt hat und die zu dessen berühmtesten Theoriestücken gehört. Weber greift sie vor allem in Roscher und Knies (1903–1906), im Objektivitätsaufsatz (1904) sowie in seiner Auseinandersetzung mit Eduard Meyer (1906) auf und versucht sie in hermeneutischer Perspektive fruchtbar zu machen, wodurch er

116 Vgl. dazu auch Schluchter 1995, 47: „Es gibt sowohl sinnfreies Psychisches wie sinnhaftes Psychisches.“ 117 Webers Überlegungen zur Psychologie sowie zum psychisch-mentalen Leben und den Möglichkeiten, dieses zu verstehen, übte auf verschiedene Vertreter dieser Disziplin nachhaltigen Einfluss. Das gilt in erster Linie für Karl Jaspers (1883–1969), der in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts vor allem als Psychopathologe in Erscheinung getreten war und in seinen Publikationen zu diesem Thema immer wieder auf Weber verwies. In seiner Allgemeinen Psychopathologie, die im Jahre 1913 erstmals erschienen war, hält er in einer späteren Auflage ausdrücklich fest: „Mir ging das methodische Bewußtsein über das Verstehen im Zusammenhang mit der großen Überlieferung auf durch Max Webers Arbeiten, vor allem Roscher und Knies“ (Jaspers 1973, 250). Ebenso nimmt er in seiner Psychologie der Weltanschauungen (1919) mehrfach positiv auf Weber Bezug (vgl. Jaspers 1919, 13. 68 u. ö.). Vgl. zu Jaspers Weberrezeption Heidegger 1976, 49; Henrich 1988; Bormuth 2004. Einige Jahrzehnte später notiert der Psychiater Hans W. Gruhle (1880–1958), der seit 1908 zum engeren Bekanntenkreis Webers gehörte (vgl. Br. II / 2,2, 1007) und mit Jaspers an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg arbeitete (vgl. Jaspers 1977, 27f), in seiner Verstehenden Psychologie (1956): „Dem sachverständigen Leser wird nicht der starke Einfluß entgehen, den Max Weber auf meine Grundstellungen gewann. Ihm, dem bedeutenden Menschen, dem persönlich nahezutreten mir das Schicksal vergönnte, gilt diese ganze Arbeit als Huldigung.“ (Gruhle 1956, V).

76 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens sie zugleich signifikant transformiert.¹¹⁸ Bevor jene Transformation thematisch werden kann, ist es jedoch erforderlich, auf Rickerts Konzeptualisierung dieser – heute nicht mehr so geläufigen – Lehre selbst zu sprechen zu kommen (a). a) Rickerts Grenzen, auf die wir bereits in der Einleitung (2. 1) Bezug genommen haben, setzen mit einer Analyse des logischen Aufbaus sowie der Reichweite naturwissenschaftlicher Begriffsbildung innerhalb der Erfahrungswissenschaften ein. Das Ziel dieser Begriffsbildung bestehe darin, die „unendliche Mannigfaltigkeit der Körperwelt zu überwinden“ (G, 123).¹¹⁹ Nur unter der Voraussetzung, dass diese – von Rickert immer wieder betonte – Überwindungsleistung gelinge, sei dem endlichen Geist Welterkenntnis möglich (vgl. G, 36). Dass diese Leistung von den Naturwissenschaften erbracht werden könne, liege in der besonderen Qualität ihrer Begrifflichkeit begründet, die sich durch Allgemeinheit, Bestimmtheit und Geltung auszeichne. Mit allen drei Elementen seien die Mittel an die Hand gegeben, „die Welt zu vereinfachen und übersehbar zu machen“, worin das „eigentliche logische ‚Wesen‘ des naturwissenschaftlichen Begriffs“ (G, 123) bestehe. Auf Rickerts Spezifikation dieser Mittel kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vielmehr gilt es das Augenmerk auf die „Lücke“ (G, 10. 24. 251f u. ö.) zu richten, die sich – so Rickerts These – durch jenes Instrumentarium nicht schließen lasse. Wenn Rickert von einer Lücke spricht, so mutet dieser Ausdruck vor dem Hintergrund dessen, was er darunter begreift, etwas untertrieben an. Denn sie verweist auf nichts Geringeres als die „empirische Wirklichkeit“ (G, 239). Um Zugang zu letzterer zu gewinnen, macht Rickert zwei Kriterien geltend: empirische Anschauung und Individualität. Wir nehmen die uns umgebende Wirklichkeit durch empirische Anschauung wahr und das heißt für ihn immer zugleich, dass wir sie individuiert wahrnehmen (vgl. G, 236). Insofern ein naturwissenschaftlicher Begriff weder Anschauliches noch Individuelles als solche zu erfassen vermag, weil er an einem Gegenstand nur das bestimmt, was an ihm verallgemeinerungsfähig ist, sei es für die Naturwissenschaften unmöglich, die Wirklichkeit zu umfassen.¹²⁰ Dieses Ergebnis eröffnet den Horizont für die historischen Wissenschaften bzw. Nicht118 Darauf deutet bereits in problematisierender Absicht Schnädelbach hin, vgl. Schnädelbach 2005, 108. Dieser rückt die Wertbeziehungslehre einseitig in den Mittelpunkt von Webers Verstehenstheorie. 119 Rickert unterscheidet zwischen einer extensiven und einer intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge. Die Körperwelt sei, wenn sich unsere Erkenntnis auf sie in ihrer Ganzheitsdimension bezieht, extensiv mannigfaltig. Bezogen auf eine einzelne Gestalt der Körperwelt müsse von einer intensiven Mannigfaltigkeit gesprochen werden, vgl. G, 36. Diese Unterscheidung wird von Weber verschiedentlich aufgegriffen, vgl. RK I, 4. 341. 67. 752. 134. 120 Diese hier sehr verkürzt wiedergegebenen Reflexionen führen Rickert schließlich zu dem Ergebnis: „Das, was der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die Grenze setzt, über die sie niemals hinwegzukommen vermag, ist nichts anderes als die empirische Wirklichkeit selbst.“ (G,

2.4 Methoden der Deutung | 77

Naturwissenschaften, die allein dazu in der Lage seien, jene Lücke zu schließen (vgl. G, 251). Warum ihnen das möglich sein soll, zeichnet sich im Horizont des Rickertschen Geschichtsverständnisses ab: „Alles, was uns von dem Geschehen an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit berichtet, nennen wir Geschichte, und wenn es daher eine Wissenschaft von diesem Geschehen geben soll, so wird sie Geschichtswissenschaft heissen müssen.“ (G, 251) Die Geschichtswissenschaft zielt somit nicht auf die Erkenntnis dessen, was sich an einem Geschehen verallgemeinern lässt – das wäre das spezifische Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften. Sie ist auf das Anschauliche und Individuelle dieses Geschehens fokussiert.¹²¹ Insofern mit Anschaulichkeit und Individualität wiederum die Grundlagen von Rickerts Wirklichkeitsbegriff bezeichnet sind, begreift er die Geschichtswissenschaft als die „Wirklichkeitswissenschaft“ (G, 255) par excellence. Wie in den Naturwissenschaften geht es auch in der Geschichtswissenschaft um Überwindung von Mannigfaltigkeit durch Begriffsbildung. Allerdings könne hier nicht so wie in den Naturwissenschaften verfahren werden, d. h. einen Begriff zu bilden, dessen Elemente „das einer Mehrheit von Individuen Gemeinsame enthalten“ (G, 342). Stattdessen sei es erforderlich, ein „Prinzip“ ausfindig zu machen, das „die Zusammenstellung der historischen Begriffselemente leitet“ (G 342), und zwar i. S. einer begrifflichen „Einheit“ von „individuellem Inhalt“ (G, 342). Um dieses Prinzip bestimmen zu können, geht Rickert vom Begriff des Individuums aus, dessen Wortsinn drei Bedeutungen umfasse: die der Einheit (von Mannigfaltigkeit),¹²² des Einzigartigen und des Unteilbaren (vgl. G, 342f). Im Rahmen dieser Problemexposition spitzt Rickert dann sein Untersuchungsziel auf die Frage hin zu, „ob der Begriff der Einheit und Untheilbarkeit sich mit dem der Einzigartigkeit so verbinden kann, dass die Einzigartigkeit der Grund oder die Voraussetzung der Untheilbarkeit und Einheit ist.“ (G, 342) Wenn das der Fall wäre, so läge für ihn schon im Begriff des Individuums das gesuchte Prinzip. Zur Beantwortung des infrage stehenden Problems bedient sich Rickert zunächst eines Vergleichs aus dem Bereich der Natur: „ein bestimmtes Stück Kohle

239). Damit versucht er der damaligen Auffassung, die Naturwissenschaften gäben ein Abbild der Wirklichkeit (vgl. G, 245), das Wasser abzugraben. 121 Die empirische Wirklichkeit „wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere.“ (G, 255). 122 Das um den Einheitsaspekt ergänzte Mannigfaltige kommt in Abgrenzung vom Begriff des Einfachen zu stehen: „Wir wissen, dass jede Wirklichkeit, um einzigartig zu sein, zusammengesetzt sein muss, denn das Einfache, wie das Atom, ist individualitätslos.“ (G, 342) Rickert bezeichnet die Einheit von Mannigfaltigkeit auch als das Besondere, vgl. G. 342.

78 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens und ein bestimmter grosser Diamant, wie z. B. der bekannte Cohinoor.“ (G, 349) Von der Kohle wie von dem Diamanten könne gesagt werden, dass es sich um einzigartige Individuen handele.¹²³ Allerdings unterschieden sie sich dahingehend, dass die jeweilige Einzigartigkeit nicht in beiden Fällen Einheit und Unteilbarbeit verbürge. Das gelte nur im Falle des besagten Diamanten, und zwar deswegen, weil bei diesem – im Unterschied zum Kohlenstück – zum Merkmal der Einzigartigkeit die Qualität der Unersetzlichkeit hinzukommt. Einheit und Unteilbarkeit eines Individuums haben ihren Grund in der unersetzlichen Einzigartigkeit desselben. Besitzt ein Individuum eine „unersetzliche Bedeutung“ (G, 350) zeichnet es sich aber durch eine Wertbeziehung aus, auf die es Rickert an dieser Stelle ankommt. Denn genau diese Wertbeziehung bildet das gesuchte Prinzip historischer Begriffsbildung. Erst wenn die Einzigartigkeit eines Individuums mit einem Wertbezug gepaart ist, also in den Bereich des stellungnehmenden humanen Lebens eintritt (vgl. G, 353), begründet sie dessen Einheit und Unteilbarkeit. Die Wertbeziehung bildet damit zugleich das Differenzkriterium zweier Arten von Individuen: historischer und nicht-historischer. Diese Unterscheidung darf aber nicht – wie Rickert betont und was schon das Beispiel des Cohinoors deutlich anzeigt – in dem Sinne missverstanden werden, als spiegele sich in ihr die Trennung von Natur und Kultur wider.¹²⁴ Auch die „Einheit der Persönlichkeit ist keine andere, als die des auf einen Werth bezogenen In–dividuums überhaupt.“¹²⁵ (G, 352) Für unseren Zusammenhang ist es nun entscheidend, dass der Philosoph auf den den zuletzt skizzierten Überlegungen aufbauend zwischen zwei Formen von Wertbeziehung unterscheidet. Die erste artikuliert sich in den praktischen Wertun123 Rickert führt an anderer Stelle als Beispiele auch Blätter und Nüsse an. Diesen bescheinigt er ebenso, einzigartige Individuen zu sein, vgl. G, 353. 124 „Nicht selten kann man hören, die einzelnen Persönlichkeiten der Geschichte könnten allerdings von der Naturwissenschaft nicht begriffen werden, weil sie zu kompliziert seien, um vollständig übersehen zu werden, die körperlichen Vorgänge dagegen böten ihrer Einfachheit wegen solche Schwierigkeiten nicht dar. Auch diese Meinung ist auf das Allerentschiedendste zurückzuweisen, und wie falsch sie ist, muss uns . . . sofort klar werden, wenn wir uns auf das besinnen, was wir über den Begriff des Individuums festgestellt haben. Jedes Blatt am Baume, jedes Stück Schwefel, das der Chemiker in seine Retorte thut, ist ein Individuum und geht als Individuum eben so wenig in einen Begriff ein wie irgend eine große Persönlichkeit der Geschichte.“ (G, 285). 125 Um dem Vorwurf vorzubeugen, er würde überhaupt keinen Unterschied zwischen Individuen des psychischen und physischen Sein machen, hält Rickert fest: „Der Unterschied zwischen Körper- und Seelenindividuum besteht mir darin, dass die Individualität keines Menschen uns so gleichgültig ist wie die eines Stückes Kohle.“ (G, 352) Wenig später ergänzt er: „Warum alle Menschen auf Werthe bezogen und deshalb für uns auch In–dividuen sind, ist hier gleichgültig.“ (G, 353).

2.4 Methoden der Deutung | 79

gen im Rahmen einer Alltagseinstellung.¹²⁶ Rickert spricht hier vom Standpunkt des „wirklichen Lebens“ (G, 354 u. ö). Für die weitere Kennzeichnung dieses Standpunkts ist es entscheidend, dass die „Werthgesichtspunkte“ (G, 354) in diesem Zusammenhang zum einen als solche nicht reflektiert werden, sondern die evaluativen Operationen steuern, ohne ins Bewusstsein zu treten. Zum anderen zeichnen sich die Werte durch einen Geltungsstatus aus, der sich innerhalb der Grenzen des wertenden Subjekts bewegt. Es sind „individuelle Werthe und Zwecke“ (G, 356). Nichtsdestotrotz vollziehe sich im Medium des alltäglichen Wollens und Wertens die Konstitution von Individuen, die von Rickert als „historische Individuen“ (G, 355) bezeichnet werden. Für den wissenschaftlichen Geschichtsbegriff ist die zweite Form von Wertbeziehung einschlägig. Hier spiegelt sich im Wertbegriff nicht die persönliche Überzeugung eines wertenden bzw. wollenden Subjekts wider. Vielmehr befindet sich der Historiker in einem reflexiven Abstand zu Werten. Der Wert ist hier kein praktischer, sondern ein theoretischer Begriff (vgl. G, 356). Darüber hinaus zeichnen sich die Werte, mit denen es der Historiker zu tun hat, durch eine „allgemeine Bedeutung“ (G, 357) aus. Später spricht Rickert von unbedingt geltenden bzw. gültigen Werten.¹²⁷ Um den Begriff des allgemeinen Wertes, auf den sich der Historiker bezieht, von der generalisierenden Perspektive der Gesetzeswissenschaften abzugrenzen, stellt er ausdrücklich heraus, dass das, was durch den Bezug auf einen allgemeinen Wert von allgemeiner Bedeutung ist, nichts Allgemeines sein müsse. Im Bereich des Geschichtlichen verhalte es sich gerade umgekehrt, dass allgemeine Werte „am absolut Individuellen und Einzigartigen haften“ (G 359).¹²⁸ Für die Arbeit des Historikers hat Rickerts Auffassung nach die Bezugnahme auf allgemeine Werte darin ihre entscheidende Funktion, das Problem der Stoffauswahl beantworten zu können. Denn genauso wie im Falle der Naturwissenschaften steht auch die Geschichtswissenschaft vor der Aufgabe, Mannigfaltigkeit durch Begriffsarbeit zu überwinden. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Quellen mache eine „Auswahl des Wesentlichen vom Unwesentlichen“¹²⁹ (G, 315) erforderlich und genau diese Auswahl werde durch die Bezugnahme auf allgemei126 Auf Werte bezogen sei „jeder fühlende, wollende und handelnde, kurz jeder stellungnehmende und also jeder wirkliche Mensch bei seiner Auffassung der Welt . . . “, wodurch sich „für ihn das Seiende in wesentliche und unwesentliche Bestandtheile scheidet.“ (G, 353). 127 Die schwierige Frage, was es voraussetzt, von den Werten annehmen zu können, dass sie gelten, bzw. die metaphysischen Implikationen der Philosophie als einer Wertlehre muss hier ausgeklammert werden. 128 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich Rickert dezidiert gegen die Verwendung des Typenbegriffs zur Spezifikation des Historischen wendet (vgl. G, 360–363). 129 Dieses Motiv der Auswahl des Wesentlichen durchzieht die Grenzen wie ein roter Faden. „Dass z. B. Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, ist ein ‚historisches‘ Ereigniss, aber

80 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens ne Werte ermöglicht. In der Auswahl des Stoffs ist aber zugleich die Konstitution historischer Individuen im Sinne der Geschichtswissenschaft enthalten. Auch hier werde die Einheit und unersetzliche Einzigartigkeit von Individuen durch die Wertbeziehung begründet. „In die historischen Begriffe gehört eben das, was sich durch die blosse Beziehung auf allgemein anerkannte Werthe aus der Wirklichkeit heraushebt und zu individuellen Einheiten zusammenschließt.“ (G, 371). Bevor Webers Rezeption der Rickertschen Wertbeziehung in den Blick genommen wird, gilt es zuvor noch einen Gesichtspunkt anzusprechen, der das Verhältnis von Werturteil und theoretischer Wertbeziehung betrifft. Auch wenn Rickert nicht müde wird zu betonen, dass beide Formen von Wertbeziehung unterschieden werden müssen, hielte er es gleichwohl für eine Selbsttäuschung, wenn man meinte, der Historiker könne in seiner Arbeit vollständig von nicht-theoretischen Wertbeziehungen absehen. Vollständige „Urtheilsenthaltung“ bzw. „einen absolut werthfreien Standpunkt“ (G, 367) einnehmen, sei unmöglich. Und gerade deswegen sei es für die historische Arbeit von grundlegender Bedeutung, diesen Gesichtspunkt in der eigenen Methodenreflexion zu berücksichtigen und der Wertfreiheit den Status eines Ideals beizumessen. Die gerne nur mit dem Namen Webers verknüpfte Wertfreiheitsdebatte hat demnach in Heinrich Rickert einen gewichtigen Vorläufer. b) Um sich den Stellenwert, den die Wertbeziehungslehre für Webers Verstehenstheorie besitzt, vor Augen zu führen, bietet es sich an, zunächst eine Passage aus der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) heranzuziehen, in der er Münsterbergs Grundzüge der Psychologie bespricht, auf die später eigens einzugehen sein wird.¹³⁰ In einer Nebenbemerkung führt Weber drei unterschiedliche Begriffe von Deutung auf. Er notiert zunächst, dass der Deutungsbegriff ein „doppeltes Gesicht“ (RK II, 89) trage. Auf der einen Seite stehe die wertende und auf der anderen die „kausal erkennende ‚Deutung‘“ (RK II, 89). Mit dem Begriff der wertenden Deutung nimmt Weber auf die Werttheorie des südwestdeutschen Neukantianismus Bezug, wobei er dem Wertbegriff insofern eine neue Wendung verleiht, als er ihn mit dem der Deutung koordiniert. Diese Wendung kann als ein Spezifikum von Webers Rezeption der Werttheorie angesehen werden, zumal eine solche Perspektive sich in der Erstauflage von Rickerts Grenzen, also von Webers werttheoretischem Hauptreferenztext, lediglich andeutungsweise identifizieren

es ist vollkommen gleichgültig, welche Schneider seine Röcke gemacht haben, obgleich wir wohl auch dies noch genau erfahren könnten. Der historische Begriff dieses Königs kann also gewiss nicht aus Allem bestehen, was über ihn sicher festzustellen wäre.“ (G, 325f) Es sei am Rande bemerkt, dass sich auch Weber dieses Beispiels bedient (vgl. RK II, 69), in KS, 234 wird es sogar zitiert. 130 Vgl. 2. 4. 2.

2.4 Methoden der Deutung | 81

lässt.¹³¹ Der Begriff der wertenden Deutung baut vermutlich auf Rickerts erstem, auf einer Alltagseinstellung beruhenden Typ von Wertbeziehung auf. Der andere, als kausal spezifizierte Deutungstyp ist der, den Weber selbst herauszuarbeiten bemüht ist.¹³² Doch bleibt Weber bei der Feststellung dieser Doppelgesichtigkeit des Deutungsbegriffs nicht stehen, sondern hält in einer Anmerkung ergänzend fest: „Wir erörtern hier noch nicht, daß zwischen beiden Kategorien eine dritte liegt: die ‚Deutung‘ im Sinn einer nicht ‚kausalen‘, und auch nicht wertenden, sondern einer die Wertung [sic!] durch Analyse möglicher Wertbeziehungen eines Objektes . . . vorbereitenden ‚Interpretation‘.“ (RK II, 892) Weber verortet somit die wertbeziehende Interpretation zwischen jenen beiden Deutungstypen. Die Schwierigkeit in der Analyse des letzten Zitats besteht nun darin, dass es zugleich heißt, dass die theoretische Wertbeziehung eine Wertung vorbereite. Letztere könnte nun in dem Sinne missverstanden werden, dass es sich dabei um eine Wertung im Sinne einer vorwissenschaftlichen Stellungnahme handele. Das aber ist nicht gemeint. Weber fasst hier vielmehr die kausale Deutung unter den Begriff der Wertung. Diese auf den ersten Blick vielleicht überraschende Lesart lässt sich jedoch untermauern, denn Weber bezeichnet die im Medium kausaler Zurechnung verfahrende Theorie rationaler Deutung ausdrücklich auch als eine „‚Wertung‘“ (RK III, 129), worauf später zurückzukommen sein wird.¹³³ Dass Weber die wertbeziehende Interpretation der kausalen Deutung vorgeordnet verstanden wissen will, legt nicht zuletzt die Bemerkung nahe, dass die theoretische Wertanalyse die „Wegweiserin“ (KS, 251) der kausalen Deutung sei. Mit der Differenz zwischen der Wertung im Sinne einer Alltagseinstellung und der theoretischen Wertbeziehung bewegt sich Weber weitgehend in den gedanklichen Bahnen der Rickertschen Grenzen. Gleichwohl heben sich seine Ausführungen zur Wertbeziehung von denjenigen seines ehemaligen Freiburger Kollegen ab, und das betrifft nicht allein die hermeneutische Wendung der neukantianischen Werttheorie. Vielmehr geben seine Überlegungen zu erkennen, dass er nicht strikt zwischen einer stellungnehmenden Aktivität im Rahmen einer alltäglichen Ein131 Umso bemerkenswerter sind Rickerts Ergänzungen, die er in der Zweitauflage in hermeneutischer Perspektive vornimmt. Im Vorwort heißt es: „Neu hinzugekommen sind unter anderem einige Bemerkungen über das historische ‚Verstehen‘ und die Welt des ‚Sinnes‘, die verstanden wird, die darum aber nicht etwa eine reale psychische Welt zu sein braucht, wie man heute noch fast allgemein glaubt, sondern als ‚unwirklich‘ bezeichnet werden muß, und die leider von vielen noch so gut wie ignoriert wird, obwohl ihre Berücksichtigung für nahezu alle Teile der Philosophie von Bedeutung sein dürfte.“ (Rickert 1913, VIII). Dass seine Geschichtstheorie hermeneutische Implikationen besitzt, die einer genaueren Untersuchung bedürften, wird von ihm in der fünften Auflage noch deutlicher betont, vgl. Rickert 1929a, 5581. 132 Vgl. unten 2. 4. 3–8. 133 So auch in RS, 333.

82 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens stellung und der wissenschaftlichen Untersuchung möglicher Wertbeziehungen differenziert. Zwischen der Wertung und der Wertanalyse besteht für ihn kein qualitativer Unterschied, sondern lediglich ein gradueller. Er verortet jene „beiden möglichen Formen“ (RK II, 124) der Wertbeziehung in den Bereich des Subjektiven.¹³⁴ Damit aber bestreitet Weber Rickerts Annahme, dass es objektive Werte gäbe, die sich durch Allgemeingültigkeit auszeichnen würden, und damit zugleich eine Grundvoraussetzung des südwestdeutschen Neukantianismus überhaupt.¹³⁵ Der Wertbegriff ist für ihn in jedem seiner Vorkommnisse, sei es als Wertung, als Analyse möglicher Wertbeziehungen oder auch als Wertgefühl subjektiv imprägniert. Das habe Rickert nicht gesehen und deswegen – wie es in einem Brief vom 27. März 1906 an Friedrich Gottl heißt – das „logische Wesen des Werth-Beziehens (obwohl er diesen Begriff entdeckt hat) nicht genügend formuliert“ (Br II / 5, 58).¹³⁶ Weber ist also der Überzeugung, dass sich die Geltung der Werte nicht verobjektivieren lasse, und das gilt gerade unter den spezifischen Bedingungen einer wissenschaftlichen Einstellung.¹³⁷ Die Frage nach ihrer Geltung verweise auf die Ebenen der Empfindung und der Überzeugung bzw. des Glaubens (vgl. O, 152). Der für Webers Wissenschaftsverständnis signifikante Objektivitätsanspruch kommt damit im Gegensatz zur Werttheorie zu stehen. Darauf weist er in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies ausdrücklich hin, wenn er bemerkt, dass von Objektivität nur bei „Abstraktion von allen Wertbeziehungen“ (RK II, 53) die Rede sein könne. Gleichwohl bleibt die Wertbeziehung eine unabdingbare subjektive Voraussetzung kulturwissenschaftlicher Reflexion (vgl. O, 182), denn nur durch sie lasse sich das Problem der Stoffauswahl und damit einhergehend das der Konstitution historischer Individuen lösen.¹³⁸ Der Aufbau der historischen Wirklichkeit

134 Dieser Gesichtspunkt ist von ihm in besonderer Weise im Objektivitätsaufsatz (vgl. O, 149. 182f. 212) betont worden, vgl. auch KS, 252. 258. 260. 135 Es geht also nicht um die „objektive Existenz“ von Werten, sondern um deren „objektive Geltung, und das kann nur bedeuten: subjektunabhängige Geltung.“ (Schnädelbach 2004, 257). 136 Wie in der Weberforschung hin und wieder angenommen wird, ist Webers Unbehagen gegenüber der Rickertschen Fassung der Wertbeziehung in deren metaphysischen Implikationen begründet. Weber nimmt Rickert jedoch gegenüber diesem Vorwurf ausdrücklich in Schutz. In einem Schreiben an Gottl (28. März 1906) heißt es, dass bei Rickert „metaphysische Prämissen durchaus fehlen.“ (Br II / 5, 63). 137 Die „Erkenntnistheorie der Geschichte konstatiert und analysiert die Bedeutung der Beziehung auf Werte für die historische Erkenntnis, aber sie begründet die Geltung der Werte ihrerseits nicht.“ (RK II, 47). 138 Darauf kommt Weber in einem Brief an Friedrich Gottl vom 23. März 1906 ausdrücklich zu sprechen: „Darin stecken doch alle Probleme des ‚Wesentlichen‘, die eben nur durch die ‚Werthbeziehung‘ deutbar sind. Oder gibt es selbständige Naturbedeutungen? – Es scheint mir, daß Rickert doch ganz recht hatte, ‚mit der Thür ins Haus zu fallen‘, wie Sie es ausdrücken, denn

2.4 Methoden der Deutung | 83

im Medium der wertbeziehenden Interpretation fällt für Weber aber nicht in den Bereich der empirischen Wirklichkeitsanalyse. Vielmehr sieht er darin eine „geschichtsphilosophische Leistung“ (RK III 122; vgl. auch KS, 254), die von jener strikt unterschieden werden muss. Webers Verhältnis zu Rickerts wertphilosophischem Ansatz fällt somit ambivalent aus. Einerseits knüpft er aus besagten Gründen in konstruktiver Absicht daran an, andererseits hält er ihn unter erfahrungswissenschaftlichem Blickwinkel betrachtet für nur begrenzt plausibilisierbar, was nicht zuletzt die Grenzen der Objektivierbarkeit betrifft. Damit eröffnet sich zugleich die Möglichkeit, den Einwand zu konkretisieren, den Weber – unter dem Eindruck seiner Lektüre der Grenzen – seiner Frau mitgeteilt hatte: er hege gegen die Terminologie Bedenken.¹³⁹ Dieser Einwand ist nun aller Wahrscheinlichkeit nach auf Rickerts Wertbegriff gemünzt, von dem er im Objektivitätsaufsatz sagt, er sei das „Schmerzenskind[] unserer Disziplin“ (O, 209f).¹⁴⁰ Aber auch wenn die Wertbeziehungslehre in Webers erkenntnistheoretischen und methodologischen Überlegungen ab 1906 mehr und mehr zurücktritt, darf daraus nicht geschlossen werden, dass sich für ihn die damit verbundenen Sachprobleme erübrigt hätten. Dass dies mitnichten der Fall ist, lässt sich an einem nicht minder signifikanten Begriff seines Denkens verdeutlichen. Es handelt sich um den des Interesses. Dass zwischen dem Begriff des Interesses und dem des Werts eine Wahlverwandtschaft besteht, legen die frühen methodologischen Schriften der Jahre 1903– 1906 nahe, in denen beide Begriffe eng miteinander verflochten sind. In besonders anschaulicher Weise bestätigen das die Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906).¹⁴¹ In dieser Abhandlung lässt sich einerseits der direkte Zusammenhang des Interessens- und des Wertbegriffs identifizieren.¹⁴²

ohne dies bleiben eben doch alle Ausführungen über die Prinzipien der Individuation vollkommen in der Schwebe: es fehlt irgendwo immer noch etwas, man sieht nicht, warum wir uns für die individuelle Gestaltung dieser ‚Gebirgszüge‘ etc. denn eigentlich interessieren, ob dafür die naive Thatsache, daß sie uns ‚in die Augen fallen‘, der letzte Grund ist oder was sonst, und immer wieder entsteht die Vorstellung, daß es der Stoff sei, der das ‚Individuum‘ produziere.“ (Br II / 5, 65, vgl. auch RK II, 54). 139 Weber 1984, 273. 140 Die Herausgeber der von Weber selbst publizierten Teile von Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe gehen hingegen davon aus, dass hier der ökonomische Wertbegriff gemeint sei, vgl. Soz, 2161. 141 Damit bewegt sich Weber in sachlicher Nähe zu Simmels Problemen der Geschichtsphilosophie, in denen der Wertbegriff ebenfalls durch den des Interesses ergänzt und substituiert wird, vgl. PdG, 372–393. 142 „[D]ie Qualität des ‚politischen‘ Vorgangs teilt das Kannegießern eines Philisters beim Dämmerschoppen mit demjenigen Komplex von bedrucktem und beschriebenem Papier, Schallwellen,

84 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Interessen sind für Weber per se als wertbezogen vorzustellen, wodurch sie – mit Habermas formuliert – erkenntnisleitend sind. Andererseits lassen sich in diesen Studien Passagen ausfindig machen, in denen er die methodische Funktion der Wertbeziehungslehre auf den Begriff des historischen Interesses überträgt und in diesem Zusammenhang die werttheoretischen Grundlagen desselben zumindest terminologisch unterdrückt: „Die Möglichkeit einer Auslese unter der Unendlichkeit der Determinanten ist nun zunächst durch die Art unseres historischen Interesses bedingt.“ (KS, 271f) Sachlich ist damit zweifelsohne nichts anderes als das Problem der Stoffauswahl bezeichnet, das Weber zuvor mittels der Wertbeziehungslehre zu beantworten versuchte. Dass das Interesse seinerseits einen Wertbezug impliziert, bleibt hier aber unausgesprochen. Die einzig ausführlichere Passage, in der Weber nach 1906 noch einmal den Zusammenhang von Wert- und Interessensbegriff zu erkennen gibt und im gleichen Atemzug auf das Problem der Stoffauswahl zu sprechen kommt, findet sich in der 1917 veröffentlichen Abhandlung Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften.¹⁴³

Körperbewegungen auf Exerzierplätzen, gescheiten oder auch törichten Gedanken in den Köpfen von Fürsten, Diplomaten usw., welche ‚wir‘ zu dem individuellen Gedankenbilde ‚Deutsches Reich‘ zusammenschließen, weil ‚wir‘ ihm ein bestimmtes für ‚uns‘ durchaus einzigartiges, an zahllosen ‚Werten‘ (nicht nur ‚politischen‘) verankertes ‚historisches Interesse‘ zuwenden.“ (KS, 253) Diesen Zusammenhang stiftet Weber auch in einer Passage zu Roscher und Knies: „m. a. W. das Eingreifen jener Wertungen, an denen unser geschichtliches Interesse verankert ist, läßt aus der Unendlichkeit der an sich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das eine Mal gleichgültige Ergebnisse, das andere Mal aber eine bedeutungsvolle, d. h. in bestimmten Bestandteilen von jenem historischen Interesse erfaßte und gefärbte Konstellation entstehen.“ (RK II, 50). 143 Dort erinnert Weber daran, „daß der Ausdruck ‚Wertbeziehung‘ lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ‚Interesses‘ meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht.“ (SdW, 511, vgl. auch 512f) Die Tendenz zur Ausklammerung werttheoretischer Figuren lässt sich schließlich an einer der berühmtesten Formulierungen aus der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen verdeutlichen, in der es heißt: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“ (E, 101) Das Verhältnis von Interessen und Ideen erfährt hier gegenüber demjenigen von Interessen und Werten dahingehend eine Zuspitzung, dass beide Begriffe als in einem wissenssoziologisch spezifizierbaren Wechselbedingungszusammenhang stehend vorgestellt werden. Gleichwohl spiegelt sich in dieser Formulierung die für die frühen methodologischen Schriften Webers signifikante Relation von Interessen und Werten wider. Statt von Wertideen ist nun aber bloß von Ideen die Rede. Während sich der Interessensbegriff in Webers Werk bis in das Spätwerk hinein durchhält, tritt dessen ursprüngliches Korrelat – der Begriff des Werts – in den Hintergrund. Die werttheoretischen Implikationen jenes Zitats werden auch von Johannes Weiß

2.4 Methoden der Deutung | 85

Hatten schon die Erörterungen zum Sinnbegriff Webers deutlich gemacht, dass in werkgenetischer Perspektive werttheoretische Begründungsfiguren immer weiter zurücktreten, so lässt sich im Rahmen seines Versuchs, Rickerts Wertbeziehungslehre in hermeneutischer Perspektive fruchtbar zu machen, ein ganz ähnlich gelagertes Ergebnis festhalten. Zwar sieht Weber in dieser Theorie ein geeignetes Instrument dafür, den Problemen der Stoffauswahl und der Konstitution historischer Individualitäten Herr zu werden. Was aber die Frage betrifft, ob die Werttheorie dazu geeignet ist, menschliches Handeln zu deuten, so setzt sich in den methodologischen Schriften der Jahre 1903–1906 zunehmend die Einsicht in die verstehenstheoretischen Grenzen dieser Lehre durch.

2.4.2 Das nacherlebende Verstehen Hugo Münsterberg lernte Weber in dessen Freiburger Zeit kennen und zählte seitdem – wie Marianne Weber notiert – zum weiteren Freundeskreis des Nationalökonomen.¹⁴⁴ Nachdem sich der Psychologe im Jahre 1897 endgültig dazu entschlossen hatte, an der Harvard University zu forschen und zu lehren, kreuzten sich die Wege beider Gelehrten erst während eines von diesem mitorganisierten Kongresses wieder, der im Jahre 1904 parallel zur Weltausstellung im US-amerikanischen St. Louis veranstaltet wurde.¹⁴⁵ Ein Jahr später setzte sich Weber dann in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies mit Münsterbergs Grundzügen der Psychologie (1900) auseinander. Neben Rickerts Grenzen, die seine Überlegungen beinahe durchgängig begleiten, wird in Roscher und Knies kein anderes Werk so ausführlich behandelt wie dieses.¹⁴⁶ Als Grund für die intensive Beschäftigung wird von Weber ausdrücklich festgehalten, überprüfen zu wollen, ob Münsterbergs Beitrag kenntlich gemacht, vgl. Weiß 1992, 43f. Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass die Diskussion um das Begriffspaar „Idee und Interesse“ maßgeblich von Karl Marx in Gang gesetzt wurde, der es schon in seinen frühen Schriften in das Zentrum seiner sozialökonomischen Analysen stellte, vgl. Marx 1971, 319–321. 144 Vgl. Weber 1984, 216. 145 Münsterberg hatte Weber auf Anregung Georg Jellineks (1851–1911) in die USA eingeladen, vgl. dazu Graf 1995, 22015. Zu Webers USA-Aufenthalt vgl. Weber 1984, 292ff; Kaube 2014, 190ff. 146 Auch wenn er Münsterbergs Abhandlung bescheinigt, geistvoll zu sein, kann es sich Weber nicht verkneifen, im gleichen Atemzug anzumerken, dass bei einzelnen Ausführungen auch der „Nichtpsychologe den Kopf schütteln“ (RK II, 711) dürfte. Seine ambivalente Einschätzung deutet er auch in einem an seinen Bruder gerichteten Brief vom 9. November 1912 an, in dem er auch auf seinen Aufsatz zu Roscher und Knies Bezug nimmt: „Der |:ohne Concurrenz:| bedeutendste philosophische Kopf der Psychologen ist Münsterberg, – nicht wegen der ‚Welt der Werte‘ und |:vollends nicht wegen:| seiner (fatalen) populären Schriften, sondern wegen seiner ‚Psychologie‘, deren |:erster,:| logischer, Teil, auch von mir s. Z. scharf angegriffen, dennoch direkt genialische

86 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens „dem von uns bisher noch gar nicht näher analysierten Begriff der ‚Deutung‘ eine prinzipielle Grundlage geben“ (RK II, 71) könne. Auch wenn Weber sich nicht der Position des Psychologen angeschlossen hat, ist es gleichwohl für das Verständnis seiner eigener Verstehenstheorie erhellend, die von ihm formulierte Kritik an jenem zu berücksichtigen. Sein Deutungsbegriff lässt sich auf diesem Wege gleichsam ex negativo konturieren. Bevor Webers Beschäftigung mit Münsterbergs Grundzügen thematisch wird (b), gilt es jedoch zunächst auf die für die Hermeneutik einschlägigen Passagen dieser psychologischen Untersuchung zu sprechen zu kommen (a). a) Hugo Münsterberg, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, war um 1900 ein bedeutender Vertreter des intellektuellen Feldes, das um eine Standortbestimmung der Psychologie im Spannungsgebiet von Natur- und Geisteswissenschaften rang.¹⁴⁷ Seine Arbeiten hatten nicht nur Einfluss auf die Debatten seiner eigenen Disziplin, sondern wirkten bis in die Philosophie, Historiographie, Theologie und Nationalökonomie hinein. Das gilt in besonderer Weise auch für den gerade erwähnten ersten Band der Grundzüge der Psychologie, der im Jahre 1900 erschien und seinem Kollegen William James gewidmet war.¹⁴⁸ Unter Berufung auf Kant unternimmt dieses Werk den Versuch einer Kritik der Psychologie. Münsterberg verfolgt den Zweck, „eine erkenntnistheoretische Grundlage für die empirische Psychologie zu gewinnen“ (GdP, XXIII), was zugleich bedeute, dieselbe mit den Mitteln philosophischer Reflexion auf ihre Aufgabe, ihren Gegenstandsbereich, ihr Ziel, ihre Methoden sowie ihre Grundlagen und Grenzen hin zu durchdringen (vgl. GdP, 2). Züge zeigt“ (Br II / 7, 737f; vgl. auch Br II / 4, 512). Auch in dieser Beurteilung stimmt er mit Rickert überein, der zum Ende seiner Rezension dieses Werks festhält: „Selbstverständlich konnten nur die leitenden Grundgedanken des umfangreichen Werks angedeutet werden, und vollends ist zu einer kritischen Stellungnahme hier kein Platz. Das Buch ist viel zu eigenartig, um eine Berurtheilung in wenigen Sätzen zu gestatten. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Viele mit Allem, was es enthält, einverstanden sein werden, ja Manches muss energischen Widerspruch hervorrufen. Aber es ist ebenso unwahrscheinlich, dass Jemand, der das Werk gründlich studirt und den Sinn der bisweilen – vielleicht absichtlich – etwas paradoxen Terminologie verstanden hat, nicht eine Menge von Anregung daraus gewinnen sollte.“ (Rickert 1901, 846). 147 Einen prägnanten – teilweise aber kriegspropagandistisch ausgerichteten – Überblick über Münsterbergs Leben und Werk bietet Max Dessoirs 1917 geschriebenes Geleitwort zur zweiten Auflage der Grundzüge der Psychologie, vgl. Dessoir 1918, V–XVIII. 148 Max Dessoir, der diese Widmung in die von ihm besorgte Zweitauflage der Grundzüge nicht mitaufgenommen hat, teilt in seinem Geleitwort zu dieser Auflage mit, Münsterberg habe 1913 an seinen Verleger geschrieben, ein sechsbändiges System der Psychologie verfassen zu wollen: „der erste Band sollte in der neuen Auflage der ‚Grundzüge‘ bestehen; der zweite sollte die Individualpsychologie, der dritte die Sozialpsychologie, der vierte die ‚Seelenlehre‘ bringen; der fünfte war für die Kulturpsychologie und der sechste für die Psychotechnik vorbehalten.“ (Dessoir 1918, X).

2.4 Methoden der Deutung | 87

Die Überlegungen gehen von der Frage nach dem Verhältnis von Geisteswissenschaften und Psychologie aus. Die von ihm innerhalb seiner Disziplin ausgemachte „Durchschnittsauffassung“ (GdP, 10. 15), dass die Psychologie die „Grundlage der Geisteswissenschaften“ (GdP 10) sei, wird von ihm – ähnlich wie in Rickerts Grenzen – vehement bestritten.¹⁴⁹ Für diese Abgrenzung ausschlaggebend ist die Annahme, dass die Psychologie mit den Mitteln „empirischer Beschreibung und Erklärung der elementaren Bewußtseinserscheinungen“ (GdP, 10) operiere. Münsterberg bestreitet nun nicht, dass ein solcher Zugriff auf das Geistesleben möglich wäre. Wenn dieser aber erfolge, stehe er notwendig unter den Prämissen eines naturwissenschaftlichen Methodenideals. Letzteres spezifiziert Münsterberg als ein solches, das von der subjektiven Konditioniertheit des Bewusstseinslebens absehe und letzteres ausschließlich objektiviere. Daher plädiert er dafür, die Psychologie, wenn sie auf exakt diese Weise verfahre, wissenschaftssystematisch unter die Naturwissenschaften zu subsumieren. Das aber bedeutet zugleich, dass es für Münsterberg ausgeschlossen ist, in ihr die Grundlage der Geisteswissenschaften erkennen zu können.¹⁵⁰ Den Geisteswissenschaften bescheinigt er demgegenüber einen ganz eigenen Zugang zum Geistesleben. Die Ausdrucksgestalten des letzteren werden dort als Funktionen des Subjekts aufgefasst. Die Bearbeitung mentaler Vorkommnisse durch die Nicht-Naturwissenschaften setzt dementsprechend Methoden der Subjektivierung voraus, als deren Zentraloperationen „Verstehen und Bewerten“ (GdP, 14) zu gelten haben. In Abgrenzung von einer naturwissenschaftlichen – bzw. genauer – von einer psychologischen Untersuchung von Vorgängen des Bewusstseins, kommt Münsterberg zu dem Ergebnis: Das Geistesleben, das uns umgibt, das uns beeinflußt und das auf unser Wollen einwirkt, interessiert uns zunächst gar nicht in Bezug auf seine Zusammensetzung und Entstehung, sondern lediglich mit Rücksicht auf seinen Sinn und seinen Wert. Es ist somit von vornherein unrichtig, die Beschreibung und Erklärung, an Stelle der Interpretation und Würdigung, für die natürliche Betrachtungsart des Geisteslebens zu halten.¹⁵¹ (GdP, 13f)

149 Vor diesem Hintergrund ist Webers Kritik an dem Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853– 1932) zu verstehen, dem gegenüber er bemerkt: „Man mag zu der Psychologie von Münsterberg als Ganzem stehen wie immer, – für Ostwald wären immerhin einige ihrer Kapitel eine recht nützliche Lektüre.“ (EK, 413) Weber wirft Ostwald, dem „‚Energetiker‘“, vor, die logischen Eigengesetzlichkeiten der Natur- und der Geisteswissenschaften sträflich vernachlässigt zu haben. 150 In dieser disziplinären Grenzziehung sieht er sich dem Grundsatz Kants verpflichtet, es sei keine „‚Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt‘“ (GdP, 4). 151 „Die subjektivierenden Disziplinen können es nur mit dem Verstehen und Würdigen zu tun haben.“ (GdP, 35) Die Frage, wie sich die Operationen des Verstehens und Würdigens zueinander

88 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Der hermeneutischen und der evaluativen Dimension geisteswissenschaftlicher Erkenntnis weist Münsterberg korrelative Ausdrücke zu. Das Verstehen verknüpft er mit dem Begriff des Sinns und das Bewerten mit dem des Werts. Vor allem in ersterem deutet sich sein Verständnis des psychischen bzw. geistigen Lebens an, das er in einem Brief an Max Dessoir prägnant formuliert hat: „Das Seelenleben ist Geist und will in seinem Sinn verstanden werden.“¹⁵² (GdP, XI) Damit sind zentrale Bestimmungen der „Wissenschaftslehre“¹⁵³ (GdP, 13) Münsterbergs in einem ersten Zugang zur Sprache gekommen. Im Zentrum der naturwissenschaftlichen Erkenntnis stehen die objektivierenden Operationen des Beschreibens und Erklärens und in der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis einerseits das Verstehen und andererseits die Würdigung. Allerdings ist das Augenmerk bislang auf den jeweils unterschiedlichen subjektivitätstheoretischen bzw. – wie sich noch zeigen wird – egologischen Status in der Konzeptualisierung beider Wissenschaftsbereiche gelegt worden. Damit ist ihre Differenz aber noch nicht hinreichend markiert. Denn diese betrifft nicht allein Fragen der Methodologie. Vielmehr weichen sie auch in ontologischer Perspektive grundlegend voneinander ab (vgl. GdP, 35. 42. 45 u. ö.).¹⁵⁴ Worin diese Differenz genau besteht, ist nun in den Blick zu nehmen. verhalten, ob sie aufeinander aufbauen und ineinander verschränkt sind, beantwortet Münsterberg nicht. 152 Münsterbergs Verständnis des Sinnbegriffs lässt sich nicht ohne Weiteres entschlüsseln. Seine Ausführungen vermitteln jedoch den Eindruck, dass unter dem Sinnbegriff eine allgemeine geisteswissenschaftliche Kategorie zu verstehen ist, unter die die verschiedenen Artikulationsgestalten des psychischen Lebens eines Subjekts subsumiert werden. Insofern das Subjekt bei Münsterberg im weitesten Sinn als ein praktisches und das heißt für ihn stellungnehmendes Ich begriffen werden muss, scheint der Aufbau der Sinndimension in solchen Verhaltensweisen begründet zu sein. Sinn bezeichnet all das, was in den stellungnehmenden Akten eines praktischen Ich seine Wurzeln hat. Naturwissenschaftlichen Zugangsweisen ist das, wofür der Sinnbegriff steht, nicht zugänglich. Vielmehr handelt es sich Münsterbergs Auffassung nach um einen Gegenstandsbereich sui generis, dessen allein die Geisteswissenschaften im verstehenden Zugriff habhaft werden. 153 Auch an diesem Begriff zeichnet sich ab, dass Münsterberg unter dem Eindruck der Fichterenaissance steht, die in besonderer Weise durch Rickerts Säkularbetrachtung Fichtes Atheismusstreit und die kantische Philosophie (1899) angeschoben wurde, die dieser aus Anlass des hundertsten Jahrestages des Atheismusstreites publiziert hatte (vgl. Medicus 1930, 498f). Nicht zuletzt die Zielperspektive von Münsterbergs Untersuchung spiegelt diesen Einfluss wider: „Mein Thema ist die Synthese von Fichte’s ethischem Idealismus mit der physiologischen Psychologie unserer Zeit.“ (GdP, XXIV). 154 Dass nicht die Methodologie den Ausschlag gibt, betont Münsterberg im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Windelband und Rickert. Zwar stimmt er ihnen im Hinblick auf die naturwissenschaftliche Verortung der Psychologie ausdrücklich zu. Die Trennung der Wissenschaftsbereiche in nomothetisch und idiographisch lehnt er indes ab, weil es seiner Auffassung nach die Naturwis-

2.4 Methoden der Deutung | 89

Mit der Methode der Subjektivierung korrespondiert ein spezifischer, lebensphilosophisch ausgerichteter Gegenstandsbereich. Münsterberg führt aus, dass es die Geisteswissenschaften mit einer „ursprünglichen Wirklichkeit“ (GdP, 45) zu tun hätten. An anderer Stelle bestimmt er diese als das „pulsierende Leben“ (GdP, 37), in dessen Zentrum das „aktuelle Ich“ (GdP, 73) stehe. Dieses Ich sei das allein „wirkliche“ (GdP, 50) und müsse als „stellungnehmende Aktivität“ (GdP, 50) begriffen werden. Damit ist angezeigt, dass in Münsterbergs Verständnis des aktuellen, stellungnehmenden Ich willenstheoretische und wertphilosophische Elemente verschmolzen sind, wobei an ersteren die Anknüpfung an Fichte und an letzteren der Einfluss des Neukantianismus sichtbar wird. Der voluntativen und evaluativen Dimension geistigen Lebens bescheinigt Münsterberg explizit den Primat innerhalb der Wirklichkeitsauffassung: Logisch primär bleibt diese Welt der Werte, in der es kein Sein, sondern nur ein Gelten, kein Werden, sondern nur Aktualität, kein Vorfinden, sondern nur ein Anerkennen oder Verwerfen, kein passives Wahrnehmen, sondern nur teilnehmendes Erleben, kein Physisches und Psychisches, sondern nur stellungnehmende Subjekte und ihnen zugehörige Objekte gibt und wo das Ziel des Lebens nicht physische oder psychische Inhalte sind, sondern das Auswirken freier Bewertung.¹⁵⁵ (GdP, 53)

Um alles, was ist, in dieser ursprünglichen Bedeutung fassen zu können, müsse es in seiner Beziehung zum aktuellen, stellungnehmenden Ich wahrgenommen werden. Das aber – so Münsterbergs These – sei ausschließlich den Geisteswissenschaften vorbehalten. Die mittels Beschreibung und Erklärung sich vollziehende Objektivierung der ursprünglichen Wirklichkeit bildet für ihn hingegen eine mas-

senschaften durchaus auch mit dem Individuellen und die Nicht-Naturwissenschaften mit dem Allgemeinen zu tun haben (vgl. GdP, 34). Diese Einschätzung erweist sich aber gerade Rickerts Grenzen gegenüber als zu holzschnittartig. 155 Indem der Psychologe die Welt des praktisch-wertenden Ich mit dem Geltungsbegriff koordiniert, nimmt er gleichermaßen eine Grundeinsicht des südwestdeutschen Neukantianismus auf, wonach Werte sich durch den Status des Geltens auszeichnen. Die Wirklichkeit losgelöst von dieser Beziehung zu betrachten, bezeichnete für Münsterberg bereits eine Abstraktion und damit zugleich den ersten Schritt hin zu deren Objektivierung. Diese Auffassung bezieht er sodann auf von Menschen hervorgebrachte „Bewegungen, hörbare Laute, sichtbare Zeichen“. Denn „was sie durch Gesten oder gesprochene, geschriebene, gedruckte Worte darbieten, ist uns nicht Sehobjekt und nicht Hörobjekt, sondern Aufforderung, die erfüllt oder abgelehnt, Behauptung, die anerkannt oder bestritten werden muß, und treten wir selbst mit Aussagen den andern gegenüber, so sind es wieder nicht Lautobjekte, auf die wir hinzielen, sondern Urteile, für die wir Anerkennung fordern.“ (GdP, 53). Dementsprechend begegnen sich Menschen auch nicht als „psychophysische Individuen“, sondern als „stellungnehmende Subjekte, die einander nicht vorfinden, sondern anerkennen“. (GdP, 55).

90 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens sive Umformung derselben, gilt ihm diese Realität doch als unbeschreiblich und unvergleichbar (vgl. GdP, 24f). Ausgehend von dieser Spezifikation des Gegenstandsbereichs geisteswissenschaftlicher Analysen nimmt Münsterberg eine weitere Konkretisierung ihrer Methode vor und fragt nach einem diesem Wirklichkeitsverständnis angemessenen Zugang. Diese Überlegungen sind von der Überzeugung getragen, dass man jenes Ichs nur dann adäquat habhaft werde, wenn es in einer Weise repräsentiert wird, die nicht auf Kosten seiner Aktuosität geht. Der einzig und allein in Frage kommende Repräsentationsmodus ist für ihn das Erlebnis. Die sich in der stellungnehmenden Aktivität des Ich aufbauende ursprüngliche Wirklichkeit könne in ihrer unteilbaren Einheit nur „nachgefühlt, nachempfunden, erlebt“ (GdP, 31) werden. Diese affektive und erlebnistheoretische Dimension wird von Münsterberg sodann mit den bereits angeführten Ausdrücken Verstehen und Würdigen koordiniert. Wie sich beide Dimensionen zueinander verhalten, lässt sich aus seinen Ausführungen nicht ganz deutlich entnehmen. Es hat jedoch den Anschein, dass das Erleben dem Verstehen und Würdigen zugrunde liegt (vgl. GdP, 32. 90. 106. 131). Die ursprüngliche Wirklichkeit des aktuellen, stellungnehmenden Ich lässt sich nur im Medium unmittelbaren Erlebens fassen und auf dieser erlebnismäßigen Erfassung bauen die Akte des Verstehens und Würdigens auf. Der Gesamtzusammenhang von Erleben, Verstehen und Würdigen steht schließlich im Mittelpunkt geisteswissenschaftlicher Analysen und bezeichnet genau das, was Münsterberg unter „Subjektivieren“ (GdP, 62) begreift. Das Subjektivieren steht in schroffem Gegensatz zu Formen der objektivierenden Erkenntnis. Den Status eines Objekts erlange die ursprüngliche Wirklichkeit erst in dem Augenblick, in dem von der aktuellen Stellungnahme eines Ich auf ein Nicht-Ich abgesehen werde (vgl. GdP, 25f). Die Mittel der begrifflichen Analyse, die Einbettung von Ereignissen in einen Kausalzusammenhang ermöglichten zwar die Beschreibung und Erklärung von Vorgängen, doch gingen diese Methoden auf Kosten der ursprünglichen Wirklichkeit, insofern sie die Dinge unter Absehung ihrer primären Beziehung zum aktuellen, stellungnehmenden Ich analysierten, das aber in seiner unzerteilbaren Einheit allein dem Erleben zugänglich sei.¹⁵⁶ Das begrifflich-kategoriale Erkennen jedoch zerlege und zergliedere jenen „Zusammenhang der Akte unseres aktuellen Ich“ (GdP, 31), wodurch es sich von letzterem

156 Das geistige Leben eines Subjekts bezeichnet für Münsterberg eine „innere Einheit“, die ihrerseits teleologisch begründet ist (GdP, 45, vgl. auch 32. 35). Unter dem Blickwinkel der Teleologie betrachtet, erscheint die ursprüngliche Wirklichkeit als „ein System von Absichten und Zwecken“ (GdP, 14), das auf den freiheitlichen Akten von Subjekten beruht. „Wer Zwecke setzt, ist frei.“ (GdP, 14). Wird diese teleologisch begründete Einheit des Subjekts objektiviert, besitzt es einen von der ursprünglichen Wirklichkeit abweichenden ontologischen Status.

2.4 Methoden der Deutung | 91

und damit von der Wirklichkeit entfremde. Beides in ein und demselben Akt zu leisten, hält Münsterberg für ausgeschlossen.¹⁵⁷ Dieses Urteil ist nicht zuletzt in der ontologischen Differenz im Gegenstandsbereich der Natur- und Geisteswissenschaften begründet. Durch sie sei eine unüberbrückbare Kluft zwischen den subjektivierenden und objektivierenden Wissenschaften gezogen (vgl. GdP, 143). Und genau auf diesen Aspekt sollte Max Weber kritisch zu sprechen kommen. Bevor aber diese Kritik nachvollzogen wird, sollen zunächst die Theoriedimensionen von Münsterbergs Grundzügen ausgelotet werden, die Weber seinen eigenen Theorieinteressen entsprechend in konstruktiver Weise aufgreifen konnte. b) Positiv knüpft Weber an Münsterbergs Beurteilung der Psychologie an, die über weite Strecken mit Rickerts Überlegungen zu diesem Thema übereinstimmt: die Psychologie besitzt den enzyklopädischen Status einer Naturwissenschaft, was prinzipiell ausschließt, sie – wie es Dilthey versucht hat – zur geistes- oder kulturwissenschaftlichen Leitdisziplin zu erheben. Diese Annahme wird auch – wie schon gezeigt wurde – von Weber geteilt. Darüber hinaus nimmt er – und das mag auf den ersten Blick überraschend sein – in durchaus konstruktiver Absicht auf das Konzept des nacherlebenden Verstehens Bezug. Denn allen Vorbehalten gegenüber den subjektivierenden Wissenschaften zum Trotz bescheinigt er den für sie typischen hermeneutischen Operationen, Formen deutenden Verstehens zu sein. So spricht er von einer nacherlebenden Deutung (vgl. RK II, 85; RK III, 136) und einem einfühlenden Verstehen (vgl. RK III, 136). In diesen Bereich subjektivierender Deutungsoperationen gehört auch die subjektive, gefühlsmäßige Deutung (vgl. RK III, 122). Doch nicht nur in den frühen methodologischen Schriften nimmt er darauf Bezug. Gleiches gilt für den Kategorienaufsatz und die Soziologischen Grundbegriffe, in denen davon die Rede ist, bestimmte Motivlagen durch „einfühlende Phantasie nacherlebend verständlich“ zu machen bzw. „emotional nachzuerleben“ (Soz, 152). Er bescheinigt dem Gefühl, für die psychologische Entstehung einer Erkenntnis im Geist des Historikers „unentbehrlich“ (RK III, 119) zu sein und hält ergänzend fest: „durch bloßes Hantieren mit ‚Wahrnehmungen‘ und ‚Begriffen‘ ist noch keinerlei wertvolle historische, aber auch keinerlei Erkenntnis irgendwelcher andern Art, ‚geschaffen‘ worden.“ (RK III, 119) Die „Möglichkeit ‚innerer‘ ‚Nachbildung‘ der Motivation in der Phantasie“ (RK II, 70) sei für das Verstehen menschlichen Handelns unabdingbar.¹⁵⁸

157 „Wir verstehen die innere Verbindung der unbeschreibbaren Erlebnisse oder wir beschreiben Objekte, für die es nur die äußere Verbindung durch das Gesetz gibt; eines oder das andere: beides zugleich in einem Akt ist unmöglich.“ (GdP, 31). 158 Vor diesem Hintergrund betrachtet, sind die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Verstehensoperationen fließender als Klaus Lichtblaus Formulierung suggeriert, wonach die Kausalitäts-

92 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Doch so bemerkenswert Webers positive Veranschlagung dieser Methode ist, so signifikant ist die Depotenzierung ihrer Relevanz für die eigene Methodologie. Denn es handelt sich dabei keineswegs um ein Verfahren, das im Zentrum seiner Verstehenstheorie steht. Vielmehr stellt sie eine – so könnte man sagen – Hilfsmethode dar.¹⁵⁹ Diese Einschätzung klingt in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies deutlich an, wenn er bemerkt, dass das nacherlebende Verstehen „in den Dienst ‚objektivierender‘ Erkenntnis“ (RK II, 91, vgl. auch RK II, 95) trete.¹⁶⁰ Webers Beurteilung des nacherlebenden Verstehens steht damit im Gegensatz zu Münsterbergs Verständnis desselben. Versuchte jener diese Methode von jedweden Formen der Objektivation frei zu machen, dreht Weber den Spieß um, ohne damit zu beanspruchen, den Boden der Kulturwissenschaften verlassen zu haben, was die Rede von der objektivierenden Erkenntnis suggerieren könnte. Letztere steht zunächst einmal für nichts anderes als eine kategorial bestimmte Erkenntnis und

dimension die „untere Schwelle des historischen Verstehens“ (Lichtblau 1994, 536) darstelle. Dafür spricht auch eine Formulierung aus der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies. Unabhängig davon, wie der Deutungsbegriff gefasst wird, hält Weber fest: „Es ist schon rein faktisch nicht generell richtig, daß die Gewinnung historischer Erkenntnis mit der ‚Deutung‘ einsetzt. Die Rolle ferner, welche unsere ‚historische‘ oder allgemeiner: deutende Phantasie in der ‚Erschließung‘ geschichtlicher Hergänge spielt, fällt auf dem Gebiet des physikalischen Erkennens z. B. etwa der ‚mathematischen Phantasie‘ zu, und die Erprobung der so gewonnenen Hypothesen – denn darum handelt es sich hier und dort – ist ein, logisch betrachtet, keineswegs prinzipiell verschiedener Vorgang. Ranke ‚erriet‘ die geschichtlichen Zusammenhänge ganz ebenso wie Bunsens ‚Experimentierkunst‘ an ihm als die spezifische Grundlage seiner Erfolge bewundert zu werden pflegt.“ (RK II, 98, vgl. auch WB, 81f). Den Stellenwert des Phantasiebegriffs in Webers Methodologie hat der französische Politikwissenschaftler und Soziologe Julien Freund ausgelotet, vgl. Freund 1994, 473–490. Ganz ähnlich wie bei Weber heißt es in Diltheys Nachlass: „In der Natur dieser Individuen liegt ein zweites methodisches Hilfsmittel der Forschung. Die Gemüts- und Willenskräfte in ihnen sind so gleichartig, so sehr der mannigfachen Entwicklungen fähig, daß wir durch einen Vorgang der Phantasie die Motivation für eine jede Art von Handlungen nachzubilden im Stande sind. Indem wir nacherleben, verstehen wir, und so vermögen wir erstlich die dürftigen Nachrichten aus der Vergangenheit wieder zu beleben.“ (Dilthey 2000, 49) Vgl. dazu Johach 1974, 20. 159 Auch hier scheint Weber dem Denken Rickerts geistesverwandt, bemerkt dieser doch auf die philosophische Strömung des Intuitionismus bezogen, in dessen Mittelpunkt der Erlebnisbegriff steht, jener sei „im günstigsten Falle der vorwissenschaftliche Standpunkt“ (Rickert 1999c, 24). 160 In den Soziologischen Grundbegriffen heißt es ähnlich, dass das nacherlebende Verstehen „wichtige Dienste“ (Soz, 169) leiste. Dass dieses Verfahren keinen Methodenprimat besitzt, lässt sich auch folgender Formulierung entnehmen: „Die volle ‚Nacherlebbarkeit‘ ist für die Evidenz des Verstehens wichtig, nicht aber absolute Bedingung der Sinndeutung.“ (SK, 2) Thomas Schwinn setzt sich in seinem Beitrag zu Webers Verstehenstheorie auch mit dessen Methode des psychologischen Verstehens auseinander (vgl. Schwinn 1993, 583–587), blendet die Defizite, die Weber diesem bescheinigt, jedoch weitgehend aus. Das gilt auch für Webers Kritik an Münsterbergs Programm subjektivierender Wissenschaften und den damit verbundenen hermeneutischen Implikationen.

2.4 Methoden der Deutung | 93

in dieser Beziehung weichen für Weber Natur- und Kulturwissenschaften in Nichts voneinander ab. Schon vor dem Hintergrund dieser wenigen Andeutungen schält sich Webers Antwort auf die Frage heraus, ob Münsterbergs Theorie der Geisteswissenschaften seinem Deutungsbegriff ein tragfähiges Fundament geben könnte (vgl. RK II, 71). Sie muss eindeutig verneint werden. Die von Weber dafür veranschlagten Gründe gilt es nun etwas genauer in den Blick zu nehmen. Insofern diese mit einer ambivalenten Einschätzung der Erlebnis- und Affektdimension verbunden sind, die für Webers Denken insgesamt signifikant ist, bietet es sich an, zunächst diesen Gesichtspunkt zu besprechen. In seiner zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) hält er fest, dass sich das Erleben als solches durch eine „dumpfe Ungeschiedenheit“ (RK II, 104) bzw. Irrationalität auszeichne.¹⁶¹ Um diese dem Erleben unterstellte Diffusität zu überwinden, sei es erforderlich, den Erlebnisgehalt in die Urteilsstruktur zu überführen, unabhängig davon, ob das in einer alltäglichen oder in einer wissenschaftlichen Einstellung erfolge. Das unbestimmte Erleben werde auf diesem Wege begrifflich bestimmt. Zwar gesteht Weber durchaus zu, „daß jedes ‚Erlebnis‘ das Gewisseste des Gewissen sei“ (RK II, 104). Aber diese Gewissheit betreffe allein, „daß wir erleben. Was wir aber eigentlich erleben, dessen kann auch jede ‚deutende‘ Interpretation erst habhaft werden, nachdem das Stadium des ‚Erlebens‘ selbst verlassen ist und das Erlebte zum ‚Objekt‘ von Urteilen gemacht wird . . . “ (RK II, 104).¹⁶²

161 So heißt es etwa in der Protestantismusstudie pointiert: „Das religiöse Erlebnis als solches ist selbstverständlich irrational wie jedes Erlebnis.“ (PE, 28648). In problemgeschichtlicher Perspektive können von hieraus Verbindungslinien zurück zur Geistphilosophie Hegels gezogen werden. Im dritten Teil seiner Enzyklopädie, genauer im Rahmen der dort verhandelten Anthropologie setzt sich dieser mit prärationalen Seelenvermögen, allen voran mit der Empfindung auseinander. Diese bezeichnet er als „Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität“ (Hegel 1995, 97 [=§ 400]) und warnt davor, sie als ein selbst-explikatives Vermögen zu begreifen. Die „Berufung auf . . . Empfindung sei entweder ein nur Nichts-Sagendes oder vielmehr Schlechtes-Sagendes“ (Hegel 1995, 98 [=§ 400]). Der für Hegels Argumentation entscheidende Gesichtspunkt ist letztlich methodischer Natur. Vom spekulativen Standpunkt des Geistphilosophen aus gesehen, ist es, „indem niedrigere Stufen [sc. des Geistigen] betrachtet werden, nötig, um sie nach ihrer empirischen Existenz bemerkbar zu machen, an höhere zu erinnern, an welchen sie nur als Formen vorhanden sind, und auf diese Weise einen Inhalt zu antizipieren, der erst später in der Entwicklung sich darbietet“ (Hegel 1995, 17 [=§ 380]). 162 In der dritten Lieferung zu Roscher und Knies entfaltet er diesen Gesichtspunkt unter den Prämissen der nicht-theoretischen Wertbeziehung: „Diese ‚Beziehung‘ auf ‚Werte‘ ist es nun aber, – und das ist ihre in unserm Zusammenhang entscheidend wichtige Funktion, – welche zugleich den einzigen Weg darstellt, aus der völligen Unbestimmtheit des ‚Eingefühlten‘ herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist. . . . Ohne nun auf das Wesen der ‚Werturteile‘ hier noch näher eingehen zu

94 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Die Urteilsstruktur setzt für Weber notwendig „logische Operationen“ (RK III, 110) bzw. kategoriale Bestimmtheit voraus. Dieser Gesichtspunkt ist innerhalb der Weberschen Argumentation dieser Jahre deswegen von weitreichender Bedeutung, weil mit diesem wieder der Geltungs- bzw. Wahrheitsanspruch verbunden ist, den Weber innerhalb der Wissenschaften für unverzichtbar hält. Das aber bedeutet zugleich, dass es für ihn prinzipiell ausgeschlossen ist, ein nicht-objektivierendes Verfahren in den Mittelpunkt der Methodologie zu stellen. Analog dazu konstatiert er in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies gegenüber den subjektivierenden Wissenschaften: „Der Objektivierung entrinnt aber bei den auf dieses Verstehen abzielenden Disziplinen der konkrete psychische Vorgang, z. B. das ‚unmittelbar‘ verständliche ‚Wollen‘ und ebenso auch das ‚Ich‘ in seiner ‚unmittelbar‘ verständlichen ‚Einheit‘ niemals, wo immer es sich um eine wissenschaftliche Darstellung von Tatsachen handelt, zu deren Wesen es eben gehört, daß sie überindividuell als ‚objektive Wahrheit‘ gelten will.“¹⁶³ (RK II, 89) Eine geisteswissenschaftlich begründete Isolation psychisch-mentalen Lebens von Objektivität beanspruchenden Kategorien ist für Weber somit vollkommen kontraproduktiv, weil sie den Wissenschaftscharakter dieses Disziplinenbereichs untergräbt. Das Methodenideal der subjektivierenden Wissenschaften ist seiner Auffassung nach also mit dem Geltungsanspruch der Wissenschaften nicht vereinbar.¹⁶⁴ Es zeitigt den negativen Effekt, dass die „Gültigkeit aller Kategorien des ‚objektivierenden‘ Erkennens: ‚Kausalität‘, ‚Gesetz‘, ‚Begriff‘“ (RK II, 71) gegenüber dem Gegenstandsbereich geisteswissenschaftlicher Reflexion problematisch wird.¹⁶⁵ Weber aber hält es für ausgeschlossen, im Rahmen der Kulturwissenschaften nicht im Medium des Bekönnen, so ist für unsere Betrachtungen das eine jedenfalls festzustellen: daß die Bestimmtheit des [Urteils-]Inhaltes es ist, welche das Objekt, auf welches sie sich beziehen, aus der Sphäre des nur ‚Gefühlten‘ heraushebt.“ (RK III 123) Darüber hinaus führt er zur Illustration des besagten Problems ein Beispiel aus der Psychoanalyse an: „Die ‚einfühlende‘ ‚Psychoanalyse‘ einer kranken Psyche bleibt nicht nur inkommunikables Privateigentum des dafür spezifisch begabten Forschers, sondern überdies bleiben auch ihre Ergebnisse gänzlich undemonstrabel und deshalb von absolut problematischer ‚Geltung‘, solange nicht die Verknüpfung des einfühlend nacherlebten seelischen Zusammenhangs mit den aus der allgemeinen psychiatrischen ‚Erfahrung‘ gewonnenen Begriffen gelingt. Sie sind ‚Intuitionen‘ des dafür begabten Forschers ‚über‘ das Objekt, aber inwieweit sie objektiv gelten, bleibt prinzipiell unkontrollierbar und daher ihr wissenschaftlicher Wert durchaus unsicher.“ (RK III, 1111). 163 Weber redet hier nicht der Auffassung das Wort, wonach die Erkenntnisse wissenschaftlicher Reflexion per se diesen überindividuellen Geltungsstatus besitzen. Eine solche Annahme stünde im Widerspruch zu seinem ein Jahr zuvor erschienenen Objektivitätsaufsatz (1904). Vielmehr ist nur vom Geltungswillen die Rede. 164 Auf das Geltungsproblem wird später zurückzukommen sein, vgl. 2. 4. 7. 165 Ebenso hält Otto Ritschl (1860–1944) gegenüber Münsterberg fest: „Insbesondere wird ihnen [sc. den Geisteswissenschaften] jedes Recht darauf abgesprochen, die Causalbetrachtung als ein

2.4 Methoden der Deutung | 95

griffs zu operieren.¹⁶⁶ Dass dabei die Kategorie der Kausalität eine herausragende Rolle spielt, wurde bereits in der Einleitung (vgl. 2. 1) herausgearbeitet. Auf welchem Wege Weber den Versuch unternimmt, eine Ursache-Wirkungs-Relation in seine Theorie des Handlungsverstehens zu implementieren, wird später eigens zu thematisieren sein.¹⁶⁷ Zusammenfassend betrachtet, bescheinigt Weber der Methode des nacherlebenden Verstehens ein massives Objektivitätsdefizit, das sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln – jedenfalls in der von Münsterberg entfalteten Variante – nicht zu beheben vermag. Weber moniert einen chronischen Mangel an kategorialer Bestimmtheit, weswegen es diesem Verfahren seiner Ansicht nach auch nicht gelingt, wissenschaftliche Erkenntnisse im strengen Sinne des Wortes zu generieren.¹⁶⁸ Gleichwohl rangiert er diese Methode aus seinen hermeneutischen Überlegungen nicht aus. Deren Nichtberücksichtigung ist für ihn ausgeschlossen, weil Verstehensprozesse per se intuitive und emotive Elemente enthalten.¹⁶⁹ Aber gleichwohl liegt es seiner Auffassung nach im originären Interesse einer auf Evidenz zielenden Hermeneutik, diese Elemente in begrifflich kategoriale Bestimmtheit zu überführen.

2.4.3 Das Verstehen aus Motiven Wie zuvor schon angedeutet wurde, muss dem Motivbegriff Webers nicht nur in handlungstheoretischer Perspektive, sondern auch für die Genese und die Gestalt seiner Verstehenstheorie eine Schlüsselstellung bescheinigt werden. Werkbiographisch betrachtet, tritt dieser Begriff mit der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) in den Fokus seines Interesses und wird von da an bis in sein Spät-

auch ihnen zustehendes Erkenntnismittel anzuwenden. Es fragt sich, ob diese radicale Lösung der Frage nach dem Sinn und der Absicht aller geisteswissenschaftlichen Bemühungen haltbar ist, und ob sie, so oft und nachdrücklich Münsterberg auch ein sehr warmes Interesse für die Geschichtswissenschaft bekundet, im letzten Grund deren Sache nicht doch vielmehr Abbruch zu thun, als ihr wirklich zu nützen geeignet ist“ (Ritschl 1901, 1). Weber bezieht sich auch auf diese Studie Ritschls, vgl. RK III, 1341. 166 Das bestätigt nicht zuletzt seine eigene Theorie idealtypischer Begriffsbildung, vgl. dazu 2. 4. 4. und 2. 4. 7. 167 Vgl. 2. 4. 4–5 sowie 2. 4. 7. 168 Seine Vorbehalte gegenüber dem Erleben bringt Weber auch in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf zum Ausdruck, wo er es als Götze der Jugend bezeichnet, vgl. WB, 84. 169 Dementsprechend heißt es schon in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies, „daß auch das ‚intellektuelle Verständnis‘ in der Tat ein ‚inneres Mitmachen‘, also ‚Einfühlung‘, in sich schließt“ (RK III, 109).

96 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens werk hinein fest in seinem Denken verankert bleiben. Zwar finden sich bereits zuvor – wie David Frisby zurecht bemerkt hat – erste Ansätze zu einer „Theorie der rationalen Deutung menschlicher Motivationsstrukturen“,¹⁷⁰ jedoch lässt sich ab 1905 eine deutliche Aufwertung dieses Begriffs in der Gesamtarchitektonik seiner Handlungstheorie und seiner Methodologie beobachten, wodurch dieser einen bis dahin nicht erreichten systematischen Stellenwert erlangt. Ausschlaggebend dafür dürfte Webers Auseinandersetzung mit der im gleichen Jahr erschienenen zweiten Auflage der Grundprobleme der Geschichtsphilosophie Simmels gewesen sein.¹⁷¹ Für die Weiterentwicklung seines hermeneutischen Ansatzes ist dieses Werk insofern von grundlegender Bedeutung, als darin ein Verstehensbegriff entwickelt wird, der mit dem des Motivs verknüpft ist. Diese Verbindung hatte Simmel in der Erstauflage dieser Abhandlung, die Weber ebenfalls bekannt war (vgl. RK I, 42), noch nicht hergestellt. Wenn Weber in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies konstatiert: „Die logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des ‚Verstehens‘ finden sich in der zweiten Auflage von Simmels ‚Probleme der Geschichtsphilosophie‘“ (RK II, 92), so steht es zu vermuten, dass dieses Urteil auf Simmels Konzept eines Verstehens aus Motiven gemünzt ist.¹⁷² Die folgenden Überlegungen zielen darauf, jene Vermutung zu untermauern. Dazu ist das Augenmerk zunächst auf Simmels besagtes Werk zu richten (a), auf das an dieser Stelle etwas ausführlicher einzugehen ist, um den systematischen Ort seiner Verstehenstheorie kenntlich machen zu können, der bei Weber nur indirekt thematisiert wird.¹⁷³ Dessen eklektische und spezifisch akzentuierte Lesart des Simmelschen Verstehensmodells gilt es daran anschließend zu erörtern (b).

170 Frisby 1988, 586. Vgl. RK I, 162; O, 168. 173. 171 Vgl. dazu auch Frisby 1988. Klaus Lichtblau weist zurecht darauf hin, dass sich Weber weniger für die soziologischen als vielmehr für die methodologischen und kulturphilosophischen Beiträge Simmels interessiert hat (vgl. Lichtblau 1994, 533). 172 Auch noch in der ersten Anmerkung des Kategorienaufsatzes (vgl. K, 4271) sowie in der Vorbemerkung zu den Soziologischen Grundbegriffen wird insbesondere auf dieses Werk Simmels verwiesen, vgl. Soz, 147. 173 Obgleich innerhalb der Forschungsliteratur das Verhältnis von Weber und Simmel schon vielfach diskutiert wurde, ist dieser auf den Verstehensbegriff konzentrierte Aspekt nach wie vor unterbelichtet. Vgl. Frisby 1988, 580–594; Weiß 1988, 36ff; Tenbruck 1959, 604–607; Cavalli 1994, 230ff; Ringer 1997, 93ff. Das gilt auch für die entsprechenden Arbeiten Klaus Lichtblaus, der zweifelsohne zu den besten Kennern dieser Materie gehört und der sich schon mehrfach zu diesem Verhältnis geäußert hat (Lichtblau 1993a; Lichtblau 1993b; Lichtblau 1994). Das Konzept eines Verstehens aus Motiven wird auch von ihm nur am Rande gestreift (Lichtblau 1994, 538f). Im Hinblick auf Lichtblaus Weberdeutung gilt es zudem festzuhalten, dass sie dessen Projekt einer verstehenden Soziologie ganz auf den Kausalitätsbegriff hin zuspitzt, was jedoch der Komplexität des Weberschen Deutungsbegriffs nicht gerecht wird.

2.4 Methoden der Deutung | 97

a) Dass an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hitzige Debatten um die Konzeptualisierbarkeit der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften und damit einhergehend um die Frage nach dem Wesen der Geschichte und ihrer Begriffe geführt wurden, wird auch durch das Denken Georg Simmels eindrucksvoll belegt. Sein wichtigster Beitrag zu diesem Thema erschien im Jahre 1892 unter dem bereits erwähnten Titel Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Dabei handelt es sich um ein Werk, dem innerhalb der Simmelforschung bislang weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde.¹⁷⁴ Während sich die erste Auflage noch stärker in den Bahnen der Erlebnispsychologie bewegte, nimmt Simmel in der 13 Jahre später erschienenen Zweitauflage eine partielle Selbstkorrektur vor, die durch das Erscheinen von Rickerts 1902 publizierten Grenzen sowie von Husserls Logischen Untersuchungen (1900) mit angeregt wurde. Die Werke beider Autoren stellten einen massiven Angriff auf den ihrer Auffassung nach überhandnehmenden Einfluss der empirischen Psychologie auf die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften dar. Diese antipsychologistische Stimmung hinterließ auch in der Zweitauflage von Simmels Studie deutliche Spuren. In einem Brief vom 4. November 1904 schrieb er an Rickert: „Mit einem modernen Schlagwort würde man meine Wendung in dieser Schrift als ‚Überwindung des Psychologismus‘ bezeichnen. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine Überwindung desselben, sondern darum, ihn in eine höhere Methodik aufzunehmen“.¹⁷⁵ Dieses Programm spiegelt sich bereits in den ersten beiden Sätzen seiner Abhandlung wider, in denen es heißt: „Der Gegenstand dieses Buches bildet das Problem: wie aus dem Stoffe der unmittelbaren, gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen. Es will zeigen, daß diese Umbildung eine radikalere ist, als das naive Bewußtsein anzunehmen pflegt.“ (PdG, 229) Die Aufdeckung der Transformationsstufen, die von der realen Erlebnissphäre ausgehen und zur Geschichte führen, ist für Simmel mit der Frage nach den apriorischen Bedingungen der Geschichte verbunden, worin sich sein transzendentales Erkenntnisinteresse artikuliert. So wie Kant in der theoretischen Philosophie bezogen auf die Außenwelt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Objekterkenntnis fragte, geht es Simmel um die Objekterkenntnis im Hinblick auf die Geschichte, d. h. „im Kantischen Sinne zu fragen: Wie ist Geschichte mög-

174 Vgl. Troeltsch 1922, 572–595; Barrelmeyer 1997, 88ff; Kittstein 2006, 102ff. 175 PdG, 504. Die hier zitierte Ausgabe der Probleme der Geschichtsphilosophie gibt den Text der Drittauflage wieder, die sich jedoch weitgehend mit der zweiten deckt (vgl. PdG, 231). Insofern diese Ausgabe die Abweichungen zwischen beiden Auflagen im Anhang mit aufführt, kann sie auch an dieser Stelle als Textgrundlage verwendet werden.

98 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens lich?“¹⁷⁶ (PdG, 229) In der Erstauflage der Probleme findet sich diese Formulierung allerdings noch nicht. Sie weist auf Simmels intensive Kant-Auseinandersetzung um 1900 hin, die sich in seinen, dem Königsberger Philosophen gewidmeten Vorlesungen niedergeschlagen hat, die 1904 erschienen waren. Und in der Tat finden sich darin Hinweise darauf, die Kantische Erkenntnistheorie für die gedankliche Durchdringung des Geschichtlichen fruchtbar zu machen, was vor allem für Kants Verständnis apriorischer Voraussetzungen der Erkenntnis gilt.¹⁷⁷ Allerdings ist es für das Verständnis von Simmels Ansatz entscheidend, die tiefgreifenden Differenzen zur Kantischen Transzendentalphilosophie zu berücksichtigen, was hier aber nur angedeutet werden kann. Simmel hält zwar an der Auffassung fest, dass menschliche Erkenntnis und Erfahrung apriorische Elemente umfasse. Aber er stellt deren Notwendigkeit und Allgemeinheit insofern infrage, als er vom „Relativitätscharakter unserer geistigen Existenz“¹⁷⁸ ausgeht. Das Apriori wird von ihm in die „Dynamik des Lebens“¹⁷⁹ eingesenkt. Eine erschöpfende Betrachtung dieser tiefsinnigen Schrift zu den Problemen der Geschichtsphilosophie, deren Gedankenführung ausgesprochen schwer zu durchdringen ist, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.¹⁸⁰ Die folgenden Ausführungen beschränken sich darauf, einige Schneisen in den Argumentationsgang des ersten Teils – „Von den inneren Bedingungen der Geschichtsforschung“¹⁸¹

176 Insofern ihm dieser transzendentalphilosophische Problemhorizont in der Erstauflage noch nicht so klar vor Augen stand, konstatiert er am Ende des Vorworts zur Zweitauflage: „Bei der ersten Auflage dieses Buches war mir dieses Grundproblem noch nicht hinreichend deutlich, noch weniger natürlich ist sie wie die jetzige um dasselbe aufgebaut. Das Buch ist deshalb jener gegenüber als ein völlig neues zu betrachten, und selbst die Seiten, die aus ihr übernommen sind, haben durch die veränderte Grundabsicht eine mehr oder weniger veränderte Bedeutung erhalten.“ (PdG, 468) Auf diese grundlegende Umarbeitung weist er auch noch im Vorwort zur Drittauflage hin: „Nachdem die zweite Auflage dieses Buches der ersten gegenüber eine der Tendenz wie der Ausführung nach neue Arbeit geworden war, hat diese dritte in der Hauptsache nichts geändert.“ (PdG, 231). 177 Vgl. Simmel 1997b, 44f. 178 Simmel 1997b, 44. 179 Simmel 1997b, 40. 180 Vgl. dazu auch Lichtblau 1994, 546–548. 181 Der Titel, der noch in der ersten Auflage über diesem Abschnitt stand („Von den psychologischen Voraussetzungen in der Geschichtsforschung“), bringt die noch stärkere Orientierung an der Psychologie deutlich zum Vorschein. Wenn wir in diesem Kapitel gleichwohl Simmels psychologische Grundlegung des Geschichtsverstehens thematisieren, so artikuliert sich hierin dessen Unterscheidung zwischen der ‚Psychologie‘ und dem Ausdruck ‚psychologisch‘. Die Psychologie hat es Simmels Auffassung nach mit den seelischen Vorgängen zu tun (vgl. PdG, 236). In dieser Fokussierung auf solche Vorgänge artikuliere sich jedoch kein „psychologisches Interesse“ (PdG, 236). Letzteres sei vielmehr auf den „Inhalt, den die seelische Energie trägt“ (PdG,

2.4 Methoden der Deutung | 99

– zu schlagen, der sich auf die Explikation der psychologischen Umformungsstufen konzentriert, die durchlaufen werden müssen, ehe aus dem unmittelbaren Erleben das theoretische Gebilde der Geschichte geformt ist.¹⁸² Ausgangspunkt seiner Analysen zum Verstehensbegriff stellen prinzipielle Überlegungen zu dem hochgradig komplexen Problem des Fremdverstehens inneren Seelenlebens und äußeren Verhaltens dar. Dabei geht Simmel von der Annahme aus, dass „gewissen physischen Bewegungen jedes Individuums – Gesten, Mienen, Lauten – seelische Vorgänge intellektueller, gefühls- oder willensmäßiger Art zugrunde liegen.“ (PdG, 239) Dass die Dimensionen des Fremdphysischen und -psychischen dem Verstehen zugänglich ist, beruhe auf der Hypothese, dass das „Seelenleben des anderen Menschen, zunächst insoweit es mit ihren Sichtbarkeiten verknüpft ist, dem eigenen entspricht“ (PdG, 240). Unter diesen Voraussetzungen sei es möglich, das fremde psychische Leben nach „Analogie des Äußeren“ und das Äußere „nach untergelegten Innerlichkeiten“ (PdG, 239) zu verstehen. Simmel bewegt sich damit deutlich in den gedanklichen Bahnen der zum damaligen Zeitpunkt vor allem durch Dilthey vertretenen These von der „Gleichförmigkeit“¹⁸³ psycho-physischen Lebens, auf die wir oben bereits zu sprechen gekommen waren.¹⁸⁴ Das Verstehen äußerlich wahrnehmbarer Ausdrucksgestalten inneren Seelenlebens, die er an anderer Stelle als „Symbol“ (PdG, 264. 271) derselben bezeichnet, stellt für Simmel aber nicht allein einen Deutungs- bzw. Interpretationsakt dar. Vielmehr spezifiziert er es zugleich als einen Konstruktionsvorgang. Der Prozess des Verstehens gehe mit der Konstruktion einer kontinuierlichen seelischen Reihe einher, die sich jedoch dadurch auszeichne, nur partiell mit der Außenwelt abgeglichen werden zu können.¹⁸⁵ Diese Annahme versucht Simmel im Rekurs auf die Sinnespsychologie zu erhärten. Letztere habe deutlich gemacht, dass einzelne und

236), bezogen. Während also die Psychologie im disziplinären Sinne auf eine Untersuchung der seelische Prozesse zielt, bezieht Simmel den Ausdruck psychologisch auf die Bewusstseinsinhalte, die diese Prozesse begleiten. 182 Simmels Schrift ist gegen einen historischen Realismus gerichtet, für den „die Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen ‚wie es wirklich war‘ bedeutet“ (PdG, 229). Damit wendet er sich explizit gegen das Ideal der Geschichtserkenntnis, für das der Name Rankes stehe (vgl. PdG, 276). Den Anspruch, historisches Geschehen so wiedergeben zu können, „‚wie es wirklich gewesen ist‘“ (PdG, 275), hält er für naiv. 183 Dilthey 1990, 148 u. ö. 184 Vgl. 2. 2. 4. 185 „Und nun deuten wir nicht nur das einzelne wahrgenommene Handeln oder Reden durch eine entsprechende psychische Grundlage, sondern wir konstruieren eine im Prinzip ununterbrochene seelische Reihe mit unzähligen Gliedern, die gar kein unmittelbares Gegenbild im Äußeren haben“ (PdG, 240).

100 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens zusammengesetzte Objekte und Ereignisse der Außenwelt unseren Sinnen immer nur ausschnitthaft zugänglich sind. Wenn sich dieser fragmentarische Charakter in der Wahrnehmung jedoch nicht mental abschattet, ist davon auszugehen, dass die Schranken unserer Sinne kompensiert werden. Und genau das wurde durch die sinnespsychologischen Forschungen gezeigt, dass wir die „fragmentarischen Eindrücke der Sinne unbewusst ergänzen, wie unsere bisherigen Erfahrungen es verlangen“. (PdG, 242) Anders formuliert: die Wahrnehmung eines Objekts geht nicht in den Elementen auf, die uns allein durch die Sinne zugänglich sind. Vielmehr ergänzen wir im Modus der Wahrnehmung Faktoren, die sich nicht dem unmittelbaren Sinneseindruck, sondern einem Erfahrungswissen verdanken:¹⁸⁶ „Unter die sichtbaren Handlungen der Menschen subintelligiert man solche unsichtbaren Zwecke und Gefühle, die erforderlich sind, um jene Handlungen in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen.“¹⁸⁷ (PdG, 247f) Der „hypothetische Charakter“ (PdG, 248) des Verstehens äußerer geschichtlicher Ereignisse, die auf „Seelenbewegungen“¹⁸⁸ (PdG, 233) zurückgehen, ist für Simmel damit unvermeidlich. Diese Überlegungen dienen dem Zweck, die Voraussetzungen für das Verstehen geschichtlicher Persönlichkeiten zu bestimmen, die im Mittelpunkt seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen stehen. In diesem Zusammenhang formuliert er einen für seine weitere Argumentation ausgesprochen weitreichenden Sachverhalt. Simmel ist der Auffassung, dass die „Seele eines jeden Anderen für uns eine Einheit ist, d. h. einen verständlichen Zusammenhang von Vorgängen darstellt, durch welchen und als welchen wir ihn erkennen.“ (PdG, 241) Damit führt er unter der Hand einen hermeneutischen Zirkel ein, in dem sich das Verstehen von historischen Persönlichkeiten bewegt. Auf der einen Seite handelt es sich bei der angenommenen Einheit der Seele – Simmel spricht auch analog dazu von der „Einheit der Persönlichkeit“ (PdG, 256. 259 u. ö.), deren „Gesamtcharakter“ (PdG, 240) bzw. deren „charakteriologische Einheit“ (PdG, 255) – um „ein Apriori, das Geschichte erst möglich macht.“ (PdG, 259, vgl. auch PdG, 241) Die Annahme der Einheit der Persönlichkeit bildet demnach eine transzendentale Voraussetzung für die Geschichtserkenntnis. Diesen Gesichtspunkt verknüpft Simmel mit den zuvor

186 Diese Überlegungen überträgt Simmel sodann auf das Verstehen des inneren Seelenlebens: „Gerade diese spontane Ergänzung des Äußerlichen ist einer der stärksten Beweise dafür, daß auch das Innerliche nicht einfach aus den Tatsachen abgelesen, sondern auf Grund allgemeiner Voraussetzungen zu ihnen hinzugebracht wird.“ (PdG, 242). 187 Wir würden, so Simmel, „psychische Vorgänge unter und zwischen die äußerlichen Vorgänge schieben.“ (PdG, 248). 188 Simmel spricht dementsprechend auch vom „seelenhafte[n] Charakter der Historik“ (PdG, 233).

2.4 Methoden der Deutung |

101

angestellten sinnespsychologischen Überlegungen. Im Verstehen einer Handlung oder Rede subintelligieren wir nicht allein Reihen von seelischen Prozessen. Vielmehr legen wir unter diese darüber hinaus die Einheit der Persönlichkeit (vgl. PdG, 240). Würden diese „psychologischen Voraussetzungen“ nicht als Aufbaumomente des Verstehens in Betracht gezogen werden, wäre jene Handlung oder Rede „nichts als eine sinn- und zusammenhangslose Zusammenwürflung sprunghafter Impulse.“ (PdG, 240) Auf der anderen Seite stellt Simmel aber auch heraus, dass der Historiker das „Gesamtbild einer Persönlichkeit nur aus einzelnen Äußerungen gewinnen“ (PdG, 253) könne. Diese Zirkularität des Verstehensprozesses sei unvermeidlich und veranlasst ihn dazu, das Wesen des Verstehens gedanklich noch weiter zu vertiefen. Simmel unterscheidet zwischen zwei Verstehenstypen, die beide auf sprachliche Äußerungen bezogen sind. Der erste hat es mit verbalisierten Gegenständen der Theorie zu tun. Der Philosoph ist der Meinung, dass gesprochene Theorieinhalte direkt nachgebildet werden können, sodass für den Verstehensakt in diesem Fall weder Kenntnisse über den Sprecher noch ein Wissen um die historischen Entstehungsumstände des Inhalts erforderlich sind. Daher wird auch nicht der Sprechende, sondern allein das „Gesprochene“ (PdG, 263) verstanden. Der zum Verstehen aufgegebene Gedanke kann als zeitenthoben vorgestellt werden, was zugleich bedeutet, ihn als am Orte seiner Entstehung und am Orte seiner Nachbildung identisch setzen zu können.¹⁸⁹ Der zweite Verstehenstyp hat es hingegen mit dem Verstehen des Sprechenden zu tun. Dieses ist auf ein erkennbares „Motiv“ (PdG, 263) gerichtet, das hinter der Äußerung steht.¹⁹⁰ Damit tritt ein Begriff auf den Plan, den Simmel in der Erstauflage der Probleme in diesem Zusammenhang noch nicht verwendet hatte. Dort ist noch ganz allgemein vom „Verständnis subjektiver Vorgänge“ die Rede. Gleichwohl äußert sich Simmel in der Zweitauflage leider nicht ausführlicher dazu, was er unter einem Motiv verstanden wissen will. Als Beispiele nennt er lediglich „persönliche Absicht“, „Voreingenommenheit“, „Ärger“, „Ängstlichkeit“ und „Spottlust“ (PdG, 263). Aber auch wenn er den Motivbegriff nicht eigens erörtert, kann kein Zweifel daran bestehen, dass diesem Begriff eine zentrale, systematische Funktion zukommt. Denn erst in dem Augenblick, in dem Motive im Akt des Verstehens Berücksichtigung finden, ist für Simmel die Voraussetzung dafür erfüllt, von einem historischen Verstehen sprechen zu können. „Diese Art des Verstehens . . . kommt 189 Diesen Verstehenstypus sieht Weber bei Dilthey vernachlässigt, vgl. RK II, 934. 190 Eine ganz ähnliche Differenz hat schon Schleiermacher auf den Begriff gebracht. In seinen Vorlesungen zur Hermeneutik unterscheidet er zwischen „Verstehen in der Sprache und Verstehen im Sprechenden.“ (Schleiermacher 2012b, 38) Für den Hinweis auf diesen Passus danke ich Constantin Plaul.

102 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens historischen Persönlichkeiten gegenüber in Frage.“ (PdG, 263) Als Beispiel führt er Newtons Gravitationsgesetz und Goethes Faust an. Diese können zwar als solche, also unabhängig von seinem geistigen Schöpfer als zeitloser Denkinhalt nachvollzogen werden. Doch handele es sich dabei um kein historisches Verstehen. Das sei es erst dann, wenn die Urheber des Gesprochenen Berücksichtigung fänden. Simmel betont, dass das historischen Verstehen keineswegs ein bloßes „‚Nachbilden‘“ von Seelenbewegungen darstellt.¹⁹¹ Vielmehr müsse es als eine „Umbildung“ (PdG, 264) durchschaut werden. Um diese These zu erhärten, betreibt er einen ausgesprochen großen argumentativen Aufwand, den es kurz zu illustrieren gilt.¹⁹² Erneut grenzt er sich von der Position ab, dass der prinzipiellen Gleichheit der menschlichen Natur wegen Bewusstseinsgehalte, die in dem einen Ich ihre Wurzeln haben, in dem anderen, der sie erkennt, abgespiegelt werden. Gegenüber dieser Abspiegelungsthese wendet Simmel ein: „Auf einem so leichten Pfeiler läßt sich indes noch keine Brücke über die Kluft zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich schlagen.“ (PdG, 265) Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, „daß allerhand Veräußerlichungen, Umsetzungen und Symbolisierungen zwischen ihnen vermitteln“ (PdG, 265). Doch ist für ihn damit noch nicht das größte „Rätsel des historischen Erkennens“ (PdG, 266) bezeichnet. Letzteres erblickt er vielmehr darin, dass in ein und demselben Akt „eine subjektiv geformte Seelenverfassung doch eo ipso als die eines anderen vorgestellt werden kann“ (PdG, 274). Das subjektiv Nacherlebte soll also für den Erlebenden den Status eines fremden Erlebnisgehalts haben.¹⁹³ Diese Gegenläufigkeit lässt sich Simmels Ansicht nach nur dann begreiflich machen, wenn im Akt des historischen Verstehens ein Transfer des 191 „Es ist ohne weiteres klar, daß das ‚Nachbilden‘ im historisch-psychologischen Sinn keineswegs ein unverändertes Wiederholen des Bewußtseinsinhaltes der historischen Personen ist.“ (PdG, 264). 192 Dass Simmels Ausführungen keineswegs den Anspruch erheben, diesen Zusammenhang restlos durchsichtig gemacht zu haben, räumt er durchaus ein, wenn es heißt, „daß dieser Vorschlag, das psychologisch-erkenntnistheoretische Problem des geschichtlichen Verständnisses zu lösen, nur ein erster Versuch ist“ (PdG, 275). 193 Das subjektive Nacherleben von Bewusstseinsvorgängen setzt Simmel zufolge voraus, „daß man den Typus der fraglichen psychischen Vorgänge im subjektiven Leben erfahren habe.“ (PdG, 266) Auf diesen Gesichtspunkt kommt er mehrfach zu sprechen. „Wenn es die Aufgabe der Geschichte ist, nicht nur Erkanntes zu erkennen, sondern auch Gewolltes und Gefühltes, so ist diese Aufgabe nur lösbar, indem in irgendeinem Modus psychischer Umsetzung das Gewollte mitgewollt, das Gefühlte mitgefühlt wird. Denn sonst würde nicht ihr irgendwann vorhergegangenes reales Empfundensein die Bedingung bilden, unter der allein das eintritt, was wir Verständnis nennen. Wer nie geliebt hat, wird den Liebenden nie verstehen, der Choleriker nie den Phlegmatiker, der Schwächling nie den Helden, aber auch der Held nicht den Schwächling“ (PdG, 264). Einige Seiten später heißt es noch einmal ganz analog zu dem letzten Zitat: „Denn jedes Nachbilden und jedes Verstehen eines psychologischen Objektes bedeutet, daß der Verstehende eben den seelischen

2.4 Methoden der Deutung |

103

Erlebnisgehalts stattfindet. Er führt aus, „daß ich den nachgebildeten und nur subjektiv vorhandenen Seelenvorgang gleichsam aus mir entfernen und auf die historische Persönlichkeit übertragen muß“ (PdG, 274). Und mit dieser Übertragung gehe eine „psychische Umformung“ (PdG, 266) einher. Selbst wenn das nachzubildende Denken, Wollen oder Fühlen in der erkennenden und erkannten Seele identisch wären, bildete doch nicht das Identische die „historische Erkenntnis, sondern jener durch die Projizierung auf einen anderen umgeformte Vorstellungsprozeß.“ (PdG, 266) Auf diesen Überlegungen aufbauend stellt Simmel die Frage, wie sich jene dem historischen Erkennen innewohnende Gegenläufigkeit vermitteln lässt und zwar so, dass die im Prozess des Erkennens sich vollziehende Umformung nicht auf „Zufälligkeit“ beruht, sondern „Gültigkeit“ (PdG, 267) für sich beanspruchen kann. Die Antwort auf diese Frage hebt auf die Annahme einer Eigenlogik von Seelenprozessen ab. Simmel führt aus, dass sie sich durch eine innere Gesetzmäßigkeit auszeichnen, die jedoch von einer naturwissenschaftlichen zu unterscheiden ist. Die Gültigkeit der psychischen Nomologie kann immer nur individuiert vorgestellt werden, weil sie sich nur auf die seelische Konstitution einer Einzelpersönlichkeit erstreckt. Die psychischen Vorgänge besitzen am Orte einer jeden Person eine jeweils nur ihr zukommende Gesetzmäßigkeit, die von Simmel wiederum mit der apriorischen Einheit der Persönlichkeit begründet wird, die – wie bereits dargelegt wurde – den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Begriff des psychologischen Verstehens markiert. Im Vollzug des historischen Erkennens spiegelt sich diese Gesetzmäßigkeit auf der Ebene der Affekte wider, die gleichsam als Indices gelungenen Verstehens angesehen werden können. Simmel spricht von einem „Gefühl der Bündigkeit“ (PdG, 269) bzw. „Notwendigkeit“ (PdG, 268).¹⁹⁴ Das psychologische Verstehen ist

Vorgang in sich zum Ablauf bringt, in dessen Erkenntnis er sich versenkt und der er . . . in diesem Augenblick wirklich ist.“ (PdG, 299) Diese Bestimmungen werden durch Simmels berühmte Formulierung keineswegs relativiert, „daß man kein Cäsar zu sein braucht, um Cäsar wirklich zu verstehen, und kein zweiter Luther, um Luther zu begreifen.“ (PdG, 300) Vielmehr begründen sie, warum für das historische Verstehen die Annahme einer solchen personalen Identität nicht erforderlich ist. Weber nimmt auf dieses Passage mehrfach Bezug (RK II, 1002; K, 428; Soz, 150). Sowohl in der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) als auch in einem Schreiben Webers an Karl Jaspers vom 2. November 1912 übt er an Simmels Position deutlich Kritik. In letzterem heißt es: „Daß und warum man, ‚um Caesar zu verstehen, nicht Caesar sein muß‘ ist ja ein oft erörtertes Problem. Nur wenn man erst einmal sieht: was denn eigentlich ‚erlebt‘ wird, wenn wir fremdes Erleben zu ‚verstehen‘ glauben, kann sie weiterkommen. Simmel’s Erörterungen darüber sind wenig wertvoll.“ (Br II / 7, 729). 194 An anderer Stelle bezeichnet er die „Gültigkeit“ der Konstruktion als „ein wie ein Oberton mitschwebendes Gefühl“ (PdG, 268).

104 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens mit einem solchen Gefühl verknüpft. Es bildet gleichsam den roten Faden, dem entsprechend die Einheit der Persönlichkeit konstruiert wird. Simmel konstatiert: wir „fühlen“ die einzelnen seelischen Momente „in ihrem funktionellen Verbundensein zur Einheit der Person“ (PdG, 269). Dieses Gefühl „bleibt immer ein unerzwingbares, qualitativ eigenartiges Gebilde, gleichsam der Kristallisationspunkt, an dem die einzelnen psychischen Elemente zusammenschießen und so . . . die Einheit einer Persönlichkeit ergeben.“ (PdG, 269) Damit sind systematisch zentrale Wegmarken der psychologischen Grundlegung von Simmels Theorie der Geschichtserkenntnis abgeschritten worden. Als Mittelpunkt dieser Theorie konnte ein hermeneutischer Zirkel des historischen Verstehens ausgemacht werden. Die Zirkularität besteht – wie wir gesehen haben – darin, dass die Einheit der Persönlichkeit zugleich als das Ziel und als die apriorische Voraussetzung dieses Verstehens angesehen werden muss. Von einer Erörterung des weiteren Fortgangs der Probleme kann abgesehen werden. Es sei nur noch darauf hingewiesen, dass der Philosoph die psychischen Umformungsstationen des Geschichtlichen durch begrifflich-kategoriale ergänzt. Der Wechsel der Theorieebenen spiegelt sich auch in dem Status der apriorischen Elemente wider, die er in beiden Bereichen identifiziert. Während er zunächst apriorische Strukturen aufdeckt, die den seelischen Prozessen eingestiftet sind, nimmt er nun apriorische Kategorien der Historik in den Blick, die auf den psychischen Stoff „anwendbar, aber nicht aus ihm ableitbar“ (PdG, 277) sind. Es handelt sich um „die Bildungsgesetze, durch die der vorwissenschaftliche Wirklichkeitsstoff zu der Möglichkeit, Erkenntnis zu werden, geformt wird“ (PdG, 344).¹⁹⁵ Sie werden zwar im ersten Teil seiner Studie eingeführt, im zweiten – „Von den historischen Gesetzen“ – aber erst entwickelt. Von hier aus lässt sich schließlich präziser verständlich machen, inwiefern Simmels Theorie der Geschichtserkenntnis in Analogie zur Kantischen Erkenntnistheorie steht, worauf einleitend bereits hingewiesen wurde. So wie Kant eine Zwei-Stämme-Lehre entwirft, um die Möglichkeitsbedingung der Objekterkenntnis aufzuzeigen, so ist Simmels Theorie der Geschichtserkenntnis als Zwei-Quellen-Theorie konzipiert. Auf der einen Seite steht die Dimension des Psychischen, die Simmel in den Bereich des Erlebens – als der mentalen Grundlage der Geschichte – und den Bereich des historischen Nachbildens oder Verstehens ausdifferenziert. Auf der anderen Seite steht die logische Dimension der Geschichtserkenntnis. Während in jener das Ausgangsmaterial psychisch umgeformt wird, stellt diese eine rein begriffliche Umgestaltung dar.¹⁹⁶ 195 Simmel spricht auch von „formenden Begriffe, die an das Material der Wirklichkeit erst herangebracht werden.“ (PdG, 293). 196 Zudem lässt sich vor diesem Hintergrund Simmels disziplinäre Verortung der Geschichte plausibilisieren, die zwischen der Psychologie und der Logik zu stehen kommt. Simmel erläutert

2.4 Methoden der Deutung |

105

b) Weber bescheinigt der zweiten Auflage von Simmels Problemen der Geschichtsphilosophie, die – wie bereits erwähnt – „logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des ‚Verstehens‘“ (RK II, 92) zu enthalten. Als Beleg führt Weber den Sachverhalt an, dass der Philosoph das „objektive ‚Verstehen‘ des Sinnes einer Aeußerung von der subjektiven ‚Deutung‘ der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen klar geschieden“ (RK II, 93) habe. Mit dieser Formulierung greift er offenkundig die zuvor erörterte Simmelsche Differenz zwischen dem Verstehen des Gesprochenen und dem Verstehen des Sprechenden auf. Diese wird von Weber jedoch aus dem argumentativen Gesamtzusammenhang herausgelöst, sodass die psychologischen Implikationen dieses Verstehensbegriffs weitgehend unberücksichtigt bleiben. – An den Stellen, an denen er sie zu erkennen gibt, werden sie ausschließlich als konzeptionelle Verirrungen kenntlich gemacht. – Dass Weber damit gegenüber Simmels Problemen grundlegende, den eigenen Theorieinteressen entsprechende Umakzentuierungen vornimmt, werden die folgenden Ausführungen verdeutlichen. Im Hinblick auf den ersten Verstehenstyp wendet Weber gegenüber Simmel ein, dessen Anwendungsbereich zu stark eingegrenzt zu haben. Das objektive, auf das Gesprochene bezogene Verstehen betreffe nicht nur theoretische Erkenntnisse, sondern den gesamten Bereich des „‚stellungnehmenden‘ wirklichen Lebens“ (RK II, 94). Die Pointe objektiven Verstehens besteht für ihn nicht im spezifischen Theoriestatus des Gesprochenen, sondern darin, dass es sich in der Evokation von Stellungnahmen und darauf aufbauend von Praktiken auslegt: „Um ein Verstehen des nur Gesprochenen handelt es sich z. B. auch bei dem Aufnehmen und Befolgen eines Kommandos, eines Appells an das Gewissen, an Wertgefühle und Werturteile des Hörers überhaupt, welches den Zweck hat, . . . ein unmittelbar ‚praktisch‘ wertendes Fühlen und Handeln zu erzeugen.“ (RK II, 94) Und unter diesen Voraussetzungen lässt sich dann auch der Anwendungsbereich plausibilisieren, den Simmel mit dem Begriff objektiven Verstehens verbunden hat: „Hier handelt es sich bei dem ‚Verstehen‘ um ein Stellungnehmen zu dem ‚objektiven‘ Sinn eines Urteils.“ (RK II, 94) Dem werttheoretischen Gepräge dieser Verstehenskonstellation entspricht es, diesen Urteilssinn geltungstheoretisch anzureichern, nicht zuletzt um die evaluative Reaktion im objektiven Verstehen zu begründen. Der objektive Sinn eines Urteils ist mit einem Geltungsanspruch verbunden und das objektive

den Unterschied zwischen Psychologie und Geschichte mittels der Differenz von Prozess und Inhalt seelischer Vorgänge. Während die Psychologie ihr Interesse primär auf die „Dynamik des Kommens und Gehens“ (PdG, 236) solcher Inhalte legt, kommt es der Geschichte nicht zuerst auf deren Entwicklung an. Vielmehr tritt letztere zugunsten der Inhalte zurück. Der Bezug zur Logik lässt sich dahingehend präzisieren, dass die Geschichte die „Inhalte in Abstraktion von ihrem seelischen Realisierungsprozess“ (PdG, 237), d. h. rein begrifflich untersucht.

106 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Verstehen ist Webers Auffassung nach unmittelbar mit der – wie er ausdrücklich im Anschluss an Münsterberg sagt – „‚stellungnehmenden Aktualität‘“ (RK II, 94) verbunden, die das „Subjekt des wirklichen Lebens“ (RK II, 94) auszeichnet. Doch ist der entscheidende Fluchtpunkt der in Roscher und Knies angestellten Überlegungen zum Begriff des objektiven Verstehens damit noch nicht vollständig bestimmt. Weber kommt es in diesem Zusammenhang vor allem darauf an, diese Form des Verstehens vom Begriff der Deutung abzugrenzen. Ausdrücklich betont er, dass es sich beim objektiven Verstehen um keine „‚Deutung‘“ handele, weil diese zuvörderst „eine durchaus sekundäre, in der künstlichen Welt der Wissenschaft heimische Kategorie“ (RK II, 94) bilde. Diese Formulierung ist nun für das Verständnis seines Deutungsbegriffs von weitreichender Bedeutung. Denn damit ist angezeigt, dass letzterer nicht primär in den Rahmen einer Alltagseinstellung fällt. Es handelt sich vielmehr um einen kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, dessen Funktion – wie wir oben gesehen haben – darin besteht, die Selbständigkeit eines nicht-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbereichs zu plausibilisieren.¹⁹⁷ Die Konzeptualisierung dieses Deutungsbegriffs baut nun aber nicht auf der zuvor skizzierten ersten Verstehensoperation auf. Letzterer verleiht Weber gegenüber der Simmelschen Konzeption insofern ein neues Profil, als er ihren originären Anwendungsbereich im alltäglichen Verstehen erblickt.¹⁹⁸ Die Deutung hat vielmehr den zweiten Verstehenstyp zur Voraussetzung, dem es sich nun zuzuwenden gilt. Bereits Webers Paraphrase dieses Typs ist für den Zugriff auf Simmels Verstehensbegriff signifikant. Er spricht von der „‚subjektiven‘ Deutung der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen“ (RK II, 93). Diese Reformulierung ist bemerkenswert, weil sie die Simmelschen Überlegungen von vornherein auf den Handlungsbegriff hin zuspitzt. Dieser findet zwar auch bei Simmel Erwähnung, gleichwohl schenkt der Philosoph ihm an entsprechender Stelle keine gesteigerte Aufmerksamkeit. Weber hingegen verlagert den Schwerpunkt vom Sprechenden auf den „‚Handelnden‘“ (RK II, 93). Der zweite Verstehenstyp zielt demnach auf die Deutung des Handelnden. Damit zeichnet sich zugleich die Begründung dafür ab, warum Weber diesem Verstehen einen subjektiven Charakter bescheinigt. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Annäherung an das Münsterbergsche Modell subjektivierender Wissenschaften. Vielmehr besagt diese Kennzeichnung, dass das Verstehen auf das Handlungssubjekt bezogen ist.¹⁹⁹

197 Vgl. 2. 1. 198 „Mit diesem ‚aktuellen‘ Verstehen haben wir es bei unserer ‚Deutung‘ nicht zu tun.“ (RK II, 94f). 199 Es geht vermutlich nicht zu weit, hier erste Spuren von Webers Begriff des subjektiv gemeinten Sinns zu identifizieren.

2.4 Methoden der Deutung |

107

Im Anschluss an den Philosophen hält Weber sodann fest, dass das subjektive Verstehen dann zum Einsatz kommt, wenn das Gesprochene nicht unmittelbar nachvollzogen werden kann, wenn also das objektive Verstehen an seine Grenzen gerät. Das Verstehen ist dann auf Faktoren angewiesen, die über das bloß Gesprochene hinausgehen. Und an exakt dieser Stelle führt Weber den Begriff des Motivs ein. Das subjektive Verstehen wird von ihm als eine „‚Deutung‘ der Motive“ (RK II, 93) bezeichnet.²⁰⁰ Um diesen Mehrwert des Verstehens aus Motiven zu illustrieren, greift der Nationalökonom wieder das Beispiel eines Kommandobefehls auf. In dem Fall, in dem der Befehlsempfänger den Sinn dieser Äußerung nicht unmittelbar begreift, muss er, um dem Befehl entsprechend handeln zu können, „zur ‚Deutung‘ desselben die ‚Zwecke‘, d. h. aber die Motive des Befehls zu erwägen“ (RK II, 95). Dieses Erwägen des Handlungsmotivs verbindet Weber sodann mit der „kausale[n] Frage: wie ist der Befehl ‚psychologisch‘ entstanden“ (RK II, 95). Mit dem Kausalitätsaspekt ruft er den oben bereits erörterten Zusammenhang von Motiv und menschlichem Verhalten auf, die er in einer Ursache-Wirkungs-Relation zueinander stehend verstanden wissen will.²⁰¹ Irritierend ist indes der Hinweis auf die Psychologie. Denn er steht im Widerspruch zu Webers massiver Kritik an dieser Disziplin. Und auch seine Überzeugung, dass seine Verstehenstheorie „kein Gran von Psychologie“ (RK III, 1312) in sich enthalte, scheint dadurch konterkariert zu werden. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass dieser Hinweis auf eine Fährte führt, die Webers originären Theorieinteressen nicht entspricht und somit

200 Hier liegt eine der grundlegenden Differenzen zwischen der Deutungstheorie Webers und derjenigen von Clifford Geertz, der sich im Rahmen ihrer Konzeptualisierung ausdrücklich auf Weber beruft. Im Anschluss an Paul Ricœur hält er fest, dass sich die sogenannte dichte Beschreibung des Ethnographen auf das Gesagte bzw. Gesprochene zu konzentrieren habe. Diese Bestimmungen sind im Horizont der diskurstheoretischen Dimension seiner semiotischen Kulturtheorie zu verstehen. Das „‚Gesagte‘ des sozialen Diskurses“ sind die „Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen“ (Geertz 1983a, 39). Im Gesagten sind die „Determinanten menschlichen Verhaltens“ (Geertz 1983a, 39) zusammengefasst. Der Handlungsbegriff ist damit immer schon diskurstheoretisch gefärbt. Die weitgehende Nichtberücksichtigung der Innenseite menschlichen Handelns ist vermutlich den massiven Vorbehalten gegenüber dem „Subjektivismus“ (Geertz 1983a, 17) geschuldet, die noch radikaler als bei Weber ausfallen. Geertz lehnt es ausdrücklich ab, die mentale oder psychologische Dimension des Kulturbegriffs mit ins Kalkül zu ziehen (vgl. Geertz 1983a, 17. 19.5; Geertz 1983b, 75), obgleich diese – zumindest ansatzweise – durchaus greifbar wäre. Hierin mag – und das sei am Rande noch bemerkt – eine Antwort auf das von Daniel Šuber angerissene Problem liegen, warum man trotz der vielfältigen Konvergenzen, die zwischen dem Kulturbegriff Geertz’ und demjenigen Wilhelm Diltheys bestehen, „bei Geertz vergeblich nach einer aufschlussreichen Referenz auf Dilthey“ sucht (Šuber 2008, 123.). 201 Vgl. 2. 1. sowie 2. 2. 2.

108 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens eher unglücklich gewählt ist. Die Simmelsche Diktion scheint an dieser Stelle auf ihn abgefärbt zu haben. Auch wenn Weber zuvor darauf hingewiesen hat, dass er den Deutungsbegriff als eine primär wissenschaftliche Kategorie verstanden wissen will, weisen die zuletzt angestellten Überlegungen in eine andere Richtung. Er führt diesen Begriff unter Bezugnahme auf alltägliche Verständigungsprozesse ein, was bereits das von ihm herangezogene Befehlsbeispiel unterstreicht. Damit zeichnen sich zweierlei Verwendungsweisen des Deutungsbegriffs ab. Die eine ist auf Alltagseinstellungen bezogen, wobei Weber diese dahingehend konkretisiert, mit einem praktischen Zweck verbunden zu sein, was sie mit dem Begriff des objektiven Verstehens verbindet. Dennoch spricht er auch in diesem Zusammenhang von einer theoretischen Deutung.²⁰² Letztere gehört dem Gebiet der Wissenschaften an. Diese theoretische Deutung tritt in den „Dienst der empirischen Wissenschaft“, womit sie die Gestalt einnimmt, „in welcher sie uns hier beschäftigt.“ (RK II, 95) Der Deutungsbegriff als wissenschaftliche Kategorie wird also gleichsam aus der Alltagshermeneutik abgeleitet. Der beiden gemeinsame Nenner ist der der Vermittlung. Das Verstehen verläuft in dem einen wie in dem anderen Fall nicht unmittelbar wie im Bereich des objektiven bzw. aktuellen Verstehens, sondern ist vermittelt. Es handelt sich um eine Reflexion auf die Motive eines Handlungssubjekts. „Allein das Entscheidende ist: ob auf diese Motive der Aeußerung aus irgendeinem Grunde erkennend – wenn auch evtl. zu praktischen Zwecken – reflektiert wird. Dann erst tritt das, was wir hier Deutung nennen, in Funktion.“²⁰³ (RK II, 951) Trotz dieser strukturellen Übereinstimmung sind beide Fälle von theoretischer Deutung nicht aufeinander abbildbar. Die zwischen ihnen bestehende Differenz betrifft die jeweilige Einstellung, aus der heraus gedeutet wird. Während die eine im Alltag ihren Ort hat, bewegt sich die andere im Bereich der Wissenschaft, was zugleich bedeutet, dass die Reflexion auf die Bestimmtheitsgründe des Verhaltens methodisch kontrolliert erfolgt. Die theoretische Deutung ist hier auf ihre Theoriegrundlagen hin durchsichtig gemacht worden. Damit können wir den Ertrag unserer Beschäftigung mit Webers Rezeption des Simmelschen Begriffs eines Verstehens aus Motiven zusammenzufassen. Trotz der vielen kritischen Untertöne, die Weber gegenüber Simmel verlautbaren lässt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass er dem – wie es bei Troeltsch heißt – „Kind

202 „Hier tritt die theoretische ‚Deutung‘ des persönlichen Handelns und eventuell der ‚Persönlichkeit‘ (des Befehlenden) in den Dienst des aktuell praktischen Zweckes.“ (RK II, 95). 203 Auf diese wichtige, gegen Simmel gerichtete Formulierung weist auch Frisby hin, vgl. Frisby 1988, 586.

2.4 Methoden der Deutung |

109

und Liebling der Moderne“²⁰⁴ hohe Anerkennung zollte.²⁰⁵ Dementsprechend betont er, dass Simmel zu den anregendsten zeitgenössischen Autoren gehöre und dass dessen Arbeiten für die scientific community von kaum zu überschätzender Bedeutung seien. Über seine – freilich nicht ungebrochene – Wertschätzung gibt Webers nur fragmentarisch überlieferter und wenig bekannter Text Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft Auskunft, was der monumentale Eingangssatz eindrucksvoll belegt: Wenn man zu den Arbeiten G. Simmels von einem überwiegend antagonistischen Standpunkt aus Stellung zu nehmen die Verpflichtung hat, insbesondere seine Methodik in wichtigen Punkten ablehnt, seinen sachlichen Ergebnissen ungemein häufig mit Vorbehalten, nicht selten negativ gegenübersteht, von seiner Darstellungsart endlich zuweilen fremdartig und häufig wenigstens nicht kongenial angemutet wird, – und wenn man dann doch sich auf der anderen Seite schlechterdings dazu genötigt sieht zu konstatieren: daß diese Darstellungsweise schlechthin glänzend ist und, was mehr bedeutet, Wirkungen erzielt, die nur ihr eigen und dabei keinem Nachahmer erreichbar sind, daß fast jede einzelne seiner Arbeiten von prinzipiell wichtigen neuen Gedanken und feinsten Beobachtungen geradezu strotzt, daß fast jede zu den Büchern gehört, an denen nicht nur die richtigen, sondern selbst die falschen Ergebnisse eine Fülle von Anregungen zum eigenen Weiterdenken enthalten, der gegenüber die Mehrzahl auch der achtbarsten Leistungen anderer Gelehrter oft einen eigentümlichen Geruch von Dürftigkeit und Armut zu tragen scheinen, daß endlich von den erkenntniskritischen und methodischen Grundlagen ganz das Gleiche und zwar wiederum auch da gilt, wo sie letztlich vermutlich nicht zu halten sind, daß überhaupt, alles in allem, Simmel, auch wo er auf falschem Wege ist, seinen Ruf vollauf verdient als einer der ersten Denker, Anreger der akademischen Jugend und der akademischen Kollegen (soweit deren Geist nicht zu stumpf oder ihre Eitelkeit oder auch ihr schlechtes Gewissen oder beides zusammen zu lebendig ist, um sich von einem mit 50 Jahren nicht über den Extraordinarius hinaus avancierten, als ja wohl ganz offenbar zu den ‚gescheiterten Existenzen‘ gehörigen Menschen überhaupt ‚anregen‘ zu lassen), – so findet man sich vor die Frage gestellt, wie denn diese Widersprüche sich reimen.²⁰⁶ (GS, 9)

Weber gehörte selbst zu den angesprochenen Profiteuren. Das legen die hier angestellten Überlegungen nahe. Dass sich der Motivbegriff als das heimliche Zentrum sowohl seiner Theorie des Handelns als auch des Handlungsverstehens durchsetzen sollte, lässt sich ohne seine – letztlich ausgesprochen unübersichtliche – Rezeption von Simmels Verstehenstheorie kaum verständlich machen. Dementsprechend besitzt die in Roscher und Knies sowie in den Soziologischen 204 Troeltsch 1922, 593. 205 Dieser Gesichtspunkt fällt in Klaus Lichtblaus Analysen zur Simmeldeutung Webers unter den Tisch, vgl. Lichtblau 1994, 528ff; vgl. auch Nedelmann 1988, 11ff. 206 Diese Schrift deutet Webers Vorhaben an, die beiden „soziologischen Hauptschriften“ (GS, 9) Simmels einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Mit den beiden Schriften sind die Philosophie des Geldes (1900, 2 1907) und die Soziologie (1908) gemeint.

110 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Grundbegriffen fest verankerte Differenz zwischen einem aktuellen und einem motivationsmäßigen bzw. erklärenden Verstehen (vgl. Soz, 155) ihren gedanklichen Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit Simmels Zweitauflage der Probleme der Geschichtsphilosophie.²⁰⁷ Festzuhalten bleibt aber auch, dass Weber den verstehenstheoretischen Ansatz Simmels transformiert, indem er ihn aus dem Bereich des Nacherlebens historischer Persönlichkeiten herauslöst und auf die Theorie einer kausalen Deutung menschlichen Handelns aus Motiven hin zuspitzt.

2.4.4 Die Theorie der objektiven Möglichkeit Es ist das Verdienst des Bonner Rechtswissenschaftlers, Soziologen und Philosophen Werner Gephart, den Einfluss der Jurisprudenz auf die Webersche Methodologie thematisiert und plausibilisiert zu haben.²⁰⁸ Gepharts Untersuchungen nehmen den Umstand ernst, dass Weber selbst eine juristische Karriere durchlaufen hat.²⁰⁹ Auch wenn dessen Verhältnis zur ‚Juristerei‘ ambivalent gewesen ist,²¹⁰ prägte diese gleichwohl Webers intellektuelle Biographie, was sich unter anderem an seinen methodologischen Reflexionen ablesen lässt. Und das betrifft keineswegs nur einen ihrer Nebenschauplätze, sondern vielmehr einen ihrer neuralgischen Punkte: das Kausalitätsproblem. Der rechtswissenschaftliche Begründungszusammenhang dieses Problems ist von Weber am ausführlichsten in den bereits mehrfach zitierten Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906) entfaltet worden. Sie umfassen zwei Teile, die sich an geschichtsmethodologischen Fragen abarbeiten, die am Werk Eduard Meyers (1855–1930) exemplifiziert werden. Die folgenden Überlegungen beziehen sich fast ausschließ-

207 Diese Differenz findet – in freilich modifizierter Form aber sachlich äquivalent – auch in neueren Methoden der Sozialwissenschaften ihren Niederschlag, vgl. etwa Wohlrab-Sahr und Przyborski 2008, 28. 208 Vgl. Gephart 1993, 419ff; Gephart 1998, 62ff. Gephart ist zudem Herausgeber des rechtssoziologischen Teils aus Wirtschaft und Gesellschaft, der 2010 in der Max Weber-Gesamtausgabe erschienen ist. Vgl. ebenso Loos 1970 sowie Turner und Factor 1994. Auch Lehmann hebt den besagten Gesichtspunkt auf die Protestantismusstudie bezogen heraus (vgl. Lehmann 2009, 71f). Hennis geht zwar auch auf Webers Verhältnis zur Jurisprudenz ein, deren Einfluss auf Webers Methodologie bleibt in seinen Überlegungen jedoch weitgehend unberücksichtigt (Hennis 1988, 44ff). 209 Weber wurde mit einer Arbeit Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (1889) promoviert. Diese Studie fertigte er bei dem Handelsrechtler Levin Goldschmidt (1829–1897) an. Die Habilitation hatte Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1892) zum Gegenstand. 210 Vgl. Gephart 1998, 18–24.

2.4 Methoden der Deutung | 111

lich auf den zweiten, „[o]bjektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung“ (KS, 266) überschriebenen Teil.²¹¹ Gegenüber den historisch arbeitenden Disziplinen beklagt Weber, dass das Problem der kausalen Deutung bislang nur ganz unzureichend reflektiert wurde: „Wie sehr die Geschichtslogik noch im argen liegt, zeigt sich u. a. auch darin, daß über diese wichtige Frage weder Historiker, noch Methodologen der Geschichte, sondern Vertreter weit abliegender Fächer die maßgebenden Untersuchungen angestellt haben.“ (KS, 268) Weber hat hier Vertreter der Rechtswissenschaft vor Augen und nennt Adolf Merkel (1836–1896), Gustav Friedrich Eugen Rümelin (1848–1907), Moritz Liepmann (1869–1928) und Gustav Radbruch (1878–1949) (vgl. KS, 269). Diese werden von ihm als Repräsentanten einer Diskussion aufgeführt, in der es um die vor allem für das Strafrecht grundlegende Frage nach der Zurechenbarkeit eines Handelns zu einem Erfolg geht. Diese Frage besitzt für Webers weitere Überlegungen weitreichende Konsequenzen, weil die mit der Zurechenbarkeitstheorie verbundene „Kausalitätsfrage“ seiner Ansicht nach „von der gleichen Struktur wie die historische Kausalitätsfrage“ (KS, 270) ist.²¹² Um dem Zurechenbarkeitsproblem auf den Grund zu gehen und dessen Brauchbarkeit für die Geschichtsmethodologie zu plausibilisieren, setzt er sich jedoch nicht mit den genannten Autoren auseinander. Vielmehr schenkt er in diesem Zusammenhang einem Physiologen, den er während seiner Freiburger Jahre auch persönlich kennen gelernt hatte,²¹³ die größte Aufmerksamkeit – Johannes von Kries.²¹⁴ Dieser, wie R. Steven Turner bemerkt,²¹⁵ bedeutendste Schüler Hermann von Helmholtz’ (1821–1894) hatte die damalige Debatte um das juristische Zurechnungsproblem mit seiner in drei Abteilungen erschienenen Abhandlung Ueber den Begriff der objektiven Möglich211 Auf die Theorie der objektiven Möglichkeit kam Weber auch schon zuvor zu sprechen, direkt in RK III, 115. 130, indirekt in RK II, 963. 212 Gephart weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass jener Debattenkontext insofern Webers Aufmerksamkeit erregen musste, als „die Kausalitätsfrage . . . sowohl für die strafrechtliche wie die historische ‚Zurechnung‘ auf den Handlungsbegriff zentriert“ ist (Gephart 1998, 63). Hierin deutet sich auch eine seiner Zentralthesen an, Webers Interesse am Handlungsbegriff auf Grundfragen der Jurisprudenz, genauer des Strafrechts zurückführen zu können. 213 Vgl. Weber 1984, 217. 214 Kries’ Qualifikationsschriften wurden in der Forschungsliteratur bislang nicht thematisiert. Während die im Leipziger Universitätsarchiv erhaltene Personalakte keine Angaben zur Promotionsleistung macht, fügte Kries seinem Antrag auf Habilitation vom 9. Februar 1878 drei Schriften bei: a) Ueber die Ermüdung der Sehnerven (veröffentlicht in Albrecht von Graefes Archiv für Ophthalmologie 23 [1877], 1–43), b) Die Zeitdauer einfachster psychischer Vorgänge (gemeinsam mit Felix Auerbach [1856–1933] veröffentlicht in Archiv für Physiologie [1877], 297–378), c) ein nichtveröffentlichtes Manuskript zum Thema Ueber die Bestimmung mittlerer Druckwerte durch das Quecksilber-Manometer (vgl. UA Leipzig Personalakten – PA 1466). 215 Vgl. Turner 1993, 198.

112 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens keit und einige Anwendungen desselben (1888) maßgeblich beeinflusst und sah sich zu deren Abfassung wiederum durch logische Desiderata der „juristische[n] Begriffsbildung“ (OM, 428) veranlasst.²¹⁶ Weber nimmt nun im Rahmen seiner Erörterungen zum Konzept einer kausalen Deutung immer wieder positiv auf den Begriff der objektiven Möglichkeit Bezug (vgl. RK III, 1152; KS, 268–270. 288–290).²¹⁷ Doch nicht nur das. Er macht auch keinen Hehl daraus, in dieser Beziehung massive Anleihen bei der Kriesschen Schrift gemacht zu haben. Zum Ende seines Beitrags zur objektiven Möglichkeit und adäquaten Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung hält er fest: „Der Umfang, in welchem hier wieder, wie schon in vielen vorstehenden Ausführungen v. Kries’ Gedanken ‚geplündert‘ werden, ist mir fast genant, zumal die Formulierung vielfach notgedrungen an Präzision hinter der von Kries gegebenen zurückbleiben muß. Allein für den Zweck dieser Studie ist beides unvermeidlich.“ (KS, 2881) Wie es Weber gelingt, jene – bis dahin vor allem strafrechtlich relevante – Theorie für die Geschichtswissenschaften fruchtbar zu machen, wird im Folgenden zu thematisieren sein (b). Zunächst müssen aber Kries’ Ausführungen zu diesem Thema in den Blick genommen werden (a). Das erfolgt nur in groben Zügen, ist

216 Gustav Radbruch nimmt in Webers Ausführungen zur Theorie der objektiven Möglichkeit ebenfalls eine exponierte Rolle ein und es wäre durchaus möglich, dass Weber auf die juristischen Anwendung der Kategorien der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung in seiner Beschäftigung mit Radbruchs Dissertation Die Lehre von der adäquaten Verursachung (1902) gestoßen war. Darauf könnte Webers Angabe im Kategorienaufsatz hinweisen, sich in Bezug auf den Begriff der objektiven Möglichkeit an Radbruch zu orientieren (vgl. K, 4271). Die im Haupttext genannten Autoren werden allesamt auch von Radbruch aufgeführt (vgl. Radbruch 1902, 331) und dieser gibt ausdrücklich zu verstehen, dass die gesamte Debatte zum juristischen Kausalproblem unmittelbar an die Kriessche Theoriebildung anknüpft, die er allerdings zu korrigieren beabsichtige. Nicht zuletzt Radbruchs Problemexposition dürfte bei Weber unmittelbar auf Interesse gestoßen sein, da sie die Schwierigkeit der Vermittlung von Außen- und Innendimension einer Handlung zum Thema hat: „Die Naturwissenschaften suchen zu einer Veränderung der Aussenwelt als Ursache eine andere Veränderung der Aussenwelt, die Geisteswissenschaften erklären psychische Erscheinungen psychisch: die Rechtswissenschaft dagegen sucht eine Veränderung der Aussenwelt (cogitationis poenam nemo patitur) auf eine psychische Tatsache zurückzuführen. Dieses kann sie aber nicht an der Hand lediglich der Kausalität. Letztere führt sie zurück nur bis zur Körperbewegung: über den Abgrund, der zwischen der Körperbewegung und dem Willen gähnt, führt keine Brücke. Die Rechtswissenschaft muss deshalb ihre Frage nach der Ursache im juristischen Sinne in zwei Fragen, die Ursachenfrage im eigentlichen Sinne und die Schuldfrage, zerschlagen.“ (Radbruch 1902, 325) Diese Problemexposition wurde – wie später noch deutlich werden wird – maßgeblich durch die Untersuchung Johannes von Kries’ angeregt. 217 Am 14. Juni 1904 bemerkt Weber gegenüber Rickert: „Ich werde demnächst einmal (im Winter) die Bedeutung der Kategorie der ‚objektiven Möglichkeit‘ für das historische Urteil u. den Entwicklungsbegriff zu analysieren suchen.“ (Br II / 4, 231). Diese Formulierung verweist auf die Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906).

2.4 Methoden der Deutung |

113

aber insofern geboten, als damit ersichtlich gemacht werden kann, inwiefern Webers Verstehenstheorie an Kries’ Theorie anknüpft.²¹⁸ a) Johannes von Kries’ Untersuchung, die auf den Ergebnissen seiner Abhandlung zu den Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung (1886) aufbaut, geht von dem Grundsatz aus, dass „jedes Ereignis, welches thatsächlich eintritt, durch die Gesammtheit der zuvor bestehenden Verhältnisse mit Nothwendigkeit herbeigeführt wird.“²¹⁹ (OM, 180) Diesen kausaldeterministischen Grundsatz bezeichnet er als nicht weiter zu erörternde, axiomatische Basis seiner folgenden Überlegungen. Unmittelbar daran anschließend führt er den Begriff des Möglichen ein. Ein Ereignis als möglich zu bezeichnen, bedeutet für ihn zunächst, dass dessen Eintreten oder Ausbleiben nicht gewiss sei (vgl. OM, 180). Diese Bestimmung sei Ausdruck eines subjektiven Standpunkts. Die Ungewissheit impliziere einen Mangel an Wissen um die besagte Gesamtheit von Determinanten. Unter dieser privativen Voraussetzung sei es vollkommen unproblematisch, mit einem solchen subjektiven Möglichkeitsbegriff zu operieren. Demgegenüber von einem Einzelereignis zu behaupten, „dass seine Verwirklichung sowohl wie seine Nichtverwirklichung objectiv möglich sei, oder von einem, welches thatsächlich schon eingetreten ist, zu sagen, es sei auch sein Ausbleiben objectiv möglich gewesen“ (OM, 180), erscheine demgegenüber – zumindest auf den ersten Blick – ausgeschlossen. Doch geht es dem Physiologen genau darum, einen solchen Begriff von objektiver Möglichkeit zu bilden und damit den Möglichkeitsbegriff also gerade nicht allein als eine subjektive Größe auszuweisen. Für Kries steht die logische Plausibilisierbarkeit und damit die Anwendbarkeit des infrage stehenden Begriffs unter spezifischen Konstruktionsvoraussetzungen.²²⁰ Dazu gehört zunächst die Näherbestimmung des Verhältnisses zwischen einem Ereignis und den Faktoren, die es hervorgerufen haben. Von ein und demselben Ereignis sagen zu können, dass sowohl dessen Eintreten als auch dessen Ausbleiben objektiv möglich sei, setzt voraus, dass die besagten Faktoren nicht vollständig, sondern lediglich allgemein bzw. generell bezeichnet sind (vgl. OM, 181). Das sei etwa dann der Fall, wenn „nur ein Theil aller für das Ereignis wesentlichen Umstände bestimmt, ein anderer Theil ganz unbestimmt gelassen ist.“ (OM, 181) Sodann setzt der Begriff der objektiven Möglichkeit nomologisches Wissen voraus.

218 Zu Weber und Kries vgl. Ringer 1997, 63ff; Ringer 2004, 80ff und vor allem Massimilla 2012, 140ff. Letzterer hat den bislang profundesten Beitrag zu diesem Thema geleistet. 219 Hierin scheint Kries der Millschen Bestimmung des Ursachenbegriffs zu folgen. Der Philosoph spricht von einer „Gesamtsumme der zusammengenommenen positiven wie negativen Bedingungen . . . durch die, wenn sie erfüllt sind, die Konsequenz unweigerlich folgt“ (Zitat aus Davidson 1990, 215). Vgl. auch Massimilla 2012, 161f. 220 Vgl. dazu auch Massimilla 2012, 165.

114 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Dieses ist dadurch gekennzeichnet, für das Ereignis, dessen Umstände nur allgemein, also unvollständig fixiert sind, Geltung zu besitzen. Denn damit bildet es die Grundlage dafür, konkrete Bedingungen denken zu können, die das Eintreten eines Ereignisses objektiv möglich machen. Das nomologische Wissen bzw. das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten eines Vorgangs steckt einen bestimmten Spielraum von konkreten Umständen ab, die diesen Vorgang hervorbringen, und schließt damit wiederum andere aus. Und unter diesen hier nachgezeichneten Prämissen kann von ein und demselben Ereignis gesagt werden, dass dessen Eintreten und dessen Ausbleiben gleichermaßen objektiv möglich ist.²²¹ Insofern eine vollständige Bestimmung des Determinationszusammenhangs eines konkreten Ereignisses de facto ausgeschlossen ist und das Kriterium der nur allgemeinen Bezeichnung der Umstände eines Ereignisses somit nichts Außergewöhnliches darstellt, erweist sich der Gesetzesbegriff als der neuralgische Punkt für die Begründung des Begriffs der objektiven Möglichkeit. Das unterstreicht folgende Formulierung, in der Kries seine Zugangsreflexionen zum besagten Begriff zusammenfasst: „Man nennt also das Eintreten eines Ereignisses unter gewissen ungenau bestimmten Umständen dann objectiv möglich, wenn Bestimmungen dieser Umstände denkbar sind, welche gemäss den factisch geltenden Gesetzen des Geschehens das Ereigniss verwirklichen würden.“²²² (OM, 181) Ausgehend von seinen Überlegungen zum Begriff der objektiven Möglichkeit (vgl. OM, 180–195), die in den ersten Hauptteil seiner Untersuchung fallen, wendet er sich im darauffolgenden Teil zwei Anwendungsgebieten jenes Begriffs zu, wobei es sich zum einen um den „Begriff der Verursachung und des ursächlichen Zusammenhangs“ und zum anderen um den der „Gefahr“ (OM, 195) handelt.²²³ Hier kommt es nur auf ersteren an.

221 Kries illustriert die selbst gestellte Aufgabe anhand eines spieltheoretischen Beispiels: „Wenn man es als objectiv möglich nennt, dass beim Würfeln 10 Mal hinter einander 6 fällt, so wünscht man hervorzuheben, dass in den bedingenden Umständen, welche hier nur ganz allgemein dahin angegeben werden, dass 10 Mal hinter einander gewürfelt wird, Nichts enthalten sei, was das Eintreten jenes Erfolgs mit einer gesetzlichen Notwendigkeit ausschlösse.“ (OM, 181) – Weber greift dieses Beispiel mehrfach auf, ohne auf dessen Herkunft zu verweisen, vgl. RK II, 68; KS, 284f. 222 In der Kriesschen Logik heißt es ganz ähnlich: „die objektive Möglichkeit bedeutet die Konformität mit den Wirklichkeits-Gesetzen, und irgend etwas nicht Verwirklichtes in einem objektiven Sinne möglich zu nennen, hat dann, aber auch nur dann eine völlig bestimmte und klar angebbare Bedeutung, wenn wir annehmen, daß die Wirklichkeits-Gesetze neben dem Verwirklichten einen bestimmten Umfang anderer Verhaltensweisen zulassen . . . .“ (Kries 1916, 54). 223 Ersteren entfaltet er auf den Seiten 195–240, letzteren auf den Seiten 287–323. Im dritten Artikel seines Beitrags (393–428) setzt sich Kries mit der Verwendung von „Möglichkeitsbegriffe[n]“ innerhalb der juristischen Forschungsliteratur auseinander.

2.4 Methoden der Deutung |

115

Zunächst unterscheidet Kries zwischen der Formulierung konkreter und abstrakter ursächlicher Zusammenhänge. Die Kausalbeziehung kann zum einen bezogen auf „individuelle, concrete Fälle“ untersucht werden, um etwas darüber aussagen zu können, „wie ein bestimmtes thatsächlich eingetretenes Ereignis zustande kam“ (OM, 196). Davon seien zum anderen „allgemeine, abstracte Aussagen über den gesetzmässigen Zusammenhang von Bedingungen und Folgen“ (OM, 196) zu unterscheiden. Kries geht jedoch nicht auf beide Fälle gleichermaßen ein. Ihn interessiert vor allem die zweite, den Begriff der objektiven Möglichkeit implizierende Form von Kausalbeziehungen, deren Relevanz für die Beurteilung von Einzelfällen er auszuloten beabsichtigt. Das erfolgt vor allem in der Absicht, einen rechtswissenschaftlich brauchbaren Ursachenbegriff ausfindig zu machen, „der mehr und Anderes zu leisten im Stande wäre, als der . . . philosophisch strenge“ (OM, 196). Denn dieser besage nur, dass der „ganze Complex von Bedingungen, der einen Erfolg factisch herbeiführte, die Ursache desselben heissen kann“ (OM, 195). Um diese Ziel zu erreichen, wendet er sich der prinzipiellen Frage zu, in welchem ursächlichen Zusammenhang ein einzelner Vorgang oder Gegenstand zu einem Ereignis steht, das seinerseits nicht allein durch diesen, sondern durch einen Komplex von bedingenden Faktoren herbeigeführt wurde. Es geht ihm nicht um konkrete, empirische Vorkommnisse der Außenwelt, sondern um eine gedankliche Durchdringung der formalen Beziehung von Ursache(n) und Wirkung. Kries erblickt in der kausalen Verknüpfung von verursachendem Faktor und bewirktem Ereignis eine hochgradig voraussetzungsreiche Leistung. Denn in dem Urteil, das diese Verbindung zum Ausdruck bringt, sei nichts enthalten, was sich dem konkreten Geschehen selbst entnehmen oder an diesem beobachten ließe.²²⁴ Vielmehr handele es sich um „etwas von uns theoretisch Hineingetragenes“ (OM, 197). Damit aber gewinnt der „Begriff des ursächlichen Momentes“ (vgl. OM, 197ff) an Kontur, mit dem der Freiburger Gelehrte in diesem Kontext operiert. Das ursächliche Moment, das in Aussagen über Kausalbeziehungen zur Sprache kommt, bildet für ihn eine gedankliche Konstruktion nach Maßgabe eines nomologischen Wissens (vgl. OM, 197). Anders formuliert: die Wirkung bzw. das ursächliche Moment bildet keine reelle, sondern eine ideelle Größe. Es handelt sich gleichsam um ein Interpretationsmittel, das der Feststellung von Kausalverhältnissen dient.²²⁵ Die damit

224 Einer ganz ähnlichen Auffassung ist bereits Kant gewesen. „Das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist weder etwas Wahrnehmbares oder aus der Erfahrung Abstrahiertes noch ein Erzeugnis subjektiver Gewohnheit und Assoziation (gegen Hume), sondern eine Relation, in die das Gegebene eingehen muß, damit objektive Erfahrung möglich ist“ (Eisler 1994, 296). 225 Dementsprechend bezeichnet er den Begriff des Wirkens bzw. der Wirkung als eine „transzendente“ (vgl. OM, 1981) bzw. – genauer gesagt – transzendentale Vorstellung.

116 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens angedeutete hermeneutische Dimension ist nun keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern findet bei Kries ausdrücklich Erwähnung, wenn es heißt, dass Kausalität zu „interpretiren“ (OM, 198) sei. Insofern Kries der Auffassung ist, dass für die Bestimmung des kausalen Stellenwerts eines einzelnen Faktors nicht der beobachtete Vorgang selbst entscheidend ist, sondern die Kenntnis von Gesetzen des Geschehens, sieht er die Möglichkeit an die Hand gegeben, das infrage stehende Problem zu lösen. Denn wenn wir durch das nomologische Wissen dazu in der Lage sind, in Ereigniszusammenhänge Kausalverhältnisse einzutragen, dann lässt sich der kausale Stellenwert eines einzelnen, an einem Hergang beteiligten Faktors anhand der Frage beurteilen, wie dieser Hergang ausgegangen wäre, wenn der Faktor gefehlt hätte. „Die Frage nach der Causalität eines bestimmten Gegenstandes ist also gleichbedeutend mit der, was geschehen wäre, wenn dem Complexe der Bedingungen jenes Reale (ein bestimmter Theil) gefehlt, alles übrige aber sich genau gleich verhalten hätte.“ (OM, 198) Dieses Verfahren findet bei Kries vor allem im Bereich des menschlichen Handelns Anwendung und wird von ihm am Beispiel eines Verhaltens aus Fahrlässigkeit illustriert. „Indem wir nach der Causalität der Fahrlässigkeit fragen, wünschen wir den factisch eingetretenen Verlauf zu vergleichen mit demjenigen, der stattgefunden hätte, wenn an Stelle der Fahrlässigkeit normale Ueberlegung und Aufmerksamkeit bestanden hätte.“ (OM, 199) Dieses komparative Vorgehen verfolge das Ziel, zu ermitteln, ob die modifiziert vorgestellten Bedingungen eine Veränderung des Erfolgs mit sich brächten oder nicht (vgl. OM, 199). Denn wenn sich zeigen ließe, dass derselbe Erfolg auch eingetreten wäre, wenn das tatsächlich beteiligte Moment gefehlt hätte, dann handelte es sich um kein für den Erfolg kausales Moment. Als ursächlich könne es erst dann angesehen werden, wenn ohne es der Erfolg nicht eingetreten wäre.²²⁶ Kries weist ausdrücklich darauf hin, die zuletzt wiedergegebenen Reflexionen unter Absehung des Möglichkeitsbegriffs angestellt zu haben. Letzteren zieht er in dem Moment hinzu, in dem er den Argumentationsgang um die kausalitätstheoretische Differenz von „adäquaten“ und „zufälligen Verursachungen“ (OM, 202) anreichert. Einen bestimmten Erfolg bezeichnet Kries dann als adäquat verursacht, wenn das für diesen Erfolg maßgebliche Moment nicht nur auf einen konkreten Fall anwendbar ist, sondern allgemein die „Tendenz“ (OM, 201) besitzt, einen solchen Erfolg herbeizuführen. Als zufällig sei eine Verursachung dann anzusehen, wenn sie nur für einen konkreten Fall gilt und nicht verallgemeinerbar ist (vgl. OM, 226 An späterer Stelle formuliert Kries: „Die Bedingung eines einzelnen Momentes für einen Erfolg feststellen heisst . . . nichts Anderes, als die Bedingungen in einer gewissen Hinsicht variiert denken und ermitteln, ob derselbe Erfolg sich an die veränderten Bedingungen geknüpft haben würde oder nicht.“ (OM, 212).

2.4 Methoden der Deutung |

117

200f). Die Differenz beider Formen kausaler Verursachung fasst Kries wie folgt zusammen: „Es soll also, wo das ursächliche Moment A den Erfolg B verursachte (bedingte), A die adäquate Ursache von B, und B die adäquate Folge von A heissen, falls generell A als begünstigender Umstand von B anzusehen ist; im entgegengesetzten Falle soll von zufälliger Verursachung und zufälligem Effecte gesprochen werden.“²²⁷ (OM, 202) Allerdings dürfen beide Formen von Verursachung nicht mit tatsächlichen Hergängen verwechselt werden. Die Feststellung zufälliger wie adäquater Ursachen bewegt sich auf einer abstrakten Ebene, obgleich sie auf konkrete Ereignisse bezogen ist. Das gilt sowohl für das verursachende Moment wie für den Effekt.²²⁸ Mit diesen Überlegungen sind wesentliche Bestimmungen zur Sprache gekommen, durch die sich der kausale Zurechnungsbegriff bei Kries auszeichnet, sodass wir uns nun Webers Rezeption dieses Begriffs zuwenden können.²²⁹ Wie oben bereits angedeutet wurde, ist Weber der Überzeugung, dass die nach Maßgabe der 227 Der Ausdruck des begünstigenden Umstands ist das wahrscheinlichkeitstheoretische Pendant zum Begriff der adäquaten Verursachung, vgl. OM, 202. 228 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Kries seine Erörterungen zur Theorie der Verursachung explizit auf den Bereich des sozialen Lebens bezieht: „Hier genügt es, darauf hinzuweisen, dass namentlich im Gebiete der socialen Erscheinungen, weil sie eben thatsächlich eine massenhafte Wiederholung von Gleichartigem zeigen, auch der Einzelfall sich oft ohne Weiteres als Exemplar einer gewissen Kategorie darstellt. So kommt es, dass die concrete Causalität eines ursächlichen Momentes sofort auch den Anlass zu ganz bestimmten Fragen über generelle ursächliche Zusammenhänge giebt, und dass demgemäss die Unterscheidung von zufälliger und adäquater Verursachung in grossem Umfange zulässig und bedeutungsvoll ist.“ (OM, 203) Vgl. auch OM, 192. 229 Die strafrechtliche Relevanz seines Begriffs der objektiven Möglichkeit, um die es Kries letztendlich geht, sei hier wenigstens noch angedeutet. Im Zentrum seiner diesbezüglichen Überlegungen steht der Zusammenhang der Begriffe Verantwortung und Schuld. Kries plädiert – im Namen der „Postulate des allgemeinen Rechtsgefühls“ (OM, 224) – dafür, den „Urheber einer schuldhaften Handlung stets nur für die adäquaten nicht aber für zufällige Folgen derselben verantwortlich“ (OM 224) zu machen. Unter diesen Voraussetzungen betrachtet, ist ein Handeln, das einen verletzenden Erfolg hervorbrachte, nicht automatisch als schuldhaft zu bezeichnen. Diese Perspektive sei die der „Ungebildeten“ (OM, 225). Davon unterscheidet Kries das gebildete Rechtsgefühl, das danach verlange, „dass das schuldhafte Verhalten nach derjenigen Bedeutung beurtheilt werde, welche es allgemein im Zusammenhange der socialen Erscheinungen besitzt, es verlangt Prüfung, in welchen generellen ursächlichen Beziehungen dasselbe steht.“ (OM, 225f) Um die Frage beantworten zu können, ob einem Straftatbestand eine konkrete Handlung als Ursache zurechenbar sei, bedürfe es eines besonderen Prüfverfahrens. Der zuletzt benannte Kausalzusammenhang müsse unter den jeweils spezifischen Gesellschaftsverhältnissen dahingehend analysiert werden, ob er der Generalisierung fähig und die konkrete Handlung dementsprechend als eine adäquate und nicht als eine zufällige Ursache begriffen werden kann. Von diesem Verallgemeinerungstest, der eine Anwendung eines gedanklich konstruierten Kausalzusammenhangs auf einen konkreten Fall darstellt, soll nach Kries’ Auffassung die Beantwortung der Schuldfrage

118 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Theorie objektiver Möglichkeit verfahrende kausale Zurechnung nicht allein für strafrechtliche Fälle von Relevanz sei, sondern auch der Geschichtserkenntnis zugrunde läge. Beide besäßen die gleiche logische Struktur. Wie Weber das Kriessche Modell im Einzelnen aufgreift, gilt es im Folgenden aufzuzeigen. b) Um die Reichweite des Begriffs der objektiven Möglichkeit für die historische Kausalbetrachtung auszuloten, setzt sich Weber mit verschiedenen historischen Urteilen Eduard Meyers auseinander. Er bezieht sich dabei auf dessen im Jahre 1902 erschienene Untersuchung Zur Theorie und Methodik der Geschichte. Geschichtsphilosophische Untersuchungen.²³⁰ Meyer geht in dieser Abhandlung auf die – für diese Zeit signifikante – Frage nach dem kausalen Zusammenhang von Willensentschlüssen großer Staatsmänner und Kriegsausbrüchen ein.²³¹ Darauf bezogen hält der Historiker fest: „Sie alle hätten sich auch anders entscheiden können, und andere Persönlichkeiten würden sich in ihrer Lage anders entschieden haben; die Folge würde sein, dass der Verlauf der Geschichte ein anderer geworden wäre.“²³² Und in der dazugehörigen Fußnote ergänzt er: Damit soll weder behauptet noch bestritten werden, dass es in diesem Falle nicht zu den betreffenden Kriegen gekommen wäre; das ist eine völlig unbeantwortbare und daher müßige Frage. Was wir dagegen mit Bestimmtheit behaupten können, ist, dass für den thatsächlich eingetretenen Verlauf der Ereignisse der Wille der genannten Männer das entscheidende Moment gewesen ist.²³³

abhängig gemacht werden. Dieses Verfahren spielt er am Beispiel der Tötung durch: „Je grösser die generelle Möglichkeit der Tödtung ist, die eine gewisse Verwundung darstellt, je regelmässiger sie den Tod bewirkt, um so unbedenklicher werden wir auch im Einzelfall adäquate Verursachung und Zurechnung des Erfolgs statuiren.“ (OM, 234). 230 Dabei handelt es sich um eine Abhandlung, die im Rahmen eines halleschen VortragsKränzchens entstanden ist. Zu den Mitgliedern dieser Versammlung gehörten Johannes Conrad, Wilhelm Dittenberger, Erich Haupt, Emil Kautzsch, Edgar Loening, Friedrich Loofs, Max Reischle, Alois Riehl, Carl Robert, Rudolf Stammler, Georg Wissowa. Meyer verfasste diese Studie „Beim Abschiede von Halle“ (Meyer 1902, III). Im Jahre 1902 nahm er einen Ruf an die Berliner Universität an. 231 „Was von unserm Alltagsleben gilt, gilt in gleicher Weise vom historischen Leben; denn dies ist ja nichts als ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Leben der Menschen. Die eminente geschichtliche Bedeutung des Willensentschlusses einzelner Persönlichkeiten noch weiter ausführlich zu begründen, hiesse wahrlich Eulen nach Athen tragen. Der Ausbruch des zweiten punischen Kriegs ist die Folge eines Willensentschlusses Hannibals, der des siebenjährigen Kriegs Friedrichs des Grossen, der des Kriegs von 1866 Bismarcks.“ (Meyer 1902, 16). 232 Meyer 1902, 16, vgl. KS, 266. 233 Meyer 1902, 162, vgl. KS, 266.

2.4 Methoden der Deutung |

119

Webers Interesse an diesen Ausführungen gilt der Einschätzung, dass besagte Frage müßig sei.²³⁴ Gegen dieses Urteil legt er massiven Widerspruch ein. Denn hinter der Fragestellung „was hätte werden können“ (KS, 266), verbirgt sich seiner Auffassung nach ein für die Geschichtswissenschaft unverzichtbares Hilfsmittel, um des schwierigen Problems Herr zu werden, die Relevanz bzw. Irrelevanz eines an einem historischen Ereignis beteiligten Faktors zu bestimmen. Weber weist darauf hin, dass es innerhalb dieser Disziplin zwar üblich und letztlich auch unvermeidlich sei, historische Urteile zu fällen, die einem bestimmten Faktor bzw. bestimmten Faktoren eine besondere Bedeutung für das entsprechende historische Ereignis beimessen. Doch ist mit dieser Praxis noch lange nicht die für ihn entscheidende Frage geklärt: „wie ist eine Zurechnung eines konkreten ‚Erfolges‘ zu einer einzelnen ‚Ursache‘ überhaupt prinzipiell möglich und vollziehbar angesichts dessen, daß in Wahrheit stets eine Unendlichkeit von ursächlichen Momenten das Zustandekommen des einzelnen ‚Vorgangs‘ bedingt hat, und daß für das Zustandekommen des Erfolges in seiner konkreten Gestalt ja schlechthin alle jene einzelnen ursächlichen Momente unentbehrlich waren?“ (KS, 271; vgl. auch KS, 266f) Um diese Frage beantworten zu können, sei es erforderlich, die „logische ‚Struktur‘“ (KS, 278) der Geschichtserkenntnis zu bestimmen.²³⁵ Diese setzt Webers Ansicht nach „eine Serie von Abstraktionen“ (KS, 273) voraus. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen zwei „logischen Operationen“ (KS, 273): die „Isolierung“ (KS, 275. 279) und die „Generalisierung“ (KS, 279). Das erste Abstraktionselement besteht darin, „daß wir von den tatsächlichen kausalen Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert denken und uns fragen, ob unter den dergestalt abgeänderten Bedingungen des Hergangs der (in den ‚wesentlichen‘ Punkten) gleiche Erfolg oder welcher andere ‚zu erwarten gewesen‘ wäre.“ (KS, 273) Die Isolation besteht also nicht allein darin, dass ein einzelnes Moment bzw. mehrere Bestandteile, die an einem Ereignis beteiligt sind, herausgehoben werden. Vielmehr kommt es darauf an, dass diese extrapolierten Elemente abgeändert vorgestellt werden, wozu es für Weber auch gehört, sie gedanklich auszuschalten.

234 Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass sich Meyer in einer Neuauflage der 1902er Abhandlung mit der Weberschen Kritik an seinen Methodenreflexionen auseinandersetzt, vgl. Meyer 1910, 211. Darauf weist auch Friedrich Tenbruck hin (vgl. Tenbruck 1988, 35253). Allerdings marginalisiert dieser die Differenzen zwischen Meyer und Weber. 235 Der Logizitätsaspekt kommt hier in Abgrenzung zur Psychologie zu stehen. Die Frage, wie eine historische Erkenntnis im Geiste des Forschers psychisch entstanden ist, wird von Weber – wie schon in Roscher und Knies auf Gottl bezogen (vgl. RK II, 973. 111) – ausdrücklich abgewiesen (vgl. KS, 278). Dementsprechend bemerkt er, dass die „Kategorie des ‚Historischen‘ ein logischer, nicht fachtechnischer Begriff“ (KS, 2681) sei.

120 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Als Beispiel nennt Weber in diesem Zusammenhang die vor allem von Meyer geltend gemachte weltgeschichtliche Bedeutung der Schlacht bei Marathon (vgl. KS, 274f).²³⁶ Sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass sich der Ablauf der historischen Ereignisse trotz der gedanklichen Abänderung jener Schlacht, etwa im Sinne ihres siegreichen Ausgangs für die Perser, nicht signifikant verändern würde, dann bedeutete das zugleich, dass sich jenes Scharmützel in keinem kausal relevanten Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand befände. Aber unabhängig davon, ob es sich um Abänderungen oder Ausschaltungen handelt, in beiden Fällen haben wir es – wie Weber betont – mit „Phantasiebildern“ (KS, 275) zu tun, was den konstruktiv-hypothetischen bzw. idealtypischen Charakter dieses Verfahrens unterstreicht.²³⁷ Dieser Gesichtspunkt ist also nicht allein als Verfahrensschritt kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung von grundlegender Bedeutung. Er bildet auch einen Schlüssel für das Verständnis dafür, warum Weber dieses Verfahren im Objektivitätsaufsatz als idealtypisch bezeichnet hat.²³⁸ Denn wenn man danach fragt, worin das ideale bzw. idealisierende Element dieser Methode besteht, so handelt es sich exakt um den zuvor skizzierten Sachverhalt. Weber greift nicht allein einzelne Elemente auf, aus denen Typenbegriffe gebildet werden. Vielmehr werden einzelne von ihnen verfremdet (vgl. dazu auch O, 190–192). Dass es sich 236 Vgl. Massimilla 2012, 150ff. Es ließe sich aber auch die zuletzt in Christopher Clarks Sleepwalkers gestellte Frage „what kind of consequences the shootings at Sarajevo would have“ als Beispiel für die Konstruktion objektiver Möglichkeiten heranziehen (Clark 2013, XXVII). 237 Diesen Gesichtspunkt stellt Weber auch heraus, wenn er bemerkt, dass durch dieses Verfahren „‚die gegebene Wirklichkeit‘ zu einer „historischen ‚Tatsache‘“ (KS, 275) transformiert werde. Er richtet sich mit diesen Überlegungen gegen eine naive Rede von Tatsachen der Geschichte. Die Annahme von Tatsachen der Geschichte ist seiner Auffassung nach hoch voraussetzungsreich und verweist auf den Vollzug von Abstraktionsleistungen. Webers Notiz – „in der ‚Tatsache‘ steckt eben, mit Goethe zu reden, ‚Theorie‘“ – könnte Rickerts Grenzen entnommen sein, wo es heißt: „Es gilt vielmehr für die Logik der Naturwissenschaften das Wort: ‚Das Höchste wäre zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist‘.“ Rickert fügt allerdings in einer Fußnote hinzu: „Dass dieser Satz bei Goethe einen anderen Sinn haben soll als hier, wissen wir natürlich wohl. Aber es ist kein Zufall, dass er dem Wortlaut nach auch zum Ausdruck einer Meinung verwendet werden kann, die Goethe, übrigens aus nicht immer ganz gewürdigten Gründen, bekämpft hat.“ (G, 145145) Das Goethezitat findet sich in Goethe 1998, 501. Zur Diskussion des Tatsachenbegriffs um 1900 vgl. auch Scholtz 2014, 36f. 238 Über Webers Begründung, diese Theorie der Begriffsbildung als idealtypisch zu bezeichnen, gibt sein Brief an Rickert vom 14. Juni 1904 Auskunft: „Wie man sie nennt[,] ist ja Nebensache. Ich nannte sie so, weil der Sprachgebrauch von ‚idealem Grenzfall‘, ‚idealer Reinheit‘ eines typischen Vorgangs, ‚idealer Construktion‘ etc. spricht, ohne damit ein Sein-sollendes zu meinen, ferner weil das, was Jellinek (Allg[emeine] Staatslehre) ‚Idealtypus‘ nennt, |:als| nur im logischen Sinn perfekt gedacht ist, nicht als Vorbild. Im übrigen muß der Begriff weiter geklärt werden, er enthält allerhand bei meiner Darstellung noch ungeschiedene Probleme.“ (Br II / 4, 230f). Ähnlich äußert sich Weber – wiederum gegenüber Rickert – in Br II / 4, 477f.

2.4 Methoden der Deutung |

121

dabei jedoch nicht um subjektive Möglichkeitsurteile, sondern um objektive Hypothesen handelt, begründet Weber durch zwei Wissenselemente, die diese Hypothesen bestimmen. Es ist zum einen ein „‚ontologisches‘ Wissen“, das er als ein „Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur ‚historischen Situation‘ gehörigen ‚Tatsachen‘“ (KS, 276) spezifiziert. Dass jene Urteile im Bereich des objektiv Möglichen liegen, ist somit in ihrem Wirklichkeitsbezug begründet. Die ausgewählten Bestandteile stellen keine gegenüber dem zu untersuchenden Hergang externe Größen dar, sondern sind in diesem enthalten.²³⁹ Daneben fließt in die Möglichkeitsurteile ein „‚nomologisches Wissen‘“ (KS, 277) ein, das Weber als ein „Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln, insbesondere über die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen“ (KS, 276f), bezeichnet. Mit dem auch bei Kries anzutreffenden Begriff des nomologischen Wissens, den Weber über jenen hinausgehend durch den Begriff der Erfahrungsregeln spezifiziert, tritt nun schwerpunktmäßig die Generalisierungsdimension auf den Plan, also die zweite logische Operation, die historischen Erkenntnissen zugrunde liegt. Ihre Funktion lässt sich vor dem Hintergrund der fiktionalen Qualität historischer Möglichkeitsurteile bzw. kausaler Zurechnungen verdeutlichen. Gerade wenn Weber in diesem Zusammenhang von Phantasiebildern spricht, könnte diese Redeweise zu der Annahme Anlass geben, als wären es bloße Hirngespinste. Das aber ist mitnichten der Fall. Denn das Arrangement von möglichen Ursachen und dem bekannten Erfolg sei an Regeln der Erfahrung orientiert. Entscheidend ist für uns in diesem Zusammenhang allerdings der Begriff der Erfahrungsregel, der bei Weber für das nomologische Wissen innerhalb der Kulturwissenschaften steht. Insofern dieser Begriff in der für Webers Methodenreflexion grundlegenden Funktion innerhalb der Forschungsliteratur bislang kaum beachtet wurde, ist es erforderlich, ihn eigens zu thematisieren. Bevor das erfolgt, soll der Ertrag dieses Kapitels zusammengefasst werden. Johannes von Kries’ Begriff der objektiven Möglichkeit ist für Weber insofern von herausragender Bedeutung, als jener dazu verhilft, die logischen Implikationen und die idealtypischen Anforderungen der Geschichtserkenntnis transparent zu machen. Die ohnehin gängige Zurechnungspraxis innerhalb der historisch arbeitenden Disziplinen steht damit auf einem theoretisch abgesicherten Fundament. Darüber hinaus verbindet er mit diesem Modell ein enorm weitreichendes hermeneutisches Potential. Denn indem Kries das Verfahren der Zurechnung mit einem nomologischen, die Kausalitätskategorie umfassenden Wissen verknüpft, können die daraus resultierenden Urteile den Anspruch auf Objektivität erheben. Webers

239 Vgl. dazu auch die bereits diskutierte Unterscheidung zwischen Webers Begriff eines empirischen und eines ideellen Sinns, vgl. 2. 2. 4.

122 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens eigene Verstehenstheorie macht also genau deswegen bei der Kriesschen Konzeption Anleihen, um dem mit dieser Theorie verbundenen Objektivitätsanspruch gerecht zu werden, der – wie wir gesehen haben – seiner Auffassung nach innerhalb der sogenannten subjektivierenden Wissenschaften sträflich vernachlässigt werde. Dass Weber schlussendlich die Theorie der objektiven Möglichkeit zur Interpretation menschlichen Handelns, also für die Zurechnung von sinnhaftem Motiv und Verhalten nutzbar machen möchte, deutet er in seinen Kritischen Studien ausdrücklich an: „Es ist nun aber klar, daß ganz in derselben Weise, wie die kausale Entwicklung der ‚historischen Bedeutung‘ der Schlacht bei Marathon durch Isolierung, Generalisierung und Konstruktion von Möglichkeitsurteilen auch die kausale Analyse persönlichen Handelns logisch vor sich geht.“ (KS, 279). Wie er den Begriff der objektiven Möglichkeit im Rahmen seiner Theorie des Handlungsverstehens genau veranschlagt, wird später (vgl. 2. 4. 7) zu erörtern sein.

2.4.5 Das nomologische Wissen der Erfahrungsregeln Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass Weber sich vermutlich deshalb des Begriffs der Erfahrungsregel bedient hat, um ein nicht-naturwissenschaftlich begründetes Verallgemeinerungskriterium innerhalb der Kulturwissenschaften zu etablieren. Damit greift er wahrscheinlich die Position Rickerts auf, der in den Grenzen ausdrücklich bemerkt, dass alle wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis mit einem Allgemeingültigkeitsanspruch verbunden sei, unabhängig davon, ob es sich um nomothetische oder idiographische Wissenschaften handele. Den Geschichtswissenschaften bescheinigt er die Verwendung spezifischer Allgemeinbegriffe, die von denen der Naturwissenschaften kategorial zu unterscheiden seien. Es handele sich dabei um „in der ‚Erfahrung des Lebens‘ entstandene allgemeine Sätze über ursächlichen Zusammenhang“ (G, 433). Diese Überlegungen werden von Weber aber nicht bloß aufgegriffen, sie werden von ihm zugleich den eigenen Theorieinteressen entsprechend systematisch ausgebaut. Um diesen Ausbau nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, die beiden Ebenen auseinanderzuhalten, auf denen Weber mit dem Begriff der Erfahrungsregel arbeitet. Einerseits weist er diesem einen Ort im Aufbau menschlichen Handelns zu, andererseits verwendet er ihn im Rahmen seiner Theorie des Handlungsverstehens. Beide Aspekte sollen im Folgenden erörtert werden.²⁴⁰ Um die handlungstheoretische Reichweite des Begriffs der Erfahrungsregel abschätzen zu können, soll zunächst Webers 240 In seinen Kritischen Studien hält er zwar fest, zur „Art der ‚Geltung‘ dieser ‚Erfahrungsregeln‘“ (KS, 276) später Auskunft geben zu wollen. Das aber ist unterblieben. Hierin liegt vermutlich auch ein Grund dafür, dass dieser Begriff innerhalb der Weber-Literatur bislang vernachlässigt

2.4 Methoden der Deutung |

123

differenzierte Betrachtung des Regelbegriffs berücksichtigt werden, zu der er sich durch die – seiner Ansicht nach – unklare Verwendungsweise Rudolf Stammlers veranlasst sah. Stammler entwickelt in seiner Abhandlung Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung einen Begriff des „‚sozialen Lebens‘“, dessen zentrales Merkmal „geregeltes Zusammenleben“ (RS, 322) sei. Weber geht in seiner Rezension dieses Buchs ausführlich auf die entsprechenden Bestimmungen ein, kommt aber zu dem Schluss, dass der Regelbegriff, mit dem der Jurist operiert, vollkommen diffus sei, was sich dann auch notgedrungen auf den Begriff des sozialen Lebens übertrage. Stammlers Überlegungen zu den Eigengesetzlichkeiten der sozialen Welt dürften Weber wesentlich dazu angeregt haben, diese Fragestellung nun selbst stärker in Angriff zu nehmen.²⁴¹ Auch wenn die soziale Dimension schon vorab einen hohen Stellenwert in den methodologischen Schriften Webers hatte, läuft sie nun den Fragen der historischen Erkenntnis den Rang ab. Doch nicht dieser – werkgeschichtlich enorm weitreichende – Gesichtspunkt kann uns hier im Folgenden interessieren. Vielmehr müssen wir uns zunächst ganz auf Webers subtile Reflexionen zum Regelbegriff konzentrieren.²⁴² Weber differenziert zunächst zwischen zwei Grundbedeutungen des Regelbegriffs: Naturgesetze und Normen. Erstere stehen für eine „empirische Regelmäßigkeit“ (RS, 328), die unterschiedliche Grade von Exaktheit kennt: a) unbedingt geltende Gesetze, b) Ausnahmen zulassende Regeln, c) empirische Gesetze. Letztere nehmen in gewisser Weise eine mittlere Position zwischen a) und b) ein, insofern sie sich durch empirische Ausnahmslosigkeit auszeichnen, die jedoch theoretisch nicht abgedeckt wird.²⁴³ Unter einer Norm versteht Weber hingegen die allgemeine Aussage eines „Sollens“ (RS, 323). Von dieser einerseits deskriptiven und andererseits präskriptiven Verwendungsweise des Regelbegriffs unterscheidet Weber schließlich eine dritte, auf die es uns ankommt. Es handelt sich um „‚Maximen‘“ (RS, 323), also um subjektive Bestimmungsgründe des Handelns, auf die wir oben wurde. Erste Überlegungen stellen an: Henrich 1952, 62f; Rossi 1986, 32; Freund 1994, 484f; Ringer 1997, 99; Gephart 1998, 67; Šuber 2007, 308f.312; Nollmann 2007, 23–26. Auf das angesprochene Geltungsproblem weist auch Gephart 1998, 67 hin, der jedoch nicht weiter auf Webers Begriff der Erfahrungsregel eingeht. 241 Vgl. dazu auch Soz, 184f. 242 Vgl. dazu auch Gephart 2014, 34–37. 243 Husserl verwendet den Begriff des empirischen Gesetzes ganz ähnlich: „‚Empirische Gesetze‘ haben eo ipso einen Tatsachengehalt. Als unechte Gesetze sagen sie, roh gesprochen, nur aus, daß unter gewissen Umständen erfahrungsmäßig gewisse Koexistenten oder Sukzessionen einzutreten pflegen, oder je nach Umständen mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Darin liegt, daß solche Umstände, solche Koexistenzen oder Sukzessionen tatsächlich vorkommen.“ (Husserl 1992a, 82).

124 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens bereits eingegangen waren.²⁴⁴ Bemerkenswert ist nun, dass Weber den Begriff der Maxime mit dem der Erfahrungsregel koordiniert. Die Maximen spezifiziert er dahingehend, dass sie „in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussenden Wirksamkeit gestützt werden durch entweder selbst gefundene oder von andren erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus: wenn ich x tue, ist . . . y die Folge.“ (RS, 327) Diesem Zitat nach gehören Erfahrungsregeln zu den Konstitutionsbedingungen menschlichen Handelns. Weber erklärt diesen Sachverhalt mit der verhaltensbestimmenden Kraft der Maximen, die in ihrer Eigenschaft Ursache von Verhalten zu sein, durch jene Regeln – wie Weber sagt – gestützt werden. In ihnen liegt eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir Maxime und Verhalten – wir können auch sagen – sinnhaftes Motiv und Verhalten als in einer Ursache-Wirkungs-Relation stehend wahrnehmen. Das wiederum ist in dem jeweiligen Determinationszusammenhang begründet, den sie zum Inhalt haben und dessen formale Struktur Weber an dieser Stelle durch das Konditional wenn Handlung x, dann Folge y angegeben hat. Sie fließen in den Aufbau menschlichen Handelns ein und tragen damit wesentlich zu dessen Stabilisierung bei. Die Sukzession von Ereignissen der Handlungswelt zerfällt nicht in ihre einzelnen Teilmomente bzw. letztere stehen nicht unverbunden nebeneinander. Vielmehr erscheinen sie als miteinander verknüpft. Dass die Handlungswelt als ein Kontinuum wahrgenommen werden kann, wird Webers Auffassung nach wesentlich durch die Anwendung von Erfahrungsregeln sichergestellt. Erfahrungsregeln stellen also eine Form praktischen Wissens dar. Weber spezifiziert es als ein „positives Wissen von ‚Regeln des Geschehens‘“ (KS, 276), wobei letzteres wiederum auf die Handlungswelt gemünzt zu verstehen ist. Positiv ist dieses Wissen deswegen, weil es auf konkrete Einzelvorgänge anwendbar ist, worin es sich von dem nomologischen Wissen der Naturgesetze unterscheidet, das gegenüber dem Individuellen über ein lediglich negatives Wissen verfügt. Das Wissen um diese Regeln verdankt sich allerdings nicht der Ableitung aus allgemeinen Sätzen bzw. Prinzipien. Erfahrungsregeln werden von Menschen selbst entdeckt bzw. von anderen übernommen. Das Wissen darum, dass bestimmte Handlungen bestimmte Folgen zeitigen, ist der Alltagserfahrung entlehnt. Doch nicht nur für den Handlungsvollzug macht Weber das Vorhandensein von Erfahrungsregeln geltend. Selbiges gilt auch für dessen Interpretation. Die Annahme, dass in die subjektive Setzung der Maxime erlernte oder vermittelte Erfahrungsregeln einfließen, kann sich die Analyse einer Handlung zunutze machen. Unter der Prämisse, dass die Handlungsmotivation regelgeleitet erfolgt, erhöht sich

244 Vgl. 2. 2. 2.

2.4 Methoden der Deutung |

125

das Maß der Berechenbarkeit einer vollzogenen Handlung.²⁴⁵ Denn nicht allein der Handelnde verfügt über dieses Regelwissen, sondern auch der, der eine äußere Handlung wahrnimmt. Auf diesen Gesichtspunkt gilt es nun näher einzugehen. Damit begeben wir uns auf die zweite der eingangs genannten Ebenen, auf denen Weber mit dem Begriff der Erfahrungsregel operiert. In Roscher und Knies führt Weber die Begriffe „Alltagserfahrung“ (RK II, 68) sowie „Alltagserkenntnis“ (RK III, 111) ein und bezieht diese explizit auf den Deutungsbegriff, der hier zunächst unter den Bedingungen einer alltäglichen Einstellung zu stehen kommt. Das Erfahrungswissen bilde ein Aufbaumoment der Deutung alltäglichen menschlichen Handelns. Für das Verstehen des Handelns sei die „ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehaltes in ‚Regeln‘“ (RK III, 111) jedoch nicht erforderlich und werde „als ‚unökonomisch‘ unterlassen“ (RK III, 112).²⁴⁶ Das Erfahrungswissen, das er an dieser Stelle als eine Form von „Generalisierung“ bezeichnet, finde „‚implicite‘“ Verwendung (RK III, 111f). Das alltägliche Verstehen verlaufe meist in der Weise, dass eine explizite Formulierung der implizit verwendeten Alltagserfahrung nicht erforderlich ist.²⁴⁷ Um zu veranschaulichen, was es bedeuten würde, wenn unsere in den Alltagserfahrungen enthaltenen Generalisierungen durchgängig in die Form expliziter Regeln überführt werden müssten, nimmt Weber auf das Werk Wilhelm Buschs (1832–1908) Bezug: „Seine drolligsten Effekte erzielt dieser große Humorist gerade dadurch, daß er die zahllosen trivialen Alltagserfahrungen, die wir überall und in unzähligen Verschlingungen ‚deutend‘ verwenden, in das Gewand wissenschaftlicher Sentenzen kleidet.“ (RK III, 112) Als Beispiel führt er Plisch und Plum (1882) an, worin es heißt: „‚Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt‘“ (RK III, 112). Dieser Satz ist ein – wie Weber sagt – „tadellos formuliertes ‚historisches Gesetz‘“ (RK III, 112). Doch sei die Anwendbarkeit innerhalb alltäglicher Verstehensprozesse nicht von dessen Versprachlichung abhängig. Vielmehr besteht die Pointe darin, dass das Wissen, das die Erfahrungsregeln enthalten, nicht propositional verfasst sein muss. Wird das immer schon zur Anwendung kommende nomologische Erfahrungswissen

245 Webers Begriff der Erfahrungsregel im Sinne eines Erfahrungswissen, das den Ablauf einer Handlung bestimmt, steht in sachlicher Nähe zu Wrights Begriff der „sekundäre[n] Normen (Regeln)“. Während primäre Normen bzw. Regeln aussagen, „daß gewisse Dinge getan werden sollten oder getan werden dürfen“, sagen sekundäre Normen aus, „wie gewisse Handlungen vollzogen werden“. (Wright 2008, 137) Eine weitere Übereinstimmung lässt sich darin erblicken, dass auch für Wright die sekundären Normen bzw. Regeln „fundamentale Bedeutung für das Verstehen von Verhalten“ haben (Wright 2008, 138). 246 Vgl. Henrich 1952, 59. 247 Diese Überlegungen könnten von Friedrich Gottl angeregt sein, der von „Alltagskenntnis“ spricht, deren Inhalt „uns bis zur Unbewußtheit selbstverständlich“ (HdW, 81) sei.

126 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens dennoch auf die Ebene des Begriffs überführt, so handelt es sich dabei in der Regel um einen methodisch kontrollierten Abstraktionsakt, der den generalisierten Gehalt einer nicht-naturwissenschaftlichen Erfahrungsregel begrifflich fixiert (vgl. RK III, 114).²⁴⁸ Aber auch in diesem Fall stellen diese Regeln lediglich eine „Enklave innerhalb der Flut ‚vulgär-psychologischer‘ Alltagserfahrungen“ (RK III, 114) dar. Zusammenfassend betrachtet, ist unverkennbar, dass die Erfahrungsregeln ein unverzichtbares Aufbaumoment der Handlungs- und der Verstehenstheorie Webers darstellen. Hier wie dort stehen sie für die Stiftung eines Determinationszusammenhangs zwischen den Basiselementen menschlichen Handelns. Aus diesem Grund verknüpft Weber mit ihnen den Generalisierbarkeitsanspruch von Urteilen, die auf dem Boden der Kulturwissenschaften gefällt werden. Erfahrungsregeln sind das kulturwissenschaftliche Pendant zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen. Wie zuvor schon angedeutet wurde, besteht zwischen dem bereits behandelten Begriff der objektiven Möglichkeit und dem der Erfahrungsregel ein enger systematischer Zusammenhang. Als Statthalter des nomologischen Wissens innerhalb der Handlungswelt stellen Erfahrungsregeln eine elementare Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Begriffs der objektiven Möglichkeit auf die Grundelemente des Handlungsbegriffs dar. Signifikant ist aber auch, dass Weber den Begriff der Erfahrungsregeln mit dem Begriff des Alltags in Beziehung setzt. Das Verstehen, das mit Erfahrungsregeln operiert, ist alltagsbezogen. Diesen bislang nicht weiter erläuterten Gesichtspunkt gilt es im Zuge des folgenden Kapitels gedanklich zu vertiefen. Er führt uns auf Webers Auseinandersetzung mit Friedrich Gottl.

2.4.6 Schemata des Alltagsverstehens Friedrich Gottl gilt als ein Außenseiter der Wirtschaftswissenschaft. Er promovierte bei Webers Heidelberger Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Nationalökonomie – Karl Knies – und gehört damit zur jüngeren historischen Schule dieser Diszi248 Die Beantwortung der Frage, ob es für die deutend arbeitenden Wissenschaften zwingend erforderlich sei, „im Wege der Abstraktion für ihre Zwecke besondere Regeln und sog. ‚Gesetze‘ zu bilden“ (RK III, 111), fällt bei Weber nicht einheitlich aus. Auf der einen Seite wägt er pragmatische Gründe ab. Es gelte zu bedenken, dass die Antwort davon abhängig sei, „ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. des Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind.“ (RK III, 112) Auf der anderen Seite plädiert sein 1908 erschienener Aufsatz zur Grenznutzlehre dafür, dass die Alltagserfahrung „natürlich der gemeinsame Ausgangspunkt aller empirischen Einzeldisziplinen“ (GpG, 393) sei, dass letztere sich aber gerade dann als wissenschaftlich erwiesen, wenn sie die Alltagserfahrung „‚überwinde[n]‘“ oder ‚sublimier[en]‘“. An dieser Stelle bewegt sich Weber in den gedanklichen Bahnen Friedrich Gottls, vgl. dazu 2. 4. 6.

2.4 Methoden der Deutung |

127

plin. Gottls Name – ab 1909 von Gottl-Ottilienfeld – wird heute mit dem Begriff „Fordismus“ verbunden, den er maßgeblich geprägt hat.²⁴⁹ Des Weiteren sind seine Untersuchungen zum Thema Wirtschaft und Technik (1914 / 2 1923) zu erwähnen, die im Grundriß der Sozialökonomik erschienen.²⁵⁰ Das Thema der Technik drang zum damaligen Zeitpunkt massiv in die Kultur- und Sozialwissenschaften ein. Mit Gottl-Ottilienfelds Beitrag liegt eine der ersten großen ökonomischkulturwissenschaftlichen Techniktheorien vor, die auch von Weber positiv beurteilt wurde.²⁵¹ Webers Verhältnis zu Gottl ist innerhalb der Forschungsliteratur über lange Zeit kaum erörtert worden.²⁵² Dieser Befund nimmt insofern nicht wunder, als Weber nur an wenigen Stellen seines Werkes auf den vier Jahre jüngeren Kollegen zu sprechen kommt und sich an diesen Stellen jenem gegenüber häufig kritisch äußert. So heißt es bezogen auf den Beitrag, den Gottl für die Aufklärung des Deutungsbegriffs geleistet hat: „Für die weitere Erörterung des Wesens der ‚Deutung‘ knüpfen wir nun zweckmäßigerweise zunächst an die Ansichten von Gottl an. Denn wir können seine Ausführungen bequem als Anknüpfungspunkt benutzen, um uns klar zu machen, worin die erkenntnistheoretische Bedeutung der ‚Deutbarkeit‘ nicht besteht.“ (RK II, 95) Daher interessiere ihn auch „hier nur seine Interpretation der ‚Deutung‘“ (RK II, 931). Die diesem Thema gewidmeten Ausführungen konzentrieren sich auf Gottls 1904 erschienenen Beitrag Die Grenzen der Geschichte, der auf einen Vortrag zurückgeht, den er im Jahr zuvor auf dem Heidelberger Historikertag gehalten hatte. Dass sich Webers Sicht auf Gottls Werk, das seiner Auffassung nach von Mach, Wundt, Münsterberg und Dilthey beeinflusst worden ist (vgl. Br II / 5, 317), darin nicht erschöpft, deutet sich in den methodologischen Schriften lediglich in einer Anmerkung an, in der er Gottls Habilitationsschrift – Die Herrschaft des Wortes (1901) – als dessen „in hohem Maße geistvolle bisherige Hauptleistung“ (RK II,

249 Vgl. Gottl-Ottilienfeld 1924 sowie Gottl-Ottilienfeld 1926. Vgl. dazu sowie zu Gottls Denken insgesamt Köster 2011, 192–201 und Winkel 1977, 129f. 250 Vgl. Gottl-Ottilienfeld (1923). 251 „Gottl liefert eine ganz vorzügliche geschlossene Theorie der Technik, die sicher einmal (auch unverändert) ein sehr gut gehendes Lehrbuch werden kann. Aber er wird seinen Raum um das Doppelte überschreiten müssen, obwohl ich selbst persönlich Satz für Satz durchgehe und zusammenstreiche, was nur geht (eine Hundearbeit!).“ (Br II / 8, 449). 252 Zu den wenigen Ausnahmen gehören Tenbruck 1959, 606f und Hennis 1987b, 147. Die erste ausführliche Behandlung dieses Themas leistete Takemitsu Morikawas bei Johannes Weiß angefertigten Dissertation Handeln, Welt und Wissenschaft. Zur Logik, Erkenntniskritik und Wissenschaftstheorie für Kulturwissenschaften bei Friedrich Gottl und Max Weber (2001).

128 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens 95f1) bezeichnet.²⁵³ Worauf er mit dieser Angabe inhaltlich anspielt, zeichnet sich in verschiedenen Briefen Webers ab, die Anfang des 21. Jahrhunderts publiziert wurden und die seine zu Lebzeiten publizierten Äußerungen teilweise korrigieren.²⁵⁴ In einem an Gottl gerichteten Brief teilt er dem jüngeren Kollegen am 8. April 1906 mit: Ich habe Ihre ‚Herrschaft des Wortes‘ 4 Mal lesen müssen, um am Schluß den Anfang noch nicht vergessen zu haben und um die sehr gewichtigen Gedanken, die diesem Werk zu Grunde liegen, und die, – wie alle guten neuen Gedanken – an sich ganz einfache Gedanken sind, zu erfassen und alsdann an den feinen Verästelungen und Einfädelungen, durch die Sie Sich des Lesers bemächtigen wollen, einen sehr erheblichen Genuß zu haben.²⁵⁵ (Br II / 5, 70)

Was aber waren die einfachen Gedanken, die Gottl in seiner Studie formuliert hat und die Webers Aufmerksamkeit wecken konnten? Auch für die Beantwortung dieser Frage bietet sich ein Blick in Webers Briefe an. In einem Schreiben an den Historiker Richard Graf Du Moulin-Eckart vom 1. Juni 1907 ist zu lesen: „Ich persönlich halte nach eingehender Beschäftigung die Arbeit ‚Die Herrschaft des Wortes‘ für den tiefgründigsten Versuch, der Eigenart des ‚Alltags‘-Denkens gerecht zu werden, den wir haben, obwohl ich ihren Standpunkt öffentlich abgelehnt habe.“

253 Für eine positive Kritik, fährt Weber dann fort, sei in diesem Zusammenhang jedoch kein Platz und solle an späterer Stelle folgen, was aber nie geschah. Dass Weber dem Gottlschen Denken mehr abgewinnen konnte, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, zeigt Morikawas bereits erwähnte Dissertation. Hatten schon andere Weberinterpreten auf den positiven Einfluss Gottls hingewiesen, kommt Morikawa das Verdienst zu, die gedanklichen Konvergenzen zwischen Gottl und Weber systematisch untersucht zu haben. Er verfolgt damit den Zweck, einerseits das in Vergessenheit geratene Denken Gottls wieder ans Licht zu bringen, andererseits soll Webers Methodologie und Wissenschaftstheorie „mit Bezug auf Gottl erneut und tiefer interpretiert und vom Neukantianismus, besonders dem Rickerts, befreit werden.“ (Morikawa 2001, 269) In der einseitigen Fokussierung Gottls liegt die Stärke und die Schwäche der Arbeit Morikawas zugleich. Auf der einen Seite kann er auf diese Weise das Verhältnis zwischen Gottl und Weber in einer bisher nicht erreichten Intensität ausloten. Auf der anderen Seite blendet er durch dieses Verfahren andere, nicht minder wichtige Einflüsse auf Webers Theoriebildung aus. Darüber hinaus scheint mir der Anspruch, Webers Aufsätze zur Wissenschaftslehre vom Neukantianismus befreien zu wollen, überzogen zu sein. Es ist zwar tendenziell richtig, den Einfluss Rickerts nicht überbewerten zu dürfen. Dass Weber jedoch in mehrfacher Beziehung positiv an ihn anknüpft, steht außer Frage. 254 So heißt es in einem an den Kunsthistoriker Carl Neumann gerichteten Schreiben Webers vom 3. November 1906: „Gottl ist einer der geistvollsten Methodologen, die ich kenne, offenbar sehr guter Dozent, eine sehr fein organisierte Persönlichkeit, allerdings bisher eben nur methodologisch hervorgetreten.“ (Br II / 5, 175). 255 Weber zuerst angegebener Leseeindruck konvergiert mit einer Bemerkung Gottls: „Je unabhängiger der Schluß vom Anfang bleibt, desto schwerer wiegt auch der Einklang zwischen beiden!“ (HdW, 180).

2.4 Methoden der Deutung |

129

(Br II / 5, 293).²⁵⁶ Der hier entscheidende Begriff ist der des „‚Alltags‘-Denkens“. Weber ist der Überzeugung, dass die Bedeutung von Gottls methodologischer Leistung darin bestehe, eine weiterführende Antwort auf die Frage gefunden zu haben, wie innerhalb der Wissenschaften das Phänomen des Alltags reflektiert werden kann bzw. welcher Status dem Alltäglichen einzuräumen ist. Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Bemerkungen müssen somit zwei Perspektiven in Webers Beurteilung des Gottlschen Denkens auseinandergehalten werden: einerseits Gottls erkenntnistheoretische Begründung des hermeneutischen Ansatzes und andererseits dessen Reflexionen zum sogenannten Alltagsdenken. Beide Aspekte lassen sich grob den genannten Abhandlungen Gottls zuordnen. Während er letzteren vor allem in der Herrschaft des Wortes entfaltet, diskutieren die Grenzen der Geschichte das Spezifikum wissenschaftlichen Geschichtsverstehens. Allerdings lassen sich diese Abhandlungen nicht auf die besagten Gesichtspunkte restringieren. Vielmehr berühren sie auch das jeweils andere Thema. Wie sie von Gottl entfaltet werden, gilt es in einem ersten Schritt zu skizzieren (a). Daran anschließend wird Webers explizite Kritik sowie seine nicht kenntlich gemachte Anknüpfung an Gottl thematisch (b). a) Gottls Abhandlung Die Herrschaft des Wortes, die im Sprachstil an Nietzsches Schriften erinnert,²⁵⁷ umfasst zwei Teile. Der erste – Ueber die ‚Grundbegriffe‘ in der Nationalökonomie – unterzieht die zeitgenössische Nationalökonomie einer scharfen Kritik.²⁵⁸ Der zweite – Haushalten und Unternehmen als Formeln zur Er-

256 Auch in diesem Brief spart Weber wiederum nicht mit Kritik, wenn er festhält, Gottls Arbeiten gehören zum „Eigenartigsten, was unsre Litteratur aufweist.“ (Br II / 5, 293). 257 Vgl. Köster 2011, 205f. Weber rügt an mehreren Stellen Gottls Stil, durch den sich der Autor um die Früchte seiner Arbeit bringe. Diese Mahnung zieht sich durch die Briefe hindurch, in denen sich Weber mit Gottl über die Publikation einer Studie Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung in dem auch von Weber herausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik verständigt. Zugleich macht Weber deutlich, dass „ganz meisterhafte Partien“ darin sind, „die unbedingt publiziert werden müssen, u. zwar jetzt.“ (Br II / 5, 63). Auch in Roscher und Knies heißt es, dass die Habilitationsschrift Gottls „infolge der gewählten Form platt zu Boden gefallen“ (RK II, 95f3) sei. Auf die Eigenheiten des Sprachstils kommt Weber auch in einem Brief vom 1. Juni 1907 an Richard Graf Du Moulin-Eckart zu sprechen: „Die große Schwierigkeit des Verständnisses für den Nichtspezialisten liegt darin, daß G[ottl] sein ganz eminentes sprachkünstlerisches – möchte ich sagen – Talent |:auch:| dazu verwerthet hat, die bisher übliche philosophische und psychologische Terminologie sorgsam zu vermeiden, da er sie für seine Zwecke misverständlich hält. Ich bedaure das in seinem Interesse: das Buch würde gänzlich anders gewirkt haben, hätte er in dieser Hinsicht Conzessionen gemacht.“ (Br II / 5, 317). 258 Vgl. Weippert 1964, 681.

130 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens kenntnis des Alltäglichen – unternimmt den Versuch der Darlegung von „positiven Ergebnissen“ (HdW, 64).²⁵⁹ Beide Aspekte seien kurz erläutert. Gottls Argumentationsgang geht von der Beobachtung aus, dass innerhalb der Nationalökonomie allerorten von Grundbegriffen die Rede ist, z. B. Wert, Kapital, Handel etc. Deren Bezeichnung als Grundbegriffe suggeriere jedoch, dass sie auf dem Boden der Wissenschaften gebildet worden wären. Das aber wird von ihm bestritten, was ihn zugleich dazu veranlasst, die Frage aufzuwerfen, worin „Sinn und Geist der Bezeichnung ‚Grundbegriffe‘“ (HdW, 3) bestehen. Gottl ist der Überzeugung, dass diese Ausdrücke nicht auf das Konto einer wissenschaftlichen Begriffsbildung gehen. Vielmehr seien sie der Nationalökonomie – wie er sagt – eingeboren. Eine der für ihn zentralen Fragen lautet nun, „was es in sich schliesse, dass in der Nationalökonomie Eingeborene Fachausdrücke vorhanden sind.“ (HdW, 61) Die Antwort besteht darin, dass die Nationalökonomie jene Fachausdrücke bzw. Worte von der Alltagswelt ererbt. Sie wachsen aus „Leistungen des alltäglichen Denkens“ (HdW, 62) empor und es ist „keinerlei wissenschaftliche Tat für ihre Einführung haftbar“ (HdW, 16) zu machen. Die sogenannten Grundbegriffe seien bei Lichte besehen „Worte aus dem grünen Leben“ (HdW, 42, vgl. auch HdW, 16). Die Beharrlichkeit und Aufdringlichkeit dieser Worte für die Nationalökonomie ist somit deren Alltagscharakter geschuldet (vgl. HdW 16. 62). Aus dem alltäglichen Gebrauch dieser Begriffe resultiert gleichsam ein „Zwang zu ihrer vergleichsweisen Vielverwendung“ (HdW, 62). Letztere ist daher nicht nur eine „blosse Gewohnheit unseres Denkens“, sondern eine „Denknotwendigkeit“ (HdW, 63) Hierin liegt Gottls Überzeugung nach der tiefste Grund für die Herrschaft des Wortes innerhalb der Nationalökonomie. Das „Alltagswort“ erscheint „als theoretischer Begriff“.²⁶⁰ Von hier aus wird der kritische Impetus seiner Abhandlung nachvollziehbar. Es handelt sich um den Versuch einer kritischen Selbstbesinnung der Nationalökonomie auf die von ihr verwendete Begrifflichkeit. Das von Gottl traktierte Problem lässt sich aber noch unter einem anderen Blickwinkel entfalten. Für ihn – und hierin folgt er seinem Lehrer Knies – ist die Nationalökonomie eine „Erfahrungswissenschaft vom Alltagsleben“ bzw. eine „Wissenschaft von den menschlichen Handlungen“ (HdW, 37). Aufgrund ihres Wirklichkeitsbezugs sei sie die „lebensgrünste Wissenschaft“ (HdW, 38). Der Le-

259 Beide Begriffe besitzen auch in Knies Werk eine herausgehobene Stellung, vgl. Hennis 1988, 67. 260 Weippert 1966, 118. Dass diese Einsicht erst so spät aufgefunden wurde, begründet Gottl wie folgt: „Aber die Gründe der Spätgeburt liegen zum besten Teile wohl darin, dass aller Erkenntnis des Alltäglichen jene eingefleischte Kenntnis der Alltäglichkeit breit im Weg steht, die uns Allen eigen ist, weil wir insgesammt, Nationalökonomen wie Laien, Fachleute des ‚täglichen Lebens‘ sind.“ (HdW, 38, vgl. auch HdW, 6).

2.4 Methoden der Deutung |

131

bensbezug dieser Disziplin besteht in der Fokussierung der zwischen „Sinnenwelt und Seelenwelt“ stehenden „Welt des Handelns“ (HdW, 70). An dieser für die historische Schule der Nationalökonomie signifikanten Selbstbeschreibung rüttelt Gottl nicht. Was er aber moniert, ist der zuvor bereits angedeutete Sachverhalt, dass die Begriffe, mittels derer die alltägliche Handlungswelt untersucht wird, letzterer entstammen. Das aber bedeutet für ihn, dass die Nationalökonomie unkritisch verfahre und einer Aufklärung bedürfe, die darauf zielt „Emanzipation des nationalökonomischen vom urwüchsigen Denken – volle Herrschaft über den Stoff“ (HdW, 223) zu erwirken. Diese Kritik erfolge aber nicht im Medium einer philosophischen Besinnung, sondern „in eigener Regie“ (HdW, 38).²⁶¹ Der Versuch, die Nationalökonomie von der Herrschaft des Wortes zu befreien, erfolgt im zweiten Hauptteil seiner Habilitationsschrift – Haushalten und Unternehmen. Dieser gehe nicht von Worten, sondern von einem „richtigen Probleme“²⁶² (HdW, 67) aus. Dieses Problem spezifiziert Gottl dahin gehend, „Formeln“ (HdW, 68) auffinden zu wollen, die eine Erkenntnis des Alltagshandelns möglich und für diese Leistung die Alltagserkenntnis entbehrlich machen.²⁶³ Wie es ihm gelingt, diese Formeln zu entwickeln, gilt es nun zu umreißen. Die Welt des Handelns bildet den spezifischen Gegenstandsbereich der Nationalökonomie. Handeln stellt eine Form des „Geschehens“ (HdW, 71) dar, das sich im Unterschied zu Naturvorgängen durch einen spezifischen „Gehalt“ auszeichnet. Dabei ist es auffällig, dass Gottl zu dessen Konkretisierung weder den Wert- noch den Sinnbegriff verwendet. Er stellt lediglich fest, dass dieser Gehalt „mit dem Worte ‚Zweck‘ . . . nur höchst oberflächlich anklingt“ (HdW, 76; vgl. auch HdW, 187). Gottl arbeitet jedoch einen Zusammenhang zwischen dem nicht weiter bestimmten Gehalt und dem Ich-Gedanken heraus. Er konstatiert, dass an „‚Ursprüngen‘“ des Handlungsgeschehens, „den Knotenpunkten seiner Zusammenhänge, . . . ein Ich stehen bleibt.“ (HdW, 77) Für den Betrachter wird jenes im Ursprung stehende Ich sichtbar, wenn der Geschehenszusammenhang in derselben Weise verknüpft ist, „wie das eigene Handeln in unserem Ich“ (HdW, 77). Das Ich des Betrachters kann sich Gottls Auffassung nach deswegen im Handeln spiegeln, weil der

261 Gottl sieht einen strikten Gegensatz zwischen „dem aktionswissenschaftlichen und dem metaphysischen Denken“ (HdW, 203). Letzteres parallelisiert er mit der praktischen Philosophie sowie der Geschichtsphilosophie. 262 Georg Weippert hält diesem Vorhaben gegenüber fest: „Willens, an die Stelle ‚wortgebundenen‘ Denkens das ‚problembewußte‘ Denken zu setzen, mußte von Gottl die Alltagstermini beiseitelassen.“ (Weippert 1966, 118). 263 Diesen Erkenntnisakt bezeichnet er auch an anderer Stelle als eine „Deutung“ des Alltäglichen, wobei der Deutungsbegriff selbst nicht zu den signifikanten Ausdrücken seines Denkens gehört, sondern nur sporadisch Verwendung findet (vgl. etwa HdW, 100).

132 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Wurzelgrund des Handelns selbst wiederum ein Ich ist. Der mentale Akt jenes Innewerdens bildet das Erlebnis. Ohne des Näheren auf diesen Begriff eingehen zu können, bildet er für Gottl eine basale Form des Verstehens eines Geschehens als Handlung.²⁶⁴ Zugleich stellt sich das Handeln im Medium des Erlebens als ein zusammenhängendes Geschehen dar. Gottl verdeutlicht diesen Aspekt anhand des Beispiels eines sich auffällig bewegenden Arms. Diese Bewegung sei, so Gottl für uns nicht gleichgültig, sondern werde als ein Drohen, Grüßen und Winken erfahren. Letztere sind Interpretamente von mundanen Zustandsveränderungen, die ihrerseits im Modus des Erlebens in einen weiteren Kontext eingezeichnet werden. „In diesem Sinne spinnt sich das Geschehen schon in seiner schlichten Erlebtheit in die Zusammenhänge mit Seinesgleichen ein; hinter dem ‚Drohen‘ steht zum Beispiel die ‚Strafe‘ oder der ‚Angriff‘.“ (HdW, 78) Insofern das Erleben Geschehenszusammenhänge spinnt, spricht Gottl von dem „Einen Gewebe der Erlebnisse“ (HdW, 78).²⁶⁵ Das Erleben sei dazu berufen, „den roten Faden zu spinnen“, der sich durch das Handeln hindurchzieht. Aus diesem Grund bezeichnet Gottl das Erleben auch als einen „Kitt“ (HdW, 104), der die einzelnen Bausteine des Handlungsstromes zusammenhält. Bezieht sich nun das Denken auf die Handlungswelt ist ihm die Einheit des Erlebten bereits „gesetzt“ (HdW, 103). Der Konstitutionsgrund der Einheit des Handelns liegt für Gottl sonach nicht im reflektierten Zugriff auf das erlebte Geschehen, sondern im vorprädikativen Erleben selbst. Gleichwohl konstituiert das Erleben nur den Handlungszusammenhang.²⁶⁶ Das Denken hingegen greift in diesen Zusammenhang ein und bestimmt Strukturen bzw. Gliederungen des Gesamtzusam264 Die dem Handeln adäquate Erkenntnisweise bezeichnet Gottl als „verstehen“, wohingegen Geschehnisse, die kein Handeln darstellen, „begriffen“ werden (HdW, 77). Als Beispiel dafür, dass ein Geschehen nicht verstanden werden kann, führt Gottl jenseits der Naturvorgänge den Narren an. Dieser lässt sich nicht verstehen, weil er nicht handelt, sondern „geschieht“ (HdW, 77). – Ähnliche Überlegungen stellt Weber auch in seinen methodologischen Schriften an, wo vom „Prinzip des ‚Verrückten‘“ (RK II, 67; vgl. auch KS, 226) die Rede ist. – Kein Ich erscheint dem Betrachter als Wurzel des Geschehens, sondern eine Besessenheit, wie Gottl sagt. Damit geht der Schlüssel verloren, der das Geschehen als Handeln begreifbar gemacht hätte; „es entseelt sich, es wird Natur.“ (HdW, 77). 265 Vgl. auch HdW, 91. 103f. 122. 125. 135 u. ö. 266 Bei Morikawa heißt es: „Dieser erlebte Zusammenhang ist gleichzeitig der Handlungszusammenhang, und gliedert sich teleologisch.“ (Morikawa 2001, 28) Diese Formulierung ist missverständlich, weil Gottl selbst vom Gehalt der alltäglichen Handlungswelt bemerkt, dass dieser – wie oben schon bemerkt wurde – „mit dem Worte ‚Zweck‘ . . . nur höchst oberflächlich anklingt“ (HdW, 76) Das Erleben wird nur des Zusammenhangs des Handelns inne. „Streben und Erfolg besagen schon Eingriffe unseres Denkens. Das gilt erst recht von dem Zweckgehalt des Strebens: jene Vorstellung, die der Erfolg bejaht oder verneint. Wo wir diesen Zweckgehalt in Rücksicht nehmen, wird aus der Handlung ein spezifisches Thun“ (HdW, 184).

2.4 Methoden der Deutung |

133

menhangs (vgl. HdW 184). Die im Erlebniszusammenhang verknoteten Handlungen stellen sich dem Denken als „Gliederteile eines Vollwesens“ (HdW, 184) dar.²⁶⁷ Die Transformation des Erlebniszusammenhangs in einen Strukturzusammenhang ist das Resultat von „denkenden Umformungen“ (HdW, 184). Innerhalb der Nationalökonomie erfolgt dieser Prozess durch die Anwendung spezifischer „Formeln zur Erkenntnis des Alltäglichen“ (HdW, 80), die Gottl auch als Schemata (vgl. HdW, 79. 87) bzw. „klare Gedankengebilde“ (HdW, 80) bezeichnet. Sie bilden ein wesentliches Fundament dafür, „wenn sich das nationalökonomische Denken hinausheben will über die Alltagskenntnis“ (HdW, 80). Für das Verständnis der Gottlschen Position ist nun dessen Auffassung entscheidend, dass, obwohl mit der begrifflichen Gliederung des Handlungs- bzw. Erlebniszusammenhangs Umformungen desselben einhergehen, eine Strukturgleichheit von Erleben und Denken besteht. In der ordnenden Tätigkeit des Denkens spiegeln sich die Formationen der erlebten Handlungswelt wider. Auf der einen Seite gibt Gottl zu verstehen, dass sich die Handlungswelt im Erleben nicht als eine chaotische Mannigfaltigkeit darstellt, sondern vielmehr als ein Zusammenhang. Was diesen Zusammenhang im Innersten zusammenhält, wird jedoch auf der Ebene des Erlebens nicht thematisch. Stiftet nun das Denken gedankliche Ordnung in diesen Zusammenhang, so handelt es sich dabei um keine gegenüber dem Erlebniszusammenhang heterogene Ordnung. Das Denken spinnt, um mit Gottls Worten zu sprechen, kein neues Gewebe. Vielmehr sind die von ihm verwendeten Formeln „nach ihrem Inhalte lauter Spielarten des Zusammenhangs im Handeln“ (HdW, 80). In diesem Sinne kann er auch von dem Denken reden, das mit unserem Handeln urverwachsen ist (vgl. HdW, 79). Dementsprechend verdanken sich die Formeln des Denkens auch der Lebenswirklichkeit, die sich durch zwei Grundverhältnisse auszeichnen. Gottl nennt die „Not“ und die „Macht“, die ihm als „Stichworte“ dienen, um die „letzten Tatbestände“ (HdW, 82) des menschlichen Lebens zum Ausdruck zu bringen. Ausgehend von diesen hier nicht weiter zu erörternden Grundverhältnissen entwickelt er die bereits genannten Formeln. Dabei handelt es sich bezogen auf die Not um „Werten“ (HdW, 84) „Werben“ (HdW, 85) sowie bezogen auf die Macht um „Helfen und Herrschen“ (HdW, 88). An dieser Stelle ist wiederum nicht deren jeweilige Spezifikation in den Blick zu nehmen, sondern vielmehr deren allgemeine Charakteristik. So stellt Gottl heraus, dass mit besagten Formeln ein jeweils „unpersönlicher Hergang im Geschehen“ (HdW, 83) bezeichnet ist. Damit ist angezeigt, dass diese Formeln kein Spiegelbild tatsächlicher Handlungsvollzüge darstellen, sondern vielmehr Re-

267 Gottl operiert an dieser Stelle auch mit dem Begriffspaar Organismus und Organ.

134 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens präsentationen einer „Möglichkeit“ (HdW, 83) des Handelns, was mit dem bereits genannten Ausdruck der Spielarten korrespondiert. Was die Genetisierung jener Formeln betrifft, so bemerkt Gottl, „daß ich allemal der plattesten Erwägung folge, wie wir uns einer gegebenen Sachlage gegenüber verhalten. Ich sehe mir ein persönliches Gebaren daraufhin an, wie es sich von aussen her als ein unpersönlicher Hergang ausnimmt.“ (HdW, 83) Der Nationalökonom geht somit von der Gegebenheit einer bestimmten Sachlage aus und stellt sich vor, wie Menschen sich unter den bestimmten Bedingungen „regelmässig“ (HdW, 83) verhalten würden. Die Formeln bilden somit einen fingierten Handlungsvollzug ab, der aber auf einer empirischen Basis beruht. Sind die Formeln – Werten, Werben, Helfen und Herrschen – gewonnen, können sie als „Schema eines bestimmten Gebarens“ (HdW, 83) angesehen und eingesetzt werden, um Alltagshandeln verständlich zu machen. Entscheidend ist für Gottl schließlich, sich auch an dieser Stelle nicht unter die Herrschaft der Worte – ‚Werten‘, ‚Werben‘, ‚Helfen‘ und ‚Herrschen‘ – zu stellen. Sie seien keineswegs konstitutiv für die formale Schilderung des jeweiligen möglichen Handlungsvollzugs. Vielmehr treten sie erst im Nachhinein hinzu, sodass das in die Formel zusammengefasste Handeln in keiner Weise an das jeweilige Wort gebunden ist (vgl. HdW, 85). Diese Freiheit vom Wort ermöglichte es auch, auf die Verwendung jener Worte zu verzichten und nur von ‚Hergang 1‘ oder ‚Hergang 2‘ zu sprechen. Es sind nun bei Weitem nicht alle zentralen Aspekte der Gottlschen Abhandlung zur Sprache gekommen. Gleichwohl können wir an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit der Herrschaft des Wortes abbrechen. Denn das bisher Dargelegte reicht aus, um später Webers Anknüpfung an jenes Werk verständlich zu machen. Bevor das erfolgt, wenden wir uns der zweiten Abhandlung Gottls zu, den Grenzen der Geschichte, auf die sich Weber bezieht, um dessen Deutungsbegriff einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Gottls Untersuchung bewegt sich im Horizont der zum damaligen Zeitpunkt großräumig diskutierten Frage um die Differenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die auch hier schon mehrfach angeschnitten wurde. Wie auch bei Rickert und anderen kreisen die Nicht-Naturwissenschaften um den Geschichts- bzw. Geschehensbegriff.²⁶⁸ Er merkt an, dass eigentlich von der „‚Welt des Handelns‘“ die Rede sein müsste, denn sowohl die Geschichte als auch die Nationalökonomie seien „Wissenschaften vom handelnden Menschen“ (GdG, 61). Gleichwohl zieht

268 Mit dieser Zuspitzung greift er Überlegungen auf, die er bereits in der Herrschaft des Wortes entfaltet hatte, von der er selbst als seiner „programmatischen Schrift“ (GdG, VII) spricht. Denn schon dort hatte er den gerade genannten Gegenstandsbereich, der für die geschichtlich arbeitenden Disziplinen bzw. die Historie reserviert ist, als „Geschehen“ spezifiziert.

2.4 Methoden der Deutung |

135

er hier im Hinblick auf den Geschichtsbegriff – nicht zuletzt aus etymologischen Gründen – den Ausdruck „Geschehen“ (GdG, 6) vor. Gottl erläutert die Differenz zwischen den Natur- und der Geschichtswissenschaft anhand eines Schulbeispiels, und zwar an einem Steinbruch, an dem sich sowohl natürliche Veränderungen als auch Veränderungen von Menschenhand feststellen lassen. Diesem Beispiel entsprechend erörtert er die Naturwissenschaften exemplarisch an der „historischen Geologie“ (GdG, 15), also der erdgeschichtlichen Forschung. Diese hätte es im Unterschied zur Geschichte nicht mit Geschehnissen, sondern mit „räumlichen Dinge[n]“ zu tun. Sie befasse sich mit besonderen, nebeneinander liegenden Seinsverhältnissen, etwa Gesteinsschichten.²⁶⁹ Dass diese am Ende geomorphologischer Untersuchungen in einer chronologischen Reihenfolge erscheinen, verdankt sich jedoch nicht ihrer bloß natürlichen Verfasstheit. Vielmehr wird hier Geschehen interpoliert, um Seinsverhältnisse zu spezifizieren. Aus diesem Grund bezeichnet Gottl das Geschehen auch nicht als den originären Gegenstand der Naturerkenntnis, sondern als einen „Konstruktionsbehelf “ (GdG, 26. 48), durch den es gelingt, aus einem „Nebeneinander der Dinge“ ein „Nacheinander“ (GdG, 24) zu konstruieren. Im Horizont dieser Bestimmungen formuliert Gottl dann seine „Kernthese“ (GdG, 15): „Historik ist Interpretation von Sein, um Geschehen zu erschließen. Historische Geologie ist Interpolation von Geschehen, um Sein zu ordnen.“ (GdG, 25) Um die Geschichte bzw. wie Gottl häufiger sagt die Historie von der historischen Geologie noch stärker abzugrenzen, bezeichnet er diese als „Metahistorik“ (GdG, 28).²⁷⁰ Diese formelle Differenz zwischen beiden Wissenschaftsbereichen ergänzt Gottl sodann um einen weiteren Unterschied, der deren jeweilige Erkenntnisweise betrifft. Dazu entwickelt er der Metahistorik und der Historie entsprechende Schemata. So führt er bezogen auf die historische Geologie aus: „Man weiß aus Erfahrung, daß – schematisch gesprochen – auf A ein B folgt, auf D ein E, auf F ein G, und so eine beliebige Reihe hindurch.“ (GdG, 31) In diesem Erfahrungswissen sei ein „System kausaler Verkettungen“ (GdG, 31) enthalten, die alle dem „Schema: auf A folgt B“ (GdG, 31) entsprechen, worin die Struktur des Naturgesetzes zum Ausdruck komme. Anders verfährt hingegen die Historie. Zunächst geht sie – wie Gottl am Schulbeispiel erläutert – zwar auch von bestimmten Gesteinsformationen und damit von „Formveränderung“ (GdG, 34) aus. Aber auch wenn der Historiker sich auf Veränderungen konzentriert, die von Menschenhand verursacht sind (Einritzungen, 269 „Wenn auch die Geologie an dem Ausdruck ‚Erdgeschichte‘ festhält, es geschieht da so recht nichts – es wandelt sich nur das Seiende.“ (GdG, 23). 270 Der Begriff wird in unseren Tagen vor allem in dem von Haydn White geprägten Sinne – Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe (1973) – verwandt.

136 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Löcher, Stufen etc.) – denn nur diese erregen seine Aufmerksamkeit –, liegt hier noch nicht die entscheidende Differenz zur Metahistorik. Denn auch artifizielle Vorgänge könnten einer Kausalanalyse unterzogen und dieser entsprechend aufbereitet werden. Entscheidend ist hier vielmehr die Einsicht, „daß jenes Mehrerlei von Geschehen in einer ganz besonderen Weise zu einem einzigen Geschehen verflochten ist.“ (GdG, 34) Wird ein Historiker dieser Verflechtung gewahr, verändert sich der Status jener Formveränderung. Diese ist nun nicht mehr Selbstzweck – wie im Falle der erdgeschichtlichen Untersuchungen –, sondern „Mittel, ein Geschehen zu erschließen!“ (GdG, 35). Mit dem zuvor bereits erwähnten Begriff des Erschließens ist Gottls terminus technicus für das geschichtswissenschaftliche Interpretationsverfahren bezeichnet. Was setzt es aber voraus, menschlich verursachte Veränderungen im Gestein als Interpretationsmedium zu verwenden? Die Antwort lautet: das „vernünftige Denken“ (GdG, 35). Dieses bildet die Möglichkeitsbedingung der Wahrnehmbarkeit solcher Verflechtungen und damit der Erschließbarkeit des anvisierten Gegenstandsbereichs. Diesen Gesichtspunkt erläutert Gottl wie folgt: „Die Vorgänge des Ebnens, Einritzens, Eintreibens und Abspaltens erscheinen uns deshalb zu einem einzigen Geschehen so verflochten, als ob eines um aller willen und alle um eines da wären, weil sie sowohl einzeln wie als Reihe mit einer vernünftigen Erwägung im Einklang stehen.“ (GdG, 35) Die zuletzt genannte rationale Erwägung – und das ist für Gottls weitere Argumentation entscheidend – lässt sich sodann in ein Schema überführen. Dieses Schema setzt zweierlei Faktoren voraus. Gegeben sei ein Zustand M und zu erreichen ein Zustand N. Die hieran anknüpfende Frage lautet, welche Tätigkeiten erforderlich sind, um M in N zu überführen. Auf das Schulbeispiel bezogen bedeutet das: Es wären Säulen herzustellen, man steht aber gewachsenem Fels gegenüber; das ist der Ansatz der Erwägung. In ihrem Vollzuge müssen wir uns die Erwägung von der erfahrungsmäßigen Kenntnis kausaler Verkettungen gespeist denken. Man weiß z. B. aus Erfahrung, daß man einem gewaltsamen Bruch im Gestein durch einen vorgezogenen Spalt die Richtung geben kann. Aus lauter solchen Erfahrungssätzen, deren tieferer kausaler Gehalt ganz in der Schwebe bleiben kann, setzt sich die Instruktion der Erwägung zusammen. Das Ergebnis der Erwägung aber läßt sich in einem Kettenschlusse darstellen: Um Säulen herzustellen, bedarf es zunächst eines abgetrennten Stückes Gestein; dazu muß eine Abspaltung erfolgen; um diese zu vollziehen, müssen Keile eingreifen können, müssen also Löcher da sein, und muß vorher auf geebneter Fläche ein Spalt dem Bruch die Richtung geben. (GdG, 36)

Von wesentlicher Bedeutung ist auch hier, dass in die besagte Erwägung Erfahrungswissen einfließt. Dieses Wissen ist für die gedankliche Explikation des Schemas M → x, y, z → N von konstitutiver Bedeutung. Allerdings reichert Gottl den Erfahrungsbezug dahingehend an, dass dieser durch das „logische Denkgesetz“ (GdG, 37) bestimmt sei. Letzteres bildet das rationale Fundament dafür, die Teil-

2.4 Methoden der Deutung |

137

momente zu einer „Handlung“ (GdG, 37) verflechten zu können. Die „logischen Denkgesetze“ seien es, „mit denen unser ganzes Denken und Erfahren steht und fällt.“ (GdG, 52) Und das gilt nicht allein für die Erschließung fremden Handelns, sondern gleichermaßen für das je eigene (vgl. GdG, 51). Ja noch mehr: „Unser eigenes Handeln wird uns wohl zum aufklärenden Vorbilde;“ (GdG, 51) Hierin liegt eine grundlegende Möglichkeitsbedingung für die Arbeit des Historikers. Gottl geht von einer Strukturgleichheit menschlichen Handelns aus, die ihren rationalen Kern in den besagten Denkgesetzen besitzt. Mit den Denkgesetzen ist der entscheidende Differenzpunkt zwischen der Historie und der Metahistorie bezeichnet. Denn obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, dass auch die Vertreter der letzteren „logisch denken“ (GdG, 37), gilt auch: „Hinter den Naturgesetzen aber steht, als letzte Instanz, erst noch die Erfahrung.“ (GdG, 50). Anders verhält es sich hingegen mit den logischen Denkgesetzen, „die sich selber schon die letzte Instanz sind.“ (GdG, 50) Die nomologischen Anteile der Naturerkenntnis – so könnte man Gottls Position paraphrasieren – sind damit a posterio; die rationalen der Geschichtserkenntnis hingegen a priori. Allerdings wird diese Differenzierung von ihm lediglich gesetzt und nicht weiter begründet. Die herausragende Stellung der Denkgesetze deutet sich schließlich an einer Formulierung an, die Gottls Untersuchung wie ein roter Faden durchzieht. Er führt mehrfach aus, dass im Falle des Geschehens, dem sich der Historiker zuwendet, „die Logik gleichsam im Geschehen selbst steckt“ (GdG, 37, vgl. auch 51. 87). Diese nicht ganz einfach zu interpretierende Formulierung operiert zunächst mit dem Geschehensbegriff, was bereits impliziert, dass es sich hierbei nicht um ein bloß sinnlich repräsentiertes Sein handelt, sondern um einen Gegenstand, der auf der untersten Ebene erlebt wird. Geschehen ist immer erlebtes Geschehen. Wenn Gottl sodann den Ausdruck „gleichsam“ verwendet, will er dem Einwand vorbeugen, als sei bereits das erlebte Geschehen rational strukturiert. Allerdings – und das wurde bereits angedeutet – ist er zugleich der Auffassung, dass die Logik des Geschehens bzw. die Denkgesetze, die auf diesen Gegenstand angewendet werden, sich in einem Strukturzusammenhang zum bloß erlebten Geschehen befinden. Die Logik ist also dem erlebten Geschehen gegenüber nichts gänzlich Neues. Vielmehr kommt die Rationalität des erlebten Geschehenszusammenhangs durch die Anwendung von Denkgesetzen zur Darstellung. Sie artikuliert sich in ihnen. In diesem Sinne begriffen, gehört im Falle der Geschichtserkenntnis die Logik zur „Substanz“ (GdG, 37) des Geschehens. An anderer Stelle redet Gottl „bildlich“ von der „Geburt der Logik im Geschehen“ (GdG, 75; vgl. auch 87). Aus diesem Grund befindet sich die Geschichtserkenntnis – im Unterschied zu den Naturwissenschaften – in einem „innigeren Verhältnis“ (GdG, 49) zum Geschehen. Die Auseinandersetzung mit Gottls Grenzen der Geschichte können wir an dieser Stelle beschließen. Dass auch hier nicht alle zentralen Aspekte seiner Un-

138 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens tersuchung zur Sprache gekommen sind, sei ausdrücklich herausgestellt. Die vorgenommene Auswahl steht im Zeichen von Webers positiver Rezeption sowie seiner expliziten Kritik der Gottlschen Schriften, die es nun nachzuzeichnen gilt. b) Wie schon angedeutet wurde, konzentriert sich Webers Kritik an den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Gottls hermeneutischem Ansatz auf das von diesem konstatierte Rationalitätskontinuum zwischen Erleben und Denken: „Der Glaube Gottls aber, daß wir – im Gegensatz zur ‚Natur‘ – das ‚erlebte‘ Geschehen auch so zu denken vermöchten, wie wir es ‚erlebt‘ haben, ist logisch unrichtig“ (RK II, 96). Diesen Vorwurf erhebt Weber – wenn auch ein wenig versteckt – im Rahmen seiner Beurteilung derjenigen Operation, die nach Gottl dem historischen Erkennen eigentümlich ist. Die historische Erkenntnis stelle bei Gottl – und darauf sind wie oben schon zu sprechen gekommen – eine „Erschließung des zu Erkennenden“ (RK II, 98) dar. Dieser Prozess setze, wie Weber fortfährt, als ein „Akt – wie wir sagen würden – deutenden Durchschauens des Sinnes menschlicher Handlungen“ ein „und schreitet fort, indem immer neue deutend erfaßte Bestandteile angegliedert . . . und so ein stets umfassenderer Zusammenhang sinnvollen Handelns gebildet wird, dessen Einzelbestandteile sich gegenseitig stützen, weil der gesamte Zusammenhang für uns ‚von innen heraus‘ durchsichtig bleibt“ (RK II, 98). Als das zu Erkennende wird die historische Wirklichkeit in einem Prozess deutenden Durchschauens erfasst. Das im Ausdruck des Durchschauens anklingende intuitive Element weist darauf hin, dass Weber diesen Erschließungsprozess als einen vorprädikativen Erkenntnisvorgang begreift. Diese Lesart wird dadurch gestützt, dass Weber Gottls Anspruch scharf kritisiert, dass die „‚Erschließung‘ historischen Geschehens eine solche ‚vom Boden der Denkgesetze‘ aus sei“ (RK II, 99). Denn die Erschließbarkeit dieses Geschehens meine doch – so Weber – nur „dessen Zugänglichkeit für unser nacherlebendes Verstehen – eben seine Deutbarkeit“ (RK II, 100). Daher sei die von Gottl vorgenommene „Gleichsetzung von dem, was wir ‚deutend‘ zu verstehen vermögen, mit logisch erschließbarem Tun“ (RK II, 100) unhaltbar. Die Logizität eines Vorgangs liegt nicht im erlebten Geschehen beschlossen, sondern setzt eine gedankliche Verarbeitung desselben voraus. Gottls deutendes Verstehen aber bewegt sich auf der Ebene des Erlebens und damit für Weber jenseits begrifflicher Bestimmtheit, die allererst Logizität impliziert. Doch liegt hier noch nicht der Haupteinwand Webers gegenüber Gottls Konzept eines Erschließens bzw. deutenden Verstehens des Sinns menschlichen Handelns. Er besteht vielmehr darin, dass in dessen Habilitationsschrift der „psychologische Hergang des Erkennens mit seinem erkenntnistheoretischen Sinn, das Ziel des

2.4 Methoden der Deutung |

139

Erkennens mit seiner Methode“ (RK II, 98) identifiziert worden seien.²⁷¹ Für Gottl, so Weber, liege die wissenschaftliche Erkenntnis im erlebnismäßigen Prozess der Erkenntnisgewinnung. Der psychische Erlebnisweg, der zur Erkenntnis führt, wird mit letzterer identifiziert. Hierin deutet sich der „Kern der Irrtümer Gottls“ an, die „Verwechselung des psychologischen Hergangs bei der Entstehung sachlicher Erkenntnis mit dem logischen Wesen der Begriffe, in denen sie geformt wird“ (RK II, 973).²⁷² Doch geht es bei der kultur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnis nicht primär um den psychologischen Hergang dieser Erkenntnis, sondern um die Frage nach den jeweiligen Kategorien, die jene Erkenntnis formen. Wie oben schon gezeigt wurde, heißt das aber nicht, dass Weber Dimensionen psychischen Lebens bzw. das psychologische Verstehen außer Acht ließe.²⁷³ Vielmehr hebt er auf die Rationalitäts- und damit Objektivitätsdefizite des Erlebens ab, die sich nur begrifflich-kategorial auffangen lassen.²⁷⁴ Doch ist Webers Auseinandersetzung mit Gottl damit noch nicht erschöpfend beschrieben. Denn neben der ausgeführten Kritik lassen sich – wie schon angedeutet wurde – durchaus Konvergenzen zwischen Gottls und Webers hermeneutischen Ansätzen identifizieren. Diese betreffen jedoch nicht deren erkenntnistheoretische 271 Dieser Kritikpunkt steht in sachlicher Nähe zu den Weber bekannten Logischen Untersuchungen Husserls, der einen von drei fundamentalen Unterschieden in aller Wissenschaft wie folgt spezifiziert: „a) Der Zusammenhang der Erkenntniserlebnisse, in welchen sich Wissenschaft subjektiv realisiert, also der psychologische Zusammenhang der Vorstellungen, Urteile, Einsichten, Vermutungen, Fragen u.s.w., in denen sich das Forschen vollzieht, oder in welchen die längst entdeckte Theorie einsichtig durchdacht wird.“ (Husserl 1992a, 181f). 272 Vgl. dazu auch Ringer 1997, 96. 273 Vgl. 2. 3 sowie 2. 4. 2. 274 Der Versuch, Sinn aus der „Genesis im Subjekt“ (Mannheim 1929, 22) zu verstehen, wird auch von Karl Mannheim diskutiert, der dem nacherlebenden Verstehen eine größere Bedeutung beimisst als Weber. In Ideologie und Utopie heißt es: „Die dogmatischen Vertreter der klassischen Philosophie und Logik sind an die Behauptung gewöhnt, daß die Genesis einer Idee nichts über ihre Gültigkeit und ihren Sinn zu besagen habe. Sie beschwören gern das abgenutzte Beispiel, daß es, um den Satz des Pythagoras zu verstehen, von geringem Wert sei, was wir über das Leben des Pythagoras, seine inneren Konflikte usw. wissen. Ich glaube jedoch nicht, daß dieser Einwand für alle geistigen Leistungen gilt. Ich glaube, daß wir gerade vom Standpunkt der strikten Interpretation unendlich bereichert sind, wenn wir den Satz der Bibel ‚Die Letzten sollen die Ersten sein‘ als den seelischen Ausdruck einer Revolte unterdrückter Schichten zu verstehen suchen.“ (Mannheim 1929, 23) Diese positive Anknüpfung an die Methoden nacherlebenden Verstehens ist auch Mannheims Thematisierung kollektiv unbewusster Handlungsmotivationen innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen geschuldet. Hierin klingt zugleich seine Polemik gegenüber den Vertretern der genetischen Psychologie an, die von der „Fiktion des isolierten und sich selbst genügenden Individuums“ (Mannheim 1929, 26) ausgehen und letzteres losgelöst von dessen Gruppensituation untersuchen, was gerade wiederum den wissenssoziologischen Ansatz auszeichnet.

140 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Prämissen. Vielmehr sind sie mit der Frage verbunden, welcher Instrumente sich die Nicht-Naturwissenschaften bedienen können, um menschliches Handeln bzw. Geschichte zu verstehen. Wenn es nun gilt, abschließend Webers positive Rezeption und Adaption von Theoriemomenten der Gottlschen Schriften namhaft zu machen, so geraten v. a. zwei Punkte in den Blick. Der erste betrifft Webers – im vorangegangenen Kapitel skizzierte – Verknüpfung von Erfahrungsregeln und Alltagsverstehen bzw. -handeln, die wesentlich von Gottl mit angeregt sein dürfte. Auch wenn dieser den regulativen Aspekt des Erfahrungswissens nicht so deutlich wie Weber herausstreicht, so ist doch gleichwohl unverkennbar, dass dessen Verstehenskonzept erfahrungsgeleitet und alltagsorientiert ist. Genau auf den letzten Gesichtspunkt bezogen, hatte Weber – wie schon erwähnt – die Untersuchungen seines jüngeren Kollegen gewürdigt. Gottls profunder Beitrag für die Nationalökonomie bestehe darin, die Alltagswelt und deren Verstehensmöglichkeit in den Mittelpunkt gerückt zu haben.²⁷⁵ Damit unmittelbar verbunden ist der zweite Aspekt, der sich auf Webers Theorie idealtypischer Begriffsbildung bezieht. Weber bestimmt den Idealtypus ausdrücklich als ein „Deutungsschema“ (RK III, 130) menschlichen Handelns,²⁷⁶ was unmittelbar an die Herrschaft des Wortes sowie die Grenzen der Geschichte erinnert, in denen Gottl die Formeln, die der Entschlüsselung der Alltagswirklichkeit dienen, mehrfach als Schemata bezeichnet. Doch handelt es sich hier nicht allein um eine Konvergenz in der Terminologie, sondern auch in der Methode. Denn Gottls oben skizziertes Modell der an Erfahrungswissen und Denkgesetzen orientierten Schematisierung von Handlungssequenzen steht gerade der Angabe von Ausgangs- und Zielpunkt (M und N) sowie der Angabe der Zwischenschritte (x, y, z) wegen in auffälliger Nähe zu dem Verfahren, das Weber anwendet, um Idealtypen zu konstruieren. Darauf werden wir im folgenden Kapitel zurückkommen.²⁷⁷

275 Damit tritt ein Gesichtspunkt auf den Plan, der über die hier besprochenen Detailfragen hinausgeht und in einem übergeordneten Zusammenhang geistesgeschichtlich relevant ist. Gemeint ist das sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mehr und mehr durchsetzende Bedürfnis, die Lebenswelt zum Thema wissenschaftlicher Reflexion zu machen. Gottl, der zwar nicht von der Lebenswelt, sondern vom „grünen Leben“ (HdW, 26) spricht, kann als ein gewichtiger Repräsentant und Katalysator dieser Diskussion angesehen werden. Diese pragmatistische Tendenz hat Weber geteilt. Die Konvergenz zwischen Webers Begriff der alltagsbasierten Erfahrungsregel und dem später vor allem durch Husserl geprägten Begriff der Lebenswelt wurde von dem Soziologen und Ethnologen Wilhelm Emil Mühlmann (1904–1988) herausgestellt (vgl. Mühlmann 1980, 155) und erscheint im Horizont der zuletzt angestellten Überlegungen einer genaueren Untersuchung bedürftig. 276 Vgl. 2. 4. 7. 277 Vgl. 2. 4. 7.

2.4 Methoden der Deutung |

141

Wenn Weber diese zuletzt angedeuteten Gesichtspunkte in seiner Diskussion der Gottlschen Schriften ausklammert, so verbirgt sich dahinter die einseitige Konzentration auf dessen Verschränkung von Erleben und Denken. Im Vordergrund steht der Einwand, dass die rationalen Prämissen (Denkgesetze) und heuristischen Instrumente (Schemata bzw. Formeln), derer sich Gottl bedient, die Signatur derjenigen erlebten Wirklichkeit tragen, deren Entzifferung sie dienen.

2.4.7 Die rationale Deutung Auch wenn Weber in Roscher und Knies immer wieder darauf hinweist, dass seine Überlegungen zu den systematischen Grundlagen einer Theorie des Handlungsverstehens auf den Begriff der rationalen Deutung hinauslaufen sollen, nimmt dessen Entfaltung einen nicht sonderlich großen Raum ein, was gerade im Vergleich mit den teilweise ermüdenden Abschweifungen zu den subjektivierenden Wissenschaften auffällt. Die hier nun entscheidenden Partien finden sich in der dritten Knieslieferung (RK III, 126–131) und knüpfen unmittelbar an eine Zusammenfassung (RK III, 125f) seiner Kritik an den Beiträgen an, die die subjektivierenden Wissenschaften zum Deutungsbegriff geleistet haben. Neben dem erstgenannten Abschnitt werden im Folgenden die in der Forschungsliteratur häufiger traktierten, für das Verständnis seines Deutungsbegriffs gleichermaßen einschlägigen Passagen aus dem Kategorienaufsatz sowie den Soziologischen Grundbegriffen herangezogen. Das Hauptaugenmerk wird jedoch auf den frühesten Text zu richten sein. Das hat verschiedene Gründe. Erstens legt Weber an keiner anderen Stelle seines Werks so ausführlich dar, wie er sich das spezifische Verfahren der rationalen Deutung vorstellt. Zweitens ist hier erstmals die im Objektivitätsaufsatz programmatisch entfaltete Methode der Idealtypenbildung streng auf die Struktur des Handlungsbegriffs bezogen angewandt worden. Schließlich soll der besagte Abschnitt deswegen im Mittelpunkt stehen, weil er innerhalb der Forschungsliteratur bislang kaum interpretiert wurde, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass Webers Ausführungen an vielen Stellen ausgesprochen hermetisch sind. Was das weitere Vorgehen betrifft, so ist in einem ersten Schritt die in Webers Begriff der rationalen Deutung fest verankerte Zweck-Mittel-Relation in den Blick zu nehmen. Daran anschließend ist dieser Gesichtspunkt um seine kausalitätstheoretischen Implikationen zu erweitern, was auch einer weiteren Präzisierung von Webers Begriff des nomologischen Wissens bzw. der Erfahrungsregel dient. Abschließend tritt die Methode der rationalen Deutung selbst auf den Plan, in welchem die zuvor entwickelten Fäden zusammengesponnen sind. Dabei wird zunächst der genaue Ort der Zweck-Mittel-Relation sowie der Erfahrungsregeln innerhalb dieses Verfahrens anzugeben sein. Sodann muss das Verhältnis jener Me-

142 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens thode zu der der idealtypischen Begriffsbildung geklärt werden, was uns zugleich zu der Frage führen wird, welchen modalen Status rationale Deutungen besitzen. Danach werden die beiden Hauptanwendungsbereiche derselben umrissen. Wir kommen zum ersten Punkt. Wenn Weber hier von rationaler Deutung spricht, so ist damit eine Verstehensoperation gemeint, zu deren elementaren Aufbaumomenten die Zweck-MittelRelation gehört.²⁷⁸ Dass die Inanspruchnahme dieser Relation keine – wie Rickert meinte – „rationalistische Teleologie“²⁷⁹ impliziere bzw. Ausdruck eines rationalistischen Standpunkts sei (vgl. Soz, 152. 167), wird von Weber mehrfach herausgestellt. Ebenso wenig sieht er die besondere Bedeutung der „zweckrationale[n] Deutung“ (K, 428) darin begründet, dass das faktische menschliche Handeln diesem Rationalitätstyp am ehesten entspräche (vgl. auch Soz, 167). Weber weist vielmehr darauf hin, dass die Rolle, die „‚zweckirrationale‘ Affekte und ‚Gefühlslagen‘“ (K, 429) für das Handeln haben, dazu Anlaß gäben, das Gegenteil zu behaupten. Wenn dennoch der zweckrationalen Interpretation der Vorzug gegeben wird, so hat das im hohen Maße „pragmatisch[e]“ (K, 429) Gründe bzw. – wie es in den Soziologischen Grundbegriffen heißt – einen „methodischen Zweckmäßigkeitsgrund[]“ (Soz, 152). Mit dem Zweckmäßigkeitsargument spielt Weber auf die besondere rationale Transparenz an, die dieses Interpretationsverfahren seiner Auffassung nach besitzt und die von ihm durch den Evidenzbegriff markiert wird. „Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte ‚Zwecke‘ bei klarer Erkenntnis der ‚Mittel‘ bedingt ‚verstehen‘, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß von ‚Evidenz‘.“²⁸⁰ (RK III, 127; vgl. Soz, 150)

278 Auf den ersten Seiten des Objektivitätsaufsatzes kommt Weber ebenfalls auf die „denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen Handelns“ zu sprechen, die zunächst „an die Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘“ (O, 149) gebunden sei. Auch in den darauffolgenden Zeilen zur Verhältnisbestimmung beider Kategorien klingen Überlegungen an, die in der dritten Lieferung zu Roscher und Knies erneut anzutreffen sind. Und dennoch ist unverkennbar, dass der Objektivitätsaufsatz an dieser Stelle nicht auf die Entfaltung einer solchen Theorie zielt. Vielmehr lässt Weber auch dort wiederum ein primär werttheoretisches Interesse erkennen. Die Zwecke des Handelns werden dementsprechend im Horizont der ihnen übergeordneten Wertideen reflektiert (vgl. O, 151f). 279 G, 375, vgl. auch G, 499. 280 Zum Evidenzbegriff vgl. Freyer 1930, 151; Twenhöfel 1985, 62ff. Karl Löwiths Weberinterpretation setzt bezogen auf die Zweck-Mittel-Relation andere Akzente: „Der eigentliche und primäre Grund für Webers offensichtliche Bevorzugung des ‚zweckrationalen‘ Schemas ist nicht, daß es ein Höchstmaß an konstruktiver Verständlichkeit menschlichen Handelns ermöglicht, sondern die spezifische Verantwortlichkeit des zweck-rationalen Handelns selbst.“ (Löwith 1988, 354).

2.4 Methoden der Deutung |

143

Den Aspekt rationaler Durchsichtigkeit kulturwissenschaftlichen Verstehens versucht Weber sodann durch einen Kompatibilitätsnachweis zwischen der ZweckMittel- und der Ursache-Wirkungs-Relation zu untermauern. Dieser Gesichtspunkt, dem es sich nun zuzuwenden gilt, fügt sich problemlos in den bislang besprochenen Gesamtzusammenhang der systematischen Voraussetzungen von Webers Theorie des Handlungsverstehens ein. Denn wenn Weber darauf zielt, die strikte Entgegensetzung der Methoden des Erklärens und des Verstehens zu unterlaufen, dürfen die causa efficiens und die causa finalis in keinem prinzipiellen Widerspruch zueinander stehen, sondern müssen als miteinander vereinbar ausgewiesen werden. Dementsprechend stellt Weber fest, dass die in jener Deutung enthaltene Zweck-Mittel-Relation „der generalisierenden Kausalbetrachtung“ (RK III, 127) zugänglich sei. Damit greift er Überlegungen aus der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies auf, in der er auf das Verhältnis von Teleologie und Kausalität zu sprechen kommt. „Endlich schließen die Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘, ohne welche es teleologisches ‚Denken‘ überhaupt nicht gibt, sobald mit ihrer Hilfe wissenschaftlich operiert wird, gedanklich geformtes nomologisches Wissen, d. h. also: Begriffe und Regeln, an der Hand der Kausalitätskategorie entwickelt, ein. Denn es gibt zwar kausale Verknüpfung ohne Teleologie, aber keine teleologischen Begriffe ohne Kausalregeln.“²⁸¹ (RK II, 86) Mit dieser Formulierung hebt Weber auf die Differenz zwischen Natur- und Kulturerkenntnis ab. Während es eine nichtteleologische Beschreibung der Naturvorgänge gibt, in der diese allein mittels einer naturwissenschaftlich bestimmten Ursache-Wirkungs-Relation erklärt werden können, zeichnen sich die Handlungen durch einen teleologisch-sinnhaften Mehrwert aus, der sich aber – und das ist hier entscheidend – gleichermaßen nach Maßgabe des Kausalitätsbegriffs rekonstruieren lässt. An dieser Stelle folgt Weber Überlegungen, die Rickert in den Grenzen angestellt hat und die sich auf seinen Begriff der rationalen Deutung unmittelbar niederschlagen.²⁸²

281 Zum prinzipiellen Verhältnis von Kausalität und Teleologie im Rahmen einer Theorie der Handlung vgl. Wright 2008, 16ff. Zum Kausalitätsbegriff bei Weber vgl. Weiß 1994, 507ff; Oh 1998, 90ff. 282 Der Freiburger Philosoph führt aus: „Häufig bringt man die Begriffe kausal und teleologisch in einen Gegensatz zu einander, und dann gilt jede Teleologie für unhaltbar, weil sie unvereinbar mit der kausalen Auffassung zu sein scheint. Freilich ist die Gegenüberstellung in dieser Form nicht besonders glücklich, denn der Unterschied, den man meint, kann, wenn die teleologische Auffassung die kausale ausschließen soll, nur darin bestehen, dass bei der kausalen Auffassung der Effekt gedacht wird als hervorgebracht durch Ursachen, die zeitlich vor ihm liegen, während bei der teleologischen Auffassung als Zweck die Fähigkeit haben soll, zu wirken, ehe er verwirklicht ist. Es sind somit eigentlich beide Auffassungen kausal, und man sollte daher nicht von einem Gegensatz von Kausalität und Teleologie, sondern nur von zwei verschiedenen Arten von Kausalität sprechen, wie dies in den Worten causa efficiens und causa finalis zum Ausdruck

144 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Weber erläutert das Verfahren rationaler Deutung zunächst an einem „Schema“, das die Form eines „bedingten Notwendigkeitsurteils“ (RK III, 129) hat: „bei gegebener Absicht x ‚mußte‘ nach bekannten Regeln des Geschehens der Handelnde zu ihrer Erreichung das Mittel y bzw. eines der Mittel y, y’, y” wählen“ (RK III, 129). Für das Verständnis dieses Schemas, das sowohl an Gottls Programm historischer Erkenntnis als auch an Kries’ Begriff der objektiven Möglichkeit erinnert,²⁸³ ist zunächst die Angabe entscheidend, dass eine Handlungsabsicht (x) gegeben sei.²⁸⁴ Letztere darf keineswegs im Sinne einer unbestimmten Variablen bzw. einer rein fiktiven Größe begriffen werden. Es handelt sich vielmehr um ein Aufbaumoment einer empirischen Handlung. Doch kommt es im oben angegebenen Schema nicht als ein solches zu stehen. Vielmehr löst Weber das Aufbaumoment aus dem empirischen Bedingungszusammenhang heraus und schematisiert es so, dass es der rationalen Binnenlogik des nomologischen Wissens von Erfahrungsregeln entspricht. Das bedeutet, dass der Absicht ein Verhalten zugeschrieben wird, das mit dem tatsächlichen Hergang zunächst einmal nichts zu tun hat und dessen Berücksichtigung sich allein dem besagten Regelwissen verdankt. Letzteres bildet gleichsam die Berechnungsgrundlage dafür, einem bekannten Motiv ein Mittel bzw. ein Verhalten zuzuordnen, das dieses Motiv nach Maßgabe der Zweckrationalität realisiert. Nicht also die Absicht (x) bildet in diesem Fall eine gegenüber der konkreten Handlung abstrakte Größe, sondern das angenommene Mittel (y). Von diesem Ausgangsschema heißt es sodann, es könne mit einer rationalen bzw. „teleologischen ‚Wertung‘ des empirisch konstatierbaren Handelns in Eins zusammenfließen“ (RK III, 129). Wenn Weber hier von Wertung spricht, ist diese Wortwahl irreführend, gerade im Horizont des oben erörterten Stellenwerts des philosophischen Wertbegriffs innerhalb seiner Verstehenstheorie. Denn mit der Wertung ist hier keine in den Bereich der subjektivierenden Wissenschaften oder der Wertbeziehungslehre fallende Operation gemeint. Vielmehr sei sie – wie Weber

kommt. Jedoch auch die causa finalis ist stets eine wirkende Ursache, und der gemeinte Unterschied besteht also nur darin, dass bei der teleologischen Kausalitätsauffassung die zeitliche Folge von Ursache und Effekt umgekehrt ist, d. h. die Ursache schiebt in dem einen Fall das Bewirkte gewissermaßen vor sich her, während in dem anderen Fall das Endziel die Fähigkeit hat, das, wodurch es wirklich werden soll, zu sich heranzuziehen.“ (G, 373) Niklas Luhmann hat – seinen eigenen Theorieinteressen entsprechend – die Möglichkeit teleologischer Handlungsschemata prinzipiell in Frage gestellt: „Unerklärbar bleibt bei dieser typisch neuzeitlichen Fassung des Zweckproblems freilich, wie Gegenwärtiges, nämlich Motive, überhaupt durch die Vorstellung von etwas Zukünftigen verursacht sein kann.“ (Luhmann 1991, 12). 283 Vgl. 2. 4. 6. 284 Damit hebt Weber erneut auf die psychischen Grundlagen bzw. auf die Innenseite einer Handlung ab, die sich im Begriff des Motivs bündeln, den Weber an dieser Stelle explizit verwendet (vgl. RK III, 129).

2.4 Methoden der Deutung |

145

bemerkt – „rein ‚technischen‘ Charakters“ (RK III, 129), was in diesem Fall bedeutet, nach Maßgabe jenes Schemas die „Adäquatheit“²⁸⁵ (RK III, 129) des als Mittel (y) von einem Handelnden tatsächlich gewählten Verhaltens zur Erreichung des gegebenen Zwecks (x) zu bestimmen. Wie das Ergebnis eines solchen – offenkundig an Kries’ Begriff der objektiven Möglichkeit anknüpfenden – komparativen Verfahrens ausfallen könnte, wird von Weber wiederum in Gestalt eines Schemas zum Ausdruck gebracht: „die Wahl des Mittels y gewährte nach bekannten Regeln des Geschehens gegenüber y’ oder y” die größere Chance der Erreichung des Zweckes x oder erreichte diesen Zweck mit den geringsten Opfern usw., die eine war daher ‚zweckmäßiger‘ als die andere oder auch allein ‚zweckmäßig‘.“²⁸⁶ (RK III, 129) Webers weitere Ausführungen zum Begriff der teleologischen Wertung sind nun ausgesprochen schwer nachzuvollziehen. Die bisherigen Angaben befänden sich auf dem „Boden der Analyse des empirisch Gegebenen“ (RK III, 129), womit er sowohl den gegebenen Zweck als auch das gegebene Mittel meint. Unmittelbar daran anschließend heißt es: Und auf dem Boden der Erkenntnis des wirklich Geschehenden tritt diese rationale ‚Wertung‘ auch lediglich als Hypothese oder idealtypische Begriffsbildung auf: Wir konfrontieren das faktische Handeln mit dem ‚teleologisch‘ angesehen, nach allgemeinen Erfahrungsregeln rationalen, um so entweder ein rationales Motiv, welches den Handelnden geleitet haben kann, und welches wir zu ermitteln beabsichtigen, dadurch festzustellen, daß wir seine faktischen Handlungen als geeignete Mittel zu einem Zweck, den er verfolgt haben ‚könnte‘, aufzeigen, – oder um verständlich zu machen, warum ein uns bekanntes Motiv des Handelnden infolge der Wahl der Mittel einen anderen Erfolg hatte, als der Handelnde subjektiv erwartete. (RK III, 129)

Diese dichte Formulierung ist aus mehreren Gründen erläuterungsbedürftig. Das betrifft bereits die Eingangsformulierung. Denn es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die – kurz zuvor genannte – Analyse des empirisch Gegebenen zur Erkenntnis des wirklich Geschehenden steht. Fallen sie zusammen, bauen sie aufeinander auf oder betritt Weber mit letzterer ein neues Feld? Es steht zu vermuten,

285 Die Ausdifferenzierung des Adäquatheitstheorems in sinnhaft und kausal adäquat, die Weber in den Soziologischen Grundbegriffen erörtert (vgl. Soz, 159f), findet sich in Roscher und Knies noch nicht. Zu dieser Differenz vgl. Schütz 1993, 325–334 sowie 2. 4. 8. 286 Genau dieses Schema greift Weber wiederum in seinem Beitrag zur Wertfreiheit auf: „Daß es selbstverständlich möglich, wissenschaftlich nützlich und nötig ist, Sätze zu entwickeln von dem Typus: für die Erreichung des (wirtschaftspolitischen) Erfolgs x ist y das einzige oder sind – unter den Bedingungen b1, b2, b3 – y1, y2, y3 die einzigen oder die erfolgreichsten Mittel, bedarf wohl nicht der Wiederholung.“ (SdW, 538f) Zum Begriff der Chance vgl. Anter 1996, 101–108. Nach Anter verfolgt Weber mit diesem Begriff drei Intentionen: „die methodologisch-handlungstheoretische, die erkenntnistheoretische und die empirisch-quantitative.“ (Anter 1996, 106).

146 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens dass hier ein Perspektivwechsel vorgenommen und das zuvor entwickelte teleologische Wertungsschema anwendungsbezogen verhandelt wird. Dafür spricht dessen Spezifikation als Idealtypus. Das zweite Schema tritt als eine idealtypische Formel auf den Plan, mittels derer wirkliches Geschehen, also geschichtliche Ereignisse bzw. Handlungen, beurteilt werden sollen. Die Schwierigkeiten, die Weber dem Leser an dieser Stelle bereitet, rühren somit daher, das Leitthema der rationalen Deutung auf unterschiedlichen Explikationsebenen zu verhandeln: einerseits die Konstruktion eines idealtypischen Begriffs und andererseits dessen Anwendungsrelation. Beide Bereiche werden unter ein und demselben Begriff der Deutung verhandelt. Weber macht diese Ebenendifferenz aber nicht kenntlich. Der zweite Gesichtspunkt, also die Anwendungsrelation, ist der für die weitere Argumentation entscheidende. Weber zielt darauf, die idealtypischen Begriffe als heuristische Instrumente des Handlungsverstehens zu profilieren und ihren Theoriestatus gedanklich zu vertiefen. Dazu spezifiziert er den Idealtypus – wie etwa jene teleologische Wertung – als ein „Deutungsschema“²⁸⁷, eine „Deutungsmöglichkeit“ (RK III, 130) bzw. als „Deutungs-Hypothese[]“ (RK III, 130).²⁸⁸ Der idealtypische Handlungsbegriff repräsentiert demnach kein „‚wirkliches Handeln‘“,²⁸⁹ sondern – wie Weber wiederum im Anschluss an Kries formuliert – „‚objektiv mögliche‘ Zusammenhänge“ (RK III, 130).²⁹⁰ Den hypothetischen Status des Idealtyps

287 Dieser Begriff hat später auch in der Rechtswissenschaft Einzug gehalten. Das gilt zunächst für den Juristen Ernst Seidler (1862–1931) (vgl. Seidler 1999, 54f.122). Der Herausgeber der zuletzt angegebenen Seidlerschen Schrift, der auf die Verwendung dieses Begriffs aufmerksam macht, vermutet, dass der Staatsrechtler Hans Kelsen (1881–1973) diesen wiederum von Seidler übernommen haben könnte (vgl. Winkler 1999, XVI). Für Kelson ist der Rechtssatz und die Rechtsnorm ein „Deuteschema“ für menschliches Verhalten (Kelsen 2008, 18ff). Zum Verhältnis zwischen Weber und Kelsen, vgl. Bobbio 1987, 109ff; Gephart 2014, 21–23. 288 Zwei Jahre zuvor hieß es noch, dass die idealtypischen Begriffe keine Hypothesen seien (vgl. O, 190), woran sich Kaeslers Interpretation des Weberschen Idealtypus orientiert, vgl. Kaesler 2003, 233. 289 In diesen Überlegungen spiegelt sich nicht zuletzt die oben erörterte sinntheoretische Binnendifferenzierung zwischen dem empirischen und dem ideellen Sinn wider, vgl. 2. 2. 4. Letzterer bildet das Aufbaumoment eines idealtypisch konstruierten Handlungsbegriffs. 290 Dass der Begriff der objektiven Möglichkeit mit Webers Verstehenstheorie unmittelbar verwoben ist, belegt darüber hinaus Webers ergänzende Bestimmung, dass die rationale Deutung zu einem „allgemeinen Wissen“ davon erblasse, „daß wir ‚zweckvoll‘ handeln können, d. h. aber: handeln können auf Grund der Erwägung der verschiedenen ‚Möglichkeiten‘ eines künftigen Hergangs im Fall der Vollziehung jeder von verschiedenen als möglich gedachten Handlungen (oder Unterlassungen).“ (RK III, 129) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Weber unter die Mittel sowohl Handlungen als auch Unterlassungen fasst. Letztere verweisen wiederum auf den strafrechtlichen Hintergrund seiner Verstehenstheorie, wofür nicht zuletzt Johannes von Kries’ Begriff der objektiven Möglichkeit steht. Kries reflektiert die Effekte, die ein Nicht-Handeln

2.4 Methoden der Deutung |

147

stellt er dabei ausdrücklich in eine Analogie mit naturwissenschaftlichen Gesetzeshypothesen. Aber gleichwohl wäre es nach Weber ein grobes Missverständnis, sie einander gleichzusetzen. Die entscheidende Differenz bestimmt er dahingehend, dass der wissenschaftliche Wert des Idealtypus – im Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen – nicht davon abhängig ist, in jedem Einzelfall zu gelten. „Die Deutung mit Hilfe des rationalen Schemas war dann eben in diesem Fall nicht möglich – weil die im Schema angenommenen ‚Zwecke‘ im konkreten Fall als Motive nicht existent waren –, was aber die Möglichkeit ihrer Verwertung für keinen anderen Fall ausschließt.“ (RK III, 131) Diese Überlegungen schlagen sich auf die Bestimmung des Geltungsstatus idealtypischer Begriffe nieder. Weber führt aus, dass diese zwar rational evident konstruiert seien, aber dennoch keine uneingeschränkte empirische Geltung beanspruchen können. Vielmehr handele es sich um eine „Deutung mit problematischer empirischer Geltung“ (RK III, 131, vgl. auch O, 199). Diese Einschätzung liegt in dem Konstruktions- und Abstraktionscharakter der Idealtypen begründet. „Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.“²⁹¹ (KS, 287) Weber unterscheidet schließlich – ähnlich wie Kries – zwischen zwei Anwendungsgebieten rationaler Deutungsschemata. Die konstruierten Gedankengebilde können zum einen „rein individuellen Charakters: Deutungshypothesen für konkrete Einzelzusammenhänge sein“ (RK III, 130). Sie sind in diesem Fall auf den Bereich historischer Ereignisse bezogen.²⁹² Das zweite Anwendungsgebiet, auf

bzw. eine „Unterlassung“ für das Eintreten eines verletzenden Erfolgs haben kann: „Erstlich muss man sich hüten, bei der Causalität schuldhaften Verhaltens an eine Wirkung im physikalischen Sinne zu denken. Ob eine solche stattfindet oder nicht, event. in welchem Umfang sie stattfindet, ist für die rechtliche Beurtheilung ganz belanglos. Sobald Jemand nicht handelt, wo er in einer bestimmten Weise zu handeln verpflichtet ist, da wird er verantwortlich zu machen sein für den verletzenden Erfolg, der eintritt, und der nicht eingetreten wäre, wenn er in normaler Weise gehandelt hätte. Eine Verursachung noch in einem anderen Sinne zu fordern, liegt schlechterdings kein Grund vor. Ob wir durch unsere Muscelkraft activ wirken, ob wir, wie beim Schuss, andersartige Kräfte auslösen und in Thätigkeit setzen, oder ob wir Vorgängen, in die wir einzugreifen verpflichtet oder in der Lage wären, freien Lauf lassen, ist hier völlig gleichgiltig. Es ist daher ganz überflüssig, für die sogenannten ‚Commissivdelicte durch Unterlassung‘ darin eine Schwierigkeit zu finden, dass einer Unterlassung als etwas rein Negativem keine Wirksamkeit zugeschrieben werden könne.“ (OM, 222f) Aber nicht nur Kries operiert auf die Handlungswelt bezogen mit dem Unterlassungsbegriff. Selbiges gilt für Gottl, der in seiner Herrschaft des Wortes bemerkt: „Unterlassung ist das sachliche Gegenstück, nicht die einfache Verneinung der Handlung; es ist die Aberhandlung.“ (HdW, 84). 291 Auf diesen Gesichtspunkt ging innerhalb der Geschichtswissenschaft zuletzt der Althistoriker Alexander Demandt ein, vgl. Demandt 2005, 28ff. 292 Als Beispiel nennt Weber die gedankliche Konstruktion der Politik Friedrich Wilhelm IV., die unternommen werde, um dessen „reale Politik daran in bezug auf den Grad ihres rationalen

148 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens das es Weber in besonderer Weise ankommt (vgl. RK III, 130), geht über Einzelfälle hinaus und stellt eine „idealtypische Konstruktion generellen Charakters“ (RK III, 130) dar. Als Vergleichsgröße zieht Weber die „‚Gesetze‘ der abstrakten Nationalökonomie“ heran, „welche unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter ökonomischer Situationen gedanklich konstruieren.“ (RK III, 130).²⁹³ Doch unabhängig vom jeweiligen Einsatzgebiet idealtypischer Begriffe, sie dienen letztlich dem Ziel, an einem empirischen Handeln die „teleologisch nichtrationalen Elemente“ erkennbar zu machen (RK III, 131) bzw. die „Tragweite des Zweckirrationalen“ abzuschätzen (K, 430). Die rationalen Übereinstimmungen bzw. die irrationalen Abweichungen zwischen dem konstruierten und dem empirischen Handeln werden auf dem Wege des Vergleichs festgestellt.²⁹⁴ Auf die im Objektivitätsaufsatz erstmals ausführlich erörterte Eigengesetzlichkeit der Idealtypenbildung hier noch weiter einzugehen, ist nicht erforderlich, zumal wir zentrale Elemente derselben bereits angesprochen haben.²⁹⁵ In aller

Gehaltes zu messen und so einerseits die rationalen Bestandteile, andererseits die . . . nicht rationalen Elemente seines wirklichen politischen Handelns zu erkennen“ (RK III, 130). Es handelt sich hierbei um ein von Weber mehrfach verwendetes Beispiel, das er vermutlich Rickerts Grenzen entnommen hat. 293 Die hier ausgewiesene Differenz zwischen individuellen und generellen Idealtypen präfiguriert analoge Überlegungen der Soziologischen Grundbegriffe teilweise wortwörtlich: „‚Verstehen‘ heißt . . . : deutende Erfassung: a) des im Einzelfall real gemeinten (bei historischer Betrachtung) oder b) des durchschnittlich und annäherungsweise gemeinten (bei soziologischer Massenbetrachtung) oder c) des für den reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierenden (‚idealtypischen‘) Sinnes oder Sinnzusammenhangs. Solche idealtypische Konstruktionen sind z. B. die von der reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre aufgestellten Begriffe und ‚Gesetze‘. Sie stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre.“ (Soz, 155f; vgl. auch Soz, 169. 179f) Diese drei Verstehenshinsichten sind offensichtlich mit den drei, für die Bestimmung des Handlungsbegriffs infrage kommenden Sinnbegriffen koordiniert, die Weber im ersten Abschnitt der Soziologischen Grundbegriffe entfaltet hat (vgl. Soz, 149) und auf die wir oben bereits eingegangen sind, vgl. 2. 2. 4. In Roscher und Knies kommen in den zuletzt interpretierten Passagen die Begriffe des Sozialen bzw. der Soziologie allerdings noch nicht zu stehen. 294 Vgl. dazu auch SdW, 535, vgl. auch Rossi 1986, 39. 295 Vgl. 2. 4. 4. Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar. Genannt seien hier nur folgende Beiträge: Schütz 1993, 318–325; Mommsen 1974a, 208–232; Nusser 1988, 192–194; Weiß 1992, 65–80; Schluchter 1991a, 52–63. So einflussreich dieses Theoriestück zweifelsohne war und ist, es wurde von Anfang an auch einer deutlichen Kritik unterzogen. So notiert etwa Heidegger im Rahmen seiner Freiburger Phänomenologie-Vorlesungen der Jahre 1919/1920: „Rohe Charakterisierungen!!“ (Heidegger 2010, 192) Und der Staatswissenschaftler Hermann Heller (1891–1933), der auf die methodologischen Parallelen zu Jellinek hinweist, führt aus: „Der idealtypische Begriff ist nach Jellinek und Weber kein konkreter Begriff, repräsentiert keine Wirklichkeit, sondern

2.4 Methoden der Deutung |

149

Deutlichkeit herauszustellen ist jedoch, dass Weber ab der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies die Idealtypen im Rahmen seiner Theorie der rationalen Deutung der handlungstheoretischen Elementarstruktur entsprechend konstruiert. Die beiden logischen Grundoperationen (Isolation und Generalisation) werden sowohl auf den – wie Weber später sagt – subjektiv gemeinten Sinn (Zweck, Absicht, Motiv) als auch auf das menschliche Verhalten bezogen. Diesen Aspekt zu betonen, ist insofern geboten, als sich die handlungstheoretische Ausrichtung der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung im Objektivitätsaufsatz noch nicht in der Weise identifizieren lässt, wie es ein Jahr später der Fall sein sollte.²⁹⁶ Die Idealtypenbildung steht von da an also ganz im Dienste der Theorie des Handlungsverstehens.²⁹⁷ Fassen wir die hier vorgestellte Analyse von Webers Begriff der rationalen Deutung zusammen. Dieser Begriff kann werkbiographisch betrachtet als eine Weiterentwicklung und Anreicherung der im Objektivitätsaufsatz eingeführten Methode der idealtypischen Begriffsbildung angesehen werden. Diese Weiterentwicklung ist dem spezifischen Gegenstandsbezug der rationalen Deutung geschuldet, die strikt auf die Struktur des Handlungsbegriffs bezogen ist. Auch wenn Weber bereits zuvor erste Überlegungen zu einem Verstehen der Kulturwirklichkeit aus dieser Struktur heraus angestellt hatte, wurde er wesentlich durch die Zweitauflage von Simmels Problemen der Geschichtsphilosophie dazu angeregt, ein solches Verstehensmodell systematisch auszubauen. Für deren Ausarbeitung zieht Weber verschiedene Theorieelemente und Begriffe heran. Dazu gehört die bereits erwähnte Idealtypenbildung, die er mit dem Kriesschen Begriff der objektiven Möglichkeit, der von Rickert – und anderen – angeregten Vorstellung von Regeln des Alltagslebens, der

stellt das Ergebnis einer isolierenden und logisch idealisierenden Abstraktion dar. Im Gegensatz zu Max Weber, nach dessen Absicht die Soziologie möglichst ‚reine‘ Idealtypen zu bilden und ‚generelle Regeln des Geschehens‘ suchen soll, hat Georg Jellinek stets die Unfruchtbarkeit einer zu weit getriebenen Generalisierung betont.“ (Heller 1983, 78) Vgl. dazu auch Br II / 4, 230. Webers Konzept idealtypischer Begriffsbildung kommt innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften nach wie vor zum Einsatz, vgl. etwa Wohlrab-Sahr und Burchardt 2012, 885f; Wohlrab-Sahr und Przyborski 2008, 328–350. 296 Im Objektivitätsaufsatz geht es Weber um Idealtypen, die dem Verstehen von Geschichtsereignissen dienen, die von ihm allerdings nicht handlungstheoretisch elementarisiert werden. 297 Vgl. auch Schluchter 2005a, 20. Das Verhältnis, das zwischen der Theorie der idealtypischen Begriffsbildung und dem – geschichtsphilosophischen – Begriff der Wertbeziehung besteht, wird hier nicht weiter verfolgt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass deren Verhältnis zueinander durchaus unterschiedlich beurteilt wird. Während Schluchter und Weiß davon ausgehen, dass Webers Idealtypenlehre bis an das Spätwerk hinein von der Wertbeziehungslehre bestimmt ist, rechnet Mommsen mit einem Zurücktreten der Letzteren, vgl. Mommsen 1974a, 222f; Schluchter 1991a, 58–61; Weiß 1992, 70.

150 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Gottlschen Formalisierungs- bzw. Schematisierungspraxis historischer Erkenntnis und mit der Zweck-Mittel-Relation verschränkt. Mit Hilfe dieses methodischen Instrumentariums konstruiert Weber idealtypische Handlungsbegriffe, um empirisches Handeln zu deuten, wobei die Ebenen der Konstruktion und der Anwendung idealtypischer Begriffe in Roscher und Knies keineswegs konsequent auseinandergehalten werden, sondern verschwimmen. Weber nennt die idealtypischen Konstruktionen auch Deutungsschemata bzw. -möglichkeiten, die allerdings – im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Gesetz – keine ausnahmslose empirische Geltung für sich beanspruchen können. Ihrer begrifflichen Aufbaumomente – Mittel und Zweck – sowie ihrer durchsichtigen Konstruktionsprinzipien wegen beansprucht die rationale Deutung gleichwohl ein Höchstmaß an Evidenz.

2.4.8 Die Ausdifferenzierung der Deutungsschemata Weber hält bis in das Spätwerk hinein an dem heuristischen Primat eines zweckrational konstruierten Handlungsschemas fest. Innerhalb der verstehenden Soziologie wird diesem ein Höchstmaß an Evidenz bescheinigt. Allerdings lässt sich mit Blick auf die methodologischen Schriften in werkbiographischer Perspektive eine signifikante Erweiterung des hermeneutischen Begriffsinstrumentariums identifizieren. Neben den nach Maßgabe der Zweck-Mittel-Relation konstruierten Idealtypen treten ansatzweise im Kategorienaufsatz, vor allem aber in den Soziologischen Grundbegriffen weitere Deutungsschemata. Diese Erweiterung entspricht der intensivierten Untersuchung von Kulturbereichen, die jenseits des wirtschaftlichen Handelns bzw. des Wirtschaftens liegen. Denn dass Weber dem zweckrationalen Handlungstyp eine herausragende Stellung beimisst, ist nicht allein der rationalen Transparenz und Nachvollziehbarkeit dieser Handlungsformation geschuldet. Es entspricht auch seinen bereichsspezifischen nationalökonomischen Interessen. Das Muster zweckrationalen Handelns hat vor allem gegenüber dem Kulturbereich der Wirtschaft eine besonders große Erschließungskraft. Ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts treten jedoch vermehrt Kulturbereiche in Webers Gesichtskreis, die über den der Wirtschaft hinausgehen. Dazu gehören u. a. die Religion, das Recht und die Musik. Der Ausdifferenzierung der Forschungsbereiche entspricht offenkundig eine Ausdifferenzierung der Deutungsschemata. Diese werden – in struktureller Hinsicht – nach wie vor nach Maßgabe der Aufbaumomente menschlichen Handelns konstruiert, nun aber nicht mehr ausschließlich der Zweck-Mittel-Relation entsprechend. Weber erweitert den Umfang seines Begriffs rationaler Deutung. Während dieser in den methodologischen Schriften der Jahre 1903–1907 auf den Begriff der Zweckrationalität gemünzt

2.4 Methoden der Deutung |

151

war, führt er in den Soziologischen Grundbegriffen eine Binnendifferenzierung ein, indem er zwischen „wert- und zweckrationalen“ (Soz, 170) Handlungsbegriffen unterscheidet. Des Weiteren untersuche die Soziologie auch „irrationale . . . Erscheinungen“ (Soz, 170), zu deren Exemplifizierung Weber „mythische, prophetische, pneumatische, affektuelle“ Phänomene anführt. Dieser Gegenstandsbereich ist nun keineswegs neu, sondern bereits in den früheren Abhandlungen fest verankert gewesen. Dort diente aber vor allem der Abgleich empirischen Handelns mit einem idealtypischen Begriff zweckrationalen Handelns der Feststellung, ob es sich bei jenem um ein rationales oder irrationales Vorkommnis handelt. In den Prolegomena zu Wirtschaft und Gesellschaft treten nun neue Instrumente hinzu, um besagte Phänomene soziologisch bearbeiten zu können. Weber spricht an dieser Stelle von „theoretischen“ – nicht von rationalen – Begriffen. Aber auch wenn diese in inhaltlicher Perspektive keine rationale Grundsignatur besitzen, handelt sich um idealtypische Begriffe; und auch hier gehören die strukturellen Aufbaumomente des Handelns zu den Konstruktionsvoraussetzungen. Die Ausdifferenzierung der Deutungsschemata, mit denen Weber materialsoziologisch vermehrt arbeitet, geht mit einer partiellen Akzentverlagerung im hermeneutischen Ansatz einher. Diese lässt sich an der begrifflichen Differenz zwischen der Sinn- und der Kausaladäquanz in den Soziologischen Grundbegriffen nachvollziehen. Die entsprechenden Passagen sind ausgesprochen schwierig und komplex, nicht zuletzt, weil wiederum die Ebenen der Konstruktion und Anwendung idealtypischer Begriffe verschwimmen. Bevor wir auf den zuvor angesprochenen Ausdifferenzierungsbefund zurückkommen, ist es daher angebracht, jene Unterscheidung etwas genauer ins Auge zu fassen. Sie wird wie folgt eingeführt: ‚Sinnhaft adäquat‘ soll ein zusammenhängend ablaufendes Verhalten in dem Grade heißen, als die Beziehung seiner Bestandteile von uns nach den durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten als typischer (wir pflegen zu sagen: ‚richtiger‘) Sinnzusammenhang bejaht wird. ‚Kausal adäquat‘ soll dagegen ein Aufeinanderfolgen von Vorgängen in dem Grade heißen, als nach Regeln der Erfahrung eine Chance besteht: daß sie stets in gleicher Art tatsächlich abläuft. (Soz, 159)

Wenden wir uns dem ersten Begriff zu. Vor dem Hintergrund der bis hierhin angestellten Überlegungen mag es auf den ersten Blick überraschend erscheinen, dass der Begriff der Adäquatheit nicht im Medium der Ursache-Wirkungs-Relation thematisch wird. Denn dergestalt war Weber darauf in der Auseinandersetzung mit Johannes von Kries’ Begriff der objektiven Möglichkeit gestoßen, der zwischen

152 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens adäquaten und zufälligen Ursachen eines Erfolgs unterschieden hatte.²⁹⁸ Weber erweitert die Verwendung nun um den Begriff des Sinns. Allerdings darf, wie die folgenden Ausführungen deutlich machen werden, diese Erweiterung nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der Begriff der Sinnadäquatheit die Kausalitätskategorie zu seinen Konstruktionsvoraussetzungen hat.²⁹⁹ Sinnadäquanz wird dem obigen Zitat zufolge als ein Merkmal ausgewiesen, das einer Handlung zugesprochen werden kann. Letzteres setzt ein komparatives Verfahren voraus. Ein Verhaltensverlauf wird nach Maßgabe der „durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten“ (Soz, 159) darauf hin befragt, ob dessen „Sinnzusammenhang“ typisch bzw. richtig ist. Der Begriff des Sinnzusammenhangs ist für das Verständnis von Sinnadäquanz entscheidend. Weber führt ihn unmittelbar zuvor ein: „‚Motiv‘ heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter ‚Grund‘ eines Verhaltens erscheint.“³⁰⁰ (Soz, 159) Das Motiv bzw. der Sinnzusammenhang wird hier als Verhaltensgrund ausgewiesen; nicht als der tatsächliche, sondern als der dem Handelnden bzw. Beobachtenden erscheinende. Auf diesem Wege fließt – wie gerade angedeutet wurde – in die Bestimmung von Sinnadäquatheit die Kausalitätskategorie ein, was der Einführung dieses Begriffs im Kategorienaufsatz entspricht, in dem von der „‚sinnhaft adäquaten Verursachung‘“ (K, 434) die Rede ist. Die „Beziehung der Bestandteile“ eines Verhaltens werden sodann durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten entsprechend untersucht, um feststellen zu können, ob das als Grund-Folge-Relation begriffene Verhältnis von Motiv und Verhalten einen typischen bzw. richtigen Sinnzusammenhang darstellt. Fällt das Urteil affirmativ aus, kann dem Handeln das Merkmal der Sinnadäquatheit bescheinigt werden. Diese Bestimmungen werfen nun eine Vielzahl von Fragen auf. Das gilt zunächst für den Beurteilungsmaßstab. Die Rede von „durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten“ (Soz, 159) deutet auf ein relatives Beurteilungskriterium hin. Denken und Fühlen werden als konventionelle Größen ausgewiesen, was eben auch bedeutet, davon auszugehen, dass diese prinzipiell verschieblich sind. Es handelt sich somit um kontingente rationale sowie emotive Wahrnehmungsmuster. Dementsprechend ist an dieser Stelle auch nicht von Erfahrungsregeln die Rede, was auf eine Depotenzierung der nomothetischen Belastbarkeit von Sinnad-

298 Vgl. 2. 4. 4. 299 Vgl. Nusser 1986, 169. 300 Einer der zentralen Kritikpunkte Schütz’ an Webers Programm der verstehenden Soziologie entzündet sich an diesem Zitat. Schütz hält die Deutung des Motivs durch den Handelnden einerseits und den Beobachter andererseits für „inkommensurabel“ (Schütz 1993, 115). Sie müssten seiner Ansicht nach jeweils für sich auf ihre Prämissen und Eigengesetzlichkeiten hin befragt werden.

2.4 Methoden der Deutung |

153

äquanz hindeutet. Genau dieser Charakteristik entspricht auch die Verwendung des Ausdrucks richtig bzw. Richtigkeit, die Weber ebenfalls im Kategorienaufsatz eingeführt hatte. Deren Aufstellung verdankt sich dem empirischen Ansatz Webers, der es ihm verbietet, unter diesen Voraussetzungen mit Kriterien zu operieren, die strikte Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit beanspruchen.³⁰¹ Hier liegt vielleicht ein Grund dafür, den Begriff der Richtigkeit dem der Wahrheit vorzuziehen. Auch wenn sie nur von mittlerer Reichweite sind, beansprucht Weber mit den besagten rationalen und emotiven Gewohnheiten ein Objektivitätskriterium für die Beurteilung von Handlungen veranschlagen zu können. Der Begriff der Kausaladäquanz wird in Abgrenzung von dem der Sinnadäquanz eingeführt, weil er nicht allein auf menschliches Handeln beschränkt angewandt werden könnte, sondern – zumindest prinzipiell – auf die Abfolge von Vorgängen jeder Art. Dass es Weber auch hier letztlich um menschliches Verhalten geht, liegt auf der Hand. Vorgangssequenzen werden hier nach Maßgabe von statistisch bewährten Erfahrungsregeln daraufhin befragt, ob es wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, das dem Vorgang x der Vorgang y folgt. Dabei hebt Weber ausdrücklich hervor, dass dieses Verfahren eines Sinnbezugs entbehrt.³⁰² Es handelt sich um eine rein technische Zuordnung zweier Größen, die auch möglich ist, ohne die entsprechenden Phänomenbestände zu verstehen. Im weitesten Sinne betrachtet, lassen sich die Begriffe Sinn- und Kausaladäquanz – sofern es die Anwendungsrelation der entsprechend konstruierten Begriffe betrifft – denen von Verstehen und Erklären zuordnen. Entscheidend ist jedoch, dass es sich in beiden Fällen um objektive Kriterien der Entwicklung und Applikation von Deutungsschemata handelt, die sich methodisch wechselseitig ergänzen und stabilisieren. Dementsprechend fließen beide Adäquatheitshinsichten bei der Bildung und heuristischen Verwendung idealtypischer Begriffe ineinander. Weber veranschlagt nun – und damit kommen wir auf den Ausdifferenzierungsbefund zurück – das Adäquatheitskriterium für die Konstruktion zweck- und wertrationaler sowie nicht-rationaler idealtypischer Begriffe, wobei er in diesem

301 Dieser Sachverhalt ist allen voran in Webers Beitrag zur Wertfreiheit dargelegt worden, vgl. SdW, 430ff. Webers Konventionalismus kann als temperiert spezifiziert werden, weil er einerseits der Auffassung ist, dass logische und mathematische Grundsätze das Apriori alle Wissenschaften sind. Andererseits spricht er aber auch von einer „Metamorphose normativ gültiger Wahrheiten in konventionell geltende Meinungen“ (SdW, 532), die unter den Bedingungen empirischer Wissenschaften erfolgt. 302 Karl-Heinz Nusser betont zu Recht, dass der Begriff der Kausaladäquanz vom Begriff des kausalen Verstehens, mit dem Weber bereits in Roscher und Knies operiert, unterschieden werden muss, vgl. Nusser 1986, 16921.

154 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Zusammenhang nur den Begriff der Sinnadäquanz geltend macht.³⁰³ Jene Begriffe werden zunächst als soziologische, nicht als historische profiliert. Wie schon in Roscher und Knies unterscheidet er zwischen diesen beiden Anwendungsgebieten des Idealtypus. Die Arbeit des Historikers ist die „kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten“ (Soz, 169).³⁰⁴ Der Soziologe hingegen bilde „Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens“ (Soz, 169). Der höhere Allgemeinheits- und Abstraktionsgrad dieser Begriffe bringt es mit sich, der empirischen Wirklichkeit gegenüber relativ „inhaltsleer“ (Soz, 170) zu sein.³⁰⁵ Die relative Inhaltsleere ermöglicht jedoch „Eindeutigkeit“ (Soz, 170), die sich aber nur gewinnen lässt, wenn sie sinnadäquat konstruiert werden. Je höher das Maß an Sinnadäquatheit ist, d. h. je typischer bzw. richtiger – an den durchschnittlichen rationalen und emotiven Gewohnheiten gemessen – der mutmaßliche Sinnzusammenhang einer Handlungssequenz ist, desto höher fällt die Eindeutigkeit des Begriffs aus. Ein „möglichstes Optimum von Sinnadäquanz“ (Soz, 170) bescheinigt Weber zwar wiederum den rationalen Formen des Handelns. Doch kommt das Sinnadäquatheitskriterium eben nicht nur diesen gegenüber, sondern gleichermaßen den als theoretisch bezeichneten Begriffen nicht-rationalen Handelns gegenüber zum Einsatz. Webers Ausdifferenzierung der Deutungsschemata ist mit der Absicht verbunden, „Systeme von idealtypischen Begriffen bereitzustellen“.³⁰⁶ Diese lassen sich einerseits in rationale und nicht-rationale unterteilen. Andererseits können die soziologischen Idealtypen in unterschiedlichen Graden sublimiert und generalisiert werden. Dass die Soziologie letztlich auf die Konstruktion möglichst reiner und das heißt weitgehend inhaltsleerer Begriffe zielt, wird von Weber ausdrücklich betont. Denn nur mittels solcher „reinen“ Idealtypen sei „soziologische Kasuistik“ (Soz, 170) möglich,³⁰⁷ womit der konzeptionelle Fluchtpunkt seiner späten soziologischen Arbeit in den Blick gerät. Der Soziologie obliegt es, Systeme möglichst reiner rationaler und nicht-rationaler Idealtypen zu konstruieren, um objektive heuristische Instrumente zu besitzen, die es ermöglichen, den jeweiligen Kulturbereich zu deuten. Die in Wirtschaft und Gesellschaft von Weber selbst noch veröffent-

303 Schütz geht davon aus, dass sich der Begriff der Sinnadäquanz nicht unabhängig von dem der Kausaladäquanz verständlich machen lässt. Beide Begriffe können vielmehr ineinander überführt werden, vgl. Schütz 1993, 332. Auf diesem Wege ließe sich erklären, warum Weber an dieser Stelle den zweiten Begriff nicht eigens aufführt. 304 Im Ausdruck kulturwichtig klingt der Begriff der Wertbeziehung an, der hier aber nur auf die Arbeit des Historikers angewandt wird. 305 Diesen Gesichtspunkt spricht Weber bereits im Kategorienaufsatz an, vgl. K, 460. 306 Mommsen 1974a, 222f. 307 Hierin wurzelt der Nominalismusvorwurf gegenüber Webers Idealtypenlehre, vgl. dazu 4. 1.

2.5 Zusammenfassung |

155

lichten Beiträge – Soziologische Grundbegriffe, Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens, Die Typen der Herrschaft sowie die kurzen Passagen zu Stände und Klassen – demonstrieren auf eindrucksvolle Weise, wie Weber dieses Methodenprogramm umzusetzen wusste. Zugleich gewinnt vor diesem Hintergrund betrachtet Alfred Schütz’ Urteil noch einmal mehr Gewicht und Plausibilität, wonach der Idealtypus das „Zentralproblem aller Sozialwissenschaften“³⁰⁸ darstellt.

2.5 Zusammenfassung Kulturverstehen bedeutet Handlungsverstehen. In dieser Formulierung ist der hermeneutische Ansatz Webers zusammengefasst, und sie impliziert, dass das menschliche Handeln als der Grundbaustein der soziokulturellen Wirklichkeit anzusehen ist. Transzendentale Voraussetzung der Kultur- und Sozialwissenschaften ist daher nicht allein – wie es im Objektivitätsaufsatz heißt – der Mensch als Kulturwesen, der zur Welt Stellung nimmt und ihr auf diesem Wege einen Sinn verleiht. Diese Prämisse muss dahingehend präzisiert werden, dass der Mensch ein Wesen ist, das handelt.³⁰⁹ Denn die Akte der Sinngebung sind im Handeln fundiert. Der Sinn der Kultur und der Gesellschaft und ihrer unterschiedlichen Teilbereiche, den zu verstehen den Kultur- und Sozialwissenschaften aufgegeben ist, lässt sich nicht losgelöst von dem Sinn begreiflich machen, den Menschen dem eigenen Verhalten beilegen und der auf das Verhalten anderer sowie auf Gegenstände bezogen sein kann.³¹⁰ Durch den Handlungssinn werden natürliche Vorgänge und bloße Gegenstände der Außenwelt zur Kultur. Sie werden durch menschliches Handeln beseelt. Mit dieser Synthese von Sinn- und Handlungsbegriff hat Weber wissenschaftsgeschichtlich betrachtet Epoche gemacht. Obgleich Webers Denken Anhaltspunkte für eine subjektivitäts- und eine bewusstseinstheoretische Fundierung des Motiv- und damit des Sinnbegriffs böte, sieht er von einer Entfaltung eines solchen Begründungszusammenhangs ab. Er setzte sich damit auf der einen Seite dem Vorwurf aus, dass sein Sinnbegriff der „Titel für eine vielverzweigte und der weiteren Durchdringung sehr bedürftige Pro-

308 Schütz 1993, 320. In genau dieser Weise äußert sich Weber gegenüber Robert Liefmann. In einem an diesen gerichteten Brief vom 9. März 1920 heißt es: „Die Theorie schafft Idealtypen und diese Leistung ist gerade bei mir die unentbehrlichste.“ (Br II / 10, 949). 309 Ulrich Barth hat diesen Gesichtspunkt wie folgt prägnant zusammengefasst: „Kulturtheorie und handlungstheoretische Soziologie sind für Weber letztlich identisch.“ (Barth 2003d, 34). 310 Auf diesen Gesichtspunkt wird im Rahmen der Interpretation von Webers Prophetenbegriff zurückzukommen sein, vgl. 4. 2. 3.

156 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens blematik“³¹¹ sei. Auf der anderen Seite kommt darin zugleich ein signifikanter Zug seines kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansatzes zum Ausdruck. Die methodologischen, historischen und materialsoziologischen Untersuchungen Webers sind weniger Beiträge zur Kultur- und Sozialtheorie als vielmehr zur Kultur- und Sozialhermeneutik.³¹² Dieser interpretativen Ausrichtung entspricht es, dass der Deutungsbegriff den neuralgischen Punkt seines szientifischen Selbstverständnisses bildet. Dass letzteres mit jenem gleichsam koinzidiert, lässt sich an Webers Überzeugung ablesen, mittels des Deutungsbegriffs die Existenzberechtigung eines nicht-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbereichs plausibilisieren zu können. Der Deutungsbegriff, auf den es Weber ankommt, ist strikt auf der Ebene kulturund sozialwissenschaftlicher Reflexion angesiedelt und damit zugleich von subjektiven Selbstauslegungsprozessen sowie vom alltäglichen Verstehen in sozialen Interaktionen zu unterscheiden. Es handelt sich zunächst um einen kultur- und sozialwissenschaftlichen Leitbegriff, weswegen sich Webers Verständnis des Disziplinenbereichs, dem er selbst angehörte, dahingehend zusammenfassen lässt: Kultur- und Sozialwissenschaften sind Deutungswissenschaften. Weber bewegt sich damit im Fahrwasser der hermeneutischen Tradition, die unter den Bedingungen der nachkantischen Problementwicklung im 19. Jahrhundert – jeweils unterschiedlich akzentuiert – im Denken Schleiermachers, Droysens und Diltheys auf den Begriff gebracht wurde. Gleichwohl fügt sich sein Ansatz in diese Linie nicht unmittelbar ein, sondern weiß eigene Akzente zu setzen, die sich in einem Neuarrangement der Methodenelemente artikulieren. Auf der einen Seite bildet Webers Interpretationstheorie eine partielle Absage an die unterschiedlichen Verfahrensweisen, die zur Entschlüsselung der Kulturwirklichkeit zur Anwendung gekommen waren. Um menschliches Handeln verstehen zu können, reiche es weder aus, ausschließlich mit nomologischen Mitteln zu operieren, noch einseitig auf das psychologische Verstehen zu setzen. Damit richtet er sich sowohl gegen die empirisch-experimentelle Psychologie als auch gegen Modelle des nacherlebenden Verstehens. Auf der anderen Seite zeichnet sich seine Verstehenstheorie durch eine eigenwillige Verschränkung von Methodenelementen aus, die sich im weitesten Sinne beiden Verfahrensbereichen zuordnen lassen. Denn auch wenn er das psychologische Verstehensmodell deutlich depotenziert und auch dessen axiomatische Basis – die Annahme, menschliches Dasein sei strukturisomorph verfasst – in Frage stellt, rangiert er es nicht aus. Es handelt sich bei diesem Modell um eine für ihn unverzichtbare Hilfsmethode. Dass sie nicht im Zentrum seiner Methodenlehre stehen kann, ist ihrem – wie er im Anschluss an Münsterberg sagt –

311 Schütz 1993, 15. 312 Zur begriffsgeschichtlichen Herkunft dieses Ausdrucks vgl. Kubik 2011, 372.

2.5 Zusammenfassung |

157

subjektivierenden Charakter geschuldet. Das psychologische bzw. nacherlebende Verstehen leidet seiner Sicht der Dinge nach an massiven Objektivitätsdefiziten. Um diesen Mangel zu beheben, sei ein methodisches Instrumentarium erforderlich, das objektive Erkenntnisse ermöglicht. Aus diesem Grund rückt er die Kausalitätskategorie in den Mittelpunkt seiner Verstehenstheorie. Diese Kategorie will er jedoch nicht im naturwissenschaftlichen Sinne verstanden wissen. Sie kommt vielmehr in einer teleologischen, auf das menschliche Handeln bezogenen Perspektive zu stehen. Diese präzisiert Weber – durch Simmel angeregt – mittels des Motivbegriffs. Das Motiv bildet den sinnhaften Beweggrund des Handelns, sodass letzteres aus dem ursächlichen Zusammenhang heraus erklärt und verstanden werden kann. Maßgebliches Vorbild für dieses hermeneutische Verfahren ist die für das Strafrecht entwickelte Zurechnungstheorie Johannes von Kries’. Für die Verknüpfung der Kausalitätskategorie mit der Handlungswelt sind Erfahrungsregeln von grundlegender Bedeutung. Diese bezeichnen das nomologische, jene Kategorie implizierende Wissen der Handlungs- und der Verstehenstheorie. Die dem Alltag entlehnten Erfahrungsregeln repräsentieren kausale Determinationszusammenhänge im Bereich des menschlichen Handelns. Als solche bilden sie wiederum die Voraussetzung dafür, objektiv mögliche, der Zweck-MittelRelation entsprechende, idealtypische Handlungsbegriffe zu entwerfen. Das Ziel der rationalen bzw. kausalen Deutung, die im Mittelpunkt von Webers Theorie des Handlungsverstehens steht und sich unter dem Einfluss ganz unterschiedlicher Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Methodologie herausgebildet hat (Rickert, Simmel, Kries, Gottl), ist damit jedoch noch nicht erreicht. Die rationalen Begriffe des Handelns haben keinen Selbstzweck. Als Deutungsschemata haben sie „Werkzeugcharakter“³¹³ und besitzen eine heuristische Funktion, empirisches Handeln verständlich zu machen. Das aber erfolgt mittels eines komparativen Verfahrens. Empirisches Handeln wird mit dem idealtypischen Handlungsbegriff verglichen, um die rationalen Übereinstimmungen bzw. irrationalen Abweichungen feststellen zu können. Das erfolgt sowohl auf dem Gebiet der historischen wie der soziologischen Analysen. In werkbiographischer Perspektive lassen sich verschiedene Transformationen und Umakzentuierungen des Konzepts idealtypischer Begriffsbildung identifizieren. Zu den weitreichendsten gehört sicherlich die Ausdifferenzierung der soziologischen Begriffe in rationale und nicht-rationale. In dieser Erweiterung des Begriffsspektrums spiegelt sich die permanente Ausweitung von Themenbeständen wider, derer sich Weber im Laufe der Jahre angenommen hat. Es traten zunehmend Kulturbereiche in den Fokus seines Wissenschaftsinteresses, deren

313 Schulz 1972, 156.

158 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens Eigengesetzlichkeiten sich nicht mit den kategorialen Mitteln der Nationalökonomie bestimmen ließen. Hierzu gehört allen voran das Gebiet Religion, das – wie die folgenden Kapitel zu zeigen haben – für die Konstruktion soziologischer Idealtypen eine Schlüsselrolle einnimmt. Das Element des Idealen, mit dem die Pointe von Webers Theorie der Begriffsbildung bezeichnet ist, könnte zu der Frage Anlass geben, inwiefern sich diese Theorie mit dem Anspruch verbinden lässt, Wirklichkeitswissenschaft zu betreiben bzw. sich auf dem Boden der empirischen Wissenschaft zu bewegen. Um einem möglichen nominalistischen Missverständnis von vornherein die Grundlagen zu entziehen, betont Weber, dass jeder idealtypische Begriff eines empirischen Ausgangspunkts bedürftig ist. Allerdings stellt er nicht weniger deutlich heraus, dass sich der Forscher in dem Augenblick, in dem dieser in einer wissenschaftlichen Einstellung auf die empirische Wirklichkeit zu- und Teilelemente herausgreift, diese Ausgangsbasis schon wieder verlässt und sich auf der Ebene des Begriffs bewegt. Die kultur- und sozialwissenschaftliche Begriffsarbeit umfasst einerseits ein Mindestmaß empirischer Sättigung. Andererseits spiegelt sie das, wovon sie ausgegangen ist, nicht unmittelbar wider. Es handelt sich immer um eine gegenüber den realen Gegenständen und Vorgängen transformierte Explikationsgestalt, deren idealtypischer Charakter sich der Orientierung an Erfahrungsregeln sowie an durchschnittlichen Gefühls- und Denkgewohnheiten verdankt. Sinntheoretisch zieht Weber daraus die weitreichende Konsequenz, strikt zwischen dem empirischen und dem ideellen Sinn des Handelns zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung treten unterschiedliche Perspektivierungsmöglichkeiten des subjektiv gemeinten Sinns menschlichen Sichverhaltens auf den Plan. Dieser kann sowohl aus der Sicht des Handlungssubjekts (empirischer Sinn) als auch aus der des Fremdbeobachters (ideeller Sinn) thematisch werden, wobei Weber bezogen auf die Dritte-Person-Perspektive zwischen einer Alltagseinstellung und einer wissenschaftlichen Einstellung differenziert. Der ideelle Sinn wird von ihm ausschließlich in einer szientifischen Einstellung auf den Begriff gebracht, was zugleich bedeutet, dass dieser den modalen Status des Möglichen bzw. NichtWirklichen besitzt. Die in dieser Weise konstruierten idealtypischen Sinnbegriffe werden Wirklichkeitsausschnitten subintelligiert, um letztere – wie zuvor schon skizziert wurde – im Medium eines komparativen Verfahrens verstehen zu können. Auch wenn es sich um objektiv mögliche Begriffe handelt, die kultur- und sozialwissenschaftliche Sinndogmatik geht nicht über hypothetische Aussagen hinaus. Ihre empirische Geltung ist – den Eigengesetzlichkeiten der Begriffsbildung entsprechend – prinzipiell problematisch. Schließlich bringt die Auseinandersetzung mit Webers Handlungs- und Verstehenstheorie eine Verschiebung in der Beurteilung der werkbiographischen Entwicklung seiner Methodologie mit sich. Wird der Fokus primär auf den darin

2.5 Zusammenfassung |

159

entfalteten handlungs- und verstehenstheoretischen Ansatz gerichtet, schälen sich drei Phasen heraus.³¹⁴ Die erste betrifft den ersten Beitrag zu Roscher und Knies (1903) sowie den Objektivitätsaufsatz (1904),³¹⁵ die beide in besonders ausgeprägter Weise der Werttheorie des südwestdeutschen Neukantianismus verpflichtet sind. Von einer Handlungstheorie im engeren Sinne des Wortes kann bezogen auf diese beiden Aufsätze noch nicht die Rede sein und damit auch noch nicht von einer ihr entsprechenden Theorie des Handlungsverstehens. Diese Beurteilung betrifft auch die soziologischen Implikationen dieser Beiträge. Der Begriff der Sozialwissenschaft steht hier noch weitgehend unter den Bedingungen eines neukantianisch und das bedeutet in diesem Fall werttheoretisch begründeten, historisch ausgerichteten Modells von Kulturwissenschaften. Dieses Begründungsmodell beginnt mit der zweiten Lieferung zu Roscher und Knies (1905) zu erodieren. In den Jahren 1905–1906, mit der die zweite Phase zeitlich umgrenzt ist, tritt neben die Wert- verstärkt die Handlungstheorie auf den Plan, was nicht zuletzt dem Selbstverständnis der historischen Schule der Nationalökonomie entspricht, eine Wissenschaft vom menschlichen Handeln zu sein. Die Verbindung von Handlungs-, Motiv- und Sinnbegriff setzt sich nun in Webers Denken durch und damit die handlungstheoretische Fundierung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, muss Wilhelm Hennis Urteil, wonach der Objektivitätsaufsatz „der wichtigste aller Beiträge zur Wissenschaftslehre“³¹⁶ Webers sei, relativiert werden. Zwar entwickelt der Objektivitätsaufsatz die Theorie der Idealtypenbildung, verwendet den Begriff der objektiven Möglichkeit und grenzt bereits das Erfahrungswissen von Werturteilen ab. Was er aber noch nicht kenntlich macht, ist die strikte Anwendung dieser Methodenelemente auf den Begriff des Handelns, i. S. eines durch sinnhafte Motive verursachten menschlichen Verhaltens.³¹⁷ Diesen Zusammenhang stiftet erstmals

314 Schon Friedrich Tenbruck bemerkte: „Man muß die Aufsätze deshalb als Etappen eines Weges verstehen, auf dem Weber ein Grundproblem zunehmend entfaltete und erklärte.“ (Tenbruck 1994, 372). 315 Auch wenn dieser Aufsatz erst 1904 publiziert wurde, arbeitete Weber vermutlich bereits im Jahr zuvor daran. Auf diese Entstehungszeit deutet eine Angabe Marianne Webers hin. Sie hält fest: „Zu Beginn des Jahres 1904 bringt er für das erste Heft der neuen Folge eine als methodologische Programmschrift gedachte Abhandlung fertig über ‚die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnisse‘.“ (Weber 1984, 291). 316 Hennis 2003, 180. Ähnlich urteilt Mommsen 1974a, 213. 317 Damit korrespondiert der – freilich rein äußerliche – Befund, dass Weber in der jeweiligen Eingangsanmerkung des Kategorienaufsatzes sowie der Soziologischen Grundbegriffe, in der er die einschlägige Literatur nennt, den Objektivitätsaufsatz nicht anführt. Vielmehr verweist er, was eigene Beiträge betrifft, ausdrücklich auf seine Stammlerrezension sowie auf den Kategorienaufsatz (vgl. Soz, 147f).

160 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens die zweite Lieferung zu Roscher und Knies (1905). Sie ist – zugespitzt formuliert – das Entstehungsdokument seiner Theorie des Handlungsverstehens, in deren Mittelpunkt sich zunächst der Begriff der rationalen Deutung und später das auf letzterem aufbauende Modell eines erklärenden Verstehens (sozialen) Handelns befindet. Die dritte und letzte Phase seiner Methodologie setzt mit seiner berühmt berüchtigten Stammler-Rezension ein. Der darin verwendete Kulturbegriff zeichnet sich dadurch aus, sich – zumindest terminologisch – von werttheoretischen Begründungsmustern losgelöst zu haben und ganz auf die besagte Struktur menschlichen Handelns bezogen zu sein.³¹⁸ Hinzu kommt auch, dass sich Weber durch Stammler dazu herausgefordert sah, die Eigengesetzlichkeiten von Vergemeinschaftungs- bzw. Vergesellschaftungsprozessen auf den Begriff zu bringen, was eine weitere Verschiebung in der systematischen Tektonik seines Werks evozierte. Der Übergang von der zweiten zur dritten Phase seiner Methodenschriften stellt den Übergang von den historisch ausgerichteten, handlungstheoretisch begründeten Kulturwissenschaften zu den Sozialwissenschaften dar. Deren gemeinsamer Nenner bildet der Handlungsbegriff, dessentwegen sich beide Bereiche oftmals nicht randscharf voneinander trennen lassen. Aber zumindest tendenziell lässt sich ein Zurücktreten der wissenschaftssystematischen Leitfunktion des Kulturbegriffs erkennen. Weber hält – daran kann kein Zweifel bestehen – am Kulturbegriff fest, allerdings eher im Sinne des kulturellen Phänomenbestands. Umgekehrt gilt genauso, dass Weber – wie schon angedeutet wurde – in den besagten ersten beiden Phasen soziale Phänomene in den Blick genommen hat. Allerdings war der Zugang zu denselben noch nicht sozial-, sondern kulturwissenschaftlich organisiert. Mit der dritten Phase übernimmt der Begriff des Sozialen sowie dessen Derivate eine wissenschaftssystematische Leitfunktion.³¹⁹ Aus der Perspektive des Handlungsbegriffs betrachtet, vollzieht sich hier dementsprechend der Überschritt vom Handeln zum sozialen Handeln. Dieser Überschritt bündelt sich terminologisch im Begriff der Soziologie, was der Beitrag Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie eindrucksvoll unterstreicht und in den Soziologischen Grundbegriffen seinen gedanklichen Abschluss gefunden

318 Pietro Rossi spricht von einer „Loslösung von Rickerts Werttheorie, die Weber insbesondere in den nach 1910 publizierten Logos-Aufsätzen unzulänglich erscheinen mußte.“ (Rossi 1994, 217). 319 Untermauert wird diese Lesart durch den äußeren Befund, dass der Begriff Kulturwissenschaft sich fast nur in den methodologischen Schriften bis 1909 findet. Es gäbe aber auch gute Gründe, den Zeitraum bis 1907 einzugrenzen. Denn wenn Weber in seinem 1909 erschienenen Beitrag zu den energetischen Kulturtheorien jenen Begriff verwendet, dann vor allem mit Rücksicht auf den Titel des darin besprochenen Werks von Wilhelm Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (1909).

2.5 Zusammenfassung |

161

hat. Diesen Beiträgen zufolge ist die Soziologie eine Wissenschaft vom sozialen Handeln.³²⁰ Tabellarisch lässt sich dieser in drei Phasen ablaufende Prozess wie folgt zusammenfassen: Tab. 2.1. Werkbiographische Entwicklung von Webers methodologischen Schriften Phasen

Wissenschaftsmodell

Begründungstheorie

I. 1903–1904 II. 1905–1906 III. 1907–1920

historisch ausgerichtete Kulturwissenschaft historisch ausgerichtete Kulturwissenschaft (historisch orientierte) Sozialwissenschaft

Werttheorie Handlungstheorie Handlungstheorie

Die hier vorgelegte werkbiographische Interpretation der methodologischen Schriften Webers lässt somit einen grundlegenden Transformationsprozess seines Wissenschaftsverständnisses erkennen, der maßgeblich durch die Umstellung der Theoriegrundlagen begründet ist.³²¹ Bisher vollständig unberücksichtigt geblieben, ist der werkgenetisch ausgesprochen bemerkenswerte Befund, dass zeitgleich mit den Hochphasen von Webers methodologischen Reflexionen eine intensive Beschäftigung mit dem Thema der Religion bzw. des Religiösen erfolgt. So erscheint in den Jahren 1904/1905, also in der Zeit, in der sich Webers kultur- und sozialwissenschaftliches Methodenprogramm zu formieren beginnt, im Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik die Protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei diesem Aufsatz um einen ersten Anwendungsfall jenes Programms handelt. Doch es steht auch zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit den historischen Materialien sowie mit der zeitgenössischen Forschungsliteratur zu diesem Thema Rückwirkungen auf die Weiterentwicklung der Theorie des Handlungsverstehens hatte.³²² Des Weiteren veröffentlichte Weber in den Jahren, in denen er den religionssoziologischen Teil für den Grundriß der Sozialökonomik ausarbeitete, den Kategorienaufsatz (1913).³²³ Sodann erschienen seit 1915 verschiedene Teile der Wirtschaftsethik der Weltreligionen. In diesen Zeitraum fällt auch die systematische Ausarbeitung des im Kategorienaufsatz ansatzweise entfalteten Methodenprogramms, die sich dann in den Soziologischen Grundbegriffen verdichten

320 Vgl. auch Tyrell 1994, 400. 321 Angesichts ihrer fließenden Übergänge sei ausdrücklich bemerkt, dass es sich um eine schematisierende Zuspitzung jener drei Phasen handelt. 322 Dieser Gesichtspunkt wird hier nicht eigens erörtert, im folgenden Kapitel drei (3) aber verschiedentlich zur Sprache gebracht. 323 Der Herausgeber der Religiösen Gemeinschaften – Hans G. Kippenberg – hält im editorischen Bericht fest, dass diese Schrift im Jahre 1913 aus religionswissenschaftlichen Forschungen hervorgegangen sei, an denen Weber seit 1911 gearbeitet habe, vgl. Kippenberg 2001d, 86.

162 | 2 Die systematischen Grundlagen der Theorie des Handlungsverstehens sollte.³²⁴ In der Forschungsliteratur ist verschiedentlich auf diese Konvergenzen hingewiesen und eine wechselseitige Abhängigkeit beider Schriftengruppen vermutet worden.³²⁵ Bevor nähere Aussagen darüber getroffen werden können, ob sich diese Vermutung erhärten und sich somit über die werkbiographische Beobachtung hinaus ein systematischer Zusammenhang zwischen Methodologie und Religionssoziologie feststellen lässt, muss Webers Religionsforschung in den Fokus der Untersuchung gerückt werden.

324 Diese Zuordnung religionssoziologischer und methodologischer Schriften darf nicht zu dem Missverständnis Anlass geben, dass sich Webers Arbeit nur auf diese beiden Bereiche konzentriert hätte. Davon kann in gar keiner Weise die Rede sein. 325 Vgl. Drehsen 1975, 1142; Henrich 1988, 12; Kalberg 1990, 605.

3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext 3.1 Einleitung Nachdem Weber die Protestantische Ethik publiziert und in den folgenden Jahren den verschiedenen Kritiken Antikritiken entgegengehalten hatte – hier ist vor allem an seine Auseinandersetzung mit Felix Rachfahl (1867–1925) zu erinnern – gewinnt, wie Marianne Weber in dem Lebensbild ihres Mannes notiert,¹ seine Religionsforschung um das Jahr 1911 herum wieder an Fahrt. Als erstes Anzeichen dieses wieder erwachenden Interesses an der Religion könnte zwar die bereits 1908 erschienene dritte Auflage der Agrarverhältnisse im Altertum interpretiert werden, setzte sie sich doch ausführlich mit der Geschichte Israels und des Judentums auseinander, welche in den ersten beiden Auflagen noch außen vor geblieben war.² Dass es sich bei dieser religionsgeschichtlichen Erweiterung jedoch um eine allenfalls zaghafte Wiederbelebung seiner Beschäftigung mit diesem Thema handelte, legt der erste, 1910 angefertigte Stoffverteilungsplan von Wirtschaft und Gesellschaft nahe. Denn in diesem war – wie Wolfgang Schluchter herausstellt – „keine Sonderbehandlung der Religion vorgesehen.“³ Dass Marianne Webers Notiz somit Glauben zu schenken ist, wird zudem seit wenigen Jahren durch einen Text bestätigt, der innerhalb der Max WeberGesamtausgabe erstmals von Eckart Otto herausgegeben und interpretiert wurde.⁴ Er steht unter der Überschrift Ethik und Mythik/rituelle Absonderung und ist vermutlich in den Jahren 1911/1912 entstanden. Wie der Münchener Alttestamentler gezeigt hat, ist dieser Text für Webers Verständnis der alttestamentlichen Religionsgeschichte von kaum zu überschätzender Bedeutung. Eine Vielzahl von Aspekten, die in den späteren religionssoziologischen Studien erneut aufgegriffen werden, sind darin präfiguriert.⁵ Über die Gründe dafür, dass sich Weber wieder mit voller Energie dem Religionsthema zuwandte, ist vielfach nachgedacht worden. Verschiedene Aspekte kommen hier in Betracht. Zunächst ist in diesem Zusammenhang Werner Som-

1 Vgl. Weber 1984, 346. 2 Vgl. AA 438–455. 549–552. 590–597. Diese Ausführungen sind von Eckart Otto ausführlich besprochen worden, vgl. dazu Otto 2005b, 3–27. 3 Schluchter 1991b, 564. Vgl. auch Weber 2009, 75. 145f. 4 Vgl. auch Otto 2005b, 38f. 5 Zum Gegenstand und zur werkgeschichtlichen Stellung dieses Manuskripts vgl. Otto 2005b, 38–71. https://doi.org/10.1515/9783110502770-173

164 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext barts Abhandlung Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) zu nennen, an dessen Entstehung – wie letzterer bemerkt – „Max Webers Untersuchungen [sc. zur Protestantischen Ethik] . . . ein gut Teil Schuld“⁶ hätten. Sombarts Schrift beabsichtigt, die These vom Geist des Kapitalismus zu entkräften und aufzuzeigen, dass der von Weber gestiftete Zusammenhang von protestantischer Ethik und Kapitalismus gegenüber demjenigen von jüdischer Religion und letzterem historisch nachgängig sei.⁷ Von diesem Überbietungsanspruch ist Weber nicht unbeeindruckt geblieben, wofür nicht zuletzt die Neuaufnahme seiner Religionsforschung spricht, die sich zunächst ganz auf das Judentum konzentrierte.⁸ Im Anschluss an Marianne Weber wird sodann immer wieder auf Webers Entdeckung des „okzidentalen Rationalismus“ verwiesen, die dieser im Rahmen seiner religionssoziologischen Studien gemacht hat und die von jener ausführlich beschrieben wurde. In diesem Zusammenhang hält sie fest: Für Weber bedeutet diese Erkenntnis der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus und der ihm zugefallenen Rolle für die abendländische Kultur eine seiner wichtigsten Entdeckungen. Infolge davon erweitert sich seine ursprüngliche Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion und Wirtschaft nun zu der noch umfassenderen, nach der Eigenart der ganzen abendländischen Kultur: Warum gibt es nur im Okzident rationale Wissenschaft, die beweisbare Wahrheiten produziert? Warum nur hier rationale harmonische Musik, eine sich rationaler Konstruktionen bedienende Bau- und Bildkunst? Warum nur hier den Ständestaat, die fachgeschulte Beamtenorganisation, das Fachmenschentum, das Parlament, das politische Parteiwesen, überhaupt den Staat als politische Anstalt mit rational gesatzter Verfassung und ebensolchem Recht? Warum nur hier die schicksalsvollste Macht des modernen Lebens, den modernen Kapitalismus? Warum dies alles nur im Abendland? Diese Fragen beschäftigen ihn nun dauernd in dieser oder jener Form und drängen ihn aus dem Rahmen seines Fachs, ja jeder Fachgelehrsamkeit heraus zu welthaltiger Wirklichkeitserkenntnis.⁹

6 Sombart 1911a, 226. 7 Gleich auf der ersten Seite des Vorworts heißt es dementsprechend: „Ich bin ganz durch Zufall auf das Judenproblem gestoßen, als ich darauf aus war, meinen ‚Modernen Kapitalismus‘ von Grund aus neu zu bearbeiten. Da galt es unter anderm die Gedankengänge, die zu dem Ursprunge des ‚kapitalistischen Geistes‘ führten, um einige Stollen tiefer zu treiben. Max Webers Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Puritanismus und Kapitalismus mußten mich notwendig dazu führen, dem Einflusse der Religion auf das Wirtschaftsleben mehr nachzuspüren, als ich es bisher getan hatte, und dabei kam ich zuerst an das Judenproblem heran. Denn wie eine genaue Prüfung der Weberschen Beweisführung ergab, waren alle diejenigen Bestandteile des puritanischen Dogmas, die mir von wirklicher Bedeutung für die Herausbildung des kapitalistischen Geistes zu sein scheinen, Entlehnungen aus dem Ideenkreise der jüdischen Religion.“ (Sombart 1911a, V). 8 Eckart Otto weist darauf hin, dass Sombart ein Exemplar seiner Untersuchung Weber zukommen ließ und dass letzterer es intensiv durchgearbeitet und mit zahlreichen Randnotizen versehen habe. Diese werden von Otto wiedergegeben und kommentiert, vgl. Otto 2005b, 31–38. 9 Weber 1984, 349.

3.1 Einleitung |

165

Nicht zuletzt diese Schilderung dürfte einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Rezeptionsgeschichte der Religionssoziologie Webers gehabt haben, die vielfach von einer einseitigen Konzentration auf die berühmte Rationalisierungsthese bestimmt ist.¹⁰ Des Weiteren muss Ernst Troeltsch an dieser Stelle Erwähnung finden. Der Theologe hatte im Jahre 1908 damit begonnen, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik seine Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen zu publizieren, was seine Wirkung auf Weber nicht verfehlt haben dürfte. Der Geist der Bewunderung, der Konkurrenz und – erneut – der Überbietung spricht sich deutlich in einem Brief an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 aus, in dem Weber seinen eigenen Beitrag zu dem von ihm selbst herausgegebenen Grundriß der Sozialökonomik wie folgt kommentiert: Da Bücher [sc. Karl Bücher] ja – ‚Entwicklungsstufen‘ – ganz unzulänglich ist, habe ich eine geschlossene soziologische Theorie und Darstellung ausgearbeitet, welche alle großen Gemeinschaftungsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie zur Hausgemeinschaft zum ‚Betrieb‘, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Tröltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, nur wesentlich knapper), endlich eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre. Ich darf behaupten, daß es noch nichts dergleichen giebt, auch kein ‚Vorbild‘.¹¹ (Br II / 8, 449f)

Wenn Weber um 1911 damit beginnt, sich erneut intensiv mit dem Gebiet der Religion zu beschäftigten, so muss den in diesen Jahren erschienenen Konkurrenzprojekten Troeltschs und Sombarts sicherlich eine katalysierende Wirkung bescheinigt werden. Schließlich deuten die Akten des ersten deutschen Soziologentages, der 1910 in Frankfurt stattgefunden hatte, auf Webers revitalisiertes Interesse an den Fragen der Religionsforschung hin. Er selbst hielt auf diesem Kongress zwar kein Fachreferat, nimmt jedoch in den dokumentierten Diskussionen einen festen Platz ein. Für unseren Zusammenhang ist es von Interesse, dass er in seinen Wortbeiträgen immer wieder Exkurse zu Bereichen des Religiösen macht, und zwar auch dort, wo das Hauptreferat selbst einem anderen Themengebiet zugehörig war. Das gilt für Werner Sombarts Vortrag Technik und Kultur,¹² für Alfred Plötz’ Beitrag Die

10 Auf Marianne Webers Prägung der Wirkungsgeschichte, die mit den Schriften ihres Mannes verbunden ist, weist auch Lepsius 2005, 1321 hin. 11 Im ersten Satz bezieht sich Weber auf den Nationalökonomen Karl Bücher (1847–1930), der am Grundriß mitarbeitete. 12 Vgl. Sombart 1911b, 96.

166 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Begriffe Rasse und Gesellschaft,¹³ der von Weber harsch kritisiert wird, sowie für Andreas Voigts Referat Wirtschaft und Recht.¹⁴ Am ausführlichsten nimmt er aber zu Troeltschs berühmter Rede Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht Stellung und gibt sich als einen intimen Kenner der Christentumsgeschichte sowie ihrer einzelnen Denominationen und Gruppen zu erkennen. Bemerkenswert sind an dieser Stelle vor allem die Themen seiner Voten, die in seinen Schriften zuvor nicht verhandelt worden waren. Das gilt etwa für die Behandlung der orthodoxen, inbesondere der russischen Kirche, die er im Horizont von Troeltschs Typologie christlicher Gruppen reflektiert.¹⁵ Darauf einzugehen, dürfte kein Zufall gewesen sein, hatte Troeltsch die Ostkirche doch weitgehend außen vor gelassen und konstatiert: „Leider ist die Geschichte der russischen Kirche zu unbekannt, als daß die sicherlich höchst interessanten Parallelen und Gegensätze gegenüber der der abendländischen Entwickelung hier verfolgt werden könnten.“¹⁶ Webers wieder aufgenommene Religionsforschung kam im Jahre 1913 zu einem vorläufigen Abschluss, also in dem Jahr, in dem auch sein Kategorienaufsatz in der zum damaligen Zeitpunkt von Richard Kroner (1884–1974) und Georg Mehlis (1878–1942) herausgegebenen kulturphilosophischen Zeitschrift Logos abgedruckt wurde.¹⁷ In diesen Zeitraum fällt ein Brief an Rickert, in dem Weber von seiner „Religionssystematik“ spricht, deren Manuskript er dem Philosophen – im Gegenzug zu dessen Vom System der Werte (1913) – schicken möchte (Br II / 8, 262).¹⁸ Bekanntlich wurde es aber nicht zu Lebzeiten Webers publiziert, sondern erst im Jahre 1922 unter dem Titel Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung) als Teil von Wirtschaft und Gesellschaft. Im Jahre 2001 gab Hans G. Kippenberg den Fragment gebliebenen Text in der Max Weber-Gesamtausgabe unter dem Titel Religiöse Gemeinschaften neu heraus.¹⁹

13 Vgl. Plötz 1911, 152. 14 Vgl. Voigt 1911, 267. 15 Vgl. Weber 2014c, 755–758. 16 Troeltsch 1923, 19488. In Webers Bezugnahme auf die russische Kirche schattet sich aber auch seine intensive Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen Lage Russlands ab, die ihn dazu veranlasste, sich binnen kurzer Zeit die russische Sprache so anzueignen, dass er in der Lage war, die russische Tagespresse zu lesen, die er teilweise auch abonniert hatte, vgl. dazu Mommsen 1989, 9. 17 Vgl. Kippenberg 2001a, 1ff; vgl. dazu auch Br II / 8, 260f. 18 Rickerts Schrift erschien in der gleichen Ausgabe des Logos. 19 Gegenüber der Protestantischen Ethik und den Aufsätzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen führte die Religionssystematik innerhalb der Weberforschung lange Zeit ein Schattendasein, vgl. etwa Tenbruck 1975, 663–702. Erst mit Wolfgang Schluchters wegweisenden Analysen zu Webers Religionssoziologie trat sie aus diesem Schatten heraus, vgl. vor allem Schluchter 1991b, 557–596.

3.2 Allgemeine Charakteristik der Religiösen Gemeinschaften |

167

Die folgenden Ausführungen werden sich auf Webers Religiöse Gemeinschaften konzentrieren und religionswissenschaftliche Grundbegriffe analysieren, die für deren Verständnis von zentraler Bedeutung sind. Dass es für den gedanklichen Zugang zu diesen Begriffen unerlässlich ist, sie aus ihrem forschungsgeschichtlichen Kontext heraus verständlich zu machen, wurde schon vielfach bemerkt. Bei dem letzten Versuch, die historischen und forschungsgeschichtlichen Grundlagen der systematischen Religionssoziologie Webers umfassend zu bestimmen, handelt sich um den von Hans G. Kippenberg und Martin Riesebrodt herausgegebenen Tagungsband Max Webers ‚Religionssystematik‘ (2001), der im Zuge der bereits erwähnten Neuedition der Religiösen Gemeinschaften erschien. Im Vorwort verleihen die Herausgeber ihrer Überzeugung Ausdruck, dass Webers religionssoziologischer Teil aus Wirtschaft und Gesellschaft „ohne die Vorarbeit der zeitgenössischen vergleichenden Religionswissenschaft undenkbar gewesen wäre . . . “.²⁰ Die einzelnen Beiträge gewähren wichtige Einblicke in das religionssoziologische Begriffslaboratorium Webers, womit es ihnen zugleich gelingt, den „entschiedenen Willen zu neuer interdisziplinärer Forschung“²¹ zu unterstreichen, den das Heidelberger akademisch-intellektuelle Milieu um 1900 insgesamt auszeichnet. Auf dem von ihnen festgehaltenen Forschungsstand können die hieran anschließenden Ausführungen vielfach aufbauen. Dass es die Erörterung der folgenden Themen erforderlich macht, über die Religiösen Gemeinschaften hinaus immer wieder auch Seitenblicke auf die Protestantische Ethik sowie auf die Wirtschaftsethik der Weltreligionen zu werfen, bedarf keiner weiteren Begründung. Bevor wir uns auf einzelne Inhalte der Religiösen Gemeinschaften konzentrieren, bietet es sich an, uns dieser unvollendet gebliebenen Abhandlung in einer allgemeineren Perspektive anzunähern.

3.2 Allgemeine Charakteristik der Religiösen Gemeinschaften Webers Abhandlung umfasst 12 Kapitel, deren innerer Argumentations- und Darstellungsduktus immer wieder zu denken aufgegeben hat.²² Im weitesten Sinne betrachtet, folgen die ersten 10 Kapitel einem relativ klaren Explikationsmuster.

In diesem Aufsatz formuliert Schluchter pointiert und Tenbruck korrigierend: „Wirtschaft und Gesellschaft und ‚Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen‘ stehen also tatsächlich, wie Weber sagt, sowohl werkgeschichtlich wie systematisch in einem Ergänzungs- und Interpretationsverhältnis.“ (Schluchter 1991b, 588). 20 Kippenberg und Riesebrodt 2001, III. 21 Graf 2002, 47. 22 Vgl. Schluchter 1991b, 573; Kippenberg 2001d, 94. 115; Otto 2002, 128.

168 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Weber stellt in einem jeweils ersten Schritt Überlegungen zu religiösen Vorstellungen und Praktiken an. In diesem Zusammenhang werden religionsgeschichtliche Sachverhalte thematisch. Diesen folgen dann darauf bezogene Angaben zu soziologischen Implikationen und Voraussetzungen. Beide thematischen Ausrichtungen wechseln einander ab und bilden somit den darstellungstechnischen Takt der Religionssystematik, den Weber selbst verschiedentlich kenntlich macht. So folgt auf die im ersten Kapitel behandelte „Entstehung der Religionen“ deren – wie es gleich zu Beginn des zweiten heißt – „soziologische“ (RG, 157) Vertiefung, und zwar anhand der Unterscheidung von Zauberern und Priestern. Im Anschluss an das dritte Kapitel – „Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu“ – geht Weber auf den Propheten (4. Kapitel) sowie auf die „Gemeinde“ (5. Kapitel) ein.²³ Das sozialwissenschaftliche Interesse liegt im Falle der letzteren auf der Hand. Aber auch das Prophetenkapitel setzt mit den Worten ein: „Was ist, soziologisch gesprochen, ein Prophet?“ (RG, 177) Das 6. Kapitel untersucht „Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge“. Darauf folgt der berühmte Abschnitt „Stände, Klassen und Religion“, dessen soziologische Ausrichtung wiederum offen zutage liegt. Die Kapitel 8 und 9 setzen erneut religionsgeschichtliche Schwerpunkte („Das Problem der Theodizee“ sowie „Erlösung und Wiedergeburt“), die im darauffolgenden sozialwissenschaftlich vertieft werden, und zwar im Hinblick auf den „Einfluß einer Religion auf die Lebensführung“ (RG, 305). Die letzten beiden Kapitel der Religiösen Gemeinschaften weichen von dem gerade skizzierten Muster ab und stellen den Versuch einer umfassenderen Systematisierung sogenannter Hochreligionen im Horizont ihrer Beziehung zur Welt bzw. zu nicht-religiösen Kulturbereichen dar.²⁴ Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen zum Aufbau der Religionssystematik bietet es sich an, deren methodische Anlage etwas genauer in den Blick zu nehmen. Der Aufbau deutet es bereits an, dass Weber in seinem unvollendet gebliebenen Werk weder rein historisch noch rein soziologisch verfährt. Vielmehr sind beide Verfahrensweisen miteinander verflochten, was die Fragen aufwirft, wie Weber sie im Einzelnen versteht und in welchem Verhältnis sie sich zueinander befinden. Dem als historisch bezeichneten Verfahren entspricht der entwicklungsgeschichtliche Zuschnitt von Webers Ausführungen. Auf diese Präzisierung weist bereits der Ausdruck „Entwicklung“ hin, der zum festen terminologischen Bestand der Religionssystematik gehört.²⁵ Die Frage, die sich hier wiederum stellt,

23 Das fünfte Kapitel ist keineswegs nur auf die mit dem Propheten verbundenen Vergemeinschaftungsformen bezogen, sondern nimmt im Horizont dieser thematischen Ausrichtung eine Vielzahl religiöser Spezialisten in den Blick. 24 Vgl. dazu auch 3. 7 sowie 4. 4. 25 Vgl. Kippenberg 2001d, 77. Kippenberg interpretiert Webers Inanspruchnahme des Entwicklungsbegriffs innerhalb der Religionssystematik einerseits damit, dass sich dieser aus der For-

3.2 Allgemeine Charakteristik der Religiösen Gemeinschaften |

169

besteht darin, in welchem Sinne dieser Ausdruck begriffen werden muss bzw. unter welchen Konstruktionsvoraussetzungen er steht. Der Begriff der Entwicklung, das – nach Helmut Plessner – erlösende Wort des 19. Jahrhunderts,²⁶ wurde damals in ganz unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen verwendet. In seiner säkularisierten Bedeutung ursprünglich in der Biologie und Medizin des 18. Jahrhunderts beheimatet, avancierte er zu einem Grundbegriff erst der Anthropologie und danach der Philosophie.²⁷ Einen seiner gedanklichen und systematischen Höhepunkte erreichte der Entwicklungsbegriff in der spekulativen Geist- und Geschichtsphilosophie Hegels. Von dort lassen sich die Linien bis in die fachwissenschaftliche Historiographie ziehen, zu deren Grundkategorien der Entwicklungsbegriff gehörte und bis zum heutigen Tage teilweise noch gehört. Nicht minder bedeutsam erwies sich dessen Renaissance innerhalb der Naturwissenschaften und auch hier wiederum in der Biologie.²⁸ Webers Religionssystematik weist nun vielfältige Übereinstimmungen zu den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Entwicklungsbegriffs im 19. Jahrhundert auf. So gebraucht er – allerdings nur sporadisch – die für das Entwicklungsdenken signifikante, aus dem Bereich der Biologie stammende Ursprungsmetapher des Keims (vgl. RG, 123. 294. 419). Hinzu treten Substitute wie das „Urwüchsige“. Des Weiteren legt das Arrangement der von ihm verwendeten, in den folgenden Kapiteln zu analysierenden religionswissenschaftlichen Begriffe ein geschichtliches Stufenmodell nahe, was ein Indiz für einen entsprechenden Entwicklungsbegriff sein könnte. Nicht zuletzt auch der Rationalisierungsbegriff könnte hier geltend gemacht werden, arbeitet Weber doch innerhalb der Religionsgeschichte eine stetig fortschreitende Rationalisierung religiöser Vorstellungen und Praktiken heraus. Die größte Schnittmenge besitzen Webers Ausführungen dementsprechend zum geschichtlich geprägten Entwicklungsbegriff. Allerdings bedarf diese Bestimmung einer Präzisierung. Denn der Entwicklungsgedanke wird hier nicht am Orte des individuellen historischen Materials expliziert. Weber ist kein Historiograph bzw. – mit Alfred Heuss gesprochen – „kein Historiker im engeren Sinne“.²⁹ Dem entspricht die idealtypische Signatur seines Entwicklungsbegriffs. Weber bescheinigt

schungsliteratur her aufdrängte. Andererseits verweist er auf die Rationalisierungsthese, die es erforderlich machte, religionsgeschichtlich zu arbeiten. Die Frage, wie sich diese Verfahrensweise zu den sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ausführungen verhält, wird von ihm nicht thematisiert. 26 Vgl. Plessner 1975, 3. 27 Vgl. Oelkers 2001, 99–101. 28 Die Begriffsgeschichte ist im Einzelnen viel komplexer, vgl. dazu Wieland 1975, 199–228 sowie Schmieder 2015, 165–190. 29 Heuß 1968, 81.

170 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext nicht den realgeschichtlichen Prozessen die Qualität der Entwicklung. Wenn er mit diesem Begriff operiert, dann handelt es sich vielmehr um „theoretische ‚Entwicklungsstufen‘“ (R, 617) bzw. eine „idealtypische Entwicklungskonstruktion“ (O, 204), die von der Geschichte streng geschieden werden müssen.³⁰ Der Entwicklungsbegriff führt uns nun zu einem noch allgemeineren Problemzusammenhang, der in der Forschungsliteratur vielfach diskutiert worden ist. Es handelt sich um die Frage nach der prinzipiellen Reichweite des Geschichtsdenkens in Webers Werk. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei der Versuch ein, dieses geschichtsphilosophisch zu fundieren. Das gilt allen voran für Wolfgang Mommsen, der ausdrücklich bemerkt, dass Webers soziologischem Werk und politischem Denken insgesamt ein „universalgeschichtliche[s] Grundschema“³¹ zugrunde liege. Damit ist ein hochsensibler Punkt in der Interpretation der Religionssystematik und der soziologischen Schriften Webers insgesamt berührt. Denn es stellt sich hier die Frage, inwiefern die Geschichtsphilosophie eine für die Soziologie „strukturgebene Rolle“³² spielt. Vor allem innerhalb der Geschichtswissenschaften wurden mehrfach Stimmen laut, die die bleibende, prinzipielle Funktion universalgeschichtlichen Denkens in Webers Soziologie unterstrichen haben.³³ Doch auch Stellungnahmen von Vertretern der Fachsoziologie gingen in 30 Vgl. dazu auch Schluchter 1991a, 96f. Günther Roth weist darauf hin, dass Weber den „älteren Stufentheorien“ nirgendwo näher stand als in den Religiösen Gemeinschaften, sich vom „älteren Evolutionismus“ gleichwohl unterschieden hat, „indem er zeigte, wie die Weltreligionen einen hohen Grad von Rationalisierung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten errungen hatten.“ (Roth 1987, 293f) Roth hat die Grundlagen für eine differenziertere Betrachtung von Webers Begriff der Entwicklungsgeschichte gelegt und erblickt die Stärke des Weberschen Ansatzes darin, diesen Begriff desaggregiert zu haben, was vor allem bedeutet, entwicklungsgeschichtliche und soziologische Elemente miteinander verschmolzen zu haben (vgl. Roth 1987, 301). 31 Mommsen 1974c, 98. Einige Jahr später heißt es noch pointierter: „Max Webers Begriff der Universalgeschichte ist das einigende Band seines soziologischen Werks. Es dient als gemeinsamer Bezugspunkt seiner historischen und soziologischen Arbeiten wie auch seiner politischen Schriften.“ (Mommsen 1986, 51) In diesem Beitrag nimmt Mommsen allerdings erhebliche Modifikationen und Erweiterungen in der Begründung des von ihm bei Weber identifizierten universalgeschichtlichen Ansatzes vor, zu denen er sich durch die neuere Forschungsliteratur, allen voran durch die Arbeiten Wolfgang Schluchters, veranlasst sah. Der Rekurs auf Nietzsche sowie der damit verbundene Begriff des Individualismus, die in seinem 1965 erstmals und 1974 erneut erschienenen Beitrag Universalgeschichtliches und politisches Denken als neuralgische Punkte seiner Analysen zum geschichtsphilosophischen Grundschema Webers zu stehen gekommen waren, bilden zwar immer noch den Schlüssel zum Verständnis dieses Schemas, werden nun aber nicht mehr eigens begründet, sondern mit Verweis auf den älteren Beitrag vorausgesetzt, vgl. Mommsen 1986, 70. 32 Freyer 1959, 119. 33 Neben den bereits erwähnten Mommsen und Heuß sei noch auf Gangolf Hübinger verwiesen, vgl. Hübinger 1988, 276f. Dieser vertritt die These, Weber habe ein Konzept historischer Kulturwis-

3.2 Allgemeine Charakteristik der Religiösen Gemeinschaften |

171

eine ähnliche Richtung, wie etwa die Hans Freyers (1887–1969). Dessen Ausführungen zum Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Soziologie zu berücksichtigen, bietet sich an, weil er die bis hierher angestellten Überlegungen um einen wichtigen Gesichtspunkt erweitert. Er betont, dass die Soziologie „das Erbe der Geschichtsphilosophie“³⁴ angetreten habe. Dieser Sachverhalt ist für unsere Fragestellung insofern von Belang, als Nähen zwischen beiden Wissenschaftsbereichen vor diesem Hintergrund betrachtet nicht überraschen dürfen, sondern vielmehr naheliegend sind. Gerade für die Anfänge der modernen Soziologie ist die Wahlverwandtschaft zum geschichtlichen Denken signifikant. Allerdings präzisiert Freyer die weitere Entwicklung dahingehend, dass die soziologischen Systeme, die ab der Zeit um 1900 entstanden sind, in zweierlei Hinsicht typisiert werden können. Während bei einigen von ihnen das Geschichtsdenken nicht mehr „das logische Gefüge der soziologischen Theorie“³⁵ bestimmt, bleiben andere der geschichtsphilosophischen Tradition verpflichtet, was er an Webers Soziologie exemplifiziert. Dieser flüchtige Blick in die Forschungsliteratur gibt somit zu der Annahme Anlass, dass – zugespitzt formuliert – jeder Versuch, Webers Soziologie unabhängig vom Geschichtsdenken verständlich machen zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist. Webers Soziologie sei – mit Mommsen gesprochen – „historische Soziologie“.³⁶ Es kann nun kein Zweifel daran bestehen, dass Webers Arbeiten vielfach geschichtsphilosophische Implikationen besitzen. Das gilt auch für die Religiösen Gemeinschaften. Und doch lassen einige Schriftengruppen seines Œuvres den Verdacht aufkommen, darum bemüht zu sein, die sozialwissenschaftliche Begriffs-

senschaften verfochten (vgl. Hübinger 1988, 281). Diese Einschätzung versteht sich jedoch alles andere als von selbst, was ein Blick in Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf unterstreicht. Dort kommt er auf den infrage stehenden – von Rickert begrifflich fixierten – Wissenschaftstypus zu sprechen (vgl. WB, 95). Allerdings grenzt er sich dort von diesem ab und zählt ihn nicht zu den ihm „nächstliegenden Disziplinen“. Das seien vielmehr „Soziologie, Geschichte, Nationalökonomie und Staatslehre und jene[] Arten von Kulturphilosophie, welche sich ihre Deutung zur Aufgabe machen.“ (WB, 95) Um den Stellenwert der Kulturwissenschaften in Webers Denken bestimmen zu können, ist es erforderlich, die wissenschaftssystematischen Verschiebungen in dessen Werk zu berücksichtigen, die sich in einer werkbiographischen Perspektive identifizieren lassen. Letztere wird von Hübinger jedoch vernachlässigt. Dass die universalgeschichtliche Lesart des Weberschen Œuvres innerhalb der Forschungsliteratur keineswegs unumstritten ist, darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Exemplarisch sei auf Karl-Heinz Nusser verwiesen, vgl. Nusser 1986, 161f; Nusser 1988, 187. 34 Freyer 1959, 117. 35 Freyer 1959, 120. 36 Mommsen 1974b, 182. Vgl. dazu auch Murrmann-Kahl 1992, 205. Mommsen und vor allem Murrmann-Kahl betonen aber auch, dass Webers Wissenschaftsprogramm eine grundlegende Kritik bzw. einen Überwindungsversuch des Historismus darstelle, vgl. Mommsen 1974b, 105; Murrmann-Kahl 1992, 205–243. Vgl. zudem Oexle 1996, 60–62.

172 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext arbeit vom Geschichtsdenken abzukoppeln, was mit den auch von Mommsen und Murrmann-Kahl ausgewiesenen Vorbehalten Webers gegenüber einem unreflektiert verwendeten Entwicklungsbegriff, den älteren und zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Entwürfen, ja dem Geschichtsbegriff insgesamt konvergiert. Diese tendenzielle Distanznahme deutet sich in den soziologischen Untersuchungen ab 1913 an. Das gilt in besonderer Weise für seine stark begriffskasuistisch angelegten Arbeiten: Soziologische Grundbegriffe, Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens, Typen der Herrschaft, Stände und Klassen. Diese Abhandlungen sind nun keineswegs frei von historischen Bezügen und die dort verhandelten idealtypischen Begriffe stehen – ihren Bildungsgesetzen entsprechend – in Teilen auf einem empirischen Fundament. Davon muss jedoch die Frage unterschieden werden, ob ihnen ein „historische[r] Gesamthabitus“³⁷ bescheinigt werden kann. Von der Textoberfläche her betrachtet, und das legen jene veröffentlichten Beiträge aus Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber den Nachlassmaterialien des opus magnum nahe, zeichnet sich die Begriffsbildung durch eine immer stärkere Abstrahierung von Elementen des Geschichtlichen aus und auch die Darstellung des Stoffs lässt sich nicht ohne Weiteres darunter rubrizieren. Während die Begriffsbildung der weitaus umfangreicheren Nachlasstexte historisch bzw. geschichtsphilosophisch oftmals weitaus gesättigter erscheinen, ist der veröffentlichte Textbestand von einer stärkeren Formalisierung der Begrifflichkeit bestimmt. In diesen Untersuchungen spricht sich das für die Soziologie signifikante „auf fertige Formen gerichtete[] Interesse“³⁸ deutlich aus. Und es ist eine nicht nur für das Verständnis und die Einordnung der Religiösen Gemeinschaften reizvolle Frage, ob Weber nicht das Ziel verfolgt hat, sämtliche Bereich seiner Soziologie in dieser Weise zu formalisieren, was zugleich als ein Indiz angesehen werden könnte, das Geschichtliche in den Hintergrund treten zu lassen. Für diese Lesart der soziologischen Untersuchungen Webers spräche auch die im ersten Hauptteil dieser Untersuchung herausgearbeitete Eigendynamik von Webers methodologischen Arbeiten, die auf die Explikation des Programms einer handlungstheoretisch fundierten Soziologie zusteuern, in deren Mittelpunkt Systeme möglichst reiner Idealtypen stehen sollen. Ob Webers Soziologie dem Paradigma des Geschichtsdenkens verpflichtet bleibt oder ob mit seinen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ein Paradigmenwechsel verbunden ist, diese schwierigen Fragen können an dieser Stelle nicht entschieden werden. Deren Beantwortung müsste viel differenzierter geführt werden und hängt nicht zuletzt von der Bestimmung eines normativen Soziologiebegriffs ab. Die hier angestellten Überlegungen zielen vielmehr darauf,

37 Rothacker 1922, 432. 38 Troeltsch 1922, 521.

3.3 Die Anfänge der Religion |

173

den mehrdeutigen Charakter des Weberschen Werks herauszustreichen. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, stellt es ein Schwellenphänomen dar. Es oszilliert zwischen verschiedenen Wissenschaftsbereichen und das gilt allen voran für die Nationalökonomie, die Geschichtswissenschaft und -philosophie und die Sozialwissenschaft. Dieser Befund gilt nun gleichermaßen für die Religionssystematik, die sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Denkmodelle bewegt. Vor dem Hintergrund der zuletzt angestellten Überlegungen soll abschließend der darstellungstechnische Takt sowie die methodische Anlage der Religiösen Gemeinschaften tabellarisch zusammengefasst werden:³⁹ Tab. 3.1. Argumentationsstruktur der Religiösen Gemeinschaften Kapitel Idealtypische Entwicklungstendenzen religiöser Vorstellungen und Praktiken 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

11. 12.

Soziologische Dimensionen

Die Entstehung der Religionen Zauberer – Priester Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu ‚Prophet‘ Gemeinde Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge Stände, Klassen und Religion Das Problem der Theodizee Erlösung und Wiedergeburt Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung Systematisierung der Religionen im Horizont nicht-religiöser Lebenssphären Religiöse Ethik und ‚Welt‘ Die Kulturreligionen und die ‚Welt‘

3.3 Die Anfänge der Religion Der erste Hauptabschnitt der Religiösen Gemeinschaften setzt sich zunächst mit den sogenannten archaischen Religionen auseinander und steht unter der Überschrift die „Entstehung der Religionen“ (RG, 121–157). Weber betritt damit ein Forschungsgebiet, dass seit der Aufklärung zunächst primär religionsphilosophisch bearbeitet wurde – pars pro toto seien David Hume und Friedrich Schelling genannt.⁴⁰ Mit 39 Die Kapitel 11–12, in denen Weber die Erlösungs- und Kulturreligionen im Horizont des Weltgedankens bzw. nicht-religiöser Lebenssphären reflektiert, fügen sich nicht in diesen Rhythmus ein, vgl. dazu auch 4. 4. 40 Einen Gesamtüberblick bietet Kippenberg 1997.

174 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext der Etablierung der modernen Religionswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerieten metaphysische und spekulative Begründungsmuster des Entstehungs- bzw. Anfangsproblems mehr und mehr ins Hintertreffen. Der verschärfte Empirisierungs- und Historisierungsschub setzte neue Akzente, sodass dieser Forschungsbereich zu neuer Blüte erwachte. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sich Weber mit diesem Thema zu beschäftigen begann, handelte es sich um ein breit und kontrovers diskutiertes Gebiet. Denn über Sinn und Zweck eines solchen Unternehmens wurde genauso gestritten wie über Zugangsmöglichkeiten zu den durch die Begriffe Entstehung, Anfang und Ursprung angezeigten Sachverhalten. So warnte Ernst Troeltsch in seinem Beitrag Wesen der Religion und der Religionswissenschaft vor den Gefahren, die bereits mit dem Entstehungsbegriff innerhalb der Religionsforschung verbunden sind, und hält generalisierende Antworten an dieser Stelle für ausgeschlossen.⁴¹ Weber ist an dieser Stelle jedoch noch weniger zurückhaltend und versucht die Entstehung bzw. Anfänge der Religion in einer allgemeineren, historisch ausgerichteten Perspektive in Angriff zu nehmen. Dabei argumentiert er auf ganz unterschiedlichen Explikationsebenen und verbindet disparate Themen und Begriffe miteinander, deren innerer Zusammenhang sich alles andere als von selbst versteht. Drei von ihnen gilt es im Folgenden etwas genauer zu charakterisieren. Dazu gehört zunächst die Annahme, dass die Religion in ihrer Anfangsgestalt diesseitsorientiert sei (3. 3. 1). Des Weiteren sollen die religionsethnologischen Begriffe in den Blick genommen werden, die Weber heranzieht, um den Entstehungsprozess der Religion zu spezifizieren (3. 3. 2). Schließlich ist eine terminologisch sperrige Interpretationsfigur zu diskutieren. Es handelt sich um den Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus, der mit den Anfängen der Religion verbunden wird (3. 3. 3).

3.3.1 Religiöse Diesseitsbezogenheit Auf der ersten Seite seiner Religiösen Gemeinschaften hält Weber fest: „Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig 41 „Der Begriff der ‚Entstehung‘ enthält somit das ganze Problem der Religion überhaupt und muß, wie der des ‚Wesens‘, in seine Einzelprobleme zerlegt werden. Es gibt keine formelhafte Antwort darauf, sondern nur die Einzeluntersuchungen, die besser nach den sie charakterisierenden Problemen benannt werden. Auch hier ist die übliche Scholastik der Entstehung aus intellektuellen, voluntaristischen, ethischen usw. Bedürfnissen veraltet.“ (Troeltsch 1913d, 492) Dieses Bedürfnis, den Anfang bzw. den Ursprung der Religion zu bestimmen, wurde in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr in Frage gestellt. Michel Foucault sprach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang nur noch von der „Chimäre des Ursprungs“ (Foucault 1987, 73).

3.3 Die Anfänge der Religion |

175

ausgerichtet. ‚Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden‘, sollen die religiös oder magisch gebotenen Handlungen vollzogen werden.“ (RG, 121) Bereits der Rekurs auf die Bibel (Eph 6, 2) deutet darauf hin, dass Weber mit diesem Zitat Überlegungen aufgreift, die Hermann Siebeck (1842–1920) in seinem zum damaligen Zeitpunkt breit rezipierten Lehrbuch der Religionsphilosophie (1893) angestellt hatte.⁴² Denn Siebeck zieht zur Illustration seiner Konzeption ursprünglicher religiöser Diesseitsausrichtung besagte Bibelstelle heran (vgl. L, 51). Doch handelt es sich dabei allenfalls um ein erstes Indiz für Webers Siebeck-Rezeption. Um beurteilen zu können, inwiefern er im Eingangsparagraphen seiner Religiösen Gemeinschaften an die Religionsphilosophie anknüpft (b), ist es erforderlich, ausführlicher auf dieses Werk einzugehen. Das betrifft vor allem Siebecks Unterscheidung zwischen „Religionen der Weltbejahung und Religionen der Weltverneinung“ (L, 50). Jedoch werden wir es nicht bei einer Erörterung dieses Modells belassen, sondern darüber hinaus dessen Anwendung auf den Begriff der Naturreligion nachzeichnen, womit die Anfänge der Religion in der Lesart Siebecks auf den Plan treten (a). a) Der gebürtige Eisleber Hermann Siebeck studierte klassische Philologie, Philosophie sowie Geschichte und schlug danach eine philosophische Laufbahn ein, die ihn über die Universitäten Halle und Basel nach Gießen führte. Dort lehrte er ab 1883 bis zu seinem Lebensende. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehörten Psychologie (Geschichte der Psychologie, Bd. 1 [1880], Bd. 2 [1884]),⁴³ Ästhetik (Das Wesen der ästhetischen Anschauung [1875]) und Religionsphilosophie (Lehrbuch zur Religionsphilosophie [1893]). Siebecks Werk ist heute jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten. Wenn es innerhalb der Forschungsliteratur Erwähnung findet, dann meist im Zusammenhang der Erlösungsvorstellung,⁴⁴ was bereits darauf hinweist, dass die Religionsphilosophie als dessen Hauptleistung angesehen wird.⁴⁵

42 Auf die grundlegende Bedeutung von Siebecks Religionsphilosophie für Webers Religionssoziologie weisen auch Küenzlen 1978, 221f, Breuer 2001b, 237 und Riesebrodt 2001b, 194f hin. Die ursprüngliche Diesseitigkeitsausrichtung der Religiosität wurde in der damaligen religionswissenschaftlichen Forschung vielfach herausgearbeitet. Exemplarisch sei auf den Indologen Hermann Oldenberg (1854–1920) verwiesen, der bezogen auf die Vedareligion betont: „Ob aber Opfer und Gebet, ob Zauberei: überall fällt das Schwergewicht der Wünsche und Bedürfnisse, um die sich das Handeln bewegt, ganz und gar in das Diesseits, das Erdenleben“ (Oldenberg 1913, 67). Zwar sei die Jenseitsvorstellung nicht unbekannt gewesen. „Aber das Streben nach solch jenseitigem Behagen spielt im Leben und Kultus kaum eine Rolle; es tritt vor der Sorge um die greifbaren Bedürfnisse des irdischen Daseins weit zurück.“ (Oldenberg 1913, 67). 43 Dieses Werk übte auch innerhalb der Theologie einen weitreichenden Einfluss aus. Das zeigt bereits ein Blick in Harnacks Dogmengeschichte, in der es ausführlich zitiert wird. 44 Vgl. etwa Osthövener 2004, 525. 45 Vgl. Eisler 1912, 674.

176 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Bevor sich Siebeck dem – wie er sagt – historischen Entwicklungsgang des Religiösen (vgl. L, 43) zuwendet, arbeitet er zunächst eine Religionstypologie heraus. Dazu geht er von der Annahme aus, dass Religionen sich nach Maßgabe einer Linie schematisieren lassen, an deren beiden Enden zwei unterschiedliche Vorstellungen zu stehen kommen, die das Verhältnis eines Gottes bzw. von Göttern zur Welt betreffen. Wie dieses Verhältnis im Einzelnen ausfällt, entscheidet sich an der jeweiligen Auffassung des Übels, das zu beseitigen Gott oder Göttern obliegt. Um diese Konstellation gedanklich zu vertiefen, differenziert Siebeck die Vorstellung des malum aus. Es ist einerseits als äußeres (v. a. Naturgewalten) und andererseits als inneres Übel im Menschen (das Böse, die Sünde) zu begreifen. Die Vorstellung, dass es die Funktion der Götter sei, in erster Linie äußere Übel zu beseitigen, korrespondiert mit einer prinzipiell positiven Beurteilung der Welt. Deren „Vervollkommnung“ (L, 49) fällt den Göttern zu. Das religiöse Bewusstsein legt sich hier innerhalb der Grenzen des innerweltlichen Lebens aus, was zugleich bedeutet, dass die Vorstellungen des Jenseits und des Überweltlichen weitgehend außen vor bleiben. Der Gottesgedanke tritt in den Dienst einer „Bejahung der Welt“ (L, 49). Herrscht hingegen die Auffassung vor, dass die Götter nicht nur vom äußeren, sondern auch vom inneren Übel befreien, so geht diese Sichtweise oft mit der Überzeugung einher, das innere wie das äußere Übel verdanke sich seiner Verstrickung mit der Welt. Unter dieser Voraussetzung geht der Wunsch nach Befreiung vom Übel mit dem Bedürfnis nach Befreiung von der Welt bzw. mit einer Ausrichtung auf „‚Jenseitiges‘“ (L, 4) einher.⁴⁶ Der Gottesvorstellung entspricht eine „Verneinung der Welt“⁴⁷ (L, 49). Diese Überlegungen führen auf den bereits erwähnten grundlegenden Unterschied zwischen „Religionen der Weltbejahung und Religionen der Weltverneinung“ (L, 50). Mit dieser Unterscheidung greift Siebeck eine Differenz auf, die vor allem im Denken Schopenhauers und Nietzsches beheimatet war.⁴⁸ Allerdings baut seine Konzeption nicht mehr auf dem von jenen gelegten willenstheoretischen Fundament auf. Der weltbejahende bzw. -verneinende Charakter von Religion bildet vielmehr ein zentrales Aufbaumoment seiner religionsgeschichtlichen Konstruktion, die einerseits psychologisch fundiert und andererseits am Entwicklungsbegriff ausgerichtet ist. Die entwicklungsgeschichtliche Entfaltung des religiösen Bewusstseins verläuft in drei Stufen: „Die Anfänge“ (L, 52–65) der Religion (die Naturreligion), die „Moralitäts-Religion“ (L, 65–100) und die „Erlösungs-Religion“ 46 Den äquivalenten Ausdruck des Diesseitigen verwendet Siebeck allerdings nicht. 47 Die Unterscheidung von Weltbejahung und -verneinung führt Siebeck schon auf den ersten Seiten seiner Religionsphilosophie ein. Er untersucht dort die Frage nach der Stellung der Religion im Kulturleben insgesamt, vgl. L, 4ff. 48 Vgl. Schulz 1999, 147–163; Rickert 1999b, 42.

3.3 Die Anfänge der Religion |

177

(L, 101–161). Während die Naturreligion weltbejahenden Charakters ist, sind die Erlösungsreligionen von einem negativen Weltverhältnis bestimmt. Die Moralitätsreligion kommt zwischen jenen beiden Typen zu stehen. Wir konzentrieren uns auf Siebecks Begriff der Naturreligion.⁴⁹ Die entwicklungsgeschichtliche Darstellung des Religiösen bewegt sich einerseits im Spannungsfeld jener typologischen Differenz von weltbejahenden und weltverneinenden Religionen. Andererseits begründet Siebeck diese Entwicklung aus dem „leiblich-seelischen Wesen des Menschen“ (L, 62) heraus, wobei das psychologische Element bei Weitem überwiegt. Siebecks Konzeption geht von der Annahme aus, dass sämtliche Gemeinschafts- und Kulturfunktionen aus dem Zusammenspiel der psycho-physischen Kräfte abgeleitet werden müssen. Bei den einzelnen Funktionen handelt es sich um je spezifische Ausgestaltungen der zwischen jenen Kräften waltenden Prozesse der „Wechselwirkung“ (L, 53). Dass sich nichts zu entwickeln vermag, was nicht im humanen Bewusstseinsleben angelegt ist, bezeichnet Siebeck als eine allgemeine psychologische Voraussetzung seiner Religionsphilosophie (vgl. L, 61). In diesem Zusammenhang verwendet er regelmäßig die Metapher des Keims, die – wie zuvor schon angedeutet wurde – in der damaligen Forschungsliteratur vielfach Verwendung gefunden hatte. Damit aber grenzt er sich auch von dem Versuch ab, die Religion aus einem einzelnen Faktor des Bewusstseinslebens heraus abzuleiten (z. B. Abhängigkeitsgefühl, Furcht oder Achtung, vgl. L, 53). Der Keim des Religiösen besteht vielmehr in einer spezifischen Konstellation besagter Kräfte. In kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzeptualisierungsversuchen des Anfangsproblems (Deismus, Hume, Creuzer und v. a. Schelling) bestimmt Siebeck das „Wesen des mythischen (genauer: mythisierenden) Fühlens und Denkens“ (L, 58) als Ausgangspunkt der religiösen Entwicklung.⁵⁰ Das mythisierende Fühlen und Denken bildet die „ursprüngliche Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins, welche als die gattungsmäßige . . . Entwicklungsbasis zugleich des Religiösen und des Mythologischen betrachtet werden muss“ (L, 58).⁵¹

49 Das religionsgeschichtliche Material, das Siebeck in seiner Abhandlung verarbeitet, ist primär Chantepie de la Saussayes Lehrbuch der Religionsgeschichte entnommen, vgl. L, VI. 50 Siebeck knüpft einerseits an Schellings Philosophie der Mythologie an. Andererseits kritisiert er deren spekulativen Explikationsrahmen und versucht sie demgegenüber strikt anthropologisch zur Geltung zu bringen (vgl. L, 575). 51 Siebecks Angaben zur Quellenbasis – der „thatsächliche Anhaltspunkt“ – sind sehr schmal. Er nennt Vorstellungen und Gebräuche von – wie er sagt – kulturlosen Völkern, wobei er an dieser Stelle auf weitere Konkretionen verzichtet. Sodann beruft er sich auf den Kindheitszustand im Prozess der Ontogenese. Schließlich führt er – worauf schon hingewiesen wurde – „die Wechselwirkung grundlegender Faktoren im Seelenleben des Menschen“ (L, 58) an.

178 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Siebecks weitere Spezifikation der psychologischen Grundlagen des mythisierenden Bewusstseins zeichnet sich durch eine schrittweise gedankliche Anreicherung desselben aus. Zunächst führt er eine Unterscheidung Eduard von Hartmanns (1842–1906) ein, der durch seine Philosophie des Unbewußten (1869) frühen Ruhm erlangt hatte und als Privatgelehrter in Berlin wirkte. Auf der einen Seite stellt Siebeck die permanente Suche nach Ursache-Wirkungs-Relationen heraus, und zwar nach solchen, die einen praktischen Nutzen für die Bewältigung des Alltagslebens besitzen (vgl. L, 59). Auf der anderen Seite zeichne sich der menschliche Geist in diesem Frühstadium seiner Entwicklung durch das Merkmal – man könnte sagen – affektiver Impressivität aus, deren Bezugspunkt Naturphänomene sind. Entscheidend ist an dieser Stelle der Sachverhalt, dass sich der Mensch diesen gegenüber oft nicht zu „entziehen“ (L, 59) vermag. Auf diesem Wege bahnt Siebeck den später eingeführten Gedanken der Abhängigkeit an (vgl. L, 60f). Umklammert werden beide Aspekte sodann durch den wahrnehmungspsychologischen Sachverhalt, dass das mythologisierende Denken „zwischen Persönlichem und Naturhaftem, zwischen Lebendigem und Unlebendigem, Seelischem und Körperlichem“ (L, 59) nicht streng zu unterscheiden weiß. Menschliches und nicht-menschliches Leben wird in diesem Stadium der religiösen Entwicklung als im weitesten Sinne strukturanalog verfasst angesehen. Alle drei Elemente bilden grundlegende psychologische Voraussetzungen des „Naturmythus“ (L, 59), durch den die Natur erklärt und begriffen wird. Dass sich auf dieser Grundlage sodann Geister- und Göttervorstellungen entwickeln können, liegt in Transformationsprozessen begründet, die das Verhältnis des Menschen zur Natur betreffen. Zunächst greift Siebeck die zuvor eingeführte Homogenitätsannahme von Natur und Person auf. Für die Herausbildung jener Vorstellungen sei eine Störung bzw. Unterbrechung jener Homogenität erforderlich. Dieser Sachverhalt verweist auf eine grundlegende Differenz zwischen dem Naturverhältnis auf der einen und den Sozialbeziehungen auf der anderen Seite. Diese Differenz ist mit den Berechenbarkeitsgrenzen von Naturvorgängen verbunden, die im Falle der letzteren weitaus enger gesteckt sind als im Falle interpersonaler Prozesse. Während das Verhältnis zum Mitmenschen normalerweiser reguliert ist, erweist sich der Umgang mit der Natur vielfach als unkalkulierbar, was nicht zuletzt ihre verheerenden und zerstörerischen „Thaten“ (L, 61) demonstrieren. Diese kontingenten Bruchlinien im Naturverhältnis bilden die Voraussetzung ihrer sinnhaften Anreicherung. Sie erscheinen zwar nicht als dem „Wesen, so doch dem Grade nach Höheres, das heisst hier lediglich Mächtigeres.“ (L, 61) Damit spricht Siebeck – zumindest implizit – einer werttheoretisch begründeten Sublimierung von Naturvorgängen das Wort und diese Wertanreicherung schattet sich im mythologischen Bewusstsein dahingehend ab, dass jene (Sonne, Wolken, Flüsse etc.) als

3.3 Die Anfänge der Religion |

179

Geister bzw. Götter und die Naturwirkungen als „Launenhaftigkeit der äusseren Mächte“ (L, 61) mental repräsentiert werden. Diese Bestimmungen sind – wie schon andeutungsweise kenntlich gemacht wurde – mit vermögenspsychologischen Überlegungen verwoben, die auf den Ausweis einer Komplexitätssteigerung des mythisierenden Bewusstseins zielen. Zu der bis hierin dominierenden intelligibelen Sphäre, die mit der Ursache-WirkungsRelation verbunden ist, tritt die ästhetische und ethische hinzu (vgl. L, 61). Siebeck präzisiert das Verhältnis des Menschen zu den wertsublimierten Naturdingen in der Weise, dass sie bestimmte einfache Gefühle evozieren, die wiederum in komplexere Gefühle gesteigert werden. Um diesen Sachverhalt zu illustrieren, ist erneut die Figur des Keims und der darin liegenden Entwicklungsmöglichkeiten ausschlaggebend. So befänden sich „im Schrecken etwa über die Gewalt des Gewitters doch auch die ersten Regungen der Ehrfurcht; in der Empfindung des Zwangs, den die Unausweichlichkeit des Naturlaufs auferlegt, die Ansätze des Gefühls der Ergebung in einen übergeordneten höheren Willen; in der Freude am Glanze der aufgehenden Sonne . . . die erste Spur des ästhetischen Gefallens.“⁵² Die ethischen Konsequenzen der Herausbildung von naturhaften Geister- und Göttervorstellungen artikulieren sich sodann in der Notwendigkeit, gegenüber den Naturmächten spezifische Regulationsmechanismen des „Verkehrs“ (L, 60) zu entwickeln, die von denen der humanen Interaktion abweichen. Gleichwohl sprengt diese Ethik keineswegs die grundsätzliche Diesseitsorientierung der Naturreligion, für die die Sphäre der Geister und Götter nicht außerhalb, sondern innerhalb der Welt liegt. Mit der Betonung der Weltimmanenz kommt zugleich der weltbejahende Charakter der Naturreligion zum Vorschein (vgl. L, 62). Aber obgleich damit das argumentative Ziel von Siebecks Ausführungen zu diesem Religionstyp erreicht ist, bleibt die Frage nach der Beseitigung äußerer Übel an dieser Stelle weitgehend unbeantwortet. Sie klingt allenfalls indirekt an, wenn das „egoistische Motiv“ (L, 63) namhaft gemacht wird, das für das Verhalten der Menschen gegenüber den höheren Mächten in der Regel bestimmend ist und das – so müsste Siebeck an dieser Stelle ergänzt werden – mit dem Wunsch verbunden ist, die äußeren Übel zu beseitigen.⁵³ b) Die zuvor skizzierten Überlegungen fließen in Webers „Entstehung der Religionen“ ein, allerdings nicht in Gänze. Das macht es erforderlich, das Feld zu sondieren und die Elemente, die er übernimmt, und die, die von ihm ausgeklammert werden, zu bestimmen. Anhand der oben bereits zitierten Formulierung, die 52 Dieses Zitat weist sachliche Nähen zu Simmels „Wortmonstrum“ (Simmel 2012a, 61) des Religioden auf. 53 Gleichwohl muss – der Dynamik von Siebecks entwicklungsgeschichtlicher Konzeption entsprechend – in der Natur- die Moralitätsreligion keimhaft angelegt sein.

180 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext auf die Diesseitigkeitsausrichtung der – wie Weber sagt – urwüchsigen Religion abhebt, wurde bereits festgehalten, dass er den Gedanken religiöser Weltbejahung aufgreift und in die Weltimmanenz urwüchsiger Religion ummünzt. Das untermauern ebenso die Schlusspassagen des ersten Kapitels der Religiösen Gemeinschaften: „Abwendung ‚diesseitigen‘ äußerlichen Uebels und Zuwendung ‚diesseitiger‘ äußerlicher Vorteile ist der Inhalt aller normalen ‚Gebete‘, auch der allerjenseitigsten Religionen.“ (RG, 156, vgl. auch E, 98) Auch wenn die Pointe der letzten Formulierung über Siebecks Religionsphilosophie hinausgeht, bewegt sich Weber mit ihr terminologisch im Rahmen derselben. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass er aber keineswegs nur den Gedanken der religiösen Diesseitsausrichtung bzw. Weltbejahung aufgreift. Vielmehr übernimmt er Siebecks Typologie weltbejahender und -verneinender Religionen insgesamt und baut diese sowohl in den Religiösen Gemeinschaften als auch in den Beiträgen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen den eigenen Theorieinteressen entsprechend um. Der Rekurs auf den Gießener Philosophen beschränkt sich demnach keineswegs auf die Anfänge der Religion, sondern erstreckt sich weit in die innere Systematik von Webers Religionssoziologie hinein.⁵⁴ Die Nähe zur Siebeckschen Konzeption wirft natürlich auch die Frage auf, inwiefern Weber den damit verbundenen Entwicklungsbegriff übernimmt. Dessen eigene Beurteilung dieses Begriffs wurde im vorangegangenen Kapitel skizziert: In seiner Religionssystematik hält Weber zwar am Entwicklungsbegriff fest, kleidet diesen jedoch idealtypisch ein. Siebeck hingegen zielt darauf, das historische Material daraufhin zu prüfen, „ob und inwiefern man dort, in Anbetracht der Entstehung und Ausbildung, im wirklichen Sinne von Entwickelung sprechen kann.“ (L, 42) Damit hebt er auf die psycho-physische Grundlegung seines Geschichtsmodells ab, das er zunächst am mythisierenden Fühlen und Denken erörtert. Sein Entwicklungsbegriff steht unter bewusstseinstheoretischen Voraussetzungen. Es ist für die Beantwortung jener Frage von zentraler Bedeutung, dass sich Weber in diesem Zusammenhang ausdrücklich gegen „‚mythologisches Denken‘“ (RG, 133) ausspricht. Die Abgrenzung betrifft nun aber nicht allein Siebeck, sondern ebenso Wilhelm Wundt und Eduard Meyer, also solche Autoren, die das entwicklungsgeschichtlich gefasste Anfangsproblem im weitesten Sinne psychologisch und damit bewusstseinstheoretisch in Angriff genommen haben.⁵⁵ Webers Vorbehalte gegenüber Theorien des Mentalen sind somit auch hier indirekt greifbar, was es 54 Auf Siebecks Verständnis der Erlösungsreligionen, die sich durch ein negatives Weltverhältnis auszeichnen, sowie Webers Adaption desselben, wird später zurückzukommen sein, vgl. 3. 6. 1. 55 Auch Ernst Troeltsch, der sich kritisch mit dem Entwicklungsbegriff auseinandergesetzt hat, begründet den eigenen, historischen Entwicklungsbegriff zuerst aus dem „Wesen des menschlichen Geistes“ (Troeltsch 1922, 657).

3.3 Die Anfänge der Religion |

181

erforderlich macht, sein Kapitel zur „Entstehung der Religionen“ und Siebecks „historische[n] Entwicklungsgang der Religion“ aller terminologischen Übereinstimmungen zum Trotz kategorial voneinander abzugrenzen.⁵⁶ Weber geht es primär um idealtypische Entwicklungstendenzen, die von einem historistisch gefassten Entwicklungsbegriff unterschieden werden müssen.

3.3.2 Religionsethnologische Begriffe Im Mittelpunkt des Eingangskapitels der Religiösen Gemeinschaften stehen Begriffe, die in der zeitgenössischen Religionsethnologie und -wissenschaft gebräuchlich waren. Dabei handelt es sich u. a. um die der außeralltäglichen Kräfte, der Geister, der Seele, der Dämonen und der Götter. In dieser Reihenfolge spiegelt sich für Weber ein Abstraktionsprozess religiöser Vorstellungen wider, der zugleich die idealtypische Entwicklung zu den sogenannten Hochreligionen markiert. Obwohl Weber die Autoren, die im Hintergrund seiner Ausführungen stehen – bis auf Hermann Usener (vgl. RG, 126) und Erwin Rohde (vgl. RG, 181) – nicht beim Namen nennt, spielte die Frage, welche Konzepte er als Fachfremder zu Rate gezogen haben könnte, innerhalb der Forschungsliteratur lange Zeit eine untergeordnete Rolle.⁵⁷ Erst Johannes Winckelmann und Gottfried Küenzlen haben seit den 70er Jahren erste Überlegungen zu diesem Thema angestellt,⁵⁸ die von Hartmann Tyrell Anfang der 90er Jahre teilweise fortgeführt und erweitert wurden.⁵⁹ Der letzte groß angelegte Versuch, der Herkunft und der Bedeutung jener Begriffe auf den Grund zu gehen, ging mit der bereits angesprochenen Neuedition der Religiösen Gemeinschaften einher. Hans G. Kippenberg und Stefan Breuer nahmen sich dieses Themas in dem Tagungsband Max Webers ‚Religionssystematik‘ an. Ihnen ist es

56 Dieser Gesichtspunkt spricht auch gegen Kippenbergs – im Anschluss an Küenzlen geäußerte – Vermutung, Webers Religionsverständnis orientiere sich auch an Cornelis Petrus Tieles Einleitung in die Religionswissenschaft (1898). Das betrifft zwar nicht den im Mittelpunkt dieses Werks stehenden, ausdrücklich nicht-historisch begriffenen Entwicklungsbegriff (vgl. Kippenberg 2001a), sondern dessen geist- bzw. bewusstseinstheoretische Fundierung (vgl. Tiele 1899, 30. 199f. 205). Dementsprechend hält Tiele fest, dass die Frage nach den Ursprüngen der Religion eine „rein psychologische“ (Tiele 1899, 64) sei. Abgesehen von dieser inhaltlichen Differenz, ließ sich eine Beschäftigung Webers mit Tiele bislang nicht belegen. 57 So weist Martin Riesebrodt noch im Jahre 2001 darauf hin, dass die „Verbindung zur Ethnologie . . . von den meisten Weber-Interpreten übersehen“ worden sei (Riesebrodt 2001c, 159). 58 Vgl. Winckelmann 1976, 69–75; Küenzlen 1978; Küenzlen 1980, 58–76. 59 Vgl. Tyrell 1992, 191ff.

182 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext gelungen, der Erforschung der infrage stehenden Begriffe neue Impulse zu geben,⁶⁰ wobei der Beitrag von Breuer – Magie, Zauber, Entzauberung – hier besondere Beachtung verdient. Der Hamburger Soziologe hat die bis dahin nicht ernsthaft in Erwägung gezogene Frage aufgeworfen, ob Weber die Kenntnisse über die unterschiedlichen Hypothesen zum Ursprung und zur Entstehung der Religionen den dokumentierten Materialien entnommen hat oder ob sie sich der Lektüre von Sekundärliteratur verdanken. Diese Frage wird vor allem im Hinblick auf das von Robert R. Marett (1866–1943) eingeführte Konzept des Präanimismus diskutiert, auf das später zurückzukommen sein wird. Während Riesebrodt der Auffassung ist, dass sich Weber direkt auf Marett bezogen habe,⁶¹ warnt Breuer davor, eindeutige Abhängigkeiten zu formulieren. Vielmehr gibt er zu bedenken: „Auch in der Frage Animismus/Präanimismus hat Weber keineswegs eine so eindeutige Stellung bezogen, wie mitunter zu lesen ist.“⁶² Er hält es für wahrscheinlicher, dass sich Webers Verständnis des Präanimismus im Wesentlichen aus der Lektüre gängiger Überblickswerke der Zeit wie etwa des von Chantepie de la Saussaye (1848–1920) herausgegebenen Lehrbuchs der Religionsgeschichte (19053 ) oder der entsprechenden Artikel der Religion in Geschichte und Gegenwart speist. Belastbare Belege vermag er für seine These jedoch nicht zu erbringen. Was Breuer lediglich bezogen auf Magie und Zauber namhaft macht, gilt für fast alle religionsethnologischen Begriffe, die von Weber aufgegriffen werden, was die Schwierigkeit, hier festen Boden unter die Füße zu bekommen, noch erheblich verschärft. Denn aus Webers Verwendung bestimmter Begriffe kann nicht geschlossen werden, dass er sie direkt von den Urhebern der entsprechenden Theorien übernommen hat. Eine Auseinandersetzung mit Webers religionsethnologischen Begriffen sowie der Versuch, ihrer Herkunft auf die Spur zu kommen, ist somit ein notgedrungen approximatives Geschäft. Die hier unternommene Auseinandersetzung mit diesen Begriffen sowie mit der zeitgenössischen Forschungsliteratur ist auf einen Beitrag gestoßen, der zwar auch schon Erwähnung gefunden hat, dem aber bislang keine sonderlich große Aufmerksamkeit geschenkt wurde.⁶³ Es handelt sich um einen Aufsatz des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen dänischen Theologen und Religionshis-

60 Vgl. Kippenberg 2001d, 84ff; Breuer 2001a, 126ff. Ebenso anregend ist Kippenbergs Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Neuedition der Religionssystematik, vgl. Kippenberg 2001a, 44ff. 61 Riesebrodt 2001a, 159. Kippenberg geht zwar auch sehr ausführlich auf Marett ein, vermeidet es jedoch, von einem direkten Einfluss der Marettschen Schriften auf Weber zu sprechen, vgl. Kippenberg 2001b, 6; Kippenberg 2001d, 85f; Kippenberg 2001a, 44–46. 62 Breuer 2001a, 127. 63 Vgl. Otto 2005a, 193.

3.3 Die Anfänge der Religion |

183

torikers Edvard Lehmann (1862–1930). Dieser Aufsatz steht unter dem Titel Die Anfänge der Religionen und die Religion der primitiven Völker und bildet die Einleitung in den Sammelband Die Religionen des Orients und die altgermanische Religion (1906/2 1913), der in Paul Hinnebergs Reihe Die Kultur der Gegenwart erschienen war. Breuer hat zwar darauf hingewiesen, dass die in den unterschiedlichen Beiträgen dieses Bandes verstreuten Ausführungen zu den archaischen Religionen „ihren Eindruck auf Weber nicht verfehlt haben dürften.“⁶⁴ Aber er geht dieser Vermutung nicht weiter nach. Ansonsten wäre es ihm keineswegs entgangen, dass Webers Ausführungen zu den archaischen Religionen an vielen Stellen die Kenntnis von Lehmanns Aufsatz voraussetzen. Letzterer stellt eine für Webers Darstellung dieser Erscheinungsformen des religiösen Lebens wichtige Fundgrube dar.⁶⁵ Worin sich der Einfluss dieses Beitrags auf Webers systematische Religionssoziologie konkret niedergeschlagen hat, werden die folgenden Überlegungen deutlich machen, in denen die besagten religionsethnologischen Begriffe im Einzelnen erörtert werden. Wir setzen mit dem Begriff der „außeralltäglichen Kräfte“ (RG, 12) ein.⁶⁶ Weber misst diesem Begriff eine herausragende Bedeutung für das Verständnis archaischer Religionen bei und begreift diese Kräfte als ein Ursprungsphänomen in der Entwicklung der Religionen, was zu der Vermutung Anlass gegeben hat, er bewege sich mit diesem Begriff in der Fluchtlinie der Präanimismustheorie Maretts. Diese in der Weberforschung verbreitete Meinung gilt es im Folgenden auf den Prüfstand zu stellen,⁶⁷ was es erforderlich macht, die Position des britischen Religionsforschers kurz zu umreißen. Um das Marettsche Modell besser einordnen zu können, ist es angebracht, in diesem Zusammenhang das zeitgenössische Alternativkonzept, den Animismus Edward Burnett Tylors (1832–1917), miteinzubeziehen. In der Zeit von 1870–1910 wurden innerhalb der religionsethnologischen Debatte vielfältige Versuche unternommen, Entwicklungsschemata der Religionen bzw. des Religiösen zu entwerfen. Für die Geschichte der Religionsforschung dieser Jahre ist die Entstehung neuer Modelle signifikant, die am Evolutionsgedanken orien-

64 Breuer 2001a, 129. 65 Dass die Lektüre dieses Beitrags auf Webers Interesse stieß, könnte auch den Verbindungslinien geschuldet sein, die Lehmann zum Handlungsbegriff zieht. Im Hinblick auf die „Religion der Primitiven“ (AR, 10) heißt es: „Religion ist ihnen nicht wie den zivilisierten Völkern eine Sache neben den andern Beschäftigungen des täglichen Lebens, sie beeinflußt vielmehr beinahe jede einzelne Handlung und ist mit allen ihren Sitten und Bräuchen und ihrer ganzen Denkweise innig verwoben.“ (AR, 10). 66 Der mit diesem identifizierte Begriff des Charisma wird hier außen vor gelassen und im nächsten Kapitel eigens thematisiert, vgl. 3. 4. 67 Vgl. Winckelmann 1976, 71; Tyrell 1992, 19394; Riesebrodt 2001a, 159.

184 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext tiert waren und sich gegen die lange Zeit vorherrschende Degenerationshypothese richteten, die besagt, dass in den sogenannten primitiven Gesellschaften Restbestände längst vergangener Hochkulturen zu sehen seien.⁶⁸ Zu den berühmtesten Beiträgen, die für eine Umwertung im Verständnis archaischer Gesellschaften eintraten, gehörte Tylors Werk Primitive Culture (1871). Der Religionswissenschaftler interpretiert letztere nicht als Verfallserscheinung gegenüber einem ihr angeblich vorangegangenen goldenen Zeitalter. Vielmehr treten in ihr die „Anfänge der menschlichen Geschichte“⁶⁹ in Erscheinung. In diesem Zusammenhang nimmt er grundlegende Erörterungen zur Bedeutung der Religion innerhalb archaischer Gesellschaften vor. Für unseren Zusammenhang ist die in der zweiten Auflage von Primitive Culture (1873) eingeführte Minimaldefinition von Religion von besonderer Bedeutung: „It seems best to fall back at once on this essential source, and simply to claim, as a minimum definition of Religion, the belief in Spiritual Beings.“⁷⁰ Dieses Religionsverständnis, das mit dem Wirken von Geisterwesen in allen Bereichen des Lebens rechnet, wurzelt nach Tylor in den Traumerfahrungen der sogenannten primitiven Menschen. In den Träumen hätten sie die Erfahrung gemacht, sich selbst und anderen Menschen begegnen zu können, was wiederum zu der Annahme geführt habe, dass sich die Seele vom Körper trennen könne. Damit seien die Traumerfahrungen der Ausgangspunkt dafür geworden, „den Schluß auf eine immaterielle Substanz“,⁷¹ die geistigen Wesen zu ziehen. Auf diesen Überlegungen baut das Modell des Animismus auf, das Tylor als die Basisstufe in der Entwicklung der Religionen bezeichnet, auf deren Grundlage unterschiedliche Welterklärungsmodelle aufbauen konnten (z. B. Fetischismus, Polytheismus, Monotheismus).⁷² Hatte Tylor die Degenerationshypothese bestritten, so kann in Maretts Religionsverständnis ein „Markstein im Übergang vom Evolutionismus zum Funktionalismus“⁷³ gesehen werden. Maretts Hauptwerk, der Aufsatzband The Threshold of Religion (1909), geht davon aus, dass Tylor den Voraussetzungsreichtum seiner Animismusthese theoretisch nicht abzusichern vermag. Daher substituiert er den Animismus durch die Vorstellung von unbeseelten Mächten, was eine der Grund-

68 Kippenberg 1997, 80–82. 69 Kippenberg 1997, 82. Kippenberg weist darauf hin, dass der Ausdruck primitive nicht im pejorativen oder defizienten Sinne verwendet wurde. 70 Tylor 1873, 424. 71 Kohl 2004, 52. 72 Vgl. Kohl 2004, 53f. 73 Riesebrodt 2004, 172. Zu Maretts Präanimismustheorie vgl. auch Kippenberg 2001b, 44–48.

3.3 Die Anfänge der Religion |

185

annahmen der Präanimismusthese ist.⁷⁴ Im Zentrum seiner Überlegungen steht der Begriff des Supranaturalen, den er durch unterschiedliche Ausdrücke spezifiziert: „Supernatural or Supernormal“⁷⁵, „Power of Awfullness, or, more shortly, a power“.⁷⁶ Die Vorstellung übernatürlicher Kräfte bzw. Mächte verbindet Marett sodann mit dem Ausdruck mana, den der britische Missionar und Ethnograph Robert Henry Codrington (1830–1922) mit seiner Abhandlung The Melanesian (1891) in die Diskussion eingeführt hatte.⁷⁷ Diese Konzeption greift Marett auf. Für ihn bezeichnet mana aber nur einen, und zwar den positiven Explikationsmodus des Supranaturalen. Letzteres ist zugleich durch einen negativen gekennzeichnet, der sich in der Vorstellung des tabu ausdrücke. In der Verbindung beider Dimensionen des Supranaturalen, in dem sogenannten „tabu-mana formular“, verdichtet sich sein Konzept des Präanismismus.⁷⁸ Auf der Ebene des Mentalen korrespondiert das „tabu-mana formular“ mit einem „basic feeling of Awe“.⁷⁹ Marett ist der Überzeugung, dass „the fundamental

74 Den Ruf, als Begründer des Präanimismus zu gelten, hat Marett – wie er selbst herausstellt – Wilhelm Wundt zu verdanken, der die präanimistische Hypothese „as a representive theory of the origin of religion, formulated in direct opposition to the Tylorian ‚animism‘“ (Marett 1909, VIII) bezeichnet habe. Wundt kommt darauf innerhalb seiner Völkerpsychologie zu sprechen. 75 Marett 1909, 13. 76 Marett 1909, 13. 77 Vgl. Riesebrodt 2004, 177. Nach Dieter Sefrin spezifiert Codrington das Wort mana „als nicht physische, quasi übernatürliche Macht (power) oder Einwirkung (influence), die sich in menschlichen Fähigkeiten und allen möglichen Gegenständen manifestiere, ohne daran gebunden zu sein, und die zu erwerben und sich zunutze zu machen die Quintessenz der melanesischen Religion sei“ (Sefrin 1998a, 99). 78 „Altogether, in mana we have what is par excellence the primitive religious idea, in its positive aspect, taboo representing its negative side, since whatever has mana is taboo, and whatever is taboo has mana.“ (Marett 1911, 64) Ähnlich heißt es in The Threshold of Religion: „Tabu, as I have tried to prove elsewhere, is the negative mode of the supernatural, to which mana corresponds as the positive mode.“ (Marett 1909, 126) Marett setzt das tabu-mana-Konzept explizit an die Stelle des Tylorschen Religionsverständnisses: „tabu-mana formula be substituted for animism as a minimum definition of religion“. Allerdings zieht er daraus nicht den Schluss, dass der Animismus damit obsolet sei. 79 Marett 1909, 16f. Auch wenn für Marett Religion eine Größe darstellt, die intellektuelle, emotive und Elemente des Verhaltens umfasst (Marett 1909, XI), misst er dem Bereich des Emotiven eine herausgehobene Stellung bei. Es sei am Rande bemerkt, dass Rudolf Otto bezogen auf sein Konzept des Heiligen, genauer des sensus numinis bemerkt, dass Marett „der Sache auf Haaresbreite nahe“ gekommen sei (Otto 1997, 17). Und in der Tat erinnern eine Vielzahl von Formulierungen Maretts an Ottos Verständnis des Heiligen, was die Annahme nahelegt, dass Otto durch Maretts Threshold wichtige Anregungen für sein eigenes Konzept empfangen hat. Selbst die Kontrastharmonie, die Otto mit der Kategorie des Heiligen verbindet, klingt bei Marett an: „sacre can stand either for ‚holy‘ or for ‚damned‘ (Marett 1909, 110). In dem 2014 erschienenen, voluminösen Tagungsband Rudolf

186 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Religious feeling“⁸⁰ am ehesten mit dem Ausdruck Awe (Ehrfurcht, Scheu) wiedergegeben werden könne. Der positive und der negative Aspekt des Übernatürlichen sind für ihn Explikationsgestalten des magisch-religiösen Gefühls der Ehrfurcht. Mit der Korrespondenz von mana/tabu auf der einen Seite und mentaler Repräsentation beider Explikationsmodi des Übernatürlichen im Gefühl der Ehrfurcht auf der anderen ist zugleich das Magie und Religion gleichermaßen zugrunde liegende „undifferentiated“⁸¹ bzw. „common plasm“⁸² bezeichnet. Damit sind wesentliche Aspekte von Maretts Theorie des Präanimismus zur Sprache gekommen, sodass wir den Blick nun wieder auf Webers Ausführungen zu den archaischen Religionen lenken können. Die wenigen Bemerkungen Webers zum Begriff der außeralltäglichen Kräfte deuten nicht darauf hin, in besonderer Weise an Maretts Threshold orientiert zu sein. Zu ihrer Veranschaulichung zieht Weber vielmehr Begriffe heran, die in der damaligen religionsethnologischen Forschung insgesamt en vogue waren: „‚mana‘“ und „‚orenda‘“ (RG, 122).⁸³ Auf den für Maretts Konzeption elementaren Begriff tabu verzichtet er an dieser Stelle vollständig. Statt dessen führt er das – wie er behauptet – bei den „Iraniern“ anzutreffende „‚maga‘“ (RG, 122) an. Mit diesem Ausdruck hebt er sich jedoch von der gesamten Forschungsliteratur ab, insofern es sich bei maga um keinen religionsethnologischen Begriff handelt.⁸⁴ Nicht zuletzt

Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte ist diese wichtige Verbindungslinie zwischen Marett und Otto nur von Hans Joas in einer allgemeineren Perspektive angesprochen worden, vgl. Joas 2014, 61ff. 80 Marett 1909, 13. 81 Marett 1911, 64. 82 Marett 1909, XIII. 83 Vgl. Marett 1909, 99. 101. 115 u.a.; Greßmann 1913b, 126; AR, 20. Zum Begriff orenda vgl. Sefrin 1998b. 84 Dass dieser Begriff unpassend ist, wird auch von Eckart Otto herausgestellt, der darüber hinaus bemerkt, dass maga im persischen Bund bedeute (vgl. Otto 2002, 193). Auf letzteres verweist auch Kippenberg vgl. RG, 1223. Es ist somit irreführend, wenn Weber angibt, dass von maga das Wort „magisch“ abzuleiten sei. Das scheint er später gesehen zu haben. In seiner Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen exemplifiziert er die „außeralltägliche Macht“ anhand der Ausdrücke „mana, orenda“ (E, 174f). Der Ausdruck maga findet an dieser Stelle keine Erwähnung. Versucht man Webers Verwendung dieses Ausdrucks gleichwohl religionsgeschichtlich einzuordnen, scheint sie am ehesten auf die auch damals vertretene Position zu verweisen, dass der Name Magier in der persischen bzw. iranischen Religion seine Herkunft habe. Edvard Lehmann führt hingegen aus, dass der Avesta den Magiernamen vollständig vermieden habe. Zarathustra und seine Priester nennen sich „âthravans, Feuerpriester“, wobei es sich um eine „Functionsbezeichnung“ handele. Wenn Herodot sie gleichwohl Magier nenne, so sei es möglich, „dass das Wort ‚Magier‘ sie eben nur nach ihrer Herkunft bezeichnet hat, während sie sich selbst nach ihrer Wirksamkeit – jedenfalls im Avesta – Feuerpriester genannt haben.“ (Lehmann 1897b, 160).

3.3 Die Anfänge der Religion |

187

dieser merkwürdige Gebrauch des Wortes maga kann als ein Indiz dafür angesehen werden, dass Weber sich nicht sonderlich tief in diesen Bereich religionsethnologischer Forschung eingearbeitet hat. Von einer besonderen Nähe zu Maretts Schriften kann keine Rede sein. Weber kommt es an dieser Stelle zunächst nur auf die Einführung des Begriffs der außeralltäglichen Kräfte an. Was er im Hinblick auf die archaischen Religionen darunter verstanden wissen will, zeichnet sich erst vor dem Hintergrund eines zweiten religionsethnologischen Begriffs ab – des Geistes. In den Religiösen Gemeinschaften heißt es, „Geist“ sei „zunächst weder Seele, noch Dämon oder gar Gott, sondern dasjenige unbestimmt: materiell und doch unsichtbar, unpersönlich und doch mit einer Art Wollen ausgestattet gedachte Etwas, welches dem konkreten Wesen seine spezifische Wirkungskraft erst verleiht“ (RG, 124). Die Vorstellung von Geistern zeichnet sich – verglichen mit denen der Seele, des Dämons oder der Götter – durch ein hohes Maß von Unbestimmtheit aus. Zu den wenigen Spezifika gehört ein voluntatives Element, das aber zugleich substantial vorgestellt wird. Dieser zweite Aspekt verweist auf die besondere Konzeptualisierung der Ursache-Wirkungs-Relation, die hier physikalisch-naturalistisch begriffen wird. Dieses substantielle Wollen bzw. die Wirkung, die vom Geist ausgeht, lässt sich an dem außeralltäglichen Verhalten konkreter Gegenstände wahrnehmen. Aber nicht dem Gegenstand selbst eignet die Kraft eines solchen Verhaltens. Letzteres ist vielmehr auf eine geistige Entität zurückzuführen, das hinter einem Objekt liegend und wirkend vorgestellt wird. Denn nur des substantialen Wollens jenes Geistwesens wegen verhält sich ein Ding oder Gegenstand außeralltäglich. Webers Zitat und die darin genannten Vorstellungen lassen sich nun – wie Breuer bemerkt hat – keinesfalls eindeutig den Modellen des Präanimismus oder Animismus zuzuordnen.⁸⁵ Zwar klingt in der Abgrenzung des Geistes von der Seele eine präanimistische Note an, doch darf diese nicht im Sinne Maretts begriffen werden, weil der Religionsethnologe ausdrücklich bemerkt: „Now ghosts and spirits are undoubtedly Powers, but it does not follow that all Powers are ghosts and spirits, even if they tend to become so.“⁸⁶ Für Marett – wie auch für Tylor – können „Animism“ und „Spiritualism“⁸⁷ vielmehr synonym verwendet werden. Sodann erinnert zwar Webers in diesem Zusammenhang verwendeter Begriff „Geisterglaube“ (RG, 124) an die animistische Basisformel belief in spiritual beings. Allerdings grenzt er jenen Begriff ausdrücklich von den „eigentlich ‚animistischen‘ Vorstellungen“ (RG, 125) ab. Die hier angestellten Überlegungen bestätigen somit die Breuersche These. Doch müssen wir dabei nicht stehen bleiben. Denn das Ergebnis, dass We-

85 Vgl. Breuer 2001a, 126. 86 Marett 1911, 13. 87 Marett 1911, 7.

188 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext bers Position mit keiner der beiden hier skizzierten Großtheorien übereinstimmt, leitet uns indirekt zu derjenigen Quelle, aus der Weber in diesem Zusammenhang vermutlich geschöpft hat. Dabei handelt es sich, wie bereits angedeutet wurde, um Edvard Lehmanns Aufsatz zu den Anfängen der Religion. Ohne sich auf eines der beiden Konzepte festzulegen, führt der Religionswissenschaftler im Hinblick auf den Animismus aus, dass letzterer eine Zeit lang die Diskussion in der Ethnographie beherrscht habe, nun aber mehr und mehr in den Hintergrund getreten sei. Statt dessen neigten „[n]euere Forscher wie z. B. Marett . . . immer mehr zu der Annahme einer ‚präanimistischen‘ Stufe“ (AR, 18). Auch wenn er sich nicht explizit als Anhänger des Präanimismus zu erkennen gibt und auch den Animismus nicht in allen Belangen verabschiedet, kann seine Position als eine Spielart des Präanimismus begriffen werden. Wenn sich Weber an dieser Stelle also nicht klar für das eine oder das andere Modell ausspricht, so spiegelt sich darin eben die Offenheit wider, die auch für die Darlegungen Lehmanns kennzeichnend ist. Dass Lehmann ein für Webers Verständnis der archaischen Religionen zentraler Referenzautor gewesen ist, lässt sich auch an einem direkten Textvergleich belegen. Dazu muss erneut der Begriff des Geistes auf den Plan treten. Lehmann spezifiziert diesen Begriff im Anschluss an den britischen Anthropologen Ernest Crawley (1869–1924): „Aber verkehrt wäre es, sich ‚Geister‘ immer als persönliche oder individuelle Wesen zu denken. Crawley . . . warnt durchaus vor dieser Annahme. ‚Sie sind noch nicht differenziert; sie sind von einem gewissen unbestimmten Schlage, ohne Unterschied zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, Realem und Idealem, zwischen Personen und anderen Existenzen und Wesenheiten. Diese Geister sind tatsächlich materiell, obgleich unsichtbar; viele sind bloße Wirkungen oder Übelstände.‘“ (AR, 15) Die Übereinstimmungen mit Webers ‚eigener‘ bereits zitierter Definition der „Geister“ sind frappierend, was es wahrscheinlich macht, dass sich Weber in diesem Zusammenhang an den Lehmannschen Ausführungen orientiert. Dafür spricht nicht zuletzt auch, dass die Überlegungen des Religionswissenschaftlers zu diesem Thema ausdrücklich unter dem Stichwort „Geisterglaube“ (AR, 15) verhandelt werden.⁸⁸ Dass Weber sich nicht

88 So nimmt es auch nicht wunder, dass sich die in Webers Formulierung enthaltene voluntaristische Dimension ebenso bei Lehmann findet (vgl. AR, 12). Und auch Webers immer wieder verwendete Figur von den „hinter“ (RG, 123f. 128 u. ö.) den Dingen liegenden Wesenheiten scheint auf Lehmann zurückzugehen, der auf „Kräfte“ zu sprechen kommt, die die Menschen „hinter den Begebenheiten der Natur vermuten“ (AR, 8). Es sei am Rande bemerkt, dass diese Figur ihrerseits schon älteren Datums ist und sich auch bei Friedrich Schelling findet, der in seiner Philosophie der Mythologie in ganz ähnlicher Weise von „Vorstellungen unsichtbarer, hinter Naturerscheinungen stehender Wesen“ spricht (Schelling 1856, 41).

3.3 Die Anfänge der Religion |

189

intensiv mit der religionsethnologischen Debatte befasst zu haben scheint, lässt sich aber auch an der Seelenvorstellung verdeutlichen. Während der Seelenbegriff in der neueren religionswissenschaftlichen Diskussion stiefmütterlich behandelt wird – man denke etwa an den Seelenartikel im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe –, gehörte er in der Religionsforschung um 1900 zum begrifflichen Kernbestand. Dazu hatten Tylors Animismustheorie sowie Erwin Rohdes (1845–1898) Werk Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen (1890–1894) wesentlich beigetragen. Beide Autoren prägten die religionswissenschaftliche Debatte um den Seelenbegriff maßgeblich. Ihr Einfluss hat sich auch in Lehmanns Überlegungen niedergeschlagen, der den Seelenbegriff unter dem Blickwinkel des Rituellen verhandelt und – im Anschluss an Rohde – von „Seelenkult“ (AR, 17) spricht. Mit letzterem ist auch für ihn eine neue Stufe innerhalb der Entwicklung der Religionen bezeichnet. Er versteht den Seelenkult „als eine Erneuerung und Erweiterung des Geisterglaubens.“ (AR, 17) Die konkrete Beschreibung desselben bewegt sich im Rahmen der damals üblichen Bestimmungen. Dementsprechend spezifiziert er die Seele als Wesen, das dem Menschen ähnlich ist, „den es aber im Schlaf, in der Ekstase, während seiner Krankheit zeitweilig und im Tode auf immer verläßt.“ (AR, 16) Diese Formulierung begegnet uns nun auch – in etwas abgewandelter Form – in den Religiösen Gemeinschaften wieder. Dort heißt es, dass die Seele „als eines vom Körper verschiedenen Wesens, welches hinter, bei oder in den Naturobjekten in ähnlicher Art vorhanden sei, wie im menschlichen Körper etwas steckt, was ihn im Traum, in Ohnmacht und Ekstase, im Tode verläßt“ (RG, 125), vorzustellen sei. Dieser auffälligen Übereinstimmungen wegen, steht es zu vermuten, dass Weber an dieser Stelle erneut den besagten Band aus Hinnebergs Kultur der Gegenwart zu Rate gezogen hat. Dafür spricht auch, dass er die Abfolge von Geisterglauben und Seelenvorstellung ganz analog zu Lehmann konstruiert und wie letzterer davon ausgeht, dass die Seelenvorstellung gegenüber dem Geisterglauben eine höhere Abstraktionsstufe darstellt (vgl. RG, 125).⁸⁹ Auf die der Seelen folgt in Webers Skizze der Entstehung der Religionen die Vorstellung von Dämonen und Göttern. Damit ist jedoch noch keineswegs der Überschritt in den Bereich der sogenannten Hochreligionen getan. Vielmehr handelt es sich dabei um archaische Göttervorstellungen. Webers Näherbestimmung derselben greift explizit den Begriff der „‚Augenblicksgötter‘“ (RG, 126) auf, womit er auf die zum damaligen Zeitpunkt einflussreiche Abhandlung Götternamen. Versuch 89 Der für Webers Darstellung der Entwicklung der Religionen signifikante Abstraktionsbegriff könnte ebenfalls von Lehmann angeregt sein. Letzterer bezeichnet mana, orenda und manitu als Exemplifikationen der Kraftvorstellung, die er wiederum als „Abstraktionen“ (AR, 20) verstanden wissen will.

190 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung (1896) Bezug nimmt.⁹⁰ Sie stammt aus der Feder des Philologen und Religionswissenschaftlers Hermann Usener (1834–1905), der in Webers Religionssystematik ausdrücklich Erwähnung findet (vgl. RG, 126). Um dessen Einfluss auf die Religiösen Gemeinschaften abschätzen zu können,⁹¹ ist auf dieses Werk kurz einzugehen. In den Wilhelm und Karl Dilthey gewidmeten Götternamen begreift Usener die Entwicklung der Göttervorstellungen als einen „sprachgeschichtliche[n] vorgang“ (Gö, 316). Seine diesbezüglichen Überlegungen stehen unter der Prämisse, dass die „religiösen begriffe . . . bestandtheil der menschlichen begriffswelt“ (Gö, 317) sind. Die Entwicklung der religiösen Sprache gehorcht dabei den allgemeinen Gesetzen der Begriffsbildung (vgl. Gö, 323), die hier aber nicht weiter erörtert werden müssen. Usener unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen drei aufeinander aufbauenden Göttertypen. Es handelt sich um die Augenblicksgötter, die Sondergötter und die persönlichen Götter. Das Augenmerk ist hier auf erstere zu legen. Für Usener ist mit den Augenblicksgöttern „die einfachste und ursprünglichste begriffsbildung“ (Gö, 280) im Bereich der Religion bezeichnet.⁹² Wenn man danach fragt, warum die Augenblicksgötter die unterste Stufe der religiösen Begriffsbildung darstellen, so verweist die Antwort auf die Art ihrer mentalen Repräsentation. Die Entstehung von Augenblicksgöttern ist bei Usener mit der Operation der religiösen Empfindung verknüpft und bewegt sich damit auf einer vorbegrifflichen Ebene:

90 Die durchgängige Kleinschreibung dieses Werks gehört zu dessen stilistischen Eigenheiten. 91 Darauf kamen zuletzt Kippenberg und vor allem Treiber zu sprechen, vgl. Kippenberg 2001d, 89; Kippenberg 2001a, 53; Treiber 2005, 108–111. 92 Die Augenblicksgötter bilden die sprachgeschichtliche Voraussetzung für die Entstehung von Sondergöttern. Während letztere mittels Gattungsbegriffen bezeichnet werden, nehmen die Namen der Augenblicksgötter den Status von „augenblicksbegriffe[n] oder einzelbegriffe[n]“ (Gö, 280) ein. Die Sondergötter sind auf bestimmte Handlungen und Zustände bezogen, „die dem damaligen menschen von wichtigkeit sein konnten“. Ihre Bezeichnung erfolgt mittels einer – wie Usener sagt – deutlichen „Wortprägung“. Neben ihrem spezifischen begrifflichen Status stellt er zwei weitere Merkmale der Sondergötter heraus: die „ausschließliche Geltung für je ein besonderes vorkommnis“ (Gö, 75) sowie deren „regelmässig[e]“ Verehrung (Gö, 179). Dieser Göttertypus bildet sodann wiederum die Grundlage für die Entstehung von persönlichen Göttern (vgl. Gö, 279. 316f). Der gesamte Entwicklungsprozess ist in folgender Formulierung zusammengefasst: „Auch der sondergott muss erst einmal als augenblicksgott empfunden worden sein, ehe die regelmäßige wiederholung des gemüthseindrucks ihm dauer verleiht; aus der masse der sondergötter erheben sich persönliche götter umfassenderen machtbereichs erst wenn die alte begriffsbildung zum eigennamen erstarrt und ein fester kern geworden ist“ (Gö, 323).

3.3 Die Anfänge der Religion |

191

Wenn die augenblickliche empfindung dem dinge vor uns, das uns die unmittelbare nähe einer gottheit zu bewusstsein bringt, dem zustand in dem wir uns befinden, der kraftwirkung die uns überrascht, den werth und das vermögen einer gottheit zumisst, dann ist der augenblicksgott empfunden und geschaffen. In voller unmittelbarkeit wird die einzelne erscheinung vergöttlicht, ohne dass ein auch noch so begrenzter gattungsbegriff irgendwie hereinspielte: das eine ding, das du vor dir siehst, das selbst und nichts weiter ist der gott. (Gö, 280)

Wie dieser Akt religiösen Benennens, durch den eine Sache oder ein Zustand mittels der Empfindung als ‚göttlich‘ qualifiziert wird, genauer vorzustellen ist, führt Usener nicht aus. Lediglich von einer besonderen „beweglichkeit“ und „reizbarkeit“ (Gö, 291) religiöser Empfindung ist die Rede, die es ihr ermögliche, einen beliebigen Gegenstand, „der für einen augenblick alle gedanken beherrscht, ohne weiteres zu göttlichem rang“ (Gö, 291) zu erheben. Hierin scheint ein zentrales Kriterium für die Entstehung von Augenblicksgöttern zu liegen, dass Objekte dann zu solchen Göttern werden, wenn sie die Aufmerksamkeit vollständig besetzen. Diese Überlegungen sind vermutlich von dem Beispiel her konzipiert, auf das Useners Reflexionen zusteuern und das seiner Auffassung nach zur Illustration dieses Göttertyps besonders geeignet ist. Es handelt sich um die vor allem für die antike griechische Kultur signifikante Vorstellung vom daÐmwn: es [sc. das Daimon] ist gedacht als ein göttliches wesen, das von dem menschen besitz ergriffen hat, ein einzelbegriff nicht nur insofern er nur dem einzelnen menschen gilt, sondern noch mehr darum, weil er im leben des einzelnen menschen selbst nur einen einzelnen, oft nur vorübergehenden zustand bezeichnet. Besonders belehrend ist der öfter vorkommende ausdruck tän parìnta daÐmona, ‚den gegenwärtig mich beherrschenden gott‘. (Gö, 293)

Mit dieser Parallelisierung primitiver Götter- und Dämonenvorstellungen sowie ihrer exemplarischen Bedeutung für das Verständnis der Augenblicksgötter können wir uns wieder der Religionssystematik zuwenden. Dass Weber sich bezogen auf die archaischen Göttervorstellungen an den Götternamen orientiert, lässt sich an drei Aspekten verdeutlichen. Zum einen parallelisiert er sie mit der Vorstellung von „‚Dämonen‘“ (RG, 126). Sodann bauen die von ihm herausgestellten Spezifika der archaischen Göttervorstellungen auf Useners Konzeption der Augenblicksgötter auf (vgl. RG, 126).⁹³ Schließlich untermauert die von Weber angedeutete sprachgeschichtliche Fundierung dieser

93 Dazu gehört auch die Abgrenzung der Augenblicksgötter von den anderen beiden Typen der von Usener entfalteten Göttertrias. Diese Abgrenzung drückt sich in Webers Formulierung aus, dass die Götter „noch nichts Persönliches oder Dauerndes“ (RG, 126) darstellen. Das Merkmal der Dauerhaftigkeit kommt nach Usener den Sondergöttern zu (vgl. Gö, 279. 323).

192 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Vorstellungen seine Usenerrezeption.⁹⁴ Doch auch wenn sich Weber mit den Götternamen beschäftigt hat, gehen seine diesbezüglichen Überlegungen nicht über allgemeine Topoi der Usenerschen Konzeption hinaus. Sein Zugriff auf dieses Werk ist zudem ausgesprochen selektiv, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er sich zur Methodik des Altphilologen überhaupt nicht äußert, obgleich sie im Gegensatz zu seinen eigenen Methodenidealen steht.⁹⁵ Die von Weber verwendeten religionsethnologischen Begriffe müssen hier nicht weiter verfolgt werden. Es hat sich gezeigt, dass er sie vielfach auf eine überwiegend oberflächliche Art und Weise thematisiert, gerade im Vergleich zu deren fachwissenschaftlicher Diskussion, an deren Komplexität seine Ausführungen nicht annähernd heranreichen.⁹⁶ Werden sie isoliert betrachtet, handelt es sich weder um einen originellen noch um einen sonderlich profunden Beitrag zum Verständnis archaischer Religionen. Das aber heißt nun nicht, dass sie innerhalb der Religiösen Gemeinschaften keine konstruktive Funktion hätten. Dies ist mitnichten der Fall. Um ihre Bedeutung aufdecken zu können, ist es jedoch erforderlich, den argumentativen Fluchtpunkt von Webers Erörterungen zu den hier diskutierten Begriffen in den Blick zu nehmen. In einer Art Zwischenfazit hält er fest: „Wir registrieren hier lediglich als Resultat des Prozesses die Entstehung einerseits der 94 Auf diesen für den Altphilologen zentralen Explikationshorizont kommt Weber ausdrücklich zu sprechen: „Sowohl Götter ohne alle Eigennamen, benannt nur nach dem Vorgang, über den sie Gewalt haben, kommen vor, deren Bezeichnung erst allmählich, wenn sie sprachlich nicht mehr verstanden wird, den Charakter eines Eigennamens annimmt“ (RG, 126). Ganz ähnlich heißt es bei Usener, „dass dies hervortreten persönlicher götter aus der fülle der sondergötter nichts geringeres bedeutet als den geistigen fortschritt von einzelvorstellungen zu umfassenderen begriffen. Sobald ein gott durch den eigennamen persönlich geworden ist, zieht er die verwandten einzelbegriffe der sondergötter in seinen machtbereich; diese verkümmern und sterben ab, wenn sie eine besondere bedeutung nicht haben; sind sie wichtiger, so leben sie fort als beinamen der persönlichen gottheit, oder treten als untergeordnete wesen (abschn. 14) in deren gefolge.“ (Gö, 316f) Die Unterscheidung zwischen Sonder- und Spezialgöttern greift Weber auch in seinen Studien zu den asiatischen Religionen auf (vgl. KT, 371ff. 414; HB, 84). 95 In seinen Vorbemerkungen hält Usener hinsichtlich des methodischen Vorgehens fest: „Da wir zunächst keine thatsachen in unserem bewusstsein finden, darch [sic!] welche uns die geistigen regungen und gänge vorgeschichtlicher menschen deutlich werden könnten, so ist ein speculatives verfahren, wie es die sogenannte religionsphilosophie übt, ausgeschlossen. Nur durch hingebendes versenken in diese geistesspuren entschwundener zeit, also durch philologische arbeit vermögen wir uns zum nachempfinden zu erziehen; dann können allmählich verwandte saiten in uns mit schwingen und klingen, und wir entdecken im eignen bewusstsein die fäden, die altes und neues verbinden. Reichere beobachtung und vergleichung gestattet weiter zu gehen, und wir erheben uns vom einzelnen zum ganzen, von den erscheinungen zum gesetz.“ (Gö, VII). 96 Küenzlen kommt hingegen zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis: „Der hier vorgeführte Befund . . . zeigt zunächst, wie genau Weber die religionswissenschaftliche Forschung gekannt, verfolgt und rezipiert haben muß.“ (Küenzlen 1980, 73).

3.3 Die Anfänge der Religion |

193

‚Seele‘, andererseits der ‚Götter‘ und ‚Dämonen‘, ‚übernatürlicher‘ Mächte also, deren Beziehungen zu den Menschen zu ordnen nun das Reich des ‚religiösen‘ Handelns ausmacht.“ (RG, 126f) Diese Formulierung ist nun insofern von grundlegender Bedeutung, als sie sichtbar macht, dass Webers Interesse an der für die archaischen Religionen signifikanten Vorstellungswelt so weit reicht, wie es für das Verständnis des Aufbaus der religiösen Handlungswelt erforderlich ist. Der handlungstheoretische Ansatz seiner religionssoziologischen Studien kristallisiert sich damit bereits in seinen Ausführungen zu den Anfängen der Religion heraus. Das religiöse Handeln zeichnet sich dabei durch eine Ordnungsfunktion aus. Es dient der Regulierung der Beziehung zwischen den Menschen und den Vorstellungen übernatürlicher Kräfte, wodurch es das entscheidende Vermittlungsglied zwischen beiden Relaten bildet. Im Zuge seiner Ausführungen zu den religionsethnologischen Begriffen kommt Weber auch auf eine Übergangsfigur zu sprechen, die mit dem zuletzt genannten Gesichtspunkt eng verwoben ist. Allerdings lässt sie sich nicht ohne Weiteres einordnen, operiert sie doch mit einer Terminologie, die sich nicht unmittelbar auf die Beschreibung des Phänomenbestands abbilden lässt. Es handelt sich um den Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus.

3.3.3 Naturalismus und Symbolismus Die von Weber verwendete Terminologie lädt zu vielfachen Missverständnissen ein. Das gilt allen voran für den Begriff des Naturalismus, der im ersten Kapitel der Religiösen Gemeinschaften häufig Verwendung gefunden hat (vgl. RG, 123. 127. 129 u. ö.). Im weitesten Sinne gefasst, wird der Naturalismus heute als eine modernespezifische Weltanschauung begriffen, in der alles, was ist und sein soll, nach Maßgabe eines Naturbegriffs bestimmt wird, und die darauf zielt, den cartesianischen Dualismus zu unterlaufen bzw. zu bekämpfen. Wenn Weber bezogen auf die Anfänge der Religion von Naturalismus spricht, so darf dieser Ausdruck nicht in dieser Bedeutung begriffen werden. Vielmehr repräsentiert der Naturalismus den Anfangspunkt in der Entstehungsgeschichte der Religionen, gleichsam den – mit Wilhelm Wundt gesprochen – menschlichen Naturzustand.⁹⁷ Dass es sich um ein religionsgeschichtliches Stadium handeln soll, deutet Weber insofern an, als er den Naturalismus mit der Theorie des „sog.“ Präanimismus identifiziert – dieser Aspekt ist oben noch ausgeklammert worden.⁹⁸

97 Vgl. Wundt 1906, 154. 98 Vgl. 3. 3. 2.

194 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Den Naturalismus illustriert Weber mittels verschiedener, vermutlich Lehmann entlehnter Beispiele einer „direkten Krafteinwirkung“ (RG, 127; vgl. RG, 131 sowie AR, 12). Damit kommt eine Vorstellungswelt in den Blick, derzufolge Kräfte von Menschen oder Tieren durch Verzehr oder Besitz ihrer Körperteile unmittelbar angeeignet werden können (vgl. RG, 131f). Die Bezugnahme auf ein Herz oder einen Schädel impliziert somit keinen Verweisungszusammenhang auf eine ihnen externe Bedeutung oder Kraft. Vielmehr wird letztere mit ihnen identifiziert; so wie ein naturalistisches Verständnis der Seele besagt, dass diese der Atem oder der Puls eines Menschen ist (vgl. RG, 127). Schon bei Lehmann konnte Weber lesen, dass es sich hierbei nicht um „Symbole“ handelt (AR, 11. 13). Der von Weber veranschlagte Ausdruck Naturalismus stellt im weitesten Sinne gefasst eine Reminiszenz an Ausdrücke wie Naturzustand oder Naturreligion dar, erweist sich aber seiner Missverständlichkeit wegen als nur bedingt geeignet, um den angedeuteten Phänomenbestand zu umfassen. Was nun die Überwindung dieses Zustandes und somit den Übergang zum Symbolismus betrifft, so zieht Weber disparates religionswissenschaftliches Material, vor allem zur Toten- und Ahnenverehrung heran. In der Religionssystematik heißt es: „Wenn der Tote nur durch symbolische Handlungen zugänglich ist und nur in Symbolen der Gott sich äußert, so kann er auch mit Symbolen statt mit Realitäten zufriedengestellt werden. Schaubrote, puppenbildliche Darstellungen der Weiber und der Dienerschaft treten an die Stelle der wirklichen Opferung: das älteste Papiergeld diente nicht der Bezahlung von Lebenden, sondern von Toten.“ (RG, 129) Im Hinblick auf die Beispielwahl kommen verschiedene Referenzautoren in Betracht. Dazu gehören der niederländische Sinologe Johann Jakob Maria de Groot (1854–1921) sowie Eduard Meyer. Groot gehörte um 1900 zu den führenden Vertretern seiner Zunft und lehrte dieses Fach ab 1912 an der Berliner Universität. Beides dürfte dafür ausschlaggebend gewesen sein, an prominenter Stelle, nämlich in dem von Hinneberg herausgegebenen Band Die Religionen des Orients einen entsprechenden Beitrag zu den chinesischen Religionen beigetragen zu haben. Darin kommt er ausführlicher auf deren Totenkult zu sprechen und stellt heraus, dass die Ahnenverehrung „in der alten Religion das Hauptinstitut“⁹⁹ gewesen sei. Besonderes Augenmerk schenkt er diesem Bereich insofern, als es sich hierbei um den einzigen Kult innerhalb der Staatsreligion handelte, der dem Volk überlassen war. Für uns sind vor allem die Passagen entscheidend, in denen er die Opfergaben beschreibt, die den Verstorbenen mitgegeben wurden. Während es sich ursprünglich um echte Wertsachen handelte, traten an deren Stelle später „Nachahmungen

99 Groot 1913, 168.

3.3 Die Anfänge der Religion |

195

aus Holz, Ton, Stroh, Papier und anderem Material“.¹⁰⁰ Groot nennt neben „papierne[n] Nachahmungen von Silberbarren, welche verbrannt werden und sich dadurch in Geld für das Jenseits verwandeln“,¹⁰¹ „papierne Sklaven und Diener, Weiber und Konkubinen“.¹⁰² Ebenso behandelt Meyer in der anthropologischen Grundlegung seiner Geschichte des Altertums, mit der Weber bestens vertraut war und auf die später mehrfach und ausführlicher zurückzukommen sein wird,¹⁰³ die Sorge der Hinterbliebenen für die Toten. Allerdings bezieht er sich hier nicht auf eine einzelne Religion, sondern beschreibt die Entwicklung des Totenkults in einer allgemeineren, psychologisch ausgerichteten religionsgeschichtlichen Perspektive. Er zielt in diesem Zusammenhang darauf, die zentrale Rolle, die in der religionsethnologischen Literatur dem Totenkult für das Verständnis des Religiösen insgesamt beigemessen wurde, zu relativieren (vgl. A, 121), was hier jedoch nicht weiter verfolgt zu werden braucht. Vielmehr soll das Augenmerk auf eine Einzelbeobachtung Meyers gerichtet werden. Er stellt auf der einen Seite fest, dass der Totenkult in verschiedenen, vor allem stark magisch geprägten Religionen fest verankert ist. Auf der anderen Seite deuten die Quellen aber auch darauf hin, dass die Kultteilnehmer in vielen Fällen der Auffassung sind, die Verstorbenen führten nur ein Scheindasein (vgl. A, 119). Die davon abgeleitete Annahme besagt wiederum, dass der Tote nur einer „Scheinwelt“ bedürfe, was sich in der Ausstattung der Begräbnisstätte niederschlägt: „Puppen, die durch Zauber belebt werden, genügen ihm [sc. dem Toten] als Frauen und Diener, steinere oder gemalte Speisen oder gesprochene Gebete zu seiner Ernährung und dazu etwa ein bißchen Weihrauch.“ (A, 119) So einschlägig beide Autoren für Webers Beispielwahl sind, weder der eine noch der andere verbinden ihre Darlegungen zum Ahnen- und Totenkult mit dem Symbolbegriff, was die Frage aufwirft, auf welche Autoren sich Weber in diesem Zusammenhang bezogen haben könnte. Als prominenter Kandidat für eine Verknüpfung beider Dimensionen tritt an dieser Stelle Wilhelm Wundt auf den Plan.¹⁰⁴ In der Völkerpsychologie, im zweiten Teil des zweiten Bands Mythus und Religion (1906), kommt er im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit religionsge100 Groot 1913, 168. 101 Groot 1913, 169. 102 Groot 1913, 170. 103 Vgl. 3. 5. 1 sowie 3. 5. 2. 104 Ebenso könnte der bereits zuvor behandelte Hermann Usener genannt werden, der in seinem Vorwort zu den Götternamen sein mythologisches Grundkonzept umreißt: „Die grundlegende wissenschaft der mythologie, wie sie mir vorschwebt, wird vor allem I die religiöse begriffsbildung und II die elementaren oder unbewussten vorgänge der vorstellung, nämlich 1 die beseelung (personification) 2 die verbildlichung (metapher) zu behandeln haben, um dann aus den letzteren die formen III der symbolik IV des mythus V des cultus abzuleiten“ (Gö, VI); vgl. dazu auch

196 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext schichtlichen Erscheinungsformen der Seelenvorstellungen (Kapitel 4) auch auf den „Animismus und Manismus“¹⁰⁵ zu sprechen. Ein Unterabschnitt beschäftigt sich mit dem Ahnenkult. Darin geht er ähnlich wie Groot auf Praktiken des Papieropfers ein und stellt fest, dass der „für uns auf den ersten Blick so verwunderliche und lächerliche papierne Opferkultus“ religionsgeschichtlich insofern bemerkenswert ist, als sich an diesem eine grundlegende Transformation im Verständnis der Beigaben ablesen lässt. Diese seien hier zum „äußerlichsten Symbol“¹⁰⁶ geworden. Auf diesem Wege stellt er eine Verbindung zwischen dem Toten- und Ahnenkult auf der einen und dem Symbolbegriff auf der anderen Seite her. Für die Interpretation dieses Zusammenhangs ist es jedoch entscheidend, dass der – durch den „vieldeutigen Gebrauch“¹⁰⁷ bekannte – Begriff Symbols in einem ganz spezifischen Sinn verwendet wird. Das Symbol besitze hier nicht die zeichentheoretische Funktion der Substitution. Vielmehr fließen das Bezeichnende und das Bezeichnete völlig ineinander.¹⁰⁸ Dementsprechend wendet sich Wundt gegen die Annahme, dass besagte Papieropfer „als symbolische Stellvertreter wirklicher Opfer“¹⁰⁹ verstanden werden dürften. Vielmehr gelte das Symbol als „vollkommener Ersatz für die Sache“. Wir haben es hier mit einem – der Völkerpsychologie zufolge – der Magie noch vorgelagerten, defizitären Symbolverständnis zu tun.¹¹⁰ Das erinnert an die Hegelsche Ästhetik und an diesem Punkt bewegt sich Wundt durchaus im Schatten derselben. Allerdings muss an dieser Stelle gleichermaßen betont werden, dass sich sein Symbolverständnis nicht auf jenen defizitären Begriff beschränkt, sondern hochgradig komplex und ausdifferenziert ist.¹¹¹ Zugleich steht es unter ausgesprochen komplizierten problemgeschichtlichen Voraussetzungen,¹¹² die hier aber

Treiber 2005, 105122. Dieses Konzept wurde von Usener aber nicht entfaltet. Über sein Hauptwerk hinausgehende Überlegungen zum infrage stehenden Thema finden sich in seinem 1904 im Archiv für Religionswissenschaft erschienenen Beitrag Mythologie. Allerdings sind seine Ausführungen zum Symbolbegriff darin sehr allgemein und kurz gehalten, vgl. Usener 1904, 24–26. 105 Wundt 1906, 234–364. 106 Wundt 1906, 356. 107 Wundt 1906, 404. 108 Wundt 1906, 197 109 Wundt 1906, 357. 110 Vgl. dazu auch Wundt 1906, 192. 111 Es sei zumindest am Rande auf die im ersten Band der Völkerpsychologie entwickelte Theorie der Gebärdensprache erinnert, vgl. Wundt 1904, 174–191. 112 Hier ist allen voran Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) zu nennen, dessen Symbolverständnis sich anfänglich – das gilt vor allem für sein in 9 Bänden erschienenes Hauptwerk Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–1857) – in den Bahnen der Hegelschen Philosophie bewegte, das sich später aber davon emanzipierte und in einen psychologischen Begründungszusammen-

3.3 Die Anfänge der Religion |

197

nicht weiter verfolgt werden können. Vielmehr gilt es die Frage aufzuwerfen, ob Webers in der Religionssystematik verwendeter Symbolbegriff der Völkerpsychologie Wundts entlehnt sein könnte. Auf der einen Seite kann kein Zweifel daran bestehen, dass Weber von diesem Werk Notiz genommen hat. Mehrfach nimmt er auf dieses Bezug, allerdings ausschließlich in methodologischer Absicht und dezidiert kritisch (vgl. RK, 511. 821).¹¹³ Der tiefsitzenden Skepsis gegenüber der Wundtschen Erkenntnistheorie und Methodologie zum Trotz kann jener nachweislichen Bezugnahmen wegen jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass er im Rahmen seiner Religionsforschung auf das in der Völkerpsychologie umfänglich dokumentierte und verarbeitete religionsgeschichtliche Material Bezug genommen bzw. bestimmte Ausdrücke oder Motive Wundts verarbeitet hat. Das wäre auch für den Symbolbegriff denkbar. Sollte das aber der Fall sein, hätte Weber diesen gegenüber den Wundtschen Vorgaben grundlegend umkodiert. Auch wenn hier keineswegs der Anspruch erhoben werden kann, die damalige Debattenlage um den Zusammenhang von Symboltheorie und Religionsforschung auch nur annäherungsweise vollständig zu überschauen, zeichnet insgesamt sich der Eindruck ab, dass sich Webers Bemerkungen zum Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus nicht einfach auf einen einzelnen Autor zurückführen lassen. Die von ihm angeführten Phänomene sowie die veranschlagte Begrifflichkeit lagen gleichsam in der Luft. Es ist auch durchaus denkbar, dass er hier von eigenen Theorieinteressen geleitet selber Verknüpfungen hergestellt hat, die in der Forschungsliteratur so nicht anzutreffen waren. Darauf deutet allen voran die positive Konnotation des Symbolbegriffs hin, den er mit religiösen Vorstellungen und Praktiken verbindet, die ihren Ort in der Toten- und Ahnenverehrung haben. Während der Symbolbegriff gerade im Hinblick auf derartige Erscheinungsformen vielfach defizitär beschrieben wurde, das gilt im Übrigen auch für Hermann Siebeck (L, 64. 66. 280),¹¹⁴ macht Weber einen fast emphatischen Gebrauch von demselben, dessen Erklärung sich aber der forschungsgeschichtlichen Kontextualisierung hang gerückt wurde. Darauf weist Wundt ausdrücklich hin. Vischers Beitrag zur Ästhetik umfasse den „allmählichen Übergang der metaphysischen in eine psychologische Ästhetik“ (Wundt 1908, 183). Dessen Selbstkorrektur wird in der Kritik meiner Ästhetik (1866) sowie in seinem Aufsatz Der Symbolbegriff (1887) greifbar. Das Symbol wurde von ihm als eine „bleibende, im Wesen der Phantasie allgemein menschlich begründete, psychisch notwendige Form“ (Vischer 1866, 141) konzipiert, wobei er zwischen drei historischen Formen des Symbols differenziert (vgl. Vischer 1866, 138–146). 113 Vgl. dazu 2. 1 sowie 2. 2. 114 Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass sich Siebeck an den Stellen, an denen er auf den Symbolbegriff zu sprechen kommt, ebenfalls auf Friedrich Theodor Vischer bezieht, vgl. L, 642. 2822.

198 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext entzieht. Ohne diesen Sachverhalt an dieser Stelle des näheren gedanklich auszuweisen, sei jedoch bereits darauf hingewiesen, dass mit dem Handlungsbegriff der Schlüssel zum Verständnis dieser unkonventionellen Verwendungsweise des Symbolbegriffs bezeichnet ist. Darauf wird später zurückzukommen sein.¹¹⁵ Nicht weniger auffällig als der zuletzt verhandelte Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus ist Webers Einführung des Charismabegriffs. Schon in seiner Erörterung der Anfänge der Religion operiert er mit diesem Begriff, den es nun auf dem Wege der Einordnung in den zeitgenössischen Debattenzusammenhang zu profilieren gilt.

3.4 Konzeptionen des Charisma Der Begriff des Charisma gehört zu den schillerndsten im Œuvre Webers und fand in unterschiedlichen Theoriekontexten seines Werks Eingang, von der Religionssoziologie bis hin zum Vortrag Politik als Beruf. Den weitesten Raum schenkte Weber ihm jedoch innerhalb der Herrschaftssoziologie, in der er einen eigenen Typus charismatischer Herrschaft konstruiert und die Phänomene der Umbildung und Erhaltung dieses Herrschaftstyps untersucht hat.¹¹⁶ In den Religiösen Gemeinschaften liegt die herausgehobene Bedeutung dieses Begriffs noch nicht so offensichtlich zutage. Dementsprechend wird er dort eher en pessant eingeführt (vgl. RG, 122). Gleichwohl spricht – wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird – einiges dafür, dass der Charismabegriff zu den heimlichen Leitbegriffen dieses Werks gehört und das weniger in herrschaftssoziologischer Perspektive. Vielmehr ist er für Webers Religionsverständnis von herausragender Bedeutung.¹¹⁷ Zur Verwendung des Charismabegriffs wurde Weber, wie er selbst ausführt, durch zwei Autoren angeregt: durch den Rechtswissenschaftler Rudolph Sohm (1841–1917) und den Kirchenhistoriker Karl Holl. In dem herrschaftssoziologischen Teil von Wirtschaft und Gesellschaft heißt es: „Der Begriff des ‚Charisma‘ (‚Gnadengabe‘) ist altchristlicher Terminologie entnommen. Für die christliche Hierokratie hat zuerst Rudolf Sohms Kirchenrecht der Sache, wenn auch nicht der Terminologie nach den Begriff, andre (z. B. Holl in ‚Enthusiasmus und Bußgewalt‘ [1898]) gewisse

115 Vgl. 3. 5. 1 sowie 4. 2. 1. 116 Vgl. zuletzt Breuer 2011. Vgl. auch Kroll 2001, 47ff; Hatscher 2000; Schluchter 1991b, 535ff. 117 Erwähnung findet der Charismabegriff bereits in der 1904/1905 erschienenen Erstauflage der Protestantischen Ethik (vgl. PE, 334. 419) – allerdings in einem ganz unspezifischen Sinne – und ebenso im Deponatsmanuskript Ethik und Mythik/rituelle Absonderung, vgl. J I, 191f.

3.4 Konzeptionen des Charisma |

199

wichtige Konsequenzen davon verdeutlicht. Er ist also nichts Neues.“¹¹⁸ (Soz, 454) Dieser Formulierung wegen besitzen Sohm und Holl innerhalb der Forschungsliteratur bezogen auf die Frage nach den Wurzeln von Webers Charismabegriff einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Gleichwohl herrscht keineswegs Einigkeit darüber, wie der jeweilige Einfluss beider Autoren zu gewichten ist.¹¹⁹ Während sich die einen auf Sohm konzentrieren,¹²⁰ legen die anderen das Augenmerk auf Holl.¹²¹ Beide gegeneinander auszuspielen, ist jedoch keineswegs angebracht, nicht zuletzt deswegen, weil weder Sohms noch Holls Beitrag zur Bestimmung

118 An anderer Stelle heißt es, Sohm habe den „Typus charismatischer Herrschaft . . . glänzend entwickelt“ (H, 735) und die „soziologische Eigenart dieser Kategorie von Gewaltstruktur gedanklich konsequent und daher notwendigerweise, rein historisch betrachtet, einseitig herausgearbeitet“ (H, 462). Weber bezieht sich im obigen Zitat einerseits auf Sohms Kirchenrecht. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen (1892) und andererseits auf Holls Habilitationsschrift. Die Kenntnis der Letzteren legt bereits Webers vermutlich 1912/1913 verfertigte herrschaftssoziologische Untersuchung Staat und Hierokratie nahe, in der er der Geschichte des Mönchtums insgesamt eine grundlegende Bedeutung für die Herausbildung einer asketischen Lebensführung bescheinigt – die Protestantismusstudie beschränkte sich hingegen auf das westliche Mönchtum. Eine Vielzahl von Motiven, die Weber in jener Untersuchung verwendet, weisen auf die Hollsche Studie zurück. Auf welchem Wege er auf diese gestoßen wurde, liegt jedoch im Dunkeln. Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf die Sohmsche Arbeit. Allerdings ist es in diesem Fall durchaus denkbar, dass Weber durch Troeltschs Soziallehren darauf aufmerksam wurde, die zwischen 1908–1910 im Archiv für Sozialwissenschaft erschienen waren und deren Entstehung und Erscheinen er intensiv begleitet hat. Der Theologe geht in seiner Untersuchung verschiedentlich auf Sohm ein und lässt in seinen Bezugnahmen ansatzweise das Modell eines Sozialtyps erkennen, der charismatisch begründet ist und damit einer anderen Organisationslogik gehorcht als auf Verrechtlichung beruhende Vergemeinschaftungsformen. Dieser Befund könnte für Weber zum Anlass geworden sein, sich ausführlicher mit Sohm zu befassen. In der Forschungsliteratur wurde behauptet, dass Weber die Bedeutung des Sohmschen Charismabegriffs in den Jahren 1909/1910 entdeckt habe, in denen Adolf von Harnack und der Kirchenrechtler eine Kontroverse über die Entstehung des Katholizismus führten, vgl. Kroll 2001, 54; Hanke 2005, 39–41. Allerdings werden dafür keine belastbaren Belege angegeben. Zudem müsste bei dieser Vermutung in Rechnung gestellt werden, dass Harnack bereits in der dritten Auflage seines Lehrbuchs der Dogmengeschichte (1894) ausführlich an Sohms Position Kritik übte und die – wie Kroll formuliert – Charisma-Debatte somit seit mindestens 15 Jahren schwelte. Das aber ist nicht erfolgt. 119 Zu den wenigen davon abweichenden Interpretationen gehört die Friedrich Tenbrucks, der ausschließlich Eduard Meyer ins Spiel bringt. Er versucht, dessen Anthropologie (1907) und MormonenStudie (1912) als Interpretationsfolie zu plausibilisieren (Tenbruck 1988, 360ff). Meyer sei insofern der entscheidende Referenzautor für Webers Charismabegriff gewesen, als er – im Gegensatz zu Sohm und Holl – Webers universalgeschichtliches Interesse bedienen konnte, vgl. Tenbruck 1988, 363. Die Wirkung, die der George-Kreis auf Webers Charismabegriff hatte, kann hier nicht eigens erörtert werden, vgl. dazu Hanke 2005, 40f; Karlauf 2007, 396ff. 120 Vgl. Kroll 2001, 48ff; Hanke 2005, 37ff; Tanner 2005, 33ff. 121 Vgl. etwa Otto 2005b, 5786.

200 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext des Charismabegriffs Originalität für sich beanspruchen konnten. Vielmehr waren sie – und das wurde innerhalb der Forschung bislang unzureichend gewürdigt – ihrerseits Teil einer breiteren Debatte, in deren Mittelpunkt nicht jener Begriff, sondern der des Enthusiasmus stand und zu deren zentralen Impulsgebern Adolf von Harnack (1851–1930) gehörte. Das aber bedeutet zugleich, dass auch der von Weber verwendete Charismabegriff in den Umkreis dieser Diskussion fällt, was es erforderlich macht, sie in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen (3. 4. 1). Dabei werden wir in einem ersten Schritt auf Harnacks Position eingehen (a) und in einem zweiten auf die von Weber selbst ins Spiel gebrachten Autoren (b). Erst nachdem dieses Feld sondiert sein wird, ist der Charismabegriff der Religiösen Gemeinschaften in den Blick zu nehmen (3. 4. 2).

3.4.1 Die Enthusiasmus- und Charismadebatte um 1900 a) Harnacks Verwendung des Begriffs Enthusiasmus steht im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der Didache im Jahre 1873 und ihrer 10 Jahre später erfolgten Veröffentlichung.¹²² Durch diesen Fund war seiner Ansicht nach die Möglichkeit an die Hand gegeben, das Verständnis der Organisationsstrukturen christlicher Gemeinden im Übergang vom Urchristentum zum sogenannten Frühkatholizismus neu zu überdenken.¹²³ In seinem Kommentar zur Apostellehre aus dem Jahre 1884 merkt er an, dass in der bisherigen Forschung zu den Anfängen der kirchlichen Verfassung vorwiegend die „Ämter der Episkopen und Diakonen sowie der Presbyter in der Kirche“ Berücksichtigung gefunden hätten und die Bedeutung, die den „Aposteln . . . , Propheten und Lehrern“ (LzA, 93) zukommt, vernachlässigt worden sei. Im Zuge der Näherbestimmung dieser drei „Berufe“ führt Harnack die Begriffe des „Enthusiasmus“ und „Charisma“ ein. Während der eine im griechischen Sprachraum für das Empfangen göttlicher Eingebung, Begeisterung, Verzückung steht, bezeichnet das Charisma „ein göttliches Mandat“ (LzA, 96). In welchem Verhältnis beide Begriffe zueinander stehen, führt Harnack nicht aus. Es wäre aber durchaus denkbar, dass er den Enthusiasmus als eine Erscheinung verstanden wissen will, die innerhalb der antiken Religionsgeschichte insgesamt weite Verbreitung gefunden hatte. Das Charisma könnte hingegen als ein Fall des En-

122 Vgl. Tuilier 1981, 731. 123 Harnack baute dabei zugleich auf Überlegungen des britischen Theologen Edwin Hatch (1835–1899) auf, die dieser in seinen 1880 in Oxford gehaltenen und ein Jahr später publizierten Vorlesungen On the Organization of the Early Christian Churches (1881) angestellt hatte. Die zweite, durchgesehene Auflage (1882) wurde von Harnack übersetzt und erschien 1883 unter dem Titel Die Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen im Alterthum.

3.4 Konzeptionen des Charisma |

201

thusiasmus begriffen werden, und zwar als der spezifisch christliche, dem es sich nun zuzuwenden gilt. Wenn Harnack das Charisma als ein göttliches Mandat bestimmt, so darf dieser Begriff nicht im positiv-rechtlichen Sinne missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine durch Gott erfolgte Beauftragung, die immer nur einen einzelnen Menschen betrifft. In seiner ursprünglichen Bedeutung stellt das Charisma eine personengebundene Größe dar (vgl. LzA, 103). War Gemeindemitgliedern diese Gnadengabe zuteil geworden, mussten sie diese in ihrem Auftreten bewähren (vgl. LzA, 137). Wenn ihnen das gelang, konnten sie „unter Umständen eine schrankenlose Herrschaft über die Gemeinden ausüben“ (LzA, 146), womit Harnack einen herrschaftssoziologischen Aspekt des Charismabegriffs geltend macht. Für das Verständnis des Didachekommentars ist sodann die bereits angedeutete Abgrenzung des Charismabegriffs von dem des Amts entscheidend. Die geistbegabten Propheten, Lehrer, Apostel sowie Lektoren dürfen nicht als Amtsträger und damit als Inhaber administrativer und jurisdiktioneller Funktionen missverstanden werden. Die Pointe der Zuordnung jener vier Berufe zum Charismabegriff besteht vielmehr darin, die urchristliche Gemeinde als eine Organisationsgestalt sui generis verständlich zu machen. Das Christentum muss dem Dogmenhistoriker zufolge in seiner ursprünglichen Gestalt als eine charismatisch und nicht positiv-rechtlich organisierte Gemeinschaft begriffen werden. Erst im Übergang vom Urchristentum zum Frühkatholizismus ist ein Zurücktreten des Enthusiasmus zu beobachten, das mit dem Aufstieg des Episkopats koinzidiert: „Sobald sich übrigens die episkopale Organisation durchsetzte – auch noch bevor der Bischof die Qualität des Priesters erhalten hatte –, war bereits die Bedeutung aller Inhaber von Charismen in der Gemeinde gebrochen.“¹²⁴ An die Stelle eines geistlich-religiösen Organisationstyps der Gemeindebildung tritt ein administrativ-jurisdiktioneller (vgl. LzA, 147ff).¹²⁵ Damit fallen jedoch die Aufgaben der Charismaträger keineswegs fort. Vielmehr werden sie vom Episkopat übernommen und zugleich wird es von der Gemeinde als Inhaber dieser Aufgaben anerkannt, was den Weg zur frühkatholischen Kirche ebnete (vgl. LzA, 153).¹²⁶

124 Harnack 1886b, 8058. „Die Umwandlung der Bischöfe und Presbyter in einen Priesterstand, der hoch über der Gemeinde stand, hat allen Charismen ein Ende gebracht und die Inhaber derselben – sie wurden nunmehr nur noch nach ihrem Verhältnisse zu dem Priesterthum gewerthet – auf eine tiefe Stufe herabgedrückt.“ (Harnack 1886b, 80). 125 Harnack unterscheidet im Übergang vom Urchristentum zur frühkatholischen Kirche insgesamt vier Organisationstypen. Neben den bereits erwähnten führt er noch den patriachalischen (die Ältesten) sowie den aristokratischen Typus (die Märtyrer und die Enthaltsamen) an. 126 An anderer Stelle heißt es ähnlich, „dass die bedeutungsvollen Prädikate der der Gesammtkirche geschenkten ™goÔmenoi – der Apostel, Propheten und Lehrer – im Laufe der Zeit, als jene

202 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Diesen Weg verfolgt Harnack in seinem 1886 erschienenen Lehrbuch der Dogmengeschichte weiter. Er führt darin aus, dass der Enthusiasmus in den heidenchristlichen Gemeinden des ersten Jahrhunderts als Organisationsprinzip fest verankert war. Durch den Aufstieg des Episkopats ist es aber mehr und mehr zum Verschwinden gebracht worden.¹²⁷ Diesen Prozess bezeichnet er als „Verweltlichung“,¹²⁸ was für ihn der wesentliche Grund für die „Unterdrückung des urchristlichen Enthusiasmus“¹²⁹ ist. Der Verweltlichungstendenz der Gemeinden entspricht schließlich die „Etablierung eines grossen kirchlichen Verbandes, der . . . auf der festen Grundlage eines ‚apostolischen‘ Glaubensgesetzes, einer ‚apostolischen‘ Schriftensammlung – und schließlich auch – einer ‚apostolischen‘ Organisation ruhte“, kurz der „katholische[n] Kirche“.¹³⁰ Die Forschungen Harnacks zur Kirchenverfassung im Übergang vom Urchristentum zum Frühkatholizismus haben die Stoffauswahl und -organisation in der Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung für den Bereich der Alten Kirche maßgeblich beeinflusst.¹³¹ Das sei exemplarisch an der aus der Feder Karl Müllers (1852–1940) stammenden Kirchengeschichte (1892) kurz erläutert. Auch für ihn gehört die „enthusiastische Art“¹³² zum spezifischen Gepräge der urchristlichen Gemeinschaftsform, das er in offensichtlicher Entsprechung zu Harnacks Abhandlungen entfaltet.¹³³ Seine Ausführungen gehen von der Annahme aus, dass „das enthusiastische Zeitalter der Kirche“¹³⁴ zu Ende ging, weil sich ein neues Verständnis des Bischofsamts an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert herausbildete. Das Episkopat trat aus dem Schatten der Propheten, Apostel und Lehrer heraus, was mit einer massiven Aufwertung der Amtsvorstellung einherging. Diese Prozesse wirkten sich unmittelbar auf das Charismaverständnis aus, dessen ursprüngliche Bedeutung sich unter diesen Bedingungen nicht mehr plausibilisieren ließ. Das Charisma wird nun nicht-personal verstanden. Vielmehr handelt es sich um ein Ausstattungsmerkmal des Amtes: „Der Geist wirkt nicht mehr in freier Weise in jedermann, sondern nur im Amt und durch das Amt. Dieses Amt ist künftig nicht mehr das Organ, bezw. die Spitze, sondern die Grundlage der Gemeinde, die feste

ausstarben oder ihre Bedeutung verloren, auf sie [sc. die Episkopen] übertragen worden sind.“ (LzA, 145f). 127 Vgl. Harnack 1886c, 97. 243. 128 Harnack 1886c, 256. 129 Harnack 1886c, 243. 130 Harnack 1886c, 243. 131 Vgl. dazu auch Harnack 1908, 508–546. 132 Müller 1921, 34. 133 Vgl. Müller 1921, 42ff. 134 Müller 1921, 117.

3.4 Konzeptionen des Charisma |

203

Bindung des Geistes an die apostolische Institution.“¹³⁵ Damit aber degeneriert die Kirche von einer „Heilsgemeinschaft“ zu einer „Heilsanstalt“,¹³⁶ womit sich Müller wiederum der Terminologie Harnacks bedient.¹³⁷ Und schließlich sei an dieser Stelle noch auf Friedrich Loofs Leifaden zum Studium der Dogmengeschichte (1906) verwiesen. In diesem Adolf Harnack gewidmeten Werk operiert er nicht allein mit dem Begriff des urchristlichen Enthusiasmus, sondern weist seinen Kollegen explizit als den Urheber der Enthusiasmuskonzeption aus.¹³⁸ In dieser Diskussion eine Vorreiterrolle gespielt zu haben, war auch Harnack selbst überzeugt. Darüber gibt seine Gedächtnisrede aus Anlass des Todes Karl Holls im Jahre 1926 Auskunft. Harnack kommt darin auf die Habilitationsschrift seines verstorbenen Kollegen zu sprechen und nimmt für sich in Anspruch, den Begriff des Enthusiasmus „in die Geschichte der Würdigung des alten Christentums eingeführt“ zu haben.¹³⁹ Doch nicht allein gegenüber Holl macht Harnack den eigenen Einfluss geltend. Gleiches lässt er auch gegenüber Sohm verlauten: „Die Genesis der Sohmschen Theorie anlangend, so hat sie eine ihrer Wurzeln in meinen älteren Arbeiten über das Urchristentum und die Entstehung der altkatholischen Kirche (namentlich in meiner Dogmengeschichte und in dem Kommentar zur ‚Apostellehre‘).“¹⁴⁰ Vor diesem Hintergrund betrachtet, darf Harnack als der Urheber 135 Müller 1921, 117f. „Die lebendige Wirksamkeit des Geistes in der Gemeinde ist also mechanisiert zur Amtsausstattung, die von der Person völlig unabhängig ist, dass der Bischof den Geistesbesitz und damit seine Amtsbefugnis nicht einmal dann verlieren soll, wenn er in Todsünden fällt.“ (Müller 1921, 117). 136 Müller 1921, 117. Müllers Kirchengeschichte zeichnet sich zudem durch eine Entschränkung der Enthusiasmuskonzeption aus, indem er diese auch für das Hochmittelalter sowie für das 16. und 17. Jahrhundert geltend macht. „Apokalyptik wie Enthusiasmus sind Stücke der ältesten kirchlichen Überlieferung, die nach jahrhundertelangem Schlummer jetzt, Ende des 12. Jhs., wieder eine geschichtliche Rolle zu spielen beginnen“ (Müller 1921, 578). Teilen der hochmittelalterlichen Mystik bescheinigt Müller einen „pantheistisch-enthusiastischen“ Charakter (Müller 1921, 577). Neben dem Täufertum legt Müller ein besonderes Augenmerk auf das Quäkertum, in dem sich der „urchristliche[] Enthusiasmus“ (Müller 1919, 489) vollendet habe. Wenn Weber in seiner Protestantismusstudie den „pneumatischen Charakter“ (PE, 353) der Religiosität des Täufertums sowie dessen an der „Urgemeinde“ ausgerichtete Organisation, die aus „persönlich von Gott Erweckten und Berufenen“ (PE, 351) besteht, anführt, knüpft er ebenso an Müller an wie im Hinblick auf den „enthusiastische[n] Reformeifer“ (PE, 358) der Täuferbewegung in Münster. Insgesamt erachtet er es als das Verdienst Müllers, „der in ihrer Art großartigen, wennschon äußerlich unscheinbaren, Täuferbewegung die verdiente Stellung innerhalb der Darstellung eingeräumt zu haben.“ (PE, 346123) Zu Müllers Darstellung der Täuferbewegung vgl. Müller 1902, 309–317. 327–335. 389–401. 137 Vgl. Harnack 1886c, 367. 138 Vgl. Loofs 1906, 89. 139 Harnack 1966, 88. Für den Hinweis auf diese Rede danke ich Claus-Dieter Osthövener. 140 Harnack 1910, 121.

204 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext der Enthusiasmus-Debatte und damit zugleich der Charismadiskussion um 1900 angesehen werden.¹⁴¹ Damit kommen wir zu Rudolph Sohm und Karl Holl. b) Die Rekonstruktion des Urchristentums sowie der frühkatholischen Kirche, die Sohm in seinen Geschichtlichen Grundlagen des Kirchenrechts (1892) vorgelegt hat, baut auf der einen Seite auf den Interpretationsmaximen auf, die Harnack für die urchristliche und die frühkatholische Gemeindeorganisation veranschlagt hat. Auf der anderen Seite setzt er einen eigenen Akzent, in dem er die Differenz zwischen beiden Perioden der frühen Christentumsgeschichte mit der Alternative von Charisma und Recht gleichsetzt. Diese Zuspitzung hat signifikante Verschiebungen in der Analyse jener Zeit zur Folge. Im ersten, dem Urchristentum gewidmeten Kapitel seiner Studie setzt sich Sohm mit der Organisationsstruktur der urchristlichen Ekklesia auseinander. Eine seiner zentralen Thesen lautet, dass es sich um eine „nicht rechtliche, sondern charismatische Organisation“ (KR, 26) handelt. Die Vergemeinschaftung des Urchristentums basiert allein auf der „Verteilung der Gnadengaben (Charismen)“ (KR, 26). Daher leitet sich auch der Autoritätsanspruch aus dieser Gnadengabe ab (vgl. KR, 29. 41. 47 u. ö.), der wiederum mit der freiwilligen „Anerkennung“ und dem „Gehorsam seitens der übrigen“¹⁴² (KR, 27) einhergeht. Diesen Zusammenhang von autoritativem Charisma und freiheitlicher Anerkennung desselben wendet Sohm auf sämtliche Organisationsbereiche des Urchristentums an. An erster Stelle steht die „Lehrgabe“ bzw. stehen die „Lehrbegabten“, zu denen die Apostel, Propheten und Lehrer gehörten (vgl. KR, 28ff). Das Charisma ist dabei immer an eine einzelne Person gebunden und wird als ihr von Gott verliehen vorgestellt. „Die Leitung der Ekklesia kommt von oben her, durch das Mittel der von Gott begabten Einzelpersönlichkeit. Die Regierung der Christenheit ist von vornherein autoritärer, monarchischer Natur, und die Gewalt des Lehramts ist darum so bedeutend, weil sie keine rechtliche, disciplinare, vereinsmäßige, wohl aber die höhere moralische Gewalt bedeutet, welche im Namen Gottes Gehorsam fordert.“ (KR, 54) Obwohl der Gewaltbegriff vergleichsweise schwach gefasst ist, zeichnet Sohm – ähnlich wie Harnack – ein herrschaftssoziologisches Moment in die Struktur urchristlicher Gemeinden ein. Allerdings fasst er den Kirchenrechtsbegriff von vornherein enger als Harnack. Im Gegensatz zu letzterem und vor allem zu Karl Müller ist bei Sohm der Gedanke einer Umformung des Charisma in eine amtliche Kompetenz nicht

141 Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass es auch um 1800 eine breite Diskussion um den Enthusiasmusbegriff gegeben hat. Exemplarisch sei auf die Tübinger Arbeiten Schellings verwiesen, u. a. Schelling 2013, 15–28. 142 „Die charismatische Organisation hat für ihr Thätigwerden die freie Anerkennung des Charismas (in den Handelnden) von seiten der übrigen Gemeindeglieder zur Voraussetzung.“ (KR, 27).

3.4 Konzeptionen des Charisma |

205

denkbar. Denn die Annahme einer Übertragung des Charisma von der Person auf das Amt würde den Grundgedanken seiner Arbeit konterkarieren, dass das „Wesen des Kirchenrechts . . . mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch“¹⁴³ (KR, 700) stehe. Karl Holls Habilitationsschrift Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen (1898) nimmt innerhalb der Enthusiasmusdebatte insofern eine herausragende Stellung ein, als sie aufzeigt, dass die Herausbildung fester Formen einer Verfassung in der Kirche keineswegs zum Verschwinden des Gegensatzes von „Amt und Geist“¹⁴⁴ (EB, 3) geführt hat. Vielmehr wurde der Enthusiasmus durch das Mönchtum neu entfacht und wirkte auf diesem Wege weit in die Kirche hinein. Damit nimmt er eine Position ein, die sich dezidiert von derjenigen Sohms abgrenzt.¹⁴⁵ Ähnlich wie im oben skizzierten Falle Müllers bauen auch Holls Überlegungen vielmehr auf denjenigen Harnacks auf, nicht zuletzt deswegen, weil seine Grundthese im Didache-Kommentar des Dogmenhistorikers präfiguriert ist. Harnack hatte darin angedeutet, dass das Mönchtum das Erbe des Apostolats angetreten habe.¹⁴⁶ Diese Abhängigkeit stellt Holl 23 Jahre später noch einmal ausdrücklich heraus. In seinem Beitrag zur paulinischen Ekklesiologie heißt es: „Es war ohne Frage ein wichtiger Fortschritt – Hrn. v. Harnack kommt dabei vor Sohm das entscheidende Verdienst zu –, als die Bedeutung des Charismatischen entdeckt und dessen Tragweite auch für die Ordnung des Gemeindelebens hervorgehoben wurde.“¹⁴⁷ Holls Analyse des griechischen Mönchtums identifiziert zwei Aufbaumomente eines mönchischen Ideals. Dessen erstes Kennzeichen ist auf die hohen sittlichen Standards bezogen (vgl. EB, 146–148), die sich nicht auf einzelne Teilbereiche der Lebensführung beschränken lassen, sondern vielmehr die ganze Persönlichkeit betreffen: „es ist ein geschlossenes Ganze, in dem ein Zug den andern fordert;

143 In der dritten Auflage seiner Dogmengeschichte unterzieht Harnack trotz aller Anerkennung Sohms Kirchenrecht einer massiven Kritik. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dessen Studie „im Schatten und im Banne des Katholicismus gebildet wurde“ und nennt dessen These eine „‚wiedertäuferische‘“ (Harnack 1894, 304f1). 144 Eine Zusammenfassung seiner Habilitationsschrift findet sich in dem ebenfalls 1898 erschienenen Aufsatz Ueber das griechische Mönchtum. Sodann verfasst Holl in der dritten Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche den Artikel zu Symeon dem neuen Theologen, vgl. Holl 1928e, 270–282; Holl 1907, 215–219. 145 Sohm wird von ihm später noch einmal massiv kritisiert, vgl. Holl 1928b, 44. 146 „Somit ist das Mönchthum doch nicht ohne jeden Zusammenhalt mit der Urzeit der Kirche, und das Urtheil, welches bereits im 4. Jahrhundert die Väter gefällt haben, dass das mönchische Leben das apostolische sei (im Sinne von Mt. 10 und Did. XI), entbehrt doch nicht ganz jeder historischen Begründung resp. Vermittlung. Doch dieser Entwicklungsprocess soll hier nur angedeutet sein.“ (LzA, 15686). 147 Holl 1928b, 44.

206 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext nicht eine Reihe von einzelnen Tugenden und Kraftleistungen wird hier verlangt, sondern die ‚ret , die Reinigung des Herzens, die Heiligung der ganzen Persönlichkeit.“ (EB, 146) Für die Heiligung erforderlich ist eine asketische Haltung, die der Mönch jedoch nicht aus sich allein heraus zu erreichen vermag. Dazu bedarf er vielmehr der Gabe des Charisma, womit das zweite, spezifisch religiöse Kennzeichen des monastischen Ideals in den Blick kommt (vgl. EB, 148–152). „Charismen sind nicht bloss Blüten, die sich beim Mönch entwickeln können, sondern Kräfte, die er zur Erreichung seines Ziels notwendig braucht.“¹⁴⁸ (EB, 150) Genau an diesem Punkt sieht Holl die entscheidende Voraussetzung dafür, dass es zu einer Wiedererweckung des „Enthusiasmus in der Kirche“ (EB, 153) kommen konnte, die von ihm anhand der Geschichte des griechischen Mönchtums ausgehend von der vita antonii über Basileios von Caesarea (ca. 330–379) bis hin zu Symeon dem neuen Theologen (ca. 949–1022) dargelegt wird. Letzterem bescheinigt Holl eine herausragende Bedeutung: „Vielleicht ist seine Religiosität das höchste von persönlichem Christentum, was überhaupt auf dem Boden der griechischen Kirche erreicht werden kann.“¹⁴⁹ Durch die charismatische Begabung des griechischen Mönchtums wurde es nicht wie im ‚Westen‘ Organ der Amtskirche, sondern war ihr gegenüber selbständig geblieben (vgl. EB, 190). Diese Selbständigkeit lässt sich in Holls Darstellung am deutlichsten anhand seiner Ausführungen zu der in der Alten Kirche aufbrechenden Frage nach der Binde- und Lösegewalt ablesen. Diese Frage trat auf den Plan, weil das Bußwesen vom Bischof auf ein dafür eigens eingerichtetes Amt übertragen wurde (vgl. EB, 252).¹⁵⁰ Das führte zu einer einseitigen Berücksichtigung lediglich der schweren Sünden, was aber aus dem Blickwinkel des Mönchtums eine nicht akzeptable Aufweichung des Sündenverständnisses zeitigte. Denn es war der Überzeugung, dass jede Sünde eine Todsünde ist. Um dieses schärfere Sündenbewusstsein am Leben zu erhalten, setzte das Mönchtum die Einführung einer auf dem Beichtinstitut ruhenden Bußdisziplin durch. Das aber bedeutete zugleich, dass es auch außerhalb der Klostermauern von der Binde- und Lösegewalt 148 Mit dem willenstheoretisch konnotierten Kraftbegriff wird Holl auch noch in seiner Lutherdeutung operieren. Es wäre überhaupt eine reizvolle Aufgabe, beide Bereiche seines Schaffens einem Vergleich zu unterziehen. 149 Holl 1907, 408. 150 Im geschichtlichen Rückblick auf die Ursprünge der Binde- und Lösegewaltvorstellung des Mönchtums ist Holls Auffassung nach Origenes (ca. 185–ca. 254) eine besondere Bedeutung beizumessen, insofern hier der Konflikt zwischen amtskirchlich verwalteter Binde- und Lösegewalt und deren mönchischer, auf dem Charisma beruhender Praxis präfiguriert ist. Origenes untergräbt „die Auktorität des Amts, indem er die persönliche Ausrüstung mit dem Geist für eine giltige Ausübung der Schlüsselgewalt fordert und er beschränkt die Allmacht der offiziellen Repräsentanten der Kirche, indem er eine freie seelsorgerliche Thätigkeit erfahrener Christen befürwortet.“ (EB, 238).

3.4 Konzeptionen des Charisma |

207

Gebrauch machte, was es ursprünglich gar nicht intendiert hatte. Denn es lag nicht in seinem primären Interesse, nach außen zu wirken: „Denn der Mönch sucht in erster Linie sein eigenes Seelenheil. Wie es andere treiben wollen, überlässt er ihnen selbst.“ (EB, 153) Wenn sich das Mönchtum nun aber durch besagte äußere Umstände dazu veranlasst sah, in der Welt in Erscheinung zu treten, so ist darin kein Widerspruch zum eigenen Ethos zu sehen. Vielmehr sah es sich dazu autorisiert, was wiederum auf sein Selbstverständnis verweist, charismatisch begabt zu sein: „denn das xˆrisma hat unbedingte Befugnis.“¹⁵¹ (EB, 314) Auf diesem Wege wurde aber – wie Holl pointiert formuliert – der „Mönch auf dem Gebiet der Seelenleitung der Rivale des Priesters“. (EB, 311) Zusammenfassend betrachtet bewegen sich sowohl Sohms Analysen zur urchristlichen Gemeindeorganisation als auch Holls Ausführungen zum Mönchtum der Ostkirche unverkennbar in den gedanklichen Bahnen Harnacks, unbeschadet der Tatsache, dass beide Autoren je unterschiedliche Akzentsetzungen vorgenommen haben. Das aber bedeutet zugleich, dass sich damit der Horizont enorm erweitert, vor dem Webers Charismakonzeption begriffen werden muss. Die Überlegungen, die Weber zum Charismabegriff anstellt, sind Teil einer Debatte, die innerhalb der protestantischen Theologie schon seit einigen Jahrzehnten geführt und die auch von anderen Disziplinen aufgegriffen wurde, was nicht zuletzt Sohms Abhandlung untermauert. Daher greift es zu kurz, wenn es in der Einleitung zur Neuedition von Webers Herrschaftssoziologie heißt, dass sich bei Sohm der „neuartige Gedanke, daß die Ämterorganisation der frühen Kirche auf dem Charisma beruht habe“,¹⁵² finde. Am Ende mutet es aber doch rätselhaft an, dass Weber bezogen auf die Herkunft seines Charismabegriffs allein auf Sohm und Holl, nicht aber auf Harnack verweist. Denn keiner, der an der Diskussion um den urchristlichen Enthusiasmus ernsthaft beteiligt war, konnte die grundlegende Bedeutung, die Harnack in die-

151 Von besonderer Brisanz sind die daraus resultierenden herrschaftssoziologischen Konsequenzen. „Dasjenige Recht, das dem Priestertum erst die wirkliche Herrschaft über die Gemeinde giebt, das Recht zu binden und zu lösen, hat das Mönchtum für sich in Anspruch nehmen können.“ (EB, 223f) Die sich bereits in der Vorstellung der Gewalt des Bindens und Lösens artikulierende Machtstellung der Mönche beruht auf ihrem Charisma, durch das sie „als Verwalter höherer Kräfte“ (EB, 204) galten. Auch für Holl korrespondiert die „Auktorität“ (EB, 322. 331) des Charisma mit einer Anerkennungsdimension – dem „Glauben an das Charisma der Mönche“ (EB, 224) auf Seiten der Gemeinde. Die Autorität des mönchischen Charisma wird im Glauben anerkannt. 152 Hanke 2005, 38. Abgesehen davon verwischt diese Formulierung die – wie wir gesehen haben – für Sohm zentrale Differenz zwischen dem urchristlichen Organisationsmodell und dem der frühkatholischen Kirche. Das urchristliche Charisma ist für Sohm gerade kein Amtscharisma.

208 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext sem Zusammenhang zukommt, übersehen haben. Und das gilt auch für Weber.¹⁵³ Auf die Frage, warum er dennoch davon absieht, Harnack diese Bedeutung zuzusprechen, kann hier keine Antwort gegeben werden. Es unterstreicht nur einmal mehr, dass Webers Verhältnis zu Harnack ausgesprochen schwer zu greifen ist und einer eingehenderen Untersuchung bedürfte.¹⁵⁴

3.4.2 Der Charismabegriff der Religiösen Gemeinschaften Im Mittelpunkt des Charismabegriffs, mit dem Weber in seiner systematischen Religionssoziologie operiert, steht der Aspekt des Außeralltäglichen. Das Charisma ist zunächst nichts anderes als eine außeralltägliche „Qualität“ (E, 120).¹⁵⁵ Genau auf diesen Gesichtspunkt werden sich die folgenden Überlegungen konzentrieren. Der Begriff des Außeralltäglichen verweist im weitesten Sinne betrachtet auf Erscheinungen, die eine Unterbrechung des alltäglichen Erfahrungswissens darstellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei diesen Erscheinungen um Personen oder Gegenstände handelt. Weber führt ausdrücklich Naturobjekte, Tiere

153 Ein Hinweis darauf kann einer Passage aus den Religiösen Gemeinschaften entnommen werden. In seiner schillernden Auseinandersetzung mit dem neutestamentlichen Römerbrief stellt Weber heraus, dass nicht Paulus’ Rechtfertigungslehre, sondern „seine Konzeption der Beziehung zwischen Pneuma und Gemeinde und die Art der relativen Anpassung an die Alltagsgegebenheiten der Umwelt damals wirklich rezipiert wurden.“ (RG, 280) Weber versucht auf diesem Wege den seiner Auffassung zufolge von Paulus verkörperten und für das Urchristentum insgesamt signifikanten „Kleinbürgerintellektualismus“ (RG, 280) zu verdeutlichen, von dem er dann bemerkt: „Er hat sich dann noch in der charismatischen Stellung der ‚Lehrer‘ (didˆskaloi) in den alten Christengemeinden (noch in der Didache) fortgesetzt, und Harnack findet im Hebräerbrief ein specimen seiner Auslegungsmethodik. Dann ist er mit dem allmählich immer stärker hervortretenden Monopol der Bischöfe und Presbyter auf die geistliche Leitung der Gemeinden geschwunden“ (RG, 281). Diese Ausführungen greifen unverkennbar Überlegungen Harnacks auf. Es wäre zwar durchaus denkbar, dass Weber sie hier im Anschluss an Sohm referiert. Aber auch wenn das der Fall wäre, eine Auseinandersetzung mit der Sohmschen Untersuchung lässt keinen Zweifel daran, das Harnack der entscheidende Impulsgeber dieser Debatte ist. 154 Die Frage, wie Harnack und Weber die wissenschaftliche Leistung des jeweils anderen beurteilten und ob bzw. inwiefern sie einander beeinflussten, harrt nach wie vor einer genaueren Erforschung. Auf dieses Forschungsdesiderat weisen auch Claus-Dieter Osthövener und Christian Nottmeier hin, vgl. Osthövener 2002, 297–304; Nottmeier 2004, 10f42. Zu Weber und Harnack vgl. auch Graf 1995, 310f. 155 „Nicht immer nur diese, aber vornehmlich diese außeralltäglichen Kräfte sind es, welchen gesonderte Namen: ‚mana‘, ‚orenda‘, bei den Iraniern: ‚maga‘ (davon: magisch) beigelegt werden, und für die wir hier ein- für allemal den Namen ‚Charisma‘ gebrauchen wollen.“ (RG, 122) Ganz analog heißt in Webers Studien zum Konfuzianismus: „Charisma war überall eine außeralltägliche Kraft (maga, orenda)“ (KT, 174f).

3.4 Konzeptionen des Charisma |

209

und Artefakte auf (vgl. RG, 123f), was durchaus bemerkenswert ist, weil der Charismabegriff bei Weber in erster Linie als eine personengebundene Größe begriffen wird. Die Religionssystematik setzt hingegen mit Überlegungen ein, in denen auch von nicht-personalen Charismaträgern die Rede ist – ein Befund, dem innerhalb der Weberliteratur bislang kaum Beachtung geschenkt wurde und als ein Indiz dafür angesehen werden kann, dass Weber in dieser Schrift überhaupt erst damit beginnt, sich mit dem Charismabegriff zu beschäftigen. Als charismatisch gilt ein Gegenstand oder eine Person dann, wenn sie die Ordnung durchbrechen, die durch das herkömmliche, das Alltagsleben bestimmende Regelwissen repräsentiert wird. Die damit einhergehenden Grenzen der Erklärbarkeit geben den Anstoß zur Verknüpfung derartiger nicht-alltäglicher Vorkommnisse mit der Vorstellung von Kräften, die als hinter ihnen liegend und sie verursachend angesehen werden. In der sich an den Gedanken der außeralltäglichen Kräfte anknüpfenden Abfolge der Geister-, Seelen-, Götter- bzw. Dämonenvorstellungen spiegeln sich unterschiedliche Rationalisierungs- und Abstraktionsstufen jenes Gedankens wider. Wie schon bemerkt wurde, bündelt Weber diese Klimax in der Formulierung: „Wir registrieren hier lediglich als Resultat des Prozesses die Entstehung einerseits der ‚Seele‘, andererseits der ‚Götter‘ und ‚Dämonen‘, ‚übernatürlicher‘ Mächte also, deren Beziehungen zu den Menschen zu ordnen nun das Reich des ‚religiösen‘ Handelns ausmacht.“ (RG, 126f) Hatten wir vorhin auf die handlungstheoretischen Implikationen dieser Formulierung hingewiesen, so ist an dieser Stelle der Begriff des Übernatürlichen herauszuheben, den Weber in den Religiösen Gemeinschaften hier erstmals verwendet. Erstaunlich ist nun, dass dieser Begriff mit dem des Außeralltäglichen verwoben ist. Worin diese Verknüpfung genau besteht bzw. worauf sie beruht, wird von Weber in der Religionssystematik jedoch in gar keiner Weise reflektiert. Und auch die in einer Anmerkung seiner Konfuzianismusstudien versteckte Angabe: „‚Außeralltäglich‘ wandelte sich dann, rationalistisch, in ‚übernatürlich‘ ab“ (KT, 17572), ist für die Aufhellung jener Verbindung nicht sonderlich weiterführend. Der mehrdeutige Ausdruck rationalistisch hebt lediglich auf den schon angesprochenen Abstraktionsprozess der religiösen Vorstellungswelt ab.¹⁵⁶ Wir haben es an dieser Stelle mit einem für das Verständnis von Webers Religionssoziologie insgesamt hochsensiblen Punkt zu tun. Denn durch den Zusammenhang, den Weber zwischen den Begriffen des außeralltäglichen Charisma und des Übernatürlichen stiftet, ist zugleich angezeigt, dass mit ersterem der Übergang in die Sphäre des Religiösen verbunden ist. Auf die zentrale Bedeutung dieses Begriffs weist Weber zwar nicht in den Religiösen Gemeinschaften dafür aber später

156 Vgl. 3. 3. 2.

210 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext in der Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen hin. Dort heißt es dann: „Es gibt keinerlei Scheidung von ‚religiösen‘ und ‚profanen‘ Zuständlichkeiten anders als durch die Außeralltäglichkeit der ersteren.“ (E, 100). Damit aber ist dem Begriff des Charisma als dem Statthalter des Außeralltäglichen die Begründungslast des Religionsbegriffs auferlegt und das bedeutet zugleich, die den Bereich des Religiösen kennzeichnende Transzendenzdimension ausweisen zu müssen. Letztere hätte einen ersten, philologischen Anhaltspunkt in der von Weber kursiv gesetzten Präposition Außer. Doch über die Angabe, dass das Außeralltägliche das Alltägliche übersteigt, geht Weber in diesem Zusammenhang letztlich nicht hinaus, sodass die Frage, wie er das außeralltägliche Charisma mit dem Übernatürlichen zu verbinden weiß, unbeantwortet bleibt. Um zu illustrieren, inwiefern dieser Übergang religionstheoretisch reflektiert werden könnte, sei an dieser Stelle noch einmal auf Maretts Konzept des Präanimismus verwiesen. Dieser unterscheidet – letztlich ganz ähnlich wie Weber – zunächst „between the ordinary and the extraordinary, the work-a-day and the wonderful“.¹⁵⁷ Um den Übergang von der einen Ebene zu der anderen zu begründen, stellt der britische Religionsforscher jedoch eigens religionsphänomenologische und -psychologische Überlegungen an, die genau dem Zweck dienen, den Begriff des Übernatürlichen (supernatural) zu plausibilisieren.¹⁵⁸ Marett verdeutlicht diesen Überschritt vom Alltäglichen zum Außeralltäglichen durch eine Theorie der religiösen Erfahrung bzw. des religiösen Gefühls, die hier jedoch nicht weiter verfolgt werden muss.¹⁵⁹ Derartige Vermittlungsfiguren sucht man bei Weber hingegen vergeblich, worauf bereits Joachim Wach Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts hingewiesen hat. Dieser wirft jenem vor, die Dimension des Irrationalen weitgehend vernachlässigt zu haben, weswegen man auch im Hinblick auf Webers Religionsforschung von einem „Rationalismus“ sprechen müsse.¹⁶⁰

157 Marett 1909, 99. Von Ferne klingt hier auch Troeltschs auf die Wunderfrage gemünzte „Absolutheit der christlichen Sonntagskausalität im Gegensatz zu der Relativität und Mittelbarkeit der außerchristlichen Werktagskausalität“ (Troeltsch 1998, 125) an. 158 Darauf deutet auch Martin Riesebrodt hin, vgl. Riesebrodt 2004, 180. 159 Die religiöse Erfahrung (religious experience) bzw. das religiöse Gefühl (religious feeling) bilden Grundbegriffe von Maretts Religionstheorie. 160 „Verhängnisvoll, wenn auch aus der geistesgeschichtlichen Situation zu verstehen, ist es vor allem gewesen, daß Max Weber, der ein so unschätzbar großes Verdienst um die Sicherstellung der für alle geisteswissenschaftliche Erkenntnis notwendigen relativen Objektivität der Forschung besitzt, es – mindestens in seinen religionssoziologischen Arbeiten – nur diese stehen hier in Frage – versäumt, besser: abgelehnt hat, die religiösen Erscheinungen, die er in den Kreis seiner Betrachtung zog, nach ihrer ‚Innenseite‘ zu betrachten . . . , trotzdem gerade der verstehende Forscher doch eine jede Erscheinung auch auf ihre Selbstaussage und -auffassung hin zu prüfen haben wird, wenn anders er ihr wirklich gerecht werden will.“ (Wach 1931, 75).

3.4 Konzeptionen des Charisma |

211

In diesen Überlegungen kommt Wachs Bedürfnis zum Ausdruck, die Dimension des Irrationalen aufzuwerten. Letzteres spezifiziert er – und hierin deutet sich die gedankliche Abhängigkeit von Dilthey an – durch den Begriff der religiösen Erfahrung bzw. des religiösen Erlebnisses, die für das Verständnis der Religion von primärem Interesse sein müsse, wohingegen die – auch für Weber bestimmende – Frage nach dem Verhältnis von Religion und Welt im Vergleich zu jenem Erleben sekundär sei. Zur Begründung dieser Hierarchie führt Wach die für die Religion signifikante Transzendenzdimension an: Die religiöse Erfahrung ist transzendental – die Beziehung zur Welt macht in keinem Fall ihr Wesen aus. Ja, es charakterisiert gerade das religiöse Erleben, daß in ihm der Mensch aus den irdisch-relevanten, soziologisch-kulturell bedingten Relationen heraustritt. Diese Restriktion wird von Max Weber zweifellos nicht deutlich genug im Auge behalten: die prinzipielle Metabasis, die in dem Übergang von dem religiösen Erlebnis zum ‚Handeln in der Welt‘ liegt, wird nicht scharf genug hervorgehoben.¹⁶¹

Diese von Wach und anderen formulierte Kritik wird Webers Religionsforschung jedoch nicht vollständig gerecht, weil dieser in den verschiedensten Bereichen seines Œuvres nicht müde wird zu betonen, dass die Dimension des Psychischen für den Aufbau der geistigen und der Handlungswelt konstitutiv sei. Dass sie innerhalb seiner kultur- und sozialwissenschaftlichen Analysen gleichwohl keinen sonderlich hohen Stellenwert besitzt, ist seiner Überzeugung geschuldet, sie sei einem methodisch kontrollierten Zugang entzogen. Für den Bereich der Religionssoziologie kommt dieser Gesichtspunkt nirgends so deutlich zur Sprache wie in der Protestantischen Ethik: „Das religiöse Erlebnis als solches ist selbstverständlich irrational wie jedes Erlebnis. In seiner höchsten mystischen Form ist es geradezu das Erlebnis kat âcox˜n und – wie James sehr schön ausgeführt hat – durch seine absolute Inkommunikabilität ausgezeichnet: es hat spezifischen Charakter und tritt als Erkenntnis auf, läßt sich aber nicht adäquat mit den Mitteln unseres Sprachund Begriffsapparates reproduzieren.“¹⁶² (PE, 28648) Es ist also keineswegs so, dass Wachs Kritik auf etwas zielte, was bei Weber unausgesprochen geblieben wäre. Dessen ist sich auch der Leipziger Religionssoziologe durchaus bewusst, denn er bemerkt, dass es Weber „in seinen religionssoziologischen Arbeiten . . . versäumt, besser: abgelehnt hat, die religiösen Erscheinungen, die er in den Kreis seiner Betrachtung zog, nach ihrer ‚Innenseite‘

161 Wach 1931, 77. Zu einem ganz ähnlich gelagerten Ergebnis kommt auch die bei Wach angefertigte Dissertation Die Religionstheorie Max Webers (1935) von Rudolf Lennert, vgl. Lennert 1935, 40f. Wach weist im übrigen bereits auf diese Dissertation hin, vgl. Wach 1931, 831. 162 Weber nimmt an dieser Stelle auf William James’ The varieties of religious experience (1902) Bezug.

212 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext zu betrachten“.¹⁶³ Weber führt das Thema der Religion in den Religiösen Gemeinschaften ein, ohne subjektive Erlebniszustände mit in Betracht zu ziehen und sieht damit von einer gedanklichen Durchdringung mentaler Strukturen des religiösen Bewusstseins ab.¹⁶⁴ Im Horizont klassischer (z. B. Schleiermacher) und zeitgenössischer (z. B. Marett) Religionsbegriffe betrachtet, könnte Webers Vorgehensweise dem Einwand Vorschub leisten, er erschliche den Religionsbegriff. Dementsprechend veranlasst der gedanklich nicht ausgewiesene Übergang vom Begriff des Außeralltäglichen zu dem des Übernatürlichen Günter Dux dazu, Webers Religionsbegriff als das „Resultat einer Abstraktion“¹⁶⁵ zu bezeichnen. Doch klingt in Webers Schweigen noch ein anderer Gesichtspunkt an. Denn dieser gleichsam blinde Fleck ist nicht angemessen bestimmt, reduzierte man ihn auf ein Theoriedefizit. Vielmehr deutet sich an dieser Stelle eine tiefgreifende Zäsur in der Konzeptualisierung des Religiösen an, die im Zeichen eines neuen empirisch ausgerichteten Paradigmas kultur- und vor allem sozialwissenschaftlicher Reflexion steht, das Weber auf den Weg zu bringen beabsichtigte. Damit einher geht die kritische Sichtung, aber auch die Ausklammerung vormaliger wissenschaftlicher Reflexionsmodelle, was sich auch auf das Verständnis der Religion niederschlug. Dieser Gesichtspunkt soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Im Schlussteil (5) dieser Untersuchung wird darauf zurückzukommen sein. Der Fokus ist nun auf die „religiösen Spezialistenrollen“¹⁶⁶ zu richten.

163 Wach 1931, 75. 164 Kippenbergs Urteil, wonach Weber die Religionen studierte, „um dem menschlichen Handeln sowohl das Subjekt als auch dessen vorausgesetzte Deutung der Welt zurückzugeben“ (Kippenberg 2001a, 2), ist zu hinterfragen. Denn die Rede vom Subjekt versteht sich bezogen auf das Webersche Werk alles andere als von selbst. Und das gilt auch, obwohl Weber einen Begriff des subjektiv gemeinten Sinns menschlichen Handelns veranschlagt hat. Hierbei ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass dieser Begriff in die Binnenrationalität der Methodenreflexionen eingefasst ist und damit ein heuristisches Mittel darstellt. Dementsprechend muss auch das in den Soziologischen Grundbegriffen immer wieder anzutreffende Insistieren auf das Individuum und den Einzelnen in seiner methodischen Brechung durchschaut werden. Insofern bietet es sich an, mit dem Weberschüler Joseph Schumpeter von einem methodischen Individualismus zu reden. In einem – für das Verständnis seiner Methodologie insgesamt interessanten – Brief an Robert Liefmann vom 9. März 1920 schreibt Weber pointiert: „Zunächst Ihr Kampf gegen die ‚Soziologie‘, ich verstehe dies schon – will aber bemerken: wenn ich jetzt nun einmal Soziologe geworden bin (laut meiner Anstellungsurkunde!) dann wesentlich deshalb, um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen. Mit anderen Worten: auch Soziologie kann nur durch Ausgehen vom Handeln des oder der, weniger oder vieler Einzelner, strikt ‚individualistisch‘ in der Methode also, betrieben werden.“ (Br II / 10, 946). Vgl. auch Mommsen 1974c, 111f; Osterhammel 1988, 161. 165 Dux 1971, 79. 166 Tyrell 1992, 186.

3.5 Religiöse Spezialisten |

213

3.5 Religiöse Spezialisten Der Übergang vom ersten (Die Entstehung der Religionen) zum zweiten Abschnitt (Zauberer – Priester) der Religionssystematik stellt nicht nur in inhaltlicher Perspektive eine Zäsur dar, sondern – wie zuvor schon angedeutet wurde – ebenso in methodischer Hinsicht.¹⁶⁷ Auf der einen Seite bahnt Weber das Aufbrechen der religiösen Diesseitsausrichtung bzw. deren Ergänzung um die „‚außerweltlichen‘ . . . Ziele“ (RG, 156) an. Auf der anderen Seite erweitert er das sich herausbildende Nebeneinander von innerweltlichen und außerweltlichen Interessen innerhalb der Religion um eine „soziologische Seite“ (RG, 17), die er an der Unterscheidung von Zauberern und Priestern extrapoliert. – Wenn auch materialiter voneinander abweichend ist der Übergang vom dritten (Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu) zum vierten Kapitel (Prophet) in eben dieser Weise angelegt.¹⁶⁸ – Diese drei religiösen Spezialisten, die schon im ersten Teil der Religionssystematik Erwähnung gefunden haben, werden nicht nur deswegen als soziologisch apostrophiert, weil ihnen unterschiedliche Gemeinschaftsformen zugeordnet werden können. Vielmehr repräsentieren sie auch typische Trägerschichten religiöser Prozesse, die mit jenen Gemeinschaftsformen korrespondieren. Es handelt sich also nicht um bestimmte, historisch identifizierbare Individuen der Religionsgeschichte, sondern um idealtypische Begriffe, die sich durch relativ klar umrissene Merkmale auszeichnen. Diese sollen in den folgenden Kapiteln unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Forschungsliteratur herausgearbeitet werden.

3.5.1 Der Begriff des Zauberers Während in der neueren religionswissenschaftlichen Literatur die Begriffe Zauber, Zauberer oder Zauberei kaum noch Verwendung finden,¹⁶⁹ war jener Ausdruck um 1900 innerhalb der Religionsforschung noch weit verbreitet. Die meisten Überblickswerke, in denen die geschichtlichen Frühstadien einer Religion thematisch wurden, behandelten expressis verbis Zauberpraktiken und die darauf spezialisierte Personengruppe. Exemplarisch sei erneut auf den Sammelband Die Religionen

167 Vgl. 3. 2. 168 Im vierten Kapitel wird allerdings nicht nur der Prophet verhandelt, sondern ebenso der „‚Gesetzgeber‘“ (RG, 182), der „Lehrer“ (RG, 186) sowie der „Mystagoge“ (RG, 188). Sie dienen Weber in erster Linie dem Zweck, den Typus des Propheten begrifflich zu schärfen und werden im Folgenden nicht eigens behandelt. 169 Das gilt etwa für die Religion in Geschichte und Gegenwart oder für das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe.

214 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext des Orients sowie auf Saussayes Lehrbuch der Religionsgeschichte verwiesen. Ebenso umfasst die dritte Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche einen Artikel zum Lemma Zauberei.¹⁷⁰ Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass sich in jenen Jahren die Tendenz abzeichnet, den Ausdruck Zauber durch den ohnehin oftmals synonym verwendeten Ausdruck Magie zu ersetzen.¹⁷¹ Dieser Ablösungsprozess lässt sich in der ersten Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart beobachten. Dort sind zwar die Lemmata „Zauberei“, „Zauberer“ etc. aufgeführt, allerdings wird darauf verzichtet, eigene Artikel zu diesen Themen anzufertigen. Statt dessen finden sich Verweise auf andere Beiträge. Hier ist vor allem Edvard Lehmanns Artikel Erscheinungswelt der Religion einschlägig,¹⁷² unter dem auch die Magie verhandelt wird.¹⁷³ Darüber hinaus existieren eigene Artikel zum Lemma Magier sowie Mantik, Magie und Astrologie.¹⁷⁴ Dass dieser Prozess keineswegs geradlinig verlief, lässt sich durch einen Blick in die zweite Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart illustrieren, in der sich – neben denen zur Magie – wiederum Artikel zu den Lemmata Zauberbücher, Zauberer, Zaubermantel, Zaubersprüche und Zauberstab finden, die aus der Feder Hans Alexander Winklers und Alfred Bertholets stammen. Heute hat sich allerdings der Magiebegriff als religionswissenschaftlicher Leitbegriff durchgesetzt. In Webers religionssoziologischen Untersuchungen werden „Magie“ und „Zauberei“ noch weitgehend synonym gebraucht.¹⁷⁵ Das gilt jedoch nicht für die Bezeichnung der Spezialisten magischer Praktiken. An diesem Punkt benutzt er nur selten den Ausdruck Magier. Sein terminus technicus ist vielmehr der des Zauberers, dem das zweite Kapitel der Religionssystematik gewidmet ist. Die folgende Analyse von Webers „Zauberer“ kann sich jedoch nicht allein auf dieses Kapitel konzentrieren. Vielmehr müssen gleichermaßen die zuvor dargelegte „Entwicklung der Religionen“ sowie die daran anschließenden Kapitel berücksichtigt werden, weil auch dort der Zauberer und dessen magische Praktiken sowie Phänomene des Magischen insgesamt verhandelt werden. Als sich Weber mit diesen Themen zu befassen begann, stand ihm eine breite Forschungsliteratur zur Verfügung. Vor allem die Religionsethnologie hatte hier Pionierarbeit geleistet. Wenn es nun aber um die Frage gehen soll, welche Arbeiten Weber in diesem Kontext zurate gezogen hat, so tritt auch hier wiederum

170 171 172 173 174 175

Vgl. Orelli 1908, 611ff. Dementsprechend ist der Artikel Magie, Magier viel umfangreicher, vgl. Zöckler 1903, 55–70. Vgl. Lehmann 1910, 497–577 Vgl. Lehmann 1910, 499–502. Vgl. Greßmann 1913a, 33; Greßmann 1913b, 125–135. So auch Breuer 2001a, 119.

3.5 Religiöse Spezialisten |

215

die Schwierigkeit auf den Plan, dass die Identifikation der Bezugsgrößen ausgesprochen kompliziert ist.¹⁷⁶ Von den vielfältigen Möglichkeiten lässt sich nur eine eindeutig bestimmen: Erwin Rohde, der ausdrücklich Erwähnung findet.¹⁷⁷ Ein andere Spur könnten sodann Webers skizzenhaften Ausführungen zu magischen Phänomenen darstellen, in denen er den Ausdruck „Erscheinungswelt“ (RG, 131) verwendet. Diese Ausdrucksweise könnte auf Edvard Lehmanns zuvor schon erwähnten Artikel Erscheinungswelt der Religion hinweisen,¹⁷⁸ von dem verschiedentlich vermutet wurde, dass er für Webers Religionssoziologie von Bedeutung ist. Die Bestimmung derjenigen Aspekte, die hier in Frage kommen, ist jedoch ausgesprochen schwierig, weswegen dieser Beitrag hier nicht eigens verhandelt, sondern nur am Rande Berücksichtigung finden wird. Klarere Verbindungslinien lassen sich bezogen auf den „Zauberer“ der Religionssystematik – das jedenfalls sollen die nachfolgenden Ausführungen zeigen – zu Eduard Meyers Geschichte des Altertums ziehen, sodass dieser in einem ersten Schritt zu Wort kommen soll (a). Daran anschließend werden Teilaspekte von Rohdes Verständnis magischer Religiosität kurz vorgestellt (b). Schließlich gilt es vor diesem Hintergrund Webers Begriff des Zauberers zu profilieren (c). a) Der zweiten Auflage seiner Geschichte des Altertums stellte Eduard Meyer eine Einleitung voran, die „Elemente der Anthropologie“ erörtert. Darunter versteht er einerseits die „staatliche und soziale Entwicklung“ (A, 3–86) und andererseits die „geistige Entwicklung“ (A, 87–183) des Menschen. Auf diesem Wege kommen die „allgemeinen Formen des menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung“ (A, 3; vgl. auch A, 183. 186) zur Sprache. Die „so wenig selbständig ausgebildet[e]“ (A, 187) Anthropologie nimmt somit den Status von Prolegomena der Geschichtswissenschaft ein. Letztere befasst sich gerade nicht mit allgemeinen Strukturbestimmungen der Menschheitsentwicklung, wozu allen voran „fortwährende Differenzierung und eine fortwährende Anpassung“ (A, 4) gehören, sondern mit Einzelvorgängen des menschlichen Lebens, in denen sich jene allgemeinen anthropologischen Bestimmungen in individuierter Gestalt identifizieren lassen. Diese hier nur angedeutete Verhältnisbestimmung von Anthropologie und Geschichtswissenschaft ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zwei Sachverhalte

176 Aufschlussreiche Überlegungen hat zuletzt – wie oben schon angedeutet wurde – Stefan Breuer in diesem Zusammenhang angestellt, vgl. Breuer 2001a, 126–130. 177 Useners Götternamen, die von Weber an anderer Stelle aufgeführt werden, sind für sein Verständnis des Zauberers nicht einschlägig. Ein äußeres Indiz für Webers Rezeption von Rohdes Psyche könnte die Verwendung des in diesem Kontext eher ungewöhnlichen Ausdrucks homöopathisch (vgl. RG, 131) sein. Der Sachzusammenhang, in dem Rohde diesen Ausdruck anführt (vgl. P II, 471), stimmt mit demjenigen Webers überein. 178 Vgl. Lehmann 1910, 497–577.

216 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext seien angemerkt. Signifikant ist zunächst, dass die Anthropologie eine Funktion übernimmt, die vormals die Geschichtsphilosophie innehatte. Letztere entwickelte die für das geschichtswissenschaftliche Arbeiten konstitutiven metaphysischen Voraussetzungen und Prinzipien. Die Anthropologie stellt demgegenüber den Versuch dar, diese Begründungsleistung auf empirischer Grundlage zu erbringen und damit die Geschichtsphilosophie zu substituieren (vgl. A, 3. 184). Die Krise der Philosophie als Grundlagenreflexion der Kultur- und Geisteswissenschaften ist hier mit Händen zu greifen. Des Weiteren ist die Berücksichtigung von institutionellen und sozialen Phänomenen aufschlussreich. Sie deutet darauf hin, dass die Soziologie auf breiter Flur angebahnt wird. Das maßgeblich durch die Völkerkunde und -psychologie katalysierte sozialwissenschaftliche Interesse ist in den Kulturwissenschaften um 1900 unübersehbar. Und doch ginge es zu weit, Meyers Ausführungen zum Staat und den unterschiedlichen Verbandsformen unter die Sozialwissenschaften im engeren Sinne des Worts zu rubrizieren. Ein entscheidendes Differenzkriterium zu der sich um 1900 herausbildenden Soziologie kann in der konstruktiven Funktion der Psychologie als dem zweiten Moment seiner Anthropologie angesehen werden. Wie zuvor bereits bemerkt wurde, zeichnet sich die Genese der Soziologie als einer eigenen Wissenschaft durch eine Abgrenzung bzw. Depotenzierung der Psychologie aus, die sich bei dem Universalhistoriker nicht identifizieren lässt.¹⁷⁹ Diese kurze Anmerkung zu den wissenschaftssystematischen Implikationen von Meyers Anthropologie kann an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden. Vielmehr ist es nun erforderlich, sich seinem Bild des Zauberers zuzuwenden, das er im zweiten Teil seiner Anthropologie („Die geistige Entwicklung“) entwirft. Um die Anfänge der geistigen Entwicklung der Menschheit begreifen zu können, führt Meyer im Anschluss an die völkerpsychologischen Untersuchungen Steinthals und Wundts den Begriff des „mythische[n] Denken[s]“ (A, 91) ein.¹⁸⁰ Dieses Denken, das uns in ähnlicher Weise schon bei Siebeck begegnete, sei zum einen von „unmittelbaren Interessen“ (A, 91) bzw. praktischen Bedürfnissen (vgl. A, 92) und – so könnte man ergänzen – noch nicht von Ideen bestimmt.¹⁸¹ Zum anderen

179 Vgl. 2. 3. 180 Vgl. dazu Schlesier 1990, 404. 181 Das zweite Kapitel setzt mit den Worten ein: „Wir haben bisher nur die eine Seite der menschlichen Entwicklung betrachtet, diejenigen Institutionen, die unmittelbar aus den materiellen Bedingungen der Existenz erwachsen und ihnen Ausdruck geben; wir müssen uns jetzt den geistigen Momenten, der Entwicklung des Denkens, der Religion und der Kunst, zuwenden.“ (A, 87) Webers berühmte Differenz von Ideen und Interessen könnte somit auch unter dem Einfluss Meyers entstanden sein, zumal dieser die „Ideen“ unter die „Grundmächte des geschichtlichen Lebens“ (A, 173) fasst, zugleich aber betont, dass sie unter den Bedingungen des realen geschichtlichen

3.5 Religiöse Spezialisten |

217

verfahre es der Ursache-Wirkungs-Relation entsprechend, worin die „Grundlage alles menschlichen Denkens“ (A, 87) bestehe. Das dritte Merkmal des mythischen Denkens bilde die Analogiebildung nach Maßgabe des Körper-Seele-Dualismus (vgl. A, 87. 91), was bedeute, äußere Vorgänge den „eigenen inneren Erfahrungen“ gemäß zu verstehen. Meyer verdeutlicht diesen Gesichtspunkt durch eine „doppelte Reihe von Vorgängen“, die der Mensch im Inneren empfinde: „einerseits Bewußtseinsvorgänge des Fühlens, Vorstellens und Wollens, andrerseits von diesen hervorgerufene körperliche Bewegungen“ (A, 87). Dieser Dualismus werde unter den Bedingungen des mythischen Denkens auf die lebendigen und leblosen Erscheinungen der sinnlich wahrgenommenen Außenwelt übertragen, d. h. der psycho-physischen Einheit humanen Lebens entsprechend werden mundane Zustandsveränderungen auf die Wirksamkeit von Seelen und Geistern zurückgeführt.¹⁸² Aus dem praktischen Bedürfnis heraus, sich die übersinnlichen Kräfte dienstbar zu machen, auf sie einwirken bzw. sie bestimmen zu können, ist seiner Überzeugung nach das „Zauberwesen“ (A, 92) erwachsen. Zu den zentralen Merkmalen des Zauberwesens gehört die Macht der Zauberer – Meyer nennt „Medizinmänner, Fetischpriester, Seher, Propheten, Orakelverkünder“ (A, 95) –, die Geister zu zwingen (vgl. A, 90. 93f). Dass sie dazu in der Lage seien, gründe in ihrem „Wissen“ (A, 93). Sie „kennen die Mittel, durch die die Geister gebannt und gezwungen werden, dem Menschen zu Willen zu gehen“ (A, 94). Dieser Qualifikation wegen sind sie für Gemeinschaftsformen, die vom mythischen Denken bestimmt sind, unentbehrlich. Der Bestand von Verbänden sei von der Praxis solcher „Mittelpersonen“ (A, 94) abhängig.¹⁸³ Das bereits angesprochene Wissen der Zauberer bilde sodann die Grundlage dafür, dass das Zauberwesen als „Gewerbe“ (A, 93) betrieben werden konnte. Für Meyer bildet es das „erste Sondergewerbe, den ersten Berufsstand, den die Menschheit kennt“ (A, 94), und der „erblich“ (A, 95; vgl. auch A, 55. 69) weitergegeben worden sei. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die von Meyer geknüpfte Verbindung der Magie mit dem Gedanken der „Tradition“ (A, 95). Zauberer gelten ihm als Hüter von Traditionen (vgl. A, 95). Das konservierende Element ihrer Wirk-

Lebens grundlegend transformiert werden. Zum Verhältnis von Interessen und Ideen bei Weber vgl. Lepsius 1990, 31ff. 182 Meyer differenziert zwischen dem Begriff der Seele und dem der Geister. Die Seele diene der „Bezeichnung des in einem Körper hausenden lebendigen Agens“, der Geist der „Bezeichnung eines nicht oder nicht notwendig an einen materiellen Körper gebundenen Wesens“ (A, 91). 183 Hermann Siebeck, der den Ausdruck der „Mittelsperson“ gleichermaßen verwendet, schwächt die gemeinschaftsstiftende Funktion des Zauberers ab: „Und wie der Geist oder Gott, so steht auch der Zauberer hier lediglich im Dienst des Einzelnen, der seiner Hilfe bedarf, und ist nur je nach Umständen zugleich Diener der Gemeinschaft.“ (L, 294).

218 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext samkeit artikuliere sich darin, alles das zu umschließen und zu bewahren, „was ein primitiver Stamm von geistigem Leben besitzt.“ (A, 95) Damit einher gehe der Kampf gegen Neuerungen innerhalb der Stammeskultur. Diese Überlegungen sind insofern außergewöhnlich, als die Funktion der Traditionssicherung in der damaligen religionswissenschaftlichen Literatur – wie wir später noch sehen werden – häufiger dem Priestertum zugeschrieben wurde. Schließlich sei auf einen Aspekt des Zauberwesens hingewiesen, auf den Meyer im Kontext der Göttervorstellungen zu sprechen kommt. Er führt darin aus, dass „die durch Zauberriten bewirkte Verbindung mit den Geistern immer nur ephemer ist und die momentane Aktion der magischen Handlung nicht überdauert“ (A, 102). Auf diese Besonderheit kommt er zu sprechen, um die durch den priesterlichen „Kultus“ (A, 102) vermittelte Götterbeziehung von den flüchtigen Beziehungen der Zauberer zu den Geistern abzugrenzen. Das Zauberwesen kennt seiner Auffassung nach keinen kontinuierlichen Kultus, sondern allein das punktuell vorhandene und auf einzelne Fälle restringierte Inbeziehungtreten des Zauberers zu den übersinnlichen Kräften, für das er statt des Kultusbegriffs den des Ritus verwendet.¹⁸⁴ Webers Ausführungen zur Wirksamkeit des Zauberers sowie zur Magie insgesamt weisen – wie die späteren Ausführungen zeigen werden – in vielerlei Beziehung und bis in die Wahl der Beispiele hinein Übereinstimmungen zur Anthropologie Meyers auf. b) Mit den im Titel von Erwin Rohdes Hauptwerk geführten Begriffen „Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube“ ist die Gliederung der beiden Hauptteile dieser in zehn Auflagen erschienenen Untersuchung benannt, in denen er, wie Hubert Cancik bemerkt, Grundprobleme der Altphilologie mit denen der Religionsethnologie verschränkt.¹⁸⁵ Unter dem Eindruck der Theorie des Animismus versucht Rohde im ersten Teil seiner Abhandlung den Nachweis zu erbringen, dass nicht allein in den Naturvölkern und in den archaischen Religionen der Inder und Perser der Seelenkult die älteste Stufe der Religion darstelle, sondern auch bei den Griechen, was von Seiten der Ethnographie bestritten werde (vgl. P I, 12). Auch wenn das „Grauen vor gespenstischem Geistertreiben“ (P I, 11) nicht homerisch sei – denn Homer erscheint bei Rohde im Gewand eines nüchternen Aufklärers –, könne der Dichtung Homers indirekt entnommen werden, dass dem „vorhomerischen Griechentum“ „ein Cult der abgeschiedenen Seelen“ (P II, 12) nicht fremd war. Für unseren Zusammenhang ist aber der zweite Teil dieser Studie von noch größerem Gewicht, in dem Rohde, den über viele Jahre eine enge Freundschaft mit Nietzsche verband, die Ursprünge des Unsterblichkeitsglaubens im thrakischen

184 Vgl. dazu auch Lehmann 1910, 502. 185 Vgl. Cancik 1985. Zur Würdigung und zur Kritik Rohdes vgl. Jäger 1953, 89ff.

3.5 Religiöse Spezialisten |

219

Dionysoskult aufzudecken beabsichtigt.¹⁸⁶ Rohde schildert darin ausführlich den Vollzug dieses Kultes, dessen „Zweck“ er dahingehend spezifiziert, den Zustand „äußerste[r] Erregung“ zu erreichen. Der damit verbundene religiöse „Sinn“ bestand darin, „dass nur durch solche Ueberspannung und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und Berührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterschaaren.“ (P II, 12) Diese orgiastischen Reizzustände der am Kultus Beteiligten verbindet Rohde sodann mit dem Begriff der „‚Ekstasis‘ der Seele“ (P II, 19). Der Altphilologe unterscheidet an dieser Stelle zwei Formen derselben, einerseits den Wahnsinn als „dauernde Ekstase“ und andererseits die „zeitweilige alienatio mentis im dionysischen Cult“, womit eine Form von Ekstase bezeichnet sei, in der „‚ein vorübergehender Wahnsinn‘“ (P II, 19) zum Ausdruck komme. In der enthusiastischen Ekstase, dem religiösen Wahnsinn finde der direkte Verkehr mit der Geisterwelt statt. Rohde beschränkt seine Ausführungen zum religiösen Wahnsinn allerdings nicht auf den thrakischen Dionysoskult. Vielmehr identifiziert er in der Ekstase die „Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Culturentwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief begründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psychischer Anlage des Menschen, entstammen muss.“ (P II, 12) In diesem Zusammenhang differenziert er zwischen „ganzen Schaaren des Volkes“, die an Rauschkulten teilnehmen und „einzelne[n] Auserwählte[n]“, zu denen die weltweit verbreiteten „‚Zauberer‘ und Priester“ (P II, 24f) gehören. Von ersteren heißt es sodann, dass sie „ihre von allen Wallungen leichter fortgerissene Seele durch Tanz, Musik und Erregungsmittel aller Art zum Ausfahren in die Welt der Geister und Götter zwingen.“¹⁸⁷ (P II, 24) In der dazugehören Anmerkung fügt er hinzu: „Dies ist überall der Sinn und Zweck jener angestrengten Praktiken der ‚Zauberer‘.“ Auch wenn Rohde verschiedentlich auf den Zauberer zu sprechen kommt, nimmt dieser innerhalb seiner Darstellung des thrakischen Dionysoskults keine überragende Stellung ein. Und dennoch schien besonders ein Element seiner Ausführungen auf Webers Interesse gestoßen zu sein – der Begriff der Ekstase. Die folgenden Überlegungen werden zeigen, dass Weber dabei wie Rohde zwischen punktuellen und dauernden Ekstasen unterscheidet und beide Formen ekstatischer Zustände gleichermaßen unterschiedlichen Trägergruppen zuordnet. Die Beschäftigung mit Rohde steht somit wiederum auch im Zeichen seines sozialwissenschaftlichen Interesses. 186 „Der Dionysoscult muss zu dem Glauben an Unsterblichkeit der Seele den ersten Keim gelegt haben.“ (P II, 3). 187 Auf die Funktion von Musik, wirbelndem Tanz und narkotischen Reizmitteln kommt Rohde mehrfach und ausführlich zu sprechen, vgl. etwa P II, 24.

220 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext c) Wie die Überschrift zum zweiten Paragraphen seiner Religiösen Gemeinschaften besagt, verhandelt Weber die Zauberer gemeinsam mit den Priestern. Das könnte zu der Vermutung Anlass geben, dass sich seine Ausführungen zu diesem Thema auf diesen Paragraphen beschränken. Das aber ist nicht der Fall. Vielmehr sind die die Zauberer kennzeichnenden Merkmale in den ersten drei Paragraphen verteilt. Um Webers Verständnis der Zauberer auf die Spur zu kommen, muss den dort verstreuten Hinweisen nachgegangen werden. Das soll hier in drei Schritten erfolgen. Zunächst ist das Auftreten der Zauberer zu charakterisieren. Hier steht der Begriff der Ekstase im Mittelpunkt der Überlegungen. Danach werden sie mit dem zuvor bereits eingeführten Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus in Beziehung gesetzt.¹⁸⁸ In einem dritten Schritt werden die Effekte namhaft gemacht, die das Zauberwesen auf die Lebensführung hat. Webers Bestimmung der Zauberer setzt gleich zu Beginn seiner systematischen Religionssoziologie mit einer Bezugnahme auf den Charismabegriff ein. „Der Zauberer ist der dauernd charismatisch qualifizierte Mensch“ (RG, 124).¹⁸⁹ Diesen Gesichtspunkt ergänzt er sodann durch den Begriff der Ekstase, den – wie gerade gezeigt wurde – Erwin Rohde in das Zentrum seiner Untersuchungen zum thrakischen Dionysoskult gestellt hatte. Weber isoliert den Zauberer jedoch aus diesem historischen Kontext und verbindet ihn mit dem Begriff der „‚magischen‘ Charismata“ (RG, 124).¹⁹⁰ Die Ekstase bildet für Weber das Repräsentationsmedium des magischen Charisma. Diese Überlegungen werden sodann dahingehend angereichert, dass der Zauberer über die „Zuständlichkeit“ (RG, 124) der Ekstase verfüge.¹⁹¹ Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Konkretisierung dieser Verfügungsgewalt. Die Ekstase werde „als Objekt eines ‚Betriebs‘ in Pacht genommen“ (RG, 124). Mit dem Betrieb tritt ein Begriff auf den Plan, dessen Verwendung im thematischen Kontext archaischer Religionen sich nicht von selbst versteht. In Webers Denken hat er innerhalb der kategorialen Grundlegung der Ordnungssoziologie seinen primären Ort. Dort definiert er den Betriebsbegriff als ein „kontinuierliches Zweckhandeln“ 188 Vgl. 3. 3. 3. 189 Zum Begriff des magischen Charisma vgl. auch Breuer 1991, 39ff. 190 Vgl. auch RG, 168; KT, 313. 191 „[D]er Berufszauberer und Berufskrieger bedarf nicht nur der akuten Ekstase, sondern des charismatischen Dauerhabitus.“ (RG, 313) Die Verfügungsgewalt ist allerdings keineswegs per se auf Dauer gestellt. Vielmehr muss sich der Zauberer in seinem, „dem ältesten aller ‚Berufe‘“ (RG, 124) „bewähren“ (RG, 161), wie es im Anschluss an Meyer heißt. Gelingt ihm das nicht und das Charisma versagt, kann ihn das das Leben kosten (vgl. RG, 124. 161). Bei Misserfolg, wenn die Mittel des magischen Zwangs nicht die erwarteten Effekte zeitigen, haftet der Berufsmagier somit persönlich, womit Weber wiederum Überlegungen anstellt, die er der Anthropologie Meyers entnommen haben könnte, vgl. A, 94f.

3.5 Religiöse Spezialisten |

221

(Soz, 209). Um die Frage beantworten zu können, wie sich dieser Begriff bzw. dessen Verbindung mit dem der Ekstase im Rahmen von Webers Deutung der Berufsmagier verständlich machen lässt, bietet es sich jedoch an, nicht von diesen, sondern von den ihnen gegenübergestellten „Alltagsmenschen“ (RG, 124) auszugehen, für die die Ekstase nur als „Gelegenheitserscheinung“ (RG, 124) zugänglich ist, und zwar in Gestalt der „Orgie“.¹⁹² Weber begreift die Orgie als eine „urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung“ (RG, 124). Diese Bestimmung fügt sich unmittelbar in die spezifische Anlage der systematischen Religionssoziologie ein, Sozialformen religiösen Handelns auf den Begriff zu bringen. Die Merkmale, die er ihr beilegt, erinnern sehr stark an Rohdes Beschreibung der im thrakischen Dionysoskult eingesetzten Techniken, um in den Zustand der Ekstase zu geraten.¹⁹³ Vor allem an diesen Ausführungen scheint sich Weber zu orientieren, wenn es bei ihm heißt, dass zur Erzeugung eines ekstatischen Zustands „alle alkoholischen Getränke, ebenso der Tabak und ähnliche Narkotika, die alle ursprünglich Orgienzwecken dienten, daneben vor allem die Musik, verwendet werden“ (RG, 124).¹⁹⁴ Aber auch die Trennung zwischen der im Medium der Orgie erlebten Ekstase der Laien und der des Zauberers könnte von Rohde angeregt worden sein. Die Orgie stellt für Weber das Realisationsmedium ekstatischer Zustände des nicht-charismatischen Alltagsmenschen dar. Allerdings bildet sie für die Nichtzauberer lediglich ein „Gelegenheitshandeln“ (RG, 124). „Der Laie kennt die Ekstase nur als einen, gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch“ (RG, 124). Gegenüber diesen ephemeren Erfahrungen der Ekstase kommt letztere bei den Zauberern als eine zwar zu bewährende, aber gleichwohl prinzipiell verfügbare magische Qualifikation zu stehen. Wenn Weber bemerkt, dass diese Qualifikation als Objekt eines Betriebs und das heißt eines kontinuierlichen Zweckhandelns verstanden werden soll, muss geklärt werden, um was für einen Betrieb es sich hier genau handelt. Weber spricht von einer „rationalen Beeinflussung der Geister im Interesse der Wirtschaft“ und bescheinigt den Zauberern, über das Wissen zu verfügen, wie man die Ekstase „verwendet“ (RG, 124). Der Betriebsbegriff kommt hier – und das entspricht seiner üblichen Verwendungsweise – somit als eine ökonomische Kategorie in den Blick. Das aber bedeutet zugleich, dass der Zauberer hier – zugespitzt formuliert – als ein Unternehmer auftritt.

192 Vgl. dazu auch Riesebrodt 2001c, 104f. 193 Darauf weist auch Kippenberg 2001a, 50–52 hin. 194 Vgl. auch RG, 311. Dort kommt Weber auf die Ekstase als „Mittel der ‚Erlösung‘ oder ‚Selbstvergottung‘“ zu sprechen. Das Moment der Selbstvergottung klingt auch bei Rohde an, vgl. P II, 11–22.

222 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Mit diesen Überlegungen korrespondieren die Eingangspassagen der Religiösen Gemeinschaften, in denen Weber die magische Religiosität mit dem Rationalitätsbegriff verknüpft: „Das religiöse oder ‚magische‘ Handeln oder Denken ist also gar nicht aus dem Kreise des alltäglichen Zweckhandelns auszusondern, zumal auch seine Zwecke selbst überwiegend ökonomische sind.“ (RG, 122) Diese Formulierung lässt sich unschwer mit Webers Begriff des Zauberers verbinden, in den somit ganz heterogene Elemente einfließen, die sich nach einer irrationalen und einer rationalen Seite hin unterscheiden lassen. Neben die durch den Begriff der Ekstase markierte Dimension des irrationalen Handelns tritt das durch den Betriebsbegriff angezeigte rationale Handeln. Zusammengeführt werden sie insofern, als die Ekstase zum Gegenstand rational wirtschaftlichen Handelns gemacht wird. Um das spezifische Profil der Zauberer weiter konturieren zu können, muss deren Auftreten mit der bereits thematisierten Übergangsfigur vom Naturalismus zum Symbolismus in Verbindung gebracht werden, was es an dieser Stelle auch erforderlich macht, die oben skizzierten Abstraktionsstufen magisch-religiöser Vorstellungen (die präanimistischen Geister, die Seele, archaische Dämonen und Götter) in Erinnerung zu rufen. Weber ist der Meinung, dass sich die ‚Primitivität‘ einer Religion an dem naturalistischen Gepräge ihrer Vorstellungswelt ablesen lässt. Je ‚einfacher‘ sie ist, desto stärker ist sie – wie oben bereits herausgestellt wurde – vom Naturalismus bestimmt. Als Beispiele nennt er die im Animismus verbreitete Identifikation der Seele mit dem Puls des Herzens (vgl. RG, 127) und die bei den Veden anzutreffende Gleichsetzung des Feuers mit einem Gott (vgl. RG, 133).¹⁹⁵ Der Naturalismus steht somit für eine Identifikation außeralltäglicher Kräfte mit raum-zeitlich identifizierbaren, konkreten Dingen oder Menschen. In der weiteren Entwicklung der Religionen ist Webers Auffassung nach die Tendenz zu immer abstrakteren Fassungen jener Kräfte zu beobachten, die mit einer Abkehr von naturalistisch gefärbten Vorstellungen einhergeht. Innerhalb der archaischen Religionen gilt ihm als höchste Abstraktionsstufe der unterschiedlichen Beziehungsweisen zwischen den vorgestellten Wesenheiten und den sich außeralltäglich verhaltenen Dingen oder Menschen, wenn erstere durch letztere „‚symbolisiert‘“ (RG, 125) werden. Damit werden die außeralltäglichen Kräfte als der direkten Wahrnehmbarkeit entzogen vorgestellt. Ihr Verhältnis zu den Dingen bzw. Menschen ist vielmehr als ein Repräsentationsverhältnis anzusehen. Dementsprechend erblickt

195 An anderer Stelle illustriert Weber den „Naturalismus“ archaischer Religionen auf drastische Weise: „Wenn dem geschlachteten Feinde das Herz aus der Brust oder die Geschlechtsteile vom Leibe oder das Gehirn aus dem Schädel gerissen, sein Schädel im eigenen Hause aufgestellt oder als kostbarstes Brautgeschenk verehrt, jene Körperteile aber oder diejenigen besonders schneller oder starker Tiere verspeist werden, so glaubt man sich wirklich damit die betreffenden Kräfte direkt naturalistisch anzueignen.“ (RG, 131f).

3.5 Religiöse Spezialisten |

223

er das „Spezifische dieser ganzen Entwicklung“ darin, „daß jetzt nicht nur Dinge und Vorgänge eine Rolle im Leben spielen, die da sind und geschehen, sondern außerdem solche, welche und weil sie etwas ‚bedeuten‘“ (RG, 127). Insofern Weber die Entzauberung der Welt dahingehend spezifiziert, dass alle Dinge und Vorgänge „ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ‚sind‘ und ‚geschehen‘, aber nichts mehr ‚bedeuten‘“ (RG, 273), setzt mit dieser – um einen Luhmannschen Ausdruck aufzugreifen – „Realitätsverdopplung“¹⁹⁶ der Prozess der Verzauberung der Welt ein. Diese sich auf der Ebene der Vorstellungen durchsetzende Abstraktionsleistung schlägt sich unmittelbar auf das angesprochene Reich religiösen Handelns nieder, das der Ordnung der Beziehung zwischen den übernatürlichen Mächten und den Menschen dient. So wie Weber auf der Ebene der religiösen Vorstellungen einen – fließenden – Übergang von naturalistischen zu symbolischen Vorstellungen feststellt, konstatiert er bezogen auf das magische Handeln: „Der Zauber wird . . . aus einer direkten Kraftquelle zu einer Symbolik.“¹⁹⁷ (RG, 127) Doch in welche Richtung der Zauber auch immer weist, stets liegt ihm die Vorstellung zugrunde, durch seinen Vollzug jene übernatürlichen Wesenheiten „zwingen“ zu können, womit eine für die Magie typische Praxis angesprochen ist, auf die Meyer u. a. hingewiesen hatten. Der Zauberer wird damit als derjenige begriffen, der über das magische Charisma verfügt, Geisterwesen, Dämonen oder Götter zu manipulieren. Der Zwangscharakter wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass er sich der Mittel zeichenhaften Handelns bedient. Es handelt sich in diesem Fall – wie Wolfgang Schluchter formuliert – um einen „symbolischen Zwangszusammenhang“.¹⁹⁸ Von diesen Überlegungen ausgehend fragt Weber sodann ausdrücklich nach den Effekten magischer Religiosität auf die Lebensführung, womit wir uns dem dritten Gesichtspunkt seiner Zaubererdeutung zuwenden. Sobald sich eine auf symbolischen Mitteln beruhende Manipulationstechnik übernatürlicher Wesen bewährt habe, begrabe – wie Weber pathetisch formuliert – eine „Flutwelle symbolischen Handelns . . . den urwüchsigen Naturalismus unter sich“ (ebd).¹⁹⁹ Insofern sämtliche „Kreise menschlicher Tätigkeit in diesen symbolistischen Zauberkreis hineingerissen“ werden (RG, 129), schattet sich diese Entwicklung unmittelbar

196 Luhmann 2002, 58. 197 Diese Formulierung könnte ein Indiz für Webers Rezeption von Wundts Völkerpsychologie sein, unterscheidet dieser doch zwischen direktem und indirektem Zauber. Letzterer umfasst zwei Hauptformen, den symbolischen und den magischen Zauber, vgl. Wundt 1906, 188–199. 198 Schluchter 1979, 65. 199 Die Rede von einem urwüchsigen Naturalismus scheint in der damaligen Religionsforschung eine weitere Verbreitung gefunden zu haben. So greift etwa auch Dilthey diesen Ausdruck im Rahmen seiner Weltanschauungstheorie auf, vgl. Dilthey 1991, 90.

224 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext auf das spezifische Gepräge menschlichen Verhaltens ab. Der hier für Weber im Zentrum stehende Begriff ist der der „Stereotypierung“ (RG, 130) des Verhaltens.²⁰⁰ Als stereotyp kann ein Verhalten dann bezeichnet werden, wenn es gleichförmig, repetitiv abläuft und keinem offensichtlichen Zweck dient.²⁰¹ Um Webers Verständnis des Stereotypierungseffekts magischer Religiosität bestimmen zu können, ist es erforderlich auf zwei weitere Passagen seines Werks zu sprechen zu kommen. Dabei handelt es sich zuerst um den Paragraphen drei der Religiösen Gemeinschaften, in dem er sich mit der tabu-Vorstellung auseinandersetzt, die uns oben bereits bei Marett begegnete und innerhalb der religionsethnologischen Forschung um 1900 zentral verankert war.²⁰² Daran anschließend sind Erläuterungen zum Übergang von der Sitte zur Tradition zu berücksichtigen, die er in der Rechtssoziologie dargelegt hat. Mit der tabu-Vorstellung beschäftigt sich Weber im Rahmen seiner Überlegungen zur Entstehung der religiösen Ethik, deren Ursprünge er bereits im Geisterglauben erblickt.²⁰³ Zunächst legt er das Augenmerk auf nicht alltägliche Lebensprozesse, die dem besagten religiösen Stadium entsprechend als durch die Wirksamkeit eines Geistwesens hervorgerufen vorgestellt werden. Als Beispiele nennt Weber „Krankheit . . . Geburt, Pubertät, Menstruation“ (RG, 167).²⁰⁴ Die Annahme eines in diesen Vorgängen wirkenden Geistes vermag das Unterlassen bestimmter Verhaltensweisen auszulösen. So werde etwa eine sich außeralltäglich verhaltende Person, in der nach Ansicht der Verbandsmitglieder ein Geist hause, „physisch und sozial gemieden“ (RG, 167) – unabhängig davon, ob dieser als „‚heilig“ oder als

200 „Die erste und grundlegende Einwirkung ‚religiöser‘ Vorstellungskreise auf die Lebensführung und die Wirtschaft ist also generell stereotypierend.“ (RG, 131). Vgl. dazu auch Wagner 1991, 184; Tyrell 1992, 196. 201 Vgl. Hildebrandt 1998, 139. 202 Vgl. 3. 3. 2. Vgl. Wundt 1906, 300-326; AR, 18–20. 203 Damit knüpft Weber an eine Position Lehmanns an, vgl. AR, 18. 204 Weber scheint diese Beispiele von Lehmann übernommen zu haben, vgl. AR, 18ff. Ziemlich genau diese Auswahl findet sich auch in Wilhelm Wundts Völkerpsychologie. Bei dem Leipziger Gelehrten heißt es: „Wesentlich andern Charakters ist das Tabu der zweiten Art, das den Menschen zu seinem Objekt hat. Es ist von vornherein auf Bedingungen eingeschränkt, die für den Tabuierten eine ungewöhnliche Lebenslage herbeiführen. So sind die Jünglinge beim Fest der Männerweihe im allgemeinen tabu; ebenso gilt das Tabugebot beim gleichen Feste zwischen Männern und Frauen. Tabu sind ferner in vielen Fällen die Frauen unmittelbar nach der Geburt eines Kindes und während der Menstruation, sodann das neugeborene Kind, endlich der Kranke und die Leiche.“ (Wundt 1906, 304) Es hat vielfach den Anschein, dass Lehmann sich an Wundts Völkerpsychologie orientiert. Dieses Werk führt er nicht nur im Literaturverzeichnis auf. Vielmehr kommt er auch ausdrücklich auf Wundt zu sprechen (vgl. AR, 13).

3.5 Religiöse Spezialisten |

225

‚unrein‘“ (RG, 167) gilt.²⁰⁵ Mit der Entstehung des Geisterglaubens verbindet Weber also die Herausbildung bestimmter Verhaltensmuster. An diesem Prozess sind nun die Zauberer maßgeblich beteiligt. Sobald sich die Sichtweise durchgesetzt habe, dass besagte Vorgänge von Geistern hervorgerufen wurden, sei es möglich, dass „durch zauberische Manipulationen von Menschen, welche das magische Charisma besitzen, Gegenstände und Personen für andere mit der Qualität des ‚Tabu‘ versehen“ (RG, 168) werden. Weber nennt an dieser Stelle ausdrücklich die „charismatische Tabuierungsgewalt“ (RG, 168) der Zauberer. Letztere tragen auf diesem Wege wesentlich zur Herausbildung von „magisch motivierten Normen des Verhaltens“ (RG, 167) bei.²⁰⁶ Indem die Zauberer an der Entstehung magischer Normvorstellungen grundlegend Anteil haben,²⁰⁷ tragen sie zugleich zur „Rationalisierung des Tabu“ bei und legen auf diesem Wege die Grundlagen für ein „System von Normen“ bzw. für ein „System tabuistisch garantierter Ethik“ (RG, 168).²⁰⁸ Webers Analysen zur Entstehung der religiösen Ethik lassen sich nun mit einem Prozess in Verbindung bringen, den er innerhalb der Rechtssoziologie erörtert hat – dem Übergang von der Sitte zur Tradition. Diesen gilt es kurz zu skizzieren, um den infrage stehenden Einfluss des Zauberwesens auf die Lebensführung genauer bestimmen zu können. In seiner ebenfalls posthum erschienenen Abhandlung Die Wirtschaft und ihre Ordnungen wird die Differenz zwischen beiden Größen an ihrem jeweiligen Geltungsstatus festgemacht. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen dient ihm der Begriff der Sitte: „Wir wollen unter ‚Sitte‘ den Fall eines typisch gleichmäßigen Verhaltens verstehen, welches lediglich durch seine ‚Gewohnheit‘ und unreflektierte ‚Nachahmung‘ in den überkommenen Geleisen gehalten wird, ein ‚Massehandeln‘ also, dessen Fortsetzung dem Einzelnen von niemandem in

205 Diese Parallelisierung von heilig und unrein findet sich auch in Lehmanns Beitrag zu den archaischen Religionen, vgl. AR, 18. Vgl. auch aber auch Wundt 1906, 308. 206 Der hohe Verbindlichkeitsgrad dieser durch magische Prozeduren entstandenen Normen lässt sich an dem Begriff des „‚Heiligen‘“ (RG, 168) ablesen, den Weber mit jenen praktischen Grundsätzen verbindet. Das Heilige sei „das spezifisch Unveränderliche“ (RG, 131). Von einem Verständnis des Heiligen, wie es relativ zeitgleich von Rudolf Otto entwickelt wurde, ist Weber somit weit entfernt. Dass es sich dabei um ein Deutungsschema handeln könnte, lässt sich Webers Schriften nur ansatzweise entnehmen. So spricht er etwa in der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen von „außeralltägliche[n] Zuständlichkeiten, welche als ‚heilig‘ gewertet wurden“ (E, 90). 207 Die Rationalisierungsleistung innerhalb magisch geprägter Religiosität unterstreicht Weber auch in der Rechtssoziologie, wenn er bemerkt: „Die Frage: was eigentlich für eine Frage an die magischen Instanzen zu richten ist, ist daher der erste Weg der Bildung von technischen ‚Rechtsbegriffen‘.“ (R, 452). 208 Zu dieser Annahme könnte Weber wiederum von Lehmann angeregt worden sein, der das „Tabusystem“ als einen „Typus der primitiven Moral“ (AR, 24) bezeichnet.

226 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext irgendeinem Sinn ‚zugemuthet‘ wird.“ (R, 210f) Auch wenn sich die Sitte durch das Merkmal der Regelmäßigkeit von Verhaltensabläufen auszeichnet, ist die Frage nach dem normativen Gehalt der Sitte kein Gegenstand diskursiven Wissens. Der Konstitutionsgrund der Sitte liegt somit nicht im Bereich des im strengen Sinne Normativen, sondern verweist vielmehr auf Praktiken der Nachahmung und in den Bereich der Gewohnheit. Der Übergang von der Sitte zur Tradition ist Weber zufolge durch das Vorhandensein konventioneller Regeln vermittelt.²⁰⁹ Sie seien „normalerweise der Weg, auf welchem bloß faktische Regelmäßigkeiten des Handelns: bloße ‚Sitte‘ also, in die Form verbindlicher, meist zunächst durch psychischen Zwang garantierter, ‚Normen‘ überführt werden: der Traditionsbildung.“ ²¹⁰ (R, 226) Insofern Verstöße missbilligt und sanktioniert werden, bezeichnet der Gegensatz zwischen Sitte auf der einen und konventionellen Regeln und Traditionen auf der anderen Seite zugleich die Differenz zwischen Massehandeln und Einverständnishandeln. „Sobald die Konvention sich der Regelmäßigkeit des Handelns bemächtigt hat, aus einem ‚Massehandeln‘ also ein ‚Einverständnishandeln‘ geworden ist . . . wollen wir von ‚Tradition‘ sprechen.“²¹¹ (R, 226) Der Differenzpunkt ist durch das „‚Geltungs‘-Einverständnis“ bezeichnet, das es im Bereich der Sitte nicht gibt.²¹² Gleichwohl unterscheiden sich Konvention und Tradition hinsichtlich ihres Geltungsgrads. Während konventionelle Regeln als wandelbar angesehen werden, gelten Traditionen als unantastbar und unveränderlich. Genau aus diesem Grund spricht Weber in den unterschiedlichen materialen Teilen seiner Soziologie von heiligen Traditionen. Werden diese im Rahmen der Rechtssoziologie angestellten Überlegungen Webers für sein Verständnis der tabuistisch begründeten Ethik mit ins Kalkül gezogen, tritt zu letzterer eine ordnungssoziologische Perspektive hinzu. Die magisch imprägnierte Religiosität sowie das damit verbundene Auftreten der Zauberer können vor diesem Hintergrund betrachtet als eine Exemplifikation des Übergangs von der Sitte zur Tradition gelesen werden. Insofern sie – wie auch Meyer bemerkt hatte 209 Die Differenz zwischen Gewohnheit und Tradition wird auch von Jan Assmann betont, vgl. Assmann 2007, 72. 210 Weber hat wesentlichen Anteil daran, dass der Traditionsbegriff zu einem Grundbegriff der Soziologie avancierte, vgl. Wiedenhofer 1990, 645. Zur zentralen Bedeutung des Traditionsbegriffs bei Weber vgl. auch Langenohl 2007, 41ff. 211 Die Formulierung: „aus einem ‚Massehandeln‘ also ein ‚Einverständnishandeln‘ geworden ist“, wurde von Weber handschriftlich in das maschinenschriftliche Typoskript eingefügt. 212 Ganz ähnlich heißt es im Kategorienaufsatz: „Durch das ‚Geltungs‘-Einverständnis unterscheidet sich die ‚Konvention‘ von der bloßen, auf irgendeiner ‚Eingeübtheit‘ und gewohnten ‚Eingestelltheit‘ beruhenden ‚Sitte‘, wie durch das Fehlen des Zwangsapparats vom ‚Recht‘, – natürlich nach beiden Seiten flüssig.“ (K, 460).

3.5 Religiöse Spezialisten |

227

– wesentlich an der Entstehung von Traditionsbeständen beteiligt sind, kommt ihnen eine elementare Funktion für den Aufbau der Handlungswelt zu. Doch bleibt dieser Bezug zum Traditionsbegriff keineswegs nur äußerlich. Vielmehr gewinnt nun auch der von Weber sporadisch verwendete und unerläutert gebliebene Begriff der „magischen Tradition“ (E, 112) einen gedanklichen Ort.²¹³ Die zuletzt angestellten Überlegungen wirken sich nun aber auch auf das Verständnis des Stereotypierungseffekts aus, den Weber der magischen Religiosität bescheinigt. Dieser darf nicht in dem Sinne missverstanden werden, als stehe er für die Hervorbringung eines bloß reiz-reaktiv vorgestellten Massehandelns. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Konsolidierung der Handlungswelt, die wesentlich durch magisch-religiöse Vorstellungen bestimmt ist, denen normative Geltung beigemessen wird. Sowohl die tabu-Vorstellung als auch der damit koordinierte Übergang von der Sitte zur Tradition legen eine Abkehr von naturalistisch vorgestellten Verhaltensmustern nahe, sodass die Stereotypierung hier keineswegs negativ konnotiert zu stehen kommt. Vielmehr ist sie hier mit einem Handlungsmuster verknüpft, welches das gegenseitige Einverständnis über Prinzipien des Handelns voraussetzt. Webers Verständnis des Zauberers erweist sich als überaus komplex. Die Berufsmagier, die das Wissen um die Ekstase und deren Einsatzmöglichkeiten im Umgang mit übernatürlichen Wesen zum Gegenstand eines kontinuierlichen Zweckhandelns gemacht haben, werden von ihm nicht allein unter gewerblichen Gesichtspunkten in den Blick genommen. Vielmehr identifiziert er im Rahmen ihrer Wirksamkeit zugleich gewichtige Impulse zur Entstehung von magischen Normvorstellungen, die durch ihre magische Tabuierungsgewalt zum einen zu Traditionen verfestigt und zum anderen partiell systematisiert werden. Die sich hierin andeutende kulturalistische Dimension ihres Auftretens ist zudem durch den Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus bezeichnet, der durch das Zauberwesen geleistet wird. Gleichwohl darf nicht verschwiegen werden, dass Weber von einer „individuellen Inanspruchnahme der Zauberer von Fall zu Fall“ (RG, 158) spricht, womit zugleich eine grundlegende Grenze ihres Auftretens markiert ist. Auch wenn die Berufsmagier zu einer partiellen Systematisierung religiöser Vorstellung und zur Traditionsbildung beitragen, bleibt das unter diesen Bedingungen beschriebene Leben, wie Weber in seiner Studie zum Konfuzianismus festhält, „eine Serie von Vorgängen, kein methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes“ (KT, 461).²¹⁴ Schließlich ist noch einmal die soziologische 213 Innerhalb seiner Religionssoziologie findet der Begriff der magischen Tradition mehrfach Verwendung KT, 416. 451. 454. 214 Ähnlich formuliert auch Meyer bezogen auf das Zauberwesen: „nichts wäre verkehrter, als hier Einheitlichkeit und systematische Ordnung zu erwarten.“ (A, 115).

228 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Seite herauszustellen, die zu Webers Bild des Zauberers gehört. Auch wenn sie keine auf Dauer gestellte, sondern nur punktuell in Erscheinung tretende Sozialisationsgestalt ist, handelt es sich bei der Orgie um eine magisch-religiös motivierte Form der Vergemeinschaftung.

3.5.2 Der Begriff des Priesters Webers Religiöse Gemeinschaften legen auf die Wirksamkeit der Priester ein besonderes Augenmerk. Gleichwohl findet das von ihm entfaltete Priesterverständnis innerhalb der Forschungsliteratur kaum Beachtung. Zu den wenigen Interpreten, die sich dieses Themas angenommen haben, gehört der Paderborner Theologe und Religionswissenschaftler Bernhard Lang. Dieser versucht, Webers Beitrag in den damaligen Stand der Priesterforschung einzuzeichnen und skizziert die entsprechenden Positionen verschiedener Theologen und Religionswissenschaftler (Otto Pfleiderer, Wilhelm Bousset, Bernhard Duhm, Julius Wellhausen, Eduard Meyer, Edvard Lehmann). Er fertigt auf diesem Wege zwar ein Kurzportrait des um 1900 erreichten Stands der Priesterforschung an, allerdings sieht er von konkreteren Angaben ab, inwiefern Webers Priesterverständnis von den Beiträgen jener Theologen und Religionswissenschaftler abhängig ist.²¹⁵ Nun ist bekannt, dass Weber von den genannten Autoren insbesondere zweien besonders großen Respekt zollte – Eduard Meyer und Julius Wellhausen. Dass ersterer ein für Weber wichtiger Gesprächspartner war, ist unbestritten und wurde auch hier schon mehrfach herausgestellt. Insofern sich dessen Anthropologie relativ ausführlich zu dem hier infrage stehenden Thema äußert und Weber dieses Werk sehr gut kannte, ist es angebracht, es an dieser Stelle noch einmal in Betracht zu ziehen. Doch gibt die Auseinandersetzung mit der um 1900 vorliegenden Forschungslite-

215 Lang formuliert die These, dass es durch die religionsgeschichtliche Forschung um 1900 zu einem Paradigmenwechsel in der Beurteilung der Priesterschaft gekommen sei. Der im Medium der Priesterdeutung vormals – etwa bei Otto Pfleiderer – ausgetragene „konfessionelle Gegensatz zwischen dem mit dem Priestertum identifizierten Katholizismus und dem als im Erbe der Propheten stehenden Protestantismus“ (Lang 2001, 175) wurde auf diesem Wege beseitigt. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich Pfleiderer nicht ohne Weiteres als Repräsentant einer kontroverstheologischen Zuspitzung des Priesterbildes vereinnahmen lässt, heißt es doch bei diesem auch: „Man darf nicht meinen, dass die Herrschaft immer ungünstig gewirkt habe. Im Gegentheil, in den Jahrhunderten der beginnenden Kultur waren die Priester, als die Vertreter der Intelligenz und Autorität, der vorzüglichste Kulturfaktor; insbesondere da, wo sie im Bunde mit dem Volkskönig für Begründung und Befestigung der Rechtsordnung wirkten, war ihr erziehender Einfluss von unvergleichlichem Werth; ihm vorzüglich verdankten die Völker ihre Erhebung aus der Barbarei zur Civilisation.“ (Pfleiderer 1896, 685, vgl. auch Pfleiderer 1896, 56f).

3.5 Religiöse Spezialisten |

229

ratur zum Priestertum auch Anhaltspunkte dafür, Wellhausen als prägende Figur dieser Debatte anzusehen, der die Diskussion um diesen Gegenstand wenn auch sicherlich nicht allein so doch aber maßgeblich bestimmt hat. Den Alttestamentler und Orientalisten an dieser Stelle zu berücksichtigen, bietet sich insofern an, als es sich bei ihm um einen Autor handelt, den Weber intensiv rezipiert hat. Seine erste Wellhausenrezeption fällt – soweit bekannt – bereits in das Jahr 1898. In einem Brief an seine Frau schreibt der am Beginn einer langen Krankheitsphase stehende Nationalökonom, dass ihm die Lektüre von Flauberts Madame Bovary nicht bekomme.²¹⁶ „Ich lese stattdessen Wellhausen’s prachtvolle ‚Israëlitische Geschichte‘, was mir auch das Fernbleiben von aller geistigen Arbeit besser ersetzt.“ (Br II / 3, 559) Den positiven Eindruck, den die Wellhausenlektüre auf Weber hinterlassen hat, belegt auch die zweite, 1898 erschienene Fassung seiner Agrarverhältnisse des Altertums. In dieser ist von Wellhausens „glänzenden Arbeiten“²¹⁷ die Rede. Am klarsten tritt seine Wertschätzung gegenüber letzterem jedoch in seinen Studien zur Wirtschaftsethik des antiken Judentums zutage: „Alle alttestamentliche Arbeit fußt heute, auch wo sie noch so weit von ihm abweicht, auf den großartigen Arbeiten J. Wellhausens (den ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘, der ‚Israelitisch und jüdischen Geschichte‘ und von den andern Arbeiten vor allem der ‚Komposition des Hexateuch‘)“.²¹⁸ Weber bescheinigt Wellhausen, der zentrale Akteur innerhalb der zeitgenössischen alttestamentlichen Forschung zu sein, der ihr wie kein anderer den Stempel aufgedrückt hat.²¹⁹ Inwiefern sich

216 Vgl. Radkau 2005, 676. 217 AA, 226. 218 J I, 236. Webers Ausführungen lassen darüber hinaus erkennen, dass er sich insgesamt sehr intensiv mit der alttestamentlichen Forschung befasst hat. So hält er im Hinblick auf Wellhausen fest, dass dieser „die seit de Wette, Vatke, Graf nie wieder verlassenen, von Dillmann, Reuß u. a. fortgeführten Methoden zu höchster systematischer Vollendung brachte und virtuos handhabte.“ (J I, 236) Bemerkenswert ist auch Webers darauf folgende Diskussion des Streits zwischen Meyer und Wellhausen um die Entstehung des Judentums. Meyer hatte im Jahre 1896 ein Buch gleichnamigen Titels publiziert, auf das Wellhausen ein Jahr später reagierte, worauf der Universalhistoriker wiederum antwortete. Webers Bemerkungen zu diesem Streit in seiner Auseinandersetzung mit Eduard Meyer von 1906 (vgl. KS, 230) werden jedoch der Komplexität dieses Zwists, der in erster Linie als ein Methodenstreit zu begreifen ist, nicht gerecht (vgl. Otto 2005b, 1876.). Zur Auseinandersetzung zwischen Wellhausen und Meyer vgl. auch Parente 1990, 335ff; Kratz 1998, 167ff. 219 Noch Reinhard G. Kratz hält in seinem im Jahre 2003 erschienenen TRE-Artikel zu Julius Wellhausen fest: „Auf dem Grund, den er gelegt hat, baut sie [sc. die alttestamentliche Wissenschaft] bis heute, ob sie es wahrhaben will oder nicht.“ (Kratz 2003, 534) Wellhausen war auch selbst davon überzeugt, der alttestamentlichen Forschung ganz neue Impulse gegeben zu haben. So heißt es im Vorwort der zweiten Ausgabe seiner Prolegomena: „Die deutschen Fachgenossen sind durch mich aufgerüttelt worden; diese Thatsache wird dadurch nicht abgeschwächt, dass sie plötzlich Alles längst gewusst haben wollen, was sie von mir gelernt haben.“ (Wellhausen 1883, III)

230 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext der vermutete Einfluss von Wellhausens Priesterbild auf dasjenige Webers erhärten lässt, sollen die folgenden Überlegungen zeigen. Bevor wir uns den Religiösen Gemeinschaften zuwenden (c), gilt es daher zunächst auf Wellhausen (a) und Meyer (b) einzugehen. a) Wenn es bei Lang heißt, Wellhausen hätte die Priesterschaft als nachprophetische Erscheinung begriffen,²²⁰ dann steht dieses Urteil unter dem Eindruck der durch Wellhausen berühmt gewordenen These lex post prophetas. Abgesehen davon, dass diese These nicht erst von Wellhausen formuliert, sondern nur mit den Mitteln der Literarkritik methodisch präzisiert und dadurch überprüfbar wurde,²²¹ erweist sich Langs Meinung, der Alttestamentler hätte sie auf das Verhältnis von Priestertum und Prophetie insgesamt übertragen, als zu holzschnittartig. Denn Wellhausen war keineswegs der Ansicht, dass sich das Bild des alttestamentlichen Priestertums auf eine nachprophetische Erscheinung beschränken ließe.²²² Das zeigt bereits ein Blick in Wellhausens vielzitierte Rezension von Bernhard Duhms Untersuchung Die Theologie der Propheten (1875). Darin führt Wellhausen aus: Duhm hat die Bedeutung der Propheten gewaltig übertrieben. Neben ihnen und vor ihnen bestanden die Priester, und sie waren nie bloße Opferer, sondern von jeher war ‚die Weisung‘ zunächst des Rechts und dann des Rechten ihre Hauptaufgabe, die Thora pflanzte sich mündlich in ihrem Stande fort. Ihr stetiges, auf ein Institut begründetes Wirken war gewiß ein Grund von viel bedeutenderem, nachhaltigerem Einfluß auf das Volk, als das abrupte Wort der Propheten, das doch häufig als schroffe Kritik der bestehenden Institutionen verwirrend wirken mußte und unverstanden blieb. Man darf wohl behaupten, daß die stille Arbeit der

Dass Webers Judentumsstudien vielfach auf Wellhausen fußten, wurde in der Forschungsliteratur von Anfang an gesehen, vgl. Cohn 2005, 853; Guttmann 1925, 197 220 Vgl. Lang 2001, 175. Ähnlich Kippenberg 2001d, 82f. 221 Vgl. Perlitt 1965, 151. Der innere Zusammenhang zwischen den methodologischen Grundannahmen und der Historiographie Wellhausens kann hier keine Berücksichtigung finden, auch wenn es gerade dieses Wechselspiel ist, durch die sich dessen Forschungsleistung auszeichnet. Darauf weisen die Eingangsworte der Prolegomena unmissverständlich hin: „Das vorliegende Buch unterscheidet sich von seinesgleichen dadurch, daß die Kritik der Quellen darin einen ebenso breiten Raum einnimmt als die Darstellung der Geschichte.“ (PGI, 1) Zu den methodischen Grundlagen der Historiographie Wellhausens vgl. Perlitt 1965, 164ff. Einen Überblick über die Geschichte der alttestamentlichen Kritik und Exegese seit Vatke bietet für seine Zeit schon Otto Pfleiderer (vgl. Pfleiderer 1891, 313–345). In seinen Ausführungen nimmt Wellhausens Werk den größten Raum ein. 222 Daher verkürzt auch Eckart Otto die Position Wellhausens, wenn er notiert: „Darauf, daß nach heutigem Kenntnisstand der Alttestamentlichen Wissenschaft aber die Bedeutung der Rechtsüberlieferung der Priester als Voraussetzung der Prophetie und nicht nur deren Folgewirkung, wie Julius Wellhausen meinte, zu betonen ist, sei hingewiesen.“ (Otto 2005a, 217f).

3.5 Religiöse Spezialisten |

231

Priester, von der wir z. B. in Exod. 21–23 ein sehr altes Dokument besitzen, den Propheten das Fundament bereitet hat, wovon sie ausgehen konnten.²²³

Die in diesem Zitat angedeutete Position ist in Wellhausens historiographischen Hauptwerken ausführlich dargelegt worden. Darin lassen sich drei verschiedene Typen von Priestern identifizieren, die sich auf drei Stadien der israelitisch-jüdischen Geschichte abbilden lassen, die es kurz zu skizzieren gilt. Der erste Typ ist mit der vorstaatlichen Zeit verbunden, in der sich das Bewusstsein durchgesetzt habe, dass „Jahve der Gott Israels und Israel das Volk Jahves“ (IJG, 13) sei. Das zwischen beiden vermittelnde Glied war die „Thora Jahves“ (PGI, 401), bei der es sich jedoch nicht um ein schriftlich fixiertes Rechtskorpus handelte. „Jahve hatte noch nicht sein Testament gemacht, sondern er lebte und sein Wort war lebendig.“ (IJG, 67) Diese von Wellhausen ausgesprochen positiv beurteilte Lebendigkeit artikulierte sich in der kasuistischen Weisungspraxis der Priester, denen die Rechtssprechung insgesamt oblag. Sie standen für eine „Art höchster Gerichtsbarkeit“ (PGI, 403), die für die Lebensführung der Nicht-Priester grundlegende Bedeutung hatte. Wellhausen führt dann weiter aus, dass die für die Rechtssprechung notwendige Autorität nicht durch die Androhung von Zwangsmaßnahmen verbürgt wurde. Vielmehr beruhte die Rechtsbefolgung „rein auf freiwilliger Anerkennung ihrer moralischen Autorität“ (PGI, 403). Diejenigen, die sich dem Rechtsspruch beugten, waren der Überzeugung, dass die Entscheidung der Priester, die sie entweder aus eigener Einsicht oder durch das Los trafen, letztlich auf Jahve zurückzuführen sei (vgl. IJG, 16).²²⁴ Wellhausen stattet damit die Priester mit Merkmalen aus, die sie – aus dem Blickwinkel Webers betrachtet – als Charismaträger qualifizieren, allerdings nicht im Sinne des Zauberers, dessen Wirken sich durch – wie oben gezeigt wurde – magischen Zwang auszeichnet. Eher rückt das hier gezeichnete Bild des alttestamentlichen Priestertums in die Nähe des Propheten.²²⁵ Doch auch wenn die Dimension des Charismatischen hier der Sache nach angesprochen wird, findet dieser Ausdruck bei Wellhausen keine Verwendung. Vielmehr fokussiert er den mit dem Charisma wahlverwandten Persönlichkeitsgedanken, sodass sich

223 Wellhausen 1876, 157. 224 „Ihre Autorität war eine göttliche, oder wie wir sagen eine moralische, sie beruhte auf der freien Anerkennung einer Idee, die unausgesprochen in dem Volk lebte, auf Jahve, der zwar das allgemeine Gefühl des Rechtes und des Rechten band, aber den bestimmten Inhalt desselben doch nur Einzelnen offenbarte. Die priesterliche Thora war eine durchaus unpolitische oder vorpolitische Einrichtung, sie war vor dem Staate da und gehörte zu dessen unsichtbaren Grundpfeilern.“ (IJG, 26). 225 Vgl. 3. 5. 3 sowie 4. 2. 3.

232 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext in seiner Auseinandersetzung mit den Priestern des alten Israel bereits seine – wie Lothar Perlitt sagt – „Liebe zum Personalen, Individuellen“²²⁶ ablesen lässt, die er mit vielen seiner Zeitgenossen teilte. Damit treten bereits hier bestimmte Konstruktionszwänge der historiographischen Arbeiten Wellhausens zutage, die dem Grundsatz gehorchen, „dem Ursprünglichen, Echten, Konkreten, Lebendigen einen höheren rel[igiös]-sittlichen Rang“ zuzumessen „als dem Späteren, Epigonalen, durch Mischung Komplizierteren“.²²⁷ In Wellhausens Entfaltung dieser ersten Periode priesterlicher Tätigkeit spiegelt sich zweifelsohne eine Idealisierung wider, die auch dem Zweck dient, die Fallhöhe der nachexilischen Priesterschaft zu vergrößern. Auf die Rechtsdimension priesterlichen Wirkens kommt Wellhausen im sechsten Kapitel seiner Israelitisch-jüdischen Geschichte zurück. Darin befasst er sich mit „Gott, Welt und Leben im alten Israel“ (IJG, 58) und nimmt – womit das zweite Stadium in den Blick kommt – die Zeit von 850–750 v. Chr. in den Blick. Damit geht eine markante Verschiebung der Funktionsbeschreibung des Priestertums einher. Neben ihren kultischen Aufgaben seien die Priester nach wie vor als Lehrer und Ratgeber des Volkes anerkannt gewesen, wenngleich bereits erste Klagen darüber laut geworden sind, dass sie diese Praxis aus ökonomischen Gründen vernachlässigen würden. Dass sie dennoch angesehener und einflussreicher als die Propheten waren, lag in ihrer Funktion als Bewahrer und Hüter „der heiligen Tradition“ (IJG, 66) begründet, deren Wurzeln in der priesterlichen Tätigkeit der vorstaatlichen Zeit zu finden sind.²²⁸ Mit dem Traditionsbegriff tritt ein für Wellhausens Priesterverständnis zentraler Aspekt auf den Plan, den er auch in seinen Prolegomena ausdrücklich herausstreicht: „Ihnen ist der Stand und die innerhalb des Standes sich fortpflanzende Tradition wesentlich; sie bewahren und hüten die Thora (Deut. 33, 9).“ (PGI, 405) Diese Formulierung ist aber nicht nur im Hinblick auf den Traditionsgedanken einschlägig. Denn auf dem Selbstverständnis der Priester, Traditoren der von Gott gestifteten heiligen Ordnung zu sein, baut darüber hinaus das priesterliche Standesbewusstsein auf. Letzteres wird von Wellhausen insofern betont, als es das Zurücktreten des Individualitätsgedankens im Selbstverständnis der Priester illustrieren soll. Während die Priester der alten Zeit Züge religiöser Individualität getragen haben sollen, streiften die Priester der staatlichen Zeit diese Züge ab. Für Wellhausens Priesterverständnis sind schließlich – und damit kommt das dritte Stadium in den Blick – die Exilserfahrungen Israels von entscheidender Be226 Perlitt 1965, 200. 227 Graf 2005b, 1386. 228 Bei Wellhausen heißt es, dass die kasuistische Weisungspraxis „eine feste Tradition“ (PGI, 403) begründet habe.

3.5 Religiöse Spezialisten |

233

deutung. Denn mit der Zerstörung des Tempels wurde der Kult „zum Gegenstande der Theorie und des Studiums“ (IJG, 125). Den Anfangspunkt markiert Wellhausens Interpretation zufolge der aus einer priesterlichen Familie stammende Prophet Ezechiel, dem sich weitere Leviten anschlossen. Aus dem Priesterstand im Exil entwickelte sich eine Theologenschule, in der die vormals praktische Tätigkeit gedanklich durchdrungen, verschriftlicht und systematisiert wurde (vgl. IJG, 126). Den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung markiert der sogenannte „Priestercodex“ (IJG, 136), der dem Pentateuch das ihm spezifische, letzte Gepräge verlieh. Und erst mit diesem Gesetzbuch, dessen Grundstock das Buch Leviticus und dessen inhaltliche Mitte der Kultus ist, ist dasjenige Gesetz bezeichnet, das Wellhausens These zufolge erst nach den Propheten entstanden war. Doch nicht dieser Gesichtspunkt ist hier entscheidend. Vielmehr ist das Augenmerk auf Wellhausens Beschreibung der systematisierenden Tätigkeit der Priester zu legen. Galten die Priester in der Zeit der Staatsbildung in erster Linie als Traditoren so erscheinen sie nun als Systematiker der Gesetzeskorpora. Auf diesem Wege trugen sie zur „Organisation, . . . Fassung und Abschließung des Judentums“ (IJG, 144) bei.²²⁹ Es sollte deutlich geworden sein, dass Wellhausens Priesterbild weitaus differenzierter ausfällt, als es Langs Ausführungen erkennen lassen. Wellhausen unterscheidet drei Priestertypen: den Priester als Rechtslehrer des Volkers, den Priester als Bewahrer der heiligen Tradition und den Priester als Systematisierer der Gesetzeskorpora. Die Abfolge dieser drei Typen steht im Einklang mit der Leitperspektive, in der Wellhausens Analysen zur Geschichte Israels und des Judentums stehen. Er entfaltet sie als einen Prozess zunehmender Institutionalisierung und Ausdifferenzierung. Letzterer wird von ihm insgesamt sehr kritisch bewertet, nicht zuletzt deswegen, weil er auf Kosten des Individuellen, ursprünglich Lebendigen gehe. „Das Judentum, welches die mosaische Verfassung verwirklicht und konsequent fortgebildet hatte, ließ für die Individualität keinen Spielraum: im alten Israel war das göttliche Recht nicht bei der Institution, sondern beim Creator Spiritus, bei den Individuen.“ (PGI, 410) b) Meyer setzt sich mit dem Priestertum im Rahmen seiner Ausführungen zur geistigen Entwicklung der Menschheit auseinander.²³⁰ Ein besonderes Augenmerk

229 Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass Wellhausens Entfaltung des Priesterbildes zentrale Einsichten vorwegnimmt, die in der jüngeren religions- und kulturwissenschaftlichen Debatte unter den Stichworten ‚Traditionsstrom‘ und ‚Kanonisierung‘ diskutiert wurden. So differenziert etwa Jan Assmann zwischen einer nicht schriftlich fixierten Traditionsgenese und deren Abschließung durch Kanonisierung. Letztere bezeichnet eine „kanonisierende Stillstellung des Traditionsstroms“ (Assmann 2007, 93). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Konzept des Traditionsstroms nach wie vor lebensphilosophische Anklänge besitzt, vgl. Assmann 2007, 92. 230 Vgl. 3. 5. 1.

234 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext legt er dabei auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Zauberern und Priestern. Auch wenn der Historiker der Überzeugung ist, dass mit der Entstehung der Priesterschaft die Elemente der Magie und Zauberei nicht hinfällig wurden (vgl. A, 123f), bildet die Verbundenheit des Priesters mit konkreten Verbänden sowie mit bestimmten „Verbandsgottheiten“ (A, 104) bzw. „Kultgottheiten“ (A, 106) das entscheidende Merkmal, das diesen vom Zauberer unterscheidet.²³¹ Meyer operiert an dieser Stelle mit einem spezifischen Verbandsbegriff. Darunter versteht er eine Gemeinschaftsform, in der „eine Anzahl von Einzelwesen zu einer sozialen Einheit“ zusammengefasst sind und die „von allen anderen gleichartigen Gruppen derselben Gattung“ (A, 6) durch die Unterordnung unter einen Gesamtwillen abgesondert ist. Unter diesen Voraussetzungen steht die Wirksamkeit des Priesters, der als ein „dauernd mit bestimmten Aufgaben betrautes Organ des Verbandes“ (A, 124) begriffen werden müsse.²³² Zu den Aufgaben, mit denen die Priester vom Verband beauftragt werden, gehört die Aufzeichnung der im Ritus verwendeten „Formeln und Hymnen“ sowie der „Mythen“ (A, 146). Allerdings handelt es sich dabei nicht allein um eine archivalische Tätigkeit. Vielmehr unterzieht der Priester diese Überlieferungselemente einer grundlegenden Systematisierung. Hierin ist für Meyer der Wurzelgrund der Theologie zu erblicken. Letztere trete neben die – wie er sagt – unmittelbar wirkende Religion und versuche, „die Lehre zu erklären, ihre Widersprüche auszugleichen und zu einem einheitlichen System zusammenzufassen.“ (A, 146) Traditionsbildung und Systematisierung der überlieferten religiösen Vorstellungen und Praktiken gehören somit zu den elementaren Aufgaben des Priestertums. Daher stellt es innerhalb der Religionsgeschichte auch keine revolutionäre Kraft dar. Vielmehr konservieren die Priester das Bestehende, wodurch es ihnen zugleich gelingt, ihre „ausgeprägten materiellen Interessen“ (A, 148) zu verfolgen.²³³ Kommt es zu partiellen Umbildungen der in Moral und Rechtssätzen systematisierten Tradition, so kann dieser Vorgang darin seine Ursache haben, dass die Priesterschaft auf die Interessen der „Masse“ (A, 147) Rücksicht nimmt. Die Frage der Abhängigkeit priesterlicher Tätigkeit von den Interessen der Massen wird von Meyer indes nicht ausführlicher erörtert.²³⁴

231 Vgl. dazu auch Pfleiderer 1896, 56. 682. Der „soziale Charakter des Kultes“ wurde von Lehmann 1910, 403 ebenfalls betont. 232 Im perennierenden Charakter priesterlichen Wirkens spiegelt sich nicht zuletzt die Vorstellung wider, dass es sich bei den Verbandsgöttern um „dauernde Wesen“ (A, 102; vgl. auch A, 100. 108. 123f) handelt, worin sie sich von punktuell wirkenden Geisterwesen unterscheiden. 233 Vgl. A, 153. Darauf kommt auch Pfleiderer 1896, 684 zu sprechen. 234 Meyer erwähnt, dass die Systematisierungsleistung der Priester auch dem Zweck diene, „ihre eigene Herrschaft zu sichern“ (A, 203).

3.5 Religiöse Spezialisten |

235

Schließlich ist der Universalhistoriker der Ansicht, dass das Handeln der Priester weder personalistisch noch individualistisch begriffen werden dürfe. Vielmehr agieren sie aus einem spezifischen Standesbewusstsein heraus, hinter das die einzelne Persönlichkeit vollständig zurücktritt (vgl. A, 148).²³⁵ Der auch für Meyers Verständnis der Religionsgeschichte zentrale Gedanke der Individualität lässt sich somit nur privativ mit der Priesterschaft in Beziehung setzen. Auch wenn sie unter anderen Prämissen steht, so führt Meyers Anthropologie Merkmale des Priesters auf, die auch Wellhausen namhaft gemacht hatte: Traditionsbildung, Systematisierung, Standesgebundenheit bzw. Depersonalisierung. Ob jener von diesem an dieser Stelle beeinflusst wurde, muss hier offen bleiben. Es sei aber zumindest angemerkt, dass es durchaus Anhaltspunkte für eine entsprechende Abhängigkeit gäbe. So hat der Historiker auf den enormen Einfluss Wellhausens auf die Wissenschaftslandschaft seiner Zeit hingewiesen, unter dem – wie er ausdrücklich bemerkt – auch er selbst stehe. In seiner Replik auf Wellhausens Kritik an der Untersuchung, die er zum Judentum angefertigt hatte, heißt es dementsprechend: „der Gegner, der mich vor aller Welt aufs schwerste angegriffen hat, ist gegenwärtig vielleicht der hervorragendste Vertreter seiner Wissenschaft, ein bahnbrechender Forscher, auf dessen Pfaden wir alle wandeln“.²³⁶ Was Meyer aber noch stärker akzentuiert als Wellhausen ist die dem Priestertum entsprechende Sozialgestalt. Die Priester dienen der Organisation und Stabilisierung des Verbandslebens. c) Die folgende Skizze des Weberschen Priesterbildes konzentriert sich auf vier Aspekte. Zunächst wird der Kultus als das praktische Zentrum priesterlicher Wirksamkeit zu charakterisieren sein. Danach tritt der Traditionsbegriff auf den Plan, der uns schon bei Wellhausen und Meyer begegnete. Der dritte Aspekt fokussiert das Verhältnis der Priester zu den sogenannten Laien, was die soziologische Seite des Priestertums vertieft. Abschließend ist dessen Rationalisierungsleistung zu umreißen. Das unverrückbare Merkmal des Priestertums – und darin unterscheidet es sich grundsätzlich vom Zauberwesen – besteht für Weber in der „Eingestelltheit

235 Auf die Standesgebundenheit weist Pfleiderer 1896, 682 ebenfalls hin. 236 Meyer 1897, 3. Es sei auch darauf verwiesen, dass eine Vielzahl von Kategorien, die Meyer in der Anthropologie verwendet, in sachlicher Nähe zu Grundgedanken Wellhausens stehen, auf den er verschiedentlich verweist (vgl. A, 23. 30). Sie finden sich jedoch noch nicht in der Erstauflage des ersten Bandes seiner Geschichte des Altertums (1884), sondern erst in der zweiten, die 1907 publiziert wurde und in der er erstmals der materialen Geschichtsschreibung eine systematische Darstellung der Anthropologie vorangestellt hat (vgl. A, IX). So kommt er etwa auf den „Kampf der Individualität gegen die Macht der Tradition“ (A, 145) zu sprechen und bescheinigt dem Individualitätsgedanken eine herausragende Bedeutung in der Entwicklung der Religionen.

236 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext . . . auf den regelmäßigen, an bestimmte Normen, Orte und Zeiten gebundenen und auf bestimmte Verbände bezogenen Kultusbetrieb“ (RG, 159). Der Kultus stellt ein irreduzibles Charakteristikum des Priestertums dar, weswegen es auch heißt, dass es kein „Priestertum ohne Kultus“ (RG, 159) gäbe. Mit der Angabe dieses sich fast von selbst verstehenden Aspekts ist jedoch noch nicht die eigentliche Pointe des vorletzten Zitats bezeichnet. Diese besteht in der Verbandsbezogenheit der kultischen Wirksamkeit der Priester, womit Weber den Zusammenhang von Priester und Kultus von vornherein soziologisch zuspitzt.²³⁷ Diese konzeptionelle Gemengelage begegnete uns freilich schon bei Meyer und es ist durchaus möglich, dass Weber an dieser Stelle durch dessen Anthropologie beeinflusst wurde. Allerdings müssen an dieser Stelle die tiefgreifenden Differenzen in der Bestimmung der besagten Sozialform berücksichtigt werden. Denn der Verband ist bei Weber deutlich komplexer gefasst. In seinem relativ zeitgleich zu den Religiösen Gemeinschaften verfassten Kategorienaufsatz bestimmt er den Verbandsbegriff handlungstheoretisch und das „Verbandshandeln“ wird dort als eine besondere Form von „Einverständnishandeln“ (K, 466) definiert.²³⁸ Es handelt sich um eine nicht durch zweckrationales Handeln und nicht durch positive Ordnungen konstituierte Vergemeinschaftungsform. Vielmehr ist deren Bestand durch ein Handeln gesichert, das auf dem Einverständnis der Verbandsmitglieder gegenüber geltenden Normen beruht, deren Verletzung dementsprechend sanktioniert wird. Auf eine genauere Analyse von Webers Verbandsbegriff kann an dieser Stelle verzichtet werden. Entscheidend ist hier der Sachverhalt, dass die soziologische Seite des Priestertums nicht – wie bei Meyer – willenstheoretisch, sondern handlungstheoretisch fundiert ist, was der oben anzeigten methodisch-disziplinären Ausrichtung der Religiösen Gemeinschaften entspricht.²³⁹ Wie schon im Falle der Zauberer bedient sich Weber sodann erneut des Betriebsbegriffs, der nun aber mit dem Begriff des Kultus koordiniert ist. Letzterer ist – und das wird unten ausführlicher zu erörtern sein – zweifelsohne mit ökonomischen Interessen verbunden. Hierin besteht eine deutliche Parallele zur betrieblichen Ekstase des Zauberers.²⁴⁰ Gleichwohl treten mit dem priesterlichen Kultusbetrieb vermehrt nicht-ökonomische, religiöse Zwecke auf den Plan. Die auf Dauer gestellte Regulierung des Gottesverhältnisses gewinnt ein stärkeres Gewicht

237 Vgl. dazu auch Riesebrodt 2001c, 107–109. 238 In den Soziologischen Grundbegriffen wird der Verband über den Begriff der sozialen Beziehung gekennzeichnet, der seinerseits auf dem Begriff des (sozialen) Handelns aufbaut (Soz, 204). 239 Vgl. 3. 2. 240 Vgl. 3. 5. 1.

3.5 Religiöse Spezialisten |

237

als der bedarfsorientierte Zwang der Geister.²⁴¹ Dieser Gesichtspunkt ist für Webers Deutung der Religionsgeschichte insgesamt signifikant. Denn die Entwicklung der Religionen zeichnet sich seiner Auffassung nach dadurch aus, sich immer weiter von den rational-ökonomischen Grundlagen der Lebensführung zu distanzieren. Diese idealtypische Tendenz lässt sich auch im Übergang von den Zauberern zu den Priestern feststellen. Nicht weniger signifikant als das Merkmal des verbandsbezogenen Kultus ist für Webers Begriff des Priesters das der Tradition. Den Traditionsbegriff hatte er schon im Rahmen seines Magieverständnisses eingeführt, erfährt hier jedoch eine grundlegende Neubestimmung. Um dessen spezifisches Profil schärfen zu können, ist es erforderlich, Webers Überlegungen zu den kanonischen Schriften sowie zum Dogma heranzuziehen, die im Paragraphen sechs der Religiösen Gemeinschaften unter der Überschrift Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge erläutert werden. Zur Entstehung kanonischer Schriften hält Weber fest, dass sie entweder prophetische „Offenbarungen“ oder „heilige Traditionen“ (RG, 204) zur Voraussetzung haben. Ganz ähnlich wie Wellhausen unterscheidet er in diesem Zusammenhang zwischen einer mündlichen Überlieferung und einer schriftlichen Fixierung derselben, wobei er ausdrücklich herausstellt, dass die erste Vermittlungsform weite Verbreitung gefunden hatte und als einzig angemessene angesehen werden konnte. Bezogen auf den Brahmanismus ist sogar von der Perhorreszierung der Schriftform die Rede (vgl. RG, 204; R, 487f).²⁴² Weber geht also von zwei Überlieferungsstufen aus. Die erste beinhaltet mündlich weitergegebene Traditionsbestände, die zweite bildet deren Verschriftlichung in Gestalt heiliger Texte.²⁴³ Ist letztere erfolgt, treten die Priester als Urheber einer literarischen Tradition und damit der „Buchreligion“ 241 Die stärkere religiöse Ausrichtung des Kultus hat aber nicht allein in praktischer Hinsicht weitreichende Folgen. Vielmehr schattet sie sich gleichermaßen auf die religiöse Vorstellungswelt ab. Denn dass übernatürliche Wesen nicht mehr zeitlich und auf einzelne Gegenstände begrenzt vorgestellt werden, dass sich also eine „Kontinuierlichkeit der Göttergestalten“ (RG, 134) herauskristallisieren konnte, ist durch die auf Dauer gestellte und auf einen festen Verband bezogene gottesdienstliche Funktion der Priester bedingt: „Wirklich sicher aber wird diese abstrakte Vorstellung erst durch ein kontinuierlich einem und demselben Gott gewidmetes Tun, den ‚Kultus‘, und durch seine Verbindung mit einem kontinuierlichen Verband von Menschen, eine Dauergemeinschaft, für die er als Dauerndes solche Bedeutung hat.“ (RG, 134) Die kultische Tätigkeit des Priesters fällt nun genau in die Schnittstelle zwischen dem Verband und der Verbandsgottheit. Darauf hatte bereits Meyer hingewiesen. 242 Vgl. dazu auch HB, 83. 256 243 Auf diesen überlieferungsgeschichtlichen Sachverhalt weist auch Assmann hin, vgl. Assmann 2007, 94. Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass sich sachlich ähnlich gelagerte Überlegungen schon bei Luther finden. Darauf hat Holl hingewiesen, der bemerkt, dass für Luther die Schriftform nicht die originäre und angemessene Ausdrucksgestalt des Evangeliums gewesen sei, das „von Haus aus nicht ein Buch, etwas in Buchstaben Gefaßtes, gewesen sei, sondern eine ‚mündliche

238 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext (RG, 207) in Erscheinung. Auf diesem Wege schaffen sie zugleich die Grundlagen der „literarischen Bildung“ (RG, 207), deren Folgen sich bis in das Gebiet bürokratischer Verwaltungsprozesse nachvollziehen lassen, was Weber vor allem an den asiatischen Religionen verdeutlicht. Der Priester gehört damit nicht allein zu den Begründern einer Schrift-, sondern auch einer Bildungskultur, die sich über den Bereich des Priestertums bis hin zu den Laien erstreckt.²⁴⁴ Daher bezeichnet ihn Weber zugleich als den „Träger des Intellektualismus“ (RG, 266). Der in dieser Studie nicht näher zu behandelnde Typus des Intellektuellen steht somit auch in Kontinuität zur sacerdotalen Tradition.²⁴⁵ Mit der Entstehung der kanonischen Schriften ist der priesterliche Traditionsbildungsprozess aber noch nicht vollständig beschrieben. Vielmehr geht Weber auf eine weitere Konsolidierungsgestalt der Tradition ein. Sie verweist auf die Auslegungspraxis des Offenbarungs- und Traditionswissens, das in die heiligen Schriften eingeflossen ist. Die Interpretation derselben bündelt sich in den bereits erwähnten Dogmen, d. h. in den „Priesterlehren über den Sinn beider [sc. Offenbarung und Tradition]“ (RG, 204). Die mit dem Priestertum verbundene Tradierung heiligen Wissens umfasst somit insgesamt drei aufeinander aufbauende Elemente: die mündliche Tradition, deren schriftliche Fixierung in Gestalt des Kanons sowie die dogmatische Auslegung.²⁴⁶ Mit der Abfolge und dem Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Elemente sind nun für Weber die Voraussetzungen für die – wie es in der Zwischenbetrachtung heißt – „Erhaltung einer perennierenden Tradition“ (ZB, 513) erfüllt, die es unter den Bedingungen des bloßen Zauberwesens im strengen Sinne des Wortes nicht geben kann. Dieser Konservierungstendenz leistet nicht zuletzt das – ebenso von Meyer betonte – priesterliche Standesbewusstsein Vorschub. Das Auftreten von Priestern ist in der Regel nicht auf persönliche bzw. individuelle Impulse zurückzuführen.

Predigt und ein lebendig Wort‘, ‚ein gut Mähre und Geschrei‘, das in alle Welt erschollen sei. Daß überhaupt etwas niedergeschrieben wurde, war schon ein Notbehelf, ein ‚Abbruch und Gebrechen des Geistes‘, veranlaßt durch die Entstellungen, denen die Predigt bereits im ersten Geschlecht ausgesetzt war.“ (Holl 1923d, 562). 244 „Eine solche Buchreligion wird nun Grundlage eines Bildungssystems nicht nur für die eigenen Angehörigen der Priesterschaft, sondern auch und gerade für die Laien.“ (RG, 205). 245 Diese Verbindung wurde später von Helmut Schelsky aufgegriffen und in der Untersuchung Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen verarbeitet, vgl. Schelsky 1977, 21ff. 49ff. 246 Zu letzterer gehört nach Weber auch die Rationalisierung und Systematisierung einer Rechtslehre, die aber ihrer religiös begründeten Traditionsgebundenheit wegen nicht formal-, sondern material-rationalen Charakters ist. Die heilige Tradition begründet das heilige Recht, vgl. R, 485– 487. Zum Begriff der materialen Rationalität vgl. Adolphi 1996, 105–112.

3.5 Religiöse Spezialisten |

239

Vielmehr sind sie Teil eines „vergesellschafteten Heilsbetriebs“ (RG, 178),²⁴⁷ der für ihr Selbstverständnis konstitutiv ist. Webers Ansicht nach ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Priester ein persönliches Charisma besitzt. Doch auch wenn das der Fall sein sollte, ist die Wirksamkeit des charismatischen Priesters nicht durch die besagte Qualität legitimiert, sondern durch das „Amt“ (RG, 178).²⁴⁸ Mit Kultus und Tradition sind zwei elementare Merkmale von Webers Priesterbild zur Sprache gekommen. In ihnen spiegelt sich eine grundlegende Konsolidierung des Religiösen vor allem nach seiner praktischen und seiner theoretischen Seite wider. Kultus und Tradition stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Stabilisierung. Die Verfestigungstendenz lässt sich jedoch nicht allein an diesem Verhältnis beobachten. Vielmehr schlägt sie sich auch auf der Ebene der religiösen Gemeinschaftsbildung nieder, der es sich nun zuzuwenden gilt. Zunächst sei Webers allgemeine Bestimmung der „Gemeindereligiösität“ festgehalten: „Wir wollen nur da von ihrem Bestand reden, wo die Laien 1. zu einem dauernden Gemeinschaftshandeln vergesellschaftet sind, auf dessen Ablauf sie 2. irgendwie auch aktiv einwirken.“ (RG, 199) Der erste Gesichtspunkt, das auf Dauer gestellte religiös bestimmte Gemeinschaftshandeln, wird insofern maßgeblich von priesterlichen Praktiken bestimmt, als die „religiöse Gemeindebildung“ (RG, 208) Weber zufolge primär dogmatisch vermittelt ist.²⁴⁹ Die gemeinschaftskonstituierende Funktion der Dogmen liegt in ihrer Qualität als „Unterscheidungslehre“ (RG, 208) begründet. Die wechselseitige Abgrenzung von religiösen Gemeinschaften wird im hohen Maße durch den Inhalt priesterlicher Lehrsätze reguliert.²⁵⁰ Aller-

247 An anderer Stelle spricht Weber auch von der eigenen „Schicht“ (RG, 207) der Priesterschaft. 248 Diese Angabe ist – werkgenetisch betrachtet – möglicherweise von weitreichender Bedeutung. Denn sie könnte als ein Beleg dafür angesehen werden, dass Weber den in der Regel mit seiner Herrschaftssoziologie verbundenen Übergang vom persönlichen zum Amtscharisma erstmals in der Religionssoziologie reflektiert hat, was zugleich dafür spräche, die werkbiographischen Grundlagen des charismatischen Herrschaftstyps in der Religionssoziologie zu erblicken, die von dort in den Bereich der Herrschaftssoziologie übernommen wurden. In die herrschaftssoziologische Auslegung des Charismabegriffs wäre dann seine Auseinandersetzung mit den religiösen Spezialisten eingeflossen, was nicht zuletzt das später in den Blick zu nehmende Prophetenverständnis wiederum bestätigen würde. 249 Auf diesen Gesichtspunkt weist auch Siebeck hin: das Dogma diene „dem Zusammenhalt der kirchlichen Gemeinschaft“ (L, 276). 250 In den „magisch bedingten Tätowierungen der Totem- und Kriegsverbandsgenossen“ (RG, 209) erblickt Weber Vorläufer dieses Sachverhalts. Er führt darüber hinaus die „Unterscheidungsbemalung der hinduistischen Sekten“ (RG, 209), die jüdische Beschneidung sowie die jeweils heiligen Tage des Judentums, des Christentums und des Islams auf, die allesamt auch die Funktion der Unterscheidung besitzen. In der neueren Literatur wird dieser Gesichtspunkt auch unter dem Begriff „boundary marker“ verhandelt. Exemplarisch sei auf die Paulusdeutung von James D. G. Dunn verwiesen, vgl. Dunn 2008, 129f. 162.

240 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext dings handelt es sich dabei um eine Erscheinung, die weniger in den asiatischen Religionen auftritt. Vielmehr ist das „Bedürfnis, gegen fremde konkurrierende Lehren sich abzugrenzen und propagandistisch die Oberhand zu behalten“ (RG, 208), für die Religionen des „Okzidents“ (RG, 211) kennzeichnend, wobei in dieser Beziehung das Christentum eine besondere Stellung einnimmt. Nirgends ist so eine „umfangreiche, streng bindende und systematisch rationalisierte Dogmatik“ (RG, 211) wie dort entstanden, was sich in den Gemeinschaftsbildungsprozessen der christlichen Religion unmittelbar niederschlug. Doch ist die Frage, in welcher Weise die Priester auf das religiöse Gemeinschaftsleben Einfluss nehmen, damit noch nicht hinlänglich beschrieben. Um sich diesem weiter anzunähern, bietet es sich an, von folgendem Zitat auszugehen: „Die priesterliche Arbeit an der Systematisierung der heiligen Lehre erhält ihre Nahrung fortwährend neu aus den neuen Bestandteilen der Berufspraxis der Priester gegenüber derjenigen der magischen Zauberer.“ (RG, 214) Weber denkt in diesem Zusammenhang an „Predigt“ und „Seelsorge“²⁵¹ (RG, 214). Der Hinweis auf die „Nahrung“ der Systematisierungstätigkeit ist auf das „Material“ (RG, 216) derselben zu beziehen, das sich nicht allein aus prophetischen Offenbarungen und mündlich oder schriftlich überlieferten Traditionen speist. Vielmehr werden diese mit den Problemen der alltäglichen Lebensführung verschmolzen. Von beiden Bereichen der Berufspraxis (Predigt und Seelsorge), die – wie Weber bemerkt – in der Prophetie ihre Wurzeln haben, legt er das größere Augenmerk auf den zweiten, weil im Rahmen der priesterlichen Wirksamkeit nur dieser mit „‚ethischen‘ Einwirkungen auf die Lebensführung“ (RG, 214) einhergeht.²⁵² Die Predigt hingegen sinke im „Alltagsbetrieb“ (RG, 215) zur völligen Wirkungslosigkeit herab.²⁵³ Die Auseinandersetzung mit den Alltagsproblemen wirkt sich nun aber in einer ganz spezifischen Weise auf die priesterliche Arbeit aus. Sie führt – wie es in der Zwischenbetrachtung heißt – zu einer „Akkomodation an die Kulturbedürfnisse und Alltagsinteressen der Massen“ (ZB, 489). Weber spricht auch von einer „Veralltäglichung“ (RG, 214) und „Popularisierung“ (RG, 216f) religiöser Vorstellungen.²⁵⁴

251 Der priesterlichen Funktion der Seelsorge schenkt auch Siebecks Religionsphilosophie größere Beachtung, vgl. L, 297f. 252 Ähnlich argumentiert Lehmann 1910, 556. 253 Damit greift Weber einen Gedanken auf, der auch in der protestantischen Theologie um 1900 geltend gemacht wurde. Bei Wilhelm Herrmann (1846–1922) etwa heißt es ganz ähnlich: „Wir klagen über die Machtlosigkeit der evangelischen Predigt gegenüber dem modernen Geistesleben.“ (Herrmann 1966, 152). 254 Durch die Anpassung der Priesterlehre an die Gemeindeverhältnisse fließen magische Vorstellungen in dieselbe ein (vgl. RG, 216), ist doch die Laienreligiosität eng mit der Magie verflochten. Hierin liegt eine wesentliche Ursache dafür, die Grenze zwischen Zauberern und Priestern oftmals

3.5 Religiöse Spezialisten |

241

Denn es ist keineswegs so, dass ausschließlich die Priester auf die Kultgemeinde Einfluss nehmen. Vielmehr gilt auch das umgekehrte Bedingungsverhältnis. Damit tritt der zweite Gesichtspunkt von Webers Verständnis der Gemeindereligiosität auf den Plan, also die aktive Einflussnahme der Nicht-Priester auf das auf Dauer gestellte religiös bestimmte Gemeinschaftshandeln. Dieser Gesichtspunkt artikuliert sich den Religiösen Gemeinschaften zufolge am deutlichsten in der Anpassung priesterlicher Tätigkeiten an die Laienbedürfnisse (vgl. RG, 207. 216). Letztere markieren denjenigen Faktor, durch den die Laien – die Propheten ausgenommen – einen die religiöse Vergemeinschaftung bestimmenden Einfluss ausüben. Denn die Priester reagieren auf die Bedürfnisartikulation der Verbandsmitglieder bzw. der vom politischen Verband gesonderten „Spezialanhängerschaft“ (RG, 197).²⁵⁵ Allerdings ist diese Anpassungsstrategie nicht mehr primär religiös bestimmt. Vielmehr verbirgt sich dahinter ein Machterhaltungskalkül. Dieser Gesichtspunkt ist also unmittelbar mit ökonomischen und herrschaftssoziologischen Implikationen verknüpft. Ausdrücklich kommt Weber in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung materieller Interessen des Priestertums zu sprechen (vgl. RG, 216). Ebenso ist ihr Versuch, die Lebensführung der Laien zu „reglementieren“ (RG, 216) von dem Motiv der Macht- bzw. Herrschaftssicherung bestimmt (vgl. RG, 216, vgl. auch 203. 205. 387–389 u. ö.).²⁵⁶ Dessen ungeachtet ist Webers Priesterbild nicht von dieser schon aus der Aufklärung bekannten Priesterkritik bestimmt, die dann vor allem durch Nietzsche wieder aufgewärmt wurde. Vielmehr würdigt er die Priester in erster Linie als Begründer der Buchreligion und der damit einhergehenden Entstehung eines Intellektualisierungsprozesses, dessen Einfluss weit über den Bereich des Reli-

nicht klar ziehen zu können, zumal die Tätigkeit eines Priesters die „magische Qualifikation“ (RG, 158, vgl. auch RG, 155) in der Regel mit einschließt. Damit vertritt Weber eine Position, die in der damaligen Religionsforschung verbreitet war, vgl. L, 295. Siebeck spricht auch von Zauberpriestern, vgl. L, 2831. Inbegriff des Zauberpriesters ist für Weber der Brahmane (vgl. HB, 121). 255 Eine exklusiv religiöse Gemeinschaft setzt meist die Vernichtung des politischen Verbandes voraus bzw. die Emanzipation von letzterem (vgl. RG, 197. 372). 256 Auf die Machtdimension priesterlichen Handelns kommt Weber auch in der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen zu sprechen: „Der aus der berufsmäßigen Befassung mit Kult und Mythos oder und in noch weit höherem Grade: mit Seelsorge, das heißt: Beichte und Beratung von Sündern, erwachsende Rationalismus der Hierokratie suchte überall die Gewährung des religiösen Heilsgutes für sich zu monopolisieren, und also in die Form der nur von ihr rituell zu spendenden, nicht vom Einzelnen erreichbaren, ‚Sakramentsgnade‘ oder ‚Anstaltsgnade‘ zu bringen und entsprechend zu temperieren. Die individuelle Heilssuche des Einzelnen oder freier Gemeinschaften durch Kontemplation, orgiastische oder asketische Mittel, war ihr, vom Standpunkt ihrer Machtinteressen aus ganz naturgemäß, höchst verdächtig und mußte rituell reglementiert und vor allem hierokratisch kontrolliert werden.“ (E, 104f).

242 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext giösen hinausgeht. Genau diese Aspekte sind es, weswegen er ausdrücklich von einem „Priesterrationalismus“ (RG, 150) spricht. Priester gehören für ihn zu den entscheidenden Trägern der „Rationalisierung der metaphysischen Vorstellungen“ sowie der „religiöse[n] Ethik“ (RG, 160).²⁵⁷ Sie sind – mit Bourdieu formuliert – die Protagonisten der „gelehrten Religionen“.²⁵⁸ Und doch bleibt dieser Rationalisierungsschub aus besagten Gründen nicht ungebrochen, weswegen Weber davon Abstand nimmt, bezogen auf das Priestertum von einer ethischen Religion zu sprechen. Insofern es den Priestern vielfach nicht gelungen ist, sich von der Magie zu emanzipieren, vermochten sie es nicht, dass „der Magie gegenüber prinzipiell Neue: eine rationale Metaphysik und religiöse Ethik“ (RG, 160) zu schaffen. Das setze – in der Regel – vielmehr „das Eingreifen außerpriesterlicher Mächte voraus. Einerseits eines Trägers von metaphysischen oder religiös-ethischen ‚Offenbarungen‘: des Propheten. Andererseits die Mitwirkung der nicht priesterlichen Anhänger eines Kultus: der ‚Laien‘“. (RG, 160) Auf den Propheten gilt es im Folgenden das Augenmerk zu legen. Bevor wir uns ihm jedoch zuwenden, sollen noch einmal die wichtigsten Merkmale von Webers Begriff des Priesters zusammengefasst werden. Wie bereits an Webers Verständnis des Zauberers so lässt sich auch an der zuletzt gezeichneten Skizze seines Priesterbildes eine enorme thematische Spannbreite ausmachen. Sie reicht von der Traditionalisierungs- und Systematisierungsleistung der Priester in Gestalt ihrer Arbeit an der Kanonisierung heiliger Überlieferungen sowie ihrer dogmatischen Interpretation bis hin zu ihrer darauf aufbauenden Funktion, Begründer und Vermittler einer Bildungskultur und damit einhergehend -schicht zu sein. Diese Elemente können als Stabilisierungsfaktoren des verbandsbezogenen Kultus angesehen werden, den Weber in den Mittelpunkt ihrer Wirksamkeit rückt. Bei all diesen Faktoren, auf die er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Wellhausen und Meyer gestoßen war, handelt es sich um Sachverhalte, die zu einer Verstetigung des Religiösen sowohl im Bereich der Lebensführung als auch in dem der metaphysischen Vorstellungswelt führen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Gottesvorstellungen selbst. Vor diesem Hintergrund zeichnet der Priester für die Rationalisierung der religiösen Ethik und Metaphysik wesentlich verantwortlich. Aufgrund der Verflechtungen mit magischen Elementen sowie durch die materiellen und herrschaftlichen Interessen der Priester kommen sie jedoch nicht als Repräsentanten einer ethischen Religion zu stehen.

257 „Beides pflegt in voller Konsequenz nur eine selbständige und auf dauernde Beschäftigung mit dem Kultus und den Problemen praktischer Seelenleitung eingeschulte Berufspriesterschaft zu entwickeln.“ (RG, 160). 258 Bourdieu 2011b, 49.

3.5 Religiöse Spezialisten |

243

Schließlich arbeitet Weber verschiedene Dimensionen des sozialen Lebens heraus, die mit dem Auftreten des Priestertums verbunden ist. Das gilt allen voran für den durch Einverständnishandeln begründeten Verband, innerhalb dessen der Priester für die kultische Regulierung des Gottesverhältnisses zuständig ist. In diesem Zusammenhang kommt Weber aber nicht allein auf die Priester zu sprechen. Vielmehr umreißt er ein komplexeres Geflecht sozialer Beziehungen bzw. – mit Bourdieu gesprochen – ein religiöses Feld,²⁵⁹ das wesentlich durch das Verhältnis von Priestern und Nicht-Priestern bestimmt ist, deren Verhaltensweisen sich wechselseitig bedingen, was für Weber eine Grundvoraussetzung religiöser Vergemeinschaftung darstellt. Die Priester repräsentieren zwar den institutionellen Rahmen, gleichwohl üben die Laien einen aktiv Einfluss auf die Gemeindereligiosität aus.

3.5.3 Der Begriff des Propheten Webers Begriff des Propheten, den er in den Religiösen Gemeinschaften erstmals ausführlich entfaltet,²⁶⁰ gehört zu den neuralgischen Punkten seiner religionssoziologischen Studien. Die Eindringlichkeit, mit der er sich immer wieder zu diesem Thema äußert, hat Löwith zu der These veranlasst, dass Weber sich in seiner Analyse der altjüdischen Prophetie selber auslege.²⁶¹ Die neuere Forschung fällt demgegenüber etwas nüchterner aus und ist primär auf die Frage nach den Einflussfaktoren von Webers Prophetenbild fokussiert.²⁶² Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf Wilhelm Boussets (1865–1920) Wesen der Religion (1904) gelegt,²⁶³ wobei die Frage, ob Weber dieses Werk überhaupt gekannt hat, in diesem Zusammenhang

259 Bekanntlich entwickelte Bourdieu seine Theorie des religiösen Feldes in Auseinandersetzung mit Webers Religiösen Gemeinschaften, allen voran mit dem Verhältnis von Priestern und Nicht-Priestern, vgl. Bourdieu 2011b, 62–78. Bei Weber heißt es aber auch: „Im übrigen aber war die Eigenart der großen religiös-ethischen Systeme durch weit individuellere gesellschaftliche Bedingungen als durch den bloßen Gegensatz von herrschenden und beherrschenden Schichten bestimmt.“ (E, 97) Bourdieu fokussiert hingegen in erster Linie die herrschaftssoziologischen Implikationen des religiösen Feldes. 260 In der dritten Auflage der Agrarverhältnisse im Altertum (1908) sowie in Ethik und Mythik/rituelle Absonderung (1911/1912) bildet das Prophetentum hingegen kein zentrales Thema, vgl. Otto 2005b, 20–22. 61–65. 261 Löwith 1988, 329. Ganz ähnlich beurteilt auch Marianne Weber die Beschäftigung ihres Mannes mit diesem Typus religiöser Spezialisten, vgl. Weber 1984, 605. 262 Lang 1984, 156–165; Graf 1987; Schluchter 1991b; Lang 2001, 168–174; Otto 2002, 182–245; Otto 2005a, 82–86. 263 Lang 2001, 172; vgl. Otto 2002, 195ff; Otto 2005a, 21566.

244 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext nicht einmal in Erwägung gezogen wird.²⁶⁴ Dessen ungeachtet vermutet Bernhard Lang, dass dieser Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule das Prophetenbild Webers geprägt habe. Das lasse sich an dessen Annahme ablesen, dass in der Verkündigung der Propheten „eine einheitliche, in sich geschlossene Überzeugung vom Inhalt und Wesen des Lebens“²⁶⁵ zur Darstellung komme. Eckart Otto schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er bemerkt, Weber folge „der zeitgenössischen protestantischen Fachexegese, die in der prophetischen Kultkritik den Durchbruch eines ‚sittlichen Gottesbegriffs‘ sieht und die er [sc. Weber] vermittelt über W. Bousset rezipiert.“²⁶⁶ Neben Bousset wurde auch der ebenfalls der religionsgeschichtlichen Schule zuzurechnende Alttestamentler Hermann Gunkel (1862–1932) ins Spiel gebracht. So heißt es etwa bei Friedrich Wilhelm Graf: „In der Studie über ‚Das antike Judentum‘ führt er [sc. Weber] eine Publikation Gunkels über ‚Die geheimen Erfahrungen der Propheten‘ mit dem Kommentar ein: ‚glänzend wie immer‘.“²⁶⁷ Der Münchener Systematiker unterschlägt in diesem Zusammenhang jedoch, dass Weber diese Würdigung Gunkels auf dessen Darstellung der „ekstatischen Zuständlichkeiten der Propheten“ (J II, 608) bezogen hat und nicht auf die Prophetendeutung insgesamt. Denn es gilt zu bedenken, dass die Ekstase für Weber ein irreduzibles Merkmal der Prophetie darstellt. Deren Wirksamkeit hebt mit jener an. Entscheidend ist jedoch – und darauf werden wir später zurückkommen –, dass es sich dabei um ein äußeres Kriterium handelt, das Weber zufolge keineswegs im Mittelpunkt prophetischen Handelns steht. Doch gibt es noch einen weiteren Anhaltspunkt dafür, die Reichweite von Gunkels Einfluss nicht zu hoch zu veranschlagen. Dieser betrifft die Methodik des Alttestamentlers. Gunkels Interpretation der Propheten ist primär religionspsychologisch ausgerichtet, was bereits der Untertitel seines Aufsatzes: Die geheimen Erfahrungen der Propheten Israels. Eine religionspsychologische Studie (1903) anzeigt. Wie wir im ersten Teil dieser Untersuchung gezeigt haben, schätzt Weber diese Vorgehensweise mindestens ambivalent ein. Das psychologische Verstehen leidet seiner Auffassung nach an einem massiven Objektivierbarkeitsdefizit.²⁶⁸

264 Bislang konnte dafür noch kein Beleg gegeben werden. Nachweisbar ist hingegen Webers Lektüre von Boussets Religion des Judentums (1903), vgl. RG, 27626. 265 Bousset 1904, 107. 266 Otto 2002, 201, vgl. auch Otto 2005a, 21566. 267 Graf 1987, 130. Auch Otto verweist mehrfach auf Webers Beeinflussung durch Gunkel, vgl. Otto 2002, 194–197. 201–203 u. ö. 268 Diesen Aspekt macht auch Otto auf Webers Prophetendeutung bezogen geltend, vgl. Otto 2005b, 121f7. Den „Anti-Irrationalismus“ von Webers Prophetenbild hat Bernhard Lang herausgestellt, vgl. Lang 1984, 157.

3.5 Religiöse Spezialisten |

245

Dass Irritierende an dieser Forschungslage besteht nun darin, dass vielfach Elemente zur Sprache kommen, die sich in der Prophetendeutung Julius Wellhausens wie in einem Brennglas bündeln.²⁶⁹ Daher ist es in gewisser Weise verwunderlich, dass dieser in der Weberliteratur zwar diskutiert, im Hinblick auf die Frage nach den Rezeptionslinien von Webers Prophetenbegriff aber in der Regel in die zweite Reihe zitiert wird.²⁷⁰ Dieser Befund erstaunt umso mehr, als Weber – wie oben schon bemerkt – der Überzeugung war, dass alle alttestamentliche Arbeit seiner Zeit auf Wellhausen aufbaue.²⁷¹ Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die bisher geleistete forschungsgeschichtliche Kontextualisierung von Webers Prophetenverständnis zu erweitern bzw. anders zu akzentuieren. Bevor wir auf Webers Begriff des Propheten zu sprechen kommen (c), sollen daher zunächst Wellhausens Ausführungen zu diesem Thema in den Blick kommen (a), um davon ausgehend deren Reichweite für Webers Konzeptualisierung des Prophetenbegriffs ausloten zu können.²⁷² Doch nicht nur Wellhausen soll in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Darüber hinaus bietet es sich an dieser Stelle an, noch einmal Siebecks Religionsphilosophie heranzuziehen (b). Der dritte Typus seiner religionsgeschichtlichen Konstruktion bildet – wie oben bereits angedeutet wurde 269 Das gilt etwa auch für Grafs Hinweis auf Gunkels These, dass im alttestamentlichen Prophetentum der „Durchbruch zum Individualismus“ (Graf 1987, 131) erfolgt sei. 270 Vgl. Graf 1987, 129. 131. Ähnlich verfährt Eckart Otto in seinen Beiträgen zu diesem Thema, vgl. Otto 2002, 17811; Otto 2002, 18127; Otto 2005a, 202–212. Das darf freilich nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass der Münchener Alttestamentler Wellhausen nicht berücksichtigen würde. Davon kann in gar keiner Weise die Rede sein. Vielmehr arbeitet er eine Vielzahl von Bezugspunkten heraus, die zwischen Wellhausens und Webers Auseinandersetzung mit den alttestamentlichen Schriften bestehen. Das gilt ansatzweise auch für das Prophetenbild (vgl. etwa Otto 2002, 202). Doch schätzt er den Einfluss der der religionsgeschichtlichen Schule zuzurechnenden Alttestamentler – vor allem Hugo Gressmann und Hermann Gunkel – insgesamt als weitaus höher ein als den Wellhausens. In dieser Akzentsetzung artikuliert sich möglicherweise seine Konzentration auf das Deponatsmanuskript Ethik und Mythik/rituelle Absonderung (1911/1912) sowie auf die Studien zum antiken Judentum, also auf die Untersuchungen Webers, die stärker religionsgeschichtlich ausgerichtet sind. Ihnen gegenüber schenkt er den Religiösen Gemeinschaften ein geringeres Maß an Aufmerksamkeit, was sich in seiner Auseinandersetzung mit dem dort konstruierten Prophetenbegriff deutlich niederschlägt. Denn die für Weber entscheidende Pointe, derzufolge die Propheten als die großen Sinnstifter der Religionsgeschichte angesehen werden müssen, bleibt bei Otto weitgehend unberücksichtigt (vgl. Otto 2005b, 71–90. 82–86; Otto 2002, 119–130. 191–204). 271 Smend weist darauf hin, dass auch Bousset zentrale Anregungen von Wellhausen empfangen hat, vgl. Smend 1991, 210. 272 Dass Wellhausens Beitrag zu diesem Thema als ein Konstruktionselement angesehen werden muss, auf das sich Weber stützt, wird von Kippenberg angedeutet. Allerdings bezieht er sich allein auf Wellhausens in Hinnebergs Kultur der Gegenwart erschienenen Aufsatz Die israelitisch-jüdische Religion (1906), vgl. Kippenberg 2003, 218.

246 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext – die Erlösungsreligion. Ähnlich wie bei Wellhausen ist dieser Typus unmittelbar mit der Prophetie verbunden. Damit tritt eine Verknüpfung von Elementen auf den Plan, die auch für Webers Prophetenbegriff signifikant ist.²⁷³ a) Dass mit dem Prophetentum kein Nebenkrater in Wellhausens Auslegung des Alten Testaments in den Blick kommt, hat Rudolf Smend deutlich herausgestellt. Diesem zufolge gehören die Ausführungen zu den Propheten „zum Hinreißendsten, was Wellhausen geschrieben hat.“²⁷⁴ Dass letzterer den Propheten eine Sonderstellung in der Geschichte Israels einräumt, ist nicht zuletzt Prämissen geschuldet, die für Wellhausens eigenes Religionsverständnis bestimmend gewesen sind. Dazu gehören in erster Linie die ethische Ausrichtung des Religiösen sowie dessen Verwobenheit mit dem in seiner Zeit weit verbreiteten Individualitätsparadigma, auf das wir oben bereits andeutungsweise zu sprechen gekommen waren. Wie sich beide Dimensionen in Wellhausens Prophetendeutung niedergeschlagen haben, werden die folgenden Überlegungen zeigen.²⁷⁵ Sie orientieren sich gliederungsmäßig an den von Wellhausen herausgearbeiteten Phasen in der Entwicklung des Prophetentums. Ausgangspunkt sind für den Göttinger Gelehrten die in Verbänden organisierten Propheten, aus deren Reihen immer wieder Ausnahmegestalten hervorgegangen seien. Als „Prototyp“ der alttestamentlichen Prophetie gilt ihm Elias von Thisbe (vgl. IJG, 52): „Einsam ragte dieser Prophet, die grandioseste Heldengestalt in der Bibel, über seine Zeit hervor“ (IJG, 52). Wenn er in ihm das Urbild prophetischen Wirkens erblickt, dann baut dieses Urteil auf der Überzeugung auf, dass sich an ihm erstmals in der Geschichte Israels der fundamentale Gegensatz zwischen der Naturgebundenheit des israelitischen Kultus und der auf sittlichen Grundsätzen basierenden Wirksamkeit der Propheten festmachen lässt. „Ihm [sc. Elias] bedeuteten Baal und Jahve . . . einen Gegensatz der Principien, der letzten und tiefsten praktischen Überzeugungen“ (IJG, 53). Mit dem Begriff der Überzeugung ist bereits eine Grundbestimmung von Wellhausens Prophetenverständnis bezeichnet. Die Propheten handelten seiner Ansicht nach aus Überzeugungen heraus, die auf sittlichen Prinzipien aufbauen, die ihrerseits mit dem Wesen Gottes

273 Es wäre durchaus auch möglich, zudem auf Meyers Anthropologie zu sprechen zu kommen. Insofern sich dessen Prophetenbild aber in die benannte Leitperspektive des Ethischen einfügt und nicht über das Wellhausens und Siebecks hinausgeht, ist es nicht erforderlich, es eigens zu thematisieren. 274 Smend 1998, 110. 275 Zu Wellhausens Prophetendeutung vgl. auch Claussen 1997, 65–72. Claussen arbeitet die Bedeutung Wellhausens für Troeltschs Verständnis der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte heraus, die in diesem Zusammenhang größer sei als die Bernhard Duhms. Troeltschs Beitrag Das Ethos der hebräischen Prophetie erschien 1916/1917 in der Zeitschrift Logos.

3.5 Religiöse Spezialisten |

247

bzw. der sittlich gefassten „Gottesidee“ (IJS, 54) korrespondieren. Diese Haltung ging mit einer Exklusion aller Erscheinungen der Religion Israels einher, die jenen Prinzipien widersprachen und das betraf zuvörderst den kanaanitisch imprägnierten Kultus (vgl. IJG, 100). „Für ihn [sc. Elias] gab es . . . überall nur ein Heiliges und ein Mächtiges, das nicht in dem Leben der Natur, sondern in den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft, durch die allein sie bestehen kann, in den sittlichen Forderungen des Geistes sich offenbarte.“ (IJG, 53)²⁷⁶ Der „Kampf der Götter“²⁷⁷ (IJG, 53) – wie Wellhausen sagt – entpuppt sich als ein Kampf der Überzeugungen. Durch dieses zwar im Alten Testament gezeichnete, aber geschichtlich nicht mehr verifizierbare Bild Elias ist der „sogenannte ethische Monotheismus der Propheten“ (IJG, 75) präfiguriert, der im Zentrum einer neuen Phase des Prophetentums steht, die nach Wellhausen mit Amos einsetzte. Das rein sittliche Gottesverständnis der Propheten bündelte sich in der Prophetie des 8. Jahrhunderts und ist mit dem Glauben an eine „sittliche Weltordnung“ (IJG, 75) verbunden,²⁷⁸ in deren Mittelpunkt die Annahme einer ausnahmslosen Geltung des sittlichen Gerechtigkeitsprinzips stand. Der ethische Monotheismus drückt sich demnach in einer einheitlichen, auf sittlichen Prinzipien gründenden Perspektive aus, die sich nicht auf segmentierte Bereiche des menschlichen Lebens beschränken lässt, sondern sich auf die gesamte Welt erstreckt. Der Inhalt ihrer Verkündigung war jedoch nichts Neues, sondern die Thora Gottes, als deren „Interpreten“ (IJG, 103) sie auftraten. Ihre Wirksamkeit zeichnete sich durch eine Konzentration auf das Gesetz aus (IJG, 109), wobei hier nicht das Gesetz in seiner schriftlich fixierten Form gemeint ist, sondern die Thora im Sinne des lebendigen Wortes Gottes, das sich in einer moralischen Ordnung der Gerechtigkeit ausspricht.²⁷⁹ Diese Sichtweise schlug sich unmittelbar in einer massiven Kultkritik nieder. „Sie eröffneten mit aller Macht den Kampf gegen das Heidentum in Israel, gegen Alles was in der Religion der Moral, der Idee des heiligen und gerechten

276 Ähnlich fällt die Beurteilung des Propheten Amos aus, vgl. Wellhausen 1906, 23. 277 Dieses Bild erinnert an Webers berühmte Formulierung aus seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf : „Ueberall freilich geht diese Annahme, die ich Ihnen hier vortrage, aus von dem einen Grundsachverhalt: daß das Leben, solange es in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander kennt, – unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.“ (Weber 1992b, 104f, vgl. auch Weber 1992b, 100). 278 Dieser Gesichtspunkt lässt sich bereits in der Prophetendeutung des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausmachen, vgl. Schröter 2012b, 67. 279 Diese Gestalt des Gesetzes bleibt bei Claussen unterbelichtet, wenn er notiert, dass die Propheten bei Wellhausen nicht mehr als „Ausleger des Gesetzes“ (Claussen 1997, 66) in Erscheinung treten.

248 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Gottes, widersprach“ (IJG, 76). Insofern sie sich in diesem Vorgehen dem Gesetz verpflichtet sahen, bezeichnet Wellhausen sie als die „Begründer der Religion des Gesetzes“ (IJG, 77). Dass die Priesterschaft des Alten Israel erheblichen Anteil daran hatte, ist oben herausgestellt worden. Der Höhepunkt ihrer Wirksamkeit kommt mit der sogenannten ‚prophetischen Reformation‘ in den Blick (vgl. IJG, 88ff). Im Gegensatz zu den älteren Propheten, die vehement gegen den Kultus insgesamt opponierten, zielten deren Nachfolger nun nicht auf die Abschaffung des Kultus, sondern auf dessen Neuorganisation in Gestalt der Jerusalemer Kultzentralisation (vgl. PGI, 26). Diesen Weg betrat die Prophetie mit Jesaja,²⁸⁰ wobei hier – wie es in den Prolegomena heißt – „Propheten und Priester . . . gemeinschaftlich die Sache betrieben“ (PGI, 26). Die Reformmaßnahmen wurden durch das Auffinden des Deuteronomiums unter der Regentschaft Josias eingeleitet und durch die Umsetzung der darin formulierten Forderungen vollstreckt. Im Deuteronomium wurde die Arbeit der Prophetie vollendet (vgl. IJG, 94). Auch im Hinblick auf das fünfte Buch Mose meint Wellhausen aufzeigen zu können, „daß Propheten und Gesetz kein Gegensatz, sondern identisch sind und im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehn.“ (IJG, 95) Im Effekt zeitigte die Reformation jedoch nicht die von den Propheten angestrebte Errichtung der Theokratie, die sie nicht mehr – wie in den Anfängen der Geschichte Israels – in der Durchdringung von Religion und Volk erfüllt sahen,²⁸¹ sondern als eine „geistliche Anstalt“ begriffen.²⁸² Sie war vielmehr auf den Kultus beschränkt, was jedoch vor allem den Priestern zugute kam; „die Centralisierung des Cultus erwies sich als kräftigster Hebel der Hierokratie.“ (IJG, 132) Hierin liegt die Tragik, die Wellhausen der Geschichte der Prophetie beimisst. Ihr Versuch, den ihrer Wirksamkeit zugrunde liegenden Idealen zur Durchsetzung zu verhelfen, schlug in das Gegenteil um. Die Einführung des Deuteronomiums löste einen Prozess aus, der zum „Tod der Prophetie“ (PGI, 411) führte. Wellhausen führt dann weiter aus, dass erst das Exil das exekutierte, was die prophetischen Reformer als Ziel gesetzt hatten, die heidnischen Elemente aus der Religion Israels auszumerzen: „die alte Tradition, wie sie auf dem Boden des kanaanitischen Landes mit dem Volke aufgewachsen war, wurde durch die gewaltsame Losreissung des Volkes aus seinem Lande gebrochen.“²⁸³ (IJG, 109)

280 Vgl. Wellhausen 1906, 24. 281 Vgl. Wellhausen 2004, 20. 282 Wellhausen 2004, 32. Claussen stellt zurecht heraus, dass für Wellhausen die Theokratie der Ausgangspunkt der Geschichte Israels sei (vgl. Claussen 1997, 67), übersieht jedoch die „Neugestaltung der Theokratie“ (IJG, 94) durch die prophetische Reform. 283 Auf diesen Aspekt weist ebenfalls bereits die neologische Prophetendeutung hin, vgl. Schröter 2012b, 166.

3.5 Religiöse Spezialisten |

249

Damit kommt die exilisch-nachexilische Prophetie in den Blick, die mit Ezechiel begonnen habe (vgl. IJG, 109). Mit ihr setzt eine Verschränkung von Theokratie und Hierokratie ein. Dementsprechend spricht Wellhausen in Bezug auf Ezechiel vom „Übergang der Prophetie zum Gesetz“ (IJG, 112), was nicht zuletzt deswegen naheliegt, weil dieser Prophet ein Priester war (vgl. IJG, 113). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Wellhausen auch der Prophetie dieses Stadiums der Religionsgeschichte Israels bescheinigt, einen bedeutenden Beitrag für die Systematisierung der Religion geleistet zu haben. „Er [sc. Ezechiel] hat den wichtigsten Schritt getan zur Systematisierung des Kultus im Geiste des Monotheismus.“ (IJG, 113) Die weitere durch Esra und Nehemia vermittelte Entwicklung, durch die der Kultus in den „Panzer des Monotheismus“²⁸⁴ (IJG, 145) geschmiedet wurde, brauchen wir hier nicht weiter zu verfolgen. Vielmehr gilt es auf einen für Wellhausens Prophetenbild weiteren zentralen Aspekt einzugehen, der bislang nur indirekt zur Sprache kam. Neben der religiös bestimmten Sittlichkeit der Propheten stellt Wellhausen ein zweites Grundmerkmal dieser religiösen Spezialisten heraus, das der Individualität.²⁸⁵ Dass die Individualitätsfrage an dieser Stelle aufbricht, ist in der auf sittlichen Grundsätzen beruhenden Überzeugung der Propheten begründet. Für sie existiert keine „andere Autorität als die moralische Evidenz“ und die „eigene Gewissheit“ (PGI, 406),²⁸⁶ was eben auch heißt, dass „die Moral . . . die Sache des Einzelnen“ (IJG, 932) ist. Als die wichtigsten Repräsentanten einer auf den Individualitätsgedanken konzentrierten Religiosität gelten Wellhausen die Propheten Hosea und Jeremia. „Hosea ist, mit Jeremias, der individuellste aller Propheten, und in dieser Beziehung der grösste Gegensatz zu seinen Vorgängern. . . . [S]ein persönliches Leben verwächst mit der Prophetie.“²⁸⁷ (IJG, 77) Und ebenso bildet die Gottesbeziehung Jeremias ein „religiöses Privatverhältnis zwischen seiner Person und Jahve“ (IJG, 105). Dass damit ein Frömmigkeitsideal auf den Plan tritt, das

284 Diese Formulierung Wellhausens erinnert an Webers Rede vom stahlharten Gehäuse des Kapitalismus (vgl. PE, 422). 285 Im Hinblick auf den problemgeschichtlichen Hintergrund des Individualitätsgedankens bei Wellhausen verweist Lothar Perlitt auf die „vom Geist der Goethezeit geprägte historische Romantik (die unter diesem Gesichtspunkt bis zu Nietzsche reicht!)“ (Perlitt 1965, 200) sowie auf Schleiermacher und de Wette. Demgegenüber fällt Schmids Urteil, dass sich in Wellhausens Prophetenbild der „Idealismus seines Jahrhunderts“ widerspiegele, zu holzschnittartig aus, vgl. Schmid 1996, 235. 286 Auch wenn die Prophetendeutung Wellhausens sich in vielerlei Beziehung von der Bernhard Duhms unterscheidet, stimmen sie hierin überein, vgl. Reventlow 1988, 267. 287 Das Abstellen auf die Vorstellung, dass es sich bei den Propheten um große Persönlichkeiten handelte, lässt sich gleichermaßen bereits in der Prophetendeutung der Neologie identifizieren, vgl. Schröter 2012b, 166.

250 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Wellhausens Auffassung nach mit dem sittlichen Wesen der Religion in höchstem Einklang steht, machen seine Ausführungen an dieser Stelle zweifellos deutlich, wenn es heißt, dass Jeremia „das tiefste Wesen der Frömmigkeit . . . entbunden“ (IJG, 105) habe.²⁸⁸ Die „individuelle Religiosität“ (IJG, 106) hat für Wellhausen ihren vollendetsten Ausdruck in der Prophetie Jeremias erhalten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass damit zugleich die gedanklichen Voraussetzungen für die Bestimmung des alttestamentlichen Offenbarungsgedankens ausgesprochen sind. Denn dieser wird von ihm strikt auf das Individuum hin konstruiert: „Das gehört zum Begriffe der prophetischen, der echten Offenbarung, dass Jahve, über alle ordnungsmässige Vermittlung hinweg sich dem Individuum mitteilt“. (PGI, 406) Damit schält sich an dieser Stelle eine Ambivalenz heraus, die Wellhausens Prophetenbild innewohnt. Die Geschichte der Prophetie steht für ihn zum einen für die Geburtsstunde der individuellen Religiosität und sie zeigt zugleich auf, dass diese Religiosität nicht selbstgenügsam ist, sondern sich kultisch und damit gemeinschaftlich positivieren muss. Die Prophetie verkörpert somit auf der einen Seite einen antiinstitutionell ausgerichteten, auf die Individualität fokussierten Religionstyp, der aber zugleich ein treibender Faktor im Prozess der Systematisierung und Institutionalisierung der Religion ist, dessen zentraler Träger – wie wir gesehen haben – v. a. die Priester waren.²⁸⁹ Insgesamt erweisen sich Wellhausens alttestamentliche Propheten als Repräsentanten eines moralischen Religions- bzw. Frömmigkeitstyps, in dessen Zentrum der Gedanke der lebendigen, durch persönliche Offenbarung gestifteten Gottesbeziehung des religiösen Subjekts steht. Dieses Verhältnis artikuliert sich am Orte des Individuums in Gestalt einer auf sittlichen Prinzipien beruhenden Überzeugung, in der sich das rein ethische Verständnis der Gottesidee mitteilt bzw. offenbart. Unter diesen sittlich-religiösen Voraussetzungen ist eine Akzeptanz bzw. ein Arrangement mit dem heidnischen Kultus ausgeschlossen. Vielmehr wurde dieser durch die Propheten bekämpft. Damit kommen zweifelsohne Bestimmungen zur Sprache, die auch – wie gleich zu zeigen sein wird – für Webers Prophetenverständnis grundlegende Bedeutung haben. Zuvor soll jedoch Siebecks Beitrag zu diesem Thema zu Wort kommen.

288 Wellhausen spricht an dieser Stelle auch von einem „inneren Verkehr mit der Gottheit“ (IJG, 105) und greift damit ein Motiv auf, dass unmittelbar an Wilhelm Herrmanns berühmte, in sieben Auflagen erschienene Untersuchung Der Verkehr des Christen mit Gott (1885) erinnert. Wellhausen und Herrmann waren, wie Smend herausstellt, freundschaftlich verbunden (vgl. Smend 1998, 108). 289 Für Claussen kommt eine „grundsätzliche Antinomie von Individualität und Institutionalisierung“ (Claussen 1997, 66) in Wellhausens Prophetenbild zur Sprache.

3.5 Religiöse Spezialisten |

251

b) Wie oben schon angedeutet wurde, konstruiert Siebeck eine Entwicklungsgeschichte der Religion in der Klimax von Natur-, Moralitäts- und Erlösungsreligion.²⁹⁰ Die zwischen ihnen liegenden Übergänge sind mit bestimmten Leitbegriffen verbunden. So wie der Begriff der Gemeinschaft den Überschritt von der Natur- zur Moralitätsreligion markieren soll, so indiziert der Begriff der Persönlichkeit das Erreichen der dritten Stufe der religiösen Entwicklung (vgl. L, 102). Siebeck ist der Auffassung, dass sich die Entstehung der Erlösungsreligion nicht unabhängig vom Auftreten großer „Persönlichkeiten“ (L, 101) verständlich machen lässt, womit in erster Linie die Propheten gemeint sind: „Man ist berechtigt, diese [sc. Persönlichkeiten] bei aller Verschiedenheit ihrer Individualitäten gemeinsam als prophetische zu bezeichnen, durch Verallgemeinerung eines Begriffs, der besonders die klassische Art und Weise ihres Hervortretens innerhalb der hebräischen Welt zum Ausdrucke bringt, welche letztere schliesslich in der Person des Stifters des Christenthums eine alles übrige in einzigartiger Weise überragende ethische Hoheit gewinnt.“ (L, 101f) Ungeachtet der im letzten Zitat anklingenden These von der Absolutheit des Christentums sieht Siebeck in den – typologisch begriffenen – Prophetengestalten sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments die Hauptrepräsentanten einer ethischen Erlösungsreligiosität, die der Entstehung eines „ethischen Monotheismus“ (L, 135) wesentlich Vorschub leisteten. Durch ihr Auftreten sei dieser „zum ersten Male zur wirklichen Volksreligion“ (L, 135) geworden. Die ethische Qualität des durch sie forcierten Monotheismus verbindet Siebeck sowohl mit der Gottesvorstellung als auch mit einem spezifischen Verständnis der Gottesbeziehung.²⁹¹ In historischer Perspektive verbindet Siebeck die Herausbildung der für die Erlösungsreligion signifikanten Persönlichkeitsdimension mit dem Sieg der Assyrer über Israel (722 v. Chr.) und der Neubabylonier über Juda (597/586 v. Chr.). Zuvor war die Gottesbeziehung – dem Begriff der Moralitätsreligion entsprechend – mit dem Nationengedanken verschmolzen, was sowohl auf das Sünden- als auch auf das Heiligungsverständnis abfärbte, die beide als kollektive Größen begriffen wurden.²⁹² Nach dem Untergang Israels und Judas trat der Nationengedanke jedoch 290 Vgl. 3. 3. 1. 291 Die für die Moralitätsreligion typische Gottesvorstellung ist mit dem Begriff des Heiligen verbunden und das dieser Vorstellung entsprechende Gottesverhältnis ist am „Ideale der Heiligung“ (L, 135f) orientiert. Dieses Ideal verweist nun auf „die rechte Gesinnung gegen Gott und seine Gebote“ (L, 136) bzw. auf „rein ethische Eigenschaften im Herzen des Menschen“ (L, 135). Das moralische Religionsverständnis ist somit strikt gesinnungsethisch bestimmt. Der bloß äußere rituelle Vollzug von Kulthandlungen wird demgegenüber religiös abqualifiziert. Solche Praktiken sind vielmehr Ausdruck einer Abkehr vom Heiligungsideal, d. h. der Sünde. 292 „Zum ersten Mal im Verlaufe der religiösen Entwicklung wurde mit dem Gedanken der Heiligkeit im Wesen Gottes und andrerseits mit der Thatsache der Sünde auf Seiten des Menschen in

252 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext in den Hintergrund. Die damit einhergehende Schwächung des Gemeinschaftsideals und damit der Moralitätsreligion eröffnete Siebeck zufolge den Freiraum für die Entstehung der Erlösungsreligion. Der „Einzelne“ habe sich nun „mit dem Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit zu der Gerechtigkeit, Gnade und Heiligkeit des über alle Völker erhabenen Gottes in unmittelbarer Beziehung“ (L, 137) gefunden. Allerdings baute diese Stufe der religiösen Entwicklung auf keinem festen Fundament auf und konnte sich dementsprechend auch nicht durchsetzen. Vielmehr kam es, wie Siebeck festhält, zu einer „Verschalung“ (L, 138) der Erlösungsvorstellung, für die jedoch nun nicht mehr der Nationengedanke einstand, sondern der des „Gesetzes“ (L, 138). Der Geschichte des Judentums bescheinigt Siebeck ein „immer fester und starrer gewordene[s] ritualistisch-gesetzliches Wesen“ (L, 138), worin für ihn der Wurzelgrund für den partiellen Rückfall des religiösen Bewusstseins auf das Niveau der Moralitätsreligion bezeichnet ist, der erst wieder durch das Auftreten Jesu korrigiert worden sei. Die von Siebeck konstruierte christliche Überbietung des Judentums braucht hier aber nicht weiter verfolgt zu werden. Von ihren Grundsätzen bis in viele Einzelheiten hinein konvergiert Siebecks Prophetendeutung mit derjenigen Wellhausens, sodass es nicht wunder nimmt, dass er sich verschiedentlich auf diesen bezieht.²⁹³ Am deutlichsten treten die Konvergenzen bezogen auf den ethischen Charakter der durch die Prophetie repräsentierten Religion zutage. Der durch sie gestiftete ethische Monotheismus führt ebenfalls in das Zentrum von Siebecks Prophetendeutung. Zudem konstatiert er gleichermaßen eine grundlegende Transformation der ethischen Ideale prophetischer Verkündigung durch den Gesetzesgedanken in der exilisch-nachexilischen Periode der Geschichte Israels und des Judentums. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Übereinstimmung in der Wahl der Bilder, die diesen Prozess illustrieren sollen. Während Wellhausen von einem Panzer spricht, verwendet Siebeck das Motiv der Einschalung. Diesen Übereinstimmungen zum Trotz dürfen die grundlegenden Abweichungen zwischen ihnen nicht außer Acht bleiben. Sie sind wesentlich von den spezifi-

der Weise Ernst gemacht, dass angesichts jener das Volk als solches dauernd als das Subjekt der Sünde erschien.“ (L, 136) Aufgrund dieser spezifischen Konstellation konnte das für die Entstehung der Erlösungsreligion „ausschlaggebende Moment“ (L, 136) hinzutreten. Es erwachse aus der Unheilsprophetie und der damit einhergehenden Verheißung einer „herrlichen nationalen Zukunft“ (L, 137), die aber unter der Voraussetzung „aufrichtiger Herzensbekehrung“ (L, 136) und „bussfertiger Gesinnung“ (L, 137) stehe. 293 Siebecks Ausführungen zur Geschichte Israels verweisen allerdings nicht allein auf Wellhausen (vgl. L, 105. 133. 251), sondern gleichermaßen auf Rudolf Smend, Bernhard Stade und auf Abraham Kuenen (vgl. L, 105. 133).

3.5 Religiöse Spezialisten |

253

schen Konstruktionsprämissen des religionsgeschichtlichen Prozesses bestimmt. So fällt Siebecks Analyse der frühen Stadien der religiösen Entwicklung ungleich kritischer aus als es bei Wellhausen der Fall ist. Dessen Geschmack am Ursprünglichen und Originalen teilt der Religionsphilosoph nicht. Aber auch die Prophetendeutung selbst besitzt eine gegenüber Wellhausen besondere Pointe, indem sie ihren neuralgischen Punkt in der Erlösungsvorstellung hat. Für Siebeck stellen die Propheten die wichtigste Brücke im Übergang von der moralischen zur Erlösungsreligion dar. Und gerade in dieser Zuspitzung sollten sie auf Webers Interesse stoßen. c) Webers Prophetendeutung fällt in eine Zeit, in der das Prophetentum vielfach als eine universalgeschichtliche Größe angesehen wurde. Dementsprechend war von diesem nicht allein bezogen auf das Alte Testament die Rede. Vielmehr erblickte man in ihm eine Erscheinung aller sogenannten Hochreligionen und -kulturen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich in den unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit diesem Gegenstand diejenige These herausschälte, die später von Karl Jaspers mit dem Begriff der Achsenzeit versehen wurde und auf diesem Wege Berühmtheit erlangen sollte.²⁹⁴ Ein beredtes Beispiel für die Vorläufer dieser These gibt Wilhelm Bousset an die Hand, der von einem „prophetische[n] Zeitalter“ spricht, zu dem neben den alttestamentlichen Propheten auch Zarathustra, Aischylos, Sophokles, Sokrates, Plato, Buddha sowie Kung-tse gehören. Dass Boussets Überlegungen von einer durch die Prophetie markierten, universalgeschichtlichen Wende auszugehen scheinen, belegt nicht zuletzt die Formulierung: „Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Es ist, als wenn der Baum des religiösen Lebens der Menschheit gleichzeitig an verschiedenen Punkten neue Triebe ansetzt.“²⁹⁵ Weber scheint eine solche Sicht der Dinge geteilt zu haben. Denn er spricht auf das 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. bezogen von einer „indischen“, „persischen“, „jüdischen“ (RG, 181) und – im Anschluss an Rohde – von einer griechischen Prophetie (vgl. RG, 181). Aber auch wenn sich – wie noch zu zeigen sein wird – viele Aspekte des Weberschen Prophetenbildes in Übereinstimmung mit der damaligen Debatte befinden, lassen sich andere identifizieren, mit denen er mehr oder weniger eigene Wege geht. Das gilt bereits für die Verknüpfung der Prophetie mit dem Begriff des Charisma.²⁹⁶ Damit werden die folgenden Überlegungen anheben, um davon ausgehend in einem ersten Schritt das Verhältnis von Prophetie und 294 Der Sache nach geht dieser Begriff auf den französischen Orientalisten Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731–1805) zurück, vgl. Assmann 2014, 25. 295 Bousset 1904, 102. 296 Bei der Annahme, dass Propheten Charismaträger sind, handelt es sich aber keineswegs um eine originäre Auffassung Webers. Vielmehr begegnete sie ihm bereits in der Auseinandersetzung

254 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Zauberwesen zu umreißen. Diese Verhältnisbestimmung führt uns sodann auf den Begriff Ekstase, den es im Horizont des Prophetenbegriffs zu profilieren gilt. In einem dritten Schritt soll der Offenbarungsbegriff thematisch werden, dem Weber im Rahmen seiner Prophetendeutung – zumindest der Religiösen Gemeinschaften – größere Aufmerksamkeit schenkt. Daran anschließend wird seine Lesart des ethischen Charakters der Prophetie zu skizzieren sein. Der fünfte und letzte Gesichtspunkt berührt die soziologischen Implikationen, die mit diesem religiösen Spezialisten verbunden sind. In den Eingangspassagen seines Prophetenkapitels der Religiösen Gemeinschaften bezeichnet Weber den Propheten als „Charismaträger“ (RG, 177), womit dieser eine Qualität besitzt, die er mit den Berufsmagiern teilt. Diesen Gesichtspunkt konkretisiert Weber in der Zwischenbetrachtung, in der die Zauberer als „entwicklungsgeschichtliche Vorläufer des Propheten“ (ZB, 484) bezeichnet werden. Diese Formulierung ist wiederum vor dem Hintergrund der Charismavorstellung zu begreifen. Propheten und – wie Weber an dieser Stelle ergänzt – Heilandsfiguren können als Nachfolger der Berufsmagier angesehen werden, weil sie sich gleichermaßen durch den „Besitz des magischen Charisma“ (ZB, 484) auszeichnen.²⁹⁷ Letzteres muss in beiden Fällen als eine personengebundene Größe begriffen werden, denn Zauberer wie Propheten wirken „kraft persönlicher Gabe“ (RG, 178). Dementsprechend besteht ein fließender Übergang zwischen beiden Personengruppen (vgl. RG, 179). Das unterstreicht in einer anderen Hinsicht eine Formulierung aus den jetzt heranzuziehenden Studien zum antiken Judentum, die sich – wie Eckart Otto bemerkt – im „Kernabschnitt“²⁹⁸ (J II, 619–664) von Webers Ausführungen zur alttestamentlichen Prophetie befindet. Dort heißt es, dass alle Propheten „Ekstatiker“²⁹⁹ (J II, 632) waren, womit sie ein Merkmal besitzen, das ebenso für den

mit Sohms Geschichtlichen Grundlagen des Kirchenrechts im Bereich des Urchristentums und mit Rohdes, auf den thrakischen Dionysoskult konzentrierten Werk Psyche. Der Prophet ist für Sohm als Lehrbegabter ein Charismaträger in den urchristlichen Gemeinden, vgl. KR, 38ff. 45f. Rohde verwendet, wie oben schon angedeutet wurde, den Ausdruck Enthusiasmus und spricht von in Thrakien auftretenden, „(im Enthusiasmus wahrsagenden) Propheten“ (Rohde 1898a, 173) sowie von einem „Zeitalter der enthusiastischen Propheten“ (Rohde 1898a, 65). 297 Bezogen auf das Christentum hält Weber fest: „Es darf keinen Augenblick vergessen werden, daß Jesus seine eigene Legitimation und den Anspruch, daß er und nur er den Vater kenne, daß nur der Glaube an ihn der Weg zu Gott sei, durchaus auf das magische Charisma stützte, welches er in sich spürte, daß dieses Machtbewußtsein weit mehr als irgend etwas anderes es zweifellos auch war, was ihn den Weg der Prophetie betreten ließ.“ (RG, 179). 298 Otto 2005a, 206. 299 Als solche werden sie auch von Siebeck ausgewiesen, vgl. L, 104. In den Religiösen Gemeinschaften geht Weber auf diesen Gesichtspunkt – soweit ich sehe – an nur einer Stelle ein. Dort

3.5 Religiöse Spezialisten |

255

Zauberer typisch ist.³⁰⁰ Wenn Weber betont, dass die Ekstase „ursprünglich“ die „wichtigste Beglaubigung des prophetischen Charisma“ war, so hat es den Anschein, die Differenz zu den Zauberern werde weitgehend eingeebnet. Das aber wäre ein grobes Missverständnis. Um dieses auszuschließen, ist es erforderlich, einen genaueren Blick auf die prophetische Ekstase zu werfen. Weber geht von einer grundlegenden Differenz zwischen der magischen und der prophetischen Ekstase aus, was sich bereits dem Hinweis entnehmen lässt, dass die Propheten in der Regel nicht „in der Ekstase“, sondern „über ihre Erlebnisse in der Ekstase“ (J II, 636) sprachen. In dieser Formulierung kündigt sich die Implementierung einer hermeneutischen Perspektive an, die Weber mit der alttestamentlichen Prophetie verbindet. Sie wird von ihm nicht zuletzt dadurch motiviert, dass er die außeralltäglichen Zustände, die von ihm ausführlich beschrieben werden, als „dunkel und vieldeutig“ (J II, 637) und somit als interpretationsbedürftig bezeichnet. Dementsprechend heißt es, dass der Prophet über den Sinn dieser Erlebnisse grübele. Hinter diesem Grübeln verbirgt sich jedoch nichts Anderes als der Versuch, das Erlebte sinnhaft zu „deuten“ (J II, 635).³⁰¹ „Erst wenn er die Deutung hat, dann spricht er.“³⁰² (J II, 637) Das Geschäft der Auslegung bildet eines der Grundmerkmale prophetischen Wirkens.³⁰³ Dazu gehört es eben auch, dass die Ekstase „nicht schon an sich als persönlicher Heilsbesitz und nur als solcher gewertet wird, sondern daß ihr ein ganz anderer Sinn zugeschrieben wird: der Sinn einer ‚Sendung‘.“³⁰⁴ (J II, 636) Von hier aus gewinnt auch der Begriff der Sendungsprophetie seine eigentliche Pointe, die heißt es von den Ekstasen: „Und sie [sc. die Ekstasen] entbehren des ‚sinnhaften‘ Gehalts, den die prophetische Religiosität entfaltet.“ (RG, 312). 300 „Schon ihre persönliche Lebensführung, soweit wir davon etwas hören, war die von Sonderlingen.“ (J II, 632). 301 Weber hält fest, „daß die Propheten selbst diese ihre außeralltäglichen Zuständlichkeiten, Gesichte, Zwangsreden und Zwangshandlungen sinnhaft deuten.“ (J II, 635). 302 Dass Weber damit kein abseitiges Thema berührt, lässt sich auch an der jüngeren Forschungsliteratur zur Prophetie ablesen, in der diese Frage nach wie vor traktiert wird, vgl. Lux 2009, 27ff; Wolff 1985, 87ff. 303 „Endlich das Deuten von Begebenheiten, auch des eigenen Alltagslebens, als bedeutsamer Zeichen Jahwes liegt allen Propheten überhaupt nahe (vgl. besonders Jer. Kap. 32).“ (J II, 637) In einer Anmerkung verweist Weber auf die Prophetendeutung Ernst Sellins und hält fest: „Mit Recht macht übrigens Sellin . . . darauf aufmerksam, daß die Art, in welcher das göttliche Wort an den Propheten gelangt, in aller Regel gar nicht näher angegeben wird. Das Entscheidende war eben: die für die Propheten evidente und also gelungene Deutung seiner Absichten.“ (J II, 637f229). 304 Damit dürfte auch der oben kurz diskutierte Einfluss Gunkels auf Webers Prophetendeutung weiter relativiert werden. Während Gunkel das Augenmerk auf die psychischen Dispositionen der Propheten legt, sieht Weber in jenen gerade nicht die Pointe ihrer Wirksamkeit, sondern vielmehr in der bewussten Ausdeutung derselben.

256 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext in den Religiösen Gemeinschaften noch nicht so deutlich zutage liegt. Die Sendung bildet vor diesem Hintergrund betrachtet ein Interpretament außeralltäglichen Verhaltens der Propheten, das in letzterem als solchem nicht enthalten ist.³⁰⁵ Ausgehend von diesen Überlegungen wendet sich Weber dem „emotionalen Charakter der prophetischen Ekstase“ (J II, 635) zu,³⁰⁶ den er von der „apathischen Ekstase“ (J II, 635) asiatischer Religionen unterscheidet.³⁰⁷ Er bezieht sich mit dem Begriff der „Emotion“ auf die spezifische Gestalt der prophetischen Rede und weist auf die „Macht der Emotion in den spontanen prophetischen Versen des Amos, Nahum, Jesaja, Zephanja, Jeremia“³⁰⁸ (J II, 638) hin. Die für ihn zentrale Frage besteht darin: „Woher stammt nun die Emotion, wenn doch in mindestens vielen Fällen die eigentlich ekstatisch pathologische Erregung schon zurücklag und abgeklungen war?“³⁰⁹ (J II, 638–639) Die Antwort auf diese Frage verweist erneut auf die Deutungsleistung der Propheten zurück. Nun, sie stammt eben nicht aus dem Pathos dieser psychopathischen Zuständlichkeiten als solcher, sondern aus der stürmischen Gewißheit der gelungenen Erfassung des Sinnes dessen, was der Prophet erlebt hatte: daher, deutlicher ausgedrückt, daß der Prophet eben nicht wie ein gewöhnlicher pathologischer Ekstatiker, ein Gesicht gehabt, Träume geträumt oder rätselhafte Stimmen gehört hatte, sondern, daß er darüber klar geworden war, ja es durch leibliche göttliche Stimme gehört zu haben versichert war: was Jahwe mit diesem Wachträumen oder Gesicht oder dieser ekstatischen Erregung gemeint und ihm in verständlichen Worten zu sagen befohlen hatte.³¹⁰ (J II, 638–639)

305 „Wenn aber die Sendung den Propheten auf die Gasse, unter die Menge jagt, dann ist dies wiederum erst Folge der Deutung, die er seinem Erlebnis gibt.“ (J II, 640) Damit aber lässt sich auch noch einmal der Unterschied zwischen dem Propheten und dem Priester verdeutlichen. Während dieser – wie es bei Weber heißt – im Dienste einer Tradition auftritt, begreift sich der Prophet in seinem Auftreten als von Gott gesandt. 306 Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass diese Elemente bereits in der Prophetendeutung der Spätaufklärung diskutiert wurden, vgl. Danz 2012, 190f. 307 Wilhelm Wundt unterscheidet ganz ähnlich zwischen einer „exaltierten und der apathischen Ekstase“ (Wundt 1906, 97). 308 In den Religiösen Gemeinschaften grenzt Weber die Propheten von den Intellektuellenheilslehrern mit der Begründung ab: „Von dem Propheten aber trennt sie das Fehlen der aktuellen emotionalen Predigt, welche, einerlei, ob durch Rede oder Pamphlete oder schriftlich verbreitete Offenbarungen nach Art der Suren Muhammeds, dem Propheten eigentümlich ist.“ (RG, 187). 309 Vgl. dazu auch Schluchter 1991b, 173ff. 310 Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass diese Interpretation in Teilen der neueren Forschung auch auf massive Kritik stoßen würde. So hält etwa Werner H. Schmidt fest, dass das Bewusstsein der Propheten in den Visionen „hellwach“ sei und fährt in einer Weise fort, die direkt gegen Webers Auslegung gerichtet sein könnte: „Außerdem braucht der Inhalt der Vision nicht nachträglich in einen klaren Gedanken überführt zu werden.“ (Schmidt 1995, 187).

3.5 Religiöse Spezialisten |

257

Die zuvor skizzierten Überlegungen aus Webers Judentumsstudien finden sich in den Religiösen Gemeinschaften in dieser Weise nicht ausgeführt. Und dennoch lassen sie sich mit diesem einige Jahre früher entstandenen Werk unschwer verbinden. Das gilt in besonderer Weise – und damit kommt der dritte hier zu besprechende Sachverhalt in den Blick – für den Offenbarungsbegriff. Dieser Begriff knüpft nun an das zuletzt Gesagte insofern an, als die gelungene Ausdeutung eigenen, irrationalen Erlebens, für den Propheten den Status einer Offenbarung besitzt. Letztere bildet so gesehen – wie auch die Sendung – gleichermaßen das Resultat eines Deutungsakts und lässt sich unabhängig davon nicht plausibilisieren. Der zunächst als chaotisch erlebte Zustand wandelt sich zu einem Offenbarungserlebnis, das dem Propheten – wie Weber ausdrücklich festhält – persönlich zuteil wird (vgl. RG, 178). Die für Wellhausen und Siebeck signifikante – mit Tyrell zu sprechen – „Persönlichkeitsemphase“³¹¹ bricht bei Weber gleichermaßen im Rahmen seiner Prophetendeutung hervor. Der Prophet werde „persönlich[]“ (RG, 178) berufen.³¹² Und genau hierin – und damit schließt sich der Kreis zu den anfänglich angestellten Überlegungen – liegt dessen Charisma begründet. Der Prophet repräsentiert den Typus eines „rein persönlichen Charismaträger[s]“ (RG, 177), womit sich auch eine graduelle Differenz zum Zauberer herauskristallisiert. Denn auch wenn das Charisma des Letzteren personenbezogen vorgestellt werden muss, handelt es sich um einen Persönlichkeitsbegriff, der diesseits der ethischen Religion angesiedelt ist. Webers Verwendung des Offenbarungsgedankens ist damit jedoch noch nicht vollständig beschrieben. Denn von diesem Begriff der Offenbarung ist bei Weber ein zweiter zu unterscheiden, den er als Gegenstand der Verkündigung bzw. Predigt des Propheten spezifiziert: „Vom Zauberer unterscheidet er sich dadurch, daß er inhaltliche Offenbarung verkündet, der Inhalt seiner Mission nicht in Magie, sondern in Lehre und Gebot besteht.“³¹³ (RG, 179) Weber selbst äußert sich nicht dazu, ob der Offenbarungsgedanke, der mit der persönlichen Berufung verbunden ist, und der, der in den Bereich der Verkündigung fällt, voneinander abweichen oder ineinander fallen. Es steht jedoch zu vermuten, dass sie nicht miteinander identifiziert werden können. Vielmehr muss ihr Verhältnis dergestalt vorgestellt werden, dass die als Lehre oder Gebot spezifizierte Offenbarung in einem Ableitungsverhältnis zu derjenigen steht, die Weber mit dem Berufungsvorgang identifiziert. Die Worte prophetischer „Predigt“ (RG, 187) können als eine inhaltlich angereicherte und ge311 Tyrell 1992, 189. 312 Daher ist es für Weber kein Zufall, dass „kein Prophet aus der Priesterschaft hervorgegangen ist“ (RG, 179). 313 Ähnliche Überlegungen stellt auch Siebeck an: „Der Prophet im Sinne des Amos, Jesaja u. s. w. ist wesentlich ein Verkünder (auch durch die Schrift) des ethischen Willens Gottes“ (L, 105).

258 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext danklich vertiefte Deutung dessen angesehen werden, was der Prophet meint, im ekstatischen Erleben von Gott mitgeteilt bekommen zu haben. Anders formuliert unterscheidet Weber im Rahmen seiner Propheteninterpretation zwischen einer ursprünglichen und einer abgeleiteten Offenbarung.³¹⁴ Dass der Offenbarungsbegriff jedoch noch eine weit darüber hinausgehende Funktion besitzt, lässt sich an dem für Webers Prophetenverständnis grundlegend wichtigen Schlussabschnitt seines Prophetenkapitels in den Religiösen Gemeinschaften ablesen (vgl. RG, 193f). Er führt dort aus, dass die „prophetische Offenbarung, zunächst für den Propheten selbst, dann für seine Helfer“ stets „einen einheitlichen Aspekt des Lebens, gewonnen durch eine bewußt einheitliche sinnhafte Stellungnahme zu ihm“ (RG, 193), bedeute. Die Formulierung ist nun in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Der erste hier ins Auge fallende Begriff ist der der Einheit. Aus der Perspektive des Offenbarungsgedankens heraus eröffnet sich eine Sicht auf das Leben, in der die darin enthaltenen Bereiche nicht unverbunden nebeneinander stehen. Die damit angesprochene Synthesisfunktion zeichnet sich nun aber nicht allein durch den Einheitsgesichtspunkt aus. Hinzu tritt der Sinnbegriff, der uns oben bereits begegnete und den Weber mit dem der Einheit verbindet. Expressis verbis ist von einem „einheitlichen ‚Sinn‘“ (RG, 193) die Rede. Dieser einheitliche Sinn des Lebens soll als das Resultat einer gleichermaßen einheitlich sinnhaften Stellungnahme angesehen werden.³¹⁵ Wenn sich das Prophetentum in besonderer Weise durch sinnverleihende Wertungen und Stellungnahmen auszeichnet, die es ihm ermöglichen, das Leben als eine sinnhafte Einheit betrachten zu können, impliziert dieser Sachverhalt das Vorhandensein eines Kriteriums, anhand dessen diese Operationen vollzogen werden. Die Antwort auf die Frage nach einem solchen Kriterium verweist wiederum auf den Offenbarungsgedanken, der einen letzten Werthorizont absteckt. Die Propheten beurteilen die Welt entsprechend der „letz-

314 Der innere Zusammenhang zwischen beiden Vorkommnissen des Offenbarungsgedankens zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie gleichermaßen als Legitimitätsgrundlage charismatischer Begabung dienen. In den Religiösen Gemeinschaften heißt es dementsprechend, dass der Prophet kraft „persönlicher Offenbarung oder Gesetzes Autorität beansprucht“ (RG, 179). Diese Formulierung weicht in der von Johannes Winckelmann besorgten Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft (1980) nicht unerheblich ab. Dort heißt es, dass „der Prophet dagegen [zufolge] persönlicher Offenbarung oder kraft [seines] Charisma Autorität beansprucht.“ (Weber 1980, 268). Die in der Max Weber-Gesamtausgabe festgehaltene Variante entspricht der der Erstauflage von 1922. 315 Spätestens wenn Weber statt von Stellungnahmen von „praktische[n] Wertungen“ (RG, 193) spricht, wird deutlich, dass er sich hier einer neukantianisch gefärbten Terminologie bedient, was zugleich die Frage nach dem Verhältnis dieser Überlegungen zu seiner Methodologie aufwirft. Die Antwort darauf soll jedoch noch nicht hier, sondern erst später zu geben versucht werden, vgl. 4. 2. 3.

3.5 Religiöse Spezialisten |

259

ten“, auf den Offenbarungsgedanken verweisenden „einheitlichen Wertposition“ (RG, 207) heraus.³¹⁶ Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass der Offenbarungsbegriff in den Studien zum antiken Judentum dann nicht mehr diese zentrale Rolle einnehmen wird. An dessen Stelle tritt der Überzeugungs- und der Gesinnungsbegriff, von denen zumindest letzterer auch schon in den Religiösen Gemeinschaften Verwendung gefunden hat.³¹⁷ Diese Substitution deutet sich u. a. an einer Formulierung aus besagten Studien an: „Diese Überzeugung [sc. von der Allmacht Jahwes] ist gerade von den größten Propheten, vor allem Jesaja und Hesekiel, zur Grundtatsache ihrer Stellungnahme gemacht worden.“³¹⁸ (J II, 672) Hier nimmt der Begriff der Überzeugung den systematischen Status ein, den zuvor der Offenbarungsbegriff innehatte, sodass kein Zweifel daran bestehen kann, dass beide Begriffe in diesem Zusammenhang einander wahlverwandt sind. Der durch den Offenbarungsgedanken angezeigte Wertmaßstab verdichtet sich gleichermaßen in der „Überzeugung“ bzw. „Gesinnung“.³¹⁹ Dass Weber letzteren schließlich den Vorrang gegeben hat, könnte seinem Interesse geschuldet sein, die ethische Ausrichtung der Sendungsprophetie stärker herauszustreichen, der wir uns nun zuwenden. Dass die Propheten „rein ethisch, nicht kultisch“ (J II, 648) interessiert gewesen seien, verdeutlicht Weber anhand verschiedener Sachverhalte, zu denen auch die mit der ethischen bzw. Sendungsprophetie koordinierte Gottesvorstellung gehört. Diesem Prophetentyp entspricht nach Weber der „überweltliche persönliche ethische Gott“ (RG, 190),³²⁰ der einem Individuum seiner Wahl seinen Willen

316 Bereits anhand dieser Andeutungen lässt sich somit die grundlegende Transformation des Weltverhältnisses ablesen, durch das sich das Prophetentum von den Priestern fundamental unterscheidet. Während sich letztere der magisch bestimmten Laienfrömmigkeit anpassen und damit den Gegebenheiten in der Welt, steht das Weltverhältnis der Propheten unter umgekehrten Vorzeichen. Sie passen sich nicht der Welt an. Vielmehr ist ihr Auftreten mit dem Anspruch verbunden, die Welt ihrem Wertekosmos entsprechend zu gestalten. Ähnlich heißt es in den Studien zum Konfuzianismus: „Eine echte Prophetie schafft eine systematische Ordnung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus, der gegenüber die ‚Welt‘ als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt. Der Konfuzianismus war umgekehrt Anpassung nach außen hin, an die Bedingungen der ‚Welt‘.“ (KT, 460) Das Element der aus einer letzten Wertposition bzw. Überzeugung heraus vollzogenen Stellungnahme begreift Weber als ein Kriterium der Erlösungsreligion insgesamt. So heißt es in der Zwischenbetrachtung: „Nicht ein intellektuelles Wissen über das Seiende oder normativ Geltende, sondern eine letzte Stellungnahme zur Welt kraft unmittelbaren Erfassens ihres ‚Sinnes‘ sei das, was sie darbiete.“ (ZB, 514). 317 Vgl. RG, 215. 369. Vgl. auch ZB, 485 sowie J II, 671. 690. 692. 733. 318 Vgl. auch J II, 659. 319 Der Überzeugungsbegriff ist auch in späteren Konzeptionen des Religionsbegriffs zentral verankert, vgl. Colpe 1968, 19. 320 Vgl. auch ZB, 481.

260 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext persönlich offenbart, wodurch dieser sich wiederum dazu ausgesandt sieht, diesen Willen zu predigen. Der Prophet kommt hier als ein „verkündendes Werkzeug“ zu stehen, das „kraft Auftrags Gehorsam als ethische Pflicht fordert“ (RG, 189).³²¹ Vor diesem Hintergrund ist auch der Kampf gegen die „magischen Elemente des Priesterbetriebs“ (RG, 201; vgl. auch RG, 242. 312–314) zu verstehen, der zu den zentralen Merkmalen prophetischer Wirksamkeit gehört.³²² Gleichwohl hält Weber an dieser Stelle einschränkend fest, dass nicht jede „ethische Gotteskonzeption . . . zum ethischen Monotheismus geführt“ habe, „nicht jede Annäherung an den Monotheismus . . . auf einer Steigerung der ethischen Inhalte der Gotteskonzeption“ (RG, 291) beruhe.³²³ Mit der Vorstellung eines überweltlichen, persönlichen Gottes ist für Weber zugleich das zentrale Differenzkriterium zum Begriff des exemplarischen Propheten benannt (vgl. RG, 190). Letzterer ist ein „exemplarischer Mensch, der anderen an seinem eigenen Beispiel den Weg zum religiösen Heil zeigt“ (RG, 189). Als Prototyp nennt Weber Buddha, „dessen Predigten weder von einem göttlichen Auftrag, noch von einer ethischen Gehorsamspflicht etwas weiß, sondern sich an das eigene Interesse der Heilsbedürftigen wendet, den gleichen Weg wie er selbst zu betreten“ (RG, 321 In dieser Formulierung sind die Verbindungslinien zum Charismabegriff erneut mit Händen zu greifen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Webers Diktion große Nähen zur protestantischen Dogmen- und Kirchengeschichtsschreibung aufweist. Exemplarisch sei Karl Müller genannt. Im Rahmen seiner Erörterungen zur urchristlichen Gemeindeorganisation bezeichnet dieser die Charismaträger (Apostel, Propheten, Lehrer) als „Werkzeuge“ (Müller 1921, 45) und spricht an dieser Stelle auch von der göttlichen Beauftragung derselben. 322 Darauf kommt Weber auch in der 1919/1920 in München gehaltenen Vorlesung Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in einer ausgesprochen weiträumigen Perspektive zu sprechen: „Prophetien haben die Entzauberung der Welt herbeigeführt und damit auch die Grundlage für unsere moderne Wissenschaft, die Technik und den Kapitalismus geschaffen.“ (ASW, 389) In der zweiten Auflage der Protestantischen Ethik (1920) führt er ganz ähnlich aus, dass der „Prozeß der Entzauberung der Welt“ mit der „altjüdischen Prophetie“ eingesetzt habe (PE2 , 280). In der ersten, 1904/1905 entstandenen Auflage ist diese Passage jedoch noch nicht enthalten. Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass der Begriff der Entzauberung auf Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) zurückgeht, vgl. Jaeschke, Walter/Arndt, Andreas 2012, 52266. Er findet sich später auch bei Friedrich Schelling (1775–1854) Erwähnung, der in seiner Philosophie der Offenbarung von der „entzauberten Welt“ spricht (Schelling 1858, 175). Um 1900 begegnet uns der Ausdruck Entzauberung auch im Werk Wilhelm Wundts, vgl. Wundt 1906, 104; Wundt 1909, 162. 188. 323 Weber ist der Auffasssung, dass man nur gegenüber dem Judentum und dem Islam im strengen Sinne des Worts von Monotheismen sprechen könne. Während der Trinitätsgedanke des Christentums monotheistisch wirke, stehe der „katholische Messen- und Heiligenkult faktisch dem Polytheismus sehr nahe“ (RG, 289). Damit greift Weber einen Gedanken auf, der sich schon bei Hume findet, vgl. Hume 2000, 40. Auch Holl spricht von einer „Aehnlichkeit der Heiligenverehrung mit der antiken Götterverehrung“ (Holl 1923f, 13).

3.5 Religiöse Spezialisten |

261

189). Der Exemplarizitätscharakter dieses Typs verweist sonach auf eine Person, die – dem eigenen Anspruch nach – das Muster eines Heilsweges verkörpert. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen ist es in gewisser Weise missverständlich, wenn Weber diesen Prophetentyp terminologisch vom ethischen abgrenzt. Diese Abgrenzung darf nicht im dem Sinne verstanden werden, dass die exemplarische Prophetie jedweder ethischen Dimension entbehren würde. Davon kann keine Rede sein. Die ethische Verpflichtung ist hier jedoch nicht auf einen überweltlich und persönlich vorgestellten Gott zurückzuführen, vielmehr ist der normative Gehalt mit dem Gedanken der Exemplarizität verknüpft. Dementsprechend sieht Weber das Fehlen einer entsprechenden Gottesvorstellung als ein wenn auch negatives so doch aber grundlegendes Charakteristikum dieses Prophetentyps an. Wenn überhaupt finden sich in Religionen, in denen exemplarische Propheten auftreten, „übergöttliche unpersönliche Mächte“ (RG, 190). Als Beispiel nennt Weber das indische Rita und Tao (vgl. RG, 190).³²⁴ Schließlich sei noch ein Wort zu den soziologischen Implikationen von Webers Prophetenbegriff gesagt. Auch wenn das vierte Kapitel, das diesem Begriff gewidmet ist, mit der Frage einsetzt: „Was ist, soziologisch gesprochen, ein Prophet?“ (RG, 177), kommt die mit diesem verbundene Vergemeinschaftungsdimension erst im fünften Kapitel zur Sprache, was deren engen Zusammenhang unterstreicht. Die Bestimmung der soziologischen Seite der Prophetie liegt jedoch keineswegs so offen zutage wie im Falle des Priestertums und Webers Ausführungen zu diesem Thema fallen durchaus disparat aus. So kommt er auf der einen Seite auf die Propheten und ihrer Anhängerschaft zu sprechen. Die Eigengesetzlichkeit dieser Sozialgestalt wird von ihm aber nicht eigens erläutert. Lediglich in der Zwischenbetrachtung erwähnt er, dass die Prophetie „eine neue soziale Gemeinschaft“ (Z, 486) geschaffen habe, die rein religiös begründet sei und deswegen mit bestehenden Verbandsformen konfligiere. Auf der anderen Seite – und das betrifft wiederum die Religiösen Gemeinschaften – operiert er in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der „Veralltäglichung“ (RG, 195).³²⁵ Als ein maßgebliches Kriterium für Vergemeinschaftungsprozesse, die mit dem Auftreten von Propheten verbunden sind, gilt das Zurücktreten der mit der charismatischen Begabung verbundenen Außeralltäglichkeit ihres Wirkens. Hierfür können oft ökonomische Interessen sei es des Propheten selbst oder seiner Anhänger ausschlaggebend sein (vgl. RG, 195). Es liegt gleichsam in der Logik dieser Entwicklung, dass damit – und hier klingt auch 324 Was den problemgeschichtlichen Hintergrund dieses Prophetentyps betrifft, so finden sich in einem Beitrag Edvard Lehmanns zum Buddhismus ganz ähnliche Überlegungen. Darin heißt es über Buddha: „Er wollte selig werden, und als er das Heil gefunden hatte, strebte er danach, Anderen den Weg dazu zu zeigen“ (Lehmann 1897a, 70). 325 Vgl. dazu auch Riesebrodt 2001c, 110f.

262 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext der Übergang vom persönlichkeitsgebundenen Charisma zum Amtscharisma an – eine Verschiebung in den Funktionsbestimmungen der Anhängerschaft verbunden ist. Aus den Prophetenjüngern werden Mystagogen, Priester oder Seelsorger „einer ausschließlich religiösen Zwecken dienenden Vergesellschaftung: der Laiengemeinde.“ (RG, 197) Aufs Ganze gesehen zieht Weber deutliche Kompatibilitätsgrenzen zwischen der Prophetie und der religiösen Vergemeinschaftung, was allerdings in Anbetracht der personalistischen Zuspitzung seines Prophetenverständnisses nicht erstaunt. Es lassen sich zwar rein religiös begründete Gemeinschaftsformen verzeichnen, deren Bestehen vom Auftreten einer prophetischen Gestalt abhängig ist, doch sind diese in der Regel nicht auf Dauer gestellt. Webers in den Religiösen Gemeinschaften entfaltetes Prophetenverständnis fällt ausgesprochen vielfarbig aus. Neben dem Persönlichkeits- und Individualitätsaspekt legt er großes Gewicht auf die gesinnungsethische Ausrichtung prophetischer Wirksamkeit. Sie verweist auf eine durch persönliche Offenbarung begründete Überzeugung, deren normativer Anspruch sich auf alle Dimensionen der Lebensführung erstreckt. Im Falle der ethischen bzw. der Sendungsprophetie, auf die Weber das größere Gewicht legt, ist diese Überzeugung durch den Bezug auf eine ethisch qualifizierte Gottesvorstellung geprägt, die im Mittelpunkt des ethischen Monotheismus steht. In diesem Zusammenspiel sind zugleich die Grundlagen für die antimagische und den Kultus relativierende Stoßrichtung prophetischen Handelns angelegt. Indem der Prophet ausgehend von der sinnhaften Ausdeutung eigenen Erlebens zur Explikation eines Standpunkts angehalten ist, der ihm eine „Vereinheitlichung der Beziehung des Menschen zur Welt“ (RG, 207) ermöglicht, erweist er sich als „Systematisator“ (RG, 207; vgl. auch RG, 177) der religiösen Ethik und Metaphysik. Hartmann Tyrell spitzt diesen Sachverhalt dahingehend zu, dass mit der Sendungsprophetie „die religiöse Ethik ins Prinzipielle umschlägt“.³²⁶ Dieser Gesichtspunkt wird später noch einmal aufzugreifen und gedanklich zu vertiefen sein.³²⁷ All diese zuletzt genannten Elemente stehen in Übereinstimmung mit Wellhausens Prophetenbild, sodass eine frappierende Ähnlichkeit zwischen beiden

326 Tyrell 1992, 207. Bei Hanke heißt es: „Diese gesamten Systematisierungen religiösen Denkens und Handelns leisten die Religionen – so Weber – nicht selbst, sondern sie werden insbesondere von außerpriesterlichen Gruppen erbracht.“ (Hanke 2001, 209f) Diese Formulierung ist missverständlich, suggeriert sie doch, dass die Systematisierungsleistungen der Prophetie jenseits der Religion stehen würden. Das Missverständnis hat darin seinen Grund, dass Hanke die außerpriesterlichen Gruppen als nicht zur Religion zugehörig ausweist. Abgesehen davon ist diese Formulierung insofern irreführend, als die Priester von Weber immer wieder unter dem Blickwinkel der Systematisierung der religiösen Metaphysik und Ethik thematisiert werden. 327 Vgl. 4. 2. 3.

3.6 Wege der Erlösung |

263

Beiträgen zu diesem Thema festgehalten werden kann. Dies stützt zugleich die eingangs angestellte Vermutung, dass Webers Sicht auf die Prophetie wesentlich von den alttestamentlichen Studien Wellhausens beeinflusst wurde. Doch dürfen darüber nicht die Differenzen außer Acht gelassen werden. Sie betreffen zum einen den Charismabegriff und zum anderen die für Webers Prophetendeutung signifikanten, neukantianisch imprägnierten Begriffe (Sinn, Wert, Deutung). Doch auch diese wusste Weber letztlich mit Wellhausens Prophetenbegriff zu verschmelzen, was die Wahlverwandtschaft ihrer Gedankenbildung unterstreicht. Die spezifische Verbindung zu Siebeck zeichnet sich in dem Augenblick ab, in dem Weber den Beitrag der Prophetie für die Entstehung der Erlösungsreligionen herausstellt. So habe die Prophetie „die Zentralisierung der Ethik unter dem Gesichtspunkt religiöser Erlösung“ (RG, 176) geschaffen. Es handelt sich hierbei nicht um die Befreiung vom – wie schon Siebeck sagt – Elend der Welt, sondern um die Erlösung von den „Sünden“. Diesen für die Gesamtanlage der Religiösen Gemeinschaften grundlegenden Gesichtspunkt gilt es im folgenden Kapitel zu vertiefen.

3.6 Wege der Erlösung 3.6.1 Der Begriff der Erlösung Dass der Erlösungsbegriff um 1900 en vogue war, ist maßgeblich auf den Einfluss Arthur Schopenhauers (1788–1860) zurückzuführen, der „in Europa vermutlich der Erste war, der die umfassende Entfaltung einer nicht-konfessionellen und außerhalb des verfaßten Christentums stehenden Erlösungsidee vorgenommen hat“.³²⁸ Damit gingen von seinen Schriften ganz neue Impulse in der gedanklichen Durchdringung dieses Begriffs aus, die für die weitere Diskussion und die daran beteiligten Gelehrten – Eduard von Hartmann, Friedrich Nietzsche, Hermann Siebeck, Georg Wobbermin (1869–1943), Cornelis Petrus Tiele (1830–1902), Georg Simmel, Ernst Troeltsch – bestimmend waren. Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist Carsten Colpes Einschätzung uneingeschränkt zuzustimmen: „Es bedurfte kaum der Autorität N. Söderbloms und M. Webers, um die Bezeichnung Erlösungsreligion zu einem unhinterfragten Begriff nicht nur der Religionswissenschaft und der Theologie, sondern auch des weiteren wissenschaftlichen Bewußtseins, ja

328 Osthövener 2004, 138. Zu Schopenhauers Erlösungsbegriff insgesamt, vgl. Osthövener 2004, 109–139.

264 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext der allgemeinen Bildung überhaupt werden zu lassen“.³²⁹ Wenn Weber sich dem Begriff der Erlösung bzw. der Erlösungsreligion zuwendet, dann betritt er somit ein schon seit geraumer Zeit bestelltes Feld.³³⁰ In Anbetracht dieses weiten Spektrums hochkarätiger Autoren, die sich mit diesem Begriff befasst hatten, ist die Frage, von wem Weber in diesem Punkt beeinflusst wurde, ausgesprochen schwer zu beantworten. Daher nimmt es auch nicht wunder, dass fast das gesamte Spektrum besagter Autoren innerhalb der Forschungsliteratur Erwähnung findet, wenn es um die Klärung jener Frage geht. So stellt Hans Georg Kippenberg in Abgrenzung zu Gottfried Küenzlens Vermutung, Weber orientiere sich in den Grundkoordinaten seiner Religionssoziologie an Arbeiten des holländischen Religionswissenschaftlers Cornelis Petrus Tiele,³³¹ fest, dass die Verifikation dieser Annahme gerade im Hinblick auf den Erlösungsgedanken Webers problematisch sei. Vielmehr plädiert er dafür, in diesem Zusammenhang das Augenmerk auf die weitreichenden Übereinstimmungen mit Siebecks Religionsphilosophie zu legen.³³² Um diese forschungsgeschichtliche Kontextualisierung von Webers Erlösungsbegriff zu begründen, stellt er die prima facie einleuchtende Vermutung an, dass Siebeck für Weber insofern ein grundlegend wichtiger Autor war, als dessen stark praktisch ausgerichtete Konzeption von Erlösungsreligion mit Webers handlungstheoretischem Interesse konvergiere.³³³ In eine ganz andere Richtung gehen die Überlegungen Hankes, die vermutet, dass die religionsphilosophischen Schriften Eduard von Hartmanns, der zu den ersten gehörte, der den Begriff der Erlösungsreligion verwendete, bei Weber im Hintergrund stehen.³³⁴ Allerdings fügt sie dieser Vermutung unmittelbar hinzu,

329 Colpe 1990, 323. Es sei am Rande bemerkt, dass Schleiermacher bereits ein hochelaboriertes Konzept von Erlösungsreligion vorgelegt hatte, vgl. dazu Osthövener 2004, 5. 58ff. 330 Im TRE-Artikel Heil und Erlösung findet der Begriff Erlösungsreligion lediglich im religiongeschichtlichen Abschnitt einmal Erwähnung, die zuvor genannten Autoren spielen darin überhaupt keine Rolle, vgl. Lanczkowski et al. 1985, 605–637. 331 Vgl. Küenzlen 1978, 9ff. 332 Vgl. Kippenberg 2001d, 96. 333 Vgl. Kippenberg 2001d, 96. Doch bleibt Kippenberg dabei nicht stehen. Vielmehr deutet er auch auf die subjektivitätstheoretische Dimension der Religionsforschung Siebecks hin, um die Gemeinsamkeiten zu Weber zu illustrieren. Doch gerade in dieser Beziehung müssen hier Bedenken angemeldet werden. So einleuchtend es ist, das handlungstheoretische Potential von Siebecks Konzept der Erlösungsreligion – letztlich seiner Religionstheorie insgesamt – zu unterstreichen, so sehr müssen zugleich Webers Vorbehalte gegenüber subjektivitätstheoretischen und bewusstseinsphilosophischen Untersuchungsansätzen ernst genommen werden. Dieser Gesichtspunkt lässt sich bereits daran verdeutlichen, dass Weber von einer Verwendung des für Siebeck entscheidenden Begriffs des religiösen Bewusstseins absieht. 334 Hanke 2001, 212f.

3.6 Wege der Erlösung |

265

dass sich zweifelsfreie Belege für eine Rezeption noch nicht aufweisen lassen. Bedenkenswerter ist daher die u. a. von Hennis geteilte Annahme, wonach Nietzsches Philosophie Einfluss auf Webers Erlösungsverständnis genommen habe.³³⁵ Dieser Verdacht liegt insofern nahe, als der Erlösungsgedanke im Denken Nietzsches zentral verankert ist und Weber sich bekanntlich mehrfach mit jenem Philosophen befasst hat.³³⁶ Doch könnte dieser Aspekt nicht allein für das Verhältnis zwischen Weber und Nietzsche geltend gemacht werden, sondern gleichermaßen für Schopenhauer, den er – nach Auskunft Marianne Webers – bereits in seiner Schulzeit gelesen hatte.³³⁷ Darüber hinaus hat er sich nachweislich mit Simmels Vorlesungen zu Schopenhauer und Nietzsche auseinandergesetzt.³³⁸ Dieses hochgradig komplexe Diskussionsgeflecht kann hier jedoch nicht entwirrt werden. Vielmehr gilt es sich zu beschränken und die durch Kippenberg gelegte Spur weiter zu verfolgen, was also bedeutet, Siebecks Konzept der Erlösungsreligion in den Blick zu nehmen. Neben diesem Philosophen ist aber noch ein weiterer, für Webers Protestantismusverständnis insgesamt grundlegend wichtiger Autor in Betracht zu ziehen – der Theologe Matthias Schneckenburger (1804–1848).³³⁹ Es steht zu vermuten, dass auch dieser Webers Erlösungsvorstellung maßgeblich beeinflusst hat. Mit Schneckenburgers Beitrag zu diesem Thema werden wir uns im Folgenden in einem ersten Schritt auseinandersetzen (a). Daran anschließend tritt Siebecks Konzept der Erlösungsreligion auf den Plan (b). Abschließend soll Weber selbst zu Wort kommen. Dabei werden zum einen die Protestantische Ethik und zum anderen die Religionssystematik berücksichtigt (c).³⁴⁰ a) Matthias Schneckenburgers posthum erschienenes und heute weitgehend in Vergessenheit geratenes Werk Vergleichende Darstellung des lutherischen und

335 Hennis 1987a; Hennis 1987b, 175f; Peukert 1989. 336 Zum Erlösungsgedanken bei Nietzsche vgl. Osthövener 2004, 178–245. 337 Vgl. Weber 1984, 48: „Max studiert früh aus eignem Antrieb was ihm in die Hand kommt, vor allem Geschichtliches und die antiken Klassiker, dazu Philosophie, in Sekunda Spinoza und Schopenhauer, in Prima vor allem Kant. Schon der Zwölfjährige berichtet der Mutter, daß er sich Macchiavell’s Principe geborgt habe, dann den Antimacchiavell lesen werde und auch in Luthers Werke einen Blick werfe.“ (Weber 1984, 48). 338 Vgl. SdW, 518. 339 Darauf haben vor allem Friedrich Wilhelm Graf und Peter Ghosh hingewiesen, vgl. Graf 1995; Ghosh 2008a. 340 In ihrem Beitrag zu Webers Konzept der Erlösungsreligion hält Edith Hanke fest: „In der Erstfassung der ‚Protestantischen Ethik‘ 1904/05 fehlt der Aspekt der Erlösung noch vollständig“ (Hanke 2001, 224). Diese Einschätzung ist jedoch insofern zu hinterfragen, als schon die Erstauflage der Protestantismusstudie sich in aller Ausführlichkeit mit der Frage nach der Seligkeit und der Heilsgewissheit befasst, womit zweifelsohne – wenn auch nicht terminologisch, so doch aber der Sache nach – der Erlösungsgedanke in den Blick kommt.

266 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext reformirten Lehrbegriffs (1855) setzt sich ausführlich mit den konfessionellen Differenzen beider innerprotestantischen Konfessions- und Frömmigkeitsrichtungen auseinander.³⁴¹ Zu Beginn des ersten Kapitels seiner Abhandlung greift Schneckenburger eine Behauptung des Predigtamtskandidaten Max Goebel (1811–1858) auf, die dieser in seiner Schrift Die religiöse Eigenthümlichkeit der lutherischen und der reformirten Kirche. Versuch einer geschichtlichen Vergleichung (1837) formuliert hatte: „die Frömmigkeit des Lutheraners sei eine innerliche gemüthliche, diejenige des Reformirten eine äusserlich, und im Handeln sich darstellende, praktisch verständige.“ (V, 38) Diese Differenz sei längst als zutreffend anerkannt und bildet für ihn die Grundannahme, von der ausgehend er sich zu unterschiedlichen Bereichen der lutherischen und reformierten Lehrbildung und Frömmigkeit äußert. Die folgenden Ausführungen werden sich darauf beschränken, den auf dieser Differenz beruhenden Grundgedanken und davon ausgehend den Seligkeitsbegriff zu skizzieren. Im Zentrum seiner Überlegungen steht zunächst die Frage nach der subjektiven Glaubensgewissheit. Vom Standpunkt reformierter Frömmigkeit aus betrachtet, lasse sich die certitudo salutis allein durch den Vollzug guter Werke gewinnen, wie es unter Berufung auf den Heidelberger Katechismus heißt: „Warum sollen wir gute Werke thun? – – darnach auch, dass wir bei uns selbst unseres Glaubens aus seinen Früchten gewiss sein.“ (V, 39) Die guten Werke verbürgen, dass das „im Glauben ideal erfasste Heil auch wirklich erreicht werde“ (V, 74). Aus diesem Grund sei es zu der Ansicht gekommen, dass die „guten Werke . . . nothwendig zur Erlangung der Seligkeit“ seien, „eine Ausdrucksweise, welche der Lutheraner auf’s Höchste perhorrescirt.“³⁴² (V, 75) Für das Reformiertentum indes sei diese Position insoweit unproblematisch, als es letztere auf der Annahme gegründet weiß, dass 341 Sie werden seiner Auffassung nach dann angemessen beschrieben, wenn sie als Ausdruck des „religiösen Selbstbewusstseins“ (V, 37) begriffen werden. Damit knüpft er an religionstheoretische Grundlagen an, die Schleiermacher in den Prolegomena seiner Glaubenslehre entfaltet hat. Ihnen entsprechend heißt es, dass die Differenzen zwischen beiden Konfessionen „ganz und gar auf dem subjektiven anthropologischen Gebiet“ (V, 52) liegen. Gleichwohl wendet er sich gegen Schleiermacher, der die Differenzen zwischen reformierter und lutherischer Frömmigkeit mit Hinweis auf die religiösen Gemütszustande egalisiert habe (vgl. V, 52). 342 Albrecht Ritschl kommt auf die Einschätzung Schneckenburgers zu sprechen, hält sie aber – mit Verweis auf die Apologia Confessionis Augustanae, auf Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) und David Hollaz (1648–1713) – für falsch: „Dazu kommt noch Folgendes: Im Bewußtsein der Rechtfertigung ist ausgedrückt, daß von den guten Werken, als einem Maßstabe unserer Geltung vor Gott, wegen ihrer steten Unvollkommenheit abgesehen werden soll . . . . Aber nun soll man in dem Fall der Schwachheit des Rechtfertigungsglaubens daran, daß gute Werke überhaupt in einem Maße vorhanden sind, die Authentie des Bewußtseins der Rechtfertigung erreichen. Wird der Mensch zwischen diesen entgegengesetzten Beurtheilungen seines sittlichen Thuns, welche er gleichzeitig üben soll, wirklich zu der Ruhe gelangen, die ihm durch die Rechtfertigung verbürgt

3.6 Wege der Erlösung |

267

die guten Werke notwendig aus dem Glauben fließen (vgl. V, 77f).³⁴³ Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kommt Schneckenburger dann zu dem Ergebnis, dass die Seligkeitsvorstellung bei den Reformierten als „Motiv des Handelns“ (V, 94) begriffen werden müsse. Das Luthertum hingegen wird von ihm unter entgegengesetzten Vorzeichen entfaltet. Gegenüber dem praktischen Antrieb der reformierten Frömmigkeit lauere im Luthertum die Gefahr, „dass sich der Glaube zu einer thatlosen mystischen Ruhe in dem Seligkeitsbewusstsein entnervt“ (V, 90) bzw. zu einem „thatlosen, träumerischen Quietismus“ (V, 104) werde. Auch wenn Schneckenburger die Frömmigkeitsideale nicht randscharf voneinander absetzt, ordnen seine Ausführungen das Luthertum dem Typus einer religiösen vita contemplativa und die Reformierten dem Typus einer religiösen vita activa zu.³⁴⁴ Neben der Spezifikation des Reformiertentums als einer strikt praktischen Frömmigkeit ist Schneckenburgers noch grundlegendere Annahme anzuführen, dass die reformierte Frömmigkeit letztlich auf dem Prädestinationsgedanken fußt. Letzterer durchzieht seine Ausführungen wie ein roter Faden, sodass er nachgerade als Schlüssel zum Verständnis „reformirte[r] Werkthätigkeit“³⁴⁵ (V, 52) begriffen werden kann, was auch durch das folgende Zitat bestätigt wird. So ist der Gedanke der ewigen Wahl, wie er erzeugt wird aus dem Bedürfnisse, der Realität seines Heils als eines reinen Gnadengeschenks Gottes bewusst zu werden, einerseits Reflex des Bewusstseins im Heile zu stehen, anderseits auch wieder die kräftigste Aufforderung zu dessen praktischer Bethätigung, weil die göttliche Erwählung zum Heile ihrem Begriffe nach

werden soll? Schneckenburger wenigstens hat behauptet, daß diese Zumuthung einem Lutheraner unerträglich sei. Allein Schneckenburger irrt sich, indem er meint, daß jener Satz dem Bekenntniß und der Dogmatik der Lutheraner unerträglich sei.“ (Ritschl 1888, 460f) Allerdings fügt Ritschl noch hinzu: „Nur insofern hat er recht gesehen, als die Beobachtung des Rechtfertigungsstandes an dem gleichzeitigen sittlichen Streben in der religiösen Praxis der Lutheraner vor Spener sich nicht wirksam zeigt.“ (Ritschl 1888, 461). 343 Dass diese Annahme gleichermaßen für das Luthertum signifikant ist, verschweigt Schneckenburger an dieser Stelle. 344 Dass die Grenzen dann letztlich doch fließend sind, lässt sich etwa daran erkennen, dass Schneckenburger den Lutheranern durchaus eine „weltgestaltende, weltbildende“ „Thätigkeit nach Aussen“ bescheinigt, die in der „Liebe, durch welche der Glaube thätig ist“ (V, 139), besteht. Allerdings fügt er sogleich hinzu, dass dieses Element dem Lutheraner „das Secundäre, jener seiner Selbstbildung Untergeordnete, ja durch besondern Beruf und die eigenthümlichen Verhältnisse desselben Bedingte“ (V, 139) bleibe. Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass eine der Quellen, aus der sich der immer wieder erhobene Quietismusvorwurf gegenüber den Lutheranern speist – erinnert sei hier etwa an Ernst Troeltsch –, vermutlich Schneckenburgers Abhandlung entsprungen ist. Dagegen wurde freilich immer wieder auch opponiert oder daran appelliert, eine differenziertere Sichtweise einzunehmen, vgl. etwa Holl 1923f, 100. 345 Vgl. auch V, 53ff. 84. 92. 97. 159 u. ö.

268 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext

die Erwählung zur Heiligung, zu der der Seligkeit conformen Thätigkeit bildet, d.h. weil ich jenes sublime Bewusstsein der auf mich bezogenen ewigen göttlichen That nicht vollziehen kann, ohne ihre entsprechende Verwirklichung in meinem objektiven Thun, als einem der Seligkeit conformen, zu suchen. (V, 84).

Diese psychogenetische Beschreibung des Prädestinationsgedankens dient der konzeptionellen Vertiefung des zuvor gestifteten Begründungszusammenhangs von Seligkeit und Handeln. Indem die Erwählungsvorstellung den letzten Grund des Heils darstellt, tritt sie als finale Konstitutionsbedingung religiösen Handelns in Erscheinung. Die bisherigen Ausführungen zu den gedanklichen Grundlagen von Schneckenburgers Werk haben den zentralen Stellenwert der Seligkeitsvorstellung erkennen lassen. Auch wenn der Gedanke der Seligkeit und der der Erlösung nicht unmittelbar aufeinander abbildbar sind, verwendet sie Schneckenburger an verschiedenen Stellen synonym (vgl. V, 195. 235. 287). In besonderer Weise erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die bereits angedeutete und im §5 des ersten Kapitels entfaltete „Bedeutung der Seligkeitsvorstellung als Motiv des Handelns“ (V, 94), die bei den Reformierten in viel stärkerem Maße ausgeprägt sei als bei den Lutheranern, denen zufolge die „einzige Causalität unserer Seligkeit in Christus“ (V, 94) zu finden sei. Bei den Reformierten hingegen wird die Seligkeitsvorstellung zur „Anfeurung“ bzw. zum „Antriebe“ des Handelns, die von Schneckenburg explizit als „psychologisch[e]“ (V, 96) Handlungsmotive ausgewiesen werden. Theologisch fundiert ist dieser Motivationszusammenhang durch den Erwählungsgedanken. Wir können die weiteren Überlegungen, die Schneckenburger in diesem Zusammenhang anstellt, auf sich beruhen lassen. Vielmehr gilt es bereits hier darauf hinzuweisen, dass mit der Verknüpfung von Seligkeitsvorstellung und tätiger Frömmigkeit ein Gesichtspunkt berührt ist, der unmittelbar auf Webers Interesse stoßen musste, artikuliert sich doch in ihr deutlich die Frage, in welchem Maße religiöse Vorstellungen sich motivational auf der Handlungsebene niederschlagen können. In diesem Zusammenhang nimmt bei Weber die Erlösungsvorstellung eine herausragende Stellung ein. Bevor dieser Faden aber weiter gesponnen werden kann, ist es erforderlich, sich Siebecks Konzept der Erlösungsreligion zuzuwenden. b) Die für Siebecks religionsgeschichtliche und -typologische Konstruktion grundlegende Unterscheidung zwischen Religionen der Weltbejahung und solchen der Weltverneinung sowie der Übergang von den Moralitäts- zu den Erlösungsreligionen wurde oben bereits anhand seiner Prophetendeutung nachgezeichnet.³⁴⁶ Die Propheten repräsentieren den für die Erlösungsreligion maßgeblichen Aspekt der Persönlichkeit bzw. Individualität, womit Siebecks Ansicht nach zugleich eine 346 Vgl. 3. 5. 3.

3.6 Wege der Erlösung |

269

wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des Christentums erfüllt wurde, in welchem er die Vollendungsgestalt dieses Religionstyps erblickt. Von diesem Argumentationsstrang unterschieden sind seine Ausführungen zu zwei weiteren – für ihn letztlich defizitären – historischen Erscheinungsformen der Erlösungsreligion: der Platonismus/Neuplatonismus auf der einen und der aus dem Brahmanismus hervorgegangene Buddhismus auf der anderen Seite. Siebecks Sicht auf diese positiv-geschichtlichen Erscheinungsformen des religiösen Bewusstseins gilt es zunächst kurz nachzuzeichnen, um davon ausgehend die Binnendifferenzierungen, die er am Orte der Erlösungsvorstellungen und -religionen vornimmt, auf den Begriff bringen zu können. Siebeck ist der Überzeugung, dass der in der Philosophie Platos angelegte Erlösungsgedanke im Neuplatonismus entscheidend vertieft worden sei. Zwar habe bereits der platonische Gegensatz von Ideenwelt und empirischer Wirklichkeit die Grundlagen einer religiösen Stimmung erzeugt, der zufolge „das Leben in der Welt hinsichtlich der Motivation für das Handeln entwerthet erschien“ (L, 115). Plotin aber sei deutlich darüber hinaus gegangen, indem er die Forderung nach einer Erlösung von der Welt in das Zentrum seiner Spekulationen stellte. Sein ganzes System stehe im Dienst dieses Gedankens (vgl. L, 116). Die Erlösung selbst werde von Plotin als ein ekstatisch-mystisches Erlebnis der von der „Sehnsucht nach Weltverneinung umfangene[n] Seele“ (L, 117) ausgewiesen, das zwar unter der Vorbedingung begrifflicher Erkenntnis stehe, als solches aber jedwedem reflektierten Bewusstseinsleben entzogen sei. Das neuplatonische System repräsentiert damit eine Spielart von Erlösungsreligion, die aber eine ihrer zentralen Voraussetzungen unterläuft – nämlich die Persönlichkeitsdimension (vgl. L, 117. 120). Letztere gehe auf Kosten der Dominanz mystischer Sehnsucht nach dem Urquell des Lebens. Siebeck bescheinigt dem Neuplatonismus zudem massive Positivitäts- bzw. Sozialisationsmängel, was sich an dessen Unfähigkeit ermessen lasse, „das Wesentliche seiner Lehre zum Ferment eines Gemeinschaftslebens zu machen.“ (L, 120) Damit verbunden ist die Exklusivität des Erlösungsziels, dessen Erreichen nur einer geistigen Aristokratie vorbehalten bleibe. Es ist für Siebeck schließlich der spekulative „Intellektualismus“ (L, 120), der die Grenzen der neuplatonischen Erlösungsreligion zum Vorschein bringt. Wie bereits angedeutet wurde, bescheinigt der Gießener Philosoph nicht allein dem Neuplatonismus, eine defizitäre Gestalt der Erlösungsreligion darzustellen, sondern auch der asiatischen Religiosität. Worin er diesen Mangel im Falle des Brahmanismus und Buddhismus erblickt, werden die folgenden Überlegungen aufzuzeigen haben. Für Siebecks Auseinandersetzung mit dem Erlösungsgedanken innerhalb des Brahmanismus sind zunächst zweierlei Annahmen von grundlegender Bedeutung. Zum einen sei es hier nicht ausreichend, von Weltverneinung zu sprechen. Vielmehr präzisiert er die Beziehung zur Welt als die einer „Weltflucht“ (L, 122 u. ö.). Sie

270 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext besitzt ihr gedankliches Zentrum in der Vorstellung des unpersönlich gedachten Brahman, das Siebeck als das „weltfreie Beisichsein“ (L, 123) spezifiziert. Das religiöse Bewusstsein lege sich nicht in einem praktischen Verhalten zu Gott oder zur Welt aus, sondern habe sein Telos darin, dass sich die Persönlichkeit im Brahman verliere. Darin bestehe die „endgiltige Erlösung“, die ein „Loskommen vom Leiden“ (L, 124) ist. Genau diesen Sachverhalt habe der Buddhismus vom Brahmanismus übernommen. Allerdings sieht Siebeck zugleich grundlegende Differenzen zwischen beiden Religionen. Zwar verfolge auch der Buddhismus das Ziel der Weltflucht. Vom Brahmanismus aber sei er insofern unterschieden, als dafür keine Vermittlungsinstanz erforderlich sei. Dementsprechend heißt es in Siebecks Religionsphilosophie, „dass der Mensch zu seiner Erlösung keiner andern Macht oder Persönlichkeit bedürfe, als seiner eigenen“ (L, 128). Damit aber wird auch die Vorstellung vom Brahman hinfällig. Im Buddhismus bleibe nur der Mensch übrig, „der in seinem eigenen Innern die Kraft trägt, durch Erkenntniss von der hoffnungslosen Stätte des Leidens sich abzuwenden.“ (L, 128) Hierin wurzelt der elitäre Zug der Lehre Buddhas, die eine „Aristokratie der Geister“ (L, 132) voraussetze. Wenn Siebeck von diesen Überlegungen ausgehend den Buddhismus als eine negative Erlösungsreligion bezeichnet (vgl. L, 16. 51. 131), dann impliziert diese Formulierung das Fehlen eines positiven Korrelats der Erlösungsvorstellung. Die Bestimmung des Erlösungsziels geht nicht über die Loslösung von der Welt hinaus und ist damit privativ. Siebeck spricht an dieser Stelle vom „Mangel eines positiven Erlösungsprinzips“ (L, 129). Die Erlösung ist die bloße „Flucht in’s inhaltslose Ausserweltliche“ (L, 131),³⁴⁷ worin sich zugleich die buddhistische Variante einer marginalisierten Persönlichkeitsdimension artikuliert. Von diesen Spielarten der Erlösungsreligion und -vorstellung unterscheidet Siebeck nun die des Christentums, wobei hier sein Verständnis des Protestantismus in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen ist. Die in religiöser Hinsicht entscheidende Leistung der Reformation bestehe darin, eine grundlegende Transformation in der Verhältnisbestimmung von Religion und Welt herbeigeführt zu haben. Hierfür macht er allen voran den Berufsgedanken geltend, in dem sich die Überzeugung bündele, dass das Leben in der Welt von einem religiösen Sinn getragen sei. Das aber habe zur Folge, dass die Kirche nicht mehr das Monopol auf Heilsvermittlung besitze, vielmehr stehe sie nun selbst lediglich in einem Ableitungsverhältnis eines außer ihr begründeten religiösen Bewusstseins.³⁴⁸ Siebecks 347 Diese Überlegungen stehen in deutlicher Nähe zu Schopenhauers Erlösungsvorstellung, die ebenfalls „grundsätzlich privativ“ (Osthövener 2004, 138) geprägt ist. 348 „Zu ihrem [sc. der Kirche] Bestehen selbst und zur Ermöglichung ihrer Wirksamkeit war sonach erforderlich, dass das religiöse Bewusstsein bereits ausserhalb ihrer und neben ihr vor-

3.6 Wege der Erlösung |

271

Reflexionen zum protestantischen Christentum haben nun ihre Pointe darin, dass er die religionsphilosophische Grundkategorie der Weltverneinung hier nicht als Weltflucht, sondern als „Weltüberwindung“ (L, 158) spezifiziert. Diese unterscheidet sich von jener dadurch, dass sie einen Weltbezug notwendig inhäriert. „Die Weltüberwindung selbst sollte mit und durch das Wirken in der Welt gewonnen werden“. (L, 158) Auch wenn die Annahme, die Erlösung sei an keine Institutionen gebunden, mit dem Buddhismusverständnis übereinstimmt, stellt Siebeck ausdrücklich heraus, dass der Protestantismus dem gemeinschaftshemmenden „Intellektualismus“ (L, 159) ein Ende gemacht habe, worin sich deutlich der Überbietungsanspruch der christlich-protestantischen Erlösungsvorstellung gegenüber den asiatischen Varianten artikuliert. Ausgesprochen bemerkenswert ist sodann Siebecks Notiz, dass die Durchsetzung dieser protestantischen Haltung nicht mit einem Schlage erledigt war; „sie wurde theilweise sogar erst in neuerer und neuester Zeit mit Bewusstsein wieder in Angriff genommen.“ (L, 160) Ohne an dieser Stelle eine eindeutige Zuordnung vornehmen zu können, lässt diese Formulierung doch vermuten, dass sich Siebeck hier auf Albrecht Ritschl (1822-1889) und dessen Schüler bezieht. Auf Ritschl verweist nicht allein die praktische Ausrichtung des Christentumsverständnisses im Allgemeinen, sondern auch die Verbindung von Berufsgedanken und Gemeinschaftsidee sowie das Verständnis von Reformation als einer spezifischen Konstellation von Religions- und Weltvorstellung, worauf später zurückzukommen sein wird.³⁴⁹ Nicht allein dieser praktischen Ausrichtung seines Konzepts der Erlösungsreligionen wegen mussten Siebecks Erörterungen bei Weber auf Resonanz stoßen, sondern auch deswegen, weil der Religionsphilosoph eine Typologie von Erlösungsreligionen entwickelt hat, in der unterschiedliche Formen des Weltverhältnisses zur Darstellung kommen. Auf der einen Seite stehen mystisch-ekstatisch sowie intellektualistisch gefärbte Vorstellungen von Erlösung, die sich im Begriff der Weltflucht bündeln. Auf der anderen Seite stehen Erlösungsvorstellungen, die zwar auch durch das Ziel der Weltverneinung charakterisiert sind. Letztere vollzieht sich aber im Medium einer innerweltlichen Lebensführung,³⁵⁰ die in der Welt auf eine Überwindung der Welt zielt. Während Siebeck den Buddhismus als weltflüchtige Erlösungsreligion par excellence bestimmt, vollendet sich im protestantischen

handen und lebendig war. Dies aber setzt weiter voraus, dass das Sein und Wirken des oder der Einzelnen innerhalb des weltlichen Lebens, in Familie, Gemeinde, Staat und bürgerlichen Beruf selbst schon mit getragen und durchwaltet ist von dem Wesen des religiösen Sinnes.“ (L, 157). 349 Vgl. 3. 6. 2 sowie 3. 6. 3. 350 Der Begriff der Lebensführung findet auch bei Siebeck Verwendung, vgl. L, 132. 296. 321. 423 u. ö.

272 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Christentum die Erlösungsvorstellung im Sinne einer innerweltlichen Form der Weltüberwindung. Wenn Weber in der Zwischenbetrachtung sowohl die Mystik als auch die Askese mit dem Begriff der Innerweltlichkeit und der Weltflucht koordiniert, so stehen diese Bestimmungen in Kontinuität zu der Binnendifferenzierung, die Siebeck am Orte des Gedankens der Weltüberwindung vornimmt. Auch vor diesem Hintergrund betrachtet, lässt sich Kippenbergs These untermauern, wonach Webers Religions- und Erlösungsverständnis stark an den Überlegungen orientiert ist, die Siebeck zu diesem Thema angestellt hat. c) Im ersten Band seiner Abhandlung Der moderne Kapitalismus (1902) äußert sich Werner Sombart zur „Genesis des kapitalistischen Geistes“.³⁵¹ Er führt darin aus, dass ihm „eine Begründung modern-kapitalistischen Wesens mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsgemeinschaften“³⁵² unzureichend erscheine, auch wenn er es nicht in Zweifel ziehe, dass „der Protestantismus, zumal in seinen Spielarten des Calvinismus und Quäkertums, die Entwicklung des Kapitalismus wesentlich gefördert hat“.³⁵³ Doch nicht in der Religion, sondern vielmehr in der „Erhebung des absoluten Mittels – des Geldes – zum höchsten Zweck“³⁵⁴ erblickt Sombart – mit Verweis auf Simmels „mit gewohnter Meisterschaft“³⁵⁵ entwickelter Philosophie des Geldes – den entscheidenden Faktor, der für eine Psychogenese des kapitalistischen Geistes zu veranschlagen sei.³⁵⁶ Hierin erblickt er eine epochale Umformung der Grundlagen wirtschaftlichen Handelns. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, welches ungeheure Raffinement dazu gehörte, den Gedanken zu fassen: durch Wirtschaften sei Geld zu verdienen. Das heißt also ein bisher als Zweck oder als Mittel zu völlig anders gearteten Zwecken (der Gewinnung des Lebensunterhalts) betrachtetes, alltägliches Thun in das Verhältnis des Mittels zu dem gänzlich heterogenen Zweck – des Geldmachens – zu setzen.³⁵⁷

Obwohl sich Sombart den Grundsätzen der historischen Schule der Nationalökonomie verpflichtet sieht, die er durch die Ausrichtung an den Marxschen Metho351 Sombart 1987a, 378ff. 352 Sombart 1987a, 380. 353 Sombart 1987a, 381. Schon Marx hatte auf diesen Zusammenhang hingewiesen, vgl. Euchner 1983, 76. Sombart verweist an dieser Stelle auf Eberhard Gotheins Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes (1892). 354 Sombart 1987a, 383. 355 Sombart 1987a, 383 356 „In dem Maße, wie man die Wirksamkeit des Geldbesitzes, seine Fähigkeit des Allesverschaffens sah oder doch wenigstens zu sehen vermeinte, konzentriert sich von nun ab alles Streben in dem heißen, glühenden, unstillbaren Verlangen nach Geld. Es beginnt die auri sacra fames wieder einmal ihren verheerenden Zug durch die Lande.“ (Sombart 1987a, 383). 357 Sombart 1987a, 388.

3.6 Wege der Erlösung |

273

denidealen weiterzubilden versucht,³⁵⁸ ist er gegenüber den historiographischen Möglichkeiten, die psychogenetischen Grundlagen der Entstehung des kapitalistischen Geistes aufzudecken, ausgesprochen skeptisch. „Wann und wo dieser Gedanke zuerst in die Welt kam, wird sich vermutlich ewig in undurchdringliches Dunkel hüllen.“³⁵⁹ Wie schon in der Forschungsliteratur vielfach herausgearbeitet wurde, ist Sombart im Hinblick auf die Frage, warum sich im ‚Abendland‘ ein kapitalistisches Wirtschaftssystem herausgebildet hat, einer der zentralen Gesprächspartner Webers gewesen.³⁶⁰ Weber gewichtet nun in der Protestantischen Ethik die für die Erklärung des kapitalistischen Geistes von Sombart veranschlagten Parameter um. Während Sombart den Fokus auf äußere Faktoren legte und die Bedeutung religiöser Vorstellungen depotenzierte, zielt Weber darauf ab, die Genese des kapitalistischen Geistes unter umgekehrten Vorzeichen zu erklären.³⁶¹ Weber fragt in seiner Protestantischen Ethik bekanntlich nach den Entstehungsbedingungen derjenigen „Lebensführung und ‚Berufs‘-Auffassung“ (PE, 152), die der moderne Kapitalismus voraussetzt und unter denen er überhaupt erst erklärbar

358 Vgl. Sombart 1987a, XXIX. Marx selbst benennt zufällige Konstellationen für den Übergang vom Vorkapitalismus zum Kapitalismus, vgl. Euchner 1983, 77. 359 Sombart 1987a, 388. 360 Vgl. Lehmann 1993, 195ff. Es gehört gleichsam zum Schicksal von Sombarts Kapitalismusdeutung, im Schatten der Weberschen zu stehen. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass jener dieses Thema viel umfänglicher – sowohl in historischer als auch in statistischer Hinsicht – als dieser entfaltet hat. Und auch in der Prognose, die das Ende des Kapitalismus betrifft, erweisen sich Sombarts Ausführungen zutreffender als diejenigen Webers. Zum Ende seines opus magnum führt Sombart dessen berühmtes und pathetisches Diktum an, dass der Geist des Kapitalismus das gesellschaftliche Leben bestimmt „und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (PE, 422) Sombart hingegen macht die Erfolgsgeschichte des modernen Kapitalismus nicht von fossilen Energieträgern abhängig. Vielmehr hat er bereits alternative im Blick: „Energie der Wasserkraft“, „Energie von Ebbe und Flut“, „Energie der Sonnenstrahlung, die man bereits zu nutzen begonnen hat“ (Sombart 1987b, 1011). In diesem Zusammenhang weist er auf ein Diktum aus Wilhelm Ostwalds Energetischer Kulturtheorie (1907) hin: „‚Als späteres Ziel des Fortschritts wird . . . die unmittelbare Benutzung der Sonnenenergien anzusehen sein, wobei die Erde mit Apparaten bedeckt sein wird, in denen dies geschieht, und in deren Schatten die Menschen ein bequemeres Dasein führen werden.“‘ (Sombart 1987b, 1012) – Weber kommt im übrigen auf diesen Gesichtspunkt in seiner Rezension jenes Werks des Nobelpreisträgers zu sprechen (vgl. EK, 409). 361 Dieses Vorgehen schattet sich in der vorsichtigen Formulierung ab: „So könnten die nachfolgenden Studien an ihrem freilich bescheidenen Teil vielleicht auch einen Beitrag bilden zur Veranschaulichung der Art, in der überhaupt die ‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden.“ (PE, 214) Bereits Simmel hatte in der Selbstanzeige seiner Philosophie des Geldes auf das den Geschichtsverlaufe bestimmende „Wechselspiel zwischen den materiellen und ideellen Faktoren“ hingewiesen, „in dem keiner der erste und keiner der letzte ist.“ (Simmel 2014, 719).

274 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext wird.³⁶² Das betrifft allen voran die irrationalen Implikationen des kapitalistischen Geistes, die Weber an der Gesinnung festmacht, dem Beruf verpflichtet zu sein (vgl. PE, 150 u. ö.). „Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklärende.“ (PE, 152) Seinen Methodengrundsätzen entsprechend versucht er, diejenigen historischen Faktoren und die ihnen zugrunde liegenden motivationalen Voraussetzungen ausfindig zu machen, die jener Entstehung zugerechnet (vgl. PE, 214) und das heißt für Weber, wie oben gezeigt wurde, erklärt werden können.³⁶³ Denn es soll ja lediglich unternommen werden, den Einschlag, welchen religiösen Motive in das Gewebe der Entwicklung unserer aus zahllosen historischen Einzelmotiven erwachsenen modernen materiellen Kultur geliefert haben, etwas deutlicher zu machen. Wir fragen lediglich, was von gewissen charakteristischen Inhalten dieser Kultur dem Einfluß der Reformation als historischer Ursache etwa zuzurechnen sein möchte. (PE, 214)

Damit bildet die Protestantismusstudie den ersten Anwendungsfall seiner zeitgleich erarbeiteten Methodologie kulturwissenschaftlichen Arbeitens.³⁶⁴ Diese Schwerpunktverlagerung auf die von Sombart zwar angedeutete, in ihrer heuristischen Reichweite für das infrage stehende Problem jedoch depotenzierte Dimension religiöser Vorstellungen machte es für Weber erforderlich, sich in das Gebiet der christlichen Religion, speziell der protestantischen Ethik einarbeiten zu müssen. Das bedeutete für ihn freilich nicht, Neuland zu betreten. Denn es gilt sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vielzahl hochkarätiger theologischer Literatur rezipiert hatte,³⁶⁵ während seines Studiums Kontakt zu seinem Vetter Otto Baumgarten pflegte, der in Heidelberg 362 Zu Webers Kapitalismusdeutung insgesamt vgl. Barth 2003a, 373–397. 363 Dass die begriffliche Fixierung dieser Faktoren auf der Basis der idealtypisch-historischen Begriffsbildung vollzogen wird, stellt Weber ausdrücklich heraus (vgl. PE, 246). 364 Das gilt aber nicht nur für den Idealtyp, wie Mommsen notiert (vgl. Mommsen 1974b, 193), sondern vor allem für die methodologische Verschränkung der Theorie idealtypischer Begriffsbildung mit der Struktur des Handlungsbegriffs. 365 So heißt es in seinen Jugendbriefen: „Im übrigen bin ich ziemlich tief in die Theologie geraten; meine Lektüre besteht aus Strauß, Schleiermacher und Pfleiderer (‚Paulinismus‘) und außerdem nur Platon. Strauß ‚der alte und neue Glaube‘, enthält nicht sehr viel Neues, nichts, was man nicht ungefähr selbst wüßte; es soll eben eine kurze Enzyklopädie der feinsinnigen Weltanschauung sein, und muß infolgedessen vielfach recht oberflächlich erscheinen. Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘, in die ich mich freilich erst wenig hineingelesen habe, machen mir vorläufig gar keinen Eindruck. Oder vielmehr einen recht unangenehmen, oder vielmehr, sie bleiben mir, trotzdem ich die Absicht des Mannes ungefähr kenne, in ihrem altfränkischen cicerozianischen Stil unverständlich, aber ich bin doch begierig auf die Pointe und verkenne die große Herzensgüte des Mannes, die häufig durchbricht, durchaus nicht. Pfleiderers Paulinismus ist jedenfalls sehr interessant und verspricht schon in der Einleitung etwas sehr Bedeutendes.“ (Weber 1936, 48f) Vgl. auch Weber 1936, 106f.

3.6 Wege der Erlösung |

275

Theologie studiert hatte,³⁶⁶ und sich seit über einem Jahrzehnt im Umkreis des evangelisch sozialen Kongresses bewegte. Weber verfügte über eine solide theologische Bildung. Nicht zuletzt deswegen sah er sich auch dazu imstande, sich mit der theologischen Spezialforschung produktiv auseinanderzusetzen.³⁶⁷ Dass er, um sich auf dem Gebiet der protestantischen Ethik orientieren zu können, von der protestantischen Fachdiskussion abhängig war, wird von ihm freimütig herausgestellt, wenn es heißt, dass seine Ausführungen zu den dogmatischen Grundlagen protestantischer Frömmigkeit „an die Formulierungen der kirchen- und dogmengeschichtlichen Literatur, also an die ‚zweite Hand‘ angelehnt ist und insoweit schlechterdings keinerlei ‚Originalität‘ beansprucht.“ (PE, 2453) Weber fährt dann fort: „Selbstverständlich habe ich mich nach Vermögen in die Quellen der Reformationsgeschichte zu vertiefen gesucht. Aber dabei die intensive und feinsinnige theologische Arbeit vieler Jahrzehnte ignorieren zu wollen, statt sich – wie das ganz unvermeidlich ist – von ihr zum Verständnis der Quellen leiten zu lassen, wäre eine starke Anmaßung gewesen.“ (PE, 2453) Es kann also gar kein Zweifel daran bestehen, dass Weber bezogen auf das infrage stehende Problem in den v. a. protestantischen Fachvertretern die „kompetentesten Gesprächspartner“³⁶⁸ gesehen hat. Wie bereits bemerkt wurde, zielt Webers Protestantismusstudie auf die Bestimmung der geschichtlichen Voraussetzungen des modernen kapitalistischen ‚Geistes‘.³⁶⁹ Dass die protestantische Askese für ihn zum – keineswegs monokausal zu verstehenden – Erklärungsgrund wurde, ist vielfach bemerkt und ausgeführt worden. Was in diesem Zusammenhang jedoch vielfach vernachlässigt wurde, ist die der Askese systematisch vorgeordnete Idee der Seligkeit bzw. der Erlösung. Das 366 Vgl. Baumgarten 1929, 62. Vgl. dazu auch Weber 1984, 71. Zu konzeptionellen Konvergenzen zwischen Baumgarten und Weber vgl. Drehsen 2009, 313–360. 367 Den Zusammenhang zwischen dem Geist des Kapitalismus und der protestantischen Ethik nennt Weber erstmals in der ersten Lieferung zu Roscher und Knies. Dort heißt es: „Eine eingehendere Untersuchung würde ergeben, daß die Scheidung [sc. von Privatwirtschaft und öffentlicher Tätigkeit] auf ganz bestimmte puritanische Vorstellungen zurückgeht, die für die ‚Genesis des kapitalistischen Geistes‘ von sehr großer Bedeutung gewesen sind.“ (RK I, 323) Auf den Puritanismus kommt er auch in RK I, 331 zu sprechen. Allerdings deutet Weber auch an, die protestantische Ethik bereits 1898 im Kolleg behandelt zu haben (vgl. Weber 2014a, 575f). Vgl. dazu Graf 1987, 134 und vor allem Schluchter 2014, 4–7. 368 Graf 1987, 122. Diesen Zusammenhang deutlich herausgearbeitet zu haben, ist vor allem das Verdienst Grafs. Dass Weber im Hinblick auf die unterschiedlichen Gebiete seiner Religionsforschung auf die jeweilige Fachwissenschaft angewiesen war, wird von ihm verschiedentlich herausgestellt. So etwa im Zusammenhang seiner Untersuchungen zum Konfuzianismus, vgl. KT, 2872. 369 In einem Brief an Rickert vom 2. April 1905 bezeichnet Weber diese Studie auf den Geistbegriff gemünzt als eine „Art ‚spiritualistischer‘ Construktion der modernen Wirtschaft.“ (Br II / 4, 448).

276 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext verwundert umso mehr, als dieser Aspekt von Weber ausdrücklich als neuralgischer Punkt im Verständnis der protestantischen Ethik ausgewiesen wird: „Das Seelenheil und dies allein ist der Angelpunkt ihres [sc. der Reformatoren] Lebens und Wirkens. Ihre ethischen Ziele und die praktischen Wirkungen ihrer Lehre sind alle hier verankert und Konsequenzen rein religiöser Motive.“³⁷⁰ (PE, 213) Diese Motive bzw. „psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten“ (PE, 245),³⁷¹ zu bestimmen, sieht Weber als eine grundlegende Aufgabe seiner Untersuchung an. Darauf aufbauend verfolgt er dann die Frage, welcher Mittel sich die Gläubigen bedienen, um jenes Ziel zu erreichen. Es geht um den spezifischen „Weg . . . , Gott wohlzugefallen“ (PE, 194) bzw. „Gott näher zu kommen“ (PE, 32389). Bekanntlich legt Weber in den Jahren 1904/1905 das Augenmerk auf die gerade schon genannte protestantische Askese, auf die später eigens einzugehen sein wird.³⁷² An dieser Stelle ist der Sachverhalt entscheidend, dass Weber schon in der Erstauflage der Protestantischen Ethik deutlich zwischen dem Erlösungsgedanken als dem Motiv religiösen Handelns und den jeweils konkreten Heilswegen differenziert, die im Luthertum, von den Reformierten, im Pietismus u. a. eingeschlagen werden.³⁷³ Genau dieser Sachverhalt wird von ihm in den Religiösen Gemeinschaften unter Bezugnahme auf die gesamte Religionsgeschichte und in Gestalt einer hochgradig ausdifferenzierten Typologie von Heilswegen systematisch ausgebaut. Bevor wir auf den entsprechenden Abschnitt 10 – „Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung“ – zu sprechen kommen, soll jedoch der in dieser Schrift entfaltete Begründungszusammenhang der Erlösungsvorstellung genauer nachgezeichnet werden.

370 An anderer Stelle heißt es: „Das Leben der ‚Heiligen‘ ist ausschließlich auf ein transzendentes Ziel, die Seligkeit, ausgerichtet“ (PE, 289). 371 Die Begriffe des Motivs sowie der psychischen Antriebe finden in der Protestantischen Ethik vielfach Verwendung. 372 Vgl. 3. 6. 3. 373 Damit bewegt er sich in den methodischen Bahnen von Schneckenburgers Vergleichender Darstellung (vgl. Graf 1993, 35). Doch dürfen über die Konvergenzen hinweg die Differenzen zwischen beiden Autoren nicht übersehen werden. Während Schneckenburgers Bestimmungen zum Reformiertentum und Luthertum eine Theorie des religiösen Bewusstseins zugrunde liegt, tritt diese Dimension bei Weber in einer methodisch gebrochenen Form auf. Das lässt sich daran ermessen, dass er zwar von den psychischen Grundlagen der Lebensführung spricht, zugleich aber deutlich macht, diese Zusammenhänge nur in einer „‚idealtypisch‘ kompilierten Konsequenz vorführen“ zu können, „wie sie in der historischen Realität nur selten anzutreffen war.“ (PE, 246f) In Webers methodisch begründetem Vorbehalt gegenüber der Annahme einer direkten Zugänglichkeit zum Bewusstseinsleben fremder, religiöser Subjekte ist eine grundlegende Differenz zwischen Schneckenburger und Weber bezeichnet. Vgl. dazu auch Ghosh 2008a, 181f; Graf 1995, 225.

3.6 Wege der Erlösung |

277

Hier ist an erster Stelle der in Kapitel acht verhandelte Theodizeegedanke zu nennen, von dem ausgehend sich Weber dem Erlösungsgedanken zuwendet. Allerdings steht die Einführung der Theodizeeproblematik wiederum unter spezifischen Konstruktionsvoraussetzungen, zu denen allen voran die Prophetie gehört. In Anbetracht der engen Verknüpfung von Erlösungsreligion und Prophetie – hierin folgt Weber der Konzeption Siebecks – nimmt dieser Sachverhalt nicht wunder. Letzteres gilt eher für die Bedeutung, die Weber auf die Theodizeeproblematik bezogen den Intellektuellen bescheinigt. Beide Begründungszusammenhänge des Theodizeebegriffs und darauf aufbauend des Erlösungsbegriffs gilt es nun des Näheren zu charakterisieren. Eine ausführliche Beschäftigung mit dem Thema der Theodizee liegt in Webers Werk erstmals mit dem Kapitel acht der Religiösen Gemeinschaften vor – „Das Problem der Theodizee“ (RG, 290). Bis dahin kam er nur beiläufig darauf zu sprechen (vgl. RK I, 332.401; RK III, 140). In der Erstauflage der Protestantischen Ethik, in den Studien zu den Agrarverhältnissen im Altertum sowie im Deponatsmanuskript Ethik und Mythik/Rituelle Absonderung spielte es keine Rolle.³⁷⁴ Wie bereits angedeutet wurde, kommt der Prophetie eine Schlüsselstellung zu, wenn es um die Anbahnung der Theodizeevorstellung geht. Oben wurde dargelegt, dass die Prophetie als der maßgebliche Impulsgeber für die Ethisierung der religiösen Vorstellungswelt angesehen werden muss.³⁷⁵ Das gilt allen voran für den Gottesgedanken. Mit dem Auftreten dieser religiösen Spezialisten geht oft „eine Steigerung der ethischen Inhalte der Gotteskonzeption“ (RG, 291) einher. Die ethische Sublimierung der religiösen Vorstellungswelt betrifft aber keineswegs nur den Gottesgedanken, sondern ebenso die – wie Weber schon im Kapitel drei bemerkt – Sünden- und die Erlösungsvorstellung.³⁷⁶ Im Kapitel acht wird dieser Begründungszusammenhang

374 Dass er sich dieses Themas nun in ausführlicherer Weise annimmt, ist möglicherweise auch durch die 1906 ausgeschriebene Preisaufgabe der Kantgesellschaft – „Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Kant und Schiller“ – indirekt angeregt worden. Sowohl Richard Wegener (1843–1917) als auch Otto Lempp (1885–1914) fertigten Dissertationen zu diesem Thema an, die von Ernst Troeltsch – dem Lehrer Lempps – rezensiert wurden, vgl. Troeltsch 2004a, 678–682. Die gleichnamige, 1909 erschienene Arbeit von Josef Kremer findet in Troeltschs Besprechung jedoch keine Erwähnung. 375 Vgl. 3. 5. 3. 376 Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, rekurriert Weber zunächst – und hier scheint er unmittelbar an Siebecks Religionsphilosophie anzuknüpfen (vgl. 3. 3. 1) – auf eine Transformation im Verständnis widerfahrenen Übels oder Leids. Letzteres wird, sobald sich die ethische Gottesvorstellung durchgesetzt hat, nicht mehr als ein Versagen der Gottheit verstanden, sondern als das Resultat ihres Zorns, den die Übertretung der als heilig geltenden, unter dem Schutz der Gottheit stehenden Gebote auslöst. Damit ist Webers Ansicht nach der Nährboden für die Herausbildung der Sündenvorstellung bereitet worden. Der „Verstoß gegen den Willen des Gottes wird jetzt eine

278 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext um den Theodizeegedanken erweitert und vertieft: „Je mehr sie [sc. die Erhabenheit der Gottesvorstellung] aber in der Richtung der Konzeption eines universellen überweltlichen Einheitsgottes verläuft, desto mehr entsteht das Problem: wie die ungeheure Machtsteigerung eines solchen Gottes mit der Tatsache der Unvollkommenheit der Welt vereinbart werden könne, die er geschaffen hat und regiert.“ (RG, 291) An der prophetisch vermittelten Rationalisierung der Gottesvorstellung und der religiösen Ethik entzündet sich die Schwierigkeit, die faktischen Verhältnisse der eigenen Lebensführung und der Umwelt mit den Vorstellungen der religiösen Metaphysik zu vereinbaren. Die Unvollkommenheit der Welt kollidiert mit der Gottesvorstellung. Damit tritt das Theodizeeproblem auf den Plan. Weber greift in diesem Zusammenhang Überlegungen auf, die er zuvor bereits im Abschnitt 4 – „Prophet“ (RG, 177) – angestellt hat. Zum Abschluss seiner Ausführungen zu den Sinnstiftungsleistungen der Propheten kommt er dort – ohne den Begriff der Theodizee zu verwenden – auf einen diesem analogen Sachverhalt zu sprechen. Zunächst stellt er fest: „Immer enthält er [sc. der Versuch der Systematisierung aller Lebensäußerungen] ferner die wichtige religiöse Konzeption der ‚Welt‘ als eines ‚Kosmos‘, an welchen nun die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie ‚sinnvoll‘ geordnetes Ganzes bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen an diesem Postulat gemessen und gewertet werden.“ (RG, 193f) Das Theodizeeproblem spricht er unmittelbar daran anschließend an, wenn es heißt: „Alle stärksten Spannungen der inneren Lebensführung sowohl wie der äußeren Beziehung zur Welt entstammen dann dem Zusammenstoß dieser Konzeption der Welt als eines, dem religiösen Postulat nach, sinnvollen Ganzen mit den empirischen Realitäten.“³⁷⁷ (RG, 194) Das Theodizeeproblem wurzelt für Weber in den religiös begründeten Sinngebungsakten der Prophetie. Die von letzterer ethische ‚Sünde‘, die das Gewissen belastet“ (RG, 175). Die mit diesem ethisch qualifizierten Sündengedanken korrespondierende Erlösungsvorstellung zeichnet sich nun ganz analog dadurch aus, nicht mehr im urwüchsig magischen Sinne „der Befreiung von ganz konkreten Uebeln“ (RG, 175) verstanden werden zu können, obgleich sie dort ihre Wurzeln habe. Der Herausbildung der Sündenvorstellung entspreche vielmehr eine ethisch sublimierte Erlösungsvorstellung, die sich von der Annahme, von äußerer Not und äußerem Leid befreit zu werden, grundlegend unterscheide. Positiv gewendet handelt es sich um eine „Erlösungshoffnung“, von der das Gewissen belastenden Sünde befreit zu werden. Das aber gelinge nur durch gottwohlgefälliges Handeln, was wiederum voraussetzt, die „Fähigkeit zur heiligen Gesinnung“ (RG, 175) zu besitzen und dieser Gesinnung entsprechend zu handeln. Verfüge man über diese – für die Erfüllung der göttlichen Gebote erforderliche – Fähigkeit, könne man der „Sünde als einer einheitlichen Macht des Widergöttlichen . . . , in deren Gewalt der Mensch fällt“ (RG, 175), entrinnen. 377 In ganz ähnlicher Weise wird auch von Troeltsch das Theodizeeproblem eingeführt: „Unter dem von Leibniz formulierten Ausdruck ‚Theodicee‘ versteht man eine Grundfrage aller Religion: wie der von der Religion in ihrem Gottesgedanken behauptete Sinn der Welt mit dem tatsächlichen Bestand der Dinge sich vereinigen lasse, in dem teils die gegen allen Sinn gleichgültige Materialität

3.6 Wege der Erlösung |

279

geforderte Einheit des Sinns gehört zu den gedanklichen Voraussetzungen für die Theodizeevorstellung, die in dem Augenblick thematisch wird, in dem sich die Lebensführung und das vom Gottesgedanken abgeleitete Sinnpostulat nicht mehr vereinbaren lassen und auseinanderfallen.³⁷⁸ Bemerkenswert ist nun, dass Weber am Orte seiner Prophetendeutung Überlegungen anstellt, die sich fast eins zu eins auf seine Erörterungen zum Intellektuellen bzw. zur Intellektuellenreligiosität abbilden lassen. Allerdings muss – wie schon angedeutet wurde – an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass sich die entsprechenden Passagen bereits in Kapitel sieben – „Stände, Klassen und Religion“ – finden. Dort entfaltet Weber das Wechselbedingungsverhältnis von sozialer Schichtung und religiöser Vorstellungswelt.³⁷⁹ Dazu gehört auch der Erlösungsgedanke, der diesem Abschnitt zufolge zwei Quellen hat: einerseits negativ privilegierte, andererseits positiv privilegierte Schichten, worin – wie Klaus Lichtblau bemerkt – Einflüsse von Karl Marx (1818–1983) und Friedrich Nietzsche zum Vorschein kommen.³⁸⁰ Während jene für das Bedürfnis nach „Erlösung von äuße-

herrscht, teils endloses Leiden und Uebel den Sinn der Welt auch da beeinträchtigt, wo von einem solchen die Rede sein kann, auf den Gebieten des persönlichen Lebens und der Werte.“ (Troeltsch 1913c, 1186). 378 Elemente dieses Modells hat Clifford Geertz aufgegriffen und für das eigene Religionsverständnis fruchtbar gemacht, vgl. Geertz 1983b, 58–73. Allerdings wirft er Weber einerseits eine intellektualistische Engführung des Sinnproblems vor. Andererseits bemängelt er an diesem, nicht streng genug zwischen dem Problem des Leidens und dem der Sünde unterschieden zu haben, was aber, wie schon zuvor deutlich wurde, zu pauschal geurteilt ist. Zu Webers Unterscheidung zwischen Leiden und Sünden vgl. RG, 175. 379 In der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen spricht Weber von der „Klassengebundenheit der religiösen Ethik“ (E, 88). Die Überlegungen Webers haben innerhalb der Soziologie beträchtliche Wirkungen erzielt. Das gilt zunächst für die Wissenssoziologie. So bemerkt Karl Mannheim bezogen auf den Abschnitt 7 der Religiösen Gemeinschaften: „Es ist das Verdienst von Max Weber, in seiner Religionssoziologie deutlich gezeigt zu haben, wie oft die gleiche Religion von Bauern, Handwerkern, Händlern, Adligen und Intellektuellen verschieden erlebt wurde.“ (Mannheim 2015, 8) Zudem sind sie in Pierre Bourdieus Theorie des religiösen Feldes eingeflossen, vgl. Bourdieu 2011a, 11-29; Bourdieu 2011b, 30–90. Eine besondere Pointe erblickt Bourdieu in dem von Weber – und zuvor schon von Karl Marx – herausgestellten Effekt, den die Urbanisierung auf die Arbeitswelt hatte: „Das größte Verdienst Max Webers liegt aber darin, gezeigt zu haben, dass die Urbanisierung ... einzig in dem Maße, als sie die Entwicklung eine Korps von Spezialisten der Verwaltung von Heilsgütern begünstigt, auch zur ‚Rationalisierung‘ und ‚Ethisierung‘ der Religion beiträgt.“ (Bourdieu 2011b, 41). 380 Vgl. Lichtblau 2001, 281. Auf die beiden Quellen hat Weber auch schon einige Seiten zuvor hingewiesen: „Soweit der Charakter der Religiosität als solcher in Betracht kommt, ist zunächst ohne weiteres verständlich, daß das ‚Erlösungs‘-Bedürfnis, im weitesten Sinn des Worts, in den negativ privilegierten Klassen einen – wie wir später sehen werden –, freilich keineswegs den einzigen oder auch nur den hauptsächlichsten, Standort hat, während es innerhalb der ‚satten‘ und

280 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext rer Not“ stehen, sind diese von dem Bedürfnis nach Erlösung von „‚innerer Not‘“ (RG, 273) geleitet.³⁸¹ Als Paradebeispiel für die zweite Erlösungsvorstellung ist der Intellektuelle, der in der Regel ein Angehöriger positiv privilegierter Schichten ist. Weber führt aus: „Der Intellektuelle sucht . . . seiner Lebensführung einen durchgehenden ‚Sinn‘ zu verleihen, also ‚Einheit‘ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos.“³⁸² (RG, 273) Diese Formulierung erinnert stark an die Sinngebungsleistungen prophetischer Verkündigung, weicht jedoch nicht unerheblich von religiös motivierten Formen der Sinngebung ab, von denen Weber die Intellektuellen zunächst ausdrücklich abgrenzt. Der Versuch einer universalen Sinnstiftung bildet hier vielmehr eine rein gedankliche Aufgabe, es handelt sich um ein Postulat, das der Intellektuelle an sich selbst stellt. Dieser Forderungscharakter weist bereits auf ein kontrafaktisches Element hin, das Weber dahingehend spezifiziert, dass dieses Postulat mit den „Realitäten der Welt“ (RG, 273) konfligiert. Aus diesem Grund sei es der Intellektuelle, der „die Konzeption der ‚Welt‘ als eines ‚Sinn‘-Problems vollzieht“ (RG, 273), wobei in dieser Formulierung der Problematizitätsaspekt betont werden muss. Zudem zeichne sich dieser Angehörige sozial privilegierter Schichten durch die Einsicht in die Unlösbarkeit dieses Problems aus, wodurch er in einen Zustand „‚innerer Not‘“ gelangt, dem zu entkommen er sich nach Kräften bemüht. Das Bedürfnis, von dieser Not erlöst zu werden, bricht sich dann in Gestalt der „Intellektuellenweltflucht“ (RG, 273) Bahn.³⁸³

positiv privilegierten Schichten wenigstens den Kriegern, Bürokraten und der Plutokratie fern liegt. Ihren ersten Ursprung kann eine Erlösungsreligiosität sehr wohl innerhalb sozial privilegierter Schichten nehmen.“ (RG, 247; vgl. auch RG, 253). 381 Mit der inneren Not kommt ein Ausdruck zur Sprache, der im Zentrum der Ethik Wilhelm Herrmanns steht (vgl. Herrmann 1913, 91). Der Theologe sieht darin aber keine intellektuelle, sondern eine sittliche Not. 382 In der Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen heißt es ganz parallel: „Stets steckte dahinter eine Stellungnahme zu etwas, was an der realen Welt als spezifisch ‚sinnlos‘ empfunden wurde und also die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ‚Kosmos‘ sei oder: werden könne oder solle. Dies Verlangen aber, das Kernprodukt des eigentlich religiösen Rationalismus, wurde durchaus von Intellektuellenschichten getragen.“ (E, 102). 383 Auch wenn Weber keine harsche Intellektuellenschelte betreibt, bewegen sich seine Ausführungen zu diesem Thema durchaus in der Nähe zu den gerade für die deutschen Verhältnisse typischen Vorbehalten gegenüber Intellektuellen, wie sie noch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Denken des späten Schelsky anzutreffen sind, vgl. Schelsky 1977. Zur ‚deutschen‘ Intellektuellendebatte insgesamt vgl. Thoma 2010, 387ff. Diese kritische Einstellung gegenüber Intellektuellen wird bei Weber in besonderer Weise in seiner Einschätzung ihres gegenwärtigen Auftretens deutlich: „Das Bedürfnis des literarischen, akademisch-vornehmen oder auch Kaffeehausintellektualismus aber, in dem Inventar seiner Sensationsquellen und Diskussionsobjekte

3.6 Wege der Erlösung |

281

Doch tritt diese Konstellation Weber zufolge keineswegs ausschließlich in nicht-religiösen Kontexten auf. Vielmehr weist er ausdrücklich darauf hin: „Alle diese dem apolitischen Intellektualismus gleich zugänglichen Tendenzen können nun auch als religiöse Erlösungslehren auftreten und haben dies auch getan.“³⁸⁴ (RG, 273) Weber spricht an dieser Stelle von „Intellektuellenreligiosität“, die vor allem im vorderasiatischen (vgl. RG, 271) und asiatischen Bereich (RG, 251. 361; HB, 301f. 524; KT, 522) Verbreitung gefunden hat. Und wie schon im Falle der Prophetie stellt Weber auch gegenüber der intellektualistisch geprägten indischen Religion eine Verbindungslinie zum Theodizeegedanken heraus:³⁸⁵ „Die ganze indische Religiosität ist von ihm [sc. dem Theodizeeproblem] in der durch die dort gegebenen Voraussetzungen bestimmten Art beeinflußt: auch eine sinnvoll unpersönliche und übergöttliche Ordnung der Welt stieß ja auf das Problem ihrer Unvollkommenheit.“ (RG, 292)

die ‚religiösen‘ Gefühle nicht zu vermissen, das Bedürfnis von Schriftstellern, Bücher über diese interessanten Problematiken zu schreiben, und das noch weit wirksamere von findigen Verlegern, solche Bücher zu verkaufen, vermögen zwar den Schein eines weit verbreiteten ‚religiösen Interesses‘ vorzutäuschen, ändern aber nichts daran, daß aus derartigen Bedürfnissen von Intellektuellen und ihrem Geplauder noch niemals eine neue Religion entstanden ist und daß die Mode diesen Gegenstand der Konversation und Publizistik, den sie aufgebracht hat, auch wieder beseitigen wird.“ (RG, 289f) Ganz parallel formuliert Weber in Wissenschaft als Beruf : „Noch nie ist aber eine neue Prophetie dadurch entstanden (ich wiederhole dieses Bild, das manchen anstößig gewesen ist, hier absichtlich), daß manche moderne Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren, und sich dabei dann noch daran erinnern, daß dazu auch die Religion gehört hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie – auf dem Büchermarkt hausieren gehen.“ (WB, 108f) Kippenberg hingegen ist der Auffassung, dass sich Weber der „negativen Bewertung des ‚Intellektuellen‘“ nicht angeschlossen habe, denn er wäre, wie er im Anschluss an Wolfgang J. Mommsen notiert, „‚ein politischer Intellektueller im Deutschen Kaiserreich‘“ gewesen (Kippenberg 2001b, 63). Weber als politischen Intellektuellen zu bezeichnen, ist vor dem Hintergrund eines Habermasschen Verständnisses des Intellektuellen durchaus möglich. Eine andere Frage ist jedoch, ob Weber sich selber als einen solchen angesehen hätte. Zu Webers Begriff des Intellektuellen vgl. auch Hübinger 2001; Kippenberg 1989. 384 Der Aspekt des Apolitischen spielt auf eine von Weber zuvor gemachte Angabe an, wonach eine Erlösungsreligiosität von sozial privilegierten Schichten dann entwickelt wird, wenn deren Vertreter „entmilitarisiert und von der Möglichkeit oder vom Interesse an politischer Betätigung ausgeschlossen sind.“ (RG, 269) Weber zieht in diesem Zusammenhang eine für sein Verständnis der Intellektuellen aufschlussreiche Parallele: „Und das etwas geschwätzige sog. ‚religiöse‘ Interesse unserer deutschen Intellektuellenschichten in der Gegenwart hängt intim mit politischen Enttäuschungen und dadurch bedingter politischer Desinteressiertheit zusammen.“ (RG, 271). 385 Zur Prägung der indischen Religion durch Intellektuellenschichten vgl. KT, 221ff.

282 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Propheten und Intellektuelle sind Webers Auffassung nach diejenigen, die der Entstehung der Theodizeevorstellung Vorschub leisten.³⁸⁶ Sie sind in der Lage, geschlossene Sinnsysteme zu entwerfen, was eben auch voraussetzt, dass das prophetische Charisma „an ein gewisses Minimum auch intellektueller Kultur gebunden“ ist – Weber verwendet an dieser Stelle auch den Ausdruck „Intellektuellenprophetien“ (RG, 247). Die faktischen Verhältnisse der Lebenswelt wecken jedoch Zweifel an der Sinneinheit der Welt und der daraus resultierende Konflikt zwischen dem Sinn und dem Unsinn der Welt bildet den Nährboden der Theodizeevorstellung. Die weitere Entfaltung der von Weber erörterten Lösungsversuche des Theodizeeproblems muss uns hier nicht interessieren.³⁸⁷ Entscheidend ist an dieser Stelle vielmehr der Fluchtpunkt der Weberschen Gedankenführung: das Theodizeeproblem gehört „überall mit zu den Bestimmungsgründen der religiösen Entwicklung und des Erlösungsbedürfnisses“ (RG, 292).³⁸⁸ Für das Verständnis der weiteren Überlegungen Webers ist es nun von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass er den Erlösungsbegriff mit dem des Bedürf-

386 Dieser Befund ist werkgeschichtlich betrachtet insofern interessant, als Weber in seinen später entstandenen Studien zum antiken Judentum die Differenz zwischen Prophetie und asiatischer Intellektuellenreligiosität betont und nachgerade die Theodizeeproblematik dafür in Anspruch nimmt: „Nirgends und niemals wird von den Propheten oder (soviel wir wissen) ihrem Publikum die Frage nach einem ‚Sinn‘ der Welt und insbesondere des Lebens, nach einem rechtfertigenden Grunde seiner brüchigen, leid- und schuldbehafteten Vergänglichkeit und seiner Widersprüche auch nur aufgeworfen, wie sie in Indien aller heiligen Erkenntnis den entscheidenden Antrieb gab.“ (J II, 666; vgl. auch J I, 554; J II, 667. 671) Dieser, wie Otto anmerkt, „‚puritanische‘ Zug der hebräischen Prophetie“ (J II, 66886) lässt sich in den Religiösen Gemeinschaften noch nicht identifizieren. 387 Vgl. RG, 292ff. Webers Ausführungen zu besagten Lösungsversuchen weisen Übereinstimmungen zu Otto Lempps Artikel Theodizee auf, vgl. Lempp 1913, 1177–1186. So überschneiden sich die Ausführungen Lempps und Webers zur Theodizee in ihrer Beispielwahl. Zur Illustration sei auf eine konkrete Parallele hingewiesen. So heißt es bei Lempp: „Zum erstenmal ist die T. zum Mittelpunkt der Religion geworden in den indischen Religionen . . . . Hier hat die Lösung des Problems, die alles Uebel als Sündenstrafe verstehen will, ihren tiefsinnigsten Ausdruck gefunden in der Lehre von der Seelenwanderung.“ (Lempp 1913, 1177). Bei Weber heißt es ganz analog: „Die formal vollkommenste Lösung des Problems der Theodizee ist die spezifische Leistung der indischen ‚Karman‘-Lehre, des sog. Seelenwanderungsglaubens.“ (RG, 299). 388 In seiner Rede Politik als Beruf formuliert Weber diesen Zusammenhang von Theodizee und religiöser Entwicklung wie folgt: „Dies Problem: die Erfahrung von der Irrationalität der Welt war ja die treibende Kraft aller Religionsentwicklung.“ (PB, 241) Vgl. dazu auch Tyrell 1992, 202. Die Annahme, dass die Religion in der Unberechenbarkeit des Lebens wurzelt und von dieser angetrieben wird, ist bereits von David Hume formuliert worden, vgl. Hume 2000, 9f. Allerdings ist im Falle Webers zu berücksichtigen, dass diesem zufolge die Religion darauf zielt, die Irrationalität der Lebensführung rational bzw. sinnhaft zu bewältigen.

3.6 Wege der Erlösung |

283

nisses koordiniert. Diese Verbindung konvergiert mit den handlungstheoretischen Grundlagen seiner Religionssoziologie. Denn der Erlösungsgedanke tritt damit als ein Aufbaumoment religiösen Handelns in Erscheinung: „Für uns kommt die Erlösungssehnsucht, wie immer sie geartet sei, wesentlich in Betracht, sofern sie für das praktische Verhalten im Leben Konsequenzen hat.“³⁸⁹ (RG, 304) Nachdem Weber also – grosso modo betrachtet – in den Abschnitten 3 und 7–9 der Religiösen Gemeinschaften den Erlösungsgedanken aus den zuvor skizzierten Begründungszusammenhängen abgeleitet hat, finden diese Überlegungen ihren Zielpunkt in der Frage, auf welchen Wegen sich das Erlösungsstreben bzw. -bedürfnis innerhalb der Lebensführung niederschlägt. Die Antwort auf diese Frage gibt Weber – wie bereits erwähnt wurde – mit dem Abschnitt 10. Weber unterscheidet dort zwischen zwei Grundtypen von Erlösungswegen. Einerseits werde die Erlösung so vorgestellt, dass sie das „Werk des Erlösten“ sei,³⁹⁰ andererseits als durch einen Heilsmittler bewirkt. Der erste Typus tritt in dreierlei Gestalt auf: „1. rein rituelle Kulthandlungen und Zeremonien“ (RG, 305– 308), „2. soziale Leistungen“ (RG, 309–311), 3. „Selbstvervollkommnung“ (RG, 311– 334). Um die Begriffe Mystik und Askese, die in den beiden folgenden Kapiteln (3. 6. 2/3. 6. 3) zu analysieren sind, gedanklich anzubahnen, bietet es sich an, auf diesen dritten Unterfall kurz einzugehen. Beide Begriffe werden von Weber als Heilswege ausgewiesen, die auf Selbstvervollkommnung zielen. Im Mittelpunkt des als Selbstvervollkommnung bzw. als Selbsterlösung spezifizierten Heilsweges steht der Gedanke der „Heilsmethodik“.³⁹¹ Wenn Weber auf das Element des Methodischen abhebt, so impliziert dieser Gesichtspunkt die logische, 389 Auf diesen für Weber zentralen Gesichtspunkt geht in dem von Kippenberg und Riesebrodt herausgegebenen Sammelband Max Webers ‚Religionssystematik‘ nur Krech ein (vgl. Krech 2001a, 72). Riesebrodt und Hanke hingegen, die sich beide ausdrücklich mit Webers Erlösungsvorstellung befassen, blenden diesen Sachverhalt fast vollständig aus, vgl. Riesebrodt 2001c; Hanke 2001. Stephan Kalberg hingegen stellt die Handlungswelt in den Fokus seines Interesses an Webers Religionssoziologie und bescheinigt der Erlösungsvorstellung in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle (vgl. Kalberg 1990, 58–84). 390 Verschiedentlich spricht Weber – vor allem mit Bezug auf die asiatischen Religionen – auch von „Selbsterlösung“ (ZB, 522). Zu der Verwendung dieses Begriffs im 19. Jahrhundert, vgl. Osthövener 2004, 285. 391 Die Vorstellung der Selbsterlösung ist bereits in der Protestantischen Ethik angelegt, vgl. PE, 284. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Übereinstimmung zwischen der Protestantismusstudie und Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf. Schon in der Erstauflage jener Studie untermauert Weber den calvinistischen Gedanken der Selbsterlösung mit einem Zitat aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre: „‚Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Plicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. – Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.‘“ (PE, 28446) In der berühmten Schlussformulierung greift nun der besagte Vortrag jenes Diktum auf, womit Webers Überzeugung

284 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext planmäßige und systematische Rationalisierung der Lebensführung. Zwar führt er unter Verweis auf Ekstase und Orgie aus, dass die Heilsmethodik nicht erst in den Hochreligionen anzutreffen sei, gleichwohl komme sie in jenen Praktiken nicht zur Vollendung, weil sie auf den „Alltagshabitus wenig positive Spuren“ hinterließen und des „‚sinnhaften‘ Gehalts, den die prophetische Religiosität entfaltet“ (RG, 312), entbehrten. Gegenüber diesem transitorischen Charakter des magischen Heilsbesitzes stelle die für Mystik und Askese signifikante „Selbstvergottung“ einen „bewußt besessenen Habitus‘“ bzw. einen „Dauerhabitus“ (RG, 313) dar. Um über das religiöse Heil, das im Falle von Mystik und Askese mit dem Gedanken der Gnadengewissheit zusammenfällt, dauerhaft und gleichmäßig verfügen zu können, bedarf es jedoch spezifischer Heilsmethodiken. Einen perennierenden Heilsbesitz zu erlangen, sei aber nicht jedermann vergönnt, sondern von der „religiösen Qualifikation“ (RG, 317) abhängig. Weber verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der religiösen „Virtuosen“ (RG, 317), womit er sich eines Ausdrucks bedient, den er von Friedrich Schleiermacher oder Albrecht Ritschl übernommen haben könnte.³⁹² „Wie nicht jeder das Charisma besaß, die Zustände, welche die Wiedergeburt zum magischen Zauberer herbeiführten, in sich hervorzurufen, so auch nicht jeder das Charisma, jenen spezifisch religiösen Habitus im Alltag kontinuierlich festzuhalten, welcher die dauernde Gnadengewißheit verbürgte.“ (RG, 317) Die „Aristokratie der religiös Qualifizierten“ (RG, 316) wird von ihm sodann den Heilswegen der Mystik und der Askese entsprechend ausdifferenziert, die es im Folgenden genauer in den Blick zu nehmen gilt. Zuvor sollen jedoch noch einmal die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels zusammengefasst werden. Dass Weber der Erlösungsvorstellung eine besondere Bedeutung innerhalb der Religionssoziologie beimisst, könnte – in handlungstheoretischer Perspektive betrachtet – durch Schneckenburgers Vergleichende Darstellung angeregt worden sein, hatte dieser doch die Seligkeit ausdrücklich als Motiv des Handelns ausgewiesen. Weber stellt die „Idee der Erlösung“ (ZB, 487) gleichermaßen in den Mittelzum Vorschein kommt, dass zwischen protestantischer Ethik und wissenschaftlicher Praxis Mentalitätskonvergenzen bestehen: „Daraus wollen wir die Lehre ziehen: daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der ‚Forderung des Tages‘ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“ (WB, 111). 392 Vgl. Schleiermacher 2012a, 97–99. 171ff. Ritschl bescheinigt etwa Zinzendorf eine „virtuose Frömmigkeit“ (GP II, 195), verwendet in seiner Pietismusstudie jedoch mehrfach den Ausdruck Virtuosität, vgl. etwa GP II, 100f. Als Interpret von Schleiermachers Reden über die Religion könnte er diesen Ausdruck von jenem übernommen haben. Holl weist darauf hin, dass sich dieser Ausdruck schon bei Luther findet, vgl. Holl 1923f, 9. Zur Rolle und Bedeutung des Virtuosen in der Religionsforschung um 1900 vgl. auch Lang 2001, 178ff.

3.6 Wege der Erlösung |

285

punkt seiner Überlegungen zum religiös motivierten Handeln. Doch interessiert er sich nicht primär für die gedankliche Durchdringung bzw. den lehrtechnischdogmatischen Ort derselben, sondern vielmehr für die Frage, wie sich diese Idee in der Bedürfnisstruktur menschlichen Sichverhaltens niederschlägt. Die Antwort auf diese Frage stellen die unterschiedlichen Erlösungswege dar, die Weber in der Protestantischen Ethik auf den Bereich der christlichen Religion beschränkt entfaltet. In den Religiösen Gemeinschaften werden die Heilswege unter Bezugnahme auf die gesamte Religionsgeschichte umfassend typologisiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die spezifische Ableitung des Erlösungsbedürfnisses. Letzteres setzt diesem Werk zufolge die Entstehung der Theodizeevorstellung voraus und diese wiederum die Sinngebungsleistungen von Propheten und Intellektuellen. In dem Augenblick, in dem deren – freilich unterschiedlich begründetes – Sinnangebot mit den tatsächlichen Gegebenheiten der Lebensführung in Konflikt gerät, tritt die Frage nach der metaphysischen Rechtfertigung des Leidens auf den Plan. Auf diesem Wege bricht sich sodann die Erlösungsvorstellung und damit einhergehend das Erlösungsbedürfnis Bahn. Erst in Anbetracht der herausragenden Stellung, die die Erlösungsvorstellung für die Gesamtanlage von Webers Religionssoziologie besitzt, wird verständlich, warum er in dem eingangs zitierten Brief an Paul Siebeck seine Religionssystematik eine „Soziologie der Erlösungslehren“ nannte.

3.6.2 Der Begriff der Mystik Mit dem Begriff der Mystik gerät ein Frömmigkeitsgebiet in den Blick, das innerhalb der protestantischen Theologie seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kontrovers diskutiert wurde. Dazu gab in erster Linie Albrecht Ritschl Anlass, der eine „neue Phase der protestantischen Mystikdebatte“³⁹³ einläutete. Hierbei ist zuerst an dessen dreibändige Geschichte des Pietismus (1880/1884) zu denken, in der er sich so ausführlich wie nirgendwo sonst mit diesem Thema befasst hat. Die darin entfaltete Bestimmung der Mystik war überaus einflussreich und gehörte zu den Faktoren, die für die Entstehung einer ausgesprochen mystikfeindlichen Stimmung innerhalb der protestantischen Theologie, insbesondere in der sogenannten Ritschl-Schule, namhaft zu machen sind. Doch nicht allein die Theologie der damaligen Zeit war von einem überwiegend pejorativen Mystikverständnis bestimmt. 393 Krüger 1938, 12. Die insgesamt unübersichtliche Lage der Mystikdebatte bis zu Ritschl wird von Krüger 1938, 29ff sondiert. Zu Ritschls Mystikdeutung vgl. auch Heussi 1917. Auch wenn Ritschls Position sehr wirkmächtig war, regte sich ihr gegenüber von Seiten der evangelischen Theologie immer wieder auch Widerstand, vgl. etwa Müller 1888, 52ff.

286 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Ein ganz ähnlicher Befund lässt sich auch innerhalb der Philosophie identifizieren, wovon Arthur Schopenhauers, Karl Marx’, Ludwig Feuerbachs (1804–1872), Eugen Dürings (1833–1921) und Friedrich Nietzsches Schriften beredtes Zeugnis geben.³⁹⁴ Ein differenzierterer Zugang zu diesem Phänomen setzte sich erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch. Die pauschale Disqualifizierung wurde – wie Hans-Ulrich Lessing bemerkt – durch eine „große Variationsbreite in der Beurteilung und Bestimmung der M.[ystik] ersetzt“.³⁹⁵ Dafür stehen auf Seiten der Philosophie die Namen Eduard von Hartmann, Hermann Cohen (1842–1918), Rudolf Eucken (1846–1926) und Wilhelm Windelband.³⁹⁶ Von theologischer Seite ist in diesem Zusammenhang an Troeltsch und Tillich zu erinnern, die an dem Prozess einer Neubewertung der Mystik beteiligt waren. Weber ist dieser Umorientierung im Verständnis der Mystik nicht gefolgt. Vielmehr verarbeitet er in dem Bild, das er von der Mystik zeichnet, verschiedene Motive, die für die Mystikkritik des 19. Jahrhunderts typisch sind. Insofern es sich mit der Arbeit an der Protestantischen Ethik herausbildet, steht es zu vermuten, dass es in seinen wesentlichen Zügen von der protestantischen Debatte bestimmt ist, allen voran von Albrecht Ritschl. Auf diese Verbindung haben bereits Hubert Treiber und Friedrich Wilhelm Graf hingewiesen, ohne sie jedoch genauer entfaltet zu haben.³⁹⁷ Um diesen Zusammenhang noch stärker untermauern zu können, ist es in einem ersten Schritt erforderlich, Ritschls Mystikdeutung zu skizzieren (a). Im Anschluss daran wird Webers Beitrag zu diesem Thema in den Blick zu nehmen sein (b). a) Schon während seiner Bonner Professur für Neues Testament (1852–1864) hatte sich Ritschl mit der Mystik auseinandergesetzt. Diese Beschäftigung bündelte sich in einem Vortrag, den er im Jahre 1853 gehalten hatte und der im selben Jahr unter dem Titel Ueber die Mystik, besonders die deutsche, im 14. Jahrhundert veröffentlicht wurde. Die Überlegungen, die er in diesem Aufsatz anstellt, sind insofern bemerkenswert, als sich an ihnen aufzeigen lässt, dass sein Denken nicht von Anfang an von der negativen Bewertung dieser Frömmigkeitsrichtung

394 Vgl. Lessing 1984, 274f. 395 Lessing 1984, 275. 396 Lessing 1984, 275. 397 Vgl. Treiber 1991, 295; Graf 1993, 42; Graf 1995, 237. Einige Hinweise darauf finden sich auch bei Treiber 2001, 270; Wallmann 2010, 8. Volker Krechs Aufsatz zur Mystik der Religionssystematik geht gar nicht auf Ritschl ein (vgl. Krech 2001a, 241ff), ebenso wenig Wolfgang Schluchters Beschäftigung mit Webers Mystikverständnis (vgl. Schluchter 1991b, 80ff). Hartmut Lehmann erwähnt zwar Webers Rezeption der Pietismusgeschichte Ritschls, die Dimension der Mystik wird dabei jedoch nicht thematisiert (vgl. Lehmann 1996b, 57).

3.6 Wege der Erlösung |

287

bestimmt war, für die seine Theologie bekannt ist.³⁹⁸ Dass Ritschl mit seinem Beitrag auf eine positive Würdigung der Mystik zielt, stellt er gleich zu Beginn seiner Ausführungen ausdrücklich heraus: „Indem ich es nun unternehme, Ihnen den Begriff und die Herkunft der Mystik kurz zu erklären, will ich damit eine Schilderung der deutschen Mystik im 14. Jahrhundert einleiten, in welcher wir die schönste und reifste Frucht der Richtung und eine Zierde der mittelalterlichen Kirche wie der deutschen Nation anzuerkennen verpflichtet sind.“³⁹⁹ Auch in der ersten Auflage seines dreibändigen Hauptwerks – Rechtfertigung und Versöhnung (1870/1874) – ist noch keine veränderte Sichtweise auf die Mystik erkennbar. Erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, in der Ritschl an der Geschichte des Pietismus zu arbeiten begann, setzte sich eine zunehmend reservierte und kritische Einstellung gegenüber diesem Frömmigkeitstyp in seinem Denken durch.⁴⁰⁰ Das auf drei Bände hin angelegte Werk, dessen Prolegomena Ritschl bereits im Januar 1877 in einem ersten Entwurf angefertigt und in der Zeitschrift für Kirchengeschichte (1878) publiziert hatte, nimmt seinen Ausgangspunkt in der Bestimmung der Frage, worin das Wesen der Reformation läge. Zu dieser Frage sieht er sich durch die unübersichtliche Lage in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung veranlasst, in der der Pietismus, aber auch die Wiedertäufer und schließlich auch bestimmte Erscheinungen der mittelalterlichen Frömmigkeit als reformatorische Bewegungen im strengen Sinne des Worts angesehen wurden.⁴⁰¹ Um diese Positionen auf den Prüfstand stellen zu können, formuliert Ritschl eine Definition des Begriffs Reformation, die ihm als Beurteilungsmaßstab dient: „Reformation ist die Herstellung des richtigen Verhältnisses zwischen Christenthum und Welt, unter der Voraussetzung, daß dasselbe in eine Vermischung des 398 So grenzt Ritschl etwa die vita activa keineswegs strikt von der vita contemplativa ab. Die „werkthätige praktische Frömmigkeit, und die beschauliche mystische Frömmigkeit“ (Ritschl 1853, 115) schließen sich nicht aus. Vielmehr sei von fließenden Übergängen zwischen beiden Wegen auszugehen. Ihre bloße Entgegensetzung bezeichnet Ritschl als kümmerlich. Vgl. dazu Ritschl 1892, 216ff. Otto Ritschl stellt zwar explizit heraus, dass sein Vater die „Verdienste jener Männer [sc. Eckart, Tauler, Suso] um das sittliche Leben hervorhob und würdigte“ (Ritschl 1892, 218). Der Kontrast zu den späteren Aussagen Albrecht Ritschls gegenüber der Mystik bleibt an dieser Stelle jedoch unkommentiert. 399 Ritschl 1853, 114f. 400 Otto Ritschl notiert, dass das Interesse seines Vaters an der Geschichte des Pietismus durch eine Schrift des Kirchenhistorikers Paul Tschackert (1848–1911) über Anna Maria von Schürmann (1607–1678) angeregt wurde (vgl. Ritschl 1896b, 290). Der genaue Titel dieser kurzen Abhandlung lautet Anna Maria von Schürmann, der Stern von Utrecht, die Jüngerin Labadie’s. Ein Bild aus der Culturgeschichte des 17. Jahrhunderts (1876). 401 Besondere Bedeutung hatte Max Goebels dreibändige Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen Kirche (1849–1860), der im Pietismus die Vollendung der Reformation sah (vgl. Treiber 2001, 269).

288 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Christenthums mit der Welt übergangen ist.“ (GP I, 18) Insofern sich seiner Auffassung nach sowohl die Wiedertäufer als auch der Pietismus dadurch auszeichnen, „von der katholischen Schätzung des christlichen Lebens als des Mönchthums“ beherrscht zu sein, lässt sich in ihnen „theils die immer wiederkehrende und immer gesteigerte Ablösung der mönchischen Vollkommenheit von dem Leben in der Welt, theils die möglichste Ausbreitung der mönchischen Vollkommenheit auf die Laien“ (GP I, 18) feststellen. Ähnliche Tendenzen macht Ritschl im Hinblick auf die Reformatoren vor der Reformation in der mittelalterlichen Kirche aus.⁴⁰² Das an einem weltflüchtigen Frömmigkeitsideal orientierte mönchische Leben steht jedoch im Widerspruch zu Ritschl Reformationsbegriff, der in der Verschränkung von Christentum und Welt sein Zentrum hat.⁴⁰³ Wenn Ritschl diesen Maßstab anlegt, gibt er einen deutlichen Hinweis darauf, dass seine Zugangsvoraussetzungen zur Pietismusgeschichte auf seiner historischen, biblischen und systematischen Durchdringung des Wesen protestantischer Frömmigkeit aufbaut, die er in Rechtfertigung und Versöhnung ausführlich dargelegt hatte und in deren Zentrum sein am Reich-Gottes-Gedanken orientiertes praktisches Christentumsverständnis steht.⁴⁰⁴ Letzteres bildet den Maßstab für die Bestimmung dessen, was als Reformation anerkannt werden kann und was nicht. Vor diesem Hintergrund kann die Geschichte des Pietismus als eine kirchenhistorische Ergänzung und Exemplifizierung seines Christentumsverständnisses begriffen werden, die auf die Widerlegung der These zielt, dass es sich beim Pietismus um eine reformatorische Bewegung handele.⁴⁰⁵ In einem von seinem Sohn Otto Ritschl abgedruckten Brief heißt es pointiert: „Also diese Erscheinungen, welche uns als Reformation des Lutherthums aufgeredet werden, sind zunächst calvinistisch, in letzter Instanz mittelaltrig-katholisch“.⁴⁰⁶ Insofern Ritschl zufolge die mittelalterliche Mystik für das Verständnis des Pietismus von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, setzt er sich mit ihr ausführlich auseinander. Die Merkmale, die er ihr beimisst, gilt es im Folgenden zu skizzieren. 402 Damit greift Ritschl den Titel eines von Carl Ullmann (1796–1865) verfertigten zweibändigen Werks auf, das in den Jahren 1841/1842 publiziert wurde. Vgl dazu auch Ritschl 1889, 129. Dieser Abschnitt zu den „Reformatoren vor der Reformation“ findet sich in der Erstauflage von Rechtfertigung und Versöhnung noch nicht, sondern erst ab der Zweitauflage (1882). 403 Otto Ritschl weist darauf hin, dass es vor allem die Beschäftigung mit dem holländischen Pietismus war, durch die sein Vater darauf aufmerksam wurde, dass sich Elemente des „höchst praktischen Calvinismus“ mit denen der mittelalterlich katholischen „Contemplation“ (Ritschl 1896b, 319) verbunden haben. 404 Vgl. dazu Neugebauer 2002. 405 Zur konzeptionellen Verbindung zwischen den systematischen und den historischen Arbeiten Ritschls vgl. auch Graf 1995, 234. 406 Ritschl 1896b, 320.

3.6 Wege der Erlösung |

289

Ritschls Theologie ist dafür bekannt, mystische Frömmigkeit und Protestantismus einander diametral gegenüberzustellen.⁴⁰⁷ Diese Position hat nicht zuletzt darin ihren Grund, dass er die Mystik als „die prononcirte Stufe der katholischen Frömmigkeit“ (GP I, 28) begreift. Sie hat in erster Linie über das Mönchtum im Katholizismus Einzug gehalten, das sie seinerseits aus der neuplatonischen Philosophie übernommen habe. Die katholische Mystik wird von Ritschl als ein „Absenker des Neuplatonismus“⁴⁰⁸ (GP I, 28) bezeichnet. Diese pagane Herkunft veranlasst ihn zu dem Urteil, dass der Standpunkt der Mystik „unterchristlich“ (GP I, 28) sei. Im Zentrum seiner Spezifikation der mystischen Frömmigkeit stehen die Begriffe der Ekstase und der unio mystica.⁴⁰⁹ Mit ihrer Einübung, die Ritschl unter dem Begriff der Askese verhandelt, werde der Versuch unternommen, „die Welt überhaupt und die Creatürlichkeit in der eigenen Person zu verneinen“ (GP I, 28). „Weltflucht und Weltverneinung“⁴¹⁰ (GP I, 28) gehören zur Grundsignatur der Mystik und bilden Methoden (vgl. GP II, 24) des Heilserwerbs. Durch diese Aspekte zeichnet sich auch das mittelalterliche Mönchtum aus, das für Ritschl der bedeutendste Träger mystischer Frömmigkeit war (vgl. GP I, 29). Die monastischen Regeln des Christentums, die Einsiedelei und inneres „Grübeln“ (GP II, 11f) mit umfassen, schließen „die sittlichen Ordnungen des Lebens in der Welt“ (GP I, 33) aus. Diese Abkehr von der „Arbeitsgesellschaft der Menschen“ (GP I, 59) wird von Ritschl sodann als egoistisch diffamiert.⁴¹¹ Darüber hinaus bescheinigt er der Mystik „einen aristokratischen Zug“ (GP II, 56), was den elitären Status eines solchen Lebensideals unterstreichen soll. Ritschls negative Sicht auf die Mystik ist – wie bereits angedeutet wurde – nicht zuletzt ein Reflex seines eigenen Christentumsverständnisses, das am Leitfaden einer „sittliche[n] Deutung des Reiches Gottes“ (GP II, 17) orientiert ist.⁴¹² Ihm gegenüber könne die Mystik nur als eine „Störung des gemeinschaftlichen Christenthums“ (GP II, 8) begriffen werden, die sich im Pietismus in Gestalt des

407 Damit grenzt er sich von der These ab, dass die Mystik in „einer besonders nahen Verwandtschaft mit der lutherischen Reformation“ (GP I, 28) stehe. 408 „Es ist das religiös-philosophische System der sogenannten Neuplatoniker im 3–6. Jahrh. christl. Zeitrechnung, in welchem die bekannten Merkmale der Mystik Grund und Ziel bilden.“ (Ritschl 1853, 118f). 409 Eine sehr prägnante Bestimmung der Ekstase findet sich in Ritschls Bernharddeutung, worin es heißt, dass sie „die bildlose geistige Versenkung in Gott“ sei (GP I, 51). 410 An anderer Stelle ist von der „Abgezogenheit von der Welt“ (GP II, 11) die Rede. 411 Auch hier baut Ritschl einen Gegensatz zum Protestantismus auf, für den es zu „einem solchen Egoismus . . . keine Anleitung“ gebe (GP I, 59). 412 Ähnliche Überlegungen stellt Ritschl in seiner Schrift Theologie und Metaphysik (1881) an. Darin betont er gegenüber der Mystik die „sittliche Bestimmung des Menschen im Christenthum, gemäß dem gegebenen Begriff des Reiches Gottes“ (Ritschl 1881, 27).

290 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Konventikelwesens niedergeschlagen habe. Der vita contemplativa stellt Ritschl die – wie er meint – dem Wesen des Protestantismus entsprechende vita activa gegenüber, in deren Zentrum die Berufsethik stehe.⁴¹³ „Die Deutung der weltlichen Berufe ist nun ebenfalls ein spezifischer Grundsatz des Protestantismus; sie ist der praktische Ausdruck dafür, daß das Christentum nicht als weltflüchtig, sondern als welterfüllend und weltdurchdringend aufgefaßt wird.“ (GP I, 41) Gegenüber der praktischen Ausrichtung der Frömmigkeit konstatiert Ritschl auf Seiten der Mystik und des monastischen Lebens „Trockenheit und Schlaffheit, in welche die Seele um so tiefer und dauernder zurückfällt, als die vorhergehende Anstrengung widernatürlich ist“ (GP I, 59). Um die Bedeutung der Mystik für den Pietismus beurteilen zu können, beruft sich Ritschl immer wieder auf eine der zentralen Figuren der mittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit. Die Rede ist von Bernhard von Clairvaux (1090–1153), der für ihn zum „Hauptschlüssel für den Pietismus“⁴¹⁴ wurde. Ritschl zieht an dieser Stelle in erster Linie die 86 Predigten über das Hohelied heran, an denen der Zisterzienser im Jahre 1135 zu arbeiten begonnen hatte.⁴¹⁵ Die herausragende Stellung, die Ritschl ihnen beimisst, deutet sich bereits in der Bemerkung an, dass „[o]hne Kenntniß dieses typischen Entwurfs von Devotion . . . kein vollständiges Verständnis vom Katholicismus“ (GP I, 46) möglich sei. Seine Ausführungen zu Bernhard sind insofern bemerkenswert, als er hier auf eine Dimension der Mystik zu sprechen kommt, die bis dahin unterbelichtet geblieben war. Sie tritt nun als eine „sentimentale Frömmigkeit“ (GP I, 59) auf den Plan. Ritschls Übersetzung verschiedener Passagen der Bernhardschen Predigten zeichnet sich durch eine vielfache Verwendung des Gefühlsbegriffs aus, der ihm als Übertragung unterschiedlicher Formen des Verbs sentire dient. „‚Die Seele soll nicht eher sich mit Gott vollkommen geeint achten, bis sie nicht das starke Gefühl davon hat, daß er

413 Zu Ritschls Berufsbegriff vgl. auch Meireis 2008, 92ff. 414 Ritschl 1896b, 340. Vgl. dazu Wallmann 2010, 85ff. Bernhard gilt Ritschl in der ersten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung noch als Vorklang der reformatorischen Rechtfertigungslehre und als Vordenker der theologischen Meisterfrage. Bernhard habe „das Ganze des guten Werkes in der religiösen Betrachtung auf die göttliche Gnade, in der ethischen Betrachtung auf die durch die Gnade freie Wahrheit des Willens zurückgeführt. Er hat in der Form der unmittelbaren Ueberzeugung den Doppelgedanken ergriffen, in welchem die praktische Grundlage des evangelischen Christenthums ausgedrückt ist, und in welchem die evangelische Theologie ihre Aufgabe zu erkennen hat, die Uebereinstimmung oder die Widerspruchslosigkeit beider Glieder zu beweisen.“ (Ritschl 1870, 99f). 415 Nüssel 2005, 114. Von der intensiven Beschäftigung mit Bernhard zeugt nicht allein die Geschichte des Pietismus, sondern auch die kurze Abhandlung Lesefrüchte aus dem heiligen Bernhard (1879), vgl. Ritschl 1896a, 204–219.

3.6 Wege der Erlösung |

291

in ihr und sie in ihm bleibt.‘“⁴¹⁶ (GP I, 57) Nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Zitaten findet sich eine solche emotive Fokussierung, was sein Interesse an der von Bernhard ausgeführten Affektdimension unterstreicht. Sie wird von ihm als ein typisches Kennzeichen mystischer Frömmigkeit herausgestellt, wobei er keinen Hehl daraus macht, wie fremd ihm diese Frömmigkeitskultur ist;⁴¹⁷ eine Position, die sich auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760) deutlich widerspiegelt. Ritschls Vorwürfe gegenüber der Mystik sind massiv und lassen sich nicht allein als das Ergebnis historischer Forschungen begreifen.⁴¹⁸ Vielmehr weisen sie eine deutlich kontroverstheologische Prägung auf. Er ist der Überzeugung, dass Protestantismus und Mystik unvereinbar seien und letztere ausschließlich im Bereich der katholischen Kirche ihren Ort habe. Diese Position sollte sich als ausgesprochen zählebig erweisen und wurde von seinen Schülern fortgeschrieben. So stellte Adolf von Harnack fest, dass ein Mystiker, der kein Katholik werde, ein Dilettant sei.⁴¹⁹ Und auch Wilhelm Herrmanns Hauptwerk Der Verkehr des Christen mit Gott zeichnet sich durch eine mystikkritische Haltung aus.⁴²⁰ Dass das von Ritschl geprägte Mystikverständnis nicht haltbar und dringend einer Revision bedürftig war, wurde von Ernst Troeltsch aufgezeigt, der die Mystikdebatte in andere Bahnen zu lenken wusste.⁴²¹

416 Im lateinischen Text heißt es: „Sic igitur anima cui adhaerere Deo bonum est, non ante se existimet ipsi perfecte unitam, nisi cum et illum in se et se in illo manentem persenserit.“ (Clairvaux 1995, 450). Die Übersetzer der Werke Bernhards übertragen persentire mit sich bewusst sein, vgl. Clairvaux 1995, 451. 417 Der kantisch geschulte Geist Ritschls hält gegenüber dem letzten Zitat Bernhards fest: „In der Empfindung überhaupt ist an sich keine Unterscheidung ausgedrückt zwischen dem fühlenden Subject und dem Gegenstande, der die Empfindung erregt, sondern diese Unterscheidung stellt immer der die Empfindungen begleitende Verstand fest.“ (GP I, 57f) In diesem Zitat deuten sich erkenntnistheoretische Grundsätze an, die Weber – wie oben gezeigt wurde – voll und ganz geteilt hat. 418 Darauf weist bereits Dilthey hin. Im handschriftlichen Nachlass notiert er, dass eine sachliche Reformationsdeutung nur möglich sei, „wenn man den von Ritschl eingenommenen Standpunkt bloßer polemischer Abgrenzung vom Katholizismus und seinen Leistungen aufgibt. Das ist der Standpunkt des Symbolikers, nicht des Geschichtsschreibers.“ (Dilthey 1921, 514). 419 Vgl. Harnack 1897, 393. 420 „Wenn das Einwirken Gottes auf die Seele lediglich in einem inneren Erlebnis des einzelnen gesucht und gefunden wird, also in einer Gefühlserregung, die sich unmittelbar als Ergriffensein von Gott bezeugen soll, ohne daß dabei irgend etwas Äußeres mit klarem Bewußtsein erfaßt und festgehalten wird, ohne daß der positive Inhalt einer die Seele beherrschenden Anschauung Gedanken rege macht, in denen sich das geistige Leben erhöht, so ist das mystische Frömmigkeit.“ (Herrmann 1908, 17). 421 Vgl. dazu Molendijk 1999, 39ff.

292 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext b) Wie bereits eingangs bemerkt wurde, setzte sich Weber schon in seiner Protestantischen Ethik ausführlich mit der Mystik auseinander. Zu deren Bestimmung greift er Elemente auf, die unmittelbar an die Pietismusgeschichte Ritschls erinnern.⁴²² Diese Nähe lässt sich bis in die Diktion hinein an Webers Spezifikation des wirkmächtigsten kulturellen Trägers der Mystik ablesen, des Mönchtums. „Die mönchische Lebensführung ist nun nicht nur zur Rechtfertigung vor Gott selbstverständlich gänzlich wertlos, sondern sie gilt ihm [sc. Luther] auch als Produkt egoistischer, den Weltpflichten sich entziehender Lieblosigkeit. Im Kontrast dazu erscheint die weltliche Berufsarbeit als äußerer Ausdruck der Nächstenliebe“ (PE, 192f). Doch nicht allein der Egoismus als Merkmal der Mystik oder die Entgegensetzung von katholischem Mönchtum und lutherischer Berufsethik scheint an den Pietismusstudien Ritschls orientiert zu sein. Darüber hinaus hebt er ebenso auf den elitären Charakter der klösterlichen Lebensführung ab. Die Distanz von der Alltagswelt verbindet er mit der „geistlichen Aristokratie der Mönche“ (PE, 296), die – wie wir gesehen haben – schon Ritschl namhaft gemacht hatte. Aber auch in seiner Gesamtbeurteilung des Pietismus kommt die Prägung durch die Geschichte des Pietismus zum Vorschein, wenn es heißt, dass sich letzterer insgesamt „von Francke und Spener zu Zinzendorf hin in zunehmender Betonung des Gefühlscharakters“ (PE, 336) bewege. Wenn der Gefühlsbegriff als zentraler Interpretationsbegriff der Mystikdeutung Ritschls ausgewiesen wurde, so war dieser Hinweis auch mit der Absicht verbunden, aufzeigen zu können, dass die Protestantische Ethik aller Wahrscheinlichkeit nach darauf aufbaut. Dafür spricht nicht allein, dass für Weber „Gefühlsreligiosität“ (PE, 300) und Mystik zusammenfallen. Darüber hinaus bestimmt er die Mystik auch als „rein stimmungsmäßige Innerlichkeit“ (PE, 278) bzw. als „rein nach innen gerichtete Stimmungsfrömmigkeit“ (PE, 279). Diese affekttheoretische Spezifikation der Mystik setzt er explizit mit Ritschls Pietismusdeutung in Beziehung. Die „Vernachlässigung der weltlichen Berufsarbeit zugunsten der Contemplation“ trat dort in besonderer Weise auf, wo letztere „jenen Zug anzunehmen begann, den Ritschl als ‚Bernhardinismus‘ bezeichnet, weil er in der Auslegung des ‚hohen Liedes‘ durch den hl. Bernhard zuerst deutlich entwickelt ist: eine hysterisch-sinnlich fundamentierte mystische Stimmungsreligiosität“ (PE, 31076). Einen Höhepunkt der protestantischen Mystik sieht Weber schließlich in Zinzendorfs „Gefühlspie-

422 Weber kommt auf Ritschl – soweit ich sehe – erstmals 1892 in einem in der Christlichen Welt erschienenen Beitrag – Zur Rechtfertigung Göhres (1893) – zu sprechen. Paul Göhre (1864–1928) war Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses und mit Weber befreundet. In besagtem Beitrag heißt es, dass Göhre „Denkkategorien der Ritschlschen Theologie, die nicht jeder sich aufoktroyiren lassen wird, vorgeschwebt haben.“ (Weber 1993b, 115) Zu Webers Engagement im evangelisch-sozialen Kongress vgl. Ward 1988, 303–309; Weiß 1992, 116–124.

3.6 Wege der Erlösung |

293

tismus“ (PE, 337). Und auch in diesem Zusammenhang verweist er erneut auf Ritschl (vgl. PE, 337112. 113a). Schluchters Bemerkung, dass die „Gefühlskultur“⁴²³ in der Protestantischen Ethik in einem sehr unspezifischen Sinne auf die Mystik bezogen und letztere nur „residual“ bestimmt sei, muss vor dem Hintergrund der Mystikdeutung Ritschls und ihrer Rezeption durch Weber in Zweifel gezogen werden. Vielmehr weisen die bis hierher angestellten Überlegungen darauf hin, dass Weber schon 1904/1905 eine distinkte, auf den Affektbereich religiösen Lebens abgestellte Vorstellung von der Mystik hatte, die eine Vielzahl von Konvergenzen zur liberal-protestantischen Sicht auf diese Frömmigkeitserscheinung aufweist. Obwohl sich der Nationalökonom im Grundtenor an Ritschls Mystikdeutung orientiert, stimmt er ihm in dieser Angelegenheit jedoch nicht in allen Belangen zu. Weber weist darauf hin, dass Ritschl versuche, überall den „Quietismus“ der Bernhardschen Mystik mit der „pietistischen Askese zu kopulieren und so die letztere in die gleiche Verdammnis zu bringen“. Er lege den „Finger auf jedes Zitat aus der katholischen Mystik oder Asketik, welches er in der pietistischen Litteratur findet.“ (PE, 31076) Dieses Verfahren wird von ihm unter dem Blickwinkel des Wertfreiheitspostulats kritisiert. „Die Unbefangenheit von Ritschls Darstellung leidet daran, daß der große Gelehrte seine kirchen- oder vielleicht besser gesagt: religionspolitisch orientierten Werturteile hineinträgt und in seiner Antipathie gegen alle spezifisch asketische Religiosität überall da, wo die Wendung zu dieser hin sich vollzieht, Rückfälle in den ‚Katholizismus‘ hineininterpretiert.“⁴²⁴ (PE,

423 Schluchter 1991b, 81. 424 Einen ähnlich gelagerten Vorwurf erhebt Weber auch gegenüber Ritschls Rechtfertigung und Versöhnung. Dieses Werk zeige „in der starken Untermischung der historischen Darstellung mit Werturteilen die ausgeprägte Eigenart des Verf., welche bei aller Großartigkeit der gedanklichen Schärfe dem Benutzer nicht immer die volle Sicherheit der ‚Objektivität‘ gibt. . . . Was ferner z. B. für ihn aus der großen Mannigfaltigkeit der religiösen Gedanken und Stimmungen, schon bei Luther selbst, als ‚lutherische‘ Lehre gilt, scheint oft durch Werturteile festgestellt: es ist Das, was für Ritschl dauernd wertvoll am Luthertum ist. Es ist Luthertum, wie es (nach R.) sein sollte, nicht immer, wie es war.“ (PE, 2494) Kritisch beurteilt Weber auch Ritschls Verständnis der Wiedertäuferbewegung: „Bei Ritschl, Pietismus I S. 22 f., z. B. sind die ‚Wiedertäufer‘ wenig unbefangen, ja in geradezu schnöder Weise behandelt: man fühlt sich versucht, von einem theologischen ‚Bourgeoisstandpunkt‘ zu sprechen. Dabei lag das schöne Werk von Cornelius (Geschichte des Münsterschen Aufruhrs) seit Jahrzehnten vor. Ritschl konstruiert auch hier überall einen Collaps – von seinem Standpunkt aus – ins ‚Katholische‘ und wittert direkte Einflüsse der Spiritualen und Franziskaner-Observanten.“ (PE, 347123). Auf diese Einwände Webers legt Graf in seiner Beurteilung der Bedeutung Ritschls für den Nationalökonomen ein besonderes Augenmerk, vgl. Graf 1993, 41ff. Wie zuvor schon angedeutet wurde (3. 4. 1), zollte Weber für die Aufarbeitung der Geschichte des Täufertums – dem Ritschl-Schüler – Karl Müller große Anerkennung. In einem Brief an Paul Siebeck vom 5. September 1913 bittet Weber um Müllers Kirchengeschichte für die Arbeit am „Handbuch“ (Br II / 8, 321). Weber regte den späteren Professor der Volkswirtschaft,

294 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext 30976) Im Unterschied zu Ritschl ist Weber der Auffassung, dass sich die Mystik nicht per se durch eine strikte Entgegensetzung zur protestantischen vita activa begreifen lasse.⁴²⁵ Vielmehr sei der Berufsgedanke bei den deutschen Mystikern vorgearbeitet worden, „namentlich durch die prinzipielle Gleichwertung geistlicher und weltlicher Berufe bei Tauler“ (PE, 208). Ihm gegenüber könne Luther und vor allem die lutherische Kirche als ein „Rückschritt“ begriffen werden, insofern die Berufsethik auf der einen Seite traditional begründet sei und auf der anderen Seite unter dem Verdacht der Werkgerechtigkeit stehe (vgl. PE, 201ff).⁴²⁶ Webers Ausführungen geben Hinweise darauf, dass er sich in dieser Beurteilung der deutschen Mystik an Reinhold Seebergs Lehrbuch der Dogmengeschichte orientiert, auf die er mehrfach Bezug nimmt. Dabei scheint er sich auf eine Anmerkung des Dogmenhistorikers zu beziehen, in der letzterer betont, wie hoch in der deutschen Mystik die „praktische Liebestätigkeit“ im Kurs stand. In diesem Zusammenhang verweist er auf „die herrlichen Predigten Taulers über den irdischen Beruf.“⁴²⁷ Auf eine der von Seeberg angegebenen Predigten Taulers geht Weber an anderer Stelle explizit ein. Sie dient ihm als Beleg für die Nähe des Berufsgedankens der deutschen Mystik zu Luther.⁴²⁸

Ernst H. Correll (1882–1942), zur Anfertigung einer soziologischen Studie über Das schweizerische Täufermennonitentum (1925) an, vgl. Teufel 1942, 34. Corrells Studie ist „dem Andenken an Max Weber und Ernst Troeltsch gewidmet“ (Zitat aus: Teufel 1942, 34). 425 Vgl. dazu Wallmann 2010, 8f. Wallmann verweist in diesem Zusammenhang auf einen Passus aus Webers Schrift Antikritisches zum ‚Geist‘ des Kapitalismus, in dem es heißt: „Was aber die Sache . . . anlangt, so erinnere ich nur beiläufig daran, daß ein Mann wie Ritschl in der Identifikation der (in meinem Sinn) asketischen Züge des ‚Pietismus‘ . . . mit ‚katholischen‘ Resten im Protestantismus so weit gegangen ist, daß ich seine Darstellung in dieser Hinsicht ausdrücklich einzuschränken versuchte.“ (Weber 2014a, 579). 426 Zu diesem Begriff des Traditionalen vgl. unten 3. 6. 3. Adolf Harnack scheint Weber vorgeworfen zu haben, Luther in der Protestantischen Ethik wirkungsgeschichtlich zu marginalisieren. Darauf deutet ein Schreiben Webers an den Berliner Dogmenhistoriker hin, in dem es heißt: „Für ihre freundliche Karte betr. meines Aufsatzes vielen Dank. – Ich bin über die amerikanische Freiheit sehr andrer Meinung. In meiner Arbeit kommt notwendig Luther zu kurz, er bildet für diese |:religiös betrachtet:| peripherischen Gesichtspunkte eine |:wesentlich:| negative Größe, daran läßt sich nichts ändern. Wir dürfen doch nicht vergessen, daß wir den Sekten Dinge verdanken, die Niemand von uns heute missen könnte: Gewissensfreiheit u. die elementarsten ‚Menschenrechte‘, die uns heut selbstverständlicher Besitz sind. Nur radikaler Idealismus konnte das schaffen.“ (Br II / 4, 422). 427 Seeberg 1898, 1654. Weber gibt zwar die Seite 195 der Seebergschen Dogmengeschichte an, doch stimmen seine Ausführungen mit der zuvor angegebenen Stelle überein. 428 Webers Auffassung nach „geht . . . die Schöpfung des modernen ‚Berufs‘-Begriffs auch sprachlich auf die Bibelübersetzungen, und zwar die protestantischen, zurück und nur bei Tauler († 1361) finden sich . . . Ansätze dazu.“ (PE, 18340).

3.6 Wege der Erlösung |

295

Webers Charakterisierung der Mystik greift somit Elemente auf, die bereits von Ritschl zur Kennzeichnung mystischer Frömmigkeit geltend gemacht worden sind. Das gilt in erster Linie für die affekttheoretische Ausrichtung dieser Frömmigkeitsrichtung. Was deren Gesamtbeurteilung betrifft, grenzt sich Weber jedoch – zumindest partiell – von der Position des Theologen ab. Die Mystik erscheint in seinem Denken in einem weniger düsteren Licht. Von einer positiven Würdigung derselben kann jedoch gleichwohl nicht die Rede sein, was sich auch an den Religiösen Gemeinschaften verdeutlichen lässt, denen wir uns nun zuwenden. Der gedankliche Horizont, innerhalb dessen Weber die Mystik in den Religiösen Gemeinschaften entfaltet, ist gegenüber der Protestantischen Ethik massiv entschränkt worden. Gleichwohl bauen seine Ausführungen unverkennbar auf letzterer auf. Es handelt sich daher in werkgeschichtlicher Perspektive betrachtet weniger um einen Umschlag in der Beurteilung der Mystik, wie Wolfgang Schluchter meint,⁴²⁹ als vielmehr um eine Erweiterung des Explikationsrahmens mystischer Frömmigkeit, die nun eben nicht mehr auf das Christentum beschränkt bleibt. Wie bereits angedeutet wurde, erblickt Weber in der Mystik ein Selbstvervollkommnungsstreben, das sich in einer rationalen und planvollen Heilsmethode artikuliert. Die Erlösung wird in diesem Fall als das „Werk des Erlösten“ begriffen (RG, 305). Insofern die mit der Mystik verbundene Heilsmethodik religiösen Virtuosen vorbehalten ist, spricht Weber – wiederum an Ritschl anknüpfend – auch vom „Heilsaristokratismus des Mystikers“ (RG, 327),⁴³⁰ den es im Folgenden näher zu kennzeichnen gilt. Das „Gnadengewißheit“ (RG, 316) verbürgende Heilsgut der Mystik besteht – wie schon angedeutet wurde – in einer „Zuständlichkeit spezifischer Art . . . : ‚mystische Erleuchtung‘“ (RG, 323). Dieses Gut wird auf dem Wege der „‚Kontemplation‘“ (RG, 323) zu erreichen versucht, was voraussetzt, die „Alltagsinteressen“ (RG, 323) auszuschalten. Die Alltagswelt gilt als Inbegriff des Nichtgöttlichen, das dem Ziel der Selbstvervollkommnung zuwiderläuft und das es darum abzustreifen gilt (vgl. RG, 314). Mit diesem Ziel konvergiert die „absolute Weltflucht“ (RG, 322–324) der Mystiker, womit sich Weber eines Ausdrucks bedient, mit dem – wie oben gezeigt wurde – bereits Ritschl die Mystik kennzeichnete, der aber auch in Siebecks Religionsphilosophie einen zentralen Stellenwert einnimmt. Für Webers Verständnis der Mystik ist nun entscheidend, dass sich deren Einfluss auf die Lebensführung nicht positiv bestimmen lässt. Die mystische Ein-

429 Schluchter 1991b, 83. 430 Diesen Begriff verwendet Weber auch in seinen Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, vgl. etwa KT, 390; ZB, 496f; BH, 302. 529. Vgl. auch J II, 803. 806.

296 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext stellung drückt sich in einem „Nichthandeln“ (RG, 324) aus.⁴³¹ Hierin erblickt er eines ihrer wesentlichen Charakteristika. Sie stellt einen Frömmigkeitstyp dar, dem eine „negative Wirkung auf das Handeln“ (RG, 325) zu attestieren ist. Doch wie schon in der Protestantischen Ethik vermeidet es Weber auch hier, eine strikte Trennung zwischen der Mystik und der vita activa vorzunehmen. Die Grenzen seien – zumindest zur weltablehnenden Askese – fließend. Allerdings kommt es ihm darauf an, dass die im Rahmen der Mystik zu thematisierenden Elemente des Handelns bzw. Nicht-Handelns niemals Selbstzweck sind, sondern stets als Mittel fungieren, das Ziel des kontemplativen Lebens zu erreichen. Dieses aber liegt nicht im Handeln selbst, sondern in einem „Gefühlshabitus“ (RG, 324). Spätestens mit diesem Ausdruck kommt erneut die – von Ritschl angeregte – affekttheoretische Bestimmung von Webers Mystikverständnis in den Blick, die auch in den Religiösen Gemeinschaften zentral verankert ist (vgl. RG, 324ff). Auch wenn Weber nicht in allen Belangen der Pietismusdeutung Ritschls folgt und sich auch teilweise von methodischen Prämissen und inhaltlichen Aspekten abgrenzt, baut sein Verständnis der Mystik zusammenfassend betrachtet im Wesentlichen auf dessen Geschichte des Pietismus auf. Während die Überlegungen, die der Göttinger Theologe zu diesem Thema angestellt hat, jedoch auf den Bereich der christlichen Religion beschränkt sind, entwickelt Weber in seiner Religionssystematik einen relativ reinen idealtypischen Begriff des Mystikers, in dessen Mittelpunkt die Begriffe des Nicht-Handelns und des Gefühls stehen. Inwiefern diese Konzeption mit den handlungstheoretischen Grundlagen seiner Soziologie vereinbar ist, wird später zu diskutieren sein.⁴³²

431 „Nichthandeln, in letzter Konsequenz Nichtdenken, Entleerung von allem, was irgendwie an die ‚Welt‘ erinnert, jedenfalls absolutes Minimisieren alles äußeren und inneren Tuns sind der Weg, denjenigen inneren Zustand zu erreichen, der als Besitz des Göttlichen, als unio mystica mit ihm, genossen wird“ (RG, 324). Diese allgemeinen Bestimmungen der Mystik greift Weber in seinen Ausführungen zu den asiatischen Religionen auf. Der im Taoismus zu erreichende harmonische Zustand heiße „Leere (hu) oder Nichtssein (wu), erreichbar durch ‚Wu-wei‘ (Nichtstun) und puh yen (Nichtssagen)“ (KT, 381). Die „Minimisierung des Welttuns“ (KT, 390, vgl. auch 384), das „Interesse an der gottinnigen, durch Kontemplation zu erreichenden Zuständlichkeit“, die zu einer „völligen Entwertung der innerweltlichen Kultur“ führe (KT, 283), gelten ihm als die „typisch mystischen, keineswegs nur chinesischen, Kategorien“ (KT, 380f). Gleichermaßen verwendet Weber im Zusammenhang mit dem Taoismus den Ausdruck „unio mystica‘ (KT, 383). Schließlich spricht Weber auch von den „indirekten, negativen, Wirkungen“ (KT, 403), die der Taoismus auf die Rationalisierung der Lebensführung hatte. Ein weiteres Paradebeispiel mystischer Frömmigkeit ist für Weber der Buddhismus: „Denn jede ‚Werkheiligkeit‘ . . . ist und bleibt verketzert. Sondern gerade umgekehrt tritt die aktive ‚Tugend‘ im Handeln immer stärker zurück gegenüber der . . . Ethik des Nicht-Handelns“ (HB, 350). 432 Vgl. 4. 3. 1.

3.6 Wege der Erlösung |

297

3.6.3 Der Begriff der Askese Der Begriff der Askese gehört zweifelsohne zu den bekanntesten Ausdrücken des Weberschen Œuvres. Durch seine Untersuchung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905) wurde der Grundstein dafür gelegt, dass dieser Terminus zum einen über die Religionsforschung im engeren Sinne hinaus in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften insgesamt Einzug hielt und zum anderen – wie Graf formuliert – in den „Sprachschatz der Gebildeten“⁴³³ einwanderte. Der in der Protestantismusstudie entwickelte Begriff der Askese stellt aber auch für die folgenden religionssoziologischen Untersuchungen Webers gleichsam den Normbegriff dieser Frömmigkeitserscheinung dar. Der Umstand, dass die ‚Askese‘ in den Religiösen Gemeinschaften sowie in der Wirtschaftsethik der Weltreligionen eine Vielzahl von Erweiterungen und Umakzentuierungen erfährt,⁴³⁴ leistet dieser Einschätzung keinen Abbruch. Die folgenden Ausführungen zielen aber nicht darauf, die angedeutete Entwicklung in werkbiographischer Perspektive vollständig nachzuzeichnen. Vielmehr werden wir uns auf drei Aspekte konzentrieren. Zunächst gilt es das intellektuelle Feld abzustecken, auf dem Webers Begriff protestantischer Askese entstanden ist (a). Sodann ist der Askesebegriff der Protestantischen Ethik zum einen auf seine Aufbaumomente hin zu befragen und zum anderen mit dem damaligen Forschungsstand in Beziehung zu setzen (b). Daran anknüpfend wird der in den Religiösen Gemeinschaften entfaltete Begriff der ‚innerweltlichen Askese‘ in den Blick zu nehmen sein (c). Bevor wir auf den ersten Punkt eingehen, bietet es sich an, sich einen kurzen Überblick darüber verschaffen, wie der forschungsgeschichtliche Kontext von Webers Askesebegriff zuletzt diskutiert wurde. Zu den Faktoren, die Webers Askesebegriff geprägt haben, gehören der Sekundärliteratur zufolge vor allem Studien von Matthias Schneckenburger, Albrecht Ritschl, Reinhold Seeberg und Ernst Troeltsch.⁴³⁵ Auf die entsprechenden Schriften der ersten beiden Autoren waren wir oben bereits zu sprechen gekommen. Es handelt sich um Schneckenburgers Vergleichende Darstellung und um Ritschls Geschichte des Pietismus, die in der Protestantischen Ethik ausdrücklich Erwäh433 Graf 2005b, 1319. 434 Vgl. dazu Schluchter 1991b, 80ff sowie – auf Schluchter aufbauend und letzteren korrigierend – Breuer 2001b, 229ff. Vgl. auch Sprondel 1971, 541–543. 435 Vgl. Graf 1995, 220ff; Treiber 2001, 263ff; Ghosh 2008a, 171ff. Tyrells 1990 erschienener Aufsatz zur Protestantischen Ethik behandelt vor allem Fragen, die sich gleichsam diesseits dieses Werks bewegen und bestimmte Vorentscheidungen Webers berühren, sich mit diesem Thema in der gegebenen Art und Weise auseinandergesetzt zu haben, vgl. Tyrell 1990, 141. Dabei vertritt er die These, dass Webers Herangehensweise an die Thematik maßgeblich unter dem Einfluss Nietzsches steht. Dieser Faden kann im Folgenden aber nicht aufgenommen werden.

298 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext nung finden. Letzteres gilt auch für Reinhold Seebergs in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche publizierten Artikel Askese (1897). Und ebenso nimmt Weber auf Troeltschs gleichermaßen in diesem Organ erschienenen Artikel Englische Moralisten (1903) Bezug. Graf und Ghosh führen darüber hinaus Troeltschs im Jahre 1906 erschienenen Beitrag Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit ins Feld, der also ein Jahr nach der Veröffentlichung der Protestantischen Ethik publiziert wurde. Der Theologe und der Historiker geben Belege und Argumente dafür an die Hand, dass Weber mit diesem Projekt vor dessen Erscheinen vertraut war.⁴³⁶ Gleichsam als Kronzeuge wird ein Brief Webers an Georg von Below vom 23. August 1905 aufgerufen, worin es heißt: „Tr’s vortreffliche Leistung (bei Hinneberg) mag in sehr vielen Punkten auf Anregung aus unseren Gesprächen und meine Aufsätze zurückgehen (vielleicht noch mehr, als er weiß) – aber er ist der theologische Fachmann und beherrscht damit das Entscheidende: die massgebende Idee.“⁴³⁷ (Br II / 4, 536) Sodann betonen sie, dass Weber bereits in der Protestantismusstudie auf den bei Hinneberg erst noch erscheinenden Beitrag Troeltschs rekurriert (vgl. PE 2463. 26621). Aber auch wenn diese Hinweise mit ins Kalkül gezogen werden, bleibt die Schwierigkeit bestehen, den Einfluss jenes Projekts auf Webers Askesebegriff genau zu bestimmen. Denn es existieren ebenso Anhaltspunkte dafür, diesen Einfluss nicht zu hoch zu veranschlagen. Zum einen betreffen die zuletzt angegebenen Stellen aus der Protestantischen Ethik weniger den Askesebegriff als vielmehr spezielle Fragen zur Relevanz des Naturrechts sowie zur reformierten Sozialethik. Zum anderen hält Troeltsch selbst in seinem Aufsatz zum Protestantischen Christentum ausdrücklich fest, dass er in puncto Askeseverständnis wesentliche Anregungen von Weber bekommen habe. An der Stelle, an der der Theologe erstmals ausführlich auf den Askesebegriff zu sprechen kommt,⁴³⁸ finden die „ausgezeichneten Abhandlungen“⁴³⁹ Max Webers Erwähnung, womit die Protestantismusstudie gemeint ist.⁴⁴⁰ Der vermutete Einfluss Troeltschs auf Webers Askesebegriff ist – vor 436 Vgl. Graf 2005c, 265; Graf 2003, 241; Ghosh 2008b, 1739. 437 Weber fährt dann in bemerkenswerter Weise fort: „Hat nun der Fachmann eine umfassende Leistung vorgelegt, so soll er sie m. E. vor der Öffentlichkeit vertreten. Es würde sich sonderbar ausnehmen, wenn ich das jetzt täte. Zudem hat Tr natürlich eine Fülle von Dingen geleistet (Analyse Luthers, Calvins), die ich so absolut garnicht hätte leisten können, weil mir die Kenntnisse dazu fehlen. Also ist er der Berufenere, und ich denke er wird sich auch sehr gern dazu bereit finden lassen, wenn ich ihm ausrede, daß ich ihm ein ‚Opfer‘ durch mein Zurücktreten bringe.“ (Br II / 4, 536f). 438 Vgl. Troeltsch 2004b, 98ff. 439 Troeltsch 2004b, 515. 440 Doch gibt Troeltsch nicht allein diese Untersuchung an. Zudem bezieht er sich auf zwei eigene Beiträge – Englische Moralisten sowie Grundprobleme der Ethik – sowie Richard Rothes (1799–1867)

3.6 Wege der Erlösung |

299

diesem Hintergrund betrachtet – somit einer intensiveren Erörterung bedürftig, die im Folgenden im Rückgriff auf dessen Artikel zur englischen Moralphilosophie erfolgen soll. Als eine der nach wie vor umstrittendsten Fragen kann die nach der Bedeutung Albrecht Ritschls für Webers Askeseverständnis angesehen werden. So ist Graf der Ansicht, jenen in diesem Zusammenhang vernachlässigen zu können. Der dogmenund kirchengeschichtliche Standpunkt des Göttinger Theologen steht für ihn in Opposition zu demjenigen, den Weber in der Protestantismusstudie einnimmt.⁴⁴¹ Nicht Ritschls Schriften, sondern vielmehr Matthias Schneckenburgers Vergleichende Darstellung sei die „wichtigste theologische Quelle der ‚Protestantischen Ethik‘“.⁴⁴² Eine davon abweichende Position hat Hubert Treiber eingenommen. Er sieht in Ritschl den „unfreiwillige[n] ‚Geburtshelfer‘ der These einer inneren Affinität zwischen klösterlicher und puritanischer Askese“.⁴⁴³ Die folgenden Ausführungen werden diesen widersprüchlichen Befund zu berücksichtigen haben. Für die Kontextualisierung von Webers Konzept protestantischer Askese werden jedoch nicht allein die Positionen Schneckenburgers und Ritschls, sondern auch die genannten Artikel Seebergs und Troeltschs miteinbezogen. Bevor wir deren jeweiligen Einfluss näher bestimmen können, ist es jedoch zunächst erforderlich, den Stellenwert des Askesebegriffs bei jenen vier Autoren auszuloten. a) Das Anliegen sowie zentrale Inhalte von Schneckenburgers Hauptwerk sind oben bereits dargelegt worden und müssen somit an dieser Stelle nicht noch einmal aufgerufen werden.⁴⁴⁴ Für das hier infrage stehende Problem ist der Sachverhalt entscheidend, dass der Theologe die praktische Ausrichtung reformierter FrömVorlesungen über die Kirchengeschichte II sowie die vierte Auflage von Wilhelm Herrmanns Verkehr des Christen mit Gott (1903). Die Hinweise auf Rothe und Herrmann sind merkwürdig. Der Bezug zur Askese bei Rothe betrifft eine 1624 erschienene Ausgabe „asketischer Schriften“ Jakob Böhmes (1575–1624) (Rothe 1875, 480). Auf der von Troeltsch angegebenen Seite der Herrmannschen Schrift geht es ebenfalls nicht um Fragen asketischer Frömmigkeit. 441 „Ultimately, however, Weber represented a view contrary to Ritschl’s . . . “ (Graf 1993, 42). 442 Graf 1995, 225. Graf hat sich in erster Linie mit dem Einfluss der zeitgenössischen theologischen Forschung auf die Protestantismusstudie befasst, um auf diesem Wege plausibilisieren zu können, „wie stark sich in dem Geschichtsbild der ‚Protestantischen Ethik‘ bestimmte kulturelle Wahrnehmungsmuster des deutschen liberalen Kulturprotestantismus reflektieren.“ (Graf 1995, 217) Damit knüpft Graf ausdrücklich an eine These Harry Liebersohns an, der Webers Aufsatz als einen zeitdiagnostischen Text, als eine „‚allegory about Germany in his own day‘“ (Graf 1995, 216) liest. Diese von Graf aufgegriffene und durch die Berücksichtigung der theologischen Literatur weiterentwickelte Lesart führt ihn im Ergebnis zu der weitreichenden These, dass Webers Protestantismusstudie nicht nach ihrem historiographischen Wert zu bemessen sei, sondern als Beitrag zur kulturellen Selbstvergewisserung der eigenen Zeit gelesen werden müsse (vgl. Graf 1995, 241). 443 Treiber 2001, 264. 444 Vgl. 3. 6. 1.

300 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext migkeit deutlich herausgearbeitet, nicht jedoch mit dem Gedanken der Askese programmatisch in Beziehung gesetzt hat. Der Begriff der „reformirten Ascese“ (V, 48) findet zwar Verwendung, das aber nur ausgesprochen sporadisch und in einem ganz unspezifischen Sinn (vgl. auch V, 67. 147. 159. 172). Exemplarisch sei Schneckenburgers Hinweis auf die Abgrenzung der „ascetischen Schriften der Reformirten“ (V, 173) von den dogmatischen genannt (vgl. V, 53). Denn damit orientiert er sich an einer für das 18. Jahrhundert gängigen Rubrizierungspraxis innerhalb der protestantischen Theologie. Asketische Schriften und Vorlesungen dienten dem Zweck der Erbauung und der praxis pietatis.⁴⁴⁵ Die Annahme, dass es sich dabei um einen Grundbegriff der katholischen Theologie und Frömmigkeit handeln würde, hätte Schneckenburger vermutlich für abwegig gehalten. In der Vergleichenden Darstellung ist die Askese ein in dieser Beziehung ganz unverdächtiger Begriff. Bemerkenswert ist schließlich, dass Schneckenburger den Askese- mit dem Disziplinbegriff koordiniert (vgl. V, 163). Denn damit stellt er eine Verbindung her, die in Ritschls Geschichte des Pietismus zentral verankert ist, der es sich nun zuzuwenden gilt. Im ersten Band dieses Werks befasst sich Ritschl mit der „Reformation in der abendländischen Kirche des Mittelalters“ (GP I, 7). In diesem Zusammenhang wendet er sich der „Reformation des heiligen Franz von Assisi“ zu, mit der eine „neue Epoche in der abendländischen Kirche“ (GP I, 13) eingesetzt habe. Eine der zentralen Leistungen des heiligen Franz erblickt er darin, dass dieser das Armutsideal und das „asketische Leben“ seines Ordens auch auf die Laien übertragen wollte, um „innerhalb der katholischen Kirche selbst eine Ausgleichung des Abstandes zwischen der christlichen Vollkommenheit des Mönchthums und dem bloß passiven Christenthum der Laien“⁴⁴⁶ (GP I, 14) zu erreichen. Der soziale Träger dieses Ritschls Auffassung nach gescheiterten Versuchs, „die asketische Lebensweise auch in die bürgerliche Gesellschaft einzuführen“, war die Laienkongregation der Tertiarier, deren Lebensführung sich an einem 20 Artikel umfassenden Regelwerk zu orientieren hatte, das der Ermöglichung einer „an das eheliche und an das bürgerliche Berufsleben accomodirte[n] Askese“ (GP I, 16) diente. Dieser zu Beginn seiner Prolegomena gestiftete Bezug auf die franziskanische Form mittelalterlicher Askese ist nun für den weiteren Fortgang seiner Überlegungen von grundlegender

445 Auf Johann Salomo Semler (1725–1791) bezogen vgl. dazu Schröter 2012a, 329ff. 446 Ritschl zollt der Person und der Leistung des Ordensgründers großen Respekt, ist aber zugleich der Überzeugung, dass die „reformatorische Absicht des heiligen Franz . . . nichts weniger als erfolglos gewesen“ (GP I, 15) und in den Mitteln und Zielen von der Reformation des 16. Jahrhunderts unterschieden ist.

3.6 Wege der Erlösung |

301

Bedeutung und wird im Zuge seiner Erörterungen zur Differenz zwischen dem „Lutherthum und Calvinismus“ (GP I, 61) wieder aufgegriffen.⁴⁴⁷ Ritschl ist der Überzeugung, dass die Unterschiede zwischen Luthertum und Calvinismus durch die unterschiedlich gewichtete Bedeutung der „Disciplin“ (GP I, 63) markiert sind.⁴⁴⁸ Obgleich sich die kirchliche Disziplin nur durch die Autorität des Staates durchsetzen ließ, heben sich Luthertum und Calvinismus an dieser Stelle insofern deutlich voneinander ab, als ersteres die Disziplin als ein „Attribut der weltlichen Obrigkeit oder des Staates“ begreift und letzterer als ein „Attribut der Kirche“ (GP I, 64). Diese abweichende Situierung des Disziplingedankens führt Ritschl auf den unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrad der Bibel zurück. So konstatiert er, dass Calvin als „Mann der zweiten Generation“ in viel höherem Maße der „Autorität der heiligen Schrift“ (GP I, 71) verpflichtet war als Luther und die Lutheraner überhaupt. Diese Haltung habe jedoch dazu geführt, „daß Calvin nicht bloß den religiösen Gedankenkreis des N.T., sondern auch gewisse sociale Einrichtungen der ersten christlichen Gemeinden für dauernd verbindlich achtet, während Luther und die eigentlichen Lutheraner auf die letzteren verzichteten.“ (GP I, 71) In der Orientierung an den Vergemeinschaftungsidealen des Urchristentums sieht Ritschl eine Annäherung an die Position des heiligen Franz. Auch wenn es ihm wenig wahrscheinlich erscheint, dass der Calvinismus eine besondere Affinität zu den Lebensidealen der Franziskaner besaß (vgl. GP I, 72), prägte Calvin um der Disziplin willen „der von ihm gegründeten Richtung des evangelischen Christenthums gewisse Züge“ ein, „welche eine unverkennbare Annäherung an die mönchische Weltflucht ausdrücken.“ (GP I, 76) Zwar habe auch dieser das christliche Leben eng mit dem Berufsgedanken verbunden, aber gleichwohl in Genf eine Vergemeinschaftungsform gepflegt, „welche ziemlich in demselben Maße von der Welt abgewendet ist, wie es die franciscanischen Tertiarier sein sollten.“⁴⁴⁹ (GP I, 76, vgl. auch 96) Auf diesen Überlegungen aufbauend kommt Ritschl dann zu dem Ergebnis: „So weit also das christliche Lebensideal des Calvinismus antikatholisch 447 Es ist nicht sachgemäß, wenn Graf behauptet: „In Ritschls Bild des Protestantismus treten die innerprotestantischen Konfessionsunterschiede zwischen Reformierten und Lutheranern konsequent hinter den gemeinsamen Gegensatz gegen den römischen Katholizismus zurück.“ (Graf 1995, 236). Ritschl widmet diesen Differenzen vielmehr einen eigenen Abschnitt, vgl. GP I, 61–81. 448 „Daß in der Schätzung derselben [sc. Disciplin] zwischen der lutherischen und der reformirten Kirche Abweichungen von erheblichem Gewicht vorkommen, haben die Streittheologen des 16. Jahrhunderts sich nicht klar gemacht. Man hat aber auch in unserem Jahrhundert keine zureichende Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet.“ (GP I, 63). 449 Als Beispiel führt Ritschl an, dass bei den Tertiariern „das Verbot von Theilnahme an geselligen Vergnügungen, namentlich an Schauspielen ebenso bestimmt in Betracht“ komme, „wie im Calvinismus“ (GP I, 76).

302 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext ist, ist es aus Luther’s Anregung entsprungen; sofern es von Luther’s Auffassung abweicht, ist es auf die Linie des franciscanischen Lebensideals zurückgebogen.“⁴⁵⁰ (GP I, 76) Die von antifranzösischen Polemiken durchwobenen Ausführungen Ritschls lassen deutlich erkennen, dass er die mittelalterlich-katholische Askese des Mönchtums mit dem Protestantismus bzw. dem Calvinismus zu verknüpfen gewusst hat. Allerdings stellt er nicht den Begriff der Askese in das Zentrum seiner Überlegungen, sondern den der Disziplin, welcher jedoch an das semantische Feld des ersteren anschlussfähig ist. Gleichwohl muss an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass es nicht Ritschls Intention war, Protestantismus und Askese in ein positives Verhältnis zueinander zu setzen. Askese besitzt für ihn vielmehr den bitteren Beigeschmack mittelalterlich-katholischer Frömmigkeit, sodass es seiner Grundhaltung zuwider liefe, summarisch von einer protestantischen Askese zu sprechen. Wenn er Calvinismus und Askese miteinander verbindet, so sieht er darin zugleich eine partielle Rekatholisierung des Protestantismus und damit einen Rückfall hinter die von Luther aufgestellten sittlichen Grundlagen evangelischer Frömmigkeit. Es spricht also einiges für Treibers These, in Ritschl den unfreiwilligen Geburtshelfer der protestantischen Askese zu erblicken – wobei diese These einen gewichtigen Vorläufer hat. Kein geringerer als Troeltsch wies ausdrücklich darauf hin, dass sein Konzept der protestantischen Askese von Ritschl maßgeblich beeinflusst wurde: „Auf den Begriff des ‚asketischen Protestantismus‘ wäre ich allerdings ohne Weber nicht in größerer Klarheit gekommen, als dieser Begriff schon bei Schneckenburger und Ritschl vorbereitet ist. Man braucht übrigens die Werke dieser beiden hervorragend scharfsinnigen und kenntnisreichen Gelehrten nur genau studieren, um auf den Begriff geführt zu werden.“⁴⁵¹ Troeltsch sieht somit sowohl Schneckenburger als auch Ritschl als die beiden maßgeblichen Quellpunkte von Webers Konzept der protestantischen Askese an.⁴⁵²

450 Diese weltflüchtige und asketische Tendenz des Calvinismus wurde Ritschls Auffassung nach erst in Schottland und dann von englischen Independenten aufgenommen und verschärft, vgl. GP I, 78f. 451 Troeltsch 1923, 950f510. Es ist für Grafs Konzentration auf Schneckenburger und seine Depotenzierung der Bedeutung Ritschls für die Protestantische Ethik bezeichnend, dass er auf der einen Seite dieses Zitat Troeltschs in einer Fußnote vollständig wiedergibt, im Haupttext allerdings festhält, dass das „Entscheidende an Webers Analyse des asketischen Protestantismus bereits von Schneckenburger vorbereitet worden sei.“ (Graf 1995, 231). Ritschl findet an dieser Stelle keine Erwähnung. 452 Gleichwohl dürfen die grundlegenden Differenzen zwischen Schneckenburger und Ritschl in der Bewertung der reformierten Lehrbildung und Frömmigkeit nicht außer Acht gelassen werden. Sie betreffen vor allem die Einschätzung des Prädestinationsgedankens, den ersterer in das Zentrum seiner Analysen zu den Reformierten stellt. Ritschl hingegen warnt vor einer

3.6 Wege der Erlösung |

303

Erst mit der Religionsforschung um 1900 setzte eine Verschiebung in der Beurteilung der Askese ein. Mehr und mehr brach sich die Überzeugung Bahn, dass das Verhältnis von Askese und Protestantismus nicht notgedrungen antagonistischen Charakters sei, sondern sich durchaus auch unter positiven Vorzeichen spezifizieren lasse. Dieser Umschwung dürfte wesentlich durch die religionswissenschaftliche und -geschichtliche Erforschung nicht-christlicher Religionen mitausgelöst worden sein. Die Auseinandersetzung um den Askesebegriff war damit nicht mehr nur kontroverstheologisch akzentuiert, die Askese bzw. asketische Praktiken und Bräuche wurden vielmehr als Grundmerkmal einer Vielzahl von Religionen angesehen.⁴⁵³ Damit war die Engführung der Askese auf die katholische Frömmigkeit, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann,⁴⁵⁴ nicht mehr ohne Weiteres plausibilisierbar. Innerhalb der protestantischen Theologie deutete sich dieser Umschwung mit Reinhold Seebergs Artikel Askese (1897) an. Auch wenn Seeberg in der Askese eine Erscheinung erblickt, die in den meisten Religionen heimisch ist, konzentriert er sich in seinem Beitrag auf die Erörterung innerchristlicher Artikulationsgestalten der Askese. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Urchristentum. In diesem fänden sich „die eigentlichen Motive einer evangelischen Askese bezeichnet: Ihre Aufgabe ist: gÔmnaze seautän präj eÎsèbeian, aber die swmatik˜ gumnasÐa ist präj ælÐgon ²fèlimoj, auf die eÎsèbeia kommt es an (1 Ti 4, 7. 8). Dazu pn ktÐsma qeoÜ kalän (1 Ti 4, 4) und die Anerkennung des natürlichen Standpunkts: oÜdeÈj gˆr pote t˜n áautoÜ sˆrka âmÐshsen ‚ll€ âktrèfei kaÈ qˆlpei aÎt n (Eph 5, 29).“ (As, 136) Das urchristliche Askeseideal zeichnet sich demnach durch eine Konzentration auf die Frömmigkeitspraxis aus, die von leiblichen Übungen abgegrenzt wird und von einer positiven Beurteilung der Welt, einschließlich der natürlichen Verfasstheit des Menschen, bestimmt ist. Damit ist für Seeberg der Beurteilungsmaßstab angegeben, an dem die weitere Geschichte der christlichen Askese zu messen ist. Seine Skizze dieser Entwicklung ist auf die Unterscheidung von katholischer und protestantischer Askese fokussiert.

Überbewertung dieser Lehre. Sie sei „auch so wenig die Stammlehre oder der principielle Gedanke der Theologie Calvin’s, wofür man sie anzusehen pflegt, daß sie in seinem Unterricht in der christlichen Religion erst im dritten Buch Cap. 21–24 als Anhang zur Lehre von der Erlösung vorkommt.“ (GP I, 134) Darüber hinaus wendet er sich gegen die Position, der zufolge Calvin einen Gottesgedanken formuliert hätte, der sich durch die Attribute der Allmacht, Willkür und Gesetzlosigkeit auszeichnen würde. Ein solcher Gedanke sei dem, den Calvin im ersten Buch seiner Institutio entwickelt habe und das ganze System beherrsche, „total unähnlich“ (GP I, 134). 453 Vgl. L, 117. 119f. 129. 319f; Pfleiderer 1896, 704ff. 454 Als Beispiel sei noch Otto Zöcklers Studie Askese und Mönchtum (1877) genannt. Zöckler spricht darin von „protestantischem Antiasketismus“ (Zöckler 1897, 19) sowie vom „Ausschluss alles Asketischen durch die Reformatoren“ (Zöckler 1897, 572).

304 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext In nachapostolischer Zeit und in der Alten Kirche schälten sich die asketischen Formen heraus, die Seeberg zufolge nicht nur für das Mittelalter bestimmend waren, sondern noch im Katholizismus der Gegenwart in Geltung stehen (vgl. As, 136f). Neben den für die katholische Askese charakteristischen Leibesübungen stellt er die „Sehnsucht aus der Welt zu gehen“, den „weltflüchtige[n] Sinn“ und das „Lob der Weltflucht“ (As, 136f) heraus. Im Mönchtum erblickt er den zentralen Träger und Vermittler dieser weltflüchtigen Gesinnung, durch das „Jungfräulichkeit, strenges Fasten, das Kasteien des Leibes, Armut, Schmerzentragen“ (As, 137) zu höchsten sittlichen Pflichten wurden. Damit aber entfremdete sich der Katholizismus schon in der Spätantike vom neutestamentlichen Askeseideal. Seeberg spricht von einer „Umbildung des Begriffes Askese“ (As, 136). Diese Umbildung ist seiner Auffassung nach auf hellenistische Einflüsse zurückzuführen. Dabei denkt er an die „dualistisch asketische Stimmung“⁴⁵⁵ (As, 135) der Pythagoräer, Stoiker und Neuplatoniker, die einer Eindämmung der als widergöttlich begriffenen Sinnlichkeit Vorschub leistete. Im Mönchtum sei das „Wüten wider die Sinnlichkeit“ potenziert und zum „Beruf“ (As, 137) erhoben worden. Als Paradebeispiel mittelalterlicher Askese dient ihm das Leben Heinrich Susos (1295/97–1366) (vgl. As, 138), das er in seiner Schrift Ein Kampf um jenseitiges Leben (1889) ausführlich dokumentiert hatte.⁴⁵⁶ Die zweite wichtige Umbildung erfährt der Begriff der Askese in der Reformation. Die durch Luther initiierte Bedeutungstransformation zielt darauf, die Askese nicht mehr als Medium der perfectio christiana anzusehen. Mit letzterer ist auf der Ebene des Praktischen allein der Berufsgedanke koordiniert. Der Berufs- und der Askesebegriff bewegen sich demnach auf vollständig unterschiedlichen Explikationsebenen. Die asketischen Übungen werden nicht mehr als der göttlichen, sondern als der menschlichen Ordnung zugehörig vorgestellt. Daher besitzen sie auch keinerlei Einfluss auf den Sündenstand und repräsentieren ebenso wenig das „christlich Gute“ (As, 140). Vielmehr wird die Askese als Disziplinierungsmaß-

455 Diese Parallelisierung zwischen der hellenistischen und der mittelalterlich-katholischen Askese steht in auffälliger Nähe zu Ritschls Auffassung, dass die katholische Mystik in Teilen paganen Ursprungs sei (vgl. 3. 6. 2). Ähnlich argumentiert Seeberg schon in seiner Seuse-Arbeit, vgl. Seeberg 1889, 123f. 456 Seeberg begreift seine Studie als ein Beitrag zu der von Ritschl angestoßenen Mystikdebatte sowie als Versuch, die Differenz zwischen der mittelalterlichen und protestantischen Frömmigkeit zu spezifizieren (vgl. Seeberg 1889, VIIff). Im Grundtenor bewegt sich Seeberg in den von Ritschl gelegten Bahnen, wenn es heißt: „Aber nicht außer dem Leibe sondern im Leibe, nicht in müssigem Warten sondern im Denken und Arbeiten, nicht im ‚Jenseits‘ sondern in diesem Leben erfärt der evangelische Christ die Seligkeit des ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Deshalb bleibt ein Versuch ein jenseitiges Leben auf Erden zu füren . . . für uns ein fremdartiger unevangelischer Gedanke.“ (Seeberg 1889, 131f).

3.6 Wege der Erlösung |

305

nahme des natürlichen Menschen begriffen. „Nicht also direkt der Kampf wider die Sünde ist Absicht der Askese, sondern der Kampf gegen natürliche Anlagen, Neigungen, Tendenzen etc., die Anlaß zur Sünde geben könnten.“⁴⁵⁷ (As, 140) Seebergs Ausführungen lassen deutlich erkennen, dass der Versuch, die Askese unter den Voraussetzungen reformatorischer Theologie positiv zu konzeptualisieren und damit zugleich als medium salutis zu negieren, mit Schwierigkeiten besetzt ist. Die Integration der Askese in den Protestantismus kostet sie – zugespitzt formuliert – den Preis ihrer religiösen Entleerung. Doch jenes Versuchs wegen ist Seebergs Askese-Artikel gleichwohl von weitreichender Bedeutung. Denn er gehört in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den ersten, die sich um den Nachweis bemühen, dass diese Frömmigkeitserscheinung unter den Prämissen der reformatorischen Theologie „positiv eine Umbildung erfahren“ (As, 139) habe. Damit ist zweifelsohne ein neuer Ton innerhalb der protestantischen Askesediskussion erklungen, der Troeltsch – allen Vorbehalten und Einwänden gegenüber Seeberg zum Trotz – kaum entgangen sein dürfte. Troeltschs im Jahre 1903 publizierter Artikel zu den englischen Moralisten fragt nach der spezifischen Leistung, den diese Moralphilosophen innerhalb der Geschichte der Ethik erbracht haben. Seine These lautet, dass sie als die Begründer der modernen wissenschaftlichen Ethik angesehen werden müssen, weil sie das Autonomieprinzip in deren Mittelpunkt rückten (vgl. EM, 436f). Dem Nachweis dieser These dient der gesamte Artikel. Bevor sich Troeltsch jedoch den entsprechenden Autoren der Cambridger Schule zuwendet, setzt er sich zunächst mit Grundsätzen der katholischen und der protestantischen Ethik auseinander, um auf diesem Wege den entwicklungsgeschichtlichen Problemzusammenhang der neuzeitlichen Ethik zu verdeutlichen. Auf diese Vorgeschichte ist im Folgenden zunächst das Augenmerk zu lenken. Die Position der katholischen Ethik fasst Troeltsch wie folgt zusammen: „Das Charakteristische dieses Systems ist, daß es die ursprünglich wesentlich transzendente, rein religiös auf das Weltende und vollkommen gottinnige Leben gerichtete christliche Ethik seit dem Zurücktreten der Eschatologie und seit dem Eintritt positiver Auseinandersetzungen mit der Kulturwelt in Verbindung mit der antiken Kultur und vor allem mit ihren philosophisch-ethischen Theorien setzen lernte.“ (EM, 437) Diese Aussage hat ihren historiographischen Ort im Übergang vom Urchristen-

457 Ganz ähnlich spezifiziert Seeberg die Differenz zwischen der mittelalterlich-katholischen und der reformatorischen Askese in seiner Dogmengeschichte: „Diese Gedanken rufen einen völligen Wandel des Begriffs der Askese hervor; sie ist nicht Selbstpeinigung oder verdienstliches Werk, sondern Disciplinirung und Übung der natürlichen Kräfte, welche sie zu geeigneten Mitteln der Realisirung des christlich Guten macht“. (Seeberg 1898, 2621). Wie Ritschl verbindet auch Seeberg den Askesebegriff mit dem der Disziplin.

306 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext tum zur Alten Kirche und nimmt im Wesentlichen drei Elemente in den Blick: die transzendente Weltflüchtigkeit des Urchristentums, dessen mystische Tendenzen und – wie Troeltschs weitere Ausführungen zeigen – die Naturrechtslehre, die zu den neuralgischen Punkten seines Denkens gehört und deren grundlegende christentumsgeschichtliche Relevanz er seit seiner Dissertation zu plausibilisieren bemüht ist.⁴⁵⁸ Die Spannung zwischen religiös und nicht-religiös begründeten Elementen der christlichen Ethik auszuhalten, bezeichnet Troeltsch als das „Werk des objektiven göttlichen Kircheninstituts“ (EM, 438). Allerdings steht innerhalb der katholischen Kirche das Verhältnis von religiöser und weltlicher Dimension ethischer Reflexion in keinem symmetrischen, sondern vielmehr in einem asymmetrischen Verhältnis. Gegenüber ihrer supranaturalen Ableitung sind die naturrechtlichen Implikationen der kirchlichen Institution begründungslogisch nachgeordnnet. Die protestantische Ethik habe diesen Widerspruch zwischen beiden antithetischen Elementen der katholischen Ethik wenn auch nicht überwunden, so doch aber ermäßigt (vgl. EM, 438). Dies sei jener gelungen, weil sie die Vorstellungen von der „religiösen Vollkommenheit und der natürlich-kreatürlichen Wesensausstattung“ (EM, 439) miteinander zu verknüpfen wusste. Durch die sündentheologische Prägung der protestantischen Theologie wurde dieser Schritt in Richtung des modernen Autonomieprinzips aber wiederum eingeschränkt. Gleichwohl hatte diese prinzipielle Gleichstellung Troeltschs Ansicht nach im Effekt zu einer Anerkennung der ordnungsstiftenden Funktion des Staates geführt sowie zu der Annahme, dass sich der Glaube in den „Formen des gegebenen Lebens und Berufes . . . auswirken

458 In seiner 1901 erschienenen Rezension des Seebergschen Lehrbuchs der Dogmengeschichte (1899) lässt sich dieser Gesichtspunkt deutlich greifen: „Ich habe seiner Zeit die Bedeutung dieses Begriffes [sc. des Naturrechts] für Katholizismus und Reformatoren in meiner Schrift ‚Vernunft und Offenbarung bei J. Gerhard und Melanchthon‘ 1891 eingehend auseinandergesetzt, habe aber, soviel ich weiß, bis jetzt nur in den beiden Artikeln Gottschicks in der dritten Auflage der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche ‚Gesetz, natürliches‘ und ‚Gesetz und Evangelium‘ ernstlichere Berücksichtigung gefunden.“ (Troeltsch 1925a, 745). Dass sich Troeltsch gedanklich bereits auf dem Wege zu den Soziallehren befindet, deutet sich in dieser Rezension ebenfalls schon an: „Das Ganze bedürfte dringend einer dogmengeschichtlichen, theologische, juristische, nationalökonomische und philosophische Kenntnisse vereinigenden Monographie, die freilich von der üblichen Schablone der Auffassung der christlichen Ethik sich gründlich befreien und wie bei den metaphysischen Bestandteilen so auch bei den ethischen die Notwendigkeit der Ergänzung des Christentums aus dem antiken Kulturerbe ebenso unumwunden anerkennen als die Art der tatsächlich geschehenen Ergänzung unbefangen aufdecken müßte.“ (Troeltsch 1925a, 748) In den Soziallehren heißt es entsprechend: „Schließlich ist das Buch zur Ausführung des Programms geworden, das ich 1901 in meiner Anzeige von Seebergs ‚Lehrbuch der Dogmengesch.‘ . . . entworfen habe.“ (Troeltsch 1923, 950510) Zu Troeltschs Naturrechtstheorie vgl. Tanner 1993, 59ff.

3.6 Wege der Erlösung |

307

kann, ohne dem Werkdienst besonderer religiöser Handlungen und mönchischpriesterlicher Leistungen irgend einen Vorzug zugestehen zu müssen“. (EM, 439) Die damit angebahnte Anerkennung der in Staat und Beruf enthaltenen Naturgrundlagen wurde sodann durch eine für die weitere Entwicklung der Ethik zentrale Umstellung vertieft. Es handelt sich um die Anverwandlung der altkirchlichen Lehre von der Identität des Naturrechts mit dem Dekalog. Diese Lehre habe die erste Dekalogtafel auf die Frömmigkeit, die zweite auf die Hervorbringung natürlicher Lebensformen (Kultur, Staat) bezogen. Durch diese Verschmelzung sei es gelungen, „die Nebeneinanderstellung religiöser . . . und weltlicher Aufgaben und Institutionen“ (EM, 439) zu begründen, was zugleich zusätzliche „religiöskirchliche Sittengesetze und consilia evangelica“ (EM, 439) überflüssig machte. Gleichwohl unterlässt es Troeltsch nicht, erneut die Schranken der altprotestantischen Ethik aufzuzeigen, die darin bestünden, es nicht vermocht zu haben, die natürlichen Lebensformen als Selbstzweck anzuerkennen. Der Staat wurde zwar von „universalkirchlicher Vorherrschaft“ (EM, 440) befreit, aber nicht in das „Recht eines selbständigen, an sich notwendigen sittlichen Zweckes“ (EM, 440) gesetzt. Das gedankliche Fundament für eine „Säkularisierung und Emanzipation des Staates“ (EM, 440) habe erst Hugo Grotius (1583–1645) gelegt, „indem er die alte Kategorie der lex naturae von ihrer Gleichung mit dem Dekalog und damit von ihrer theologischen Sanktion und theologischen Orientierung befreite.“ (EM, 441) Doch gilt es diese globalere Perspektive auf die neuzeitliche Geschichte der Ethik zu verlassen und einen genaueren Blick auf die von Troeltsch verhandelten wirtschaftsethischen Implikationen zu werfen. Auch wenn Troeltsch überwiegend auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Lutheranern und den Reformierten hinweist, weichen sie seiner Auffassung nach in einem Gesichtspunkt deutlich voneinander ab, und zwar im Hinblick auf die Prädestinationslehre. Calvin habe „den Gedanken einer wirklichen Gestaltung dieser Naturgrundlagen des christlichen Lebens nach den christlichen Regeln . . . in der festen und letztlich optimistischen Leitung durch seinen Prädestinationsgedanken energisch aufgenommen.“ (EM, 439) In dieser Lehre lägen die „mächtigsten aktiven Antriebe des Handelns, insofern nicht bloß Sündentrost, sondern Perseveranz der Gnade das Ziel ist, und insofern die zusammenhängende sittliche Leistung nicht bloß elendes Stückwerk, sondern Beweis und Kundmachung des Erwähltseins ist.“ (EM, 443) Diese Überlegungen sind insofern bemerkenswert, als Troeltsch – an Schneckenburger anknüpfend – einen Zusammenhang zwischen dem Prädestinationsgedanken und der Handlungsmotivation stiftet. Die Gnadenperseveranz bildet innerhalb der reformierten Frömmigkeit ein Leitmotiv menschlichen Sichverhaltens. Dieser Konnex zwischen dem Erwählungsgedanken und der Handlungswelt zeitigte Troeltschs Ansicht nach in besonders ausgeprägter Weise auf dem Gebiet

308 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext des Wirtschaftslebens Effekte. Er bescheinigt in diesem Zusammenhang den Calvinisten eine ökonomisch liberalere Einstellung als den Lutheranern. Diese Haltung artikulierte sich in einem „wirtschaftlichen und politischen Utilitarismus“⁴⁵⁹ (EM, 444). Auf dieser Grundlage sei es den reformierten Ländern gelungen, zum „Träger der Kapitalwirtschaft, des Handels, der Industrie“⁴⁶⁰ (EM, 444) zu werden. Damit stellt Troeltsch zweifelsohne eine Verbindung zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus her. Für uns ist an dieser Stelle jedoch entscheidend, dass er im Rahmen dieser Ausführungen dem Askesebegriff keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Daher muss Grafs Feststellung, dass Troeltsch in den Englischen Moralisten „die ‚calvinistische Ethik‘ in Begriffen, die ausnahmslos auch für Webers Darstellung grundlegend sind,“⁴⁶¹ beschrieben habe, relativiert werden. Denn diese Einschätzung gilt nicht für Webers Spitzenbegriff der protestantischen Askese. Auf einen solchen weist in Troeltschs Schriften, die vor Webers Protestantischer Ethik entstanden sind, nichts hin. Das gilt auch für die im Jahre 1902 erschienenen Grundprobleme der Ethik, die Troeltsch in seinem Protestantischen Christentum (1906) als Beleg für den dort verwendeten Begriff der protestantischen Askese angibt.⁴⁶² Bei jener Untersuchung handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit der ein Jahr zuvor veröffentlichten Ethik des Marburger Systematikers Wilhelm Herrmann. In dieser Untersuchung deutet ebenfalls nichts – auch nicht in den von Troeltsch selbst in dem Beitrag von 1906 angegebenen Passagen – auf den infrage stehenden Begriff hin. Das Gegenteil ist eher der Fall. Denn er vermag – genauso wie in den Englischen Moralisten (vgl. EM, 438. 460) – in der Askese eine ausschließlich für die katholische Theologie und Frömmigkeit typische Ausdrucksgestalt zu erkennen. Sie repräsentiert für ihn – und darin geht er ganz mit Ritschl konform – eine weltindifferente bzw. -flüchtige Haltung.⁴⁶³ Blicken wir von hieraus noch einmal auf den Weg zurück, den wir zuletzt beschritten haben. Die Auseinandersetzung mit den vier Autoren zeigt, dass es der protestantischen Theologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs in die Wiege gelegt war, ein konstruktives Verhältnis zum Begriff der Askese

459 Davon unterscheidet er den „naturalwirtschaftlichen Konservatismus der Lutheraner“. 460 Auch wenn er sich mit der Exposition der reformierten Prädestinationslehre Schneckenburger annähert, sind auch diese Gedanken Troeltschs auf den übergeordneten Gesichtspunkt der Vereinbarkeit religiöser und nicht-religiöser Bereiche ethischer Reflexion ausgerichtet. 461 Graf 1988, 327. 462 Vgl. Troeltsch 2004b, 515. 463 Vgl. Troeltsch 1913a, 595. 598. Zu Troeltschs in den Soziallehren entwickeltem Askeseverständnis, vgl. Pautler 2001, 53ff.

3.6 Wege der Erlösung |

309

aufzubauen.⁴⁶⁴ An diesem Befund ändert auch Troeltschs Hinweis darauf nichts, dass der Begriff der protestantischen Askese bei Schneckenburger und Ritschl vorbereitet sei.⁴⁶⁵ Im Grunde genommen vernebelt er auf diesem Wege sogar den gerade dargelegten Sachverhalt, dass es in der protestantischen Theologie dieser Zeit wenn überhaupt dann allenfalls zaghafte Ansätze für eine positive Würdigung dieser Frömmigkeitserscheinung gegeben hat, zu denen Ritschl und Troeltsch aber gerade nicht gehörten. Trotz dieses ambivalenten Befundes ist es aber gleichwohl sachgemäß, Webers Begriff der protestantischen Askese vor dem Hintergrund der besagten Schriften verständlich zu machen. Auf welchem Wege das aber gelingen kann, sollen die folgenden Darlegungen aufzeigen. b) Webers Verständnis protestantischer Askese zeichnet sich durch eine Synthetisierung von reformatorischem Berufs- und Prädestinationsbegriff aus, wobei er den Fokus bekanntlich auf die reformierte Tradition legt. Im Folgenden ist das Augenmerk auf die Konzeptualisierung dieser Begriffe – Prädestination, Beruf und Askese – und ihr Verhältnis zueinander zu richten. Davon ausgehend soll Webers Begriff protestantischer Askese im Horizont der zuvor skizzierten vier Positionen thematisiert und profiliert werden. Weber entfaltet den Begriff protestantischer Askese bekanntlich am Beispiel der reformierten Tradition protestantischer Frömmigkeit. Deren Berufsidee erörtert Weber im zweiten Hauptteil seiner Untersuchung, wobei er sich auf den Calvinismus konzentriert und dessen Wirkungen auf den Pietismus, Methodismus und die aus dem Täufertum hervorgegangenen Sekten konzentriert. Zu den Voraussetzungen dieser Berufsidee gehört Luthers Beitrag zu diesem Thema, der im letzten Unterabschnitt des ersten Hauptteils entfaltet wird. Der Wittenberger Reformator hat die entscheidende mentalitäts- und sozialgeschichtliche Neuerung im Verständnis des Berufsbegriffs angestoßen. Es handele sich um die „sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens“ (PE, 195). Darin liege „eine der folgenschwersten Leistungen der Reformation“ (PE, 195) insgesamt.⁴⁶⁶ Aber so innovativ Luthers Leistung auch immer gewesen war, bezogen auf die „praktische Bedeutung“ (PE, 209) jener Leistung bescheinigt Weber diesem, das Mittelalter im Grunde nicht überwunden zu haben. Daran ändere auch die zunehmende Berücksichtigung des Vorsehungsgedankens nichts. Die Grenzen von Luthers Berufsbegriff lägen darin, diesen stark „traditionalistisch“ (PE, 206) eingefärbt zu haben. Der Traditionalis-

464 Darauf weist auch Treiber 1999, 248 hin. 465 Vgl. Troeltsch 1923, 950f510; vgl. auch Tyrell 1990, 141. 466 Diese Formulierung bewegt sich in auffälliger Nähe zu dem in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche erschienenen – von Weber als „[w]ertlos“ (PE, 20150) bezeichneten – Artikel Beruf, in dem es heißt: „Die ethische Würdigung des Berufs ist eine weltgeschichtlich bedeutsame Leistung der Reformation“ (Lemme 1897, 654).

310 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext mus ist in Webers Darstellung einerseits ökonomisch begründet. Die weltliche Arbeit bilde eine „unentbehrliche Naturgrundlage“ (PE, 191), die auf Bedarfsdeckung zielt (vgl. PE, 163). Andererseits verbindet Weber diesen Traditionalismus mit der religiös grundierten Fügungs- und Schickungsvorstellung (vgl. PE, 203f. 38025), die hier vor allem die Gebundenheit der Lebensführung an die traditionale, ständisch organisierte Sozialstruktur zum Ausdruck bringen soll. Damit deutet Weber indirekt Rationalitätsdefizite im Aufbau der Handlungswelt an, die sich in den Schranken einer gefügten „Lebensstellung“ (PE, 190) bewegt. Dementsprechend resümiert er: „Zu einer auf grundsätzlich neuer oder überhaupt prinzipieller Grundlage ruhenden Verknüpfung der Berufsarbeit mit religiösen Prinzipien ist Luther auf diese Art überhaupt nicht gekommen.“ (PE, 204) Die Loslösung des Berufsgedankens vom Traditionalismus sei erst dem Calvinismus gelungen, indem dieser jenen Gedanken mit der Prädestinationslehre verknüpfte.⁴⁶⁷ Weber rückt die Prädestinationslehre in den Mittelpunkt reformierter Frömmigkeit, in der die Erwählung als das höchste Gut des Glaubens gilt. Dass er sich damit zugunsten einer bestimmten Richtung der zeitgenössischen theologischen Literatur positioniert, steht ihm vor Augen. Er greift an dieser Stelle Überlegungen auf, die Reinhold Seeberg zu diesem Thema angestellt hat. Die von Weber namhaft gemachte Alternative, wonach die Prädestination „‚das wesentlichste‘ Dogma der reformierten Kirche oder ein ‚Anhängsel‘“ (PE, 249) sei, stimmt bis in die Diktion hinein mit Seebergs Dogmengeschichte überein: „Fragt man nach der Bedeutung dieser Lehre für die calvinische Theologie, so ist es weder richtig in ihr sein ‚Centraldogma‘ zu erblicken (Schweizer, Centraldogmen I, 57), noch sie für ein um der Autorität des Paulus willen der Erlösungslehre angefügtes ‚Anhängsel‘ zu erklären (Ritschl, Jahrb. f. deutsche Theol. 1868, 108)“.⁴⁶⁸ Die zuletzt zitierte Passage ist nun nicht allein deswegen wichtig, weil sie die Herkunft von Webers Kenntnis um besagte Diskussion aufdeckt. Sie ist auch insofern aufschlussreich, als sie zu erkennen gibt, dass erneut Ritschl als impliziter Gesprächspartner Webers auf den Plan tritt, der, wie wir gesehen haben, die besondere Tragweite der Prädestinationslehre für den Calvinismus unter Berufung auf dessen Namensgeber in Zweifel gezogen hatte. Darauf, dass Ritschl hier im Hintergrund steht, weisen dementsprechend auch Webers Bemerkungen hin, wonach der Prädestinationsgedanke erst in der dritten Auflage der Institutio „voll entfaltet“ (PE, 256) wäre, sowie der Hinweis auf Johannes Hoornbeeks theologia practica (1663), in der das 467 Hier stellt sich allerdings die Frage, ob sich der Fügungs- und Schickungsgedanke so klar von dem der Prädestination abgrenzen lässt, die Weber suggeriert. 468 Seeberg 1898, 397. Seeberg bezieht sich hier auf Alexander Schweizers (1808–1888) mehrbändige, dogmengeschichtliche Abhandlung Protestantische Centraldogmen (1854/1856) sowie auf Ritschls Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott.

3.6 Wege der Erlösung |

311

Lehrstück „de praedestinatione . . . direkt hinter dem Titel: De Deo“ (PE, 25912) stehe. Mit beiden Aussagen grenzt er sich vom Göttinger Theologen ab. Wenn Weber sodann festhält, dass die Frage nach der Bedeutung dieses Topos für die reformierte Kirche nicht Ausdruck von „Wert- und Glaubensurteile[n]“ sein dürfe, sondern auf „historische Zurechnungsurteile“ (PE, 249f) zurückgeführt werden müsse, so ist diese Position wiederum gegen Ritschl gerichtet, der in der Protestantischen Ethik als das Paradebeispiel eines gleichsam werturteilsbelasteten Wissenschaftlers zu stehen kommt (vgl. PE, 248f4). Wie schon angedeutet wurde, befindet sich der Berufsbegriff in Webers Lesart des reformierten Protestantismus in einem Ableitungsverhältnis zum Prädestinationsgedanken und steuert auf den Gedanken der Askese zu. Die entsprechenden Ausführungen des Nationalökonomen umfassen verschiedene Argumentationsstränge, wobei hier zwei herauszustellen sind. Auf der einen Seite reflektiert Weber das Verhältnis von Prädestinations- und Berufsbegriff im Horizont des Individualitäts- und Gemeinschaftsgedankens (vgl. PE, 259–270).⁴⁶⁹ Hier spielt der Askesebegriff allerdings noch keine Rolle. Diesem wendet sich Weber erst in einem zweiten, das Verhältnis von Berufsbegriff und Prädestinationslehre vertiefenden Reflexionsgang (vgl. PE, 270ff), auf den wir uns im Folgenden konzentrieren werden. Weber geht zunächst von der Frage aus: „wie wurde diese Lehre [sc. der Prädestination] ertragen in einer Zeit, welcher das Jenseits nicht nur wichtiger, sondern in vieler Hinsicht auch sicherer war, als alle Interessen des diesseitigen Lebens.“ (PE, 270–272). Mit dieser wiederum den Bereich psychischer Dispositionen religiös bestimmter Lebensführung berührenden Problematik nimmt Weber das Thema der Heilsgewissheit bzw. -ungewissheit ins Visier, das im Mittelpunkt reformierter

469 Webers Auffassung nach bewirkt die calvinistische Prädestinationslehre einen Individualisierungsschub, der sich in Gestalt einer religiös gebotenen Selbstisolation vollziehe. Das grundsätzliche Misstrauen in die Gesellschaft und die Konzentration auf das Gottesverhältnis des je Einzelnen evoziere jedoch die Frage, wie es unter diesen Voraussetzungen möglich gewesen sei, von der „Überlegenheit des Calvinismus in der sozialen Organisation“ (PE, 266) überzeugt zu sein. Die Antwort auf diese Frage führt auf das Weltverständnis der Calvinisten. Weber führt aus, dass sie der Ansicht seien, die Welt stehe im Dienst der Herrlichkeit Gottes und müsse den göttlichen Geboten entsprechend gestaltet werden. Das aber sei nicht anders möglich, als sich ihr gegenüber den göttlichen Geboten entsprechend zu verhalten, was in diesem Falle die Orientierung an dem Gebot der Nächstenliebe bedeute. Für Webers weitere Argumentation ist es nun entscheidend, das weltliche Berufsleben als das zentrale Medium zu bestimmen, in dem dieses sozialtheoretisch spezifizierte Weltverhältnis zur Darstellung kommt. „Die soziale Arbeit des Calvinisten in der Welt ist lediglich Arbeit ‚in majorem gloriam Dei‘. Diesen Charakter trägt auch die Berufsarbeit, welche im Dienste des diesseitigen Lebens der Gesamtheit steht.“ (PE, 268).

312 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext Frömmigkeit stehe.⁴⁷⁰ Insofern allein die Gewissheit der Erwählung jene Lehre erträglich mache, sei für den reformierten Protestantismus die Frage nach der „Erkennbarkeit des Gnadenstandes“ bzw. das Bedürfnis, „sichere Merkmale“ (PE, 273) des Erwähltseins angeben zu können, unumgänglich. Die Antwort bzw. die Befriedigung liegt allen voran im Beruf. Denn vom Standpunkt calvinistischer Frömmigkeit aus betrachtet, verkörpere die „rastlose Berufsarbeit“ (PE, 276) das geeignetste Mittel, sich seiner Erwählung zu vergewissern und das bedeutet zugleich, jene Lehre erdulden zu können.⁴⁷¹ Weber spezifiziert den Beruf als Ausdruck der fides efficax, die wiederum als „gottgewirkt“ (PE, 282) vorgestellt wird. Tritt die göttliche Herkunft des Berufs in das Bewusstsein des Gläubigen, „erlangt er jenes höchste Gut, nach dem diese Religiosität strebt, die Gnadengewißheit.“ (PE, 282f) Die Einsicht in diesen Begründungszusammenhang leistet einer Kultur der „systematischen Selbstkontrolle“ (PE, 285) Vorschub, die auf die Prüfung des Gnadenstandes zielt. Doch weder mit der Rastlosigkeit noch mit der permanenten Kontrolle des Berufs ist die für Weber entscheidende Pointe des reformierten Berufsbegriffs bezeichnet. Diese liegt vielmehr darin, rational zu sein. Die Rationalität des Berufs mache den „spezifisch asketischen Zug“ (PE, 290) reformierter Frömmigkeit aus. Mit dem Rationalisierungsbegriff, den Weber in der Protestantismusstudie im Anschluss an Werner Sombart eingeführt hatte (vgl. PE, 175f), ist das spezifische Charakteristikum des asketischen Protestantismus bezeichnet. Mit diesem Begriff hebt er aber keineswegs auf ökonomische Sachverhalte ab. Vielmehr geht es ihm in erster Linie um den Gedanken einer formalen Rationalisierung und Methodisierung der Lebensführung bzw. des „Gesamtlebens“ (PE, 304. 30574). Die menschliche Lebensführung zerfällt nicht in einzelne Bereiche, die unverbunden nebeneinander stehen. Vielmehr bildet das Leben des Frommen ein Ganzes und zusammengehalten wird es mittels der ihm eingestifteten „asketischen Rationalisierung“ (PE, 30574). Dass mit dieser Bestimmung die Grenzen zwischen der mittelalterlich-katholischen und der reformierten Askese teilweise verschwimmen, steht für Weber außer Frage und er arbeitet die Konvergenzen deutlich heraus.⁴⁷² Schlussendlich betont er

470 Vgl. Graf 1995, 224f. 471 Diesen Gedanken führt Weber dann im Anschluss an „Schneckenburgers schöne[n] Vorlesungszyklus“ (PE, 276) aus und grenzt ihn seiner Vorlage entsprechend vom mystischquietistischen Charakter lutherischer Frömmigkeit ab. 472 Weber benennt eine „innere Verwandtschaft“ (PE, 290) zwischen beiden Erscheinungsformen der Askese. Um deren Übereinstimmungen zu illustrieren, geht er zunächst auf das Askeseverständnis des Katholizismus ein und schält als dessen Kern eine „systematisch durchgebildete[] Methode rationaler Lebensführung“ (PE, 290) heraus. Sie wurde in den Klöstern kultiviert, worauf die „welthistorische Bedeutung“ (PE, 290) des abendländischen Mönchtums beruhe. Dessen

3.6 Wege der Erlösung |

313

aber die Differenzen, die vor allem im weltflüchtigen Charakter der mittelalterlichkatholischen Askese begründet liegen (vgl. PE, 294f). Dieser Position habe zuerst Luther und dann Calvin den Riegel vorgeschoben (vgl. PE, 295f). Weber unterscheidet an dieser Stelle nicht zwischen beiden Reformatoren, sondern sieht hierin vielmehr eine Leistung der Reformation insgesamt, die Askese vom Ideal mönchischer Lebensführung isoliert und mit dem weltlichen Berufsleben verknüpft zu haben.⁴⁷³ Dieser Gesichtspunkt ist von weitreichender Bedeutung, weil sich damit die Rationalisierung der Lebensführung in den innerweltlichen Bahnen

Anspruch, „Handlungen beständiger Selbstkontrolle und der Erwägung ihrer ethischen Tragweite zu unterstellen“ (PE, 290), diene der Überwindung der natürlichen Verfasstheit des Menschen und diese Überwindung wiederum der Arbeit am Reich Gottes. Genau in diesem Punkt der methodisch gesteuerten Rationalisierung der Lebensführung konvergieren mittelalterlich-klösterliche und protestantische Askese. „Jene Systematisierung der ethischen Lebensführung nun, welche die Askese des reformierten Protestantismus mit den rationalen Formen des katholischen Ordenslebens gemeinsam hat, tritt schon rein äußerlich in der Art zutage, wie der ‚präzise‘ reformierte Christ seinen Gnadenstand fortlaufend kontrolliert.“ (PE, 300) Doch sind die Grenzen zwischen den Konfessionen nicht allein im Hinblick auf den Effekt, den die Askese auf die jeweilige Organisation der Handlungswelt hat, fließend. Gemeinsamkeiten existieren auch in der Bestimmung des Weltverhältnisses. Denn die katholische Askese sei keineswegs auf das Klosterleben beschränkt geblieben. Als Beispiel dient Weber – und damit greift er vermutlich auf Ritschls Pietismusgeschichte zurück – der Tertiarierorden, mit dem ein „mächtiger Versuch in der Richtung asketischer Durchdringung des Alltagslebens“ (PE, 294) sichtbar werde. – Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass Julius Wellhausen in seinen Prolegomena bezogen auf die Geschichte Israels und des Judentums sachlich ähnliche Überlegungen angestellt hat. Im Zuge seiner Erörterungen zur Durchsetzung der Theokratie im Judentum hält er fest: „Wenn nun das Wertvolle bei den heiligen Darbringungen nicht in ihnen selber, sondern in dem Gehorsam gegen Gottes Vorschriften lag, so ward der Schwerpunkt des Cultus aus ihm selber heraus und in ein fremdes Gebiet, das der Moral, hinein verlegt. Die Folge war, dass die Opfer und Gaben zurücktraten hinter ascetischen Leistungen, die mit der Moral in noch engerer und einfacherer Verbindung standen. Vorschriften, die ursprünglich grösstenteils behufs der Heiligung der Priester zu ihren gottesdienstlichen Funktionen gegeben waren, wurden auf die Laien ausgedehnt; die Beobachtung dieser Gebote der leiblichen Reinigkeit war von weit durchgreifenderer Wichtigkeit im Judentum als der grosse öffentliche Cultus und führte auf dem geradesten Wege dem theokratischen Ideal der Heiligkeit und des allgemeinen Priestertums zu. Das ganze Leben ward in eine gewiesene heilige Bahn eingeengt, indem man dadurch, dass es stets ein göttliches Gebot zu erfüllen galt, abgehalten wurde seinen eigenen Herzensgedanken und -gelüsten nachzuschweifen. Auf der anderen Seite wurde durch diesen kleinen, immerdar in Anspruch nehmenden Privatcultus das Sündengefühl des Einzelnen wach und rege gehalten. Der grosse Patholog des Judentums hat ganz Recht: in der mosaischen Theokratie ist der Cultus zu einem pädagogischen Zuchtmittel geworden.“ (Wellhausen 1883, 450f). 473 „Dem Herausfluten der Askese aus dem weltlichen Alltagsleben war ein Damm vorgebaut und jene leidenschaftlich ernsten innerlichen Naturen, die bisher dem Mönchtum seine besten Repräsentanten geliefert hatten, waren nun darauf hingewiesen, innerhalb des weltlichen Berufslebens asketischen Idealen nachzugehen.“ (PE, 295f).

314 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext des Berufslebens realisierte. Protestantische Askese ist prinzipiell innerweltliche Askese. Gleichwohl bleibt Weber bei dieser Sicht der Dinge nicht stehen. Vielmehr ergänzt er, dass der Calvinismus gegenüber dem Luthertum noch etwas „Positives“ hinzugefügt habe: „den Gedanken der Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben“ (PE, 296). Der mit der Prädestinationslehre koordinierte und auf das Berufsleben bezogene Bewährungsgedanke nimmt in Webers Ausführungen insofern eine Sonderstellung ein, als er mit diesem den Motivationsgrund protestantischer Askese bestimmen zu können glaubt. Der Bewährungsgedanke ist der „positive[] Antrieb zur Askese“ (PE, 296) und damit zur Rationalisierung und Methodisierung der Lebensführung im Medium des Berufs. Erst mit dem Bewährungsgedanken ist der Schlusspunkt von Webers Argumentationsgang erreicht. Dieser hatte seinen Anfang bei der Prädestinationslehre genommen, die das Problem der Gnadengewissheit aufwarf, dessen Lösung mit dem Berufsbegriff bezeichnet ist. Dieser realisiert sich wiederum – und das macht seine spezifische Pointe innerhalb des reformierten Protestantismus aus – in Gestalt einer innerweltlichen „asketischen Rationalisierung des Gesamtlebens“ (PE, 30574), das als Gradmesser des Gnadenstandes einer permanenten Kontrolle unterzogen wird. In der jenseitsbezogenen, aber gleichwohl innerweltlichen Rationalisierung der Lebensführung bündelt sich die Berufsvorstellung des asketischen Protestantismus. Der durch die Prädestinationslehre bewirkte Antrieb protestantischer Askese besteht schließlich in dem Willen, sich im Beruf zu bewähren. Im Bewährungsgedanken findet Webers Ermittelung der Motive, die auf den Prädestinationsglauben zurückgeführt werden können und die psychischen Grundlagen der rationalisierten Askese des Berufslebens bilden, ihren Abschluss. Doch ist dieser Argumentationsgang nicht allein für das Verständnis von Webers Begriff protestantischer Askese entscheidend. Vielmehr besitzt er zugleich eine grundlegende Bedeutung für die historische Erklärung der dem modernen kapitalistischen Geist eingestifteten Irrationalität: das Empfinden, dem Beruf verpflichtet zu sein. Die Herkunft der Lebens- und Berufsauffassung, die der Rationalität der Erwerbswirtschaft angepasst ist, aufzudecken, bildet – wie bereits bemerkt wurde – „das eigentlich zu Erklärende.“ (PE, 152) Auf den letzten Seiten seiner Abhandlung bemerkt Weber demgemäß: „Ein konstitutiver Bestandteil des kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist – das sollten diese Darlegungen erweisen – geboren aus dem Geist der christlichen Askese.“ (PE, 420) Dass Weber davon ausgeht, dass sich der moderne Kapitalismus längst seiner religiösen

3.6 Wege der Erlösung |

315

Wurzeln entledigt habe, wird von ihm mehrfach betont.⁴⁷⁴ Die entsprechenden Formulierungen Webers sind vielfach besprochen und diskutiert worden. Daher ist es hier nicht notwendig, sie an dieser Stelle weiter zu verfolgen. Vielmehr soll abschließend der Versuch unternommen werden, ein Resümee im Hinblick auf die Rezeptionsbezüge von Webers Askeseverständnis zu ziehen. Dass sich Weber einer Vielzahl von Motiven bedient, die Ritschl in seiner Geschichte des Pietismus entfaltet hat, liegt offen zutage. Daher bestätigen die hier angestellten Überlegungen Treibers These, in Ritschl den unfreiwilligen Geburtshelfer der protestantischen Askese zu sehen. Auch wenn es nicht in dessen Absicht lag, muss der Göttinger Theologe als einer der entscheidenden Impulsgeber dafür angesehen werden, dass der Zusammenhang zwischen dem ursprünglich mittelalterlich-katholisch geprägten Askesebegriff und dem Protestantismus überhaupt zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen werden konnte. Darauf baut Webers Protestantische Ethik unverkennbar auf. Gleichwohl bleiben Fragen offen, die das gedankliche Zentrum von Webers Begriff der protestantischen Askese betreffen, das in der Verknüpfung von Prädestinations- und Berufsgedanken besteht. Denn eine solche Verknüpfung der drei infrage stehenden Begriffe – Askese, Beruf und Prädestination – ist innerhalb der damaligen Forschungsliteratur in dieser pointierten Weise – soweit ich sehe – nicht anzutreffen. Zwar hat Schneckenburger in der calvinistischen Prädestinationslehre ein zentrales Handlungsmotiv gesehen, Ritschl den Zusammenhang von mittelalterlich-katholischer Askese und calvinistischer Disziplin gestiftet, Seeberg einen ansatzweise positiv konnotierten Begriff von protestantischer Askese projektiert und Troeltsch die Verbindung von calvinistischer Prädestinationslehre und ökonomischem Handeln formuliert. Eine Verbindung aller dieser Elemente findet sich indes bei keinem von ihnen. Insofern hat Weber auf der einen Seite recht, mit seinen Ausführungen zum asketischen Protestantismus keine „‚Originalität‘“ (PE, 2453) beanspruchen zu können. Die von ihm herangezogenen Theorieelemente finden sich sämtlich in der Literatur diskutiert und sind insofern aus zweiter Hand. Deren Verknüpfung wurde jedoch vermutlich von Weber selbst geleistet, wodurch es ihm gelang, den Begriff der Askese neu zu konturieren. Das führt zu einem weiteren Gesichtspunkt, auf den bereits der Oxforder Historiker Peter Ghosh hingewiesen hat. Ghosh geht zwar ebenso wie Graf und Treiber davon aus, „that a right understanding of the text demands an awareness of the theological tradition from which

474 „Nur Gottes Ruhm und die eigene Pflicht, nicht die Eitelkeit des Menschen, ist hier bei den Puritanern das Motiv, und heute: nur die Pflicht gegen den ‚Beruf‘.“ (PE, 40865).

316 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext so much of it derives.“⁴⁷⁵ Gleichwohl bemüht er sich weniger um eine Entschlüsselung des theologiegeschichtlichen Hintergrunds der Protestantischen Ethik. Vielmehr stellt sich Ghosh die Frage, wie Weber so unterschiedliche Autoren wie Schneckenburger, Ritschl und Troeltsch – und wir können ergänzen Seeberg – in einem Text heranziehen konnte.⁴⁷⁶ Einerseits bescheinigt er Weber ein instrumentelles Interesse an der von ihm rezipierten Literatur. Andererseits stellt er heraus, Weber „was a secular not a Christian thinker“⁴⁷⁷ und vor diesem Hintergrund müsse „the coolness und absolute detachment of his handling of theological material“⁴⁷⁸ begriffen werden. Das Abrufen des Säkularisierungsparadigmas bzw. die mehrfache Betonung, dass Weber nicht religiös gewesen wäre, greift jedoch zu kurz, um das intellektuelle Profil der Protestantismusstudie Webers im Allgemeinen sowie seines Askeseverständnisses im Besonderen auf den Begriff zu bringen. Versucht man die Verbindung jener drei Begriffe als auch den auf den ersten Blick eigenwilligen Umgang Webers mit der Forschungsliteratur verständlich zu machen, ist es vielmehr hilfreich, sein Methodenideal der Idealtypenbildung zu berücksichtigen. Denn der Begriff protestantischer Askese bildet das Resultat eines diesem Ideal entsprechenden Verfahrens, in dem aus Gründen der Heuristik bestimmte Elemente der – im Falle Webers v. a. aus zweiter Hand vermittelten – historischen Wirklichkeit herausgehoben und einseitig gesteigert werden. Im Falle der Askese handelt es sich bei diesen Elementen aber nicht allein um den Gedanken der Prädestination und um den des Berufs. Hinzu tritt vielmehr als das Spezifikum des asketischen Zugs calvinistisch-puritanischer Frömmigkeit der auf die Lebensführung bezogene und Sombart entlehnte Rationalisierungsgedanke. Lässt sich Webers protestantische Askese also nicht mit der damaligen Forschungsliteratur verrechnen, so verweist dieser Befund unmittelbar auf Webers methodisches Verfahren idealtypischer Begriffsbildung. Damit wenden wir uns dem Asketen der Religiösen Gemeinschaften zu. c) In seiner systematischen Religionssoziologie führt Weber die Askese zunächst unter den gleichen Prämissen ein wie die oben bereits diskutierte Mystik. Er betrachtet sie als eine besondere Heilsmethodik, die mit dem Ziel verbunden ist, sich seines Heilsstandes auf Dauer bewusst sein zu können. In diesem extraordinären Ziel der Bewährung der certitudo salutis liegt zugleich der Grund dafür, dass es sich bei der Askese auch um eine Form der „Virtuosenethik“ (RG, 318) handelt. Im Hinblick auf den Effekt, den die Askese auf die Lebensführung hat, bildet sie jedoch das Gegenstück zur Mystik. Der Asket begreift sich nicht als das 475 476 477 478

Ghosh 2008a, 196. Ghosh 2008a, 198. Ghosh 2008a, 198. Ghosh 2008a, 199.

3.6 Wege der Erlösung |

317

„Gefäß“ (RG, 326) des Göttlichen, sondern – ähnlich wie der Prophet – als dessen „Werkzeug“ (RG, 320, vgl. auch RG, 314).⁴⁷⁹ Er besitzt die „Gabe aktiven ethischen Handelns“ (RG, 320), das von dem Bewusstsein begleitet wird, dass hier Gott am Werke ist. Im Anschluss an diese allgemeinen Bestimmungen zum Askesebegriff nimmt Weber eine Binnendifferenzierung desselben vor. Es handelt sich um die berühmte Unterscheidung von „weltablehnende[r]“ und „innerweltliche[r]“ (RG, 321) Askese.⁴⁸⁰ Vor dem Hintergrund der Protestantismusschrift lassen sich die gedanklichen Wurzeln dieser Differenz unschwer in der Unterscheidung zwischen der mittelalterlich-katholischen und protestantischen Askese identifizieren. Doch nicht allein diese Leitdifferenz verweist auf jene Studie zurück, auch die im folgenden vorzustellenden Zusatzbestimmungen zeigen deutlich an, dass Webers in den Religiösen Gemeinschaften expliziertes Askeseverständnis auf konzeptionellen Grundentscheidungen aufbaut, die in jener Schrift getroffen wurden. Wie in der Protestantischen Ethik motiviert Weber auch in der Religionssystematik den Askesegedanken über den der Welt. Die Welt ist der Ort der „Bewährung der asketischen Gesinnung“ (RG, 322) und diese Bewährung in der Welt, die Weber erneut unter dem Blickwinkel der Sozialbeziehungen spezifiziert (vgl. RG 320), vollzieht sich wiederum im Beruf. Den Berufsgedanken differenziert er in unterschiedliche Dimensionen der Lebensführung aus, die allesamt dem Kriterium der Rationalität unterliegen. Im Hinblick auf die Ökonomie ist der Beruf eine „rational ethisch geordnete, in strenger Legalität geführte Wirtschaft“, bezogen auf die Gesellschaft „die rational nüchterne Mitarbeit an den durch Gottes Schöpfung gesetzten sachlichen Zwecken der rationalen Zweckverbände der Welt“, hinsichtlich der Familie „‚eine nüchterne Kindererzeugung‘“ (RG, 322). Seinen Ort habe der Beruf schließlich im „zweckvoll geordneten Staate“ und in der „rationalen Ordnung des Gesetzes“ (RG, 322).⁴⁸¹ Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen fasst Weber sein Verständnis des innerweltlichen Asketen zusammen. Dieser sei „ein Rationalist sowohl in dem Sinn rationaler Systematisierung seiner eigenen persönlichen Lebensführung, wie in dem Sinn der Ablehnung alles ethisch Irrationalen,

479 Vgl. auch ZB, 482. Wenn Karl Holl in seiner Interpretation der Ethik Luthers betont, dass sich nach Auffassung des Reformators der gerechtfertigte, gläubige Mensch als „Werkzeug Gottes“ verstehe, richtet er sich indirekt gegen Webers, auf die protestantisch-reformierte Askese gemünzte Verwendung dieses Bildes (Holl 1923a, 185). 480 In der Zwischenbetrachtung stellt Weber der innerweltlichen die „weltflüchtige Askese“ (ZB, 482) gegenüber. Der Begriff der Weltablehnung ist dort der Oberbegriff sowohl für die Mystik als auch für die Askese, die jeweils beide innerweltliche und weltflüchtige Formen umfassen. 481 Diese Bestimmungen sind in der Protestantischen Ethik bereits präfiguriert, vgl. PE, 270. 366– 420.

318 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext sei es Künstlerischen, sei es persönlich Gefühlsmäßigen, innerhalb der Welt und ihrer Ordnung.“ (RG, 323) So rational die methodisch durchorganisierte Lebensführung des innerweltlichen Asketen auf der einen Seite ist, so wenig reflektiert dieser auf der anderen Seite die über die Berufspflicht hinausgehende Bedeutung seines Tuns. Die Selbstverpflichtung des Asketen gegenüber dem eigenen Beruf wird von der Frage nach dem Sinn der Berufsausübung abgekoppelt.⁴⁸² Berühmt ist Webers Formulierung, dass der innerweltliche Asket von einer Art „glücklicher Borniertheit für jede Frage nach dem ‚Sinn‘ der Welt geschlagen“ ist, die im Calvinismus mit der Annahme der „absoluten Unerforschlichkeit der Motive“ (RG, 328) Gottes korrespondiert.⁴⁸³ Der Asket versteht sich als Werkzeug und Vollstrecker des unerforschlichen göttlichen Willens. Webers Verständnis innerweltlicher Askese baut offenkundig auf den Bestimmungen der protestantischen Askese auf. Eine markante Abweichung lässt sich jedoch in der Verwendung des Prädestinationsgedankens identifizieren. Denn diesen grenzt Weber in den Religiösen Gemeinschaften vom Begriff der innerweltlichen Askese ab. Das heißt nicht, dass er diese Verbindung verabschiedet hätte. Vielmehr kommt es zu einer eigenwilligen Akzentverschiebung. In seiner Typologie der Heilswege verknüpft Weber den Erwählungsgedanken mit einer Erlösungsvorstellung, in der das Heil des Menschen eine Fremdleistung darstellt (vgl. RG 340ff). Damit gehört die Prädestinationslehre einem anderen Grundtypus von Erlösungswegen an als die Askese, die er – wie wir gesehen haben – als eine Form religiöser Selbstvervollkommnung ausweist. Dieser Trennung von Askese- und Prädestinationsbegriff zum Trotz liegen die Verbindungslinien des letzteren zur Protestantischen Ethik offen zutage. So ruft Weber erneut die Vorstellung eines überweltlichen, unberechenbaren Gottes auf und erblickt in diesem wiederum eine Voraussetzung des Prädestinationsgedankens (vgl. RG, 362f). Darüber hinaus dienen ihm der Calvinismus und der Puritanismus als Paradebeispiele eines auf dem Erwählungsgedanken ruhenden Frömmigkeitstyps (vgl. RG, 362ff), wobei er Calvin in diesem Zusammenhang durchaus mit Augustinus und Mohammed zu verbinden weiß (vgl. RG, 363). Schließlich verknüpft er den „Stolz der prädestinierten Heilsaristokratie“ (RG, 367) sowohl mit dem Berufsbegriff als auch mit der (puritanischen) Askese. Wenn in dem in der Protestantischen Ethik entfalteten Begriff der Askese die Grundlage für die in der Religionssystematik erfolgte Expli-

482 In der Protestantischen Ethik reflektiert Weber diesen Aspekt unter dem Blickwinkel der Irrationalität der Berufspflicht, vgl. PE, 171. 177. 483 Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in der Zwischenbetrachtung: „Mit jener ‚glücklichen Borniertheit‘, welche man dem typischen Puritaner zuzuschreiben pflegt, vollstreckt die innerweltliche Askese die in ihrem letzten Sinne ihr verborgenen positiven göttlichen Ratschlüsse, wie sie in den von Gott verfügten rationalen Ordnungen des Kreatürlichen vorkommen“ (ZB, 483).

3.6 Wege der Erlösung |

319

kation sowohl des Askesebegriffs als auch des Prädestinationgedankens erkannt werden kann, lässt sich der zunächst irritierende Befund verständlich machen, dass beide Größen auf der einen Seite unterschiedlichen Typen von Heilswegen zugeordnet werden (Erlösung als Eigen- und als Fremdleistung) und auf der anderen Seite nicht randscharf voneinander abgegrenzt, sondern vielmehr durch gemeinsame Schnittmengen gekennzeichnet sind. Damit ziehen wir ein Resümee, in welchem einerseits die hier angestellten Überlegungen noch einmal gebündelt werden sollen. Andererseits gilt es darüber hinausgehend in Gestalt eines kurzen Ausblicks auf die herausragende religions- und kulturgeschichtliche Relevanz hinzuweisen, die Weber der Entstehung der protestantischen bzw. innerweltlichen Askese beimisst. Obgleich Webers Überlegungen zur innerweltlichen Askese sowie zur Prädestinationslehre ihrem Anspruch nach nicht auf den Bereich der protestantischen Askese reduziert werden können, ist es gleichwohl mit Händen zu greifen, dass sie auf der Argumentation der Protestantischen Ethik aufbauen. Dieser Gesichtspunkt ist nun insofern von weitreichender Bedeutung, als Weber damit Theorieelemente in seine Religiösen Gemeinschaften übernimmt, die den Debatten der protestantischen Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammen. Diese besondere Prägung gibt diese Schrift allerdings nur noch ansatzweise zu erkennen. Für diese Abhandlung ist vielmehr die hier nur angedeutete Variabilität im Umgang mit den Elementen signifikant, die für Webers Verständnis der protestantischen Ethik konstitutiv sind (Askese, Beruf, Prädestination). Dieser Befund verweist wiederum auf Webers Verfahren der idealtypischen Begriffsbildung, das ihm einen gewissen Spielraum im Umgang mit besagten Elementen eröffnet. Die oftmals überraschende Verknüpfung ganz unterschiedlicher Personennamen und Religionen ist nicht zuletzt auch diesem Methodenideal geschuldet. Dass die innerweltliche Askese für Weber einen enorm hohen Stellenwert innerhalb seiner Religionssoziologie besitzt, ist in besonderem Maße ihrer – von ihm selbst herausgearbeiteten – Anschlussrationalität an den Geist des Kapitalismus geschuldet. Diesen Gesichtspunkt gilt es abschließend in kultur- und religionsgeschichtlicher bzw. genauer in entwicklungstypologischer Perspektive zu umreißen. Weber ist – wie wir gesehen haben – der Auffassung, dass sich die Religion in ihren Anfängen durch eine strikte Diesseitsorientierung auszeichnet.⁴⁸⁴ Der dafür veranschlagte Interpretationsbegriff ist der des „praktischen rechnenden Rationalismus“ (RG, 156), den er bereits in der Protestantischen Ethik verwendet hatte (vgl. PE, 175ff). Webers Rede vom praktischen Rationalismus rekurriert auf ein Handeln, das

484 Vgl. 3. 3. 1.

320 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext im Interesse einer innerweltlich orientierten Lebenssteigerung vollzogen wird.⁴⁸⁵ Die Geschichte der Religionen zeichnet sich nun aber – in Webers Rekonstruktion – durch eine gegenläufige Bewegung aus. Der Prozess der Rationalisierung religiöser Vorstellungen und die Orientierung der Lebensführung an diesen geht seiner Ansicht nach mit einem zunehmenden Verlust jener praktischen Rationalität einher.⁴⁸⁶ Am Maßstab der Letzteren gemessen, führt der Rationalisierungsprozess der Religionen zu einer Irrationalisierung der Lebensführung.⁴⁸⁷ In dieser historisch ausgerichteten Entwicklungstypologie nimmt die innerweltliche Askese eine Ausnahmestellung ein, weil sie das angedeutete Kontinuum gleichsam unterbricht. Denn die auch für sie signifikante strikte Jenseitsorientierung führt bei ihr im Effekt zu einer Lebensführung im Sinne des praktischen Rationalismus. „Wo dagegen eine innerweltliche Erlösungsreligion spezifisch asketische Züge trug, hat sie stets den praktischen Rationalismus im Sinn der Steigerung des rationalen Handelns als solchen, der methodischen Systematik der äußeren Lebensführung und der rationalen Versachlichung und Vergesellschaftung der irdischen Ordnungen, seien dies Mönchsgemeinschaften oder Theokratien, gefordert.“ (RG, 332). Die Abweichung der innerweltlichen Askese vom religionsgeschichtlichen Konstruktionsschema – Rationalisierung religiöser Vorstellungen auf der einen und Irrationalisierung der Lebensführung auf der anderen Seite – lässt sich aber nicht allein mit Verweis auf die Handlungsdimension verdeutlichen. Sie bestätigt sich gleichermaßen im Bereich der religiösen Vorstellungswelt. Denn es ist kein Zufall, dass der praktische Rationalismus der protestantischen bzw. innerweltlichen Askese mit dem Gedanken eines irrationalen Schöpfergottes verknüpft wird, wodurch das zuletzt benannte Schema geradezu unter umgekehrten Vorzeichen

485 In der Protestantischen Ethik heißt es, dass „unter ‚praktischem Rationalismus‘ jene Art Lebensführung“ zu verstehen sei, „welche die Welt bewußt auf die diesseitigen Interessen des einzelnen Ich bezieht“ (PE, 177). Vgl. auch KT, 356. 486 Auf diesen Gesichtspunkt konzentriert sich die Weberinterpretation Falk Wagners, vgl. Wagner 1991, 182ff. 487 „Denn der ‚Sinn‘ des spezifisch religiösen Sichverhaltens wird, parallel mit jener Rationalisierung des Denkens, zunehmend weniger in rein äußeren Vorteilen des ökonomischen Alltags gesucht und insofern also das Ziel des religiösen Sichverhaltens ‚irrationalisiert‘, bis schließlich diese ‚außerweltlichen‘, d. h. zunächst: außerökonomischen Ziele als das dem religiösen Sichverhalten Spezifische gelten.“ (RG, 156f) Eine ähnliche Formulierung findet sich in Webers Kategorienaufsatz: „An magischen Vorstellungen orientiertes Handeln beispielsweise ist subjektiv oft weit zweckrationaleren Charakters als irgendein nicht magisches ‚religiöses‘ Sichverhalten, da die Religiosität ja gerade mit zunehmenderer Entzauberung der Welt (subjektiv) zweckirrationalere Sinnbezogenheiten (‚gesinnungshafte‘ oder mystische z. B.) anzunehmen genötigt ist.“ (K, 433).

3.7 Zusammenfassung |

321

zu stehen kommt. Die Rationalisierung des diesseitigen Lebens geht – überspitzt formuliert – auf Kosten der Rationalität religiöser Vorstellungen.⁴⁸⁸

3.7 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden – ausgehend von allgemeineren Überlegungen zur Anlage und zum Einsatzpunkt der Religiösen Gemeinschaften – ausgewählte Grundbegriffe derselben forschungsgeschichtlich kontextualisiert. Auf diesem Wege ist es gelungen, einerseits das intellektuelle Feld abzustecken, auf dem sie vermutlich entstanden sind. Andererseits wurden sie damit zugleich in inhaltlicher Perspektive konkretisiert. Der bisherige Stand der Forschung ist dabei teils bestätigt, teils erweitert, teils korrigiert worden. Schon im Hinblick auf die religionsethnologischen Begriffe Webers, die in seine Überlegungen zu den archaischen Religionen einfließen, konnte ein Verdacht Stefan Breuers erhärtet werden, dass sie kaum auf eine intensive Beschäftigung mit den Theoretikern des Präanimismus, Animismus etc. schließen lassen. Wenn die Herausgeber des Sammelbands zu Max Webers ‚Religionssystematik‘ (2001) konstatieren, dass die religionssoziologischen Begriffe Webers „ohne die Vorarbeit der zeitgenössischen vergleichenden Religionswissenschaft undenkbar gewesen“⁴⁸⁹ sei, so ist diese Feststellung zu relativieren, zumindest was die Annahme betrifft, er hätte sich mit Tylor, Frazer, Tiele, Marett u. a. Hauptvertretern der damaligen Religionswissenschaft und -ethnologie eingehend befasst. Vielmehr scheint Weber die besagten Begriffe gängigen Nachschlagewerken und Überblicksdarstellungen entnommen und den eigenen Theorieinteressen entsprechend modelliert zu haben. Besondere Bedeutung ist in diesem Zusammenhang einem kurzen Beitrag Edvard Lehmanns zu den archaischen Religionen beizumessen, der im Rahmen des Hinnebergschen Monumentalprojekts der Kultur der Gegenwart entstanden war. Nicht nur Webers Terminologie, sondern auch ganze Formulierungen weisen eine verblüffende Übereinstimmung zu diesem Beitrag auf. Nicht weniger verwickelt und komplex ist die Frage nach dem forschungsgeschichtlichen Kontext von Webers Charismabegriff. Die von ihm selbst gelegten Spuren zu Sohm und Holl sind in der Forschungsliteratur schon mehrfach verfolgt worden. Weitgehend unberücksichtigt geblieben ist jedoch der übergeordnete Dis488 In dieser Zuordnung spiegeln sich idealtypisch begründete Konstruktionszwänge der Weberschen Religionssoziologie wider. Denn der in dieser Weise qualifizierte Gottesgedanke stellt ganz auf ein Element der reformierten Gotteslehre ab (der willkürliche Schöpfergott), die damit weder vollständig noch angemessen bestimmt ist. 489 Kippenberg und Riesebrodt 2001, III.

322 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext kussionszusammenhang, der für das Verständnis dieses Begriffs ausgesprochen aufschlussreich ist. Denn die Beiträge von Sohm und Holl sind Teil einer Debatte, in deren Mittelpunkt zunächst der Begriff des Enthusiasmus stand und die maßgeblich von Adolf von Harnack angeregt wurde. Als Auslöser dieser Debatte kann die 1873 wiederentdeckte und von Harnack 1883 veröffentlichte und kommentierte Didache angesehen werden. Von dieser Veröffentlichung gingen neue Impulse für die Erforschung der urchristlichen Gemeindeorganisation aus, wodurch auch der Begriff des Charisma in den Fokus des Interesses trat. Sohm, Holl und auch Weber können in dieser Beziehung als Epigonen Harnacks angesehen werden. Allerdings kommt dem Nationalökonomen in dieser Beziehung insofern eine Sonderrolle zu, als er den Charismabegriff nicht nur – wie jene drei – mit historisch identifizierbaren sozialen Phänomenen in Verbindung brachte, sondern zu einem idealtypischen Begriff der Soziologie umformte. Im Zuge der Beschäftigung mit den religiösen Spezialisten der Religionssystematik wurden vielfältige Rezeptionsbezüge herausgearbeitet. Verschiedene Indizien weisen darauf hin, dass die Entstehung dieser Abhandlung von einer fortlaufenden Lektüre der Anthropologie Eduard Meyers begleitet gewesen ist. Ebenso setzte sich Weber mit Erwin Rohdes Psyche, Hermann Useners Götternamen und vor allem Hermann Siebecks Lehrbuch der Religionsphilosophie auseinander. Webers Bild des Zauberers ist von diesen Untersuchungen maßgeblich beeinflusst worden. Das gilt in besonderer Weise für die Annahmen, dass die Berufsmagier in keinem festen Kultusbetrieb involviert sind, dementsprechend nur punktuell und bei Bedarf in Erscheinung treten und über ein Wissen um Manipulationstechniken übernatürlicher Kräfte verfügen. Die Begriffe des Priesters und des Propheten weisen hingegen eine frappierende Ähnlichkeit zu denen Julius Wellhausens auf. Die vielfältigen Konvergenzen betreffen im Falle des Ersteren zuvörderst die Systematisierung der religiösen Lehre sowie den darauf aufbauenden Traditionsbildungsprozess. Die für Weber grundlegende Annahme, dass die Propheten demgegenüber aus religiösen Überzeugungen heraus agieren, ist für Wellhausens Prophetendeutung genauso signifikant, wie deren Kampf gegen die heidnischen Kulte, der in Webers Religionssoziologie als prophetischer Kampf gegen die Magie wiederkehrt. Hier ist nicht zuletzt Wellhausens Begriff des ethischen Monotheismus einschlägig, der wiederum mit Siebecks Konzept einer ethischen Religion konvergiert, das von Weber in diesem Zusammenhang gleichermaßen verarbeitet wurde. Für die Religiösen Gemeinschaften charakteristisch ist des Weiteren Webers Anliegen, das Auftreten jener Akteure auf damit verbundene religiöse Vergemeinschaftungsprozesse hin zu befragen. Dem Priestertum kommt in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle zu. Dass der Erlösungsgedanke für die Gesamtarchitektonik der Religionssystematik von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, wurde in der Forschungsliteratur

3.7 Zusammenfassung |

323

verschiedentlich bemerkt. Diesen herausgehobenen Stellenwert verdankt er seiner handlungstheoretischen Ausrichtung. Dementsprechend spitzt Weber den Erlösungsbegriff auf den des Erlösungsbedürfnisses zu. Auf diesem Wege gelingt es ihm, den über die Theodizeeproblematik angebahnten Erlösungsgedanken als Handlungsmotiv auszuweisen, das sich in unterschiedlichen Heilswegen niederschlägt, die von ihm umfassend typologisiert werden. Die kausale Verknüpfung von Erlösungsstreben und menschlichem Verhalten gehört zum gedanklichen Kernbestand der Religiösen Gemeinschaften, aber auch schon der Protestantischen Ethik. Wesentliche Anregungen dazu, den Erlösungsgedanken in den Mittelpunkt seiner Religionssoziologie zu rücken, sind von Matthias Schneckenburgers Vergleichender Darstellung und von Hermann Siebecks Lehrbuch der Religionsphilosophie ausgegangen. Grundbestimmungen des durch die Mystik repräsentierten Heilswegs, den Weber in seiner Protestantismusstudie sowie in der systematischen Religionssoziologie erörtert, gehen auf Ritschls Analysen zu dieser Frömmigkeitserscheinung in der Geschichte des Pietismus zurück. Das betrifft einerseits die emotive Grundausrichtung der Mystik, andererseits die Annahme ihres quietistischen Charakters und schließlich die ansatzweise antikatholisch gefärbte Kritik, die Weber – zumindest partiell – an der Mystik übt. Aber auch Webers Begriff der protestantischen Askese setzt die Beschäftigung mit Ritschls Pietismusgeschichte voraus. Insofern die Askese für Ritschl aber eines der Hauptkennzeichen katholischer Theologie und Frömmigkeit gewesen ist, kann er allenfalls – wie Hubert Treiber treffend formuliert hat – als ein unfreiwilliger Geburtshelfer von Webers Konzept einer protestantischen bzw. innerweltlichen Askese bezeichnet werden. Darüber hinaus gehören aber auch Matthias Schneckenburgers Vergleichende Darstellung, Ernst Troeltschs Englische Moralisten sowie Reinhold Seebergs Artikel Askese zu dem intellektuellen Feld, auf dem Webers Begriff der protestantischen Askese entstanden ist. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, dass dieser Begriff keinen direkten Vorläufer innerhalb der damaligen Religionsforschung besitzt. Zwar werden die für Weber in diesem Zusammenhang einschlägigen Begriffe Askese, Beruf und Prädestination in der damaligen Forschungsliteratur zur protestantischen Ethik verwendet, deren Verschmelzung, die mit den Mitteln der idealtypischen Begriffsbildung erfolgt, geht aber auf das Konto des Nationalökonomen. Bei Schneckenburger, Ritschl, Wellhausen und Siebeck haben wir es mit Autoren zu tun, die alle vier – wenn auch jeweils unterschiedlich akzentuiert – ein durch und durch praktisches Religionsverständnis vertreten, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich durch Ritschl forciert wurde und von ihm aus

324 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext weite Teile der protestantischen Theologie eroberte.⁴⁹⁰ In exakt dieser praktischsittlichen Ausrichtung des Religions- und Christentumsverständnisses dürfte einer der zentralen Gründe dafür liegen, dass sich Weber, der seine eigene Disziplin – die Nationalökonomie – als Wissenschaft vom menschlichen Handeln verstanden hat und für den der Bereich des Religiösen in den Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses rückte, in besonderer Weise an besagter Ausrichtung orientierte. Anders formuliert: die Stoffauswahl, die Weber im Zuge seiner Religionsforschung 490 Dass zwischen Ritschl und Wellhausen bemerkenswerte Verbindungslinien bestehen, belegt die zweite Ausgabe von Wellhausens Prolegomena, in der dieser einen autobiographischen Rückblick auf die Herausbildung der für seine alttestamentliche Forschung grundlegenden Einsicht lex post prophetas wirft. Diesen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass er von keinem Geringeren als von Ritschl selbst auf einen der wichtigsten Vordenker dieser These – Karl Heinrich Graf (1815–1869) – während eines Besuchs in Göttingen im Jahre 1867 gestoßen wurde: „Im Anfange meiner Studien wurde ich angezogen von den Erzählungen über Saul und David, über Elias und Ahab, und ergriffen von den Reden eines Amos und Jesaia; ich las mich in die prophetischen und geschichtlichen Bücher des Alten Testaments hinein. An der Hand der mir zugänglichen Hülfsmittel glaubte ich sie zwar leidlich zu verstehn, hatte aber dabei ein schlechtes Gewissen, als ob ich bei dem Dache statt bei dem Fundamente anfinge; denn ich kannte das Gesetz nicht, von dem ich sagen hörte, es sei die Grundlage und Voraussetzung der übrigen Literatur. Endlich fasste ich mir Mut und arbeitete mich hindurch durch Exodus, Leviticus und Numeri und sogar durch Knobels Kommentar dazu. Aber vergebens wartete ich auf das Licht, welches von hieraus auf die geschichtlichen und prophetischen Bücher sich ergiessen sollte. Vielmehr verdarb mir das Gesetz den Genuss jener Schriften; es brachte sie mir nicht näher, sondern drängte sich nur störend ein, wie ein Gespenst, das zwar rumort, aber nicht sichtbar, nicht wirksam wird. Wo sich Berührungen fanden, da waren Differenzen damit verbunden und ich konnte mich nicht entschliessen, auf Seiten des Gesetzes das Ursprüngliche zu sehen; dunkel empfand ich einen allgemeinen Abstand zweier verschiedenen Welten. Jedoch zu einer klaren Anschauung gelangte ich keineswegs, sondern nur zu einer unbehaglichen Confusion, die durch Ewald’s Erörterungen im zweiten Bande seiner Geschichte des Volkes Israels nur vermehrt wurde. Da erfuhr ich bei einem gelegentlichen Besuche in Göttingen im Sommer 1867 durch Ritschl, dass Karl Heinrich Graf dem Gesetze seine Stelle hinter den Propheten anweise, und beinah ohne die Begründung seiner Hypothese zu kennen, war ich für sie gewonnen: ich durfte mir gestehen, dass das hebräische Altertum ohne das Buch der Thora verstanden werden könne.“ (Wellhausen 1883, 4) Uwe Becker stellt heraus, dass in den folgenden Auflagen der Prolegomena der Hinweis auf Göttingen und Ritschl gestrichen wurde (vgl. Becker 2011, 26; vgl. dazu auch Smend 1998, 103). Das intellektuelle Verhältnis zwischen Ritschl und Wellhausen ist innerhalb der theologischen Forschungsliteratur bislang vernachlässigt worden. Doch existieren nicht nur zwischen Ritschl und Wellhausen grundlegende Verbindungslinien. Gleiches gilt auch für die Anhänger beider Gelehrten, worauf schon Martin Rade hinwies: „Der Strom [sc. der Ritschlianer] floß mit dem der Wellhausen’schen Schule merkwürdig ineinander (Guthe, Marti).“ (Rade 1930, 2048) Aber auch das – wie Troeltsch bemerkt – „kantisch gefärbte Lehrbuch“ Hermann Siebecks fügt sich in das beschriebene geistige Klima ein (Troeltsch 1913d, 452). Siebeck ist zweifelsohne gleichermaßen einem praktischen Religions- und Christentumsverständnis verpflichtet. Hanke bezeichnet ihn daher zutreffend als Kulturprotestanten, vgl. Hanke 2001, 212.

3.7 Zusammenfassung |

325

getroffen hat, ist auch von dem Kriterium bestimmt, inwiefern die behandelten Autoren mit dem handlungstheoretischen Interesse seines wissenschaftlichen Grundansatzes konvergieren. Die Arbeiten Schneckenburgers, Ritschls, Wellhausens und Siebecks entsprechen diesem Kriterium in besonderer Weise. Dass es nicht sachgemäß ist, Ritschl und Weber ausschließlich oder primär als Antipoden auszuweisen, deutet nicht zuletzt der Begriff der Lebensführung an, der nicht nur für diesen, sondern auch für jenen eine schlechterdings grundlegende Bedeutung besitzt. Schon Philip Hefner hat in seiner Studie Faith and the vitalities of history (1966) den Nachweis erbracht, dass es sich dabei um einen Grundbegriff der Theologie Ritschls handelt.⁴⁹¹ Dessen Denken kreist um die Frage, inwiefern sich die ideellen Gehalte der christlichen Religion als Einheitsband menschlichen Handelns plausibilisieren lassen, sodass dieses nicht in einzelne Bereiche zerfällt, die unverbunden nebeneinander stehen, sondern vielmehr so zusammengehalten wird, dass von einer Lebensführung im strengen Sinne des Wortes die Rede sein kann. Die Beantwortung dieser Frage nimmt bei ihm ihren gedanklichen Ursprung in der Christologie, in der die Begriffe Lebensführung und Beruf eng miteinander verflochten sind.⁴⁹² Von diesem Lehrstück aus tritt diese Verknüpfung dann in das Zentrum seiner Reich-Gottes-Theologie insgesamt.⁴⁹³ Diese zentrale Stellung, die das Thema der Lebensführung innerhalb des Ritschlschen Denkens besitzt,⁴⁹⁴ bildet einen entscheidenden Anhaltspunkt für Webers konstruktives Interesse an dessen Theologie. Werden diese hier nur kurz angerissenen Bestimmungen mit ins Kalkül gezogen, greift es vermutlich zu kurz, nur von „historical particulars“⁴⁹⁵ zu sprechen, 491 Vgl. Hefner 1966, 55. Vgl. dazu Schäfer 1968, 38f. James Richmonds Abhandlung zur Theologie Albrecht Ritschls enthält – auf Hefner aufbauend – ein eigenes Kapitel, das unter der Überschrift „Christliche Lebensführung“ (Richmond 1982, 173–206) steht. Darin geht Richmond auch auf Webers Protestantische Ethik ein. 492 Im zweiten Band seines Hauptwerks ist dementsprechend zu lesen: „Es unterliegt ja keinem Zweifel, daß die ganze Lebensführung Jesu die Gesinnung der Liebe zu Gott als die leitende und treibende Kraft seines Handelns und Leidens erkennen läßt, daß wenn irgendwo, in diesem Leben die Liebe zu Gott von ganzem Herzen und von ganzer Kraft sich kund giebt, die das Grundgesetz des Gottesreiches bildet.“ (Ritschl 1874, 97). 493 Von Ritschl aus lassen sich diese Linien bis in Teile seiner Schule hinein verfolgen, vgl. etwa Harnack 2007, 53. 87. 111; Herrmann 1913, 135. 145. Wilhelm Herrmann verhandelt das Thema der Lebensführung vor allem unter dem Begriff des persönlichen Lebens, der bei ihm eng mit dem Berufsgedanken verzahnt ist. Zuletzt wurde dem Begriff der Lebensführung in Trutz Rendtorffs Ethik eine prominente Stellung eingeräumt, vgl. Rendtorff 2011, 3ff. 494 Dem entspricht auch der Sachverhalt, dass der Begriff des Beweggrunds im semantischen Feld der Theologie Ritschls zentral verankert ist. Das lässt sich besonders deutlich in seinem Unterricht in der christlichen Religion (1875) ablesen, vgl. Ritschl 2002, 14. 17f. 20 u. ö. 495 Graf 1993, 42.

326 | 3 Religionswissenschaftliche Begriffe im forschungsgeschichtlichen Kontext wenn es um eine Näherbestimmung des Einflusses geht, den Ritschls Denken auf Weber ausgeübt hat. Vielmehr treffen sie sich – aller Differenzen in der Methode und in den Erkenntnisinteressen zum Trotz – auf einer viel grundlegenderen Ebene, und zwar darin, die Wirklichkeit nach praktisch-sittlichen Kriterien zu durchmustern. Der Begriff der Lebensführung bezeichnet demnach eine Größe, der beide Autoren auch in prinzipieller Hinsicht miteinander verbindet. Das von Ritschl interpretierte und systematisierte religionsgeschichtliche Material ist des handlungstheoretischen Gepräges wegen an den religionssoziologischen Forschungsansatz Webers anschlussfähig.

4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen 4.1 Einleitung Im Kapitel 3 wurden zentrale Begriffe der Religiösen Gemeinschaften im Horizont der zeitgenössischen Debattenlage entfaltet und auf diesem Wege auf ihre historischen Grundlagen hin bestimmt. Es stellte sich heraus, dass Weber diese Begriffe weniger anhand der dokumentierten historischen Materialien entwickelt hat. Vielmehr orientierte er sich in erster Linie an Arbeiten aus zweiter Hand. Das aber bedeutet zugleich, dass nicht bloß die Stoffauswahl der entsprechenden Autoren, sondern auch deren für die gedankliche Durchdringung des Materials maßgeblichen Begriffe für Webers eigene Religionsforschung bestimmend wurden. Dass dieser Gesichtspunkt weitreichende Konsequenzen zuerst für das Verständnis der Religiösen Gemeinschaften und danach auch für die Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen hat, liegt auf der Hand.¹ Und doch gehen Webers auf ihren – mit Simmel zu sprechen – „Rohstoff“² hin befragten Begriffe deutlich über letzteren hinaus und sind daher durch die geleistete Kontextualisierung noch nicht hinreichend bestimmt. Denn was bisher weitgehend ausgeblendet wurde, ist die Frage nach den handlungstheoretischen Prämissen, denen entsprechend die religionssoziologischen Leitbegriffe idealtypisch konstruiert werden. Diese Frage führt uns nun zurück zum „Wörterbuch“³ der Soziologie Max Webers, den Soziologischen Grundbegriffen, letztlich aber nicht nur zu diesen, sondern zu seinen Methodenreflexionen insgesamt, in denen sich Erich Rothacker (1888– 1965) zufolge das spezifisch Soziologische der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen Webers artikuliert.⁴ Auch wenn Rothackers Besprechung der Weberschen

1 Diesen Aufsätzen gegenüber – wie Erich Rothacker – von einer „rein historischen Aufgabe“ (Rothacker 1922, 424) zu sprechen, die – so die erstaunliche Zuspitzung – von Konstruktionen weit entfernt sei (vgl. Rothacker 1922, 432), ist nur schwer nachvollziehbar. Das gilt umso mehr, sobald die Einleitung zu diesen Aufsätzen in Erinnerung gerufen wird, wo es heißt: „Es handelt sich bei den nachfolgenden Darlegungen also in keiner Art um eine systematische ‚Typologie‘ der Religionen. Andererseits freilich auch nicht um eine rein historische Arbeit. Sondern ‚typologisch‘ ist die nachstehende Darstellung in dem Sinne, daß sie das für den Zusammenhang mit den großen Gegensätzen der Wirtschaftsgesinnung in typischer Weise Wichtige an den historischen Realitäten der religiösen Ethiken betrachtet, und Anderes vernachlässigt.“ (E, 116). 2 Simmel 1997b, 45. 3 Vgl. Rothacker 1922, 424. 4 „Möchte man Beweise dafür suchen, daß Soziologie vor allem eine ‚Methode‘ sei, so könnte diese ‚Soziologie‘ von einzigartigem Gewicht als Kronzeuge dafür aufgerufen werden.“ (Rothacker 1922, 424). https://doi.org/10.1515/9783110502770-337

328 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen Schriften eine ausgesprochen skeptische Sicht auf soziologische Ansätze überhaupt kolportiert, denen mehr oder weniger deutlich die wissenschaftliche Existenzberechtigung bestritten wird, ist der Hinweis auf das Spezifikum der Soziologie Webers,⁵ im Wesentlichen Methodenreflexion zu sein, für das Verständnis und die Interpretation ihrer verschiedenen materialen Felder bedenkenswert. Denn dieser Hinweis gibt zu der Annahme Anlass, dass sie sich auch aus den theoretischen Grundentscheidungen seiner Methodologie heraus verständlich machen lassen. Anders gewendet wirft der kritische Einwand des Kulturphilosophen die Frage nach der Reichweite der handlungstheoretischen Grundlagen der Methodologie innerhalb der Soziologie Webers auf, der es im Folgenden – freilich beschränkt auf die Religiösen Gemeinschaften – in konstruktiver Absicht nachzugehen gilt. Damit ist eine Fragestellung berührt, von der freilich nicht allein die Religionssoziologie betroffen ist. Es handelt sich vielmehr um ein Problem, das sich auf sämtliche Bereiche der materialen Soziologie erstreckt.⁶ Damit geraten nun wieder verstärkt Gedankenfluchten in den Blick, die für das zweite Kapitel (2) bestimmend waren. Der dort eingeschlagene Weg, Webers Methodologie vom Handlungsbegriff her zu entschlüsseln, wird in den folgenden Ausführungen insofern wieder betreten, als die zuvor erörterten religionssoziologischen Begriffe Webers im Lichte des Handlungsbegriffs gelesen werden sollen. Es steht zu vermuten, dass es auf diesem Wege gelingt, die historische Färbung dieser Begriffe zu minimieren und deren von der Handlungstheorie bestimmten, idealtypischen Kern zum Leuchten zu bringen. Allerdings können hier nicht alle in Kapitel 3 behandelten Begriffe berücksichtigt werden, sondern lediglich eine Auswahl. Dabei handelt es sich um den „Zauberer“, den „Priester“, den „Propheten“, den „weltflüchtigen Mystiker“ sowie den „innerweltlichen Asketen“. Zunächst kommen die ersten drei Begriffe in den Blick. Sie sollen als Idealtypen religiöser Sinngebung (4. 2) interpretiert werden. In dieser Bestimmung klingt bereits an, dass der Fokus hier ganz auf die mit dem Auftreten dieser drei

5 Rothacker bezieht sich in seiner Rezension auf die drei Bände der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie (1922) sowie auf Wirtschaft und Gesellschaft (1921). 6 In der Forschungsliteratur bleibt dieser Zusammenhang oftmals unberücksichtigt. Zu den Ausnahmen gehört Andreas Anters Dissertationsschrift Max Webers Theorie des modernen Staates, in der er zeigt, dass Webers Staatstheorie auf den handlungstheoretischen Grundlagen seiner Methodologie ruht: „Die Verflechtung von Staats- und Handlungstheorie läßt sich auch aus dem Aufbau der Soziologischen Grundbegriffe erschließen, die, liest man sie von hinten nach vorn, eine aufschlußreiche Anordnung erkennen lassen: Der Staatsbegriff fußt auf dem Anstaltsbegriff, dieser auf dem Verbandsbegriff, dieser auf dem Begriff der ‚sozialen Beziehung‘ und dieser wiederum auf dem Begriff des ‚sozialen Handelns‘, so daß der Staatsbegriff gewissermaßen genetisch auf der Kategorie des Handelns beruht.“ (Anter 1996, 98). Diese Überlegungen werden pointiert unter der Überschrift „Hermeneutik des Staates“ dargelegt.

4.1 Einleitung |

329

Protagonisten religiösen Handelns verbundene Sinndimension gelegt werden soll. Sie repräsentieren – und darauf soll unsere Rekonstruktion hinauslaufen – eine entwicklungstypologische Schematisierung der Genealogie des Sinns. Diese Interpretationsperspektive ist jedoch mit der Hypothek belastet, das Verhältnis aufklären zu müssen, das zwischen der angesprochenen Sinngebungsleistung und dem Begriff des subjektiv gemeinten Sinns einer Handlung besteht. Darauf wird vor allem im Zuge der Auseinandersetzung mit Webers Prophetenverständnis genauer einzugehen sein. Mit dem weltflüchtigen Mystiker und dem innerweltlichen Asketen ist eine anders akzentuierte Systematisierungsstrategie religionssoziologischer Begriffe verbunden. Sie sind – viel offensichtlicher als jene drei – der Struktur des Handlungsbegriffs entsprechend konstruiert worden und können daher im strengen Sinne des Wortes als Idealtypen religiös motivierten Handelns (4. 3) bezeichnet werden. Doch nicht allein die Frage, inwieweit Webers Religionssoziologie von den handlungstheoretischen Grundlagen seiner methodologischen Schriften bestimmt ist, tritt in den folgenden Abschnitten auf den Plan. Darüber hinaus soll eine These Berücksichtigung finden, die bereits Hans Freyer formuliert hat. Sie besagt, dass selbst die abstraktesten Begriffe der Soziologie Webers einen „historischen Einschlag“⁷ bzw. „als ihren Kristallisationskern . . . ein historisches Faktum“⁸ besäßen. Der Leipziger Soziologe stellt damit auf die Vermutung ab, dass die Soziologischen Grundbegriffe Webers keineswegs rein abstrakte Gedankengebilde darstellen.⁹ Vielmehr ist er der Auffassung, dass diesem bei der Konzeptualisierung derselben ein historisches Anschauungsmaterial vor Augen stand, das ihm – mit Ulrich Barth zu sprechen – als „Induktionsbasis“¹⁰ diente. Damit hebt Freyer letztlich auf die Eigengesetzlichkeiten der Idealtypenbildung ab, die, wie oben gezeigt wurde,¹¹ Webers eigenen Angaben zufolge einen Anhaltspunkt in der empirischen Reali-

7 Freyer 1930, 150. 8 Freyer 1930, 152. Auch Günter Dux formuliert ganz ähnlich, dass Webers Begriffsschemata „irgendeinen Anhalt . . . in dem . . . Stoff der Geschichte“ finden müssen (Dux 1971, 64). Vgl. dazu auch Mommsen 1974c, 560 sowie Kocka 1986, 20f. 9 Als solche werden sie etwa auch von Hans-Georg Gadamer (1900–2002) ausgewiesen, der gegenüber den Soziologischen Grundbegriffen bemerkt: „Ein imposanter Begriffskatalog auf extrem nominalistischer Basis“ (Gadamer 1986, 389). Gadamer greift damit ein Urteil auf, dass der Soziologe Andreas Walther (1879–1960) bereits formuliert hatte. Dieser stellte fest: „Max Weber bleibt durchaus Nominalist“ (Walther 1926, 13). 10 Barth 2005b, 395. 11 Vgl. 2. 2. 4.

330 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen tät haben muss.¹² Worin dieses Material besteht, wird von Freyer jedoch nicht erörtert. Um diese These untermauern zu können, werden die bereits genannten religionswissenschaftlichen Leitbegriffe Webers mit der Handlungstypologie der Soziologischen Grundbegriffe (vgl. Soz, 175–177) kontextualisiert. Auf diesem Wege soll geprüft werden, ob und inwiefern die religionssoziologische Begriffsarbeit in der späten Handlungstheorie Spuren hinterlassen hat. Die folgenden Unterkapitel zeichnen sich somit durch eine doppelte Stoßrichtung aus. Es geht nicht nur darum, das handlungstheoretische Fundament der Religionssoziologie Webers am Beispiel der genannten fünf Begriffe freizulegen. Vielmehr soll das Verhältnis beider Arbeitsfelder auch unter umgekehrten Vorzeichen thematisch werden, um auf diesem Wege, die Stichhaltigkeit der bereits von Volker Drehsen und Dieter Henrich formulierten These auf die Probe zu stellen, dass sich Webers methodologische und religionssoziologische Schriften wechselseitig bedingen.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung 4.2.1 Der Aufbruch ins Jenseits – der Zauberer In der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Zauberers kristallisierte sich eine enorme Merkmalskomplexität heraus.¹³ Sie muss hier nicht noch einmal wiederholt werden. Vielmehr sollen sich die folgenden Ausführungen auf zwei Aspekte konzentrieren, die über das bisher Gesagte hinausgehen. Zunächst ist der Frage nachzugehen, in welchem Maße der von Weber mit der magischen Religiosität verbundene Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus handlungstheoretisch bestimmt und welche Rolle den Berufsmagiern in diesem Zusammenhang zukommt (a).¹⁴ In einem zweiten Schritt soll der ‚Zauberer‘ auf etwaige handlungstypologische Implikationen hin untersucht, d. h. es sollen Berührungspunkte zwischen diesem religiösen Spezialisten und der Handlungstypologie der Soziologischen Grundbegriffe aufgespürt werden (b). a) Dass der Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus handlungstheoretisch imprägniert ist, kann in einem ersten Zugang an verschiedenen Beobachtungen festgemacht werden. Zunächst finden die praktischen Begriffe Verhalten, Tun, 12 „Die Begriffsbildung der Soziologie entnimmt ihr Material, als Paradigmata, sehr wesentlich, wenn auch keineswegs ausschließlich, den auch unter den Gesichtspunkten der Geschichte relevanten Realitäten des Handelns.“ (Soz, 169). 13 Vgl. 3. 5. 1. 14 Vgl. 3. 3. 3 sowie 3. 5. 1.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

331

Handeln, Handlung in diesem Kontext vielfach Verwendung. Außerdem wird jener Übergang wenn auch nicht primär mit dem Sinn-, so doch aber mit dem Bedeutungsbegriff verbunden, die von Weber häufig synonym verwendet werden. Beide Begriffe indizieren die Dimension menschlichen Handelns. Dass zwischen dem besagten Transitus und dem Begriff des Handelns über diese Textbeobachtungen hinaus ein systematischer Zusammenhang besteht, zeichnet sich ab, wenn der hier angedeutete Sachverhalt vor dem Hintergrund der Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur in der einige Jahre zuvor entstandenen Stammler-Rezension gelesen wird, was es erforderlich macht, sie kurz in Erinnerung zu rufen.¹⁵ Wie bereits oben dargelegt wurde, ist in dieser Studie die entscheidende Differenz zwischen dem Bereich der Natur und dem der Kultur durch den Sinnbegriff markiert. Letzterer ruht – und das ist an dieser Stelle entscheidend – auf einer handlungstheoretischen Grundlage. Also weniger das sinntheoretische Gepräge als solches macht hier die Pointe aus. Vielmehr ist auf den Handlungsbegriff das Augenmerk zu legen, um Webers originären Beitrag zu der um 1900 kontrovers geführten Debatte um das Verhältnis von Natur und Kultur zu bestimmen. Der subjektive Sinn, den ein Handelnder seinem Verhalten beilegt und der zugleich als auf ein Objekt bezogen vorgestellt wird, hat maßgeblichen Anteil am Aufbau der Kulturwirklichkeit. Die im Medium des Handelns vollzogenen Akte der Sinngebung bilden einen Grundbaustein kulturellen Lebens. Wird ein Objekt losgelöst vom menschlichen Handeln betrachtet, fällt es in den Status einer Naturerscheinung zurück. Zeichentheoretisch vertieft werden diese Überlegungen dahingehend, dass Weber dieses sinnhaft beseelte Objekt als ein Symbol verstanden wissen will (vgl. RS, 332). Die in den Religiösen Gemeinschaften entfaltete Entwicklung vom „Naturalismus bis zum Symbolismus“ (RG, 131) steht in Kontinuität zu den in der StammlerRezension angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kultur und damit gleichermaßen unter handlungstheoretischen Prämissen. Dass hier der Handlungsbegriff vorausgesetzt werden muss, legt eine Formulierung nahe, wonach durch den magisch imprägnierten Symbolismus neben die Dinge und Vorgänge, die nur „sind und geschehen“ auch solche treten, die etwas „‚bedeuten‘“ (RG, 127). Der durch den Bedeutungsbegriff angezeigte Übergang von der Natur zu der Kultur steht auf einem handlungstheoretischen Fundament. Allerdings dürfen die Differenzen zwischen beiden Schriften nicht unterschlagen werden. Sie betreffen vor allem eine terminologische Abweichung. Webers Darstellung der magischen Religion bedient sich – wie bereits angedeutet wurde – statt des Sinnüberwiegend des Bedeutungsbegriffs. Auch wenn er beide Begriffe vor allem in seinen frühen methodologischen Abhandlungen häufig äquivok verwendet, dürfte

15 Vgl. 2. 2. 2.

332 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen es kein Zufall sein, im Rahmen seiner Darstellung dieses Religionstyps auf den Sinnbegriff weitgehend zu verzichten. Fragt man nach den konkreten Gründen dieser Abweichung, so kommen darstellungstechnische Motive in Betracht. Letztere könnten mit der Sonderstellung des Prophetentums verbunden sein, das in Webers Religionssoziologie den Sinnbegriff beinahe monopolisiert hat. Jedoch gilt es sich auch zu vergegenwärtigen, dass diese Abgrenzung des Sinn- vom Magiebegriff relativ ausfällt. So ist auch auf das Zauberwesen bezogen die Rede von einem „magischen Sinngehalt“ (RG, 273) bzw. davon, dass bereits „der primitivsten Orgie eine Sinndeutung keineswegs gänzlich“ fehle.¹⁶ Die Frage, die sich an dieser Stelle entzündet, berührt die systematische Reichweite des Bedeutungs- bzw. Sinnbegriffs. Bewegt sich letzterer innerhalb der Grenzen einer rein strukturtheoretischen Beschreibung des Handlungsbegriffs oder geht sie darüber hinaus? Vor dem Hintergrund der handlungstheoretischen Begründung des Sinnbegriffs betrachtet, liegt es nahe, dass auch der Sinn, der mit der Wirksamkeit der Zauberer verbunden ist, in dieser Weise konzeptionell verankert ist. Er muss, wenn er nicht aus diesem Gesamtrahmen herausfallen soll, auf die Praktiken der Zauberer zurückgeführt werden können. Und doch gibt es gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass sich Webers sinntheoretisches Interesse am „Zauberer“ darin nicht erschöpft. Der Sinn, den die Zauberer ihrem Verhalten beilegen und der auf darüber hinausgehende Vorgänge und Objekte bezogen ist, ist deswegen von besonderer Qualität, weil er für den Aufbau einer Sinnwirklichkeit überhaupt steht. Er ist auf der einen Seite als Aufbaumoment menschlichen Sichverhaltens mit der motivationalen Struktur desselben verflochten. Auf der anderen Seite – und auf die kommt es Weber hier an – handelt es sich um einen solchen Sinn, an dem sich in einer entwicklungstypologischen Perspektive der Übergang von der Natur zur Kultur bzw. vom bloßen Verhalten zum Handeln ablesen lässt. Genau hierin liegt – trotz besagter Übereinstimmungen – der entscheidende Unterschied zur Stammler-Studie. Letztere reflektiert zwar die kategoriale Differenz zwischen Natur und Kultur. Die Religionssoziologie exemplifiziert diese Differenz aber darüber hinaus in einer entwicklungstypologischen Perspektive anhand des Auftretens von Zauberern. Weber bescheinigt ihrem Handeln sinnschöpferisches Potential, weswegen sie auch als Urheber magisch-religiöser Symbolwelten angesehen werden können. Hieran knüpft die gleichsam transzendentale Funktion an, die Weber der Wirksamkeit des „Zauberers“ bescheinigt. Letzterer trägt wesentlich zur Sinnanreicherung der Umwelt bei und damit zur Überwindung des Naturalismus sowie zur Entstehung des Reichs religiösen Handelns. Dementsprechend hält

16 Darauf weisen auch Hartmann Tyrell und Günter Thomas hin, vgl. Tyrell 1992, 197; Thomas 2001, 69.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

333

Weber fest: ob der „Naturalismus“ von einer „Flutwelle symbolischen Handelns“ begraben werde, sei eine „Frage des Nachdrucks, welchen die berufsmäßigen Kenner dieser Symbolik ihrem Glauben und dessen gedanklicher Durchbildung zu geben vermögen“ (RG, 128). Die spezifischen Vorstellungsgehalte, die den magischen Sinn repräsentieren, bauen den Religiösen Gemeinschaften zufolge auf dem Begriff des Außeralltäglichen auf, der, wie schon gezeigt wurde, für Webers Religionsverständnis von schlechterdings grundlegender Bedeutung ist.¹⁷ Denn der Übergang vom Alltäglichen zum Außeralltäglichen markiert den Eintritt in die Welt der Religion. Außeralltägliche Erscheinungen werden auf die Wirksamkeit von Geistern, Dämonen und Göttern zurückgeführt und in diesen spiegeln sich die magisch-religiösen Sinngehalte wider, die sich gegenüber einer naturalistischen Weltsicht durchsetzen. Doch lässt sich dieser Gesichtspunkt gedanklich noch weiter vorantreiben. Dazu ist erforderlich, daran zu erinnern, dass aus dem Begriff des Außeralltäglichen die Vorstellungen des Übernatürlichen und des Jenseits abgeleitet werden. Vor diesem Hintergrund betrachtet, zeichnet sich die wohl weitreichendste These ab, die sich Webers Beschäftigung mit der magischen Religiosität verdankt. Er verbindet mit der Wirksamkeit des „Zauberers“ den Eintritt ins Jenseits.¹⁸ Damit aber erscheint die magische Sinngebung der Zauberer in einem besonderen Licht. Denn die für die Welt der Religion signifikante Transzendenzdimension steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zum Auftreten der Berufsmagier, deren kultur- und religionsgeschichtliche Relevanz auf diesem Wege einmal mehr unterstrichen wird. Der Aufbruch ins Jenseits impliziert den durch die Zauberer initiierten Übergang von der Natur zur Kultur, vom Naturalismus zum Symbolismus, vom Verhalten zum Handeln. Dass mit den zuletzt angestellten Überlegungen zugleich Konstruktionszwänge der Weberschen Religionssoziologie zum Vorschein kommen, liegt auf der Hand. Weber trägt hier den in der Methodologie reflektierten Übergang von der Natur

17 Vgl. dazu 3. 4 sowie 5. Es ist durchaus möglich, dass dieser Begriff, der innerhalb der Religionsforschung vielfach Verwendung gefunden hat und findet, auf Weber zurückgeht. Von neueren Vertretern sei auf Thomas Luckmann verwiesen, der den Ausdruck „außeralltäglich“ mit seinem Konzept großer Transzendenzen verbindet, vgl. Luckmann 1991, 168. Luckmann scheint auch ein zentraler Multiplikator dieses Begriffs zu sein. So etwa bei Streib 1998, 26f und darauf aufbauend bei Heimbrock 2007, 78. Die Webersche Prägung dieses Begriffs spielt weder bei Streib noch bei Heimbrock eine Rolle. Bernhard Waldenfels wandelt Webers Begriff des Außeralltäglichen ab, indem er zwischen „Alltäglichem und Unalltäglichem“ (Waldenfels 1998, 194) unterscheidet. 18 Weber deutet diesen Gesichtspunkt indirekt an, wenn er bemerkt: „Die Vorstellung von einem ‚Jenseits‘ ist im Keim mit der Entwicklung der Magie zum Seelenglauben gegeben.“ (RG, 293).

334 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen zur Kultur in das religionsgeschichtliche Material hinein, das er aber zugleich auf die Ebene entwicklungstypologischer Bestimmungen überführt. Das aber bedeutet zugleich, dass der besagte Übergang nicht primär aus der Geschichte der archaischen Religionen abgeleitet wird, von der – wie oben gezeigt wurde – Weber ohnehin keine besonders ausgeprägte Kenntnis besaß. Er versucht es vielmehr nach Maßgabe seines handlungstheoretischen Ansatzes zu rekonstruieren, wobei er das Verhältnis von magischer Sinngebung und subjektiv gemeintem Sinn einer Handlung nicht eigens reflektiert.¹⁹ Die gleichwohl enge Verzahnung von Religionssoziologie und Handlungstheorie lässt sich nicht nur anhand des von Weber dargestellten Übergangs vom Naturalismus zum Symbolismus festmachen. Sie deutet sich auch in den handlungstypologischen Implikationen an, durch die sich Webers „Zauberer“ auszeichnet. Damit kommen wir auf den zweiten der eingangs genannten Aspekte zu sprechen. b) In Webers systematischer Religionssoziologie tritt der Zauberer als ein Ekstatiker in Erscheinung. Wie oben bereits herausgestellt wurde, begreift er die als magisches Charisma spezifizierte Ekstase des Berufsmagiers allerdings nicht als Gelegenheitserscheinung – wie es bei den Laien im Medium der Orgie der Fall ist –, sondern als Gegenstand eines kontinuierlichen Zweckhandelns (Betrieb). Diese Kennzeichnung ist nun in handlungstheoretischer Perspektive betrachtet überraschend. Denn Weber verbindet damit zweierlei Bestimmtheitsgründe menschlichen Handelns, die sich auf den ersten Blick einander ausschließen. Während die Ekstase für Weber die Form eines irrationalen Erlebniszustands darstellt, impliziert der Betriebsbegriff eine zweckrationale Handlungsausrichtung, die auf Dauer gestellt ist. Diese Verschmelzung affektueller und zweckrationaler Aufbaumomente des Handelns hat nun in der Handlungstypologie der Soziologischen Grundbegriffe eine bemerkenswerte Analogie.²⁰ Um sie verdeutlichen zu können, muss zunächst der dort skizzierte Begriff eines „affektuell“ bzw. „emotional“ (Soz, 175) bestimmten (sozialen) Handelns anvisiert werden, den Weber wie folgt spezifiziert: „Das streng affektuelle Sichverhalten steht ebenso an der Grenze und oft jenseits dessen, was bewußt ‚sinnhaft‘ orientiert ist; es kann hemmungsloses Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz sein.“ (Soz, 175) Wie oben bereits angedeutet wurde,²¹ stellt das affektuell bestimmte Handeln einen Grenzfall der sinnhaften Handlungsorientierung dar, weil es als solches eine stark naturalistische Färbung besitzt. Doch bleiben Webers Überlegungen dabei nicht stehen. Vielmehr nimmt er in seiner

19 Vgl. dazu 4. 2. 3. 20 Das deutet bereits Breuer 2001a, 123f an. 21 Vgl. 2. 2. 2.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

335

Handlungstypologie auch idealtypische Mischformen des affektuellen Handelns in den Blick. Es handelt sich um drei Übergangsmodelle dieses Handlungstyps, einerseits zum wertrationalen, andererseits zum zweckrational bestimmten Handeln und schließlich zu beiden rationalen Handlungsmodi: „Eine Sublimierung ist es, wenn das affektuell bedingte Handeln als bewußte Entladung der Gefühlslage auftritt: es befindet sich dann meist (nicht immer) schon auf dem Wege zur ‚Wertrationalisierung‘ oder zum Zweckhandeln oder zu beiden.“ (Soz, 175). Weber konstruiert hier somit einen Handlungstypus, bei dem die Affekte nicht vorbewusst verhaltensbestimmend geworden sind. Vielmehr ist ausdrücklich davon die Rede, dass sie auch bewusst als Motiv des Verhaltens gewählt werden können. Diese bewusste Steuerung von Affekten kann – wie gesagt – sowohl wert- als auch zweckrational bzw. von beiden Rationalitätstypen beeinflusst sein. Die Analogie zu den Zauberern betrifft nun allerdings ausschließlich den Übergang vom affektuell zum zweckrational bestimmten Handeln. Die betriebliche Nutzung ekstatischer Zustände stellt eine Exemplifikation dieses einen Sublimierungsschemas dar. Allerdings lässt sich dieser Zusammenhang nur dann in dieser Weise reformulieren, wenn die werkgenetische Abfolge der Religiösen Gemeinschaften und der Soziologischen Grundbegriffe außer Acht gelassen wird, sind letztere doch einige Jahre später als jene entstanden. Wird dieser Aspekt berücksichtigt, kristallisiert sich eine ganz andere Perspektive auf die Verbindung von religionssoziologischer und handlungstypologischer Begriffsbildung heraus. Denn nun erscheint der Zauberer nicht mehr in einem Ableitungsverhältnis zur idealtypischen Verknüpfung von affektuellem und zweckrationalem Handeln. Vielmehr eröffnen sich jetzt Anhaltspunkte dafür, den Zauberer der Induktionsbasis jener handlungstypologischen Übergangsfigur zuzurechnen. Anders formuliert: Der Betrieb des Zauberers könnte zu dem Material gehören, von dem ausgehend Weber den Typus eines affektuell bestimmten Handelns konstruiert hat. Das gilt aber nicht – wie zuvor erläutert wurde – für den reinen Typus, sondern nur für eine rationale Sublimationsgestalt desselben. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei Webers handlungstypologischem Begriff eines traditional bestimmten Sichverhaltens, zu dem sich ebenfalls Verbindungslinien zum Zauberer ziehen lassen. Um sie verdeutlichen zu können, ist es wiederum erforderlich, das spezifische Gepräge dieses idealtypischen Handlungsbegriffs zur Sprache zu bringen. In den Soziologischen Grundbegriffen hält Weber fest, dass die „Masse alles eingelebten Alltagshandelns“ darunter falle und „durch eingelebte Gewohnheit“ (Soz, 175) verursacht sei. Diesen Gesichtspunkt erläutert er dann in der Weise, dass es sich um „oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize“ (Soz, 175) handelt. Wie das affektuell bestimmte Verhalten steht es somit an der Grenze dessen,

336 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen was als sinnhaftes Handeln bezeichnet werden kann.²² Und ebenso unterscheidet Weber auch hier zwischen unterschiedlichen Realisationsmöglichkeiten traditionalen Handelns. Einerseits kommt es in Reinform zu stehen. Andererseits weist er auf Übergangsformen desselben hin. Eine Variante des traditionalen Handelns sei es, wenn „die Bindung an das Gewohnte in verschiedenem Grade und Sinne bewußt aufrecht erhalten werden kann“ (Soz, 175), womit eine partielle Loslösung vom rein traditional bestimmten Handeln bezeichnet ist. Das Moment der Loslösung ist – wie schon im Falle des affektuellen Handelns – mit dem Element des Bewusstseins verknüpft. Die Tradition als Handlungsgrund wird hier seines quasi naturalen Gepräges entkleidet und durch den bewussten Umgang sinnhaft angereichert. Das Verhältnis von Tradition und Verhalten lässt sich somit nicht mehr anhand eines Reiz-Reaktion-Musters spezifizieren. Vielmehr wird jenes Verhältnis offenkundig den Strukturvorkommnissen des Handlungsbegriffs entsprechend gefasst. Die Tradition hat den Status eines eines sinnhaften Motivs. Das traditional bestimmte Handeln bildet in dieser Weise gefasst eine Sublimationsgestalt dieses Handlungstyps. Diese Überlegungen können nun mit dem Zauberer in Beziehung gesetzt werden. Der beiden Bereichen gemeinsame Nenner bildet den Übergang von der Natur zur Kultur, vom reiz-reaktiven Verhalten zum sinnhaften Handeln. In religionssoziologischer Perspektive ist hier allen voran an die charismatische Tabuierungsgewalt der Berufsmagier zu erinnern,²³ durch das sie zur Herausbildung von Normvorstellungen beitragen, die wiederum als Grundlage dessen dienen, was Weber an anderer Stelle als Einverständnishandeln bezeichnet, also ein Gemeinschaftshandeln, das eine bewusste Anerkennung geltender Normen voraussetzt.²⁴ Tabuvorstellungen stellen somit kulturell vermittelte Verhaltensregulatoren dar. Die Anfänge der religiösen Ethik liegen in solchen „rein magisch motivierten Normen des Verhaltens“ (RG, 167). Insofern diese Anfänge mit der Wirksamkeit der Zauberer zusammenfallen, präfigurieren letztere die zuvor thematisierte Sublimationsgestalt traditionalen Sich-Verhaltens. Es lassen sich also ausgehend vom „Zauberer“ drei Verbindungslinien zur Handlungstypologie der Soziologischen Grundbegriffe ziehen: zum Begriff des af-

22 Vgl. 2. 2. 2. 23 Vgl. 3. 5. 1. 24 Innerhalb der Rechtssoziologie Webers wird dieser Gesichtspunkt – wie wir gesehen haben – anhand des Übergangs von der Sitte zur Tradition reflektiert, wobei letztere hier als Sublimationsgestalt traditional bestimmten Handelns begriffen werden muss. Der Begriff der Sitte hingegen fällt mit dem reinen Typus traditional bestimmten Handelns zusammen. Stefan Breuer spricht bezogen auf Webers Traditionsbegriff daher zu Recht von einem „eigentümlich changierenden Charakter“ desselben (Breuer 2011, 84).

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

337

fektuell, des traditional und des zweckrational bestimmten Handelns. Gleichwohl ist es ausgesprochen schwierig, diese Bezugspunkte in systematischer Perspektive zu erhärten. In Anbetracht der weitreichenden Konvergenzen wäre es durchaus denkbar, dass Weber die unterschiedlichen Bestimmtheitsgründe menschlichen Handelns gleichsam in statu nascendi an den Zauberern durchgespielt hätte und diese damit in diesem Typus religiöser Spezialisten keimhaft angelegt wären. Dafür spräche nicht zuletzt der herausgehobene Stellenwert, den Weber der Sinngebungsleistung der Zauberer bescheinigt. Allerdings findet diese Zuordnung spätestens dann ihre Grenze, wenn der Begriff des wertrationalen Handelns berücksichtigt wird. Denn dieser lässt sich unter den von Weber geltend gemachten Bedingungen magischer Religiosität nicht denken. Wenn hier Bezugspunkte zwischen Webers „Zauberer“ und seiner Handlungstypologie hergestellt wurden, dann dürfen diese also nicht in dem Sinne missverstanden werden, als ob sich die besagten Handlungstypen, wenn sie auf ihre Konstruktionsvoraussetzungen hin befragt werden, ausschließlich aus Webers Überlegungen zum „Zauberer“ ableiten ließen. Vielmehr soll lediglich der Verdacht geäußert werden, dass mit dem Berufsmagier ein Teil ihrer Induktionsbasis bezeichnet sein könnte. Viel deutlicher hingegen tritt Webers Interesse zutage, den durch die Zauberer repräsentierten Aufbruch ins Jenseits herauszuarbeiten, der weitreichende Konsequenzen für den Aufbau der Kulturwirklichkeit hat. Webers „Zauberer“ bildet gleichsam den Prototypen des Kulturmenschen. Mit ihm ist der Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus verbunden, d. h. sie tragen durch ihre gedankliche Systematisierung der magisch-religiösen Vorstellungen im Effekt zu einer Konsolidierung des religiös bestimmten Handelns bei. Anders formuliert: sie legen das Fundament, auf dem das Reich des religiösen Handelns errichtet werden kann. Aber auch wenn mit dem „Zauberer“ die Anfänge einer kulturalistischen Einstellung zur Umwelt markiert ist – Hartmann Tyrell spricht von einer deutlichen „Disposition zur Reflexivität“²⁵ – kommen genauso die mit ihnen verbundenen Grenzen dieses Prozesses zum Vorschein. Davon, den Sinn- bzw. Bedeutungsbegriff mit dem Gedanken der Welt verschmelzen zu können, sind sie weit entfernt, worin sicherlich ein Grund dafür liegt, dass Weber sie nicht mit dem Begriff der Wertrationalität in Verbindung bringt. Die Systematisierung der Vorstellungswelt und die Methodisierung der Lebensführung bleibt hier vielmehr fragmentarisch.

25 Tyrell 1992, 191.

338 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen

4.2.2 Die traditionale Vermittlung des Sinns – der Priester Wie schon im Falle der Zauberer fließen auch in Webers Priesterverständnis eine Vielzahl von Theoriedimensionen und ein ganzes Bündel religionswissenschaftlich und -geschichtlich einschlägiger Themen und Motive ein. Im Rahmen der forschungsgeschichtlichen Kontextualisierung von Webers Priesterbild wurde darüber Auskunft gegeben.²⁶ Die folgenden Ausführungen werden sich nun auf die Aspekte zu konzentrieren haben, die in handlungstheoretischer Perspektive von Relevanz sind. Dazu sind zunächst die Kulturleistungen zu rekapitulieren, die Weber mit dem Priestertum verbindet (a). Sodann soll der Versuch unternommen werden, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum Weber in diesem Zusammenhang darauf verzichtet, mit dem Sinnbegriff zu operieren (b). Abschließend wird zu prüfen sein, inwiefern Webers Begriff des Priesters und seine Handlungstypologie miteinander in Beziehung gesetzt werden können (c). a) Um Webers Urteil über die Kulturbedeutung von Priestern zu illustrieren, bietet es sich an, ihre Wirksamkeit nach zwei Hinsichten zu rubrizieren, einerseits ihre intellektuellen Leistungen und andererseits ihr praktisches Tätigkeitsfeld. In intellektueller Hinsicht ist die schon thematisierte Systematisierung mündlich vermittelter Traditionen, die Kanonisierung heiliger Schriften sowie deren Interpretation im Medium der Dogmenbildung namhaft zu machen.²⁷ In der auf die Priester zurückgehenden „Buchreligion“ erblickt Weber nichts Weniger als die „Grundlage eines Bildungssystems“, „nicht nur für die eigenen Angehörigen der Priesterschaft, sondern auch und gerade für die Laien.“ (RG, 205) Die Priester stehen damit zugleich in einem ursächlichen Zusammenhang zum „Laienrationalismus“ (RG, 218) und zur „literarischen Bildung“ (RG, 207). Im Bereich der Praxis steht – wie oben ebenfalls bereits ausgeführt wurde – der Kultus im Zentrum.²⁸ Dieser wird von den Priestern regelmäßig an festen Orten und Zeiten und für einen bestimmten Personenkreis besorgt. Weber erblickt im kultischen Handeln der Priester zudem ein kontinuierliches Zweckhandeln, weswegen er den Kultus als einen Kultusbetrieb spezifiziert. Neben der Predigttätigkeit gehört die seelsorgerliche Praxis zu den wichtigsten Aufgaben innerhalb dieses religiösen Betriebs. Umso erstaunlicher und geradezu kontraintuitiv ist es demgegenüber, dass Weber von der Verwendung des Bedeutungs- bzw. Sinnbegriffs im Rahmen seiner Ausführungen zu den Priestern weitgehend absieht. In Anbetracht ihrer herausragenden Kulturleistungen – allein schon in intellektueller Perspektive – wäre 26 Vgl. 3. 5. 2. 27 Vgl. 3. 5. 2. 28 Vgl. 3. 5. 2.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

339

es alles andere als überraschend gewesen, wenn er sie mit dem Gedanken der Sinngebung verbunden hätte. Denn dieser Gedanke liegt geradezu in der Konsequenz seiner Grundüberzeugung, dass die Priester – neben den Propheten – religionsgeschichtlich betrachtet den größten Anteil an der Systematisierung der religiösen Metaphysik und Ethik haben. Dass damit eine sinnhafte Durchdringung dessen, was ist und sein soll, einhergeht, liegt auf der Hand. Genau das aber bleibt unausgesprochen, woran sich die Frage entzündet, welche Gründe dafür ausschlaggebend gewesen sind, vom Bedeutungs- bzw. Sinnbegriff in diesem Zusammenhang abzusehen. b) Eine mögliche Antwort verweist auf die besondere Art priesterlicher Einflussnahme auf die Umwelt. Weber verbindet mit dem Priestertum – wie es in seiner Herrschaftssoziologie heißt – ein „umfassendes System ethisch-religiöser Lebensreglementierung“ (H, 592), was zugleich bedeutet, dass es wesentlich zur Homogenisierung der Handlungswelt beiträgt und das Zauberwesen und die Prophetie in dieser Beziehung bei weitem übertrifft: „Die Hierokratie ist die am stärksten stereotypierende Macht, welche es gibt“ (H, 634). Um diesen Gesichtspunkt gedanklich weiter verfolgen zu können, müssen zweierlei Aspekte berücksichtigt werden: einerseits das Verhältnis der Priester zur prophetischen und zur magischen Religiosität, andererseits die herrschaftssoziologischen Implikationen, die Weber mit der Priesterschaft verbindet. Was die spezifische Stellung der Priester betrifft, so werden sie in den Religiösen Gemeinschaften buchtechnisch zwar vor den Propheten thematisiert, gleichwohl behandelt Weber sie – wie Bernhard Lang zurecht herausstellt – primär als eine „nachprophetische Erscheinung“.²⁹ Die metaphysischen und rituellen Vorstellungen der Priester stehen in der Regel in einem Ableitungsverhältnis zur prophetischen Offenbarung, die von ihnen in theoretischer und praktischer Hinsicht systematisiert wird. Dieser Konnex zur Wirksamkeit der Propheten ist in diesem Zusammenhang insofern von weitreichender Bedeutung, als sie damit an dem Universalitätsanspruch prophetischer Verkündigung Anteil haben. Der massive Einfluss auf die Lebensführung der Verbandsgenossen verweist auf die universale Sinnstiftungsleistung der Propheten zurück.³⁰ Dass es ihnen aber im Unterschied zur Prophetie gelingt, die Lebensführung im Effekt tatsächlich zu reglementieren, liegt in einem anderen Aspekt begründet, der hier Erwähnung finden muss und das Verhältnis des Priestertums zur Magie betrifft. Wie bereits dargelegt wurde, legt Weber ein besonderes Augenmerk auf die Anpassung priesterlicher Dogmen und Riten an die „Gewohnheiten und Konven-

29 Lang 2001, 177. 30 Vgl. dazu 4. 2. 3.

340 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen tionen und . . . sachlichen Notwendigkeiten der Laienumwelt“ (RG, 216). Letztere aber ist magisch durchdrungen, was zugleich bedeutet, dass sich die Arbeit der Priester den „magischen Formen religiöser Vorstellungen und Praktiken“ (RG, 216) anpasst. In der Wirksamkeit dieses Typus religiöser Akteure ist damit eine Bewegung von den Sinngebungsleistungen der Propheten hin zur Magie enthalten, die gleichsam als eine Abkehr von der Kultur und ein Rückschritt zur Natur begriffen werden kann. Dieser Gesichtspunkt wird von Weber auch ausdrücklich benannt. Die Anpassung an die Gewohnheiten der Verbandsmitglieder bedeutet eine kasuistische Fragmentierung der „inneren Einheit“, „welcher der Prophet in die Ethik gebracht hatte“ (RG, 215). Diese Richtungsveränderung klingt nicht zuletzt schon in der naturalistischen Note des Anpassungsbegriffs an, der in dieser Weise zum damaligen Zeitpunkt vor allem in der Biologie Verwendung gefunden hatte, was Weber bekannt gewesen ist.³¹ In den Religiösen Gemeinschaften kommen die Priester also zwischen den Zauberern und Propheten zu stehen. Mit letzteren verbindet sie der universalistische Anspruch der Metaphysik und Ethik. Dieser Anteil an der Prophetie bildet eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Priester dazu in der Lage sind, das Handeln der Verbandsteilnehmer mehr oder weniger vollständig zu stereotypieren. Das gelingt ihnen aber nicht nur besagter Universalisierungstendenz wegen. Genauso wichtig ist der Umstand, dass sie sich strikt auf die konkreten Lebensumstände ihrer Umwelt beziehen und sich ihnen anpassen, was sie wiederum mit den Zauberern verbindet.³² Die Priester bewegen sich somit auf der Grenze zwischen der Diesseitigkeitsausrichtung magischer Religiosität und der durch die Prophetie offenbarten Einheit des Sinns, deren Grund im Jenseits liegt. Damit aber vereinen sie in sich zwei Typen religiöser Spezialisten, die in entwicklungstypologischer Perspektive Antipoden sind.³³ Deren Gegenläufigkeit spiegelt sich im Auftreten der Priester in dem Augenblick deutlich wider, in dem sie durch

31 So bestimmt etwa der für seine Dominantentheorie bekannte Biologe und Naturphilosoph Johannes Reinke (1849–1931) die aktive „Anpassung“ als „die Fähigkeit, sich den Bedingungen der Außenwelt entsprechend zu verändern“ (Reinke 1901, 105). An anderer Stelle bezeichnet er sie als „die vorteilhaft wirkende Reaktion des Organismus gegenüber der Außenwelt“ (Reinke 1903, 253). Weber kommt in Roscher und Knies innerhalb einer Anmerkung auf Reinke zu sprechen (vgl. RK I, 36) und wusste um die biologische Konnotation des Anpassungsbegriffs. In seinem Beitrag über den Sinn der ‚Wertfreiheit‘ hält er fest, dass der Anpassungsbegriff seine „Heimat in der Biologie“ (SdW, 516) habe, vgl. auch RK II, 66. Weber überträgt nun diesen naturwissenschaftlich geprägten Begriff in den Bereich des Sozialen, sodass die jenem Begriff inhärierenden Momente eines Reiz-Reaktions-Schemas im Zusammenhang seiner Darlegungen zum Priestertum anklingen. 32 Der in den Soziologischen Grundbegriffen verwendete Begriff des hierokratischen Zwangs (vgl. Soz, 212) könnte ebenfalls eine Reminiszenz an die magische Prägung des Priestertums darstellen. 33 Der Kampf der Prophetie gegen die Magie ist oben bereits besprochen geworden, vgl. 3. 5. 3.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

341

die Anpassungspraktiken an die magisch geprägte Vorstellungswelt permanent den Sinnaufbau prophetischer Religiosität unterlaufen. Dass der mit letzterer verbundenen Dynamik damit die Spitze abgebrochen wird, liegt auf der Hand. Es kommt zu Erstarrungseffekten, die aber zugleich eine Konsolidierung religiöser Vorstellungen und Praktiken ermöglichen. Hierin liegt die massive stereotypierende Macht des Priestertums. Nur wenn die Metaphysik und die Ethik, die ihren Ursprung in der prophetischen Verkündigung haben, mit den Lebensgewohnheiten der sogenannten Massen verschmolzen werden, erhöht sich die Chance, dass sie anerkannt und befolgt werden. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen betrachtet, lässt sich wiederum das besondere Potential religiösen Gemeinschaftshandelns verständlich zu machen, durch das sich das Priestertum von den Zauberern und Propheten abhebt. An diese Überlegungen knüpft nun der zweite, herrschaftssoziologische Aspekt an, an dem sich die in Frage stehenden Bindungskräfte, die das Priestertum zu erzeugen weiß, verständlich machen lassen. Oben wurde bereits darauf verwiesen, dass für Weber die Hierokratie die stärkste stereotypierende Macht darstellt. Wie bei jeder anderen Herrschaftsform ist die Durchsetzung der Hierokratie vom „Legitimitätsglaube[n]“ (Soz, 450) der Beherrschten abhängig. Die Chance, dass einem Befehl Gehorsam geleistet wird, basiert auf diesem Glauben, weswegen jede Herrschaft darum bemüht ist, diesen „zu erwecken und zu pflegen“ (Soz, 450). Dieser herrschaftssoziologische Spitzenbegriff kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr muss das Augenmerk an dieser Stelle darauf gelegt werden, dass im Falle der Priesterherrschaft die Anerkennungsdimension auf die heilige Tradition bezogen ist. Es handelt sich daher um die „Herrschaft kraft traditioneller Autorität, die Herrschaft des ewig Gestrigen, Herkömmlichen und deshalb als heilig und unabänderbar Geltenden“ (H, 754). Wenn die Hierokratie das Verhalten so umfassend wie kein anderer Herrschaftstyp zu stereotypieren in der Lage ist, dann deswegen, weil dieses Herrschaftsverhältnis traditional bestimmt ist. Damit ist nun auch derjenige Begriff angesprochen, in dem sich Webers Priesterdeutung bündelt. Es handelt sich um den Begriff der heiligen Tradition. Auch wenn er bereits im Rahmen seiner Ausführungen zur magischen Religiosität Verwendung gefunden hat, nimmt er hier einen viel weitreichenderen Stellenwert ein. Denn aufgrund der zuvor angesprochenen spezifischen Verortung des Priestertums zwischen den Zauberern und den Propheten entfalten diejenigen Traditionen, in deren Dienst die Priester stehen und für deren Erhalt sie eintreten, gegenüber den Verbandsmitgliedern ein Bindungspotential, das weit über die magischen Traditionen hinausgeht. Der Einfluss der prophetischen Verkündigung und der damit einhergehenden Universalisierungstendenz schattet sich im Auftreten der Priester dahingehend ab, dass die heilige Tradition mit dem Anspruch verbunden ist, für

342 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen das gesamte Denken und Handeln verbindlich zu sein. Insofern die Heiligkeit Unveränderlichkeit impliziert, sind alternative Handlungsspielräume weitgehend ausgeschlossen und werden auch von den Priestern unterbunden. Weber stellt deren Kampf gegen traditionsfremde Mächte – hier ist an disparate Erscheinungen wie neue Prophetien oder den Kapitalismus zu denken – ausdrücklich heraus und damit wiederum das Stereotypierungspotential priesterlicher Traditionen. Im Traditionsbegriff bündelt sich der für Weber stets wichtige Effekt, den die Religion auf die Lebensführung hat. Und unter diesem Blickwinkel betrachtet, schält sich eine Form des Verhaltens heraus, das an der Grenze dessen steht, was als sinnhaftes Handeln bezeichnet werden kann. Von hieraus lässt sich nun auch verständlich machen, warum Weber davon absieht, im Rahmen seiner Priesterdeutung mit dem Sinnbegriff zu operieren. Es wäre vollkommen kontraintuitiv, die Ursache dafür in den epochalen Kulturleistungen der Priester zu suchen, die Weber in der Perspektive der religiösen Sinngebung durchaus zu würdigen weiß. Der Grund liegt vielmehr in den verhaltensstereotypierenden Effekten dieser Leistungen, die sich – ihrer Anpassung an die Bedürfnisse der Laienumwelt wegen – auf der Ebene der Lebensführung in Gestalt eines traditional bestimmten Handelns niederschlagen. Und insofern Weber letzteres nicht unter die Formen rationaler Handlungsbestimmtheit zu subsumieren vermag, verzichtet er im Rahmen seiner Priesterdarstellung auf die Verwendung des Sinnbegriffs. Damit können wir uns dem dritten, der eingangs gestellten Themenbereiche zuwenden, der Frage nach der Kontextualisierbarkeit von Webers Begriff des Priesters und seiner Handlungstypologie. c) Vor dem Hintergrund der zuletzt angestellten Überlegungen ist es naheliegend, Webers Priesterdarstellung mit dem Typus eines traditional bestimmten Handelns in Beziehung zu setzen, zu welchem bereits Verbindungslinien zum Zauberwesen gezogen wurden. Doch wie schon im Falle der Berufsmagier ist auch hier nicht das reiz-reaktiv vorgestellte Masseverhalten von Belang, für das der Traditionsbegriff stehen kann. Vielmehr muss das traditional bestimmte Handeln erneut in seiner sublimierten, eine reflexive Vermittlungsebene umfassenden Gestalt gefasst werden, um die konzeptionellen Parallelen zum Begriff des Priesters sichtbar machen zu können. Wird dieses Handlungsmuster als Konstruktionselement des „Priesters“ begriffen, spricht vieles dafür, diesem ein größeres Gewicht als dem „Zauberer“ beizumessen, wenn der in den Soziologischen Grundbegriffen eingeführte Typus traditional bestimmten Handelns auf seinen historischen Stoff hin befragt wird. Denn in dem Auftreten der Priester bündeln sich die Voraussetzungen, die für die Annahme eines vollständig traditional bestimmten Handelns erforderlich sind. Das Leben im Zeichen der Tradition ist hier nicht, wie im Falle des Zauberwesens, auf segmentierte Bereiche der Lebenswirklichkeit beschränkt und damit nur in Ansätzen vorhanden. Vielmehr erstreckt es sich auf das gesamte Verhalten. Ist aber

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

343

der Handlungsvollzug insgesamt traditional bestimmt, legt es sich in den Bahnen der eingelebten Gewohnheit aus. Indem die Priester einer solchen Verhaltensweise Vorschub leisten, nehmen sie in entwicklungstypologischer Perspektive zugleich eine gleichsam transzendentale Funktion für die Genese dieses Handlungsmodells ein. Diese Überlegungen untermauern den Verdacht, den Begriff des traditionalen Handelns, den Weber in den Soziologischen Grundbegriffen als einen eigenen Handlungstyp konzipiert hat, in handlungstheoretischer Perspektive analog zu Webers „Priester“ lesen zu können. Die für diesen Begriff konstitutiven, handlungstheoretisch relevanten Konstruktionselemente sind gleichermaßen für die Bildung jenes Typs bestimmend geworden. In letzterem ist jedoch das gleichsam individuierende Moment, das durch den „Priester“ angezeigt ist, beinahe vollständig zurückgetreten. Zugespitzt formuliert, bildet dieser Handlungstypus den auf sein handlungstheoretisches Gerüst reduzierten und damit von historischen Einsprengseln weitgehend isolierten Begriff des Priesters. Dieser Faden kann aber auch noch in eine andere Richtung weiter gesponnen werden. Dazu ist in Erinnerung zu rufen, dass Webers „Priester“ selbst als der idealtypische Begriff eines religiösen Spezialisten begriffen werden muss und den Regeln der idealtypischen Begriffsbildung zufolge liegt auch diesem ein bestimmtes Material zugrunde. Wie oben dargelegt wurde, spricht vieles dafür, dass Webers Priesterbild unter dem Einfluss von Julius Wellhausens Arbeiten zum Alten Testament entstanden ist.³⁴ Wellhausens Entfaltung der Geschichte Israels gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zur Induktionsbasis von Webers Priesterbegriff. Die Elemente, die der Göttinger Theologe zum Kernbestand priesterlicher Tätigkeit und priesterlichen Selbstverständnisses zählt, finden sich ebenso in Webers Priesterbegriff versammelt, sodass sich der Wechselbedingungszusammenhang von Religionssoziologie und Handlungstheorie in diesem Falle noch weiter konkretisieren lässt. Webers Begriff des traditionalen Handelns bzw. dessen Sublimationsgestalten setzen nicht nur den besagten Grundbegriff der Religionssoziologie voraus, sondern gleichermaßen die zeitgenössische, vor allem protestantische Forschungsliteratur zum Priesterbegriff. Eine ähnliche Gemengelage lässt sich auch an Webers Prophetendeutung demonstrieren, der es sich nun zuzuwenden gilt.

34 Vgl. 3. 5. 2.

344 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen

4.2.3 Die universale Sinngebung – der Prophet Die eingangs angedeutete Schwierigkeit, die Protagonisten religiösen Handelns mit dem Begriff menschlichen Sichverhaltens in Beziehung zu setzen, erfährt – jedenfalls in den Religiösen Gemeinschaften – im Falle der Prophetie eine deutliche Verschärfung. Denn der Prophet ist in diesem Werk allenfalls rudimentär als ein Handlungssubjekt erkennbar. Schon in einem ersten Zugang weisen darauf verschiedene Beobachtungen hin. So stellt Weber zwar den prophetischen Ursprung von Predigt und Seelsorge heraus, auf eine Erörterung, wie die Propheten diesen Tätigkeiten nachgehen, verzichtet er jedoch weitgehend. Das angesprochene Problem lässt sich aber auch indirekt durch die Berücksichtigung von Handlungsfeldern verdeutlichen, die Weber explizit von deren Wirksamkeit abhebt. Das gilt etwa für den Bereich der Ökonomie. Obgleich diese Dimension rationalen Handelns bezogen auf die Zauberer und Priester von ihm mehrfach geltend gemacht wird, handelt es sich bei den Propheten um Akteure, deren Auftreten sich gerade dadurch auszeichnet, nicht wirtschaftlich bestimmt zu sein. Dementsprechend unterstreicht Weber die Unentgeltlichkeit ihrer Mission, was sicherlich auch dem Anliegen geschuldet ist, die qualitative Differenz zu jenen beiden Figuren zu unterstreichen. Während Zauberer und Priester einer wirtschaftssoziologischen Analyse unmittelbar zugänglich sind, erweist sich eine solche Herangehensweise im Falle der Propheten als ungleich schwieriger. Ganz ähnlich liegen die Dinge schließlich, wenn die drei religiösen Spezialisten in herrschaftssoziologischer Perspektive in den Blick genommen werden. Wie wir gesehen haben, gehen die Zauberer und Priester ihrem „Beruf“ auch im Interesse ihrer Herrschaftssicherung nach. Die Propheten der Religionssystematik agieren indes nicht aus einem entsprechenden Kalkül heraus.³⁵

35 Das heißt freilich nicht, dass es sich beim Prophetentum um einen herrschaftssoziologisch unzugänglichen Bereich handelte. Weber führt den Propheten ausdrücklich unter dem Typus charismatischer Herrschaft auf (vgl. Soz, 490). Dieser Gesichtspunkt spielt in den Religiösen Gemeinschaften jedoch eine untergeordnete Rolle. In seinen Judentumsstudien hält Weber bezogen auf die alttestamentliche Prophetie fest, dass deren politische Haltung „rein religiös motiviert“ (J II, 626) gewesen sei. „Sie waren überhaupt nicht primär an politischen Interessen orientiert.“ (J II, 617) Das deutet Weber bereits in der dritten Auflage der Agrarverhältnisse (1908) an, womit er sich – wie Eckart Otto herausstellt – an Julius Wellhausen orientiert, vgl. Otto 2005b, 20f. Dieser Gesichtspunkt scheint bei Bourdieu vernachlässigt zu sein, der den Fokus auf den „Kampf um das Monopol auf die legitime Ausübung der religiösen Macht“ (Bourdieu 2011a, 19) richtet und die Pointe prophetischen Auftretens auf eine „‚Machtfrage‘“ (Bourdieu 2011a, 25) zuzuspitzen können meint. Hierin folgt er dem Prophetenbild der Nuer, das Edward Evans-Pritchard gezeichnet hat, vgl. Bourdieu 2011b, 64f.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

345

Webers Interesse daran, in der Religionssystematik die religiösen Spezialisten primär als Typen religiöser Sinngebung auszuweisen, erreicht im Begriff des Propheten – und das gilt vor allem für den Typus des ethischen bzw. des Sendungspropheten – seinen Höhepunkt. Das Verhaltensmoment tritt demgegenüber fast vollständig in den Hintergrund. Das aber wirft überhaupt die Frage auf, inwiefern es Weber gelingt, die für die Prophetie signifikante Form der Sinngebung handlungstheoretisch zu fundieren.³⁶ Eine Antwort auf diese Frage zu geben, ist nicht leicht. Und in der Tat ist die Annahme irritierend, den Begriff eines einheitlichen, von Propheten gestifteten Sinns, der alles betrifft, was ist und sein soll, mit dem subjektiv gemeinten Sinn zu identifizieren, den Propheten ihrem Verhalten beilegen und auf Dinge sowie Sachverhalte außerhalb ihrer selbst beziehen. Indes muss aber auch hier wiederum gefragt werden, ob sich unter den Prämissen des Weberschen Denkens eine strikte kategoriale Trennung dieser beiden Sinnebenen plausibilisieren ließe. Diese Frage berührt die Prinzipienproblematik des sinnhaften Aufbaus der Welt. Die Ansicht, dass letzterer nur auf das Konto einzelner Akteure ginge, wäre ausgesprochen zweifelhaft. Sie entspricht auch nicht Webers Sicht der Dinge, weil seine Rede vom Propheten – und das gilt ebenso vom Zauberer und Priester – auf keine kontingenten historischen Personen referiert. Vielmehr handelt es sich um idealtypische und das heißt immer auch um reduktionistische Begriffe. Hierin liegt vielleicht auch eine Antwort darauf, wieso es Weber in der Religionssystematik unterlässt, bestehende Sinnsysteme, unter deren Voraussetzungen das Auftreten jener idealtypischen Akteure steht, weitgehend auszuklammern. Denn damit vermittelt er den Eindruck, dass die Sinngebung – zugespitzt formuliert – den Zustand der Sinnlosigkeit voraussetzt und damit gleichsam ex nihilo erfolgt.³⁷ Daran, dass eine solche Sichtweise den realgeschichtlichen Prozessen in gar keiner Weise entspräche, kann kein Zweifel sein. Wird dieser Sachverhalt von Weber jedoch nahezu

36 Dieser Gesichtspunkt ist in der Forschungsliteratur in einer allgemeineren Perspektive andeutungsweise diskutiert worden. So unterscheidet Hartmann Tyrell strikt zwischen metaphysischem Sinn und Handlungssinn (Tyrell 1990, 15287). Als Referenz führt er an dieser Stelle einen Beitrag von Alois Hahn zum Thema Sinn und Sinnlosigkeit auf, der auf Luhmanns Theorie sozialer Systeme gemünzt ist. Hahn kommt hier am Rande auf Weber zu sprechen. Bemerkenswert ist, dass er zwar die auf bloßes Geschehen sowie auf den Weltbegriff bezogene Sinndimension von der des Handelns abgrenzt, aber gleichwohl deren inneren Zusammenhang andeutet: „Der Sinnbegriff, der hier zugrunde liegt, ist aber nicht einfach der Transposition des unterstellten subjektiv gemeinten Sinns von Handeln auf Geschehen entsprungen, wenn er auch ohne sie nicht zustande gekommen wäre.“ (Hahn 1987, 163). Vgl. zu diesem Thema auch Dux 1971, 68 sowie Schwinn 1993, 579f. 37 Es sei daran erinnert, dass Weber in den frühen methodologischen Schriften durchaus analoge Überlegungen angestellt, wenn er die ursprüngliche Wirklichkeit als ein sinnloses Chaos bestimmt, der Sinn eingeschrieben wird, vgl. 2. 2. 1.

346 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen gänzlich ausgeklammert, so artikuliert sich hierin das Verfahren idealtypischer Reduktion. Doch ist damit die Frage noch nicht beantwortet, in welchem Verhältnis der subjektiv gemeinte Sinn prophetischen Handelns zum Begriff der (metaphysischen) Sinngebung steht. Auch wenn Weber dieses Problemfeld nicht eigens thematisiert, gibt es durchaus Anhaltspunkte, die auf eine systematische Verbindung beider Sinnebenen hinweisen. Darauf deutet zunächst Webers Fassung der Verhalten-SinnRelation hin, die – wie wir oben bereits gesehen haben – in einer für die Prophetie spezifischen Weise erfolgt.³⁸ Der Sinn ihres außeralltäglichen Verhaltens (Ekstase) wird ex post bestimmt, und zwar mittels intellektueller Tätigkeiten. Weber spricht vom Grübeln und vom Deuten der Propheten, die ihrerseits als Handlungen begriffen werden können.³⁹ Die auf diesem Wege hergestellte Verbindung von Sinn und Verhalten ist sodann mit dem Berufungs- und Offenbarungsgedanken verbunden und mündet in den prophetischen Beruf der „Verkündigung“ (RG, 178. 180. 187) ein. Diese Sprachhandlungen bauen auf der Sinngebung des auf den ersten Blick sinnlosen Verhaltens auf und werden wiederum durch intellektuelle Operationen und das heißt zugleich mittels subjektiv orientiertem Handeln systematisch ausgebaut. Die universale Sinngebung, die im Mittelpunkt der prophetischen Wirksamkeit steht, befindet sich sonach in einem konstitutiven Zusammenhang zum eigenen Handeln. Der metaphysische Sinn fällt nicht mit einem einzelnen Handlungssinn zusammen, steht jedoch in einem Begründungszusammenhang zu diesem. Diesen Prozess der Anreicherung und Systematisierung des Sinns, der seinen Ausgangspunkt im ekstatischen Verhalten hat und davon ausgehend in unterschiedlichen intellektuellen Formen des Sichverhaltens sowie in Sprachhandlungen des Propheten fortgeführt wird, entfaltet Weber nicht eigens. Seine Ausführungen konzentrieren sich in der Religionssystematik ganz auf die prophetische Sinngebung, um zu unterstreichen, dass diese innerhalb des religiösen Kulturbereichs das Höchstmaß einer sinnhaften Durchdringung der Welt repräsentiert. In dieser Hinsicht hebt sich der mit dem Prophetenbegriff unmittelbar verwobene Sinnbegriff deutlich von demjenigen der anderen beiden religiösen Spezialisten ab. Dieser bleibt nicht – im Unterschied zu den Zauberern – auf segmentierte Bereiche der Lebenswirklichkeit beschränkt und tritt ebenso wenig – wie es bei den Priestern der Fall ist – in einer magisch gebrochenen Gestalt auf. Vielmehr handelt es sich hier um eine vollständige sinnhafte Durchdringung alles dessen, was ist und sein soll. Genau dafür steht die oben bereits besprochene Synthese von Sinn- und 38 Vgl. 3. 5. 3. 39 Zum Handeln gehört „menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden“ (Soz, 149) bzw. „Denken und Tun“ (K, 433), sofern es mit einem subjektiv gemeinten Sinn verbunden ist.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

347

Einheitsbegriff, die Weber für das Prophetentum reserviert hat.⁴⁰ Die Propheten erweisen sich – in idealtypischer Perspektive – als universale Sinnstifter. Die Lückenlosigkeit ihrer Sinnsetzungen demonstriert Weber an drei Aspekten: der „Persönlichkeit“ des Propheten, an der theoretischen Erfassung der „Welt“ und der praktischen Bestimmung der „Lebensführung“. Diese drei Vorkommnisse der Zusammenführung von Einheit und Sinn gilt es nun zu skizzieren, um auf diesem Wege das handlungstheoretische Profil des Prophetenbegriffs zu schärfen (a). Daran anschließend gilt es, Verbindungslinien zwischen Webers Prophetendeutung und seiner Handlungstypologie herzustellen (b). a) Dass die Persönlichkeitsdimension für das Verständnis der Prophetie von grundlegender Bedeutung ist, wird von Weber immer wieder betont. Damit greift er einen Begriff auf, der in der Zeit der klassischen Moderne eine weite Verbreitung gefunden hatte und oft mit denen der Individualität und des Individuums verknüpft wurde. Und auch in der Prophetenforschung der damaligen Zeit hatte der Begriff der Persönlichkeit einen festen Platz.⁴¹ Weber greift diesen Begriff in verschiedenen Bezügen auf. So ist etwa die Rede von der Berufung des Propheten kraft persönlicher Offenbarung sowie von dessen Qualität, durch diese Berufung persönlicher Charismaträger zu sein.⁴² Wenn man danach fragt, worin die Möglichkeitsbedingung jener Personalitätsvorstellung besteht, könnte das ekstatische Verhalten des Propheten in Betracht gezogen werden, sieht Weber die Ekstase doch als ein Grundmerkmal der Prophetie an. Doch diese Möglichkeit entpuppt sich alsbald als ein Holzweg, nimmt Weber die ekstatischen Erlebnisse als solche vielmehr zum Anlass, die Propheten als Sonderlinge zu bezeichnen (vgl. J II, 632). Nicht auf der Ekstase beruht der Konstitutionsgrund der Person, sondern vielmehr auf einer gelungenen, sinnhaften Ausdeutung dieser Erlebnisse.⁴³ Der Prophet grübelt, wie

40 Vgl. 3. 5. 3. 41 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass selbst noch Gerhard von Rad in seiner Theologie des Alten Testaments diesen Zusammenhang herstellt. So heißt es mit Bezug auf die Prophetie Jeremias, „daß in diesen Texten das freie persönliche Individuum zum ersten Male sich entfalte“ (Rad 1962, 212). Die Prophetie der babylonischen und frühpersischen Zeit wird auch unter einem entsprechenden Titel verhandelt: „Der Prozeß der Individualisierung“ (Rad 1962, 277). 42 An der individualistischen Zuspitzung des Charismagedankens übt Bourdieu Kritik und formulierte pointiert, „dass der Prophet weniger der ‚außeralltägliche‘ Mensch ist, von dem Weber spricht, als vielmehr der Mensch der außeralltäglichen Situationen“ (Bourdieu 2011b, 87). Zu den Möglichkeitsbedingungen des prophetischen Charisma gehören für Bourdieu auch die soziokulturellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer der Prophet auftritt, wobei er vor allem an gesellschaftliche Krisensituationen denkt. 43 Zumindest hingewiesen sei hier auf eine Bemerkung Karl Holls, die dieser auf Max Webers Begriff von Rationalität bzw. Irrationalität gemünzt formuliert hat: „Das Entscheidende an der Religion ist nicht, daß sie ‚irrational‘, oder wie man früher vielleicht besser sagte, daß sie ‚paradox‘

348 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen es bei Weber heißt, über den Sinn seiner pathologischen Zustände. Letztere als Offenbarung anzusehen, bildet immer das Resultat eines Deutungsaktes, das den Propheten zu der Überzeugung führt, von Gott berufen und gesandt zu sein.⁴⁴ Mit diesen Überlegungen kommen zugleich die Konstruktionsvoraussetzungen des für Webers Prophetenverständnis grundlegenden Aspekts einer letzten – auch als Überzeugung oder „‚heilige Gesinnung‘“ (RG, 369) bezeichneten – Wertposition in den Blick. Die sinnhafte Ausdeutung eigenen, ekstatischen Erlebens bildet die Grundlage für den Aufbau einer letzten Überzeugung des Propheten, die gleichermaßen als Einheitsgrund seiner Persönlichkeit angesehen werden kann.⁴⁵ Damit zeichnet er sich – gerade im Vergleich mit den Priestern und Zauberern – durch ein spezifisches Selbstverhältnis aus, das insofern relativ autonome Züge trägt, als es nicht in Affekten oder traditionalen Bindungen aufgeht, sondern auf bewussten Stellungnahmen zu eigenen Verhaltensweisen bzw. – um einen modernen Begriff zu verwenden – auf einem reflektierten Selbstumgang beruht. Der Typus des Propheten repräsentiert somit zugleich einen massiven Verinnerlichungsschub religiöser Selbstdeutung. Dementsprechend ist in den Studien zum Konfuzianismus auf die „echte Prophetie“ (KT, 460) bezogen auch die Rede von einem „Streben zur Einheit von innen heraus, das wir mit dem Begriff ‚Persönlichkeit‘ verbinden“ (KT, 461). Doch bildet die letzte Wertposition bzw. Überzeugung nicht allein das Prinzip personaler Einheit. Es fließt gleichermaßen in die Deutung der Lebenswirklichkeit in Gestalt einerseits der „Welt“ und andererseits der „Lebensführung“ ein.⁴⁶ Aus dem Auge des Propheten betrachtet, zerfällt die Umwelt nicht in Elemente, die unverbunden nebeneinander stehen. Vielmehr zieht sich für ihn durch die vielfältigen Erscheinungen, Eindrücke und Wahrnehmungen ein roter Faden hindurch, der aus seiner letzten Wertposition heraus gesponnen wird. Das Leben und die Welt besitzen einen „systematisch einheitlichen ‚Sinn‘“ (RG, 193) und diese Qualität

sei – wäre sie bloß dies, so wäre sie nichts weiter als eine Ungereimtheit –, sondern daß sie Sinn gibt, daß sie auf eine schließliche Entwirrung auch des zunächst Unverständlichen mindestens hofft.“ (Holl 1923f, 36) Mit dieser Bestimmung ist – in der Perspektive der Sinngebung – sowohl Webers Religionsverständnis als auch dessen Prophetendeutung kongenial zusammengefasst. 44 Damit grenzt sich Weber von der – etwa bei Holl anzutreffenden – Annahme ab, das prophetische Selbstverständnis gründe in einem „unmittelbare[n] Selbstgefühl des Profeten, der sich auf eine ihm persönlich zuteil gewordene Offenbarung stützt.“ (Holl 1923e, 382). 45 Eine von Weber nicht problematisierte Schwierigkeit besteht in der Bestimmung der für diese Selbst-Interpretation maßgeblichen Leitgesichtspunkte. Sie bleiben an dieser Stelle offen, worin auch ein Motiv dafür liegen könnte, die gelungene, das heißt sinnhafte Deutung ekstatischpathologischen Verhaltens mit dem Offenbarungsbegriff zu verknüpfen. 46 „Eine echte Prophetie schafft eine systematische Ordnung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus, der gegenüber die ‚Welt‘ als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt.“ (KT, 460).

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

349

ist auf die „bewusst einheitliche sinnhafte Stellungnahme“ (RG, 193) zu der ihm erscheinenden Umwelt zurückzuführen. Die im Medium der Deutung exekutierte Synthesisleistung, durch die Mannigfaltigkeit in Einheit überführt wird, darf aber nicht im Sinne eines additiven Verfahrens verstanden werden. Vielmehr verweist sie auf das einheits- und sinngenerierende Prinzip der letzten Überzeugung zurück, von der ausgehend der Prophet zu den Dingen und Ereignissen seiner Lebenswirklichkeit Stellung nimmt. Daher ist es missverständlich, wenn Weber von einer Deutung der „Welt“ spricht. Vielmehr bildet letztere das Resultat einer gelungenen Deutung. Seine Rede von einer „Konzeption der ‚Welt‘“ (RG, 193) bzw. von den Propheten als Schöpfern eines „Weltbildes“ (KT, 101) ist so gesehen präziser. Und doch ist auch diese Bestimmung letztlich vage. Denn von der Schöpfung eines Weltbildes kann keinesfalls allein bezogen auf die Prophetie gesprochen werden, besteht doch kein Zweifel daran, dass etwa auch die Vorsokratiker klare kosmologische Vorstellungen formuliert hatten.⁴⁷ Aber auch die alttestamentlichen Schriften, hier allen voran der erste Schöpfungsbericht, zeigen auf, dass die Weltvorstellung zum Priesterwissen gehörte.⁴⁸ Das wirft die Frage auf, worin das Spezifikum des prophetischen Weltbildes besteht. Eine Antwort auf diese Frage zeichnet sich in den Religiösen Gemeinschaften ab. Weber hält darin fest: „Die Errichtung des irdischen Königtums wird ausdrücklich als Abfall von Jahve als dem eigentlichen Volkskönig erklärt, und die israelitische Prophetie ist ganz und gar an dem Verhältnis zu den politischen Großmächten: den großen Königen, orientiert, welche Israel zuerst als Zuchtruten Gottes zerschmetterten, dann wieder, kraft göttlicher Eingebung, ihm die Heimkehr aus dem Exil gestatten.“ (RG, 193) Gott wird von den Propheten als derjenige erkannt, der die politischen Geschicke seines eigenen und aller anderen Völker lenkt. Dementsprechend werden in den Judentumsstudien die politischen Ereignisse als „Sache Jahwes“ (J II, 614) ausgewiesen. Die Propheten deuten die politischen Vorgänge damit unter strikt religiösem Blickwinkel: die „realen Machtverhältnisse waren eben nur durch Jahwes Willen so gestaltet. Er konnte sie ändern.“ (J II, 617) Diese Überlegungen bündeln sich schließlich in der Formulierung: „Jahwe blieb ein Gott der Geschichte, und zwar insbesondere: der politisch-militärischen Geschichte.“ (J I, 554) Hierin kommt zweifelsohne ein Spezifikum des durch die alttestamentliche Prophetie repräsentierten Weltbildes zum Ausdruck. Letzteres ist geschichtlich ausgerichtet und als Herr der Geschichte wird der Gott Israels angesehen. Die Einheit der Welt ist inner47 Vgl. Jäger 1953, 28ff. 48 Inwiefern im Alten Testament die Welt als Totalitätsvorstellung zu stehen kommt, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Hingewiesen sei jedoch auf Albrecht Ritschl, der sich mit dieser Frage bereits in einem Artikel zum Lemma „Welt“ auseinandergesetzt hat, vgl. Ritschl 1885, 742–748.

350 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen halb der prophetischen Verkündigung geschichtstheologisch fundiert, was den politisch-historischen Ereignissen eine religiöse Tiefendimension verleiht.⁴⁹ Und genauso wie Weber die Konsequenzen der letzten Überzeugung des Propheten für das ‚theoretische‘ Verständnis der Welt bzw. der Geschichte reflektiert, genauso wird auch die Praxis als sinnhafte Einheit konzipiert. Genau dafür steht die von ihm namhaft gemachte „Zusammenfassung . . . des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung“ (RG, 193). Der Begriff der Lebensführung bildet somit das praktische Pendant zum Begriff der Welt und nimmt im Bereich des Handelns die Systemstelle ein, die die Welt im Rahmen einer theoretischen Durchdringung der Umwelt inne hat. Unter diesen Voraussetzungen betrachtet, zerfällt die Lebensführung ebenso wenig in heterogene Bereiche, sondern repräsentiert vielmehr die Vorstellung von einem in sich geschlossenen, sinnhaften Aufbau sämtlicher Dimensionen des Handelns. Die vollständige Methodisierung des Handelns liegt somit in der Fluchtlinie prophetischen Wirkens, die ihren Ausgangspunkt in der Konstitution eines letzten Werthorizonts besitzt. Diese drei Aspekte der Verknüpfung von Sinn- und Einheitsbegriff (Persönlichkeit, Welt, Lebensführung) lassen deutlich erkennen, dass Weber den Propheten als krönenden Abschluss im Prozess des sinnhaften Aufbaus der Welt inszeniert. Der Prophet kommt als Schöpfer eines in sich geschlossenen Sinnkosmos zu stehen. Der neuralgische Punkt in Webers typologischer Konzeption des ‚Propheten‘ bildet die universale Sinnstiftung. Die einseitige Konzentration auf das Element der Sinngebung darf aber – wie gesagt – nicht dazu verleiten, den Prophetenbegriff losgelöst von der Struktur menschlichen Handelns verständlich machen zu wollen. Der Handlungsbegriff gehört auch in diesem – für die Religionssystematik geltenden – Fall, in dem der Prophet allenfalls rudimentär als Handlungssubjekt ausgewiesen wird, zu den Konstruktionsvoraussetzungen dieses Idealtyps. Dass aber nicht nur Webers Prophetenbegriff auf einem handlungstheoretischen Fundament steht, sondern dass sich auch umgekehrt seine Prophetendeutung in der Weiterentwicklung seiner Handlungstheorie niedergeschlagen hat, sollen die folgenden Überlegungen aufzeigen. Dazu wird zunächst der Begriff wertrationalen Handelns in den Blick zu nehmen sein, den Weber in den Soziologischen Grundbegriffen terminologisch eingeführt hat.⁵⁰

49 Darauf weist auch Ritschl hin, vgl. Ritschl 1885, 742f. Diese geschichtstheologische Perspektive findet bei ihm ihre abstraktere Fassung in der Korrespondenz einer tatsächlichen „Völkerwelt“ mit der „Geltung einer moralischen Weltordnung Gottes“, die wiederum ihre finale Zuspitzung im Gerichtsgedanken findet: „Jahve ist der Richter der ganzen Erde, d. h. aller Völker“ (Ritschl 1885, 743). Vgl. zu diesem Aspekt von Webers Prophetendeutung auch Weiß 1992, 136. 50 Im Kategorienaufsatz ist dieser Begriff jedoch bereits der Sache nach eingeführt. Dort spricht Weber von einem Handeln, das „wertorientiert“ (K, 442) ist.

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

351

b) In seiner Eingangsdefinition wertrationaler Handlungsbestimmung spezifiziert Weber letztere als „bewußten Glauben an den . . . unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ (Soz, 175). Diese – deutlich gesinnungsethisch ausgerichtete – Formulierung hebt auf die Vorstellung ab, dass die Annahme der Alternativlosigkeit des eigenen Handelns auf Gründen aufruht, die dem Handelnden selbst bewusst vor Augen stehen. Diese Gründe verweisen nun wiederum auf eine letzte Wertposition, die an dieser Stelle geltend zu machen insofern naheliegend ist, als der infrage stehende Handlungstyp schon vom Namen her eine werttheoretische Widmung besitzt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich Weber zu der Frage nach der Genesis jener Abschlussfigur äußert. Er spricht von einer „bewußte[n] Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handelns“ (Soz, 175),⁵¹ worin sich die verschiedenen Theoriedimensionen dieses Handlungstyps deutlich widerspiegeln. Dazu gehört zunächst der reflexiv-konstruktive Charakter der Handlungsbestimmtheit. Sodann betont Weber die teleologische Ausrichtung wertrationalen Handelns,⁵² wobei das Telos des Handelns sich durch eine letzte Finalität auszeichnet.⁵³ Schließlich sind die angegebenen Bestimmungen von kaum zu überschätzender Bedeutung, weil sie andeuten, worin das rationale Moment des wertrational orientierten Handelns besteht. Es liegt nicht allein darin begründet, dass dem Handlungssubjekt die Grundsätze seines Handelns vor Augen stehen. Vielmehr werden diese von ihm erzeugt bzw. – wie es bei Weber heißt – herausgearbeitet. Die motivationale Grundlage des Handelns verdankt sich hier also einer bewusst vollzogenen Konstruktionsleistung. Doch ist damit die rationale Signatur dieses Handlungstyps noch nicht vollständig beschrieben. Vielmehr hält Weber ergänzend fest, dass sich das wertrational bestimmte Handeln durch eine „konsequente planvolle Orientierung daran

51 In seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf kommt Weber ebenfalls auf den Begriff der Wertrationalität zu sprechen und lotet das Verhältnis der – mit Dieter Henrich formuliert – letzten Gedanken zur Wissenschaft aus (Weber selbst spricht von den letzten Problemen, Idealen, Standpunkten, Stellungnahmen bzw. vom letzten Sinn des Lebens). Wissenschaft dürfe den Letztbezug des Lebens sowie dessen Voraussetzungen und Konsequenzen beschreiben, aber nicht beurteilen. „Professoren-Prophetie“ (SdW, 492) lehnt Weber bekanntlich ab. 52 Diesen Gesichtspunkt betonte Weber bereits in der dritten Lieferung zu Roscher und Knies. Dort ist die Rede von „letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘ . . . , die sich in ihrem Tun [sc. der Persönlichkeit] zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen“ (RK III, 132). 53 Ohne einen Bezug zum Begriff wertrationalen Handelns herzustellen, nennt Weber in den Soziologischen Grundbegriffen schon zuvor die „letzten ‚Zwecke‘ und ‚Werte‘, an denen das Handeln eines Menschen erfahrungsgemäß orientiert sein kann.“ (Soz, 151) Damit wird die Letztgültigkeit des Finalitätsaspekts wertrationalen Handelns deutlich unterstrichen.

352 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen [sc. an den letzten Richtpunkten]“ (Soz, 175) auszeichne. Während der Aspekt des Konsequenten eine Vollständigkeit der Orientierungsleistung andeutet, unterstreicht das Merkmal des Planvollen den projektiven Charakter dieser Form der Handlungsbestimmtheit. Letztere erstreckt sich nicht allein auf segmentierte Bereiche der Lebensführung. Vielmehr ist sie für diese in toto bestimmend und findet daher – jedenfalls in einer rein typologischen Beschreibung – in allen konkreten Handlungen ihren Niederschlag. Damit lassen sich Webers Überlegungen zum wertrationalen Handlungstypus auch unter dem Blickwinkel einer vollständigen Methodisierung der Handlungswelt aus der Überzeugung/Gesinnung heraus begreifen bzw. – wie es in den Religiösen Gemeinschaften heißt – als „Zusammenfassung . . . des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung“ (RG, 193). Die Rationalitätsdimension dieses Handlungstyps spiegelt sich somit nicht allein im Aufbau einer letzten Wertposition wider, sondern vielmehr auch darin, die Persönlichkeit, die Welt und das Handeln dieser letzten Überzeugung entsprechend konsequent und planvoll, also strikt methodisch zu durchmustern. Beide rationalen Elemente verkörpern somit zwei durchaus im idealistischen Sinne zu fassende Bewegungen: Es handelt sich einerseits um den zu den Prinzipien führenden Aufstieg und andererseits um den Abstieg in den Bereich der Phänomene, der nach Maßgabe jener Prinzipien beschritten wird. Vor dem Hintergrund seiner Prophetenkonzeption betrachtet, zeichnen sich nun verschiedene sachliche Übereinstimmungen zwischen dem „Propheten“ und der Explikation des wertrational bezeichneten Handlungstyps ab. Dazu gehört die Abgrenzung von nicht-rationalen Orientierungsformen des Handelns (v. a. Affekte).⁵⁴ Die Verhaltensmotivation ist vielmehr mit letzten Überzeugungen verknüpft, die einen reflektierten Selbstumgang des gedachten Handlungssubjekts voraussetzen. Daher betont Weber in beiden Fällen die bewusste Bezugnahme auf die letzten Prinzipien menschlicher Lebensführung.⁵⁵ Diese Konvergenzen legen es

54 Wie in der Einleitung (1) angedeutet wurde, bildet der Irrationalitätsbegriff den Leitbegriff von Falk Wagners Interpretation des Weberschen Religionsverständnisses. Spätestens in dem Augenblick, in dem der Begriff der Wertrationalität auf den Plan tritt, der für Webers Religionssoziologie grundlegende Bedeutung besitzt, erweist sich Wagners Zugang jedoch als zu holzschnittartig. Der besagte Begriff bleibt bei ihm dementsprechend unberücksichtigt (vgl. Wagner 1991, 182–198). 55 In der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen thematisiert Weber die religiös bestimmte Wertrationalität in einer allgemeineren, nicht auf die Prophetie beschränkten Perspektive. Dort heißt es, dass die „Richtung der ganzen Lebensführung, wo immer sie planmäßig rationalisiert wurde, auf das tiefgreifendste bestimmt“ war „durch die letzten Werte, an denen sich diese Rationalisierung orientierte. Dies waren, gewiß nicht immer und noch weit weniger ausschließlich, aber allerdings, soweit eine ethische Rationalisierung eintrat und soweit ihr Einfluß reichte, in aller Regel auch, und oft ganz entscheidend, religiös bedingte Wertungen und Stellungnahmen.“ (E, 109f).

4.2 Idealtypen religiöser Sinngebung |

353

nahe, im Prophetenbegriff der Religiösen Gemeinschaften den historischen Kern bzw. Einschlag des Begriffs wertrationalen Handelns zu erblicken. Doch sind damit die materialen Konstruktionsprämissen noch nicht vollständig beschrieben. Vielmehr kann in diesem Zusammenhang erneut ein weiterer, auf den ersten Blick einem vermeintlich ganz anderen Kontext zugehöriger Aspekt namhaft gemacht werden. Denn nicht allein der Typus wertrational bestimmten Handelns steht unter spezifischen Bildungsvoraussetzungen. Selbiges gilt gleichermaßen für Webers Prophetenbegriff. Wie oben gezeigt wurde, steht letzterer in Kontinuität vor allem zu Julius Wellhausens und Hermann Siebecks Prophetendeutung, also zu zwei Autoren, die einem dezidiert ethischen bzw. praktischen Religionsverständnis verpflichtet sind. Sollte mit den Prophetendarstellungen jener beiden Gelehrten im Wesentlichen das – wie oben vermutet wurde – historische Anschauungsmaterial bezeichnet sein, von dem ausgehend Weber den idealtypischen Prophetenbegriff konstruiert hat, dann stünde der reine Typus wertrationalen Handelns ebenfalls in einer über den Prophetenbegriff vermittelten Kontinuität zu jener Fachdiskussion. Dieser Handlungsbegriff ließe sich dann als das Ergebnis eines werkimmanenten Idealtypenbildungsprozesses interpretieren, der sich durch eine stetige Zunahme des Generalisierungsgrades auszeichnet. Elemente, die innerhalb der Religionssoziologie mit dem Begriff des Propheten in idealtypischer Perspektive entfaltet wurden, kommen in den Soziologischen Grundbegriffen nur noch als Strukturelemente eines allgemeinen bzw. reinen Handlungstyps zu stehen und damit bar jedweder historischen Einkleidung. Der Begriff des Propheten, den Weber in der Religionssystematik entfaltet hat, lässt sich somit aus verschiedenen Perspektiven thematisieren, die den Handlungsbegriff berühren und die hier noch einmal zusammengefasst werden sollen. Zunächst nimmt die Prophetie einen herausragenden religions- und kulturgeschichtlichen Stellenwert ein, weil sie einer zuvor nicht dagewesenen Expansion des Reiches religiösen Handelns Vorschub leistete. Die mit der prophetischen Verkündigung einhergehende, von magischen Elementen befreite Sinngebung erstreckt sich – zumindest dem Anspruch nach – auf die gesamte Lebensführung, womit die vergleichbaren Leistungen der Priester und Zauberer übertroffen werden. Die mit letzteren einsetzende Loslösung vom Naturalismus und die Durchsetzung dessen, was Weber in den methodologischen Schriften als Kulturwirklichkeit bezeichnet, erreicht in der Prophetie ihren Höhepunkt. Der Prophet erweist sich als der Kulturmensch schlechthin, womit eine quasi transzendentale Funktion für den Aufbau menschlichen Handelns verknüpft ist. Die Bedingung der Möglichkeit einer umfassenden sinnhaften Bestimmung des Handelns ist in Webers Religionssoziologie mit diesem religiösen Spezialisten verbunden. Zugleich machen Webers Ausführungen aber auch deutlich, was Hartmann Tyrell bezogen auf die Entstehungsvoraussetzungen des modernen Kapitalismus in

354 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen Webers Protestantismusstudie herausgearbeitet hat. Der Bielefelder Soziologe legt auf die Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit dieser Kulturerscheinung samt ihrer eingestifteten Rationalitätsgrundlagen ein besonderes Augenmerk.⁵⁶ Selbiges lässt sich hier für die Genese der prophetischen Religion bzw. des ethischen Monotheismus feststellen. Auch dieser nimmt seinen Ursprung in hochgradig kontingenten und irrationalen Erlebnissen prophetischer Ekstase und wird durch die rationale Ausdeutung dieser Erlebnisse angebahnt, die wiederum in eine vollständige Systematisierung dessen mündet, was ist und sein soll. Webers Religionssystematik sowie seine Judentumsstudien stehen auch in dieser Hinsicht in Kontinuität zur Protestantischen Ethik, zu deren Beweiszielen es gehört, die Kontingenz und Verschieblichkeit von Rationalitätsmodellen zu plausibilisieren. Für das Verständnis der prophetischen Sinngebungsleistung ist es sodann entscheidend, sich deren handlungstheoretische Grundlagen vor Augen zu führen. Denn auch wenn Weber in den Religiösen Gemeinschaften die Propheten weitgehend losgelöst von der Verhaltensdimension erörtert, steht die Sinngebung des Propheten in einem Begründungszusammenhang zu dessen Handeln, wobei Weber die Verbindung von Sinn und Verhalten im Falle des Propheten in einer sehr spezifischen Weise fasst. Sie nimmt – den Judentumsstudien zufolge – ihren Ausgangspunkt in einer gegenüber dem Verhaltensvollzug nachträglichen sinnhaften Ausdeutung des eigenen ekstatischen Auftretens und wird bis zur Verkündigungstätigkeit und der damit einhergehenden Systematisierung des Sinns ausgebaut. Der sinnhafte Aufbau der Welt lässt sich nicht unter Absehung des Handlungsbegriffs verständlich machen. Die handlungstheoretische Signatur des Prophetenbegriffs kommt schließlich insofern zum Vorschein, als Merkmale desselben als Konstruktionselemente des idealtypischen Begriffs wertrationalen Handelns identifiziert werden konnten, den Weber in den Prolegomena zu Wirtschaft und Gesellschaft eingeführt hat. Die Vermutung, dass sich Religionssoziologie und Handlungstheorie bei Weber wechselseitig fordern, bewährt sich auch am Prophetenbegriff der Religiösen Gemeinschaften. Dass Weber weniger darauf zielt, den Propheten als ein Handlungssubjekt im strengen Sinne des Wortes auszuweisen, sondern ihm vielmehr eine strukturelle Begründungsfunktion für die Konstitution der Kulturwirklichkeit beimisst, deutet – und damit leiten wir zum folgenden Kapitel über – ein weiterer für das Verständ-

56 Tyrell 1990, 137ff. Weber selbst hält im Kategorienaufsatz die „hundertfach (namentlich in der Kulturgeschichte) zu belegende Tatsache“ fest, „daß scheinbar direkt zweckrational bedingte Erscheinungen in Wahrheit durch ganz irrationale Motive historisch ins Leben gerufen waren und nachher, weil veränderte Lebensbedingungen ihnen ein hohes Maß von technischer ‚Richtigkeitsrationalität‘ zuwachsen ließen, als ‚angepaßt‘ überlebten und sich zuweilen universell verbreiteten.“ (K, 435).

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns |

355

nis seiner Religionssoziologie kaum zu überschätzender Gedanke an. Wie oben bereits dargelegt wurde, ist er der Überzeugung, von der Prophetie ausgehend eine für seine Gesamtkonzeption der Religiösen Gemeinschaften enorm weitreichende Folgeerscheinung begründen zu können – die Idee der Erlösung. Letztere baut jedoch nicht unmittelbar auf der Prophetie auf. Vielmehr wird sie vor allem über die Theodizeeproblematik vermittelt eingeführt. Diese steht nun insofern zwischen Prophetie und Erlösungsvorstellung, als sie ein Auseinanderfallen von universaler, prophetischer Sinnstiftung und alltäglicher Lebensführung voraussetzt. Die Theodizee ist somit ein Indikator dafür, dass die Korrelation von Sinnuniversalismus und kontingenter Handlungswelt brüchig geworden ist. Genau an dieser Bruchstelle entzündet sich der Erlösungsgedanke, den Weber nicht primär seines ideellen Gehaltes wegen interessiert, sondern vielmehr als Bestimmungsgrund menschlichen Sichverhaltens. Deswegen spitzt er den Begriff der Erlösung auf den des Erlösungsbedürfnisses hin zu. Die im Abschnitt 10 der Religiösen Gemeinschaften entfalteten „Erlösungswege“ stellen dann Strategien dar, das Auseinanderfallen von universaler Sinngebung und alltäglicher Lebensführung zu kompensieren, was einmal mehr die systematisch zentrale Stellung der Theodizeevorstellung unterstreicht. Indem sie den Gedanken des Erlösungsbedürfnisses motiviert, bildet sie gleichsam das Scharnier zwischen den beiden Begriffssystemen religiöser Sinngebung und religiös motivierten Handelns.

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns 4.3.1 Der weltflüchtige Mystiker Innerhalb der Forschungsliteratur ist gegenüber Webers Mystikkonzept verschiedentlich der Einwand erhoben worden, es sprenge den handlungstheoretischen Rahmen seines Denkens.⁵⁷ Die von ihm mehrfach formulierte Annahme, die Mystik zeitige einen negativen Effekt auf die Handlungswelt und zeichne sich – als Heilsweg betrachtet – nachgerade durch ein Nicht-Handeln aus, wird als systemimmanenter Widerspruch zu der – mit Tyrell zu sprechen – „aktivistische[n] Akzentsetzung“⁵⁸ seiner Religionssoziologie bewertet. Die in diesem Zusammenhang herangezogenen Partien aus der systematischen Religionssoziologie sowie aus der Wirtschaftsethik der Weltreligionen scheinen diese Lesart zu unterstützen. Denn unabhängig davon, ob es sich um katholische oder brahmanische Formen der 57 So hält etwa Krech 2002, 30 fest, dass sich Askese und Mystik wie „‚Handlungskultur‘ und ‚Gefühlskultur‘“ zueinander verhalten. 58 Tyrell 1992, 188.

356 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen Mystik handelt, das semantische Feld ihrer jeweiligen Beschreibungen umfasst ein hohes Maß an Übereinstimmungen und verknüpft die Mystik mit einem privativ formulierten Handlungsbegriff. So plausibel diese Sicht der Dinge auf den ersten Blick erscheinen mag, Webers Schriften geben gleichwohl triftige Gründe dafür an die Hand, dass sie dem Theorieansatz des Nationalökonomen und Soziologen nicht gerecht wird. Diese Argumente gilt es im Folgenden in einem ersten Schritt darzulegen (a). Daran anschließend ist das werkbiographische Verhältnis zu erörtern, in dem Webers Begriff der weltflüchtigen Mystik und die Handlungstypologie der Soziologischen Grundbegriffe zueinander stehen (b). a) Gegen den besagten Einwand lässt sich bereits Webers Handlungsdefinition ins Feld führen. Dem Kategorienaufsatz zufolge sei das Handeln „mit Einschluß des gewollten Unterlassens und Duldens“ (K, 429) vorzustellen. Die Soziologischen Grundbegriffe bestimmen es als ein mit einem subjektiv gemeinten Sinn verbundenes „Tun, Unterlassen oder Dulden“ (Soz, 149).⁵⁹ Die Begriffe, auf die es hier ankommt, sind Dulden und Unterlassen. Sie repräsentieren Formen des NichtHandelns, die als solche aber gleichwohl unter den Begriff des Handelns fallen. Zu dieser paradox anmutenden Einordnung kommt Weber, weil sie für ihn Verhaltensweisen darstellen, die mit einem subjektiv gemeinten Sinn verbunden bzw. intentional gesteuert sind, womit das entscheidende Kriterium dafür bezeichnet ist, ob ein Verhalten als ein Handeln angesehen werden kann oder nicht. Die Frage, ob zu diesem Verhalten eine raum-zeitlich identifizierbare Zustandsveränderung gehört, ist in diesem Zusammenhang von zweitrangiger Bedeutung. Mit den Begriffen des Unterlassens und des Duldens sind nun zugleich wesentliche Grundlagen dafür gelegt, Webers Mystikverständnis handlungstheoretisch konzeptualisieren zu können. Denn das intentional gesteuerte Nicht-Handeln des Mystikers stellt nichts Anderes als eine Form der Unterlassungshandlung dar.⁶⁰ Die

59 Darauf weist auch Tyrell hin: „der (weite) Handlungsbegriff, den Weber seiner verstehenden Soziologie voranstellt, ist sehr bewußt ein bis weit in die Passivzone hinein geöffneter Begriff, das ‚Unterlassen oder Dulden‘ einbeziehend.“ (Tyrell 1992, 188) Vgl. auch Krech 2001b, 65ff; Krech 2002, 28ff. Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass auch Ritschl mit dem Begriff der „Unterlassung“ (Ritschl 2002, 92) operiert. Sowohl die Handlung als auch das Nicht-Handeln können seiner Auffassung nach dem Sittengesetz entsprechen. Allerdings subsumiert er den Unterlassungsbegriff nicht explizit unter den der Handlung; schon gar nicht wird er bei ihm mit dem der Mystik verbunden. 60 Die Frage, in welchem Verhältnis das Unterlassen und das Handeln zueinander stehen, stellte sich nicht erst in der Zeit der klassischen Moderne, sondern findet sich bereits im Denken Thomas von Aquins (1225–1274) und kein geringerer als John Locke (1632–1704) war es, der sowohl das Handeln als auch die Unterlassung unter den Handlungsbegriff subsumierte (vgl. Joerden 2001, 304f). Auf diesem Wege etablierte sich der Begriff des Unterlassens mehr und mehr als Gegenstand der Handlungstheorie und wird als solcher nach wie vor diskutiert. So spezifiziert Hans Lenk das

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns |

357

gedankliche Schwierigkeit, die Mystik unter den Begriff des Handelns zu fassen, mildert sich unter Berücksichtigung dieser Verhaltensform ab.⁶¹ Damit unmittelbar verbunden, ist sodann der rechtswissenschaftliche Einfluss auf Webers Handlungstheorie.⁶² Der Begriff der Unterlassung wurde in der Zeit um 1900 vor allem im Strafrecht diskutiert.⁶³ Wie wir oben gesehen haben, weist Johannes von Kries darauf hin, dass die Unterlassung für die rechtswissenschaftliche Zurechnungsproblematik denselben Stellenwert besitzt, wie das Handeln. Beide Größen stellten etwas Wirksames dar, das einem äußeren Erfolg als verursachender Faktor zugerechnet werden könne. Dass Weber sich mit der Kriesschen Theorie ausführlich befasst hat und ausdrücklich betont, wesentlich von ihr beeinflusst zu sein, ist oben bereits herausgearbeitet worden.⁶⁴ Wenn er sich des Unterlassungsbegriffs bedient, so klingt darin – vor diesem Hintergrund betrachtet – jene strafrechtliche Dimension mit an. Das aber bedeutet zugleich, dass die über den Unterlassungsbegriff vermittelte Vereinbarkeit von Handlungstheorie und Mystik – zumindest indirekt – auch rechtswissenschaftlich fundiert ist. Ein drittes Argument führt uns zu der im §2 der Soziologischen Grundbegriffe entfalteten Handlungstypologie. Um den eingangs wiedergegebenen Einwand der Unvereinbarkeit von Handlungstheorie und Mystik weiter entkräften zu können, müssen wir uns dabei erneut auf die Ausführungen zu den affektuellen Bestimmungsgründen des Handelns konzentrieren. Das affektuell bestimmte Handeln ist Weber zufolge „emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen“ (Soz, 175) motiviert. Alle drei Ausdrücke – Emotionalität, Affekt und Gefühl – gehören nun gleichermaßen zum gedanklichen Explikationshorizont des Mystikbegriffs, sodass mit jenem Handlungstyp der Anspruch verbunden zu sein scheint, die Mystik handlungstheoretisch umfassen zu können. Dass diese Vermutung keineswegs aus der Luft gegriffen ist, zeigt die ergänzende Formulierung Webers auf, dass das affektuell bestimmte Handeln auch unter dem Blickwinkel „aktueller kontemplativer Seligkeit“ (Soz, 176) thematisiert werden könne. Damit kommt ein Grundmotiv mystischer Frömmigkeit zur Sprache.

absichtsvolle Unterlassen als ein Handeln (vgl. Lenk 1978, 281. 296) und Johannes Fischer ist der Auffassung, dass das „Nicht-Eingreifen als Handlung zu werten“ sei (Fischer 1983, 13). So auch bezogen auf Weber Graumann 1980, 22. 61 Auf die genauere sinntheoretische Spezifikation des Mystikbegriffs wird unten zurückzukommen sein. 62 Vgl. 2. 4. 4. 63 Dass die strafrechtliche Relevanz der Unterlassung eine bis zum heutigen Tage kontrovers diskutierte Problemstellung ist, belegt die neuere juristische Literatur zu diesem Thema, vgl dazu etwa Jakobs 1996; Jakobs 2012, 34ff; Kahlo 2001. 64 Vgl. 2. 4. 4.

358 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen Um Missverständnisse an dieser Stelle auszuräumen, ist es allerdings erforderlich, die Mystik vom „hemmungslose[n] Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz“ (Soz, 175) abzugrenzen, das Weber – wie wir gesehen haben – gleichermaßen unter das affektuelle Handeln subsumiert.⁶⁵ Dieses Reagieren verweist – religionswissenschaftlich betrachtet – in den Bereich der Magie, v. a. der Orgie, deren ekstatische Zustände aber vom Gefühlshabitus des Mystikers zu unterscheiden sind. Die Verbindungslinie von der Mystik zur Handlungstypologie betrifft vielmehr diejenige Form affektuell bestimmten Handelns, die sich – wie es bei Weber heißt – auf dem Wege zum wert- und zweckrational motivierten Handeln befindet. Handlungstypologisch reformuliert stellt die Mystik demnach eine hochgradig sublimierte Form affektuellen Handelns dar. Das lässt sich an mehreren Gesichtspunkten verdeutlichen. Hier ist zunächst der für die Mystik spezifische Sinnhorizont namhaft zu machen. Weber führt aus, dass die Mystik auf das „Erfassen eines einheitlichen Sinnes der Welt“ (RG, 324) ziele. An anderer Stelle heißt es, dem „kontemplativen Mystiker . . . kommt es gerade auf das Erschauen jenes ‚Sinnes‘ der Welt an“ (RG, 328). Versucht man den sinntheoretischen Status dieser Zitate zu bestimmen, schält sich ein Sinnbegriff heraus, der an die mit einem Universalitätsanspruch verbundene Sinngebung der Propheten und vor allem der Intellektuellen erinnert, von denen Weber die Letzteren immer wieder mit der Mystik in Beziehung setzt.⁶⁶ Dass das Außeralltägliche damit nicht als ein – in der Diktion der Handlungstypologie gesprochen – bloßer „Reiz“ auf den Plan tritt, versteht sich von selbst. Vielmehr spiegelt sich in ihm eine für die Hochreligionen typische Form der Systematisierung der religiösen Metaphysik und Ethik wider. Von Rationalitätsdefiziten kann an dieser Stelle somit nicht die Rede sein. Des Weiteren kann der – im Falle des Mystikers – hohe Sublimierungsgrad affektuell bestimmten Sichverhaltens an einer signifikanten Gegenläufigkeit im Aufbau des Handelns abgelesen werden. Auf der einen Seite repräsentiert dieser Frömmigkeitstypus eine Form der „Lebensführung“ (RG, 316), in die offensichtlich Elemente der Wert- und der Zweckrationalität einfließen. Erstere ist mit dem Heilsziel verbunden, das einen letzten Werthorizont absteckt. Auf diese evaluative Imprägnierung der Zielsetzung (unio mystica) weist deren prinzipielle Alternativlosigkeit hin, die unter den Voraussetzungen rein zweckrationalen Handelns

65 Vgl. 2. 2. 2 sowie 3. 5. 1. 66 Daher nimmt es nicht wunder, dass Weber auch den Intellektuellen das Merkmal des Nichthandelns unterstellt, was er – im Rahmen seiner Erörterungen zu den Ständen und Klassen – mit der „Entpolitisierung des Intellektuellentums“ (RG, 270) verbindet.

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns |

359

ausgeschlossen ist.⁶⁷ Die Mittel bzw. die Heilsmethodik hingegen, die der Mystiker wählt, um jenes invariante Ziel zu erreichen, sind zweckrational bestimmt. Dabei handelt es sich allen voran um die Praxis der Kontemplation. Diese Form des „Nichthandeln[s]“ (RG, 326) bzw. dieses „Minimisieren alles äußeren und inneren Tuns“ (RG, 324) erscheint dem Mystiker als das geeignetste Mittel, um das weltflüchtige Ziel zu erreichen. Aber auch wenn Heilsmethodik und -ziel im beschriebenen Sinne rational sind,⁶⁸ legt sich die mystische Lebensführung auf der anderen Seite de facto in Praktiken und mentalen Zuständlichkeiten aus, die vor allem das Muster des zweckrationalen Handelns durchkreuzen. Das gilt allen voran für die Kontemplation, die zwar als Mittel zweckrational bestimmt ist, aber gleichwohl eine bewusste Abkehr vom „rationalen Zweckhandeln (‚Handeln mit einem Ziel‘)“ (RG, 326) darstellt. Dieser irrationale Charakter der Lebensführung des „Mystikers“ wird durch die Erlebnisqualität des wertrational bestimmten Heilsziels unterstrichen. Das Gefühl der „Gottinnigkeit“ (RG, 330) bzw. Gefäß des Göttlichen zu sein, repräsentiert eine prädiskursive Zuständlichkeit, die Webers Auffassung nach als solche nicht kommunikabel und stets einer Übersetzung bedürftig ist (vgl. RG, 324; ZB, 507. 515; HB, 529).⁶⁹ Doch lässt sich nicht allein eine Gegenläufigkeit von rationalen und nichtrationalen Elementen mystischen Verhaltens identifizieren. Darüber hinaus umfasst es einen Rationalitätskonflikt. Denn vom Standpunkt der Zweckrationalität aus betrachtet, muss das wertrational bestimmte Handlungsziel der unio mystica als irrational beurteilt werden. Das ist nicht allein der „einzigartigen Gefühlsqualität“ (RG, 325f) dieses Ziels geschuldet, sondern auch seiner Alternativlosigkeit. Schon diese wenigen Bemerkungen machen somit sichtbar, dass sich die Mystik durch ein hochgradig komplexes Beziehungsgeflecht rationaler und nichtrationaler Aufbaumomente auszeichnet. Diese besondere Handlungssignatur schließt es aus, im Verhalten des „weltflüchtigen Mystikers“ eine unmittelbare Reaktion auf einen außeralltäglichen Reiz zu erkennen, wie es etwa bei der durch die magischen Prozeduren des Zauberers ausgelösten Orgie der Fall ist. Vielmehr handelt es sich um eine rational sublimierte Form affektuell bestimmten Handelns. Zugleich machen die zuletzt angestellten Überlegungen deutlich, warum Weber kein Zweifel daran gelassen hat, die Mystik als einen eigenen Typus religiös

67 Noch deutlicher kommt dieser Gesichtspunkt – wie wir noch sehen werden – im Falle des innerweltlichen Asketen zum Tragen, vgl. 4. 3. 2. 68 Dementsprechend heißt es auch, dass „die weltflüchtige Kontemplation zum mindesten mit einem erheblichen Grade systematisch rationalisierter Lebensführung verbunden sein“ (RG, 325) müsse. 69 Diese Angaben konvergieren mit Grundannahmen seiner Verstehenstheorie, vgl. 2. 4. 2.

360 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen bestimmten Handelns entfalten und – wie es pointiert heißt – unter eine „Ethik des Nicht-Handelns“ (HB, 350) subsumieren zu können.⁷⁰ Sieht man von hier aus noch einmal zurück, dann dürfte deutlich geworden sein, dass der eingangs formulierte Einwand, dass sich Webers Begriff der Mystik nicht mit dem handlungstheoretischen Ansatz seiner Religionssoziologie vereinbaren lasse, kein fundamentum in re besitzt. Die Elemente des Unterlassens bzw. Duldens, die Webers Handlungsbegriff mit umfasst, der damit verbundene juristische Hintergrund seiner Handlungstheorie sowie die Spezifikation der die Mystik kennzeichnenden Affektdimension weisen in die entgegengesetzte Richtung und machen die Mystik als einen Typus religiös motivierten Handelns erkennbar. Damit ist zugleich eine wesentliche Voraussetzung dafür erfüllt, die Begriffe der Mystik und des affektuell bestimmten Handelns auf ihren werkbiographischen Zusammenhang hin zu befragen. b) In den zuvor angestellten Überlegungen sind Webers Begriff der weltflüchtigen Mystik sowie seine handlungstypologischen Reflexionen unmittelbar ineinander gelesen worden. In diesem Vorgehen wurde außer Acht gelassen, dass er den Begriff der Mystik deutlich früher als den des affektuell bestimmten Handelns – einschließlich der Sublimationsformen des Letzteren – konzeptualisiert hat.⁷¹ Bereits diese Vorgängigkeit legt es nahe, ein etwaiges Bedingungsverhältnis in der Weise zu fassen, dass bestimmte Züge von Webers Mystikbegriff in den idealtypischen Begriff affektuellen Handelns eingeflossen sind. Das betrifft aber nicht den reinen Typus desselben. Vielmehr kommt hier allein – und darauf weisen die zuletzt angestellten Überlegungen unmittelbar hin – eine als typisch qualifizierte Übergangsgestalt des Handelns in Betracht, in der affektuelle und rationale Aufbaumomente ineinanderfließen. Die Gefühlsdimension nimmt dementsprechend auch nicht den Status eines natürlichen, menschliches Verhalten auslösenden Reizes ein. Vielmehr steht sie für einen wertrational fixierten Handlungszweck, den zu erreichen, zweckrational bestimmten Mitteln vorbehalten ist. Die Affektdimension ist hier also gleichsam aus dem Reiz-Reaktions-Schema herausgelöst und zu einem hochgradig voraussetzungsreichen Handlungsziel sublimiert worden, das sich aber – im Falle der Mystik – ausschließlich im Medium eines intentional

70 Wenn Weber das „mystische Erleben“ in der Zwischenbetrachtung als die „irrationalste Form des religiösen Sichverhaltens“ (ZB, 501) bezeichnet, so ist diese Formulierung ganz auf die Opposition gemünzt, die zwischen jenem Erleben und dem Typus zweckrational bestimmten Handelns besteht, auf das im nächsten Kapitel noch einmal zurückzukommen sein wird, vgl. 4. 3. 2. Die rationalen Implikationen, die der Begriff mystischen Sichverhaltens umfasst, werden von ihm an dieser Stelle nicht kenntlich gemacht. 71 Die Genese des ersten Begriffs wurde oben bereits in ihren Grundzügen ausgehend von der Protestantischen Ethik bis zu den Religiösen Gemeinschaften dargelegt, vgl. 3. 6. 2.

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns |

361

gesteuerten Nicht-Handelns realisieren lässt. Unter methodischem Blickwinkel betrachtet, kann der hier skizzierte Handlungstyp als eine idealtypische Steigerung von Webers Begriff des Mystikers angesehen werden. Darüber hinaus sind die Elemente von Webers Mystikbegriff in Erinnerung zu rufen, die der zeitgenössischen Religionsforschung (v.a. Albrecht Ritschl) entlehnt sind.⁷² Das – mit Volker Drehsen gesprochen – Ritschlsche Erbe seines Denkens tritt fast nirgends so deutlich zutage wie am Orte seines Mystikverständnisses und schlägt sich dort vor allem in der gefühlstheoretischen Ausrichtung nieder. Dass sich Webers Mystikbegriff jedoch vor diesem Hintergrund nicht erschöpfend bestimmen lässt, ist gleichermaßen unübersehbar. Vielmehr gelingt es ihm – man könnte fast sagen – trotz des Ritschlschen Erbes, die Mystik als einen eigenen Typus religiös motivierten Handelns auszuweisen. Dazu war es erforderlich, sie der handlungstheoretischen Grundstruktur von sinnhaftem Motiv und Verhalten entsprechend zu reformulieren, was besonders im Falle der Verhaltensdimension eine gedankliche Herausforderung darstellte. Unter Zuhilfenahme des rechtswissenschaftlich imprägnierten Unterlassungsbegriffs gelang es Weber aber, die quietistische Note seines Mystikbegriffs handlungstheoretisch zu transponieren. Das dem Mystiker entsprechende, intentional gesteuerte Verhalten drückt sich in Formen des Unterlassens bzw. Nicht-Handelns aus. Erst in dieser handlungstheoretisch transformierten Gestalt umfasst der Begriff der Mystik die Elemente, auf denen der Typus eines affektuell/rationalen Handelns aufbauen konnte. Der Einfluss der religionswissenschaftlichen Begriffe auf Webers Handlungstheorie kann also nicht allein vom „Zauberer“, „Priester“ und „Propheten“ behauptet werden, sondern ebenso vom „außerweltlichen Mystiker“. Aber auch wenn jene und dieser darin übereinkommen, sind sie in handlungstheoretischer Perspektive unterschiedlich akzentuiert. Während sich die Zauberer, Priester und Propheten primär als Typen der Sinngenerierung interpretieren lassen und ihnen damit eine transzendentale Funktion für den Aufbau der Handlungswelt bescheinigt werden kann, berührt die Mystik den Handlungsbegriff im engeren Sinn des Worts. Der „Mystiker“ repräsentiert den Typus eines Handlungssubjekts, das Weber aus der Gesamtstruktur des menschlichen Sichverhaltens heraus verstehen will. Damit tritt in viel stärkerem Maße als im Falle der religiösen Spezialisten der Zusammenhang zwischen subjektiv gemeintem Sinn bzw. dem Motiv auf der einen und dem davon bestimmten Verhalten auf der anderen Seite auf den Plan. Diese Ebenendifferenz ist mit Webers spezifischem Interesse verwoben, die Effekte der Erlösungssehnsucht auf die Lebensführung auszuloten. Und in dieser Beziehung gehört die Mystik zu

72 Vgl. dazu 3. 6. 2.

362 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen den Spitzenbegriffen seiner Religionssoziologie. Das gilt aber gleichermaßen für den Begriff des innerweltlichen Asketen, dem wir uns nun zuzuwenden.

4.3.2 Der innerweltliche Asket Während der Mystik gegenüber die Frage aufgeworfen werden musste, ob sie sich innerhalb der handlungstheoretischen Grenzen von Webers Denken bewegt – woran letztlich kein Zweifel bestehen kann –, ist der Begriff des „innerweltlichen Asketen“ gegenüber einer solchen Problematisierung gleichsam immun. Es ist unverkennbar, dass dieser mit einer Vielzahl von Elementen des Weberschen Handlungsbegriffs konvergiert. Darauf wird in einem ersten Schritt kurz zu sprechen kommen sein, wobei in diesem Zusammenhang die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Mystik mit im Blick zu behalten sind (a). Daran anschließend soll das Verhältnis zwischen Webers Handlungstypologie und dem Begriff der Askese spezifiziert werden (b). a) Wie die weltflüchtige Mystik stellt auch die innerweltliche Askese eine der virtuosen Formen der religiösen Lebensführung dar. Dass sie ebenfalls unter den Begriff der Lebensführung mit Fug und Recht subsumiert werden kann, ist wiederum mit dem religiösen Ziel verbunden, das der Asket verfolgt und das als Einheitsprinzip seines Verhaltens fungiert. Die Askese strebt gleich der Mystik danach, sich der göttlichen Gnade nicht nur von Zeit zu Zeit gewiss sein zu können. Vielmehr intendiert auch sie eine perennierende Form der Gnadengewissheit. Es geht um das – wie Weber sagt – „sichere und kontinuierliche Haben des spezifischen religiösen Heilsguts“ (RG, 316). In dieser Hinsicht stimmen der mystische und der asketische Frömmigkeitstyp vollständig überein. Nicht der Zweck des religiösen Sich-Verhaltens unterscheidet sie voneinander, sondern vielmehr die Wahl der dazu erforderlichen Mittel. Während – wie wir gesehen haben – der Mystiker es ablehnt, das Heilsziel im Medium eines Handelns zu erlangen, das auf einen Zweck ausgerichtet ist, zeichnet sich die Askese nachgerade dadurch aus, sich dieses Instruments zu bedienen. Das zweckrationale Handeln tritt somit in die Position des Mittels, sodass die Zweck-Mittel-Beziehung im Falle der Askese nicht nur – wie in der Mystik – für die Relation von Heilsziel und Heilsmittel bestimmend ist. Vielmehr tritt das Mittel seinerseits in Gestalt eines zweckrationalen Verhaltens auf den Plan. Die ZweckMittel-Beziehung wird also gleichsam redupliziert und exakt darin besteht eine grundlegende Abweichung von der Mystik. „Für den Asketen bewährt sich die Gewißheit des Heils stets im rationalen, nach Sinn, Mittel und Zweck eindeutigen Handeln, nach Prinzipien und Regeln.“ (RG, 329, vgl. auch ZB, 498)

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns |

363

Von hieraus lässt sich auch verständlich machen, warum Weber dem „innerweltlichen Asketen“ bescheinigt, „mit einer Art von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach einem ‚Sinn‘ der Welt geschlagen“ (RG, 328) zu sein.⁷³ Es wäre falsch, aus dieser Formulierung zu folgern, dass sein Verständnis der innerweltlichen Askese einer sinntheoretischen Spezifikation entbehren würde. Dagegen spricht bereits die gerade herangezogene Formulierung, wonach sich der innerweltliche Asket eines Handelns nach „Sinn, Mittel und Zweck“ (RG, 329) bedient, um sich der Gnade auf Dauer gewiss zu sein. Der Sinn, um den sich – wie Weber bemerkt – der Asket nicht kümmert, ist derjenige, der – entwicklungstypologisch betrachtet – auf den universalen Sinngebungsleistungen der Propheten und Intellektuellen ruht und der für die mystische Frömmigkeit oftmals signifikant ist. Diesen Mentalitätsunterschied weist Weber bereits in der Protestantischen Ethik im Anschluss an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre aus, wenn es dort heißt: „‚Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. – Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.‘“ (PE, 28446) Die angesprochene Borniertheit fügt sich in diese gerade nicht kontemplative, sondern vielmehr aktivistische Haltung ein und kann als ein weiteres Differenzkriterium zur Mystik begriffen werden.⁷⁴ Das spezifische Handlungsmuster, das für den Begriff des innerweltlichen Asketen bestimmend ist, lässt sich allerdings nicht allein in Abgrenzung zum Begriff der Mystik konturieren. Für das Verständnis desselben nicht minder signifikant ist ein Vergleich mit der Handlungstypologie der Soziologischen Grundbegriffe, wobei hier vor allem der Typus zweckrationalen Handelns infrage kommt, dem es sich nun zuzuwenden gilt.

73 Vorbereitet ist dieser Gedanke bereits in der Protestantischen Ethik, vgl. PE, 257f. 74 Dieser Aspekt steht in Korrespondenz zu einem Motiv, das sowohl in der Protestantischen Ethik als auch in der systematischen Religionssoziologie prominent Verwendung gefunden hat. Es betrifft die spezifische Fassung des Gottesgedankens, die Weber zufolge für die innerweltliche, protestantische Askese typisch ist. Immer wieder weist er – unter Berufung auf die reformierte Prädestinationslehre – auf die mit diesem Gedanken verbundene Abgründigkeit, Unberechenkeit und Irrationalität hin. Das aber heißt zugleich, dass der so gefasste Gottesgedanke eher ungeeignet ist, als Letztbegründungsinstanz eines einheitlichen Sinns der Welt zu fungieren. Vielmehr wird eine solche Annahme durch die Vorstellung eines Gottes, dessen Motive absolut unerforschlich und jedem menschlichen Maßstab entrückt sind (vgl. RG, 328), permanent untergraben. Damit aber tritt auch an dieser Stelle eine weitere grundlegende Differenz zur Mystik zutage. Denn in der Mystik fungiert die Jenseits- bzw. Transzendenzdimension vielfach als Garant des sinnhaften Aufbaus der Welt, was in der innerweltlichen Askese gerade nicht der Fall ist. Die Irrationalität der für sie maßgeblichen Gottesvorstellung konvergiert vielmehr mit dem Umstand, dass die Frage nach einem einheitlichen Sinn der Welt nicht zu ihrer Frömmigkeitskultur gehört.

364 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen b) In den Soziologischen Grundbegriffen erläutert Weber den Begriff zweckrational bestimmten Handelns wie folgt: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“ (Soz, 176) Entscheidend ist hier zunächst, dass Weber – wie schon in der dritten Lieferung zu Roscher und Knies (vgl. RK III, 129) – nicht allein von einer Prüfung der Mittel zum Erreichen eines Zwecks spricht. Vielmehr sind auch Zwecke und Nebenfolgen Gegenstände abwägender Betrachtungen, worin sich im Vergleich zu den anderen Handlungstypen ein größtmöglicher Freiheitsgewinn artikuliert. Die zweckrational Handelnden sind nicht von vornherein festgelegt, sondern loten Handlungsspielräume aus, die aus der Reflexion von Mitteln, Zwecken und Nebenfolgen resultieren. Affektuell und traditional bestimmtes Handeln entbehrt demgegenüber eines solchen Spielraums, wobei Weber in diesem Zusammenhang vor allem das affektuell vom zweckrational bestimmten Handeln abgrenzt. Um den Konnex zwischen diesem reinen Handlungstyp und der Askese verdeutlichen zu können, ist es jedoch erforderlich, eine von Weber angedeutete Variante des Ersteren zu berücksichtigen. Sie ist mit der Frage verknüpft, woran die „Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen“ (Soz, 176) orientiert sein könne. Die Antwort verweist auf den Begriff der Wertrationalität. Ist ein zweckrationales Handeln von einem wertrationalen Telos bestimmt, wirkt sich diese Ausrichtung unmittelbar auf den Aufbau dieses Handelns aus. Es kann unter dieser Voraussetzung „nur in seinen Mitteln zweckrational“ (Soz, 176) sein. Damit fließt ein Moment in das Handeln ein, das der zuvor skizzierten Eigengesetzlichkeit zweckrationalen Handelns zuwiderläuft. Weber weist auf diesen Gesichtspunkt ausdrücklich hin: „Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Größe, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt.“ (Soz, 176). In dieser Formulierung ist die oft mit Webers Namen verbundene Unterscheidung zwischen der Verantwortungs- und der Gesinnungsethik enthalten, die hier jedoch nicht weiter verfolgt werden kann.⁷⁵ Vielmehr ist das Augenmerk auf die wertrationale Brechung zweckrational bestimmten Handelns zu legen, die Webers Auffassung nach den Effekt zeitigt, dass das für die Zweckrationalität signifikante Variabilitäts-

75 Vgl. Patzig 1994, 163ff; Löwith 1988, 353ff; Schluchter 1991a, 165ff; Adolphi 1996, 103f.

4.3 Idealtypen religiös motivierten Handelns |

365

moment auf die Mittel beschränkt und die Folgenkalkulation außen vor bleibt. Die Abwägung alternativer Zwecke ist unter diesen Prämissen kaum möglich, weil die wertrationalen Zwecksetzungen einer rein zweckrationalen Begründung entzogen und das bedeutet – vom Standpunkt der Zweckrationalität aus betrachtet – irrational sind.⁷⁶ In der Invariabilität des Zwecks kommt die mit der Gesinnung bzw. Überzeugung unmittelbar verbundene wertrationale Dimension zum Ausdruck.⁷⁷ Im Horizont dieser Überlegungen zeichnet sich die Nähe zwischen dem Typus zweckrationalen Handelns und dem Begriff der innerweltlichen Askese deutlich ab. Die Zweckvorstellung, die bezogen auf die Askese geltend zu machen ist, wurde oben bereits angesprochen. Es handelt sich um die Heils- bzw. „Gnadengewissheit“ (RG, 316), die zu bewähren sich der Asket zur primären Lebensaufgabe macht. Die Bewährung der Gnadengewissheit, die mit dem Bewusstsein, „Gottes Werkzeug“ (RG, 320) in der Welt zu sein, verbunden ist, bildet den Zielpunkt innerweltlich ausgerichteter asketischer Frömmigkeit. In diesem Zielpunkt schlagen sich letzte Glaubensüberzeugungen nieder, was dazu führt, dass dieser festgestellt und alternativlos ist. Der wertrationale Einschlag asketischer Lebensführung ist mit dieser religiösen Gesinnung verbunden.⁷⁸ Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus betrachtet, kommt damit das irrationale Moment dieses Typs religiös bestimmten Handelns zum Vorschein. Von dieser – mit Falk Wagner zu sprechen – Ursprungsirrationalität müssen die zweckrationalen Elemente asketischen Handelns unterschieden werden. Diese spiegeln sich zum einen in der Reflexion der Mittel wider, die zum Erreichen des Handlungsziels veranschlagt werden. Dabei handelt es sich um die spezifische Heilsmethodik, die sich – und das ist für das Verständnis der Askese entscheidend – in einem wiederum zweckrationalen Verhalten realisiert.

76 Das aber bedeutet nicht, wie Helmut Hühn behauptet, dass damit „die Möglichkeit einer rationalen Begründung letzter Zwecke bestritten und die Wertsetzungen prärationalen bzw. irrationalen Glaubensentscheidungen anvertraut werden.“ (Hühn 2004, 1512). Eine solche Annahme übersieht das von Weber ausdrücklich betonte rationale Element eines gesinnungsmäßig bestimmten Handelns und steht damit im Widerspruch zu Webers Begriff der Wertrationalität. Die Irrationalitätsunterstellung gilt für ihn ausschließlich unter der Voraussetzung zweckrational bestimmten Handelns. Hierin artikuliert sich ein rationalitätstheoretischer Grundsatz Webers, den er in der Zweitauflage der Protestantischen Ethik formuliert hat: „‚Irrational‘ ist etwas stets nicht an sich, sondern von einem bestimmten ‚rationalen‘ Gesichtspunkte aus.“ (PE32 , 1591) Daher könnte das Verhältnis von Wert- und Zweckrationalität auch unter umgekehrten Voraussetzungen formuliert werden, d. h. dass die Zweck- vom Standpunkt der Wertrationalität aus betrachtet irrational ist. 77 Vgl. dazu auch Habermas 1995, 244–246; Adolphi 1996, 102f. 78 Explizit spricht Weber von der „spezifisch heiligen Gesinnung“ (RG, 321) des „innerweltlichen Asketen“. Das Attribut des Heiligen untermauert auch in diesem Zusammenhang die Unveränderlichkeit bzw. den absoluten Wert der religiösen Grundüberzeugungen.

366 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen Im Falle des innerweltlichen Asketen ist die Heilsmethodik – wie oben dargelegt wurde – auf sämtliche Bereich der Lebensführung bezogen.⁷⁹ Die zuvor angestellten Überlegungen zum Typus zweckrational bestimmten Handelns lassen sich somit umstandslos auf den Begriff des innerweltlichen Asketen abbilden. Eingedenk der werkgeschichtlichen Abfolge beider Begriffe ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch der „innerweltliche Asket“ zum historischen Material gehört, von dem ausgehend Weber den reinen Typus zweckrationalen Handelns konstruiert hat. Allerdings ist es hier wiederum ein Mischtypus, und zwar der Begriff eines wertrational beeinflussten, zweckrationalen Handelns, der sich mit der Religionssystematik verknüpfen lässt. Das bedeutet aber zugleich, dass in den besagten Handlungstypus Elemente eingeflossen sind, die ihren Ausgangspunkt in der vor allem protestantisch geprägten Diskussion des Askesebegriffs um 1900 haben, die oben skizziert wurde.⁸⁰ Denn dieser Debatte verdankt Weber die für seinen Begriff innerweltlicher Askese maßgeblichen Merkmale. Baut seine Konzeptualisierung eines zweckrational bestimmten Handelns – zumindest in Teilen – auf seinem Askeseverständnis auf, so lässt sich auch in diesem Fall von einer indirekten Beeinflussung der Handlungstypologie von der protestantischen Theologie sprechen. Die schon in den vorangegangenen Kapiteln namhaft gemachte Klimax idealtypischer Steigerungen vom historischen Material über den religionssoziologischen Begriff bis hin zum reinen Handlungstyp bestätigt sich damit auch an dieser Stelle.

4.4 Zusammenfassung In den hier rekonstruierten Begriffen der Weberschen Religionssoziologie artikuliert sich das Zusammenspiel zweier handlungs- und sinntheoretischer Perspektiven. Weber erörtert die Religion einerseits nach – mit Fritz Stolz zu sprechen – „elementaren Sinngebungsschemata“.⁸¹ Dieser Gesichtspunkt wurde anhand der drei Begriffe „Zauberer“, „Priester“ und „Prophet“ nachgezeichnet. Weber verknüpft mit diesen drei religiösen Protagonisten den Prozess eines sinnhaften Aufbaus der Welt, der gegenüber dem religiösen Handeln im engeren Sinne des Worts eine quasi transzendentale Funktion besitzt. Aus dieser Funktion darf jedoch nicht geschlossen werden, dass der mit den Zauberern, Priestern und Propheten verbundene Sinnbegriff von dem in der Handlungstheorie entwickelten kategorial

79 Vgl. 3. 6. 3. 80 Vgl. 3. 6. 3. 81 Stolz 1988, 53.

4.4 Zusammenfassung |

367

abwiche. Vielmehr ist auch dieser Prozess der Sinngebung mit dem Handeln der besagten drei religiösen Spezialisten verwoben und muss daher auch aus der Struktur ihres Sichverhaltens ableitbar sein.⁸² Darauf legt Weber jedoch in den Religiösen Gemeinschaften nicht das Augenmerk. Der Fokus seines Interesses ist vielmehr auf das Element der Sinngebung gerichtet, das vor allem in seiner Prophetendarstellung – und hier kommt der Reduktionismus idealtypischer Begriffsbildung am deutlichsten zum Vorschein – von der internen Struktur menschlichen Sichverhaltens weitgehend isoliert betrachtet wird, auch wenn es in letzterer begründet liegt. Das – bewusst überspitzt formulierte – Urteil Günter Kehrers, wonach Weber „überhaupt nicht an dem Phänomen ‚Religion‘ interessiert war, sondern ‚nur‘ an dem Einfluß, den religiöse Ideen auf das soziale Handeln von Menschen hatten und haben“,⁸³ blendet die hier herausgearbeitete Perspektive der religiösen Sinngebung aus. Es ist nicht allein der besagte Effekt, sondern auch die kulturelle Prägekraft der Religion insgesamt, die Weber dazu veranlasst hat, der Religionssoziologie einen herausgehobenen Stellenwert innerhalb seines Gesamtwerks zu geben. Denn in historischer Perspektive ist seiner Ansicht nach die Genealogie der Kultur unmittelbar mit der Genealogie des Sinns verwoben, den die Religionen stiften.⁸⁴ Andererseits konnte aufgezeigt werden, dass Weber die Religion nicht nur unter dem Blickwinkel ihrer sinngebenden Funktion thematisiert. Vielmehr reflektiert er darüber hinaus, wie sich das religiös motivierte Handeln in idealtypischen Konkretionen darstellt. Dieser Gesichtspunkt wurde hier exemplarisch an zwei Typen von Erlösungswegen verdeutlicht, der „weltflüchtigen Mystik“ sowie der „innerweltlichen Askese“. Beide Größen setzen die Verknüpfung der Erlösungsidee mit der Struktur menschlichen Sichverhaltens voraus. Dementsprechend tritt jene Idee als ein handlungsbestimmender Faktor, genauer als ein Erlösungsbedürfnis, auf den Plan. Letzteres bildet für Weber das Motivationsprinzip religiös bestimmten Verhaltens par excellence und ist dementsprechend auch für das Verständnis jener beiden Heilswege unverzichtbar. Dass das Verhältnis der religionssoziologischen Begriffe zur Handlungstheorie damit noch nicht erschöpfend beschrieben ist, konnte anhand der Verbindungslinien aufgezeigt werden, die sich zwischen besagten Begriffen und der in den Soziologischen Grundbegriffen skizzierten Handlungstypologie ziehen lassen. Diese

82 Dux spricht – unter Absehung des Handlungsbegriffs – vom subjektiv-personalen Ursprung der religiösen Sinngebung: „Der Ursprung aber liegt im Menschen, genauer: in der einzelnen ‚empirischen Person‘. So wie alle Sinnhaftigkeit geht auch die religiöse Sinngebung aus dem Personhaft-Subjektiven als letztem Urquell hervor.“ (Dux 1971, 68). 83 Kehrer 2004, 128. 84 Vgl. dazu auch Schmunk 1973, 78.

368 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen Verbindungslinien kommen in dem Augenblick zum Vorschein, in welchem die Frage nach dem historischen Material dieser dort festgehaltenen Bestimmtheitsmodi menschlichen Sichverhaltens gestellt wird. Denn die Konstruktion dieser Begriffe setzt – den von Weber entwickelten methodischen Regeln der Begriffsbildung entsprechend – einen oder mehrere materialgeschichtliche Bezugspunkte voraus. Vor diesem Hintergrund betrachtet, kristallisierten sich große Schnittmengen zwischen den besagten religionssoziologischen und den handlungstypologischen Begriffen heraus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass diese Schnittmengen primär Mischformen von Handlungstypen betreffen. Die hier diskutierten religionssoziologischen Begriffe präfigurieren weniger die reinen Typen der Handlungsbestimmtheit als vielmehr Übergangsformen derselben. Der Zauberer bewegt sich im Spannungsfeld affektuell, traditional und zweckrational bestimmten Handelns. Der Priester steht für ein traditional bestimmtes Handeln, das sich aber durch eine reflexive Bezugnahme auf die Traditionsbestände auszeichnet. Dafür steht der Begriff der heiligen Tradition, mit der eine normative Grundlage von Einverständnishandeln bezeichnet ist. Im Mystiker wiederum bündeln sich Elemente affektual bestimmten Handelns, die aber im hohen Maße rational sublimiert vorgestellt werden müssen. Das zweckrationale Handeln des Asketen ist sodann wertrational imprägniert. Gegenüber diesen Mischformen bildet lediglich der Prophet eine Ausnahme, in dessen Begriff gleichsam das Ideal wertrational bestimmten Handelns individuiert vorgestellt wird. Das Verhalten des Propheten ist rein religiös motiviert, was in diesem Fall bedeutet, wertrational bestimmt zu sein. Dieser enge Konnex zwischen systematischer Religionssoziologie und Handlungstypologie untermauert die Vermutung, dass die Typen religiöser Sinngebung und religiösen Handelns zur Induktionsbasis der in den Soziologischen Grundbegriffen konstruierten Handlungstypen gehören. Der in dieser Untersuchung eingeschlagene Weg gibt somit Argumente an die Hand, die für eine starke Verflechtung von Webers methodologischen und religionssoziologischen Schriften sprechen. Handlungstheorie und Religionssoziologie stehen in einem wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Das gilt allen voran für Webers Arbeit am Begriff. So wie die religionssoziologischen Begriffe von der Handlungstheorie bestimmt sind, so steht die Bildung handlungstheoretischer Begriffe – zumindest teilweise – unter dem Einfluss der religionssoziologischen Untersuchungen. Wie weit dieser Ansatz reicht, wurde hier auf die Handlungstypologie bezogen zu bestimmen versucht. Der Einfluss der Religionssoziologie auf die Methodologie Webers besitzt jedoch noch eine besondere Pointe, die mit der empirisch-geschichtlichen Basis der hier analysierten religionssoziologischen Begriffe verbunden ist. Wie schon im dritten Kapitel gezeigt werden konnte, sind die materialgeschichtlichen Kons-

4.4 Zusammenfassung |

369

truktionsvoraussetzungen dieser Begriffe bzw. Idealtypen maßgeblich von der liberal-protestantisch geprägten Religionsforschung bestimmt. Das gilt allen voran für Matthias Schneckenburger, Albrecht Ritschl, Julius Wellhausen und Hermann Siebeck, also für Autoren, die einem praktischen Religions- und Christentumsverständnis verpflichtet sind, worin sie mit Webers eigenem, vom Handlungsbegriff bestimmten Theorieansatz konvergieren. Dieser Einfluss schattet sich nun auch – zumindest indirekt – auf die vier typischen Bestimmtheitsmodi des Handelns ab, weil die religionssoziologischen Begriffe zu deren Konstruktionsvoraussetzungen gehören. Der vielfach angedeutete protestantische Charakter seines Denkens lässt sich auf diesem Wege weiter profilieren.⁸⁵ Die hier angestellten Überlegungen geben zu der Annahme Anlass, dass dieser Charakter nicht allein für die Religionssoziologie, sondern auch für Teilbereiche der Methodologie gilt. Aber auch die oben formulierte Annahme, dass sich Weber durch die Beschäftigung mit dem Kulturbereich der Religion dazu angehalten sieht, die soziologischen Deutungsschemata auszudifferenzieren und sowohl rationale als auch nicht-rationale Idealtypen sinnadäquat zu konstruieren, findet auf diesem Wege ihre Bestätigung.⁸⁶ Für die Deutung religiösen Handelns erweist sich der am Leitfaden der Zweck-Mittel-Relation konstruierte Handlungsbegriff als zu grobmaschig. Die religiöse Kultur des Außeralltäglichen nur nach Maßgabe des zweckrationalen Handlungstyps zu sondieren, würde permanent auf Irrationalismen stoßen und die Erscheinungswelt der Religion – außer in ihren zweckrationalen Effekten – in erster Linie als nicht-rational beschreiben. Gerade um diesen Kulturbereich nicht nur privativ-rational auszuweisen, sondern auch positiv bestimmen zu können, ist ein breiteres Spektrum von idealtypischen Handlungsmustern zu veranschlagen, wobei dem der Wertrationalität eine Sonderstellung zukommt. Durch die Fokussierung der handlungstheoretischen Grundlagen der Religiösen Gemeinschaften schälen sich – und darauf sei abschließend hingewiesen – weitere Kriterien dafür heraus, den kontrovers diskutierten inneren Aufbau dieser Abhandlung zu präzisieren, wobei der fragmentarische Charakter dieses Werks berücksichtigt werden muss, was diesem Unternehmen einen notgedrungen approximativen Charakter verleiht. Oben wurde bereits der Versuch unternommen, den darstellungstechnischen Takt der systematischen Religionssoziologie zu bestimmen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Weber abwechselnd entwicklungstypologische und soziologische Themen verhandelt, wobei diese beiden Perspektiven 85 So spricht etwa Nipperdey bezogen auf Weber vom „Moralprotestantismus“ (Nipperdey 1990, 475), Tanner nennt letzteren ausdrücklich einen „Protestanten“ (Tanner 2002, 91) und bei Drehsen heißt es: „Insgesamt dürfte er wohl eher dem liberalen Christentum seiner Zeit, den ‚Protestanten ohne Kirche‘ zuzurechnen sein.“ (Drehsen 1975, 113). 86 Vgl. 2. 4. 8.

370 | 4 Systeme religionssoziologischer Idealtypen nicht strikt auseinandergehalten sind, sondern sich vielmehr wechselseitig durchdringen.⁸⁷ Mit der zuletzt erfolgten handlungstheoretischen Perspektivierung dieses Werks kristallisiert sich eine weitere Gliederungsmöglichkeit heraus, was dessen innere Komplexität unterstreicht. Auch wenn in den Abschnitten 1–6 eine Vielzahl von disparaten Themen zur Sprache kommen, bilden die Fragen des sinnhaften Aufbaus der Welt i. S. der Ermöglichungsbedingung religiös motivierten Handelns im engeren Sinne des Wortes einen ihnen gemeinsamen Nenner. Die schon von Schluchter formulierte Annahme, dass diese Paragraphen „sachlich und stilistisch zusammengehören“,⁸⁸ lässt sich somit gerade auch unter handlungstheoretischem Blickwinkel untermauern.⁸⁹ Schwierig ist zweifelsohne die Einordnung des 7. Abschnitts. Es gibt Anhaltspunkte dafür, diesem eine Scharnierfunktion zwischen den Abschnitten 1–6 einerseits und 8–10 andererseits zu bescheinigen. Er entfaltet grob gesagt zum einen die – mit Mannheim gesprochen – Seinsgebundenheit der Religion und damit die unterschiedlichen schichtenspezifischen Ausprägungen religiöser Vorstellungen und Praktiken. Auf der anderen Seite ist auch nicht zu übersehen, dass Weber den Erlösungsgedanken aus dem Blickwinkel des „Laienrationalismus“ anzubahnen versucht. Der zweite Gesichtspunkt leitet auf diesem zuletzt genannten Wege zu den Abschnitten 8–10 über, in denen der Begriff des Erlösungsbedürfnisses über den Theodizeegedanken vermittelt angebahnt wird, um ihn dann in den Mittelpunkt des Abschnitts 10 zu rücken. Vor diesem Hintergrund betrachtet, können vor allem diese drei Kapitel unter die Überschrift gefasst werden, die Weber im oben zitierten Brief an Paul Siebeck zur Kennzeichnung seiner Religionssystematik angegeben hat. Danach handele es sich um eine „Soziologie der Erlösungslehren“ (Br II / 8, 449). Die Paragraphen 11–12 entschränken die thematische Ausrichtung auf den Weltbezug der Religion, wobei Weber sich hier auf die Ethik der Erlösungsreligionen bzw. der ethischen Religionen konzentriert und mit den unterschiedlichen „Lebenssphären“ (RG, 369) der Wirtschaft, Politik, Sexualität und Kunst kontrastiert.⁹⁰ Die Fokussierung dieser „Hauptkonfliktspunkte[]“ (RG, 370) wird dann im Abschnitt 12 an den – nicht mit den Erlösungsreligionen zusammenfallenden –

87 vgl. 3. 2. 88 Schluchter 1991b, 573. 89 Kippenberg ist hingegen der Auffassung, dass die Paragraphen 1–7 eine Einheit bilden, weil der Paragraph 7 in die Verweisstruktur der Paragraphen 1–6 eingebunden ist, vgl. Kippenberg 2001d, 94. 115, vgl. auch Otto 2002, 128. 90 Diese Überlegungen greift Weber in der Zwischenbetrachtung wieder auf, vgl. ZB, 484–514. Die Schnittmengen zwischen jener Betrachtung und den Religiösen Gemeinschaften gehen jedoch weit darüber hinaus und betreffen – neben dem Paragraphen 11 – vor allem die Paragraphen 8–10.

4.4 Zusammenfassung |

371

„Kulturreligionen“ spezifiziert, wobei hier vor allem das Judentum (RG, 414–432), der Islam (RG, 432–438), der Buddhismus (RG, 438–442) und das Christentum (RG, 442–447) thematisch werden, die unterschiedliche Typen der Weltanpassung bzw. -ablehnung darstellen, sodass sich – sofern diskutiert – auch das Verhältnis zu den besagten Lebenssphären jedes Mal anders ausnimmt.⁹¹ Permanenter Reflexionsmaßstab bildet die Frage nach der Rationalisierung der Lebensführung, weswegen als Vergleichsgrößen immer wieder der asketische Protestantismus sowie der moderne Kapitalismus aufgerufen werden. Ihrer Anlage nach erinnern beide Paragraphen an die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Tab. 4.1. Der Aufbau der Religiösen Gemeinschaften in handlungstheoretischer Perspektive Kapitel Der sinnhafte Aufbau der Welt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

11. 12.

Übergang zur Erlösungsvorstellung

Soziologische lehre

Erlösungs-

Die Entstehung der Religionen Zauberer – Priester Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu ‚Prophet‘ Gemeinde Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge Stände, Klassen und Religion Das Problem der Theodizee Erlösung und Wiedergeburt Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung Systematisierung der Religionen im Horizont nicht-religiöser Lebenssphären Religiöse Ethik und ‚Welt‘ Die Kulturreligionen und die ‚Welt‘

91 Nur im Falle des Judentums, dem der mit Abstand längste Abschnitt gewidmet ist, kommt Weber auf alle vier Lebenssphären zu sprechen.

5 Schluss Die vorliegende Untersuchung ging von der Beobachtung aus, dass unmittelbar nach dem Erscheinen der religionssoziologischen Schriften Webers deren Rezeption innerhalb der evangelischen Theologie einsetzte. Die Beschäftigung mit der theologischen Weberrezeption zeigte aber auch, dass diese in der Regel unter Absehung des Handlungsbegriffs und damit des systematischen Fundaments seines Denkens erfolgte. Das Verhältnis von Religionssoziologie und Handlungsbegriff ist in den theologischen Untersuchungen allenfalls ansatzweise thematisiert worden. Dabei handelt es sich aber keineswegs nur um ein Desiderat der Theologie. Vielmehr ist die Weberforschung insgesamt davon betroffen. Die methodologischen und religionssoziologischen Schriften Webers werden meist separat voneinander behandelt. Die Frage nach dem systematischen Zusammenhang beider Schriftengruppen wurde zwar bereits gestellt und ebenso wurden auch Vermutungen laut, wie dieser spezifiziert werden könnte. Eigens untersucht wurde dieser Konnex indes nur ansatzweise. Ausgehend von dieser Problemexposition (1) wurde hier der Versuch unternommen, Webers Theorie des Handlungsverstehens sowie Teile seiner Religionssoziologie ineinander zu lesen. Dazu wurden zunächst die konzeptionellen und die systematischen Grundlagen seiner Theorien des Handelns und des Handlungsverstehens erörtert (2). Sodann wurden zentrale religionswissenschaftliche Grundbegriffe der Religiösen Gemeinschaften auf ihren forschungsgeschichtlichen Kontext hin befragt (3). Schließlich galt es beide Aspekte miteinander zu verschränken, um das schon mehrfach vermutete Wechselbedingungsverhältnis zwischen den methodologischen und den religionssoziologischen Studien Webers gedanklich zu profilieren und auf diesem Wege zu untermauern (4). Aufgabe der abschließenden Bemerkungen wird es sein, zentrale Aspekte und Ergebnisse dieser Untersuchung aufzugreifen und gedanklich zu schärfen. Drei Linien sollen gezogen werden. Die eine betrifft zunächst das spezifisch wissenschaftliche Interesse Webers an dem Gebiet der Religion (a). Davon ausgehend ist die Signatur seines Religionsbegriffs näher zu bestimmen (b). Schließlich gilt es die Aufmerksamkeit auf kulturhermeneutisch sensible Sachverhalte zu lenken, die Weber in seinen methodologischen und religionssoziologischen Schriften angedacht hat und die abzuwägen für eine Vorverständigung auf dem Gebiet der Interpretation religiösen Handelns unerlässlich sind (c). a) Kaum einem anderen Bereich der Kulturwirklichkeit schenkt Weber eine so große Aufmerksamkeit wie dem der Religion. Dieser Befund ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil er der ihm gegenwärtigen Gestalt der Religion in der westlichen Welt gerade im Vergleich zu vergangenen Epochen einen erheblichen Relevanzhttps://doi.org/10.1515/9783110502770-382

5 Schluss

|

373

verlust bescheinigt. Religion gehört für ihn nicht mehr zu den bestimmenden Kulturmächten – das seien vielmehr der moderne Kapitalismus und die moderne Bürokratie – und hat sich seiner Beobachtung nach weitgehend in das Privatleben zurückgezogen. Angesichts dessen eine ungebrochene Vitalität des Religiösen innerhalb der Gesellschaft zu suggerieren, hält Weber für eine von Intellektuellen gepflegte Mode, die er mit Argwohn betrachtet und mit beißendem Spott übergießt. Dennoch – und obgleich er sich selbst einen religiös „verstümmelten Menschen“ (Br II / 6, 65) nannte – arbeitet er sich am Thema Religion ab. Das hat verschiedene Gründe und wird von Weber methodisch auf zweierlei Weise realisiert. Er verbindet mit der Religion einerseits ein entwicklungstypologisches, andererseits ein handlungstheoretisch-systematisches Interesse. Um ersteres zu illustrieren, ist es sinnvoll, Webers gerade angedeutete Überzeugung aufzugreifen, dass in der modernen Gesellschaft Wirtschaft und Verwaltung den Takt angeben und das im Maß technischer Rationalität. Diese Charakteristik veranlasst ihn dazu, den gegenwärtigen Gesellschaftszustand in düsteren Farben zu zeichnen und mit den bekannten Bildern vom Gehäuse der Hörigkeit sowie vom stahlharten Gehäuse zu vergleichen. Weber belässt es aber nicht dabei, die Eigengesetzlichkeit der Gegenwart auf den Begriff zu bringen. Der Historismus seiner Zeit, d. h. das Bedürfnis bzw. der innere Zwang, die Wirklichkeit historisch zu begreifen, schlägt sich in seinem Denken in Gestalt der Frage nieder, warum dieser Rationalitätstyp im sogenannten Abendland für alle Bereiche der menschlichen Lebensführung bestimmend werden konnte. Während sein renommierter Kollege Werner Sombart anfangs noch der Auffassung war, dass die historische Antwort wohl für immer in Dunkelheit gehüllt bleibe, wird Weber durch seine Untersuchungen ausgerechnet in ein Gebiet geführt, dem er immer wieder bescheinigt, ein Hort des Irrationalen zu sein – die Religion. Er meint – und diese Bestimmungen stellen idealtypische Konzeptualisierungen historischer Zusammenhänge dar – mit dem calvinistisch-puritanischen Berufsethos ein rein religiös, und zwar im Prädestinationsglauben begründetes Modell rationaler Lebensführung gefunden zu haben, das zu den Voraussetzungen des modernen kapitalistischen Geistes gehört, sich dort aber seiner religiösen Wurzeln entledigt hat. Auf diesem Wege bestimmt er die irrationalen Implikationen der rationalen Erwerbswirtschaft, die sich v. a. in der Selbstverpflichtung gegenüber dem Beruf artikulieren. Später geht Weber noch weit hinter die protestantische Ethik zurück und zieht die Linien von der alttestamentlichen Prophetie zur modernen Technik und Wirtschaft. Diesen Überlegungen zufolge gehört die jüdisch-christliche Religionsgeschichte zu den Faktoren, die für die idealtypische Genetisierung des modernen okzidentalen Ra-

374 | 5 Schluss tionalismus bestimmend geworden sind und dessen soziokulturelle Verfasstheit ohne den Rekurs auf jene Anfänge Webers Ansicht nach unverständlich bleibt.¹ Weber beschreibt die Religion in diesem Zusammenhang gleichsam von ihrem Ende her, an dem die Inkompatibilität der modernen Gesellschaft bzw. der meisten ihrer Teilsysteme und der Religion steht. Und doch mutet seine Erklärung dieses diagnostischen Befundes paradox an. Denn die Entzauberung der Welt, die zunächst nur darin bestand, die Kulturwirklichkeit von magischen Vorstellungen und Praktiken zu befreien, wurde durch den Rationalisierungsprozess, den die Religionen selbst angestoßen und durchlaufen haben, zu einem sämtliche Lebensbereiche durchdringenden Prozess der Verdiesseitigung. Auf diesem Wege wurden Kräfte entfesselt, die sich am Ende gegen die Religion selbst richteten und – zumindest im sogenannten Abendland – deren weitgehende Marginalisierung vorbereiteten. Unter den Bedingungen der von der formalen Rationalität bestimmten Moderne sei es – wie Weber pointiert formuliert – nur demjenigen möglich, „in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen“ zurückzukehren, der es „wirklich vermag“ das „Opfer des Intellekts“ (WB, 110) zu erbringen. Ob diese Sichtweise Webers den damaligen Verhältnissen sowie der Wahrnehmung unserer Tage entspricht, darf angezweifelt werden. Diese Bedenken sind allerdings nicht anzumelden, um die Prägnanz des Gegensatzes abzuschwächen, sondern um den – von Weber selbst betonten – kontingenten Charakter von Theorieformationen und Zeitdiagnosen zu unterstreichen. Bei seinen Beobachtungen zur religiösen Lage der Gegenwart handelt es sich um Momentaufnahmen, die – und das muss an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt werden – ihrerseits von den Systemzwängen seines Denkens bestimmt sind. Das Bild, das Weber hier zeichnet, kann dementsprechend auch nicht als ein Spiegelbild der damaligen Situation begriffen werden. Das legen auch neuere Untersuchungen zur Frömmigkeitskultur um 1900 nahe, die letzterer eine ungeheure Dynamik attestieren,² die sich nicht ohne Weiteres in das vergleichsweise starre Webersche Schema fassen lässt. In systematischer Hinsicht ist für Webers Religionsforschung – und damit wenden wir uns dem zweiten methodischen Gesichtspunkt zu – der handlungstheoretische Zugang bestimmend geworden, auf den wir uns in dieser Untersuchung konzentriert haben. Vor allem in den Religiösen Gemeinschaften durchmustert er das religionsgeschichtliche Material, das er für seine Untersuchungen herange-

1 Um diese Entdeckung gleichsam wasserdicht zu machen, belässt es Weber jedoch nicht dabei. Vielmehr unternimmt er in seinen Untersuchungen zu den asiatischen Religionen darüber hinaus eine Gegenprobe. Ex negativo versucht er dort seine Kapitalismusthese zu erhärten, indem er über die Gründe Auskunft gibt, die eine Entstehung des Kapitalismus innerhalb der entsprechenden Kulturen verhindert haben. 2 Vgl. etwa Hölscher 2005, 405.

5 Schluss

|

375

zogen hat, nach Maßgabe der Aufbaumomente, die in seinen Handlungsbegriff eingeflossen sind. Dabei kommt es ihm zweifelsohne zupass, dass die Quellen, aus denen er in diesem Zusammenhang schöpft, oftmals bereits einem praktischen Religionsverständnis entsprechend aufbereitet waren. Es handelt sich hier vielfach um Darstellungen von protestantischen Theologen (Schneckenburger, Ritschl, Wellhausen) bzw. von Autoren, die mit besagtem Religionsverständnis sympathisierten (Siebeck). Das religionsgeschichtliche Material Webers umfasst also gewissermaßen von vornherein Prototypen religiösen Sichverhaltens – Propheten, Priester, Asketen, Mystiker etc. –, die von ihm den eigenen Theorieinteressen und methodischen Vorgaben entsprechend modelliert und profiliert werden. Doch bildet die Religion für Weber nicht allein das maßgebliche Illustrationsfeld seiner Handlungstheorie, was bereits die werkgeschichtliche Koinzidenz methodologischer und religionssoziologischer Schriften nahelegt. Vielmehr lassen sich auch bemerkenswerte Rückkopplungseffekte von der Religionssoziologie auf die Handlungstheorie identifizieren. Die Sinngebungs- und Handlungsmuster, die Weber in seinen Religionsstudien auf den Begriff bringt, färben auf seine Handlungstypologie ab, sodass sich auch das protestantische Erbe seines Denkens bis in die Soziologischen Grundbegriffe erstreckt. Versucht man die Beziehung von Handlungstheorie und Religionssoziologie auf den Begriff zu bringen, so bietet es sich an, von einer wechselseitigen Ergänzung zu sprechen. Werden Webers religionssoziologische Schriften nach Maßgabe seiner Handlungstheorie gelesen, kristallisiert sich ein beeindruckendes Panorama der religiösen Welt heraus, das sich aus unterschiedlichen Systemen idealtypischer Begriffe zusammensetzt. Und doch ist es genauso unumgänglich wie unverkennbar, dass mit der konsequenten Anwendung seines handlungstheoretischen Ansatzes Explikationsgrenzen verbunden sind, die sich unmittelbar auf die spezifische Signatur seines Religionsbegriffs niederschlagen, dem es sich nun zuzuwenden gilt. b) Gleich zu Beginn seiner Religionssystematik verleiht Weber seiner Überzeugung Ausdruck, dass es dem Selbstverständnis empirischer Kultur- und Sozialwissenschaften nicht entspräche, die unter diesen Voraussetzungen stehende Religionsforschung auf die Frage nach dem Wesen der Religion hin auszurichten.³ Eine solche Wesensbestimmung sei zwar durchaus möglich und ließe sich nach dem Durchgang durch das Material auch bewerkstelligen (ähnlich argumentierte er bereits auf den Begriff des kapitalistischen Geistes bezogen in der Protestantismusstudie). Doch liegt darauf nicht der Fokus seines Erkenntnisinteresses. Dieses

3 Daraus eine prinzipielle Ablehnung einer begrifflichen Fixierung der Religion abzuleiten, stünde im Widerspruch zu Webers Methodengrundsätzen, in deren Mittelpunkt das Verfahren der idealtypischen Begriffsbildung steht.

376 | 5 Schluss steht vielmehr im Zeichen seines Handlungsbegriffs, wie die berühmten Eingangsformulierungen unmissverständlich anzeigen: Eine Definition dessen, was Religion ‚ist‘, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen. Allein wir haben es hier nicht mit dem ‚Wesen‘ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun, dessen Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken des Einzelnen – vom „Sinn‘ – aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst vielgestaltiger ist.⁴ (RG, 121)

Gleichwohl arbeitet Weber de facto mit einem Begriff von Religion, der zwar nicht fest umrissen ist, aber dennoch bestimmte Elemente umfasst und unterschiedliche Aufgaben besitzt. Um diesen Begriff zu konturieren, bietet es sich aus Gründen der Heuristik an, von der religionswissenschaftlichen Unterscheidung zwischen der sogenannten funktionalen und der sogenannten substantialen Dimension des Religionsbegriffs Gebrauch zu machen, die in der Forschungsliteratur intensiv und kontrovers diskutiert wird.⁵ Um erstere transparent zu machen, liegt es nahe, wiederum auf die handlungstheoretischen Grundlagen des Weberschen Denkens zu rekurrieren. Weitaus schwieriger ist es allerdings, die substantiale Dimension seines Religionsbegriffs zu bestimmen. Hier ist es angebracht, von Webers Begriff des Außeralltäglichen auszugehen.⁶ Bekanntlich setzte sich Weber im Laufe seines Lebens mit verschiedenen religionstheoretischen Entwürfen auseinander. Das gilt sowohl für klassische als auch für zeitgenössische Modelle. Was jene betrifft, so las er schon während seiner Studienzeit gemeinsam mit seinem älteren Vetter – dem Theologen Otto Baumgarten – Schleiermachers Reden über die Religion (1799), in denen letztere sowohl vom Denken als auch vom Handeln abgegrenzt und mit Gefühl und Anschauung verbunden wird. Dass Weber für eine solche Herangehensweise an Kulturerscheinungen, die den Fokus primär auf die Innenseite des Subjekts richtet, Zeit seines Lebens ausgesprochen unempfänglich sein würde, kündigte sich bereits in jenen Jahren an. So heißt es in einem an das Elternhaus gerichteten Brief des Studenten: 4 Der zweite Satz dieses Zitats deutet in Teilen bereits auf die berühmte Definition der verstehenden Soziologie in den Soziologischen Grundbegriffen hin. Dort ist ebenfalls vom „Ablauf“ und den „Wirkungen“ (Soz, 149) des sozialen Handelns die Rede. 5 Vgl. dazu Pollack 1995, 168–171. 178–181; Knoblauch 1999, 114–117; Pickel 2011, 19–24; Bergunder 2011, 6f. 6 Hierbei handelt es sich freilich – etwa im Vergleich zum Gottesgedanken oder zur Kategorie des Heiligen um eine sehr weite Fassung des religiösen „Bezugsgegenstandes“ (Pollack 1995, 168). Pollack deutet darauf hin, dass in Webers Religionsverständnis funktionale und substantielle Argumente miteinander verflochten sind, vgl. Pollack 1995, 18393. Anders urteilt in dieser Sache Thomas 2001, 63.

5 Schluss

|

377

Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘ in die ich mich freilich erst wenig hineingelesen habe, machen mir vorläufig gar keinen Eindruck. Oder vielmehr einen recht unangenehmen, oder vielmehr, sie bleiben mir, trotzdem ich die Absicht des Mannes ungefähr kenne, in ihrem altfränkischen cicerozianischen Stil unverständlich, aber ich bin doch begierig auf die Pointe und verkenne die große Herzensgüte des Mannes, die häufig durchbricht, durchaus nicht.⁷

Seine Abneigung gegen ein psychologisch bzw. bewusstseinstheoretisch begründetes Religionsverständnis lässt sich ebenso an seiner Beschäftigung mit zeitgenössischen Entwürfen illustrieren. Das gilt in besonderer Weise für Hermann Siebecks Lehrbuch der Religionsphilosophie (1893). Auf der einen Seite macht Weber bei dieser Abhandlung Anleihen, die für sein eigenes religionssoziologisches Programm von grundlegender Bedeutung sind, allen voran für die Differenz zwischen religiöser Weltbejahung und -verneinung. Auf der anderen Seite ist es jedoch bezeichnend, dass er die Siebeckschen Theorieelemente unter Absehung ihrer bewusstseinstheoretischen Grundlagen rezipiert. So sprach der Gießener Philosoph ausdrücklich von der „Substanz des religiösen Bewusstseins“ (L, V), die zu betrachten und zu würdigen er sich mit seiner Religionsphilosophie zur Aufgabe gemacht habe. Doch gerade für diesen, in Siebecks Lehrbuch zentral verankerten Begriff des religiösen Bewusstseins hat Weber kein Sensorium. Webers Denken zeichnet sich durch eine tiefsitzende Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Erschließungskraft von Theorien des Mentalen aus. Einerseits nimmt er diese zur Kenntnis, andererseits klammert er die entsprechenden Basistheoreme aus. Aus dieser Reserve darf allerdings nicht geschlossen werden, dass Elemente des psychischen Lebens in seinem Werk keine Berücksichtigung gefunden hätten. Davon kann gar keine Rede sein. Jedoch werden Bewusstseinsphänomene nicht als solche zur Geltung gebracht, sondern nur insofern, als sie für die Theorie des Handelns fruchtbar gemacht werden können. Als Paradebeispiel kann der hier in den Mittelpunkt der Weberinterpretation gerückte Motivbegriff angeführt werden. Ein Blick in die Geschichte philosophischer Konzeptualisierungen dieses Begriffs würde zeigen, dass dieser nicht ohne seine Einbettung in die Struktur des praktischen Selbstbewusstseins angemessen thematisiert werden kann. Das aber genau unterlässt Weber. Die Dimension des Mentalen kommt in seinen Untersuchungen vielmehr den systematischen Prämissen seines kulturund sozialwissenschaftlichen Ansatzes entsprechend zu stehen und das bedeutet, sie in die uns bekannte Struktur des Handlungsbegriffs einzufassen. Im Bereich der Religion lässt sich dieser Gesichtspunkt nirgends so deutlich greifen wie am Orte des Erlösungsgedankens. Diesen spitzt Weber auf den Begriff des Erlösungsbedürfnisses hin zu. In dieser Zuspitzung artikuliert sich je-

7 Weber 1984, 71.

378 | 5 Schluss doch gerade kein primär religionspsychologisches Interesse. Weber sieht in der religiösen Heilsfrage in erster Linie einen verhaltensbestimmenden Faktor. Die Verknüpfung der Erlösungsidee mit dem Bedürfnisbegriff besitzt demnach eine handlungstheoretische Pointe und nimmt in seiner Religionssoziologie deswegen eine so herausragende Stellung ein, weil dem Erlösungsbedürfnis idealtypische Verhaltensweisen zugerechnet werden können, die von affektuell bestimmten Handlungsmustern (Ritualismus) bis hin zu ausgesprochen subtilen, methodisch kontrollierten Formen menschlicher Lebensführung (Mystik, Askese) reichen. Religion wird von ihm also vor allem unter dem Blickwinkel betrachtet, inwieweit sie zum Aufbau der Handlungswelt beiträgt. Und ausschließlich dann, wenn das Innenleben – wie etwa das Erlösungsbedürfnis – in einem Bezug zum menschlichen Verhalten – das Unterlassen freilich eingeschlossen – steht, kommt es für ihn als Forschungsgegenstand in Betracht. Auch wenn Weber in seiner Erörterung religionswissenschaftlicher Begriffe eine Vielzahl unterschiedlicher Theorieebenen berührt, bezeichnen die Strukturelemente menschlichen Sichverhaltens die formalen Kriterien seines Religionsbegriffs, der primär funktional ausgerichtet ist. Die Religion erbringt eine für die Konstitution des Handelns und der darauf aufbauenden gesellschaftlichen Wirklichkeit grundlegende Leistung. Ihr gelingt es wie kaum einem anderen Kultursegment, die Lebensführung von Menschen im Medium hochgradig ausdifferenzierter Sinngebungsformationen zu bestimmen. Und in dieser besonderen verhaltensregulierenden Qualität unterscheidet sie sich gerade auch vom modernen Kapitalismus und von der modernen Bürokratie, in denen die handlungsweisenden Kräfte in ganz anderer Weise organisiert sind. Die Faszination, die die Religion auf Weber ausübte, kristallisiert sich gerade auch in dieser komparativen Perspektive heraus. Damit können wir uns der Frage zuwenden, inwiefern Webers Religionsbegriff substantial bestimmt ist. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, bietet es sich an, sich zunächst noch einmal die vielfältigen Explikationsebenen und Themenbestände vor Augen zu führen, die Webers Religionsforschung umfasst. In seinen diesen Kulturbereich betreffenden Beiträgen geht er auf dessen Verhältnis zur modernen Erwerbswirtschaft genauso ein wie auf den okzidentalen Rationalismus insgesamt. Letzterer ist ebenso für seine Auseinandersetzung mit den Weltreligionen bestimmend, die er nach Maßgabe eines religiösen Feldes durchmustert, auf dem – idealtypisch konzeptualisierte – Protagonisten agieren, die wiederum in einem spezifischen Bezugssystem zueinander und zu den sogenannten Laien stehen. Die disparate religiöse Vorstellungswelt dieser Akteure, die von präanimistischen Kraftvorstellungen über Ideen nicht-theistischer, kosmologischer Ordnungen innerhalb der asiatischen Religionen bis hin zur personalistischen Gottesvorstellung des Calvinismus reicht, wird einerseits auf ihre rationalen Eigengesetzlichkeiten und andererseits auf ihre – mit Karl Mannheim gesprochen – Seinsgebundenheit hin befragt. Hinzu tritt der

5 Schluss

|

379

Versuch, unterschiedliche Artikulationserscheinungen religiös bestimmten (sozialen) Handelns und religiöser Vergemeinschaftung zu sondieren. Diese Reihe ließe sich unschwer erweitern. Die getroffenen Angaben reichen aber aus, um einmal mehr zu verdeutlichen, dass Webers Religionsforschung hochgradig ausdifferenziert ist und religiöse Erscheinungsformen auf ganz unterschiedlichen Gebieten diskutiert werden. Das wirft natürlich die Frage auf, ob ihnen auch in substantialer Perspektive ein gemeinsamer Religionsbegriff zugrunde liegt. Es deutet nun vieles darauf hin, dass jene zuvor angesprochenen Sachverhalte in einem Begründungsverhältnis zum Begriff des Außeralltäglichen stehen. Wird Webers Religionsbegriff auf eine substantiale Seite hin befragt, kommt jenem Begriff eine Schlüsselstellung zu. Doch inwiefern stellt der Begriff der Außeralltäglichkeit ein geeignetes Mittel dar, um den Überschritt vom Diesseits zum Jenseits bzw. von der Immanenz zur Transzendenz gedanklich transparent zu machen? Wie oben bereits bemerkt wurde, bietet zunächst der Begriffsausdruck selbst einen Anhaltspunkt.⁸ Die Präposition außer deutet auf eine entsprechende Ausrichtung hin. Die Religion ist mit einem Bereich koordiniert, der außerhalb des Alltags liegt. Letzterer bildet in Webers Denken eine Größe, die in der Regel nicht unabhängig vom menschlichen Handeln thematisiert wird. Der Alltag repräsentiert in einem ganz unspezifischen Sinn das stereotype Verhalten von Menschen und in dieser Weise wird er auch in den Religiösen Gemeinschaften im Verbund mit dem Gedanken des Zweckhandelns eingeführt (vgl. RG, 122). Das Außeralltägliche ist unter diesem Blickwinkel betrachtet dasjenige, was jenseits der Eigengesetzlichkeiten stereotypierten Handelns liegt und die „inneralltägliche Lebensmethodik“ (RG, 365) durchkreuzt. Genau an diesem Punkt verortet Weber den Übergang zur Transzendenzdimension der Religion. Als deren maßgebliches Explikationsmedium kommt wiederum der Begriff endlichen menschlichen Handelns zu stehen. Das Außeralltägliche repräsentiert – zugespitzt formuliert – das der Handlungssphäre immanente Transzendenzmoment. Damit aber redet Weber – zumindest implizit – einem religionstheoretischen Modell immanenten Transzendierens das Wort. Einem solchen Projekt wird – jeweils unterschiedlich ausgerichtet – nicht nur in der jüngeren Vergangenheit und gegenwärtig Aufmerksamkeit geschenkt.⁹ Vielmehr handelt es sich um ein seit der Aufklärung ventiliertes Konzept.¹⁰ Webers Religionssoziologie kann einerseits als ein Teil dieses Debattenzusammenhangs angesehen werden. Andererseits vermag er diesem einen eigenen Akzent zu verleihen, in8 Vgl. 3. 4. 2. 9 Vgl. Dierken 2005; Dierken 2014; Murrmann-Kahl 2011b, 66–70; Murrmann-Kahl 2011a, 46; Wagner 2014, 359–367. 10 Exemplarisch sei auf Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Dilthey und Georg Simmel verwiesen.

380 | 5 Schluss dem er den Begriff des Außeralltäglichen den Prämissen seines Handlungsbegriffs entsprechend konzeptualisiert. Auf diesem Wege schuf er die Grundlagen für ein handlungstheoretisch begründetes Modell immanenten Transzendierens. Wie aber gelingt es Weber, die vielfältigen ideellen, handlungsbestimmenden Gehalte ausgehend vom Begriff des Außeralltäglichen zu entfalten? Er verfährt in der Weise, außeralltägliche Erscheinungen und Zustände mit der Praxis alltagsübersteigender, magisch-religiöser Sinngebung zu verbinden. Das Nicht-Alltägliche wird in transzendente Sinnbezüge eingefasst und im Laufe der Religionsgeschichte auf unterschiedlichen Wegen rationalisiert und sublimiert. Rationalisierung und Sublimierung sind zwei der zentralen Begriffe, mit denen Weber an dieser Stelle arbeitet, um den Weg ins Jenseits nach seiner ideell-metaphysischen Seite weiter beschreiten zu können. Der von ihm eingeschlagene Argumentationsgang operiert mit einem Religionsbegriff, der – mit Günter Dux gesprochen – als das „Resultat einer Abstraktion“¹¹ angesehen werden kann, womit dieser einen Begriff veranschlagt, den Weber in diesem Sachzusammenhang selbst verwendet. Die unterschiedlichen Vorstellungen werden nicht auf ihre Beziehung zum religiösen Bewusstsein und auch nur teilweise auf ihre historisch-soziokulturellen Bedingungen hin befragt. Vielmehr werden sie – und das gilt allen voran für die Religionssystematik – gleichsam gesetzt, was ihnen einen positivistischen Grundzug verleiht. Die zuletzt angestellten Überlegungen zeigen es an, dass es sich um ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen handelt, Webers Religionsverständnis nach einer substantialen Seite hin zu bestimmen. Als ein irreduzibles Kriterium erweist sich lediglich der Begriff des Außeralltäglichen, der aber als solcher nicht unter die substantiale Seite von Religion subsumiert werden kann. Letztlich weisen Webers Bestimmungen immer wieder auf seinen Handlungsbegriff und damit auf seinen empirischen Ansatz zurück. Weber zielt nicht darauf, Religion ihrem Wesen nach zu bestimmen. Seine Ausführungen geben vielmehr Strukturerfordernisse bzw. Mindestanforderungen zu erkennen, die für eine empirische Religionsforschung unverzichtbar sind, und zwar unter den besonderen Voraussetzungen seines Programms einer verstehenden Soziologie. Unter diesen Prämissen handelt es sich um spezifische Sinngebungsleistungen unter der Voraussetzung des Außeralltäglichen. Die darauf aufbauenden religiösen Vorstellungen interessieren Weber aber nicht als solche, sondern als potentielle Bestimmungsfaktoren menschlichen Sichverhaltens. Vor dem Hintergrund der bis hierher angestellten Überlegungen könnte der Einwand erhoben werden, Webers Religionsverständnis sei einseitig und werde

11 Dux 1971, 79.

5 Schluss

|

381

der inneren Komplexität des religiösen Lebens nicht gerecht, weil es dessen bewusstseinstheoretische und subjektivitätstheoretische Implikationen weitgehend außen vor lässt. Es wäre nun aber nicht allein in hermeneutischer Perspektive fragwürdig, Webers Leistung auf dem Gebiet der Religionsforschung nach primär externen Beurteilungskriterien zu bemessen. Denn auf diesem Wege würde man die Möglichkeit verbauen, die Programmatik und das konstruktive Potential von Webers Position zu erkennen. Um diesen Sachverhalt verständlich zu machen, ist einmal mehr in Erinnerung zu rufen, dass Webers Religionsforschung in die von ihm selbst maßgeblich bestimmte Formierungsphase einer neuen Disziplin fällt – der Soziologie. Diese ist zwar auch mit dem Namen Auguste Comtes (1798–1857) verbunden – nicht zuletzt, weil dieser den Begriffsausdruck prägte –, doch das für die moderne Soziologie entscheidende Kriterium, sich als eine empirische Wissenschaft zu begreifen, wurde zuerst von Simmel und dann von Weber konsequent eingefordert und umgesetzt.¹² Um den Neubau dieser Wissenschaft voranzutreiben, sah sich Weber dazu veranlasst, sowohl im Hinblick auf den spezifischen Gegenstandsbereich als auch bezogen auf die Methodologie die eingetretenen Pfade zu verlassen und neue Wege einzuschlagen. Sein szientifisches Selbstverständnis ist erfahrungswissenschaftlich ausgerichtet gewesen und das veranlasste ihn dazu, den Anteil nicht-empirischer Elemente so gering wie möglich zu halten. Im Begriff des menschlichen Handelns erblickte Weber ein dieser Ausrichtung adäquates Reflexionsmedium und genau aus diesem Grund ist mit diesem Begriff der neuralgische Punkt seines Denkens bezeichnet. Eine bewusstseins- oder subjektivitätstheoretische Ausrichtung des Religionsbegriffs liegt nicht in der Fluchtlinie seines Wissenschaftsideals. Damit erscheinen die vermeintlichen Schwächen seiner Religionssoziologie in einem anderen Licht. Denn sie können nun als eine notwendige Konsequenz durchschaut werden, die aus den Stärken seines neuen Wissenschaftsverständnisses resultiert. c) Webers Theorie des Handlungsverstehens setzt auf der einen Seite den systematischen Ausbau der Hermeneutik zu einer eigenen Metadisziplin voraus, der wesentlich mit den Namen Friedrich Schleiermachers und Wilhelm Diltheys verbunden ist. Auf der anderen Seite lenkt er die Hermeneutikdebatte von Anfang an in neue Bahnen, was allen voran mit seinem Anspruch verbunden ist, Kultur-

12 Das entspricht vermutlich auch Webers Einschätzung, für den die „Comtesche Wissenschaftshierarchie das lebensfremde Schema eines grandiosen Pedanten ist, der nicht begriff, daß es Disziplinen mit gänzlich verschiedenen Erkenntniszielen gibt, von denen jede von gewissen unmittelbaren Alltagserfahrungen ausgehend den Inhalt dieser ‚unwissenschaftlichen‘ Erkenntnis unter ganz verschiedenen, gänzlich selbständigen Gesichtspunkten sublimieren und bearbeiten muß.“ (EK, 412f). Zu Webers Kritik an Comte (und Spencer) vgl. Schluchter 1991a, 25; Lepenies 2006, 295.

382 | 5 Schluss und Sozialwissenschaften als empirische Wissenschaften zu etablieren. Diesem besonderen Profil entsprechend hat Weber auf dem Gebiet der Religionshermeneutik wegweisende Überlegungen angestellt, die hier noch einmal in teils gebündelter, teils zugespitzter Form thematisch werden sollen. Webers Hermeneutikkonzeption ist in weiten Teilen Methodenreflexion. Er zielt darauf, ein Verfahren zu entwickeln, das es ermöglicht, in einer wissenschaftlichen Einstellung menschliches Handeln aus dem jeweiligen verhaltensbestimmenden, subjektiv gemeinten Sinn heraus verständlich zu machen. Dieser Anspruch erstreckt sich auf alle Kulturbereiche und somit auch auf den der Religion. Religion, die sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen und darauf aufbauend Vergemeinschaftungsformen artikuliert, lässt sich aus dem besagten Sinn bzw. aus Motiven heraus verständlich machen. Dabei ist das Verhältnis von Sinn und Verhalten dem Modell einer kausalen Teleologie entsprechend vorzustellen, sodass das Verstehen des Sinns an die kausale Zurechnung zu einem Verhalten geknüpft ist. Doch ist dieses Modell des Handlungsverstehens nicht allein in seinen Ergebnissen, also in der Anwendung von Systemen idealtypischer Begriffe als den heuristischen Instrumenten des Handlungsverstehens ausgesprochen einflussreich und wegweisend geworden. Vielmehr ist dieses Programm von Überlegungen begleitet, die für die Probleme und Anforderungen sensibilisieren, die für das Sinnverstehen von grundlegender Bedeutung sind. Das betrifft bereits die Frage, inwiefern der subjektiv gemeinte Sinn eines Handelns überhaupt zugänglich und damit ein potentieller Gegenstand des Verstehens sein kann. Vom Standpunkt des Beobachters aus betrachtet, ist der subjektiv gemeinte Sinn einer fremden Handlung bekanntlich keineswegs unmittelbar gegeben. Weber verschärft diese Zugänglichkeitsproblematik insofern, als er der Auffassung ist, dass dieser Sachverhalt nicht allein für Dritte-Person-Perspektive, sondern gleichermaßen für den Akteur selbst gilt. Auch bei Handlungssubjekten kann nicht prinzipiell davon ausgegangen werden, dass diesen die Motive des eigenen Handelns deutlich vor Augen stünden. Gerade im Horizont stereotyper Formationen alltäglichen Handelns ist das nicht der Fall. Die Lebensführung erfolgt über weite Strecken in habitualisierten Verhaltensweisen, die keiner reflektierten mentalen Repräsentation von Verhaltensgründen bedarf. Diese Auffassung hat für eine Theorie des Handlungsverstehens weitreichende Konsequenzen, setzt sie doch die Annahme eines privilegierten Selbstzugangs in enge Schranken. Dieser wird zwar nicht prinzipiell negiert. Aber auf das religiöse Leben bezogen hat diese Sichtweise eine Depotenzierung der heuristischen Reichweite religiöser Selbstidentifikation für die Religionshermeneutik zur Folge. Dementsprechend heißt es bei Weber,

5 Schluss

|

383

„daß auch subjektiv aufrichtige Selbstzeugnisse nur relativen Wert“¹³ (Soz, 156) für das Verstehen haben. Die Schwierigkeiten, den empirischen, subjektiv gemeinten Sinn eines Verhaltens zu bestimmen, verschärfen sich aber noch insofern, als das menschliche Sichverhalten in der Regel von keinem einheitlichen bzw. singulären Bestimmtheitsgrund motiviert wird. Die Annahme, ein Verhalten sei rein zweck- oder rein wertrational gesteuert, ist vielmehr Ausdruck einer idealtypischen Motivreduktion. Das gilt aber nicht allein für die reinen Bestimmtheitsgründe menschlichen Sichverhaltens, sondern auch für die Kombinatorik rationaler und nicht-rationaler Handlungsbegriffe. Der Anspruch, die Komplexität empirischen Handelns handlungstypologisch vollständig abbilden zu können, stellte ein grundlegendes Missverständnis soziologischer Begriffsarbeit dar, die aus Gründen der Heuristik gerade auf Komplexitätsreduktion zielt. Dass es in einer wissenschaftlichen Einstellung geboten ist, mit möglichst reinen Idealtypen zu arbeiten, bildet auch eine Reaktion auf die problematische Zugänglichkeit zur Handlungsbestimmtheit empirischen Handelns. Diese Überlegungen lassen sich auch kulturbereichsspezifisch wenden. Dort besagen sie, dass empirisches Handeln – um zwei Beispiele zu nennen – weder exklusiv ökonomisch noch exklusiv religiös bestimmt ist. Unter den kontingenten Bedingungen der Lebensführung tritt ersteres genauso wenig rein zweckrational auf wie letzteres rein wertrational. In dieser Zuspitzung handelt es sich vielmehr wiederum um idealtypische Begriffe und das gilt auch für die Verknüpfungsvarianten rationaler und nicht-rationaler Bestimmtheitsgründe. Das ist nicht zuletzt darin begründet, dass sich im empirischen Handeln unterschiedliche Kulturbereiche kreuzen, die sich im Handlungsvollzug nicht immer randscharf von einander abgrenzen lassen, sondern ineinanderfließen. Zur Illustration seien noch einmal die vielfältigen Berührungspunkte zwischen Religion und Wirtschaft aufgerufen. Menschliches Handeln ist als Vorkommnis der Lebenswirklichkeit multifaktoriell bestimmt und das betrifft unterschiedliche Kulturbereiche genauso wie rationale und nicht-rationale Bestimmtheitsgründe menschlichen Sichverhaltens. Der Mensch stellt nicht nur in makro- sondern auch in mikrosoziologischer Perspektive eine – mit Gehlen gesprochen – Schnittpunktexistenz dar.¹⁴ Eine Vielzahl heterogener Bestimmtheitsfaktoren werden im Handeln miteinander verschmolzen, was es zu einem notgedrungen mehrdeutigen, aber gleichwohl verständlichen Vorkommnis der Lebenswirklichkeit macht. 13 Die Frage nach dem Stellenwert von Selbst- und Fremdidentifikation von Religion wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Exemplarisch sei auf Barth 2003c, 161 und Thomas 2001, 14 verwiesen. 14 Vgl. Gehlen 1963, 205.

384 | 5 Schluss Wurde zuvor bereits bemerkt, dass Webers Theorie des Handlungsverstehens die religiöse Selbstidentifikation in die zweite Reihe zitiert, so nimmt es an dieser Stelle nicht wunder, dass seine eigene Konzeption ein Modell der Fremdzuschreibung von Religion darstellt, was mit der Präferenz eines funktionalen Religionsverständnisses konvergiert. Die innerhalb der Religionshermeneutik veranschlagte Fremdzuschreibung erfolgt im Rahmen einer wissenschaftlichen Einstellung und setzt dementsprechend die Anwendung eines entsprechenden Methodeninstrumentariums voraus. Dieses hat seinen Mittelpunkt in dem zuvor bereits angeführten Verfahren der idealtypischen Begriffsbildung. Diese Form der Begriffsbildung zeichnet sich auf der einen Seite durch einen empirischen Anhaltspunkt aus, was hier besagt, dass zu ihren Begriffselementen notwendig ein Wirklichkeitsausschnitt gehört, der dem Kulturbereich entnommen ist, den es zu verstehen gilt. Die hermeneutisch motivierte Begriffsarbeit, die auf das Verstehen eines Kulturbereichs zielt, muss demnach bei diesem Kulturbereich anfangen, was einerseits den in Teilen zirkulären Charakter dieses Unternehmens unterstreicht. Andererseits werden diese Zirkularitätsgrenzen von Weber insofern permanent durchbrochen, als er die Idealtypen auf geographisch und historisch höchst disparate Kulturbereiche anwendet. Das gilt auch für die religionssoziologische Begriffsarbeit. Auf das Ganze gesehen, kann dieser Typus von Religionshermeneutik in das Bild einer Ellipse gefasst werden, an deren beiden Brennpunkten sich die Begriffskonstruktion und die -anwendung befinden, was einmal mehr unterstreicht, dass der Idealtyp im Mittelpunkt des hier skizzierten (religions-)hermeneutischen Ansatzes Webers steht. Doch unabhängig davon, mittels welcher Handlungstypen religiöses Handeln zu verstehen gesucht wird, die auf dieser Grundlage und mit diesen Mitteln gewonnenen Ergebnisse sind zunächst Sinnunterstellungen, die auf der einen Seite zwar mit einem Objektivitätsanspruch mittlerer Reichweite verbunden sind, ihres hypothetischen Status’ wegen aber nur eine problematische empirische Geltung besitzen. Webers Theorie des Handlungsverstehens wäre ohne die grundlegenden Umformungsprozesse der Hermeneutik im 19. Jahrhundert nicht denkbar. Allerdings sieht er den zeitgenössischen Verstehensbegriff, der vor allem durch Dilthey etabliert wurde und innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften in unterschiedlichen Spielarten anzutreffen war (z. B. bei Münsterberg und Gottl), einer grundlegenden Revision bedürftig. Er ist von der Notwendigkeit überzeugt, den Verstehensprozess härteren Objektivitätskriterien unterwerfen zu müssen, als es das vorbegriffliche Nacherleben ermöglicht. Dafür steht allen voran die Kausalitätskategorie, die er in den Mittelpunkt seiner Hermeneutikkonzeption rückt und mit einem der Rechtswissenschaft entlehnten Zurechnungsmodell verknüpft. Dieses Vorgehen konvergiert mit dem Versuch, transzendentale und subjektivitätstheoretische Theoriefiguren innerhalb der eigenen Deutungstheorie zu minimieren. Dieser An-

5 Schluss

|

385

spruch ist auf den ersten Blick irritierend, gehört doch der Begriff des (subjektiv gemeinten) Sinns menschlichen Handelns zu den Schlüsseltheoremen seines Denkens, und damit eben ein Begriff, der es geradezu provoziert, Verbindungslinien zu jenen Theoriefiguren herzustellen, deren Anwendbarkeit Weber aber unter den Bedingungen empirisch verfahrender Kultur- und Sozialwissenschaften in Zweifel zieht. Dass er diesen Begriff gleichwohl in den Mittelpunkt seines Denkens rückt, ist der Überzeugung geschuldet, ihn gleichsam empirisieren zu können. Er begreift den subjektiv gemeinten Sinn als ein empirisches Vorkommnis, das sich losgelöst von philosophischen Wert- und Geltungstheorien sowie von der Bewusstseinstheorie und der Psychologie verständlich machen lässt. Anders formuliert: Weber sympatisiert mit der neukantianischen Kritik an der im Interesse der Wissenschaftssystematik aufgestellten ontologischen Unterscheidung zwischen Natur und Geist und damit an der Annahme einer prinzipiellen Differenz ihrer Gegebenheitsweise. Es handelt sich hier wie dort um gegebene Vorkommnisse der Wirklichkeit. Um mit beiden Größen unter den Bedingungen empirischer Wissenschaften zu operieren, hält er es jedoch nicht für erforderlich, jene auf ihre nicht-empirischen Voraussetzungen hin zu befragen. Den skizzierten Sachverhalt als bloßes Defizit herauszustellen, würde dem Weberschen Programm die Spitze abbrechen. Denn die Erfolgsgeschichte seines Wissenschaftsverständnisses liegt nicht in dessen nur rudimentär entfalteten nichtempirischen und in diesem Sinne metaphysischen Implikationen, sondern in dessen empirischer und damit nicht-metaphysischer Ausrichtung begründet. Und nicht zuletzt aus diesem Grund, die Kultur- und Sozialwissenschaften geltungstheoretisch zu entlasten, war es ihm möglich, – zumindest dem Anspruch nach – den Aporien des Historismus zu entgehen und ein neues Kapitel in der Geschichte jenes Wissenschaftsbereichs mit aufzuschlagen. Auf dem Gebiet der Religionsforschung ist es Weber gelungen, ein ausgesprochen kontrastreiches und vielfarbiges Bild des religiösen Lebens zu zeichnen. Das ist umso bemerkenswerter, als er ein besonderes Augenmerk auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten und Herausforderungen legt, mit denen eine wissenschaftliche Bearbeitung empirischen Handelns behaftet ist. Das betrifft die problematische Zugänglichkeit des subjektiv gemeinten Sinns genauso wie die Motivkomplexionen, die kontingente Handlungssequenzen bestimmen, sowie die fließenden Übergänge zwischen unterschiedlichen Kulturbereichen und Phänomenen der Alltagswirklichkeit (Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kunst, Familie etc.). In seinen empirischen Vorkommnissen zeichnet sich (religiöses) Handeln durch eine massive Unschärfe aus. Gerade diese Unübersichtlichkeit macht es erforderlich, idealtypische Begriffe zu bilden, die genau dem Zweck dienen, Komplexität zu reduzieren und menschliches Handeln verstehbar zu machen. Mittels dieser Theorie idealtypischer Begriffsbildung sowie unter Berücksichtigung

386 | 5 Schluss der Schichtengebundenheit religiöser Vorstellungen ist es Weber gelungen, ein hochgradig differenziertes und aufschlussreiches Bild des religiösen Lebens zu entwerfen. Dass die dafür veranschlagten Begriffe ihres hypothetischen Status’ wegen von problematischer empirischer Geltung und letztlich dazu bestimmt sind, falsifiziert zu werden, ist eine Einsicht, die sich Webers Auffassung nach ein jeder klar vor Augen stellen muss, der sich auf dem Gebiet der empirisch ausgerichteten kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung die Wissenschaft zum Beruf gemacht hat.

Literatur Abel, Günter. 1998. Nietzsche. Die Dynamik des Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin/New York: de Gruyter, 2. Aufl. Adolphi, Rainer. 1996. „Drei Thesen zum Typus einer Rationalitätstheorie nach Weber: Begriffsdifferenzierung, Pluralität, Konflikte.“ In Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, hg. von Karl-Otto Apel/Matthias Kettner, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 91–138 Alt, Albrecht. 1953. „Erwägungen über die Landnahme der Israeliten in Palästina.“ In Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Bd. I, München: Beck, 126–175 Anter, Andreas. 1996. Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung. Berlin: Duncker & Humblot, 2. Aufl. Assel, Heinrich. 2016. „Karl Holl als Zeitgenosse Max Webers und Ernst Troeltschs. Ethikhistorische Grundprobleme einer prominenten Reformationstheorie.“ In ZKG 47:211–248 Assmann, Jan. 2007. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck, 6. Aufl. Assmann, Jan. 2014. Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München: Beck, 2. Aufl. Barrelmeyer, Uwe. 1997. Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchungen zu geschichtstheoretischen Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber. Münster/Würzburg: Lit-Verlag Barth, Ulrich. 2003a. „Die Antinomien des modernen Kapitalismus. Wirtschaftsethische Überlegungen im Anschluß an Max Weber.“ In Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck, 373–397 Barth, Ulrich. 2003b. „Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich.“ In Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck, 89–123 Barth, Ulrich. 2003c. „Säkularisierung und Moderne. Die soziokulturelle Transformation der Religion.“ In Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck, 127–165 Barth, Ulrich. 2003d. „Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung.“ In Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck, 3–27 Barth, Ulrich. 2005a. „Kontingenzmomente und Vermittlungsbedingungen von Rationalität. Das Schicksal des Vernunftbegriffs im 19./20. Jahrhundert.“ In Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck, 339–357 Barth, Ulrich. 2005b. „Okzidentaler Rationalismus und fernöstliche Religion. Max Webers Soziologie des Brahmanismus und Hinduismus.“ In Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck, 395–439 Barth, Ulrich. 2014. „Religion und Sinn. Betrachtungen zum frühen Tillich.“ In Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen: Mohr Siebeck, 431–451 Baumgarten, Otto. 1929. Meine Lebensgeschichte. Tübingen: Mohr Becker, Uwe. 2011. „K. H. Grafs Beitrag zur Pentateuchforschung.“ In Joachim Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament. Studien zu einer wissenschaftlichen Biographie, hg. von Uwe Becker, Berlin/New York: de Gruyter, 1–11 Bendix, Reinhard. 1962. Max Weber. An Intellectual Portrait. Garden City: Doubleday Bergunder, Michael. 2011. „Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft.“ In ZfR 19:3–55

https://doi.org/10.1515/9783110502770-397

388 | Literatur

Bienfait, Agathe. 2011. „Religionen verstehen – eine Einleitung.“ In Religionen verstehen. Zur Aktualität von Max Webers Religionssoziologie, hg. von dies., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 7–17 Bobbio, Noberto. 1987. „Max Weber und Hans Kelsen.“ In Max Weber als Rechtssoziologe, hg. von Manfred Rehbinder/Klaus-Peter Tieck, Berlin: Duncker & Humblot, 109–126 Bonhoeffer, Dietrich. 1986a. Jugend und Studium 1918–1927, hg. von Hans Pfeifer in Zusammenarbeit mit Clifford Green/Carl Jürgen Kaltenborn (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 9), München: Kaiser Bonhoeffer, Dietrich. 1986b. Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (1930), hg. von Joachim von Soosten (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 1), München: Kaiser Bonhoeffer, Dietrich. 1992. Ethik (1940–1943), hg. von Ilse Tödt/Hein Eduard Tödt/Ernst Feil/Clifford Green (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6), München: Kaiser Bonhoeffer, Dietrich. 1993. Zettelnotizen für eine ‚Ethik‘, hg. von Ilse Tödt (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6 Ergänzungsband), München: Kaiser Bonhoeffer, Dietrich. 1994. Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, hg. von Eberhard Amelung/Christoph Strohm (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 11), München: Kaiser Bormuth, Matthias. 2004. „Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und Max Weber.“ In Existenz in Kommunikation. Zur philosophischen Ethik von Karl Jaspers, hg. von Bernd Weidmann, Würzburg: Königshausen & Neumann, 119–150 Bourdieu, Pierre. 2011a. „Eine Interpretation der Religion nach Max Weber (1971).“ In Religion. Schriften zur Kultursoziologie, Bd. 5, hg. von Franz Schultheis/Stephan Eger, Pierre Bourdieu Schriften, Bd. 13, Berlin: Suhrkamp, 7–29 Bourdieu, Pierre. 2011b. „Genese und Struktur des religiösen Feldes (1971).“ In Religion. Schriften zur Kultursoziologie, Bd. 5, hg. von Franz Schultheis/Stephan Eger, Pierre Bourdieu Schriften, Bd. 13, Tübingen: Suhrkamp, 30–90 Bousset, Wilhelm. 1904. Das Wesen der Religion dargestellt in ihrer Geschichte. Halle: GebauerSchwetschke Breuer, Stefan. 1991. Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt am Main: Campus-Verlag Breuer, Stefan. 2001a. „Magie, Zauber, Entzauberung.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 119–130 Breuer, Stefan. 2001b. „Weltablehnung.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 227–240 Breuer, Stefan. 2011. „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden: Harrassowitz Cancik, Hubert. 1985. „Erwin Rohde – ein Philologe der Bismarckzeit.“ In Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden, Bd. II: Das neunzehnte Jahrhundert 1803–1918, hg. von Wilhelm Doerr, Berlin/Heidelberg: Springer, 436–505 Caspari, Wilhelm. 1922. Die Gottesgemeinde vom Sinaj und das nachmalige Volk Israel. Auseinandersetzungen mit Max Weber. Gütersloh: Bertelsmann Cavalli, Alessandro. 1994. „Max Weber und Georg Simmel: Sind die Divergenzen wirklich so groß?“ In Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 224–238 Clairvaux, Bernhard von. 1995. Predigten über das Hohelied 39–86. Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 6, Innsbruck: Tyrolia Clark, Christopher. 2013. The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914. London: Penguin

Literatur |

389

Claussen, Johann Hinrich. 1997. Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie. Tübingen: Mohr Siebeck Cohn, Helene Hanna (vmtl.). 2005. „Die soziologischen Grundlagen der Entwicklung des Judentums [Bericht des Wochenblattes ‚Das Jüdische Echo‘.“ In Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, hg. von Eckart Otto unter Mitwirkung von Julia Offermann (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/21. 2), Tübingen: Mohr, 853–856 Colpe, Carsten. 1968. „Mythische und religiöse Aussage außerhalb und innerhalb des Christentums.“ In Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums (FS Wolfgang Trillhaas), hg. von Hans-Joachim Birkner/Dietrich Rössler, Berlin: de Gruyter, 16–36 Colpe, Carsten. 1990. „Erlösungsreligion.“ In HRWG 2:323–329 Dahrendorf, Ralf. 1994. „Max Weber. Moderne Sozialwissenschaft.“ In Liberale und andere. Portraits, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 67–80 Danz, Christian. 2012. „Weissagung und Erfüllung. Schellings Prophetendeutung und ihre hermeneutischen Grundlagen.“ In Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung, hg. von ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 183–205 Davidson, Donald. 1990. „Kausale Beziehungen (1967).“ In Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 214–232 Demandt, Alexander. 2005. Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn . . . ? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 4. Aufl. Dessoir, Max. 1918. „Zur Erinnerung an Hugo Münsterberg.“ In Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychologie. Zweite Auflage, unveränderter Abdruck der ersten Auflage. Mit einem Bildnis des Verfassers und einem Geleitwort von Max Dessoir, Leipzig: Barth, V–XVIII Dierken, Jörg. 2005. „Individuum und Religion. Immanente Transzendenz in der Moderne.“ In Selbstbewußtsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen: Mohr Siebeck, 37–47 Dierken, Jörg. 2014. „Immanente Transzendenzen. Gott als Geist in den Wechselverhältnissen des sozialen Lebens.“ In Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, hg. von Christian Danz/Michael MurrmannKahl, Tübingen: Mohr Siebeck, 235–250 Dilthey, Wilhelm. 1921. „Zur Würdigung der Reformation.“ In Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, hg. von Georg Misch (= Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 2), Leipzig/Berlin: Teubner, 2. Aufl., 512–518 Dilthey, Wilhelm. 1990. „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894).“ In Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. von Karlfried Gründer (= Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Aufl., 139–240 Dilthey, Wilhelm. 1991. „Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911).“ In Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, hg. von Karlfried Gründer (= Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 6. Aufl., 73–118 Dilthey, Wilhelm. 2000. „Einleitungen zu Untersuchungen über die Geschichte des Naturrechts (um 1874).“ In Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865–1880), hg. von Helmut Jo-

390 | Literatur

hach/Frithjof Rodi, (= Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 18), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl., 38–56 Donner, Herbert. 2007. Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen I: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 4. Aufl. Drehsen, Volker. 1975. „Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1864–1920).“ In Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, hg. von Karl-Wilhelm Dahm/ders./Günter Kehrer, München: Claudius-Verlag, 89–154 Drehsen, Volker. 1988a. Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion. Gütersloh: Mohn Drehsen, Volker. 1988b. Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion. Anmerkungsband. Gütersloh: Mohn Drehsen, Volker. 2009. „Protestantische Religion und praktische Rationalität. Zur Konvergenz eines ethischen Themas in der Praktischen Theologie Otto Baumgartens und Soziologie Max Webers (1986).“ In Der Sozialwert der Religion. Aufsätze zur Religionssoziologie, hg. von Christian Albrecht/Hans Martin Dober/Birgit Weyel, Berlin/New York: de Gruyter, 313–360 Dunn, James D.G. 2008. The New Perspective on Paul. Revised Edition. Grand Rapids: Eerdmans Dux, Günter. 1971. „Religion, Geschichte und sozialer Wandel in Max Webers Religionssoziologie.“ In Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie 7:60–94 Ebeling, Gerhard. 1972. „Luther und der Anbruch der Neuzeit.“ In ZThK 69:185–213 Eberle, Martin. 2008. Verstehende Wirtschaftsethik. Max Webers Studien zum antiken Judentum in theologisch-ethischer Perspektive. Berlin: Lit-Verlag Eisler, Rudolf. 1912. „Siebeck, Hermann.“ In Philosophenlexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, Berlin: Mittler, 674–675 Eisler, Rudolf. 1994. Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 4. Aufl. Elert, Werner. 1932. Morphologie des Luthertums. Zweiter Band. München: Beck Euchner, Walter. 1983. Karl Marx. München: Beck Fischer, Johannes. 1983. Handeln als Grundbegriff christlicher Ethik. Zur Differenz von Ethik und Moral. Zürich: Theologischer Verlag Fischer, Johannes. 2002. Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung. Stuttgart: Kohlhammer Foucault, Michel. 1987. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie.“ In Von der Subversion des Wissens, hg. von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 69–90 Freund, Julien. 1994. „Die Rolle der Phantasie in Webers Wissenschaftslehre. Bemerkungen zu einer Theorie der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung.“ In Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 473–490 Freyer, Hans. 1930. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. Leipzig/Berlin: Teubner Freyer, Hans. 1959. „Soziologie und Geschichtsphilosophie.“ In Jahrbuch für Sozialwissenschaft 10:115–125

Literatur |

391

Frisby, David. 1988. „Die Ambiguität der Moderne. Max Weber und Georg Simmel.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 580–594 Frommer, Sabine/Frommer, Jörg. 1990. „Der Begriff des psychologischen Verstehens bei Max Weber.“ In Psychologie und Geschichte 2:37–44 Gadamer, Hans-Georg. 1986. „Hermeneutik und Historismus (1965).“ In Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen und Register (= Hans-Georg Gadamer Gesammelte Werke, Bd. 2), Tübingen: Mohr Siebeck, 387–424 Geertz, Clifford. 1983a. „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur (1973).“ In Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–43 Geertz, Clifford. 1983b. „Religion als kulturelles System (1966).“ In Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 44–95 Gehlen, Arnold. 1963. „Probleme einer soziologischen Handlungslehre.“ In Studien zur Anthropologie und Soziologie, hg. von Heinz Maus/Friedrich Fürstenberg, Neuwies am Rhein/Berlin: Luchterhand, 196–231 Gephart, Werner. 1993. Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Gephart, Werner. 1998. Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers. Frankfurt am Main: Suhrkamp Gephart, Werner. 2014. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/22.3: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 3: Recht, hg. von ders./Siegfried Hermes, Tübingen: Mohr, 1–133 Gerhardt, Volker. 1995. „Sinn des Lebens.“ In HWP 9:815–824 Ghosh, Peter. 2008a. „Max Weber and German theological tradition: the case of Matthias Schneckenburger.“ In A Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant ethic, Wiesbaden: Harrassowitz, 171–200 Ghosh, Peter. 2008b. „Max Weber’s Idea of ‚Puritanism‘: a case study in the empirical construction of the Protestant Ethic.“ In A Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant ethic, Wiesbaden: Harrassowitz, 1–49 Goethe, Johann Wolfgang von. 1998. „Maximen und Reflexionen.“ In Versepen. Schriften. Maximen und Reflexionen, hg. von Friedmar Apel (= Goethe Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 6), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 481–530 Gottl, Friedrich. 1901. Die Herrschaft des Wortes. Untersuchungen zur Kritik des nationalökonomischen Denkens. Einleitende Aufsätze. Jena: Verlag von Gustav Fischer Gottl, Friedrich. 1904. Die Grenzen der Geschichte. Leipzig: Duncker & Humblot Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von. 1923. Wirtschaft und Technik. Grundriss der Sozialökonomik, Abt. II/2, Tübingen: Mohr, 2. Aufl. Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von. 1924. Fordismus? Paraphrasen über das Verhältnis von Wirtschaft und technischer Vernunft bei Henry Ford und Frederick W. Taylor. Jena: Fischer Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von. 1926. Fordismus. Über Industrie und technische Vernunft. Jena: Fischer, 3. Aufl. Graf, Friedrich Wilhelm. 1987. „Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit.“ In ZRGG 39:122–147 Graf, Friedrich Wilhelm. 1988. „Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ‚Max Weber und Ernst Troeltsch‘.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 313–336

392 | Literatur

Graf, Friedrich Wilhelm. 1993. „The German Theological Sources and Protestant Church Politics.“ In Weber’s Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts, hg. von Hartmut Lehmann/Guenther Roth, Washington D. C.: Cambridge University Press, 27–49 Graf, Friedrich Wilhelm. 1995. „Die ‚kompetentesten‘ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers ‚Protestantischer Ethik‘.“ In Religionssoziologie um 1900, hg. von Volkhard Krech/Hartmann Tyrell, Würzburg: Ergon-Verlag, 209–248 Graf, Friedrich Wilhelm. 2002. „Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs.“ In ZNThG 9:42–69 Graf, Friedrich Wilhelm. 2003. „Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum ‚Weber-Paradigma‘ in Perspektiven der neueren Troeltsch-Forschung.“ In Das Weber Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hg. von Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/Claus Wendt, Tübingen: Mohr Siebeck, 234–251 Graf, Friedrich Wilhelm. 2005a. „Weber, Max.“ In RGG4 8:1317–1320 Graf, Friedrich Wilhelm. 2005b. „Wellhausen, Julius.“ In RGG4 8:1385–1386 Graf, Friedrich Wilhelm. 2005c. „Wertkonflikt oder Kultursynthese?“ In Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, hg. von Wolfgang Schluchter/ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 257–279 Graumann, Carl F. 1980. „Verhalten und Handeln – Probleme einer Unterscheidung.“ In Verhalten, Handeln und System – Talcott Parson’s Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, hg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 16–31 Greßmann, Hugo. 1913a. „Magier.“ In RGG 4:33 Greßmann, Hugo. 1913b. „Mantik, Magie, Astrologie.“ In RGG 4:125–135 Groot, Johann Jakob Maria de. 1913. „Die Religionen der Chinesen.“ In Die Religionen des Orients und die altgermanische Religion, hg. von Paul Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, I/3, 1, Leipzig/Berlin: Teubner, 2. Aufl., 161–190 Gruhle, Hans W. 1956. Verstehende Psychologie (Erlebnislehre). Ein Lehrbuch. Stuttgart: Thieme, 2. Aufl. Guttmann, Julius. 1925. „Max Webers Soziologie des antiken Judentums.“ In Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums 69:195–223 Habermas, Jürgen. 1982. „Ein Literaturbericht (1967): Zur Logik der Sozialwissenschaften.“ In Zur Logik der Sozialwissenschaften. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 5. Aufl., 89–330 Habermas, Jürgen. 1990. „Theorie einer Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann (1971).“ In Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 10. Aufl., 142–290 Habermas, Jürgen. 1995. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Hagenloch, Thorsten. 1995. Religionssoziologie und Wissenschaftslehre bei Max Weber. Kulturgeschichtliche Aspekte zur Entwicklung des modernen Kapitalismus. Weiden: Schuch Hahn, Alois. 1987. „Sinn und Sinnlosigkeit.“ In Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, hg. von Hans Haferkamp/Michael Schmid, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 155–164 Hahn, Alois. 1995. „Max Weber und die historische Psychologie.“ In Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang. Von Leibniz bis Foucault, hg. von Gerd Jüttemann, Weinheim: Beltz, 2. Aufl., 115–124

Literatur |

393

Hanke, Edith. 2001. „Erlösungsreligion.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 209–226 Hanke, Edith. 2005. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/22.4: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 4: Herrschaft, hg. von dies. in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll, Tübingen: Mohr, 1–91 Harnack, Adolf von. 1886a. „Die Lehre der zwölf Apostel nebst Untersuchungen zur ältesten Geschichte der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts (1884).“ In TU II (Heft 1–2):1–274 Harnack, Adolf von. 1886b. „Die Quellen der sogenannten apostolischen Kirchenordnung nebst einer Untersuchung über den Ursprung des Lectorats und der anderen niederen Weihen.“ In TU II (Heft 5):1–106 Harnack, Adolf von. 1886c. Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Freiburg: Mohr Harnack, Adolf von. 1894. Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Freiburg/Leipzig: Mohr, 3. Aufl. Harnack, Adolf von. 1897. Lehrbuch der Dogmengeschichte. Dritter Band: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas II u. III. Freiburg/Leipzig/Tübingen: Mohr, 3. Aufl. Harnack, Adolf von. 1908. „Verfassung, kirchliche, und kirchliches Recht im 1. und 2. Jahrhundert.“ In RE3 20:508–546 Harnack, Adolf von. 1910. Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten. Nebst einer Kritik der Abhandlung R. Sohms: ‚Wesen und Ursprung des Katholizismus‘ und Untersuchungen über ‚Evangelium‘, ‚Wort Gottes‘ und das Trinitarische Bekenntnis. Leipzig: Hinrichs Harnack, Adolf von. 1966. „Rede bei der Gedächtnisfeier der Universität Berlin für Karl Holl am 12. Juni 1926.“ In Karl Holl (1866–1926). Briefwechsel mit Adolf von Harnack, hg. von Heinrich Karpp, Tübingen: Mohr, 83–92 Harnack, Adolf von. 2007. Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. Hatscher, Christoph R. 2000. Charisma et Res Publica. Webers Herrschaftssoziologie und die römischer Republik. Stuttgart: Steiner Hefner, Philip. 1966. Faith and the vitalities of history. A theological study based on the work of Albrecht Ritschl. New York: Harper & Row Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1995. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke, Bd. 10), Frankfurt am Main: Suhrkamp Heidegger, Martin. 1976. „Anmerkungen zu Karl Jaspers ‚Psychologie der Weltanschauungen‘.“ In Wegmarken, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (= Martin Heidegger Gesamtausgabe, I/9), Frankfurt am Main: Klostermann, 1–44 Heidegger, Martin. 2010. Grundprobleme der Phänomenologie (1919/1920), hg. von HansHelmuth Gander (= Martin Heidegger Gesamtausgabe, II/58), Frankfurt am Main: Klostermann, 2. Aufl. Heimbrock, Hans-Günter. 2007. „Empirie, Methode und Theologie.“ In Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, hg. von Astrid Dinter/ders./Kerstin Söderblom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 42–59 Heller, Hermann. 1983. Staatslehre. In der Bearbeitung von Gerhart Niemeyer. Tübingen: Mohr, 6. Aufl.

394 | Literatur

Hennis, Wilhelm. 1987a. „Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers.“ In NS 16:382–404 Hennis, Wilhelm. 1987b. Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks. Tübingen: Mohr Hennis, Wilhelm. 1988. „Eine ‚Wissenschaft vom Menschen‘. Max Weber und die deutsche Nationalökonomie der Historischen Schule.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 41–83 Hennis, Wilhelm. 1996. Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks. Tübingen: Mohr Hennis, Wilhelm. 2003. Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks. Tübingen: Mohr Siebeck Henrich, Dieter. 1952. Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Tübingen: Mohr Henrich, Dieter. 1988. „Denken im Blick auf Max Weber. Eine Einführung.“ In Karl Jaspers, Max Weber. Gesammelte Schriften. Mit einer Einführung von Dieter Henrich. Zusammenstellung der Texte v. Hans Saner, München/Zürich: Piper, 7–31 Herrmann, Wilhelm. 1908. Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dargestellt. Stuttgart/Berlin: Cotta, 5./6. Aufl. Herrmann, Wilhelm. 1913. Ethik. Tübingen: Mohr, 5. Aufl. Herrmann, Wilhelm. 1966. „Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens (1892).“ In Schriften zur Grundlegung der Theologie, Teil I, hg. von Peter Fischer-Appelt, München: Kaiser, 149–185 Hettling, Manfred. 1997. „Das Unbehagen in der Erkenntnis. Max Weber und das ‚Erlebnis‘.“ In Simmel Newsletter 7:49–65 Heuß, Alfred. 1968. „Max Weber und das Problem der Universalgeschichte.“ In Zur Theorie der Weltgeschichte, Berlin: Walter de Gruyter, 49–83 Heussi, Karl. 1917. „Zur Geschichte der Beurteilung der Mystik.“ In ZThK 27:154–172 Hühn, Helmut. 2004. „Zweckrationalität.“ In HWP 12:1511–1514 Hildebrandt, H. 1998. „Stereotypie.“ In HWP 10:139–143 Hirsch, Emanuel. 1921. Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Hirsch, Emanuel. 1984. Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit dem den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. I (Fotomechanischer Abdruck der 1964 in 3. Auflage in Gütersloh erschienenen Ausgabe). Münster: Stenderhoff Hirsch, Emanuel. 1999. „Holls Lutherbuch (1921).“ In Lutherstudien Bd. 3, hg. von Hans Martin Müller (= Gesammelte Werke, Bd. 3), Waltrop: Spenner, 166–174 Hölscher, Lucian. 2005. Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München: Verlag C. H. Beck Hoffmann, Heinrich. 1924. „Literatur zum Problem des Neuprotestantismus.“ In ZThK 5:382– 406 Holl, Karl. 1898. Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen. Leipzig: J. C. Hinrichs Holl, Karl. 1907. „Symeon, der neue Theologe.“ In RE3 19:215–219 Holl, Karl. 1923a. „Der Neubau der Sittlichkeit (1919).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther, Tübingen: Mohr, 2./3 Aufl., 155–287 Holl, Karl. 1923b. „Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff (1915).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther, Tübingen: Mohr, 2./3 Aufl., 288–325

Literatur |

395

Holl, Karl. 1923c. „Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit.“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther, Tübingen: Mohr, 2. Aufl., 111–154 Holl, Karl. 1923d. „Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst (1920).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther, Tübingen: Mohr, 2./3 Aufl., 544– 582 Holl, Karl. 1923e. „Luthers Urteile über sich selbst (1903/1917).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther, Tübingen: Mohr, 2./3 Aufl., 381–419 Holl, Karl. 1923f. „Was verstand Luther unter Religion (1917).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. I. Luther, Tübingen: Mohr, 2./3 Aufl., 1–110 Holl, Karl. 1928a. „Augustins innere Entwicklung (1922).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. III. Der Westen, Tübingen: Mohr, 54–116 Holl, Karl. 1928b. „Der Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem der Urgemeinde (1921).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. II. Der Osten, Tübingen: Mohr, 44–67 Holl, Karl. 1928c. „Die Geschichte des Wortes Beruf (1924).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. III. Der Westen, Tübingen: Mohr, 189–219 Holl, Karl. 1928d. „Johannes Calvin (1909).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. III. Der Westen, Tübingen: Mohr, 254–284 Holl, Karl. 1928e. „Ueber das griechische Mönchtum (1898).“ In Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. II. Der Osten, Tübingen: Mohr, 44–67 Hübinger, Gangolf. 1988. „Max Weber und die historischen Kulturwissenschaften.“ In Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hg. von Notker Hammerstein, Stuttgart: Steiner-Verlag, 269–281 Hübinger, Gangolf. 2001. „Intellektuelle, Intellektualismus.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 297–313 Hume, David. 2000. „Die Naturgeschichte der Religion.“ In Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Selbstmord, Hamburg: Meiner, 2. Aufl., 1–72 Husserl, Edmund. 1992a. Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, hg. von Elisabeth Ströker (= Edmund Husserl Gesammelte Schriften, Bd. 2), Hamburg: Meiner Husserl, Edmund. 1992b. Logische Untersuchungen. Zweiter Band. I. Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hg. von Elisabeth Ströker (= Edmund Husserl Gesammelte Schriften, Bd. 3), Hamburg: Meiner Isenböck, Peter. 2006. „Verstehen und Werten. Max Weber und Jürgen Habermas über die transzendentalen Voraussetzungen kulturwissenschaftlicher Erkenntnis.“ In Aspekte des Weber-Paradigmas (FS Wolfgang Schluchter), hg. von Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/Mateusz Stachura, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 80–99 Jaeschke, Walter/Arndt, Andreas. 2012. Die klassische deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München: Beck Jäger, Werner. 1953. Die Theologie der frühen griechischen Denker. Stuttgart: Kohlhammer Jakobs, Günther. 1996. Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen. Opladen: Westdt. Verlag Jakobs, Günther. 2012. System der strafrechtlichen Zurechnung. Frankfurt am Main: Klostermann

396 | Literatur

Jaspers, Karl. 1919. Psychologie der Weltanschauungen. Berlin: Springer Jaspers, Karl. 1973. Allgemeine Psychopathologie. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 9. Aufl. Jaspers, Karl. 1977. Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe. München: Piper Jaspers, Karl. 1988. „Max Weber. Eine Gedenkrede (1920).“ In Karl Jaspers, Max Weber. Gesammelte Schriften. Mit einer Einführung von Dieter Henrich. Zusammenstellung der Texte v. Hans Saner, München/Zürich: Piper, 32–48 Joas, Hans. 2014. „Säkulare Heiligkeit. Wie aktuell ist Rudolf Otto?“ In Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, hg. von Jörg Lauster/Peter Schüz/Roderich Barth/Christian Danz, Berlin/Boston: de Gruyter, 59–77 Joerden, Jan C. 2001. „Unterlassung; Unterlassen.“ In HWP 11:304–308 Johach, Helmut. 1974. Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Wilhelm Dilthey. Meisenheim am Glan: Hein Kaesler, Dirk. 2003. Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 3. Aufl. Kaesler, Dirk. 2006. „Max Weber (1864–1920).“ In Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, hg. von Dirk Kaesler, München: Beck, 5. Aufl., 191–214 Kahlo, Michael. 2001. Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung zur Theorie des personalen Handelns. Frankfurt am Main: Klostermann Kalberg, Stephan. 1990. „The Rationalization of Action in Max Weber’s Sociology of Religion.“ In Sociological Theory 8:58–84 Karlauf, Thomas. 2007. Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München: Blessing, 2. Aufl. Kaube, Jürgen. 2014. Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Berlin: Rowohlt Kehrer, Günter. 1990. „Religionssoziologie.“ In HRWG I:59–86 Kehrer, Günter. 2004. „Max Weber (1864–1920).“ In Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg. von Axel Michaels, München: Beck, 2. Aufl., 121–132 Kelsen, Hans. 2008. Reine Rechtslehre. Studienausgabe der 1. Auflage von 1934, hg. von Matthias Jestaedt, Tübingen: Mohr Siebeck Kippenberg, Hans G. 1989. „Intellektuellen-Religion.“ In Die Religion von Oberschichten. Religion, Profession, Intellektualismus, hg. von Peter Antes/Donate Pahnke, Marburg: Diagonal-Verlag, 181–202 Kippenberg, Hans G. 1997. Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München: Beck Kippenberg, Hans G. 2001a. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/22.2: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hg. von ders. in Zusammenarbeit mit Petra Schilm unter Mitwirkung von Jutta Niemeier, Tübingen: Mohr, 1–74 Kippenberg, Hans G. 2001b. „Einleitung.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von ders./Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 1–12 Kippenberg, Hans G. 2001c. „‚Meine Religionssystematik‘.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von ders./Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 13–30 Kippenberg, Hans G. 2001d. „Religionsentwicklung.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von ders./Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 77–99

Literatur |

397

Kippenberg, Hans G. 2003. „Religiöse Gemeinschaften. Wo die Arbeit am Sinn-Problem der Welt und der Bedarf sozialen Handelns an Gemeinschaftlichkeit zusammenkommen.“ In Das Weber Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hg. von Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/Claus Wendt, Tübingen: Mohr Siebeck, 211–233 Kippenberg, Hans G./ Riesebrodt, Martin. 2001. „Vorwort.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von dies., Tübingen: Mohr Siebeck, III–IV Kittstein, Ulrich. 2006. „Mit Geschichte will man etwas“. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918–1945). Würzburg: Königshausen & Neumann Klingemann, Carsten. 1996. „Max Weber in der Reichssoziologie 1933–1945.“ In Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 171–216 Klingemann, Carsten. 2009. Soziologie und Politik. Sozialwissenschaftliches Expertenwissen im Dritten Reich und in der frühen westdeutschen Nachkriegszeit. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften Knoblauch, Hubert. 1999. Religionssoziologie. Berlin/New York: de Gruyter Kocka, Jürgen. 1986. „Max Webers Bedeutung für die Geschichtswissenschaft.“ In Max Weber, der Historiker, hg. von ders., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13–27 Kohl, Karl-Heinz. 2004. „Edward Burnett Tylor (1832–1917).“ In Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg. von Axel Michaels, München: Beck, 2. Aufl., 41–59 Köhler, Walther. 1941. Ernst Troeltsch. Tübingen: Mohr Köster, Roman. 2011. Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Kratz, Reinhard G. 1998. „Die Entstehung des Judentums. Zur Kontroverse zwischen E. Meyer und J. Wellhausen.“ In ZThK 39:167–184 Kratz, Reinhard G. 2003. „Wellhausen I.“ In TRE 35:527–536 Krech, Volkhard. 2001a. „Mystik.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 241–262 Krech, Volkhard. 2001b. „Religiosität.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 51–75 Krech, Volkhard. 2002. Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933. Tübingen: Mohr Siebeck Kries, Johannes von. 1888. „Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben (Erster Artikel).“ In Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 12:179–240 Kries, Johannes von. 1916. Logik. Grundzüge einer kritischen und formalen Urteilslehre. Tübingen: Mohr Kroll, Thomas. 2001. „Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft und die zeitgenössische Charisma-Debatte.“ In Max Webers Herrschaftssoziologie, hg. von Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen, Tübingen: Mohr Siebeck, 47–72 Krüger, Hanfried. 1938. Verständnis und Wertung der Mystik im neueren Protestantismus. München: Reinhardt Kubik, Andreas. 2011. „Zur Tillich-Rezeption in der praktisch-theologischen ‚Kulturhermeneutik‘.“ In Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, hg. von Christian Danz/Werner Schüßler, Berlin/Boston: de Gruyter, 372–402 Küenzlen, Gottfried. 1978. „Unbekannte Quellen der Religionssoziologie Max Webers.“ In ZfS 7:215–227

398 | Literatur

Küenzlen, Gottfried. 1980. Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung. Berlin: Duncker & Humblot Lanczkowski, Günter/Schenker, Adrian/Larsson, Edvin/ Seils, Martin. 1985. „Heil und Erlösung I–IV.“ In TRE 14:605–637 Lang, Bernhard. 1984. „Max Weber und Israels Propheten. Eine kritische Stellungnahme.“ In ZRGG 36:156–165 Lang, Bernhard. 2001. „Prophet, Priester, Virtuose.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 167–191 Langenohl, Andreas. 2007. Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie. Frankfurt am Main/New York: Campus-Verlag Lehmann, Edvard. 1897a. „Der Buddhismus.“ In Lehrbuch der Religionsgeschichte, 2. Bd., hg. von Chantepie de la Saussaye, Freiburg i.B./Leipzig/Tübingen: Mohr, 2. Aufl., 68–114 Lehmann, Edvard. 1897b. „Die Perser.“ In Lehrbuch der Religionsgeschichte, 2. Bd., hg. von Chantepie de la Saussaye, Freiburg i.B./Leipzig/Tübingen: Mohr, 2. Aufl., 150–217 Lehmann, Edvard. 1910. „Erscheinungswelt der Religion.“ In RGG 2:497–577 Lehmann, Edvard. 1913. „Die Anfänge der Religion und die Religion der primitiven Völker.“ In Die Religionen des Orients und die altgermanische Religion, hg. von Paul Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, I/3, 1, Leipzig/Berlin: Teubner, 2. Aufl., 1–32 Lehmann, Hartmut. 1993. „The Rise of Capitalism. Weber versus Sombart.“ In Weber’s Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts, hg. von Hartmut Lehmann/Guenther Roth, Washington D. C.: Cambridge University Press, 195–208 Lehmann, Hartmut. 1996a. „Max Webers Lutherinterpretation.“ In Max Webers ‚Protestantische Ethik‘. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 30–41. 131–135 Lehmann, Hartmut. 1996b. „Max Webers Pietismusinterpretation.“ In Max Webers ‚Protestantische Ethik‘. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 50–65. 137–139 Lehmann, Hartmut. 2009. „Methodenpluralismus in Max Webers Protestantischer Ethik.“ In Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen: Wallstein-Verlag, 71–82 Lemme, Ludwig. 1897. „Beruf.“ In RE3 3:652–657 Lempp, Otto. 1913. „Theodizee: I. Geschichtlich.“ In RGG 5:1178–1186 Lenk, Hans. 1978. „Handlung als Interpretationskonstrukt. Entwurf einer Konstituenten- und beschreibungstheoretischen Handlungsphilosophie.“ In Handlungstheorien interdisziplinär II. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation. Erster Halbband, hg. von ders., München: Fink, 279–350 Lennert, Rudolf. 1935. Die Religionstheorie Max Webers. Stuttgart: Kohlhammer Leonhardt, Rochus. 1998. Glück als Vollendung des Menschen. Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems. Berlin/New York: de Gruyter Lepenies, Wolf. 2006. Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt am Main: Fischer, 2. Aufl. Lepsius, M. Rainer. 1981. „Die sozialwissenschaftliche Emigration und ihre Folgen.“ In Soziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, hg. von ders., Obladen: Westdeutscher Verlag, 461–500 Lepsius, M. Rainer. 1990. „Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber.“ In Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 31–43 Lepsius, M. Rainer. 2005. „Weber, Marianne.“ In RGG4 8:1320–1321

Literatur |

399

Lessing, Hans-Ulrich. 1984. „Mystik, mystisch II.“ In HWP 6:273–279 Lichtblau, Klaus. 1993a. „Das Verstehen des Verstehens. Georg Simmel und die Tradition einer hermeneutischen Kultur- und Sozialwissenschaft.“ In ‚Wirklichkeit‘ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Thomas Jung/Stefan Müller-Doohm, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 27–56 Lichtblau, Klaus. 1993b. „Simmel, Weber und die ‚verstehende Soziologie‘.“ In Berliner Journal für Soziologie 3:141–151 Lichtblau, Klaus. 1994. „Kausalität oder Wechselwirkung? Max Weber und Georg Simmel im Vergleich.“ In Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 527–562 Lichtblau, Klaus. 2001. „Ressentiment, negative Privilegierung, Parias.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 279–296 Loofs, Friedrich. 1906. Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte. Halle: Niemeyer, 4. Aufl. Loos, Fritz. 1970. Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers. Tübingen: Mohr Löwith, Karl. 1988. „Max Weber und Karl Marx.“ In Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber (= Karl Löwith Sämtliche Schriften, Bd. 5), Stuttgart: Metzler, 324–407 Löwith, Karl. 2007. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Mit einer Vorbemerkung von Reinhart Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith. Neu herausgegeben von Frank-Rutger Hausmann, Stuttgart/Weimar: Metzler Luckmann, Thomas. 1991. Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main: Suhrkamp Luckmann, Thomas. 2004. „Privatisierung und Individualisierung. Zur Soziologie der Religion in spätindustriellen Gesellschaften (1991).“ In Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, hg. von Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter, Paderborn: Schöningh, 133–148 Luhmann, Niklas. 1990. „Sinn als Grundbegriff der Soziologie.“ In Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 10. Aufl., 25–100 Luhmann, Niklas. 1991. Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 5. Aufl. Luhmann, Niklas. 2002. Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 3. Aufl. Lux, Rüdiger. 2009. „Bilder in Texten. Bild-anthropologische Aspekte der Nachtgesichte des Sacharja.“ In Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja, Tübingen: Mohr Siebeck, 54–70 Mannheim, Karl. 1929. „Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Werner Sombart über ‚Das Verstehen‘.“ In Verhandlungen des sechsten deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich, Tübingen: Mohr, 238–243 Mannheim, Karl. 2015. Ideologie und Utopie. Mit einer Einleitung von Jürgen Kaube. Frankfurt am Main: Klostermann, 9. Aufl. Marett, Robert R. 1909. The Threshold of Religion. London: Methuen & Co. Marett, Robert R. 1911. „Primitive Religion.“ In EBrit XXIII:62–67 Marx, Karl. 1971. „Die heilige Familie (1844/1845).“ In Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner, 317–338 Massimilla, Edoardo. 2012. Max Weber zwischen Heinrich Rickert und Johannes von Kries. Drei Studien, übersetzt v. Charlotte Voermanek. Köln/Wien: Böhler

400 | Literatur

Medicus, Fritz. 1930. „Neufichteanismus.“ In RGG2 4:498–499 Meireis, Torsten. 2008. Tätigkeit und Erfüllung. Protestantische Ethik im Umbruch der Arbeitsgesellschaft. Tübingen: Mohr Siebeck Merz, Peter-Ulrich. 1990. Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der verstehenden Soziologie. Würzburg: Königshausen & Neumann Merz-Benz, Peter-Ulrich/ Wagner, Gerhard. 2007. „Idealtypus und Verstehen. Max Webers Logik der Handlungsdeutung.“ In Jahrbuch für Soziologiegeschichte. Soziologisches Erbe: Georg Simmel – Max Weber – Soziologie und Religion – Chicagoer Schule der Soziologie, hg. von Carsten Klingemann, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 53–66 Meyer, Eduard. 1897. Julius Wellhausen und meine Schrift Die Entstehung des Judenthums. Eine Erwiderung. Halle: Niemeyer Meyer, Eduard. 1902. Zur Theorie und Methodik der Geschichte. Geschichtsphilosophische Untersuchungen. Halle: Niemeyer Meyer, Eduard. 1910. „Zur Theorie und Methode der Geschichte.“ In Kleine Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums, Halle: Niemeyer, 1–67 Meyer, Eduard. 1978. Geschichte des Altertums. Erster Band. Erste Häfte. Einleitung. Elemente der Anthropologie (reprographischer Nachdruck der dritten Auflage, Stuttgart/Berlin 1910). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 8. Aufl. Molendijk, Arie L. 1999. „Bewußte Mystik. Zur grundlegenden Bedeutung des Mystikbegriffs im Werk von Ernst Troeltsch.“ In NZSTh 41:39–61 Mommsen, Wolfgang J. 1974a. „‚Verstehen‘ und ‚Idealtypus‘. Zur Methodologie einer historischen Sozialwissenschaft.“ In Max Weber. Gesellschaft, Politik, Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 208–232 Mommsen, Wolfgang J. 1974b. „Soziologische Geschichte und historische Soziologie (1972).“ In Max Weber. Gesellschaft, Politik, Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 182–206 Mommsen, Wolfgang J. 1974c. „Universalgeschichtliches und politisches Denken (1965).“ In Max Weber. Gesellschaft, Politik, Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 97–143 Mommsen, Wolfgang J. 1986. „Max Webers Begriff der Universalgeschichte.“ In Max Weber, der Historiker, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 51–72 Mommsen, Wolfgang J. 1989. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/10: Zur russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905–1912, hg. von ders. in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahlmann, Tübingen: Mohr, 1–54 Morikawa, Takemitsu. 2001. Handeln, Welt und Wissenschaft. Zur Logik, Erkenntniskritik und Wissenschaftstheorie für Kulturwissenschaften bei Friedrich Gottl und Max Weber. Mit einem Geleitwort von Johannes Weiß. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag Mühlmann, Wilhelm Emil. 1966. Max Weber und die rationale Soziologie. Tübingen: Mohr Mühlmann, Wilhelm Emil. 1980. „Lebenswelt II.“ In HWP 5:155–157 Müller, Adolf. 1888. Das gute Recht der evangelischen Lehre von der Unio mystica und ihre Befehdung durch Ritschl und seine Schule. Halle Müller, Adolf. 1972. „Der junge Privatdozent in Berlin.“ In Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, hg. von Renate Albrecht, Paul Tillich Gesammelte Werke, Bd. 13, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 545–547 Müller, Karl. 1902. Kirchengeschichte. Zweiter Band. Erster Halbband. Tübingen/Leipzig: Mohr Müller, Karl. 1919. Kirchengeschichte. Zweiter Band. Zweiter Halbband. Tübingen: Mohr Müller, Karl. 1921. Kirchengeschichte. Erster Band (unveränderter Abdruck der ersten Auflage, 1892). Tübingen: Mohr

Literatur |

401

Münsterberg, Hugo. 1918. Grundzüge der Psychologie. Mit einem Bildnis des Verfassers und einem Geleitwort von Max Dessoir (unveränderter Abdruck der ersten Auflage). Leipzig: Barth, 2. Aufl. Murrmann-Kahl, Michael. 1992. Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn Murrmann-Kahl, Michael. 2011a. „Christus ohne Jesus? – Die ‚Fragwürdigkeit des Empirischen‘ als Konstruktionsmoment in Paul Tillichs Christologie.“ In Jesus of Nazareth and the New Being in History, hg. von Christian Danz/Marc Dumas/Werner Schüßler/Mary Ann Stenger/Erdmann Sturm, Berlin/Boston: de Gruyter, 23–46 Murrmann-Kahl, Michael. 2011b. „Die Ambivalenz des Historismus bei Ernst Troeltsch.“ In Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 22:43–72 Muse, Kenneth. 1981. „Edmund Husserl’s Impact on Max Weber.“ In Sociological Inquiry 51:99– 104 Nedelmann, Birgitta. 1988. „‚Psychologismus‘ oder Soziologie der Emotionen? Max Webers Kritik an der Soziologie Georg Simmels.“ In Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11–35 Neugebauer, Georg. 2013. „Paul Tillich und die Dialektik der Aufklärung.“ In Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher–Troeltsch–Tillich, hg. von Ulrich Barth/Christian Danz/Friedrich Wilhelm Graf/Wilhelm Gräb, Berlin/Boston: de Gruyter, 477–512 Neugebauer, Georg. 2014. „Max Weber als Theoretiker technischer Rationalität.“ In Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutung der Technik im Zeitalter der Moderne, hg. von Anne-Maren Richter/Christian Schwarke, Stuttgart: Kohlhammer, 19–31 Neugebauer, Matthias. 2002. Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus. Frankfurt am Main u. a.: Lang Neugebauer, Matthias. 2010. Konzepte des „Bios“. Leben im Spannungsfeld von Organismus, Metaphysik, Molekularbiologie und Theologie. Göttingen: Edition Ruprecht Niebergall, Friedrich. 1909. „Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule.“ In ZThK 19:411–474 Nietzsche, Friedrich. 1973. „Die fröhliche Wissenschaft.“ In Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, Nachgelassene Fragmente. Frühjahr 1881 bis Sommer 1882, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari (= Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, V/2), Berlin/New York: de Gruyter, 11–320 Nietzsche, Friedrich. 1974. Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Herbst 1887, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari (= Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, VIII/1), Berlin/New York: de Gruyter Nipperdey, Thomas. 1990. Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München: Beck Nollmann, Gerd. 2007. Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse. Sozialwissenschaftliche Forschung zwischen Daten, Methoden und Begriffen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften Noth, Martin. 1930. Das System der zwölf Stämme Israels. Stuttgart: Kohlhammer Nottmeier, Christian. 2004. Adolf von Harnack und die deutsche Politik (1890–1930). Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik. Tübingen: Mohr Siebeck

402 | Literatur

Nüssel, Friederike. 2005. „Bernhard von Clairvaux (1090–1153).“ In Klassiker der Theologie, Bd. I: Von Tertullian bis Calvin, hg. von Friedrich Wilhelm Graf, München: Beck, 112–125 Nusser, Karl-Heinz. 1986. Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft. Max Webers philosophische Fundierung der Soziologie und der Kulturwissenschaften. Freiburg/München: Alber Nusser, Karl-Heinz. 1988. „Hermeneutik als offene Theorie bei Max Weber.“ In Tradition und Innovation, hg. von Wolfgang Kluxen, Hamburg: Meiner, 187–194 Oakes, Guy. 1975a. „Introductory Essay.“ In Max Weber, Roscher and Knies: The Logical Problems of Historical Economics. Translated with an introduction by Guy Oakes, New York/London: Free Press, 1–51 Oakes, Guy. 1975b. „Introductory Essay.“ In Max Weber, Critique of Stammler. Translated, with an introductory essay, by Guy Oakes,, New York/London: Free Press, 1–58 Oakes, Guy. 1990. Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung. Heidelberger MaxWeber Vorlesungen 1982. Frankfurt am Main: Suhrkamp Oelkers, Jürgen. 2001. „Entwicklung.“ In Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, hg. von Werner Schneiders, München: Beck, 99–101 Oexle, Otto Gerhard. 1996. „‚Historismus‘. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs.“ In Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 41–72 Oh, In-Je. 1998. Das Kausalproblem bei Max Weber und in der neueren Wissenschaftstheorie. Eine Untersuchung über die Rolle von Gesetzlichkeit, Teleologie und Kausalität in der kulturwissenschaftlichen Erklärung. Frankfurt am Main u. a.: Lang Oldenberg, Hermann. 1913. „Die indische Religion.“ In Die Religionen des Orients und die altgermanische Religion, hg. von Paul Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, I/3, 1, Leipzig/Berlin: Teubner, 2. Aufl., 60–86 Orelli, Conrad von. 1908. „Zauberei und Wahrsagerei.“ In RE3 21:611–620 Osterhammel, Jürgen. 1988. „Spielarten der Sozialökonomik. Joseph A. Schumpeter und Max Weber.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 147–195 Osthövener, Claus-Dieter. 2002. „Adolf von Harnack als Systematiker.“ In ZThK 99:296–331 Osthövener, Claus-Dieter. 2004. Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert. Tübingen: Mohr Siebeck Otto, Eckart. 2002. Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne. Tübingen: Mohr Siebeck Otto, Eckart. 2005a. „Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese.“ In Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, hg. von Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen: Mohr Siebeck, 201–255 Otto, Eckart. 2005b. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/21: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, 2 Bde., hg. von ders. unter Mitwirkung von Julia Offermann, Tübingen: Mohr Siebeck, 1–144 Otto, Rudolf. 1997. Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Beck Pannenberg, Wolfhart. 2011. Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl. Parente, Fausto. 1990. „Die Entstehung des Judentums. Persien, die Achämeniden und das Judentum in der Interpretion von Eduard Meyer.“ In Eduard Meyer. Leben und Leistung

Literatur |

403

eines Universalhistorikers, hg. von William M. Calder III/Alexander Demandt, Leiden/New York/Københagen/Köln: Brill, 329–343 Parsons, Talcott. 1980. „On the Relation of the Theory of Action to Max Weber’s ‚Verstehende Soziologie‘.“ In Verhalten, Handeln und System – Talcott Parson’s Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, hg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 150–163 Patzig, Günter. 1994. „Noch einmal: ‚Gesinnungsethik‘ und ‚Verantwortungsethik‘.“ In Gesammelte Schriften, Band I: Grundlagen der Ethik, Göttingen: Wallstein, 163–173 Pauck, Wilhelm und Marion. 1978. Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. I. Leben. Stuttgart/Frankfurt am Main: Evangelisches Verlagswerk Pautler, Stefan. 2001. „Christentum und Askese bei Ernst Troeltsch.“ In Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, hg. von Christian Albrecht/Friedemann Voigt, Hannover: LVH, 47–66 Perlitt, Lothar. 1965. Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen. Berlin: Töpelmann Petersen, Jens. 2014. Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre. Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. Peukert, Detlev. 1989. Max Webers Diagnose der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Pfleiderer, Georg. 2008. „Max Webers These und ihre Aktualität. Bemerkungen und Beobachtungen nach einhundert Jahren ‚Protestantische Ethik‘.“ In Wirtschaft und Wertekultur(en). Zur Aktualität von Max Webers ‚Protestantischer Ethik‘, hg. von Georg Pfleiderer/Alexander Heit, Zürich: TVZ, 21–34 Pfleiderer, Otto. 1891. Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant und in Großbritannien seit 1825. Freiburg: Mohr Pfleiderer, Otto. 1896. Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage. Berlin: Reimer, 3. Aufl. Pickel, Gert. 2011. Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften Plessner, Helmut. 1975. Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin / New York: Walter de Gruyter, 3. Aufl. Plötz, Alfred. 1911. „Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme.“ In Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge von Georg Simmel u. a. und Debatten, Tübingen: Mohr, 111–165 Pollack, Detlef. 1995. „Was ist Religion? Probleme der Definition.“ In ZfR 3:163–190 Rad, Gerhard von. 1962. Theologie des Alten Testaments, Bd. II: Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels. München: Kaiser, 3. Aufl. Radbruch, Gustav. 1902. „Die Lehre von der adäquaten Verursachung.“ In Abhandlungen des kriminalistischen Seminars an der Universität Berlin 1:325–408 Rade, Martin. 1930. „Ritschlianer.“ In RGG2 4:2047–2049 Radkau, Joachim. 2005. Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München/Wien: Hanser Reinke, Johannes. 1901. Einleitung in die theoretische Biologie. Berlin: Paetel Reinke, Johannes. 1903. Die Welt als Tat. Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Berlin: Paetel, 3. Aufl. Rendtorff, Trutz. 1962. „Säkularisierung als theologisches Problem.“ In NZSTh 4:318–339

404 | Literatur

Rendtorff, Trutz. 1965. „Die Säkularisierungsthese bei Max Weber und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionssoziologie.“ In Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. deutschen Soziologentages, hg. von Otto Stammer, Tübingen: Mohr, 241–245 Rendtorff, Trutz. 1967. „Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie.“ In Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie I, hg. von Joachim Matthes, Reinbek: Rowohlt, 209–229 Rendtorff, Trutz. 1998. „[Selbstdarstellung].“ In Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Christian Henning/ Karsten Lehmkühler, Tübingen: Mohr Siebeck, 59–77 Rendtorff, Trutz. 2011. Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, hg. von Reiner Anselm/Stephan Schleissing, Tübingen: Mohr Siebeck, 3. Aufl. Reventlow, Henning Graf. 1988. „Die Prophetie im Urteil Bernhard Duhms.“ In ZThK 85:259– 274 Rheinberg, Falko. 2008. Motivation. Stuttgart: Kohlhammer, 7. Aufl. Richmond, James. 1982. Albrecht Ritschl. Eine Neubewertung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Rickert, Heinrich. 1896–1902. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Freiburg/Leipzig: Mohr Rickert, Heinrich. 1901. „Grundzüge der Psychologie von Hugo Münsterberg (1900).“ In DLZ 14:841–846 Rickert, Heinrich. 1913. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen: Mohr, 2. Aufl. Rickert, Heinrich. 1921a. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen: Mohr, 3. Aufl. Rickert, Heinrich. 1921b. System der Philosophie, Bd. 1: Allgemeine Grundlegung der Philosophie. Tübingen: Mohr Rickert, Heinrich. 1929a. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen: Mohr, 5. Aufl. Rickert, Heinrich. 1929b. „Die vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte.“ In Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen: Mohr, 5. Aufl., 737–754 Rickert, Heinrich. 1929c. „Nachwort.“ In Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen: Mohr, 5. Aufl., 755–766 Rickert, Heinrich. 1999a. „Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (Systematische Selbstdarstellung) (1934).“ In Philosophische Aufsätze, hg. von Rainer A. Bast, Tübingen: Mohr, 347–411 Rickert, Heinrich. 1999b. „Lebenswerte und Kulturwerte (1911).“ In Philosophische Aufsätze, hg. von Rainer A. Bast, Tübingen: Mohr, 37–72 Rickert, Heinrich. 1999c. „Vom Begriff der Philosophie (1910).“ In Philosophische Aufsätze, hg. von Rainer A. Bast, Tübingen: Mohr, 1–36 Riesebrodt, Martin. 2001a. „Charisma.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 151–166 Riesebrodt, Martin. 2001b. „Ethische und exemplarische Prophetie.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 193–208 Riesebrodt, Martin. 2001c. „Religiöse Vergemeinschaftungen.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 101–117

Literatur |

405

Riesebrodt, Martin. 2004. „Robert Ranulph Marett (1866–1943).“ In Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg. von Axel Michaels, München: Beck, 2. Aufl., 171–184 Ringer, Fritz. 1997. Max Weber’s Methodology. The Unification of the Cultural und Social Sciences. Cambrigde Mass./London: Harvard University Press Ringer, Fritz. 2004. Max Weber – an intellectual biography. Chicago/London: University of Chicago Press Ritschl, Albrecht. 1853. „Ueber die Mystik, besonders die deutsche, im 14. Jahrhundert.“ In Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westphalens :113–135 Ritschl, Albrecht. 1870. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. I: Die Geschichte der Lehre. Bonn: Marcus Ritschl, Albrecht. 1874. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. II: Der biblische Stoff der Lehre. Bonn: Marcus Ritschl, Albrecht. 1880. Geschichte des Pietismus, Bd. I: Der Pietismus in der reformirten Kirche. Bonn: Marcus Ritschl, Albrecht. 1881. Theologie und Metaphysik, Zur Verständigung und Abwehr. Bonn: Marcus Ritschl, Albrecht. 1884. Geschichte des Pietismus, Bd. II: Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bonn: Marcus Ritschl, Albrecht. 1885. „Welt.“ In RE2 16:742–748 Ritschl, Albrecht. 1888. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III: Die positive Entwicklung der Lehre. Bonn: Marcus, 3. Aufl. Ritschl, Albrecht. 1889. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. I: Die Geschichte der Lehre. Bonn: Marcus, 3. Aufl. Ritschl, Albrecht. 1896a. „Lesefrüchte aus dem heiligen Bernhard (1879).“ In Gesammelte Aufsätze. Neue Folge, hg. von Otto Ritschl, Freiburg i. B./Leipzig: Mohr, 204–219 Ritschl, Albrecht. 2002. Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage, eingeleitet und hg. von Christine Axt-Piscalar. Tübingen: Mohr Siebeck Ritschl, Otto. 1892. Albrecht Ritschls Leben, Bd. I: 1822–1864. Freiburg i. B.: Mohr Ritschl, Otto. 1896b. Albrecht Ritschls Leben, Bd. II: 1864–1889. Freiburg i. B./Leipzig: Marcus Ritschl, Otto. 1901. Die Causalbetrachtung in den Geisteswissenschaften. Bonn: Marcus Rohde, Erwin. 1898a. Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Erster Band. Freiburg/Leipzig/Tübingen: Mohr, 2. Aufl. Rohde, Erwin. 1898b. Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Zweiter Band. Freiburg/Leipzig/Tübingen: Mohr, 2. Aufl. Rossi, Pietro. 1986. „Max Weber und die Methodologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften.“ In Max Weber, der Historiker, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 28–50 Rossi, Pietro. 1994. „Weber, Dilthey und Husserls Logische Untersuchungen.“ In Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 199–223 Roth, Günther. 1987. Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max WeberVorlesungen 1983. Frankfurt am Main: Suhrkamp Rothacker, Erich. 1922. „M. Webers Arbeiten zur Soziologie.“ In VSWG 16:420–434 Rothe, Richard. 1875. Vorlesungen über Kirchengeschichte und Geschichte des christlichkirchlichen Lebens, hg. von Hermann Weingarten, Heidelberg: Mohr

406 | Literatur

Rüsen, Jörn. 2004. „Sinnverlust und Transzendenz – Kultur und Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts.“ In Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, hg. von Friedrich Jäger/Jörn Rüsen, Stuttgart/Weimar: Metzler, 533–544 Schäfer, Rolf. 1968. Ritschl. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems. Tübingen: Mohr Schäfer-Lichtenberger, Christa. 1983. Stadt und Eidgenossenschaft im Alten Testament. Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Studie ‚Das antike Judentum‘. Berlin: de Gruyter Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. 1856. Einleitung in die Philosophie der Mythologie, hg. von Karl Friedrich August Schelling (= Sämmtliche Werke, II/1), Stuttgart/Augsburg: Cotta Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. 1858. Philosophie der Offenbarung, hg. von Karl Friedrich August Schelling (= Sämmtliche Werke, II/4), Stuttgart/Augsburg: Cotta Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. 2013. „Über Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopnevstie, u. göttliche Einwirkung auf Menschen überhaupt.“ In Frühe theologische Arbeiten 1792–1793, hg. von Christian Buro/Klaus Grotsch (= Historischkritische Ausgabe, II/4), Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann Holzboog, 15–28 Schelsky, Helmut. 1977. Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. München: DTV Schleiermacher, Friedrich. 2012a. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799/1806/1821). Studienausgabe, hg. von Niklaus Peter/Frank Bestebreurtje/Anna Büsching, Zürich: TVZ Schleiermacher, Friedrich. 2012b. Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg. von Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann Patsch (= Kritische Gesamtausgabe, II/4), Berlin/Boston: de Gruyter Schlesier, Renate. 1990. „Religion als Gegenbild. Zu einigen geschichtstheoretischen Aspekten von Eduard Meyers Universalhistorie.“ In Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, hg. von William M. Calder III/Alexander Demandt, Leiden/New York/Københagen/Köln: Brill, 368–416 Schluchter, Wolfgang. 1979. Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. Tübingen: Mohr Schluchter, Wolfgang. 1991a. Religion und Lebensführung, Bd. 1: Studien zu Max Webers Kulturund Werttheorie. Franfurt am Main: Suhrkamp Schluchter, Wolfgang. 1991b. Religion und Lebensführung, Bd. 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Schluchter, Wolfgang. 1995. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/11: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Schriften und Reden 1908–1912, hg. von ders. in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer, Tübingen: Mohr, 1–58 Schluchter, Wolfgang. 1998. Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents. Frankfurt am Main: Suhrkamp Schluchter, Wolfgang. 2000. „Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber.“ In Berliner Journal für Soziologie 10:125–136 Schluchter, Wolfgang. 2005a. „Handlung, Ordnung und Kultur. Grundzüge eines weberianischen Forschungsprogramms.“ In Handlung, Ordnung und Kultur. Studien zu einem Forschungsprogramm im Anschluss an Max Weber, hg. von ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 7–36 Schluchter, Wolfgang. 2005b. „Werturteilsfreiheit und Wertdiskussion. Max Weber zwischen Immanuel Kant und Heinrich Rickert.“ In Handlung, Ordnung und Kultur. Studien zu einem

Literatur |

407

Forschungsprogramm im Anschluss an Max Weber, hg. von ders., Tübingen: Mohr Siebeck, 86–107 Schluchter, Wolfgang. 2009. „Die soziologischen Grundbegriffe. Max Webers Grundlegung einer verstehenden Soziologie.“ In Die Entzauberung der Welt. Sechs Studien zu Max Weber, Tübingen: Mohr Siebeck, 111–136 Schluchter, Wolfgang. 2014. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/9: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von ders. in Zusammenarbeit mit Ursula Bube, Tübingen: Mohr Siebeck, 1–88 Schmid, Konrad. 1996. „Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie.“ In ZNThG 3:225–250 Schmidt, Werner H. 1995. Einführung in das Alte Testament. Berlin/New York: de Gruyter, 5. Aufl. Schmidt-Glintzer, Helwig. 1989. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/19: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg. von dies. in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, Tübingen: Mohr, 1–25 Schmidt-Glintzer, Helwig. 1996. „Einleitung.“ In Max Weber-Gesamtausgabe, I/20: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. Schriften 1916–1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio, Tübingen: Mohr, 1–21 Schmieder, Falko. 2015. „Entwicklung, Evolution.“ In Schlüsselbegriff der Philosophie des 19. Jahrhunderts, hg. von Annika Hand/Christian Bermes/Ulrich Dierse, Archiv für Begriffsgeschichte (Sonderheft), Hamburg: Felix Meiner Verlag, 165–190 Schmunk, Rosemarie. 1973. Vernunft und Glaube. Eine vergleichende Analyse von Wissenschaftslehre und Religionssoziologie bei Max Weber. Diss. Köln Schnädelbach, Herbert. 2004. „Werte und Wertungen.“ In Analytische und postanalytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen, Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 242–265 Schnädelbach, Herbert. 2005. „Die Sprache der Werte.“ In Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hg. von Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/Claus Wendt, Tübingen: Mohr, 97–110 Schneckenburger, Matthias. 1855. Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs. In zwei Theilen, hg. von Eduard Güder, Stuttgart: Metzler Scholtz, Gunter. 2014. „Die Unterminierung der Aufklärungsideale durch Wissenschaftsfortschritt in der Zeit um 1900.“ In ‚Aufklärung‘ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte, hg. von Georg Neugebauer/Paolo Panizzo/Christoph SchmittMaaß, Paderborn: Fink, 19–40 Schön, Manfred. 1988. „Gustav Schmoller und Max Weber.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 84–97 Schrey, Heinz-Horst. 1939. „Probleme der amerikanischen Soziologie.“ In ThR 11:145–163 Schröter, Marianne. 2012a. Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums. Berlin/Boston: de Gruyter Schröter, Marianne. 2012b. „Zum Prophetenbild der Aufklärung.“ In Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung, hg. von Christian Danz, Tübingen: Mohr Siebeck, 155–176 Schütz, Alfred. 1993. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Schulz, Walter. 1972. Philosophie in der veränderten Welt. Stuttgart: Klett-Cotta

408 | Literatur

Schulz, Walter. 1999. „Weltverneinung und Weltbejahung. Anmerkungen zu Schopenhauer und Nietzsche.“ In Schopenhauer-Jahrbuch 80:147–163 Schurz, Gerhard. 2004. „Erklären und Verstehen.“ In Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, hg. von Friedrich Jaeger/Jürgen Straub, Stuttgart: Metzler, 156–174 Schwinn, Thomas. 1993. „Max Webers Verstehensbegriff.“ In ZphF 47:573–587 Schwinn, Thomas. 2010. „Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie? Kritische Anfragen aus einer Weber’schen Perspektive.“ In Wirtschaftssoziologie nach Max Weber, hg. von Andrea Maurer, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 199–225 Seeberg, Reinhold. 1889. Ein Kampf um jenseitiges Leben. Lebensbild eines mittelalterlichen Frommen in protestantischer Beleuchtung. Dorpat: Karow Seeberg, Reinhold. 1897. „Askese.“ In RE3 2:134–142 Seeberg, Reinhold. 1898. Lehrbuch der Dogmengeschichte, 2. Hälfte: Die Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Erlangen: Deichert Sefrin, Dieter. 1998a. „Mana.“ In HRWG IV:98–103 Sefrin, Dieter. 1998b. „Orenda.“ In HRWG IV:288–290 Seidler, Ernst. 1999. Die sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Ein Beitrag zur Methodik der Gesellschaftslehre (Neuauflage der Ausgabe Jena 1930), mit einem Geleitwort von Günther Winkler, Wien/New York: Springer Seyfarth, Constans/ Schmidt, Gert. 1977. Max-Weber-Bibliographie. Eine Dokumentation der Sekundärliteratur. Stuttgart: Enke Siebeck, Hermann. 1893. Lehrbuch der Religionsphilosophie. Freiburg i.B./Leipzig: Mohr Simmel, Georg. 1997a. „Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Zweite Fassung 1905/1907).“ In Kant.Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Zweite Fassung 1905/1907), hg. von Guy Oakes/Kurt Röttgers (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 9), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 227–419 Simmel, Georg. 1997b. „Kant.“ In Kant.Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Zweite Fassung 1905/1907), hg. von Guy Oakes/Kurt Röttgers (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 9), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–226 Simmel, Georg. 2012a. „Die Religion.“ In Philosophie der Mode (1905), Die Religion (1906/2 1912), Kant und Goethe (1906/3 1916), Schopenhauer und Nietzsche, hg. von Michael Behr/Volkhard Krech/Gert Schmidt (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 10), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 4. Aufl., 39–118 Simmel, Georg. 2012b. „Schopenhauer und Nietzsche.“ In Philosophie der Mode (1905), Die Religion (1906/2 1912), Kant und Goethe (1906/3 1916), Schopenhauer und Nietzsche, hg. von Michael Behr/Volkhard Krech/Gert Schmidt (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 10), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 4. Aufl., 167–408 Simmel, Georg. 2014. „Philosophie des Geldes (Selbstanzeige) (1901).“ In Philosophie des Geldes, hg. von David P. Frisby/Klaus Christian Köhnke (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 6), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 10. Aufl., 719–723 Smend, Rudolf. 1991. „Wellhausen und das Judentum (1982).“ In Gesammelte Studien, Bd. 3: Epochen der Bibelkritik, München: Kaiser, 186–215 Smend, Rudolf. 1998. Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Sohm, Rudolph. 1892. Kirchenrecht. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen. Leipzig: Duncker & Humblot Sombart, Werner. 1911a. Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig: Duncker & Humblot

Literatur |

409

Sombart, Werner. 1911b. „Technik und Kultur.“ In Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge von Georg Simmel u. a. und Debatten, Tübingen: Mohr, 63–110 Sombart, Werner. 1987a. Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. I/1: Einleitung. Die vorkapitalistische Wirtschaft. Die historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus (unveränderter Nachdruck der 2., neugearbeiteten Auflage, München/Leipzig 1916). München: DTV Sombart, Werner. 1987b. Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. III: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, II. Halbband: Der Hergang der hochkapitalistischen Wirtschaft. Die Gesamtwirtschaft (unveränderter Nachdruck der 1. Auflage, München/Leipzig 1927). München: DTV Sprondel, Walter M. 1971. „Askese, innerweltliche Askese.“ In HWP 1:541–543 Stübinger, Ewald. 1995. „Normative Wirtschaftsethik – Georg Wünsch (1887–1964). Reminiszenzen an einen fast vergessenen Begründer der evangelischen Wirtschaftsethik.“ In ZEE 39:57–64 Steinbach, Ernst. 1950. „Theologie als Soziallehre.“ In ZThK 47:94–105 Stephan, Horst. 1935. „Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. (Aus: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, 1934). Tübingen.“ In ZThK 16:286 Stolz, Fritz. 1988. Grundzüge der Religionswissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Streib, Heinz. 1998. „Alltagsreligion oder: Wie religiös ist der Alltag? Zur lebensweltlichen Verortung von Religion in praktisch-theologischem Interesse.“ In IJPT 2:23–51 Šuber, Daniel. 2007. Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft. Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900. Bielefeld: transcript-Verlag Šuber, Daniel. 2008. „Soziologiegeschichtliche Anmerkungen zur Karriere des Lebensbegriffs in der Soziologie.“ In Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution des sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, hg. von Kay Junge/Daniel Šuber/Gerold Gerber, Bielefeld: transcript-Verlag, 101–132 Sukale, Michael. 2002. Max Weber – Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen. Tübingen: Mohr Siebeck Tanner, Klaus. 1993. Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung. Stuttgart: Kohlhammer Tanner, Klaus. 2002. „Theologie im Kontext der Kulturwissenschaften.“ In BThZ 19:83–98 Tanner, Klaus. 2005. „Die Macht des Unverfügbaren. Charisma als Gnadengabe in der Thematisierung von Institutionalisierungsprozessen im Christentum.“ In Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter, hg. von Giancarlo Andenna/Mirko Breitenstein/Gert Melville, Münster: Lit-Verlag, 25–44 Tenbruck, Friedrich H. 1959. „Die Genesis der Methodologie Max Webers.“ In KZSS 11:573–630 Tenbruck, Friedrich H. 1975. „Das Werk Max Webers.“ In KZSS 27:663–702 Tenbruck, Friedrich H. 1988. „Max Weber und Eduard Meyer.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 337–379 Tenbruck, Friedrich H. 1994. „Die Wissenschaftslehre Max Webers. Voraussetzungen zu ihrem Verständnis.“ In Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 367–389

410 | Literatur

Teufel, Eberhard. 1942. „Täufertum und Quäkertum im Licht der neueren Forschung IV.“ In ThR 14:27–52 Thoma, Heinz. 2010. „Der moralische Intellektuelle. Albert Camus.“ In RZLG 34:387–413 Thomas, Günter. 2001. Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation. Würzburg: Ergon-Verlag Thürnau, Donatus. 1995. „Sinn/Bedeutung.“ In HWP 9:808–815 Tiele, Cornelis Petrus. 1899. Einleitung in die Religionswissenschaft. Gifford-Vorlesungen, Bd. 1: Morphologie, hg. von Georg Gehrich, Gotha: Perthes Tillich, Paul. 1962a. „Gläubiger Realismus II (1927).“ In Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, hg. von Renate Albrecht (= Gesammelte Werke, Bd. 4), Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 88–106 Tillich, Paul. 1962b. „Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis (1926).“ In Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, hg. von Renate Albrecht (= Gesammelte Werke, Bd. 4), Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 43–76 Tillich, Paul. 1982. „Der Mut zum Sein (1952).“ In Sinn und Sein. Zwei Schriften zur Ontologie, hg. von Renate Albrecht (= Gesammelte Werke, Bd. 11), Frankfurt am Main: Evangelisches Verlagswerk, 3. Aufl., 13–139 Tillich, Paul. 1987. Systematische Theologie I/II. Berlin/New York: de Gruyter Torp, Cornelius. 2006. „Max Weber (1864–1920).“ In Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch, hg. von Lutz Raphael, München: Beck, 142–171 Traub, Gottfried. 1905a. „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.“ In Die christliche Welt 19:942–946 Traub, Gottfried. 1905b. „Soziale Aufgaben.“ In ThR 8:499–511 Treiber, Hubert. 1991. „Im Westen nichts Neues. Menschwerdung durch Askese. Sehnsucht nach Askese bei Weber und Nietzsche.“ In Religionswissenschaft und Kulturkritik. Beiträge zur Konferenz The History of Religions and Critique of Culture in the Days of Gerardus van der Leeuw (1890–1950), hg. von Hans Georg Kippenberg/B. Luchesi, Marburg: Diagonal-Verlag, 283–323 Treiber, Hubert. 1999. „Zur Genese des Askesekonzepts bei Max Weber.“ In Saeculum 50:247– 289 Treiber, Hubert. 2001. „Askese.“ In Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. von Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt, Tübingen: Mohr Siebeck, 263–278 Treiber, Hubert. 2005. „Der ‚Eranos‘ – Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?“ In Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, hg. von Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen: Mohr Siebeck, 75–153 Treiber, Hubert. 2011. „Aspekte der Rezeption und Wirkung: Soziologie.“ In NietzscheHandbuch. Leben, Werk, Wirkung (Sonderausgabe), hg. von Henning Ottmann, Stuttgart: Metzler, 520–526 Trillhaas, Wolfgang. 1950. „Weber, Max: Aus den Schriften zu Religionssoziologie. Auswahl, Einleitung und Bemerkungen von M. Ernst Graf zu Solms, Frankfurt 1948.“ In ThLZ 75:155 Trillhaas, Wolfgang. 1954. „Wach, Joachim: Religionssoziologie. Nach der 4. Aufl. übers. v. Helmut Schoeck, Tübingen 1951.“ In ThLZ 79:93–96 Troeltsch, Ernst. 1903. „Englische Moralisten.“ In RE3 13:436–461

Literatur |

411

Troeltsch, Ernst. 1913a. „Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik.“ In Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen: Mohr, 552–672 Troeltsch, Ernst. 1913b. „Moderne Geschichtsphilosophie.“ In Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen: Mohr, 673–728 Troeltsch, Ernst. 1913c. „Theodizee: II. Systematisch.“ In RGG 5:1186–1192 Troeltsch, Ernst. 1913d. „Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1909).“ In Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen: Mohr, 452–499 Troeltsch, Ernst. 1922. Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (= Gesammelte Schriften, Bd. 3), Tübingen: Mohr Troeltsch, Ernst. 1923. Die Soziallehren der christlichen Kirchen (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), Tübingen: Mohr, 3. Aufl. Troeltsch, Ernst. 1925a. „Die kulturgeschichtliche Methode in der Dogmengeschichte. – Bedeutung der lex naturae für Katholizismus und Reformation. Lehrbuch der Dogmengeschichte von R. Seeberg. Zweite Hälfte: Die Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Erlangen 1899.“ In Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. von Hans Baron (= Gesammelte Schriften, Bd. 4), Tübingen: Mohr, 739–752 Troeltsch, Ernst. 1925b. „Meine Bücher (1922).“ In Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. von Hans Baron (= Gesammelte Schriften, Bd. 4), Tübingen: Mohr, 3–18 Troeltsch, Ernst. 1968. „Die Kulturbedeutung des Calvinismus (1910).“ In Max Weber, Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann, München/Hamburg: Siebenstern, 188–215 Troeltsch, Ernst. 1998. Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5), Berlin/New York: de Gruyter Troeltsch, Ernst. 2004a. „Otto Lempp: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller (1910); Richard Wegener: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des XVIII. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Kant und Schiller (1909).“ In Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4), Berlin/New York: de Gruyter, 678–682 Troeltsch, Ernst. 2004b. Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hg. von Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7), Berlin: de Gruyter Troeltsch, Ernst. 2010. „Hirsch, Prof. Emanuel: Die Reich-Gottesbegriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie, Göttingen 1921.“ In Rezensionen und Kritiken (1915–1923), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Diana Feßl/Harald Haury/Alexander Seelos (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13), Berlin/New York: de Gruyter, 630–632 Tuilier, André. 1981. „Didache.“ In TRE 8:731–736 Turner, Stephen P./ Factor, Regis A. 1994. Max Weber. The Lawyer as Social Thinker. London: Routledge Turner, Steven R. 1993. „Consensus and Controversy. Helmholtz on the Visiual Perception of Space.“ In Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-century Science, hg. von David Cahan, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 154–204

412 | Literatur

Twenhöfel, Ralf. 1985. Handeln, Verhalten und Verstehen. Eine Kritik der verstehenden Soziologie Max Webers und Alfred Schütz’. Königstein: Hain Tylor, Edward B. 1873. Primitive Culture. Researches into the Development of Mythologie, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom, 2 Bde. London: Murray Tyrell, Hartmann. 1990. „Worum geht es in der ‚Protestantischen Ethik‘? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers.“ In Saeculum 41:130–177 Tyrell, Hartmann. 1992. „‚Das Religiöse‘ in Max Webers Religionssoziologie.“ In Saeculum 43:172—230 Tyrell, Hartmann. 1994. „Protestantische Ethik – und kein Ende.“ In Soziologische Revue 17:397–404 Tyrell, Hartmann. 2014. „Zum Begriff der Religion bei Max Weber.“ In StZ 232:219–232 Usener, Hermann. 1896. Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Bonn: Cohen Usener, Hermann. 1904. „Mythologie.“ In Archiv für Religionswissenschaft 7:6-32 Vischer, Friedrich Theodor. 1866. „Kritik meiner Aesthetik.“ In Kritische Gänge. Neue Folge. Fünftes Heft, Stuttgart: Cotta, 1–156 Voigt, Andreas. 1911. „Wirtschaft und Recht.“ In Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge von Georg Simmel u. a. und Debatten, Tübingen: Mohr, 249–274 Voigt, Friedemann. 2002. „Das protestantische Erbe in Max Webers Vorträgen über ‚Wissenschaft als Beruf‘ und ‚Politik als Beruf‘.“ In ZNThG 9:245–267 Vollhardt, Friedrich. 2003. „Heinrich Rickert Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899).“ In KulturPoetik 3:279–285 Wach, Joachim. 1931. Einführung in die Religionssoziologie. Tübingen: Mohr Wagner, Falk. 1991. Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart. Gütersloh: Mohn, 2. Aufl. Wagner, Falk. 2014. „Kann die Moderne der Religion die Religion der Moderne ertragen? Religionssoziologische und theologisch-philosophische Erwägungen im Anschluß an Niklas Luhmann.“ In Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Jörg Dierken/Christian Polke, Tübingen: Mohr Siebeck, 337–367 Wagner, Gerhard/ Zipprian, Heinz. 1985. „Methodologie und Ontologie. Zum Problem kausaler Erklärung bei Max Weber.“ In ZfS 14:115–130 Waldenfels, Bernhard. 1998. „Alltag als Schmelztiegel der Rationalität.“ In Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 3. Aufl., 189–203 Wallmann, Johannes. 2010. „Reformation, Orthodoxie, Pietismus.“ In Gesammelte Aufsätze III: Pietismus und Orthodoxie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1–21 Walther, Andreas. 1926. „Max Weber als Soziologie.“ In Jahrbuch für Soziologie 2:1–65 Ward, William R. 1988. „Max Weber und die Schule Albrecht Ritschls.“ In Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 296–312 Weber, Marianne. 1984. Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: Mohr, 3. Aufl. Weber, Max. 1936. Jugendbriefe. Tübingen: Mohr Weber, Max. 1964. Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik. Mit einer Einführung von Eduard Baumgarten, hg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart: Kröner, 3. Aufl. Weber, Max. 1973a. „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 427–474

Literatur |

413

Weber, Max. 1973b. „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1918).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 489–540 Weber, Max. 1973c. „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 146–214 Weber, Max. 1973d. „Die Grenznutzlehre und das ‚psychophysische Grundgesetz‘ (1908).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 384–399 Weber, Max. 1973e. „‚Energetische‘ Kulturtheorien (1909).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 400–426 Weber, Max. 1973f. „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 215–290 Weber, Max. 1973g. „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung (1907).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 291–359 Weber, Max. 1973h. „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. I. Roschers ‚historische Methode‘ (1903).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 1–42 Weber, Max. 1973i. „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. II. Knies und das Irrationalitätsproblem (1905).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 42–105 Weber, Max. 1973j. „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. III. Knies und das Irrationalitätsproblem (Forts., 1906).“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl., 105–145 Weber, Max. 1980. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Studienausgabe), hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 5. Aufl. Weber, Max. 1989a. „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung (1916).“ In Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko (= Max WeberGesamtausgabe, I/19), Tübingen: Mohr, 83–127 Weber, Max. 1989b. „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus (1915–1920).“ In Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/19), Tübingen: Mohr, 128–478 Weber, Max. 1989c. „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung (1916).“ In Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915– 1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/19), Tübingen: Mohr, 479–522 Weber, Max. 1990. Briefe 1906–1908, hg. von M. Rainer Lepsius/Wolfgang Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard/Manfred Schön (= Max Weber-Gesamtausgabe, II/5), Tübingen: Mohr Weber, Max. 1991. „Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft.“ In Simmel Newsletter 1:9–13

414 | Literatur

Weber, Max. 1992a. „Politik als Beruf (1919).“ In Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/17), Tübingen: Mohr, 157–252 Weber, Max. 1992b. „Wissenschaft als Beruf (1917/1919).“ In Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/17), Tübingen: Mohr, 71–111 Weber, Max. 1993a. „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede (1895).“ In Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892–1899, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/4. 2), Tübingen: Mohr, 535–574 Weber, Max. 1993b. „Zur Rechtfertigung Göhres (1893).“ In Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892–1899, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/4. 1), Tübingen: Mohr, 108–119 Weber, Max. 1994. Briefe 1909–1910, hg. von M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard/Manfred Schön (= Max Weber-Gesamtausgabe, II/6), Tübingen: Mohr Weber, Max. 1996. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 1916–1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/20), Tübingen: Mohr Weber, Max. 1998. Briefe 1911–1912, hg. von M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard/Manfred Schön (= Max Weber-Gesamtausgabe, II/7. 2), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2001. Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hg. von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm, unter Mitwirkung von Jutta Niemeier (= Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/22. 2), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2003. Briefe 1913–1914, hg. von M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard/Manfred Schön (= Max Weber-Gesamtausgabe, II/8), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2005a. „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum (1917– 1919).“ In Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, hg. von Eckart Otto unter Mitwirkung von Julia Offermann (= Max WeberGesamtausgabe, I/21. 1), Tübingen: Mohr, 234–606 Weber, Max. 2005b. „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum (1917– 1919).“ In Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, hg. von Eckart Otto unter Mitwirkung von Julia Offermann (= Max WeberGesamtausgabe, I/21. 2), Tübingen: Mohr, 607–856 Weber, Max. 2005c. Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 4: Herrschaft, hg. von Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/22. 4), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2006. „Agrarverhältnisse im Altertum (1. und 2. Fassung, 1897/1898).“ In Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Schriften und Reden 1893–1908, hg. von Jürgen Deininger (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/6), Tübingen: Mohr, 146–227 Weber, Max. 2009. Wirtschaft und Gesellschaft. Entstehungsgeschichte und Dokumente, hg. von Wolfgang Schluchter (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/24), Tübingen: Mohr Siebeck

Literatur |

415

Weber, Max. 2010. Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 3: Recht, hg. von Werner Gephart/Siegfried Hermes (= Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/22. 3), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2011. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Mit- und Nachschriften (1919/1920), hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Joachim Schröder (= Max Weber-Gesamtausgabe, III/6), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2012. Briefe 1918–1920, hg. von Gerd Krumeich/M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Uta Hinz/Sybille Oßwald-Bargende/Manfred Schön (= Max WeberGesamtausgabe, II/10 [2 Bde.]), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2013. Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920, hg. von Knut Borchardt/Edith Hanke/Wolfgang Schluchter (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/23), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2014a. „Antikritisches zum ‚Geist‘ des Kapitalismus (1910).“ In Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/9), Tübingen: Mohr Siebeck, 573–619 Weber, Max. 2014b. „Bemerkungen zu der vorstehenden ‚Replik‘ (1908).“ In Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/9), Tübingen: Mohr Siebeck, 498–514 Weber, Max. 2014c. „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturecht. Diskussionsbeiträge auf dem Ersten Deutschen Soziologentag am 21. Oktober 1910.“ In Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/9), Tübingen: Mohr Siebeck, 747–764 Weber, Max. 2014d. „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus.“ In Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/9), Tübingen: Mohr Siebeck, 123–215. 242–425 Weber, Max. 2015a. Briefe 1895–1902, hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit mit Uta Hinz (= Max Weber-Gesamtausgabe, II/3 [2 Bde.]), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2015b. Briefe 1903–1905, hg. von Gangolf Hübinger/M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards/Sybille Oßwald-Bargende (= Max Weber-Gesamtausgabe, II/4), Tübingen: Mohr Weber, Max. 2016. „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus.“ In Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus/Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube (= Max Weber-Gesamtausgabe, I/18), Tübingen: Mohr Siebeck, 123–492 Weippert, Georg. 1964. „Gottl von Ottilienfeld, Friedrich.“ In Neue Deutsche Biographie 6:681– 682 Weippert, Georg. 1966. „Vom Werturteilsstreit zur politischen Theorie.“ In Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Band 1: Sozialwissenschaft und Wirklichkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 71–163 Weiß, Johannes. 1988. „Georg Simmel, Max Weber und die ‚Soziologie‘.“ In Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 36–63

416 | Literatur

Weiß, Johannes. 1992. Max Webers Grundlegung der Soziologie. München: Saur, 2. Aufl. Weiß, Johannes. 1994. „Kausale Durchsichtigkeit.“ In Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 507–526 Wellhausen, Julius. 1876. „Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875.“ In JDTh 21:152–157 Wellhausen, Julius. 1883. Prolegomena zur Geschichte Israels. Berlin: Reimer, 2. Aufl. Wellhausen, Julius. 1894. Israelitische und jüdische Geschichte. Berlin: Reimer Wellhausen, Julius. 1895. Prolegomena zur Geschichte Israels. Berlin: Reimer, 4. Aufl. Wellhausen, Julius. 1906. „Die israelitisch-jüdische Religion.“ In Christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion, hg. von Paul Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, IV/1, Berlin/Leipzig: Teubner, 1–40 Wellhausen, Julius. 2004. Israelitische und jüdische Geschichte. Mit einem Nachwort von Rudolf Smend und einem Stellenregister. Berlin/New York: de Gruyter, 10. Aufl. Wiedenhofer, Siegfried. 1990. „Tradition.“ In GGB VI:607–649 Wieland, Wolfgang. 1975. „Entwicklung.“ In GGB 2:199–228 Winckelmann, Johannes. 1973. „Vorwort.“ In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von ders., Tübingen: Mohr, 4. Aufl., IX–XI Winckelmann, Johannes. 1976. Erläuterungsband zu Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr Windelband, Wilhelm. 1904. Ueber Willensfreiheit. Zwölf Vorlesungen. Tübingen: Mohr Windelband, Wilhelm. 1907a. „Geschichte und Naturwissenschaft.“ In Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen: Mohr, 3. Aufl., 355–379 Windelband, Wilhelm. 1907b. „Was ist Philosophie? (Über Begriff und Geschichte der Philosophie).“ In Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen: Mohr, 3. Aufl., 24–77 Winkel, Harald. 1977. Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Winkler, Günther. 1999. „Geleitwort.“ In Ernst Seidler, Die sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Ein Beitrag zur Methodik der Gesellschaftslehre, hg. von Günther Winkler, Wien/New York: Springer, XI–XLVIII Wittgenstein, Ludwig. 1989. „Philosophische Untersuchungen.“ In Tractatus logicophilosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (= Ludwig Wittgenstein Werkausgabe, Bd. 1), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 225–580 Wobbermin, Georg. 1931. „Bonhoeffer, Lic. Dietrich, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, Berlin 1930.“ In ThLZ 25:590–591 Wohlrab-Sahr, Monika/Burchardt, Marian. 2012. „Multiple Secularities. Toward a Cultural Sociology of Secular Modernities.“ In Comparative Sociology 11:875–909 Wohlrab-Sahr, Monika/Przyborski, Aglaja. 2008. Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Wolff, Hans Walter. 1985. „Prophet und Institution im Alten Testament.“ In Charisma und Institution, hg. von Trutz Rendtorff, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn, 87–101 Wright, Georg Henrik von. 2008. Erklären und Verstehen. Berlin: Europäische Verlagsanstalt Wundt, Wilhelm. 1895. Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Bd. 2: Methodenlehre, II. Abt: Logik der Geisteswissenschaften. Stuttgart: Enke, 2. Aufl.

Literatur |

417

Wundt, Wilhelm. 1904. Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Erster Band: Die Sprache, Zweiter Teil. Leipzig: Engelmann Wundt, Wilhelm. 1906. Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Zweiter Band: Mythus und Religion, Zweiter Teil. Leipzig: Engelmann Wundt, Wilhelm. 1908. Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 3. Leipzig: Engelmann, 6. Aufl. Wundt, Wilhelm. 1909. Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Zweiter Band: Mythus und Religion, Dritter Teil. Leipzig: Engelmann Wünsch, Georg. 1925. Religion und Wirtschaft. Tübingen: Mohr Wünsch, Georg. 1927. Evangelische Wirtschaftsethik. Tübingen: Mohr Zöckler, Otto. 1897. Askese und Mönchtum. Frankfurt am Main: Heyder & Zimmer, 2. Aufl. Zöckler, Otto. 1903. „Magie, Magier.“ In RE3 12:55–70 Zöller, Michael. 2007. „Max Weber (1864–1920).“ In Klassiker des politischen Denkens, Band II: Von John Locke bis Max Weber, hg. von Hans Maier/Horst Denzer, München: Beck, 3. Aufl., 205–221

Personenverzeichnis Adolphi, R. 65 Aischylos 253 Alt, A. 13, 19 Anquetil-Duperron, A. H. 253 Anter, A. 26, 145, 328 Assel, H. 7 Assmann, J. 226, 233, 237 Auerbach, F. 111 Augustinus von Hippo 318 Barth, K. 13 Barth, U. 20, 21, 46, 155, 329 Basileios von Caesarea 206 Baumgarten, E. 2, 14 Baumgarten, O. 2, 274, 376 Becker, U. 324 Below, G. von 298 Bendix, R. 2 Bernhard von Clairvaux 290, 291, 293 Bertholet, A. 214 Bienfait, A. 70 Bismarck, O. von 118 Blumenberg, H. 15 Böhme, J. 299 Bonhoeffer, D. 10–12 Bourdieu, P. 242, 243, 279, 344, 347 Bousset, W. 228, 243–245, 253 Breuer, S. 181–183, 187, 215, 336 Brinkmann, C. 2 Buddha 253, 261 Bücher, K. 165 Busch, W. 125 Caesar, G. I. 103 Calvin, J. 6, 298, 301, 303, 307, 313, 318 Cancik, H. 218 Caspari, W. 4, 5 Cicero, M. T. 7 Clark, C. 120 Claussen, J. H. 246, 248, 250 Codrington, R. H. 185 Cohen, H. 286 Colpe, C. 263 Comte, A. 381 https://doi.org/10.1515/9783110502770-428

Cornelius, C. A. 293 Correll, E. H. 294 Crawley, E. 188 Creuzer, F. 177 Demandt, A. 147 Dessoir, M. 86, 88 Dillmann, A. 229 Dilthey, K. 190 Dilthey, W. 34, 38, 39, 42, 44, 70, 72, 73, 91, 92, 107, 127, 156, 190, 211, 223, 291, 379, 381, 384 Drehsen, V. 3, 4, 17, 18, 21, 24, 25, 330, 369 Drews, P. 3 Droysen, G. 156 Düring, E. 286 Duhm, B. 228, 230, 246, 249 Dunn, J. D. G. 239 Dux, G. 212, 329 Ebeling, G. 8 Eberle, M. 23 Elert, W. 12, 13 Eucken, R. 286 Evans-Pritchard, E. 344 Fechner, G. T. 73 Feuerbach, L. 286 Fichte, J. G. 27, 88, 89 Fischer, J. 57, 357 Fischer, K. 72 Foucault, M. 174 Francke, A. H. 292 Franz von Assisi 300, 301 Frazer, J. G. 321 Frege, G. 66 Freud, S. 69 Freund, J. 92 Freyer, H. 2, 32, 171, 329 Friedrich II. 118 Friedrich Wilhelm IV. 147 Frisby, D. 96, 108 Gadamer, H.-G. 329

Personenverzeichnis |

Geertz, C. 24, 52, 107, 279 Gehlen, A. 2, 383 Gephart, W. 26, 110, 111 Gerhard, J. 306 Ghosh, P. 265, 298, 315, 316 Goebel, M. 266, 287 Goethe, J. W. von 71, 102, 120, 283 Goldschmidt, L. 110 Gothein, E. 272 Gottl, F. 45, 61, 82, 119, 125–141, 147, 150, 384 Gottschick, J. 306 Graf, F. W. 2, 3, 22–24, 244, 245, 265, 275, 286, 293, 297–299, 301, 302, 315 Graf, K. H. 229, 323 Gressmann, H. 245 Groot, J. J. M. de 194–196 Grotius, H. 307 Gruhle, H. W. 75 Gunkel, H. 244, 245, 255 Habermas, J. 2, 40, 45, 84 Hahn, A. 345 Hanke, E. 262, 264, 265, 283, 324 Hannibal 118 Harnack, A. von 175, 199–205, 207, 208, 291, 294, 321, 322 Hartmann, E. von 178, 263, 264, 286 Hatch, E. 200 Hefner, P. 325 Hegel, G. W. F. 27, 93, 169, 196 Heidegger, M. 148 Heimbrock, H.-G. 333 Heit, A. 23 Heller, H. 148 Helmholtz, H. von 111 Hennis, W. 2, 31, 32, 36, 110, 159, 265 Henrich, D. 17, 21, 47, 61, 64, 330, 351 Herodot 186 Herrmann, W. 240, 250, 280, 291, 299, 308, 325 Heuß, A. 170 Hildebrand, B. 31 Hinneberg, P. 183, 189, 245, 298, 321 Hirsch, E. 6–8, 10, 13 Hoffmann, H. 8, 70 Holl, K. 6–8, 10, 69, 198, 199, 203–207, 237, 260, 284, 317, 321, 322, 347, 348

419

Hollaz, D 266 Homer 218 Hoornbeek, J. 310 Hübinger, G. 170 Hühn, H. 365 Hume, D. 115, 173, 177, 260, 282 Husserl, E. 10, 60, 63, 66, 97, 123, 139, 140 Jacobi, F. H. 260 James, W. 86, 211 Jantke, C. 2 Jaspers, K. 1, 75, 103, 253 Jellinek, G. 85, 120, 148 Joas, H. 186 Johach, H. 38 Kaesler, D. 71, 146 Kalberg, S. 283 Kant, I. 48, 65, 68, 86, 87, 97, 98, 104, 115, 265, 277 Kehrer, G. 367 Kelsen, H. 146 Kippenberg, H. G. 25, 39, 161, 166–168, 181, 182, 184, 190, 212, 245, 264, 265, 272, 281, 283, 370 Klingemann, C. 2 Knies, K. 31, 126, 130 Kratz, R. G. 229 Krech, V. 283, 286 Kremer, J. 277 Kries, J. von 45, 111–118, 121, 122, 145–147, 149, 151, 157, 357 Kroll, T. 199 Kroner, R. 166 Küenzlen, G. 181, 192, 264 Kuenen, A. 252 Kung-tse 253 Lang, B. 228, 230, 244, 339 Lask, E. 64 Lehmann, E. 183, 186, 188, 189, 194, 215, 224, 225, 228, 261, 321 Lehmann, H. 7, 72, 110, 286 Leibniz, G. W. 278 Lempp, O. 277, 282 Lenk, H. 356 Lennert, R. 211

420 | Personenverzeichnis

Leonhardt, R. 8 Lepsius, M. R. 2 Lessing, H.-U. 286 Lewin, K. 38 Lichtblau, K. 96, 109, 279 Liebersohn, H. 299 Liefmann, R. 74, 155, 212 Liepmann, M. 111 Locke, J. 356 Löwith, K. 21, 54, 142, 243 Loofs, F. 203 Lotze, R. H. 48 Luckmann, T. 15, 52, 333 Lübbe, H. 15 Luhmann, N. 23, 45, 144, 223, 345 Luther, M. 6, 8, 69, 103, 206, 237, 265, 284, 292, 294, 298, 302, 304, 309, 310, 313, 317 Mach, E. 127 Machiavelli, N. 265 Mannheim, K. 6, 139, 279, 378 Marett, R. R. 182–188, 210, 212, 224, 321 Marx, K. 85, 272, 279, 286 Massimilla, E. 31, 41 Mehlis, G. 166 Meister Eckart 287 Melanchthon, P. 306 Mensching, G. 14 Merkel, A. 111 Merz-Benz, P.-U. 63 Meyer, E. 62, 75, 110, 118–120, 180, 194, 195, 199, 215–218, 220, 226, 228–230, 233–237, 246, 322 Mill, J. S. 113 Mohammed 256, 318 Mommsen, W. J. 149, 170–172, 274, 281 Morikawa, T. 127, 128, 132 Moulin-Eckart, R. Du 128, 129 Mühlmann, W. E. 140 Müller, A. 9 Müller, K. 202–205, 260, 293 Münsterberg, H. 44, 80, 85–95, 106, 127, 156, 384 Murrmann-Kahl, M. 22, 171, 172 Neumann, C. 128

Newton, I. 102 Niebergall, F. 3, 4 Nietzsche, F. 7, 47, 51, 170, 176, 218, 241, 249, 263, 265, 279, 286, 297 Nipperdey, T. 369 Noth, M. 5, 19 Nottmeier, C. 208 Nusser, K.-H. 153, 171 Oldenberg, H. 175 Origenes 206 Osthövener, C.-D. 208 Ostwald, W. 87, 160, 273 Otto, E. 18, 163, 164, 186, 230, 244, 245, 282, 344 Otto, R. 14, 185, 186, 225 Pannenberg, W. 58 Parsons, T. 2 Perlitt, L. 232, 249 Pfänder, A. 13 Pfeffer, K. H. 2 Pfleiderer, G. 23 Pfleiderer, O. 228, 230, 274 Platon 253, 269, 274 Plessner, H. 169 Plötz, A. 165 Plotin 269 Pollack, D. 376 Pythagoras 139 Quenstedt, J. A. 266 Rachfahl, F. 3, 163 Rad, G. von 347 Radbruch, G. 111, 112 Rade, M. 324 Radkau, J. 54 Ranke, L. von 69, 99 Reinke, J. 340 Rendtorff, T. 15, 16, 20, 325 Reuß, E. 229 Richmond, J. 325 Rickert, H. 27, 28, 30, 32–35, 37, 41, 42, 44, 47, 49–51, 64, 66, 71, 75–83, 85–88, 91, 92, 97, 112, 120, 122, 128, 134, 143, 148, 149, 160, 166, 171, 275

Personenverzeichnis |

Ricœur, P. 107 Riesebrodt, M. 25, 167, 181, 182, 210, 283 Ritschl, A. 18, 266, 267, 271, 284–297, 299–302, 304, 305, 308–311, 315, 316, 323–325, 349, 350, 356, 361, 369, 375 Ritschl, O. 94, 287, 288 Rohde, E. 181, 189, 215, 218–221, 253, 254, 322 Roscher, W. 31 Rossi, P. 160 Roth, G. 170 Rothacker, E. 327, 328 Rothe, R. 298 Rümelin, G. F. E. 111 Saussaye, C. de la 177, 182, 214 Schäfer-Lichtenberg, C. 19 Schelling, F. 173, 177, 188, 204, 260 Schelsky, H. 15, 238, 280 Schiller, F. 277 Schleiermacher, F. 10, 39, 101, 156, 212, 249, 264, 266, 274, 284, 376, 377, 379, 381 Schluchter, W. 18, 25, 31, 54, 60, 64, 73, 149, 163, 166, 170, 286, 293, 297, 370 Schmid, K. 249 Schmidt, W. H. 256 Schnädelbach, H. 63, 76 Schneckenburger, M. 265–268, 276, 284, 297, 299, 300, 302, 307–309, 312, 315, 316, 323, 324, 369, 375 Schopenhauer, A. 176, 263, 265, 270, 286 Schürmann, A. M. von 287 Schütz, A. 39, 46, 55, 56, 58, 65, 70, 152, 154, 155 Schumpeter, J. 212 Schurz, G. 69 Schweizer, A. 310 Schwinn, T. 26, 92 Seeberg, R. 294, 297, 298, 303–306, 310, 315, 316, 323 Sefrin, D. 185 Seidler, E. 146 Sellin, E. 255 Semler, J. S. 300 Siebeck, H. 175–181, 197, 216, 217, 239–241, 245, 246, 250–254, 257, 263–265,

421

268–272, 277, 322–324, 353, 369, 375, 377 Siebeck, P. 165, 285, 293 Simmel, G. 2, 44, 47, 67, 69, 74, 83, 96–106, 108–110, 149, 157, 263, 265, 272, 273, 327, 379 Smend, R. 245, 246, 250 Smend, R. [*1851] 252 Söderblom, N. 263 Sohm, R. 198, 199, 204, 205, 207, 254, 321, 322 Sokrates 253 Solms, M. 2, 13 Sombart, W. 163–165, 272–274, 312, 316, 373 Sophokles 253 Spencer, H. 381 Spener, P. J. 267, 292 Spinoza 265 Stade, B. 252 Stammler, R. 54, 123, 160 Steinbach, E. 15 Steinthal, H. 216 Stephan, H. 12 Stolz, F. 366 Strauß, D. F. 274 Streib, H. 333 Suso, H. 287, 304 Symeon der neue Theologe 206 Tanner, K. 369 Tauler, J. 287, 294 Tenbruck, F. 31, 119, 159, 167, 199 Thomas von Aquin 356 Thomas, G. 23, 24, 332 Tiele, C. P. 181, 263, 264, 321 Tillich, P. 8–10, 286 Traub, G. 5 Treiber, H. 190, 286, 299, 302, 315, 323 Trillhaas, W. 13 Troeltsch, E. 3, 6–8, 10, 12, 14, 22, 30, 165, 166, 174, 180, 199, 210, 246, 263, 267, 277, 278, 286, 291, 297–299, 302, 305–309, 316, 323, 324 Tschackert, P. 287 Turner, R. S. 111 Tylor, E. B. 183–185, 187, 189, 321

422 | Personenverzeichnis

Tyrell, H. 25, 181, 262, 297, 332, 337, 345, 353, 355, 356 Ullmann, C. 288 Usener, H. 181, 190–192, 195, 196, 215, 322 Vatke, W. 229, 230 Vischer, F. T. 196, 197 Voigt, A. 166 Voigt, F. 24 Vollhardt, F. 66 Wach, J. 14, 210, 211 Wagner, F. 19, 20, 320, 352, 365 Wagner, G. 63, 68 Waldenfels, B. 333 Wallmann, J. 294 Walther, A. 329 Weber, E. H. 73 Weber, Mar. 1, 27, 30, 31, 85, 159, 163–165, 243, 265 Wegener, R. 277

Weiß, J. 47, 52, 54, 84, 127, 149 Weippert, G. 2, 131 Wellhausen, J. 24, 228–233, 235, 237, 245–250, 252, 253, 257, 262, 263, 313, 322–324, 343, 344, 353, 369, 375 Wette, W. M. L. de 229, 249 White, H. 135 Winckelmann, J. 63, 181 Windelband, W. 34, 48, 61, 88, 286 Winkler, H. A. 214 Wittgenstein, L. 54 Wobbermin, G. 11, 263 Wright, G. H. von 125 Wünsch, G. 10 Wundt, W. 34, 49–51, 127, 180, 185, 193, 195–197, 216, 223, 224, 256, 260 Zarathustra 253 Zinzendorf, N. L. von 284, 291, 292 Zipprian, H. 68 Zöckler, O. 303