Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften: Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000 [Reprint 2010 ed.] 9783110919066, 9783484108479

In the last few decades manuscripts have become a central object of research in all historical disciplines with an inter

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Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften: Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000 [Reprint 2010 ed.]
 9783110919066, 9783484108479

Table of contents :
Vorwort
Einführendes Grußwort
Überlieferung - Text - Autor. Zum Literaturverstandnis des Mittelalters
Die Restaurierung des Codex Aureus im 10., im 17. und im 20. Jahrhundert
Das Marburger Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts. Entstehung, Ziele, Perspektiven
Von der vocalité zur schriftgestützten Kommunikation. Zum volkssprachlichen Literalisierungsprozeß (1200-1300). Ergebnisse des Marburger Repertoriums ›Deutschsprachige Handschriften des 13. Jahrhunderts‹
Erschließung und Bedeutung mittelalterlicher Überlieferung: Kleinüberlieferung mehrstimmiger Musik
Halbritter und Schildknechte (oder: Raub und Brand). Zur Kategorisierung und Illustrierung sozialer Randgruppen im ›Renner‹ Hugos von Trimberg
Exercitium scribendi - Überlegungen zur Frage einer Korrelation zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im Mittelalter
»Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit«. Der Evangelist Johannes und die Bildsprache der Vergöttlichung im Graduale von St. Katharinenthal
Im Dialog mit Handschriften. ›Handschriftenphilologie‹ am Beispiel der Laienbrüderbibliothek in Melk. Mit einer Einleitung von P. Gottfried Glaßner, OSB
Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters
Mittelalterliche deutsche Handschriften. 25 Jahre Neuerwerbungen der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
Die Sammlung Leuchte. Eine Berliner Privatbibliothek mittelalterlicher deutschsprachiger Handschriften
Personen- und Werkeregister
Handschriftenregister

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Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften

Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000 Herausgegeben von Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Die Tagung wurde angeregt und großzügig gefördert von Dr. Hans-Jörg Leuchte

Umschlagabbildung: S-Iniriale. Gebetbuch. Böhmen, l, H. 15. Jh. Berlin, Sammlung Leuchte, Ms. XX, Bl. 2'.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detailherte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10847-9 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gut insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, Printed in Germany. Satz: swiss edit Dr. Wolfram Schneider-L astin, Zürich Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Karl Stackmann Einführendes Grußwort

i

Klaus Grubmüller Überlieferung — Text - Autor. Zum Literaturverständnis des Mittelalters

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Helmut Bansa Die Restaurierung des Codex Aureus im 10., im 17. und im 20. Jahrhundert

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Joachim Heinzle Das Marburger Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts. Entstehung, Ziele, Perspektiven

41

Christa Bertelsmeier-Kierst Von der vocalite zur schriftgestützten Kommunikation. Zum volkssprachhchen Literahsierungsprozeß (1200—1300). Ergebnisse des Marburger Repertonums deutschsprachige Handschriften des 13. Jahrhunderts«

49

Martin Staehelin Erschließung und Bedeutung mittelalterlicher Überlieferung: Kleinüberlieferung mehrstimmiger Musik

65

Rudolf Kilian Weigand Halbritter und Schildknechte (oder: Raub und Brand). Zur Kategonsierung und Illustnerung sozialer Randgruppen im >Renner< Hugos von Trimberg

83

VI

Inhaltsverzeichnis

Felix Heinzer Exercitmm scribendi — Überlegungen zur Frage einer Korrelation zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im Mittelalter . . , . 1 0 7 Jeffrey F. Hamburger »Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit«. Der Evangelist Johannes und die Bildsprache der Vergöttlichung im Graduate von St. Katharinenthal

131

Freimut Löser Im Dialog mit Handschriften. >Handschrtftenphilologie< am Beispiel der Laienbrüderbibliothek in Melk. Mit einer Einleitung von P. Gottfried Glaßner, OSB

177

Georg Steer Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters . 209 Tilo Brandis Mittelalterliche deutsche Handschriften. 25 Jahre Neuerwerbungen der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

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Hans-Jochen Schiewer Die Sammlung Leuchte. Eine Berliner Privatbibliothek mittelalterlicher deutschsprachiger Handschriften 337 Personen- und Werkeregister Handschriftenregister

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Vorwort

Unter dem Titel >Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster* fand Anfang Oktober 1997 in Berlin ein Kolloquium statt, bei dem die Vertreter verschiedener mediävistischer Disziplinen mit Persönlichkeiten aus der Wirtschaft und der staatlichen Verwaltung zusammentrafen. Die Veranstaltung ging auf eine Anregung des Unternehmers Dr. Hans-Jörg Leuchte zurück und wurde von ihm ausgerichtet. Er wollte den Mittelalter-Wissenschaften, die bei der im Gang befindlichen Umstrukturierung der Universitäten zunehmend in Schwierigkeiten geraten, eine Hilfe bieten und zugleich den Vertretern aus Wirtschaft und Verwaltung ein neues Forum schaffen, das Raum für Kontakte und intensive Gespräche eröffnet. Die Wissenschaftler sollten Gelegenheit haben, sich mit Referaten aus ihren Arbeitsgebieten den Repräsentanten anderer gesellschaftlicher Gruppierungen vorzustellen und im Gespräch mit ihnen um Verständnis für Anliegen und Bedeutung ihrer Fächer zu werben. Die Initiative Herrn Dr. Leuchtes traf bei den Beteiligten auf ein freundliches Echo. Das gab ihm Anlaß, zu einem zweiten Treffen ähnlicher Art einzuladen. Es fand am 8., 9. und 10. April 2000 irn Haus II der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, dem berühmten Scharoun-Bau am Berliner Kulturforum, statt. Thema war diesmal >Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften^ Der hier vorgelegte Sammelband enthält die im Verlaufe der Tagung gehaltenen wissenschaftlichen Vorträge. Die Wahl des Tagungsortes fiel auf die Berliner Staatsbibliothek, weil die Veranstaltung zugleich als Ehrung für den kurz vorher aus dem Dienst geschiedenen Leiter der Handschriftenabteilung, Tilo Brandts, gedacht war. In ihrem Rahmen wurde eine kleine Ausstellung von Handschriften-Neuerwerbungen aus seiner Dienstzeit gezeigt. Darüber und über die ebenfalls gezeigten Stücke aus der Handschriften-Sammlung Leuchte wird in zwei Beiträgen dieses Bandes berichtet. Uns, den für den wissenschaftlichen Teil Verantwortlichen, bleibt bei Abschluß der Arbeiten an der Drucklegung die angenehme Pflicht, allen denen unseren Dank zu sagen, die zum Gelingen beigetragen haben. Er gilt nächst Herrn Dr. Leuchte, dem Sponsor und dem Spiritus rector des Unternehmens, dem Generaldirektor der Staatsbibliothek, Herrn Dr. Antonius Jammers. Die Aufnahme in Räumen der Bibliothek sicherte der Veranstaltung ein dem Thema entsprechendes Ambiente. Zu danken haben wir sodann den Referenten, die auf

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Vorwort

unsere Bitte um einen Beitrag eingegangen sind und sich durch unser beharrliches Drängen auf Einreichung der Manuskripte nicht haben verdrießen lassen. Unser besonderer Dank gilt Wolfram Schneider-Lastin, der in der Sache und m der Form wesentlich an der Entstehung dieses Sammelbandes beteiligt war. Carmen Stange, Birte Steifen und Gregor Wünsche haben die Last der Korrekturen mitgetragen. Allen beteiligten Bibliotheken und Institutionen danken wir für die bereitwillig erteilte Reproduktionserlaubnis. Hervorragende Abbildungsvorlagen (Sammlung Leuchte) verdanken wir Herrn Uwe Gleitsrnann von der Fotostelle der SUB Göttingen. Frau Birgitta Zeller und Frau Susanne Mang vom Niemeyer Verlag haben uns bei der Entstehung des aufwendigen Bandes beraten und vorzüglich betreut. Göttingen, im Juli 2002 H ans-Jochen Schiewer Karl Stackmann

Karl Stackmann

Einführendes Grußwort'

Sie, verehrter Herr Leuchte, haben diese ungewöhnliche Begegnung von Persönlichkeiten aus Wirtschaft und staatlicher Verwaltung mit Vertretern der Mediävistik ermöglicht. Wir sehen ihr mit Spannung entgegen. - Ich war an der Vorbereitung beteiligt und möchte mit ein paar Worten sagen, was uns zur Wahl des Themas bewogen hat. Das Mittelalter ist für den heutigen Menschen - ob er sich das bewußt macht oder nicht - auf vielfältige Weise präsent: In den alten Kirchen unserer Städte und Dörfer, in den Burgen und Burgruinen in unserem Land, mit seiner Sakralund Profankunst in unseren Museen - und eben auch mit seinen Handschriften in unseren Bibliotheken und Archiven. Das Interesse daran ist in den letzten Jahrzehnten erstaunlich angestiegen. Noch in meiner Studienzeit, deren Beginn nun freilich auch schon 60 Jahre zurückliegt, zählten die Handschriften nur als Hilfsmittel zur Wiedergewinnung eines verlorenen Originals. Sie standen in um so geringerem Ansehen, je weiter sie zeitlich oder in ihrer Textfassung von dem gesuchten Urtext entfernt waren. Am besten bringt das Bonmot eines niederländischen Philologen aus dem 19. Jahrhundert die herrschende Meinung zum Ausdruck: Comburendi, non conferendi; frei übersetzt, um das Wortspiel nachzuahmen: Man soll die Codices verbrennen, nicht verwenden. Die scheinbare Barbarei dieses Ausspruchs wird aus den Bedingungen verständlich, unter denen die Philologen zu arbeiten hatten: Sie konnten sich nur auf umständliche Weise, oftmals nur durch beschwerliche und kostspielige Reisen, Kenntnis von Handschriften beschaffen, die nicht am eigenen Wohnort vorhanden waren; kein Wunder also, daß sie sich auf die >besten< konzentrierten. Diese Hindernisse gibt es nicht mehr. Dank der modernen Verkehrsmöglichkeiten und Kopiertechniken kann man sich an beliebigen Orten beliebig genaue Kenntnis beliebig vieler Handschriften verschaffen. Das wiederum kommt dem heutigen Interesse an sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen entgegen. Der Philologe braucht nicht mehr zwischen >guten< und >schlechten< Handschriften zu unterscheiden, um sich gegen unerfüllbare Ansprüche seiner Kritiker zu wappnen. Er kann seine Aufmerksamkeit ohne ungebührlichen Aufwand den weniger guten Handschriften in ihrer Eigenart zuwenden.

* Die für den mündlichen Vortrag bestimmte Fassung wurde unverändert beibehalten.

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Einführendes Grußwort

Die bequemere Zugänglichkeit ihrer Objekte hat der Handschriftenkunde einen ungeahnten Aufschwung beschert. Im Zuge der Entwicklung sind sie erst richtig als das in Erscheinung getreten, was sie ihrer Natur nach sind, als kulturgeschichtliche Zeugnisse ersten Ranges. Der Literarhistoriker beispielsweise - ein Hauptinteressent - macht sich mit ihrer Hilfe ein sehr viel wirklichkeitsnäheres Bild von den Bedingungen, unter denen mittelalterliche Literatur entstand und verbreitet wurde als früher. Aus kodikologischen Merkmalen — Format, Beschreib Stoff, Ausstattung, Einband, Textcnsemble, Beschaffenheit der Texte - zieht er Schlüsse auf das literarische Interesse des Auftraggebers, möglicherweise einer ganzen sozialen Gruppe, Benutzereintragungen geben ihm Auskunft über Benutzerinteressen, auch über den Zeitraum der Benutzung. Unsere Auffassung von Art und Umfang des mittelalterlichen Literaturbetriebs hat sich durch solche Beobachtungen beträchtlich verfeinert. Wir bilden uns unsere Vorstellung vom mittelalterlichen Autor, seinem Werk und dessen Distribution nicht länger in naiver Analogie zu den uns vertrauten modernen Verhältnissen. Kurz und gut, in seinen Handschriften ist uns heute das Mittelalter sehr viel konkreter und lebendiger präsent als noch vor wenigen Jahrzehnten. Man kann an dieser Stelle von der gestiegenen Bedeutung der Handschriftenkunde nicht sprechen, ohne an die Beiträge Berlins zu erinnern. Die Deutsche Kommission der Preußischen Akademie, beraten von Konrad Burdach und Gustav Roethe, hat zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Hand sehr ifteninventarisation in Gang gesetzt, von der mannigfache Impulse für die Forschung ausgegangen sind. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Arbeiten 1960 in erweiterter und verfeinerter Form wieder aufgenommen und fortgesetzt. Damit stoßen wir abermals auf einen Berliner Namen. Tilo Brandts, bis vor wenigen Wochen Leiter der Handschriftcnabteilung hier im Hause, war 28 Jahre lang Mitglied des zuständigen Ausschusses. Das sagt mehr als viele Worte über das Ansehen, das er sich erworben hat. Die Handschriftenforschung, namentlich ihr germanistischer Zweig, hat ihm viel zu verdanken. Ihm zu Ehren findet in Verbindung mit unserem Kolloquium eine Ausstellung von Neuerwerbungen statt, die in seine Amtszeit fallen. Ich habe einen ganz persönlichen Grund, mich darüber zu freuen, daß ich bei der Eröffnung dabeisein kann. Für mich schließt sich in diesem Augenblick ein Kreis, der vor gut und gerne 40 Jahren in Hamburg seinen Anfang nahm. Damals haben wir beide uns gerneinsam, er als Doktorand, ich als junger Privatdozent, in einer Seminarübung der Handschriftenkunde genähert. Morgen wird er mir zeigen, wohin geführt hat, was sich damals anbahnte. Damals, im bombengeschädigten Hamburg, waren wir auf Leihgaben aus Heidelberg und München angewiesen. Wir bekamen sie dank der Fürsprache Hermann Tiemanns mit der Post zugeschickt. Solche Großzügigkeit wäre heute undenkbar. Ich fürchte sogar, Heber Herr Brandis, Sie müßten sie mißbilligen, wenn Sie noch im Dienst wären. Aber Sie sollten bedenken, daß Sie womöglich einen ganz anderen Berufsweg eingeschlagen hat-

Einführendes Grußwort

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ten, wenn in Heidelberg und München damals anders entschieden worden wäre. Dann gäbe es am Ende das schöne Bündnis von Mäzen und Handschriftenbibliothekar gar nicht, das uns hier zusammenführt. In der Ausstellung wird es seinen sichtbaren Ausdruck darin finden, daß Herr Leuchte einige von seinen Handschriftenschätzen mit denen der Bibliothek zusammen vorstellt. Wir, die wir Zeugen dieses Ereignisses sind, sehen das Miteinander von Wirtschaft und Wissenschaft mit Respekt, Freude, Dankbarkeit.

Klaus Grubmüller

Überlieferung - Text - Autor Zum Literaturverständnis des Mittelalters'

Es geht bei dieser Tagung um die >Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften*. Was ist damit gemeint? Es scheint auf der Hand zu liegen. In den erhaltenen Handschriften ist uns oder wird uns das Mittelalter gegenwärtig, anschaulich, präsent. Es eignet ihnen nicht nur die Aura des vor Jahrhunderten Entstandenen und über die Jahrhunderte Bewahrten, sie strahlen den Reiz des Fremden, Ungewohnten aus: das kostbare Material, die Sorgfalt der Schrift, die Vorstellung des >entsagungsvollen< Schreibers, der im Schein der Kerze Buchstaben für Buchstaben formt, oft über Jahre hinweg. Vielleicht fasziniert auch der Gedanke an die Menschen, durch deren Hände das Buch gegangen ist, die es benutzt, vielleicht auch nur besessen haben: Bauer, Bürger, Edelmann, ein verdorbener Schwerenöter, eine selige Nonne, ein spekulierender Mönch. Das hört sich ein wenig romantisch an, und ich sollte mich hüten, die Ironie zu weit zu treiben; denn ein wenig sind wir Philologen schon in Gefahr, die Handschrift zum alltäglichen Arbeitsmittel werden zu lassen - und in Wirklichkeit sind doch viele von uns gerade diesen irrationalen Reizen erlegen und durch sie zu Mediaevisten geworden, so wie wir das in jeder Studentengeneration von neuem erleben: Eine Handschrift in der Hand zu halten, das Papier oder Pergament zwischen den Fingern zu spüren, das fremde Buch nicht nur anzustaunen, sondern mit ihm zu arbeiten - das übt einen offenbar unwiderstehlichen Reiz gerade auf nüchterne Zeitgenossinnen und Zeitgenossen aus, der seinen rationalen Grund (wenn man ihn denn braucht) vielleicht allenfalls noch darin finden mag, daß jedes dieser Bücher ein Unikat ist: Keines existiert zwei- oder gar (wie nach der Erfindung des Buchdrucks) fünfhundert- oder zweitausendmal. Soweit also die sentimentale Seite an der Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Es gibt auch - versteht sich — die sachliche. Den Handschriften entnehmen wir unser Wissen und unsere Vorstellungen über das Mittelalter; sie sind uns Zeugnisse und Quellen. Nicht die Handschriften alleme, auch die Bauwerke, die Stadtanlagen, die Kirchen, die Burgen und Rathäuser, die Bildwerke, die Musik - aber doch (das ist hoffentlich kein perspektivischer Defekt des Philologen) die Handschriften vor allem, verbinden sie doch ganz selbstverständlich Inhalt und Erscheinungsform: Sie überliefern uns die Texte, aus denen 1

Öffentlicher Vortrag zur Eröffnung der Tagung. Den Duktus einer Einführung in das Tagungsthema für ein breiteres Publikum habe ich beibehalten.

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Klaus Grubmiitter

wir explizit ablesen können, was und wie man im Mittelalter gedacht hat; sie sind uns Schlüssel für die Deutung der Kunstwerke und z. B. die einzigen Quellen für die Rekonstruktion der längst und unwiederbringlich verklungenen Musik; sie verweisen uns aber auch auf die gesellschaftlichen und materiellen Aspekte der mittelalterlichen Kultur: Im Aufwand, der für ein Werk getrieben wurde, der Qualität des Materials, dem Format, der gewählten Schrift und ihrer mehr oder weniger sorgfältigen Ausführung, der Ausstattung mit Illustrationen wird die Bedeutung des Werkes für die Zeit sichtbar, und oft genug zwingen uns die Handschriften dazu, unsere Urteile über Texte zu korrigieren, manchmal zeigen sie uns auch, daß es auf die Texte gar nicht ankommt, sondern auf das prächtige, das repräsentative Geschenk. Es gibt viele Beispiele, die es lohnten, bier genauer ausgeführt zu werden; - etwa die beiläufige Aufzeichnung des >HildebrandsliedesWillehalmGroßen Heidelberger Liederhandschnftf, 4 der grandiosen Sammlung der deutschen Lyrik des 13. Jahrhunderts, gekommen ist: wer den Auftrag gegeben, die Schreiber und Maler gestellt, das Pergament bezahlt hat.5 2

Kassel, Murhardsche Bibliothek und Landesbibliothek, Ms. theol. 2° 54, Bl. und 76V. Die Handschrift enthält als Grundtext die »Weisheit Salomos< (>Liber Sapienttae«) und den »Prediger Salomo< (>EcclesiasticusMaterialität der Über lief erungGesamtausgabe< Seuses) nie als geschlossene Sammlung, nicht einmal in größeren Bündeln überliefert sind.7 Oder: Erst durch die Untersuchungen und Ausgaben KARL STACKMANNS S ist sichtbar geworden, daß man es als Schlüssel zum Werk und zum Autorstatus Heinrichs von Mügeln auf der einen, Frauenlobs auf der anderen Seite verstehen kann, daß die Gedichte des einen in einer wohlgeordneten, mit gelehrter Sorgfalt in 16 Bücher eingeteilten Handschrift vorliegen, die des anderen verstreut in vielerlei Gruppen- und Einzelüberlieferung. Daß das kirchenrechtliche Kompendium des Johannes von Freiburg, seine >Summa confessorumRechtssumme< Bruder Bertholds. Die handschriftliche Überlieferung (Texte und Textgeschichte 6), Tübingen 1982. 10 Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte, in: Uberlieferungsgeschichtltche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. von KURT RUH (Texte und Textgeschichte 19), Tübingen 1985, S. 262-272. !1 Versuch einer Literaturtypologie des deutschen H.Jahrhunderts, in: HUGO KÜHN, Liebe und Gesellschaft, hg. von WOLFGAIMG WALLICZEK, Stuttgart 1980, S. 121-134; Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur, ebd., S, 135-155.

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Klaus Grubmüller

tion (besonders HANNS FISCHER, HANS FROMM,12 KARL STACKMANN) hat sie zusammen mit ihren Schülern zu ihrer Sache gemacht. Genauer ausführen will und kann ich hier nur ein Beispiel (es möge als Hommage an die Tagungsstätte gelten).15 Zu den bedeutendsten Schätzen der Berliner Staatsbibliothek gehört der auf verschlungenen Wegen hierher gekommene, vielleicht sogar aus dem Besitz der Medici stammende Codex Hamilton 90, nach den (nicht ganz unbestrittenen) Untersuchungen des Doyens der Boccaccio-Forschung, VITTORE BRANCA," ein Autograph des >DecameronDecameronDecameronDecameronNovellinoNovellinoUbersetzen< der neuen Botschaft in ihr Verständigungsmedium drängt (ganz besonders auffällig ist die große Bedeutung des Buches in der Apokalypse des Johannes), und noch vorher durch Paulus, den bekehrten Weltmann. Paulus schreibt Briefe, In ihnen und dann auch im Johannes-Evangelium gibt es die markantesten Hinweise des Neuen Testaments auf die Schrift als Medium der göttlichen Offenbarung, Johannes spricht davon (10,53), daß das was geschrieben steht, nicht aufgelöst werden könne (non potest solvi scriptura), Paulus redet in seinem 2. Brief an Timotheus (und ähnlich im l.Römerbnef 1,2) von der scriptura divinitus inspirata, >der von Gott eingegebenen/inspirierten Schrift< (346). Ich gehe hier nicht auf die schwierigen Autontätsprobleme ein, die sich aus der Lehre von der Verbalmspiration der >Heihgen Schnft< ergeben. Für uns hier genügt es festzuhalten, daß sich der Zusammenfall von Offenbarung und Schrift schnell verfestigt, am deutlichsten und wirkungsvollsten wiederum dort, wo sich gebildete Römer für das Christentum engagieren, bei Augustmus z. B. und vor allem m der neuen Übersetzung der Bibel ins Lateinische, der Vulgata des Hieronyrnus aus dem 4. Jahrhundert. Bei ihm braucht das Wort scriptn-ra^ >SchriftHeilige SchriftArmem Heinrich*,41 von da an allenthalben. Die Reformation kann das Konzept sogar ausdrücklich zum Programm erheben: sola scriptura, >allein die Schrift«. Die fundamentale Bedeutung, die auf diese Weise der Schrift, dem Geschriebenen, dem Buch, der Handschrift im christlichen Mittelalter zukommt, kann nicht auf die Bibel beschränkt bleiben. Sie strahlt aus auf die Einstellung zur Schrift und zum Buch überhaupt. Vox audita pent, littera scrtpta manet (>Der Klang der Stimme verweht, der geschriebene Buchstabe bleibtBellum Gallicum< VI, 14), der große Vermittler Isidor von Sevilla (7, Jahrhundert)" hat sie weitergegeben: »Der Gebrauch der Buchstaben ist wegen der Erinnerung an die Geschehnisse erfunden worden. Damit sie nicht im Vergessen entschwinden, werden sie mit Buchstaben befestigt« (1,111,2: Usus litter&rum repertns propter memoriam rerum, Nam ne oblivwne fitgiant, litteris alligantur). Niedergeschlagen hat sie sich z, B. (und besonders spektakulär) in der das Mönchsleben weithin bestimmenden Einrichtung des >Liber vitaes des >Buchs des LebensDie Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften* oder >Die Präsenz der Handschrift im Mittelalten ? Klar ist, daß beide Aspekte eng zusammengehören und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Aber klar muß auch sein, daß der Aspekt der >Präsenz< im Sinne der augenfälligen, sinnstiftenden Gegenwärtigkeit in einem öffentlichen Akt die Handschriftenkultur des Mittelalters nur in Einzel- und Sonderfällen zu beschreiben in der Lage ist. Es handelt sich dann gewissermaßen um Usurpationen: Die Geste als Form öffentlichen Lebensvollzugs usurpiert das Buch als zeichenhaften Gegenstand für die auf den Augenblick gestellte Präsentationshandlung. Das Buch, die Schrift, die Handschrift setzt aber gerade 43

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Isidori hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, hg. von WALLACE M. LINDSAY, Oxford 1971. Zum Gebetsgedächtnis im Mittelalter grundlegend: KARL SCHMID/JOACHIM WOLLASCH, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, Frühmittelalterliche Studien l (1967), S. 365—405; Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelaltcr, hg. von KARL ScHMlD/JOACHIM WOLLASCH, München 1984; KARL SCHMID, Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983.

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Klaus Grubmüller

nicht auf momentane Ostentation, sondern auf Dauer, auf jederzeitige Verfügbarkeit, auf Situationsunabhängigkeit, Damit stehen sich zwei Erscheinungsformen mittelalterlichen Lebensvollzugs konträr gegenüber, die zwei Gesichter der mittelalterlichen Welt, aus deren Zusammentreffen, häufig; aus deren Zusammenprallen, sich viele Eigenheiten des Mittelalters erklären. Wir sollten sie analytisch sehr sauber auseinanderhalten, weil wir sonst die Überlagerungen, auch die Konflikte weder erkennen noch beschreiben können. Wo die Handschrift Zeichen ist, ist sie es aufgrund der Würde, der Aura, des in ihr enthaltenen Textes; diese ist nicht abhängig von seiner Lektüre. Das gilt völlig selbstverständlich für die Bibel in all ihren Aufbereitungsformen (also auch für einen liturgischen Gebrauchstext wie das Evangeliar), vielleicht auch für Rechtsbücher, in Einzelfällen wohl auch für literarische Werke (z. B. beim >Willehalm< des Landgrafen von Hessen), Diese Einzelfälle müssen aber benannt und auf ihre Bedingungen hin untersucht werden. Sie können nicht zu einer generellen Etikettierung der Handschrift als Zeichen führen. Diese ignoriert die primäre und die wichtigsten sekundären Funktionen der Handschrift (als Träger von Schrift), die ich abschließend noch einmal zusammenfasse: Die Handschrift ist 1. gemäß der Erinnerungs- und Aufbewahrungsfunktion von Schrift immer Mittel zur Aufbewahrung von Texten. Als einzelnes Exemplar kann sie einen Text speichern oder viele, ähnliche oder gänzlich verschiedene, z. B. Liebeslieder, eine Sachenzyklopädie, ein Kochbuch, Haushaltsaufzeichnungen. Als solches Exemplar ist die Handschrift Gegenstand der Überlieferungsgeschichte. Aus ihrer Perspektive kann nach den Gründen und dem Sinn einer solchen Zusammenstellung gesucht werden. Von selbst gibt dieser Sinn sich nicht zu erkennen. Es bedarf der Interpretation des Ensembles. Sie ist nicht weniger riskant als die von Texten. Ganz offen und ebenfalls interpretationsbedürftig ist ihre Autorität für die spezifische Erscheinungsform, z. B. die Qualität, des Textes. Das Urteil darüber ist abhängig von der Antwort auf die Frage, mit weichem Ziel er denn aufgeschrieben ist: Soll ein bestimmter Text überliefert werden oder ein Name oder ein Prestige? Nur wenn das erste feststünde, könnten z. B. Textveränderungen ausgedeutet werden auf Fragen des mittelalterlichen Werkbegriffes, etwa seine grundsätzliche Offenheit (und das auch nur aus der Sicht des Rezipienten, nicht aus der des Autors). Die Handschrift ist 2. gemäß der Aufbewahrungsfunktion von Schrift ein Speicher für die Reproduktion von Literatur; wir müssen und können auch davon ausgehen, daß Literatur in Gesellschaft, vor kleineren oder größeren Gruppen, vorgelesen worden ist. Allerdings wissen wir nicht, von welcher Art die Handschriften gewesen sind, die dabei benützt worden sind. Es sind uns keine zweifelsfrei erkennbaren Vorlesehandschriften bekannt, denen etwa die Eigenschaften solcher >Reproduktionshandschriften< abzulesen wären. Damit entfällt aber die

Überlieferung - Text - Autor

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Möglichkeit, die Gestalt von Texten beobachten zu können, die in der uns vorliegenden Form tatsächlich als literarisches Werk über den Vortrag aufgenommen worden sind. Die Handschrift ist 3. gemäß der Ordnungs- und Organisationsfunktion der Schrift ein Arbeitsmittel für das Konzipieren und Bearbeiten von Literatur. Beobachten können wir das am ehesten bei Kommentierung und Glossierung wissenschaftlicher Werke. Hier wird durch Randnotizen oder Zusätze in Widerspruch und Ergänzung immer wieder der Prozeß wissenschaftlicher Auseinandersetzung sichtbar, wenn auch deutlich seltener als gemeinhin angenommen, denn häufig sind auch solche Anmerkungen abgeschrieben. Nicht beobachten können wir den Entstehungsprozeß der Werke, also die Arbeit auf dem Papier (das Pergament war dafür ohnehin zu kostbar), wie sie uns m der neueren Literatur (man denke nur an Hölderlin oder Büchner) oft so eindrucksvoll entgegentritt. Die uns erhaltenen Handschriften sind Reinschriften, fast immer wohl von anderer Hand. Wo wir glauben, die Hand des Autors identifizieren zu können, etwa bei Otfrid von Weißenburg oder Oswald von Wolkenstein,45 beobachten wir sie bei der Ausführung kleiner Korrekturen m einer von anderen geschriebenen Handschrift. Die Handschrift ist 4. gemäß dem Prestige und dem Verbindlichkeitsanspruch der Schrift ein Faktor des öffentlichen Lebensvollzugs. Nur in dieser Funktion tritt sie in die Welt der Zeichen ein, sei es in liturgischer Funktion in der Kirche, sei es als Legitimationsgegenstand wie etwa bei Heinrich dem Löwen, sei es als Ausweis für das Verfügen über Rechtstraditionen, wie vielleicht bei der >Codifizierung< des Sachsenspiegels durch den Grafen Hoyer von Valkenstein, wobei sich (wie in diesem von mir gewählten Begriff) die Herstellung des Textes und die der Handschrift überschneiden. Im weitesten Sinne gehört hierher auch der Besitz von Handschriften als Ausweis von Bildung, wie wir ihn vielleicht bei manchen der kleinen Adelsbibliotheken des Spätmittelalters voraussetzen dürfen. Die Handschrift ist 5. ein Wertgegenstand. Diese Funktion überschneidet sich im Mittelalter mit der des öffentlichen Prestigewertes. Als Kapitalanlage mit Wertsteigerungsperspektive werden wir sie im Vorkapitahsmus vernachlässigen dürfen. Vielleicht lassen sich hieran aber angeregte Gespräche zwischen Philologen, Bibliothekaren und den Vertretern der Wirtschaft anknüpfen. Ich wünsche allen dabei viel Erfolg.

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Weitere Beispiele bei VOLKER HONEMANN, Autographische Überlieferung mittelalterlicher deutscher Literatur, m: Scnnium Berolmense. Tilo Brandis zum 65. Geburtstag, hg. von PETER JÖRG BECKER [u. a.], Berlin 2000, S. 821-828.

Helmut Bansa

Die Restaurierung des Codex Aureus im 10., im 17. und im 20. Jahrhundert

Einleitung Codex Aureus - das Goldene Buch; Codex Argenteus - das Silberne Buch. Es gibt mehrere Handschriften, die um ihrer kostbaren Ausstattung willen mit diesem Ehrennamen bezeichnet werden: Gold, Silber, edles Metall verwendet entweder für die Schrift oder, zusammen mit edlen Steinen, für den Einband und oftmals beides. Diese Stücke sind zu sehen in der Tradition der germanischen, für uns zuerst in der Völkerwanderungszeit faßbaren und bis ins Hohe Mittelalter fortlebenden Vorstellung von der Funktion des Königs. Dessen Aufgabe oder dessen Funktion ist primär die Anführung des Heeres, wodurch er sich durch Kriegsglück qualifiziert, was seine bzw. seiner Sippe Auserwähltheit durch Gott manifestiert. Die zweite Aufgabe des Königs: Er spricht Recht, in stärker sozial gegliederten Personenverbänden, sprich >ReichenCodex ArgenteusFrühen< Mittelalter zuordnen kann; unter seinem Sohn, dem Canossa-Kaiser Heinrich IV., beginnt das >Hohe< Mittelalter. Hier ist zu berichten über den >Codex Aureus von St, Emmeram< in Regensburg, einem der frühesten Klöster im heutigen Deutschland und einem Zentrum für den Aufbau einer Kirchenorganisation in Bayern. >Christianisierung< kann man nicht unbedingt sagen; in Ratispona, der Grenzfestung am Nordrand des Römischen Reiches, hatten ganz sicher Reste christlicher Kultur bei den >Walchen< überlebt, den Nachkommen der Menschen, die zurückgeblieben waren, als die römische Besatzung abgezogen und das Land germanischen Siedlern überlassen worden war. >WalchenZsammgekratztenCodex Aureus< kann man in einer dem Buch gewidmeten Monographie aus dem Jahre 1786 finden: Dissertatio in aureum ac pervetustiim - >sehr alten< - sanctorum evangeliorum codicem.2 Der Schatz, Gold, edles Metall und edle Steine als Herrschaftsrepräsentation: Die entsprechend ausgestatteten Bücher des frühen Mittelalters sind, wie gesagt, in der Tradition germanischer Vorstellungen vom Herrscher zu sehen. Sie begegnet uns immer wieder in der Sage bis hin zu Richard Wagners RingTetralogie. Und je fragwürdiger die Qualität einer Herrschaft ist, desto nachdrücklicher muß sie in ihren äußeren Repräsentationsmitteln demonstriert werden. Das können wir gerade an unserem Codex Aureus von St. Emmeram erkennen.

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Arnold von St, Emmeram, Liber I. de miraculis b, Emmeranii, MGH SS IV, S. 551; Überlieferung: München, BSB, Clm 14870, fol. 43 sqq. KOLOMAN SANFTL, Dissertatio in aureum äc pervetustum s.s. Evangeiiorom codkem ms. Monasterii S. Emrnerami, Regensburg 1786.

Dte Restaurierung des Codex Aurem

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Die Entstehungszeit Er wurde geschaffen für Karl den Kahlen, Enkel Karls des Großen, den jüngsten und bevorzugten Lieblingssohn von dessen Nachfolger Ludwig dem Frommen. Dieser Status Karls, jüngster und Lieblingssohn des Nachfolgers Karls der Großen, war die Ursache für schwere Verwirrung und trug zum Untergang des vom Großvater geschaffenen, das ganze christliche Abendland umfassenden Reiches bei - jedenfalls der Länder auf dein Kontinent; die britannischen Inseln blieben außerhalb. Historische Spekulationen sind, wissenschaftlich gesehen, Unsinn, aber sie mögen die Phantasie anregen und unterhalten, und so sei hier spekuliert zur Unterhakung des Lesers: Wenn Ludwig dem Frommen, der im Alter von 17 Jahren zum ersten Male Vater geworden war, nicht mit 45, nach einer Pause von 17 Jahren von seiner zweiten, sicher um mehr als 20 Jahre jüngeren, in den Quellen als pulchra valde (>sehr schön«) gepriesenen Frau dieser vierte Sohn, Karl der Kahle, geboren worden wäre, und wenn der Vater nicht die menschlich verständliche, aber politisch verderbliche Schwäche gehabt hätte, diesen nachgeborenen Liebling seinen weitaus älteren Brüdern vorzuziehen - und auch wenn die späteren Karolinger nicht eine gar so windige, egoistische, nur um die eigene Macht gegen die der Brüder, Vettern und Neffen bemühte Bande gewesen waren -, dann wäre die Geschichte Deutschlands und Frankreichs und mit ihr die ganz Europas bis in unsere Zeit anders verlaufen. Ludwig der Fromme hatte die Schwäche, bereits dem sechsjährigen Lieblingssohn ein Herrschaftsgebiet, das Herzogtum Schwaben, zuzusprechen, das nach einer früheren Abmachung einem älteren Bruder zustand. Es kam zum Aufstand der älteren Brüder gegen den Vater, zum Kampf in wechselnden Koalitionen; in deren Verlauf gehört der berüchtigte Vertrag von Verdun, den man in der Schule wohl bis heute als die Gründungsurkunde Deutschlands und Frankreichs kennenlernt; hierhin gehören die 'Straßburger Eide«, der älteste schriftlich erhaltene altfranzösische Text und, ihm gegenübergestellt, einer der ältesten althochdeutschen. Statt dieser Bruderkämpfe hätten die Enkel des großen Karl alle Hände voll zu tun gehabt, um die von Norden und von Osten eindringenden Wikinger, Ungarn und Slawen abzuwehren, welche die zu Karls Zeiten gegründeten und zur Blüte geförderten Kulturstätten plünderten. Ludwig verfolgte in all diesen Wirren konsequent das Ziel, seinen nachgeborenen Sohn Karl den Brüdern überzuordnen. 832 bekam er Aquitanien, d. h. das westliche Südfrankreich gegen den vorher dort herrschenden, vom Vater abgesetzten Halbbruder Pippin, beim Tod des Vaters, 840, dessen ganzes Herrschaftsgebiet im Norden des heutigen Frankreich. Drei Jahre später, im schon genannten Vertrag von Verdun, etabliert er sich endgültig als Herrscher im Westteil des großen, vom Großvater geschaffenen Frankenreiches. 875 erreichte er sogar in Rom die Krönung zum Kaiser. Karl war kein starker Herrscher; der Adel in seinen Ländern machte, was er wollte, entzog sich seiner Pflicht zur Gefolgschaft und zur Stellung von Trap-

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penkontingenten und verhinderte so ein wirksames Vorgehen gegen die Wikinger, die das Land immer wieder heimsuchten und in Plünderungszügen bis Paris, Chartres, Tour vordrangen. Karl sah sich gezwungen, ihnen Brandschatzung zu zahlen, um die eine oder andere Plünderung zu verhindern. Trotzdem fühlte er sich ganz in der Nachfolge seines Großvaters, was psychologisch bei dem >Hätschelhans< des Vaters wohl verständlich ist, und da er dem Großvater politisch und militärisch nicht das Wasser reichen konnte, versuchte er, ihm wenigstens auf kulturellem Gebiet nachzueifern, oder besser: auf dem Gebiet der Repräsentation. Als er im Verlaufe der Auseinandersetzungen mit seinen Halbbrüdern und Neffen kurzzeitig in den Besitz von Aachen, der Lieblingsresidenz Karls des Großen kam, dieses aber nicht halten konnte, ließ er in seinem Herrschaftsbereich, in Compiegne, eine Pfalzkapelle nach dem Vorbild des oktogonen Aachener Domes, ein >Ersatz-Aachen< bauen. In diesem Zusammenhang, in der Nachahmung des Wirkens des großen Großvaters, ist Karls Anregung, Förderung und Inauftraggeben von kostbaren, mit Gold geschmückten Handschriften zu sehen.

Die Entstehung Die kunsthistorische Forschung spricht von einer >Hofschule Karls des Kahlen«. Man darf sich darunter keine irgendwie organisierte Institution, gar ein Gebäude oder einen Raumkomplex m der Residenz, nach damaliger Terminologie in der Pfalz oder einer der Pfalzen des Herrschers vorstellen oder auch nur eine bestimmte Personengruppe an dem als soziale Institution verstandenen >HofHofschule Karls des Kahlen< nichts anderes als eine Gruppe von 12 Handschriften - sicher gab es einmal mehr als diese erhaltenen -, die stilistisch zusammengehören und von denen einige in Worten und in Bildern einen Bezug zur Person Karls enthalten. Es ist nicht möglich, sie einem bestimmten Entstehungsort zuzuordnen; diskutiert wurden und werden Corbie, St-Denis, Reims, Soissons: alles dem Herrscher nahestehende Klöster oder Bischofssitze. Man muß ja vielleicht nicht an einen einzigen Ort denken, nicht einmal für die Entstehung eines einzelnen Codex. Warum soll nicht der Buchblock — Text und Bilder - an dem einen, die Goldschmiedearbeiten an einem anderen Ort entstanden sein? Auch an wechselnde Orte könnte man denken: Ein Künstler geht von dem Kloster, in dem er Profeß geleistet hat, vorübergehend in ein anderes, sei es als Gast, um dort eine Pflanzstätte seiner Kunst einzurichten, oder auf der Flucht - es ist die Zeit der Normanneneinfälle. Es ist übrigens in einigen der Handschriften aus der >Hofschule Karls des KahlenHofschule Karls des Kahlem ist ihre Prächtigkeit, ihre Überfülle an Schmuckmotiven. 3 FLORENTINE MÜTHERICH, die der >Hofschule Karls des Kahlen< und damit auch unserem Codex Aureus eine eingehende Untersuchung gewidmet hat, spricht von einem »aufs Höchste gesteigerten Bedürfnis nach herrscherlicher Prunkentfaltung«; 4 man kann es, wie schon gesagt, als Kompensation der Diskrepanz zwischen Karls Anspruch an sich selbst und seiner tatsächlichen Schwäche sehen. Künstlerisch können die überladenen Zierseiten, welche jeweils auf die Evangelistenbilder folgen, nicht überzeugen. 5 Unser Codex ist datiert: Auf der Vorderseite des letzten Blattes (Tat. VIII) Taf.vm steht, mit Purpur unterlegt, ein Widmungsgedicht: »Zweimal vierhundert Jahre und siebzig sind dahingegangen, seitdem Gott aus der Jungfrau als Mensch geboren wurde. Über dreimal zehn Jahre und eines regierte Karl, als der Codex hergestellt wurde auf seinen Befehl.«6 Die nächsten beiden Verse - sie sind m schwer verständlichem Latein abgefaßt - spielen metaphorisch auf die mühevolle Herstellung an und vergleichen sie mit einer Fahrt auf dem wellenreichen Meer. GEORG LEIDINGER, der Herausgeber der Faksimile-Ausgabe, paraphrasiert diese Verse folgendermaßen: »(den Schreibern) war am Schluß ihrer Arbeit zumute, wie wenn sie nach stürmischer Meerfahrt den Hafen erreicht hätten«. 7 Dann kommt die schon erwähnte Namensnennung der beiden Schreiber, und, mit Bezug auf sie; fuerat sudor difficilisque nimis, >Es gab Schweiß und war sehr schwere Die Goldschrift zwischen dem purpurunterlegten Widmungsgedicht ist ein späterer Nachtrag, auf den noch zurückzukommen ist, Auf der Rückseite des letzten Blattes findet sich eine ökonomische Notiz zur Herstellung des Buches, oder eher zwei; eine davon stammt aus späterer Zeit und wird weiter unten diskutiert. Die Notiz aus dem 9. Jahrhundert lautet: »Zuerst gaben wir sechs und ein halbes Pfund Gold (und) acht Denare«; dann, von anderer Hand und wohl etwas späten »Danach ein Pfund und drei Unzen«. 8 LEIDINGER sieht die Mengenangaben in Übereinstimmung mit dem tatsächlich auf dem Vorderdeckel verarbeiteten Gold. »Wir gaben [..,]«: Das können doch eigentlich nur die beiden Schreiber oder Künstler oder Gestalter gewesen sein - Hersteller im 3

FLORENTINE MÜTHERICH, Die Hofschule Karls des Kahlen (Die karolmgischen Miniaturen 5), Berlin 1982, S. 15, 4 Ebd., S. 25. 5 Auf Abbildungen zum Beleg dieser Behauptung wird unter Verweis auf die FaksimileAusgabe [Anm. 6] und die Monographie von MÜTHERICH [Anm. 3] verzichtet. 6 Zitate nach der Faksimile-Ausgabe: Der Codex Aureus der Bayerischen Staatsbibliothek in München, hg. von GEORG LEIDINGER, München 1921-25; hier Bd. 6, S. 21; Bis qitadringenti volitant et septuaginta l anni quo dens est vtrgine natus homo, - Ter denis annis Karolns regnabat et uno I cum codex acini illitts impeno. 7 8

LEIDIGNER [Anm. 6], Bd. 6, S. 22. Prim um dedtmus de auro libms VI et dtmidium, Denarios VIII. Posten libram unam et untias III (LEIDIGNER [Anm. 6], Bd, 6, S. 88).

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heutigen Sinne des Verlagswesens wäre wohl der am ehesten treffende Ausdruck,, denn es ist nicht notwendig anzunehmen, das Liuthard und Beringar jede Zierseite, jede Umrahmung eigenhändig hergestellt und nicht Schüler oder Kollegen haben helfen lassen. »Wir gaben Gold [...]«: An wen und warum? Man kann in dieser Notiz wohl einen Hinweis sehen, daß die Goldschmiedarbeit anderweitig, anderswo, nicht unter Einfluß und Aufsicht von Liuthard und Beringar hergestellt wurde.

Der Weg nach Bayern Der Codex Aureus, hergestellt für Karl den Kahlen in Nordfrankreich, befindet sich seit dem Ende des 9. Jahrhunderts m Bayern, bis zur Säkularisation 1811 im Kloster St. Emmeram in Regensburg, seitdem in der Bayerischen Staatsbibliothek. Wie kam er dahin? Aus den Quellen lassen sich mehrfach erfolgte Geschenke der westfränkischen Vettern an Arnulf von Kärnten, den vorletzten und noch einmal recht tüchtigen ostfränkischen — deutschen — Karolinger rekonstruieren, erfolgt vielleicht im Zusammenhang mit dem großen Sieg, den Arnulf 891 über die Wikinger bei Löwen im heutigen Belgien errang und der auch dem Westreich zugute kam. Wann und warum Arnulf den Codex dem Kloster St. Emmeram überließ, darüber gibt es eine genaue Nachricht: Arnulf, erfolgreicher Kämpfer nicht nur gegen die Normannen, sondern auch gegen die Slawen im Osten, habe, so berichtet Arnold von St. Emmeram, ein Autor des frühen 11. Jahrhunderts, auf einem Feldzug in Mähren gesehen, wie ein ehrwürdiger Graukopf, aber mit furchtbar drohendem Gesichtsausdruck den Feinden entgegengetreten sei und gerufen habe: »Es ist Emmeram, gegen den ihr kämpft!« Worauf diese die Flucht ergriffen hätten. Der Chronist - er schreibt, wie gesagt, knapp hundertfünfzig Jahre nach dem Ereignis — fügt an: »Daß dies nicht erfunden, sondern wahrhaftig geschehen ist, hat der, welcher es gesehen und erlebt hat, später in tiefer Erschütterung bezeugt«. 9 Nach der Rückkehr habe Arnulf dann dem heiligen Emmeram großartige Geschenke gemacht. Der Chronist beschreibt sie genau; in seinen Worten ist eindeutig unser Codex zu erken. ix-xni nen (Taf. IX—XIII): »Einige Steine zeichnen sich so sehr durch ihre Größe aus, daß vier von ihnen sechzehn Kelche formen, die in der Mitte so angeordnet sind, daß sie das heilige Kreuz darstellen. Die zwischen ihnen befindliche kleinere Rahmenform hat 32 Kelche, die von kleineren Steinen bedeckt sind, Durch sie entspricht die Schönheit des inneren Rahmens der des äußeren. Dieser letztere ist geschmückt durch größere Steine, welche Gebäude (castella), und durch Perlen, welche Wehrtürme (propugnacula) darstellen«. 10 9

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Hec non ficta, sed esse veraäter facto, et dicta is, qiti vidit et pertulit, postea humiliatm confitetur et prodit (Ebd., S. 27). Quarum qitedam adeo quantitate preminent, nt qua-tuor ex his caltces operiant sedeam, in figuram sanctae crttcis, per singulos quaternh ordine media dispertitis. Intimus autem

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Die erste Restaurierung Wahrscheinlich waren die Steine, die Arnold so schön als Kelche, Kastelle und Wehrtürme beschreibt, schon nicht mehr ganz die originalen. Der Schmuck des Einbandes war eine Generation vor Arnold jedenfalls nicht mehr ganz intakt, Die Reise von Nordfrankreich nach Regensburg in unruhigen Zeiten, wahrscheinlich auf rumpelndem Ochsenkarren, dem damaligen Hauptverkehrsmittel, dürfte das empfindliche Golddekor auf dem Vorderdeckel in Mitleidenschaft gezogen und den einen oder anderen Stein, die eine oder andere Perle aus der Fassung gerüttelt haben. Hundert Jahre nach der Schenkung jedenfalls, so ist aus der anderen Notiz auf der letzten Seite, räumlich die erste, zeitlich die jüngere, zu entnehmen, war so manches verloren: »Auf der einen Seite: 10 lagonte 24 Prasine 12 große Perlen. Auf der anderen: 4 lagonte«.11 lagontn deutet GEORG LEIDIGER als korrumpiert aus hyadntü: blaue Steine, nämlich Saphire; prasini, grüne Steine, also Smaragde. Heute weist der Vorderdeckel 59 Smaragde und 21 Saphire auf. Man deutet die Notiz auf der letzten Seite sicher richtig, wenn man sie als Protokoll über den Verlust an Steinen oder als Notiz, wieviele zur Auffüllung der leeren Fassungen beschafft werden müssen, versteht. Aus der Zeit, m die man diese Notiz datieren kann, stammt nämlich die Nachricht über die erste Restaurierung des Codex. Sie wird festgehalten - protokolliert, würden wir heute sagen -, einmal in einem Bild, auf der ersten, bis dahin leeren Seite: »Dieses Buch hat einst gemacht der ehrwürdige Karl. / Nun hat Ramwold es dem segensreichen Emmeram wiederhergestellt.« 12 Rarnwold war Abt von St. Emrneram 975-1000. Ein weiterer Protokolleintrag über die Restaurierung findet sich auf dem letzten Blatt (Taf. VIII), der Vorderseite zu Taf. den geheimnisvollen Notizen über Goldbedarf und verlorene Steine, nachgetragen zwischen die erste und die zweite purpurunterlegte Partie des Widmungsgedichts. Hier stehen sogar die Namen der Restauratoren, allerdings verschlüsselt: eine volle Namensnennung verträgt sich nicht mit mönchischer Bescheidenheit. Die Vokale des Textes sind durch Punkte angegeben. Die Zahl der Punkte entspricht der Position des jeweiligen Vokals in der Reihenfolge A E I O U: Domni abbatis Ramvoldi mssione kunc Itbrum Aripo et Adalpertus renovavernnt, Sts memor eorum — >Auf Befehl des Abtes Ramwold haben Anbo und Adalbert dieses Buch renoviert. Denk an sie.< Man darf wohl annehmen, daß diese >Renovierung< vor allem oder sogar ausschließlich m der Wiederherstellung des Schmuckes auf dem Vorderdeckel bestanden hat, d. h. im Ersetzen der ordo contractior calices bähet triginta duos singulatirn gemmis mmoribus opertos, qmbtts venuste respondet extimo amplionbus per castella dispositis necnon margaritis per propugnacula insertis delictosissime compto (Ebd., S. 27f.). u De una parte tagontü X, Prasini XXIIII. Margaritas maiores XII. De altera parte lagontii {Ebd., S. 88). 12 Hüne librum Karoltts quondam perfecit honorus, quern nunc Hemrammo Ramvold renovaverat almo (Ebd., S. 23).

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in den gerade einmal einhundert, freilich sehr unruhigen Jahren seit Entstehung des Codex verloren gegangenen 37 Steine (von insgesamt 80) und 12 Perlen (von ursprünglich 108, heute noch 90). Ob 100 Jahre nach der Entstehung das Pergament schon Farbfraßschäden wie heute, Risse oder Fehlstellen aufwies, darf man bezweifeln, und wohl auch, daß die Heftung nach so verhältnismäßig kurzer Zeit schon beschädigt, Fäden gerissen und Bünde gebrochen gewesen wären. Der auffallend starke Verlust an Steinen und Perlen ist, wie schon gesagt, wohl im Zusammenhang mit dem holprigen Transport von Frankreich nach Regensburg zu sehen.13 Am und im Buch lassen sich jedenfalls keine Spuren der >Renovierttng< am Ende des 10. Jahrhunderts feststellen. Ohne die beiden Notizen könnten wir anhand unbenutzter Einstichlöcher im Falz der Pergamentblätter lediglich erkennen, daß die Handschrift früher mindestens einmal anders geheftet gewesen sein muß als vor der letzten Restaurierung. Die Restaurierung 1608 Die Gestalt, in welcher der Codex in unsere Zeit gekommen ist, ist weder die des 9., noch die des 10. Jahrhunderts. Auf dem vorderen Spiegel, der Innenseite des Vorderdeckels, jetzt wieder dort angebracht, fand sich ein Zettel in typischer Abb. i Schrift um 1600 (Abb. 1) mit - in Übersetzung, die Notiz ist lateinisch - folgendem Text: »Im Jahre der Menschwerdung 1608, 18. April, hat der ehrwürdige Herr, Hieronymus Feyr, erwählter und bestätigter Koadjutor dieses Klosters unter dem allerehrwürdigsten Herrn Hieronymus Weiß, Abt, und dem verehrten Vater und Bruder Georg Aufleger, Gustos und Subprior, dafür gesorgt, daß dieses Buch gebunden und renoviert wird durch Melchior Baßmann, Buchbinder und Bürger von Regensburg«. Die im Jahre 1608 von Melchior Baßmann hergestellte Form ist die, in welcher der Codex Aureus in unsere Zeit gekommen ist. Baßmann hat recht eigentlich ein neues Buch hergestellt und vorn vorgefundenen nur die Pergamentblätter und den Schmuck des Vorderdeckels übernommen. An den Pergamentblättern hat er offenbar gar nichts getan, im Buchblock nur einen Seidendurchschuß angebracht, sehr wahrscheinlich nach dem Vorbild von vorgefundenen Resten. Ein Durchschuß aus gefärbter Seide zum Schutz von Goldschrift und Malereien vor Abrieb auf die gegenüberliegende Seite war bei frühmittelalterlichen Miniaturhandschriften durchaus üblich und hat sich vereinzelt bis heute erhalten. Die Seidenreste, die im Codex Aureus bei der Restaurierung 1966 gefunden wurden, stammen freilich eindeutig aus Melchior Baßmanns Zeit. Das Gleiche gilt für das 1966 vorgefundene Kapital: auf den Rücken aufgeklebte mit 13

Daß dieser Schmuck durch die Bewegungen bei einem Transport aus seinen Fassungen geschüttelt werden kann, ist eines der Argumente der heutigen Restauratoren gegen die allzu häufig vorgebrachten Wünsche auswärtiger Ausstellungsveranstalter zur Ausleihe des Codex.

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Dekorfäden bestickte Pergamentstreifen, eine Technik, die erst mit der massenhaften Zunahme der Zahl der Bücher nach der Erfindung des Drückens die mittelalterlichen Kapitaltechniken ablöste. Bei mittelalterlichen Kapitalen ist die Einlage nach rechts und links in den Deckeln befestigt und nach unten bzw. oben durch Fäden im Buchblock befestigt, stellt also ein Element der Verbindung zwischen Buchblock und Deckeln dar: ein wichtiges Element gerade bei großen und schweren Büchern (Abb. 2). Wir können sicher sein, daß der Codex Abb. 2 Aureus von St. Emmeram im 9, und im 10. Jahrhundert ein solches Kapital hatte. Auch die jetzt vorhandenen Holzdeckel und ihr Lederbezug sind Baßmanns Werk. Am hinteren ist das schon am Dekor auf den ersten Blick, am vorderen an der Abschrägung zum Rücken hin zu erkennen. Die Buchdeckel des frühen Mittelalters haben kein derartiges Profil (Abb. 3). Es verträgt sich Abb. 3 auch nicht mit dem Golddekor: Wegen der Abschrägung lassen sich die Bünde nicht ganz im Deckel versenken. Beim Offnen des Buches bilden sie einen kleinen Wulst, der das aufgenagelte Metall wegdrückt. Als Bezug hatte Baßmann ein rotbraun eingefärbtes Schweinsleder verwendet, das stark nachgedunkelt ist und nur unter dem Golddekor des Vorderdeckels eine ursprüngliche Farbe erhalten hat. Das Material - Schweinsleder - ist das meistgebrauchte für Bucheinbände des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, Die Farbe aber ist so ungewöhnlich, daß man sich fragen muß, ob Baßmann zu ihr von Resten eines ursprünglichen Bezugsmaterials angeregt wurde. Man könnte geradezu daran denken, daß das Golddekor auf dem Vorderdeckel ursprünglich mit weinrotem Samt unterlegt war, was unter vergleichbaren Codices aus dem frühen Mittelalter nicht ohne Beispiel wäre. Neu, aber sicher angeregt von vorgefundenen Resten oder Spuren und zudem technisch notwendig sind die Schließen aus vergoldetem Silber, die Baßmann anfertigen ließ. Pergament muß unter leichtem Druck, d. h. zwischen festen, steifen, von Schließen zusammengehaltenen Dekkeln gehalten werden, weil es sich sonst selbst bei geringen Schwankungen der Luftfeuchtigkeit wellt. Das wußten sowohl die mittelalterlichen Buchbinder als auch Baßmann, Baßmann wollte einen neuen Einband im Stil seiner Zeit herstellen; eine andere, eine >restauratorische< Einstellung ist zu seiner Zeit nicht denkbar. Zu einem schönen Einband des späten 16. und des 17. Jahrhunderts gehört der glatte, vergoldete, verzierte oder wenigstens gefärbte Schnitt, und das Streben nach diesem Element hat Baßmann zu einem schlimmen Eingriff in den überlieferten Bestand verführt: Er hat den Buchblock, die Pergamentblätter, an den drei offenen Seiten, oben, unten und vorn, beschnitten oder vielmehr, wie es der damaligen Buchbindetechnik entspricht, behobelt. Aus der Größe des Vorderdeckels, die Baßmann wegen des Goldschmuckes vom alten übernommen haben muß, und aus der allgemeinen Beobachtung, daß frühmittelalterliche Einbände keine über den Buchblock hinausragenden Deckelkanten haben, läßt sich rekonstruieren, daß Baßmann an jeder Seite, oben, vorne und unten, ca. 5-7 mm

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weggehobelt haben muß. Beim nassen Auftragen der Farbe hat sich das Pergament arn Rand gewellt und hat Farbe auf die Blattränder eindringen lassen. Eine Verunstaltung als Folge einer >RenovierungHand anzulegen^ Die einzige Rechtfertigung ist, daß das Objekt so stark beschädigt ist, daß es seinem Benutzungszweck nicht mehr entspricht seinem heutigen Benutzungszweck, der im Falle unserer Handschrift ein ganz anderer ist als der, für den sie geschaffen wurde. Restaurierung bedeutet generell, ein beschädigtes Objekt wieder so herzurichten, daß es zweckentsprechend benutzt werden kann. Und bei einem Stück des Ranges wie die zur Rede stehende Handschrift beinhaltet die Restaurierung die forschende und beschreibende Rekonstruktion des Schicksals, welches das Material, die äußere Form des Objektes in den Jahrhunderten seit seiner Entstehung erlebt hat, und vielleicht sogar davor - selbst das ist manchmal und gerade In unserem Falle möglich. Der Benutzungszweck einer Handschrift wie des Codex Aureus von St. Emmeram, einer Handschrift, deren Inhalt - ein Teil der Bibel, nämlich die vier Evangelien - vielfach überliefert, deren künstlerische Ausstattung vielfach untersucht, von der es eine In guter, wenn auch nicht in bester Reproduktionstechnik hergestellte Faksimile-Ausgabe gibt - der Benutzungszweck einer solchen Handschrift ist die Ausstellung. Und so war es auch. Den Anstoß gab die Tatsache, daß sie bei zwei großen Ausstellungen - 1958 zur 800. Wiederkehr des Ereignisses, welches als Gründung der Stadt München gilt, zugleich 400. Wiederkehr des Ereignisses, welches, da es das früheste unter den halbwegs infrage kommenden ist, gern als Gründung der Bayerischen Staatsbibliothek genommen wird, 1958 zur Stadt- und Bibliotheksgründung und zwei Jahre später, zum Eucharistischen Kongreß in München, in der großen Ausstellung >Bayerns Kirche im Mitte Iahe r< - auffiel, daß die Handschrift, eigentlich die prächtigste, neben den anderen aus dem an solchen Stücken nicht armen Fundus der Bayerischen Staatsbibliothek nicht recht bestehen kann. Das dem Codex den Namen gebende Gold hatte unter dem Staub der Jahrhunderte den Glanz verloren, um dessentwillen es einst auf den Einband aufgebracht worden war, die Steine wirkten matt und fahl.

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Der Entschluß, eine Handschrift so hohen Ranges zu restaurieren - was tatsächlich bedeutet, sie in ihre Bestandteile zu zerlegen und dann wieder neu aufzubauen - fällt wie gesagt nicht leicht: weder den verantwortlichen Bibliothekaren noch den durchführenden Restauratoren. Sie wissen sich unter den kritischen Augen nicht nur aller Kollegen, sondern auch der Nachbarn aus anderen Zünften: der Kunsthistoriker, Historiker, der Materialkundler usw. Das Zerlegen in die Bestandteile bedeutet, daß diese frei beweglich und damit für Untersuchungen im Detail und für Analysen zugänglich werden. Da lassen sich Erkenntnisse über ihre Herkunft, über ihre Vorgeschichte, über das Handwerk zur Entstehungszeit der Handschrift gewinnen, ganz zu schweigen von den schon erwähnten Erkenntnissen über das Schicksal des Stückes seit seiner Entstehung. Man trägt die Verantwortung dafür, daß an alle denkbaren Beobachtungen gedacht und daß sie protokolliert werden, damit es später, wenn eine neue Frage zur Geschichte oder zur Bedeutung des Objektes auftaucht, die nur mit solchen Beobachtungen beantwortet werden kann, nicht heißt: Damals, bei der Restaurierung, hätte man das untersuchen können, aber, so sagt man sich bedauernd und wohl auch nachsichtig, nicht ohne Bitterkeit - die Verantwortlichen damals waren eben noch nicht so weit. Es müssen Spezialisten für Analysen herangezogen, es müssen ihnen einzelne Teile des zerlegten Objektes zeitweise überlassen werden, und doch tragen der Restaurator und die Bibliothekare, welche die Restaurierung veranlassen, die Verantwortung für die Unversehrtheit des Objektes und den Erfolg der Untersuchungen. Ein Grund, der den Entschluß zur Restaurierung des Codex Aureus erleichterte, ja ihn geradezu unausweichlich machte, war die Tatsache, daß er bis zu einem gewissen Grade in seinem Bestand materiell gefährdet war. Die Gelenke waren in zwei der drei Einheiten, aus denen sie bestehen, gebrochen. Gelenke: Das sind vorn und hinten die Stellen, auf die beim Offnen eines Buches die Bewegungsenergie wirkt. Sie bestehen aus den Bünden, dem darüberliegenden Bezug und innen aus einem Streifen Pergament oder einem anderen festen Material, das im Buchblock verankert, d. h. um die erste und letzte Lage gelegt und mitgeheftet ist. Nur diese letzte Einheit, zum >Vorsatz< gehörig - das Vorsatz, wie der Buchbinder sagt -, war nicht gerissen und hielt Einband und Buchblock noch zusammen. Diese Stelle, das Gelenk innen, gehört eigentlich zu denen, die an einem alten Buch zuerst einreißen. Daß gerade diese Gelenke beim Codex Aureus noch intakt waren, läßt sich wohl mit der Annahme erklären, daß sie nicht wie die anderen Teile des Gelenks, wie Bünde und Bezugsleder, aus der Zeit Melchior Baßmanns stammen. 1920/21 war die Handschrift faksimiliert, der Buchblock zu diesem Zwecke zerlegt worden. GEORG LEIDINGER, der Herausgeber der Faksimile-Ausgabe, äußert sich hierzu in seiner Beschreibung der Handschrift äußerst ungenau: »[zur Schonung des Embands beim Herstellen der photographischen Arbeiten und auch um deren Qualität willen] mußten [...] die Pergamentlagen aus dem Einbände herausgenommen werden«. H Er sagt 14

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nicht, wie das geschah, und er sagt nicht, wie die Pergamentlagen nach Abschluß der Faksimilierung wieder »hineingebracht« wurden. Der 1966 vorgefundene Heftfaden muß aus der Zeit der Faksimiherung stammen, und wenn man das Gleiche für die Vorsätze annimmt, hat man eine Erklärung für deren guten Zustand im Vergleich zu Bundschnüren und Bezugsleder aus dem beginnenden 17. Jahrhundert - Wie auch immer: Die Gelenke des Codex Aureus waren nicht mehr intakt; der Buchblock wackelte im Einband. Auch die nach der Faksimilierung hergestellte Heftung war locker; die einzelnen Lagen ließen sich bewegen und scheuerten gegeneinander. Eine dritte Gefahr: Zu unbekanntem Zeitpunkt, vielleicht bei der Faksimilierung, war die Baßmannsche Durchschußseide entfernt worden, jedenfalls über den Blattflächen. Im Falz, wo sie in einem schmalen Streifen fest klebte, hatte man sie belassen. Der Buchblock war so Im Rücken um 10 mm höher als im Bereich der Blattflächen und der Schnitte; die Schließen konnten ihn nicht mehr unter Druck halten. Man entschloß sich zu einer durchgreifenden Restaurierung. Der Restaurator Ein Umstand, der im Jahre 1966 den Entschluß, den Codex Aureus zu restaurieren, erleichterte, war die Tatsache, daß damals im Institut für Buch- und Handschriftenrestaurierung der Bayerischen Staatsbibliothek ein außerordentlich geschickter, kluger und einfühlsamer Restaurator arbeitete: Karl Jäckel, von Hause aus Buchbinder, in den Beruf des Restaurators, der sich damals gerade aus dem Handwerk formierte, durch Selbststudium hineingewachsen, keine andere Schulbildung besitzend als die vom Gesetz vorgeschriebenen acht Jahre plus drei Jahre Berufsschule, und doch einer der besten seines Faches, die es je gab und geben wird. Heute sind die Restauratoren bzw. die Agitatoren ihrer Berufsverbände dabei, die Restauratorenausbildung an die Universität zu verlegen. Karl Jäckels Lebensweg und Lebensleistung sollten ihnen zu denken geben. Karl Jäckel lebt nicht mehr. 1992, an seinem Grab, wurde auch seiner Arbeit am Codex Aureus gedacht. Grundsätze Technisch bzw. restauratorisch war es nichts Besonderes oder gar Spektakuläres. Es galt nur, Erprobtes und Gewohntes mit äußerster Sorgfalt durchzuführen und so, daß man es nicht erkennt. Man kann Kari Jäckels Arbeit, die er in Beratung mit dem damaligen Leiter des Instituts für Buch- und Handschriftenrestaurierung der Bayerischen Staatsbibliothek, Paul Gichtel, plante und durchführte, als klassische Arbeit der Restaurierung definieren: - Herstellung von etwas Neuem unter Verwendung von allem noch irgendwie verwendbarem Alten, und m den alten, d. h. den vorgefundenen Techniken;

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- neues Material nur, wo das alte seine Funktion nicht mehr erfüllt, eine andere Technik nur da, wo die vorgefundene ihrer Funktion nicht oder nicht ausreichend gerecht wird; - neues Material, das aus technischen Gründen notwendig ist, wird in seinen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften dem alten angepaßt, mit dem es im Verbund verwendet wird; - Protokollierung aller vorgenommenen Veränderungen und aller Befunde, die am fertigen Objekt nicht oder nicht so leicht getroffen werden können. Was die Protokoliführung betrifft, so haben sowohl Karl Jäckel als auch Paul Gichtel über die Restaurierung des Codex Aureus eine längere Abhandlung geschrieben, ersterer einen Aufsatz m einer Buchbinderzeitschrift, 15 letzterer eine aufwendig gestaltete Monographie. !ft Leider gab es damals noch nicht das heute im Institut in München bei jeder Restaurierung vorgeschriebene Protokollformular, in dem alle denkbaren Arbeiten und Teile an einem Buch aufgelistet sind und so den Restaurator daran erinnern, auch zu solchen Einzelheiten etwas zu notieren, die er zwar verändert oder beim Zerlegen vorfindet und spater durch seine Arbeit wieder verbirgt, die ihm aber selbstverständlich erscheinen und an die er deshalb beim Schreiben eines Protokolls gar nicht denkt. Man vermißt in Jäckels und Gichteis Berichten manches, was interessieren würde oder sogar essentiell wichtig wäre, z. B. Einzelheiten über das Vorsatz, die Aufschluß geben könnten, wie - so die Worte LEIDINGERS - »die Pergamentlagen dem Einband wieder eingefügt« wurden, nachdem sie zur Faksimilierung »aus dem Bucnblock herausgenommen« worden waren. Den heutigen Kodikologen und Restaurator würde u. a, Näheres über große unbenutzte Heftlöcher interessieren, die man an manchen Blättern des jetzt fest gebundenen Codex erkennen, die man aber wegen der festen Heftung nicht systematisch rekonstruieren kann. Durchgeführte Arbeiten Karl Jäckel hat den Codex Aureus zunächst in seine Einzelteile zerlegt und die verschmutzten Außenseiten, d. h. den Gold- und Steinschmuck, gereinigt. Hierzu dienten lauwarmes Seifenwasser und ein weicher Pinsei. Die Pergamentblätter wiesen zwar an der vorderen unteren Ecke Griffspuren auf, die darauf hinweisen, daß der Codex in früheren Jahrhunderten keineswegs nur in der Schatzkammer aufbewahrt, sondern daß er, sicher nur beim Festgottesdienst, auch benutzt wurde. Diese Griffspuren wurden aber belassen. Dann hat Karl Jäckel einen neuen Einband unter Verwendung des noch funktionsfähigen Materials 15

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KARL JÄCKEL, Die Restaurierung des Codex Aureus von St. Ernmeram, Allgemeiner Anzeiger für Buchbindereien 81 (1968), S. 146-151. PAUL GICHTEL, Der Codex Aureus von St. Emmeram. Die Restaurierung des Cod. lat. 14000 der Bayerischen Staatsbibliothek München, München 1971.

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vom vorgefundenen Baßmannschen Einband hergestellt. Das betraf die Holzdeckel und ihr Dekor. Neues Material setzte er ein für das Vorsatz und natürlich für Bünde und Heftfäden. Ebenso fügte er wieder einen Gewebedurchschuß ein, als Ersatz für den irgendwann nach 1608, am ehesten vielleicht 1921 entfernten. Wegen der besseren Haltbarkeit wurde Baumwollbatist gewählt, in einer Dicke, die, genau berechnet, den Buchblock wieder auf die von den Schließen geforderte Dicke brachte, damit diese ihn unter leichtem Druck haken können. In der Technik wich Karl Jäckel vom Vorgefundenen, das wie gesagt dem 17. Jahrhundert und nicht der Entstehungszeit des Buchblocks entsprach, vielfach ab: genau aus den Gründen, die nach den obenstehenden Prinzipien dies erlauben oder sogar vorschreiben. Er griff dabei auf die Techniken des 9. Jahrhunderts zurück: nicht so sehr historisierend, als vielmehr aus technischen Gründen. Baßmann hatte z. B., wie berichtet, Deckel mit der zu seiner Zeit üblichen Abschrägung versehen. An diesen Stellen, bevor sie in Kanälen in den Deckel versenkt werden, liegen die Bünde erhaben auf und bilden beim Anheben der Deckel einen Wulst. Jäckel hatte zwischen den Bünden die Schräge durch aufgeleimte Holzkeile beseitigt. Baßmanns Kapitale hatten keine Festigungs-, sondern nur, wie zu seiner Zeit üblich, eine Dekorfunktion; Jäckel fertigte neue in der Technik des Mittelalters an, d. h. die Einlage wird mit Heftfaden umwickelt, mit diesem Faden jeweils in der Mitte einer Lage m dieser und Abb. 2 mit seinen beiden Enden in den Deckeln befestigt (Abb. 2). Neu sind auch die Nägel, mit denen die Goldteile auf dem Vorderdeckel befestigt sind; die vorgefundenen waren offenbar spätere Ergänzungen. Sie waren sehr grob und bestanden teils aus Kupfer, teils aus Eisen, Die jetzigen hat Karl Jäckel aus Golddraht selbst geschmiedet. Neues Material hat Jäckel sogar den Pergamentblättern zugefügt. Diese zeigten nämlich an nicht wenigen Stellen Farbfraß: ein von Kupfer- und Eisensalzen bzw. -komplexen hervorgerufener kombinierter Oxidations- und Hydrolyseprozeß, der den Schrift- bzw. Bildträger, in unserem Falle das Pergament, hart und brüchig macht und im Endstadium bis zu einem Zustand abbaut, den man am ehesten mit demjenigen gesinterten Pulvers vergleichen kann. Man kann den Prozeß chemisch stoppen; seine Folgen rückgängig machen, kann man nicht. Die einzige Methode, einen brüchigen Bild- oder Schriftträger wieder zu festigen, ist, ihn mit einem zweiten blattförmigen Gebilde zu kombinieren. Jäckel wählte für die vom Farbfraß geschädigten Stellen eine aufzusiegelnde Polyacrylatfolie: eine bis heute bewährte und, zumindest für Pergament, alternativlose Methode. Leider sagt er nichts darüber, ob die Folie durch Wärme oder mit Hilfe eines Lösemittels aufgesiegelt wurde. Bereits herausgebrochene Stellen ersetzte Jäckel durch modernes Pergament; wie sorgfältig er dabei vorging, mag Taf.xiv Taf. XIV zeigen. Sie zeigt auch, daß das Laminieren mit Polyacrylatfolie eine geeignete Methode zur Restaurierung färb- und tintenfraßgeschädigter Stellen ist, jedenfalls in der lokalen Anwendungsweise; es ist heute, immerhin mehr als

Die Restaurierung des Codex Anreus

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dreißig Jahre nach dem Aufbringen, im Gesamteindruck eines Blattes kein irgendwie gearteter Unterschied zwischen gefestigten Stellen und daneben hegenden Bereichen zu erkennen. Untersuchungen Ein herausragender Aspekt der Restaurierung von 1966 war, daß sie Gelegenheit bot, alle möglichen Einzelheiten, vor allem des Schmuckes auf dem Einband, näher zu untersuchen. Hierzu wurden Spezialisten für das jeweilige Material herangezogen. Im Textil-Labor des Bayerischen Nationalmuseums wurden die Reste des vorgefundenen Gewebes analysiert und eindeutig als nicht in die Entstehungszeit der Miniaturen und der Schrift des Codex gehörig erkannt. Ein Goldschmied analysierte das Edelmetall und fand, daß die getriebenen Bleche aus 22-, die übrigen Teile aus ISkarätigem Gold bestehen. Der Unterschied erklärt sich einfach: niederkarätiges Gold ist härter; es eignet sich für erhabene Schmiedearbeiten, für die »Kelche«, »Kastelle« und »Wehrtürme«; zum Treiben eines Bleches in ein Relief muß es weicher, d. h. höherkarätig sein. Als Beimengungsmetall wurden im Doerner-Institut, dem Forschungslabor der Bayerischen Staatsgemäldesammlung, mittels Emissionsspektralanalyse Silber, Kupfer, Blei, Eisen, Zinn und andere Metalle nachgewiesen, ein Ergebnis, das keine Schlußfolgerungen irgendwelcher Art zuläßt. Die Steine wurden im Institut für Mineralogie der Universität München untersucht. An charakteristischen Verunreinigungen war zu erkennen, daß die Saphire aus Ceylon, die Smaragde wahrscheinlich aus Ägypten und die Perlen von Süßwassermuscheln stammen. Einige Steine und Perlen sind durchbohrt, waren also früher wohl als Halsschmuck verarbeitet. Man kann annehmen, daß alle Steine von antikem Schmuck stammen, von dem im frühen Mittelalter sicher noch so manches Stück im >Schatz< der Amtsnachfolger von Germanenkönigen der Völkerwanderungszeit vorhanden war. Einige blaue und grüne Steine erwiesen sich bei der Untersuchung als farbiges Glas; es besteht kein Grund, für dieses eine andere Herkunft anzunehmen als für die Steine. Diese sind übrigens vielfach unrein; sie enthalten Einschlüsse und Risse. Auf dem heutigen Markt für Edelsteine würden sie keinen guten Preis bringen. Das Gold und die Steine wurden auch gewogen. Die getriebenen Reliefs aus 22karätigem Gold wiegen zusammen 193,55 g; das Blech ist durchschnittlich 0,2 mm dick; das härtere ISkaratige Schmiedegold wiegt 2582 g. Ein überraschender Fund Eine Überraschung bot sich beim Abnehmen des mittleren Goldblechreliefs mit der Maiestas Domini {Taf. XV). Diese sitzt etwas erhöht auf einer kleinen Platte Taf. xv aus Lindenholz, offenbar unverändert seit ihrer Herstellung. Unter dem Blech

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fand sich, genau die Erhöhungen des Reliefs ausfüllend und gleichsam einen Abdruck desselben bildend, eine Masse aus Bienenwachs und Ziegelmehl: ganz Abb. 4 offensichtlich die originale Masse (Abb. 4), über die das Goldblech im 9. Jahrhundert gelegt und mit feinen Punzen in die angestrebte Bildforrn getrieben worden war. Die Punzen wurden für diese Arbeit erwärmt, so daß die Treibmasse unmittelbar unter ihnen erweichte und eine Bearbeitung des Bleches erlaubte, daneben aber fest blieb und als Stütze diente. Die Treibmasse wurde nicht wieder unter das Relief gebracht; die Reste wurden, wie sie bildformend zusammengehören, auf eine Platte montiert und werden beim Codex aufbewahrt.

Schlußbetrachtung Der Codex Aureus, das vielleicht kostbarste, wenn auch nicht das künstlerisch höchstwertige Stück in der Bayerischen Staatsbibliothek, ruht, wohlgeschützt in einem Tuch aus Samt und einem festen Kasten, in einem Tresor. Nur ganz selten, zu einer Ausstellung wird er herausgenommen und unter Wahrung aller Schutzmaßnahmen gezeigt. Auch der Bibliothekar darf ihn nur streng kontrolliert aus dienstlichen Gründen aus dem Tresor holen, Um den Codex für diesen Bericht über seine dreifache Restaurierung in Augenschein zu nehmen, wurde ein solcher Grund geltend gemacht, nämlich daß es an der Zeit sei, die Restaurierung von 1966 mit den durch mehr als dreißig Jahre Entwicklung des Restauratorenberufs, der Restaurierungstechnik und des restauratorischen Ethos geschulten Augen zu betrachten und zu prüfen. Auch hat Karl Jäckel in seinem Bericht auf einige Phänomene in den Farben hingewiesen, die möglicherweise Gefahren darstellen und die beobachtet werden sollten. Die Kollegen im Institut für Buch- und Handschriftenrestaurierung fanden: Jäckels Arbeit kann bestehen und könnte heute kaum anders oder gar besser gemacht werden, In der Protokollführung freilich ist man heute viel genauer und konsequenter. Die heutige Kritik am Protokoll kulminiert in dessen Form und in der Diskrepanz zwischen — nicht vorhandenem - sachlichen Inhalt und — historisierender Form. Mit Kopfschütteln lesen die heutigen Restauratoren einen Vermerk, der 1966 nach dem Vorbild derjenigen zur Restaurierung zur Zeit Ramwolds und im Jahre 1608 angebracht worden war. Paul Gichtel, der damalige Institutsdirektor, verfaßte in enger Anlehnung an die Worte von 1608 einen Text und ließ Abb. i ihn von einem Spezialisten in Latein übersetzen (Abb. 1): Dieser Codex Aureus wurde im Jahre millesimo nonagesimo sexto post Christum natum, als Gustauus Hofmann — zum Glück hat er nicht Gustauus dictus Vir Cunahs geschrieben — der Codex Aureus wurde 1966, als Gustav Hofmann munere directoris generalis bauaricarum bibliothecarum publicarum jungitur auf Veranlassung und unter der Beratung von Paul Gichtel, bibliotbecarü codicum in bauarica bibltotkeca publica assertiatortim - >Bibhothekar der in der öffentlichen bayerischen Biblio-

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thek aufbewahrten Codices«: —, dieser Codex und so weiter wurde wiederum restauriert durch Karl Jäckel, Restaurator m instituto bibliothecae bauaricae publicae libris codidbmque refidendis - >Institut für die wiederherzustellenden Bücher und Codices der öffentlichen bayerischen Bibliothek«;. Dieser Text wirkt nach einhelliger Meinung der heutigen Kollegen etwas lächerlich. Er zeugt von einem gebrochenen Verhältnis zum Codex und zu der Zeit, als die Vermerke über seine Entstehung und die beiden früheren Restaurierungen geschrieben wurden. Diese entsprechen voll ihrer Zeit, der unter Abt Ramwold zeugt mit seiner Verschlüsselung der Namen in sympathischer Weise davon, wie man der mönchischen Tugend der Bescheidenheit m einer gewissen Verspieitheit gerecht werden kann; derjenige von 1608 zeugt mit seiner Hervorhebung der reverendi, venerabiles und reverendissimi Amts- und Würdenträger von barockem Hierarchiedenken. Unserer Zeit würde ein nüchterner Vermerk über die erfolgte Restaurierung mit Datum und Verweis auf den ausführlichen Bericht entsprechen. Generaldirektor Gmtauus Hofmann käme in ihm überhaupt nicht, Paulus Cicbtel nur in der Rubrik >Sachbearbeiter< und Karl Jäckel m der Rubrik >Restaurator< vor. Ditm [...] rnunere directons generalis fungitur — »als Soundso das Amt des Generaldirektors wahrnahm« -, die Gerundivkonstruktion institution [...] hbns codicibusque refidenais: Das ist Gymnasial-, das ist Latemlehrerlatein, das an Gott Kupfer und Professor Unrat erinnert. Der Vermerk zeugt von einer schwerfällig-rückwärtsgerichteten, einer um die Vergangenheit trauernden Geisteshaltung, die damals am Untergehen war und in welcher heutige Restauratoren und Fachleute für Altertümer nicht mehr befangen sind. Diese haben aus ihrer Beschäftigung mit den Objekten als Produkten ihrer Zeit ein unbefangeneres, ein sich der Unterschiede, des Abstandes, des unwiederbringlich Vergangenen und doch die Gegenwart vielfach Prägenden bewußtes und es akzeptierendes Verhältnis zum Mittelalter entwickelt, das freilich in totalem Widerspruch steht zu der derzeit modischen, lächerlich oberflächlichen oder verdrehten Vorstellung von ihm, die sich in Schlagworten wie >MönchstumprimitivFinsternisInquisitionFälschung< usw. erschöpft.17

17

Als Beispiel hierfür sei verwiesen auf WILLI WINKLER, Der Herr Kari aus dem nassen Norden, Süddeutsche Zeitung vom 23.-26. Dezember 2000, S. 17: Karl der Große, ein »Condottiere«; sowie auf den Erfolg der Bücher von HERIBERT ILLIG, Hat Karl der Große je gelebt?, Gräfelfing 1994, u. DERS., Das erfundene Mittelalter, Düsseldorf 1997.

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Abb. 1: >Codex Aurcus von St. Emmeram< (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14000): Innenseite des Vorder deckels, d. h. vorderer Spiegel, mit den beiden neuzeitlichen Res taurie rungs vermerken.

Die Restaurierung des Codex Aureus

Abb. 2: Mittelalterliches (unten) und frühneuzeitliches (oben) Kapital.

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Holzdeckel

Abb. 3: Mittelalterliches (unten) und frühneuzeitliehes (oben) Profil eines Hoizdeckels mit Bundschnur.

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Abb. 4: >Codcx Aureus von St. Emmeram« (M nchen, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14000); Die unter der Maiestas Domini aufgefundene Treibmasse.

Joachim Hemzle

Das Marburger Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts Entstehung, Zieie, Perspektiven

»Das >Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts< (>Marburger Repertoriumspäte< Lyrik, den >späten< Roman, die >späte< Heldenepik -, und sie stellte sie mehr oder weniger pauschal unter das Verdikt des Epigonalen. Die Gründe dafür sind leicht zu benennen. Die Fixierung auf die höfischen Gattungen entsprang der Vorstellung, daß Literaturgeschichte es vornehmlich oder gar ausschließlich mit Dichtung im emphatischen Sinn des Wortes, mit >schöner Literaturnachklassischen< höfischen Dichtung spezifische Wandlungen der Genres ignorierte und so auch verhinderte, daß die jeweilige Kunstleistung adäquat erfaßt wurde.6 Und man sah immer deutlicher, daß die Unterscheidung zwischen 3

JOACHIM HEINZLE, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/301280/90) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von J. H,, Bd. H/2), Königstein/Ts. 1984, Tübingen 21994. 4 Vgl. WOLFGANG HARMS, Epigone, 2RL I, S. 457-^59. 5 Vgl. JOACHIM HEINZLE, Wann beginnt das Spätmittelalter?, ZfdA 112 (1983), S. 207223, hier S. 209f. 6 Ein schönes Beispiel ist der Wandel im Verständnis eines charakteristischen Merkmals der spätmittelalterlichen Literatur: der Geblümten Rede. Im Bann der goethezeitlichen Ästhetik hatte man sie mit Vokabeln wie >BombastSchwuistMan schreibt Deutsch*. Volkssprachliche Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert. Ertrage des Marburger Repertoriums deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 21-34. 5 ERNST HELLGARDT, Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. Bestand und Charakteristik im chronologischen Abriß, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von VOLKER HONEMANN/NIGEL F. PALMER, Tübingen 1988, S. 35-81, hier S. 54—58; ergänzt um Korrekturen, wie sie z. B. KURT GÄRTNER für die Wiiliram-Überlieferung vornahm: KURT GÄRTNER, Zu den Handschriften mit dem deutschen Kommentarteil des Hoheliedkommentars Wülirams von Ebersberg, in: Deutsche Handschriften 1100-1400 (ebd.), S. 1-34. 6 Vgl. HELLGARDT [Anm. 5], S. 58-72; dazu - mit revidiertem Zahlenmaterial: BERTELSMEIER-KIERST [Anm. 4], S. 159.

Von der vocalite zur schriftgestützten Kommunikation

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Unberücksichtigt blieben hierbei marginale Überlieferungsformen wie Rubriken, einzelne Gebete und Segen. Mit diesen Kleinstformen, die immerhin noch einen Großteil des Bestandes im 11. und 12, Jahrhundert ausmachen, wurde die Zahl auf über 1000 Handschriften im 13, Jahrhunden anwachsen.

Exponentiell steigt die Kurve voikssprachlicher Überlieferung erst in der 2. Hälfte, vor allem im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts an. Je rund 100 handschriftlichen Zeugnissen im ersten und zweiten Viertel stehen bereits 200 im dritten und über 400 Codices im letzten Jahrhundertviertel gegenüber. Damit bestätigt die handschriftliche Überlieferung im wesentlichen das Ergebnis, das sich auch auf dem Sektor des deutschsprachigen Urkundenaufkommens bis 1300 beobachten läßt.7

III Der Umbruch zur schriftgestützten Kommunikation im 13. Jahrhundert wird nicht nur quantitativ greifbar. Er spiegelt sich ebenso in neuen Dimensionen der Überlieferungstypologie wider. Im 11. und 12. Jahrhundert wird das Überlieferungsaufkommen noch fast ausnahmslos durch den klösterlichen Literaturbetrieb bestimmt. Religiöse Gebrauchs- und Erbauungsliteratur prägt entscheidend auch noch das Überlieferungsbild des 12. Jahrhunderts. Neben der großen Masse an lateinischen Handschriften, in die hie und da auch deutsche Texte häufig als Blattfüllsel, als Randnachträge, interlinear oder auf freigebliebenen Seiten - inseriert wurden, läßt sich seit dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts erstmals auch der rein deutschsprachige Codex nachweisen. 8 Im Laufe des 13. Jahrhunderts tritt dieser Aufzeichnungstyp dann mehr und mehr in den Vordergrund. Vor allem dringt die Volkssprache nun in alle relevanten Felder der literarischen Kommunikation vor: Neben Bibeldichtung und religiösem Gebrauchsschrifttum setzt auf breiter Front die Literalisie rung jetzt auch in den Bereichen ein, die bis dahin noch vorwiegend der mündlichen Überlieferungstradition vorbehalten waren: Adelsliteratur im engeren Sinne und weite Bereiche des Rechts. Darüber hinaus dringt die Volkssprache nun nachhaltig in traditionelle Domänen des lateinischen Schriftbetriebs - etwa den Bereich der Predigt, der Chronistik, der Medizin- und Wissensliteratur sowie ab 1280 auch nachhaltig in das Urkundenwesen - vor. Wie grundsätzlich sich der Umbruch in der ÜberHeferungstypologie vom 12. zum 13. Jahrhundert vollzieht, habe ich bereits an anderer Stelle ausführlich mitgeteilt.9 Ich greife exemplarisch drei der wichtigsten Überlieferungsfelder heraus. 7

Bei den deutschsprachigen Urkunden ist die Zuwachsrate noch steiler: von Null im ersten Viertel steigt die Zahl der deutschen Urkundenausfertigungen auf über 3500 im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts an, Vgl. BERTELSMEiER-KiERST/WoLF [Anm. 4], S. 31 f. u. Graphik 7. s Siehe hierzu BERTELSMEIER-KIERST [Anm. 4], S. 168. 9 Vgl. Anm. 4.

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1. Geistliches Schrifttum Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts sind uns erstmals Sammlungen mit rein oder vorwiegend deutschsprachigen Texten überliefert. Neben den großen Sammelhandschriften mit geistlichen Gedichten10 setzt mit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert ebenfalls verstärkt der Trend zur deutschsprachigen Predigtsammlung ein. So ließen sich gegenüber 16 Zeugnissen des 12. Jahrhunderts bereits 81 Predigthandschriften im 13. Jahrhundert ermitteln, 11 Neu hinzu tritt etwa um dieselbe Zeit auch das lateinisch-deutsche Gebetbuch, das offenbar für die private Andacht weiblicher Religiösen oder einer dem Kloster verbundenen höheren Dame bestimmt war. Den Typ des kleinen, meist anspruchsvoll ausgestatteten Fraucngebetbuchs hatte die Forschung bislang eher als spätmittelalterliche Gattung des 14. und vor allem des 15. Jahrhunderts gesehen. Mittlerweile kann das Marburger Repertonum aber schon bis 1300 fünfzehn solcher Gebetbücher nachweisen. Als frühstes Zeugnis dieser Art ist das >Gebetbuch von Muri< zu nennen, das noch kurz vor oder um 1200 angefertigt wurde.12 Fünf weitere lateinisch-deutsche Gebetbücher sind dann bereits aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts überliefert. 13 10

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Wien, ÖNB, Cod. 2721 (W) und Vorau, Stiftsbibl., Cod. 276 (V): Ende 12. Jh. bzw. um 1200; Klagenfurt, Landesarchiv, GV Hs. 6/19 (M): frühes 13. Jh. Auch die verbrannte Straßburg-Molsheimer Handschrift wird jetzt von CHRISTOPH MACKERT aufgrund einer wiederentdeckten Schriftprobe erst ins 13. Jh. (ca. 1210-1220) gesetzt. Zu den neueren Datierungen, die ältere Ansätze z. T. erheblich korrigieren, s, KARIN SCHNEIDER, Gotische Schriften in deutscher Sprache. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Text- und Tafelband, Wiesbaden 1987, S. 37-44 u. Abb. 10-11, S. 85-88 u. Abb. 37. Zur >Vorauer Handschrift« vgl. PETER WIND, Die Entstehung des Vorauer Evangeliars in der Steiermark, Zeitschrift des hist. Vereins für Steiermark 86 (1995) S. 45-61, bes. S. 55ff.; KLAUS GRUBMÜLLER, Die Vorauer Handschrift und ihr >AlexanderGebete und Benediktionen< und die >Mariensequenz aus Muri< enthält, setzt sich bereits deutlich vom Typ der älteren Nonnenbreviere ab, die meist nur deutsche Rubriken oder jüngere Interlinearversionen enthalten. Zum Codex s. PETER OCHSENBEIN, Das Gebetbuch von Muri als frühes Zeugnis privater Frömmigkeit einer Frau um 1200, in: Gotes und der werlae hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit, Fs. Hans Rupp, hg, von RUDIGER SCHNELL, Bern/Stuttgart 1989, S. 175-199, hier S. 177ff, Zum >Wien-Uppsalaer Gebetbuch' s, HEIKE A. BURMEISTER/JÜRGEN WOLF, Marburger Fund- und Reiseberichte. Miszellen aus dem >Repertorium deutschsprachiger

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Von den ältesten, deren prächtige Ausstattung teilweise schon an die späteren Stundenbücher erinnert, sei hier nur das »Pariser Gebetbuch« näher vorgestellt.14 Es handelt sich hierbei um einen codex rotundus von 16,7 cm Durchmesser.15 Vorangestellt ist ein Kaien dar mit schönen Miniaturen, dann folgen - von derselben Hand geschrieben - lateinische und deutsche Gebete {Abb. 1), Angefertigt wurde der Codex Anfang des 13,Jahrhun- Abb.: derts für eine Dame Gutha. So bezeugt ein Randvermerk auf fol. 182: Gutka der waz ätse buche un gedencbent ir ze Goth mith i»werme gebetbe.[6

2. Rechtstexte Europaweit gehört - vor allem nach dem 4, Laterankonzil (1215) - die Verschriftlichung des Rechts zu den wichtigsten zivilisatorischen Neuerungen. Obwohl sich gerade auch im volkssprachlichen Literalisierungsprozeß hier entscheidende Veränderungen abzeichnen, hatte die germanistische Mediävistik dieses Feld bislang weitgehend vernachlässigt. 17 Für das 13. Jahrhundert hatte man allenfalls die Rechtsspiegel, den >Sachsenspiegel< Hikes von Repgow und den sog. >Schwabenspiegeh, zur Kenntnis genommen, andere Textsorten traten nicht ins Blickfeld oder wurden — wenn überhaupt - erst als literarisches Phänomen des späten Mittelalters begriffen. Schon JOACHIM BUMKE stellte 1990 resigniert in seiner Literaturgeschichte fest: »Es ist nicht einfach, sich einen Überblick über die deutsche Rechtsiiteramr des 13. Jahrhunderts zu verschaffen, weil diese Texte noch niemals systematisch erfaßt und beschrieben worden sind. [...] Kein anderes Gebiet ist von der Literaturgeschichte so sehr vernachlässigt worden.« 38 Auch die neue Auflage des Verfasserlcxikons hat die Rechtstexte des 13, Jahrhunderts noch kaum berücksichtigt. Informationen, etwa zum >Altesten bayerischen Herzogsurbars dem Tiroler Landrecht< oder dem >Augsburger Stadtbuch< sucht man hier vergebens. Diese Forschungssituation stellte auch das Marburger Projekt vor große Schwierigkeiten. Wir haben versucht, das Problem m verschiedene Richtungen Handschriften des 13. Jahrhunderts*, ZfdA 127 (1998), S. 45-68, hier S. 63ff. u. Abb. 8; zu weiteren Gebetbüchern vgl. BERTELSMEIER-KIERST [Anm. 4], S. 166f. 14 Paris, BN, Ms. lat. 10526. Vgl. FRANCOIS AVRIL/CLAUDIA RABEL, Manuscrits enlumines d'origine germanique, Bd. l, Paris 1995, S. 159f. u. Tafel CXXXIIf. 15 Ebenfalls als coäex rotundas wurde ein reich illuminiertes französisches Stundenbuch des 15. Jahrhunderts angelegt, das sich heute in Hildesheim (DombibL, Hs. 728) befindet. Vgl. RENATE GIERMANN/HELMAR HÄRTEL, Handschriften der Dombibliothek zu Hildesheim, Teil 2 (Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen 9), Wiesbaden 1993, S. 38^1 u, Farbabb. S. 33-37. 16 Im Kalendar wird für den 29. 11, eine Gttta als verstorben erwähnt. Vgl, AVRIL/RABEL [Anm. 14], S. 160. 17 Wichtige Einzeluntersuchungen, insbesondere zu den Codices picturati des >Sachsenspiegelss verdanken wir den Arbeiten von RUTH SCHMIDT-WIEGAND im Kontext des Münsteraner Sonderforschungsbereichs zur pragmatischen Schriftlichkeit. 18 JOACHIM BUMKE, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mhteklter, München 1990, S. 357.

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anzugehen. Da es - abgesehen von der Überlieferungsdokumentation des 19 Rechtshistorikers ULRICH DIETER - noch keine neuere Bestandsaufnahme gab, wurden zunächst nur die bekannten Texte, vor allem die Rechtsspiegel, ins Projekt aufgenommen. Im Rahmen meiner Habilitationsschrift habe ich dann weitere Felder der Rechtsüberlieferung, vor allem das Gebiet der Urbare, der Güter- und Lehnsverzeichnisse, sodann zumindest in Übersicht die deutschsprachigen Landfrieden, Land- und Stadtrechtc untersucht. 20 JÜRGEN WOLF hat unabhängig davon die Überlieferung der von OPPTTZ nicht erfaßten norddeutschen Stadtrechtsbücher sowie die deutschsprachigen Eide aufgearbeitet.21 Die Ergebnisse wurden dem Marburger Repertorium zur Verfügung gestellt. Ich versuche sie knapp zu dokumentieren: Der Verschriftlichungsprozeß des Rechts, der zu den tiefgreifendsten kulturellen und politischen Entwicklungen im europäischen Mittelalter gehört, hat auch die Überlieferung in Deutschland nachhaltig beeinflußt. Aus den bislang untersuchten Textsorten - einzelne Bereiche wie etwa die Weistümer blieben vorläufig ausgespart22 - ließen sich rund 150 volkssprachliche Zeugnisse ermitteln. Besonders stark vertreten sind Urbare mit 44 und Stadtrechtsaufzeichnungen mit fast ebenso vielen Überlieferungszeugen, wahrend deutschsprachige Landfrieden und Rechtsspiegel mit je etwa 20 Handschriften vertreten sind. Rechtsaufzeichnungen zählen somit auch m Deutschland im 13. Jahrhundert zu den wichtigsten Uberlieferungsgruppen volkssprachlicher Schriftlichkeit, Ihr Anteil an der Gesamtüberlieferung beträgt immerhin schon knapp 20%. Würde man das Urkundcnaufkommen mit rund 3500 deutschsprachigen Stücken bis 1300 noch hinzunehmen, läge auf dem Rechtssektor zweifellos der größte Anteil an volkssprachlicher Einzelüberlieferung." 19

ULRICH DIETER OPPITZ, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. I-III/2, Köln/Wien 1990-1992. 20 Siehe hierzu demnächst CHRISTA BERTELSMEiER-KiERST, Kommunikation und Herrschaft. Zum Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jahrhundert (erscheint in der Reihe Hcrmaca), Tübingen. 21 Vgl. JÜRGEN WOLF, Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die frühen deutschen Judeneide als besondere Überlieferungsform im 13. Jahrhundert (Aufsatz im Druck). 22 Die Gattung >WeistumMündlichkeit und SchriftlichkeitMehrfachfassungen< gewinnen. Bislang wurden Fragen dieser Art vorwiegend an Handschriften der höfischen Dichtung erörtert, über deren Entstehungs- und Produktionsbedingungen wir allerdings nur schlecht unterrichtet sind. Es könnte den Diskussionsprozeß erheblich fördern, wenn die Untersuchungen auch auf das Feld der Rechtstexte ausgedehnt würden. 24 Zwei Gründe sprechen hierfür: Erstens sind die Rechtshandschriften fast immer aus den fortgeschrittensten Schreibzentren, den neuen städtischen und landesfürstlichen Kanzleien, hervorgegangen. Zweitens lassen sie sich - im Gegensatz zu den Handschriften höfischer Dichtung - m der Regel genau verorten, bieten also wertvolle Hinweise, um unsere Kenntnis von den Produktionssta'tten der volkssprachlichen Literatur nachhaltig zu erweitern. 3. Höfische Dichtung Kommen wir zum letzten, zahlenmäßig bedeutendsten Feld volkssprachltcher Überlieferung im 13. Jahrhundert, der höfischen Dichtung. Wie zu erwarten, lassen sich gattungsspezifisch erhebliche Unterschiede erkennen. So tritt die strophische Dichtung deutlich später in den allgemeinen Literalisierungsprozeß ein. Dies betrifft die Heldendichtung 25 ebenso wie die mittelhochdeutsche Lyrik, die ich hier exemplarisch herausgreifen möchte. Anders als die höfische Epik, die relativ rasch auf eine buchliterarische Tradition zurückblicken kann, bleiben Lied und Spruch für den gesanglichen Vortrag bestimmt, lebt die Gattung von der konkreten Aufführungssituation, der 24 25

Erste Ergebnisse s. demnächst BERTELSMEIER-KIERST [Anm. 20]. Zur besonderen Konstellation des »Nibelungenliedes«, bei dem die begleitende nichtstrophische >Klage< sozusagen die Greencard für den Eintritt in die Buchwelt des Liedes schaffte, vgl. BUMKE, Die vier Fassungen der >Nibehmgenklage* [Anm. 1]; NIKOLAUS HENKEL, Nibelungenlied und Klage. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997, hg. von NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 73-98.

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musikalischen Begleitung, der Aktion zwischen Vortragenden und Publikum. Hier dringt die Buch- und Lesekultur im 13. Jahrhundert daher zunächst nur langsam vor. Ein statistischer Vergleich der Überlieferungszahlen mag dies verdeutlichen. Während wir bis 1300 immerhin schon 294 Epenhandschriften zählen (kleinepische Texte und Legendenromane wurden ausgenommen), besitzen wir an deutschsprachigen Lyrikaufzeichnungen - einschließlich der Fragmente und der Einträge in lateinische Handschriften - nur 39 Zeugnisse, Noch gravierender treten die Unterschiede zutage, wenn wir den Zeitraum vor 1260/1270 berücksichtigen. Bis ins dritte Viertel des 13. Jahrhunderts haben wir es im Bereich der Lyrik ausnahmslos mit sog. Streuüberlieferung zu tun, und zwar fast ausschließlich im Kontext lateinischer Überlieferung. Nicht Laien, sondern derid haben also zunächst damit begonnen, volkssprachliche Minnestrophen schriftlich zu sammeln und für die eigene Gesangspraxis zu nutzen. Eines der frühesten und wohl prominentesten Beispiele sind die >Carmina BuranaKaiserchronik< und des >RolandsliedesKaiserchronik< den späten Sammlungen und den frühen Liedaufzeichnungen der lateinisch geschulten Musikpraktiker ergeben. 29 Siehe hierzu den Beitrag von Martin Staehelin in diesem Band. JC Nur zwei Werke, die >Kaiserchronik< und das >RolandslJed< werden schon vor der Jahrhundertwende tradiert, - die >Kaiserchronik< ist in drei, das jRolandslied< in zwei Handschriften bezeugt, während Handschriften etwa von »König Rother*, dem >Herzog Ernst< oder Eilharts >Tristrant< nicht vor 1200 auf uns gekommen sind. Vgl, BERTELSMEiER-KiERST [Anm. 4], S. 169-173 u. Graphik 3. 31

Die Graphik ist BERTELSMEIER-KIERST/WOLF [Anm. 4], S. 26, entnommen.

Christa Bertehmeier-Kierst

BestseJlerliste >Hofische Literatur« (mmd. 3 Handschriften vor 1250) Kaiserciironik Parzival Rölandsiied Eneas-Roman twcin Willehalm iilhart: Tristranc Sticker: Karl Wigalois

12. Jh.

I.Hälfte 13. Jh.

muß sogar als literarischer Spitzenreiter gelten, wird sie doch zwischen 1180 und 1250 in der Fassung A mindestens siebenmal und zusammen mit der jüngeren B-Fassung sogar neunmal überliefert. Von den höfischen >Newcomern< kommt bezeichnenderweise nur der religiös motivierte >Parzival< Wolframs von Eschenbach schon an diese Üfaerheferungsdichte heran. Nicht weniger bemerkenswert ist die frühe Tradierung der zumeist als >nachklassisch< oder >epigonal< etikettierten Werke. Die ältesten Fragmente von Strikkers >Karl< hat KARIN SCHNEIDER unlängst an das Ende des , Viertels des 13. Jahrhunderts gesetzt."12 Damit ist diese Chans o n- de-geste- Adaption noch vor Wolframs >Willehalm< überliefert und dürfte somit kaum später entstanden und - zumindest bis zur Jahrhundertmitte - durchaus auch nicht unpopulärer gewesen sein.33 Erst nach 1250 tritt der >Willehalm< dann — allerdings eingerahmt von zwei Werken, die man gewöhnlich dern >Epigonalen< zurechnet, der >Arabei< Ulrichs von dem Türlin und dem >Rennewart< Ulrichs von Türheim seinen großen Überlieferungserfolg an.34 32

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KARIN SCHNEIDER, Die Fragmente mittelalterlicher deutscher Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München (Cgm 5249/1-79) (ZfdA-Beiheft 1), Stuttgart i996, S. 24. So überliefert der berühmte Sammelcodex, der Sangalensis 857, um die Jahrhundertmitte beide Werke auch gemeinsam. Die >WillehalmWigaloisnachklassisch< bezeichnet wird, muß noch in die Blütezeit des höfischen Romans, in die Zeit von Gottfrieds >Tristan< und Wolframs >Parzival< reichen, denn zwei Handschriften tradieren das Werk bereits im ersten Jahrhundertviertel bzw. vor 1230." Hieraus läßt sich das Resümee ziehen, »daß Zäsuren, wie sie durch Begriffe wie >höfisch< und >frühhöfischklassisch< und >nachklassisch< festgeschrieben werden, nur wenig Relevanz in der Literaturwirklichkeit des 13. Jahrhunderts haben. Unsere literarhistorischen Raster scheinen immer nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit einzufangen, der sich dem Blick des modernen Betrachters als neu und innovativ erschließt. Damit wird aber im Grunde eine Entwicklungstheorie konserviert, die als lineares Modell faßt, was m der Realität vielfach mit- und nebeneinander existiert.«36 Was wir statt dessen brauchen, so hat dies unlängst noch NIKOLAUS HENKEL artikuliert, ist eine »Beschreibung des zu einem bestimmten Zeitpunkt aktuellen literarischen Wissens [...], das von der Präsenz älterer, aber aktueller Werke ebenso geprägt ist wie von der Bildung neuer Modelle«.37

IV Noch in einem weiteren Punkt erweist sich unser bisheriges Literaturmodell als korrekturbedürftig. Dieser Punkt berührt die Vorstellungen von den Produzenten und Rezipienten der höfischen Literatur. Die Frage nach dem Publikum wird seit geraumer Zeit - nicht zuletzt durch die Thesen STEPHEN JAEGERS 38 wieder breiter diskutiert. Sie stellt sich mittlerweile auch durch die Uberlieferungsgeschichte neu. Wie die frühe Lyriktradierung oder auch die Buchwerdung des >Nibelungenhedes< zeigt, wird man den gebildeten Klerus, die geistlichen Fürstenhöfe stärker als Auftraggeber und Konsumenten höfischer Literatur berücksichtigen müssen. Die Dichotomic >Klerus< und >LaienadelWigaloisRennerRennerRenner< entstehen Ende des H.Jahrhunderts; zu den illustrierten Handschriften, den für die Illustration ausgewählten Motiven und dem Abbildungsprogramm vgl. WEIGAND [Anm. 33], S. 199-205 41 Die Abbildungen in den >RennerWittelsbach und BayernRenner< Hugos von Trimberg. Er führt im Wortfeld riter neben dem bereits geläufigen Vokabular einen Terminus neu ein, den wir in der älteren Literatur noch nicht kennen: Den halpriter (V. 1467). Bei der lexikalischen Analyse der Bezeichnung finden wir im LEXER (I, Sp. 1153) »kalpritter - ein nicht vollkommener ritter«. Die Angabe ist mehrdeutig. Zunächst wird man sich darunter einen im militärischen Sinn noch nicht gänzlich ausgebildeten Ritter vorstellen, eben im Waffenhandwerk ungenügend trainiert. Man könnte die Bezeichnung freilich auch wörtlich nehmen: Irn >Iwein< Hartmanns (V. 1108-1118) verfolgt der Held seinen Gegner, den Ritter Askalon, bis In dessen Burg.45 Dort saust just in dem Moment, als Iwein das Tor durchreitet, ein scharfes Fallgitter herunter; und nur, weil er sich in eben diesem Augenblick nach vorne beugt, um den Gegner mit einem Schwerthieb zu traktieren, entgeht er dem Schicksal, körperlich ein Halbritter zu werden. Sein Pferd allerdings wird in zwei Hälften zerteilt.4n Doch bei Hugo ist der halpritter weder hinsichtlich der Ausbildung noch durch physische Defekte definiert. Der Terminus findet sich in der ersten Distinctio Von hocbvart, und da speziell m einem Abschnitt (V. 1309-2280), in dem es um die Freiheit und die Unfreiheit geht.47 Hugo untermauert seine Position zu dieser Frage mittels Beispielerzählungen, die ihrerseits in einen erzählenden Rahmen eingespannt sind: Der Dichter-Erzähler kommt auf einer Reise über Land in ein Bauerndorf, wird von den leicht angetrunkenen Bauern als gelehrter Herr erkannt und aufgefordert, ihnen über die Einrichtung der Gesellschaft Auskunft zu erteilen; besonders interessieren sie sich für den Ursprung von Freiheit und Unfreiheit. Der Erzähler erläutert 45

Die Szene fand eine zeitgenössische künstlerische Ausgestaltung auf den Iwein-Fresken in Burg Rodenegg tn Südtirol; Iwein schlägt Askalon das Schwert in den Helm, 46 Ein mittelalterliches Bild eines solchen Halbritters konnte ich nicht ausfindig machen. Vergleichbare Vorstellungen vom Flatbritter beflügelten aber offensichtlich die Germanistik des 19. Jahrhunderts, wenn Ludwig Uhland in seiner Schwäbischen Kunde« den tapferen Herrn aus Schwabenland das Schwert gegen einen türkischen Angreifer so heftig schwingen läßt, daß der in der Mitte zerteilt wird; er produziert damit im engsten Sinne des Wortes zwei, wenn auch türkische »Halbritter«, und Uhland (Gesammelte Werke, Bd. l, T. 1: Gedichte, hg. von HERMANN FISCHER, Darmstadt 1977, S. 222) reimt auf diese Heldentat: »Zur Rechten sieht man wie zur Linken / Einen halben Türken heruntersinken.« 4 ' Unter diesem Gesichtspunkt wurde der Erzählabschnitt im >Renner< schon untersucht von KLAUS GRUBMÜLLER, Nöes Fluch, Zur Begründung von Herrschaft und Unfreiheit in mittelalterlicher Literatur, in: Medium aevum deutsch. Fs. für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag, Tübingen 1979, S. 99-119, zum >Renner< bes. S, 103-105. Eine ausführliche Würdigung des Erzählzusammenhanges findet sich bei INES DE LA CUADRA, Der >Renner> Hugos von Trimberg, Allegorische Denkformen und literarische Traditionen, Hildeshcim 1999, S. 289-303. Vgl. auch WEIGAND [Anm. 33], S. 267-284.

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Rudolf Kilian Weigand

ihnen das mit der biblischen Geschichte von Noah und seinen Söhnen (V. 13531386). Die Bauern sind über die Bereitwilligkeit ihres Gastes zwar erfreut, aber mit den erhaltenen Auskünften noch nicht ganz zufrieden, sie wollen mehr wissen. 1459 [Ich] wolte von in geriten sin. 1460 Do kam einer und brahte win Und sprach mit grözem schalle: »Den win schenke wir in alle 1463 Und wollen iu noch mere schenken!

[Ich] wäre gerne von ihnen geritten. Doch da kam einer von ihnen, brachte Wein und rief laut: »All diesen Wein schenken wir euch, und noch mehr dazu.

1466 Und bescheidet uns noch eins, des wir biten: Von den die halpritter sint Und doch ungern gebent ir kint Uns gebüren, swie doch ir adel 1470 Mer gesippe si dem stadel 1471 Denne ez dem ritter satel si.

Dafür sollt ihr über eines, worum wir bitten, Auskunft geben: Von denen, die Halbritter sind, und die doch nicht freiwillig ihre Kinder uns Bauern versprechen, obgleich ihr Adel mehr mit dem Heustadel verwandt ist als mit dem Rittersattel.

Die Bauern führen den Begriff halpritter in der Erzählung ein, nicht der fiktive Ich-Erzähler, Zunächst wird also der halpritter von unten her analysiert, erst dann bietet der von Hugo eingesetzte Erzähler seinen Zuhörern eine kleine Geschichte über ihn (V. 1565-1656, bzw. Auslegung bis V. 1712), die in ihrer Konzeption und Moralisierung einzigartig m der mittelalterlichen Literatur dasteht, die >Geschichte vom Ritter von Hungertal< (V. 1605).^ Ein edel knappe - der, wie schon oben erwähnt, unscharfe allgemeine Begriff knappe wird hier durch den Zusatz edel spezifiziert - der edel knappe sucht seine muome auf, eine Bäuerin (!), und trägt ihr die Verheiratung ihres Sohnes mit einer jungen maget an: 1565 Ich ban [...] vernumen, Daz ein edel knappe ist kumen 7.e einer gebiunn unde sprach, Swenne er si aller verrest sach: »Got grüeze dich, muome, wie gehabstu dich?« i57o »Wol, lieber kerre!« »Bekennestw mich?« »Nein, lieher herreff »Nu bin ich ez doch) Din oheim! sage mir, lebt noch muome Hedwic, din swester?« »Ja herre, ich $ach si gester!« 1575 »Wie gehabt sich dm sun Ruoprehtt« »"Zwar, herre, der ist ein frumer kneht Und ist hiur eher denne vert! Seht, herre, er treit sin erstez swert

leb habe [...] gehört, daß ein Edelmann zu einer Bäuerin kam und sie schon aus der Ferne ansprach: »Gott zum Gruße, Tantchen, Wie gehts?« »Gut, freundlicher Herr.« »Erkennst du mich?« »Nein, Herr.« »Nun, ich bins doch, dein Verwandter. Sage mir, lebt meine Tante Hedwig noch, deine Schwester?« »Ja, Herr, erst gestern hab ich sie gesehn.« »Wie gehts deinem Sohn Ruprecht?« »Fürwahr, Herr, der ist ein tüchtger Bursehe, nun ein Jahr älter als voriges Jahr. Schaut, Herr, er trägt sein erstes Schwert

Knapp dargestellt wird die Geschichte bei DE LA CUADRA [Anm. 47], S. 294-296. Sie hebt vor allem die Anspielungen auf die Neidhart-Tradition hervor.

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Halbntter und Schildknechte Und hat einen höhen huot 1580 Und zwen hantschuohe, daz ist gttot. Er singet den meiden allen vor Ze tanze, und mohten m enbor Alle min nachgebüre tragen, Si tetenz.« »Nu wil ich dir sagen: 1585 ich weiz eine junge maget: Ist daz im din wol behaget, Die sül wir im ze wibe geben!«

und hat einen hohen Hut und zwei Handschuhe, das ist fein. Beim Tanz singet er allen Mädchen vor, und könnten meine Nachbarn alle ihn hochheben, sie täten es.« »Nun will ich dir etwas sagen: Ich kenne eine zarte Jungfrau, sollte die ihm gefallen, werden wir sie ihm zur Frau geben.«

Mit den Segenswünschen der Bäuerin und reichlicher Kost für dieses Angebot versehen, reitet er heim in seine armselige Behausung im hungertal (V. 1605). 1604

1610

Er mmt sin fuoter und sm huon Und ritet heim gein Hungering Da guotes und eren aiu pfrüende ist smal Und Unrates ein vollez has. In dem ofte manic müs Getanzet und gereiet hat, So st anderswä was worden sät.

Er nimmt sein Futter und sein Huhn, und reitet heim nach Hungertal, wo die Pfründe schmal ist an Besitz und Ansehen, und ein Haus voller Unrat steht, in dem viele Mäuse den Reien getanzt haben, nachdem sie vorher anderswo ihren Hunger gestillt hatten.

Eine Woche später treffen sich die beiden Familien zu den Eheverhandlungen in der Behausung des angeblichen Ritters: 1612 J613

36f6

'.613

Kumt sin miiome dar und hat kräht Vier kese, zwei hiiener und zwen teicscherren. [...] Er nimt vil gern sogetane stiure: Um die darf er den hals niht wagen Und kan dem guote doch als us lagen.

Seine Tante bringt dazu vier Käse, zwei Hühnchen und zwei Brotlaibe. [..-] Gerne nimmt er diese Art von Hilfe: Dafür braucht er das Leben nicht wagen, und kann dem Gut doch genauso auflauern.

Der sarkastisch geschilderte und immer wieder bissig kommentierte Vorgang endet mit dem Eheversprechen zwischen dem Bauernsohn Ruopreht und Geppe^ einer Stiefverwandten des Ritters. Aus solchen zweifelhaften Verbindungen erwachsen schließlich half edel knehte (V. 1659). its? NM werdent halp edel knehte Von Geppen und von Ruoprehte Gehörn, die tuont vil rehte Nach gickelvehem geslehte. Waz oh Geppe treit ein kint, 1664 50 si zesamen kamen sint, 1665 Daz über dri mänen win gehornf Wer sol daz ziehen ane zornf Daz sol Ruopreht ze rehte, Wenne ez ist Benzen geslehte. Er ist selic, dem des geslehtes iht Wirt, 1670 Daz sin kint so schier gebirt! Dirre gouch zmhet jttngm göuchltn,

In der Folge werden von Geppe und Ruprecht Halbedelkncchte hervorgebracht, die sich richtig wie eine buntscheckige Verwandtschaft gebärden. Was aber, wenn Geppe ein Kind trägt, das drei Monate nach ihrem ersten Liebesakt geboren wird? Wer soll das ohne Unwillen aufziehen? Von Rechts wegen sollte das Ruprecht, obgleich es aus Benzens Stamm kommt. Der muß glücklich sein, der zu einer Familie gehört, in der sein Kind nach so kurzer Zeit geboren wird. Dieser Kuckuck zieht junge Kuckucke,

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1675

1679

1683

Rudolf Von dem kumt meister Schouchlm, Hackentiufel und Röuchlin, Knobelouch und her Löuchlm, Fleckenkelch und Swellegrühel, [.,.] Lerenstal und Leibenibt Una manic ander bcesei&iht, Gebümvint und Galgenswengel, Lasterbalc und Riidenbengel, Güsehals und Füllensac,

i7oo Zuckezswert und Galgenast, Widerspan und Stichenwirt: Diz ist daz volc daz zwirnnt wir t Von armen Unten enpfangen, Ez kume geriten oder gegangen. 1735 »Dem tiufel von erste und dar nach got«: Daz erste ist ernst, daz ander spot. So kumt min berre her Schelleborn: Swer spreche er were ein zwitorn, Der het und guot verlorn, 1710 Wenne er reche an im sinen zorn. Des vellet ir ml in des tiufels dorn, 1712 Swie v aste in klingen hie die sporn.

Weigand

von ihm stammt Meister Vertreiber, Haken teuf el und Räucherer, Knoblauch und Herr Flammlein (/owe), Beflecke-den-Kelch und Schwelleteufel, Leere-den-Stall und Nichtsübrig, und viele andere Bösewichte, Bauernfeind und Galgenschwingel, Lasterhaut und Hundeprügel, Gieß-in-den-Hals und Füll-den-Sack, Zücke-das-Schwert und Galgenast, Gegen-Span {Besitzzeichen) und Stichden-Wirt, das ist das Volk, das von den armen Leuten auf zweierlei Weise empfangen wird, je nachdem ob es geritten oder gegangen kommt. »Das erste dem Teufel, danach für Gott.« Das erste ist Ernst, das zweite Spott. Auf diese Weise erscheint mein Herr, Herr Blas-ins-Horn; wer behauptet, er sei ein Bastard, der hat Leben und Besitz verloren, wenn er an ihm seine Wut ausläßt. Deshalb fallen viele von ihnen in den Dorn des Teufels, wie fest auch hier ihre Sporen klingen.

Dem zu Beginn der Ausführungen Hugos als balpntter bezeichneten edel knappe folgen durch das Wirken von Geppe und Ruprecht nur noch balp edel knebt - also mathematisch betrachtet >ViertelritterHelmbrecht< -,49 Die Namenreihen bei Hugo erinnern zunächst an die sprechenden Namen der Raubgeselien im >HelmbrechtHelmbrechtHelmbrecht< sehr von der Art, in der Hugo seine moralischen Konzepte verpackt. Der ironisch-sarkastische Tenor der Geschichte des Ritters von Hungertal verweist möglicherweise auf die eigentliche Wurzel, der Hugo seine Vorstellung vom halpritter entlehnt hat: In den >Satura:< des Persius, die Hugo nach Ausweis seiner lateinischen Schriften (>Registrum rnultorum auctorunn, hg. von KARL LANGOSCH, Berlin 1942, V. 160ff.), ferner auch belegbar durch Zitate tm >Renner< (V. 1267, 9347, 14107, 14679), sehr gut kannte, findet sich die Bezeichnung semipaganus (vgl. Aulus Persius Flaccus, Satiren, hg., übersetzt u. kommentiert von WALTER KISSEL, Heidelberg 1990, S. 18, in den choliambi zu den Saturae V. 6); dieser Ausdruck könnte gut das Vorbild für die Neuprägung halpritter abgegeben haben. Auch den griechisch sprechenden Sittich sowie den Hunger als Lehrmeister für Sprachen, die unmittelbar danach in V. 8-11 der choltambi genannt werden, hat Hugo im >Renner< (V. 3633-3635) originell verwertet.

Halhritter und Scbildknechte

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liegt die Schuld nach Hugos Darstellung eindeutig bei dem höhergestellten, protzigen, aber doch armseligen Ritter, der allerdings mit seinem adeligen Gehabe die arglosen Bauern einzuwickeln weiß, obwohl es ihm nur darum geht, für seine verarmte Verwandte einen ausreichend begüterten Gatten zu finden. Die feine Ironie in der Anpreisung des Drei-Monats-Kindes zeigt treffend das geistige Niveau von Ruprechts Verwandtschaft. Gleichwohl können wir an den Bemerkungen der Bäuerin über das Schwert und die Handschuhe ihres Sohnes ablesen, daß auch von ihrer Seite aus versucht wird, die Schranken des eigenen Standes zu übersteigen. Letztlich erwächst also eine Verbindung, bei der beide Seiten versuchen, die gottgewollte Ordnung zu hintertreiben; die aus einer solchen Ehe hervorgehenden zwitorn (V, 1708: Bastarde, Zwitter) sind typische Opfer des vom Teufel gestifteten Dornes der böchfart. Es wird deutlich: Während ritter um 1300 immer noch in einer schillernden Vielfalt verwendet wird (Funktionsgruppen = militärische Variante, Adel, Stand), ist der Terminus halpritter bei Hugo eindeutig rein ständisch fixiert: Ein halpritter ist dem Bauern eng verwandt, er unterscheidet sich nur durch seinen Anspruch, adeliger Abstammung zu sein - dessen Glaubwürdigkeit in der nachgeschobenen Erzählung von Hugo sogleich mit raffiniertesten Mitteln zerlegt wird. Das ist ein halpritter - und nicht, wie uns die Wörterbücher glauben machen wollen, ein »nicht vollkommener Ritter«. 50 Gut hundert Jahre später finden sich in den illustrierten Handschriften des >Renner< die ersten Abbildungen von halprittern. Es überrascht, wie unterschiedlich sie in den sechs Handschriften ausfallen.51 Ein Bild, wie man es erwartet, finden wir in der Innsbrucker >Rennert-Handschnft Ibl (Innsbruck, ÜB, cod. Nr. 900 ms., ca. 1411, fol. xxu r ): Ein geckenhaft aufgeputzter Mann mit federgeschmücktem Hut blickt hochmütig über die einfach gekleidete Bäuerin hinweg. Anders verfährt der Illustrator in der Frankfurter >RennerLorcher ChorbüchernMemoriale dominorum Visitatorurn< vom 20. März 1451, gewissermaßen das Handbuch der Melker Visitatoren, formuliert, 48 erweist sich erneut von großer Bedeutung. Die Lorcher Chorbücher markieren in ihrer Konformität mit der Norm wie ein imposanter Grenzstein den Endpunkt dieses von Sublaco ausgehenden und über Melk donauaufwärts in das Zentrum des deutschen Sprachgebiets vermittelten Impulses. Kann also am inhaltlichen Rcformcharaktcr der drei Handschriften kein Zweifel bestehen, so wirkt ihre opulente buchmalerische Ausstattung, die man als einen der letzten Höhepunkte der süddeutschen Buchmalerei der Spätgotik bezeichnen darf, im Kontext reformgeprägter Schriftkultur zunächst eher irritierend. Und es ist wohl kaum als Zufall zu betrachten, daß m den Schlußschriften der drei Lorcher Codices, die jeweils ausdrücklich die Konformität mit der Melker Reform hervorheben, zwar die Schreiber und — bemerkenswerterweise — auch die Notenschreiber ausdrücklich genannt werden, nicht aber der Maler. Hätten wir nicht dessen >Signatur< in Form des Selbstbildnisses im Graduale (dazu gleich mehr), so wäre aus den Handschriften selbst über seine Mitwirkung nichts Explizites zu erfahren. Die Lorcher Chorbücher sind bezüglich ihrer aufwendigen Ausstattung allerdings keine Solitäre, sondern stehen in einem unmittelbaren Verwandtschaftsverhältnis zu vergleichbaren Prachthandschriften aus der Abtei St. Ulrich und Afra in Augsburg. Das ist kein Zufall, denn das Augsburger Kloster ist der eigentliche Kristallisationspunkt und Multiplikator der Melker Reform in Schwaben, und zwei seiner Mönche, darunter auch der berühmte Kalligraph Leonhard Wagner, sind an der Entstehung der Lorcher Handschriften maßgeblich beteiligt. KLAUS GRAF hat zu Recht darauf hingewiesen, daß St. Ulrich und Afra zwar Reformkloster, aber zugleich auch »Stadtkloster« war und als solches in enger Verflechtung mit einem kulturell hochentwickelten urbanen Umfeld stand.49 Gerade die mehrfach zu beobach48

49

Omnes lihri dimni offidi corrigi et concordan debent de exemp^tis correctis, Vgl. GROISS [Anm. 2], S. 169 mit Anm. 667. KLAUS GRAF, Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, in: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hg. von JOHANNES

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Felix Hemzer

tende Heranziehung professioneller städtischer Maler für Buchprojekte der Augsburger Mönche erscheint dafür symptomatisch, und auch das Lorcher Engagement Nikolaus Bertschis, den man fast schon als feste Größe in diesem Kontext bezeichnen kann, ist offensichtlich über St, Ulrich und Afra vermittelt worden. Dies zeigt die bekannte Darstellung im Graduale Cod. mus. I 2° 65 (f. 236V), wo sich der Maler mit seiner Frau unmittelbar neben dem schon genannten Augsburger Mönch und Schreiber Leonhard Wagner ins Bild gesetzt Taf.xvii hat, in sehr sinnfälliger Weise (Taf. XVII). Genau diese Seite liefert aber auch den Schlüssel zu einem tieferen Verständnis des repräsentativen Charakters der Lorcher Chorbücher. Am oberen Blattrand finden sich in symmetrischer Anordung um das Reichswappen die vier Teilwappen des Herzogs von Württemberg. Diese prominente heraldische Position dürfte also ein aktives Engagement des Landesherrn im Zusammenhang mit der Herstellung der Chorbücher signalisieren. Welches sind die Hintergründe dafür? Die über die Augsburger Benediktiner vermittelte Zusammenarbeit mit einem städtischen Atelier - modern gesprochen eine Form von >outsourcing« - führt aus dem Kontext des (durch Zuzug aus benachbarten Reformklöstern erweiterten) monastischen Skriptoriurns heraus, und damit impliziert sie auch ein Finanzierungsproblem. Wenn nicht alles täuscht, hat man dieses in Lorch über das Instrument des Mäzenatentums, präziser: der Stiftung, bewältigt; ja möglicherweise ist diese Komponente überhaupt ein tragendes Moment in der Genese des Projekts. Die Fülle von Wappen und Stifterdarstellungen in den drei Handschriften läßt dabei geradezu auf eine Art Konsortium von Stiftern schließen, die für die Finanzierung einzelner Partien der buchmalerischen Ausstattung aufkamen. 50 Stiftung ist hier freilich nicht nur im Sinne eines kul-

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JAISOTA/WERNER WILLIAMS-KRAPP (Studia Augustana 7), Tübingen 1995, S. 100-159, hier S. 112 u, 114. So beispielsweise im Amiphonar Cod. rnus. I 2° 63 Wappen und Namen des 1483 in Tübingen immatrikulierten Mediziners Lucas Spechtshart (f. 31") und des Lorcher Pfarrers Magister Thomas Köllin (f. 296", zu ihm KLAUS GRAF, Kloster Lorch im Mittelalter, in: Lorch. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Kloster [Hcimatbuch der Stadt Lorch 1], Red. PETER WANNER, Lorch 1990, S. 39-100, hier S. 91 f.), um zwei Einzelpersonen zu nennen, ebenso die Wappen der Familien Gaisberg (282f, vermutlich auf den damaligen Klostervogt Hans Gaisberg zu beziehen) und Schechingcn (2S6V, zur engen Verbindung dieses niederadligen Geschlechts mit Lorch vgl. GRAF, Kloster Lorch, S. 65); im zweiten Antiphonar (Cod. mus. I 2° 64) neben mehreren Wappen und Schriftbändern, die sich auf Lorcher Konventualen beziehen, ein entsprechender Eintrag für doctor /erg Nytel aus der Stuttgarter Juristenfamilie Nüttel (f. 248r; zu den intensiven Beziehungen dieser Familie zu Lorch vgl. GRAF, Kloster Lorch, S. 67); im Graduale Cod. mus. l 2° 65 schließlich unter anderem eine Darstellung des Lttdovicus Reich, Pleban in Rudersberg bei Welzhetm und ehemaliger Pleban in der Lorch inkorporierten Pfarrkirche in Welzheim selbst, der sich als Gönner des Klosters (fautor kuins monasterü) mit Wappen und Schriftband in Stifterpose darstellen laßt (f. 202r).

Exercitmm scribendi

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turellen >sponsonng< zu verstehen, sondern als ein religiös motivierter Akt, der dem Stifter über seinen Tod hinaus die Präsenz im Gedenken der durch die Stiftung begünstigten Gemeinschaft sichern soll. Auch hier also - wie bei der Reaktivierung der Tradition des monastischen exercitium scribendi - erneut ein Rückgriff auf Altes, indem ein für das Verhältnis der Klostergemeinschaft zu ihrer Umwelt grundlegendes Modell aufgenommen und zugleich in einer neuen Form variiert wird: Nicht eine Einzelperson stellt Mittel für die Herstellung eines sakralen Kunstwerks zur Verfügung, sondern eine ganze Personengruppe tritt m dieses Wechselverhältnis von Geben und Nehmen ein, um dauerhaft an der klösterlichen memoria zu partizipieren. 51 Der Landesherr, Herzog Ulrich, dessen Großvater, Graf Ulrich der Vielgeliebte, energisch die Reform Lorchs und 1462 den Anschluß an die Melker Bewegung befördert hat,52 bleibt allerdings die klare Leitfigur in diesem Konsortium. Augenfälliger noch als durch die bereits genannte Präsenz der württembergischen Wappen auf f. 236V des Graduale kommt die besondere Stellung Herzog Ulrichs als Hauptstifter durch die Darstellung auf der ersten Seite dieser Handschrift zum Ausdruck (Taf. XVIII): Ulrich kniend, ihm gegenüber seine Frau Taf.xvm Sabina von Bayern, beide in festlicher Kleidung, zwischen ihnen erneut das Reichswappen, flankiert von den Wappen Württembergs und Bayerns. Bemerkenswert erscheint, daß diese Darstellung, die man zweifellos als Dedikationsbild zu interpretieren hat, in ihrer perfekten Symmetrie Sabina ebenso ins Blickfeld rückt wie den Herzog selbst, Bedenkt man die zeitliche Koinzidenz der Entstehung der Chorbücher mit der Stuttgarter Hochzeitsfeier Ulrichs und Sabinas am 2, März 1511, so ist der Schluß verlockend, das Stifterengagement Ulrichs (und seiner Gemahlin, wie dann hinzuzufügen wäre) konnte mit dieser so prunkvoll gefeierten und später so unglücklich verlaufenen Eheschließung zusammenhängen, 53 An dieser Stelle wäre im übrigen auch die bisher ungedeutete Wappenleiste am rechten Rand von 223' im Antiphonar Cod. mus. I 2° 63 zu nennen: Sie zeigt nämlich nach dem württembergischen Herzogswappen die Wappen der vier klassischen Hofämter (Marschall, Truchseß, Schenk und Käm51

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Eine mit diesem Fall durchaus vergleichbare Netzwerkkonstellation hat ANDREAS B RAM, Imitatio Sanctorum. Überlegungen zur Snfterdarstellung im Graduale von St. Katharinenthal, Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 49 (1992), S. 103-113, vor kurzem für das berühmte Graduale aus dem Dominikanerinnenkloster St. Katharinentai bei Diessenhofen (Kt. Thurgau) aus dem frühen 14. Jahrhundert nachweisen können. Zur Klosterreform von 1462 s. HUMMEL [Anm. 46], S, 133f., sowie GRAF, Kloster Lorch [Anm. 50], S. 69-79. Die zentrale Präsenz des Reichsadlers - ähnlich ja auch schon auf der Seite mit den Darstellungen Bertschis und Wagners (f. 236% s. oben) - könnte Im übrigen vielleicht sogar als Hinweis auf ein Engagement Kaiser Maximilians gedeutet werden. Sollte Maximilian, Sabinas Onkel, auf dessen energisches Betreiben die Eheschließung mit Ulrich überhaupt erst zustande gekomen war, auch an der Realisierung des Lorcher Buchprojekts beteiligt gewesen sein?

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merer), und zwar jeweils in der Verbindung der entsprechenden Symbole mit den persönlichen Wappen der Amts träge r54 - ein weiterer klarer Hinweis auf die mäzenatische Funktion des Herzogs, die hier von der Spitze seines Hofstaats mitgetragen erscheint. 55 Noch einmal zum Grundsätzlichen. KLAUS GRAF hat vor kurzem die Frage aufgeworfen, inwiefern die »Erklärungskraft des Etiketts >Melker Reformöffentliche< Präsenz des Stifters, ohne die Erinnerung nicht funktioniert.

IV Ich komme zu einem abschließenden Fazit. Die Annahme, daß Zeiten geistlicher Reform im Mittelalter immer auch Epochen intensiver Pflege von Schriftlichkeit seien, wird durch die Ergebnisse der drei Untersuchungsausschnitte grundsätzlich bestätigt. Schnftlichkeit erscheint als ein wesentliches Mittel zur Durchsetzung von Erneuerung, als »Faktor von Reform«, wie KLAUS SCHREINER sich ausgedrückt hat,58 aber zugleich auch als eines ihrer originärsten Produkte. Allerdings zeigt sich, daß dieser Zusammenhang in unterschiedlichen historischen Kontexten durchaus differenziert zu sehen ist. Reform ist »ein komplexer Begriff für eine komplexe Sache«,59 der für sehr verschiedene Realitäten stehen kann, Wird Reform wesentlich von außen oder, wenn man so will, >von oben< initiiert und getragen, weil sie sich herrscherlicher Initiative verdankt wie die karohngische Renovatio, so führt dies zu anderen Situationen als da, wo sich Erneuerung wesentlich aus eigenem, spirituellen Antrieb speist, wie etwa in der monastischen Reform des 11. und 12. Jahrhunderts, wenngleich auch hier die politische Dimension - vor allem als »spannungsvolle Wechselbeziehungen zwischen Adel und Reformmönchtum« 60 - keinesfalls auszuklammern ist. Der Anteil der Mächtigen am Reformvorgang bestimmt wohl letzten Endes das Maß

58

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nach der Ordnung von Melk [.,.] mit der Durchsetzung der Melker Erneuenmgsbewegimg zu tun?« (ebd., S. 113), KLAUS SCHREINER, Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mirtelalter, hg, von HAGEN KELLER [u. a.] (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), München 1992, S. 37-75. - Vgl. auch JOACHIM WOLLASCH, Reformmönchtum und Schriftlichkeit, Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), S. 274-286, sowie mit einer mehr regionalen Akzentuierung KLAUS SCHREINER, Erneuerung durch Erinnerung. Reformscreben, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung im benediktmischen Mönchtum Südwestdeutschlands an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelaher und in der frühen Neuzeit, hg. von KURT ANDERMANN (Oberrheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, S. 35-87. SCHREINER, Klosterreform [Anm. 3], S. 108. KLAUS SCHREINER, Hirsau und die Hirsauer Reform. Spritualität, Lebensform und Sozialprofil einer benediktinischen Erneuerungsbewegung im 11. und 12. Jahrhundert, in: Hirsau St. Peter und Paul, Bd. 2 [Anm. 31], S. 59-84, hier S. 62 (im Anschluß an KARL SCHMID, Adel und Reform in Schwaben, in: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. von JOSEF FLECKENSTEIN (Vortrage und Forschungen 17), Sigmaringen 1973, S, 295-319).

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des Repräsentativen in den Ergebnissen reformbedingter Schriftlichkeit, wie auch das Beispiel der >Lorcher Chorbücher< zeigt. Dabei ist es bezeichnend, daß auch im Kontext der hochmittelalterlichen Reform die grundsätzliche Zurückhaltung In der buchkünstlerischen Ausstattung durchaus ins Repräsentative aufbrechen, ja geradezu explodieren kann, sobald ein mächtiger persönlicher Stifterwtlle ins Spiel kommt. Das zu Beginn des 13. Jahrhunderts im oberschwäbischen Weingarten im Auftrag Abt Bertholds entstandene und nach diesem benannte Sakramentar 61 ist dafür ein Paradebeispiel - eine Handschrift, die sich im Inhalt wie im Erscheinungsbild des Texts in keiner Weise von anderen Liturgica der Hirsauer Reform abhebt, die aber dank ihres Buchschmucks, der sich einem von auswärts herangezogenen Maler von Ausnahmerang verdankt, als eines der prächtigsten Zeugnisse deutscher Buchkunst im Übergang von der Romanik zur Gotik gelten darf. Dahinter steht die Figur eines adligen, selbstbewußten Abts, der sich auf dem vergoldeten Prachteinband der Handschrift gemeinsam mit Maria, den Evangelisten und den Patronen seines Klosters darstellen läßt - ein erstaunlicher Befund, 62 der die ambivalente Situation dieser Handschrift als Produkt eines Spannungsfelds zwischen der Tradition klösterHcher Reform und dem Repräsentationswillen einer einzelnen Persönlichkeit in sehr pointierter Weise deutlich macht. Noch ein weiterer Aspekt ist zu betonen; Reform beinhaltet aus mittelalterlicher Sicht im Gegensatz zu einem modernen Verständnis des Begriffs nicht so sehr den Aspekt der Erneuerung, sondern zielt entsprechend der Bedeutung des lateinischen Wortes (re-formatio) primär auf Wiederherstellung einer als authentisch und vorbildhaft geltenden Vergangenheit.63 Das heißt: Die Blickrichtung mittelalterlicher Kirchen- und Klosterreform ist inhaltlich grundsätzlich rückwärts gewandt. Auf der Ebene ihrer Strategien und Techniken hingegen ist sie oft erstaunlich innovativ. Das gilt auch für den hier beobachteten Bereich, wie wir dies unter dem Stichwort »grammar of legibility« insbesondere für die karolingische Reform eingehender diskutiert haben. Eine radikale Konsequenz dieser Haltung, die hier zum Schluß lediglich angedeutet sei, ist die Option für jene neue Technik der Buchproduktion, die etwa bezüglich der Möglichkeiten gleichförmiger Vervielfältigung liturgischer Bücher oder weitreichender Propagierung normativer und programmatischer Texte die Möglichkeiten des Schreibens bei weitem übertrifft: die Nutzung des Buch-Drucks also. Nicht nur für den Erfolg Luthers und der von ihm ausgelösten Bewegung bot er eine ent61

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New York, Pierpont Morgan Library, Ms. M. 710, jetzt als kommentierte Faksimileausgabe zugänglich (s. Anm. 30). »Selbstbewußt stellt der Stifter sich den heiligen Personen zur Seite, wie in dieser Art bisher kaum üblich«, FRAUKE STEENBOCK, Der Einband, in: Berthold-Sakramentar (Anm. 30], S. 195-202, hier S. 197 (Abb. des Einbands ebd., Frontispiz u. S. 202). Als »Rückkehr zur forma prima ideal gedachter Anfänge«, wie SCHREINER, Verschriftlichung [Anm. 58], S. 42, prägnant formuliert.

Exercitium scribendi

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scheidende Voraussetzung. Auch die Reform des Trienter Konzils hat sich dieses neue Medium für die liturgische Kodifizierung systematisch zu Nutze gemacht, und bereits die spätmittelalterlichen Reformbewegungen, etwa die benediktinischen Verbände von Melk und Bursfelde (die eingangs zitierten >Caerimonie< der Bursfelder Kongregation erschienen schon 1475 im Druck!) oder auch die Brüder vom gemeinsamen Leben (man denke beispielsweise an die Rostocker Michaelsbrüder) haben sich ansatzweise um eine Nutzung der neuen Produktionsform bemüht und zum Teil sogar selbst Offizinen unterhalten. Das bedeutet letztlich das Ende des exercitium scribendi, wobei dieser Bruch zugleich Kontinuität impliziert: Denn die neue Technik der Buchherstellung verdrängt die alte nicht etwa, weil sie deren bisherige Aufgaben und Zielsetzungen, nicht zuletzt diejenigen, die sich im Kontext von Reform ergeben, inhaltlich in Frage stellt, sondern weil sie diese offenkundig effizienter zu realisieren vermag.

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Felix Heinzer

N N O MI. N E P N.

RVMDECiRCV l EXPOS

Abb. l: Stuttgart, Wüntembergische Landesbibliothek, Cod. DonauescJiingen 191, Bl. 5V (>Reichenauer Sakramentar«, 1. Hälfte 9, Jh.).

Exercitium scribendi

Abb 2: Stuttgart, Wumembergische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 191, Bl, 65V {>Reichenauer Sakramentars l. Hälfte 9. Jh.),

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»Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit« Der Evangelist Johannes und die Bildsprache der Vergöttlichung im Graduale von St. Katharinenthal

In seiner Chronik der dominikanischen Reform im spätmittelalterlichen Deutschland erzählt Johannes Meyer eine erbauliche und unterhaltsame Geschichte über den Konvent St. Katharinenthal bei Dießenhofen in der Nähe von Schaffhausen. Meyer zufolge hatten sich die Nonnen in zwei Parteien aufgeteilt, auf der einen Seite die Anhänger Johannes' des Evangelisten, auf der anderen die Nachfolgerinnen Johannes' des Täufers. 1 Jeder dieser Heiligen hatte seinen eigenen Kult einschließlich einer Kultfigur, geschnitzt um 1300 von Meister Heinrich von Konstanz (Abb. 1-2).2 In den Streitigkeiten, die um diese Figuren Abb. 1-2 entbrannten, beleidigte eine Nonne, Clara Anna von Hohenburg, ein treues Mitglied der Partei des Evangelisten, ein Gemälde des Täufers: Also fügt es sich das äise swöster Claranna uff sant lohannes Baptisten tag in dem criitzgang gieng für sin bild, daz da gemalet waz, und sprach: >Lugent, wie stat der holtz höwer hyeLegenda aurea< wiedergegeben wird. 20 Eine ebenso große Anzahl von Initialen sind jedoch von ihrem Inhalt her nicht erzählerisch oder beinhalten keine erzählerischen Elemente, Von diesen heben einige Johannes als den archetypischen Visionär und Seher hervor. Die fraglichen Motive können nicht einfach als Andachtsbilder bezeichnet werden, obwohl sie zweifellos zu Andachtszwecken dienten. Sie sind im wesentlichen liturgisch und theologisch bestimmt und stellen das bildliche Äquivalent einer Glosse zur Bedeutung der visionären Erfahrungen des Johannes dar. Da wir nicht über genügend Platz verfügen, um alle 30 dem Johannes gewidmeten Initialen zu untersuchen, sollten wir uns wenigstens mit den drei wichtigsten detailliert auseinandersetzen: erstens mit der Initiale / für den Vers In media ecclesie (Abb. 7), der das Fest auf Johannes eröffnet, zweitens mit der Initiale V, mit der die Sequenz zu Ehren des Johannes beginnt (Abb. 10-11), und drittens mit dem kleinen Illustrationszyklus am Ende seines Festes (Abb. 22-23), der an seine Aufnahme in den Himmel erinnern soll. Die erste dieser Initialen (Abb. 7-9), die die Liturgie zum Fest des Johannes eröffnet, verrät die besondere Bedeutung von Leben und Botschaft des Evangelisten. Die Initiale illustriert eine Paraphrase aus Jesus Sirach (15,5): »Und inmitten der Gemeinde wird sie [die Weisheit] seinen Mund eröffnen, ihn erfüllen mit dem Geist der Weisheit und Erkenntnis und ihn mit dem Kleide der Herrlichkeit bekleiden.« Diese Passage wurde von Thomas von Aquin benutzt, um den Status des Evangelisten als Verkörperung der vita contemplativa und ihren Vorrang vor der durch Petrus verkörperten vita activa herauszustellen. 21

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dettmi nisi prius fieret deus. Nach KURT RUH, Johannes Scotus Eriugena deutsch, ZfdA l\7 (1988), S. 24-31, existiert kein Nachweis für eine mittelhochdeutsche Übersetzung der Predigt. Zu einer neuentdeckten Teilübersetzung um 1300 s. jedoch HAMBURGER, St. John the Divine [Anm. 5], S. 213-229. GERALD BONNER, Augustine's Conception of Deification, Journal of Theological Studies N.S. 37 (1986), S. 369-385. Vgl. 2. B. ALAIN DE LIBERA, Eckhart, Suso, Tauler et la divinisation de 3'homme, Paris 1996, S. 19-30. Vgl. SHERRY L. REAMES, The Legenda Aurea. A Reexamination of Its Paradoxical History, Madison, Wisconsin 1985, u. BARBARA FLEITH, Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda Aurea (Subsidia Hagiographica 72), Brüssel 1991. WEHRLI-JOHNS [Anm. 5], S. 259f.

Abb./ Abb. 10-11 Abb. 22-23 Abb. 7-9

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Das Thema der kontemplativen Vision wird in den übrigen Initialen aufgegriffen und ausgearbeitet. Mit ihrem Format erinnert die Initiale an die In princi/>io-Initialen für das Buch Genesis in gotischen Bibeln. Das »In principio« des Buches Genesis wird visuell mit dem In principio des Johannes verbunden und so eine verbindende Einheit des Alten und des Neuen Testaments hergestellt. Von unten nach oben gelesen, begleiten ehe Medaillons den Aufstieg zur unmittelbaren Gottesschau der Seligen im Himmel.22 Von diesen Medaillons hat Abb. s sich das erste (Abb. 8) bisher allen Interpretationsversuchen entzogen, obwohl es doch den Schlüssel zu einem großen Teil des folgenden Programms darstellt. Das Medaillon zeigt einen Adler hoch auf einem Baum mit einem Schriftband, das mit In principio erat verbum beschrieben ist. Links des Baumes sieht man einen zweiten Adler und rechts eine sitzende Figur mit einem Heiligenschein, die nach oben deutet. Unglücklicherweise sind die Schriftbänder, die vom zweiten Adler und von dem Mann gehalten werden, unlesbar geworden. Der Adler ist selbstverständlich Symbol und Attribut des Evangelisten Johannes. In ihrem Kommentar zum Faksimile vermutet ELLEN BEER, daß diese rätselhafte Szene eine moralische Interpretation des Adlers illustriert, die in der >Legenda aurea< begegnet.23 Auf die Frage, warum er seinen Bogen lockere, erklärt ein Jüngling Johannes: >»Würd ich ihn länger spannen, so würde er zu schwach zum Schießen.< Da sprach der Apostel: >Also geschähe menschlicher Schwachheit, wenn sie immer in Gottes Anschauen wollte verharren, und nicht bisweilen dem gebrechlichen Leibe Ruhe vergönnte. Fliegt auch der Adler höher denn alle Vögel und schaut in die Sonne mit lichten Augen, so muß er doch unterweilen von Schwachheit der Natur sich zur Erde senken; also kehrt auch der menschliche Geist, so er bisweilen ausruht von der Betrachtung, mit neuem Feuer zum Himmel hinauf.« 24 Es gibt jedoch in dem Medaillon keine zwingende Verbindung mit diesem erbaulichen Exemplum. Das sowohl dem Medaillon als auch der ganzen Initiale zugrundeliegende Thema ist contemplation also Andacht. Der Baum im Zentrum 22

Ebd., S. 260. BEER [Anm. 6], S. 127. Die Erzählung stammt aus den apokryphen >Akten Johanni*, einem syrischen Text des 2. Jahrhunderts; vgL The Apochrypha! New Testament being the Apochryphäl Gospels, Acts, Epistles, and Apocalypses with other Narratives and Fragments, hg. und übersetzt von MONTAGUE RHODES JAMES, Oxford 1924, S. 241. 24 Jacobi a Voragine Legenda aurea vylgo Historia Lombardica dicta ad optimorum librorum fidem recensuit, hg. von JOHANN GEORG THEODOR GRAESSE, 3. Aufl. Breslau 1890 (Nachdr. Osnabrück 1969), S. 61: [...] quia, si dmtitts tenstts teneretur, adfacienda jac^la infirmior redderetur. Et apostultis ad hoc: sic et bumana fragihtas ad contemplationem minus valida fieret, si semper in SHO rigore persistens fragilitati suae tnterdnm condescendere recusaret, Nam et aquila cunctis avibus Celsius volat et solem claries conspictt et tarnen naturae necessitate ad ima descendit: sic et bnmanus a,nimm> cum se modicum a contemplatione retrahit, crebra innovatione ardentws ad coelestta tendit. Übersetzung nach: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine aus dern Lateinischen übersetzt von RICHARD BENZ, Heidelberg 101984, S. 71. 23

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ist die Zeder Libanons, welche bei Ezechiel (Ez 17,3-10) mit zwei großen Adlern in Verbindung gebracht wird, genauso wie sie auch m der Initiale erscheinen:25 »Ein großer Adler mit großen Flügeln und langen Fittichen und vollen Schwingen, die bunt waren, kam auf den Libanon und nahm hinweg den Wipfel einer Zeder und brach die Spitze ab und führte sie ins Krämerland und setzte sie in die Händlerstadt. [...] Und es wuchs und wurde ein ausgebreiteter Weinstock mit niedengem Stamm; denn seine Ranken bogen sich zu ihm, und seine Wurzeln blieben unter ihm; und so wurde es ein Weinstock, der Schößlinge hervortrieb und Zweige. Da kam ein anderer großer Adler mit großen Flügeln und starken Schwingen, Und siehe, der Weinstock bog seine Wurzeln zu diesem Adler hin und streckte seine Ranken ihm entgegen: der Adler sollte ihm mehr Wasser geben als das Beet, in das er gepflanzt war.«

Ezechiels Vision ist rätselhaft; er selbst bezeichnet sie als »Rätsel« (enigma) und »Gleichnisse« (parabola} (Ez 17,2). Die Antwort erfolgt in der Form einer Prophezeiung, die den Bund betrifft (Ez 17,12-24) und in welcher Gott dem Propheten eröffnet, daß er selbst der zweite Adler sei: »Und alle Bäume auf dem Felde sollen erkennen, daß ich der Herr bin: Ich erniedrige den hohen Baum und erhöhe den niedrigen; ich lasse den grünen Baum verdorren, und den dürren Baum lasse ich grünen« (Ez 17,24). Kommentare zu dieser Stelle nutzen den Kontrast zwischen dem grünen Baum, der verdorrt, und dem dürren Baum, der grünt, um die typologische Opposition zwischen Synagoge und Kirche zu charakterisieren. 26 Die Bilder des Graduale haben jedoch fast keinen Bezug auf die Baummetaphorik aus Ezechiel 17. Um die Prophezeiung mit Johannes in Verbindung zu bringen, konzentrierten sich die Illustratoren des Graduale statt dessen auf das Bild des Adlers. So deutet der Weinstock, der »Zweige gewinnt und Früchte bringt und ein herrlicher Zedernbaum wird« (Ez 17,23) auf den Messias, der sein Königreich in Jerusalem errichten soll. Im Graduale dient das Medaillon, das Ezechiel 17 illustriert, als Wurzel oder Fundament für den großen Stamm der Initiale, die sich über ihm erhebt und — wie die Heilsgeschichte - in der Person Christi gipfelt. Der Adler in der Spitze ist der große Adler, der den Wipfel der Zeder abbricht und ißt. Der Adler auf der unteren linken Seite ist der zweite, zu dem der Weinstock seine Wurzeln streckt. Mit ihm ist Christus gerneint. Die Figur mit dem Heiligenschein rechts ist dann nicht Johannes, sondern Ezechiel, dessen Anwesenheit die ganze Initiale indirekt als Rätsel herausstellt, das die gespannte Aufmerksamkeit des Betrachters fordert. Die emporsteigenden Ranken, die sich 25

WEHRLI-JOHNS [Anm. 5], S. 260, identifiziert den Baum mit der Zeder Libanons, ohne jedoch die Verbindung zu Ezechiel 17 zu ziehen. 2 * LOTTLISA BEHLING, Ecdesta als arbor bona. Zum Sinngehalt einiger Pflanzendarstellungen des 12, und frühen 13. Jahrhunderts, Zeitschrift für Kunstwissenschaft 13 (1959), S. 139-154; HELENE TOUBERT, Une fresque de San Pedro de Sorpe (Catalogne) et le theme iconographique de YArbor Bona-Ecclesia, Arbor Mala-Synagoga, Cahiers Archeologiques 19 (1969), S. 167-189.

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auf beiden Seiten des mittleren Medaillons ringeln, schließen zwei Nonnen und zwei weltliche Stifter ein. Die Ranken sind nicht einfach dekorative Verlängerungen der Initiale, sondern weiten deren Bedeutung auch aus. Sie repräsentieren den Paradiesbaum, auf den Gott bei seiner Erläuterung des Baums Bezug nimmt: »[...] so daß Vögel aller Art in ihm wohnen und alles, was fliegt, im Schatten seiner Zweige bleiben kann« (Ez 17,23). So beinhaltet schon ganz am Anfang die Illustration zürn Fest des Evangelisten das Versprechen zur Rückkehr in das Paradies, geschildert in den Medaillons der Initiale durch einen Aufstieg zu Gottes Majestät. Die Illustration von Ezechiel 17 im Graduale von Katharinenthal scheint einzigartig zu sein. Die Dominikaner, die die Illurmnierung in Auftrag gaben, waren jedoch nicht die einzigen, die den Adler des Alten Testaments mit dem Visionär und Evangelisten Johannes verbanden. Mit derselben Passage beginnt Meister Eckharts Kommentar zum Johannesevangehum, ein Eckstein seines >Opus tripartitum«, das er an der Pariser Universität 1301-1302 schrieb, das heißt vermutlich ein Jahrzehnt vor der Entstehung des Graduale.27 Eckhart beginnt seinen Kommentar mit der Identifizierung des ersten Adlers, der das Mark des Baums ißt, mit Johannes: »>Er [Johannes Evangelista] kam zum Libanon, trug das Mark der Zeder davon, riß den Wipfel ihres Laubes ab und brachte ihn in das Land Kanaans indem er das Wort im Schöße des Vaters selbst in sich aufnahm und den Erdenbewohnern kundtat mit den Worten: >im Anfang war das Wort.< >Er überragt ja die anderen Evangelisten an Tiefe der göttlichen Geheimnisses wie Augustin sagt. Und >im Bilde der vier lebenden Wesen wird er mit dem Adler verglichen, der höher fliegt als die übrigen Vögel und die Sonnenstrahlen mit ungeblendeten Augen anblickt.< Er >ruhte beim Abendmahl an der Brust des Herrn; den Trank himmlischer Weisheit genoß er im Vorrang vor den übrigen aus der Quelle selbst, der Brust des Herrn, und war darauf bedacht, die Gottheit Christi und das Geheimnis der Dreifaltigkeit uns anzuvertrauen^ Und das tut er mit diesen Worten: >im Anfang war das Wort.Opus tripartitum< vgl. KURT RUH, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, S. 72-94, der das Datum 1311-1313 angibt, und DERS., Geschichte [Anm. 15], Bd. 3, S. 290-308. Meister Eckhart. Werke, Bd. 2, hg. und übersetzt von NIKLAUS LARGIER, (Bibliothek des Mittelalters 21), Frankfurt a. M. 1993, S. 488, Z. 11-23: [...] venit ad Libanum et tulit medullam ceari. Summitatem frondmm eins avttlsit, transportavit earn in terram Cbanaan. Ezech. 17. lohannes evangelista ipse es t m ardttts ponens nidum intentionis, € & 5 et praedicationis in praeruptis silicibus atque inaccessis rupibus, lob 35, Venit ad Libanum, ttdit medullam cedri, mmmitatem frondmm eins avulsit, m terram Chanaan transportavit, dam ipsum verbum in sinn paths hanriens habitantibus in terra manifestamt dicens: in principio erat verbum.

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Das Versprechen des ersten Medaillons wird in denen erfüllt, die sich darüber befinden. Das zweite, welches eine Darstellung der Verklärung enthält, greift das Thema der Vision auf und definiert sie als einen Vorgeschmack der visio beatifica, der Gottesschau von Angesicht zu Angesicht im Himmel (Abb. 8). Abb. s Nicht nur Johannes, sondern auch Petrus und Jakobus, sehen Jesu Verklärung am Tabor, flankiert von Mose und Elias. Nach verschiedenen Szenen aus dem Leben des Johannes zeigt das siebte Medaillon einen zum Gebet knienden Johannes unter einem Tuch, welches von einem Engel gehalten wird (Abb. 9). Abb. s BEER bringt diese Szene versuchsweise mit einer Geschichte in Zusammenhang, die in der >Legenda aurea< dem Zisterzienser Helinandus zugeschrieben wird. 29 Dort findet sich mit den Äußerungen »da Johannes möchte an dem heimlichen Orte, da er sein Evangelium schreiben wollte, Regen und Wind nicht zulassen,« eine Anspielung auf den verbreiteten Glauben, daß die Rezitation des ersten Kapitels des Johannesevangeliums Stürme vertreiben könnte.30 Die Initiale bezieht sich jedoch nicht auf unfreundliches Wetter, Wenn das Medaillon einen spezifischen Text illustriert, dann bezieht es sich wohl eher auf das »Kleid der Ehre«, von dem in der im Officium verwendeten Paraphrase von Jesus Sirach die Rede ist. Allgemein gesprochen stellt es ein gattungstiftendes Element dar oder - vielleicht besser - einen Visionstyp: nämlich verhüllt im Gegensatz zur Vision von Angesicht zu Angesicht, die für das oberste Medaillon reserviert ist. Das achte Medaillon stellt die Vision der sieben Leuchter dar. Ein weiteres Mal kniet Johannes in dem neunten, dem vorletzten Medaillon, wo der Engel Johannes mit dem Befehl anweist, nicht zu knien: »Tu es nicht, denn ich bin dein und deiner Brüder, der Propheten, Mitknecht und derer, welche die Worte der Weissagung dieses Buches bewahren. Gott bete an!« Über die Engel erhoben, ist Johannes Gott am nächsten. Im zehnten, abschließenden Medaillon tut Johannes, was der Engel ihm befiehlt: Er betet Christus in seiner Herrlichkeit zusammen mit anderen Aposteln und Engeln an und hält in seinen Händen ein Spruchband, auf welchem steht: Hec est vita etema, >Das ist das ewige Leben< (Abb. 9) - ein Zitat aus dem Johannesevangelium ( Abb. 9 17,3). Zurückblickend kann das Tuch, das der Engel im siebten Medaillon hält, verallgemeinernd als Repräsentation der physischen Barriere zwischen sichtbarem und unsichtbarem Reich gesehen werden; indem Johannes sich auf die andere Seite des Tuches begibt, gelangt er zu den unsichtbaren Dingen. Genauer gesehen, stellt das Tuch jedoch den Schleier des Allerheiligsten dar. 29 30

BEER [Anm. 6}, S. 129, ADOLF FRANZ, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1909, S. 57 u. 229; KLAUS SCHREINER, Volkstümliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre. Theologische und soziale Probleme mittelalterlicher LaienfrÖmmigkeit, in: Volksreligion im hohen und späten Mitielalter, hg. von PETER DINZELBACHER/DIETER R. BAUER (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte N,F. 13), Paderborn 1990, S. 329-375, hier S. 346-349.

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Auf den folgenden Seiten stellt die Identifikation des Johannes mit Christus ein Leitmotiv der Sequenz Verbum dei deo natum (»Das Wort Gottes, aus Gott geboren«) dar.31 Illustrierte Sequenzen sind tatsächlich äußerst selten.32 Darüber hinaus ist die Sequenz auf Johannes die einzige Sequenz von insgesamt zwanzig im Graduale, die direkt in die Messe des Heiligen eingefügt wurde.33 Nur indem der Planer des Programms die Sequenz mit den anderen Texten, die bet der Feier des Festtags des Evangelisten Verwendung finden, zusammenführte, konnte er sie in ein gemeinsames Bildprogramm einschließen, Die Sequenz auf Johannes verwendet das erste Kapitel des Johannesevangeliums und feiert die Menschwerdung, indem sie Johannes als deren bedeutendsten Boten und Theologen ehrt. Das Blatt mit dem Anfangsvers der Adventsliturgie existiert nur in drei von der Handschrift getrennten Fragmenten, von denen zwei in Zürich und das dritte in Wien aufbewahrt werden.34 Eines dieser membra disiecta,^ das größte und komplizierteste, illustriert den Anfangsvers: »Das Wort Gottes, aus Gott geboren, das nicht gemacht und nicht erschaffen Abb. 10 wurde, ist vom Himmel gekommen« (Abb. 10). Über dem Anfangsvers mit der Initiale V befinden sich eine Initiale A für das Alleluia, welche eine ChnstusJohannes-Gruppe enthält, und ein Feld, in dem Johannes Seite an Seite mit dem in der Offenbarung (Apo 12,1) beschriebenen Apokalyptischen Weib steht Abb. H (Abb. 11). Die Christus-Johannes-Gruppe ist unterschieden vom zweiten ErAbb. 12 scheinen des Sujets in der Sequenz (Abb. 12), Gemäß den Versen [12a] »Das Brot der wahren Einsicht, das Abendmahl, an Christi Brust eingenommen, erschließe uns« zeigt sie Johannes auf Christi Brust ruhend. Im Gegensatz dazu wird Johannes in der Illustration der Sequenz mit Christus auf einem Regenbogen dargestellt, was an die Szene der göttlichen Majestät, die das Ad te levavt Abb. 3 illustrierte, erinnert (Abb. 3). Während der Messe spricht der Zelebrant diese Worte, indem er seine Seele zum Herrn erhebt. In diesem Fall ist es jedoch Johannes, der zu Christus emporgehoben wurde, was impliziert, daß der Zelebrant und schließlich auch alle Teilnehmer der Zeremonie sich selbst so emporgehoben und erhöht sehen sollen wie Johannes. Johannes selbst wird identifiziert mit der geweihten Hostie - eine weitere Form der Identität mit Gott. Das Bild bestätigt die Erhöhung des Evangelisten in dramatischer Weise, indem es ihn nicht wie gewöhnlich an Christi Brust schlafend darstellt, sondern vielmehr mit seinem Kopf dem Betrachter zugewandt und mit weit offenen Augen, 31 32

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Zu Text und Übersetzung der Sequenz s. den Anhang. Vgl. NANCY VAN DEUSEN, Manuscript and Milieu. Illustration in Liturgical Music Manuscripts, in: Gordon Athol Anderson (1929-1981). In Memoriam von seinen Studenten, Freunden und Kollegen (Muskoiogkal Studies 59), Henryville, Ottowa 1984, S. 71-86, hier S. 82-86. MAX LÜTOLF, Anmerkungen zum liturgischen Gesang im mittelalterlichen St. Katharinenthal, in: Das Graduale von Sankt Katharinenthal [Anm. 5], S. 235-293; hier S. 261 u. 263. BEER [Anm. 6], S. 176-178.

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seine beiden Hände zum Beten in einer Weise erhoben, die Christi Geste widerspiegelt, 35 Johannes erscheint so nicht nur als ein hochgestellter Fürbitter, sondern als eine Halbgottheit, die von ihrem mystischen Schlaf zur mit weit geöffneten Augen wahrgenommenen Gottesschau erwacht ist. Viel komplizierter als diese beiden Elemente ist das dritte ausgearbeitet, das im eigentlichen Sinne die Sequenz eröffnet. Die Initiale selbst besteht aus drei Teilen, begrenzt und geteilt durch die beiden diagonalen Schenkel des Buchstabens V (Abb. 10). Rechts unten schließt ein Engel Satan in die Hölle ein, Abb. 10 während ein anderer direkt über ihm eine Kette und einen Schlüssel hält - eine Szene, die sich auf Apo 10,1-3 bezieht. Unten links lenkt ein Engel die Aufmerksamkeit des Johannes auf die zentrale Vision, während ein anderer Engel, der unmittelbar über seinem Kopf schwebt, ein Tuch hält, eine Handlung, die sich vielleicht als das Entfernen eines Schleiers von seinen Augen interpretieren ließe. Im Zwickclfeld des V wird noch ein dritter, posauneblasender Engel den drei gekrönten Ältesten hinzugestellt, die ihre Harfen zum Lob der Ehre Gottes spielen. Die Bildkomposition wird dominiert von der Theophanie Christi in seiner Majestät, umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten. Weniger vertraut dagegen sind die Figuren, die ihn begleiten und der Szene etwas vom Charakter des Jüngsten Gerichts verleihen. Umgeben von Heiligen und Engeln halt Christus in seiner linken Hand das Buch mit sieben Siegeln, welches Johannes als vorderster der Apostel mit seiner rechten Hand ergreift, während sich ein Schriftband von seiner linken Hand entrollt. Gegenüber von Johannes, jedoch auf einem etwas niedrigeren Niveau, stützt ein thronender Engel oder eine Frau mit Flügeln die Christus umgebende Mandorla. Die Bildkomposition abrundend und eingefügt zwischen die Symbole von Markus und Lukas findet sich die kleine Figur eines Dominikaners, vermutlich des Ordenstifters Dominikus selbst. Diese unkonventionelle Majestas hat Interpreten des Graduale verwirrt. BEER zahlt die drei wichtigsten Elemente auf, die sich einer Deutung widersetzen: die Figur des Johannes an der Seite des thronenden Christus, der Engel zur Rechten Christi, der auf einem Thron sitzt, welcher wiederum auf einer Wolkenbank ruht, und schließlich der winzige Dominikus, der unter Christus kniet.36 Die Vergöttlichung jedoch ist das gemeinsame Thema, das diese nur scheinbar so disparaten Elemente miteinander verbindet. i!

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FRANK O. BÜTTNER, Imitatio pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modell der Verähnlichung, Berlin 1983, S. 176f,, folgt HANS WENTZEL, Zum Thema der schwäbischen Chrisms-Johannes-Gruppen an Hand nichtschwäbischer Beispiele, in: Beiträge zur Schwäbischen Kunstgeschichte. Fs. zum 60. Geburtstag von Werner Fleischhauer, Konstanz/Stuttgart 1964, S. 35-48, hier S. 41, wenn er diese Szene als eine Apotheose bezeichnet. BEER [Anm. 6], S. 178: »Ungeklärt in diesem Zusammenhang bleibt lediglich die Funktion des Johannes an der Seite des Thronenden, solange der Inhalt des Schriftbandes nicht entziffert werden kann. Der Hinweis auf seine Anwesenheit im franzö-

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Zunächst zu Dominikus: Der Gründer des Ordens, dem die Nonnen von St. Katharmenthal angehorten, leistet Fürbitte für diese Gemeinschaft und ihre Wohltäter, einschließlich der Stifter, die innerhalb oder neben anderen Initialen der Handschrift dargestellt sind.37 Doch die Anwesenheit des Dominikus zu Christi Füßen zeigt auch viel allgemeiner, daß die kontemplative unio, die durch die Vision des Johannes repräsentiert wird, nichts mit einem unerreichbaren Höhepunkt mystischer Erfahrung zu tun hat, sondern innerhalb der Möglichkeiten der Nonnen liegt und durch das Zelebrieren der Liturgiefeier erreicht werden kann. Die Paraphrase von Sirach 15,5, die das Fest des Evangelisten eröffnet, wurde ebenfalls in der Liturgie zum Fest des Dominikus verwendet.38 Indem dort eine Identifizierung des Dominikus mit der Weisheit stattfindet, wird in der Antiphon Dominikus mit Johannes in seiner Funktion als Evangelist m Verbindung gebracht. Die drei gekrönten Ältesten, die unterhalb des himmlischen Throns sitzen, halten Harfen und Phiolen, welches, nach Apo 5,8, »die Gebete der Heiligen« sind. Im Kontext der Feier des Festtages des Evangelisten können die fraglichen Gebete nur die des Graduale selbst sein. Und tatsächlich schließt die Sequenz mit Versen, die die Nonnen neben Johannes an Christi Brust plazieren, himmlische Weisheit von der Wunde in seiner Seite saugend [12a-b]: »Das Brot der wahren Einsicht, das Abendmahl, an Christi Brust eingenommen, erschließe uns, damit wir singen von unserem Beschützer vor dem Lamme, vor dem Throne Preislieder über die Lüfte empor.« Dadurch, daß Johannes mit der Hostie identifiziert wird und so auch mit dem Leib Christi, verleiht die Sequenz dem eucharistischen Ritus einen besonderen mystischen Tenor: Durch den Empfang der Kommunion verzehren die Nonnen mit Johannes »das Brot der wahren Einsicht«. Das wiederkehrende Bild von Verherrlichung und Fürbitte im Graduale erklärt teilweise die ungewöhnliche Vereinigung der Majestas Dornini und des Jüngsten Gerichts in der großen Initiale, die die Sequenz eröffnet. Johannes sitzt gemäß der westlichen Form der Deesis (»demütige Bitte«) zur Linken Christi. Johannes spielt hier eine aktive Rolle, wobei seine Figur die Mandorla überschneidet, während er seine Hand ausstreckt, um das Buch der sieben Siegel zu erhalten. In der Offenbarung ist es natürlich Christus, »der Löwe aus dem Stamme Juda« (Apo 5,5), der würdig ist, das Buch aufzutun. Im Graduale jedoch übernimmt Johannes diese Rolle und offenbart den Inhalt des Buchs. So wird der Evangelist nicht lediglich als Zeuge der Offenbarung dargestellt, sondern als deren Medium.

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sischen Weltgerichtsbild des 13. Jahrhunderts vermag doch wohl nur teilweise befriedigen. Nicht weniger merkwürdig ist die Präsenz des hl. Dominikus im gesamten Kontext (evtl. als Fürbitter) oder des Engels auf dem Wolkenthron.« ANDREAS B RAM, Imitatto sanctorum. Überlegungen zur Stifterdarstellung im Graduale von St, K at h ar inen thai, Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 49 (1992), S. 103-113. WEHRLI-JOHNS [Anm. 5], S. 260, Anm. 73.

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Die Frau mit Flügeln zur Rechten Christi, die die Mandorla Christi mit ihrer rechten Hand stützt, ist weniger Engel, sondern viel mehr Personifizierung der Sapientia oder der Weisheit, die in Sprüchen 8,22-23 erklärt: »Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.« Darstellungen der Weisheit mit Flügeln sind sonst im Westen unbekannt. Sie treten allerdings in der byzantinischen Kunst auf. 39 Im westlichen Mittelalter wurde die Sapientia normalerweise mit Ekklesia oder Christus selbst identifiziert. 40 Im Graduate jedoch besitzt die Weisheit einen eigenen Thron. Die einzige vergleichbare Figur in der Kunst des Mitteialters ist die Figur der Weisheit im Stammheimer Missale aus dem 12. Jahrhundert: eine gekrönte Frau, die wie ihr Gegenstück im Graduale, die Majestät Christi stützt (Abb. 13}.41 Im Graduaie Abb. 13 sitzt die Weisheit jedoch und steht nicht. Ihr Thron hat die Form eines Faltstuhls, der von den tragbaren Thronen der Römischen Kaiser abstammt. Zur Identifizierung der geflügelten Frau als Weisheit trägt auch ein dünner Wolkenstreifen unter ihrem Thron bei, nämlich der »Thron auf den Wolken«, auf den sich die Weisheit selbst in Jesus Sirach 24,6-7 bezieht; »Mein Zelt war in der Höhe und mein Thron auf den Wolken.« Der vorausgehende Abschnitt (Sir 24,1-4) erläutert den Platz der Weisheit unter den himmlischen Herrscharen: »Die Weisheit preist sich selbst, und unter dem Volk rühmt sie sich. Sie tut ihren Mund auf in der Gemeinde der Höchsten und lobt sich vor seinem himmlischen Heer.« Gemäß Sirach 24,12, wo es heißt: »Da gebot mir der Schöpfer aller Dinge, und der mich geschaffen, gab mir eine bleibende Wohnung.« Die Initiale zeigt die Weisheit als Begleiterin Christi für alle Ewigkeit im AllerheiHgsten zu seiner Rechten, wobei sie ihn ehrt und buchstäblich seine Glorie stützt. 39

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URSULA MIELKE, Sapientia, LCI IV, Sp. 39—43. Vgl. YVES CHRISTE, Et vidi seäes et seder unt super eas et indicium datum est illi: Sur quelques figures trönantes en complement du Jugement dernier au Xlle-XIIIe siede, in: De l'art comme mystagogie. Iconographie du Jugement dernier et du ftn derniere ä l'epoque gothique. Actes du Colloque de la Fondation Hardt tenu a Geneve du 13 au 16 fevrier 1994, Poitiers 1996, S.155-166. NEWMAN [Anm. 9], S, 42-88. Zu Maria als sedes sapientiae vgl. ILENE FORSYTH, The Throne of Wisdom. Wood Sculptures of the Madonna m Romanesque France, Princeton 1972. Vgl. auch MARIE-THERESE D'ALVERNY, Etudes sur le symbolisme de la Sagesse et sur l'iconographie, hg. von CHARLES BURNETT, Vorwort von PETER DRONKE, Aldershot 1993; FRANZ RONIG, Der thronende Christus mit Kelch und Hostie zwischen Ekklesia und Synagoge. Ikonographische Überlegungen zu einer Miniatur der Handschrift No. 407 des Trierer Bistumsarchivs, Archiv für mittelrheinische Kirchcngeschichte 15 (1963), S. 391^03, hier S. 396f. Vgl. NEWMAN [Anm, 9], S. 58 u. Abb. 1; STEPHAN BEISSEL, Ein Missale aus Hildesheim und die Anfänge der Armenbibel, Zeitschrift für christliche Kunst 15 (1902), Sp. 265274; ANNE K. MENKE, The Raimann Sacramentary and the Stammheim Missal. Two Romanesque Manuscripts from St. Michael's at Hildesheim, Ann Arbor 1987 [Mikrofilm], u. Handschriften und Miniaturen aus dem deutschen Sprachgebiet, Dr. Jörn Günther Antiquariat, Katalog 5, Hamburg 1997, Kat. no. 3, S. 22-39.

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Obwohl die Ikonographie des Graduale ungewöhnlich und in mancher Beziehung einzigartig ist, ist sie doch nicht beispiellos. Die Weisheit erscheint als eine thronende weibliche Figur mit ihren Füßen auf einer Wolkenbank ruhend auf einer vergoldeten gravierten Schale, die vermutlich beim Taufritus VerwenAbb. 14-is düng fand und sich nun im Domschatz von Xanten befindet (Abb, 14-15).42 Auf diesem Gefäß des 12. Jahrhunderts erkennt man die thronende Weisheit, umgeben von Personifikationen der sieben Gaben des Heiligen Geistes, der einer Prophezeiung des Jesaja zufolge (Is 11,2) »auf ihm [dem Messias, also Christus] ruhen wird« - so die christlichen Kommentatoren. Von diesen Gaben ist die vorderste »der Geist der Weisheit«, Wie im Graduale ruhen die Füße der Weisheit auf einer Wolkenbank, die mit einer Inschrift aus Jesus Sirach 24,6 gedeutet wird: »Mein Zelt war in der Höhe und mein Thron auf den Wolken.« Die Wolken nehmen die Form zweier sich überschneidender Halbkreise an, ähnlich wie kleine Hügel, die m den Fuß des Throns eingefügt sind. Christliche Exegeten interpretieren den erhöhten Thron als eine Bezugnahme auf die göttliche Natur Christi, die Wolke dagegen als eine Anspielung auf seine menschliche Natur. 43 Zur Rechten und Linken der Weisheit stehen Johannes und Paulus, Johannes deutet auf die Weisheit; auf seinem Schriftband steht ein Zitat von 1,15: »Und von seiner Fülle haben wir alle genommen, Gnade um Gnade.« Und auf dem Schriftband des Paulus liest man: »O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes« (Rrn 11,33). Wie Johannes im Graduale verkündigen hier die beiden Apostel nicht nur die Weisheit in Christus, sondern werden selbst zu ihrer lebendigen Verkörperung. Wie bereits durch die Bilddarstellung auf der Xantener Taufschale impliziert, wurde Johannes eine besonders enge Beziehung zur Weisheit, die Christus selbst ist, zugeschrieben. Nachdem er die Weisheit beim Abendmahl eingesogen hatte, verkündete er sie in seinem Evangelium und in den in der Offenbarung aufgezeichneten Visionen. Diese offensichtliche Rolle des Johannes als Verkörperung und Sprachrohr der Weisheit zeigen auch die Worte, die die Liturgie seines Festtags eröffnen: »Und inmitten der Gemeinde wird sie [die Weisheit] seinen Mund öffnen, ihn erfüllen mit dem Geiste der Weisheit und Erkenntnis und ihn mit dem Kleide der Herrlichkeit bekleiden« (vgl. Sir 15,5). Die Initiale, die die Sequenz Verbitm dei deo natum eröffnet, zeigt Johannes, in die Herrlichkeit emporgehoben und erfüllt von der Weisheit, die Christus selbst ist. Abb. 16 Andere Initialen zu dieser Sequenz unterstreichen die besondere Nähe des Johannes zu Christus (Abb. 16). Betrachten wir beispielsweise die Initiale, die Abb. i? folgende Verse einführt: »Bei jenen ersten wahren Bächen der wahren Quelle 42 4i

UDO GROTE, Der Schatz von St, Viktor. Mittelalterliche Kostbarkeiten aus dem Xantener Dom, Regensburg 1998, S. 87-94. Ebd., S. 92. Zur Bedeutung von Wolken in mittelalterlicher Kunst und Exegese vgi. ROBERT DESHMA^, The Benedictional of Aethelwold, Studies in Manuscript Illumination 9 (Princeton 1995), S, 10-17.

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raffte sich Johannes auf, der ganzen Weh den Trank zu reichen, jene heilsame Himmelsspeise, die vom Throne ausging« (Abb. 17). Das kleine Bild bezieht sich ebenfalls auf die Johannes-Offenbarung, indem es Christus auf einem Regenbogen thronend zeigt, wobei er sich allerdings zu Johannes neigt. Johannes erhebt seine Hände zum Gebet und ahmt Christi Segensgeste nach. Der goldene Steg, der Christus mit Johannes verbindet, steht für den Fluß der Gnade von Christus zu seinem Jünger.44 Dieser goldene Nektar, der von Christus zu Johannes fließt, hat eine doppelte Bedeutung. In seinem eher buchstäblichen Sinn steht er für die Eucharistie, die lebensschenkende Nahrung, »[die] ausgeht von dem Throne Gottes und des Lammes« (Apo 22,l).45 Doch er steht auch für die überirdischen Geheimnisse, die Johannes in seiner Funktion als archetypischem Theologen offenbart wurden, 46 Die wiederholte Bezugnahme der Sequenz auf die Eucharistie führt die Metaphorik des Spiegeins aus, die die Sequenz und die ihr zugrunde hegende Theologie durchdringt. Der Definition nach ist die Eucharistie das wahre Bild Christi, auch wenn ihr Wesen hinter der Form von Brot und Wein verborgen bleibt. Indem sie sowohl Johannes als auch die Weisheit als vollkommene Widerspiegelungen von Gottes Majestät charakterisiert, identifiziert die Sequenz den Evangelisten mit der Weisheit selbst. Ais der keusche und jungfräuliche Apostel ist Johannes tatsächlich ein speculum sine macula Dei maiestatis, »ein fleckenloser Spiegel des göttlichen Wirkens« (Sap 7,26). Seine Identifizierung mit der Weisheit trägt auch teilweise zu seiner weiblichen Erscheinung in der ChristusJohannes-Gruppe bei (Abb. 1). Beide Figuren sind androgyn: Als der Bräutigam Abb. i des Hohenlieds Salomonis umarmt Christus seine jungfräuliche Braut Johannes und hält dessen Hand wie in einer Trauzeremonie. Gleichzeitig nimmt Johannes die Weisheit in der Person Christi zur Braut und trinkt von ihrer, also der Weisheit, Brust, wie man in einem liturgischen Text des Breviers zum Fest des Evangelisten liest: De Dominid pectoris fönte potavit, »Er trank von der Quelle der Brust des Herrn«. In der Christus-Johannes-Gruppe weitet sich die durch die Anordnung der beiden Figuren implizite Metaphonk des Spiegeins auf die Betrachterinnen, die Nonnen, aus, die sich an Johannes orientieren sollen, indem sie die Weisheit von Christi Brust trinken. 44

BEER [Anm. 6], S. 131, interpretiert den goldenen Steg als einen »Strahl der Liebe«. EWALD M. VETTER, Die Kupferstiche zur Psalmodia Eucharistica des Melchor Prieto von 1622 (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 11/15), Münster 1972. Zu Johannes Evangelists als Fluß oder Trichter für das lebende Wasser der Apokalypse s. ANNETTE VOLFING, The Authorship of John the Evangelist as Presented in Medieval German Sermons and >Meisterliedergeistigen Betrachten (speculator spintalis). Das Wort speculator {dem dieselbe Wurzel zugrunde liegt wie speculum, also >Spiegelfleckenlosen Spiegel des göttlichen WirkensDu Siegel der Ebenbildlichkeit, voll Abb. 19 von Weisheit< (Abb. 19), Bei Ezechiei ist diese Passage Teil der Verdammung des Königs von Tyrus. Mit einem Widerhall der Auffassung, daß alle Menschen nach Gottes'Bild geschaffen "wurden, dem biblischen Grundstein der Lehre von der Vergöttlichung, erklärt der Prophet: »Du warst ein glänzender, schirmender Cherub [...]. Du warst ohne Tadel in deinem Tun von dem Tage an, als du geschaffen wurdest, bis an dir Missetat gefunden wurde« (Ez 28,14f.). Im Graduale beziehen sich diese Worte jedoch auf Johannes. Aus ihrem Kontext gelöst, drückt die Passage die Idee von der Vergöttlichung aus, gefördert vielleicht noch durch die von Ezechiel 18,13 abhängige Beschreibung der in der Offenbarung beschriebenen Edelsteine, die das Himmlische Jerusalem schmücken. Bei Ezechiel heißt es: »In Eden warst du, im Garten Gottes, geschmückt mit Edelsteinen jeder Art« (Ez 18,13). Im Graduale wird durch die Kombination von Weisheit und Johannes gleich zu Anfang Johannes als das vollkommene EbenVgl. BEER [Anm. 6], S. 132 u. 135.

Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit

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bild der Weisheit dargestellt und als das Siegel, in welchem dieses Ebenbild Form annimmt. So ist Johannes nicht länger ein Spiegelbild, sondern wird zum Bild, das der Spiegel wiederum reflektiert. Die Metaphorik der Vergöttlichung erreicht ihren Höhepunkt in einer Initiale, die die Verse [9a] illustriert, welche selbst von einem ungehinderten Aufstieg sprechen: »Er fliegt als Vogel ohne Grenze, so daß weder ein Seher noch ein Prophet höher hinauf geflogen sind« (Abb. 20). Johannes sitzt mit erhobenen Abb. 20 Händen auf einem Regenbogen wie Christus beim Letzten Gericht. Die Figur konnte nicht für Christus mit der Taube des Heiligen Geistes oder mit dem Adler des Johannes auf seinem Schoß gehalten werden, da die kennzeichnenden Stigmata, die sonst die erhobenen Hände des Heilands markieren, fehlen, Johannes erscheint in ähnlicher Gestalt vor dem Prolog zu seinem Evangelium in einer Bibel des frühen 14. Jahrhunderts, die für einen Zisterzienserinnenkonvent im Bodenseeraum angefertigt wurde (Abb. 21}.4S Die Sequenz führt die Auser- Abb. 21 wähltheit des Johannes auf seine Jungfräulichkeit zurück [9b]: »Nie sah so viele Geheimnisse ein reiner Mensch in reinerer Weise«. Die folgende Strophe [lOa/b] erklärt die Anwesenheit des Adlers: »Der Bräutigam, angetan mit rotem Gewand, zwar gesehen, aber nicht verstanden, hat, urn das Geheimnis darzulegen, den Adler Ezechiels der Braut geschickt, die vom Himmel in ihr Haus zurückkehrt«. Johannes offenbart nicht nur die im Alten Testament umrissenen Geheimnisse, sondern er ist die Verkörperung der Prophezeiung des Ezechiel: »Du Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit«. Nirgends ist die vollkommene Ähnlichkeit des Johannes mit Christus offensichtlicher als auf der sein Fest abschließenden Seite des Graduate, wo er wie Ezechiel am Ende seines Lebens in den Himmel fährt (Abb. 22-23).49 Zwei Abb. 22-23 Initialen verschmelzen hier zu einem Bildfeld, das die ganze Seite dominiert, nämlich als erste die Initiale / für die Antiphon »Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum«, und unmittelbar darunter, die Initiale E für die Lesung aus 21,23: »Da kam unter den Brüdern die Rede auf. Dieser Jünger stirbt nicht.« Die Initialen müssen natürlich gemäß der Reihenfolge der Liturgie, von oben nach unten, folgen. Die Erzählung dagegen, die sie enthalten, verläuft in der entgegengesetzten Richtung, von unten nach oben. Diese Inversion ermöglicht es, daß die Szenen auf ihrem Höhepunkt, dem höchsten Punkt der Seite, auf die 48

49

ELLEN J. BEER, Ein Beitrag zur Buchmalerei des Bodenseeraumes, Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 33 (1976), S. 250-267. VgL ERIC JUNO D/JE AN-DANIEL KAESTLI, L'Histoire des Actes apochryphes des Apotres du Ille au IX siecle, Le cas des Actes de Jean, Cahiers de 3a Revue de Theologie er de Philosophie 7 (1982), S. 9-12; RICHARD A. LIPSIUS, Die Apokryphen Apostel-Geschichten und Apostellegenden, Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte und zu einer zusammenfassenden Darstellung der Neutestamentlichen Apokryphen, Bd. l, Brauschweig 1883-1890, Nachdr, Amsterdam 1976, S. 348-542; The Apochryphal Acts of John, hg. von JAN N. BREMMER (Studies on the Apochryphal Acts of the Apostles 1), Kämpen 1995.

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Initiale / zulaufen, wo die glorreiche Aufnahme des Johannes in den Himmel dargestellt ist. In erzählerischer, wenn nicht sogar darstellerischer Abfolge bestimmt die erste Seite das untere Feld der Initiale E im unteren Bereich der Seite: Christus spricht zu Johannes, der vor den anderen Aposteln steht. Im Unterschied zu den anderen ist Johannes' Heiligenschein mit weißen Punkten verziert, die Perlen imitieren, Symbole für Reinheit, Jungfräulichkeit und Unverdorbenheit.50 Christus ruft Johannes, seine jungfräuliche Braut, mit Worten, die an das Hohelied erinnern: Veni dilecte, >Komm, Auserwählten. Gleichzeitig deutet er empor, urn der Leserin zu verstehen zu geben, daß auch sie die Seite entlang nach oben schauen muß, wenn sie der Fahrt des Johannes himmelwärts folgen will. Die Szene stimmt mit einer Geschichte überein, die in der >Legenda aurea< berichtet wird: »Da aber Sanct Johannes im neunundneunzigsten Jahre seines Alters war, [...] da erschien ihm der Herr mit seinen Jüngern und sprach >Komm nun, mein Ausenvählter, zu mir, es ist Zeit, daß du an meinem Tische mit deinen Brüdern gespeiset werdest.< Da stund Johannes auf und wollte kommen. Aber der Herr sprach: >Am Sonntage sollst du zu mir kommen.Herr Jesu Christe, siehe, ich komme und danke dir, daß du mich gewürdigt hast zu deinem Tische: denn du weißt, daß ich dein von ganzem Herzen habe begehrt.« Als er dies Gebet vollbracht hatte, da erschien ein großes Licht um ihn, daß ihn niemand mehr sehen mochte. Und da das Licht verschwand, sah man das Grab voll Hirnmelbrotes; das wächst noch heutigen Tages dort und wallet auf des Grabes Grund, wie feiner Sand in einem Wasserquell«.52 i0

51

52

FRIEDRICH OHLY, Die Geburt der Perle aus dem Blitz, in: Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie, gewidmet Blanka Horacek zum 60, Geburtstag, hg. von ALFRED EBENBAUER [u. a.] (Philologica Gcrmanica 1), Stuttgart 1974, S. 263-278, nachgedruckt in: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 293-311. Jacobi a Voragine Legenda aurea [Anm. 24], S. 61: Cum igitur esset nonaginta octo annorum [,,.] apparuit ei dominus cum discipulis suis dtcens: veni dilecte mi ad me, qitia tempus est, ut in mensa mea cum tms /ratribus epuleris. Surgens autem Johannes coepit ire. Cui dominus; domimca die ad me venies. Übersetzung nach BENZ [Anm. 24], S. 72. Jacobi a Voragine Legenda aurea [Anm. 24], S. 61 f.: Veniente igitur dominica universus

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Von den vier Medaillons der Initiale /, die diesen Zyklus krönen, sind nur das zweite und das dritte direkte Illustrationen des Texts.55 Im Gegensatz hierzu zeigen das erste und das vierte Medaillon, wie Johannes im Triumph in den Himmel aufsteigt, um seinen rechtmäßigen Platz nehen Christus und der Jungfrau Maria einzunehmen. Im vierten und abschließenden Medaillon, dem Höhepunkt des ganzen Zyklus, ist eine außergewöhnliche Verherrlichung dargestellt. Zwischen Christus und Maria, welche die Wolke halten, die ihn umgibt, steigt der Evangelist in den Himmel auf, gefolgt von seinem Adler und preisenden Engeln. Die strukturellen Parallelen zwischen dem ersten und dem vierten Medaillon weisen darauf hin, daß es der Körper des Johannes ist, der in den Himmel aufgenommen wird, indem sie eine wesentliche Kontinuität des Zustands seines Körpers vor und nach seinem Verschwinden implizieren. Die >Legenda aurea< berichtet nicht direkt vom Tod des Johannes, sondern nur von seinem Verschwinden und richtet sich so buchstabengetreu nach dem Evangeliumstext. Nicht ausgesprochen wird dagegen, daß Johannes verschwindet, ohne zu sterben, um so die Wiederkunft Christi zu erwarten. Der Gestalter des Graduale dagegen griff nicht auf solche Taschenspielertricks zurück. Alle Vorsicht beiseite lassend, zeigte er, wie Johannes als Unsterblicher in den Himmel steigt nicht anders als Maria oder Christus bei der Himmelfahrt. Mit dem Abschluß des Zyklus ist die Wandlung des Johannes in eine christusgleiche Gestalt vollzogen. Die Illustrationen zum Fest von Johannes dem Evangelisten im Graduale von St. Katharinenthal zeugen von dem intellektuellen Ehrgeiz und den spirituellen Bestrebungen der Gemeinschaft. Der Zyklus demonstriert jedoch nicht nur die Komplexität, sondern auch die innere Kohärenz des Kults und enthält die Wechselwirkung, ja sogar die gegenseitige Durchdringung von Liturgie, Theologie und Andachtspraxis, Der Evangelist wird vorgestellt als die exemplarische Verkörperung einer Form der transzendentalen Vision, die auf der Doktrin der imago dei basiert - der Vorstellung, daß die nach Gottes Ebenbild geschaffene Menschheit in dieser ursprünglichen Ähnlichkeit wiederhergestellt werden kann. In dem Graduale wird dieser Vorgang sowohl erklärt als auch aufgeführt durch die Metaphorik von Spiegelung und Ähnlichkeit, die in den Schriften des populus convenit in ecdesia, quae fuerat ipsws nomine fabricata, Qtti a primo pullorum cantu praedicavit nsdem, hortans eos, ut in fide essent stabiles et in mandatis Dei fententes essent. Ebd., S. 62: Post hoc foveam quadratam juxta altare feat fieri et terram extra ecdesiam jactan descendensqm in foveam expansis ad Deum mambus dixit: invitatus ad convivium tmtm, domine Jesu Cbriste, ecce venio gratias agens, quia dignatus es me ad tuas epulas invitare, sciens, quod ex toto corde meo desideravi te. Cumqne orationem firnisset, tanta lux super eum emicmt, qaod nullus eum respicere potuit. Recedente autem lumine manna fovea plena invenitur, quod in loco ilio usque hodie generator, tta Ht in fando foveae instar mmutae arenae scAtiirire videatur sicttt in fontibus fieri consuevit. Übersetzung nach BENZ [Anm. 24], S, 72, 55 BEER [Anm. 6], S. 141.

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Johannes dargelegt sind. Die Illustrationen des Graduale konstruieren eine Theorie des Bildes durch Bilder, wodurch die Handschrift zur Reflexion führen sollte. »Im Anfang war das Wort«, so steht es im Johannesevangelium ( 1,1). Dazu antworten die Illustrationen des Graduale, daß der Weg zum Wort durch Johannes als Spiegelbild Christi zu finden ist: Johannes als »Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit«.

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Anhang

Verbum dei deo natum54 la

Verbum dei, deo natum, Das Wort Gottes, aus Gott geboren, quod nee factum, nee creatum das nicht gemacht und nicht erschaffen wurde, venit de celestibus, ist vom Himmel gekommen.

lb

Hoc vidit, hoc attrectavit, hoc de celo reseravit Johannes horninibus.

Gesehen und an sich gezogen und aus dem Himmel befreit hat es Johannes für die Menschen.

2a

Inter illos primitives veros veri fontis rivos Johannes exiluit,

Bei jenen ersten wahren Bächen der wahren Quelle raffte sich Johannes auf,

2b

Toti mundo propinare nectar illud salutare, quod de throno prodiit.

der ganzen Welt den Trank zu reichen, jene heilsame Himmelsspeise, die vom Throne ausging.

3a

Celum transit veri rotam solis ibi videt totam mentis figens aciem,

Er überstieg den Himmel, das Rad der wahren Sonne sah er dort ganz, weil er seinen Geist fest darauf richtete,

3b

Speculator spiritalis quasi Seraphim sub aus dei videns faciem.

und dabei als geistiger Betrachter wie die Seraphim unter ihren Flügeln das Antlitz Gottes sah.

4a

Audit in giro sedis quid psallant curn citharedis quater sem proceres.

Er hört rundum, durch die Jahrhunderte, was in Begleitung der Zitherspieler singen die vier mal sechs Altesten.

4b

De sigillo trinttatis, nostre nummo eivitatis impressit characteres.

Vom Siegel der Dreieinigkeit auf die Münze unseres Staates drückte er das Bildnis ein.

54

Text mit der Übersetzung von P, RUPERT RUHSTALLER OSB mit Erlaubnis des Faksimile Verlags, Luzern, nach: MAX LÜTOLF, Anmerkungen zum liturgischen Gesang im mittelalterlichen St. Katharinenthal, in; Das Graduale von Sankt Katharinenthal [Anm. 5], S. 235-294, hier S. 265-268.

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5a

Celi cui sacrarium suum Christus liHum filio tonitrui sub amoris mutui pace commendavit.

Dem das Heiligtum des Himmels, sein hhenreines, Christus als dem Donnersohn unter gegenseitigem LiebesfHeden anvertraute,

5b

Iste custos virginis arcanum origims divine mystenum, scribens evangelium, mundo demonstravit.

Er hat als Beschützer der Jungfrau das unfaßbare Geheimnis des göttlichen Ursprungs, dadurch daß er sein Evangelium schrieb, der Welt gezeigt.

oa

Haurit virus hie letale, ubi corpus virginale virtus servat fidei,

Er trinkt das tödliche Gift, wobei seinen jungfräulichen Leib die Kraft des Glaubens rettet.

6b

Pena stupet quod in pena sit Johannes sine pena bullientis olei.

Die Qual ist verblüfft, daß in der Qual Johannes ohne die Qual des siedenden Öles ist.

7a

Hie naturis imperat, ut et saxa transferal in decus gemmarum,

Infolgedessen herrscht er über die Wesen, so daß er sogar Steine verwandelt in die Zier von Juwelen.

7b

Quo iubente riguit aurum fulvum mduit virgula silvarum.

Weil er befahl, erstarrte und überzog sich mit gelbem Gold das Zweiglein aus den Wäldern.

8a

Hie mfernum reserat morti iubet referat quos venenum stravit,

Er öffnet die Unterwelt und befiehlt dem Tode, er solle zurückgeben, die das Gift niedergestreckt hat.

8b

Obstruit quod Ebion, Cerinthus et Marcion perfide latravit.

Er widerlegte, was Ebion, Cerinthus und Marcion hinterhältig gebellt haben,

9a

Volat avis sine meta quod nee vates nee propheta evolavit altius,

Er fliegt als Vogel ohne Grenze, so daß weder ein Seher noch ein Prophet höher hinaufgeflogen sind.

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9b

Tarn implentla quam impleta numquam vidit tot secreta purus homo purius.

Sowohl was sich noch erfüllen sollte als auch was sich bereits erfüllt hat: nie sah so viele Geheimnisse ein reiner Mensch in reinerer Weise.

iQa

Sponsus rubra veste tectus

Der Bräutigam, angetan mit rotem Gewand, zwar gesehen, aber nicht verstanden, hat, um das Geheimnis darzulegen,

visus sed non intellectus referre mysterium, i Ob Aquilam Ezechielis sponse misit que de cells redit ad palatium.

den Adler Ezechiels der Braut geschickt, die vom Himmel in ihr Haus zurückkehrt.

lla

Sprich, Geliebter, vom Gehebten; wie von Seiten des Geliebten der Bräutigam sei, das melde der Braut.

Die dilecte de dilecto, quails [hie] sk et ex dilecto sponsus sponse nuntia,

lib Die quis cibus angelorum, que sint festa supernorum ut sponse presentia.

Sag, was für eine Speise die Engel haben, was für Feste die Himmelsbewohner feiern, als wären sie der Braut gegenwärtig.

I2a Veri panem intellectus, cenam Christi supra pectus sumptam nobis resera;

Das Brot der wahren Einsicht, das Abendmahl, an Christi Brust eingenommen, erschließe uns,

i2b Ut cantemus de patrono, coram agno coram throno, laudes super ethera. Amen.

damit wir singen von unserem Beschützer vor dem Lamme, vor dem Throne Preislieder über die Lüfte empor. Amen.

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Abb. I: >Christus-Johannes-GruppeGraduale von St. Katharine m hals 1312 (Schweizerisches Landesmuseum, Zürich, Inv.-Nr. LM 29329a, Bl. 158va, Detail;Neg-51116).

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Abb. 12: Vert panem intellect»! (>Chrisms-Johanries-GruppeS tarn m heimer Missale«, Hiidesheim, ca. 1160 (Los Angeles, J. Paul Getty Museum, 9?.MG.21,BI. ll r ).

Siegel der Ebenbildltchkeit, voll von Weisheit

167

Abb. 14: >Sapiemia-Schäle< (Taufschale), Rheintand, 12. Jh. (Xanten, Domscharzkammer, Inv. Nr. n. Hölker: B-4).

Abb. 15: >Sapientia-Schale< (Taufschale), Rheinland, 12. Jh. (Xanten, Domschatzkammer, Inv. Nr. n. Hölker: B-4).

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«öfljDC ctttmteiur DOC imla

illos putitn U00

Abb. 16; >Graduale von St. Katharinenthal*, 1312 (Schweizerisches Landesrnuseum, Zürich, Inv.-Nr. LM 26 7, Bl. 159r; Neg-49234),

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Abb. 17: Inter tllos, >Graduale von St. KathanncnthalMelker Marienlied< aufgezeichnet wurde; den Annalenteü hat man bis ins 16. Jahrhundert fortgeführt. 4 Da durch den Brand von 1297 ein Großteil der frühen Handschriften verloren ging und Bücherlisten für diese Frühzeit fehlen, bleibt hinsichtlich des ursprünglichen Bestandes vieles im Dunkeln. Erst in neuerer Zeit konnte dank des seit 1991 laufenden Katalogisierungs-Projekts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften der Wissensstand über die Anfänge der Bibliothek entscheidend erweitert werden: Vor allem aufgrund der Auswertung der in den Einbänden des 15. Jahrhunderts verarbeiteten Fragmente und einer genaueren Untersuchung der erhaltenen Handschriften läßt sich nun für die Wende vom 12. zum 13, Jahrhundert ein Bücherbestand von mindestens 68 Bänden rekonstruieren. Aus der Zeit vor der Brandkatastrophe, also einschließlich des 13. Jahrhunderts, sind immerhin 150 Handschriften erhalten; der erste Teil des von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften her-

3

4

Vgl. CHRISTINE GLASSNER/ALOIS HAIDINGER, Die Anfänge der Melker Bibliothek. Neue Erkenntnisse zu Handschriften und Fragmenten aus der Zeit vor 1200, präsentiert im Rahmen der Sonderausstellung aus Anlaß »1000 Jahre Ostarichl·, Stift Melk 1996, S. 74-80. Vgl. ebd., S. 81-85. Siehe unten S. 184 u. Anm. 21.

Im Dialog mit Handschriften

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ausgegebenen Katalogs, der die Handschriften vor 1400 beschreibt, erfaßt immerhin 300 Melker Handschriften. 5 Hinsichtlich der Bedeutung Melks für die Überlieferung deutschsprachiger Literatur seien (neben dem >Melker Marienh'cdNibelungenliedes< aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Falz einer Melker Handschrift aus der Zeit um 1460 für großes Aufsehen.6 - Der im österreichisch-bayerischen Raum in der Mitte des 14. Jahrhunderts niedergeschriebene Codex 1547, der geistliche Kurzepik, vorwiegend des Strickers überliefert und u. a. das >Marienmirakel vom Bischof Bonus« enthält, war im Jahr 2000 im Rahmen der niederösterreichischen Landesausstellung in Melk (unter dem Thema >Die Suche nach dem verlorenen Paradies. Europäische Kultur im Spiegel der KlösterPuls der Zeit< und leistete in vielfacher Hinsicht >PionierarbeitGesprächspartner< also ihr Schreiber und Benutzer. Er hat sich uns entzogen und er ist nur über die Codices, die er einst in Händen hielt, annäherungsweise erreichbar. Der Codex, der mir vorliegt, hat eine gegenwärtige Dimension (ich kann ihn beschreiben und benutzen). Seine historische Dimension aber läßt sich nur ermitteln, indem die codikologischen Spuren >decodiert< werden. Zum Melker Codex 1865, um den es hier zunächst gehen soll, gehört beispielsweise folgende Szene aus der Vergangenheit: Ein bärtiger benediktinischer Laienbrüder nimmt gegen 1450 einen Folianten zur Hand, schlägt ihn auf und liest den anwesendenen Laienbrüdern den Satz vor: Das ewangelium get dy lain nicht an, da von ist nicht nat, das man in da von vil sag.7 Der Satz wirkt heute doppelt befremdlich: Durch die Sprache (nat für >NotEvangelium vom guten Hirten« auslegt und die deshalb die Pflichten und Aufgaben der Prediger und Priester besonders ausführlich behandelt. Hier war der Laienbruder Peuger, der die Predigten abschrieb, der Meinung: Die Auslegung dieses Evangeliums get dy lain nicht an, das heißt: sie betrifft sie nicht. Deshalb kürzte er die Ermahnungen an den Priesterstand und machte seinen Mitbrüdern nur diejenigen Teile der Predigt zugänglich, die sie seiner Meinung nach direkt betrafen. Kurz: Die Aussage stammt nicht vom Prediger Nikolaus, sondern von dem Laienbruder, der seine Predigt abschrieb. Der Fall zeigt zweierlei: Erstens belegt die Formulierung, daß der spezielle Evangelientext und seine Auslegung die Laien nichts angehe, gerade die Tatsache, daß die Handschrift als solche und als ganze für Laienbruder bestimmt war; zweitens ist erkennbar, daß ihnen die Texte in einer überarbeiteten, leichter zugänglichen und von einem der ihren speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Form präsentiert wurden. Auch in die Predigten Meister Eckharts im selben Codex hat der schreibende Laienbruder drastisch eingegriffen. So etwa, wenn er Eckharts Texte seiner eigenen Christus- und Marienfrömmigkeit anpaßt, die Passion Christi sehr viel stärker akzentuiert, oder wenn er die Texte ganz einfach auf die aktuelle Lebenssituation im Kloster bezieht.12 In Meister Eckharts berühmter Arrnutspredigt13 ist d e r wahrhaft arm, der nichts weiß, nichts will (nicht einmal Gott) und nichts hat. In Peugers Exzerpten der Predigt ist dies sehr viel einfacher und konkreter. Bei ihm werden die willigen armen schlicht aufgefordert, ms Kloster einzutreten: wann dy recht willigen armen des geists sotten m cblöstern sein vnd sollen zw der tugent chewsch und gehorsam halten.14 Eine andere Predigt, die mit Sicherheit »zum engeren Kreis um Meister Eckhart gehört«15 und die in Peugers Handschrift gar Meister Eckhan selbst zugeschrieben wird, schließt ursprünglich damit, daß in einem ausführlichen dritten Punkt das Verhältnis von göttlicher Gnade und Freiheit thematisiert wird. Dieser lange Dispositionspunkt beginn: mit dem Satz: Das dritte, das dy gnade den menschen volhringet , recbtir vryheit. Wörtlich seiner Vorlage folgt Peuger nur zu Beginn des Punktes: Das drift ist, aas die gnad den menschen an rechter freihait volpringt. Das Original der Predigt fährt fort, wer in rechter 12 n

14 15

Vgl. LÖSER, Meister Eckhart in Melk [Anm, 2], bes. S. 272-302. Neu ediert, übersetzt und interpretiert durch KURT FLASCH und GEORG STEER. Vgl. KURT FLASCH, Predigt 52: >Beati pauperes spiritus in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. von GEORG STEER/LORIS STURLESE, Stuttgart [usw.] 1998, S. 163-199. Melk, Stiftsbibliothek, cod. 705 [371/G33], f. 435". GEORG STEER, Scholastische Gnadenlehre in mittelhochdeutscher Sprache (MTU 14), München 1966, S. 19.

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Freiheit angelangt sei, der komme zur höchsten Vollkommenheit; die Predigt preist die Freiheit, denn das Himmelreich liege an rechter Freiheit. All das wird gestrichen und durch eine neue Aussage ersetzt: Für den Bearbeiter heißt Freiheit, ein gutes herz ze tragen gegen den, dy im vbels günnen. Statt der eckhartschen Theologie der Freiheit, findet sich bei dem Melker Laienbruder - der Regel seines Ordens und den Zielen der Melker Reform gemäß - im folgenden ein Lob der Demut. 16

Und wenn Eckhart sich in einem Gebet an Gott wendet, und ihn anruft: dMeister< der Laienbrüder also war für die Bibliothek und für die Ausleihe der Bücher zuständig. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Peuger diese Aufgabe wahrnahm. Um den Überblick zu behalten, hat er versucht, wenigstens die eigenen Handschriften (mehr als 25 sind heute noch erhalten) numerisch zu ordnen und in eine eigene Bibliotheksordnung einzugliedern. Dieser Ordnung, denke ich, dienten die Nummern.31 Damit haben wir bereits einen ersten Blick ins Innere der Handschriften geworfen. Nehmen wir nun ein Blatt in die Hand. Zum Beschreibstoff solcher Handschriften aus Reformklöstern läßt sich meist wenig sagen. Es handelt sich um Papier und das Interessanteste sind die Wasserzeichen, oft eine Hilfe bei der Datierung. 32 Aber das gilt ganz allgemein und ist nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich hingegen ist dies: Die Melker Handschrift 273 ist auf Pergament geschrieben. Sie stammt dabei nicht, wie die beiden erwähnten ostmitteldeutschen Bibelhandschriften, aus dem 14, Jahrhundert, sondern sie datiert aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts (aus der Zeit des Höhepunktes der Reform also) und stammt aus Melk, von Peugers Hand. Um zu verstehen, warum der kleine Codex mit seinen 78 Blättern auf Pergament geschrieben wurde, muß man den Text und die Geschichte seines Verfassers kennen. Es handelt sich um Jean Gersons >Opus tripartitum< in deutscher Sprache. HERBERT KRAUME, der die deutsche Gerson-Rezeption untersucht hat,33 hat darauf hingewiesen, daß die ältesten bekannten deutschen Gerson-Texte in Melk entstanden, daß Johan30 31

32 33

LÖSER, Meister Eckhart in Melk [Anna. 2], S. 59f. Inzwischen ist im Stift Lilienfeld durch CHRISTINE GLASSNER eine weitere solche numerierte Handschrift Peugers identifiziert worden: CHRISTINE GLASSNER, Rezension zu LÖSER, Meister Eckhart in Melk [Anm. 2], ZfdA 131 (2002), S. 117-129, hier S. 120. Zu welchen Ergebnissen man dabei gelangen kann, demonstriert für die Melker Handschriften mustergültig GLASSNER, ebd., S. 121f. HERBERT K.RACME, Die Gerson-Ubersetzung Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption (MTU 71), München 1979, hier S. 34-43.

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nes von Speyer das >Tripartitum< für die Melker Laienbrüder übersetzte und daß auch Lienhart Peuger eine andere Fassung eines Teiles des >TripartitumArs moriendi< (im Codex 1389) abgeschrieben hat.34 KRAÜME hat freilich zwei weitere Handschriften Peugers übersehen^ wobei besonders der kleine Pergamentcodex 273 zu denken gibt. Wie kommt es zu dieser starken Gerson-Rezeption und was hat es zu bedeuten, daß Peuger seine >7np#mr«mTripartitum< ist nichts anderes als der Ausdruck der Verehrung, die die Melker Laienbrüder dem großen Theologen in ihren Mauern entgegenbrachten. Abgesehen von diesem Codex bieten Aufbau und Zusammensetzung der Handschriften der Melker Laienbrüder auf den ersten Blick kaum nennenswerte Besonderheiten. In reformierten Klöstern ist es nichts Ungewöhnliches, daß man mit dem kostbaren Papier sparsam und sorgfältig umging. In der Regel bestehen die Handschriften aus Sexternionen. In Melk ist es auch die Regel, daß Laienbrüder, die schreiben konnten, auf diese Weise eigene komplette Handschriften hergestellt haben. Die Lagen sind meistens am unteren Blattrand gezählt (entweder mit Ziffern oder mit Buchstaben). Das diente dem Zweck, daß der Melker Buchbinder, vielleicht der Schlesier Nikolaus Neideke aus Berteisdorf, beim Binden die einzelnen Bestandteile richtig inemanderlegte und keinen Fehler bei der Zusammensetzung der Lagen machte. Den Beginn der einzelnen Texte hat man dann jeweils mit einzelnen ledernen Laschen im Buchschnitt markiert. Wie erwähnt, waren meist einzelne Schreiber für das Herstellen kompletter Handschriften verantwortlich. Eine nennenswerte Ausnahme bildet der Codex 677. Hier hat Lienhart Peuger das erste Faszikel (sieben Sexternionen bis Blatt 83) geschrieben. Es enthält noch einmal Gersons >Tripartitum< (27r-64v) und die »Erchantnuzz der suntDiaIogi< Gregors des Großen, der Übersetzung der Benediktregel,

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den deutschen >Proverbia Salomonis< und anderem mehr. So bietet der früh vereinte Codex 677 mit Texten Peugers, Steffan Zollners und des Melker Priors und Novizenmeisters Johannes von Speyer einen ersten Querschnitt durch die literarische Produktion der verschiedenen Arten von Schreibern und Übersetzern, die für die Laienbrüder tätig waren und zielstrebig am Zustandekommen ihrer Bibliothek arbeiteten. Laienbrüder und gebildete Mönche arbeiteten hier Hand in Hand an einem gemeinsamen Ziel. Ein Blick auf die Zusammensetzung von Handschriften kann aber auch in anderer Hinsicht interessant sein, denn er kann zeigen, wie Handschriften konkret benutzt wurden, wie sie >funktioniertenentwicklungsgeschichtliche< Perspektive.

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Läßt sich aus der Ausstattung der Handschriften auf ihre Bedeutung schließen? Taf. xxii Tafel XXII zeigt die erste Initiale des Codex 867, einer Handschrift, die ebenfalls vor 1419 entstand. Peuger ist ritterbürtig und damit wappenberechtigt. Er ist stolz auf seine Herkunft, denn er leitet sie von den Grafen von Poigen her. Diese waren enge Verwandte der Babenberger und führten »mit ihnen seit je das gleiche Wappen«/5 Peugers persönliches Wappen, wie es hier unter dem Bindenschild erscheint, findet sich in zahlreichen seiner Codices. Besonders in seiner frühen Zeit, also in den Codices, die er vor seinem Übertritt nach Melk schrieb, ist es stets präsent. Es markiert den Beginn seiner Handschriften ebenso wie deren Ende. Im gerade behandelten Codex 808 beispielsweise scheint es arn Abb. 3 ursprünglichen Ende der Handschrift auf (Abb. 3). Jetzt steht es allerdings nicht mehr allein oder neben dem Bindenschild der Poigener, sondern wird von Peugers Wahlspruch umgeben: Secunda magna spes mea es tit post Jesum virgo Maria. Codex 808 ist zugleich der persönlichste Codex Peugers, denn auf den letzten freien Seiten der Handschrift hat er später, in Melk, einige eigene fromme Reimpaarreden nachgetragen; darin spricht er vor allem von seiner Marienverehrung, wie er als Ritter in der Welt mit Marias Hilfe den Weg zur Umkehr fand, wie er im Alter von 22 Jahren ms Kloster eintrat. Am Ende von Codex 808 fällt ebenfalls auf, wie Peuger im Lauf der Jahre seinen Schriftduktus verändert hat: Der großzügigere repräsentativere Gestus der frühen Jahre weicht einer zierlicheren, fast möchte man sagen >demütigeren< Schrifthaltung. Das Wappen als Peugers persönliches Signum ist eingeschwärzt worden. Für mich hat das Signalcharakter: Die Person Peuger tritt hinter dem benediktinischen Laienbruder und der Demutsregel des Ordens zurück. Dies ist nicht nur hier in der Handschrift 808 der Fall, sondern ebenso im Abb. 4 Codex 981 (Abb. 4). Links ist der großzügigere Schriftduktus der Zeit vor 1419 und Peugers geschwärztes Wappen erkennbar, rechts die kleinere, gedrängtere, jüngere Schrift mit dem Nachtrag der Georgslegende aus der Zeit in Melk. Typisch für die späteren Jahre ist diese sorfälttge kleine Schrift, die im Dienst der Klosterspiritualität steht. Soweit zur äußeren Gestalt der Handschriften und ihren Besonderheiten, die sich als Interpretamente auch für den Inhalt und dessen Bedeutung heranziehen lassen. Typisch für Peugers Frömmigkeitshaltung in dieser Zeit ist ein Gebet, das Abb. s sich in mehreren Handschriften findet. Abbildung 5 zeigt oben das Gebet aus dem Codex 1401, unten das gleiche Gebet aus dem Codex 1569. Im Codex 1401 steht es am Ende, in der Handschrift 1569 am Beginn der Handschrift. Beide Handschriften sind nach 1440 entstanden. Man sieht jetzt statt Peugers stolzem Wappen groß und rot den Schriftzug Jesus. Maria. Dann folgt der Text des 35

HERBERT VON MITSCHA-MÄHRHEIM, Babenberger und Ebersberger und ihre Erben in und um das Poigreich, Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 42 (1976 = Babenberger-Forscbungen), 5,216—232, hier S. 231. Zur Herkunft Peugers: LÖSER, Meister Eckhart in Melk [Anm. 2], S. 25-31.

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Gebetes. JOSEF KLAPPER hat es nach der einzigen ihm bekannten Handschrift aus Breslau veröffentlicht und die Verfasserschaft des Prager Kanzlers und Bischofs von Olmütz, Johann von Neumarkt, für möglich gehalten. Peugers Version weicht von KLAPPERS Fassung stark ab. Insbesondere ist Peugers Formulierung neu: Ich enphilch mich auch vnter den edeln van, vnter dem ich froleich gesigen sol tagleich vnd an meiner lesten tzeiten. Vnd vnter dein(en) schilt, vnter dem ich chreftichleichen streiten vnd vherwinten sol wider all mein v eint. Was Peuger unter dieser Fahne Christi und unter diesem Schild versteht, wird einsichtig, wenn man dem Gebetstext zu Beginn der Handschrift das Bild gegenüberhält, das Peugers Handschriften in der Regel eröffnet: Die >Arma Christi', Christi Folterwerkzeuge als ritterliches Wappenschild waren in nahezu allen Handschriften Peugers in den inneren Vorderdeckel geklebt {Taf, XXIII), Taf, xxm Nichts konnte das Programm deutlicher ins Bild setzen: Aus dem Ritter mit dem Bindenschild der Grafen von Poigen und dem eigenen Wappen ist in Melk der Laienbruder Lienhart geworden, ein Ritter Christi, dessen Arma nun jeder Handschrift programmatisch >vorangetragen< werden. Die Produktion von Handschriften wird so als »geistliches Rittertum< verstanden. Handschriften vermitteln schon durch ihre äußere Gestalt Bedeutung, sie können durch ein einfaches Bild wie die >Arma Christi< das Programm der Passionsfrommigkeit verkünden, sie können repräsentativen Ansprüchen genügen. Sie können aber auch anderen Zwecken dienen; zum Beispiel ganz einfach der Arbeit am Text. Handschriften sind also Instrumente der Textherstellung. Ein solches Arbeitsinstrument liegt in der Melker Handschrift 670 von der Hand Lienhart Peugers vor.36 Nimmt man diesen Codex zur Hand, so fallen zunächst die breiten Ränder auf. Sie dienten dazu, später Sätze nachzutragen (z. B. 5V, 55V, 56r). Der Inhalt wird durch die knappe Bibliotheksnotiz einfach als der lerer sprüch bezeichnet. Peuger hat hier zahlreiche seiner früheren Codices benutzt, um Aussagen der lerer zu verschiedenen Themen zu kompilieren. Diese im Jahr 1422 erstmals zusammengestellten Texte wurden dann nach und nach erweitert, Dazu dienten zunächst Nachträge an den Rändern; für größere Nachträge wurde zu einer anderen Methode gegriffen, indem zahlreiche Zettel unterschiedlichster Größe eingeklebt wurden (z. B. f. 23, 36, 46, 49, 72, 77, 97, 99, 116, 120, 123, 133, 150, 173). Die Zettel dienen alle demselben Zweck: Sukzessive wird so der Text erweitert. Wann immer weitere passende Zitate auftauchten, bei der Lektüre oder bei der Abschrift anderer Handschriften, wurden diese auf Zettel notiert, die Zettel dann an ihrem Platz innerhalb der thematischen Ordnung eingefügt und eingeklebt. Man sieht, daß auf den Zetteln verschiedene Tintenarten verwendet wurden; sie wurden also zu unterschiedlichen Zeiten beschrieben. So wie dieser Codex 670 haben die Arbeitsexemplare mittelalterlicher Kompilatoren ausgesehen. Der Zettelkasten ist keine Erfindung der NeuAuch diese Handschrift konnte in Berlin präsentiert werden.

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zeit. Verwendung fand dieses >Rohmaterial< für Kompilationen schließlich im Jahr 1444 im Codex 1389, in dem die Zitatsammlung des Codex 670 in umfangreichere und >ausgefeiltere< Kompilationen >eingebaut< wurde.3r Die Quellen für die Kompilationen und die Nachträge auf den Zetteln sind stets in anderen Handschriften Peugers zu finden und sie sind unterschiedlichster Natur. Auf einigen der später eingelegten Zettel hat Peuger beispielsweise die JohannesApokalypse exzerpiert (77, 99, 173). Den Abschluß fand seine Arbeit an diesem Bibeltext erst im Jahr 1439 mit dem Codex 220.38 Diese Handschrift bildet überhaupt den Höhepunkt von Peugers Arbeit am Neuen Testament in deutscher Sprache. Am Ende der 30er Jahre hatte er sich schon in mehreren anderen Handschriften allein darauf konzentriert. Er hat die ostmitteldeutsche Deutschordensversionen überarbeitet und ihnen - unter Rückgriff auf die Vulgata - eine modernere, eine stärker am Süddeutschen orientierte, aber auch eine noch stärker zielsprachlich geprägte Form gegeben. Ihm ging es nicht mehr darum, den Text getreu aus dem Latein Wort für Wort zu übersetzen, Die Mitbrüder sollten ihn lesen können. Seine Leitsprache war also die deutsche. Dabei prägten ihn die beiden Ausgangshandschriften auch von der Ästhetik her. Man hat in Melk immer gewußt, daß die beiden kleinen Oktavhandschriften aus dem Deutschen Orden zusammengehörten und als integrale Bestandteile e i n e s Werkes angelegt worden waren. Schon die äußere Anlage auch von Peugers Codices spiegelt dieses Bewußtsein. Abb. 6 Abbildung 6 zeigt oben eine Handschrift des Jahres 1437 mit dem Beginn der Apostelgeschichte, unten einen Codex aus dem Jahr 1438, den Beginn der vier Evangelien samt Vorrede. Das Repräsentationsbedürfnis der früheren Codices ist zurückgedrängt. Im Mittelpunkt beider Handschriften steht nicht ein immer noch stolzer Ritter mit seinem Wappen, seiner Herkunft und dem Bewußtsein: »Das habe ICH geschrieben«. Im Mittelpunkt steht die christologisch und mariologisch, die biblisch orientierte Frömmigkeit. Im Mittelpunkt steht der Text des Neuen Testamentes. Dieser Text wird als Einheit aufgefaßt. Die beiden Handschriften gehören zusammen. Die Gleichheit der Überschriften, die Gleichheit der Initialen, der Schriftduktus verbinden beide Codices zu einer Einheit. Aber was sollte man mit diesen biblischen Texten beginnen? Wie konnte man sie in eine Organisationsform einbinden, die die Texte einem liturgischen - oder quasiliturgischen - Gebrauch öffnete? Die Antwort war mit dem Codex 180 gefunden worden, durch die später beigebundenen Tafeln. Peuger hat die Methode im Jahr 1439 perfektioniert. Er versammelte alle ihm greifbaren Texte des 37 38

Vgl. LÖSER, Meister Eckhart in Melk [Anm. 2], S. 102-114. 7u dieser Handschrift: KARL HEINZ KELLER, Textgemeinschaften im Überlieferungsvorgang. Fallstudie aus der Überlieferung der >Epistel Rabbi Samuels an Rabbi Isaac* in der volkssprachlichen Überlieferung (GAG 527), Goppingen 1992, bes. S. 33-39 u, 239-315.

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Neuen Testaments im Codex 220. Der Anfang des Johannes-Evangeliums ist in Abbildung 7 dokumentiert. Unauffällig wirken zunächst die Punkte, die den Abb.? Textfluß unterteilen und die rot unterlegten Buchstaben. Bei einem Vergleich mit dem lateinischen Vulgata-Text wird indes klar, daß hier einerseits die Versstruktur des lateinischen Textes nach- und abgebildet wird, daß andererseits aber die Zeichensetzung eine Anleitung zum Lesen gibt, eine Anleitung, könnte man annehmen, den Text laut zu lesen. Die Spuren dieser lauten Lektüre sind deutlich erkennbar. Die >Regie-Anweisungen geben an, wie der Text beim Lesen zu untergliedern ist. Sie sagen vor allern auch, wann er gelesen werden soll. Die roten Nummern 17 zu Beginn, 6 am rechten Rand und 11 rechts unten geben darüber Auskunft. Am Beginn des Codex findet sich nämlich eine eigene >TafelAvisamenta< seines Melker Ordensbruders Johannes Schlitpacher festgehalten und >festgeschrieben< wurde: Darin ist der Gebrauch der Satzzeichen explizit geregelt. Daß der Codex von der Hand des Johannes von Schweinfurt stammt und anläßlich seiner Profeß geschrieben wurde, weiß man, weil er eigens eine Abschrift seiner Profeßurkunde beiband. Damit bin ich schließlich bei den kurzen Handschriften, die es möglich machen, die einzelnen Schreiber mit Sicherheit bestimmen zu können. Wenn die Brüder ihre feierliche Profeß ablegten, mußten sie eine Urkunde schreiben, deren Inhalt genau festgelegt war. Alle diese Urkunden hat man in Melk über die Jahrhunderte gesammelt und getreulich aufbewahrt. Heute liegen sie in einem großen Karton im Archiv. Die Profeßurkunde des Johannes von Schweinfurt stimmt zu seinen Evangelienhandschriften. Die Profeßurkunde Lienhart Peugers zeigt dieselbe feine Schrift, wie sie für seine Melker Handschriften üblich Abb. s ist (Abb. 8 oben). Aber auch die Profeßurkunde Erhard Kellers (Abb. 8 unten) zeigt genau dieselbe Schrift wie die Urkunde Lienhart Peugers. Das liegt nicht daran, daß die Melker Laienbruder so »gleichgeschaltet gewesen waren, daß sie alle ähnlich schrieben. Der Unterschied ist der, daß Peuger seine Urkunde mit der eigenen Hand geschrieben hat. Keller konnte nicht schreiben und mußte einen anderen bitten, dies für ihn zu tun. Peuger schrieb für Keller. Der Analphabet Keller hat dann unter seine Urkunde nur drei Kreuze gezeichnet. Auf diese Weise haben einige illiterate Melker Laienbruder ihre Kreuze unter die Profeßurkunden gesetzt, die schrcibkundige Mitbrüder für sie ausfertigten. Nikolaus Neideke aus bertehdorf in der slese konnte schreiben; der Ritter Steffan Zollner konnte es auch. Heinrich Zeisler, Hans von Regensburg, Wolfgang von Emersdorf konnten es nicht und benötigten wieder Peugers Hilfe. Um es kurz zu machen: Zwischen 1419 und 1456, in der Zeit des Höhepunktes der Reform also, legten 16 Laienbruder Profeß ab. Acht davon konnten schreiben, acht konnten es nicht. Aus den Profeßlisten, die Petrus von Rosenheim und Wolfgang von Steyr so sorgfältig geführt haben, kennen wir auch ihre Berufe:

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Darunter waren drei Schneider, ein Schuhmacher, zwei Kürschner, ein Messerschmied, ein Seidensticker und Buchbinder, und ein balistarius. Wenn man sich fragt, wozu ein Kloster Geschützmeister brauchte - dem Fachmann Rainer Leng in Würzburg danke ich für den Hinweis, daß sie in Klöstern gesucht waren: Sie wußten, wie man Glocken herstellt. Alles in allem entsprechen die 16 Laienbrüder, die man in Melk aufnahm, genau dem, was in den Bestimmungen darüber gesagt wird: dar vmb so gepürt sich wol, das [...] auffgenommen werden bantwercher, der seihigen banntbercb dem chloster nottürfftigleicb nutzperleych [...] sein. Als Seydennater, Schneider, schuester, chürsnar oder andrew solichew hanntberch. Was aber sollte man mit einem verwitweten Ritter wie Steffan Zollner, mit einem ehemaligen Ritter wie Lienhart Peuger oder mit einem >abgebrochenen< Studenten wie Johannes von Schweinfurt tun? Man ließ sie das tun, was sie konnten: Schreiben und Lesen. Die Konversen standen in der Regel unter der Aufsicht eines Mönches des Klosters. Aus der Lebensbeschreibung des Wolfgang von Steyr wissen wir, daß er im Jahr 1437 praedicator conversorum, Prediger der Laienbrüder war.42 Einer von diesen Laienbrüdern (in Melk zweifellos der rührige Peuger) wurde als >Meister der Konversen< eingesetzt. Die eben zitierte Laienbrüderordnung fährt fort: so schallen sy pebärt vnd aufgenommen werden ah dy gelerten newfäng, Jn latein gehayssen dy nomzen, vnd yn schol zw geschafft werden ein beyser brueder, der scholl gehaissen werden ein mayster der conuersenn; der selbig schol sy fleyssigleich lernen [...] dy Ordnung der heyligen rege/ vnd zw dem födri$ten von den capiteln, dye sy den an dem aller mays ten andre ff en, das sy also wissen, was sy schuldig sein. Dies betrifft ihre geistliche Ausbildung vor der Profeß. Desgleichen nach der profess, fährt der Text fort, schöllen sy haben ein sölichen mayster vnd anfseher; der selbig scholl all snntag ein besunders capitel mit yn haben. Dort sol ir ainer den ändern nach Ordnung der obern aus einem puck pewärtter geschrift lesen. Diese gemeinsame Lektüre der Laienbrüder fand nicht nur sonntags statt. Es wurde festgelegt, daß die Brüder j e d e n A b e n d zu der letzen zeit des abents, die man vor der complet list, [...] zusamen gen an ein gwisse stat; vnd da sol in ir ainer, der da khans etwas lesen zu irer vnderweisnng.43 Zu diesem Zweck also wurde die Bibliothek benötigt, die hier zu einem (freilich nur kleinen) Teil vorgestellt werden sollte. Anders als der eingangs zitierte Satz vermuten lassen könnte, war man im spätmittelalterlichen Melk der Meinung: Handschriften gen dy lain [viel] an. Dort sind diese Handschriften auch erhalten geblieben. Schon ihre äußere Form hat uns noch heute einiges zu sagen: Sie läßt Rückschlüsse auf ihre damalige Verwendung, Bedeutung und Meinung zu. Handschriften sind nach wie vor aussagekräftige Zeitzeugen. Im >Interview< sind sie auch heute noch zum 42 4}

Vgl. FREIMUT LÖSER, Wolf gang von Steyr, ZVL X, Sp. 1348-1352. Zur Melker Laienbrüder-Regel: LÖSER, Meister Eckhart in Melk [Anm. 2], S. 60.

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Sprechen zu bringen. In ihnen ist das Mittelalter im wahrsten Sinne des Wortes präsent. Die Decodierung der Codices ist möglich, wenn man die Handschriften in die Hand und ihre äußere Gestalt so ernst nimmt wie ihre Texte.

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Abb. 1: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 93 u. 1762.

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Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1401 (oben) u. Cod. 1569 (unren): Gebet.

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Melk, Stiftsbibliothek, Cod, 855 (oben) «. Cod. 888 (unten): Apostelgeschichte und Evangelien in Peuger-Handschriften.

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Abb. 7: Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 220: Evangelientexte,

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ι Paradisus animae< und anderem in Pavia, ZfdA 103 (1974), S. 311-333 = Pr. STEER 101-104 (DW IV, S. 279-610 = PF. Pr. I-IV); Spruch PF. Nr. 1. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs, 7090/1. LOTTE KURRAS, Ein Eckhart-Fragmem aus dem Kiarissenkloster in Freiburg, ZfdA 107 (1978), S. 216-218 = Pr. QUINT 2 (DW I, S. 24,1-30,6); Pr. QUINT 52 (DW II, S. 522a,4523a,41). Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 8° 18537. KURT RUH, Fragment einer unbekannten Predigt von Meister Eckhart aus dem frühen H.Jahrhundert, ZfdA 111 (1982), S. 219-225 = Pr. STEER 99 (DW IV, S. 246-261). Eichstätt, StaatsbibL, Ms. 358. DIETRICH SCHMIDTKE, Eichstätter Fragmente von Eckhartpredigten, ZfdA 112 (1983), S. 73-82 = Pr. QUINT 47 (DW II, S. 396,1399,2. 406,3-409,6); Pr, QUINT 37 (DW II, S. 218,4-223,13); Pr. QUINT 31 (DW 11,5.114,2-115,3). London, Victoria and Albert Museum, Cod. L 1810-1955. FREIMUT LÖSER, Als ich me gesprochen han. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes, ZfdA 115 (1986), S. 206-227 = 124™171" Mystische Predigtsammlung, darin u. a, Pr. QUINT 32, 33, 58, 61, 82; STEER 87, 91, 95, 96.

JOSEF QUINT, Die Überlieferung der Deutschen Predigten Meister Eckehans, Bonn 1932, S. XX. 8 JOSEF QUINT, Neue Handschriftenfunde zur Überlieferung der deutschen Werke Meister Eckharts und seiner Schule. Ein Reisebericht, Stuttgart/Berlin 1940, S. XII. * FRANZ PFEIFFER, Meister Eckhart [Anm. 4], S. VIII-X, 10 ADOLF SPAMER, Zur Überlieferung der Pfeiffer'schen Eckeharttexte, PBB 34 (1909), S. 307^20. 11 DW L Vorläufiges Verzeichnis der benutzten Handschriften und ihrer Siglen, S. 607612. 12 DW II: Vorläufiges Verzeichnis der benutzten Handschriften und ihrer Siglen (3, Fassung); als Anhang beigefügt S. 9—17.

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Georg Steer

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Gotha, Forschungsbibl., Cod. Chart. A 13. Beschreibung in Vorbereitung: Fol. 125vb-166rh = u. a. Pr. QUINT 25, 26, 27, 69, 79; STEER 90. München, Bayerische StaatsbibL, Cgm 5153m. KARIN SCHNEIDER, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 5, 7: Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001-5247, Wiesbaden 1996, S. 509-510 = STEER Nr. 101 u. 102 (DW IV, S. 279^25).

M42

Eine weltweite systematische Bibliotheksdurchforschung lohnt sich heute nicht mehr, Die Kritische Gesamtausgabe hat die Aufmerksamkeit für Handschriften mit Meister Eckhart-Texten in einem Maße geweckt, daß neu aufgefundene Textzeugen sofort in wissenschaftlichen Publikationsorganen angezeigt werden. Die Aufmerksamkeit der Forschung richtet sich aber nicht nur auf die Schriften und Handschriften Eckharts, Sie richtet sich auch auf den Autor selbst, zu dessen besserem Verständnis, was sein Leben und seine weitreichende Wirkung betrifft, die erhaltenen Handschriften ebenfalls beitragen können. Geboren ist Eckhart m Tambach bei Gotha. Im nahen Erfurt tritt er in das Kloster der Dominikaner ein. In Köln, wo er noch Albertus Magnus hören konnte, absolviert er sein philosophisches und theologisches Studium. Als Hochbegabter wird er von seinem Orden an die Universität Paris geschickt, wo er 1293/94 die Sentenzen des Petrus Lombardus liest. Nach Deutschland zurückgekehrt, wird er Prior seines Heimatklosters Erfurt und zudem Vikar des Provinzials der Provinz Teutonia Dietrich von Freiberg. Für ein Jahr schickt ihn der Orden 1302 wieder nach Paris als Magister der Theologie. 1303 übernimmt er die Führung der neugeschaffenen Provinz Saxoma, die beinahe ganz Norddeutschland umfaßte, und vier Jahre später auch noch das Generaivikariat der böhmischen Provinz. Obwohl 1311 zum Provinzial der süddeutschen Provinz Teutonia gewählt, muß er auf Geheiß des Generalkapitels wiederum an die Sorbonne nach Paris gehen, wo er als ordentlicher Professor der Theologie (magister in actu regens) von 1311-1313 wirkt. Die Ehre einer zweimaligen Berufung auf den Dominikanerlehrstuhl in Paris ist vor ihm nur Thomas von Aquin zuteil geworden. Es folgen zehn Jahre als Generalvikar des Ordens, m denen er von Straßburg aus für die geistliche Betreuung der Dominikanerinnen und Beginen des Elsaß und der Schweiz verantwortlich war. Vom neuen Ordensgeneral Barnabas Cagnoli von Vercelli dürfte er 1324 an das Studium generale in Köln beordert worden sein, ob als dessen Leiter, ist ungewiß. Eigene Ordensbrüder, Hermann von Summo und Wilhelm von Nidecke, klagen ihn 1326 beim Erzbischof von Köln, Heinrich II. von Virneburg, wegen Häresie an. Eckhart legt Berufung in Avignon ein und verteidigt seine Lehre vor der Theologenkommission des Papstes. Er stirbt am 28. 1. 1328. Johannes XXII. urteilt am 27. 3. 1329 über 17 seiner Sä'tze, sie enthielten »Irrtümer« oder trügen »das Mal der Häresie«. Elf weitere Sätze stuft er »als überaus übel klingend und sehr kühn und der Häresie verdächtig« ein.'3 13

Zur Biographie Eckharts s- JOSEF KOCH, Kritische Studien zum Leben Meister Eck-

Die Schriften Meister Eckharts

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I. Die lateinischen Schriften Die Zahl der heute noch erhaltenen deutschen Eckharthandschriften beeindruckt. Dagegen nimmt sich diejenige von insgesamt nur 14 Handschriften für das gesamte lateinische Werk kläglich aus. Auch diese wurden, wie die deutschen Textzeugen, erst nach und nach entdeckt. Bis zum Jahre 1886 wußte man durch den Kardinal Nikolaus von Kues und den Abt Trithemius zwar von der Existenz lateinischer Schriften Eckharts, hielt sie aber für unauffindbar. Es war der Dominikaner HEINRICH DENIFLE, der zunächst 1880 in der Bibliotheca Amploniana in Erfurt (Hs, 2° 181 = E) ein Traktatenbündel echter Schriften Eckharts entdeckte und einige Jahre später auf einer Ferienreise in der Kueser Hospitalbibliothek (Hs. 21 - C, geschrieben 1444) einen zweiten Kodex mit ungefähr dem selben Inhalt. Die Veröffentlichung seiner Funde 14 war für die Eckhartforschung eine Sensation. Bereits 1888 kann MAX KEUFFER das Auffinden einer dritten Handschrift in der Stadtbibliothek Trier (Hs. 72/1056 = T) mit gleichem Inhalt vermelden. DENIFLE wurde 1889 in Erfurt nochmals fündig. In Cod. Amplon. 2° 36 (= R) spürte er Eckharts >Sermo die b. Augustini Parisius habitus< 15 auf. In der Kueser Hospitalbibliothek fand JAKOB MARX 16 bei der Beschreibung des Codex 125 (= D) auf fol, 280v-284r den schon aus der Hs. 21 bekannten >Tractatus super Oratione Dominica^ Unabhängig voneinander stießen 1927 EPHREM LONGPRE I? und MARTIN GRABMANN !S in Cod. 1071 (= A) der Stadtbibliothek von Avignon auf Eckharts Pariser Quästionen. Im Sommer 1933 erkannte AUGUST PELZER in der Hs. Amplon. 2° 321 (= F) die >CoHatio in Libros Sententiarum< als einen weiteren Text Eckharts.19 Im Herbst des gleichen Jahres hatte KOCH im Auftrag der Eckhart-Komrnission wichtige süd- und harts, Archivum Fratrum Praedicatorum 29 (1959), S. 5-51 [I]; 30 (1960), S. 5-52 [II] = JOSEF KOCH, Kleine Schriften, 2 Bde. (Storia et letteratura 127/128), Roma 1973; GEORG STEER, Eckhart von Hochheim, Literaturlexikon III, S. 171-176; LORIS STURLESE, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulschriften 90), Regensburg 1993; Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 7), hg, von KLAUS JACOBI, Berlin 1997. Übersetzung der Bulle: Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate, hg. u. übers, von JOSEF QUINT (Diogenes Taschenbuch 20642), [Nachdr. München 1965] Zürich 1979, S, 449^55, hier S. 454. 14 HEINRICH Suso DENIFLE, Meister Eckeharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre, Arch, f. Lit, u. Kirchengesch. d, MAs 2 (1886), S, 417-615. 15 HEINRICH Suso DENIFLE unter Mitwirkung von A. GIETL, Arch. f. Lit. u. Kirchengesch. d. MAs 5 (1889), S. 358-365. 16 Verzeichnis der Handschriften-Sammlung des Hospitals zu Cues, Trier 1905, S. 121. 17 Questions inedites de maitre Eckart, O.P,, et de Gonzalve de Balboa, O.F.M., Revue neoscolastique de philosophic 26 (1927), S. 69-85. 18 Neuaufgefundene Pariser Quaestionen Meister Eckharts und ihre Stellung in seinem geistigen Entwicklungsgänge, in: Abh. d. Bayer. Ak. d. Wiss., Philos.-philol. u. hist. Kl. XXXII 7, München 1927. 19 VgL LW V, S. 3.

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mitteldeutsche Bibliotheken bereist, mit nur geringem Erfolg. Die Reise »förderte«, so berichtet er, »nur ein neues lateinisches Stück zu Tage, die Collaüo m libros Sententiarum«.20 Ein Jahr später, 1934, gelang KARL CHRIST, dem Direktor der Berliner Staatsbibliothek, die Identifizierung des >Johanneskommentars< in Cod. lat. quart. 724 (= B),21 der schon aus der Kueser Handschrift 21 (C, 87viM34ra) bekannt war. THOMAS KAEPPELi 22 hat 1957 Eckharts erste akademische Predigt, den >Sermo Paschalis a, 1294 Parisius habitus< in der Kremsmünsterer Hs. 83 {= P), 35V-36V, die vor dem Jahr 1298 geschrieben wurde, entdeckt. Im gleichen Jahr fand er an der Universitätsbibliothek Prag ein zweites Exemplar der >Collatio in Libros Sententiarum< (Cod. 1952 [= Pr], -3 )-23 Ihm ist 1961 noch ein dritter Fund gelungen. Im Codex Basel VI 16 (= K), geschrieben in der Mitte des 14. Jahrhunderts, entdeckte er eine Sammlung von Exzerpten aus den lateinischen Schriften Eckharts,34 die vermutlich in Köln hergestellt wurde. Hundert Jahre nach DENIFLES spektakulärem Fund (1987) überraschte LORIS STURLESE25 die Forschung mit einer nicht minder sensationellen Entdeckung. Im Codex Oxford, BodL, Laud. misc. 222 (= L) aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts fand er die originale Fassung jener lateinischen Schriften, die wir bisher nur aus der CT-Rezension kennen. 26 Aus dieser auf Eckhart unmittelbar zurückgehenden Werksammlung hatten Hermann von Summo und Wilhelm von Nidecke 1326 in Köln die erste Liste von inkriminierten Sätzen gezogen, mit der sie Eckhart beim Kölner Erzbischof als Häretiker anklagten. Die originale Textgestalt des >Opus tripartitum< in der Oxforder Handschrift disqualifiziert die Textversion in CT, die ein anonymer Redaktor hergestellt hat, als sekundär und ebenso auch den kritischen Text der Stuttgarter Ausgabe, der als Rekonstruktion des Autortextes gelten wollte, in Wirklichkeit 20

KOCH, LW III, S. VIII. KARL CHRIST, Eine neue Handschrift von Meister Eckharts Kommentar zum Johannes-Evangelium, Zentralblatt für Bibliothekswesen 51 (1934), S. 10-29. 12 Praedicator monocuhis. Sermons parisiens de la fin du XIII 1 siecle, Archivum Fratrum Praedicatorum 27 (1957), S. 120-138. Der Sermo ist hg. von STURLESE m LW V, S. 131148. 23 THOMAS KAEPPELI O.P., Praedicator Monoculus, Archivum Fratrum Praedicatorum 27 (1957), S. 124f. u. 159-165. 24 DERS., Eine Kölner Handschrift mit lateinischen Eckhart-Exzerpten, Archivum Fratrum Praedicatorum 31 (1961), S. 204-212; KONRAD WEISS, Eine neue EckhartHandscbrift, Theol. Lit. Zeitung 82 (1962), Sp. 73-78. 25 Un nuovo rnanoscritto delle opere ktine di Eckhart e il suo significato per la ricostruzione del testo e della storia deU'Opus tripartitum, in: Albert der Große und die deutsche Dominikanerschule. Philosophische Perspektiven, hg. von RUEDI IMBACH u. CHRISTOPH FLÜELER, Freiburg/Schweiz 1985, S. 145-154. 2i L: Proiogus in Librum parabolarum Genesis (29"-3Qrfa), Tabula Libri parabolarum Genesis (30rb-33ri), Liber parabolarum Genesis (33Fa-63ri), Tabula contentorum Libri parabolarum Genesis (63"-64rb), Proiogus generalis in opus tripartitum (64va-67rb), Proiogus in opus propositionum (67rb-69vb), Proiogus in opus expositionum I (69vth70"), Expositio libri Genesis (70fl-103Vi). 21

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aber ein Denkmal der Eckhart-Rezeption ist. Im Jahr 2000 hat STURLESE eine Neuausgabe der sog. >Rechtfertigungsschrift< Eckharts vorgelegt. Ihr kommt der Charakter einer Neuentdeckung zu, weil sie mehr ist aJs ein einfaches Gerichtsdokurnent. Sie muß als eigenständige Schrift Eckharts verstanden werden, und zwar als seine >VerteidigungsschriftIn agro dominico< vom 27. März 1329 mit 28 beanstandeten Sätzen." 4. 23 Sätze aus dem »Buch der göttlichen Tröstung*, die Johannes von Dambach in seine >Consolatio theo!og!ae< inseriert hat.JO 5. Heinrich Seuses >Buch der Wahrheit*, das Sätze aus Eckharts lateinischen und deutschen Werken zitiert und auf verurteilte Sätze der Bulle anspielt,31 6. Marquard von Lindau benutzte in seinem Traktat >De reparatione hominis< umfangreiche Stellen aus Eckharts erster und zweiter Genesisauslegung. Zudem hat er in seinen deutschen Predigten den lateinischen Johanneskommentar Eckharts ausgiebig zu Rate gezogen.32 17

LW V, S. 198-245. FRANZ PELSTER, S. J,, Ein Gutachten aus dem Eckehart-Prozeß in Avignon, in: Aus der Geisteswelt des Mittelalters, Studien und Texte. Martin Grabmann zur Vollendung des 60, Lebensjahres von Freunden und Schülern gewidmet, hg. von ALBERT LANG, JOSEPH LECHNER u. MICHAEL SCHMAUS (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Supplementbd. 3), Münster i. W. 1935, S. 1099-1124. 29 MARIE H. LAURENT, Autour du proces de Maitre Eckhart. Les documents des Archives Vaticanes, doc. VIII, Divus Thomas 39 (1936), S. 331--H7. 30 JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum im 14. und 15. Jahrhundert, in: La Mystique Rhenane. Colloque de Strasbourg 16-19 mai 1961, Paris 1963, S. 133-156, hier S. 141 f. 31 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Daz büchli der warheit, kritisch hg. von LORIS STURLESE/RÜDIGER BLUMRICH, mit einer Einleitung von LORIS STURLESE, übers, von RÜDIGER BLUMRICH. Mittelhochdeutsch/Deutsch, Hamburg 1993. 32 HERMANN JOSEF MAY, Marquard von Lindau OEM. De reparatione hominis. Einführung und Textedition, Frankfurt a. M. [usw.] 1977, S. 226, 227 u, passim; LORIS STURLESE, Meister Eckharts Weiterwirken. Versuch einer Bilanz, in: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus, Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart, hg. von HEINRICH STIRNIMANN in Zusammenarbeit mit RUEDI IMBACH (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, S. 169-183, hier S. 172; RÜDIGER BLUMRICH, Marquard von Lindau: Deutsche Predigten. Untersuchungen und Edition (TTG 34), Tübingen 1994, S. 68*-80:f. 28

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7. Jordan von Quedlinburg hat in seinem >Opus postillarum< in den Predigten LXVIIILXXVIII längere Stücke aus Eckharts >Johanneskommentar< übernommen. 33

Abgesehen von den literarischen Zeugnissen der Nachwirkung Eckharts ist sein lateinisches Schrifttum tatsächlich nur schmal überliefert. »Bisher kennen wir«, stellt KOCH resignierend fest, »nicht sehr viele Handschriften, die Werke Eckharts enthalten.«34 Bedenkt man, daß die 15 bekannten lateinischen Werke Eckharts nur von 14 Handschriften bezeugt werden, dann ist der Eindruck der spärlichen Überlieferung der lateinischen Werke Eckharts noch nachdrücklicher. Fünf Schriften werden überhaupt nur von jeweils einer Handschrift gesichert: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

II.

>Prologus generalis in opus tripartitumPrologus in opus propositionurnExpositio libri GenesisLiber parabolarum GenesisExpositio libri ExodiSermones et Lectiones super Ecclesiastic! c. 24,23-31 Expositio libri SapientiaeExpositio sanett Evangeiii secundum IohannemQuaestiones ParisiensesSermonesSermo die b. Augustini Parisius habitusTractatus super Oratione Dominica«: C, D, K >Sermo Paschalis a. 1294 Parisius habhusVerteidigungsschriftDeclarationes auctoritatum nonnullarum sacrae scripturae< gaben, aus allen bekannten lateinischen Schriften Eckharts (mit Ausnahme der >SermonesJohanneskommentar< (30va-57r). Merkwürdig sei auch der verschlungene Herkunftsweg der Handschrift. Obwohl sie aus dem Basler Kartäuserkloster komme, dem sie von dem westfälischen Pfarrer Gottschalk Karnenschede geschenkt wurde, der sie selbst am 2. Oktober 1386 im Umgang des Kölner Doms pro tnbus albis denarus gekauft hat, führten ihre Spuren letztendlich zurück ins Kölner Dominikanerkloster. Dies müsse man so deuten, daß Eckharts Mitbrüder seine Schriften nach der päpstlichen Verurteilung am 27. 3. 1329 nicht vernichtet hätten. Jedenfalls muß der Auftraggeber im Kloster Eckharts Lehren geschätzt haben, sonst hätte er sich keine Auszüge aus dem gesamten Werk Eckharts machen lassen. Die inkriminierten Satze der Bulle fehlen bis auf drei, die die Bulle selbst lediglich als verwegen und häresieverdächtig bezeichnet und die katholisch interpretiert werden könnten. Der Exzerptor muß ein Anhänger Eckharts gewesen sein. Eine Besonderheit von K ist zudem noch die hohe Qualität und Ursprünglichkeit des Textes, an die die Handschriften T und C nicht heranreichen. 2. Einen unikalen Charakter hat die Handschrift 21 der Hospitalbibliothek Kues (C)5 die sich Nikolaus von Kues 1444 von einem unbekannten Kleriker 35

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GUSTAV MEYER/MAX BURKHARDT, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Basel, Abteilung B: Theologische Pergamenthandschriften I, Basel 1960, S. 616-617. THOMAS KAEPPELI, Eine Kölner Handschrift [Anm. 24], S. 205. KOCH [Anm. 30], S. 139.

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hat schreiben lassen. Unikai ist sie vor allem deswegen, weil nur in ihr die lateinischen >Sermones< Eckharts erhalten sind. Die Herausgeber haben an der C-Abschrift äußerst aufschlußreiche Beobachtungen anstellen können. Sie haben als erstes bemerkt, daß der C-Schreiber die Sermones XXIV,2 n. 249-250; Abb. 2 XXV,1; XXVI und XXV,2 n. 262 zweimal abgeschrieben hat (Abb. 2). Und sie konnten erkennen, daß diese Textverdoppelung schon in der Vorlage von C stand, denn der C-Schreiber hat das gebräuchliche Tilgungswort va-cat - »va am Ende der Zeile über dem ersten Wort der zweiten Kopie essentia (LW IV, S. 227,11), cat hinter requiescam (LW IV, S. 239,9), mitten in der Zeile« - ganz offensichtlich nicht verstanden; denn hätte er es verstanden, hatte er den Text nicht zweimal abgeschrieben. Die unglückliche Dittographie des C-Schreibers indes ist ein Schlüsselloch, durch das ein Blick in die Vorgeschichte der Sermones-Überlieferung geworfen werden kann. Folgendes ist zu sehen. Überraschend stehen hinter der Silbe -cat noch zwei Wörter, die nichts mit dem Predigttext zu tun haben. Sie lauten: propter quaternum. Um diesen beiden Wörtern einen Sinn abzugewinnen, vermutet KOCH, daß propter mit praeter verwechselt wurde, was häufig geschah, und die Bemerkung vacat, praeter quaternum bedeutet: »getilgt, weil nicht zu diesem Heft gehörig«.38 Aus diesem Hinweis ist zu schließen, »daß die Sermones ursprünglich in einzelnen Heften (qitaterm) vorlagen, und man könnte vermuten, daß die Verdoppelung entstand, als die Sermones aus den Heften m einen Kodex übertragen wurden; dabei konnte es geschehen, daß der Schreiber bei seiner Arbeit irrtümlich nochmals zu einem Heft griff, das er bereits kopiert hatte. Als er seinen Fehler bemerkte, korrigierte er ihn durch >va-cat, praeter quaternumParadisus anime intelligent^ mit 32 Predigten Eckharts in der gleichen Weise angelegt ist. 3. Der Oxford er Handschriftenfund L hat STURLESE zu einer neuerlichen Untersuchung der Erfurter Handschrift E angeregt.40 Während sie KON RAD WEISS unter einem »strikt textkritischen und philologischen Gesichtspunkt« 41 betrachtete, nimmt STURLESE die »Handschrift als ganze« in den Blick und kommt zu erstaunlichen Einsichten. Drei Schreiber haben an E geschrieben (Abb. 3): Der Abb. 3 Grundstock-Schreiber E, der »das ganze Originalmanuskript, das sich bei Eckhart befand, aus einem Guß abschrieb« (S. 441), der Schreiber El, der etwas später aus Eckharts Original weitere Textpassagen und Korrekturen hinzuschrieb, und der Schreiber E2, der wieder etwas später die Resttexte aus Eckharts Privatcodex übertrug, und zwar auf zwei Lagen aus Papier, die ein seltenes Wasserzeichen der Jahre 1320-1329 zeigen. In den Textabschriften der Handschrift E spiegeln sich drei verschiedene Phasen (A, B, C) der Textausarbeitung durch Eckhart. Aus ihnen läßt sich die Genese und die ungefähre Chronologie der >Opus tripartitumGenesiskommentar< zu arbeiten begonnen hatte«.42 Fertig waren die >PrologiEcclesiasticus< und der >Prologus IISapientiakommentar< war bereits weit fortgeschritten. Kaum begonnen war der >ExoduskommentarGenesiskommentar< schon etwas weiter fortgeschritten war und der >Sapientiakommentar< fast vollendet ist, während der >Exoduskommentar< wohl erst in der Planung stand. Diese erste Schicht des >Opus tripartitum·: wird man ungefähr auf das Jahr 1305 datieren dürfen, jedenfalls aber in die Zeit nach Eckharts Lehrtätigkeit in Paris 1302/03. Erst Jahre später wird Eckhart den >Johanneskomrnentar< und den >Liber parabolarum Genesis< schreiben (nach 1313). 4. Der Oxforder Handschrift Cod. Laud. misc. 222 (L) kommt innerhalb der lateinischen Eckharthandschriften eine Schlüsselstellung zu (Abb. 4). Jede neu- Abb. 4 entdeckte Handschrift wirft eo ipso ein neues Licht auf die Textzusta'nde in den bereits bekannten Handschriften. Die >Opus tripartitumLiber parabolarum Genesis* neu positioniert. Während er in L am Anfang der Sammlung steht, erscheint er in CT in das >Opus tripartitum< integriert. Man vergleiche die Werkgliederung in L:

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LW III, S. XIII. - Auch HILDEBRAND BASCOUR ist bei seinem Handschriftenvergleich zu der Einsicht gekommen, daß irn ersten Genesis-Kommentar zwei Redaktionen vorliegen: La double redaction du premier commentaire de Mahre Eckhart sur la Genese, Recherches de theol. anc. et med. 7 (1935), S. 294-320. LW I, S. 3. Ebd., S. 27. Ebd., S. 3. LORIS STURLESE, Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generaie der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts, Miscellanea Mediaevalia 20 (1989), S. 192-211; DERS., Zur Stemmatik der offenen Tradition. Überlegungen zur Edition der drei Fassungen von Meister Eckharts »Opus tripanitum«, edltto 6 (1992), S. 26-42; DERS. [Anm. 40].

222 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Georg Steer P r o l o g u s in L i b r u m p a r a b o l a r u m G e n e s i s T a b u l a L i b r i p a r a b o l a r u m Genesis L i b e r p a r a b o l a r u m Genesis Tabula contentorum Libri parabolarum Genesis Prologus in opus tripartitum Prologus in opus propositionum Prologus in opus expositionum Expositio libri Genesis

mit der Werkgliederung in CT: L 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Prologus in opus tripartitum Prologus in opus proposidonum Prologus in opus expositionum Expositio libri Genesis P r o l o g u s in L i b r u m p a r a b o l a r u m Genesis Tabula Libri p a r a b o l a r u m Genesis Liber parabolarum Genesis Tabula Libri Exodi.

Urn die neue Werkreihenfolge zu legitimieren, hat der CT-Redaktor die alten Verweiszeichen Eckharts geändert und zusätzliche eingefügt. Auch vor Textinterpolationen schreckte er nicht zurück. Auffälligstes Beispiel ist die Erklärung zu Gen. I, n. 186, die in der Erfurter und Oxforder Fassung fehlt.52 Jetzt erst läßt sich die Gesarntanlage der Handschriften T und C verstehen: Deren Grundstock sind die von Eckhart ausgearbeiteten Werkteile des »Opus tripartitumJohanneskommentar< das reifste Werk ist und als letztes zu Ende geführt wurde (um 1313). Hinzugeschrieben wird dann der >Liber parabolarum GenesisLiber parabolaram rerum naturaüums der erst nach 1313 begonnen wurde. Nur in C und nicht auch m T erscheint noch das >Opus sermonum< angefügt, das zwar dem Programm des >Opus tripartitum* nahesteht, aber strukturell diesem nicht eingefügt wurde. Daß Nikolaus von Kues in C nicht nur die Werke des >Opus tripartiturm und den »Liber parabolarum Genesist haben wollte, sondern auch noch weitere Schriften Eckharts, beweist die dem >Johanneskommentar< folgende Abschrift des >Tractatus super Oratione Dominica< und des >Opus sermonumOpus expositionunv. Es ist zu vermuten, daß Eckhart die >Sermones< vor ihrer Vollendung nicht in das »Opus tripartitum< eingebunden wissen wollte. 5. Schließlich hat sich auch ein erneutes Studium der Soester Handschrift S, die Eckharts Verteidigungsschrift enthält, über die Maßen gelohnt. Die Verteidigungsschrift Eckharts, bisher als sog. »Rechtfertigungsschrift< Eckharts benannt, 52

STURLESE, Die Kölner Eckhartisten [Anm. 51], S. 206f. u, Anm. 46.

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wurde »um 1350« von einem anonymen Schreiber von einer Vorlage auf 14 Blättern (= fol. 45-58) in zwei Lagen kopiert, die »direkt aus der Zelle Eckharts [...] gekommen ist« (LW V, S. 271). Jakob von Soest O.P. (f um 1438/40) hat den Faszikel (Teil 33b) zusammen mit 9 anderen zwischen 1400 und 1420 zu einer Handschrift vereinigen lassen. Seit der Entdeckung des Soester Textes durch LUDWIG KELLER haben sich viele Forscher53 mit S beschäftigt, doch keiner so gründlich und erfolgreich wie STURLESE.54 Seine Analyse der Handschrift, der Schreiberhände, der Textschichten und der unmittelbaren historischen Zusammenhänge hat Einsichten zutage gefördert, die, mit denen DENIFLES und KAEPPEUS verglichen, ebenfalls als sensationell bezeichnet werden müssen. Er kam zu diesen Einsichten durch eine erneute Autopsie des Originals. Alle bisherigen Arbeiten über Eckharts ^Verteidigungsschrift stützten sich auf die Ausgaben von DANIELS und THERY. Beide Editoren folgen an einer sehr entscheidenden Textstelle (Proc. Col. I, n. 34, S. 311} zwar dem Wortlaut von S: Esse es t ipsa actualitas (»Das Sein ist die Aktualität selbst«), übersehen aber, daß Esse nicht ursprünglich ist, sondern an seiner Stelle et stand: et est ipsa actualitas (»und ist die Aktualität selbst«) (Abb. 5). Mit et ist aber der Satz unvollständig Abb. s und sinnlos; aus grammatikalischer Sicht fehlt das Subjekt: et est etiam ipsa actualitas omnium formarum. Noch auffälliger ist, daß dieser unvollständige Satz zusammen mit dem nachfolgenden Avicenna-Zitat: Propter quod Avicenna VIII Metaphysicae c. 6 ait: >Id quod desiderat omnis res est esse et perfectio< als dritter Artikel in jener Liste von Sätzen aufgeführt wird, die von den Anklägern Eckharts aus dem >Genesiskommentar< gezogen wurden. Die Ankläger haben sich freilich hier geirrt, in Wahrheit stammt der Satz aus dem >Prologus generalise Es ist mit Händen zu greifen: Hier muß sich ein Versehen eingeschlichen haben. Dieses läßt sich auch sogleich erkennen, wenn man den dritten und den vierten Satz mit dem Originaltext des >Prologus generalis* vergleicht:

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EDMUND COLLEDGE/]. C. MAKLER, A Meister Eckhart Autograph?, Scriptorium 36 (1982), S. 90-95; WINFRIED TRUSEN, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und Staatswissenschaftiiche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 54), Paderborn 1988; DERS., Zum Prozeß gegen Meister Eckhart, in: Eckhardus Theutonicus [Anm. 32], S. 7-30; DERS., Meister Eckhart vor seinen Richtern und Zensoren, in: Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen [Anm. 13], S, 335-375; BERND MICHAEL, Die mittelalterlichen Handschriften der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Soest, Wiesbaden 1990, S. 210-218. STURLESE, Die Kölner Eckhartisten [Anrn. 51], S. 192-211; LW V, S. 247-520.

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Proc. Col. I, n. 34f. (LW V, S. 311,16-27):

Prologus gen. LW I ( n. 8f., S. 153,2-154,4 (L: LW 1/2, S. 25,24-27,10):

Et est etiam ipsa actualitas omnium formarum. Propter quod Avicenna VIII Metapbysicae c. 6 ait: >Id quad desiderat omnis res est esse et perfectioIllud vero quod vere desideratur est e$$eet per ipsum et in ipso sunt omniaere desideratur, est esse«. H ine est quod omnis res quamvis mohilts et transmutabilis de consideration est metaphysici, inqwantum ens, etiam ipsa materia, radix rerum corruptibilium. Et iterum: esse rerum omnium, inquantum esse, mensuratur aeternitate, nequaquam tempore.

Die Textverirrung ist durch einen Abschreibefeliler zustande gekommen. Dem Schreiber der Liste, die die Denunzianten dem Inquisitionsgericht vorlegten, ist ein Ho moioteleu tonfehl er unterlaufen: Er ist beim Kopieren seiner Vorlage (rechte Spalte) mit den Augen bei dem Wort perfectio (vor et est ipsa actnalitas) zum nächstfolgenden perfectio (vor esse, in quantum est esse) abgeglitten und hat den ausgelassenen Text nachträglich am Rande (wohl mit Verweiszeichen) nachgetragen, Wie aber kommt es zur unorganischen Einfügung des Homoioteleuton-Textes und zu seiner Aufwertung zu einem selbständigen Anklageartikel? STURLESE gibt die naheliegende Erklärung: »Aus dieser Vorlage wurde sodann eine Abschrift für Eckhart gezogen, damit er seine Stellungnahme vorbereiten konnte. In dieser Abschrift wurde der ausgelassene und am Rand ergänzte Satz im Text irrtümlicherweise zwischen articulus Nr. 2 und articulus Nr. 4 inkorporiert«. 55 Das Soester Dokument läßt sich unvoreingenommen als eine Schrift Eckharts erkennen, denn Eckhart spricht in der Ich-Form: »Ich besagter Bruder Eckhart aus dem Predigerorden, antworte darauf« (LW V, S. 275,10). Er antwortet darin auf Sätze und Aussprüche seiner Schriften, die irrig oder häretisch sein sollen. 49 solcher verdächtigen Sätze wurden ihm in einer ersten Liste vorgelegt. Nachdem er zu ihnen Stellung genommen hatte, 55

STURLESE, Die Kölner Eckhartisten [Anm. 51], S. 201.

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wurde ihm eine zweite Liste mit 59 Sätzen, diesmal nur aus deutschen Predigten, überreicht, zu denen er sich ebenfalls bis zum festgesetzten Gerichtstag am 26. September 1326 vor dem Erzbischof Heinrich von Virneburg in Köln zu äußern hatte. Der erste Herausgeber der Soester Dokumente, AUGUSTINUS DANiELS,56 hat diese nicht als eine eigene Schrift Eckharts gesehen. Er verstand sie als »Aktenstück aus dem bekannten Inquisitionsprozeß gegen den Mystiker«.57 Auch TH£RY W spricht von »Aktenstücken aus dem Prozeß« (»pieces relatives au proces d'Eckhart«), ebenfalls KocH.59 WINFRIED TRUSEN differenziert; »Die in Frage kommenden Teile der Soester Handschrift 33 sind eine Kopie von Schriftsätzen in Zusammenhang mit dem Kölner Prozeß, teils amtlicher Herkunft, durch den Gerichtsschreiber verfaßt, teils solcher, die Eckhan selbst zuzuordnen sind.«60 Der beobachtete Fehler eines unorganischen articulns-Zusatzes bringt die Deutung der Soester Texte als »amtliche Protokollaufnahme der Gerichtsverhandlung vom 26. September 1326«61 ins Wanken. Die offizielle Liste I mit beanstandeten Sätzen Eckharts hatte nur 48 Satze, nicht 49, von denen Eckhart ausdrücklich spricht (praedicti articuli, cum smi quadragmta novem LW V, S, 276,9f.}. Eckhart bereitete mit einer 49er-Liste seine Verteidigung vor, nicht mit einer 48er-Liste, Es dürfte in Wirklichkeit so gewesen sein, daß Eckhart aufgrund der ihm überreichten Listen seine Einlassungen vorbereitete, und diese auf der entscheidenden Gerichtsverhandlung vom 26. September 1326 vorlas und wortwörtlich protokollieren ließ. Diese Protokolle des Kölner Gerichts sind verlorengegangen. Erhalten geblieben sind die Privatmaterialien Eckharts in Gestalt der Soester Abschrift. Der Kölner Verteidigungsschrift Eckharts eignet somit lediglich ein literarischer Charakter und nicht zusätzlich noch ein notarieller. III. Generelle Einsichten in die lateinische Überlieferung im Vergleich mit der deutschen l. Eine Handschrift, die einen Text Eckharts enthält, wird gemeinhin >EckhartHandschrift< genannt, auch wenn dieser Text nur aus einem einzigen Satz besteht, wie in vielen deutschen Handschriften. RUH hat diese Bezeichnungsweise von Handschriften gerügt, weil sie ein falsches Bild von der Breite der Überlie5t>

Eine lateinische Rechtfertigungsschrift des Meister Eckhart, hg. von P. AUGUSTINUS DANIELS O.S.B. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 23,5), Münster i. W. 1923. 57 Ebd., S. XVI. 58 GABRIEL THERY, Edition critique des pieces relatives au proces d'Eckhart contenues dans le manuscrit 33b de la bibliotheque de Soest, Archives d'histoire doctrinale et litteraire du Moyen age l (1926-27), S. 129-268. 59 Vgl. LW V, S. 256. 60 TRUSEN, Der Prozeß [Anm. 53], S. 86. 61 LW V, S. 265.

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ferung vermittelt. KOCH spricht präziser von »großen Eckhart-Handschriften«, zu denen er die vier Handschriften E, T, C und B zählt, und von »Miszellanhandschriften, die einzelne Stücke enthalten« (LW III, S, IX-X). Solche Miszellanhandschriften sind S (>ResponsioQuaestiones ParisiensesSermo die b. Augustini Parisius habitusExpositio s, Evangelii secundurn IohannemOpus tripartitumLiber parabolarum Genesis« ist der einzige bekannte und erhaltene Teil von Eckharts zweitem großen Werk, dem >Liber parabolarum rerum naturaliums gehört also ursprünglich nicht zum >Opus tripartitumOpus tripartitum< gehört zwar, dem Plane Eckharts nach, der >JohanneskommentarOpus tripartitum< separat überliefert worden, wofür die Berliner Handschrift ein Zeuge ist, und er ist in die Handschrift C nur geraten, weil dies der Sammelabsicht des Kompilators entsprach, wie auch die Aufnahme der >Sermones< in den C-Codex auf ihn zurückgeht. Auf die Existenz einer Sarnmelhandschrift, die sowohl den >Liber parabolarum Genesis« an erster Stelle und die abgeschlossenen Werke (ohne >Johanneskommentar< und ohne >SermonesLiber parabolarum Genesis< ganz mit einer aus T und C nicht bekannten Tabula contentorum (63ri-64rb) zu Anfang und unmittelbar anschließend den ersten Teil des >Opus tripartitum< bis einschließlich >Expositio libri Genesis* (70ra—103va), Dies mag Absicht sein. Der unbekannte Interessent an Eckharts Schriften hatte es offensichtlich nur auf die beiden Genesis-Kommentare abgesehen. Ob der Plan, die beiden Großwerke Eckharts in einer einzigen Handschrift zu vereinen, auf Eckhart selbst zurückgeht, wissen wir nicht. Die von KOCH sogenannten »großen Eckhart-Handschriften« müssen wir ihrem Inhalt nach als Sammel- und Aus wähl-Handschriften von Werken Eckharts verstehen, in denen allerdings die Teile des >Opus tripartitum< den größten Umfang ausmachen. Anders verhält es sich bei den deutschen Schriften Eckharts. Von ihnen ist nie eine Sammelhandschrift angelegt worden. Eine >Ausgabe letzter Hand< von deutschen Texten Eckharts, wie wir sie in der CT-Redaktion für die lateinischen Werke vorliegen haben, gibt es nicht. Eckhart selbst scheint an eine solche nie gedacht zu haben, und auch spätere Sammler kennen wir nicht, die beabsichtigt hätten, Eckharts deutsche Schriften in einem Kodex zusammenzutragen. Auch

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Einzelhandschriften mit nur einem einzigen deutschen Werk Eckharts, vergleichbar der Berliner Johanneskommentar-Handschrift sind unbekannt. Es gibt nicht einmal eine Sammlung seiner deutschen Predigten, die dem Konzept der >Sermones< oder dem Predigtbuch Johannes Taulers entsprächen, abgesehen vom >Paradisus anime mtelhgentis< mit 64 Predigten von 12 verschiedenen Autoren, darunter Eckhart allerdings mit 32 Predigten vertreten. Die Sammlung ist aber erst nach Eckharts Tod angelegt worden. Die 101 Predigten und Predigtskizzen, die jetzt nach der einzigen Handschrift C als >Sermones< ediert sind, muß Eckhart als nicht pubhkationsreif angesehen haben. Wie er sich ihren ausgereiften Endzustand gedacht haben dürfte, ist an den >Sermones super Ecclesiastici c. 24,23-31< abzulesen, die er für wert hielt, sie dem >Opus tripartitum< frühzeitig zu inkorporieren. Zur Publikation freigegeben haben dürfte Eckhart die lateinischen Einzelpredigten >Sermo die b. Augustini Parisius habitus< und >Sermo Paschalis a. 1294 Parisms habitusStreugut< wie viele der deutschen Predigten überliefert sind. Wenn aus dem Blickwinkel der Überlieferung der lateinischen Werke verständlicherweise gefordert wird, es möchten auch die »Originalsammlungen« 62 der deutschen Predigten rekonstruiert werden, wie dies für die Originalsammlungen der lateinischen Werke versucht wurde, dann muß man zum Vergleich die lateinischen Predigten Eckharts heranziehen und darf nicht die Werksammlungen der »großen Eckhart-Handschriften« im Auge haben. Es ist aber sebr wohl denkbar und sogar wahrscheinlich, daß Eckhart wie die lateinischen auch seine deutschen Predigten in Heften (quaterni) gesammelt hat. Wir dürfen uns vorstellen, daß er einzelne Predigten oder gar auch einzelne Hefte zur Nachschrift freigegeben hat, aber zu einer endgültigen Abschrift aller Hefte, wie bei den lateinischen Sermones geschehen, ist es offensichtlich nie gekommen. Die deutschen Handschriften mit Predigten und Traktaten Eckharts sind samt und sonders Miszellanhandschriften, vergleichbar den lateinischen Handschriften A, D, F, R, S und V, Die Texte Eckharts sind in ihnen vermischt mit zahllosen anderen Texten geistlichen Inhalts, weshalb die sog. >Eckharthandschriften< nicht ganz zu Unrecht einfach Mystikhandschriften genannt werden. Jede dieser Handschriften verlangt eine sehr genaue Analyse ihres Gesamtinhalts wie ihrer kodikologischen Eigenheiten, Und jede einzelne Predigt verlangt eine textvergleichende Untersuchung durch alle Handschriften hindurch, die sie überliefern. Dies ist, wiederum verglichen mit der lateinischen Überlieferung von lediglich 14 Handschriften, eine gigantische Arbeit, vor der QUINT mit Recht zurückschreckte. »Vielleicht«, gibt er zu bedenken, »kann sie nur von einem Stab von Forschern im Auftrage einer Akademie bewältigt werden.«63

62

STURLESE [Anm. 32], S. 169-183, hier S. 179. *3 QUINT, Die Überlieferung [Anm. 7], S. 936.

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2, KOCH hätte es nicht für möglich gehalten, daß aus dem Studium der Einzelhandschriften und der Analyse der Textabhängigkeiten eine recht genaue Chronologie der Werke Eckharts erstellt werden kann. Ohne die Details nochmals zu wiederholen: Die nachstehende Liste gibt einen Überblick über alle lateinischen Werke Eckharts und ihre sichere oder erschlossene Entstehungszeit: L II, III. IV. V. VI.

>Tractatus super Oratione Dominica«: D, K (vor 1294) >Sermo Paschalis a. 1294 Parisms habitusColIatio in Libros SententiarurnQuaestiones ParisiensesSermo die b. Augustini Parisius habitusOpus tripartitum< >Prologus generalis in opus tripanitumPrologus in opus propositionumSermones et Lectiones super Ecclesiastici c. 24,23-31Expositio libri Genesisc C, T, E, K, L (1303/05) >Expositio libri Exodk C, T, E, K (1303/05) >Expositio Libri Sapientiae«: C, K, E (1305) >Expositio sancti Evangeiii secundum IohannemSermonesLiber parabolarum rerum naturalium< >Liber parabolarum GenesisOpus tripartitumOpus tripartitum< und der Prolog II zum >Opus expositionurn< bereits um 1305 abgeschlossen waren, der Kommentar zu Genesis I gerade bearbeitet wurde und der Sapientia-Kommentar schon der Vollendung entgegenging, dann müssen wir die bisherige Ansicht revidieren und künftig »von einer grundlegenden Einheitlichkeit in Eckharts >Erfurter< und >Pariser< Werk ausgehen«.64 Die Annahme, die >Prologi in Opus tripartiturn< seien bereits vor den Pariser Quästionen ausgearbeitet worden, hat auch Konsequenzen für die zeitliche Einordnung einer Reihe deutscher Predigten in das Gesamtwerk Eckharts. Eine zweite Korrektur der bisherigen Werkeinteilung muß beim >Liber parabolarum Genesis< vorgenommen werden. Durch die Oxforder Handschrift L ist deutlich geworden, daß dieses Buch nicht zum >Opus tripartitum* gehört, sondern erst durch den CT-Redaktor diesem zugeordnet wurde. Wenn von einer Wende in Eckharts Werk gesprochen werden soll, dann liegt diese nicht zwischen den Pariser Quästionen und dem >Prologus STURLESE [Anm. 40], S. 445.

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generalis in Opus tripartitumOpus tripartitum< unvollendet aufzugeben und ein neues Werk mit dem >Liber parabolarurn Genesis< zu beginnen. Dieser Entschluß fiel wahrscheinlich nach 1313, nach Eckharts Rückkehr aus Paris. Ein genaues und nochmaliges Studium der zahlreichen Querverweise in der Erfurter Handschrift E hat auch Klarheit über die tatsächlich zu Ende geführten Teile des >Opus tripartitum< gebracht. Obwohl es einen Rückverweis in >Sapientia< n. 120 auf den >Liber propositionum< gibt, hat Eckhart keine Zeile davon geschrieben, auch vom versprochenen >Opus quaestionum< nicht, 27 Querverweise beziehen sich auf Kommentare zu den Paulusbriefen, zu den Psalmen, zu Matthäus, zu Isaias und zu Deuteronomium, aber diese Werke gibt es nicht. Aus den Querverweisen ist abzulesen, »daß Eckhart vieles schreiben wollte, und nicht, daß er vieles geschrieben (hat)«.65 3. Die bisher bekannten lateinischen Handschriften mit Werken Eckharts haben das eine gemeinsam, daß sie meist über nur eine oder höchstens zwei Vermittlungsstufen einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Person Eckharts erschließen lassen. Die rekonstruier baren Tradierungswege führen entweder nach Erfurt oder nach Köln, und sie führen zurück bis unmittelbar an den Schreibtisch Eckharts. In der Erfurter Handschrift E sind die originalen Textentwürfe sogar in ihren einzelnen Entstehungsschichten noch greifbar. In der Soester Verteidigungsschrift führen die Spuren bis in Eckharts Zelle des Kölner Dominikanerklosters. Aus einer Sammelhandschrift, die dem Schreiber von L vorgelegen hat und die im Kölner Dominikanerkloster vorhanden war, haben die beiden Denunzianten ihre Sätze aus den lateinischen Werken genommen. Sie orientierten sich an der Werkabfolge des Überheferungstyps L. Auch für den >JohanneskommentarÖpus propositionum< und des >Opus quaestionum< ausgearbeitet hat. NIGEL F. PALMER (Zisterzienser und ihre Bücher. Die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte von Kloster Eberbach im Rheingau unter besonderer Berücksichtigung der in Oxford und London aufbewahrten Handschriften, Regens bürg 1998, S. 124f.) ist geneigt anzunehmen, daß Eckhart beide Teile tatsächlich geschrieben hat, nachdem er im Eberbacher Bibliothekskatalog von 1502 Einträge über drei lateinische Eckhan-Handschriften (»XI8 Volumen maius magistri Eckardi Initium Agnüionem enim r erum. XI9 Opus tripertitum magistri Eckardi Initium Radix siu-e origo. X20 Opus tripertitum Initium Doctons mentio in hoc«) entdeckte, die in der mittelalterlichen Klosterbibliothek von Eberbach gestanden hatten: PALMER plädiert dafür, »dem Eberbacher Katalog Glauben (zu) schenken und X19 als einen verlorenen Teil von Eckharts Hauptwerk (zu) identifizieren. Ob >Opus proposhionum< oder >Opus quaestionurnSerrnones noviParadisus anime intelligentis< mit 32 deutschen Predigten Eckharts ausschrieb, sollte nicht unerwähnt bleiben. Die Handschrift T, die als einzige den Namen Eckhart nennt, stammt aus Trier, aus der Benediktinerabtei St. Matthias. Ihre Herkunft ist noch nicht genauer erforscht, auch die der Nikolaus-Kusanus-Handschrift nicht. Über die Herkunft der Exzerptsammlung K ist sich KAEPPELI einigermaßen sicher: »Eine so vollständige Eckhart-Handschrift dürfte der Exzerptor wohl arn ehesten im Kölner Dominikanerkloster gefunden haben.« 69 Die lateinischen Schriften Eckharts wurden offensichtlich nur in einem elitären Klerikerkreis weitergereicht, der um die Person Eckharts, seine Lehre und seine Verurteilung wußte. Die Angehörigen dieses Kreises hat STURLESE nicht ohne Berechtigung »Eckhartisten« genannt, weil sie trotz der Verurteilung des Meisters dessen Schriften bewahrten, abschrieben und studierten. Auch sie gehören zu den fratres studiosi,70 die sich Eckhart als ideale Leser seiner Schnftkomrnentare gewünscht hat; er dürfte diese aber zunächst »in den lernenden und lehrenden Kreisen der Universität (gesucht haben)«.71 Diese hermetisch anmutende Texttradierung ist den deutschen Werken fremd. 4. Die im Milieu scholastischer Gelehrtheit überlieferten lateinischen Schriften garantieren in hohem Maße auch die Authentizität der Texte, selbst auch dann, wenn sie ohne Autornennung weitergegeben werden. Nicht einmal die umversitäre Technik der Predigtnachschrift tut ihr einen Abbruch. Die von einem Hörer nachgeschriebene Augustinus-Predigt gilt genauso als echt wie eine von Eckhart selbst geschriebene Predigt. KOCH zählt sie sogar zu den »drei von Eckhart selbst aufgezeichneten Predigten«.72 Bei den deutschen Schriften Eckharts ist ihre Echtheit indes ein Problem. 66 67

69 70 71 72

CHRIST [Anm. 21], S. 16. KOCH [Anm. 30], S. 139. Siehe PALMER [Anm. 65], S. 125: »Erst ihre Identifizierung mit dem Katalogeintrag [Eberbacher Bibliothekskatalog von 1502: >h9 Vita arnulfi conuersi Item editio super genesim Item quidam tractatus Breularij filij scrapionis medici Imtium Sicitt in ger-Consolatio theologiae< des Johannes von Dambach aus dem >Buch der göttlichen Tröstung« (mit Übersetzung ins Lateinische) und in den Zitaten des Jordan von Quedlinburg und Marquards von Lindau. Was oft bei den Rezeptionsprodukten der deutschen Predigten Eckharts beklagt wird, das findet sich auch bei den lateinischen Bearbeitern: Sie drücken Eckharts Texte und Gedanken auf das Niveau gängiger Erbaulichkeit. KOCH kann darüber seine Enttäuschung nicht verbergen: »Von dieser Ontologie ist bei den Nachfahren nichts mehr zu finden. Entweder greifen sie zu den morales expositiones, oder aber sie pflücken interessante und geistreiche Sätze heraus, um damit ihre langweiligen Traktate und Predigten zu schmücken.« 73 Das Rezeptionsinteresse späterer Eckharristen prägt entscheidend die Wieder- und Weitergabe der Schriften Eckharts. 6. Die Eigenart der lateinischen Schriften, auf die bereits eine spezielle Adressatenschaft hindeutet, und die Eigenart der deutschen Schriften Eckharts, die sich ebenfalls in ihrer Besonderheit von ihren Adressaten, Lesern und Interessenten her profiliert, können noch schärfer in den Blick genommen werden, wenn bei den text- und überlieferungsgeschichtlichen Studien neben den Entstehungsanlässen der erhaltenen Handschriften auch Eckharts primäre Publikurnsintention mitbedacht wird. Es können die Adressaten, für die Eckhart seine deutschen Texte geschrieben hat, andere gewesen sein als diejenigen Leser seiner Schriften, die uns in den Handschriften vornehmlich des 15. Jahrhunderts erhalten sind. ADOLF SPAMER glaubte 1909 eine grundlegende Verschiedenheit in der Überlieferung der lateinischen und deutschen Werke feststellen zu können, und er glaubte, sie aus ihren unterschiedlichen Inhalten, ihren unterschiedlichen literarischen Formen und vor allern von einem neuen volkssprachlichen Publikum her, für das Eckhart zu schreiben begonnen habe, erklären zu müssen: »Hier die lateinischen, nur einem beschränkten, gebildeten kreis zugänglichen Schriften philosophischen Inhalts, die etwas eigenes, wol auch systematisches geben wollten; dort gelegenheitsreden und erbauungsstücke, deutsch geschrieben oder gesprochen für jedermann, der sie hören wollte und vermutlich 73

KOCH [Anrn. 30], S. 154.

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zumeist von fremden Händen nachgeschrieben, vielfach auch wol nur nach dem blossen gedä'chtnis zu papier gebracht. Darum die einen in leidlich wenig zerstörter form auf uns gekommen, die anderen zerflattert, zersetzt, in buntem Wechsel umgeformt, gemeineigentum, verwertbar nach personlichstem geschmack und empfinden.« 74 Das Bild von den beiden Überlieferungssträngen der lateinischen und deutschen Werke Eckharts und die Vorstellung von gelehrten Adressaten für die lateinischen Schriften und ungelehrten Hörern (und offensichtlich auch Lesern) der deutschen Schriften, es ist zu grob gezeichnet und es stimmt nicht. Die >Reden der Unterweisungs der >Liber Benedictus< und viele seiner deutschen Predigten sind keine »gelegenheitsreden und erbauungsstücke, deutsch geschrieben oder gesprochen für jedermann«. Die >Reden< sind gerichtet an Eckharts gelehrte confratres in Erfurt, und auch an alle übrigen in den Klöstern der Teutonia und Saxonia. Sein >Trostbuch< mit der Predigt >Vom edlen Menschen< wurde auch in einem Exemplar »der Königin Agnes von Ungarn geschickt«, wie die "Verteidigungsschrift/ berichtet,75 verfaßt aber hat es Eckhart »für trostbedürftige Menschen seiner Lebenswelt«/6 darunter sicher auch und in erster Linie die gelehrten Schwestern und Brüder seines Ordens. Die Predigtsammlung >Paradisus anime intelligentis< mit 32 Predigten Eckharts war für die Praxis der Predigerbrüder bestimmt. Deutsche Predigten Eckharts wurden auch ins Lateinische übersetzt, so die >Armutspredigt< (QuiNT Nr. 52},77 Eckharts deutsche Predigten genießen im Häresieprozeß gegen ihn das gleiche Ansehen und das gleiche Gewicht wie die lateinischen Werke. Zu bedenken ist auch: Eckhart will in seinen deutschen Schriften die gleiche Lehre vermitteln wie in den lateinischen — einer Leser- und Hörerschaft, die nicht minder Anspruch auf diese Lehre hat wie die Gelehrten. In der Apologie des >Buchs der göttlichen Tröstung< weist er mit Entschiedenheit darauf hin, daß er keinen Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten bei der Vermittlung seiner Lehre macht: »Auch wird man sagen, daß man solche Lehren nicht für Ungelehrte sprechen und schreiben solle. Dazu sage ich: Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer gelehrt, und so kann niemand dann lehren oder schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden. [...] Sankt Johannes verkündet das heilige Evangelium allen Gläubigen und auch allen Ungläubigen, auf daß sie gläubig werden, und doch beginnt er das Evangelium mit dem Höchsten, das ein Mensch über Gott hier auszusagen vermag,«78 WOUTER GORIS stellt mit Recht fest, »daß an das Be74 75

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77 78

SPAMER, Zur Überlieferung [Anm. 10], S. 307-420, hier S. 308. LW V, S. 305,2f,: Isti sunt articuü extracti de lihello, quem misit magister Ekardtts regmae ifngariae, scriptum in Teutonico. RUH [Anm. 3], S. 322. Vgl. D W II, S. 517-521. D W V, S, 60,27-61,8: Ouch so! man sprechen, daz man fogetane lere niht ensol sprechen noch schrihen ungelerten. Dar ztto spriche ich: ensol man niht leren ungelerte Hute, so enwirt niemer nieman geleret, so enmac nieman leren noch schrihen. Wan dar

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griffsniveau, das vom Eckhartschen Publikum gefordert wird, hohe Ansprüche gestellt werden«.79 Schließlich kann die unvoreingenommene Erfahrung lehren, daß Eckharts deutsche Schriften das gleiche intellektuelle, philosophische, theologische und spirituelle Niveau haben wie die lateinischen, ganz abgesehen davon, daß sie sich in ihren inhaltlichen Aussagen decken und gegenseitig ergänzen. So bilden vor allem die lateinischen Sermones »die wichtigste Brücke vom lateinischen Schrifttum Eckharts zu seinen deutschen Predigten«,80 Mit Hilfe der >Sermones< war es JOSEF QUINT möglich, eine ganze Gruppe von deutschen Predigten (Nr. 17—24) als echt zu erweisen. Wer die Kommentaranmerkungen der Kritischen Ausgabe liest, wird erstaunt sein, wieviele textliche und inhaltliche Parallelstellen sowohl aus deutschen wie aus lateinischen Werken die Herausgeber zusammenzutragen vermochten. Wegen der inhaltlichen Nähe der lateinischen und deutschen Schriften Eckharts - er ist ja der eine Autor für beide Schriftkategorien - ist es mehr als angebracht, auch ihre Überlieferung gemeinsam zu betrachten und zu erforschen, zumal erst durch die kombinierte überlieferungsgeschichtliche Untersuchung das deutsche Werk Eckharts in die Werkchronologie der lateinischen Werke eingeordnet werden kann. Aus der Einsicht in die ganzheitliche Chronologie der Schriften, in der vor allem auch die zeitliche Entstehung der lateinischen >Sermones< noch näher untersucht werden muß, darf man sich auch ein genaueres Wissen über Eckharts philosophische Entwicklung versprechen. IV. Die deutschen Schriften In den drei Jahrzehnten, in denen Eckhart lateinische Werke schrieb, hat er auch deutsche Schriften verfaßt. Diese sind der Zahl der Handschriften nach reicher überliefert als die lateinischen. Doch bezüglich der Vorstellung von einer »unüberschaubaren Vielzahl von Handschriften«, die INGEBORG DEGENHARDT suggeriert,81 ist mit RUH daran zu erinnern, daß »über die Breite der Überlieferung der dt. Werke E.s bis in die Spezialliteratur hinein völlig irrige Vorstellungen (herrschen)«.82 Es stimmt zwar, daß sich über 300 Handschriften zählen lassen, in denen sich Eckhart-Texte finden, aber es gibt keine einzige Handschrift, die

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umbe leret man die ungelerten, daz sie werden von ungeleret geleret. [...] Sant Johannes sprichet daz heilige ewangelium allen gelotthigen und auch allen ungelenkigen, daz sie gehitbic werden, und doch beginnet er daz ewangelmm von dem hcehsten, daz kein mensche von gote hie Besprechen mac, WQUTER GORIS, Eckharts Entwurf des Opus tripanitum und seine Adressaten, in: Meister Eckhan: Lebensstationen - Redesituationen, hg. von KLAUS JACOBI (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. N. F. 7), Berlin 1997, S. 379-391, hier S. 379. LW III, S. XXI.

DEGENHARDT [Anm. 2], S. 303. KURT RUH, 2VL II, Sp. 332.

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als pure Eckharthandschrift bezeichnet werden könnte, weil in ihr die hauptsächlichen Schriften des Meisters versammelt wären. Blickt man jedoch nicht auf die Gesamtzahl der deutschen Eckhart-Handschnften, sondern darauf, wieviele Handschriften die einzelnen Werke bezeugen, dann schrumpft die Zahl der Textzeugen auf ein Maß, das die deutsche Eckhart-Überlieferung durchaus in eine Relation zur lateinischen Überlieferung zu setzen erlaubt; auch sie muß als »schmal«83 eingeschätzt werden: I. II, III, IV.

»Reden der Unterweisung«: 44 Hss. >Buch der göttlichen Tröstung*: 4 Hss. »Predigt vom edlen Menschen«: 3 Hss. »Deutsche Predigten*: QUINT Nr. I (18 Hss.), 2 (21), 3 (6), 4(18), 5a (3), 5b(15), 6(5), 7(5), 8(9), 9(13), 10(4), 11(6), 12(9), 13(6), 13a(l), 14(2), 15(1), 16a(l), 16b (9), 17 (8), 18 (8), 19 (16), 20a (9), 20b (10), 21 (18), 22 (6), 23 (13), 24 (5), 25 (7), 26 (10), 27 (6), 28 (5), 29 (5), 30 (9), 31 (16), 32 (18), 33 (6), 34 (18), 35 (10), 36a (3), 36b (10), 37 (17), 38 (5), 39 (15), 40 (3), 41 (4), 42 (7), 43 (17), 44 (12), 45 (20), 46 (4), 47 (10), 48 (3), 49 (10), 50 (1), 51 (1), 52 (13), 53 (5), 54a (11), 54b (4), 55 (8), 56 (2), 57 (5), 58 (6), 59 (7), 60 (20), 61 (7), 62 (16), 63 (6), 64 (3), 65 (3), 66 (8), 67 (5), 68 (3), 69 (17), 70 (13), 71 (14), 72 (13), 73 (7), 74 (3), 75 (3), 76 (13), 77 (5), 78 (7), 79 (9), 80 (IS), 81 (12), 82 (7), 83 (5), 84 (5), 85 (2), 86 (12), STEER Nr. 87 (11), 88 (3), 89 (2), 90(9), 91(8), 92(2) s 93(9), 94(2), 95(21), 96(5), 97(2), 98(3), 99(1), 100(12), 101 (32), 102 (28), 103 (30), 104 (54), 105 (15), 106 (25), 107 (17), 108 (4), 109 (11).

Schmal ist die Überlieferung auch deshalb, weil viele Handschriften die Texte in einem fragmentarischen Zustand bieten. Den Predigttext der Predigt 91 mit einem Umfang von 112 Zeilen bewahrt vollständig nur die Handschrift Lo4. Die nächsten Hauptzeugen des Textes, die >Paradisus-anime-intelligentisReden der Unterweisung* täuscht die hohe Zahl von 44 Textzeugen; nur 8 (B17, Eb, F2, Ka4, Ka5, M17, Prl, Pr2) haben den Text ganz; die übrigen 36 muß QUINT als Fragmenthandschriften anführen (Diagramm 1). Vom >Liber BenedictusBuch der göttlichen Tröstung« und der Predigt >Vom edlen 83

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Ebd., Sp. 332. FREIMUT Lös ER, Als ich me gesprochen hän. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckbarts im Lichte eines Handschriftenfundes, ZfdA 115 (1986), S. 206227.

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u ResponsioVotum avenionienseSermones< zeigen, haben einen etwas geringeren Grad an Echtheit (Prr. 17-24); eine Echtheit nur noch dritten und vierten Grades können die übrigen Predigten beanspruchen. Den abnehmenden Sicherheitsgrad der Echtheit hat QUINT zudem zum Prinzip der Anordnung und Einteilung der Edition der Predigten gemacht.97 Auch mit dem 95 % 97

QUINT, Die Überlieferung fAnm. 7], S. 945f. DERS., Neue Handschriftenfunde [Anm. 8], S. VIII. Erste Abteilung: Durch die >Rechtfemgungsschrift< als echt bezeugte Predigten (DW I, Pr. 1-16b), Zweite Abteilung: Durch Übereinstimmung mit Predigten des »Opus sermonum< als echt erwiesene Predigten (DW I, Pr. 17-24), Dritte Abteilung: Auf Grund der Verbindung durch Rückverweise und beachtliche Textparallelen mit DW l,

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Wirrwarr der Dialekte in den Schriften Eckharts wurde QUINT fertig. Er beseitigte alle Mundartunterschiede und transformierte die Texte in die Kunstsprache des Normalmittelhochdeutschen. Weil QUINTS Interesse an Eckharts Schriften einzig und allein ihrer Edition galt, hat er das Handschriftenstudium rigoros auf den Sektor der Heuristik eingeschränkt. Wenn die Grundannahmen JOSEF QUINTS und KOCHS über die Überlieferung der deutschen Schriften Meister Eckharts stimmen (Nachschrift der Predigten durch Hörer, prinzipielle Ungesichertheit der Echtheit der Predigten, »unentwirrbares Gestrüpp der Überlieferung«98), dann konnte QUINT bei ihrer Edition nicht anders verfahren, als er verfahren ist. Aber stimmen diese Grundannahmen? l. Ich widme mich zunächst der Ansicht, daß »uns die Predigten nur in Kopien von Nachschriften seiner Hörer nach dem gesprochenen Wort des berühmten Kanzelredners überkommen« 99 seien. HERMANN BÜTTNER hat die Predigt >Vom edlen Menschen< »die erste e r w e i s l i c h von Eckhart selber niedergeschriebene deutsche Predigt« [Sperrung von BÜTTNER]100 genannt. In der gleichen Weise hat er keine andere deutsche Predigt mehr autorisiert. KOCH leitete aus dieser unverfänglichen Äußerung BÜTTNERS ab, Eckhart habe in seinem ganzen Leben nur eine einzige Predigt auf deutsch geschrieben, eben die Predigt >Vom edlen Menschenumwölkt sondern auf predicationes, also auf »die Predigten vor dem einfachen Volk«, weshalb der Text der Bulle eigentlich korrekt heißen müsse qitas etiam redegit in scriptis und nicht que etiam redegit in scriptis. Aufgrund des manipulierten Wortlautes der Bulle glaubt KOCH, dem DW 5 und den lateinischen Werken als echt erwiesene Predigten (DW II, Pr. 25-57), Vierte Abteilung: Durch Rückverweise auf Textparallelen in DW 2 und auf Grund beachtlicher Übereinstimmungen mit D W l, DW 2, D W 5 und den lateinischen Werken als echt erweisbare Predigten (DW III, Pr. 58-86). 98 PHILIPP STRAUCH, Meister Eckhart-Probleme. Rektoratsrede, Halle 1912, S. 19. 99 Siehe dazu näher GEORG STEER, Zur Authentizität der deutschen Predigten Meister Eckharts, in: Eckardus Theutonicus [Anm. 32], S. 165. 100 HERMANN BÜTTNER, Meister Eckharts Schriften und Predigten. Aus dem Mittelhochdeutschen übers, und hg. von H. B., Bd. 2,2Berlin 1917, S. 223. 101 LAURENT [Anm. 29], S. 436.

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Papst einen Irrtum nachweisen zu können: »Gewiß steht nicht da: >quas etiam redegit ...Reden der Unterweisung< eine Parallele zu dieser doppelten medialen Realisierung der Predigt. Die >Reden der Unterweisung« sind der schriftliche Ableger jener zahlreichen Ansprachen, die Eckhart vor seinen Brüdern im Erfurter Konvent gehalten hat. Die abendlichen mündlichen Ansprachen selbst sind ein für allemal verklungen, genauso wie die mündlichen Predigten vor dem Volk, erhalten geblieben aber sind nur solche, die er verschriftlicht hat. Zweitens: Die Kurie hat als Zeugnis ihrer Annahme von mündlicher und schriftlicher Predigttätigkeit Eckharts eine Aussage von Eckhart selbst. In der Bulle heißt es: »Wir haben erfahren, daß durch das Bekenntnis jenes Eckhart zuverlässig feststeht, daß er sechsundzwanzig Artikel gepredigt, gelehrt und geschrieben hat.« 104 Eckhart selbst bezeugt in seiner ^Verteidigungsschrift^ 18 Predigten als von ihm geschriebene Predigten: »Sätze, die ich gepredigt, gelehrt und geschrieben habe.«105 Die Predigt >Vom edlen Menschern erscheint nur in ihrer Bezeugungsform unikal, nicht in ihrer literarischen Existenzform. JOSEF QUINT scheinen schon früh Zweifel an der These der Hörernachschriften gekommen zu sein, denn er bemerkt be102

KOCH [Anm. 13], H, S. 42f. Ebd., S. 42. 104 LAURENT [Anm. 29], S. 436: Ex inqnisttione siquidem contra, eum super hiis attctontate venerabilis fratris nostn Henna, Coloniensis arckiepiscopi, prws facta, et tandem auctoritäte nostra in Romana Curia renovata, comperimus, evidenter constare per confesiionem ewsdem Ekardi, quod ipse predicamt, dogmatizavit et scripsit viginti sex articttlos, Zur Übersetzung vgl. QUINT (Hg,), Meister Eckehan [Anm. 13], S. 450. Vgl. auch das Schreiben des Papstes an den Kölner Erzbischof vom 15. April 1329: /.../ comperirntii evidenter ettm predicasse, scripsisse et dogmatizasse nonnullos articulos contra catholicam veritatem (LAURENT [Anm. 29], S. 444). 105 Responsio Proc. Col. II n. 146, LW V, S. 353s2f: Postremo notandum quod, licet in quolibet articulorum, quos ego praedicavi, doctti et scripsi; vgl, auch STEER [Anm. 99], S. 15lf. m

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reits im Jahr 1932: »Es ist indessen die andere Frage, ob ein Prediger vom Range Meister Eckeharts die Verbreitung und Sammlung seiner Predigten völlig unbekümmert den Nachschreibern überließ, ohne irgend eine Kontrolle über diese Publizistik auszuüben.« Weiterhin: »Man darf es als ausgeschlossen ansehen, daß es sich bei den meisten der Predigten, die sich geradezu als oratorische Meisterstücke in bezug auf ihren architektonischen Aufbau erweisen und eine lückenlos zwingende Gedankenentwicklung erkennen lassen, um Stegreifprodukte handelt.« Und noch ein drittes Mal: »Immerhin muß es erstaunen, wenn man den oft außerordentlich schwierigen gedanklichen Gehalt bedenkt, daß für eine verhältnismäßig große Zahl von Predigten die hsl, Überlieferung im ganzen gut und zuverlässig ist. Wieder muß man sich fragen, wie es möglich war, das gesprochene Wort des Predigers in solcher Treue festzuhalten auf Grund bloßer Nachschrift ohne redaktionelle Mitwirkung des Autors,« 106 Als einziges Zeugnis einer tatsächlichen Hörer-Nachschrift, als Fragment in Nürnberg erhalten,107 sieht RUH die Predigt 99108 an. Doch auch diese Predigtwiedergabe läßt sich, wie ich glaube, als eine von Eckhart schriftlich abgefaßte Predigt verstehen.109 Drittens; reportationes, wie wir sie aus dem Milieu der Universität und durch die Zeugnisse einiger lateinischer Predigten Eckharts kennen, hat es in der Volkssprache nicht gegeben. Die Volkssprache verfügte nach den Untersuchungen von PAUL-GERHARD VÖLKER nicht über die technischen Voraussetzungen zur wörtlichen Redewiedergabe.110 Einzig von Caritas Pirckheimer, der Schwester Willibalds und Priorin des Klarissenklosters in Nürnberg, besitzen wir eine Mitteilung, sie habe auß des obgmelten wirdigen vaters mundt von wort zu wort angeschrieben, Sie meint damit aber nicht eine stenographische Nachschrift, sondern sie will lediglich sagen, daß sie die Predigten des Franziskaners Stephan Fridolin nach Diktat geschrieben hat. 111 2, Die Frage der Echtheit der Predigten Eckharts hat QUINT als das Kernproblem der Eckhartphilologie angesehen. Er meint, es sei für die deutschen Predigten »bei einem sehr großen Teil der Stücke ungemein schwierig und wegen der besonderen Eigenart der Überlieferung vielleicht nie restlos zu lösen«.112 Immerhin lassen sich von etwa 150 deutschen Predigten, die die Textüberlieferung mit dem Namen Eckharts in Verbindung bringt, nach der Auffassung 106

QUINT, Die Überlieferung [Anm. 7], S. 943 u. 945. KURT RUH, Fragment einer unbekannten Predigt von Meister Eckhart aus dem frühen H.Jahrhundert, ZfdA 111 (1982), S. 219-225. 108 DWIV, S. 246-261. 109 Ebd., S. 247-250. 110 PAUL-GERHARD VÖLKER, Die Überlieferungsformen mittelalterlicher deutscher Predigten, ZfdA 92 (1963), S. 212-227; vgl auch KURT RUH, Deutsche Predigtbücher des Mittelalters, in: Kleine Schriften, Bd, 2, hg. von VOLKER MERTENS, Berlin/New York 1984, S. 296-317, hier S. 298f. 111 VÖLKER [Anm. 10], Zeugnis Nr. 8; vgl. auch STEER [Anm. 99], S. 161. 112 DW I, S. XIX. 107

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QUINTS knapp 20 Predigten für Eckhart sichern, weil eine >Echtheitssonde< a u ß e r h a l b der Textüberlieferung zur Verfügung stehe - in dem Prozeßmaterial von Köln und Avignon, in der sog. >Rechtfertigungsschrift< Eckharts und in der Bulle >In agro dommico*. Alle Predigten, die keine Vergleichsbasis mit den Akten des Prozesses bieten, weil sie keine häresieverdächtigen Sätze enthalten, müssen darnach notgedrungen in ihrer Echtheit als ungesichert gelten. Doch nicht alle. Auch die lateinischen >Sermones< stehen außerhalb der deutschen Textüberlieferung. Sätze lateinischer >SermonesRechtfertigungsschnft< Eckharts nach den aufsehenerregenden Untersuchungen STURLESES gar kein Dokument des Kölner Prozesses ist, sondern eine private Schrift Eckharts, eine Verteidigungsschrift zwar, die ihrem literarischen Charakter nach dem >Liber Benedictus< zur Seite steht, der auch eine >Apologie< Eckharts kennt, und nicht etwa gerichtlichen Urkunden. Jedenfalls kann aus ihr nicht ein höherer Grad der Authentizität, eine notarielle Echtheit sozusagen im Unterschied zur bloßen literarischen, abgeleitet werden. Das ausgeklügelte System der Authentizitätsgrade geht damit seiner Stütze verlustig. Es hilft auch nicht, die Zahl der Echtheitsgrade auf drei zu reduzieren, wie dies RUH vorschlägt: »von gesichert über eingeschränkt [gesichert] bis zweifelhaft«. 113 Es läßt sich ja wohl die Echtheit selbst nicht in Grade einteilen. Entweder stammt eine Schrift von Eckhart oder sie stammt nicht von ihm. Graduell unterscheiden und werten lassen sich nur unsere Einsichten in die Echtheit der Texte. Diese aber verändern sich im Erkenntnisfortschritt. Genau besehen ist QUINTS »fallende Skala der Gewißheit« 114 nur eine schone Theorie, die der Wirklichkeit schon wegen ihrer Schematik nicht entsprechen kann. QUINT beachtet sie letztlich selbst nicht, sondern orientiert sich bei allen von ihm edierten Predigten, auch bei der Martha-Maria-Predigt (QuiNT Nr. 86},'I5 an den folgenden Primärkriterien der Echtheit: an dem in113

RUH [Anm. 3], S. 224. Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhard!« hg., übers, und komment. von UTA STÖRMER-CAYSA (Reclam Universal-Bibliothek 18117), Stuttgart 2001, S. 216. 115 Siehe DW III, S. 478: »Hsl. Bezeugung im Inhaltsverzeichnis von Stl (f. 2v) und von Sa (f. l v) [„,] Diese namentlichen Zuweisungen haben sich in den bisherigen Fällen von Eckhan-Predigten, die in den beiden Handschriften enthalten sind, als durchaus zu114

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haltlichen und textlichen Zusammenhang einer Predigt mit dem gesamten Werk Eckharts, dem lateinischen und deutschen, und an den Zeugnissen der handschriftlichen Zuschreibung an Eckhart.116 Generell erscheint es sinnvoll, bei den Predigten Eckharts zwischen Autorschaftsechtheit, Formechtheit und Wortlautechtheit zu unterscheiden. Redaktionell zersetzte Texte mögen ohne jeden Zweifel echt sein, weil sie ursprünglich Eckhart zum Verfasser haben, ihre Gestalt und ihr Wortlaut, in dem sie uns in der Überlieferung erscheinen, können allerdings alle Merkmale der UnursprüngUchkeit an sich haben. Ein Beispiel dafür ist die Predigt 95 >Os suum aperuit sapientiaes die wir in einer autornahen Fassung und in einer redigierten Fassung mit einem neuen Titelvers >Beatus homo qui invenit sapientiam< kennen.117 3. QUINT hat immer den Eindruck vermittelt, als wäre die Überlieferung der deutschen Schriften Eckharts eine besonders komplizierte und verwickelte, jedenfalls nicht zu vergleichen mit der einfachen Überlieferung der lateinischen Schriften. Nach den Forschungen der jüngeren Zeit zur Überlieferung der deutschen Werke Eckharts, vor allem seiner deutschen Predigten, darf man dies nicht mehr sagen.118 Die Überlieferung der Predigten Taulers ist nicht minder verwickelt als die der Predigten Eckharts.119 Der Vergleich gar mit der >Rechtssumme< Bruder Bertholds und dem deutschen >Lucidarius< lassen die Überlieferung der deutschen Werke Eckharts als geradezu unspektakulär normal erscheinen. Im Vergleich mit den lateinischen Schriften Eckharts jedoch weisen die deutschen Schriften eine exorbitante Überlieferungs vie If alt auf. Es ist vor verlässig erwiesen [...] Bedeutsam scheint mir für den Echtheitserweis insbesondere die Übereinstimmung der unten S, 498 Anm. 32 verzeichneten Stelle Sermo II, 2 n. 11, LW 4 S. 12,lff. [...] Für die Echtheit der Predig: sprechen aber weiterhin eine Reihe von inhaltlichen und textlichen Übereinstimmungen mit bereits als echt erwiesenen deutschen Predigten und mit Stellen in den lateinischen Werken, so: [es werden 13 Stellen verzeichnet].« 116 Die Rückverweisformel rechne ich zu den textlichen Parallelen. LÖSER, Als ich me gesprochen ban [Anm. 84], S. 208, hat zusammengefaßt, in welcher Reihenfolge der abgestuften Kriterien QUINT die Echtheit der Predigten beurteilt hat: »1. Das Zeugnis der Rechtfertigungsschrift und der Prozeßakten; 2. Übereinstimmung in Thema und Ausführung im ganzen mit Stücken des Opus Sermonum; 3. Rückverweise; 4. handschriftliche Bezeugung für Eckhan; 5. charakteristische inhaltliche Parallelen in sicher echten Predigten, den Traktaten von DW V und den lateinischen Werken; 6. eckhartische Stilmerkmale; 7. Aufbäuskizze der Predigt«. Vgl. auch GEORG STEER, Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts, in: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, hg. von GEORG STÖTZEL, 2. T., Berlin/New York 1985, S. 41-50, hier S. 46-48. 117 Siehe DW IV, S. 178-201 u. S. 178 Anm. 1. 118 Vgl. die Textanalysen aller Handschriften der Predigten 87-109 in DW IV. 119 JOHANNES GOTTFRIED MAYER, Die >VulgataEckharthandschriften< mehr interessiert als die Texte Eckharts und die Frage, ob diese echt und authentisch sind. Eine neue Sichtweise im Zuge der Erforschung der geistlichen Prosaliteratur des Spätmittelalters hat seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts den Blick zwar nicht vom originalen Text als solchem weggelenkt, ihn aber doch entschieden auf jene Fassungen des Textes fokussiert, in denen er in historischer Zelt gelesen wurde. Die historische Betrachtungsweise räumt der Rezeptionsfassung genauso viel Aufmerksamkeit ein wie der Autorfassung. Alle Ausformungen eines Textes zusammengesehen belegen den Weg seiner Vermittlung durch die Schreiber an die interessierten Leser.120 Für die Erforschung der deutschen Schriften Eckharts ist diese neue, historische Perspektive von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie läßt alle bisher bekanntgewordenen handschriftlichen Zeugnisse als Spiegelungen ihrer literarischen Adaptation verstehen. Sie führt zu allererst zu einer Neueinschätzung und enormen Aufwertung der Handschrift. Diese ist jetzt nicht mehr wie früher nur Träger von Texten und Varianten, sondern ist historisches Dokument des Vorgangs der Aneignung und Anverwandlung des eckhartschen Schrifttums. Jede einzelne Handschrift ist wichtig, ja jedes einzelne Handschriftenfragment. Sie bahnt dann, aus der Kenntnis der Überlieferungsgeschichte, letztlich auch den Weg zurück zur Ausgangsstation der Textvermittlung, zum Autortext. V. Textabschriften, Textformen, Textfassungen, Textkompilationen Die neue überheferungsgeschichthche Forschungsperspektive löst nun freilich nicht die alten Probleme der germanistischen Eckhartphilologie. Nach den Rezeptionsformen und der historischen Leserschaft der Schriften Eckharts zu fragen, macht nur Sinn bei Texten, die tatsächlich von Eckhart stammen, und nicht bei solchen zweifelhafter Autorschaft. »Eckhartverdächtige« Texte müssen weiterhin mit den Kriterien QUINTS auf ihre Echtheit geprüft werden. Dies kann heute freilich mit Aussicht auf größeren Erfolg geschehen, wenn erstens über Textvergleiche und Textidentifizierungen zwischen einzelnen Handschriften hinaus auch die Überh'eferungszusammenhänge der Texte und der Handschriften studiert werden, und wenn zweitens die Möglichkeiten der modernen Computertechnik genutzt werden, die sehr genaue Textsynopsen über das gesamte Werk Eckharts hin erlauben. Angestoßen haben die »neue Heuristik«, wie RUH die überlieferungsgeschichtlichen Forschungen zu den Eckharthandschriften 120

Siehe zum Methodischen jetzt zusammenfassend: WERNER WILLIAMS-KRAPP, Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick, IASL 25 (2000), S. 121.

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seit den 70er Jahren nennt,121 einmal die ungelösten Fragen zur Echtheit der Eckhart zugeschriebenen 31 Predigten in der Predigtsammlung >Paradisus anime intelligentisVon der ewigen geburtWitewe< sprichst in einer ändern wtse als ml als: der >verlazen ist< und verlazen hat. Also müezen wir alle creatüren lazen und abescheiden [,..] Auch der Rück verweis als ich me gesprochen bän}^ paßt unweigerlich auf die gleiche Predigt. Und zudem begegnet in ihr, und nur in ihr, die Paarformel verläzen ist und verlazen hat. Weitere gedankliche Parallelen zu anderen Predigten lassen begründetermaßen den Schluß zu, daß in dem Nürnberger Fragment eine bisher unbekannte Eckhart-Predigt vorliegt, deren Anfang und Ende allerdings fehlen. Vor allem die Lehre von der Geburt des Sohnes in der Seele, von der es heißt, sie geschehe m der Ewigkeit und Gott gebe sich in ihr ganz, ist so genuin eckhartisch, daß Zweifel an ihrer Echtheit ausgeschlossen werden müssen. Der Text präsentiert sich allerdings in einem recht defekten Zustand, weshalb es zur unterschiedlichen Einschätzung seiner Gestalt durch QUINT und RUH kommt. Eine genaue Analyse läßt ihn aber sicher als Mittelteil einer Predigt verstehen, die sogar einen klaren Aufbau zeigt.136 Das Nürnberger Fragment ist ein Beispiel dafür, daß selbst bei ungünstigster Überlieferung und ohne die Möglichkeit eines Rekurses auf die sog. >Rechtfertigungsschrift< Echtheitsnachweise erfolgreich geführt werden können. Das Fragment ist zudem von erheblichem üb erliefe rungs geschichtlichem Wert. Die Handschrift, aus der das Doppelblatt herausgelöst wurde, ist nach paläographischen Kriterien geurteilt in der »Zeit um 1300« geschrieben worden und muß wegen ihres hohen Alters »als frühester Textzeuge des Eckhartschen Predigtwerkes gelten«.137 Bedeutsam ist auch, daß Eckhart in dieser nach unserer Kenntnis frühesten deutschen Predigt bereits das Thema der Gottesgeburt anspricht. Sie mag in der Zeit nach 1303 abgefaßt sein, in der Eckhart nach seinem ersten Pariser Magistenum wieder in Erfurt wirkte und dort auch den Predigtzyklus >Von der ewigen Geburt< 138 verfaßte. Nicht neu entdeckt zu werden brauchte ein größerer Faszikel (HO'-loO^, »ein kleines ursprünglich selbständiges Pergamentbuch in 8°«,'39 mit sechs Pre133

Ebd„ S. 222; DW IV, Pr. 99, S. 246-261. Vgl. DW II, S, 319,1-2 (QuiNT Nr. 43). 135 Vgl. LÖSER, Als ich me gesprochen han [Anm. 84], S. 210. 136 Siehe DW IV, S. 251 f. 137 RUH, Fragment einer unbekannten Predigt [Anm. 107], S. 221. 131 Siehe STEER [Anm. 190], S. 276, 139 MAX PAHNCKE, Eckehartstudien. Texte und Untersuchungen (Beilage zum 38. Jahres134

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Abb. n digten in dem Wolfenbütteler Konvolut Heimst. Cod. Guelf, 1066 (Abb. 11). Auf ihn machte schon MAX PAHNCKE 1913 aufmerksam. 140 Die sechs Predigten bilden eine geschlossene Sammlung, erkennbar daran, daß sechs Quaternionen, die gezählt sind, nicht reichtens um den Schluß der letzten Predigt >Fluminis impetus< aufzunehmen, weswegen noch ein Doppelblatt und ein einfaches Blatt als siebente Lage hinzugefügt werden mußten. Alle sechs Predigten sind, anders als die Predigt 99 des Nürnberger Fragmentes, vollständig erhalten, geschrieben auf Pergament von einem anonymen Schreiber um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Keine der Predigten führt einen Titulus oder macht eine Angabe über ihren Verfasser. Alle sechs Predigten sind in anderen Eckharthandschriften mehrfach überliefert. Die letzten drei hat QUINT als Predigten Nr. 32, 33 und 81 in die Kritische Ausgabe aufgenommen. Sie werden in den Handschriften H2, O, Sl und Strl Eckhart zugeschrieben. Für die ersten drei Predigten hat QUINT keinen Echtheitsnachweis geführt und sie deshalb auch nicht ediert. Die zweite Predigt >Quae est istaVon der sei wirdichait vnd aigenschafftNachtragspredigtQuasi stella matutina< (QuiNT Nr. 9) genommen. Es zeigt, daß BT zwar den Text gegenüber dem Großteil der gesamten handschriftlichen Überlieferung verändert, daß aber diese Veränderung bereits jene Textform hatte, zu der sie zusammen mit der Basler Handschrift B IX 15 (Ba2) und der Salzburger Handschrift M I 476 (Sl) gehört; allez, daz wesen bat, daz ist vor im (Gott) kleine D W I, S. 142,4f. / alles das wesen bat das ist von im vnnd ist gegen im klein BT, Ba2, Sl. f. In den Sog der Taulerpredigten sind Eckhartpredigten nicht erst durch den Basler Tauler-Druck geraten. Auf der Textstufe, von der der Leipziger Taulerdruck von 1498 (LT) und die Leipziger Handschrift L l ihren Text bezogen haben, ist Eckharts Predigtzyklus >Von der ewigen Geburt^ 190 bestehend aus vier Predigten (STEER 101-104 - PF. I-TV), der taulerschen Sammlung eingefügt worden, ohne daß Eckharts Name erwähnt worden wäre. Die vier Predigten folgen auf Taulers Predigt am Weihnachtstag (VETTER 1), den liturgischen Erfordernissen des Kirchenjahres entsprechend, zum Sonntag m der Oktav von 188

QUINT, Die Überlieferung [Anm. 7], S. 944f. Siehe DW IV, S. 171. 190 GEORG STEER, Meister Eckharts Predigtzyklus von der ewigen gehurt. Mutmaßungen über die Zeit seiner Entstehung, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. KoHoquium Kloster Fischingen 1998, hg. von WALTER H ÄUG u. WOLFRAM SCHNEIDERLASTIN, Tübingen 2000, S. 253-281. 189

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Weihnachten (Predigt 101), zum Fest der Erscheinung des Herrn (Predigt 102) und zum Sonntag in der Oktav von Erscheinung des Herrn (Predigt 103 und 104). Der Redaktor dieser Textstufe (LTLl) muß Tauler wie Eckhart gut gekannt haben, denn ihm dürfte bekannt gewesen sein, daß bereits Tauler m seiner Weihnachtspredigt auf die Zykluspredigten Eckharts zurückgegriffen hat. Tauler beantwortet die Frage, wie Gott seinen Sohn im Grunde der Seele gebare, mit annähernd den gleichen Worten wie Eckhart: Weles ist nu die eigenschaft die wir an der vetterlichen gebart mercken und leren siillent? Der vatter an siner persönlicher eigenschaft so kert er in sich selber mit sime gotlichen verstentnisse und durchsiht sich selber in dorem verston den wesenlichen abgrunde sins ewigen wesens, und von dem blassen verstane sin selbs so sprach er sich alzumole HS, und daz wort ist sin $un und daz bekennen sin selbes daz ist daz geberen sins sunes in der ewikeit.m Dem Redaktor LTLl ist außerdem aufgefallen, daß der B-Text lückenhaft ist. Ihm fehlt die vollständige Intellektlehre Eckharts, die in der Parallelüberheferung des -Textes vorlag. Er kannte sie m der Textform EgDau, und er zögert nicht, dieses fehlende Textstück an den Schluß der Predigt 104 als Anhang mit der Bemerkung zu setzen: Hyr nach also paid folgeth ein andir synn der ersten frage disz sermons getzeichent mitt süllicben zeichenn, Diese Angabe hat der Leipziger Taulerdruck unverändert übernommen. Der Redaktor des Augsburger Taulerdruckes von 1508 tut dies nicht. Er setzt das Textstück wieder an seine ursprüngliche Stelle und bemerkt: Merck am ändern syn diser frag. Wen Rynmann mit der Einrichtung des Augsburger Druckes beauftragt hat, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß dieser Anonymus den Text des Leipziger Druckes ordentlich überarbeitet hat, und auch, daß Carpentarius den Augsburger Drucktext so gut wie unverändert in den Basler Druck übernommen hat. Im Augsburger Druck, und dann auch in den Folgedrucken, konnten beide Versionen der Intellektlehre Eckharts annähernd synoptisch auf den Spalten 18Vi (B-Fassung) und 18vb-19fa ( -Text nach EgDau) gelesen werden. Luther hat seine lateinischen Annotationen am linken Rand von Blatt 18V niedergeschrieben. Er kommentiert also nicht den ursprünglichen Text der Predigt 104, der ihm in der zweiten Spalte zur Verfügung gestanden hätte. Wegen großer Lücken in der handschriftlichen Überlieferung gelingt es selten, eine Chronologie der Textveränderungen zu erstellen. Anders ist es bei den Drucken. Hier sind die Etappen der Redigierungen des Textes ohne ZwischenFERDINAND VETTER, Die Predigten Taulers, Berlin 1910, S. 8,27-32. Vgl. Pr. 101, DW IV, S. 350,85-352,91: Wie gebirt got der VAter stnen sun in dem gründe der sele? Als die creatüren tuont in bilden und m glichnissen ? Nein, entnuwen! Mer: in aller der wise als er in in der ewicheit gebirt, noch minner noch me. Eya, wie gebirt er in da? Daz merket! Sehet, got der water hat ein volkomen insehen in sich selber und ein abgründic durchkennen sin selbes mit im selber, niht mit keinem bilde. Und also gebirt der vater stnen sun in warer einunge gütlicher nature. Sehet, in der selben uvtse and in keiner ändern gebirt got der vater slnen sun in der sele gründe und in irm wesene und einiget sich also mit tr.

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ausfälle aufzeigbar. Ein einzigartiger Glücksfall der Überlieferung: einen Text in seiner Entwicklung vorn Autor (Eckhart) bis zu einem späten Benutzer (Luther) genau verfolgen zu können. Doch durch die handschriftliche Überlieferung sollten wir uns nicht ganz entmutigen lassen. Die Hauptphasen der Textgeschichte lassen sich auch in ihr rekonstruieren. Die B-Fassung der Predigt 104 ist neben der Druck-Überlieferung m über einem Dutzend Handschriften, die heute noch erhalten sind, verbreitet worden. Innerhalb dieser Parallelüberlieferung kommt es noch einmal zu einer Neubearbeitung der B-Fassung. Der Abb. 20 Schreiber der Stuttgarter Handschrift St7 (Abb. 20) hat beide Versionen vor sich und versucht, sie zu einem einheitlichen Text zusammenzufügen, indem er seine Vorlage nach der Nürnberger Handschrift N10 korrigiert. Das Ergebnis seiner Arbeit brauchen wir nicht zu rekonstruieren, es ist uns in St7 unmittelbar erhalten. Als der St7-Schreiber merkt, daß beide Versionen zu weit ausemanderlaufen und er sie nicht mehr zu harmonisieren vermag, gibt er auf, nicht ohne seinem Unmut über derlei Textzustände, die er vorfinden muß, klagend und anklagend Ausdruck zu geben: Dise colump vnd die nehst hernach sein an dem exemplar nahent allez ander wort. Jch weisz nit welkes daz rechter ist. ez hat zu nürnberg lang gar ein gelerter man gehabt der sant mir ez herwider. er het der weil nit daz er ez vberles, ich wil im dz vnser nachschiken [213ra]. Ez ist ein grosz swer sach solche künstliche dink so valsch vnd iemerlich zu schreiben alz auch daz püch daz der lerer heiszt1^1 nahent allez gar va[l\sch ist. vnd sunderlich die den glauben an treffen da ist ez zu, mal kleglich daz man solch gut materien verde[r\bt mit dem valschen schreiben, [213rb] man solt vns Schreibern die bent in eim smalcz rösten die weil daz wer vns mynner schad, Dem korrigierenden, redigierenden und lamentierenden Schreiber der Stuttgarter Handschrift St7 sind Verdienste nicht abzusprechen. Er hat mit seinem handschriftlichen Exemplar die Vorlage für die Ausarbeitung des sog. >Großen Tauler< geschaffen. g. Nicht mit der Stuttgarter Handschrift St7 und ihrem Schreiber, wohl aber mit dem Basler Taulerdruck von 1521/1522 kann die Handschrift M I 476 (Sl) Abb. 21 der Salzburger Universitätsbibliothek 193 (Abb, 21) verglichen werden, mit dem sie nicht nur Varianten gemeinsam hat, die sie der Textform nach zu den oberrheinischen Eckharthandschriften stellt, sondern auch und vor allem das Vo192

J. G. MAYER [Anm, 119], S. 58, vermutet hinter dieser Angabe den Verfasser des Traktats >Von den drin frägenVisio TnugdaliQuasi stella matutinaBuch der Wahrheit< Heinrich Seuses.246 Die literarische Quellenforschung, die »nach ausdrucklichen oder stillschweigenden Zitaten«247 sucht, hat feststellen können, daß Heinrich Seuse bei der Abfassung seiner spekulativsten Schrift Schriften Eckharts benutzt und teilweise wortwörtlich ausgeschrieben hat. Der nachfolgende Auszug aus der Predigt >Von dem edel n menschen< zeigt, wie penibel genau Seuse die Sätze Eckharts in sein »Buch der Wahrheit< herüberkopiert.248 Nur drei Handschriften kennen wir von Eckharts deutscher Predigt, die Handschriften Ba2, M und St4. JOSEF QUINT hat sie alle drei bei seiner Texterstellung berücksichtigt und alle Textvarianten vermerkt, Aus dem Vergleich VeM, DW V, S. 116,12-17 mit BdW, STURLESE/BLUMRICH S. 44,270-277 geht hervor, daß Seuse über eine Handschrift verfügte, die keine der drei bekannten Handschriften war. Seuses Eckhart-Zitat bezeugt also die Existenz eines vierten VdM-Textzeugen, dessen Text mit dem der kritischen Ausgaben von BIHLMEYER und STURLESE/BLUMRICH identisch sein dürfte.

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VOLKER HONEMANN, Zu Interpretation und Überlieferung des Traktats >De libris teutonikalibuss in: E. COCKX-!NDESTEGE/F. HENDRUCKX (Hgg.), Miscellanea Neerlandica. Opstellen voor Dr. Jan Deschamps, Bd. 3, Leuven 1987, S. 113-124; KURT RUH [Anrn. 238], S. 165f. 242 Godeverds Traktat >Van den XII doghendem vermittelt vor allem Eckharts >Rede der underscheidungeAuslegung des Johannesevangeliums 1,1-14< des Franziskaners Marquard von Lindau, die bis in den Wortlaut hinein solchen in Eckharts >Expositio s. evangeln sec. Iohannem< entsprechen, kann geschlossen werden, daß Marquard mit einer >ExpositioAuslegung des Johannesevangeliumss die bisher nur in einer sekundären deutschen Fassung bekannt war, gelungen war}249 ließen sich jetzt die Eckhart-Parallelen sicher fassen und mit dem Text der beiden Handschriften B und C, die der kritischen Ausgabe zugrundeliegen, vergleichen. Als Ergebnis dieses Vergleichs resümiert LORIS STURLESE: »Anhand der lateinischen Zitate Marquards ist es jetzt möglich, das Verhältnis der beiden Zeugen des >Johanneskommentars< Meister Eckharts in qualitativer Hinsicht adäquater zu beurteilen.« 250 Marquard kennt auch die >Expositio hbri Genesis< und den >Liber parabolarum Genesis< Eckharts, »nach dem Text der CT-Rezension«, wie erstmals LORIS STURLESE sagen kann,251 aus denen er umfangreiche Stellen in seinen Traktat >De reparatione hominis< übernahm, 252 Selbst in seinen deutschen Werken und vor allem auch in seinen deutschen Predigten ist Eckhart für Marquard ein wichtiger Autor. RÜDIGER BLUMRICH und FREIMUT LÖSER haben dies nachgewiesen.253 In welchem Umfang und in welchen Handschriften Marquard die Werke Eckharts gelesen hat, muß indes noch näher untersucht werden. Ein drittes Beispiel. Neben Marquard von Lindau war es der Augustinereremit Jordan von Quedlinburg, der für seine zwei Sammlungen lateinischer Sermones (»Sermones de tempore< = Opus Jor< und >Sermones de sanctis< = 249

250

NIGEL F. PALMER, Marquard von Lindau OFM, in: 2 VL VI, Sp. 81-126, hier Sp. 117f.

LORIS STURLESE [Anm. 32], S. 173. LORIS STURLESE [Anm. 32], S. 172. 252 H.-J. MAY, Marquard von Lindau OFM, De reparatione hominis. Einführung und Textedition, Frankfurt a. M. 1977, S. 226, 227 u. ö. 251

2H

RÜDIGER BLUMRICH, Marquard von Lindau. Deutsche Predigten. Untersuchungen und Edition (TTG 34), Tübingen 1994, S. 68*-80*; FREIMUT LÖSER, Rezeption als Revision. Marquard von Lindau und Meister Eckhart, PBB 119 (1997), S. 425-458.

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>Opus DanJohanneskommentar< zugegriffen hat,254 Er hat seine Eckhart-Vorlage nicht einfach abgeschrieben, sondern er hat sehr geschickt Worte und Sätze, die sich bei Eckhart an ganz verschiedenen Stellen finden, mosaikartig zusammengestellt, so daß sich JOSEF KOCH über Jordans Vorlage letztlich kein klares Bild machen konnte und er unsicher blieb, ob Jordans »Abweichungen von BC uns dem Original näherbringen«. 255 Auf weitere Forschungen von LORIS STURLESE dürfen wir warten.256 Ein viertes Beispiel. Zu Jordan von Quedlinburg ist jetzt ein weiterer Augustiner-Eremit zu stellen, der Augustinermagister Johannes Hiltalingen von Basel (ca. 1322-1392), den KARLHEINZ WITTE nicht nur als Verfasser des deutschen >Traktats von der Minne< und der Texte des >Meisters des LehrgesprächsEckhartisten< hatte. Johannes Hiltalingen mag durch seine Bekanntschaft mit Marquard von Lindau mit Eckharts CEuvre vertraut gemacht worden sein. Auch wenn Johannes Hiltalingen, der in seinen lateinischen und deutschen »Texten Eckharts Doktrin auf(greift) und für sein eigenes Verständnis um(formt)« (WITTE), nicht zu den >Eckhartisten< gezählt werden darf, so zeigt doch seine intellektuelle Wachheit für Eckhart, daß nach dessen Tod keineswegs nur ein Interesse an der erbaulichen Rezeption seiner deutschen Schriften vorgeherrscht hat, sondern daß auch auf akademischer Ebene die mutige Auseinandersetzung mit seinen Lehren sowohl von selten seiner Anhänger wie seiner Kritiker weitergeführt wurde. Das konnte nur auf der Grundlage verläßlicher Textabschriften geschehen, wie sie etwa Nikolaus von Kues veranlaßt hat. Daß der Heidelberger Theologieprofessor Johannes Wenck von Herrenberg »die Abhängigkeit des Cusanus von Eckhart erkannt hat«, spricht nach KOCH für dessen »Eckhartkenntnis«. 258 Er wird sich diese durch das Studium seiner Schriften angeeignet haben. Schließlich noch ein letztes Beispiel. Hinweise auf lateinische Vorlagen, die existiert haben, aber mittlerweile als verloren oder verschollen gelten müssen, geben auch deutsche Übersetzungen lateinischer Texte Eckharts, Viele davon 254

JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken [Anm. 30], S. 145-148. JOSEF KOCH, LW III, S. XXIII. 256 LORIS STURLESE [Anm. 32], S. 173f. 257 KARL HEINZ WITTE, Der Traktat von der MinneExpositio libri Sapientiaes aus dem >Liber parabolarum Genesis< und aus dem Sermo XXX,2 identifiziert werden konnten.259 Der Arrangeur dieser Übersetzung muß »eine größere Eckhart-Hs, zur Verfügung (gehabt haben)«. 260 Sie kann mit keiner der bekannten großen Eckhart-Handschriftcn gleichgesetzt werden. Die Übersetzung selbst hat mehr den Charakter einer Textbearbeitung, und auch das Ziel des Bearbeiters ist weniger die exakte Wiedergabe der theologischen Sätze der lateinischen Vorlage als die Erschließung ihrer inhaltlichen Aussagen »für private Lektüre und Meditation im Kloster«. Schon der Blick auf ein kleines Textstück kann dies beweisen: Expositio libri Saptentiae n. 34, LW II, S. 354,11-355,5: Quarto patet quod areatum omne ex se nihil est: >creavit enim, tft essentad nihilum deductus est in conspectu eins malignus*. Qn-mto patet: qtti orat pro istis perituris, pro nihtlo orat, orat male et pro malo. - Hiervmb so ist du creator von ir selber nicht nit. Hiervmb wer die creatur mmnet, der minnet nicht nit vnd der wirt ouch ze nichte sind. Wan Sanctus Augtistinns spricht: wen du minnest, also wirst auch du. Minnestu nit, so hist ouch nit, " hiervmb wer minnet irdesches gute vnd got bittet vmb zergangkhck ding, des bette ist hose vnd haut si übel hewant (Abdruck: LW II, S. 362, Anm, 1).

Das letzte Beispiel einer volkssprachlichen Redigierung von Eckharts lateinischen Schriften mag eine letzte Rechtfertigung dafür sein, daß die Überlieferungseigenheiten der deutschen wie der lateinischen Eckhart-Handschnften am besten zur Anschauung gebracht werden können, wenn man sie im Vergleich miteinander studiert.

259

JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken [Anm. 30], S. 148f.; LORIS STURLESE [Anm. 32], S. 171. 260 JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken [Anm. 30], S. 149.

282

Georg Steer

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Abb. 5; Soest, Wissenschaftliche Staatsbibliothek, Cod. 33 (S). Perg,, 2° (23,5 16,5 cm), 126 Bl!,, »vereinigt zehn ursprünglich voneinander unabhängige, wahrscheinlich zwischen 1400-1420 durch Jakob von Soest O,P. zusammengeführte Teile« (STURLESE [Anrn. 1], S. 357). Der Grundtext der >Responsio< (sog. >Rechtfertigungsschrift- «*- ^^

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M Sermones novi* des Nikolaus von Landau mit eingearbeiteten Predigten aus der Sammlung >Paradisus anime intelligent««. Hier Bl. l r a (Ausschnitt) Prolog: Incipit prokeminm novorum sermanum Nicolai de Landawwe Mortachi in Oticrberg. Ecce ΠΟΗΑ facio omnia (Apo 21,5).

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Die Schriften Meister Eckharts

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iA^4i;w^^ I 'fcL '^Slr-?f«>. . H4-;^.k Abb. 16: Kassel, Murhardsche Bibliothek und Landesbibliothek, Cod. Theol, 12 (Klb). B). 151 r : Incipit hher iecundus Nouorum sermorium Nycolai de Landauiee monachi tn Qttirbtirg. Die Lesbarkeit der Schrift ist durch fortschreitenden Tintenfraß stark beeinträchtigt.

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Georg Sieer

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Abb. 17; Kassel, Morhardsche Bibliothek und Landesbibiiothek, Cod. Theol, 11 (Kla). Bl, 149" Ausschnitt aus der letzten Predigt des 1. Bandes: Et cum eiedssem demonam lociitus est mutus (Lc 11,14).

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Die Schriften Meister Eckharts :

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Abb. 18 : Kassel, Murhardsche Bibliothek und Landesbibliothek, Cod. Theol. 12 (Klb). BI. 300V1: Expliaunt concordance reales prime et secxnde partis nouorum Sermo[300vil] Hum Nicolai de Landa-uwe Monachi in Otterburg, quos Sermones compleuit. Anno domini incarnadonis. M". cc