Die »polnische Schule« in der Neuen Musik: Befragung eines musikhistorischen Topos 9783412334819, 9783412204303

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Die »polnische Schule« in der Neuen Musik: Befragung eines musikhistorischen Topos
 9783412334819, 9783412204303

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Die »polnische Schule« in der Neuen Musik

KLANGZEITEN

Musik, Politik und Gesellschaft Band 5

Herausgegeben von

Detlef Altenburg Michael Berg Helen Geyer Albrecht von Massow

Die »polnische Schule« in der Neuen Musik Befragung eines musikhistorischen Topos von

Ruth Seehaber

® 2009

BÖHLAU VERLAG K Ö L N WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Musik FRANZ LlSZT Weimar, der Deutsch-Polnischen Akademischen Gesellschaft Krakau und der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelseiten von Programmheften des Internationalen Festivals Zeitgenössischer Musik „Warschauer Herbst" aus den Jahren 1956-1976. Foto von Ruth Seehaber. © 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: MVR Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20430-3

Vorwort

Zu dieser Arbeit haben zahlreiche Menschen ihren Teil beigetragen, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Insbesondere sind hierbei die Betreuer der Arbeit Detlef Altenburg und Wolfgang Auhagen zu nennen. Nicht möglich gewesen wäre die Arbeit außerdem ohne Julia Gehring, meine Eltern und Andrzej Chlopecki. Rat fand ich auch bei den Mitarbeitern des Deutschen Historischen Instituts Warschau und der Bibliothek des Polnischen Komponistenverbandes in Warschau. Für ihre Gesprächsbereitschaft danke ich den Musikwissenschaftlern Jan St^szewski, Micha! Bristiger und Ulrich Dibelius sowie den Komponisten Augustyn Bloch, Wlodzimierz Kotoriski, Zygmunt Krauze und Boguslaw Schaeffer. Zu Dank bin ich darüber hinaus Anke Bödecker, Tobias Drapp, Janine Droese, Kea Flörcken, Knut Holtsträter, Christian Ludwig, Veronika Mall, Almut Placke, Harriet Oelers, Judith Seehaber, Katharina Steinbeck, Maria Stolarzewicz und Verena Thole verpflichtet, die mich beim Korrekturlesen und Erstellen der Druckvorlage unterstützt haben. Dieses Buch würde schließlich nicht ohne die großzügigen Druckkostenzuschüsse der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, der Polnisch-Deutschen Akademischen Gesellschaft Krakau und der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorliegen, weshalb ich ihnen meinen ganz besonderen Dank aussprechen möchte.

Inhalt

Einleitung I.

9

Kontext

14

1.

Die politische Situation in Polen

14

2.

Die polnische Neue Musik

17

3.

Die polnisch-deutschen Beziehungen

25

II. Textanalysen: Polnische Eigen- versus deutsche Fremdsicht

32

1.

Zum methodischen Vorgehen

32

2.

Textanalysen

35

2.1.

Terminologie

35

2.2.

Zeitliche und personelle Bestimmung

56

2.3.

Differenzierungen

67

2.4.

Bewertungen

80

2.5.

Stilistische Bezugspunkte

88

2.6.

Personelle Bezugspunkte

97

2.7.

Nationale Bezugspunkte

109

2.8.

Biographische und stilistische Merkmale

118

3.

Zusammenfassung der Textanalysen

III. Werkanalysen: Die Frage der „polnischen" Stilmerkmale

133 138

1.

Zu Werkauswahl und Analysemethode

138

2.

Werkanalysen

141

2.1.

Dodekaphonie

141

2.2.

Serielle Musik

149

3.

2.3.

Aleatorik

154

2.4.

Sonorismus

161

2.5.

Gattung

167

2.6.

Großformale Anlage

178

2.7.

Binnenstruktur

184

2.8.

Besetzung

198

2.9.

Instrumentation

205

2.10. Raum

210

2.11. Artikulation

216

2.12. Klangvorrat

221

2.13. Vertikale Klangstrukturen

227

2.14. Horizontale Klangstrukturen

236

2.15. Motivik

250

Zusammenfassung der Werkanalysen

255

Resümee

275

Anhang

285

Literaturverzeichnis

285

Kategoriensystem

302

Notenbeispiele

305

Einleitung

Immer wieder trifft man in der Sekundärliteratur zur polnischen Neuen Musik auf den Terminus der „polnischen Schule". Genauer definiert wird er allerdings nie, und die Angaben, welche Zeitspanne, Komponisten oder Stilmerkmale er bezeichnet, gehen weit auseinander. Insbesondere von polnischer Seite werden deshalb nicht selten die Existenz einer „polnischen Schule" und die Vertretbarkeit des Begriffs gänzlich in Frage gestellt. Die Problematik als solche ist in der Musikwissenschaft kein unbekanntes Phänomen. Der Schulbegriff ist seit dem 19. Jahrhundert in musikgeschichtlichen Darstellungen weit verbreitet und fast ebenso lange in vielen Fällen heftig umstritten.1 Die Beispiele reichen von der „Schule von St. Martial" und der „Notre-Dame-Schule" im 12. Jahrhundert über „Niederländische", „Römische", „Venezianische", „Neapolitanische", „Mannheimer Schule" und „Berliner Liederschulen" bis zur „Neudeutschen Schule" im 19. Jahrhundert sowie der „Wiener Schule" und „Darmstädter Schule" im 20. Jahrhundert. Bereits diese bei weitem nicht vollständige Aufzählung macht deutlich, welch unterschiedliche Phänomene mit dem Terminus „Schule" belegt wurden. Zum einen wird der Schulbegriff in der Musikgeschichte ähnlich wie beispielsweise in der Kunstgeschichte schlicht im Sinne einer lokalen, zeitlichen oder stilistischen Bestimmung verwendet, zum anderen rückt er zuweilen jedoch auch in die Nähe eines Werturteils und bringt musikalische Phänomene in eine bestimmte Rangfolge, wie es sich etwa im Zusammenhang mit der „Neudeutschen Schule" beobachten lässt. Im Gegensatz zu Schulen in bildender Kunst oder Wissenschaft handelt es sich bei den musikalischen Schulen in den seltensten Fällen tatsächlich um ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Zutreffender könnte man vielleicht von einer gewissen, teilweise generationsübergreifenden Kontinuität sprechen, durch die eine Schule geprägt ist und die etwa auch durch das zeitgleiche Wirken unter bestimmten politischhistorischen Umständen entstehen kann. Fast immer lässt sich dabei eine Gruppe von Komponisten bestimmen, deren Werke als wegweisend für die Schule angesehen wurden. Mit den führenden Persönlichkeiten verbindet sich außerdem ein be-

Vgl. ζ. B. Christian Daniel Friedrich Schubart, Ideen einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806; Raphael Georg Kiesewetter, Geschichte der europäsch-abendländischen oder unsrer heutigen Münk, Leipzig 1834; Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 1851; August Wilhelm Ambros, Geschichte der Musik, Breslau 18621882; Hugo Riemann, Handbuch der Musikgeschichte, Leipzig 1904-1913; Guido Adler, Handbuch der Musikgeschichte, Frankfurt a. M. 1924.

10

Einleitung

stimmter Kompositionsstil, wobei dies mitunter zu nicht zutreffenden Pauschalisierungen führt, wie sich etwa im Falle der „Darmstädter Schule" zeigt.2 Generell kann der Schulbegriff sowohl von außen herangetragen werden, wie im Falle der „Wiener Schule"3, als auch durch Vertreter der Schule selbst geprägt werden, so beispielsweise bei der „Darmstädter Schule"4. Dabei können auch außermusikalische Gründe eine Rolle spielen, wenn etwa die „Darmstädter Schule" als ein Symbol für die „historische Versöhnung Italiens, Frankreichs und Deutschlands in einer transnationalen Musikkultur eines neuen Europas"5 verstanden wird. Dies geht in manchen Fällen so weit, dass sich der Schulbegriff fast vollkommen von der kompositionstechnischen Ebene löst und zu einem Phänomen der Rezeption wird. Eine „Schule" ist deshalb meist auch Ausdruck einer bestimmten Art der Gegenwartsoder Vergangenheitsbetrachtung. Eine weitere Variante, die beim Nachdenken über die „polnische Schule" ins Blickfeld rückt, bilden die nationalen Schulen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie etwa durch die Komposition von Nationalopern oder durch die Verarbeitung von Volksmusikelementen eine nationale Kunstmusik schufen. So geschah es beispielsweise in der russischen Kunstmusik des 19. Jahrhunderts, die mit Michail Glinkas Opern begann und von der Gruppe „Mächtiges Häuflein" um Milij Balakirew weitergeführt wurde. Innerhalb der nationalen Schulen existieren zwar ebenfalls führende Vertreter und stilbildende Kompositionen, aber der Kreis ist meist sowohl personell als auch stilistisch nicht so eng begrenzt wie bei den zuvor beschriebenen Schulen. Der Ursprung des Terminus „polnische Schule" wird in der Regel Ende der 50er Jahre in der westdeutschen Musikberichterstattung gesehen. Polen nahm damals in Hinblick auf die Neue Musik unter den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs eine Sonderstellung ein, wobei das musikalische Schaffen stark durch die besonderen politischen Umstände bestimmt wurde. Nachdem im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg die polnische Musik zunächst wie in allen anderen Staaten des Ostblocks durch die künstlerische Doktrin des Sozialistischen Realismus beherrscht wurde, hatte die „Tauwetterperiode" im Jahre 1956 zu einer kulturpolitischen Liberalisierung geführt, in deren Folge sich in Polen eine so westlich orientierte und stark avantgardistische Musik wie in keinem anderen osteuropäischen Land entwickelte. Besonders enge Beziehungen ergaben sich bald zwischen Polen und der BRD, die etwa dazu führten, dass polnische Werke zu einem festen Bestandteil des westdeut2

3

4

5

Vgl. Andreas Meyer, Art. „Darmstadt", in: MGG2, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil 2, Kassel u. a. 1995, Sp. 1093. Vgl. Reinhold Brinkmann, „Einleitung am Rande", in: Die Wiener Schule heute, hrsg. von Carl Dahlhaus, Mainz 1983, S. 9. Vgl. Hermann Danuser, „Die .Darmstädter Schule' - Faktizität und Mythos", in: Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 1946-1966, Bd. 2, hrsg. von Gianmario Borio und Hermann Danuser, Freiburg im Breisgau 1997, S. 376. Vgl. ebd., S. 379.

Einleitung

11

sehen Konzertprogramms wurden. Obwohl es in Polen weder Deklarationen noch gemeinsames Handeln gab und die starke Individualität der einzelnen Komponisten von Anfang an deutlich erkennbar war, wurden sie vom westlichen Ausland lange Zeit als Einheit erlebt. Erst als im Jahr 1976 mit der Rückkehr mehrerer polnischer Komponisten zu einer traditionelleren Tonsprache und dem Auftreten einer Reihe jüngerer Komponisten der Stilpluralismus in Polen unübersehbar wurde, ließ die Fremdwahrnehmung als Gruppe zusehends nach. In Bezug auf die „polnische Schule" drängen sich deshalb folgende Fragen auf: Was bezeichnet der Begriff, wie entstand er und wer verwendete ihn? Handelt es sich dabei um eine spezifisch westdeutsche Sichtweise auf die polnische Neue Musik? Durch welche Komponisten, Werke oder Ereignisse wurde dieses Bild geprägt? Wie sieht die polnische Sichtweise aus? Inwieweit decken sich diese Bilder mit der Musik selbst? Existieren in der polnischen Neuen Musik bestimmte stilistische Merkmale, die den Schulbegriff rechtfertigen? Oder ist das Phänomen „polnische Schule" eher auf der Rezeptionsebene anzusiedeln? In der musikwissenschaftlichen Literatur finden sich wenige Antworten auf diese Fragen. Generell lässt sich feststellen, dass der polnischen Neuen Musik, im Vergleich zu anderen Themengebieten im Bereich der Musik des 20. Jahrhunderts, bisher noch relativ wenig Beachtung geschenkt wurde. In erster Linie liegen Veröffentlichungen zu einzelnen Komponisten vor, wobei hier an neuerer deutschsprachiger Literatur beispielsweise die Monographien zu Krzysztof Penderecki6, Witold Lutoslawski7, Krzysztof Meyer8, Augustyn Bloch9 oder Boguslaw Schaeffer10 zu nennen sind. Umfangreichere, zusammenfassende Darstellungen zur polnischen Neuen Musik existieren, abgesehen von einigen Artikeln und kurzen Abschnitten in der Überblicksliteratur, kaum oder vermitteln wie diejenigen von Ludwik Erhardt11 oder Jacek Rogala12 nur einen lexikonartigen Überblick über sämtliche polnischen Komponisten und deren Werke. In der polnischen Literatur kann man zwar auf umfassendere Darstellungen wie diejenigen von Krzysztof Baculewski13 undjozef Chommski14 zurückgreifen, doch aktuelle Arbeiten fehlen hier ebenfalls. 6 7

8

9 10

11 12

13

14

Wolfram Schwinger, Kr^ys^tof Penderecki. Begegnungen, Lebensdaten, Werkkommentare, Mainz 1994. Martina Homma, Witold Lutoslawski: Zwölßon-Harmonik, Formbildung, „aleatorischer Kontrapunkt" ( - Schriften zur Musikwissenschaft und Musiktheorie 2), Köln 1996. Knys^tof Meyer. Ein Komponistenportrait, hrsg. von Maciej Jablonski und Martina Homma (poln. Originalausgabe Poznan 1994), Köln 1998. Augustyn Bloch. Ein Komponistenleben in Polen, hrsg. von Dedef Gojowy, Köln 1999. Barbara Dobretsberger, Polnische Avantgarde. Boguslaw Schaeffer und sein sinfonisches Werk, Frankfurt am Main 2003. Ludwik Erhardt, Musik in Polen (poln. Originalausgabe als Musyka u> Polsce), Warschau 1978. Jacek Rogala, Die polnische Musik des 20. Jahrhunderts (poln. Originalausgabe als Mu^yka polska XX ivieku), Krakau 2000. Krzysztof Baculewski, Polska twörcupsc kompoytorska 1945-84 [Das polnische kompositorische Schaffen 1945-1984], Krakau 1987. Jözef Chominski, Mu^ykapolski ludowej [Die Musik der Volksrepublik Polen], Warschau 1968.

12

Einleitung

Speziell mit dem Phänomen „polnische Schule" beschäftigen sich bisher nur ein Gespräch zwischen Iwona Szafranska, Pawel Szymariski, Stanislaw Krupowicz und Andrzej Chlopecki, das 1997 unter dem Titel „Czy istnieje polska szkola kompozytorska?"15 [Existiert eine polnische Komponistenschule?] erschien, sowie Roman Bergers Aufsatz „Polska Szkola Kompozytorska - Fakt? Mit? Wizja? Projekt?"16 [Polnische Komponistenschule - Fakt? Mythos? Vision? Projekt?] von 1998 und Malgorzata G^siorowskas Artikel „Szkola polska — koniec historii?"17 [Polnische Schule — Das Ende der Geschichte?] aus dem Jahr 2004. Der Frage nach polnischen Stilmerkmalen in der Musik vom Mittelalter bis zur Gegenwart ging ausführlicher bislang nur Anna Czekanowska in ihren Studien %um Nationalstil der polnischen Musiku nach, und mit der westdeutschen Sichtweise auf die polnische Neue Musik setzte sich lediglich Martina Homma in ihrem Aufsatz „Recepcja muzyki polskiej w Niemczech"19 [Die Rezeption polnischer Musik in Deutschland] auseinander. Die Schwierigkeit der Literaturlage besteht außerdem darin, dass stets der jeweilige politische Kontext mitbedacht werden muss. In Polen sind dies nicht nur die Wende 1989, sondern auch die starken politischen Schwankungen der Jahrzehnte davor, die zeitweise Einschränkungen der Pressefreiheit mit sich brachten. Die vorliegende Arbeit nähert sich dem Phänomen „polnische Schule" auf zwei Arten. Auf der einen Seite soll anhand von Textanalysen die polnische und deutsche Musikliteratur seit 1956 untersucht werden. So soll herausgefunden werden, was unter dem Terminus der „polnischen Schule" im Einzelnen verstanden wird und inwieweit in der Beschreibung der polnischen Neuen Musik Unterschiede zwischen polnischen und deutschen Autoren existieren. Die Aussagen im musikwissenschaftlichen Schrifttum sollen dabei im Sinne einer Meistererzählung20 als Teil eines übergeordneten Geschichtsbildes aufgefasst werden, bei dem auch außermusikalische Implikationen wie kulturelle, gesellschaftliche oder politische Hintergründe berücksichtigt werden müssen. Beispielsweise soll geklärt werden, wie die verschiedenen Sichtweisen der polnischen Neuen Musik entstanden sind, von wem sie unterstützt wurden und welche Interessen damit verbunden waren. Auf der anderen Seite wird die Musik selbst befragt, indem 20 Werke verschiedener polnischer Komponisten musikalisch analysiert werden. Dabei handelt es sich zum einen um Kompositionen aus den ersten Jahren nach 1956, die zur Entstehung des Begriffs „polnische Schule" geführt haben könnten, und zum anderen um spä15 16 17

18 19

20

in: Dysonanse, Sonderausgabe zum 40. Warschauet Herbst 1997, S. 41 f. in: Dysonanse 1998, Nr. 2, S. 24-31. in: Duchomsc Europy Srodkowej i Wschodniej w musgce konca XX wieku, hrsg. von Krzysztof Droba u. a., Krakau 2004, S. 129-137. Regensburg 1990. in: Dsjed^ictwo europejskie α polska kultura mu%ycs(na w dobie pr^emian, hrsg. von Anna Czekanowska, Krakau 1995, S. 233-259. Vgl. Die historische Meisterer^äblung. Deutungslinien der fautschen Nationalgeschichte nach 1945, hrsg. von Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, Göttingen 2002, S. 16.

Einleitung

13

tere Werke aus den Jahren bis 1976, die in der Literatur häufig als Schlüsselkompositionen der polnischen Neuen Musik genannt werden. Die Werke sollen in Hinblick auf zugrundeliegende Kompositionsprinzipien, verwendete Gattungen und Formen sowie verschiedene musikalische Parameter analysiert werden. Auf diese Weise soll festgestellt werden, ob in den Kompositionen verbindende Merkmale zu finden sind, die es erlauben, von einer „polnischen Schule" zu sprechen. Diesen beiden Hauptkapiteln vorangestellt ist jedoch zunächst ein Überblick über die politische Situation Polens nach dem Zweiten Weltkrieg, die polnische Neue Musik sowie die polnisch-deutschen Beziehungen. Diese Kontextualisierung ist notwendig, da auch die politischen Implikationen der Begriffsbildung „polnische Schule" im Zusammenhang sowohl mit der Doktrin des Sozialistischen Realismus als auch generell unter den Vorzeichen der weltpolitischen Lagerbildung im Zeichen des Kalten Krieges zu beachten sind. Die Hauptthese der Arbeit lautet, dass die polnische und die deutsche Sichtweise auf die polnische Neue Musik differieren und dass eine solche Einheitlichkeit, wie sie der Begriff „polnische Schule" suggeriert, nicht vorliegt, sondern dass die „polnische Schule" vielmehr ein Konstrukt der westdeutschen Musikwissenschaft darstellt. Damit will die Arbeit auch allgemein zeigen, wie stark Innen- und Außensicht voneinander abweichen können und wie das Verständnis einer bestimmten kulturellen Tradition vom jeweiligen Standpunkt oder auch von äußeren politisch-gesellschaftlichen Faktoren abhängen kann. Gerade in Hinblick auf ein zusammenwachsendes Europa gewinnen solche Fragen nach möglichen Vorurteils strukturen, nach Fremd- und Eigensicht sowie nach Genese und Wandel von kulturellen Identitäten zunehmend an Relevanz. Die DDR wurde in die Untersuchung bewusst nicht einbezogen, da die Situation dort aufgrund ihrer Andersartigkeit eine separate Betrachtung verlangt. Wenn im Folgenden von „deutsch" gesprochen wird, ist deshalb immer „westdeutsch" bzw. nach 1989 „gesamtdeutsch" gemeint. Eigennamen polnischer Institutionen, wie Festivals, Orchester und Verbände, werden der Verständlichkeit halber in ihrer deutschen Version verwendet. Werktitel sind hingegen im Original belassen, da die Sprache des Titels mitunter von Bedeutung ist. Alle in der Arbeit enthaltenen Übersetzungen aus dem Polnischen stammen von der Autorin.

I. Kontext

1. Die politische Situation in Polen Nach dem Zweiten Weltkrieg regierte in Polen zunächst die kommunistische „Provisorische Regierung" und nach den ersten Parlamentswahlen 1947 der „Demokratische Block" unter Boleslaw Bierut als Staatspräsidenten. Schritt für Schritt wurden die demokratischen Kräfte ausgeschaltet und mit der „Kleinen Verfassung" von 1947 der Übergang in eine „Volksdemokratie" eingeleitet. Innerhalb der „Polnischen Arbeiterpartei" (PPR) verschob sich das politische Gewicht immer mehr zugunsten der aus der UdSSR zurückgekehrten Kommunisten um Bierut, wohingegen die „Heimatkommunisten", die unter Wladyslaw Gomulka im Untergrund gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatten, an Macht einbüßten. Schließlich wurde Gomulka 1948 als Generalsekretär der PPR abgesetzt und 1951 aus politischen Gründen in Haft genommen. Nach dem Zusammenschluss der PPR mit der sozialistischen Partei (PPS) zur „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei" (PZPR), im Jahr 1949, setzte ein Prozess ein, der dazu führte, dass sich Polen ideologisch und organisatorisch gänzlich der Sowjetunion anglich. Alle wichtigen Entscheidungen fielen im Zentralkomitee der PZPR und wurden mit Hilfe des Staatssicherheitsdienstes durchgesetzt. Den Abschluss dieser Entwicklung bildete im Jahr 1952 die Verabschiedung der neuen Verfassung, die eine straffe Zentralisierung der Verwaltung beinhaltete und die Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt aufhob. Auch wenn der Tod Stalins im Jahr 1953 zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf Polen hatte, geriet die Führung der PZPR u. a. nach den Enthüllungen, die der in den Westen geflohene Offizier Jozef Swiatlo über den polnischen Staatssicherheitsdienst machte, zusehends unter Druck. 1954 wurde deshalb das Staatssicherheitsministerium aufgelöst und prominente Gefangene, darunter auch Gomulka, entlassen. Parallel fand in der Öffentlichkeit eine immer kritischere Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in Polen statt, die ihren Höhepunkt 1955 mit der Veröffentlichung des sofort verbotenen Gedichtes Poemat dla dorostych [Gedicht für Erwachsene] von Adam Wazyk erreichte. Den entscheidenden Anstoß zum politischen Umschwung im Jahr 1956 gaben die Geheimrede von Nikita Chruschtschow am 25.2.1956 anlässlich des 20. Parteitags der KPdSU mit Enthüllungen über stalinistischen Terror sowie der Tod Bieruts am 12.3.1956. Zu seinem Nachfolger wurde Edward Ochab gewählt, der zögernd den allgemeinen Forderungen nach mehr Freiheit und Rechtssicherheit nachgab. Damit verminderte sich zwar der politische Druck, aber es blieb die wachsende wirtschaftliche Notlage der Bevölkerung, die in Folge der jahrelangen einseitigen Pro-

Die politische Situation in Polen

15

duktion von Investitionsgütern entstanden war. Die Erbitterung darüber endud sich am 28.6.1956 im Aufstand von Poznad, der aus einem spontanen Streik der Arbeiter der Lokomotivfabrik „Stalin" gegen zu geringen Lohn erwuchs und schließlich durch polnische und sowjetische Truppen mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Die öffentliche Meinung forderte nun immer lauter die politische Rehabilitierung Gomulkas, so dass Ochab beschloss, sein Amt an ihn abzugeben. Am 15.10.1956 versammelte sich deshalb das Politbüro der PZPR in Warschau, um über die Neubesetzung führender Parteiämter zu beraten. Drei Tage später traf Chruschtschow überraschend mit einer starken Delegation der KPdSU in Warschau ein, und die sowjetischen Truppen in Polen führten beunruhigende Marschbewegungen aus. Chruschtschow ließ sich jedoch überzeugen, dass es keine personelle Alternative zu Gomulka gab, die einerseits in der Lage wäre, die Bevölkerung zu beschwichtigen und Reformen anzukündigen, andererseits aber gleichzeitig die Herrschaft der PZPR in Polen zu erhalten. So wurde Gomulka am 21.10.1956 erneut zum Ersten Sekretär der PZPR gewählt. Die Bevölkerung war begeistert, und man glaubte, einen „Frühling im Oktober" zu erleben. Tatsächlich wurden am 24.10.1956 nahezu alle Urteile über die Aufständischen von Poznah aufgehoben, und am 28.10.1956 erfolgte die Freilassung und Wiedereinsetzung des im Jahre 1953 internierten Kardinals Wyszynski. Ebenso machte Gomulka die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft rückgängig und ließ eine größere Pressefreiheit zu. Diese und andere populäre Maßnahmen, die mit der Loyalität gegenüber der Sowjetunion vereinbar waren, wurden deshalb mit so großer Geschwindigkeit getroffen, um einer befürchteten „Konterrevolution" entgegenzuwirken. Zeitgleich warf die Rote Armee am 2.11.1956 den ungarischen Aufstand gegen die Herrschaft der kommunistischen Partei und der Sowjetunion blutig nieder und demonstrierte damit, dass es für die sowjetische Führung eine Grenze der Nachgiebigkeit gab. Ab 1957 blieben die innen- und außenpolitischen Verhältnisse Polens für ein Jahrzehnt relativ stabil. Gomulkas Ziel bestand in der Schaffung eines für Polen angemessenen kommunistischen Systems und der außenpolitischen Sicherung durch Anlehnung an die Sowjetunion. Eine organisierte politische Opposition war weder rechtlich noch tatsächlich möglich. Auch die weitgehende Freiheit der Meinungsäußerung wurde bald wieder eingeschränkt, und die staatliche Zensur 1957 erneut verschärft. Bald sprach man von einer Zeit des politischen „Nachtfrosts", welche ab 1959 derjenigen des „Tauwetters" folgte: „Obwohl die Sowjetunion sich seit 1956 jeder direkten, aber auch fast jeder indirekten Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens enthielt, war die Furcht der Parteiführung, sie könnte in sowjetischen Augen ins ideologische Zwielicht geraten, immer wieder das auslösende Moment für plötzliche, systemlose und inkonsequente kulturpolitisch-administrative Maßnahmen. Die Prozesse gegen die Schriftsteller Melchior Wankowicz (Oktober 1964), Jan Miller (September 1965), gegen rebellierende Partei-Jungintellektuelle wie Kuron und Modzelewski (Juli 1965), gegen Nina Karsow (Juli 1966) waren,

16

Kontext obschon sie mit geringeren Strafen endeten als ähnliche Prozesse in der Sowjetunion, symptomatisch für diese Tendenz zur .Abschreckung aus Unsicherheit'." 21

Anfang des Jahres 1968 ließ Gomulka das klassische polnische Stück D^aäy [Totenfeier] von Adam Mickiewicz aufgrund der darin enthaltenen russenfeindlichen Äußerungen vom Spielplan eines Warschauer Theaters nehmen, was eine ähnliche Erregung wie 1955 das Verbot von Wazyks Gedicht auslöste. Im März 1968 wurde eine studentische Protestdemonstration in Warschau von den Sicherheitsorganen niedergeschlagen und diente als Vorwand für Entlassungen und Maßregelungen von über 700 politischen Gegnern in Partei, Armee, Hochschulwesen und Kultur. Vom „Prager Frühling" distanzierte sich Gomulka und trat im Juli 1968 auf dem Treffen der Parteichefs des Ostblocks in Warschau für eine Intervention ein. Kurz darauf marschierten Truppen der Sowjetunion, Polens, der DDR, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein, was die dortigen Reformbewegungen unterdrückte. Ende 1970 verkündete Gomulka eine Erhöhung der Lebensmittelpreise, woraufhin es zu blutigem Aufruhr gegen Partei und Staat in Gdarisk, Gdynia, Slupsk und Szczecin kam. Die Forderungen waren neben der Zurücknahme der Preiserhöhungen auch mehr persönliche Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und wahrheitsgemäße Information. Aufgrund des drohenden Bürgerkriegs und eines möglichen Eingreifens von sowjetischer Seite verhängte die Regierung über ganz Polen den Ausnahmezustand. Außerdem entließ das Politbüro Gomulka samt einer Reihe von Mitarbeitern und setzte als neuen Ersten Sekretär der PZPR Edward Gierek ein, der von der Öffentlichkeit als Vertreter einer neuen Generation gesehen und deshalb mit Sympathie begrüßt wurde. Vorübergehend gelang es ihm, mit Hilfe von Investitionsgütern aus der Sowjetunion, höheren Lebensmittelsubventionen und westlichen Krediten einen wirtschaftlichen Aufschwung Polens zu erreichen. Die nächsten politischen Schritte Giereks führten allerdings zu einer Verstärkung der Parteiherrschaft auf allen Ebenen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, welche 1976 in der neuen sozialistischen Verfassung verankert wurde. Die Atmosphäre war zu diesem Zeitpunkt durch sinkenden Lebensstandard, Abbau der künstlerischen und wissenschaftlichen Freiheit, Verstärkung der ideologischen Gängelung durch die Partei sowie die Verletzung des nationalen Unabhängigkeitsgefühls und des religiösen Empfindens der Bevölkerung geprägt. Als Gierek aufgrund der zusehends schwierigeren Finanzlage im Juni desselben Jahres wiederum eine drastische Erhöhung der Lebensmittelpreise bekannt gab, entfesselte dies erneut allgemeinen Protest an mehreren Orten. Als Reaktion auf die brutale Unterdrückung dieser Arbeiterstreiks durch die Regierung gründeten Intellektuelle und Künsder im September 1976 das „Komitee für die Verteidigung der Arbeiter", das sich in den Folgejahren zu einer von der Partei gefürchteten kritischen Macht entwickelte und den Beginn einer demokratischen Opposition in Polen markierte. 21

Hansjakob Stehle, Nachbar Polen, Frankfurt a. M. 1968, S. 279.

Die polnische Neue Musik

17

2. Die polnische Neue Musik Im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende herrschte in Polen genau wie in allen anderen Staaten des Ostblocks die künsderische Doktrin des Sozialistischen Realismus. Diese Anfang der dreißiger Jahre von der KPdSU in der UdSSR festgelegte ästhetische Richtung wurde 1948 auf dem „Internationalen Kongress der Komponisten und Musikkritiker" in Prag auf die Musik der Satellitenstaaten übertragen und 1949 auf dem „Kongress polnischer Komponisten und Musikkritiker" in Lagow Lubuski für die polnische Musik postuliert. Sie forderte eine allgemein verständliche, programmatische und vor allem politisch engagierte Musik, während beispielsweise Werke der „Wiener Schule" und religiöse Musik offiziell verfemt waren: „Zum einen bestimmte das Regime Grundsätze der forcierten Doktrin: Musik hatte, wie wir wissen, sozialistisch im Inhalt, national in der Form' zu sein; sie hatte sich durch Sanglichkeit und Melodiösität auszuzeichnen, verbunden mit einem optimistischen Text und der Vereinfachung der formalen Mittel, sie hatte Volkstümlichkeit, Traditionalismus und Massentauglichkeit hervorzuheben; sie hatte die sogenannten fideistdschen Ideologien und die sogenannten bürgerlichen Techniken abzulehnen. Zum zweiten führte das Regime Modelle und Antimodelle an: ζ. B. die 2. Warschauer Symphonie von B. Woytowicz als nachahmenswertes Vorbild und die Olympische Symphonie von Z. Turski als verdammenswert."22

Die Kontakte zum westlichen Ausland wurden unterbrochen und die polnische Abteilung der „Internationalen Gesellschaft für Neue Musik" (IGNM) aufgelöst, so dass es zu einer vollständigen Isolation Polens von den zeitgenössischen westeuropäischen Strömungen kam: „Man muß sich nur klar machen, daß zur selben Zeit, da Stockhausen seine ,Kontrapunkte' und ,Klavierstücke', Boulez seinen ,Marteau sans maitre' schufen, und da in Paris, Köln und Mailand die elektronische und konkrete Musik ins Leben gerufen wurden, die Neue Musik Polens eine, sozusagen ,an den Grenzen der Tonalität liegende Sprache' benutzte, wobei die dodekaphonische Technik höchstens in der Theorie bekannt war, ein Abgehen von der thematisch-motivischen Denkweise ganz unmöglich schien. Ähnliche

„Wladza okreslala, po pierwsze — zalozenia forsowanej doktryny: muzyka miala byc, jak wiemy, socjalistyczna w tresci, narodowa w formie; miala premiowac wokalnosc i melodyjnosc, zwi^zanie ζ optymistycznym tekstem i uproszczenie srodkow formalnych, akcentowac ludowosc, tradycjonalizm i nastawienie na masowego odbiorc?; odrzucac Ideologie tzw. fideistyczne i techniki tzw. burzuazyjne. Po drugie, wladza wskazywala wzorce i antywzorce: np. II Wars^awshi sym/onif B. Woytowicza uznano za wzor godny nasladowania, Symfom( olimpijskq Z. Turskiego — za godny potQpienia." Mieczyslaw Tomaszewski, „O twörczosci zaangazowanej: muzyka polska 1944-1994 mi^dzy autentyzmem a panegiryzmem", in: Muzyka i Totahtary^m, Poznan 1996, S. 143.

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Kontext

Verhältnisse herrschten auf dem Gebiet der Aufführungspraxis. Es genügt festzustellen, daß unserem Publikum fast kein Werk von Schönberg und Webern bekannt war [...].'"23

Viele der polnischen Komponisten suchten nach Kompromissen, wie sie innerhalb der vorgegebenen Grenzen trotzdem möglichst authentisch komponieren konnten, indem sie etwa die neoklassizistische Richtung der Zwischenkriegszeit fortsetzten, sich dem Folklorismus widmeten oder ältere Musik stilisierten. Nur relativ wenige beugten sich den aufgezwungenen Tendenzen und produzierten in Form von Massenliedern, ideologischen Kantaten und Programmsymphonien die polnische Variante des Sozialistischen Realismus. Andere Komponisten, wie Roman Palester und Andrzej Panufnik, emigrierten. Erst die „Tauwetterperiode" führte in den Jahren nach 1953 zu einer kulturpolitischen Liberalisierung, deren deutlichstes Zeichen im Bereich der Musik die Gründung des internationalen Festivals zeitgenössischer Musik „Warschauer Herbst" war. Das erste Festival fand genau in den Tagen des politischen Umbruchs vom 10. bis 21.10.1956 statt und war vielleicht nur aufgrund dieses Zeitpunktes überhaupt möglich. Es war ein Experiment für die Veranstalter wie auch für die Behörden, denn bis zuletzt war unklar, ob jene tatsächlich eine solch breite Präsentation der bis vor kurzem noch verbotenen Musik zulassen würden bzw. welche Folgen diese mit sich bringen könnte. Das Festival wurde vom 1945 gegründeten „Verband Polnischer Komponisten" organisiert und ging auf die Initiative von Tadeusz Baird und Kazimierz Serocki zurück, die 1954-1955 stellvertretende Vorsitzende des Verbandes waren. Die Idee bestand zum einen darin, das Schaffen der polnischen Komponisten im In- und Ausland bekannter zu machen und zum anderen Musikern und Publikum in Polen einen Überblick über das aktuelle musikalische Weltschaffen zu ermöglichen.24 Auf dem Programm standen entsprechend sowohl östliche als auch westliche Werke. Vor allem musste zunächst einmal der Informationsbedarf des Publikums an klassischer Moderne gestillt werden, so dass der erste „Warschauer Herbst" noch eher retrospektiven Charakter trug und sich hauptsächlich im stilistischen Kreis um den frühen Igor Strawinsky, Arthur Honegger und Bela Bartök bewegte. An zeitgenössischer Musik aus dem Westen wurde lediglich Les Offrandes oubliees von Olivier Messiaen dargeboten. Mit Rücksicht auf das an Neue Musik nicht gewöhnte Publikum wurde in jedem Konzert auch ein traditionelles Werk gespielt, weswegen im Programm ebenso Johannes Brahms, Pjotr Tschaikowsky und Richard Strauss zu finden waren. Auch bei den polnischen Werken dominierten deutlich diejenigen der

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Wlodzimierz Dobrowolski, „Der Einfluss des Festivals ,Warschauer Herbst' auf die Entwicklung des Musiklebens in Polen", in: Neue Musik und Festival (= Studien zur Wertungsforschung 6), hrsg. von Otto Kolleritsch, Graz 1973, S. 68 f. Vgl. Tadeusz Baird, „Die Anfange des .Warschauer Herbstes'", in: Polish Music / Polnische Musik 16 (1981), Nr. 3-4, S. 11.

D i e polnische N e u e Musik

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Komponisten, die vor 1920 geboren wurden. Von den jüngeren präsentierten sich nur Kazimierz Serocki, Tadeusz Baird, Stanislaw Skrowaczewski, Stanislaw Wislocki, Andrzej Dobrowolski und Wojciech Kilar der internationalen Öffentlichkeit. Dennoch erkannte man in Polen sofort die Tragweite des Festivals: „Es w a r die endgültige Bestätigung, dass die Diskriminierung der zeitgenössischen Musik in P o l e n beendet w u r d e , dass breitere Möglichkeiten des Austausche v o n m o d e r n e n künsderischen E r f a h r u n g e n g e s c h a f f e n w u r d e n u n d dass den K o m p o n i s t e n u n d allgemein d e n Musikern in viel g r ö ß e r e m U m f a n g als bisher der unmittelbare K o n t a k t mit der zeitgenössischen Musik ermöglicht wurde." 2 5

Kurz darauf wurden auch andere Kontakte zum Ausland wieder aufgenommen. So fuhr beispielsweise 1957 zum ersten Mal eine Gruppe von acht polnischen Komponisten, darunter Dobrowolski, Serocki und Kotonski, zu den „Internationalen Ferienkursen für Neue Musik" nach Darmstadt, und die polnische Sektion der IGNM wurde, während sie offiziell weiterhin verboten blieb, auf der Ebene des Komponistenverbandes reaktiviert. Ein weiterer wichtiger Schritt war im selben Jahr außerdem die Gründung des Experimentalstudios des polnischen Rundfunks in Warschau, das für lange Zeit das einzige seiner Art innerhalb des Ostblocks blieb. Schon diese ersten Berührungen mit der westeuropäischen modernen Musik übten großen Einfluss auf die musikalische Landschaft Polens aus. Im Schaffen einer Vielzahl von Komponisten begann, ausgelöst durch die Rezeption der Werke der „Wiener Schule" und der Avantgarde in Darmstadt, eine intensive Auseinandersetzung mit der zuvor offiziell geächteten Technik der Dodekaphonie. Die polnischen Komponisten waren allerdings nicht gänzlich unvorbereitet. So hatten etwa Jozef Koffler oder Konstanty Regamey bereits in den 1930er Jahren und während des Krieges mit der Dodekaphonie experimentiert, wenn ihre Werke auch keine größere Verbreitung fanden.26 Selbst während der Jahre, in denen die Doktrin des Sozialistischen Realismus das Musikleben bestimmte, entstanden vereinzelt dodekaphone Werke wie Serockis Suit a preludiow [Suite aus Präludieti\ für Klavier aus dem Jahr 1952 oder Schaeffers Musgka na smyc^ki - Nokturn [Musik für Streicher — Nokturn] von 1953. Kenntnis von der verfemten Technik hatten die Komponisten etwa durch ihre Studienaufenthalte in Frankreich, wo beispielsweise Serocki mit den Schriften von Rene Leibowitz in Berührung kam.27 Schaeffer begann zudem bereits im Jahre 1952 mit

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„Byl ostatecznym potwierdzeniem, ze w Polsce skoriczono ζ dyskryminacj^ muzyki nowoczesnej, ze stworzono szersze mozliwosci wymiany nowoczesnych doswiadczeri artystycznych i ze umozliwiono kompozytorom i w ogole muzykom w zakresie ο wiele szerszym niz to bylo mozliwe dotychczas bezposredni kontakt ζ muzyka wspölczesn^." Krystyna Wilkowska-Chominska: „Mi^dzynarodowy Festiwal Muzyki Wspolczesnej w Warszawie", in: Mwgika 1 (1956), Nr. 3, S. 176. Vgl. Jozef Chommski und Krystyna Wilkowska-Chominska, Historia muzyki polskiej, Bd. 2, Krakau 1996, S. 153. Vgl. Tadeusz A. Zielinski, Ο twörc^osä Kasg'menfa Serockiego, Krakau 1985, S. 8.

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der Arbeit an seinem Buch Nowa muvgka [Neue Musik]28, in dem er Kompositionstechniken beschreibt, die zu diesem Zeitpunkt in Polen offiziell unbekannt waren. Es existierte demnach auch schon vor 1956 eine Rezeption, die jedoch weitgehend im Verborgenen und fast ausschließlich über theoretische Schriften stattfand.29 Der zweite „Warschauer Herbst" im Jahre 1958 öffnete sich bereits vollständig für die gegenwärtige westliche Avantgarde. Neben erstmalig in Polen aufgeführten Werken von Arnold Schönberg und Anton Webern umfasste das Programm die neuesten Werke führender westeuropäischer Komponisten wie Pierre Boulez, Luciano Berio, John Cage oder Luigi Nono, und unter der Leitung von Karlheinz Stockhausen fand erstmals ein Konzert mit elektronischer Musik statt. Auf der anderen Seite wurden weiterhin sozialrealistische Werke östlicher Kollegen, wie beispielsweise die: monumentale und programmatische 6. Symphonie von Janis Iwanows, dargeboten.30 Die polnischen Komponisten traten bei diesem zweiten „Warschauer Herbst" mit Werken in Erscheinung, die bereits einen deutlichen Wandel der Musiksprache zeigten. Während auf dem Festival 1956 etwa von Witold Lutoslawski die folkloristische Mala suita [Kleine Suite] und das tonal ausgerichtete Konzert für Orchester gespielt wurden, kam im Jahre 1958 seine auf Zwölftonmaterial basierende Muqyka %alobna [Trauermusik] zur Aufführung. Außerdem stellten sich neben den polnischen Komponisten, die bereits auf dem ersten „Warschauer Herbst" vertreten waren, Henryk Mikolaj Görecki mit seinem Epitaphium und Wlodzimierz Kotodski mit seiner Musgika kameralna [Kammermusik] vor und präsentierten damit zwei Werke, die in serieller Technik komponiert waren. Ab 1958 fand der ursprünglich als Biennale geplante „Warschauer Herbst" ungeachtet aller politischen Entwicklungen jährlich statt. Damit stellten das Festival und seine Folgeerscheinungen im Bereich des Ostblocks damals eine absolute Ausnahme dar. Zunächst nur als Versuch konzipiert, gewann die polnische Lösung jedoch u. a. wegen der bedeutsamen Resultate, die sie hervorbrachte, innere Stabilität. Der offizielle polnische Kurs hatte nun den Ehrgeiz, sich von der Schematik der östlichen Kulturpolitik zu unterscheiden, so dass die Förderung Neuer Musik auch zu einem Ausdruck nationaler Selbstbehauptung wurde.31 Nicht zuletzt konnte sich die Regierung des Festivals bedienen, um dem westlichen Ausland die künstlerische Freiheit in Polen zu demonstrieren. Die polnische Kulturpolitik entsprach insofern der allgemeinen politischen Richtung, einen eigenen „polnischen Weg" innerhalb des kommunistischen Systems zu finden. Sie bestand deshalb immer in einem Ausloten des eigenen Handlungsspielraums, verbunden mit dem Bemühen, eine Eskalation wie in

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Boguslaw Schaeffer, Noma Munyka, Krakau 1957. Vgl. Krzysztof Baculewski, Po/ska twörcvpsc kompoytorska 1945-84, Krakau 1987, S. 169 f. Vgl. Marietta Morawska-Büngeler, „Schaubühne der Avantgarde? Ein Rückblick auf das polnische Festival Warschauer Herbst", in: Internationale Musik-Festivals Heidelberg 1991 und 1992, hrsg. vom Kulturinstitut Komponistinnen heute e.V., Heidelberg 1992, S. 226. Vgl. Ulrich Dibelius, Moderne Musik II, München 3 1991, S. 287.

Die polnische Neue Musik

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Ungarn zu vermeiden. Auch die Künstler konnten innerhalb dieses Rahmens so lange frei agieren, wie sie nicht die Beziehungen zur Sowjetunion gefährdeten. Der Bereich der Musik schien im Vergleich zu anderen Künsten am wenigsten von Repressionen betroffen zu sein, was daran lag, dass Musik offiziell als eine nichtsemantische Kunst anerkannt war und deshalb für den Staat keine so große Gefahr bedeutete.32 Hinzu kam, dass sich Autoritäten wie Lutoslawski, Serocki, Baird, Gorecki und Penderecki, die in der musikalischen Welt Polens den Ton angaben, stets unnachgiebig gegenüber dem Regime verhielten und auch der „Verband Polnischer Komponisten" nie regimetreue Tendenzen aufwies.33 Insgesamt entstand in Polen auf diese Weise eine künsderische Freiheit, wie sie zu diesem Zeitpunkt in keinem anderen Staat des Ostblocks herrschte. In den nächsten Jahren folgten die Debüts weiterer Komponisten wie Krzysztof Penderecki, Witold Szalonek, Boguslaw Schaeffer oder Augustyn Bloch, und es kam zu einem regelrechten Aufschwung des avantgardistischen Schaffens in Polen. Die innovativen Strömungen der westeuropäischen Musik, wie serielle Techniken, Aleatorik, elektronische Musik, musikalische Graphik, instrumentales Theater und Minimal Music, wurden von den polnischen Komponisten in beschleunigter Weise und individuell verschieden rezipiert, wobei das Stadium des Kennenlernens und Aneignens bald überwunden war und künsderisch Eigenständiges in den Vordergrund trat. So begann sich bereits auf dem dritten „Warschauer Herbst" 1959 mit der Uraufführung von Pendereckis Strojy und Goreckis Symfonia 1959 eine Strömung in der polnischen Musik abzuzeichnen, bei der die Klangfarbe in den Mittelpunkt rückte. Im selben Jahr erlangten die polnischen Komponisten ihren ersten internationalen Erfolg, indem die „Tribüne des Compositeurs" der UNESCO in Paris Lutoslawskis Mu^yka ^atobna und Bairds C^teiy Ese/e [Vier Essays] mit einem ersten Preis auszeichnete und Serockis Sinfonietta auf den siebten Platz setzte. Als erstes klingendes Dokument der polnischen Neuen Musik wurden diese drei Werke unter der Schirmherrschaft der UNESCO außerdem als Schallplatte produziert. Auch in den nächsten Jahren findet sich unter den in Paris gekürten Werken eine große Anzahl mit polnischer Herkunft (Abb. 1). Bald waren die polnischen Komponisten zudem auf zahlreichen Festivals weltweit präsent, beispielsweise im Jahr 1961 bei der Biennale in Venedig mit Werken von Bacewicz, Kotonski, Lutoslawski, Luciuk, Penderecki und Schaeffer, auf dem Festival der IGNM in Wien mit Werken von Penderecki und Schaeffer oder beim Internationalen Festival Zeitgenössischer Musik in Osaka mit Werken von Baird, Gorecki, Lutoslawski und Penderecki.34

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Vgl. Andrzej Chlopecki, „Festivals und Subkulturen. Das Institutionengefuge der Neuen Musik in Mittel- und Osteuropa", in: Neue Musik im politischen Wandel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 32), hrsg. von Hermann Danuser, Mainz 1991, S. 41. Vgl. Mieczyslaw Tomaszewski, „O tworczosci zaangazowanej: muzyka polska 1944-1994 mi^dzy autentyzmem a panegiryzmem", in: Muzyka i Totalitary^m, Poznan 1996, S. 146 f. Vgl. Ludwik Erhardt, Musik in Polen, Warschau 1978, S. 135.

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Kontext

Jahr der Ausz. Komponist 1959 Baird Lutoslawski Penderecki 1961 1963 Baird Twardowski Lutolawski 1964 1966 Baird Lutoslawski 1968 Görecki 1973 Stachowski 1974 1976 Meyer

Werk C^/ery Eseje Mu^yka \aiobna Tren Wariacje be% tematu Antyfony Trois Poemes d'Henri C\tery Dialogi 2. Symphonie Ad Matrem Nettes II 3. Streichquartett

Michaux

Abb. 1: Werke polnischer Komponisten, die in den Jahren 1956-1976 bei der „Tribüne des Compositeurs" in Paris mit einem 1. Preis ausgezeichnet wurden.

Der „Warschauer Herbst" hatte nicht nur Auswirkungen auf das kompositorische Schaffen, sondern auf das gesamte musikalische Leben in Polen. Neue Musik ging immer stärker in das Repertoire von Ensembles und Solisten ein, die dadurch die Gelegenheit erhalten wollten, beim „Warschauer Herbst" zu spielen und sich auf diese Weise dem In- und Ausland zu präsentieren. Daneben bildeten sich erste Spezialensembles für Neue Musik, wie im Jahre 1963 die Warschauer „Musikwerkstatt" und die Krakauer „MW2". Der Komponistenverband gründete 1961 mit dem „Posener Frühling" und 1962 mit dem „Breslauer Festival der Zeitgenössischen Polnischen Musik" noch zwei weitere Festivals für Neue Musik. Ferner förderte er die Komposition Neuer Musik, indem er Stipendien vergab und ab 1958 den „Wettbewerb Junger Komponisten" veranstaltete. Einen gewissen Einfluss übte der „Warschauer Herbst" auch auf den polnischen Rundfunk und das Fernsehen sowie auf die Schallplattenherstellung und den Notendruck aus, die aufgrund der Popularität des Festivals zunehmend Neue Musik in ihre Programme aufnahmen. Nicht zuletzt war der „Warschauer Herbst" beim Publikum äußerst beliebt und sorgte in Polen für eine Breitenwirkung von Neuer Musik, wie es sie kaum anderswo gab: „Neue Musik hat Popularität in Polen. Es gibt wohl nirgendwo eine so zahlreiche, aufgeschlossene und begeisterungsfahige, dabei aber doch sehr kritische Zuhörerschaft für die Neue Musik wie in Warschau. Es sind beileibe nicht nur internationale Experten, die die Konzerte des Warschauer Herbstes frequentieren, sondern es ist in der Mehrheit Warschauer Publikum, das die Kassen stürmt und vor den schmalen Eingängen drängelt, wenn irgendein neues Werk Pendereckis in der Johanneskathedrale erklingt."35

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Detlef Gojowy, „Avantgarde in Polen", in: Musik und Bildung 1975, Nr. 12, S. 618.

Die polnische Neue Musik

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In den Augen von sowjetischen Kritikern verfehlte das Festival hingegen seinen Auftrag, da es modernistische Tendenzen förderte, anstatt die höheren Werte von Realismus und Volkstümlichkeit anzustreben.36 Immer wieder versuchte die sowjetische Administration deshalb in die Programmgestaltung des „Warschauer Herbstes" einzugreifen. Doch durch eine geschickte Struktur der Zuständigkeitsaufteilung gelang es, eine für kommunistische Zeiten größtmögliche Freiheit zu erreichen. So wurde das Festival zwar vom Komponistenverband veranstaltet und größtenteils durch das Kultusministerium finanziert, doch das Programm bestimmte eine vom Verbandsvorstand berufene unabhängige Programmkommission. Bei Angriffen, beispielsweise von Seiten sowjetischer oder ostdeutscher Musikzeitschriften, reagierte das polnische Ministerium mit dem Versprechen, Druck auf den Komponistenverband auszuüben, woraufhin sich dieser mit der Feststellung rechtfertigte, dass er auf die Arbeit der Programmkommission keinen direkten Einfluss habe.37 Die Veranstalter mussten lediglich darauf achten, dass die richtigen Proportionen zwischen Werken aus dem Osten und denen aus dem Westen gewahrt wurden.38 Während sie bei den westlichen Künsdern bei der Gestaltung der Konzerte weitgehend freie Hand hatten, kamen die Ensembles sozialistischer Staaten im Rahmen des offiziellen Austausche häufig mit einem eigenen festgelegten Programm. Besonders prekär war dies etwa beim „Warschauer Herbst" 1972, als die Programmkommission das 2. Klavierkonzert von Tichon Chrennikow, des Generalsekretärs des Verbandes der sowjetischen Komponisten, mit Chrennikow persönlich als Solisten ins Programm aufnehmen musste. Als Zeichen des Protestes verweigerten die Mitglieder der Programmkommission daraufhin den Abdruck ihrer Namen im Programmbuch des Festivals.39 Aufführungsverbote herrschten nur für Werke emigrierter Komponisten, wie Palester und Panufnik. Außerdem schauten die Zensoren auf die Texte von Werken sowie auf die politischen Aktivitäten des jeweiligen Komponisten. Nicht gespielt werden durften ferner Komponisten, die unter sowjetischer Zensur standen. Aus diesem Grunde wurde ebenfalls auf dem „Warschauer Herbst" 1972 ein Werk von Edison Denisow, das auf Druck von Chrennikow aus dem Programm entfernt werden musste, unter dem Namen von Denisows Frau Gala Warwarin aufgeführt.40 36

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Vgl. Marietta Morawska-Büngeler, „Schaubühne der Avantgarde? Ein Rückblick auf das polnische Festival Warschauer Herbst", in: Internationale Musik-Festivals Heidelberg 1991 und 1992, hrsg. vom Kulturinstitut Komponistinnen heute e.V., Heidelberg 1992, S. 226. Vgl. Andrzej Chiopecki, „Zur Rezeption der Neuen Musik der DDR aus der Perspektive des .Warschauer Herbstes'", in: Zwischen Macht und Freiheit. Musik in der DDR, hrsg. von Michael Berg u. a., Köln 2004, S. 110. Vgl. Danuta Gwizdalanka, „Politische Aspekte des Warschauer Herbstes und der neuen polnischen Musik", in: Warschauer Herbst und Neue Polnische Musik. Rückblicke — Ausblicke (= Musik-Kultur 2), hrsg. von Volker Kaiisch, Essen 1998, S. 14. „Augustyn Bloch im Gespräch mit Dedef Gojowy", in: Augustyn Bloch. Ein Komponistenleben in Polen, hrsg. von Dedef Gojowy, Köln 1999, S. 11. Vgl. Andrzej Chiopecki, „Komponistinnen im Umkreis des Warschauer Herbstes — ein geschichtlicher Uberblick", in: Musik - S^ene - Osteuropa. Gender-Topographien, Druck in Vorbereitung.

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Auf diese Weise wuchs unter dem Argwohn und der offiziellen Ablehnung östlicher Beobachter der „Warschauer Herbst" rasch zu zentraler Bedeutung heran und wurde zum wichtigsten Umschlagplatz für Werke, Kontakte und Informationen in einer geteilten Welt. Für die östlichen Länder bot er die Gelegenheit, Versäumnisse nachzuholen und an die jüngsten europäischen Traditionen anzuknüpfen, und den westlichen Komponisten und Musikkritikern ermöglichte er, sich im Ostblock umzuschauen. Dadurch trug das Festival auch zur Entwicklung der musikalischen Avantgarde über Polens Grenzen hinaus in den anderen Staaten des sowjetischen Einflussgebiets bei. Auch in den 60er Jahren debütierten auf dem „Warschauer Herbst" weitere polnische Komponisten, die bald internationale Anerkennung genossen, etwa 1963 Krystyna Moszumadska-Nazar und Tomasz Sikorski, 1964 Zbigniew Rudzinski oder 1965 Zygmunt Krauze und Krzysztof Meyer. Waren Ende der 50er Jahre möglicherweise noch gewisse stilistische Gemeinsamkeiten der polnischen Komponisten zu entdecken, wurde der Stilpluralismus nun unübersehbar. Hinzu kam, dass ab Mitte der 60er Jahre mehrere Komponisten damit begannen, sich von den avantgardistischen Konzeptionen abzuwenden und zu einer eher traditionelleren Klangsprache zurückzukehren. Dieser Wandel wurde auf dem „Warschauer Herbst" 1976 endgültig offenkundig, bei dem sich die neue Ästhetik gleich in drei Werken, nämlich in Göreckis 3. Symphonie, Pendereckis Violinkonzert und Kilars Symphonischer Dichtung Kosäelec 1909, in ihrer bis dahin extremsten Form zeigte. Mit der Zunahme von Aufführungs- und Veröffentlichungsverboten ab Ende der 60er Jahre suchten die Vertreter der Neuen Musik in Polen verstärkt nach kulturellen Nischen im halböffentlichen und privaten Raum. So entstand beispielsweise das Festival „Junge Musiker der jungen Stadt" in der Provinzstadt Stalowa Wola, das durch den ortsansässigen Industriebetrieb finanziert wurde und deshalb in seinem Programm politisch und ideologisch unabhängig war. Anlässlich des zweiten Festivals in Stalowa Wola im Jahr 1976 forderte der Theoretiker und Komponist Krzysztof Szwajgier in einem Manifest, das in seiner Zweideutigkeit nur von Eingeweihten verstanden wurde und seinen Ursprung in den Studentenunruhen von 1968 hatte, eine Musik mit politischer Botschaft. 41 Zur sogenannten „Generation Stalowa Wola", die auf dem Festival in Erscheinung trat, gehörten etwa die Komponisten Eugeniusz Knapik, Aleksander Lasoh, Rafal Augustyn, Grazyna Pstrokonska-Nawratil und Pawel Szymahski. Im Gegensatz zu ihren älteren Kollegen, die aus Schutz vor staatlicher Einflussnahme eine Semantik der Musik geleugnet hatten, sahen diese nach 1950 geborenen Komponisten nun eine Gefahr in ihrer fehlenden Bedeutung. Auch hierin zeigt sich ein Umbruch, der die polnische Neue Musik im nun folgenden Jahrzehnt geprägt hat.

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Vgl. Andrzej Chlopecki, „Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung", in: Polish Music / Polnische Musik 19 (1984), Nr. 3-4, S. 6.

Die polnisch-deutschen Beziehungen

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3. Die polnisch-deutschen Beziehungen Offi2ielle Be2iehungen zwischen Polen und der BRD existierten erst ab den 70er Jahren. Die Volksrepublik Polen bekundete zwar schon ab 1955 ihr Interesse, diplomatische Beziehungen zur BRD aufnehmen zu wollen, doch die Bundesregierung hatte trotz zunehmender Bereitschaft, das deutsch-polnische Verhältnis schon aus moralischen Gründen verbessern zu wollen, ein solches Angebot vor allem aufgrund der strittigen Grenzfrage immer wieder abgelehnt. Erst 1961 kamen u. a. mit dem Entschluss des Bundestages, die Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern ohne Preisgabe lebenswichtiger Interessen der Nation zu verbessern, neue Impulse in die Ostpolitik, deren erstes sichtbares Ergebnis 1963 die Errichtung der ersten Handelsmission in Warschau war. Zu einer weiteren Annäherung auf offizieller Ebene kam es jedoch nicht. Nach dem Tübinger Memorandum von 1961, in dem führende evangelische Laien und Theologen die deutsche Ostpolitik kritisierten und eine Aufgabe des Souveränitätsanspruches auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze forderten, war die öffentliche Diskussion allerdings kaum mehr einzudämmen. Ein denkwürdiges Ereignis bildeten hierbei vor allem der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder sowie die „Ostdenkschrift" der Evangelischen Kirche Deutschlands im Jahr 1965. Mit der großen Koalition begannen ab 1966 Bestrebungen der Bundesregierung, mit den osteuropäischen Staaten nicht mehr nur auf dem Umweg von Memoranden und Pressekommentaren zu kommunizieren, sondern direkte politische Kontakte zu suchen. 1968 deutete Willy Brandt — damals noch Außenminister — an, dass durch eine spezielle Gewaltverzichtserklärung die augenblicklichen polnischen Grenzen bis zu einer endgültigen Friedensregelung anerkannt werden könnten. Mit der Unterzeichnung des „Warschauer Vertrages" von 1970 wurde dies schließlich umgesetzt und, zusammen mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, eine Wende im politischen Verhältnis herbeigeführt. 1976 folgte das deutsch-polnische Kulturabkommen, das den offiziellen Rahmen für die Kulturbeziehungen schuf und zu institutionellen Neugründungen, wie Städtepartnerschaften, deutsch-polnischen Gesellschaften und Wissenschaftsprogrammen, führte. So erhielten beispielsweise Anfang der 70er Jahre polnische Komponisten, darunter Kotonski, Szalonek und Gorecki, im Rahmen des DAAD-Künstlerprogramms Stipendien für mehrmonatige Aufenthalte in Westberlin. Auf nichtoffizieller Ebene existierten im kulturellen Bereich jedoch bereits wesentlich früher Beziehungen zwischen Polen und der BRD. Nachdem die Kontakte bis 1956 weitgehend unterbunden waren, kam es im Zuge der „Tauwetterperiode" und der Lockerung der Grenzen für beide Seiten zu Überraschungen und Neuentdeckungen in der Kunst des jeweiligen Nachbarn. Bereits 1956 besuchte Heinrich Boll Polen, und im darauffolgenden Jahr erschien dort eine einmalig große Anzahl von 60 Literaturübersetzungen aus dem Deutschen, darunter von vielen westdeut-

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sehen Autoren. Mit wesentlich größerer Vehemenz verbreitete sich jedoch die polnische Kunst in der BRD, so dass in einigen Publikationen sogar von einer „polnischen Welle" gesprochen wird: „Die ,polnische Welle' der sechziger Jahre in der Bundesrepublik war keine Massenbewegung, hatte teilweise sogar einen recht elitären Charakter. Entscheidend war jedoch, daß die moderne polnische Kultur in Deutschland wohl zum ersten Mal derartig intensiv wahrgenommen wurde und hoch geschätzt wurde." 42

Ab 1957 gab es Ausstellungen mit bildender Kunst aus Polen43, 1959 erschien die erste Sammlung polnischer Lyrik in der Übersetzung von Karl Dedecius, die bundesdeutschen Theater spielten Stücke von Stanislaw Witkiewicz, Witold Gombrowicz und Slawomir Mrozek, und das Fernsehen zeigte polnische Filme. Das Ungleichgewicht im kulturellen Austausch liegt einerseits im größeren wirtschaftlichen Potenzial der BRD begründet, andererseits ist es jedoch auch auf politische und ideelle Gründe zurückzuführen: „Die hohe Qualität des kulturellen Angebotes aus Polen hat auch das Bedürfnis gesteigert, das Defizit an Informationen über die polnische Kultur zu verringern. Außerdem war das Engagement für die polnische Kultur auch ein Ausdruck des Bemühens um die nationale Versöhnung und um die Überwindung des kalten Krieges. Das geographisch dezentralisierte bundesdeutsche Kulturleben hat sich dabei als besonders aufnahmefähig erwiesen. [...] Nicht zuletzt hat aber auch die aktive Haltung der polnischen Kultur selbst zu dem zahlenmäßigen Übergewicht beigetragen. Das Bedürfnis, am europäischen Kulturgeschehen teilzunehmen, sich dort zu behaupten, ist einmal ein Ausdruck der traditionellen kulturellen Bindung an Westeuropa, zum anderen aber auch ein Akt der kulturellen Selbstbehauptung und Emanzipation." 44

Besonders großes Interesse wurde der polnischen Neuen Musik entgegengebracht.45 Abgesehen von den Besuchen westdeutscher Kritiker und Musiker beim „Warschauer Herbst" wurden erste Kontakte mit polnischen Komponisten bei den Darmstädter Ferienkursen 1957 geknüpft. Das auslösende Moment für eine breitere Rezeption der polnischen Musik in der BRD war jedoch die Uraufführung von Pendereckis Werk Anaklasis auf den „Donaueschinger Musiktagen" 1960, das beim Pub42

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Andreas Lawaty, „Chance zur Verständigung. Die Geschichte der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen", in: Deutsche und Polen 1945-1995. Annäherungen — Zbli^enia, hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1996, S. 131. Vgl. Jürgen Weichardt, „Polnische Kunst in Deutschland — westdeutsche Kunst in Polen. Eine Bilanz der wechselseitigen Ausstellungsbeziehungen", in: Erlebte Nachbarschaft. Aspekte der deutsch-polnischen Begehungen im 20. Jahrhundert., hrsg. von Jan Pieter Barbian, Wiesbaden 1999, S. 253. Andreas Lawaty, „Die kulturellen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen bis 1975", in: Die Begehungen ^wischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen bis ^ur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki 1975), hrsg. von Wolfgang Jacobmeyer, Braunschweig 1987, S. 183. Vgl. ebd., S. 182.

Die polnisch-deutschen Beziehungen

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likum eine solche Begeisterung auslöste, dass es da capo wiederholt werden musste und bald als eine künstlerische Sensation gefeiert wurde.46 Von nun an bildeten die Werke polnischer Komponisten einen festen Bestandteil der westdeutschen Konzertprogramme. Das am meisten beachtete Werk stellte dabei zweifellos eine weitere Komposition Pendereckis dar: Die Uraufführung seiner Lukas-Passion anlässlich der 700-Jahr-Feier des Doms zu Münster im Jahr 1966 erweckte nicht zuletzt aufgrund der ungeheuren politischen Symbolkraft dieses Kompositionsauftrages des Westdeutschen Rundfunks internationale Aufmerksamkeit. Die Popularität der polnischen Neuen Musik in der BRD war neben der hohen künstlerischen Qualität der Werke ebenfalls im Reiz des bis 1956 fast vollständig Unbekannten begründet. Daneben könnten wie in den anderen Kultursparten und unabhängig von der Musik an sich auch politische Motive eine Rolle gespielt haben: „Damit wird Polen [nach den Ereignissen 1956] auch für den Westen zum vorläufig einzigen Träger von Hoffnungen auf einen gewandelten, besseren Sozialismus. Insbesondere auf Intellektuelle und Studenten auch in Westdeutschland wirken polnische Filme, polnischer Jazz, polnische Plakate sensationell und faszinierend. Mit erstaunter Aufmerksamkeit registriert man die regimekritischen Töne in der polnischen Publizistik. [...] Trotz der schrittweisen Wiedereinfügung Polens in die innen- und außenpolitischen Standards der .Sozialistischen Staatengemeinschaft' blieb dem Land nicht zuletzt in der Bundesrepublik weiterhin unter Intellektuellen eine gewisse Grundsympathie erhalten, die sich mit wachsender genereller Kritik an Abnutzungs- und Alterserscheinungen der konservativen Bonner Regierung verband." 47

So wurde möglicherweise in der polnischen Musik etwas Dissidentes gesehen, da sie nicht der im Ostblock nach wie vor verbindlichen Doktrin des Sozialistischen Realismus entsprach. Dass die Musik dies aus polnischer Sicht nicht war und von den politischen Machthabern nicht nur gebilligt, sondern auch unterstützt wurde, war hierbei unerheblich. Schließlich könnten auch gewisse pädagogische Ambitionen eine Rolle gespielt haben: „Die Motivation war eher eine missionarische, man wollte den Leuten jenseits des Eisernen Vorhangs ermöglichen, sich mit den Errungenschaften der westlichen Avantgarde vertraut zu machen. Dementsprechend faßte Steinecke 1959 als Resultat des Kontakts zu Polen zusammen: ,Es ist nicht zuviel gesagt, daß die Anregungen, die durch den Besuch der Darmstädter Ferienkurse gegeben wurden, sich im neuen Musikschaffen Polens bedeutsam ausgeprägt haben.'" 48 46

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Vgl. Helmut Lohmüller, „In Donaueschingen musste Penderecki wiederholt werden", in: Melos 21 (I960), Nr. 11, S. 340. Christoph Royen, „Deutsch-polnische Beziehungen 1945-1990", in: Polen und wir. Deutsch-polnische Begehungen gestern, heute und morgen, hrsg. von der Evangelischen Akademie Bad Boll, Bad Boll 1999, S. 49. Inge Koväcs, „Die Ferienkurse als Schauplatz der Ost-West-Konfrontation" in: Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse fir Neue Musik Darmstadt 1946-1966, hrsg. von Gianmario Bodo und Hermann Danuser, Freiburg i. B. 1997, S. 138.

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Kontext

Die Kontakte nach Polen liefen über Interpreten und andere Personen des westdeutschen Musiklebens, die dank ihrer Funktion oder ihres Einflusses für Aufführungsmöglichkeiten oder Auftragskompositionen für polnische Komponisten sorgten. Hierzu gehörten etwa der Verleger Hermann Moeck, der Leiter der Darmstädter Ferienkurse Wolfgang Steinecke sowie Otto Tomek und Wilfried Brennecke beim Westdeutschen Rundfunk und Heinrich Strobel beim Südwestfunk. Die allgemeine Faszination am polnischen Kulturschaffen, gepaart mit diesem persönlichen Interesse, führte dazu, dass sich westdeutsche Institutionen für die polnische Neue Musik engagierten und zu ihrer Verbreitung in der BRD beitrugen. So nahm der Moeck Verlag in Celle ab 1959 Werke polnischer Komponisten unter Vertrag und gründete damit die Reihe „Zeitgenössische Orchester- und Kammermusik", welche später auch Komponisten anderer Nationen umfasste. Über 35 Jahre lang stellte Moeck in diesem Verlagszweig, der inzwischen an die Bertelsmann Music Group übergeben wurde, Notenausgaben und Orchestermaterialen her und besaß die Aufführungsrechte für sämtliche nichtkommunistischen Länder. Insgesamt erschienen hier 91 Werke von 16 polnischen Komponisten49, darunter vor allem Kompositionen von Serocki (22 Werke), Kotonski (20 Werke) und Penderecki (15 Werke) .50 Ebenso vergaben westdeutsche Radioanstalten ab 1960 Kompositionsaufträge an polnische Komponisten (Abb. 2). Bis 1975 entstanden auf diese Weise 19 Auftragswerke von Penderecki (9 Werke), Serocki (5 Werke), Kotonski (3 Werke) sowie Gorecki und Krauze (jeweils 1 Werk), die in erster Linie auf die Initiative des Südwestfunks und des Westdeutschen Rundfunks zurückgehen (jeweils 8 Werke). Der SWF wandte sich in diesem Zeitraum ausschließlich an Penderecki und Serocki, wohingegen beim WDR alle fünf Komponisten in Erscheinung traten. Außerdem zeigt sich, dass der SWF vor allem in der ersten Hälfte der 60er Jahre Auftragskompositionen vergab, der WDR hingegen verstärkt Ende der 60er und Anfang der 70er. Insgesamt verteilen sich die Aufträge jedoch recht gleichmäßig über die 15 Jahre, wobei einen Höhepunkt das Jahr 1963 mit vier Vergaben bildet. Die Kompositionsaufträge des SWF standen außerdem oft in Verbindung mit den „Donaueschinger Musiktagen", wo die Werke in der Regel uraufgeführt wurden. Darüber hinaus kamen auf diesem Festival in den Jahren 1956-1976 jeweils ein weiteres Werk von Penderecki, Lutoslawski und Kotonski zur Aufführung, so dass dort insgesamt elf polnische Werke erklangen (Abb. 3). Zeitlich herrscht eine Ballung von Aufführungen im Zeitraum 1959-1967, in dem außer 1961 jährlich ein polnisches Werk und 1964 sogar zwei Werke im Programm enthalten waren.

49

50

Bacewicz, Boguslawski, Dobrowolski, Kotonski, Krauze, Lutoslawski, Matuszczak, Meyer, Penderecki, Z. Rudzinski, Schaeffer, Serocki, T. Sikorski, Szalonek, Szymanski, Wiszniewski. Schriftliche Auskunft des Moeck Verlags vom 15.3.2005.

29

Die polnisch-deutschen Beziehungen

jähr Komponist Werk 1960 Penderecki Anaklasis Segmenti Serocki 1962 Penderecki Polymorphia Penderecki Fluorescences Canticum graduum 1963 Görecki Penderecki Sonata per Violoncello e orchestra Penderecki Lukas-Passion Serocki Freski sjmfonic^ne 1966 Kotonski Klangspiele Penderecki Capriccio per violino e orchestra Serocki Forte e piano 1968 Penderecki Capricäo per Siegfried Palm Penderecki Utrenja 1970 Penderecki Actions Serocki Fantasia elegiaca 1971 Kotodski Konzert für Oboe Kotodski Aolian Harp 1973 Serocki Impromptufantasque 1974 Krauze Idyll für Volksinstrumente

Sender SWF SWF NDR SWF WDR SWF WDR SWF WDR SWF WDR RB WDR SWF SWF SFB WDR WDR WDR

Abb. 2: Kompositionsaufträge westdeutscher Rundfunkanstalten an polnische Komponisten in den Jahren 1956-1975.51

Jahr 1959 1960 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1971 1976

Komponist Kotoriski Penderecki Penderecki Serocki Penderecki Serocki Lu to slawski Penderecki Penderecki Penderecki Kräuze

Werk Mu^yka kameralna (DE) Anaklasis (UA) Fluorescence (UA) Segmenti (A) Sonata per violoncello e orchestra (UA) Freski symfonic^ne (A) Streichquartett (DE) Stabat mater Capricäo per violino e orchestra (UA) Actions (UA) Klavierkonzert (UA)

Abb. 3: Werke polnischer Komponisten, die in den Jahren 1956-1976 auf den „Donaueschinger Musiktagen" aufgeführt wurden (UA = Uraufführung/Kompositionsauftrag, A = Kompositionsauftrag, DE = Deutsche Erstaufführung). 52

51 52

Vgl. Anneliese Betz, Auftragskompositionen im'Rundfunk1946-1975, Frankfurt a. M. 1977. Vgl. Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik — Tendenzen — Werkbesprechungen, Kassel 1996.

30

Kontext

Auch die zweite große westdeutsche Veranstaltung, die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt", förderte die polnische Neue Musik, indem hier in den Jahren 1956-1976 insgesamt 19 Kompositionen von Kotonski (4 Werke), Gorecki, Penderecki, Serocki (jeweils 3 Werke), Lutosiawski, Schaeffer (jeweils 2 Werke) sowie Szalonek und Wiszniewski (jeweils 1 Werk) aufgeführt wurden (Abb. 4). Außerdem enthalten die Programme der Ferienkurse zwei Vorträge über die polnische Neue Musik von Andrzej Markowski (1959) und Jozef Patkowski (1961), die beide 1959 auch als Dozenten in Erscheinung traten. Nachdem 1957 eine Gruppe von acht polnischen Komponisten an den Ferienkursen teilgenommen hatte, reisten in den nächsten Jahren jeweils 14-15 Komponisten an. Ab 1961 ließ die Teilnahme allerdings stark nach, häufig war nun niemand mehr aus Polen anwesend.53 Diese Schwankungen sind allerdings auch auf politische Gründe zurückzuführen, indem polnischen Musikern etwa die Ausreisegenehmigung verweigert wurde. Jahr 1958 1959 1960 1961

1962 1963

1964

1965 1966 1967 1968 1970

Komponist Serocki Kotonski Szalonek Schaeffer Kotonski Penderecki Penderecki Gorecki Penderecki Serocki Gorecki Kotonski Wiszniewski Serocki Schaeffer Lutosiawski Lutosiawski Gorecki Kotoriski

Werk Musica concertante (UA) Musique en relief (UA) Wys>nania (UA) Acht Klavierstücke (UA) Canto (UA) Emanacje (UA) , Streichquartett (UA) Symphonie Nr. 1 1959 Tren (DE) Segmenti Diagram IV (DE) Monochromie (UA) Trio für Oboe, Viola und Harfe Freski sj/mfonic^ne (UA) Permutacje (UA) Trtypostludia (DE) Streichquartett R e f r e n (DE) Quintett für Blasinstrumente

Abb. 4: Werke polnischer Komponisten, die in den Jahren 1956-1976 auf den „Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt" aufgeführt wurden (UA = Uraufführung, DE = Deutsche Erstaufführung). 54

53 Vgl. ebd., S. 136. 54 Vgl. Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse flir Neue Musik Darmstadt 1946-1966, Bd. 3, hrsg. von Gianmario Borio und Hermann Danuser, Freiburg i. B. 1997 sowie die Programmhefte der Ferienkurse 1967-1976.

Die polnisch-deutschen Beziehungen

31

Auffallend ist, dass in all diesen Statistiken die Namen Penderecki, Serocki und Kotonski dominieren, die offenbar in besonders engem Kontakt zur BRD standen. Außerdem lässt sich bemerken, dass die Präsenz polnischer Werke im bundesdeutschen Musikleben Ende der 60er Jahre leicht nachlässt. Dies deckt sich wiederum mit Beobachtungen, die im Bereich der Literatur gemacht wurden und bei denen das abnehmende Interesse auch mit aktuellen politischen Ereignissen erklärt wird: „Wie für das Zustandekommen der ,polnischen Welle', so war auch für ihr Ende eine Verflechtung literarischer und politischer Faktoren maßgeblich. [...] Der Einmarsch der Warschauer Pakttruppen in Prag 1968 sowie, entscheidender noch, die innenpolitischen Bewegungen bei uns, die sich in einer generell veränderten Bewertung von Literatur überhaupt auswirkten, machten der .polnischen Welle' den Garaus." 55

Überdies war Anfang der 70er Jahre die Zeit der Neuentdeckungen in der Kultur des Nachbarn vorüber. Dafür begann nun mit der allmählichen Normalisierung der politischen Beziehungen die Zeit eines intensiven kulturellen Austausche auf offizieller Ebene.

55

Rolf Fieguth, „Polnische Literatur in Deutschland zwischen 1956 und 1968", in: Ke^eptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik. Konstanter Diskussionsbeiträge %ur Praxis der Uteraturgeschichtsschreibung, hrsg. von Heinz-Dieter Weber, Stuttgart 1978, S. 118 f.

II. Textanalysen: Polnische Eigen- versus deutsche Fremdsicht

1. Zum methodischen Vorgehen Der folgende Teil widmet sich dem Bild von der polnischen Neuen Musik, wie es in der polnischen und westdeutschen Musikliteratur repräsentiert wird. Dabei soll nach möglichen Unterschieden der beiden Sichtweisen gesucht werden, die die These unterstützen würden, dass der Begriff „polnische Schule" Ausdruck eines bestimmten Bildes von der polnischen Neuen Musik ist. Die methodische Vorgehensweise der Textanalysen orientiert sich an der Inhaltsanalyse, wie sie von Werner Früh56 und Patrick Rössler57 beschrieben wird und etwa in den Politik- und Geschichtswissenschaften Anwendung findet. Dieses Verfahren ermöglicht die Auswertung großer Textmengen, indem eine Reihe von bedeutsamen Kriterien definiert wird, auf die das Material hin untersucht wird. Das Ziel der Inhaltsanalyse besteht nicht darin, Aussagen über einzelne Texte, sondern über die Eigenschaften von Textmengen zu treffen. Indem der Einzeltext auf die an ihm relevanten Merkmale reduziert wird, lassen sich innerhalb eines Textkorpus wesentliche Tendenzen herausdestillieren, größere strukturelle Zusammenhänge erkennen und Vergleiche auf eine systematische Grundlage stellen. In der vorliegenden Untersuchung bildeten Texte polnischer und westdeutscher Autoren58 zur polnischen Neuen Musik der Jahre 1956-1976, die im Zeitraum 19562006 in Polen oder in der BRD erschienen sind, das Textmaterial. Im Einzelnen handelte es sich dabei um Artikel aus Musikzeitschriften, Festivalprogrammen und Aufsatzsammlungen, um Ausschnitte aus der musikgeschichtlichen Überblicksliteratur sowie um Lexikonartikel zur polnischen Neuen Musik.59 Bei einer umfangreichen Literaturrecherche in Polen und Deutschland wurden 329 Texte zusammengetragen und diese zunächst oberflächlich auf Aussagen zur polnischen Neuen Musik der Jahre 1956-1976 hin gesichtet. Dabei wurden solche Texte aussortiert, die keine der gesuchten Informationen enthielten, weil beispielsweise in manchen Rezensionen des „Warschauer Herbstes" nur über organisatori56 57 58

59

Vgl. Werner Früh, Inhaltsanalyse: Theorie und Praxis, 4. Überarb. Aufl., Konstanz 1998. Vgl. Patrick Rössler, Inhaltsanalyse, Konstanz 2005. Eine Ausnahme bildet der Amerikaner Everett Helm. Der lange in der BRD lebende Musikschriftsteller ging mit in die Untersuchung ein, da er mit seinen zahlreichen Artikeln, etwa in der NZ/M, eine wichtige Rolle für die westdeutsche Rezeption spielte. Nicht berücksichtigt wurden Artikel in Tageszeitungen und unveröffentlichte Archivmaterialien. Auch wenn deren Einfluss auf die Wahrnehmung der polnischen Neuen Musik möglicherweise nicht zu unterschätzen ist, war eine Sichtung im Rahmen dieser Arbeit, die bei solch einer umfassenden Frage nie mehr als ein erster Ansatz sein kann, leider nicht zu leisten.

Zum methodischen Vorgehen

33

sehe Probleme oder ausländische Programme berichtetet wurde, oder die mehrfach publiziert worden sind. In die eigentliche Textanalyse wurden schließlich 134 Texte aufgenommen.60 Davon stammen 91 Texte von insgesamt 38 polnischen Autoren und 43 Texte von 27 deutschen Autoren. Der höhere Anteil von Texten polnischen Ursprungs resultiert daraus, dass in Polen selbstverständlich mehr über die polnische Musik geschrieben wurde als in der BRD. Unter den Autoren gibt es einige, die gewissermaßen als Hauptberichterstatter bezeichnet werden können. In Polen ist dies eine Gruppe von sechs Kritikern, die über Jahrzehnte hinweg die polnische Neue Musik kommentierten. Hierbei handelt es sich um Tadeusz A. Zielmski (13 Texte) und Stefan Kisielewski (7 Texte) sowie Tadeusz Kaczynski, Zygmunt Mycielski, Bohdan Pilarski und Bohdan Pociej (jeweils 6 Texte). Auf deutscher Seite verfasste die mit Abstand meisten Abhandlungen Ulrich Dibelius (11 Texte). Die Texte der polnischen Autoren unterteilen sich nochmals in 70 Texte, die auf Polnisch publiziert wurden, sowie 21, die auf Deutsch erschienen. Dies spielt insofern eine Rolle, als die polnischen Autoren anders schreiben, wenn sie sich an ein deutsches Publikum wenden. So fallt beispielsweise auf, dass sie darin weniger Kritik üben oder gezielt über in Deutschland unbekannte Komponisten berichten. Außerdem kann man hierbei feststellen, dass von den sechs Wortführern in der polnischen Debatte um die Neue Musik vier61 nahezu nichts auf Deutsch publiziert haben, so dass man gerade von ihnen in der BRD nichts erfuhr. Mit der Zeit wurden diese Unterschiede zwischen den polnisch- und deutschsprachigen Texten polnischer Autoren allerdings zusehends geringer, und unter den späteren Texten sind schließlich vier, die sowohl auf Polnisch als auch auf Deutsch veröffentlicht wurden.62 Unter den 43 Texten deutscher Provenienz findet sich lediglich ein polnischsprachiger Text, da deutsche Autoren generell selten in Polen über polnische Musik publizierten. Wenn dies vorkam, handelt es sich in der Regel um Texte, die zuvor bereits in Deutschland erschienen waren. Der größte Teil der analysierten Texte stammt aus dem Zeitraum 1956-1976, da über ein gegenwärtiges Phänomen verständlicherweise häufiger berichtet wird als über ein bereits vergangenes. Die zeitliche Spanne der zu untersuchenden Texte wurde jedoch bis zum Zeitpunkt der Recherche im Jahr 2006 ausgedehnt, um auch neuere Auseinandersetzungen mit dem Thema einzubeziehen. Während bis 1976 allerdings sämtliche Artikel über die aktuelle polnische Neue Musik einschließlich aller Rezensionen von Interesse waren, wurden danach nur Texte berücksichtigt, die explizit die Musik der Jahre 1956-1976 behandeln. Deshalb stehen 113 Texten aus den Jahren bis 1976 lediglich 22 Texte aus der Zeit nach 1976 gegenüber. 60 61 62

Siehe Liste der analysierten Texte im Anhang. Kisielewski, Mycielski, Pilarski, Pociej. Erhardt 78, Michalski 88, Chlopecki 00, Rogala 00.

34

Textanalysen

Entsprechend dem methodischen Vorgehen der Inhaltsanalyse wurden aus der Haupthypothese, dass polnische Eigen- und deutsche Fremdsicht auf die polnische Neue Musik differieren, Unterhypothesen abgeleitet. Sie beinhalten Annahmen darüber, wie sich die Unterschiede der Sichtweisen in den Texten manifestieren könnten, und führten zu folgendem Fragenkatalog: 1. Welche Termini werden im Zusammenhang mit der polnischen Neuen Musik verwendet? Was wird damit im Einzelnen bezeichnet? 2. Welche zeitlichen Einteilungen der polnischen Neuen Musik werden vorgenommen? Wann wird ihr Beginn gesehen? Welche weiteren Zäsuren werden beschrieben? 3. Welche Komponisten werden als Protagonisten der polnischen Neuen Musik genannt? 4. Werden die polnischen Komponisten als eine homogene Gruppe wahrgenommen oder werden eher die individuellen Unterschiede betont? 5. Welche weiteren Differenzierungen werden innerhalb der polnischen Neuen Musik vorgenommen, etwa nach Generationen, Regionen oder stilistischen Strömungen? 6. Wie wird die polnische Neue Musik allgemein bewertet? 7. Welche anderen stilistischen Strömungen, Komponisten oder nationalen Traditionen werden genannt, um die polnische Neue Musik zu beschreiben? Welche Verbindungen werden aufgezeigt? Womit wird die polnische Neue Musik verglichen und wogegen abgegrenzt? 8. Welche besonderen Merkmale werden für die polnischen Komponisten und für ihre Werke angeführt? Womit wird erklärt, dass die polnischen Komponisten als eine Gruppe wahrgenommen werden? Worin werden Unterschiede zur Neuen Musik anderer Staaten gesehen? Dieser Fragenkatalog Regt gleichzeitig den folgenden Unterkapiteln zu Grunde. Bei allen Punkten interessierte neben dem Vergleich zwischen polnischen und deutschen Autoren auch, ob sich möglicherweise ein gewisser zeitlicher Wandel der Sichtweisen vollzog. Auf der Grundlage einer Probecodierung von 15 Texten wurde im nächsten Schritt aus den obenstehenden Fragen ein Kategoriensystem63 entwickelt und schließlich das gesamte Textmaterial mit Hilfe der Inhaltsanalyse-Software MaxQDA auf Aussagen zu den einzelnen Kategorien hin ausgewertet. Wenn in der folgenden Darstellung der Ergebnisse quantitative Verhältnisse vermittelt werden sollen, ist — bis auf wenige Ausnahmen, in denen die Zählung der Autoren aussagekräftiger erschien — die Anzahl der Texte angegeben, in denen ein be-

63

Siehe Kategoriensystem im Anhang.

Zum methodischen Vorgehen

35

stimmter Aspekt zu finden ist. Wenn dabei mehrere Texte von einem Autor stammen, wird dies der Übersichtlichkeit halber nicht im Fließtext aufgeschlüsselt, sondern ist der Auflistung der Texte in der entsprechenden Fußnote zu entnehmen. Nur bei auffalligen Konzentrationen auf einen oder wenige Autoren wird dies gesondert erwähnt. Im übrigen wird jedoch davon ausgegangen, dass Autoren, die mit vielen Texten in Erscheinung traten, das Bild von der polnischen Musik entsprechend stärker geprägt haben als Autoren, die sich nur vereinzelt äußerten. Die Texte sind bei Mehrfachnennung mit Hilfe eines Kurztitels nachgewiesen, der sich aus dem Namen des Autors und dem Erscheinungsjahr zusammensetzt. Die vollständigen Angaben sind aus dem Literaturverzeichnis im Anhang ersichtlich.

2. Textanalysen 2.1.

Terminologie

In einem ersten Schritt soll ermittelt werden, welche Begriffe polnische und deutsche Autoren zur Beschreibung der polnischen Neuen Musik heranziehen und welche Phänomene sie damit bezeichnen. Neben „polnische Schule" stößt man innerhalb des Textmaterials auf drei weitere Schlagwörter: auf die Bezeichnung „polnische Avantgarde" sowie auf die Begriffe „Sonorismus" und „Klangfarbenkomposition". Der Terminus „polnische Schule" tritt in etwa einem Viertel des Textmaterials auf (33 von 134 Texten). Relativ gesehen wird er dabei etwas häufiger von deutschen (13 von 43 Texten)64 als von polnischen Autoren (20 von 91 Texten)65 genannt, und von den polnischen Autoren sowohl in polnisch- als auch in deutschsprachigen Texten. Es fällt jedoch auf, dass unter den Texten nur wenige von den als Hauptberichterstatter bezeichneten Autoren zu finden sind. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Ausdruck „polnische Schule" und eine differenzierte Beschreibung der polnischen Neuen Musik nicht kompatibel sind. Betrachtet man die Entstehungsdaten der Texte, lässt sich feststellen, dass der Begriff in den Jahren 1956-1976 noch eher sporadisch anzutreffen ist (19 von 113 Texten), wohingegen er nach 1976 in einem Großteil der Texte zur polnischen Neuen Musik erscheint (14 von 21 Texten). Es scheint daher, als ob die Bezeichnung „polnische Schule" vor allem im historischen Rückblick Bedeutung erlangte.

64

65

Karsch 57, Helm 61/65, Polaczek 72b, Gojowy 75a/76a/76b/91, Dibelius 76/88, Homma 90, Morawska 92, Häusler 96. Pilarski 58, Kisielewski 60/76, Patkowski 62, Kaczydski 66c, Pilarski 68, Tarnawska 71, Lissa 73/75, Malinowski 74, Michalski 88, Czekanowska 90, Helman 95, St^szewski 97, SzafraAska 97, Berger 98, Chtopecki 00, Granat 03, G^siorowska 04.

36

Textanalysen

Allerdings muss des Weiteren berücksichtigt werden, in welchem Zusammenhang der Terminus jeweils steht. So lassen sich grob vier Arten von Aussagen unterscheiden: Im ersten Fall wird die „polnische Schule" als eine selbstverständliche Tatsache dargestellt, im zweiten Fall wird lediglich konstatiert, dass es den Begriff gibt, im dritten Fall wird er hinterfragt und im vierten kritisiert oder abgelehnt: „Doch nicht diese Umstände allein dürften es bewirkt haben, daß man in der Musik von einer ,polnischen Schule' spricht und, sich etwas darunter vorstellt. In der Tat handelt es sich um eine (fast) geschlossene, beinahe etabliert zu nennende Stilwelt, die sich nach einigen Hörerfahrungen unschwer identifizieren läßt." 66 „Man spricht heute allgemein von einer ,polnischen Schule' in der zeitgenössischen Musik."67 „Existiert tatsächlich etwas in der zeitgenössischen Musik, das sich polnische Schule nennt, und besitzt diese Erscheinung tatsächlich irgendwelche individuellen Merkmale, die man zu fassen versuchen könnte?" 68 „Diejenigen, die die zeitgenössische polnische Musik analysieren, frappiert seit langem das Problem der endgültigen Festlegung der spezifischen Merkmale der sog. polnischen Kompositionsschule. Diese Bezeichnung, die Ende der fünfziger Jahre von der ausländischen Kritik geprägt worden war, wurde niemals klar definiert und bleibt für das polnische Milieu weiterhin schleierhaft." 69

Untersucht man, wer in welcher Art den Begriff verwendet, lässt sich beobachten, dass vor allem polnische Autoren den Begriff hinterfragen und kritisieren (8 von 10 Texten in diesen beiden Rubriken stammen von polnischen Autoren), wohingegen sich von den deutschen nur Everett Helm und Ulrich Dibelius zurückhaltend äußern. Werden zusätzlich noch die Zeiträume unterschieden, zeigt sich, dass in den Jahren 1956-1976 die deutschen Autoren die „polnische Schule" meist als eine Tatsache darstellen (6 von 8 Texten)70, wohingegen von den polnischen dies nur wenige tun (4 von 11 Texten)71. Oft erwähnen die polnischen Autoren nur, dass es den Begriff gibt

66 67

68

69

70 71

Detlef Gojowy, „Avantgarde in Polen", in: Musik und Bildung 66 (1975), Nr. 12, S. 618. „Möwi si? dzis powszechnie ο ,polskiej szkole' w muzyce wspölczesnej." Zofia Lissa, „Glöwne nurty stylistyczne w muzyce polskiej 1944-1974", in: Musgka 20 (1975), Nr. 3, S. 15. „[...] czy rzeczywiscie istnieje cos, co si? nazywa szkol^ polsk^ w muzyce wspölczesnej, czy rzeczywiscie zjawisko to posiada jakies cechy indywidualne, ktöre mozna by spröbowac uchwycic?" Ludwik Erhardt u. a., „Tzydziestolecie w muzyce polskiej. Periodyzacja, ,szkola polska', perspektywy", in: Ruch Muyicyiy 18 (1974), Nr. 15, S. 13. Grzegorz Michalski, „Neue Musik", in: Geschichte der polnischen Musik, hrsg. von Tadeusz Ochlewski u. a, Warschau 1988, S. 177. Karsch 57, Helm 61, Polaczek 72b, Gojowy 75a/76a/76b. Kisielewski 60/76, Patkowski 62, Lissa 73.

Terminologie

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(4 Texte)72 und beginnen ab 1968, ihn in Frage zu stellen (3 Texte)73. Die erste ausführliche Auseinandersetzung mit dem Terminus findet sich 1974 in einer Diskussion zwischen Ludwik Erhardt, Tadeusz Kaczyriski, Wladyslaw Malinowski, Bohdan Pociej und Tadeusz A. Zielinski, die unter dem Titel „Tzydziestolecie w muzyce polskiej. Periodyzacja, ,szkola polska', perspektywy" [Dreißig Jahre polnische Musik. Periodisierung, .polnische Schule', Perspektiven]74 publiziert wurde. Im Zeitraum nach 1976 ändert sich das Bild dahingehend, dass einem nun in der Hälfte der polnischen Texte die Darstellung als eine selbstverständliche Tatsache begegnet (4 von 9 Texten)75. Auf der anderen Seite tritt in der polnischen Literatur neben dem Hinterfragen (1 Text)76 erstmals direkte Kritik am Terminus auf (4 Texte)77. Die deutschen Autoren behandeln die „polnische Schule" weiterhin wie eine Tatsache (2 von 5 Texten)78 oder beginnen damit, nur noch die Existenz des Begriffs festzustellen (3 Texte)79. Es lässt sich somit registrieren, dass zunächst vor allem deutsche Kritiker den Begriff anwendeten, während in Polen bereits sehr früh Zweifel daran aufkamen. Nach 1976 scheint es allerdings so, als ob einige polnische Autoren die Bezeichnung quasi rückwirkend legitimieren würden. Im neueren polnischen Musikschrifttum stehen sich deshalb einerseits Begriffsdiskussionen und andererseits eine völlig selbstverständliche, meist unkommentierte Verwendung des Terminus gegenüber. Zur Genese des Ausdrucks „polnische Schule" wird in den Texten angemerkt, dass er in den 50er oder 60er Jahren durch die ausländische bzw. speziell durch die deutsche Musikkritik eingeführt worden sei: „In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde im deutschen Sprachraum der Begriff »polnische Komponistenschule'geprägt."80 „Die Bezeichnung ,Polnische Komponistenschule' wurde Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die deutsche Musikkritik popularisiert." 81 „Das ausländische Publikum und die Kritiker dagegen sprachen in den sechziger Jahren erstmals von der .polnischen Schule'."82

72 73 74 75 76 77 78 79 80

81 82

Kaczynski 66c, Tarnawska 71, Malinowski 75, Lissa 75. Pilarski 58b/68, Erhardt 74. in: Ruch Musycsgy 18 (1974), Nr. 15, S. 11-15 Czekanowska 90, Helman 95, Berger 98, Granat 03. G^siorowska 04. Michalski 88, St?szewski 97, Szafranska 97, Chlopecki 00. Gojowy 91, Häusler 96. Dibelius 88, Homma 90, Morawska 92. Jan St^szewski, „Das .Polnische' in der Musik", in: Festschrift Christoph-Hellmut Mahling \-um 65. Geburtstag, hrsg. von Axel Beer u. a., Tutzing 1997, S. 1356. Andrzej Chlopecki, Die zeitgenössische polnische Musik, Warschau 1991, S. 1. Wiadyslaw Malinowski, „Witold Lutoslawski und die ,polnische Schule' in der modernen Musik", in: Polnisches Mosaik. Selbstdarstellungen, Mühlheim 1974, S. 155.

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Textanalysen

Innerhalb des Textmaterials tritt die Bezeichnung erstmals in einer deutschen Rezension des ersten „Warschauer Herbstes" 1956 von Albert Karsch auf, die 1957 in der Zeitschrift Musica erschien: „Die dargebotene Programmfolge beschränkte sich im wesentlichen auf Literatur der sogenannten ,polnischen Schule' bzw. auf Werke osteuropäischer Komponisten der Gegenwart. Von den bedeutendsten polnischen Komponisten der alten Generation seien Mycielski, Sikorski, Woytowicz und Szeligowski genannt. Die jüngere Generation repräsentierte ihre bedeutendsten Werke mit Serocki, Skrowaczewski, Spisak und Kilar. Sie alle studierten nicht nur in Polen selbst, sondern auch in Paris und hier vorwiegend bei Nadia Boulanger, die fast zwei Generationen polnischer Komponisten ausgebildet hat." 83 Wahrscheinlich übernahm Karsch den Ausdruck aus dem Vorwort zum Programm des Festivals, für das der „Verband der Polnischen Komponisten" verantwortlich zeichnete: „Dank des gegenwärtigen Festivals werden ausländische Musiker die Gelegenheit haben, eine Reihe hervorragender Werke der zeitgenössischen polnischen Musik kennen zu lernen, dagegen gewinnen die Komponisten der ,polnischen Schule', die sich mit schönen Erfolgen in der internationalen Arena rühmen können, die wertvolle Möglichkeit der Konfrontation ihrer Errungenschaften mit denjenigen der Komponisten anderer Länder." 84 Adrian Thomas vermutet, dass dies eine Reverenz an einen Artikel von Zygmunt Mycielski aus dem Jahr 1949 ist.85 Als damaliger Präsident des Komponistenverbandes gab dieser im Zusammenhang mit der Konferenz in Lagöw Lubuski eine Erklärung zum Sozialistischen Realismus ab, in der die Komponisten u. a. aufgefordert wurden, mit ihren Werken eine „polnische musikalische Schule" zu erschaffen. Mit dem Zitieren dieses Ausdrucks im Programmbuch des „Warschauer Herbstes" 1956 sollte möglicherweise den politischen Machthabern suggeriert werden, dass das Festival der Entwicklung einer sozialistischen Kunst entsprechend der offiziellen Doktrin dient. Der Begriff „polnische Schule" existierte somit schon vor 1956. Dies lässt sich auch daran bemerken, dass er sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Literatur zuweilen mit dem Zusatz „neu" zu finden ist, beispielsweise in dem Nachtrag, den Bohdan Pilarski 1968 seinem Artikel „Muzyka Polska wczoraj i dzis" [Polnische Musik gestern und heute] hinzufügte:

w Albert Karsch, „Warschauer Herbst 1956", in: Musica 11 (1957), Nr. 1, S. 21. 84 „Dzi^ki obecnemu Festiwalowi muzycy zagraniczni mieli okazj? poznania szeregu wybitnych dziel wspolczesnej muzyki polskiej, zas kompozytorzy ,szko!y polskiej', ktöra pochlubic si? moze pi?knymi sukcesami na arenie mi^dzynarodowej, zyskaj% cenn^ moznosc konfrontacji swych osi:|gni?c ζ osi^gni^ciami kompozytorow innych krajöw." in: Programmbuch „WarschauerHerbst" 1956, hrsg. vom Verband Polnischer Komponisten, S. 27. 85 Vgl. Adrian Thomas, Polish Music since S^manomki, Cambridge 2005, S. 159.

Terminologie

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„Wo sind die Werke? Welche von ihnen sind repräsentativ? Formierte sich eine neue polnische Schule? Welches wären dann ihre Merkmale? Auch wenn ich keineswegs wage, diese Fragen zu beantworten - vielleicht ist es noch verfrüht muss man sagen, dass die Situation der Jungen nicht einfach ist."86 Fasst man den Ausdruck „neue polnische Schule" als Abgrenzung zu einer „alten polnischen Schule" auf, muss man auf der Suche nach dem schulähnlichen Phänomen, das hierbei den Anknüpfungspunkt darstellt, anscheinend noch weiter in der polnischen Musikgeschichte zurückgehen. Einen Hinweis darauf gibt Pilarski im selben Text, im ersten Teil des Artikels aus dem Jahr 1958. Gleichzeitig ist dies die früheste Erwähnung des Begriffs in der vorliegenden polnischen Literatur: „Kehren wir zur erwähnten ,Gruppe der Sechs' zurück, deren Werke den Grundstock der damaligen polnischen Schule bilden."87 Mit der polnischen Variante der „Groupe des Six" bezeichnet Pilarski die Komponisten Malawski, Palester, Szalowski, Lutoslawski, Panufnik und Spisak, welche die Vorgängergeneration zu derjenigen darstellen, die heute üblicherweise als „polnische Schule" bezeichnet wird: „Um das Jahr 1930 erschienen in der polnischen Musik einige junge Talente, und ihre modernen und kompromisslosen Werke bestimmten für lange Jahre die Richtung der Entwicklung, praktisch bis zum heutigen Tag. Zu ihnen gehören: Malawski, Palester, Szalowski, Lutoslawski, Panufnik und Spisak. Sie bildeten ihre eigene Art der .Gruppe der Sechs' — ästhetische Doktrinen oder ideelle Manifeste waren ihnen jedoch fremd. Ihr Programm war eine breit aufgefasste, individuell verstandene Modernität. Sie waren sich in einem einig: Es ging ihnen um die Befreiung der polnischen Musik von deutscher Einflussnahme."88 Laut Pilarski stellt die „polnische Schule" somit ein Phänomen Anfang der 1930er Jahre dar. Dasselbe Verständnis begegnet einem beim zweiten Auftreten des Begriffs in der polnischen Literatur, in dem Artikel „Polska tworczosc muzyczna wczoraj i „Gdzie s^ dziela? Ktöre ζ nich reprezentatywne? Czy uformowaia si? nowa szkola polska? Jakiez tedy bylyby jej cechy? Nie kusz^c sie bynajmniej ο odpowiedz na te pytania - moze jeszcze przedwczesne - trzeba powiedziec, ze sytuacja mlodych nie jest latwa." Bohdan Pilarski, „Muzyka Polska wczoraj i dzis", in: Feuilles Musicales 1958, Nr. 2-3; Nachdruck in: S^kice ο muqyce, Warschau 1969, S. 19. „Wracam do kompozytoröw wspomnianej ,grupy szesciu', ktörych dziela tworz^ trzon polskiej szkoly wspolczesnej." Ebd., S. 13. „Okoio roku 1930 pojawilo sie w muzyce polskiej kilka mlodych talentöw, a ich nowoczesne i bezkompromisowe dziela wyznaczyly kierunek rozwoju na dlugie lata, praktycznie rzecz bior^c az do dnia dzisiejszego. Nalezq. do nich: Malawski, Palester, Szalowski, Lutoslawski, Panufnik i Spisak. Stanowili oni swego rodzaju ,grup? szesciu' - obce im jednak byly doktryny estetyczne czy ideowe manifesty. Ich programem byla szeroko poj?ta, indywidualnie pojmowana nowoczesnosc. W jednym byli zgodni: chodziio im ο wyzwolenie muzyki polskiej spod wplywöw niemieckich." Ebd., S. 12.

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Textanalysen

dzis" [Das polnische Musikschaffen gestern und heute] von Stefan Kisielewski aus dem Jahr 1960: „Das Zentrum, an dem nach dem Ersten Weltkrieg eine neue musikalische Sprache geschmiedet wurde, war natürlich Paris: Paris — Ravel, Strawinsky, Prokofiew, Roussel und viele andere. Daher auch gab Szymanowski die mitderweile berühmte Parole aus: zu einer neuen musikalischen Sprache - nach Paris. So wuchs auf dem Nährboden der Pariser Studien die damalige neue polnische Komponistenschule. Hierzu gehören: Jan Maklakiewicz, Kazimierz Sikorski (der großartige Pädagoge, Lehrer der folgenden Generationen polnischer Komponisten), Stanislaw Wiechowicz, Michal Kondracki, Piotr Perkowski, Tadeusz Szeligowski, Boleslaw Woytowicz, Tadeusz Kassern, und dann die jüngeren: Bacewicz, Palester, Szatowski, Panufnik, Spisak."89

Auffallend ist allerdings, dass Kisielewski schon in diesem Zusammenhang von einer „neuen polnischen Schule" schreibt. Vorstellbar wäre deshalb, dass er als alte „polnische Schule" die Gruppe „Junges Polen" zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bestehend aus Grzegorz Fitelberg, Ludomir Rozycki, Apolinary Szeluto, Karol Szymanowski und Mieczyslaw Karlowicz, ansah. In der ersten deutschen Erwähnung des Begriffs bei Karsch handelt es sich insofern um eine Mischform, als er mit „polnischer Schule" sowohl Komponisten der älteren Generation als auch — mit Serocki und Kilar — der jüngeren meint. Allerdings waren im Programm des ersten „Warschauer Herbstes", auf den sich Karsch bezieht, ausschließlich Werke zu hören, die in ihrer Stilistik noch eindeutig im Neoklassizismus verhaftet waren. Der Begriff wird demnach hier noch nicht als Beschreibung eines avantgardistischen polnischen Stils gebraucht, der sich erst auf dem zweiten „Warschauer Herbst" 1958 etwa mit Lutoslawskis Mu^yka 3alobna oder Bairds C^tety Ese/e zeigte. Auch viele der Komponisten, die nach heutigem Verständnis die „polnische Schule" prägten, traten nicht sofort auf dem ersten „Warschauer Herbst" 1956 in Erscheinung, sondern debütierten erst auf den nächsten Festivals, beispielsweise Gorecki im Jahr 1958 und Penderecki 1959. In seiner neueren Bedeutung findet sich der Terminus erstmals in einer deutschen Rezension des „Warschauer Herbstes" 1961 von Everett Helm: „In der Musik steht die neue polnische Schule im ersten Rang der europäischen Avantgarde mit so jungen Begabungen wie Henryk Gorecki, und Krzysztof Penderecki, beide

„Centralnym osrodkiem, gdzie po pierwszej wojnie swiatowej wykuwat si? nowy j^zyk muzyczny, byl oczywiscie Paryz: Paryz — Ravela, Strawinskiego, Prokofiewa, Roussela i wielu innych. Totez Szymanowski rzucil owe slynne wöwczas haslo: po now^ wiedz? muzyczny - do Paryza. W ten sposob, na pozywce studiöw paryskich wyrosla öwczesna nowa polska szkola kompozytorska. Nalezeli tu: Jan Maklakiewicz, Kazimierz Sikorski (swietny pedagog, wychowawca nast?pnych pokolen kompozytoröw polskich), Stanislaw Wiechowicz, Michal Kondracki, Piotr Perkowski, Tadeusz Szeligowski, Boleslaw Woytowicz, Tadeusz Kassem, potem mlodzi: Bacewiczowna, Palester, Szatowski, Panufnik, Spisak." Stefan Kisielewski, „Polska tworczosc muzyczna wczoraj i dzis", in: Ruch Mu^c^iy A (1960), Nr. 18, S. 1.

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1933 geboren. Aber auch die älteren Komponisten wie Kazimierz Serocki und Witold Lutoslawski gehen mit den neuen und neuesten Tendenzen der zeitgenössischen Musik."90

Ein Jahr später stößt man auch in der polnischen Literatur in einer Rezension des „Warschauer Herbstes" 1962 von Jozef Patkowski darauf: „Dieser klangliche Hedonismus Goreckis, der typisch für die entstehende polnische Schule ist, verleiht den Spiewy instrumentalne einen besonderen Rang in der hier besprochenen Auswahl."91

In beiden Texten wird der Begriff nur dieses eine Mal verwendet und mit einer Selbstverständlichkeit gehandhabt, als sei er bereits etabliert. Allerdings fällt auf, dass laut Patkowski das Phänomen „polnische Schule" im Jahr 1962 noch im Entstehen begriffen war. Dies deckt sich mit der Aussage Kaczynskis, in der es noch 1966 so klingt, als sei der Terminus „polnische Schule" relativ neu: „[...] aber es geht nicht um einen einzelnen Komponisten, sondern um eine Gruppe oder sogar ,Schule' — man hat schon angefangen von einer ,polnischen Schule' zu sprechen."92

Zu Beginn des untersuchten Zeitraums hatte der Ausdruck „polnische Schule" somit einen anderen Bedeutungsinhalt und benannte noch bis 1960 die Vorgängergeneration. Denkbar wäre, dass die westdeutsche Kritik den Terminus von der polnischen Literatur übernahm, aber damit nun speziell die Generation meinte, die nach 1956 auf den „Warschauer Herbsten" mit avantgardistischen Werken an die Öffentlichkeit trat. Anhand des Textmaterials zeigt sich jedoch, dass der Begriff fast zeitgleich auch von der polnischen Musikkritik gebraucht wurde. Bei der Datierung des Phänomens „polnische Schule" sind sich alle Autoren, die den Begriff erwähnen, relativ einig. Meist wird der Beginn mit dem zweiten „Warschauer Herbst" 1958 bzw. kurz danach gesehen. Allgemein wird des Öfteren auch von der „polnischen Schule der 50er und 60er Jahre" gesprochen: „Wenn es um die Zeit geht, scheint es mir, dass dieser Moment das Jahr '58 ist. Damals wurde der erste ,Warschauer Herbst', der '56 stattfand, so gerade tatsächlich .konsumiert'. Das Jahr '58 ist der Moment der Veränderungen der Musikästhetik. Das sind die Debüts

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Everett Helm, „Warschauer Herbst 1961 - Die neue polnische Schule", in: NZßt 122 (1961), S. 467. „Ten hedonizm dzwi^kowy Goreckiego, wlasciwy rodz^cej sif szkole polskiej, nadaje Spiewom instrumentalnym szczegöln^ rang? w omawianym tu wyborze." Jozef Patkowski, „Z prawykonan festiwalu ,Warszawska Jesien 1962"', in: Hory^onte 26 (1962), S. 3. „[...] ale chodzi przeciez nie ο jednego kompozytora, lecz ο grup? czy nawet ,szkole' - zacz?lo si? juz möwic ο ,szkole polskiej'." Tadeusz Kaczynski, „Jesien 66. Pierwsze rozpoznanie", in: Rucb Mu^c^ny 10 (1966), Nr. 22, S. 12.

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Textanalysen der Generation '33, zu der auch Kilar C32), aber nicht Bujarski gehört, obwohl er ebenfalls Jahrgang '33 ist."93 „In der Atmosphäre bewußter und uneingeschränkter Weltoffenheit entwickelte sich seit den späten fünfziger Jahren das, was als ,Neue polnische Schule' inzwischen zum musikgeschichtlichen Begriff wurde."94 „Es wäre natürlich naiv, alle Wesenszüge der polnischen Kompositionsschule in einigen Werken Tadeusz Bairds suchen zu wollen. In den Jahren 1958-1960 hatte eine recht zahlreiche Gruppe polnischer Komponisten Erfolge zu verzeichnen, und sie alle gestalteten das allgemeine Bild der polnischen Musik mit."95 „Die Polnische Komponistenschule der 50er und 60er Jahre als ein Hologramm von der Explosion der Kräfte der schöpferischen Gemeinschaft — ist zweifellos ein historischer Fakt."96 „Ist die Rolle, die man heute der polnischen Komponistenschule der 50er und 60er Jahre zuschreibt, mit der Rolle vergleichbar, die die ,Generation Stalowa Wola' in der polnischen Musik einnahm?"97

Ein Endpunkt der „polnischen Schule" wird im Zusammenhang mit dem Terminus nicht genannt. Allgemein lässt sich jedoch beobachten, dass nur etwa bis 1976 von der „polnischen Schule" als einem gegenwärtigen Phänomen berichtet wird: „Die Kompositionen, die auf dem letzten Festival durch die .polnische Schule' demonstriert wurden, wecken zwiespältige Gefühle."98 „Von den jüngeren Vertretern der .polnischen Schule' sind Twardowski, Meyer, Stachowski hervorzuheben."99 „Jezeli chodzi ο czas, to wydaje mi si?, ze tym momentem jest rok '58. Wtedy to dopiero tak naprawd? zostala ,skonsumowana' pierwsza .Warszawska Jesieii', ktöra odbyla sie w '56. '58 rok to moment zmian estetyki muzycznej. To debiuty pokolenia '33, w tym takze Kilara ('32), ale nie Bujarskiego, choc on takze jest ζ '33." Szafranska, Iwona, u. a., „Czy istnieje polska szkola kompozytorska? Fragmenty rozmowy", in: Dysonanse, Sonderausgabe zum 40. Warschauer Herbst 1997, S. 42. 94 Dedef Gojowy, „Musik", in: Länderbencht Polen, hrsg. von Wilhelm Wöhlke, Bonn 1991, S. 425. 55 Michalski 88, S. 177. 96 „Polska Szkola Kompozytorska (PSK) lat 50-tych i 60-tych jako hologram eksplozji sil twörczych spoieczedstwa - jest niew^tpliwie f a k t e m historycznym." Roman Berger, „Polska Szkola Kompozytorska: Fakt? Mit? Wizja? Projekt?", in: Dysonanse 1998, Nr. 2, S. 31. 97 „Czy rola, jak^ przypisuje si^ dzis Polskiej Szkole Kompozytorskiej lat pi?cdziesi%tych i szescdziesi^tych poröwnywalna jest ζ rol^ jak^ w muzyce polskiej spelnito ,Pokolenie Stalowej Woli'?" Malgorzata G^siorowska, „Szkola polska - koniec historii?" in: Duchomsc Europj Srodkorvej i Wschodniej w muzyce konca XX wieku, hrsg. von Krzysztof Droba u. a., Krakau 2004, S. 134. 98 „Kompozycje zademonstrowane przez ,szkol? polsk^' na ostatnim festiwalu budz^ uczucia podzielone." Bohdan Pilarski, „Pami^tasz, byla jesien", in: Tmrcspsc 1968, Nr. 2; Nachdruck in: Ssfeice ο muyce, Warschau 1969, S. 73. 99 Stefan Kisielewski, „Der 20. .Warschauer Herbst'", in: Polish Music / Polnische Musik 11 (1976), Nr. 4, S. 13. 93

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Es scheint insofern Übereinstimmung darüber zu herrschen, dass ab Mitte der 70er Jahre die Ära der „polnischen Schule" u. a. durch das Erscheinen der „Generation Stalowa Wola" abgelöst wird und von nun an ein historisches Phänomen darstellt. Wesentlich weiter gehen dagegen die Meinungen bei der Frage auseinander, wie sich die „polnische Schule" personell eingrenzen lässt. Das eine Extrem bilden Autoren wie Dedef Gojowy, die den Ausdruck quasi als Synonym für die polnische Musik der 50er bis 70er Jahre verwenden und dementsprechend sämtliche polnischen Komponisten unabhängig von Alter oder Stil dazuzählen: „Neu aus der .polnischen Schule' waren Stücke von Augustyn Bloch, Edward Boguslawski, Andrzej Dobrowolski, Henryk Mikolaj Gorecki, Bronislaw Przybylski, Boguslaw Schäffer, Tomasz Sikorski, Micha! Spisak, Marek Stachowski und Adam WalacMski."100

Das andere Extrem sind sehr enge Definitionen wie beispielsweise diejenige von Marietta Morawska-Büngeler, laut der „polnische Schule" ausschließlich die Komponisten der Generation um Lutoslawski, Serocki und Baird meint und somit etwa Penderecki und Gorecki außen vor lässt: „Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß trotz einiger Gemeinsamkeiten, die der älteren Generation den Namen der Polnischen Schule und der mitderen den der Polnischen Avantgarde eintrugen, der schöpferische Weg jedes einzelnen Komponisten anders ist."101

Zwischen diesen beiden Polen finden sich unterschiedlichste Auslegungen der Gruppenausammensetzung, die sich zum Teil an stilistischen Kriterien orientieren, aber häufig recht willkürlich oder durch die jeweils aktuellen Programme des „Warschauer Herbstes" beeinflusst scheinen. So kommt es, dass fast jeder polnische Komponistenname einmal in Verbindung mit der Bezeichnung „polnische Schule" auftritt. Am häufigsten werden allerdings Lutoslawski (9 Texte), Gorecki (7 Texte), Serocki (6 Texte), Penderecki (5 Texte), Baird (5 Texte) und Kilar (4 Texte) als Mitglieder der „polnischen Schule" genannt. Dies deckt sich mit zwei Aussagen, in denen speziell Lutoslawski bzw. Serocki als Hauptvertreter der „polnischen Schule" angeführt werden: „Züge des Sonorismus sind auch bei Witold Lutoslawski (1913-1994), dem Doyen der ,polnischen Schule' nachzuweisen."102

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Detlef Gojowy, „Alte und neue Welt im Gegenspiel", in: Musica 30 (1976), Nr. 1, S. 44. Marietta Morawska-Büngeler, „Schaubühne der Avantgarde? Ein Rückblick auf das polnische Festival Warschauer Herbst", in: Internationale Musik-Festivals Heidelberg 1991 und 1992, hrsg. vom Kulturinstitut Komponistinnen heute e.V., Heidelberg 1992, S. 227. Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik - Tendenzen - Werkbesprechungen, Kassel 1996, S. 207.

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Textanalysen „Kazimierz Serocki, der souveräne Beherrscher der Instrumentalpalette, kann in dieser Hinsicht als Synonym für die polnische Schule stehen, ist jedenfalls einer ihrer charakteristischen Vertreter."103

In diesen beiden Zitaten klingt außerdem das am häufigsten genannte stilistische Merkmal der „polnischen Schule" an, nämlich die Vorrangstellung des musikalischen Parameters Klangfarbe. Was im Deutschen mit „Klangfarbenkomposition" umschrieben wird, findet sein Äquivalent im polnischen Begriff des „Sonorismus". Vereinzelt werden „polnische Schule" und „Sonorismus" fast wie Synonyme verwendet: „Schnell schlugen diese Endehnungen und Einflüsse jedoch in eine eigene, originelle Suche um, die typisch für die durch Witold Lutoslawski, Krzysztof Penderecki, Henryk M. Görecki, Tadeusz Baird und Kazimierz Serocki repräsentierte polnische Schule war. Die sonoristische Suche in der Instrumentalmusik wurde zum Spezifikum der polnischen Schule."104 „Damals lag es nahe, bei den neuen Werken die stilistischen Gemeinsamkeiten zu betonen und die Vorlieben polnischer Komponisten für eine unmittelbare emotionale Wirkung von Klangblöcken verschiedener Klangfarben (,Sonorismus') als Merkmal einer so verstandenen .polnischen Schule' zu verstehen."105 „Der Terminus [polnische Schule] ist entstanden, um einen spezifischen Stil der polnischen Musik zu benennen, in welcher die Klangfarbe eine Grundlage der Gestaltung des Musikwerks bildet."106 Als zweite Besonderheit wird immer wieder auf die starke Expressivität der Werke hingewiesen: „Wenn unsere Avantgarde in der Tat eine ,polnische Schule' schuf, so verdankt sie dies nicht nur den Errungenschaften ihrer musikalischen Werkstatt oder auch dem im Grunde irrationalen Faktor, als den man die außerordentliche Anhäufung großer Talente wohl ansehen muß (Lutoslawski, Penderecki, Baird, Gorecki, Bacewicz, Szabelski, Serocki und viele andere). Vielmehr handelt es sich hier um das Ergebnis einer weiteren, tief in der

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Gojowy 75, S. 618. „Szybko jednak te zapozyczenia i wplywy przerodzily si? we wlasne, oryginalne poszukiwania, typowe dla polskiej szkoly kompozytorskiej reprezentowanej przez Witolda Lutoslawskiego, Krzysztofa Pendereckiego, Henryka M. Göreckiego, Tadeusza Bairda, Kazimierza Serockiego itd. Specyfik^ polskiej szkoly staiy si? poszukiwania sonorystyczne w muzyce instrumentalnej." Anna GranatJanki, Twörnpsc kompoytoröw wroctawskich w latacb 1945-2000, Wroclaw 2003, S. 63. Martina Homma, „Vertraut, aber ohne Echo. Polnische Musik in der Bundesrepublik", in: Deutschpolnische Ansichten %ur Literatur und Kultur, hrsg. vom Deutschen Polen-Institut, Darmstadt 1990, S. 241. Chlopecki 00, S. 1.

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Geschichte fundierten nationalen Tradition: um die Tendenz zur Expression in der Musik."107 „Die Besonderheit der Polnischen Komponistenschule besteht darin, dass sie .nicht die Expression vernachlässigt'." 108 „Es sind Traditionen einer Einheit von Gefühlsausdruck und raffiniertem Handwerk, die sich als stärker erwiesen als die antiromantischen Impulse der ,Neuen Sachlichkeit' und die der Musik der JSleuen polnischen Schule' eine anderswo seltene Popularität verschaffen." 109 Das dritte Merkmal der „polnischen Schule", das wiederholt beschrieben wird, ist ein undogmatischer und freier Umgang mit westlichen Kompositionstechniken:. „Die Kritik bediente sich des Terminus .polnische Schule', um die gedankliche Unabhängigkeit der polnischen Schöpfer zu unterstreichen, die - befreit aus der Diktatur der kommunistischen Macht - nicht in unkritischer Weise einer anderen Diktatur - der serialistischen ,Linksradikalen aus Darmstadt' — erlagen." 110 „Bestenfalls wurde [im Zusammenhang mit der .polnischen Schule1] etwa von musikalischer Spontaneität und Abneigung gegen ,harte' Kompositionssysteme und extreme Experimente gesprochen." 111 „Die .Polnische Schule', wenn es sie jemals mit der Schärfe dieses Begriffs gegeben haben sollte, hat sicher von früh an, weil sie sich serieller Verkrampfungen zu enthalten wußte, einen fördernden und stärkenden Einfluß im Sinne solcher Bestrebungen gehabt." 112 Vereinzelt werden als weitere Charakteristika darüber hinaus Traditionsbezug, Religiosität oder das Vermitteln einer außermusikalischen Botschaft angeführt. „Sie [die .polnische Schule*] ist gekennzeichnet durch eine vollgültige Anwendung moderner Kompositionsprinzipien — Dodekaphonie, Serialismus, sonoristische Erforschung des Klanges und eine enzyklopädische' Verwendung des orchestralen Spektrums — bei gleichzeitiger Bewahrung bestimmter spätromantisch-impressionistischer Impulse in Spu-

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Zofia Lissa, „Die Rolle der Tradition in der Musik Volkspolens (1945-1970)", in: Studien %ur Tradition. Kurt von Fischer %um 60. Geburtstag, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht und Max Lütolf, München 1973, S. 211. „[...] odr^bnosc Polskiej Szkoly Kompozytorskiej polega na tym, ze ,nie zaniedbala ekspresji'." Berger 98, S. 26. Gojowy91,S. 423. „Krytyka poslugiwala si? terminem ,szkola polska' dla podkreslenia niezaleznosci myslenia polskich twörcöw, ktörzy — uwolnieni spod dyktatu komunistycznej wladzy, nie poddali si? w sposöb bezkrytyczny innemu dyktatowi — serialistycznych Jewaköw ζ Darmstadtu'." G^siorowska 04, S. 131. StQszewski 97, S. 1356. Ulrich Dibeüus, „Neue Musik - Neue Interpreten. Voraussetzung und Folgen von 20 Jahren Warschauer Herbst'", in: Polish Music / Polnische Musik 11 (1976), Nr. 4, S. 22.

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Textanalysen ren Szymanowskis und vor dem Hintergrund der nicht abgerissenen Traditionen katholischer Kirchenmusik." 113 „Die nach 1956 entstandenen Werke von Lutoslawski, Penderecki, Baird, Gorecki, Bacewicz usw., die eine anerkannt polnische Schule der Avantgarde begründeten, beweisen, daß der humane Gehalt, der in der ersten Periode ,νοη oben' verlangt wurde, in der zweiten aus freiem Willen der Autoren ihre Musik durchdrang. Sie bedienten sich der neuen und allerneuesten Kompositionstechnik, aber ihre Musik wollte dem Menschen etwas über den Menschen sagen, über die Dinge, die uns alle bewegen." 114

Insgesamt divergieren die Beschreibungen der Besonderheiten, die die Werke der „polnischen Schule" ausmachen sollen, jedoch aufs stärkste und werden niemals analytisch belegt. Die Kritiker des Terminus weisen zudem immer wieder auf die großen stilistischen Unterschiede zwischen den einzelnen K o m p o n i s t e n hin: „Trotz der äußeren Symptome - eines gleichzeitigen Stilwechsels bei einer bedeutenden Gruppe polnischer Komponisten und spektakulärer Debüts sehr innovativ denkender und nach neuen Qualitäten in der Musik suchender Künsder — ist das Phänomen der ,Polnischen Komponistenschule' eher im metaphorischen als im wörtlichen Sinne zu betrachten. Künsder, die dieser Schule zugerechnet werden, haben vieles gemeinsam (hauptsächlich den Vorrang der Klangfarbe über andere Komponenten), ihre einzelnen Vorschläge bezüglich detaillierter ästhetischer und technischer Lösungen sind jedoch unterschiedlich." 115 Selbst wenn man die Gemeinsamkeiten auf die besondere Rolle der Klangfarbe beschränkte, träfe dies nicht auf alle polnischen K o m p o n i s t e n zu, und insbesondere nicht auf diejenigen, die stets als Hauptvertreter der „polnischen Schule" angeführt werden: „Dies machte indessen weder Baird, noch Lutoslawski, noch Bacewicz und auch nicht Szabelski... Folglich passen sie nicht zu dem, was sich polnische Komponistenschule nennt. Und in dem Moment können wir die Feststellung wagen, dass die vermeintliche polnische Komponistenschule oder der Sonorismus vor dem Hintergrund der musikalischen Landschaft jener Zeiten als Minderheit erscheint. Das sind gerade 2, 3 Werke der ersten ,Warschauer Herbste'." 1 1 6 Hier zeigt sich der Widerspruch, dass auf der einen Seite als ein Hauptmerkmal der „polnischen Schule" die Vorrangstellung der Klangfarbe angenommen wird und auf

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Gojowy91,S. 425. Lissa 73, S. 206 f. Chlopecki 00, S. 7. „Nie robil tego jednak ani Baird, ani Lutoslawski, ani Bacewiczowna, ani tez Szabelski... Wi?c oni nam nie pasujq. do tego co nazywa si? polskq. szkoi^ kompozytorsk^. I w tym momencie mozemy zaryzykowac stwierdzenie, ze domniemana polska szkoia kompozytorska, czyli sonoryzm, na tie pejzazu muzycznego tamtych czasöw jawi si? jako mniejszosc. To wlasnie 2, 3 utwory pierwszych ,Warszawskich Jesieni'." Szafranska 97, S. 42.

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der anderen Seite Lutosiawski oder Baird, auf deren Werke dieses Kriterium nicht zutrifft, als ihre führenden Vertreter betrachtet werden. Eine „polnische Schule" etwa ohne Lutosiawski, den polnischen Komponisten mit der größten internationalen Anerkennung, würde jedoch ihre Bedeutung um einiges schmälern: „Wir befinden uns in der Situation, dass wir noch nicht wissen, ob eine polnische Komponistenschule existierte oder auch nicht, aber wenn sie existierte, formten sie nicht solche Namen wie Baird, Bacewicz, Lutosiawski oder Szabelski. Natürlich gibt es noch viele andere Namen, aber die vier, das sind Namen, die eine gewisse Komponistengruppe, eine bestimmte Option symbolisieren. Mit Rücksicht auf das gewaltige Gewicht, die Bedeutung ihres Schaffens im Gesamtbild der polnischen zeitgenössischen Musik ist ihre Verortung außerhalb der vermeintlichen polnischen Komponistenschule sehr folgenreich, denn das Schaffen Bairds, Bacewiczs, Szabelskis und Lustoslawskis ist doch nicht der Rand des polnischen Musikschaffens der Nachkriegszeit."117 Deshalb ziehen manche Autoren das Merkmal „Klangfarbenkomposition" wieder zurück, während andere den Widerspruch dadurch auflösen, dass sie Lutosiawski eine Art Zwitterrolle zuschreiben: „Die Zugehörigkeit zur ,Schule' bemisst sich nämlich nicht an der Intensität, mit der Cluster vorkommen, auf diese Weise verschwinden tatsächlich die Namen Lutosiawski, Baird, Bacewicz und Szabelski von unserem Horizont, und das ist doch absurd."118 „Sein [Lutoslawskis] Wirken ist ein großer Kommentar zur polnischen Musik, eine .Glosse' zum Schaffen der .polnischen Schule'. Und in diesem Sinne bildet seine Arbeit einen integralen Teil der .Schule' und ist es zugleich nicht."119 Eine andere Art der stilistischen Bestimmung deutet sich in Roman Bergers Artikel an, wenn er die „polnische Schule" nicht in Fortführung einer „alten polnischen Schule" etwa der 30er Jahre sieht, sondern als bewusste Abgrenzung gegen die vom Sozialistischen Realismus geprägte Musik der direkten Nachkriegszeit: „Zwar unterschieden sich die Lösungen der künstlerischen Probleme bei den einzelnen Autoren bereits zu Beginn grundsätzlich, doch es überwog die Evidenz der Unterschiede

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„Jestesmy w sytuacji, kiedy to nie wiemy jeszcze czy istniala polska szkoia kompozytorska, czy tez nie, ale jezeli istniaia, to nie tworzyty jej takie nazwiska jak Baird, Bacewiczöwna, Lutosiawski czy Szabelski. Jest jeszcze oczywiscie wiele innych nazwisk, ale te cztery, to nazwiska symbolizuj^ce pewn^ grupe kompozytorsk% pewn% opcj?. Ze wzgl^du na olbrzymi^ wag?, na znaczenie ich tworczosci w catoksztalcie polskiej muzyki wspolczesnej postawienie ich poza nawiasem domniemanej polskiej szkoly kompozytorskiej jest bardzo bogate w konsekwencje, bo przeciez twörczosc Bairda, Bacewiczöwny, Szabelskiego i Lutoslawskiego nie jest marginesem polskiej powojennej twörczosci muzycznej." Szafrariska 97, S. 42. „Przynaleznosci do -;6zkoty' nie ocenia si? bowiem intensywnosci^ wyst?powania klasterow; w ten sposob znikaj^ nam rzeczywiscie ζ horyzontu nazwiska Lutoslawskiego, Bairda, Bacewiczöwny, Szabelskiego, a przeciez jest to absurd." G^siorowska 04, S. 132. Malinowski 74, S. 162.

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Textanalysen zwischen ,alt' und ,neu', zwischen ,normaler Musik' (eine Allusion zur ,normalen Lehre' Thomas S. Kuhns) oder gegenüber der kommunistischen Ideologie geradezu konformistischer Musik und .avantgardistischer' Musik, die nota bene offen für die Impulse aus dem Westen war."120

Aufgrund der Schwierigkeiten bei der stilistischen Definition der „polnischen Schule" trifft man häufig auf die Meinung, dass die Gemeinsamkeiten der Komponisten in anderen Bereichen als auf der kompositionstechnischen Ebene lägen, beispielsweise in kulturell begründeten Grundeinstellungen oder bestimmten politischen Haltungen: „Existiert eine ,polnische Schule'? Das hängt davon ab, was man unter dem Begriff ,Schule' versteht. Wenn dies stilistische, technische und greifbare Merkmale sind, die man auslegen kann — dann existiert sie in meinem Verständnis nicht. In der Musik der Mehrzahl an Ländern kann man dieselben Richtungen finden wie in der polnischen Musik und umgekehrt [...]. Wenn man als ,Schule' jedoch eine Gruppe von Komponisten betrachtet, die Musik mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen erschafft, wenn auch unermesslich subtilen und komplizierten, unerforschlichen und zumeist unmöglich zu identifizierenden, obwohl spürbaren Merkmalen, dann ist es meiner Meinung nach nicht möglich, die Ansicht zurückzuweisen, dass eine so verstandene ,polnische Schule' existiert."121 „Wie es scheint, handelte es sich dabei eher um politische und ideologische Haltungen der Komponisten (u. a. Opposition zum politischen System sowjetischer Prägung, Lösung vom sozialistischen Realismus in der Kunst, Betonung religiöser Inhalte) und um das überraschende Gewahrwerden mehrerer talentierter Komponisten (u. a. Witold Lutoslawski, Andrzej Panufnik, Tadeusz Baird, Krzysztof Penderecki, Henryk M. Gorecki) als um greifbare und einheitliche musikalische Wesenszüge."122 Darüber hinaus werden biographische Gemeinsamkeiten der Komponisten angeführt, beispielsweise die Verbindung mit dem Festival „Warschauer Herbst", welches nicht nur die Voraussetzung für die Entwicklung der polnischen Neuen Musik bildete, sondern über Jahre hinweg das international beachtete Forum der polnischen Komponisten darstellte.

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„Wprawdzie rozwi^zania problemöw sztuki w muzyce röznily si? juz w pocz^tkach zasadniczo u poszczegölnych autoröw, przewazyla jednak ewidencja röznic pomi?dzy ,starym' a ,nowym', mi?dzy ,muzyk^ normaln^' (aluzja do ,nauki normalnej' Thomasa S. Kuhna) czy wr§cz konformistyczn^ wobec ideologii komunistycznej, a muzyk^ .awangardow^', nota bene otwart^ na impulsy ζ Zachodu." Berger 98, S. 27 f. „Czy istnieje ,szkola polska'? To zalezy, co si? rozumie przez termin ,szkola'. Jesli cechy stylistyczne, techniczne, cechy uchwytne, mozliwe do wytozenia - t o w moim przekonaniu nie istnieje. W muzyce wi^kszosci krajow mozna by znalezc te same kierunki co w muzyce polskiej i odwrotnie [...]. Jesli jednak za ,szkol?' uzna sie grape kompozytorow tworz^cych muzyk? ο pewnych cechach wspölnych, choc niezmiernie subtelnych, skomplikowanych, cechach niezbadanych i najcz^sciej niemozliwych do zidentyfikowania, choc wyczuwalnych - to moim zdaniem nie mozna odrzucic opinii, ze tak poj^ta ,szkola polska' istnieje." Erhardt 74, S. 13 f. St^szewski 97, S. 1356.

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„Der Ort [der .polnischen Schule'] im geographischen Sinne ist ziemlich offensichtlich Polen. Der Ort im kulturell-institutionellen Sinne ist der .Warschauer Herbst', es ist also dies gilt zu beachten — kein akademisches Milieu."123 Ferner wird ein gemeinsames Merkmal in der Ausbildung der Komponisten gesucht, die teilweise bei denselben Lehrern in Polen und Frankreich, insbesondere bei Kazimierz Sikorski und Nadia Boulanger, studierten. Die Klangsprache, die sie berühmt werden ließ, haben sie allerdings nicht von diesen Lehrern übernommen. Außerdem finden sich trotz desselben Lehrers teilweise sehr große Stilunterschiede zwischen den Komponisten: „Sogar sowohl bei Sikorski als auch bei Nadia Boulanger waren Spisak und Szalowski. Wenn jedoch aus der Kompositionsklasse von Sikorski ebenso Szalowski und Spisak, aber auch Panufnik und Baird, und dazu noch Tomasz Sikorski und Zygmunt Krauze hervorgehen, in dem Moment summiert sich hier nichts."124 Eine Kontinuität zeigt sich höchstens darin, dass viele Komponisten der „polnischen Schule", wie Penderecki, selbst wieder unterrichteten und manche ihrer Schüler ihre Tonsprache übernahmen und weiterentwickelten. Gründe für die Genese des Begriffs „polnische Schule" werden schließlich auch — oder sogar ausschließlich — im historischen Kontext gesehen, vor allem in der Unbekanntheit der polnischen Musik bis 1956 und in der Überraschung, die das plötzliche Auftreten der polnischen Komponisten bei den westlichen Beobachtern auslöste: „Diese .Schule', wenn sie in welchem Begriff auch immer existierte, tat dies vielleicht eher dank einer bestimmten historischen Situation als dank ihrer eigenen Besonderheit, Gemeinsamkeit usw. Nicht aufgrund dieses oder jenen Stils, sondern nur deshalb, weil niemand vorher richtige polnische Musik kannte und man plötzlich realisierte, dass es sie gibt."125 „In dem Begriff mischen sich zu gleichen Teilen das Erstaunen über Zahl und durchgebildetes Sprachniveau dieser Komponisten, von denen bis dahin außerhalb des Landes kaum einer etwas wußte, die irritierte Unkenntnis, woher und wieso mit derart geprägtem Profil sie überhaupt kommen mochten, und die schlichte Feststellung, daß sich ihre Mu-

„Miejsce, w sensie geograficznym jest dose oczywiste - Polska. Miejsce zaistnienia w sensie kulturowo-instytucjonalnym to ,Warszawska Jesien', a wi§c nie jest to — co nalezy odnotowac — srodowisko akademickie." Szafranska 97, S. 42. „Natomiast i u Sikorskiego, i u Nadii Boulanger byü Spisak i Szalowski. Jezeli jednak ζ klasy kompozycji Sikorskiego wychodzq. zaröwno Szalowski, Spisak, ale i Panufnik, i Baird a do tego Tomasz Sikorski i Zygmunt Krauze, to w tym momencie cos tutaj si? nie sumuje." Szafranska 97, S. 42. „Ta ,szkola', jesli w czyimkolwiek poj^ciu istnieje, to moze bardziej dzi^ki pewnej sytuaeji historycznej, niz dzi^ki swym odr?bnosciom, tozsamosci itd. Nie dlatego, ze styl taki czy inny, tylko dlatego, ze wlasciwie muzyki polskiej nikt przedtem nie znal i ze nagle zorientowano si? ze ona jest." Erhardt 74, S. 14.

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Textanalysen sik in einigen wesentlichen Punkten von allem bei der europäischen Avantgarde Gewohnten unterschied." 126

Vorstellbar wäre deshalb auch, dass der Ausdruck nicht einzelne Komponisten, sondern allgemein die kulturpolitische Ausnahmesituation Polens innerhalb des Ostblocks und deren musikalische Auswirkungen beschreibt. Der Terminus „polnische Avantgarde" tritt etwas seltener als derjenige der „polnischen Schule" auf (20 von 134 Texten im Vergleich zu 33). Bei den deutschen Autoren kommt er in einem Viertel der Texte vor und demnach fast genauso häufig wie „polnische Schule" (9 von 43 Texten im Vergleich zu 13)127. Dagegen ist „polnische Avantgarde" in der polnischen Literatur nur halb so oft zu finden wie „polnische Schule" (11 von 91 Texten im Vergleich zu 20)128 und damit unpopulärer als im deutschen Musikschrifttum. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die polnischen Autoren in Bezug auf die polnische Neue Musik gar nicht von einer „Avantgarde" sprechen, sondern lediglich, dass sich die Zusammensetzung „polnische Avantgarde" als feststehende Wendung nicht durchsetzte. So sind in polnischen Artikeln beispielsweise auch Formulierungen wie „Avantgarde in Polen"129 oder „unsere Avantgarde"130 anzutreffen. Außerdem wird der Begriff „polnische Avantgarde" von den polnischen Autoren verstärkt in deutschsprachigen Texten verwendet (in 6 der 72 polnisch- und in 5 der 21 deutschsprachigen Texte), was ebenfalls daraufhindeuten könnte, dass der Terminus vor allem im deutschen Sprachraum von Bedeutung war. Erstmals erscheint die Bezeichnung in einer Rezension des dritten „Warschauer Herbstes" von Bohdan Pociej aus dem Jahr 1960 und damit in etwa parallel zum Begriff „polnische Schule": „Mit den Geschicken der polnischen Avantgarde — verbindet sich aufs engste der Fall Bolesiaw S%abelskis."nx

Des Weiteren lässt sich in Hinblick auf die zeitliche Verteilung feststellen, dass der Ausdruck „polnische Avantgarde" in der deutschen Literatur vor allem im Zeitraum vor 1976 auftritt (6 von 9 Texten), und in der polnischen Literatur sogar ausschließlich. Auch dies legt nahe, dass sich der Begriff „polnische Avantgarde" nicht etablieren konnte und deshalb wieder in Vergessenheit geriet. 126 Ulrich Dibelius, Moderne Musik I11965-1985, (München 11988), München Μ 991, S. 362. 127 Willnauer 62, Dibelius 66c/67/88, Schwinger 68, Enke 72, Polaczek 72a, Gojowy 91, Morawska 92. 128 Kisielewski 60, Pociej 60a, Zielinski 64b, Kaczynski 65/66a/66b/68/72, Tarnawska 72, Erhardt 74, Lissa 75. 129 Krystyna Tarnawska-Kaczorowska, „Z perspektywy ζ ,Pi£tnastej' (II)", in: Ruch Musgcyny 16 (1972), Nr. 1, S. 6. 130 Bohdan Pociej, „Swit awangardy. Na marginesie III ,Warszawskiej Jesieni'", in: Ruch Muyapy 4 (1960), Nr. 1,S. 9. 131 „Z losami polskiej awangardy — wi^ze si? jak najscislej sprawa Bolesiawa S^abehkiego." Ebd., S. 10.

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Hinsichtlich der Autoren fallt auf, dass sich darunter im Gegensatz zu „polnische Schule" zahlreiche der Hauptberichterstatter finden, nämlich Kaczydski, Kisielewski, Pociej, Zielmski und Dibelius. Am häufigsten erscheint der Terminus „polnische Avantgarde" in Texten von Kaczynski (5 Texte) und Dibelius (3 Texte). Da der Ausdruck „polnische Avantgarde" in den meisten Fällen dasselbe Phänomen wie „polnische Schule" bezeichnet, würde man vermuten, dass sich die Autoren entweder für den einen oder für den anderen Terminus entscheiden. Tatsache ist jedoch, dass zwei Drittel der Autoren beide Bezeichnungen verwenden (9 von 14 Autoren), fast alle davon sogar in ein und demselben Text (8 der 9 Autoren). Zum einen handelt es sich dabei um solche Autoren, die lediglich die Existenz des Begriffs „polnische Schule" feststellen und ansonsten konsequent von „polnischer Avantgarde" sprechen (3 Texte)132. Sie meinen damit dieselben Komponisten, die von anderen Autoren mit „polnische Schule" betitelt werden: „Nun ein paar Worte über die polnische Avantgarde. Sie war auf dem ,Warschauer Herbst' durch ihre führenden Köpfe Lutoslawski, Penderecki, Görecki, Schäffer, Kilar und Szalonek vertreten. Auch die jüngsten Komponisten, zum Beispiel Rudzmski, Sikorski, Krauze, Meyer und Madey, traten auf. Unter den Komponisten der mittleren und älteren Generation fehlten nur Baird und Serocki; aufgeführt wurden dagegen auch neue Kompositionen von Kotonski, Dobrowolski, Koszewski, Wiszniewski, Spisak und Szabelski, dem Senior der polnischen Avantgarde. Diese lange Liste wird noch von den Namen zweier bedeutender Frauen, der Komponistinnen Bacewicz, und MoszumadskaNazar, ergänzt; beide gehören der jungen Generation an."' 33 Zum anderen sind unter den Autoren, die sich beider Ausdrücke bedienen, solche, die die „polnische Schule" wie eine Tatsache behandeln (4 Texte)134. Doch auch sie scheinen „polnische Avantgarde" im Sinne eines Synonyms von „polnischer Schule" zu verstehen: „In der Atmosphäre bewußter und uneingeschränkter Weltoffenheit entwickelte sich seit den späten fünfziger Jahren das, was als ,Neue polnische Schule' inzwischen zum musikgeschichtlichen Begriff wurde. [...] Erstes, in Osteuropa aufsehenerregendes Zeugnis dieser Richtung war die 1958 unter Förderung der International Composers' Tribune beim Internationalen Musikrat veröffentlichte Schallplatte (Polskie Nagrania XL 0072) mit Kazimierz Serockis ,Sinfonietta für %wei Streichorchester', Witold Lutoslawskis ,Trauermusik.' und Tadeusz Bairds , Vier Essays'. Und auf der Szene der polnischen Avantgarde ging bald darauf ein vierter ,Stern' auf: Der 1933 in Debica geborene Krzysztof Penderecki gewann 1959 im Jugend-Kompositionswettbewerb des Komponistenverbandes gleich alle drei Preise und wurde, 1960 mit seinen — den Opfern von Hiroshima gewidmeten — ,Treny' (Klageliedern) für 52 Streichinstrumente in Europa bekannt."135 132 133

134 135

KaczyAski 66b, Lissa 75, Dibelius 88. Tadeusz Kaczynski, „Viele neue Talente beim ,Warschauer Herbst'", in: S. 473. Kisielewski 60, Polaczek 72a, Gojowy 91. Gojowy 91, S. 425.

Melos

32 (1965), Nr. 12,

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Textanalysen

Ähnlich verhält es sich mit den Autoren, die ausschließlich die Bezeichnung „polnische Avantgarde" verwenden (4 Texte)136: „Senior der polnischen Avantgarde ist der jetzt vierundfünfzigjährige Witold Lutoslawski, dessen Kompositionen, besonders die Musique funebre (1958) oder die in jüngerer Zeit entstandenen Trots poemes d'Henri Michaux und das Streichquartett, zu den Standardwerken der neuen Musikentwicklung zählen. [...] Neben dem traditionelleren Tadeusz Baird, der wie Henze vor allem auf Atmosphäre bedacht ist und mit seinen Vier Essays eines der meistgespielten neueren Orchesterwerke komponierte, gehören Kazimierz Serocki, dessen wichtigste Werke die Episoden von 1959 und die Sinfonischen Fresken von 1964 sind, Wlodzimierz Kontonski und von den Jüngeren Henryk Gorecki zu den markantesten Vertretern der polnischen Avantgarde. Die genialischste Begabung ist aber ganz gewiß Krzysztof Penderecki."137 Dementsprechend stimmt auch die Datierung der „polnischen Avantgarde" mit derjenigen der „polnischen Schule" überein: „Bereits beim zweiten Festival [1958] sprach man von der Geburt der polnischen Avantgarde. In diesem Jahr wurden zum ersten Mal die Werke von Henryk Mikolai Gorecki (Epitafium) und Wlodzimierz Kotonski (Kammermusik für 21 Instrument aufgeführt, beide in serieller Technik komponiert."138 Allerdings scheint es zuweilen so, als ob unter „polnischer Avantgarde" vor allem die jüngeren Komponisten der Generation Pendereckis verstanden werden: „Leider war der neben Penderecki zweite bedeutendste Repräsentant der polnischen Avantgarde Henry Gorecki nicht vertreten, da er im letzten Augenblick sein Werk zurückgezogen hatte."139 Dieser Unterschied zwischen den Begriffen „polnische Avantgarde" und „polnische Schule" bestätigt sich, wenn man untersucht, wer als die jeweiligen Hauptvertreter angeführt werden. Bei der „polnischen Avantgarde" sind dies in erster Linie Penderecki (10 Texte), Gorecki (8 Texte) und Lutoslawski (7 Texte) sowie Kilar, Schaeffer und Szalonek (jeweils 4 Texte). Im Vergleich zur „polnischen Schule" fehlen auf den vordersten Plätzen Serocki und Baird, und am häufigsten wird hierbei nicht Lutoslawski, sondern Penderecki genannt. Ein definitorischer Sonderfall, der sich mit dieser engeren Sichtweise der „polnischen Avantgarde" deckt, findet sich im bereits zitierten Aufsatz von Morawska-

136 Pociej 60a, Willnauer 62, Schwinger 68, Enke 72. 137 Wolfram Schwinger, „Magische Klanglandschaften. Krzysztof Penderecki und die polnische Avantgarde", in: Musica 22 (1968), Nr. 1, S. 5. »8 Morawska 92, S. 226. 139 Tadeusz A. Zielinski, „Internationales Panorama beim Warschauer Herbst 1963", in: Melos 31 (1964), Nr. 1, S. 34.

Terminologie

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Büngeler aus dem Jahr 1992, in welchem sie die Generation um Baird als „polnische Schule" und die Generation um Penderecki als „polnische Avantgarde" bestimmt: „Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß trotz einiger Gemeinsamkeiten, die der älteren Generation den Namen der Polnischen Schule und der mitderen den der Polnischen Avantgarde eintrugen, der schöpferische Weg jedes einzelnen Komponisten anders ist."140

Auch wenn man im Zusammenhang mit dem Terminus „polnische Avantgarde" nichts über spezielle stilistische Merkmale erfährt, ist naheliegend, dass die avantgardistische Kompositionsweise über die Zugehörigkeit entscheidet. So gibt beispielsweise Krystyna Tarnawska-Kaczorowska eine anscheinend verbreitete Meinung wieder, nach der die Werke Lutoslawskis außerhalb der Avantgarde gesehen werden: „Aber wenn wir seiner Zeit die Werke Goreckis, Z. Rudzinskis, Kilars, Kotonskis und Serockis als avantgardistisch tauften, warum lässt man darunter [Lutoslawskis] Gry weneckie, Postludium, 3 Poematy Henri Michaux aus?"141

Außerdem könnte man anhand eines Textes von Pociej folgern, dass mit dem Begriff „polnische Avantgarde" im Vergleich zur „polnischen Schule" stärker der Zusammenhang mit der westlichen Avantgarde betont wird, welche in der polnischen Literatur durchgängig als eine „Avantgarde" bezeichnet wird: „Es könnte sein, dass, eine normale Entwicklung der kompositorischen Talente vorausgesetzt, die polnische Avantgarde in einigen Jahren als vollkommen gleichrangiger Wert gegenüber der französischen, italienischen oder deutschen Avantgarde erscheint."142

Vielleicht führte diese aus politischen Gründen nicht erwünschte Nähe zur westlichen Musik mit dazu, dass sich der Begriff „polnische Avantgarde" in der polnischen Literatur nicht einprägte. Der häufigere Gebrauch durch deutsche Autoren könnte dagegen nahe legen, dass von deutscher Seite eine stärkere Verbindung zwischen der polnischen Musik und der eigenen Avantgarde gesehen wurde. Allerdings gilt für den Ausdruck „polnische Avantgarde" wie für denjenigen der „polnischen Schule", dass Wortschöpfungen dieser Art generell eher aus der Außensicht geprägt werden. Als nächstes fallt im Zusammenhang mit der polnischen Neuen Musik immer wieder der polnische Begriff „Sonoryzm" bzw. „Sonorystyka", der in etwa bedeutungsgleich mit dem Ausdruck „Klangfarbenkomposition" ist und im Deutschen

141

142

Morawska 92, S. 227. „A jesli awangardowymi ochrzcilismy swego czasu utwory Göreckiego, Z. Rudzmskiego, Kilara, Kotonskiego, Serockiego, dlaczegoz by pomin^c w tej liczbie Gry weneckie, Postludium, 3 Poematy Henri Michaux?" Tarnawska 72, S. 6. „Byc moze, za kilka lat, zalozywszy normalny rozwoj talentow kompozytorskich, polska awangarda stanie si? wartosci^ calkowicie röwnorz^dn^ wobec awangardy francuskiej, wioskiej czy niemieckiej." Pociej 60a, S. 24.

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Textanalysen

meist mit „Sonorismus" oder „Sonoristik" übersetzt wird.143 In die vorliegende Untersuchung ging neben den verschiedenen Substantivformen auch das Adjektiv „sonorystyczny" bzw. „sonoristisch" ein, wobei in den folgenden Ausführungen der Einfachheit halber alle Begriffsvarianten unter „Sonorismus" zusammengefasst werden. Die Bezeichnung „Sonorismus" begegnet einem in insgesamt 23 Texten144 und damit in etwa so häufig wie der Terminus „polnische Avantgarde". Unter den 18 Autoren, die ihn verwenden, finden sich nur vier deutsche, und bei den Texten polnischer Autoren überwiegen deutlich die polnischsprachigen Publikationen (13 der 16 Texte). Der Begriff ist somit in der polnischen Literatur wesentlich weiter verbreitet als in der deutschen. Im polnischen Textmaterial tritt die Bezeichnung „Sonorismus" erstmals im Jahr 1960 auf und erscheint von da an regelmäßig, wohingegen sie im deutschen Musikschrifttum überhaupt erst ab 1975 zu finden ist. In Hinblick auf die späteren Texte sowohl polnischer als auch deutscher Autoren ist auffällig, dass der Ausdruck „Sonorismus" fast immer gemeinsam mit dem Terminus „polnische Schule" anzutreffen ist. Dies verdeutlicht erneut die bereits angesprochene Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen. In der Regel wird in den Texten mit „Sonorismus" eine Kompositionstechnik in der polnischen Neuen Musik bezeichnet: „[...] Technik, die in Polen Sonortechnik genannt wurde und auf den Vorrang der Klangfarbe über alle anderen Parameter der Kömposition gestützt war." 145 „Die avantgardistischen Tendenzen im Schaffen der polnischen Komponisten offenbaren sich durch die Anwesenheit solcher Techniken wie Dodekaphonie, Serialismus, Aleatorik, Sonoristik." 146

Den Kontext, in dem der Terminus „Sonorismus" auftritt, bilden neben allgemeinen Ausführungen zur polnischen Neuen Musik Beschreibungen einzelner Komponisten oder Werke. Am häufigsten finden sich darunter Penderecki (4 Texte), Kotonski (4 Texte) sowie Gorecki, Kilar und Serocki (jeweils 3 Texte). Unter den Werken werden insbesondere Goreckis Scontri und Serockis Freski symfonicspe (jeweils 2 Texte) erwähnt:

Siehe auch Kapitel III.2.4. Pociej 60b, Chominski 63/74/75, Zieliriski 64c, Schiller 67, Jaroszewicz 72, Dobrowolski 73, Lissa 73, Czekanowska 90, Szafranska 97, Berger 98, Chlopecki 00, Rogala 00, Granat 03, G^siorowska 04, Gojowy 75/76a/76b/91, Homma 90, Morawska 92, Häusler 96. i« Chlopecki 00, S. 1. 146 „Tendencje awangardowe w tworczosci kompozytorow polskich ujawnity si^ przez obecnosc takich technik, jak dodekafonia, serializm, punktualizm, aleatoryzm, sonorystyka." Granat 03, S. 60. 143

144

Terminologie

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„Damit sind die Fresken nicht nur ein getreues Abbild des persönlichen und künstlerischen Naturells von Kazimierz Serocki, sondern auch bezeichnend für wesentliche Züge des Sonorismus insgemein."147 „Die Freski symfonic^ne Serockis, die sich durch Ideenreichtum in jeder Minute, Geschwindigkeit, glanzvolle Aufeinanderfolgen und großen sonoristischen Geschmack auszeichnen." 148

Das zweite Zitat ist außerdem ein Beispiel dafür, wie insbesondere die Adjektivform zuweilen auch allgemein im Sinne von „klangfarblich" verwendet wird. Schließlich wurde das Textmaterial auf Bezeichnungen wie „Klangkomposition", „Klangfarbenkomposition" oder „Klangflächenkomposition" durchgesehen, von denen man vermuten könnte, dass sie als begriffliche Äquivalente zu „Sonorismus" in deutschsprachigen Texten gehäuft auftreten. Dies lässt sich jedoch nicht bestätigen, denn lediglich zwei deutsche Texte enthalten den Ausdruck „Klangfarbenkomposition": „Die moderne polnische Musik ist in erster Linie Klangfarben-Komposition. Sie unterscheidet sich dadurch nicht von anderer Musik, die gegenwärtig komponiert wird; die grundlegende Konstellation ist sogar weitgehend dieselbe."149 „Wie sehr die Klangfarben- und Klangflächenkomposition schon zu einem Allerweltsstil heruntergekommen ist, wurde bereits am ersten Abend und bezeichnenderweise durch die Polen selbst demonstriert." 150

Von den polnischen Autoren verwendet einzig Helman den Begriff in ihrem MGGArtikel „Polen", und dies nicht einmal in Bezug auf die polnische Neue Musik nach 1956, sondern im Zusammenhang mit der späteren „Generation Stalowa Wola": „Das Schaffen der jüngsten Komponistengeneration ist von verschiedensten Ausdrucksmitteln gekennzeichnet, die von traditionellen Strömungen [...] über Klangfarbenkompositionen [...] bis hin zur elektroakustischen Musik [...] reichen."151

Als eine Variante von „Klangfarbenkomposition" könnte man des Weiteren noch die Bezeichnung „klangkoloristisch" auffassen, die mehrmals in einem deutschsprachigen Artikel von Kaczyriski in Erscheinung tritt:

147 148

149 150

151

Häusler 96, S. 206. „Freski symfonic^ne Serockiego, wyrözniaj^ce sie bogactwem pomyslöw w kazdej minucie, wartkosci^. i blyskotliwosci^ nast^pstw i duzym smakiem sonorystycznym." Tadeusz A. Zielinski, „Odkrycia i wydarzenia" in: Ruch Mu^yc^ny 8 (1964), Nr. 22, S. 7. Ulrich Dibelius, „Polnische Avantgarde", in: Melos 34 (1967), Nr. 1, S. 16. Hartmut Lück, „Xenakis und Lutoslawski setzen die Maßstäbe. Eindrücke vom .Warschauer Herbst 1967'", in: ΝΖβΛ 128 (1967), Nr. 11, S. 443. Zofia Helman, Art. „Polen", in: MGG2, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil 7, Kassel u. a. 1997, Sp. 1655.

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Textanalysen „Diese damals noch sehr jungen Komponisten [Penderecki und Görecki] (beide sind 1933 geboren) wurden Wegbereiter einer Richtung, die von manchen als klangkoloristische bezeichnet wird." 152

Es ist demnach zu überprüfen, ob die Vorrangstellung des Parameters Klangfarbe in der polnischen Wahrnehmung der polnischen Neuen Musik auch unabhängig bestimmter Begrifflichkeiten eine entscheidendere Rolle spielte als in der deutschen Fremdsicht. Generell zeigt sich anhand der Terminologie, wie sich die deutsche Außensicht mit der Zeit der polnischen Eigensicht annähert, indem beispielsweise der Terminus „Sonorismus" übernommen oder die Bezeichnung „polnische Schule" zunehmend hinterfragt wird.

2.2.

Zeitliche und personelle Bestimmung

Als nächstes soll untersucht werden, inwieweit sich die Texte polnischer und deutscher Autoren hinsichtlich der zeitlichen und personellen Bestimmung der polnischen Neuen Musik unterscheiden. Es gilt etwa zu fragen, welche Datierungen im Zusammenhang mit der polnischen Neuen Musik vorgenommen werden, wer als ihre führenden Vertreter betrachtet werden und inwieweit die polnischen Komponisten als eine homogene Gruppe gesehen werden. Dass sich im Verlauf der 50er Jahre ein Umbruch in der polnischen Musik vollzog, steht außer Frage, doch die Ansichten darüber, wann genau diese neue Phase begann, weichen durchaus voneinander ab. Im vorliegenden Textmaterial finden sich von zwölf polnischen und sieben deutschen Autoren Äußerungen in Hinblick auf den Beginn einer polnischen Neuen Musik, den sie in den Jahren 1954 (5 Texte)153, 1956 (10 Texte)154, 1958 (5 Texte)155, 1959 (4 Texte)156 oder 1960 (1 Text)157 sehen. Hierbei sind weniger die bloßen Daten aufschlussreich, sondern vor allem die damit verbundenen Begründungen, die Auskunft darüber geben, welche Ereignisse, Personen oder Werke als wesentlich für die polnische Musik angesehen werden. Das Argument für den frühsten Termin, das Jahr 1954, besteht darin, dass sich ab dieser Zeit einige polnische Komponisten in ihren Werken mit den neuesten kompositorischen Techniken auseinander zu setzen begannen:

152 153 154

155 156 157

Tadeusz Kaczydski, „Polnische Avantgarde am Scheideweg", in: Melos 35 (1968), Nr. 1, S. 6. Lissa 73, Chominski 74, Erhardt 74, Lissa 75, Michalski 88. Dobrowolski 73, Erhardt 74, Michalski 88, Czekanowska 90, Granat 03, Dibelius 66, Vogt 72, Dibelius 88, Gojowy 91, Häusler 96. Chominski 74, Michalski 88, Czekanowska 90, Szafrahska 97, Morawska 92. Kisielewski 60, Pociej 60a, Pilarski 66, Kaczydski 68. Erhardt 74.

Zeitliche und personelle Bestimmung

57

„Die Jahre 1954-1956 markieren einen Wendepunkt in der polnischen Musik; sie waren eine Zeit der Erforschung neuer stilistischer Regionen, dynamischer Experimente im Einklang mit den weltweiten Tendenzen der Musik."158 Die Bedeutung des Jahres 1956 wurde bereits ausführlich dargelegt. Vor allem der erste „Warschauer Herbst" ermöglichte, dass die polnischen Komponisten einerseits erstmals von einem internationalen Publikum wahrgenommen wurden und andererseits mit den westeuropäischen Strömungen in Berührung kamen, die ihr Schaffen in den nachfolgenden Jahren stark beeinflussten. „Vieles hat sich geändert seit dem ersten ,Warschauer Herbst', mit dem Polen gleichsam in die neuere Musikgeschichte eingetreten ist."159 „Ich wage zu behaupten, daß dieses Festival [der erste ,Warschauer Herbst'] einen Wendepunkt im polnischen Musikschaffen darstellte. Viele Komponisten begegneten damals zum ersten Mal den neuesten Kompositionstechniken, viele erkannten erst damals die weite Perspektive, die diese Techniken eröffneten."160 „Das Jahr 1956 als Grenze der beiden Perioden ist selbstverständlich keine beliebige, willkürlich gesetzte Zäsur, sondern steht in engem Zusammenhang mit den damals erfolgten Wandlungen im Leben der gesamten Bevölkerung. Nach den Jahren der Isolation von den Erfahrungen der Weltavantgarde und der Konzentration auf die Ziele des sog. sozialistischen Realismus folgte die Zeit eines ungehinderten Informationsflusses und der Gleichberechtigung aller Richtungen des Schaffens."161 -Als Grund, den Beginn der polnischen Neuen Musik 1958 zu sehen, wird angeführt, dass die polnischen Komponisten erst beim zweiten „Warschauer Herbst" mit Werken hervortraten, die sich einer neuen zeitgenössischen Tonsprache bedienten: „Es waren Witold Lutoslawski mit seiner ,Muzyka zalobna' (Trauermusik) und Tadeusz Baird mit seinen ,Cztery eseje na orkiestre' (V l e r Essays für Orchester), die bei diesem Anlaß hohe Anerkennung fanden und eine neue Epoche in der polnischen Musik einleiteten."162 Für das Jahr 1959 spricht schließlich, dass nach Gorecki nun auch Penderecki debütierte und beide rasch als Hauptvertreter einer jüngeren Generation angesehen wurden. Daneben traten auf dem dritten „Warschauer Herbst" auch weitere ältere Komponisten mit Werken eines neuen Stils in Erscheinung:

"β Lissa 73, S. 210. Ulrich Dibelius, „Der zehnte Warschauer Herbst", in: NZßt 127 (1966), Nr. 11, S. 454. 160 Andrzej Dobrowolski, „Der Einfluss des Festivals ,Warschauer Herbst' auf die Entwicklung des Musiklebens in Polen", in: Neue Musik und Festival (= Studien zur Wertungsforschung 6), hrsg. von Otto Kolleritsch, Graz 1973, S. 70. 161 Michalski 88, S. 172. 162 Anna Czekanowska, Studien %um Nationalstil derpolnischen Musik, Regensburg 1990, S. 117.

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Textanalysen „Der III. Warschauer Herbst hatte allgemeine, umwälzende Bedeutung. Es erschienen bereits nicht mehr Versuche, sondern reife und hervorragende Anzeichen eines ,neuen Stils'; in ganzer Pracht präsentierte man eine neue, jüngste polnische Komponistengeneration." 1 « „Als das Geburtsdatum der polnischen Avantgarde muß das Jahr 1959 angenommen werden; auf dem vierten [dritten!] ,Warschauer Herbst' fand die Uraufführung von zwei Werken statt, die der neuen Richtung in der polnischen Musik den Anfang gaben: Atrophen' für Sopran, Sprecher und 10 Instrumente von Krzysztof Penderecki und .Symphonie 1959' für Streichorchester und Schlagzeug von Henryk Gorecki. [...] Auf demselben dritten .Warschauer Herbst' haben zwei weitere Komponisten ihren Beitritt zur Avantgarde bekundet: der um einige Jahre ältere Witold Szalonek (geb. 1927), der aber später mit seinen jüngeren Kollegen der Moderne nicht Schritt halten konnte, sowie der um einige Jahrzehnte ältere Boleslaw Szabelski (geb. 1896), dessen bisherige Zugehörigkeit zur Spitze der Avantgarde eine zwar ungewöhnliche, aber doch legitime Erscheinung ist."164

Der späteste Zeitpunkt 1960 wird schließlich damit begründet, dass sich die polnische Musik nun voll entfaltet und in ihren charakteristischen Merkmalen ausgebildet hatte: „Und endlich im Jahre 1960 — der Beginn einer bereits originalen polnischen Avantgarde. Die neue Technik Lutoslawskis, Penderecki, Gorecki, Schaeffer, der reife Serocki, Kotodski. Das damals gestaltete Bild der polnischen neuen Musik und ihre weltweite Position dauern eigentlich bis heute [1974] an."165 Vergleicht man nun die polnischen und deutschen Autoren miteinander, zeigt sich, dass die deutschen Kritiker fast ausschließlich das Jahr 1956 als Beginn betrachten. Nur Morawska-Büngeler gibt das Jahr 1958 an, was jedoch aus ihrer speziellen Definition der „polnischen Avantgarde" resultieren könnte. Aus deutscher Perspektive wird somit der Beginn der polnischen Neuen Musik allgemein mit dem Zeitpunkt gleichgesetzt, an dem erstmals Kenntnis von ihr genommen wurde. In der polnischen Literatur variieren die Angaben hingegen beträchtlich. Zwar betonen alle Autoren die historische Bedeutung des ersten „Warschauer Herbstes" als Voraussetzung für die polnische Neue Musik, doch den eigentlichen Beginn sieht die Mehrzahl erst später mit den ersten Werken, in denen sich der Wandel der Musiksprache manifestiert. Hierbei werden insbesondere Lutoslawskis Muqyka %alobna aus dem Jahr 1958 sowie Pendereckis Strojy und Goreckis Sjmfonia 1959 aus dem Jahr 1959 angeführt. „III Warszawska Jesien miala znaczenie szczegolne, przetomowe. Pojawily si? juz nie proby, ale dojrzaie i wybitne przejawy ,nowego stylu'; w calej okazalosci zaprezentowano nowe, najmlodsze pokolenie kompozytoröw polskich." Pociej 60a, S. 9. IM Kaczynski 68, S. 6. 165 „I wreszcie rok 1960 pocz^tek oryginalnej juz awangardy polskiej. Nowa technika Lutoslawskiego, Penderecki, Gorecki, Schäffer, dojrzaly Serocki, Kotoriski. Uksztaltowany wöwczas obraz nowej muzyki polskiej i jej swiatowa pozycja trwaja wlasciwie do dzis." Erhardt 74, S. 12. 163

Zeitliche und personelle Bestimmung

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Außerdem fällt auf, dass die Entstehung der polnischen Neuen Musik in der polnischen Literatur sehr eng mit der Generation Pendereckis und Goreckis verbunden ist. Zwar wird stets erwähnt, dass auch die älteren Komponisten am Stilwandel teilhatten, aber die Schlüsselrolle wird meist den jüngeren zugeschrieben. Hierbei könnte eine Rolle spielen, was sich in einem Zitat Chominskis andeutet: Diese jüngere Komponistengeneration war die erste, die nicht im europäischen Ausland studierte und auch deshalb eine selbstständige polnische Musik repräsentierte: „Der große Umbruch fand in der polnischen Musik erst in den Jahren 1958-1960 statt. Er ist das Werk einer neuen, im Lande ausgebildeten Komponistengeneration mit Krzysztof Penderecki, Henryk Gorecki, Boguslaw Schaeffer und Wojciech Kilar an der Spitze."166

Der Anfangspunkt 1954 zeigt schließlich, wie die polnischen Autoren viel stärker als die deutschen daraufhinweisen, dass der Wandel schon vor 1956 begann. Auch Autoren, die den eigentlichen Beginn erst später ansetzen, betonen dies mitunter: „Symptome der nahenden Wandlungen waren auch vor 1956 sichtbar, jedoch die vollständigste Proklamation der neuen Periode erfolgte 1958 — dem Jahr, in dem die Trauermusik Witold Lutoslawskis vollendet und uraufgeführt wurde."167

So beschreiben die polnischen Autoren den Umbruch in der polnischen Musik sehr häufig als einen Prozess, der bereits vor 1956 seinen Anfang nahm und etwa um 1960 abgeschlossen war. Im Vergleich zum recht klar definierten Anfangspunkt der polnischen Neuen Musik, finden sich über weitere Wendepunkte nur wenige Informationen. Insgesamt äußern sich hierzu nur sechs polnische Autoren sowie von deutscher Seite einzig Dibelius. Einen nächsten Einschnitt sehen sie einerseits Mitte der 60er Jahre und begründen dies mit der Uraufführung von Pendereckis Lukas-Passion im Jahr 1966 sowie ähnlichen Tendenzen der Synthese von traditionellen und avantgardistischen Elementen bei anderen Komponisten (5 Texte)168: „In der Entwicklung der polnischen Musik erfolgte 1966 eine weitere Zäsur. In jenem Jahr stellte Krzysztof Penderecki der Welt erstmalig seine Lukaspassion vor. Die Konsequenzen dieser Tatsache reichten weiter, als man hatte vermuten können."169 „Die Bemühungen um eine Synthese kommen in der sogenannten zweiten Periode der polnischen Gegenwartsmusik, d.h. nach 1964, deutlich zum Vorschein. Diese Tendenz

„Wielki przelom w muzyce polskiej dokonal si? dopiero w latach 1958-1960. Jest on dzielem nowej, mlodej, wychowanej w kraju generacji kompozytoröw ζ Krzysztofem Pendereckim, Henrykiem Goreckim, BogusJawem Schäfferem i Wojciechem Kilarem na czele." Jözef M. Chominski, „Przelom w muzyce polskiej", in: Ruch Musgc^ny 18 (1974), Nr. 15, S. 9. i" Michalski 88, S. 174. 168 Erhardt 74/78, Czekanowska 90, Granat 03, Dibelius 88. 169 Ludwik Erhardt, Musik in Polen (poln. Originalausgabe als Mu^yka w Polsce), Warschau 1978, S. 166. 166

60

Textanalysen läßt sich bei vielen Komponisten, vor allem bei Lutoslawski, Penderecki und Baird feststellen, wie verschieden diese auch sein mögen." 170

Andererseits wird ab Mitte der 70er Jahre eine neue Phase in der polnischen Neuen Musik registriert (3 Texte)171: „Das Ende der ^Avantgarde unter dem Zeichen der Antikunst' fällt übereinstimmend auf das Jahr 1976. Es begann eine neue Ära, in der die avantgardistischen Qualitäten, der Dekonstruktion unterzogen, zu Elementen eines postmodernen Spiels mit der Konvention wurden." 172 „In den 1970er Jahren wurden die allmähliche Abkehr von den avantgardistischen Konzeptionen und die Betonung des Traditionellen deutlich." 173

Insgesamt differenzieren die polnischen Autoren somit stärker als die deutschen und nehmen beispielsweise genauer die Entwicklungen einzelner Komponisten oder allgemeine Zäsuren wahr. Um herauszufinden, wodurch das Bild von der polnischen Neuen Musik geprägt ist, soll des Weiteren ermittelt werden, wen die Autoren unabhängig von Begriffen wie „polnische Schule" oder „polnische Avantgarde" für den Zeitraum 1956-1976 als führende Vertreter ansehen. Im Textmaterial finden sich hierzu Aussagen von 17 polnischen und acht deutschen Autoren174, wobei es sich in manchen Fällen nur um einen einzelnen Komponisten und in anderen Fällen um eine größere Anzahl von Persönlichkeiten handelt: „Merkwürdig ist nun, daß sich zur gleichen Zeit auch Witold Lutoslawski, der führende Komponist der polnischen Avantgarde, einem Vokalwerk zugewandt hatte." 175 „Man freut sich darüber, daß die besten K ö p f e der polnischen Musica viva, also Leute wie Lutoslawski, Baird, Serocki, Penderecki oder Schäffer, im Ausland geschätzt werden." 176

Die polnischen Autoren nennen am häufigsten Lutoslawski (14 Autoren), Penderecki (14 Autoren) und Gorecki (12 Autoren). Mit etwas Abstand folgen Baird (7 Czekanowska 90, S. 120. Michalski 88, Helman 97, Granat 03. 172 „Koniec ,awangardy spod znaku antysztuki' przypada umownie na rok 1976. Rozpoczyna nowa era, w ktörej jakosci awangardowe, poddawane dekonstrukcji, staj^ si? elementami postmodernistycznej gry konwencji." Granat 03, S. 63. ™ Helman 97, Sp. 1654 f. 174 Schaeffer 58, Pociej 60a, Zielmski 61/62/64a/64b, Patkowski 62, Rozbicki 62, Kaczynski 65/68/72, Erhardt 67a/78, Pilarski 68, Jarocinski 69, Erhardt 74 (darin Aussagen von Kaczydski, Pociej, ZielMski), Malinowski 74, Lissa 75, Kisielewski 76, Helman 97, St^szewski 97, Szafranska 97, Chlopecki 00, Granat 03, Häusler 66, Dibelius 67/88, Schwinger 68, Polaczek 72a, Sandner 73, Brunner 74, Gojowy 75, Seifert 75. 175 Dibelius 67, S. 14. 176 Gerhard Brunner, „Andrang beim .Herbst'", in: Musica 28 (1974), Nr. 6, S. 534. 170 171

Zeitliche und personelle Bestimmung

61

Autoren), Szalonek (6 Autoren), Schaeffer und Serocki (jeweils 5 Autoren), Szabelski (4 Autoren), Kilar und Kotonski (jeweils 3 Autoren) sowie Bacewicz (2 Autoren). Ein etwas anderes Bild zeigt sich bei den deutschen Autoren, bei denen sich ein eindeutiger Spitzenreiter ergibt, indem alle Penderecki als Protagonisten anführen (8 Autoren). Es schließen sich Lutoslawski, Serocki und Baird (jeweils 5 Autoren), Gorecki (3 Autoren), Dobrowolski, Kotonski und Schaeffer (jeweils 2 Autoren) sowie Bacewicz, Kilar und Szalonek (jeweils 1 Autor) an. Relativ einig sind sich die polnischen und deutschen Musikkritiker somit bei der großen Bedeutung Pendereckis und Lutoslawskis. Unterschiede zeigen sich allerdings in Hinblick auf Gorecki, der in den Augen der polnischen Autoren eine größere Rolle spielt. Dafür erachten die deutschen Kritiker Serocki für wichtiger, den sie auf einer Stufe mit Lutoslawski sehen. Außerdem erscheint bei ihnen Dobrowolski, der in den Aufzählungen von polnischer Seite fehlt, wohingegen sie nur selten oder gar nicht Szalonek, Kilar und Szabelski erwähnen. Betrachtet man diese Unterschiede genauer, lässt sich feststellen, dass die deutschen Autoren vor allem diejenigen Komponisten schätzten, die im Musikleben der BRD präsent waren. So decken sich die deutschen Bewertungen beispielsweise zu großen Teilen mit den Konzertprogrammen in Donaueschingen und Darmstadt sowie dem Verlagsprogramm von Moeck, in denen Penderecki, Serocki, Kotonski und Lutoslawski dominieren, wohingegen etwa Kilar und Szabelski vollständig fehlen. Ein anderer Erklärungsansatz für die relativ niedrige Einschätzung Goreckis von deutscher Seite deutet sich in einem Zitat des deutschen Kritikers Sandner von 1973 an, in dem dieser beschreibt, wie zuweilen einzelne Werke in Polen anders als in Deutschland aufgenommen wurden: „Wie sehr dabei die polnische Musik von nationalen Eigenheiten bestimmt wird (was ja besonders auch für die Beurteilung des Komponisten Gorecki als eines nationalen Musikhelden gelten kann), wurde an der Reaktion des Publikums bei Bemadetta Matuszczaks ,Salmi per un gruppo di cinque' deutlich. Die für unsere Ohren schwülstig-pathetische Komposition, bei der der Text aus den Psalmen Davids oberflächlich, durch eine fast lächerlich wirkende ,Lightshow' illustriert wurde, war für die Polen ein todernstes, mit enthusiastischem Beifall aufgenommenes, religiöses Bekenntnis." 177

Außerdem lassen sich die verschiedenen Einschätzungen möglicherweise damit begründen, dass die polnischen Berichterstatter stärker innerhalb der polnischen Neuen Musik differenzieren und beispielsweise zwischen den Hauptvertretern verschiedener Strömungen oder Generationen unterscheiden: „Diese Ästhetik [des Sonorismus] wird in der polnischen Musik vor allem durch Witold Lutoslawski (1913-94) sowie Krzysztof Penderecki (geb. 1933) und Henryk Mikolaj Gorecki (geb. 1933), außerdem von Kazimierz Serocki (1922-1981) und Tadeusz Baird

177

Wolfgang Sandner, „17. Musikfestival,Warschauer Herbst'", in: NZßi

134 (1973), Nr. 11, S. 726 f.

62

Textanalysen (1928-1981), Wojciech Kilar (geb. 1932), Witold Szalonek (1927-2001), Boguslaw Schaeffer (geb. 1929) und Wlodzimierz Kotonski (geb. 1925) vertreten."178 „Unter den Komponisten der älteren Generation bleibt die am meisten frappierende Individualität Boleslaw Szabelski, der sich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit die Mittel der modernen Musik aneignete."179

Des Weiteren begegnet einem in der polnischen Literatur der Fall, dass als führender Vertreter der polnischen Neuen Musik insgesamt Lutoslawski angesehen wird, und als Protagonisten einer polnischen Avantgarde Penderecki und Gorecki: „Der schlagendste Beweis für die starke Position der polnischen Avantgarde aber ist das neue Werk eines Komponisten, der zwar früher nicht zu ihrem engsten Kreis gehörte, heute ihr aber mehr denn je nahesteht. Es handelt sich um die ,11. Symphonie' von Witold Lutoslawski. Seit Jahren mit Recht als der führende Vertreter der ganzen zeitgenössischen polnischen Musik angesehen, befand sich Lutoslawski bei dem Auftreten der Avantgarde in einer eigenartigen Situation. Von jeglichem Traditionalismus weit entfernt, wollte oder konnte er nicht so radikal wie Penderecki oder Gorecki sein, mit dem Ergebnis, daß er, weiterhin von höchster Achtung und Anerkennung umgeben, in den extremen Kreisen der Moderne weniger populär als seine jüngeren Kollegen war. Es wäre aber riskant zu behaupten, daß seine Kompositionen aus jener Zeit weniger fortschrittlich als die Werke der Wegbereiter der Avantgarde wären. Wahr indessen ist, daß Lutoslawski eine ganz andere Richtung verfolgte als sämtliche Komponisten der polnischen Avantgarde zusammen."180 Im deutschen Musikschrifttum finden sich solche Unterscheidungen nicht, sondern unabhängig davon, ob von „polnischer zeitgenössischer Musik", „polnischer Avantgarde" oder „polnischer Schule" die Rede ist, werden in der Regel dieselben Hauptvertreter genannt. In der polnischen Literatur zeigt sich außerdem ein gewisser zeitlicher Wandel bei den Aussagen zu führenden Vertreter. Bis 1959, dem Jahr von Pendereckis Debüt, wird Lutoslawski unangefochten als herausragendster Repräsentant der aktuellen polnischen Musik angesehen. Neben Lutoslawski werden weitere Komponisten der älteren Generation, wie Malawski, angeführt: „An der Spitze der zeitgenössischen Komponisten, deren Bemühungen sich auf neue musikalische Stilformen konzentrieren, steht Witold Lutoslawski."181

178 179

180 181

Chlopecki 00, S. 1. „Sposrod kompozytoröw starszego pokolenia najbardziej frapuj^c^ indywidualnosci^ pozostaje Boleslaw Szabelski, ktöry ζ niezwykl^ latwosci^ przyswoil sobie srodki nowoczesnej muzyki." Ludwik Erhardt, „Wspölczesnosc", in: Mwjyka polska. Informator\ hrsg. von Stefan Sledzinski, Krakau 1967, S. 183. Kaczynski 68, S. 11 f. Boguslaw Schaeffer, „Polen kommt ins Gespräch", in: Meies 25 (1958), Nr. 3, S. 86.

Zeitliche und personelle Bestimmung

63

„Prachtvoll erblühten jetzt die Talente: Artur Malawskis (1904-1957), Witold Lutoslawskis, der wahrscheinlich talentierteste der lebenden polnischen Komponisten [,..]."182

Dies ändert sich mit dem Auftreten der jüngeren Generation, welches dazu führt, dass mit Ausnahme Szabelskis zunächst keiner der älteren Komponisten mehr genannt wird. Erst ab dem „Warschauer Herbst" 1963 mit dem Werk Trais Poemes d'Henri Michaux nimmt Lutoslawski in den Augen der polnischen Kritiker anscheinend erneut eine fuhrende Stellung ein. Von nun an wird fast durchgehend für die Zeit bis 1976 die Troika Lutoslawski-Penderecki-Gorecki als die Spitze der polnischen Neuen Musik erwähnt. Ferner fallt auf, dass ab etwa 1966 Schaeffer stärker in den Vordergrund rückt, der zuvor eher eine Randfigur der polnischen Neuen Musik zu sein schien und mehr als Musiktheoretiker anerkannt war.183 Der stärkere Gebrauch von Begriffen wie „polnische Schule" und „polnische Avantgarde" bei den deutschen Autoren wirft die Frage auf, ob die polnischen Komponisten auch unabhängig von der Terminologie aus der Außensicht als eine einheitliche Gruppe wahrgenommen werden und inwieweit sich dies mit der polnischen Innensicht deckt. Tatsächlich nimmt die Diskussion darüber, ob bei den polnischen Komponisten die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede überwiegen und inwieweit es gerechtfertigt ist, von einem polnischen Nationalstil in der Musik zu sprechen, recht breiten Raum in der polnischen Literatur ein (26 Texte)184. Dabei wird stets die Heterogenität der polnischen Neuen Musik betont und auf die starke Individualität der einzelnen Komponisten hingewiesen: „Alle [polnischen] Werke, die dem Hörer [auf dem .Warschauer Herbst' 1959] präsentiert wurden, waren verschiedenartig, und gerade darin sehe ich ihren großen Wert. Jedes von ihnen brachte eine eigene kompositorische Fragestellung mit sich und strahlte eine andere Expression aus." 185

182

183 184

185

„Wspaniale rozkwitly teraz talenty: Artura Malawskiego (1904-1957), Witolda Lutosiawskiego, najbardziej chyba uzdolnionego ζ zyj^cych kompozytorow polskich [...].", Kisielewski 60, S. 2. Vgl. ζ. B. Bohdan Pilarski, „Notatnik festiwalowy II", in: Ruch Muyc^iy 10 (1966), Nr. 23, S. 12 f. Wilkowska 56/58, Spisak 57, Mycielski 58, Pilarski 59/62a, Pociej 60a/63, Zielmski 61/73, Patkowski 62, Kaczynski 66b/68, Tarnawska 71, Lissa 73/75, Chominski 74, Erhardt 74, Malinowski 74, Michalski 88, St^szewski 97, Szafradska 97, Berger 98, Chlopecki 00, Granat 03, G^siorowska 04. „Wszystkie dziela zaprezentowane sluchaczom byty röznorodne i w tym wlasnie upatruj? ich wielki walor. Kazde ζ nich przyniosio odr^bn^ problematyk? kompozytorsk^ i emanowato inn^ ekspresj^." Bohdan Pilarski, „Orfeusz na nowej drodze (.Warszawska Jesien' 1959)", in: Pr^eglqd Kulturalny 1959, Nr. 43; Nachdruck in: j\kice ο muigce, Warschau 1969, S. 29.

64

Textanalysen „Die neue polnische Musik [...] ist eine sehr weitläufige und vielfältige Erscheinung. Sie repräsentiert verschiedene stilistische Züge und verschiedene Grade des Engagements in der modernen Problematik."186 „In der von Görecki und Penderecki angebahnten Avantgarde gab es weder Deklarationen noch gemeinsames Handeln, und die Individualität der einzelnen Mitglieder der ,Gruppe' (das Wort,Gruppe' kann hier nur in Anführungszeichen gebraucht werden) trat schon von Anfang an in Erscheinung."187

Einige der Autoren beginnen daneben jedoch früh auch über gemeinsame Merkmale der polnischen Komponisten bzw. Besonderheiten der Neuen Musik Polens gegenüber derjenigen anderer Länder nachzudenken (14 Texte)188: „Es existieren zweifellos gewisse noch schwer wahrnehmbare Merkmale der polnischen zeitgenössischen Musik, ich strebe jedoch nicht danach, mich heute mit diesen Angelegenheiten zu beschäftigen."189 „Es ist schwierig über irgendeine prinzipielle, stilistische Eigenheit der neuen polnischen Musik zu sprechen, in dem Sinne, in dem wir von der Eigenheit der Wiener Schule oder sogar wenigstens des russischen .Häufleins' sprechen. Dennoch kann man gewisse charakteristische Merkmale finden, Merkmale, die bei uns stärker auftreten als im Schaffen anderer Länder."190 Selbst wenn polnische Kritiker Gemeinsamkeiten der polnischen Komponisten in Erwägung ziehen, lassen sie dabei die individuellen Unterschiede nicht unerwähnt: „Es ist schwierig für die Individualität Goreckis, Pendereckis und Szaloneks irgendeinen gemeinsamen ,nationalen Nenner' zu finden. (Vielleicht ist es dafür übrigens noch zu früh). Es sei denn wir nehmen als Kriterium eines nationalen Stils' eine gewisse Spontaneität, Antispekulativität, Expressivität oder emotionale Sättigung an."191

„Nowa muzyka polska (wbrew bezsensownemu zarzutowi przeriwniköw, ze sprowadza SIQ do jednego niepokoj^cego wzoru) jest zjawiskiem bardzo szerokim i roznorodnym. Reprezentuje rözne oblicza stylistyczne i rözny stopien zaangazowania w nowoczesn^ problematyk^." Tadeusz A. Zielmski, „Nowa sytuacja polskiej muzyki wspölczesnej", in: Ruch Musyaftij 5 (1961), Nr. 2, S. 3. 187 Kaczyhski 68, S. 7 f. 188 Wilkowska 56, Pociej 60a, Zielidski 61/73, Patkowski 62, Kaczynski 68, Tarnawska 71, Lissa 73/75, Erhardt 74, St?szewski 97, Chlopecki 00, Granat 03, G^siorowska 04. 189 „Istniej^ niew^tpliwie pewne trudno jeszcze uchwytne cechy polskiej muzyki wspölczesnej, nie tymi jednak sprawami pragn? si? dzisiaj zaj^c." Patkowski 62, S. 1. 190 „Trudno möwic ο jakiejs zasadniczej, styüstycznej odrgbnosci nowej muzyki polskiej, w tym sensie, w jakim möwimy ο odrgbnosci szkoly wiedenskiej czy chocby nawet rosyjskiej ,Gromadki'. Niemniej mozna znalezc pewne cechy charakterystyczne, cechy, ktöre silniej wyst^puj^ u nas niz w twörczosci innych krajow." Erhardt 74, S. 13. 191 „Trudno dla indywidualnosci Goreckiego, Pendereckiego i Szalonka znalezc jakis wspölny ,mianownik narodowy'. (Byc moze zreszt^ jeszcze na to za wczesnie). Chyba, ze za kryterium ,stylu narodowego' przyjmiemy pewn^. spontanicznosc, antyspekulacyjnosc, ekspresyjnosc, czy nasycenie emocjonalne." Pociej 60a, S. 10. 186

Zeitliche und personelle Bestimmung

65

„Wohl kann man hier von einer fortwirkenden nationalen Tradition der ästhetischen Einstellung als von dem Faden sprechen, der Vertreter verschiedener Kompositionstechniken verbindet, einer Einstellung, deren Gemeinsamkeit trotz aller unterschiedlicher Grundsätze in bezug auf Material und Konstruktion und trotz unterschiedlicher Musikformen und -gattungen unüberhörbar ist."192 Hier scheint sich zuweilen ein gewisser Zwiespalt der polnischen Autoren anzudeuten, die einerseits deutlich die Verschiedenartigkeit der polnischen Komponisten sehen und deren Einzigartigkeit würdigen wollen und andererseits die Besonderheit der polnischen Neuen Musik insgesamt durch das Unterstreichen bestimmter nationaler Eigenheiten betonen möchten. Manche Kritiker erklären gar die Vielfältigkeit der polnischen Musik zum Merkmal eines nationalen Stils: „Vielleicht ist das grundlegende Merkmal unseres nationalen Stils die Verschiedenartigkeit der Tendenzen, der Reichtum schöpferischer Einstellungen, die Höhe des .Mittelwerts'?"193 Mitunter begegnet man im polnischen Musikschrifttum schließlich der Meinung, dass sich seit den 50er Jahren ein Prozess der Individualisierung in der polnischen Musik vollzogen habe. Zu Beginn habe man noch gemeinsame Merkmale ausmachen können, doch im Laufe der Zeit habe die Wahrnehmung als eine Gruppe ihre Berechtigung verloren: „Aber vielleicht machte die polnische Avantgarde auf dem Festival [1966] deshalb den Eindruck von Abwesenheit, weil sie, einen höheren Grad der Individualisierung erreichend, aufgehört hat als Sammelbegriff zu existieren."194 „Ja, das waren tatsächlich Merkmale, die in einem gewissen Moment vielleicht irgendeine Besonderheit der polnischen Musik bildeten. Aber eben bildeten, und heute [1974] wahrscheinlich nicht mehr bilden. Heute schreibt man so oder anders."195 „Im Laufe der Zeit traten jedoch die interindividuellen, interpersonellen Unterschiede in den Vordergrund. Vom Standpunkt der allgemeinen Systemtheorie (Ludwig von Berta-

152 Lissa 73, S. 211. „Moze podstawow^. cech^ naszego stylu narodowego jest roznorodnosc tendencji, bogactwo postaw tworczych, wysoka ,przeci?tna'?" Krystyna Tarnawska-Kaczorowska, „Z perspektywy ,Ρίςίnastej' (I)", in: Ruch Muyicyiy 15 (1971), Nr. 24, S. 10. 194 „A moze polska awangarda robiia wrazenie nieobecnej na festiwalu dlatego, ze przestala istniec jako poj^cie zbiorowe, osi^gaj^c wyzszy stopied indywidualizacji?" Tadeusz Kaczyriski, „Jesien 66. Drugie rozpoznanie", in: RuchMu^/ic^ny 10 (1966), Nr. 23, S. 14. 195 „Tak, to rzeczywiscie byly cechy, ktöre w pewnym momencie moze tworzyly jakas odr^bnosc muzyki polskiej. Ale wlasnie tworzyly, a dzis chyba nie tworz^. Dzis tak pisz^ i inni." Erhardt 74, S. 14. 193

66

Textanalysen lanffy) aus gesehen kam es zu einer Individualisierung/Emanzipation der .Systemelemente'." 196

In der deutschen Literatur spielt die Frage der Homogenität der polnischen Neuen Musik eine weniger große Rolle. Nur in neun Texten197, von denen sechs von Dibelius stammen, äußern sich deutsche Autoren dazu und verweisen dabei in ähnlicher Weise wie die polnischen Berichterstatter einerseits auf die Individualität der Komponisten und andererseits auf übergeordnete Merkmale: „So viele Namen, so viele Arten sich auszudrücken. Und doch zieht durch alle diese Werke etwas Ungreifbares, das sie miteinander verbindet, einander zuordnet." 198 „Allen gemeinsam ist zunächst die Lust am Umgang mit neuen Farben, neuen technischen Verfahren und Formen. Erst danach teilen sich die Wege und Meinungen bis zu entgegengesetzten Positionen." 199

Im Allgemeinen scheint die Wahrnehmung als Gruppe aus der Fremdsicht jedoch fast eine Selbstverständlichkeit zu sein, denn in den übrigen Texten wird sofort zur Nennung von Gemeinsamkeiten der polnischen Komponisten übergegangen. Ein Grund für die unterschiedliche Gewichtung liegt sicherlich auch darin, dass die polnischen Autoren meist das gesamte polnische Musikleben im Blick haben, während die deutschen Kritiker oft lediglich die avantgardistischen Komponisten zu sehen scheinen. Dies rührt sicherlich auch daher, dass sie polnische Neue Musik in der Regel lediglich auf dem „Warschauer Herbst" rezipieren konnten und hier nur eine bestimmte Auswahl und insbesondere avantgardistische Kompositionen gespielt wurden. So erwähnen die polnischen Autoren beispielsweise immer wieder, dass weiterhin auch traditionelle Strömungen in Polen existieren: „Ungeachtet des Anscheins hat die Welle der Erneuerung und Radikalisierung nämlich nicht das gesamte kompositorische Milieu erfasst, obwohl die allgemeine Atmosphäre, das Verhalten der Kritik und sogar eine gewisse Privilegierung der experimentellen Werke ein psychisches Klima schaffen, das die Gegner als ,Terror der Avantgarde' beschreiben." 200

196

197 198 199 200

„Z biegiem czasu wyst^pily jednakowoz na pierwszy plan roznice interindywidualne, interpersonalne. Ζ punktu widzenia ogölnej teorii systemöw (Ludwig von Bertalanffy) doszlo do indywidualizacji-emancypacji ,elementöw systemu'." Berger 98, S. 28. Dibelius 63/64/66a/66c/67/88, Helm 65, Enke 72, Homma 90. Ulrich Dibelius, „Warschauer Herbst 1964", in: Musica 18 (1964), Nr. 6, S. 304. Ulrich Dibelius, Moderne Musik 11945-1965, (München Ί966), München 51991, S. 292. „Wbrew bowiem pozorom fala odnowy i radykalizacji srodköw nie obj?la calego srodowiska kompozytorskiego, choc ogolna atmosfera, stosunek krytyki, a nawet pewne uprzywilejowanie dziel eksperymentalnych, stwarzaly klimat psychiczny okreslony przez przeciwnikow jako ,terror awangardyV' Erhardt 67a, S. 185.

Differenzierungen

67

„[...] (Ich berücksichtige natürlich nicht die Positionen, die zeitgenössische Musik bleiben und nicht — nicht mehr oder noch nicht — neue Musik sind)."201

Außerdem verweisen die polnischen Autoren innerhalb der polnischen Neuen Musik, wie bereits im Zusammenhang mit Begriffen wie „polnische Schule" oder „polnische Avantgarde" erwähnt, immer wieder auf die Sonderrolle von Komponisten wie Lutoslawski, Baird oder Bacewicz: „Lutoslawskis ,Andersartigkeit' schließt nicht die seiner Kollegen aus. Ein Beispiel dafür ist Tadeusz Baird, der als einziger die ästhetische Tradition der .Wiener Schule' in Polen fortsetzt." 202

Die polnische Sichtweise ist somit auch in Hinblick auf die Gruppenwahrnehmung wesentlich differenzierter als die deutsche, wobei dies aufgrund der Nähe zum Gegenstand kaum verwunderlich ist. Die polnischen Kritiker hatten nicht nur die Möglichkeit, mehr Werke zu hören, sondern standen auch in engem Austausch mit den Komponisten. Zudem kann man vermutlich generell sagen, dass Gemeinsamkeiten eher von außen als von innen bemerkt werden: „Die Frage, was Nationalstil sei, wie er sich manifestiere, wurde in diesem Zusammenhang [der .Polnischen Woche' im Hessischen Rundfunk 1972] diskutiert: von einem polnischen Nationalstil spricht man außerhalb Polens mehr als im Lande selbst."203

2.3.

Differenzierungen

Ferner stellte sich die Frage, inwieweit von polnischer oder deutscher Seite weitere Einteilungen innerhalb der polnischen Neuen Musik vorgenommen werden. Eine Auffälligkeit der polnischen Literatur besteht etwa in der häufigen Unterscheidung von verschiedenen Generationen, die man in über einem Drittel der polnischen Texte antrifft (34 von 91 Texten)204. Auch wenn die Bezeichnungen bei den einzelnen Autoren variieren, lässt sich dabei eine weitgehende Übereinstimmung in der Zuordnung der Komponisten zu bestimmten Generationen feststellen (Abb. 5).

„[...] (nie bior? naturalnie pod uwagQ tych pozycji, ktöre, pozostaj^c muzyk^. wspökzesn% nie s^ juz lub jeszcze - muzyk^ nowq)." Bohdan Pociej, „Muzyka polska 1960 - czyli ο potrzebie, kierunkach i granicach nowatorstwa", in: Ruch Musyagiy 4 (1960), Nr. 21, S. 3. 2°2 Malinowski 74, S. 162. 203 Heinz Enke, „Aus Polen für Frankfurt: 1475 Minuten Musik. Eine .Polnische Woche' im Hessischen Rundfunk", in: Polish Musk / Polnische Musik 7 (1972), Nr. 2, S. 33. 20" Kisielewski 57/59/60/62, Pilarski 58/59/68, Pociej 58/60a, Wilkowska 58, Schaeffer 58/83, Biegadski 60, Zieliriski 61/73/74, Patkowski 62, Kaczydski 65/66a/66b/72, Erhardt 67a/78, Schiller 67, Jarocinski 69, Tarnawska 71, Dobrowolski 73, Lissa 73/75, Chominski 74, Baculewski 87, Michalski 88, Czekanowska 90, Helman 97. 201

68

Textanalysen

Kisielewski 57 Pilarski 58 Pociej 58 Wilkowska 58 Schaeffer 58 Kisielewski 59 Pilarski 59 Kisielewski 60 Pociej 60 Patkowski 62 Kaczyhski 65 Kaczynski 66a Hrhardt 67a Pilarski 68 Jarocinski 69 Tamawska 71 Kaczvnski 72 Dobrowolski 73 Zielüiski 73 Chommski 74 Zielmski 74 Lissa 75 Erhardt 78 Baculewski 87 Michalski 88

Generation Generation Szabelski Lutoslawski ältere alte mittlere alte mittlere ältere ältere mittlere ältere ältere ältere ältere ältere

Generation Generation Serocki Penderecki mitdere jüngste junge jüngste jung? jüngere jüngere mittlere jüngste mitdere

mitdere

Generation Krauze

junge jüngste i u n ge jüngste erste

jüngste zweite jüngste jüngste

ältere ältere ältere

mitdere jüngere

ältere ältere

mittlere mittlere junge mitdere jüngste

ältere ältere ältere

mitdere erste 3./4.

2.

junge 5.

jung« jüngste junge

junge jüngste mittlere 6.

jüngste 7.

ältere

Abb. 5: Übersicht über verschiedene Generationeneinteilungen im polnischen Textmaterial.

Die erste Generation der nach 1956 aktiven Komponisten stellt diejenige Boleslaw Szabelskis (1896-1979) dar. Zu ihr gehören vor allem noch Stanislaw Wiechowicz (1893-1963), Kazimierz Sikorski (1895-1986), Tadeusz Szeligowski (1896-1963) und Boleslaw Woytowicz (1899-1980). Sie alle wurden noch im 19. Jahrhundert geboren und begannen ihr kompositorisches Werk bereits vor dem Ersten Weltkrieg „gewissermaßen an der Seite Szymanowskis" 205 . Abgesehen von Szabelski beteiligten sie sich nach 1956 nicht an den stilistischen Erneuerungen, waren aber weiterhin dadurch von Bedeutung, dass viele von ihnen als Kompositionslehrer die nachfolgenden Generationen ausbildeten. Im polnischen Musikschrifttum werden sie durchgehend als die „alte" bzw. „ältere" Generation bezeichnet:

205

Bohdan Pilarski, „Muzyka Polska wczoraj i dzis", in: Feuilles Musicales 1958, Nr. 2-3, Nachdruck in: Pilarski, Bohdan, S^kice ο mu^yce, Warschau 1969, S. 11.

Differenzierungen

69

„Sie [Lutoslawski, Malawski und Bacewicz] stehen in scharfem Gegensatz zu den Musikern der alten Generation, die nur die Fortsetzung ihres Schaffens aus der Vorkriegsund Kriegszeit betreiben. Es handelt sich vor allem um Kazimierz Stkorski, Stanislaw Wiechowic^j Boleslaw SJabelskiund Boleslaw Woytowic^"206

Als nächstes schließt sich die Generation Lutoslawskis (1913-1994) an, zu der meist Piotr Perkowski (1901-1990), Artur Malawski (1904-1957), Roman Palester (19071989), Antoni Szalowski (1907-1973), Grazyna Bacewicz (1913-1969), Michal Spisak (1914-1965) und Andrzej Panufnik (1914-1991), aber auch Zygmunt Mycielski (1907-1987), Zbigniew Turski (1908-1979), Stefan Kisielewski (1911-1991) und Witold Rudzinski (1913-2004) gezählt werden. Diese Generation trat in den 1930er Jahren in Erscheinung und orientierte sich stark an Frankreich. Sie wird meist die „mittlere" Generation genannt und manchmal mit der vorhergehenden oder der nachfolgenden zusammengefasst: „Alle Komponisten der mittleren Generation begannen ihr Schaffen vor dem Krieg. Manche von ihnen, wie Szalowski oder Lutoslawski, hatten damals schon wichtige Errungenschaften. [...] Es hätte Zeit dazu da sein sollen, dass der Stil hätte erstarken und seine Besonderheit vor dem Hintergrund der internationalen Musik zeigen können. Doch genau in diesem verheißungsvollen Moment kam der Krieg." 207

Es folgt eine dritte Generation, deren Vertreter u. a. Andrzej Dobrowolski (19211990), Kazimierz Serocki (1922-1981), Zbigniew Wiszniewski (1922-1999), Krystyna Moszumanska-Nazar (geb. 1924), Wlodzimierz Kotonski (geb. 1925), Jan Krenz (geb. 1926) und Tadeusz Baird (1928-1981) sind. Sie alle erhielten ihre Ausbildung während oder nach dem Zweiten Weltkrieg, studierten ebenfalls häufig in Frankreich und debütierten bereits vor 1956. Ihr Schaffen ist meist durch mehrere Phasen gekennzeichnet, in denen sie sich mit den neuen Möglichkeiten nach 1956 auseinandersetzten. In der Literatur werden sie je nach Bezeichnung der übrigen Generationen und in Abhängigkeit von der Entstehungszeit des jeweiligen Textes sowohl „junge" als auch „mitdere" Generation genannt: „[...] wie auch bei den jüngeren, nicht weniger talentierten - Tadeusz Baird, Kazimierz Serocki, Wojciech Kilar — deren Reife in den für unsere Kultur nicht allerbesten Zeitraum der sog. ,Fehler und Entstellungen' fiel." 208 2