Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion: Zur Gründung in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion [1 ed.] 9783428487370, 9783428087372

Die Frage nach dem Grund ist nicht nur eine zentrale Thematik des Heideggerschen Denkens, sondern auch der zeitgenössisc

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Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion: Zur Gründung in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion [1 ed.]
 9783428487370, 9783428087372

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DANIELA NEU

Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion

Philosophische Schriften Band 20

Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion Zur Gründung in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie" unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion

Von

Daniela Neu

Duncker & Bumblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Neu, Daniela: Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion : zur Gründung in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie" unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion I von Daniela Neu. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Philosophische Schriften ; Bd. 20) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08737-2 NE:GT

D25 Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08737-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Für Linda im Andenken an Helmut

EIN DRÖHNEN: es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber Paul Celan

Vorwort Zu diesem Buch gehört, wie zu jedem anderen, die Geschichte seines Entstehens. Diese vereinigt weitaus mehr Personen als die Autorin und diejenigen, über die sie schreibt. Ich möchte deshalb allen jenen danken, die mir bei der Ausarbeitung dieses Buches behilflich waren. Im besonderen danke ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, der meine Arbeit betreut und mir in seinen Seminaren über Heideggers Beiträge zur Philosophie hilfreiche Anregungen und Einsichten vermittelt hat. Viele Fragen und Gedanken, die in diesem Buch Gestalt gefunden haben, entstanden ferner in Gesprächen mit mitphilosophierenden Freunden. Ich danke vor allem meinen Freunden und Freundinnen unseres Freiburger philosophischen Arbeitskreises: Paola Coriando, Antje Heinemeier, Natalie Knapp, Alfred Knödler, Stephan Koban, Mark Michalski und Christian Müller, die mir, wie auch Thomas Stäcker, zum Teil auch bei den Korrekturen geholfen haben. Ein ganz wesentlicher Ort des Fragens und Denkens ist mir in den letzten sechs Jahren zudem das all sommerlich tagende Collegium Phaenomenologicum in Perugia gewesen. Weiterhin geht mein Dank an Cordula Bänziger, Shu Ching Ho und meine Mutter, Linda Neu, für ihren persönlichen Beistand. Der Landesgraduiertenförderung Baden-Württembergs danke ich für die finanzielle Förderung dieser Arbeit. Freiburg, 14. März 1996

Daniela Neu

Inhaltsverzeichnis A. Vorbereitender Teil § 1.

Thema und Aufbau der Untersuchungen ......................... 17

§ 2.

Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik .............. 26 a) Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 d) Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 e) Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

f) Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

g) Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

§ 3.

Die Bestimmung des Wesens des Grundes aus der ekstatisch-horizontal sichzeitigenden Transzendenz des Daseins ........................ 53 a) Wahrheit als Erschlossenheit .... _ .......................... 55 b) Transzendenz und In-der-Welt-sein .......................... 59 c) Die Freiheit zum Grunde als stiftend boden-nehmendes Be-gründen .... 65 d) Die ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit als das Sichzeitigen der Freiheit zum Grunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 e) Der Ab-grund als nichthafter Ursprung im nichtigen Gründen der Freiheit zum Grunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

§ 4.

Der Wandel vom transzendental-horizontal bestimmten Wesen des Grundes zum seynsgeschichtlichen Gründen der Wahrheit des Seyns ............ 95 a) Zur Problematik der Kehre: Die Kehre im Ereignis ............... 95 b) Das Versagen im zureichenden Sagen der Kehre von Sein und Zeit . ... 98 c) Der Sprung in die Wahrheit des Seyns ....................... 104 d) Die ursprünglichere Einfügung in die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . .. 110

\0

Inhaltsverzeichnis e) Zusammenfassung: Die wachsende Abgründigkeit der Seinsfrage. Der Sprung in den Abgrund und die Notwendigkeit der Gründung aus der Not der Seinsverlassenheit ................................ 114

B. Hauptteil Erster Abschnitt: Die Gründung der Wahrheit des Seyns I.

Das Geitige des Ereignis-Denkens ........................... 116

§ 5.

Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)" ................... 116

a) Zum "Werkcharakter" der Beiträge ......................... 116 b) Die geschichtliche Gefügtheit der Beiträge .................... 121 c) Das Gefüge der Beiträge . ................................ 124 § 6.

Der Anklang ........................................... 132

a) Die Leitstimmung des Anklangs aus der einheitlichen Grundstimmung des andersanfänglichen Denkens: Verhaltenheit, Erschrecken und Scheu 132 b) Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 140 c) Machenschaft und Erlebnis ............................... 144 d) Das Riesenhafte ....................................... 148 § 7.

Das Zuspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149

a) Die Leitstimmung des Zuspiels: "Die Lust der fragenden wechselweisen Übersteigung der Anfänge" .......................... 149 b) Die übergängliche Aus-einander-setzung von erstem und anderem Anfang ............................................. 150 c) Das verwandelte Hereinstehen der Metaphysik in den Übergang ..... 154 d) Das Verhältnis von Anklang und Zuspiel zum Sprung ............ 157 § 8.

Der Sprung ............................................ 157

a) Der Sprung in das Seyn als Verweigerung .................... 157 b) Die Scheu als die Leitstimmung des Sprungs .................. 159 c) Der übergängliche, vorbereitende Charakter des Sprungs .......... 160 d) Die Zerklüftung des Seyns ............................... 162

Inhaltsverzeichnis I. Die Zugehörigkeit des ''Nicht'' zum Seyn in der Zerklüftung

II 163

2. Die weiteste Ausmessung der Zerklüftung im Bedürfen des Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen ...................... 166 e) Der Sprung in das Offene der Unentscheidbarkeit über die Götter und die Geschichte des Menschen. Der denkerische Sprung als der eigentlichste und weiteste .................................... 171

11.

Die Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 173

§ 9.

Die Fuge der Gründung ................................... 173

§ 10. Da-sein und Mensch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 177

a) Die Verwandlung des Wesens des Menschen .................. 177 b) Da-sein und Selbstsein .................................. 183 c) Die andersanfängliche Wesensbestimmung des Menschen auf dem Grunde des Da-seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 186 d) Die Zukünftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 191 § 11. Da-sein und Wahrheit des Seyns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 195

a) Da-sein als die sich öffnende Mitte in der Kehre des Ereignisses . . . .. 195 b) Das Wesen des Grundes im Wesen der Wahrheit ................ 197 § 12. Der Zeit-Raum als der Ab-grund ............................. 202

a) Der Ab-grund als die erste Wesung des Grundes ................ 202 b) Der Zeit-Raum als Augenblicksstätte der Entscheidung ............ 207 § 13. Das Ereignis als Ur-grund

111.

................................. 214

Die Bergung ........................................... 225

§ 14. Der Unterschied von Seyn und Seiendem . ....................... 225

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 232

a) Die Bergung als ausgezeichneter Bezug der Wahrheit des Seyns zum Seienden ........................................ 232 b) Der Streit von Welt und Erde ............................. 234 c) Das Seiende in der Entzweiung ............................ 236 d) Das schaffende und bewahrende Da-sein ...................... 236 f) Weisen der Bergung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 239

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise: "Der Ursprung des Kunstwerks" ............................................... 243

12

Inhaltsverzeichnis a) Die Kunstwerk-Abhandlung im Gefüge des Ereignisdenkens

243

b) Die Bergung im Zeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Der im Kunstwerk eröffnete Streit von Welt und Erde ............ 248 d) Das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit ...................... 254 e) Schaffen und Bewahren ................................. 258 f) Das Wesen der Kunst als Dichtung ......................... 262

g) Der Wesensentwurf des Kunstwerks im Übergang zum anderen Anfang 264 § 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding" .......................... 268

a) Der Vortrag "Das Ding" vor dem Hintergrund der Beiträge ........ 268 b) Das versammelnd ereignende Verweilen des Gevierts im Ding ...... 270 c) Die Welt als das Spiegel-Spiel des Gevierts ................... 276 d) Das Verhältnis von Ding und Welt gegenüber dem Streit von Welt und Erde ............................................... 278 § 18. Das schonende Wohnen im Geviert. "Bauen, Wohnen, Denken" ........ 281

a) Das Wohnen als der Grundzug des Menschseins ................ 281 b) Das schonende Wohnen im Geviert ......................... 284 c) Das schonende Wohnen als Aufenthalt bei den Dingen ............ 287 d) Die Radikalisierung der Bergung im Geviertsdenken ............. 292 § 19. Die Bergung im Leib ..................................... 295

a) Die Vormacht des Leibes in der Endzeit der Metaphysik .......... 295 b) Da-sein und Leiblichkeit ................................. 301 c) Die leibliche Dimensionalität des Da-seins .................... 305 § 20. Die Bergung im Wort. Dichten und Denken . ..................... 309

a) "... dichterisch wohnet der Mensch ... " ........................ 309 b) Sprach-Not und Erschweigung ............................. 313 c) Das Ereignis als Sage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 d) Das erdhafte Aufgehen der Sprache ......................... 318 e) Dichten und Denken .................................... 320 § 21. Gründendes Denken ...................................... 321

Inhaltsverzeichnis

13

Zweiter Abschnitt: Gründendes Denken und Dekonstruktion (Eine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida) § 22. Die Derridasche Dekonstruktion .............................. 327 § 23. Derridas Text. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 332

a) Der Einbruch der "Schrift" ............................... 332 b) Die differance ........................................ 338 c) Zur Derridaschen Dekonstruktion metaphysischer Texte ........... 342 § 24. Derrida / Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 344

a) Die Ambiguität der Heideggerschen Stellung zur Metaphysik ....... 344 b) Der Geist und sein Schatten .............................. 350 c) Mensch und Tier ...................................... 356 d) pneuma - spiritus - Geist / ruah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 358 § 25. Heidegger / Derrida ...................................... 361

a) Derrida und Nietzsche .................................. 361 b) Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsehe .................. 366 c) Derridas "desir" ....................................... 370 § 26. Der Wille zur Gründung ................................... 374

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 398

Siglenverzeichnis

A. Schriften von Martin Heidegger GA I - Gesamtausgabe (Bd 1- 65), Frankfurt a.M. 1975ff GA 65 (Aufschlüsselung im Literaturverzeichnis). N 1111

Nietzsche (2 Bde), Pfullingen 19895 •

ID

Identität und Differenz, Pfullingen 19868

SuZ

Sein und Zeit (Einzelausgabe), Tübingen 1979 15 •

SvG

Der Satz vom Grund, Pfullingen 19866 •

TuK

Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962.

UzSpr

Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 19868 •

VA

Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1985 5 •

VWdG Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt a. M. 1976. WhD

Was heißt Denken?, Tübingen 19844 •

ZS

Zollikoner Seminare, Frankfurt a.M. 1987.

ZuS

Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 19883 •

B. Schriften anderer Autoren (Für die vollständigen Angaben siehe das Literaturverzeichnis) De ver Thomas v. Aquin: Quaestiones Disputatae de Veritate. GD

Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, Sämtliche Werke Bd 6.

GdT

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke Bd I.

JvGuB

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Sämtliche Werke Bd 5.

KrV

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

M

Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie.

Siglenverzeichnis

15

Med

Rene Descartes: Meditationes de prima philosophia.

Met

Aristoteles: Metaphysik.

PdG

Georg Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1986.

Quodl.

Thomas v. Aquin: Quaestiones Quodlibetales.

Sent.

Thomas v. Aquin: Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi.

S.th.

Thomas v. Aquin: Summa Theologica.

V

Gottfried Wilhelm Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade.

WzM

Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte.

Z

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Sämtliche Werke, Bd 4.

A. Vorbereitender Teil § 1. Thema und Aufbau der Untersuchungen

"Die Notwendigkeit der GlÜndung im Zeitalter der Dekonstruktion" lautet der Titel dieser Arbeit, die sich vor allem im Horizont des Heideggerschen Denkens seit den 30er Jahren bewegt. Mit dem Schlagwort "Dekonstruktion" stellen sich die folgenden Ausführungen scheinbar zunächst nur in den Kontext einer zeitgenössischen philosophischen Strömung, die in Frankreich aus der Auseinandersetzung vor allem mit Nietzsche und Heidegger hervorgegangen ist. Es gehört jedoch zum Eigentümlichen dieser Strömung, daß ihr Strom sich schon in seinem Entspringen in eine unüberschaubare Zahl von Adern und Äderchen verzweigt, die es unmöglich machen, hier noch von einem einheitlichen Strom zu sprechen oder gar eine Definition von ihm liefern zu wollen. Wie jedes Schlagwort und jeder Name, der aus vielfachen Mündern gesprochen wird, bleibt auch der Begriff "Dekonstruktion" in seiner Vieldeutigkeit undurchdringbar. Gerade diese undurchdringbare Vieldeutigkeit soll auch in der Rede vom "Zeitalter der Dekonstruktion" anklingen. Die Pluralität der Lebensweisen, Landschaften, Ideologien, Meinungen und Religionen, die durch die interkontinentale kommunikative Vernetzung immer stärker hervorscheint, ist uns fern-sehenden Menschen des Abendlandes schon eine Selbstverständlichkeit geworden. Genauso selbstverständlich war es unseren Ahnen, die sich auf die Suche nach noch unentdeckten Ländern machten, daß ihre WeItsicht und ihre Religion eine "Wahrheit" und "Absolutheit" in sich tragen, die es als gerechtfertigt und moralisch wünschenswert erscheinen ließen, die ''unzivilisierten'' Völker der neu entdeckten Länder zur eigenen Wahrheit und Religion zu bekehren. Freilich lebt auch heute noch der unerschütterliche Glaube an die eigene "Wahrheit" und somit der Vorrang einer eigenen Religion oder Ideologie in einzelnen Menschen, Gruppierunge~ und Völkern fort. Auch heute noch nährt er hier und da mehr oder weniger gewaltsame Übergriffe auf Andersdenkende. Für den fern-sehenden Menschen des Abendlandes, der inzwischen den Untergang des Glaubens an eine einzige, alle Menschen umgreifende Ideologie, "Wahrheit" oder Religion schon nicht mehr als Verlust erlebt, sinken die verschiedentlich aufbegehrenden Verkündungen und Glauben an alte und neue 2 Neu

18

A. Vorbereitender Teil

Wahrheiten zu Adern und Äderchen jenes undurchdringlichen Gewebes, das unsere Zeit ausmacht, herab. Diesen Vorgang erfuhr und beschrieb Nietzsche als die Heraufkunft des Nihilismus. Er bedeutet den Verlust eines einigenden ersten oder letzten Grundes, der dem Dasein des Menschen Sinn und Ordnung verleiht. Sowohl Nietzsche als auch Heidegger sehen in diesem Verlust jedoch kein negatives Geschehen, sondern eine Chance zur Verwandlung des Menschseins, zu welcher eine Verwandlung dessen gehört, wie wir den Grund "des" Daseins erfahren und denken. Wie der Grund in der Metaphysik gedacht wird, steht mit dem im Zusammenhang, was Heidegger, vereinfacht gesagt, die Scheidung von Sein und Denken nennt: Das Denken tritt gewissermaßen aus seinen natürlichen, vortheoretischen Seinsbezügen heraus, stellt sich im weitesten Sinne vor das zu Denkende und befragt dieses nach seinem Sein (was und wie es ist). Dabei übersteigt dieses Sein das einzelne vergängliche Seiende. Das Sein des Seienden, als Grund gedacht, ist transzendent. Nur in dieser Abgehobenheit von der sinnlichen Erscheinungswelt und den natürlichen Seinsbezügen verbürgt der metaphysische Grund seine Beständigkeit und Anwesenheit. Wenn nun dieser metaphysische Grund für Nietzsche seine bindende Kraft verliert, fällt das Denken zurück auf die mannigfaltige Welt des Werdens und der sinnlichen Erscheinungen. Es fällt zurück auf sein erdhaftes Sein, nicht im Sinne eines metaphysischen Grundes, sondern eines Ab-grundes. Somit verliert das Sein seine Bestimmungen der Beständigkeit (Ewigkeit) und Anwesenheit. Es erweist sich als durch und durch endlich und entzieht sich jedem metaphysischen Zugriff. Im Rückwurf auf das abgründige Sein liegt zugleich die Notwendigkeit seiner Gründung; nicht der Auffindung eines neuen metaphysischen Grundes, sondern eines gründenden Seins durch den Vollzug, durch die Tat. Nietzsche antwortet dieser Notwendigkeit in der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Heidegger antwortet ihr durch die Gründung der Wahrheit des Seins im Da-sein. Radikaler noch als Nietzsche hat Heidegger, wie ich denke, in immer neuen Anläufen ein Denken gesucht und versucht, das sich selbst als gründendes begreift, das in sich lebendiger und leibhaftiger Vollzug ist, der so nah wie möglich an der Quelle bleibt, aus der die vielfältigen Seinsbezüge sich im Entzug erschließen. Mit Heideggers 1989 erschienenem zweiten Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) liegt erstmals der Versuch eines Gesamtentwurfs der Grundbezüge vor, in denen sich Heideggers gesamtes Denken nach der sogenannten "Kehre" vom fundamentalontologischen Denken zum seynsgeschicht-

§ I. Thema und Aufbau der Untersuchungen

19

lichen Denken bewegt. Diese Grundbezüge bilden in sich ein Gefüge, das in sechs in sich zusammengehörige "Fugen" unterteilt ist: "Anklang", "Zuspiel", "Sprung", "Gründung", "Die Zukünftigen", "Der letzte Gott". Die Anordnung der Fugen entspricht dem Gang des Übergangs vom ersten Anfang, der die ganze Geschichte der Metaphysik bestimmt, zum anderen Anfang, dessen Möglichkeit Heidegger mit Blick auf den griechischen Anfang unserer abendländischen Metaphysik und Kultur als den geschichtlichen Anfang eines Volkes bzw. Menschentums denkt, das aus diesem anderen Anfang seine Maße und Weisungen nimmt. Heideggers Denken versteht sich dabei selbst als vorbereitend, d.h. übergänglich und doch schon andersanfänglich gründend. Seine Antwort auf die Notwendigkeit einer Gründung schlägt sich also zum einen im unmittelbaren Vollzug seines Denkens nieder. Sie führt aber zum anderen zu dem groß angelegten Entwurf einer geschichtlichen Gründung der Wahrheit des Seyns im Da-sein, dessen bindende Kraft mehr und mehr maßgebend einem ganzen Volk die Bahnen seiner Entscheidungen öffnen soll. Angesichts unseres Zeitalters, das sich in eins mit einer interkontinentalen kommunikativen Vernetzung in eine Vielfalt von immer individuelleren Denkund Lebensweisen zerstreut, muß der Entwurf eines anderen geschichtlichen Anfangs als utopisch erscheinen. Aber dennoch scheinen sich hier und da Inseln zu formen, auf denen auch "Andersanfängliches" zum Blühen kommt, Seinsweisen, die nicht einfach der Machenschaft der neuzeitlichen Technik, wie Heidegger sie denkt, verfallen sind, Weisen auch eines gelassenen Umgangs mit der Technik, ohne der Gier einer sich steigernden Berechenbarkeit und Machbarkeit zu unterliegen, die den Strick der Seinsvergessenheit immer enger zieht. Selbst wenn ich Heidegger in die extreme Gegenüberstellung eines durch das Un-wesen der Technik durchherrschten Endes der Metaphysik und eines vorzubereitenden geschichtlichen anderen Anfangs eines Volkes nicht folgen kann, bleibt er, wie ich denke, jener Denker, der in der Frage nach dem Sein am tiefsten in dessen abgründiges Geheimnis gedrungen ist und - ohne das Geheimnis ans Licht zerren zu wollen - die Möglichkeit und Notwendigkeit seiner anfänglichen Gründung im Da-sein, so wie umgekehrt der Gründung des Daseins im abgründigen Sein, durchdacht hat. Weit davon entfernt, uns durch den Aufweis der Abgründigkeit des Seins, das sich als Entzug zeitigt, in einen Nihilismus zu versenken, zeigt Heidegger, wie im Abgrund des Seins ein Zuspruch waltet, dem wir immer schon so oder so geschichtlich entsprechen. Das abgründige Da-sein wird getragen und durchstimmt von einem in sich gegenschwingenden Geschehen von Zuspruch und Entsprechung, das Heidegger im Wort "Ereignis" denkt. Das Da-sein (das im seynsgeschichtlichen Denken nicht mehr primär mit Bezug auf den Menschen zu denken ist) ist selbst der gründend gegründete Zeit-Raum jenes Gegen-

2'

20

A. Vorbereitender Teil

schwingens, das nur durch eine Verwahrung seines abgründig Offenen in Wort, Tat und Werk offengehalten wird. Diese zwischen 1936 und 1938 in den Beiträgen zur Philosophie entworfenen Grundbezüge bestimmen unausdrücklich Heideggers öffentliche Schriften und Vorlesungen seit den 30er Jahren. In den Bahnen des hier Entworfenen bewegt sich nachweislich auch noch Heideggers spätestes Denken, das sogenannte topologische Denken. Daß Heidegger den Entwurf des Ereignisgefüges in seinen öffentlichen Schriften zurückgehalten hat, liegt offenbar daran, daß er seine Zeit noch nicht reif genug fand, das in den Beiträgen Niedergelegte in gemäßer Weise aufzunehmen. Er gab testamentarische Anweisungen, das Werk erst nach der Veröffentlichung aller seiner Vorlesungen herauszugeben. Einer Entscheidung des Sohnes von Martin Heidegger haben wir es zu verdanken, daß die Beiträge schon früher erscheinen konnten. Ich stütze mich in der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf die Frage nach dem Wesen des Grundes und der Notwendigkeit der Gründung in unserem Zeitalter in erster Linie auf diese grundlegende Schrift. Meine Ausführungen nehmen dabei auf weite Strecken die Form einer textimmanenten Auslegung an. Um besonders den Leser, der weniger mit Heidegger vertraut ist, nicht unvorbereitet mit dem sicherlich ungewöhnlichen Denken der Beiträge zu konfrontieren, habe ich dem Hauptteil einen vorbereitenden Teil vorweggestellt, in dem zunächst (§ 2) ein kurzer Rückblick darauf gegeben wird, wie in unserer metaphysischen Tradition das Wesen des Grundes bestimmt wurde. Im § 3 wird Heideggers Wesensbestimmung des Grundes im Umkreis des Denkens seines ersten Hauptwerks Sein und Zeit erörtert. Die Untersuchung ist mit Blick auf die Beiträge dahin ausgerichtet, zu zeigen, wie aus dem tieferen Eindringen in die Frage nach dem Wesen des Grundes Heideggers Wandel zum seynsgeschichtlichen Denken erfolgt. Es wird sich dabei nicht nur zeigen, daß schon im Umkreis von Sein und Zeit das Wesen des Grundes als ab-gründiges Gründen zu denken ist, sondern auch, daß hier bereits die Zweideutigkeit des Wesens des Grundes aufgewiesen werden kann, die (siehe den 187. Abschnitt der Beiträge) in Heideggers gesamtem Denkweg leitend bleibt: Das abgründige Gründen zeigt sich zum einen als das Sichzeitigen der ursprünglichen Wahrheit aus der ursprünglichen Verschlossenheit, wie sie im Sein zum Tode das Dasein durchdringt (in den Beiträgen wird dies vom Wesen der Wahrheit des Seyns her als gründender Grund gefaßt), zum anderen als nichtiges stiftend bodennehmendes Begründen (das ergründende Da-sein, der denkerische geworfene Entwurf). Im § 4 wird die berühmte "Kehre" Heideggers von der transzendental-horizontal angesetzten Frage nach dem Sein selbst und dem Wesen des Grundes in Sein und Zeit zur seynsgeschichtlichen Gründung der Wahrheit des Seyns

§ 1. Thema und Aufbau der Untersuchungen

21

thematisiert. Es handelt sich hierbei um einen aus der Abgründigkeit des Seins selbst sich ergebenden Wandel der Blickrichtung. Werden das Sein und das Wesen des Grundes im Umkreis von Sein und Zeit aus der Transzendenz des Daseins zum darin horizontal erschlossenen Sein überhaupt thematisiert, so wird im seynsgeschichtlichen Denken die Transzendenz gleichsam (aus der Perspektive der Metaphysik gesprochen) übersprungen und anfänglich aus dem Horizont, der sich als abgründig ereignender Grund erweist, im denkerischen Vollzug zur Sprache gebracht. Zu Beginn des ersten Kapitels des ersten Abschnitts des Hauptteils erfolgt nach einem groben Einblick in den Aufbau der Beiträge zur Philosophie (§ 5) ein detaillierter Durchgang durch die ersten drei "Fügungen" der Beiträge: Anklang (§ 6), Zuspiel (§ 7) und Sprung (§ 8) anband ausgewählter TextsteIlen. Der geschichtliche Gang des Übergangs von der Metaphysik zum andersanfänglichen Denken, in den das Denken der Beiträge, ihn mit eröffnend, eingebettet ist, beginnt mit einer Grunderfahrung. Nietzsehe nennt sie auch in der Rede des Todes Gottes, Heidegger faßt sie ursprünglicher als die Not der Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit des Seienden. Das Ausstehen dieser Not versetzt das von Schrecken und Scheu gestimmte Denken in einen offenen, ungeschützten Bereich (die Wahrheit des Seyns als Lichtung für das Sichverbergen), in dem es nicht nur erfährt, daß das Sein geschichtlich als Entzug seiner Wahrheit waltet, sondern auch, daß aus dem erfahrenen Fehl das Sein selbst als das Geschehen dieses Fehls anklingt. Im und aus dem Entzug des Seins ereignet ein lautloser Zuspruch oder Zuwurf das Da-sein, das diesem Zuspruch immer schon entspricht, bzw. das das Zugeworfene im Gegenwurf immer schon entworfen hat. Die Seinsvergessenheit wird aber zur nötigenden Not nur dann, wenn die Seinsverlassenheit als Grundgeschehnis der bisherigen abendländischen Geschichte erfahren wird. Dazu gehört die Einsicht in das, was Heidegger in den Anfängen des griechischen Denkens als den Einsturz der aletheia bedenkt, daß nämlich das Sichverbergen, das gleichwesentlich wie das Entbergen zum Wahrheitsgeschehen gehört, in Vergessenheit gerät. Zum Anklang der Wahrheit des Seyns aus der Not der Seinsvergessenheit gehört demnach das Zuspiel als die wechselseitige Zuweisung des ersten zum anderen Anfang (die Seinsvergessenheit ernötigt den Übergang zum anderen Anfang) und des anderen zum ersten Anfang (der andere Anfang eröffnet sich nur in der Besinnung auf den ersten Anfang). Aus dieser wechselseitigen Zuweisung erschließt sich erst das Erstanfängliche und das Andersanfängliche der anfänglich wesenden Wahrheit des Seyns. Mir wird es in meinen Ausführungen zum Zuspiel besonders um das Zwischenhafte des Übergangs gehen und darum, wie die Metaphysik noch in den Übergang hereinsteht und wie dennoch der andere Anfang das übergängliehe Denken maßgebend bestimmt.

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A. Vorbereitender Teil

Den Sprung begreift Heidegger als ein erstes Eindringen in den Bereich der Seynsgeschichte, der schon in Anklang und Zuspiel eröffnet wird. In ihm geschieht eigens die Übernahme des Eröffneten: Das Denken wird inständig im Da-sein. Es erspringt aus der Not der Seinsvergessenheit den Ab-grund (die "Zerklüftung") der Wahrheit des Seyns (des Ereignisses) selbst. Der Sprung in den Abgrund endet jedoch nicht im endlosen Fall; er läßt das Denken nicht durch den Sog des Nichts verschlingen. Stattdessen findet sich das Denken im abgründigen Schwingen eines Gegenschwungs wieder, gehalten und durchstimmt vom Ereignis als das gegenwendige Geschehen von Zuruf und Entsprechung, von ereignendem Zuwurf und ereignetem Entwurf. In der Fuge des Sprungs kommt die offene Wesung der Wahrheit des Seyns als Zerklüftung zu einer ersten Entfaltung. Sie wird im § 8 dieser Arbeit in zweifacher Hinsicht thematisiert: zum einen hinsichtlich der Zugehörigkeit des "Nichts" zum Seyn und zum anderen hinsichtlich der weitesten Ausmessung der Zerklüftung des Seyns im Bedürfen des Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen. Die Fuge der Gründung bildet das Kernstück innerhalb der Auslegung der Beiträge. Ausgang des interpretierenden Fragens ist das Da-sein, von dem aus als der Gründungsstätte, d.h. als dem Zeit-Raum des denkerischen Vollzugs, die vielfältigen Ereignisbezüge aufgewiesen werden. Nach einem Einblick in das Ganze der Fuge der Gründung und dem Hinweis auf die in ihr waltenden Grundbezüge (Zusammengehörigkeit von Wesen der Wahrheit des Seyns als gründendem Grund und (denkerische) Er-gründung durch die Inständigkeit im Da-sein) (§ 9), wird zunächst der Bezug von Da-sein und Mensch bedacht (§ 10). Zur Gründung der Wahrheit des Seyns im Da-sein gehört eine Verwandlung des Wesens des Menschen auf dem Grunde des Da-seins. Dazu gehört das inständige Ausstehen des Da-seins auch und gerade in seinem zwiefachen "Weg-sein", zum einen im Sinne der Verstellung des abgründig Offenen (Irre), zum anderen im Sinne des Offenhaltens der ursprünglichen Verbergung (Sein zum Tode). Das Menschsein wird in der Selbstwerdung des Da-seins ereignet, so daß in der selbsthaften Ereignung das Da-sein zum Eigentum der Wahrheit des Seyns ereignet wird. Das Bei-sieh-sein des im Da-sein gegründeten Menschen heißt dann gerade: zugehörig sein der Wahrheit des Seyns in ihrem Sichverbergen. Wird im Bezug von Da-sein und Mensch das Wesen des Grundes hinsichtlich der Er-gründung, also des Erreichens und der Übernahme des abgründig gründenden Grundes thematisiert, so kommt im § 11 der Bezug von Da-sein und Wahrheit des Seyns und damit primär der abgründig gründende Grund zur Sprache. Zunächst wird das Da-sein als die sich öffnende Mitte in der Kehre des Ereignisses entfaltet. Die Kehre des Ereignisses nennt nichts anderes als den Gegenschwung von Wahrheit des Seyns und Da-sein, demgemäß das Gründen zum einen tragend durchragend (von der Wahrheit des Seyns her) und

§ 1. Thema und Aufbau der Untersuchungen

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zum anderen stiftend entwerfend (vom Da-sein her) ist. Das Da-sein ist in der Kehre des Ereignisses also nicht als ein Gegenüber zur "Wahrheit des Seyns" vorzustellen, sondern als Zeit-Raum, der sich im Wesen der Wahrheit, also in der Lichtung für das Sichverbergen, öffnet. Diese ist somit der gründende Grund, in dem das Da-sein gründet und der wiederum selbst nur durch das stiftend entwerfende Da-sein gründet. Heideggers Herzstück innerhalb der Fuge der Gründung in den Beiträgen ist der 242. Abschnitt: "Der Zeit-Raum als der Ab-grund". Seinem Nachvollzug ist der § 12 der vorliegenden Arbeit gewidmet. Den Ab-grund als das Wegbleiben des gründenden Grundes durch die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit des Seienden nennt Heidegger die erste Wesung des Grundes. Im besagten 242. Abschnitt ergründet er jedoch auf minuziöse Weise, wie diese erste Wesung des Grundes nicht für sich stehen bleibt. Denn in der Versagung des Grundes im verhaltenen Da-sein geschieht eine erste Lichtung des Offenen (der Wahrheit) und in ihr eine geschichtliche Zuweisung. Im Ab-grund erschließt sich das Ereignis als Ur-grund. Das abgründige Sichlichten des Offenen wird als Zeitigung (Entrückung in das Sichversagen) und Räumung (Berückung in den Umhalt) entfaltet, als Gründung der Augenblicksstätte für die Entscheidung über die Geschichte der Götter und der Menschen zumal. Ich schließe das Kapitel der Gründung mit dem Versuch eines Durchblicks durch das Ganze der Gründung (das Ereignis als Ur-grund), wofür ich mich an den 267. Abschnitt "Das Seyn" aus dem letzten, das Ganze des Ereignis-Gefüges vertiefenden Teil der Beiträge halte (§ 13). Im zweiten Kapitel über die Gründung wird weitgehend jene Problematik ausgeschaltet, die Thema des dritten Kapitels ist: die zur Gründung gehörige Bergung (Verwahrung) der Wahrheit des Seyns in das Seiende. Es ist dies eine der schwierigsten Fragen in Heideggers Denken, weil hier die metaphysische Sprache und die traditionellen Denkgewohnheiten am unerbittlichsten an ihre Grenzen stoßen. Im seynsgeschichtlichen Denken der Beiträge verwandelt sich die ontologische Differenz, die dem metaphysischen Denken zugrunde liegt, in eine "Gleichzeitigkeit" von Sein und Seiendem. Fragt die Metaphysik im Ausgang vom Seienden nach seinem zugrundeliegenden Sein und faßt Heidegger noch in Sein und Zeit die Erschlossenheit von Sein als Bedingung der Möglichkeit für die Entdecktheit von Seiendem, ergründet er in den Beiträgen die gemeinsame Wurzel der Unterscheidung von Sein und Seiendem. Gleichwohl bleibt ein im Ereignis einbehaltener Unterschied zwischen Seyn und "Seiendem" erhalten. Das Seiende muß dabei vom Ereignis aus verwandelt gedacht und - was das Schwierigste bleibt - gesagt werden. Nach einer Erörterung der genannten Problematik im § 14 geht der § 15 dazu über aufzuzeigen, welche Stellung der Bergung im Ganzen des Ereignisgefüges zukommt. Es werden die verschiedenen Weisen der Bergung genannt, von denen Heidegger

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A. Vorbereitender Teil

spricht, sowie ihr Verhältnis untereinander. Dabei kommt es diesem mit Blick auf die notwendige geschichtliche Gründung des Wahrheit des Seyns im Dasein vor allem auf solche Weisen der Bergung an, die in einer ausgezeichneten Weise das abgründige Wahrheitsgeschehen offen halten. Dazu gehören die Bergung im Wort (Dichten und Denken) und im Kunstwerk überhaupt. Dies kommt vor allem in Heideggers Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerks, die in einer dritten Fassung zeitgleich mit den Beiträgen abgefaßt wurde, zur Sprache. Heidegger hat in dieser Abhandlung ausgeführt, was in den Beiträgen nur angedeutet blieb. Dazu gehört unter anderem die Verwandlung des Wesens der Wahrheit als Lichtung für das Sichverbergen (Urstreit) in den im Kunstwerk eröffneten Streit von Welt und Erde. Im § 16 meiner Arbeit wird also die Kunstwerk-Abhandlung vor dem Hintergrund der Beiträge und mit Absicht einer Erläuterung der darin behandelten Thematik der Gründung ausgelegt. Mit dem § 17 erfolgt der Übergang zu Heideggers Spätdenken. Der Unterschied von Sein und Seiendem wird hier gefaßt als Verhältnis von Welt und Ding. Die Welt wird dabei gedacht als das Geviert von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen. Es wird sich zeigen, wie sich Heideggers topologisches Denken noch ganz in den Bahnen des in den Beiträgen ergründeten Ereignisgefüges hält, daß es aber im denkerischen Vollzug und der sprachlichen Fassung gerade bezüglich der Bergung tiefer dringt als die Beiträge und die Kunstwerk-Abhandlung, weil im Spätdenken Heideggers die in den Beiträgen postulierte Gleichzeitigkeit von Seyn und Seiendem radikaler aus dem Vollzug gefaßt wird. Während der § 17 anband des Vortrags Das Ding (1949) vorwiegend das Verhältnis von Welt und Ding zur Darstellung bringt, um es abschließend dem in der Kunstwerk-Abhandlung entfalteten Streit von Welt und Erde gegenüberzustellen, wird im § 18 anband des Vortrags Bauen, Wohnen, Denken (1951) vor allem das Wohnen im Geviert als Aufenthalt bei den Dingen erörtert. Es ist auffallend, daß Heidegger nicht eigens von einer Bergung im Leib spricht und ihr keine längeren Ausführungen widmet. Sachgemäß muß aber bei jeder Bergungsweise auch die Leiblichkeit mitbedacht werden; denn zum einen impliziert die Verwandlung des Wesens des Menschen ein verwandeltes Verständnis seines Leib-seins, zum anderen geschieht alles bergende Schaffen und Bewahren auch leibhaft. Im § 19 gehe ich nicht nur der Frage nach, warum Heidegger die Leiblichkeit nicht ausführlicher behandelt, sondern versuche auch Ansätze eines andersanfänglichen Entwurfs des Leibseins herauszuarbeiten. Der Schwerpunkt wird dabei auf dem liegen, was ich die leibliche Dimensionalität des Da-seins nenne, die zusammen mit dem Wesen der Sprache alle Weisen des bergenden Da-seins durchzieht. Die Bergung im Wort ist Thema des § 20. Ihr, und mit ihr dem Dichten und Denken, eignet eine Vorrangstellung, die daraus zu verstehen ist, daß das

§ 1. Thema und Aufbau der Untersuchungen

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Ereignis selbst sprachlich verfaßt ist. Das Ereignis ereignet als die Sage. Dieser vennögen laut Heidegger das Dichten und das Denken durch die Bergung ihres lautlosen Rufs in das verlautende Wort auf je eigene Weise am ursprünglichsten zu entsprechen. Der erste Abschnitt des Hauptteils, in dem es um eine weitgehend textimmanente Auslegung des Wesens des Grundes und des gründenden Bergens im Ausgang von Heideggers Beiträgen zur Philosophie ging, endet mit dem § 21. In ihm werden nochmals die Bedenken aufgegriffen, die sich im Zuge der Auslegung gegenüber Heideggers Entwurf des geschichtlichen anderen Anfangs eines Volkes immer wieder meldeten. Mit dem zweiten Abschnitt des Hauptteils schwenken meine Untersuchungen zur Frage nach dem (Ab-)Grund und der Notwendigkeit der Gründung in einen zeitgenössischeren Kontext ein. In einer Auseinandersetzung mit J acques Derrida geht es mir in erster Linie darum, zu sehen, was in der Derridaschen Dekonstruktion geschieht und in wie weit in ihr Möglichkeiten eines gründend gegründeten Da-seins offen gehalten werden. Nach einer Einführung in die Derridasche Dekonstruktion (§ 22) wird versucht, Derridas Denken anband einiger seiner früheren Texte aus den 60er und 70er Jahren so getreu wie möglich nachzuzeichnen (§ 23). Ich wende mich dabei vor allem der dekonstruktiven Strategie zu, mit der Derrida die Grenzen des metaphysischen Diskurses zu verschieben und zu suspendieren versucht. Dadurch wird der metaphysisch begriffene Grund, der für Derrida dem Vorrang des Logos und der Präsenz entspringt, entmachtet. Er verliert seinen Anspruch einer letzten Fundierung. Die Bewegung der Verschiebung und Suspension benennt Derrida unter anderem mit dem berühmt gewordenen Begriffskonstrukt "differance" (statt difference). Von ihr werden nicht nur letzte Gründe, sondern jede Bedeutung getroffen, die nach der metaphysischen Sprach auffassung dem Bedeuten, also dem Sprachzeichen, zugrundeliegt. Durch die Verschiebung und Verzögerung der Signifikanten (mit Nietzsche gesagt: durch die Entwertung der obersten Werte) fällt die Bewegung des Bedeutens auf sich zurück, und es beginnt das Spiel unendlich aufeinander verweisender Signifikanten. Diese werden zu Spuren einer Ur-Spur (die dif!erance), die sich immer schon der metaphysischen Begrifflichkeit entzogen hat. Derrida entwickelt sein Denken vor allem auch in ständiger Auseinandersetzung mit Heidegger. In Heideggers Texten sieht Derrida einerseits die soeben geschilderte entgründende Bewegung der Verschiebung und Verzögerung der metaphysischen Grenzen am Werke, andererseits sieht er bei ihm eine machtvolle Wiedereinführung des metaphysischen Logozentrismus (§ 24). Derridas Dekonstruktion des Heideggerschen Textes zielt dabei auf die Dekonstruktion der im Ab-grund des Ereignisses geschehenden Ereignung, durch die eine "Nähe" zwischen Sein und Mensch "reinstauriert" wird.

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Im § 25 wird die bislang vorwiegend Derridasche Perspektive verlassen, um vor dem Hintergrund des seynsgeschichtlichen Denkens dem näher zu kommen, was in der Dekonstruktion geschieht. Der Weg dazu wird über Heideggers Nietzsche-Auslegung führen. Derzufolge verwandelt sich der Nietzschesche Wille zur Macht, ins Äußerste gedacht, zum Willen zum Willen als dem Wesen der Wahrheit des Seienden in der Endzeit der Metaphysik. Wir werden sehen, wie sich die Derridasche Dekonstruktion als eine Ausformung des Willens zum Willen lesen läßt, mehr noch: daß in seinem dekonstruktiven Verfahren die Gefahr eines Ausschlusses von der Möglichkeit eines anfänglich gründenden Da-seins liegt. Der abschließende § 26 öffnet diesen scheinbar letzten Urteilsspruch über Derridas Denken wieder. Mit Blick auf die Bewegung der differance wird die Offenheit zum schlechthin Anderen betont, die dabei stets mitbedacht werden muß, sowie Derridas Postulat, daß die differance niemals eine bedeutungsregulierende Funktion übernehmen kann. Die differance ist weder Sinn- noch Unsinn-stiftend. Deshalb kann sie keinen Grund für Entscheidungen hergeben. Im Gegenteil weist sie uns ständig darauf hin, daß es kein (letztes) Signifikat gibt, auf Grund dessen gerechte (richtige) Entscheidungen möglich sind. Ich stütze mich für die Frage nach der Gerechtigkeit und nach gerechten Entscheidungen auf Derridas Text: Gesetzeskraft: Der "mystische Grund der Autorität" von 1990 und versuche zu zeigen, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen Heideggers und Derridas Denken darin liegt, daß Heidegger in der Entscheidung denkt, hingegen Derrida sich im Vorfeld eines entscheidungshaften, also gründenden Denkens bewegt und lediglich darauf weisen kann, daß es für Entscheidungen keinen gesicherten Grund gibt. Derrida stellt uns dadurch aber immer wieder vor die Ab-gründigkeit alles wesentlichen Handeins. Er kann uns, so gesehen, auch helfen, ernst zu machen mit der Anerkenntnis der Seinsverlassenheit des Seienden und so Möglichkeiten eines anfänglich gründenden Daseins offen zu halten. § 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

Heideggers anfängliche Wesensbestimmung des Grundes und der Gründung unterscheidet sich wesenhaft von der Bestimmung des Grundes in der Metaphysik. Wird die Bestimmung des Grundes alles Seienden in der Metaphysik im Ausgang vom Seienden erfragt, bestimmt sich bei Heidegger das Wesen des Grundes, wie wir sehen werden, aus dem Wesen der Wahrheit des Seins selbst als einem in sich einigen Entbergungs-Verbergungsgeschehen. Die metaphysische Bestimmung von Sein, Grund und Wahrheit im Ausgang vom Seienden begründet sich, wie Heidegger zeigt, im Denken von Aristoteles und Platon und

§ 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

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entfaltet sich aus einem anfänglichen Geschehen, das schon bei den Vorsokratikern einsetzt: das Auseinandertreten von Sein und Denken. Das Sein wurde bei den Griechen als physis erfahren. Diese übersetzt Heidegger mit: aufgehend verweilendes Walten. Im Aufgehen der physis erscheint anfänglich Seiendes als solches, tritt es für ein Vernehmen hervor ins Offene seiner Wahrheit, in die a-letheia, wörtlich: die Un-verborgenheit. So war denn die Grundstimmung, die das griechische Denken bestimmte, das Erstaunen. In diesem Erstaunen war es die eigenste Not der Griechen, das Seiende im Offenen seines Waltens zu halten, im Gegenhalt zum Werden (in dem es sich entzieht und wieder in das Nichtsein herabsinkt) und zum Schein (der das unverborgene Seiende verstellt), um dabei selbst einen Stand und eine Ständigkeit inmitten des Seienden zu gewinnen. Das Wesen des Menschen und des Denkens gestaltet sich also gewissermaßen im Heraustreten aus dem Sein (der überwältigenden physis), so daß es sich von diesem scheidet und sich scheidend vor das dadurch hervortretende Seiende bringt und hält. Das Sein des Seienden wird so erfahren und gedacht als beständige Anwesenheit.' Sich vor das Seiende stellend, gestaltet sich das Denken im weitesten Sinne als ein vor-stellendes, welches das Sein des Seienden hinsichtlich seiner Existenz (daß es ist) und seiner Wesensbeschaffenheit (was es ist) befragt. So fragend wird das Sein selbst zum im weitesten Sinne Vor-gestellten. Im Unterschied zum Sein selbst, wie es aus dem entbergend verbergenden Wahrheitsgeschehen erfahren wird, nennt Heidegger dieses vorgestellte Sein auch Seiendheit. Die ursprüngliche Wesensbestimmung des Grundes ist jedoch im ursprünglichen Wahrheitsgeschehen des Seins selbst zu suchen, noch ''bevor'' das Denken sich dem Seienden in seiner Seiendheit gegenüberstellt. Sie ist zu suchen im Entspringen der Scheidung von Seiendheit und Denken im Sichverbergen der Wahrheit des Seins. In der metaphysischen Bestimmung des Seins des Seienden drängt sich hingegen vor das Geschehnis der Gründung der Grund als Bestimmung der Seiendheit selbst, die den Charakter der beständigen Anwesenheit hat. Das Sein als Gründungsgeschehen, zu dem gerade auch das sich Verbergen gehört, gerät in Vergessenheit. Die nun folgende Darlegung der Wesensbestimmungen des Grundes in der Metaphysik zeigt an maßgebenden metaphysischen Denkern, wie sich diese Bestimmungen im Laufe der Geschichte wandeln und dabei stets getragen bleiben von der Scheidung von Seiendheit und Denken. Diese entspringt dem Geschehen des Seins selbst, das im Wie seines Waltens sein anfängliches Wesen zugunsten des anwesenden Seienden entzieht. Heidegger denkt die

I Siehe zu diesem anfänglichen Wesungsgeschehen insbes. das 4. Kapitel von Heideggers Vorlesung: Einführung in die Metaphysik, GA 40.

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metaphysische Seinsgeschichte aus der wachsenden Scheidung von Seiendheit und Denken als ein immer tieferes Sichentfernen vom Ursprung, bis in unserer Zeit die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit in ein Äußerstes gerät und das Denken wieder in ein anfängliches Gründen nötigt. Wir beginnen unsere Erörterung der Wesensbestimmungen des Grundes in der Metaphysik mit demjenigen Denker, der zuerst ausdrücklich nach dem Seienden als solchem (in seiner Seiendheit) gefragt hat: mit Aristoteles. a) Aristoteles Es gibt eine Wissenschaft, sagt Aristoteles in der Metaphysik 2 (Met. IV.1.l003a), die das Seiende als Seiendes (on he on) und das demselben an sich Zukommende untersucht. Sie geht deshalb allen anderen Wissenschaften, die jeweils das Seiende in bestimmten Hinsichten behandeln, voraus. Diese erste Wissenschaft (prote philosophia) wurde in der Folgezeit Metaphysik genannt. Sie untersucht die ersten Prinzipien (arche) und ersten Ursachen (aitia) des Seienden als solchen. Denn das Seiende wird wohl in vielfachen Bedeutungen ausgesagt (to on legetai pollachos; ebd. l003b, 5), doch stets in Beziehung auf ein Prinzip. Dieses wird definiert als ein Erstes (proton), wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird (Met. V.1.l013a,16ff). Das erste Prinzip wird von Aristoteles in zweifacher Hinsicht thematisiert: Zum einen hinsichtlich der ousia, des 'Wesens" des Seienden. Die ousia antwortet auf die Frage, was das Seiende ist (ti to on; Met.VII.1.l028b,4) und zwar insofern es seiend ist. Zum anderen hinsichtlich des ersten unbewegten Bewegers als dem vorzüglichsten Seienden, nämlich Gott, dessen Notwendigkeit von Aristoteles im XII. Buch der 'Metaphysik' bewiesen wird. Ich werde mich im folgenden auf Aristoteles' Untersuchung der ousia beschränken. Die ousia, die Seiendheit des Seienden, ist die arche, von der her das Seiende in seinem Was- und Wiese in vernommen wird. Sie ist das erste, was mir gegeben sein muß, wenn ich etwas erkenne und eine Aussage über etwas mache. So muß mir, wenn ich z.B. sage: ''Dieser Baum ist klein", der Baum im vorhinein schon als Baum, d.i. der Baum in seinem Was- und Wiesein, verständlich und in dieser vorgängigen Verständlichkeit offenbar sein. Der Baum als Baum, d.i. die Seiendheit des Baumes, wird dabei erfahren als beständig Anwesendes, an dem sich aller Wechsel der Bestimmungen erst vollziehen kann. Die Seiendheit des Seienden, erfahren und verstanden als beständige Anwe-

2 Aristoteles' Metaphysik, grJdt., übers. v. Hermann Boniz, Hrsg. Horst Seidl, 2 Bde, Harnburg 1982.

§ 2. Die Wesens bestimmung des Grundes in der Metaphysik

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senheit, ist als das erste Prinzip (arche) der Grund, nach dem gefragt wird, wenn das Seiende als solches zum Thema der Metaphysik wird. Sie ist zugleich als das im Seienden Zugrunde liegende (hypokeimenon; vgl. Met. VII.3.1028b,35ff) der Grund, von dem aus sich das Fragen nach dem Seienden erst in vielfache Hinsichten entfalten kann. Konkreter Ausgangspunkt des Fragens bleibt dabei das zunächst mir faktisch vorliegende Seiende, nach dessen Wesensgrund (ousia) ich frage und der bei Aristoteles als meinem Fragen zugrundeliegender erfahren und gedacht wird. Wir müssen einen zweifachen Blick auf die Seiendheit des Seienden gewinnen: Die ousia ist zum einen die Grundbestimmung des Seienden selbst, zum anderen ist sie diesfor das Fragen nach dem Seienden als solchen. Wenn aber Aristoteles die ousia als arche und hypokeimenon bestimmt, so ist diese Bestimmung geleitet vom legein als dem "Aussagen" bzw. Ansprechen des Seienden. Denn die ousia ist als hypokeimenon das, was im Sprechen über etwas bzw. im Ansprechen von etwas je schon für dieses anwesend ist (vgl. Heidegger, GA 19, S.224). Das Seiende wird, so beginnt Aristoteles im VII. Buch der Metaphysik seine Erörterungen über die ousia, in vielfacher Bedeutung ausgesagt. In diesem vielfachen Aussagen liegt zugleich die Möglichkeit der Täuschung. Entsprechendes gilt auch für das Denken (dianoia), das sich bei Aristoteles (und folglich in der Metaphysik überhaupt) auf dem Grunde des logos, nämlich des Besprechens von etwas als etwas, vollzieht. Daraus ist zu entnehmen, daß das Falsche (pseudos) und das Wahre (alethes) nicht in den Dingen liegen, sondern im Denken (Met. VI.4.1027b,25ff; vgl. auch Met. IX.1O.1051b). Genauer besehen liegen sie im "als", wenn ich ein Seiendes als das, was es ist oder nicht ist bzw. in seiner wechselnden Beschaffenheit anspreche. Es kann nämlich immer sein, daß ein Seiendes nicht das ist, als was ich es in der Aussage bestimme. Der Baum, von dem ich sage, daß er klein ist, scheint mir vielleicht nur so klein, weil ich ihn aus der Ferne betrachte, oder er ist in Wahrheit gar kein Baum, sondern ein Busch. Wird in der Metaphysik nach dem Seienden als solchem gefragt, so geht es dabei offenbar darum, das Seiende als solches in seiner Wahrheit zu erkunden. Es geht also darum, daß das "als" das Seiende in seiner Wahrheit erschließt als das, was es und wie es an ihm selbst ist. Der ursprüngliche Sinn von Wahrheit betrifft also das Seiende selbst in seiner Offenbarkeit bzw. Unverdecktheit für ein Vernehmen, was schon im griechischen Wort a-Ietheia, Un-verborgenheit, zur Sprache kommt. Das philosophische Erschließen und Erkennen muß wahr sein, heißt folglich: es muß das Seiende als solches, wie es an ihm selbst ist, aufdecken. Der Aussagewahrheit geht also die je schon vorgängige Unverborgenheit des Seienden für ein Vernehmen voraus, was in die ursprünglichere Zusammengehörigkeit von Sein und Denken weist, auf Grund derer sich die

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Scheidung von Sein und Denken im Sinne von Seiendheit und logos erst vollzieht und vollziehen kann, so daß der logos sich vor das Seiende bringt und dieses als solches anspricht. Die vorgängige Unverborgenheit des Seienden für ein Vernehmen ist der Grund dafür, daß wir etwas als etwas ansprechen können, so daß dieses Ansprechen das Seiende an ihm selbst in seiner Wahrheit sehen läßt oder es verdeckt. 3 In seiner Sophistes-Vorlesung (GA 19) zeigt Heidegger, wie bei Aristoteles die primäre Weise des Aufdeckens (aletheuein) nicht durch den logos vollzogen wird, sondern im noein als dem "schlichten Aufdecken" (ebd. S.183) oder auch "reinen Hinsehen" (ebd. S.l80), das kein legein, also kein Ansprechen von etwas als etwas ist. Der logos ist an sich nicht schon darauf eingestellt, aletheuein, also wahr zu sein, "sondern nur ein ganz bestimmter logos ist logos apophantikos" (ebd.), d.i. ein solcher logos, der aufweisend das, wovon die Rede ist, von ihm selbst her sehen läßt (v gl. SuZ § 7, S.32). Dem noein, bzw. dem nous (''Vernunft'') kommt dagegen das höchste Aufdecken zu, welches auch das erste Prinzip alles Seienden, nämlich den Gott berührend und erfassend aufdeckt und dadurch selbst in gewisser Weise göttlich ist. Da aber dem Menschen in ausgezeichneter Weise der logos eignet, weshalb Aristoteles das Wesen des Menschen als zoon logon echon bestimmt, bewegt sich das menschliche Verhalten zunächst und zumeist nicht im noein, sondern im dianoein, im ''Durchsprechen'' (Heidegger, GA 19, S.179) (man übersetzt gewöhnlich ''Denken''), das zugleich ein legein ist. Dieser im Wesen des Menschen angelegten Vorrang des logos bewirkt, daß Aristoteles in seiner Frage nach dem Sein des Seienden am logos orientiert bleibt, was zur Folge hat, daß künftig dieser als Aussage zur alleinigen Stätte der Wahrheit wird. Blicken wir zurück auf das, was einführend zu Heideggers Auslegung des Seins und der Wahrheit im erstanfänglichen Geschehen bei den Vorsokratikern gesagt wurde, so können wir zumindest ahnen, daß im nous des Aristoteles noch die aletheia in ihrer ursprünglichen Bedeutung der vorgängigen Unverborgenheit des Seienden anklingt, hingegen jedoch der primäre Leitfaden des logos die Scheidung von Sein und Denken befördert, so daß das Sein im Ausgang vom Seienden als Seiendheit gefaßt zum Grund (arche, hupokeimenon) für den logos und das dianoein (Denken) wird.

3 Der ursplÜngliche Sinn der aletheia wurde erstmals von Heidegger freigelegt. In dieser AusdlÜcklichkeit wurde er von Aristoteles nicht fonnuliert, wenngleich Heidegger ihn gerade in Auseinandersetzung mit Aristoteles (Sein und Zeit) und mit den Vorsokratikern (GA 40) zu gewinnen vennochte.

§ 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

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b) Thomas von Aquin Selbiges Verhältnis finden wir im Mittelalter wieder, wenngleich in abgewandelter Weise. Ich wende mich für die Frage nach den Bestimmungen von Grund und Denken im Mittelalter an Thomas von Aquin, zumal Aristoteles für Thomas eine maßgebliche Rolle spielt. Im Mittelalter und namentlich bei Thomas von Aquin ist Gott als der ewige Schöpfer erste Ursache und damit erstes Prinzip alles Seienden. In ihm als dem summum ens (dem höchsten Seienden) liegt die essentia (das "Wesen", das Was sein) und die existentia (das "Dasein", das Daßsein) alles Seienden begründet, und er steht somit für die Seiendheit des Seienden. Er ist der Schöpfer des Menschen, der als animal rationale (vernunftbegabtes Lebewesen) definiert wird, und damit sowohl Schöpfer der menschlichen Vernunft als auch Schöpfer der Dinge, die die menschliche Vernunft wahrnimmt und versteht. Im Hinblick auf dieses Schöpfungsverhältnis gibt sich für das Denken eine zweifache Bedeutung des Seienden (ens) und des Seins (esse), jeweils eine "ontologische" und eine "logische". So schreibt Thomas in der Summa Theologica 4 , und zwar mit Berufung auf Aristoteles (Met. IV.7.): '''Seiend' wird in doppeltem Sinne gebraucht (Aristoteles). Einmal, insofern es die Seinsheit des Dinges bezeichnet, wie sie durch die zehn Seinsweisen eingeteilt wird: und so ist es mit 'Ding' vertauschbar. [...] In anderer Weise spricht man von 'seiend', insofern es die Wahrheit eines Satzes bezeichnet, die in der Zusammensetzung liegt und deren Kennzeichen das Wort 'ist' darstellt: und das ist das 'seiend', das Antwort gibt auf die Frage, ob etwas ist."5

Zur doppelten Bedeutung von esse heißt es: "Das Zeitwort 'Sein' findet sich in zweierlei Bedeutung vor. Einmal bezeichnet es das Sein [=Da-sein] als Verwirklicht-sein (oder: als Wirklich-sein). Zweitens wird es gebraucht, um die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat eines Satzes herzustellen, der als solcher nur im Denken Sein hat."6

Die ontologische Bedeutung von ens (seiend, Seiendes) und esse ist offenbar in Hinblick auf das Seiende selbst in seinem Sein gewonnen. Als ens ist das

Für die vollständige Angabe siehe das Literaturverzeichnis. 5 S.th. I. 48. 2 ad 2: ''[... ] ens dupliciter dicitur. Uno modo, sec und um quod significat entitatem rei, praut dividitur per decem praedicamenta: et sic convertitur cum re. [...] Alio modo dicitur ens, quod significat veritatem propositionis, quae in compositione consistit, cujus nota est hoc verbum 'est': et hoc est ens quod respondetur ad quaestionem: an est?" 6 S.th. I. 3. 4 ad 2: "Esse dupliciter dicitur: uno modo, significat actum essendi; alio modo, significat compositionem prapositionis, quam anima adinvenit conjungens praedicatum subjecto." 4

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Seiende ein Seiendes sofern es seiend, d.h. nicht nicht ist. Das esse des ens nennt ontologisch sowohl seine Washeit als auch seine Wirklichkeit bzw. sein Lebendigsein7• Dagegen wird die logische Bedeutung von ens und esse aus der Sicht des aussagenden Denkens gewonnen. Das ens nennt in der Aussage das 'ist', das auf die Frage antwortet, ob etwas ist, z.B.: ''Der Baum ist." Eine solche Aussage impliziert ihre Wahrheit. Mit dem esse wird von etwas ausgesagt, was und wie es ist, z.B.: ''Der Baum ist grün." Es handelt sich hierbei um die uns geläufige Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, die im Denken vollzogen wird, das sich wohlbemerkt dabei auf dieselben Dinge (im weitesten Sinne) bezieht, die ich auch im ontologischen Sinne betrachten kann. Die Übereinstimmung des Subjekts meiner Aussage mit den Dingen selbst, über die ich aussage, wird durch den Schöpfergott gewährleistet, der die Vernunft so geschaffen hat, daß im Erkenntnisvollzug die Washeit (quidditas, essentia) der von Gott geschaffenen Dinge selbst im Bilde (similitudo) in der Vernunft aufgenommen ist, so wie in der Vernunft Gottes die Urbilder der Dinge sind. 8 Der eigentümliche (proprium) Gegenstand (obiectum) des Verstandes ist also die Washeit des Dinges.9 Zugleich sind die Dinge Gegenstände der Erkenntnis, sofern sie außerhalb der Erkenntnis in sich selbst Bestand haben. Der Gegenstand der Erkenntnis ist als in sich selbst Bestand habender subjectum (im ontologischen Sinne des Wortes), wörtlich das "Unterworfene", auf das sich das Erkennen als auf sein Objekt bezieht. Wenn nun im Erkenntnisvollzug die Washeit der Dinge selbst im Erkennenden ist, dann wird eben nicht "nur" ein dem Gegenstand äußeres Bild erkannt, sondern die Sache in sich selbst, in ihrem Wesen (res in seipsis, in propriis naturiis; S.th.1. 12. 9.c lO). Thomas nennt das Erkenntnisvermögen intellectus oder ratio (Verstand oder Vernunft). Wo er die beiden Begriffe unterscheidet, macht er diesen Unterschied in dem einen Erkenntnisvermögen hinsichtlich der Erkenntnisweise: ''Wenn auch Verstand und Vernunft nicht verschiedene Vermögen sind, so werden sie doch von den verschiedenen Tätigkeiten her benannt; 'Verstand' ist

Vgl. 1 5ent. 33. 1. 1 ad 1 und Quodl. 9. 2. 3c. Vgl. 5.th. I. 12. 9c. 9 Vgl. 5.th. I. 85. 6c. 10 Thomas unterscheidet an dieser Stelle zwei Erkenntnisweisen. Die zweite Erkenntnisweise fmdet in der Anschauung Gottes statt. In ihr werden die Dinge durch die dem Verstande gegenwärtige göttliche Wesenheit, d.h. in den in Gott sich findenden Urbildern (similitudinis praeexistunt in Deo) erkannt. Entscheidend ist es zu sehen, daß das Verhältnis von Ding und dem ihm Ähnlichen, das mit ''Bild'' übersetzt wurde, bleibt. 7

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§ 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

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von der innersten Durchdringung der Wahrheit genommen; 'Vernunft' von Untersuchung und schrittweisem Denken."l1

Der intellectus wird also dort, wo er von der ratio unterschieden wird, aufgefaßt als ein intuitives Erkenntnisvermögen (vgl. auch S.th. I. 59. 1 ad 1: intellectus cognoscit simplici intuiti), das sich als schlichtes Aufnehmen (simplicem acceptionem; ebd. 83. 4c) vollzieht. Er nennt so auch die unmittelbare, wahre Einsicht in die ersten Erkenntnisprinzipien, die dem Menschen von Natur aus und d.h. letztlich durch den Schöpfergott eingegeben sind: "Denn auch bei uns sagt man, daß das, was von Natur aus sofort erkannt wird (apprehenditur), verstanden wird (intellegi); darum heißt der Verstand das Gehaben der ersten Denkgrundsätze (intellectus dicitur habitus primorum principiorum)." (5.th.1. 58. 3c)

Dagegen wird die ratio eine discursive Erkenntnisweise genannt, die logisch vom einen zum anderen schrittweise fortschreitend dabei doch denselben Gegenstand der Erkenntnis hat wie der intellectus. Doch ist der intellectus, sofern er unmittelbar die ersten Prinzipien erschaut, die höhere Erkenntnisweise. An der Wahrheit der dem intellectus eingegebenen ersten Grundsätze ist nicht zu zweifeln (S.th. I. 85. 6c). Der Unterschied zwischen ratio und intellectus scheint also dem zwischen dem aristotelischen nous und dem logos bzw. dianoein analog. Dennoch kommt es darauf an, den Unterschied zwischen dem aristotelischen nous und dem thomasischen intellectus zu sehen, welcher auf dem Wandel des Wesens der Wahrheit beruht. Der ursprüngliche Sinngehalt der a-Ietheia, d.i. die vorgängige, allem eigens vollzogenen Bezug vorausgehende Un-verborgenheit des Seienden selbst, wird verdeckt zugunsten der Wesensbestimmung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus, als Angleichung zwischen Sache und Verstand. Nach Thomas geht diese Angleichung bzw. Gleichförmigkeit der Erkenntnis eines Dinges voraus (De ver. 1. 1.; S.9), so daß die Angleichung des Verstandes an das erkannte Ding, also die Erkenntnis eines Gegenstandes, auf der Wahrheit als der Angleichung zwischen Sache und Verstand beruht. Die Wahrheit steht aber, so Thomas, hinter der Seiendheit des Dinges zurück, sofern erst die Angleichung des Verstandes und des Dinges ''Wahres'' zu "Seiendem" hinzufügt (ebd.). Die Wahrheit findet sich deshalb im eigentlichen Sinne im Verstand, sei es im göttlichen, sei es im menschlichen; und in den anderen Dingen findet sie sich aufgrund einer Beziehung zum Verstand. Dabei wird auch die Wahrheit des göttlichen Verstandes als Angleichung verstanden,

11 "Dicendum quod etsi intellectus et ratio non sint diversae potentiae, tarnen denominantur ex diversis actibus: nomen enim intellectus sumitur ab intima penetratione veritatis; nomen autem rationis ab inquisitione et discursu." (5.th. IIIII. 49. 5 ad 3)

3 Neu

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nämlich der Dinge an den göttlichen Verstand (ebd. 1.3.; S.23). Und weil der menschliche Verstand selbst ein geschaffener ist und sein Wissen von den Dingen empfängt, ist Wahrheit in erster Linie und im eigentlichen Sinne im göttlichen Verstand. Dieses Verhältnis gewährleistet auch, daß den Dingen, in bezug auf den göttlichen Verstand betrachtet, unabtrennbar die Wahrheit anhaftet, unabhängig vom menschlichen Verstand (ebd. 1.4; S.27). Alles Seiende, der Mensch, die Wahrheit und die Erkenntnis gründen im Schöpfergott. Dieser gewährleistet, daß der verstehende Bezug zum Seienden noch erfahren und gedacht wird im Ausgang vom Seienden und dessen Seinsund Wesensgrund, nämlich Gott. Trotzdem bleibt der Leitfaden für die Auslegung des Seienden und der Wahrheit das im weitesten Sinne vorstellende Denken, in bezug zu welchem auch die ontologischen Bestimmungen des Seienden geschöpft sind. Das Seiende wird als in sich beständiges subjectum gedacht, sofern es "Gegenstand", obiectum, der Erkenntnis ist und so verhält es sich auch mit der Bestimmung Gottes als summ um ens und causa prima. Wir sehen auch, wie die Scheidung von Sein und Denken ein Stück weiter vorgedrungen ist. Wurde der logos bei Aristoteles noch gedacht als ein Besprechen des Seienden, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, und ist im nous bzw. noein als dem schlichten Aufdecken noch der Sinngehalt der Wahrheit des Seienden als vorgängige Unverborgenheit des Seienden für ein Vernehmen bewahrt, so wird jetzt der Erkenntnisvollzug und die Wahrheit allein als Angleichung der Geschiedenen aufgrund einer Ähnlichkeit gedacht und die Wahrheit allein auf die "Seite" des Verstandes gebracht. Bedenkenswert bleibt allerdings, daß im angleichenden Erkenntnisvollzug das Wassein (essentia) der Sache selbst eins ist mit dem im Erkenntnisvollzug Gedachten, und dies wird damit begründet, daß beide, das erkannte Ding selbst und die Erkenntnis, von Gott geschaffen sind, in ihm gründen. Gott als Grund hat bei lllOmas die Bedeutung des Wesensgrundes, sofern die Vernunft Gottes ewig das Wesen aller Dinge schaut und er auch der menschlichen Vernunft in den eingeborenen Prinzipien das Vermögen gegeben hat, dieses Wesen zu schauen; zum anderen hat Grund auch die Bedeutung von Ursache im Sinne des Seinsgrundes, sofern Gott ein das Seiende in seiner Existenz verursachender, nämlich ein Schöpfergott ist. c) Descartes Als ewiger Schöpfer ist Gott für die Scholastik der Grund alles Seienden, des Menschen und seiner Erkenntnis, und auch alle Wahrheit gründet in ihm als der ewig währenden göttlichen Vernunft. Demgegenüber finden wir bei Descartes mit der einsetzenden Neuzeit die entscheidende Neuerung, daß sich erstmals das Selbstbewußtsein des Menschen zum unbezweifelbaren Grund, nämlich zum

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Jundamentum inconcussum für alle Erkenntnis, alles Sein und alle Wahrheit erhebt. Mit Descartes beginnt die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität, die bei Hegel und Nietzsehe ihre Vollendung erfährt.

In seinen Meditationes de prima philosophia1 2 legt Descartes in einer Reihe methodischer Zweifelsschritte das ego cogito (genauer: das ego cogito me cogitare cogitatum) als die erste unbezweifelbare Seinsgewißheit, Erkenntnisgewißheit und Wahrheits gewißheit frei und gewinnt damit den metaphysischen Boden, auf den sich künftig alle Philosophie und Wissenschaft zu gründen hat. Der Zweifelsweg Descartes' ist ein methodischer, sofern er von Anfang an von der Unbezweifelbarkeit des ego cogito geleitet ist, die aber erst in einer Reihe methodischer Schritte ausdrücklich erschlossen werden soll. Die Zweifel richten sich dabei auf die Prinzipien (fundamentis) der Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung, der Einbildungskraft und des Verstandes, und zwar in gegenständlicher Hinsicht, so daß ein Zweifelsgrund an der Erkenntnis eines Gegenstandes genügt, um jeweils die setzende Zustimmung gegenüber dem ganzen Erkenntnisstamm (Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand) zurückzuhalten (assensionem cohibere; Med. I, 2, S.30/31). Descartes kommt dabei zu dem Ergebnis, daß uns nicht nur unsere Sinne bezüglich des Soseins und der Wirklichkeit der Gegenstände bisweilen trügen. Die fiktive Ansetzung eines genius malignus (ebd. I, 12, S.38f/39f), der uns in allem täuscht, führt zum Zweifel selbst an den allgemeinsten Strukturen des Seienden: die Natur der Körper im allgemeinen, ihre Ausdehnung, die Gestalten der ausgedehnten Dinge, Quantität, Größe, Zahl, Ort und Zeit (ebd. 1., 7, S.34/35). Diese allgemeinsten Strukturen des Seienden werden bei Thomas von Aquin als die wahren, dem Verstand eingeborenen ersten Prinzipien gefaßt. Auf sie stützen sich die Wesenswissenschaften, nämlich die reine Mathematik und die Geometrie. In der zweiten Meditation genügt Descartes nur eine Blickwendung weg vom Gegenstand der Erkenntnis und hin zum sich täuschenden Bewußtsein, um festzustellen: Möge mich der genius malignus täuschen wie er will, "niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei" ("numquam tarnen efficiet, ut nihil sim quamdiu me aliquid esse cogitabo"; ebd. 3, S.42143). Das meditierende Ich vergewissert sich zunächst seiner Existenz, und das "etwas", das ich bin, erhält auf dem Grunde dieser ersten unbezweifelbaren Erkenntnis ein wenig später die Bestimmung: "sum [... ] res cogitans" (ebd. 6, S.46/47). Das cogitare ist zu verstehen als ein "Bewußtsein haben von etwas",

12 Rene Descartes: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (lat./dt.), auf Grund d. Ausg. von Artur Buchenau, neu hrsg. v. Lüder Gäbe, durchges. v. Hans Günter Zekl, 2. Aufl., Hamburg 1977.

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so daß die Struktur des Selbstbewußtseins im Ganzen zu fassen ist als ein cogito me cogitare cogitatum: Ich bin mir bewußt, daß ich Bewußtsein habe von Etwas. Die Ansetzung des Bewußtseins als einer res cogitans ist nur möglich aufgrund einer substantiellen Getrenntheit von der materiellen Körperwelt als der res extensa, zu der auch mein Körper gehört. Der Mensch wird also von vornherein gefaßt als animal rationale, in dem Körper und Verstand trotz ihrer Zusammengehörigkeit streng geschieden bleiben (vgl. ebd. VI; 10-13, S.1401147).

Das cogito me cogitare cogitatum wird rein bewußtseinsimmanent unter Ausschluß der res extensa gewonnen in einer clara et dis tin eta pereeptio, einer klaren und deutlich abgehobenen Einsicht, von der Descartes seine allgemeine Wahrheitsregel ableitet, nämlich "daß alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich einsehe" (ebd. III; 2, S.62/63). Diese allgemeine Wahrheitsregel wird auf dem Boden der Gewißheit des Selbstbewußtseins gewonnen, das in einer clara et distincta perceptio bzw. in einer unmittelbaren geistigen Intuition erfaßt wird. In dieser intuitiven Erkenntnis sind alle Urteilsakte fundiert, in denen ich mich allein täuschen kann, und auf ihr muß, sollen wahre wissenschaftliche Erkenntnisse erworben werden, alle deduktive, d.i. logisch schließende Erkenntnis gegründet sein 13 • Wir finden hier also in abgewandelter Weise die Thomasische Unterscheidung von intellectus und ratio wieder. Gegenüber der Thomasischen Erkenntnislehre ergibt sich aber bei Descartes und folglich in der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität überhaupt ein neues Problem: Sofern das von der res extensa unterschiedene Selbstbewußtsein und nicht mehr Gott der Boden für alles Sein, alle Wahrheit und alle Erkenntnis ist, stellt sich die Frage, wie sich die Existenz der sich außerhalb meines Bewußtseins befindenden Dinge beweisen läßt und ferner, ob sie mir in meinen bewußtseinsimmanenten Vorstellungsbildern, den ideae l 4, so gegeben sind, wie sie an sich sind. Descartes sieht keinen anderen Weg, diese Kluft zu überbrücken, als einen Gottesbeweis, der wohlbemerkt nur ein bewußtseinsanalytischer Gottesbeweis sein kann, weil er im Ausgang vom Selbstbewußtsein in seiner dreigliedrigen Struktur des cogito me cogitare cogitatum vollzogen werden muß. Das bisher Dargelegte dürfte ausreichend sein, um anzuzeigen, wie mit

13 Vgl. Descartes: Discours de La methode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übers. und hrsg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1960., S.31-33. 14 Vgl. Med. III. 5, S.64165.

§ 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

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Beginn der Neuzeit das Selbstbewußtsein zum Grund für die Erkenntnis, das Seiende und die Wahrheit wird. Als Bewußtsein-haben-von-etwas ist das cogitare ein Vor-stellen im eigentlichen und engeren Sinne (gegenüber dem Griechentum und dem Mittelalter), nämlich ein Sich-vorstellen in dem doppelten Sinne, daß einerseits das cogitare immer auch ein me cogitare, also Selbstbewußtsein ist. Andererseits gründet das Vorgestellte, das cogitatum, im Selbst als dem sich etwas vorstellen. Die Seiendheit des Seienden ist jetzt seine Vorgestelltheit, denn das Seiende ist nur, hat Wahrheit nur und wird erkannt nur auf dem Boden der Subjektivität, die sich erstreckt vom ego cogito über das me cogitare zum cogitatum. Die Scheidung zwischen Sein und Denken tritt durch die Schwerpunktverlagerung auf das Denken mit einer neuen Schärfe hervor. Dies spiegelt sich in der neuzeitlichen Problematik wider, in der gegenüber dem vorgestellten Seienden die Frage nach dem außerhalb meiner Erkenntnis sich befindenden Seienden "an sich" gestellt wird. Der Begriff des Grundes hat - bei genauem Hinhören - gegenüber der Antike und dem Mittelalter eine Bedeutungsverschiebung erfahren. Bei Descartes bekommt der Grund erstmals den Sinngehalt des fundamentum inconcussum, des unerschütterlichen Fundamentes. Nicht mehr ist das Wesen des Seienden das Zugrundeliegende für das Denken, sondern das Selbstbewußtsein wird zum subiectum gegenüber dem erkannten Seienden und die Vernunft gewinnt erstmals ihren festen, absolut gewissen Boden unter den Füßen, von dem aus sie sich anschicken kann, in einem universalen System die wahre Erkenntnis alles Seienden zu fassen. Der Sinngehalt des Ursprungs oder Quells, der bislang in der arche und der prima causa noch mitzuhören war, geht verloren. Die Wahrheit ist nicht mehr gedacht als Unverborgenheit des Seienden oder als berührende Angleichung von Gegenstand und Erkenntnis auf dem Grunde der göttlichen Vernunft. Sie ist jetzt Gewißheit auf dem unerschütterlichen Boden des vorstellenden Selbstbewußtseins. d) Leibniz Diesem Boden entstammt das erstmals von Leibniz ausdrücklich hervorgehobene principium rationis, der Satz vom Grund, der in Kants Denken zur vollen Entfaltung kommt und bis zum heutigen Tage unser Denken und vorzüglich das der Wissenschaften bestimmt. Leibniz nimmt das Selbstbewußtsein als ontologischen Leitfaden für die Bestimmung des Seins alles Seienden. Das Sein wird bestimmt als einfache, unteilbare immaterielle Substanz15 , die in sich ein strebendes Perzipieren, ein

15 Siehe G. W. Leibniz: Monadologie (auf Grund d. krit. Ausg. v. Andre Robinet u. d. Übers. v. Artur Buchenau, mit Einf. u. Anm. hrsg. v. Herbert Herring, 2. verb. Aufl.,

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sichveränderndes Vorstellen ist (M14 u. MI5)16. Das substantielle Wesen des Seienden und seine ontologischen Charaktere (Sein, Substanz, Einfachheit, immaterielles Wesen) erkennen wir in uns selbst durch die Akte der Selbstreflexion (M30). Leibniz nennt aufgrund seiner Einfachheit und Unteilbarkeit das substantielle Wesen alles Seienden Monade (VI). Was ihm aber erlaubt, das substantielle Wesen unseres Ich als das zugrundeliegende Sein alles Seienden anzusetzen, ist das Gesetz der Analogie, was wir seinem Brief an De Volder vom 30.6.1704 entnehmen können. Dort sagt er, daß das Prinzip der Tätigkeit, welches allen Dingen zugrundeliegt "uns im höchsten Grade verständlich ist, weil es gewissermaßen ein Analogon zu dem bildet, was uns selbst innewohnt, nämlich zu Vorstellung und Streben", und er fährt fort: 'Denn da die Natur der Dinge gleichförmig ist, so kann unsre eigne Wesenheit von den andren einfachen Substanzen, aus denen sich das ganze Universum zusammensetzt, nicht unendlich weit verschieden sein."17 Die menschliche Monade ist vor allen anderen Monaden (die der leblosen Dinge, der Tiere und Pflanzen) durch die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten ausgezeichnet, sowohl im Sinne des Erkennens als auch des Erkannten. Sie setzt uns in den Besitz der Vernunft und der Wissenschaften und erhebt uns zur Selbst- und Gotteserkenntnis (M29). Im Abschnitt 31 der Monadologie schreibt Leibniz: "Unsere Vernunfterkenntnis beruht auf zwei großen Prinzipien: erstens auf dem des Widerspruchs, kraft dessen wir alles als falsch beurteilen, was einen Widerspruch einschließt, und als wahr alles, was dem Falschen entgegengesetzt oder kontradiktorisch ist".

Die Aussage 'S ist P' ist demzufolge falsch, wenn ein Widerspruch zwischen

Hamburg 1982, Abschnitt I (künftig zit. als MI), und ders.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (ebd.), Abschnitt I (künftig zit. als VI). In VI spricht Leibniz nicht von Seiendem, sondern von "composes" (Zusammengesetztes) oder "corps" (Körper). Ihr Sein, die einfachen Substanzen, nennt Leibniz "Ies Vies, des Ames, des Esprits" (das Lebendige, die Seelen, die Geister). 16 Mit der Bestimmung des Seins als strebendes Perzipieren gelangt erstmals das WiIIensmoment in die metaphysische Bestimmung der Seiendheit. 17 G. W. Leibniz: Philosophische Werke, Bd 11, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. v. A.Buchenau, Hrsg. E.Cassirer, Hamburg 1966, S.347. Vgl. auch Leibniz' Brief an De Volder vom 20.6.1703: "Die Substanz selbst denke ich, wenn sie mit ursprünglichen aktiven und passiven Kräften begabt ist, als eine unteilbare und vollkommene Monade, die unserem Ich vergleichbar ist" (ebd., S.325); und den Brief von 1705: "Ich [... ] setze überall und allenthalben nur das voraus, was wir alle in unsrer Seele häufig genug zugestehen müssen, nämlich innere, selbsttätige Veränderungen und erschöpfe mit dieser einen gedanklichen Voraussetzung die ganze Summe der Dinge." (ebd., S.350).

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Sund P vorliegt, d.h. anders gewendet: Die Aussage 'S ist P' ist dann wahr, wenn P in S enthalten ist. Die Einstimmigkeit zwischen Sund P ist eine Identität (Der Satz der Identität sagt somit in positiver Form dasselbe wie der Satz des zu vermeidenden Widerspruchs.) Auf ontologischer Ebene heißt das: Jedes Seiende ist mit sich selbst selbig, so daß ihm kein P zukommt, das seinem Wesensbegriff widerspricht. Auf diese Identität im Sein des Seienden müssen alle wahren Urteile zurückführbar sein. Im Abschnitt 32 der Monadologie nennt Leibniz (erstmals in der Geschichte der Metaphysik) als zweites großes Prinzip das ''Prinzip des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb es eben so und nicht anders ist".

Wie das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs gilt auch das Prinzip des zureichenden Grundes sowohl von Aussagen als auch - auf ontologischer Ebene - vom Seienden in seinem Sein. Dieses nennt Leibniz eine Tatsache. Der Satz vom zureichenden Grund betrifft sowohl die Tatsachen in ihrer Existenz als auch in ihrem Sosein, in ihrer Essenz l8 , so daß unsere Vernunfterkenntnis uns vorschreibt, daß die Existenz einer Tatsache und ihre Beschaffenheit zureichend, d.h. vollkommen begründet werden können und müssen. Während aber im Felde der notwendigen Vernunftwahrheiten der zureichende Grund auffindbar ist, indem man sie durch Analyse auflöst, bis man zu den ursprünglichen Ideen und Wahrheiten kommt (M33), führen im Felde der Tatsachenwahrheiten die Gründe in eine unendliche Vielzahl von Begründungsreihen, die unendlich weit in die Vergangenheit und Zukuijft, hereinreichen (M36). . Die notwendigen Vernunftwahrheiten sind diejenigen der Logik und der Mathematik, die auf Axiome, Definitionen und Postulate, d.h. letztlich auf identische Sätze zurückführbar sind, deren Gegenteil einen ausdrücklichen Widerspruch enthält und die deshalb selbst keiner Begründung mehr bedürftig sind (M35). Da im Felde der Tatsachen Seiendes wirkursächlich in Beziehung zu allem anderen Seienden steht und die Ketten von Wirkursachen unendlich weit in die Vergangenheit zurückverfolgt werden können, stößt man in diesen Begründungskeuen auf keinen letzten Grund. Ebenso steht es mit dem Sein des Seienden, das dem Gesetz der Zweckursachen folgt, die sich unendlich weit in die Zukunft erstrecken. Daß man im Felde der Tatsachen auf keinen letzten Grund stößt, setzt aber

18

Vgl. V7, wo dies noch deutlicher wird als in der Monadologie.

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bezeichnenderweise das Prinzip des zureichenden Grundes nicht außer Kraft, sondern fordert die Vernunft auf, den zureichenden Grund für die Tatsachen außerhalb der Folgereihen kontingenter Dinge zu suchen (M37). Der letzte Seinsgrund der Existenzen und Essenzen aller Dinge wird folglich aufgefunden im Schöpfergott als der ursprünglichen, notwendigen, ewigen, vollkommenen und unbegrenzten einfachen Substanz (die Urmonade), die allein den Grund ihres Seins in sich selbst hat. Spricht Leibniz in der Monadologie nur vom Prinzip des "zureichenden Grundes",so spricht er an anderen Stellen, wie etwa in Specimen inventorum von diesem Prinzip in einer erweiterten Form: "id, quod dicere soleo, nihil exitere nisi cujus reddi possit ratio existentiae sufficiens"19.

Der zureichende Grund (ratio sufficiens) ist demnach einer, der "zurückgegeben", "erstattet" (reddi) werden können muß; und wir können ergänzen: der Vernunft. Also existiert nichts, für das der Vernunft nicht der zureichende Grund zurückgegeben werden könnte. Der Satz vom Grund ist nicht nur in den Wissenschaften wirksam, zu denen wesensmäßig das Begründen gehört, sondern er leitet auch unser alltägliches Denken, wenn wir fragen, warum etwas ist oder geschieht. Der Anspruch auf Begründbarkeit unserer Handlungen und Aussagen gilt uns als das Selbstverständlichste. Dahinter verbirgt sich aber eine metaphysische Grundstellung, die Leibniz im principium reddendae rationis sufficientis zur Sprache gebracht hat. Wir werden nun sehen, wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunffo dem Anspruch des Satzes vom Grund zu entsprechen vermag. e) Kant Zur Erkenntnis eines vorkommenden Gegenstandes muß nach Kant dreierlei apriori, also vor aller Erfahrung, gegeben sein: 1. das Mannigfaltige der reinen Anschauung; 2. die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft; 3. (und damit kommt es erst zur Erkenntnis) die Begriffe, welche der reinen Synthesis Einheit geben, und die auf dem Verstand beruhen (KrV. B 104). Das Mannigfaltige der reinen Anschauung wird uns durch die Sinnlichkeit gegeben. Es ist das reine Mannigfaltige des Raumes und der Zeit, welche die

19 Leibniz, Philosophische Schriften, Hrsg. Gerhardt, Bdl, Berlin 1875, S.138. Meine Betonung. 20 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956.

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subjektiven Bedingungen sind, unter denen uns allein Anschauungen gegeben werden können. Raum und Zeit sind dabei selbst reine Anschauungen (im Sinne des reinen Anschauens sowohl als auch des rein Angeschauten). Die synthetisierende Einbildungskraft und die Verstandesbegriffe (nach Ausgabe B der KrV) gehören zu dem Erkenntnisstamm des Verstandes, der allgemein definiert werden kann als ein Vermögen, apriori zu verbinden. Was wir als Gegenstand erkennen, ist also je schon ein Verbundenes, ein gemäß einem Verstandesbegriff Synthetisiertes in Raum und Zeit. Die Synthesis der mannigfaltigen Raumund Zeitteile vollzieht sich dabei im maßnehmenden Blick auf die Einheit gebenden Verstandesbegriffe bzw. die Kategorien. Daß uns Gegenstände zeitlich und räumlich in einer gewissen Ausgedehntheit, Intensität, Substantialität, in Kausalverhältnissen und Wechselwirkung mit anderen Gegenständen erscheinen, ist allein den apriorischen Anschauungen von Raum und Zeit und den reinen Verstandesbegriffen zusammen mit der reinen Synthesis der Einbildungskraft zuzuschreiben. Die reine Synthesis der Einbildungskraft verbindet und regelt dabei alles reine Mannigfaltige der Anschauung je schon so, daß uns ein Gegenstand als das erscheint, was er ist. Die Kategorien, gemäß denen das Mannigfaltige der Anschauung sythetisiert wird, sind jedoch nicht der letzte Grund der Erkenntnis von Gegenständen. Sie gründen nämlich selbst noch in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, die nichts anderes ist als die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins.21 D.h. aber, daß auch das gegebene Mannigfaltige der reinen Anschauung in meinem Selbstbewußtsein verbunden ist, sofern es ja meine Anschauungen sind. Der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung und aller menschlichen Erkenntnis lautet demnach, "daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe" (ebd. § 17., B 136). Andererseits konstituiert sich die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, d.i. die Einheit des Selbstbewußtseins, erst in der Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung gemäß den Kategorien. Erst dadurch, daß ich das Mannigfaltige der Anschauung verbinde, bin ich mir als des einen selben Bewußtseins bewußt. Dies drückt Kant folgendennaßen aus: "Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle" (ebd. B 133). Ich stelle mir die Identität des Bewußtseins in gegenständlicher Hinsicht in der Einheit des synthetisierten Mannigfaltigen der Anschauung vor. Denn das einigende Bewußtsein einigt nur durch das sich Vorhalten der Kategorien,

21

Vgl. § 16. der KrV, B 131 ff.

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denen gemäß das Mannigfaltige allein verbunden werden kann. Mithin erstreckt sich das Bewußtsein vom Selbst als dem identischen Ichpol zu den vorgehaltenen Kategorien, welche die Gegenstandsstruktur des Gegenstandes konstituieren. Die Gegenstandsstruktur, das kategorial geeinigte reine Mannigfaltige der Anschauung, nennt Kant auch das "Objekt" (ebd. B 137). Sie konstituiert das Seiende selbst für uns in seinem Was- und Wiesein. "Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis" (ebd. B 138) und betrifft damit eben nicht nur die Erkenntnisweise von Gegenständen, sondern konstituiert diese selbst in ihrer Gegenständlichkeit, so wie sie an ihnen selbst uns entgegenstehen, als so und so beschaffene und in den und den Verhältnissen stehend. In dieser Gegenständlichkeit wird der Gegenstand von den Naturwissenschaften behandelt. Nur sind die Gesetzmäßigkeiten, die sie herausstellen, nicht außerhalb des Verstandes am Ding an sich vorhanden, sondern sie gründen im Verstand, der also der Natur gleichsam das Gesetz vorschreibt. Kant fragt nicht nach dem "Ding an sich", weil dieses allein einer göttlichen intellektuellen Anschauung zugänglich wäre, die dieses Ding zugleich hervorbringt. Er fragt allein nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung als Erscheinungen. Diese sind nicht als innere Vorstellungsbilder zu verstehen, denen außerhalb des Bewußtseins ein Gegenstand entsprechen muß. Solch eine Frage ist "unkantisch", wenngleich sie zu einer zentralen Frage der neukantianischen Erkenntnistheorie geworden ist. Erscheinung und Ding an sich sind dasselbe Seiende; nur daß dieses Seiende dem endlichen Verstand des Menschen allein als Erscheinung, d.h. gegeben durch das Mannigfaltige der Anschauung und kategorial geeinigt, zugänglich ist. Das Dargelegte dürfte ausreichend sein, um zu sehen, wie Kants Denken dem Satz vom Grunde gerecht wird. Dieser lautet in seiner vollständigen Fassung bei Leibniz: principium reddendae rationis sufficientis und besagt, daß nur das, was uns so begegnet, daß es auf seinen zureichenden Grund gesetzt ist, als ständig Stehendes, d.h. als Gegenstand gilt. Der zureichende Grund ist bei Kant dadurch gewährleistet, daß die in der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins gründenden Kategorien den Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit vollständig bestimmen. Der zureichende Grund ist dabei je schon ein zurückgebender, sofern das einigende Selbstbewußtsein sich seine Einheit in den Kategorien vorhält und zustellt. Abschließend und vor allem in Ansehung des der kantischen Philosophie folgenden deutschen Idealismus muß hervorgehoben werden, daß der Satz vom Grund bei Kant eingeschränkt ist auf die Gegenstände der Erfahrung, da die Kategorien nur Anwendung finden auf ein durch die Sinnlichkeit gegebenes

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Mannigfaltiges der Anschauung. Dem Anspruch auf zureichende Begründbarkeit kann dagegen bei den höchsten Vernunftbegriffen kein Genüge getan werden. Für die höchsten, Einheit gebenden Vernunftbegriffe, die Ideen von Mensch, Welt und Gott, kann kein zureichender Grund zugestellt werden, weil sie das Feld der Erfahrung übersteigen, sie also transzendent sind, und ihnen deshalb "kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann" (ebd. B 383). Wir können deshalb kein gesichertes Wissen von den Ideen haben, die auf das Seiende im Ganzen gehen. Wir sehen dennoch, wie die Scheidung von Sein und Denken bei Kant in bestimmter Hinsicht einer Einigung zugunsten des Denkens zustrebt. Denn das Sein des Seienden als die Gegenständlichkeit des Gegenstandes gründet in der Subjektivität als dem vorstellend einigenden Selbstbewußtsein; wenngleich das principium reddendae rationis nur in bezug auf die Gegenstände der Erfahrung seine volle Gültigkeit entfaltet und nur hier von einem gesicherten Wissen die Rede sein kann. Der zureichende Grund erfordert nämlich das Gegebensein eines Mannigfaltigen der Anschauung durch die Sinnlichkeit. Dort, wo ein Begriff das Feld der Sinnlichkeit verläßt, nämlich in den Einheit gebenden Vernunftbegriffen, ist kein begründetes Wissen möglich. f) Hegel

Der Schritt des deutschen Idealismus über Kant hinaus liegt darin, daß gesagt wird, die höchsten Ideen, die das Ganze des Seienden begreifen, sind wißbar. Sie sind zudem das höchste und leitende Wissen. Dabei werden sie freilich nicht als Gegenstände (dinghaft) gewußt, sondern in einer intellektuellen Anschauung als einem Anschauen, das das Angeschaute in sich befaßt, unmittelbar geschaut und gewußt. Das Denken und das gedachte Seiende in seinem Sein sind hier dasselbe, denn das Wissen des Ganzen kann nicht mehr auf etwas anderem gründen als auf sich selbst, da es sonst nicht mehr ein Wissen des Ganzen wäre. Das Ganze muß ab-solut gedacht werden, los-gelöst von etwaigen äußeren Bedingungen, d.h. aber in sich selbst gegründet sein. Das im absoluten Wissen Gewußte wird das Wissen selber. Das absolut Seiende ist damit nichts anderes als das Werden zu sich selbst des absoluten Wissens. 22 Solches zu denken verlangt eine eigentümliche Beweglichkeit des Denkens, welche den Denkern des deutschen Idealismus auch eignet. Es sei für das Gesagte im besonderen auf Hegels Phänomenologie des Geistes 23 verwiesen. Die Phänomenologie des Geistes ist die Darstellung des

22 23

Vgl. hierzu und zu den obigen Erörterungen Heidegger GA 42, § 4 und § 5. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1986.

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Werdens des absoluten Geistes als des absoluten Wissens. 24 Dieses Werden ist zu verstehen als eine entfaltende Verwirklichung dessen, was zu Beginn im Keime schon das Absolute als Zweck in sich trägt, wenngleich nur als negatives Moment, als INoch-Nicht". 25 Die Darstellung des Werdens des absoluten Wissens ist von Beginn an geleitet von diesem selbst. Es ist die Geschichte des Zu-sich-selbst-kommens des absoluten Geistes über die Stufen des Bewußtseins, des Selbstbewußtseins und der Vernunft, so daß diese Stufen als aufgehobene (negierte) im absoluten Geist als sieh ablösende Momente aufgehoben, also zugleich aufbewahrt sind. Der absolute Geist ist kein Endpunkt, sondern die Bewegung seines wirklichen Zu-sich-selbst-kommens, die wir uns in groben Zügen folgendermaßen vergegenwärtigen können: Das Moment des Bewußtseins ist das Ansichsein des Gegenstandes. Für das Bewußtsein ist der Gegenstand zunächst ein Ansieh, d.h. es ist sich nicht bewußt, daß dieses Ansich des Gegenstandes ein solches für das Bewußtsein ist. Weiß das Bewußtsein dies, so wandelt es sich zum Selbstbewußtsein, in dem dieses sich seiner selbst bewußt ist (vgl. Descartes, Kant). Der Gegenstand als Ansich wird somit negiert und im Wissen des Selbstbewußtseins aufgehoben in dem doppelten Sinne, daß sich das Selbstbewußtsein wissend von ihm löst und er zugleich als Moment des Wissens bewahrt bleibt. Das Fürsichsein des Selbstbewußtseins wird dem Bewußtsein aber wieder zum Gegenstand, zum Ansich gegenüber den anderen Dingen, so daß die Scheidung von Bewußtsein und Gegenstand noch bewahrt bleibt. Erst wenn das Selbstbewußtsein sich selbst weiß, löst es sich von der Gebundenheit an das Selbst gegenüber dem Gegenstand; es wird ab-solut und erhebt sich in die höhere Einheit von Bewußtsein und Selbstbewußtsein, in das absolute Wissen, das Ansichsein und Fürsichsein zugleich ist und das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein als Momente seiner Bewegtheit bewahrt. Es wird sich darin gerade nicht zum vor-gestellten Gegenstand, sondern weiß sich selbst in der Bewegtheit seines Sichanderswerdens und Zusichselbstkommens. Anders gewendet heißt dies: Um für sich sein zu können, muß sich der absolute Geist entäußern, er muß sich selbst zum Gegenstand werden; zugleich aber weiß er um diese seine Entäußerung, in der er sich als Gegenstand setzt, so daß er in diesem Wissen zu sich zurückkehrt und sich so als Gegenstand immer schon aufgehoben hat. Das im absoluten Wissen Gewußte ist damit nichts anderes als das absolute Wissen selbst in seinem wirklichen Werden. Die Scheidung von Sein und Denken wird im absoluten Wissen aufgehoben in diesem selbst. Der Grund ist

24 25

Vgl. ebd. S.3l. Vgl. ebd. S.26. Vgl. auch Heidegger GA 32, S.47ff.

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deshalb weder im Sein des Seienden gegenüber dem Denken ("vorstellenden Bewußtsein"), noch im Denken (vorstellenden Selbstbewußtsein) gegenüber dem Seienden in seinem Sein zu suchen. Der absolute Geist gründet in sich selbst als sichgründender. Er ist die Bewegung des Sichselbstsetzens (wir können auch sagen: Sichselbstgründens) in seinem Sichanderswerden und Zusichselbstkommen, also im Werden seiner selbst. 26 Der absolute Geist ist also als absolute Substanz zugleich absolutes Subjekt. Damit ist das Subjekt weder das dem Denken zugrundeliegende Seiende in seinem Sein, noch das Selbstbewußtsein gegenüber dem Gegenstande, sondern die höhere Einheit beider, die diese Scheidung vorstellend erzeugt und zugleich wieder aufhebt. Die Scheidung von Sein und Denken wird also in diesem doppelten Sinne aufgehoben im vorstellenden und darin sich verwirklichenden absoluten Geist, d.i. im tätigen Denken als einem absolut sich gründenden. Der Einsicht in die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Sein und Denken, wie sie sich bei den griechischen Denkern und vor allem den Vorsokratikern zeigt (sie meldete sich in der aletheia als der vorgängigen Unverborgenheit des Seienden für ein Vernehmen) muß allerdings die hegeische Einheit von Sein und Denken als eine nicht-ursprüngliche erscheinen, weil sie auf der Scheidung der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Sein und Denken gründet. Hegels absoluter Geist ist gewonnen auf dem Boden des Cartesianischen Selbstbewußtseins und des Kantischen Vernunftbegriffs und bewegt sich innerhalb des vorstellenden Denkens, welches mit der Scheidung von Sein und Denken und der Wandlung des Wesens der Wahrheit von der Unverborgenheit in die Richtigkeit zum Vorschein kommt. Die Gegenständlichkeit wird wohl im absoluten Wissen aufgehoben, doch dabei gerade nicht beseitigt, sondern als wesentliches Moment beibehalten. Als absolutes Subjekt ist der absolute Geist die Bezugsmitte alles Vor-sich-stellens. Heidegger macht darauf aufmerksam, daß hierin "sogar eine gesteigerte Vorrangstellung des Seienden gegenüber der Seiendheit" liegt, "sofern vom Subjekt her und d.h. zugleich vom Objekt her das Seyn sich bestimmt" (GA 65, S.427).27 Bei Hegel hat gleichsam das vorstellend-aufhebende Denken alles Sein in sich aufgenommen. Es hat sich zum absoluten, in sich selbst gründenden Wissen erhoben. Bei Hegel ist der Begriff des Grundes vollkommen auf die Seite des Denkens als des absoluten Wissens gerückt, welches jegliches vorstellend gesetzte Gegenüber im Sichwissen aufhebt.

Vgl. PdG S.23. Vgl. auch GA 65, den Abschnitt 103: Zum Begriff des deutschen Idealismus, S.202f und den Abschnitt 104: Der deutsche Idealismus, S.203f. 26 27

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g) Nietzsche Damit ist die Metaphysik aber noch nicht zu Ende. Geschichtlich ist sie dies jetzt noch nicht. Sie wird gleichwohl denkerisch von Heidegger in ihrem Ende erfahren und zu Ende gedacht in der Auseinandersetzung mit Nietzsehe, der als "Vollender der Metaphysik"28 die letzte metaphysische Grundstellung einnimmt. Diese These Heideggers wird in der Philosophie heute vorzüglich vom Dekonstruktivismus (Derrida) bestritten, der selber vor allem von Nietzsche seinen Ausgang nimmt und auch schon in diesem eine Überwindung der Metaphysik sieht. Ich werde im 2. Abschnitt des Hauptteils der vorliegenden Arbeit (§ 25) zu zeigen versuchen, inwiefern die Derridasche Dekonstruktion auch durch die ihr eigene Anlehnung an Nietzsche noch in das Ende der Metaphysik verstrickt bleibt und nicht zu der von Heidegger geleisteten Verwindung der Metaphysik durchzudringen vermag. Nietzsches Begriffen von Grund und Denken kommt somit in Ansehung der Dekonstruktion wie der heutigen Zeit überhaupt eine besondere Bedeutung zu. Wir kennen Nietzsche als den Verkünder des Nihilismus, der für ihn mit Platon ansetzt und durch das Christentum verschärft wird, bis er zu seinem (heutigen) Endstadium kommt: zur Erfahrung des Todes Gottes, zum Unglauben an eine "metaphysische" Welt (WzM29n.12), zur Entwertung der obersten Werte (WzM n.2). Für Nietzsche ist die Metaphysik das Setzen einer wahren, ewigen und ganzheitlichen Welt über die sinnliche Welt (in den platonischen Ideen und dem christlichen Jenseits) aus der Verneinung dieser sinnlichen Welt des Werdens als des Lebens. Die "Ausflucht" in eine höhere einheitliche und ewig wahre Welt entspringt dem Leiden an der Vergänglichkeit des Lebens 30 sowie dem Leiden daran, daß im Werden keine große Einheit waltet und es demnach kein Ziel und keinen Sinn hat (WzM n.12). Was für uns feste Tatbestände sind, ''Dinge an sich", "Wahrheiten", und auch unsere Begriffe von Subjekt und Objekt, das sind laut Nietzsche Werte, die "wir" gesetzt haben, um uns zu erhalten, d.h. um nicht am Werden und seiner Vergänglichkeit zugrunde zu gehen. 31 Das Setzen von diesen Werten wird aber nicht vom Menschen als

Vgl. dazu Heidegger GA 47, S.IO; GA 44, S.226f. Friedrich Nietzsehe: Der Wille zur Macht: Versuch einer Umwertung alIer Werte, ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster-Nietzsehe, Stuttgart 1980 12 • 30 Also sprach Zarathustra (Z) 11 (Sämtliche Werke [SW]. Kritische Studienausgabe Bd 4, Hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980, S.180: "des Willens WiderwilIe gegen die Zeit und ihr 'Es war'''. 31 "Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt." (WzM n.493) "Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt 28

29

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Subjekt vollzogen, denn dieser Subjektbegriff ist für Nietzsche auch eine perspektivische Setzung, eine "Interpretation".32 Vielmehr liegen dem perspektivischen Setzen und Interpretieren ''Triebe'' und "Bedürfnisse" (WzM n.481) und die "Nützlichkeit der Erhaltung" (WzM n.480) zugrunde. Vermöge perspektivischer Schätzungen erhalten wir uns "im Leben, d.h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht" (WzM n.616). Zugleich kann das Leben selbst nur bestehen "auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten" (JvGuB 33 § 34, S.53). Das Wesen des Lebens, ja das Wesen all dessen, was ist, ist laut Nietzsche Wille zur Macht. "Leben selbst ist Wille zur Macht" (ebd. § 13, S.27); "das innerste Wesen des Seins" ist Wille zur Macht (WzM n.693) und damit auch der Mensch und seine Erkenntnis34. Im Sinne Nietzsches ist der Wille zur Macht gerade kein metaphysischer Begriff im Sinne einer höheren beständigen (und das heißt vom Werden losgelösten) Einheit, woran man sich festhalten könnte. Er ist die Weise, wie sich die sinnlose und vergängliche Welt immer wieder von neuem wachsenden Bestand gibt. Zur Machterhaltung gehört wesentlich die Machtsteigerung, d.h. daß der Wille zur Macht nur west als Übermächtigung, indem in ihm ein Widerständiges gesetzt und überhöht wird. 35 Das Übermächtigen geschieht aber selbst wieder im erhöhenden perspektivischen Setzen eines Beständigen im Widerstand gegen ein Gesetztes. Machterhaltung und Machtsteigerung gehören also zusammen, jedoch so, daß die Erhaltung im Dienste der Steigerung steht. Hinter dem Willen zur Macht liegt kein "metaphysischer" Zweck, kein Gesamtwille oder Gesamtziel. All dies sind gerade "Ausgeburten" des Willens zur Macht, der als das Wesen alles Seienden so gesehen gerade kein fester Grund ist, sondern vielmehr ein Abgrund bzw. - sofern der Wille zur Macht ein perspektivisches Setzen, ein Schaffen ist - ein abgründiges Gründen. Vor diesem Abgrund flüchtet der Mensch, wenn er eine "metaphysische" Welt konzipiert. Wir sahen, daß dies eine Form des Nihilismus ist als eine Verneinung der abgründigen sinnlichen Welt des Werdens. Im Endstadium des Nihilismus erkennt jedoch der Mensch, daß diese metaphysische Welt nur eine scheinbare Welt ist. Und was geschieht dann? "Wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ" (WzM n.30). In diesem Augenblick wird der Mensch

eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine 'wahre Welt' (- diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ... )." (WzM n.5l6) 32 Nietzsche spricht demgegenüber vom "Subjekt als Vielheit" (WzM n.490). 33 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, SW Bd 5. 34 Siehe dazu WzM n.1067; 617. 35 Vgl. WzM n.656: "Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern". Vgl. auch WzM n.702.

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in die Entscheidung genötigt, das abgründige Wesen der Welt zu bejahen in der Bejahung der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 36 In dieser Bejahung überwindet der bisherige Mensch sich selber und wird zum Übermenschen, zu jenem, der in der Bejahung den Willen zur Macht ergreift. Die Bejahung der ewigen Wiederkehr des Gleichen wird so zur Beständigung des Werdens im höchsten Willen zur Macht: "Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht [... ] Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung." (WzM n.617)

Wir folgen hier Heideggers Nietzsche-Auslegung, welche in Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen die letzte metaphysische Grundstellung sieht. Die Metaphysik wird hier wohlbemerkt nicht verstanden wie bei Nietzsche als das vorstellungshafte Setzen einer festen wahren Welt über der sinnlichen Welt des Werdens, sondern sie wird verstanden als eine geschichtliche Wesungsweise der Wahrheit des Seins und darin als eine Weise der Offenbarkeit des Seienden in seinem Sein. Wir erläuterten bereits, daß die abendländische Metaphysik, wie Heidegger sie versteht, gekennzeichnet ist durch die Scheidung von Sein und Denken, welche sich so vollzieht, daß sich das Denken vor das Seiende bringt und von diesem aus nach seinem Sein fragt. Wenngleich gerade bei Platon und Aristoteles das Sein gegenüber dem Seienden das ontologisch Frühere ist, bleibt dennoch Ausgang und Leitfaden für das Fragen nach dem Sein das Seiende, welches vom vorstellenden Denken hinsichtlich seines Seins befragt wird. Das Seiende gewinnt in dieser Hinsicht einen Vorrang gegenüber dem Sein. Dieser Vorrang des Seienden drängt am Ende der Metaphysik zu einer absoluten Vormacht. In dieser Vormacht tritt das Seiende bei Nietzsche auf durch das Äußerste, in das die Scheidung von Sein und Denken gerät. Auch hier dürfen wir das Seiende nicht im Sinne Nietzsches als ein im Willen zur Macht Gesetztes sehen. Die Vormacht des Seienden äußert sich vielmehr im Vorrang der sinnlichen Welt des Werdens, der einzelnen Triebe und Bedürfnisse, also des Leibes, zu dem es bei Nietzsche kommt: "Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung." (WzM n.489) "Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie" (WzM n.492)37.

Und aus Nietzsches lilrathustra sei eine etwas längere Stelle angeführt:

36 Den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen nennt Nietzsche in 'Also sprach Zarathustra' Zarathustras "abgründlichsten Gedanken" (Z III, S.205 und 271). 37 Vgl. auch WzM n.532 und 659.

§ 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

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"Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du 'Geist' nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. 'Ich' sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, - dein Leib und seine gros se Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich." (Z I 'Von den Verächtern des Leibes', S.39i 8

Wenn Nietzsche hier den Leib als eine große Vernunft faßt, für die das, was uns bisher als Vernunft galt, nämlich die kleine Vernunft, nur ein Werkzeug ist, so zeigt dies, daß alle Vernunfttätigkeit, die traditionell von der Sinnlichkeit unterschieden wird, zurückgeführt wird auf eine leibliche Tätigkeit, nämlich die des "Gestalten-Durchsetzens" (WzM n.499), des "Gleich-setzens" und "Gleichmachens" (WzM n.501). "Nicht 'erkennen''', sagt Nietzsche, "sondern schematisieren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfnis genug tut." (WzM n.5I5) Dieses Schematisieren und Gleichsetzen lernten wir schon kennen als eine Tätigkeit des Willens zur Macht. Im Bejahen und Ergreifen des Lebens als des Willens zur Macht wird der Mensch zu einem Schaffenden, zu einem Künstler. Dieser bemißt sich nach dem großen Stil, den Nietzsche so erläutert: "Über das Chaos Herr werden, das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik, Gesetz werden - : das ist hier die große Ambition." (WzM n.842)

Die Kunst als das Schaffen im Sinne des großen Stils ist dann "die eigentliche Aufgabe des Lebens", die Kunst ist dessen "metaphysische Tätigkeit" (WzM n.853; 4.). Mit dem Denken, das Nietzsehe als ein Schematisieren und Gleichmachen auf dem Wege eines perspektivischen Setzens versteht, wird auch das Vorgestellte und seine Vorgestelltheit in die leibliche Tätigkeit des Willens zur Macht zurückgenommen. Das Gegenüber von Denken und Sein und darin das Seiende als Gegen-stand wird aufgehoben in die "metaphysische" Tätigkeit des leibenden Willens zur Macht, welcher immer wieder Seiendes, in widerständiger Überwindung eines vormals Festgesetzten, schaffend setzt und es zugleich wieder untergehen läßt in das abgründig übermächtigende Walten des Willens zur Macht. Wir können dieses Walten als eine unbedingte gründende Tätigkeit des wirklichen Seienden verstehen, als das Sich-selbst-gründen des Seienden

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4 Neu

Vgl. Z I, S.98.

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um "praktischer Bedürfnisse" willen, "nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht-steigerung einer bestimmten Gattung von animai" (WzM n.567). Hierin sieht Heidegger die eigentlich vollendete Subjektivität, sofern "die äußerste, bisher niedergehaltene Möglichkeit des Wesens der Subjektivität zur Wesensmitte wird" (GA 50, S.49). Denn "die Unbedingtheit des VorsteIlens [Hegel] ist stets noch bedingt durch das, was sich [diesem]39 zustellt. Die Unbedingtheit des Willens [im Willen zur Macht] jedoch ermächtigt allein auch das Zustellbare zu einem solchen" (ebd.). Bei Nietzsehe wird, wie bei Hegel (aber in der Umkehrung des Vorrangs des Geistes zugunsten des Leibes), eine Einheit von (leiblichem) Denken und "Sein" bzw. Seiendem gedacht, die uns nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß sie auf der ursprünglichen Scheidung von Sein und Denken beruht. Nietzsche vermag dabei das Denken auch im Ausgang vom Leibe nicht anders als vorstellungshaft zu fassen als ein perspektivisches Setzen. Dies liegt begründet in der Weise, wie sich ihm geschichtlich das Seiende zeigt. Vor das ontologische Verständnis des Seienden rücken die logischen Begriffe von Subjekt und Objekt. Das Gedachte rückt herab zu einem bloßen Positum, zu einer abstrakten Hülse, an die man nicht mehr glauben kann. Demgegenüber und d.h. in Umkehrung des Vorrangs der Vernunft muß nun der Leib als das viel reichere und einzig wirkliche Phänomen erscheinen. Es ist ganz entscheidend zu sehen, daß hierbei Nietzsche denkerisch in die Metaphysik verstrickt bleibt (dabei blicke ich weg von Nietzsches dichterischem Schaffen wie auch von der Grunderfahrung seines Philosophierens). Solches zu sehen, verlangt aber die Einsicht in die ursprünglicheren, nicht metaphysischen Bezüge, die durch das Denken Heideggers eröffnet sind. Sie eröffnen sich nur, wenn die denkerische Erfahrung in die Dimension des Da-seins tritt (v gl. § 3). Dazu gehört die ausdrückliche Erfahrung der Seinsvergessenheit in der Seinsverlassenheit des Seienden. Das Sein wird dann nicht mehr erfahren und gedacht als etwas, was irgendwie über oder hinter dem Seienden stünde. Es wird überhaupt nicht gedacht im Sinne eines "Etwas", sondern es wird seinsgeschichtlich (also zeitlich) erfahren und gedacht aus dem Wesungsgeschehen seiner Wahrheit als dem anfänglichen Verbergungs- Entbergungsgeschehen, aus welchem und in welchem das Seiende eröffnet wird.

Mit der Seinsverlassenheit des Seienden wird der Sachverhalt angesprochen, daß die Wahrheit des Seins sich erstanfänglich entzieht zugunsten der Offen-

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Vgl. N 11, S.301.

§ 2. Die Wesensbestimmung des Grundes in der Metaphysik

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barkeit des Seienden, welches fortan Ausgangspunkt für das Fragen nach dem Sein wird. Das Sein nimmt dadurch selbst gewissermaßen den Charakter eines Seienden an; es zeigt sich als Seiendheit. Wir sahen, wie dies bei Aristoteles geschieht, für den der logos der entscheidende Leitfaden in der Frage nach dem Sein des Seienden bleibt, so daß sich die aletheia von der Unverborgenheit zur Richtigkeit des VorsteIlens wandelt. Der ontologische Grund sowohl für das Seiende als auch für das Denken wird dabei wohl noch im Sein des Seienden gesehen (ousia) und erhält die Bestimmung der arche als dem ersten Prinzip und als proton, d.h. als ein Erstes, wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird. Doch nimmt der Grund wegen des Vorrangs des Seienden für das ausdrückliche Fragen den Charakter der Seiendheit an. Bei Thomas von Aquin fanden wir die Seiendheit in Gott als dem höchsten Seienden wieder. Als vernünftiger Schöpfergott ist er der Grund (Ursache und Wesensgrund) alles Seienden, des Menschen und seiner Erkenntnis. Ihm (seiner Offenbarung) verdankt der Mensch seine Einsicht in das Wesen der Dinge. Wir sahen weiter, wie sich bei Descartes der entscheidende Wandel vollzieht, daß nunmehr das vorstellende Selbstbewußtsein zum Grund aller Erkenntnis, aller Wahrheit und alles Seins wird. Der Sinn sowohl der Unverborgenheit als auch der Offenbarung des Seienden für das Vernehmen, die beide noch (wenngleich im Mittelalter verdeckter) in das anfängliche Wesungsgeschehen der Wahrheit des Seins zurückweisen, wird verschüttet, sofern der Grund auf die Seite der Vorgestelltheit rückt, aus der die Seiendheit des Seienden die Bestimmung der Gegenständlichkeit erfährt, und er gefaßt wird als fundamenturn inconcussum. Diesem unerschütterlichen Boden entwächst Leibniz' "Satz vom Grund", von dessen Anspruch auch Kants Denken geleitet ist. Dem Satz vom Grund als dem Prinzip des zurückzugebenden zureichenden Grundes leistet Kant dadurch Genüge, daß die in der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins gründenden Kategorien den Gegenstand der Erfahrung in seiner Gegenständlichkeit vollständig bestimmen. Die Kantische Einschränkung auf die Gegenstände der Erfahrung wird durchbrochen im absoluten Idealismus, beginnend mit Fichte. Wir sahen, wie bei Hegel in der Bewegung des Sichanderswerdens und Zusichselbstkommens der absolute, sich wissende Geist schon alles Sein in sich aufgenommen hat. Alles Seiende gründet im Sichgründen des absoluten Geistes. Damit ist die Seiendheit vollständig auf die Seite des Denkens gerückt, das dabei gleichwohl ein vorstellendes bleibt. Die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit gerät in ein Äußerstes, weil der absolute Geist kein Anderes zu sich selbst zuläßt. Alles ist in die Helle des sich wissenden Geistes aufgenommen. Damit verschwindet

4*

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jede Spur eines dem Denken unverfügbaren Verbergungs- Entbergungsgeschehens. Zuletzt kommt aber Nietzsehe, bei dem die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit sich so weit zu verfestigen droht, daß der Sinn der Seiendheit sich gänzlich auszulöschen trachtet hinter der absoluten Vormacht des seinsverlassenen Seienden, das im wirklichen, leiblichen Machten des Willens zur Macht immer wieder von neuem sich selbst gebiert und so gründet. Die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit, denen die metaphysischen Bestimmungen von Grund und Denken entspringen und die einhergehen mit der Scheidung von Sein und Denken (Seiendheit und Vorstellen) werden von Heidegger als ein seinsgeschichtliches Geschehen gedacht. Sie werden nicht allein vom Menschen vollbracht, dessen Selbstverständnis und Denken vielmehr in ihnen gründen. Die Seinsverlassenheit ist die Weise, wie die Wahrheit des Seins selbst sich dem Menschen zuschickt zugunsten der Offenbarkeit des Seienden, hinter welche das Sein, als Geschehen der verbergenden Offenbarung, zurücktritt. Die Seinsvergessenheit ist die Weise, wieder Mensch der Seinsverlassenheit entspricht. Demgemäß ist auch die metaphysische Grundstellung eines jeden Denkers nicht dessen eigenständiges Produkt, sondern sie ist ereignet, d.h. dem Denker in seiner Grunderfahrung zugeeignet aus der Wahrheit des Seins, in der sein denkerischer Entwurf gründet. Der denkerische Entwurf bringt dabei freilich das geschichtlich Zugeeignete mit ins denkerische Werk. Zueignung (Zuwurf) und Entwurf machen zusammen mit dem jeweiligen Hervorbringen eines Seienden (z.B. eines Werkes) die Grundstrukturen der Wesung der Wahrheit des Seins aus, die Heidegger das Ereignis nennt. Doch an dieser Stelle geht es mir darum, darauf hinzuweisen, daß aufgrund ihres seinsgeschichtlichen Ursprungs die metaphysischen Grundstellungen, die ich hier dargestellt habe, über das "Metaphysische", das sie kennzeichnet, hinausweisen in ihren nicht-metaphysischen Ursprung. Dieser muß uns ein Fragwürdiges bleiben, soll die vollbrachte Darstellung nicht den Anschein einer bloß historischen Abfolge behalten, die das Denken von Aristoteles bis Nietzsehe sozusagen erledigt hat. Die knappe Behandlung der Bestimmungen von Grund und Denken hatte hier lediglich die Funktion einer Abgrenzung gegenüber dem, was in den folgenden Kapiteln und Paragraphen behandelt wird. Die Abgrenzung kann verstanden werden als ein Abstoß in einen anderen Bereich der denkerischen Auseinandersetzung. In einem solchen Abstoß wird das Denken ver-rückt in die Aus-einander-setzung, die selbst erst die Möglichkeit gewährt, den nicht metaphysischen Ursprung der metaphysischen Grundstellungen zu erblicken und den Grund dieser Grundstellungen ursprünglicher zu gründen in der Wahrheit des Seins. Solches gehört mit zum seinsgeschichtlichen Denken als einem anfänglich übergänglichen, sofern es sich nur in der

§ 3. Das ekstatisch-horizontal bestimmte Wesen des Grundes

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Auseinandersetzung (im Zuspiel) mit der bisherigen Geschichte der Philosophie als dem ersten Anfang vollzieht. § 3. Die Bestimmung des Wesens des Grundes aus der ekstatischhorizontal sichzeitigenden Transzendenz des Daseins

Heideggers Frage nach dem Wesen des Grundes fragt nicht mehr im Ausgang vom Seienden in seinem Sein, sondern läßt sich leiten durch die Grundfrage nach dem Sein selbst. Der erste entscheidende Durchbruch zu einer Ausgestaltung dieser Frage geschieht in Heideggers Grundwerk Sein und ZeifO. Wenn auch die Frage nach dem Sinn von Sein bzw. dem Sein in seiner Wahrheit die Grundfrage des gesamten Heideggerschen Schaffens bleibt41 , wandelt sich doch mit der ursprünglicheren Erfahrung der Geschichtlichkeit des Seins selbst die Blickrichtung, in der Heidegger diese Frage ansetzt, sowie die Sprache, in der er das denkerisch Erfahrene angemessen ins Wort zu bringen versucht. Während er in der Schaffensphase von Sein und Zeit (bis ca. 1930) die Frage nach dem Sein selbst aus der Transzendenz des Daseins bedenkt und dabei weitgehend der Sprache der Metaphysik verhaftet bleibt, wandelt sich mit Beginn der 30ger Jahre sein Denken zum seynsgeschichtlichen Denken, in dem das Sein aus ihm selbst als Ereignis gedacht wird und ein Sprechen bzw. Sagen versucht wird, das unmittelbar aus dem Ereignis spricht. Damit wird ein Denken und Sagen des Ereignisses versucht, d.i. ein dem Sein selbst zugehörendes. Doch ist der besagte Wandel ein "immanenter Wandel", wie F.-W. v. Herrmann betont42 , d.h. er führt nicht zu einem Standpunkt außerhalb der Frage nach dem Sein selbst, wie sie in Sein und Zeit fundamentalontologisch entfaltet wird, sondern ergibt sich aus der Seinsfrage selbst, deren Dimension in Sein und Zeit eröffnet wird. Deshalb soll den Ausführungen zur "Gründung", wie Heidegger sie in den Beiträgen seynsgeschichtlich entwirft und entfaltet, dieser Abschnitt über Heideggers Frage nach dem Wesen des Grundes aus der Perspektive von Sein und Zeit vorangestellt werden. Er dient zunächst als Einführung in die Dimension des Heideggerschen Denkens überhaupt im Hinblick auf die Frage nach

Im folgenden zit. nach der Einzelausgabe, Tübingen 1984. Vgl. dazu in den Beiträgen zur Philosophie den 42. Abschnitt: "Von 'Sein und Zeit' zum 'Ereignis''', S.84ff. 42 Siehe etwa 'Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis"', in: Von Heidegger her: Wirkungen in Philosophie - Kunst - Medizin; Messkircher Vorräge 1989, Hrsg. H.-H. Gander, Frankfurt a.M. 1991, S.3l. Die im folgenden auftauchenden Bezeichnungen "transzendental-horizontale Blickbahn" und "seynsgeschichtliche Blickbahn" übernehme ich ebenfalls von F.-W. v. Herrmann (siehe ebd.). 40

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dem Wesen des Grundes. Ferner soll er die "transzendental-horizontale Blickbahn" verdeutlichen, in der Heidegger diese Frage in Sein und Zeit angeht. Auf dieser Grundlage kann dann im anschließenden § 4 gezeigt werden, wie sich diese Blickrichtung aus der Sache selbst gesehen in die "seynsgeschichtliche Blickbahn" wandelt. Der Wandel wird also anband der Frage nach dem Wesen des Grundes selbst gezeigt. Die folgenden Ausführungen lassen sich deshalb von Beginn an unausdrücklich von dem leiten, wohin sie führen sollen, d.i. vom seynsgeschichtlichen Denken des Ereignisses. In diesem vermag Heidegger, wie gezeigt werden soll, ursprünglicher das zu denken und zur Sprache zu bringen, was sein Denken von Anfang an be-wegte, d.h. was ihn auf den Weg des Denkens brachte und dieses leitete. Eine Überwindung der die Metaphysik leitenden Scheidung von Sein und Denken im Durchbruch in die Frage nach dem Sein selbst läßt sich vor allem am zentralen Phänomen der Erschlossenheit aufweisen, als weIche Heidegger die Wahrheit ursprünglich bedenkt. Jedes vorstellende Verhalten, in dem im weitesten Sinne das Denken einem Seienden gegenübertritt, wird zurückgeführt auf das vortheoretische In-der-Welt-sein, in dem Welt und innerweltlich Seiendes erschlossen sind. Das In-der-Welt-sein ist die Grundverfassung des Daseins (des Wesens des Menschen), die Heidegger als Transzendenz faßt. Diese ist nicht wie in der Metaphysik ein Transzendieren von einem Seienden aus in das ihm zugrundeliegende Sein, sondern ist vielmehr ein Je-schon-transzendierthaben in die Erschlossenheit von Sein (Welt), also ein Je-schon-übersprungenhaben von Seiendem (Mensch, Natur, Ding), auf das das Dasein transzendierend erst zurückkommt, so daß es selbst in diesem Zurückkommen erst erschlossen wird (das Dasein ist also kein zugrundeliegendes Subjekt) und innerweltlich Seiendes für ein Verhalten erst entdeckt wird. Die in der Erschlossenheit zentrierende Transzendenz liegt damit jedem Ich, Du, Mitsein mit Anderen und Seinkönnen bei Vorhandenem zugrunde. Sie ist mithin die Bedingung der Möglichkeit der Gegenüberstellung von Sein und Denken, und in ihr ist auch das ursprüngliche Wesen des Grundes aufzusuchen. Wahrheit - Transzendenz - Grund: In dieser gedanklichen Schriufolge bedenkt Heidegger das Wesen des Grundes sowohl in seiner Marburger Vorlesung vom SS 1928 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (GA 26) als auch in seiner 1929 veröffentlichten Abhandlung Vom Wesen des Grundes (VWdG). Diese beiden Schriften werden zusammen mit Sein und Zeit und der Marburger Vorlesung vom SS 1927 Grundprobleme der Phänomenologie43 (GA 24) vor

43 Die Grundprobleme der Phänomenologie enthalten die neue Ausarbeitung des in Sein und Zeit fehlenden aber angekündigten 3. Abschnitts des I. Teils mit dem Titel "Zeit und Sein". Siehe dazu SUZ § 8, S.39 und GA 24, S.21. Siehe auch F.-W. v. Herrmanns Schrift: Heideggers "Grundprobleme der Phänomenologie": Zur "Zweiten Hälfte"

§ 3. Das ekstatisch-horizontal bestimmte Wesen des Grundes

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allem für den ersten Teil dieses Paragraphen herangezogen, der zu einer Bestimmung des Wesens des Grundes als "Freiheit zum Grunde" führen wird. Die Freiheit zum Grunde gründet aber selbst in der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit. Dies führt zu einer Bestimmung des Wesens des Grundes als abgründiges Gründen bzw. als Abgrund. Die konkrete Herausarbeitung dieses letzteren in seinem zeitlichen Sinn wird ein tieferes Eindringen in die Problematik von Sein und Zeit erfordern, was durch den Rückgang auf das Phänomen der "vorlaufenden Entschlossenheit" erfolgen wird. Die folgenden Ausführungen werden sich also als ein immer tieferes Eindringen in das und Konkretisieren von dem anfangs nur formal aus der Erschlossenheit vorgezeichneten Phänomen der Transzendenz erweisen, innerhalb dessen wir das Wesen des Grundes aufzusuchen haben. a) Wahrheit als Erschlossenheit Sowohl in der Vorlesung Anfangsgründe der Logik als auch in der Abhandlung Vom Wesen des Grundes geht Heidegger in der Frage nach dem Wesen des Grundes von Leibniz' principium rationis aus, welches fordert, daß jede Aussage, soll sie eine wahre sein, begründbar sein muß. Wir sahen bereits, wie die Satzwahrheit bei Leibniz und in der Neuzeit überhaupt als Übereinstimmung der Aussage oder des Urteils mit dem Ausgesagten bzw. dem Gegenstand verstanden wird und wie dies zurückgeht auf die adaequatio rei et intellectus bei Thomas von Aquin und diese wiederum auf die Aristotelische homoiosis. Doch gerade bei Aristoteles weist Heidegger auf einen ursprünglicheren Sinn der Wahrheit hin als der uns geläufige der Übereinstimmung der Aussage mit dem Gegenstand. Der Aristotelische logos apophantikos besagt laut Heidegger: "Seiendes von ihm selbst her sehen lassen" (SuZ § 33, S.154).44 Dies schließt ein, daß das Seiende schon vor einer Prädikation irgendwie offenbar, d.h. entdeckt sein muß. Die Aussage ist auch nur dann eine wahre, wenn sie das Seiende in seiner Entdecktheit sehen läßt. 45 Die Entdecktheit des Seienden ist dann aber in einem ursprünglicheren Sinne wahr als es die Übereinstimmung zwischen Aussage und Gegenstand ist. Heidegger nennt sie in Vom Wesen des Grundes die "ontische Wahrheit"(GA 9, S.130). Seiendes ist im vorprädikativen und vorerkenntnismäßigen Sichverhalten zu den umweltlichen Dingen immer

von "Sein und Zeit", Frankfurt a.M. 1991. Es sei ferner darauf hingewiesen, daß sowohl die Metaphysischen Anfangsgründe der Logik als auch die Abhandlung Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken (GA 9), S.123-175, vor dem Hintergrund der Grundprobleme entstanden sind. 44 Siehe auch SuZ § 7, S.32. 45 Siehe ebd., § 44, S.218.

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schon entdeckt. Und das Aussagen als Aussagen über. .. "ist selbst nur möglich auf der Basis eines Schon-seins-bei-Seiendem", eines "Umgangs mit... "(GA 26, S.158). Aus Sein und Zeit ist uns das Seiende, wie es uns im vortheoretischen Umgang begegnet, terminologisch als "Zeug" und die Seinsart des so begegnenden Seienden als "Zuhandenheit" bekannt. (SuZ, § 15, S.68 f) Das Glas als Zeug ist mir immer schon aus meinem besorgenden Umgang mit ihm vertraut, es ist darin immer schon, wenn auch unthematisch, für mich entdeckt. Wenn ich es aber ausdrücklich als Gegenstand thematisiere, gehe ich in ein modifiziertes, abständiges Verhalten über. Erst indern ich das Glas vorstellend vor mich bringe, leuchtet es mir als dieses Etwas auf, als dieses Ding dort, mit den und den Erscheinungsweisen und den und den Eigenschaften. Damit bin ich aber der vortheoretischen Verwobenheit desselben in meine Verhaltungen, in denen das Glas vordem geborgen war, verlustig gegangen. Das Glas begegnet mir eigens thematisiert in der Seinsweise der "Vorhandenheit". Als so Vorhandenes wird es zum vorgestellten "Worüber" meiner Aussage, welche gleichwohl fundiert bleibt im zuhandenen "Womit" des zutunhabenden Umgangs (ebd., S.l58). Der Umgang mit... als Schon-sein-bei... gehört aber wesenhaft zur Existenz als der "Seinsart des Seienden, das wir je selbst sind, das menschliche Dasein" (GA 26, S.l59). Zur Existenz gehört das Sein bei ... , so daß "das, wobei das Dasein als existierendes existiert, in diesem Sein-bei und für dieses enthüllt ist" (ebd.), und zwar vor jeder ausdrücklichen Thematisierung. Existierend ist das Dasein in der Seinsweise des Seins-bei, in dem und für welches Seiendes (zunächst als das alltäglich vertraute Womit des zutunhabenden Umgangs) enthüllt ist. Wenn keine Existenz ist, kann auch kein Seiendes erscheinen. Die Existenz ist also wesenhaft enthüllend, bezüglich des Seienden sagt Heidegger "entdeckend". Ist Seiendes nur in der Existenz des Daseins in seinem Sein enthüllt, dann muß das Enthüllend-sein des Daseins noch ursprünglicher sein als die ontische Wahrheit. Das Enthüllend-sein des Daseins gründet im zum Dasein wesenhaft gehörenden vorerkenntnismäßigen und vortheoretischen Seinsverständnis, in dem Sein überhaupt enthüllt ist, so daß die Enthülltheit von Sein überhaupt die Offenbarkeit von Seiendem - sowohl in der Seinsart des existierenden Daseins ("Erschlossenheit") als auch in der Seinsart des nicht daseinsmäßigen Seienden (Entdecktheit) - erst ermöglicht. Die Enthülltheit des Seins nennt Heidegger die "ontologische Wahrheit" (GA 9, S.131). In ihr gründet die ontische Wahrheit, die, wie wir sahen, ihrerseits ursprünglicher ist als die überlieferte Wesensbestimmung der Wahrheit, die sich an der Aussage (logos) und der Vorhandenheit orientiert. Wird gesagt, das Sein überhaupt sei im Seinsverständnis des existierenden Daseins enthüllt, so meint dies gerade nicht, das Sein alles Seienden gründe im

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''Dasein'' als einem Subjekt, welches im erkennenden Bezug zu den Gegenständen deren Sein eröffnet. Wir wären dann unversehens wieder in ein vorstellendes Denken zurückgefallen. Entscheidend für das Begreifen der hier dargelegten Sachverhalte ist deshalb ein gewandeltes Wesensverständnis des Menschen, welches diesen in und aus der Offenheit des Seins überhaupt begreift. Das Wesen des Menschen faßt Heidegger als Dasein, doch ist der Begriff Dasein nicht einfach ein neuer Name für das Seiende Mensch, sondern er ist als "reiner Seinsausdruck" (SuZ, § 4, S.12) zu nehmen, in dem das "Da-" die Enthülltheit oder Gelichtetheit des Seins überhaupt meint und das "-sein" auf das Sein des Menschen bzw. die Existenz verweist. Der Mensch ist in seinem Wesen, in dem, was und wie er ist, von Grund auf offen, und es ist für den Nachvollzug des Heideggerschen Denkens entscheidend, diese Offenheit von Beginn an als ein anfängliches Phänomen im Blick zu behalten. Das Seinsverständnis ist konstitutiv für die Existenz als das Sein, zu dem das Dasein sich immer schon irgendwie (aber nicht wie ein Subjekt zu einem Objekt)46 verhält (ebd.). Das Seinsverständnis ist also nicht eine Eigenschaft des Seienden Mensch, sondern "wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis" (ebd., § 2, S.5, meine Betonung). Erst von diesem her ist uns so etwas wie ein Seiendes Mensch erschlossen und Zuhandenes entdeckt, und in ihm gründet folglich das theoretische Erfassen von Seiendem als Vorhandenem. Die Existenz des Daseins hat den Charakter der Jemeinigkeit, d.h., daß es dem Dasein in seinem Sein um sein Sein geht. Enthülltheit von Sein geschieht demnach nur in der selbsthaften Erschlossenheit des Daseins. Auch hier muß wieder beachtet werden, daß das selbsthaft erschlossene Sein nicht nur das Sein des Menschen meint, sondern das Sein überhaupt, also auch das Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden. Das selbsthafte Erschließen ist keine aneignende Bewegung von einem Ich zu sich selbst, sonden wesenhaft offen und aus dieser Offenheit als der Gelichtetheit von Sein überhaupt zu denken. Daß die Erschlossenheit von Sein überhaupt mit der Jemeinigkeit des Daseins verwoben ist, besagt, daß im Erschließen einer jeweiligen Seinsmöglichkeit meines Daseins immer schon Sein überhaupt vorerkenntnismäßig verstanden und in diesem Verstehen enthüllt ist. Dabei kann sich eine jeweilige Daseinsmöglichkeit nur au/grund des Seinsverständnisses erschließen. Das Erschließen der Seinsmöglichkeiten bzw. des Seinkönnens des Daseins hat den Charakter des Entwurfs. Die Seinsmöglichkeiten des Daseins werden so

46 Es ist erstaunlich, wie viele Heidegger-Interpreten einer solchen groben 5ichtweise verfallen. Vgl. etwa Buchanan, James H.: Heidegger and the problem of ground. An evaluation, in: Philosophy Today 17, 1973,5.232-245.

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erschlossen, daß sich dieses auf sie entwirft; und dieses Sichentwerfen auf die Seinsmöglichkeiten des Daseins, welche zu begreifen sind als Bestimmungen der Existenz, faßt Heidegger in den Grundproblemen als "existenzielles Verstehen"47. In diesem versteht das Dasein sich selbst, nicht im Sinne einer Selbstreflexion, sondern so, daß es sich in den im verstehenden Entwurf eröffneten Möglichkeiten seiner selbst hält. Sich entwerfend auf diese oder jene Möglichkeiten seines Seins versteht das Dasein aber gleich ursprünglich auch die Existenz von anderem Dasein und das Sein des innerwe1tlich Seienden. Im existenziellen Verstehen ist also immer schon vor jeglicher ausdrücklicher Thematisierung dieses oder jenes Seiende aus seinem Sein her verstanden und so entdeckt, und nur deshalb kann ich mich so oder so zum innerwe1tlich begegnenden Seienden verhalten. In jedem ontisch-existenziellen Verstehen liegt mithin ein Verstehen von Sein überhaupt, von dem her Seiendes sowohl daseinsmäßiger als auch nichtdaseinsmäßiger Art erschlossen ist. Dies wird des näheren noch aufzuweisen sein. Zunächst geht es uns hier um die vorläufige Herausarbeitung der im existenziellen Verstehen liegenden ontologischen Strukturen, wozu das Seinsverständnis gehört, als die Bedingung der Möglichkeit jeglichen ontisch faktischen Existierens, wie auch der Entdecktheit dieses oder jenes Seienden als was und wie es mir an ihm selbst in meinen verschiedenen Verhaltungen begegnet. Das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit liegt in der Erschlossenheit von Sein überhaupt, die in der seinsverstehenden Existenz enthüllt und offen gehalten wird. Wir haben bereits zwei wesentliche Seinsarten der Existenz angesprochen: das Sein bei und den Entwurf des Daseins auf seine Seinsmöglichkeiten, in denen immer schon ein Verstehen von Sein überhaupt liegt. Das Dasein kann sich aber nur auf solche Seinsmöglichkeiten entwerfen, in die es immer schon geworfen ist. Sein überhaupt kann darin entwerfend nur eröffnet sein, wenn zum Seinsverständnis auch immer schon die Geworfenheit in die Erschlossenheit von Sein überhaupt gehört. Entwurf, Geworfenheit und Sein-bei sind die drei Existenzialien bzw. existenzialen Strukturen, in denen sich die Existenz vollzieht, so daß mir aus und in der geworfen-entworfenen Erschlossenheit von Sein überhaupt Seiendes im besorgenden Sein-bei begegnet. Die drei Existenzialien sind in ihrer wesentlichen Einheit und Gleichursprünglichkeit zu bedenken, doch so, daß dem Entwurf aufgrund des Transzendenzcharakters des Daseins ein gewisser Vorrang eignet. Auch dies wird erst später deutlicher werden. Es soll zunächst der Blick darauf gewendet werden, daß mit der Erschlossenheit von Sein überhaupt gleichursprünglich Seiendes entdeckt ist. Sein im geworfenen Entwurf verstehen, besagt so viel wie Sein von Seiendem verstehen. "Im Verstehen von Sein liegt das Vollziehen

47

Siehe GA 24, S.395.

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dieses Unterscheidens von Sein und Seiendem" (GA 26, S.l93), indem aus der und in der Erschlossenheit von Sein Seiendes entdeckt ist. Ontische und ontologische Wahrheit betreffen "je verschieden Seiendes in seinem Sein und Sein von Seiendem" (GA 9, S.134). Der ontologische Unterschied von Sein und Seiendem ist dabei, wie wir sahen, aus dem und im Vollzug des Unterscheidens zu denken, welches niemals bei zwei Geschiedenen endet: Sein ist immer Sein von Seiendem und Seiendes immer Seiendes in seinem Sein. Philosophisch thematisiert und d.h. "ausdrücklich vollzogen" nennt Heidegger den zur Existenz gehörenden Unterschied von Sein und Seiendem die "ontologische Differenz" (GA 24, S.454). Ihr Vollzug ist in der Transzendenz des Daseins zu denken. b) Transzendenz und In-der-Welt-sein Die Transzendenz nennt bei Heidegger die "vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung" des Daseins (GA 9, S.137). Diese nennt Heidegger wiederum das "ln-der-Welt-sein"48. Die Transzendenz geschieht vor aller Verhaltung, sofern in ihr der Grund jeglicher Verhaltung zu suchen ist. Den Verhaltungen des Daseins geht, wie wir sahen, die Erschlossenheit von Sein und darin die Entdecktheit von Seiendem voraus. Aus dieser Erschlossenheit gilt es nun, die Transzendenz zu fassen, die selbst wiederum die Weise nennt, in der die Erschlossenheit geschieht. Die Phänomenologie zurückgehend auf Husserl hat jegliches Verhalten als intentionales gefaßt. Das Seiende wird dabei als Vorhandenes genommen und der intentionale Bezug zu ihm als ein Erkennen (sowohl vorwissenschaftlich lebensweltIich als auch theoretisch wissenschaftlich). Mit der Intentionalität ist demnach noch nicht der ursprünglichste "Bezug" zu Seiendem gedacht, also auch nicht in der HusserIschen Lebenswelt, in der alles wissenschaftlich erkennende Verhalten zu Seiendem gründet. 49 Mit der Transzendenz und dem Inder-WeIt-sein ist ein noch ursprünglicheres Phänomen angesprochen, denn die Intentionalität ist nur auf dem Grunde der Transzendenz möglich. 50 Formal gesehen sind in der Transzendenz folgende Momente zu unterscheiden: I. Die Transzendenz als ein Überschreiten; 2. das Transzendierte als das, was überschritten wird; 3. das Transzendente als das, wohin der Überschritt

48 Vgl. SUZ, I. Abschnitt, Kap. 2: "Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins", S.52ff. 49 Vgl. hierzu F.-W. v. Herrmann: Subjekt und Dasein. Interpretationen zu "Sein und Zeit", 2., stark erw. Aufl., Frankfurt a.M. 1985, S.44ff. 50 VWdG, GA 9, S.135.

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vollzogen wird; 4. das Transzendierende, das den Überschritt vollzieht. Die Transzendenz als Grundverfassung des Daseins kann nicht eine Beziehung zwischen einer Innensphäre und einer Außensphäre im Sinne einer Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt meinen. Noch auch kann die Transzendenz als gelegentlicher Überschritt verstanden werden. Vielmehr ist als Grundverfassung des Daseins das Überschreiten ein je schon vollzogenes, besser gesagt: 'Das Dasein selbst ist der Überschritt." (GA 26, S.211) Das Sein des Daseins, die Existenz, vollzieht sich ursprünglich als Überschreiten. Und erst auf dem Grunde dieses je schon vollzogenen Überschritts, d.h. nur weil Dasein als existierendes, also überschreitendes, in einer Welt ist, kann es sich zu Seiendem so oder so verhalten. Was überschritten wird, ist so gerade das Seiende selbst. Nicht nur das nichtdaseinsmäßige Seiende, sondern auch und gerade das Seiende, als welches das Dasein existiert, der "Mensch".51 Das Wohin des Überschritts ist die Welt. Diese wird jedoch nicht als eine vorhandene gedacht, noch auch als die Allheit des Seienden. Sie wird überhaupt nicht im Sinne eines "Was" gedacht, sondern vielmehr als das Sein begriffen, d.i. als die Seinsweise des Seienden im Ganzen. Die Welt kennzeichnet so die Ganzheit des Seienden in seinem Wiesein in der Totalität seiner Seinsmöglichkeiten. 52

Das Seiende im Ganzen ist in der Transzendenz des Daseins je schon überschritten auf sein Sein hin, und zwar so, daß das jeweilige Seiende als solches, d.i. das Seiende in seinem Sein, erst und immer schon solange Dasein existiert, von seinem Seinshorizont her entdeckt ist. Im Überstieg kommt Dasein sowohl auf solches Seiendes zu, das es selbst ist, als auch auf solches Seiendes, das es "selbst" nicht ist, nämlich auf das innerweltlich entdeckte Seiende. 53 Seiendes ist nur, und das besagt: ist in seinem Sein erschlossen bzw. entdeckt (nicht aber faktisch hervorgebracht), wo und solange Dasein existiert. Als Grundverfassung des Daseins gehört die Transzendenz zum Sein des Daseins. Dieses Sein ist der vor aller Verhaltung geschehende Vollzug des Überschreitens und als solcher Vollzug ist er der Überschritt zur Welt. Deshalb bezeichnet Heidegger "das Grundphänomen der Transzendenz des Daseins mit dem Ausdruck: In-der-Welt-sein" (GA 26, S.213). In den Worten Transzendenz, Überschritt und In-der-Welt-sein ist vor allem der zeitliche Sinn herauszuhören und alles Vorstellungshafte fernzuhalten. Dies ist auf dem jetzigen Standort unserer Betrachtung noch besonders schwer, weil der Zusammenhang zwischen

51

52 53

VWdG, GA 9, S.138. GA 26, S.231. VWdG, GA 9, S.138.

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Zeitlichkeit und Transzendenz noch nicht herausgestellt ist und die Transzendenz erst von der Zeitlichkeit her in ihrem Grunde faßbar ist (wie Heidegger selbst vermerkt)54. Zudem birgt die aus dem gedanklichen Zusammenhang herausgehobene Redeweise eines "Je-schon-transzendiert-habens" und eines "Jeschon-in-der-Welt-seins" Mißverständnisse in sich. Das Je-schon-transzendierthaben schafft gleichsam das Bild, als sei da ein Seiendes (Vorhandenes), das von einem Subjekt überschritten wird in ein 'Draußen", um von da aus für ein Vorstellen entdeckt zu werden, wo doch der Sinn von so etwas wie einem Vorhandenen und einem Subjekt erst aus der Transzendenz und damit aus der selbsthaften Erschlossenheit des Daseins und Entdecktheit von Seiendem offenbar wird. 55 Und der Ausdruck Je-schon-in-der-Welt-sein legt die Vorstellung nahe, es gäbe zu einem Innerhalb der Welt auch ein Außerhalb, so daß das In-der-Welt-sein so verstanden wird, als sei ein vorhandener Mensch in der ihn umgebenden vorhandenen Welt. Demgegenüber ist der ontologische und zeitliche Sinn herauszuhören: Das In-der-Welt-sein ist die existenziale Grundverfassung des Daseins, die Weise, wie das Dasein ist. Als ontologische Aussage sagt dies nichts über die faktische Existenz aus (hier liegt ein bedeutendes Mißverständnis der Existenzphilosophie). Vielmehr ist das Dasein in seinem Wesen In-der-Welt-sein und kann nur deshalb faktisch als Dasein existieren. (GA 26, S.217) Entsprechend dem, was oben zur Existenz ausgeführt wurde, muß im In-derWelt-sein zunächst folgende ganzheitliche Struktur vor Augen gehalten werden: Zur Existenz gehört das je schon faktisch Geworfensein in eine Welt, d.h. in die Offenheit bzw. Gelichtetheit von Sein überhaupt und damit in die Erschlossenheit von daseinsmäßigem Seienden und in die Entdecktheit von nicht-daseinsmäßigem Seienden. Zugleich wird im verstehenden Entwurf die Gelichtet-

GA 26, S.214. Die hier möglichen Mißverständnisse werden allerdings von der Begrifflichkeit, von der Heidegger Gebrauch macht, begünstigt. Denn wenn ich sage, in der Transzendenz sei Seiendes immer schon überschritten, setze ich sprachlich gesehen doch wieder ein Seiendes an, von dem ich übergehe auf das ihm zugrundeliegende Sein. Heidegger spricht also in SUZ noch in der Sprache der Metaphysik, wenn er auch der Sache nach schon weiter weist. Sein Denken ist wissend von dem geleitet und spricht aus dem, wohin die Transzendenz erfolgt: vom Sein selbst in seinem zeitlichen Sinn. Viele modeme Interpreten Heideggers sehen in der ihn und das zeitgenössische Denken allgemein bedingenden metaphysischen Sprache ein Unvermögen, die Metaphysik gänzlich zu überwinden. Wir sprechen, so lautet das Argument, notgedrungen immer in der Sprache der Metaphysik und bleiben insofern, wenn vielleicht auch nur teilweise, der Metaphysik verhaftet. Doch nimmt eine solche Argumentation den Ausgang von einer gegebenen metaphysischen Sprache und unterbindet so möglicherweise ein ursprünglicheres Einsehen in ihren Ursprung aus dem Sein selbst. 54 55

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heit von Welt aufgeschlossen und offengehalten für das besorgende Sein-bei, in dem uns das innerweltlich Seiende begegnet. In Vom Wesen des Grundes und in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik nähert sich Heidegger dem In-der-Welt-sein durch eine geschichtliche Besinnung auf den Weltbegriff in der bisherigen abendländischen Philosophie. Ich verzichte hier auf den Nachvollzug dieses Ansatzes und folge zur konkreten Herausarbeitung des Weltphänomens Heideggers Ausführungen in Sein und Zeit (§ 18: "Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der Welt", S.83ft), wo er das Phänomen der Welt über die Analyse der Gebrauchsdinge erstmalig sichtbar macht. Wir betrachteten das Phänomen der Welt bisher so weit, daß wir sahen: Die Welt ist das, worauf zu Dasein je schon transzendierend ist, so daß von ihr her Seiendes in seinem Sein allererst entdeckt ist. Das Seiende ist dabei nicht primär als Vorhandenes zu fassen, sondern in der Seinsweise der Zuhandenheit. Seiendes ist vortheoretisch und vorerkenntnismäßig für den besorgenden Umgang immer schon als zuhandenes Zeug entdeckt. Demgegenüber ist die Vorhandenheit, in der wir das Seiende als ein Etwas vorstellen, eine modifizierte, abkünftige Seinsweise. Das zuhandene Zeug begegnet innerweltlich aus der vorgängigen Erschlossenheit von Welt. Es begegnet jeweils in einer bestimmten Dienlichkeit, Abträglichkeit, Verwendbarkeit und ähnlichem. Der Stift dient zum Schreiben, die Tasse zum Trinken. Dienlichkeit und Verwendbarkeit sind konkrete Verweisungen (SuZ, S.83). Zuhandenes hat somit in seinem Sein die Struktur der Verweisung. Diese ist seine Zeugverfassung und sein Seinscharakter und nicht etwa eine Eigenschaft, welche nur einem vorgestellten Vorhandenen zukommen kann. Seiendes ist je schon aus und in der Erschlossenheit von Welt daraufhin entdeckt, "daß es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen ist" (ebd., S.84). Nochmals sei betont, daß hier die Vorstellung abzuwehren ist, nach der es ein Ding gibt, das, sofern es unter anderen zu ihm gehörenden Dingen vorkommt, auf anderes Seiendes verweist. Das zuhandene Seiende ist umgekehrt, und d.h. ontologisch, aus der Verwiesenheit als seinem Seinscharakter zu denken. Heidegger nennt diesen Seinscharakter des Zuhandenen die Bewandtnis, in dem Sinne, daß es mit dem zuhandenen Zeug bei etwas sein Bewenden hat. Das, womit es eine Bewandtnis hat ist nichts anderes als das Wozu der Dienlichkeit. Mit dem Stift hat es beim Schreiben sein Bewenden. Der Stift ist als solcher aus dieser Bewandtnis je schon entdeckt, er ist auf die Bewandtnis je schon "freigegeben" (ebd.). Die jeweilige Bewandtnis ist jedoch immer aus einer Bewandtnisganzheit vorgezeichnet. Heidegger erläutert dies am bekannten Beispiel des Hammers: "Mit diesem Zuhandenen, das wir deshalb [aufgrund der Bewandtnis] Hammer

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nennen, hat es die Bewandtnis beim Hämmern, mit diesem hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter; dieser 'ist' um-willen des Unterkommens des Daseins, das heißt, um einer Möglichkeit seines Seins willen" (ebd.). Die Bewandtnisganzheit empfängt diese ihre Ganzheit aus einem letzten Wobei, bei dem es selbst keine Bewandtnis mehr hat. Das letzte Wobei der Bewandtnis kann aber offenbar nicht von der Seinsart des Zuhandenen sein, dessen Sein als Verweisung bestimmt ist. Das letzte Wobei ist das primäre Wozu, und dies ist das "Worum-willen", aus dem die Bewandtnisbezüge in ihrer Ganzheit freigegeben sind. Die Bewandtnisbezüge des Hammers sind umwillen einer Möglichkeit des Seins des Daseins, das nicht als innerweltliches begegnet, sondern dessen Sein, wie wir sagten, als In-der-Weltsein verfaßt ist. Die Bewandtnisbezüge sind um willen des Seins des Daseins, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Die Jemeinigkeit des Daseins wurde im Zusammenhang mit dem Wesen der Wahrheit bereits angesprochen. Jemeinigkeit besagt, daß es dem Dasein in seinem Sein um dieses Sein selbst geht; Sein ist also selbsthaft erschlossen, so aber, daß in dieser selbsthaften Erschlossenheit Sein überhaupt enthüllt ist, mithin auch das Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden. Wir sahen ferner, daß das Sein überhaupt in der Transzendenz des Daseins enthüllt ist, welche die Grundverfassung des Daseins ist. Diese wurde des näheren bestimmt als In-derWelt-sein, und das, worauf das Dasein existierend transzendiert, ist das Phänomen der Welt. Die Welt ist dabei nichts anderes als das Sein des Seienden im Ganzen. Aus ihr begegnet Innerweltliches in der Seinsweise der Zuhandenheit oder Vorhandenheit, und sie ist gelichtet in der selbsthaften Erschlossenheit des Daseins. Wenn nun das Sein des innerwelt1ich Zuhandenen als Bewandtnis bestimmt wird, so muß zwischen Bewandtnisganzheit und Welt ein ontologischer Bezug herrschen, den es zu entfalten gilt. Das innerweltlich zunächst Zuhandene ist in seiner Bewandtnisganzheit je schon aus einem Worumwillen freigegeben. Heidegger bestimmt dieses Freigeben als ein vorgängiges "Bewenden-lassen", als ein "Seinlassen" im ontologischen Sinne. Das Zuhandene ist darin in seiner Bewandtnis je schon entdeckt. Sofern nun die jeweilige Bewandtnis aus der Bewandtnisganzheit vorgezeichnet ist, kann die Bewandtnis des jeweilig Zuhandenen nur auf dem Grunde der Vorentdecktheit einer Bewandtnisganzheit entdeckt sein. Diese ist im Bewendenlassen aus dem zum Dasein gehörigen Worumwillen der Bewandtnis als einer Seinsmöglichkeit des existierenden Daseins freigegeben. Im Worumwillen einer Seinsmöglichkeit des Daseins liegt das Freigeben der Bewandtnisganzheit auf etwas hin. Dieses Woraufhin muß im Bewendenlassen selbst immer schon erschlossen sein. Es ist nichts anderes als die Welt, die im Seinsverständnis des Daseins selbsthaft erschlossen ist. "Das vorgängige Erschließen dessen, woraufhin die Freigabe des innerweltlichen Begegnenden erfolgt, ist nichts anderes

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als das Verstehen von Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon immer verhält." (ebd., S.86) Das Verstehen von Welt, in dem das vorgängige Bewendenlassen gründet, erschließt die Bewandtnisganzheit in ihrem Wobei und Womit und Worumwillen. Das Dasein hat sich dabei selbst je schon aus einem Worumwillen her, also aus einer Seinsmöglichkeit seiner Selbst her, an ein Umzu, Dazu und Wobei des Bewendenlassens und an das Womit einer Bewandtnis verwiesen, in der es immer schon Seiendes als Zuhandenes begegnen läßt. Das, worin das Dasein sich vorgängig verweisend versteht, ist nichts anderes als das Woraufhin des vorgängigen Begegnenlassens von Seiendem in der Seins art der Bewandtnis, nämlich die Welt. Dasein existiert umwillen der Welt, woraufzu es transzendiert. In der Welt hält sich das Dasein das Umwillen seiner selbst vor. Denn das Umwillen der Bewandtnisganzheit, an das sich das Dasein je schon verwiesen hat, ist das Umwillen des Daseins, dem es auf diese Weise in seinem Sein um sein Sein geht. In Vom Wesen des Grundes schreibt Heidegger, die Welt sei das, "aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann" (GA 9, S.157). Be-deuten nennt Heidegger in Sein und Zeit den Bezugscharakter der Verweisungsbezüge der Bewandtnisganzheit. "In der Vertrautheit mit diesen Bezügen 'bedeutet' das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprünglich sein Sein und Seinkönnen zu verstehen hinsichtlich seines In-der-Welt-seins." (SuZ, S.87) Das Be-deuten ist also aus der selbsthaften Erschlossenheit des Daseins zu denken, in der das Dasein umwillen einer Seinsmöglichkeit seiner selbst existiert, so daß es sich im Umwillen einer Seinsmöglichkeit immer schon an eine Bewandtnisganzheit verwiesen hat, mit der es je schon vertraut ist. Das Dasein hält sich in seinem Seinsverständnis immer schon in diesen Bezügen, und "im vertrauten Sich-darin-halten hält es sich diese vor als das, worin sich sein Verweisen bewegt" (ebd.). Das im Seinsverständnis geschehende Vor-sich-selbst-bringen der Welt als einer Möglichkeit des Daseins nennt Heidegger den ''Entwurf von Welt" (GA 9, S.158). Dieser Weltentwurf ist als das transzendierende Geschehen des In-der-Welt-seins zu denken. Im Hinblick auf die Transzendenz spricht Heidegger deshalb vom Entwurf von Welt als einem "Überwurf der entworfenen Welt über das Seiende" (ebd.). Die vorgängige Erschlossenheit des Seins, von der her Seiendes in seinem Sein offenbar wird, wird erschlossen im vorgängigen Überwurf als einem transzendierenden Geschehnis, in welchem sich "das Sein des Daseins zeitigt" (ebd.). Dieses Sichzeitigen des Seins des Daseins ist das In-der-Welt-sein.

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c) Die Freiheit zum Grunde als stiftend boden-nehmendes Be-gründen Bevor wir uns dem ZeitIichkeitscharakter des Daseins zuwenden, folgen wir Heidegger zunächst einen Schritt weiter in Richtung auf die Frage nach dem Wesen des Grundes. Der Weltentwurf ist der transzendierende Entwurf des Umwillens, auf das hin Seiendes in der Bewandtnisganzheit freigegeben ist, so daß sich das Dasein aus dieser Bewandtnisganzheit zu bedeuten gibt und darin die Welt im verstehenden Entwurf vor sich bringt. Heidegger nennt das, was "seinem Wesen nach so etwas wie das Umwillen überhaupt entwerfend vorwirft", die Freiheit (GA 9, S.163). Die Freiheit als Entwurf ist der Ursprung des UmwiIIen, und zwar so, daß in eins mit ihr auch schon das UmwiIIen entsprungen ist. 56 Als Entwurf ist die Freiheit nicht die Freiheit des WiIIens, in dem Sinne, daß der Mensch in seinem WiIIen frei ist, dies oder jenes zu tun oder zu lassen. Denn im freien Weltentwurf, d.h. im Entwurf des UmwiIIen, wird ja aHererst eine Seinsmöglichkeit des Daseins erschlossen, aus der es sich zu Seiendem und zu Möglichkeiten seines Seins so oder so verhalten kann. Die so verstandene Freiheit hat auch nicht den Sinn der Willensfreiheit als Spontaneität (Kant), in der der menschliche Wille absolute Ursache ist. Der Entwurf des Umwillen hat ferner weder kausale noch absolute Bedeutung, da ja die Freiheit als Entwurf zugleich geworfen ist. Die Seinsmöglichkeiten, die im freien Entwurf eröffnet werden, sind zugleich solche, in die das Dasein je schon faktisch geworfen ist. Mit dem freien Entwurf wird also zugleich die Geworfenheit der so eröffneten Seinsmöglichkeiten eröffnet. Die Freiheit erweist sich somit als endliche Freiheit. Die Freiheit steht in engem Zusammenhang mit der Wahrheit als der Erschlossenheit bzw. Offenheit oder Gelichtetheit von Sein. In ihr ist das "Freimachen" (Lichten) herauszuhören, das entwerfende Eröffnen und OffenhaIten einer Ganzheit welthafter Bezüge. In ihr liegt deshalb zumal das Eröffnen der Möglichkeiten des Seins des Daseins (und damit die Lichtung von Sein überhaupt) und das Binden an die eröffnete Seinsmöglichkeit des Daseins zu sich selbst, zu anderem Dasein und zu Seiendem von nichtdaseinsmäßiger Art. Das Eröffnen der Möglichkeiten des Seins des Daseins hat einen überschüssigen, "übertriftigen" Charakter?, in dem Sinne, daß das Dasein im freien Weltentwurf immer schon mehr ist als es, woHten wir es als Vorhandenes betrachten, im Sinne einer konkreten Bestimmung "ist".58 Und erst aus diesem Überschuß Siehe GA 26, S.247. Siehe GA 26, S.248f. 58 Wenn das Dasein sich im freien Weltentwurf auf seine Seinsmöglichkeiten hin entwirft, so daß es darin überschüssig ist, so impliziert diese Redeweise einen existen56 57

5 Neu

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der Möglichkeit heraus bindet sich das Dasein in der Freiheit, indem es sich das Umwillen entgegenhält, an die im geworfenen Entwurf eröffneten Seinsmöglichkeiten. Erst aus dem freien Widerhalt des Worum willen des Daseins und als solcher wird Welt eröffnet und kann Seiendes begegnen. Überschuß und Bindung gehören zu dem einen Geschehen der Transzendenz und sind, was noch entfaltet werden muß, als eine Zeitigung zu denken. Als im überschüssigen Widerhalt bindende ist aber die Freiheit der Ursprung von Grund überhaupt: "Freiheit ist Freiheit zum Grunde". (GA 9, S.165) Die Freiheit zum Grunde hat als geworfener Entwurf Geschehenscharakter, ist also ein Gründen, welches Heidegger in Vom Wesen des Grundes in drei zusammengehörige Weisen des Gründens entfaltet, nämlich in das Stiften, das Boden-nehmen und das Be-gründen. Diese drei Weisen des Gründens stehen in engstem Zusammenhang mit den drei Grundstrukturen, die das In-der-Weltsein, also die Transzendenz des Daseins selbst in seiner Ganzheit strukturieren, nämlich mit dem Entwurf, der Geworfenheit und dem Sein-bei. Sie wurden als Seinsweisen des Daseins erläutert. In Ihrer Ganzheit bilden sie das, was Heidegger in Sein und Zeit die "Sorge" nennt59 , d.i. das Sein des Daseins. Dasein existiert in der Weise des transzendierenden geworfen-entworfenen Seins-bei. Dieses Sein ist ein "Geschehnis", nicht in der Zeit, wohl aber ein zeitliches, ein sich zeitigendes. Deshalb ist der ontologische Sinn der Sorge in der Zeitlichkeit zu suchen.60 In Vom Wesen des Grundes klammert Heidegger die ganze Frage nach der Sorge und der Zeitlichkeit aus. In der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik geht Heidegger wohl auf die Zeitlichkeit ein, klammert aber auch dort den Wesenszusammenhang mit der Sorge, wie sie in Sein und Zeit entfaltet wird, aus. Da aber diese Fragen für die Frage nach dem Wesen des Grundes leitend sind, werde ich auf diesen Zusammenhang noch explizit zurückgreifen. Zunächst seien die drei transzendentalen Weisen des Gründens aufgegriffen, wie Heidegger sie in Vom Wesen des Grundes entfaltet. Wegen ihres Wesenszusammenhanges mit der Sorge als dem Sein des Daseins werden auch die Grundstrukturen der Sorge dadurch näher erläutert. Wir behalten dabei folgende Fragen im Auge:

zialen Begriff der Möglichkeit, der wesenhaft anders zu verstehen ist als eine der Wirklichkeit entgegengesetzte bloße "Möglichkeit". Die existenziale Möglichkeit ist, so Heidegger, "die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins" (SUZ, S.143f). Als Sein können ist das Dasein immer schon in Möglichkeiten geworfen, die es zu übernehmen hat und die es immer schon so oder so übernimmt. Sein heißt demnach Sein als Möglichkeit bzw. Sein in der Möglichkeit. 59 Siehe besonders § 41 in SuZ, S.191ff. 60 Siehe § 65 in SuZ, S.323ff.

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1. Wie ist der Zusammenhang zwischen der Sorge und den drei Weisen des Gründens zu sehen? 2. Wie ist die Einheit der drei Weisen des Gründens zu verstehen? Die erste Weise des Gründens, das Stiften, ist nichts anderes als der verstehende Entwurf des Umwillen, also der überschüssig eröffnende Entwurf der Welt und damit der Seinsmöglichkeiten des Daseins zu sich selbst, zu anderem Dasein und zu Seiendem von nichtdaseinsmäßiger Art. Dieser Entwurf stand bisher bevorzugt im Blick, zumal ihm im eröffnenden Transzendenzgeschehen des Daseins gegenüber den zwei anderen Existenzialien ein gewisser Vorrang eignet. Der Entwurf vermöchte aber keine Welt zu erschließen und Seiendes müßte verborgen bleiben, wenn zu ihm nicht gleichursprünglich die Geworfenheit in die Erschlossenheit von Welt, und das sagt zugleich das Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen gehörte. Die Geworfenheit wird, so Heidegger, in der Befindlichkeit erschlossen. Diese ist neben dem entwerfenden Verstehen ein weiteres Existenzial, das die Erschlossenheit, also das "Da-" des Daseins konstituiert. In der Befindlichkeit ist das Dasein als gestimmtes Sichbefinden im Seienden im Ganzen zugleich immer schon (aus dem stiftenden Entwurf) vor es selbst gebracht, so daß es seinem Sein überantwortet ist als das Sein, das es existierend zu sein hat. 61 Dies ist das, was Heidegger die "Faktizität" des Daseins nennt. Das Dasein ist also immer schon in Möglichkeiten seines Seins geworfen, denen es überantwortet ist, mag es sie eigens ergreifen oder sich zunächst und zumeist von ihnen abkehren. Der geworfene Entwurf ist damit, wie bezüglich der Freiheit schon gesagt wurde, ein endlicher Entwurf. Er vermag nichts überwerfend stiftend zu erschließen, was ihm nicht in der Geworfenheit überantwortet wäre. Die Befindlichkeit erschließt das ganze In-der-Welt-sein und konstituiert so die Weltoffenheit des Daseins, aus der Dasein überhaupt von Seiendem angegangen werden kann und Angehendes begegnen kann. 62 Als befindliches ist deshalb das Dasein im stiftenden Entwurf je schon von Seiendem "durchstimmt" und angegangen. Das Dasein ist, mit anderen Worten, vom Seienden "eingenommen", es hat je schon "im Seienden Boden genommen, 'Grund' gewonnen" (GA 9, S.166; meine Betonung). Im Boden-nehmen liegt also die Bindung in der Freiheit zum Grunde. Sofern das Dasein in der Geworfenheit bestimmten Seinsmöglichkeiten überantwortet ist, und d.h. bestimmten anderen nicht, gehört zum Boden-nehmen ein je schon mit dem überschüssigen Entwurf einhergehender ''Entzug'' von Seinsmöglichkeiten. Das stiftend boden-nehmende Gründen ist damit überschwingend und entziehend zumal. (ebd., S.167) 61

62

5'

Siehe SUZ, S.134. SuZ, S.137f.

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Mit Blick auf das entwerfende Stiften von Welt muß noch ergänzt werden, daß, so wie das Stiften nur zu erschließen vermag, was ihm in der Geworfenheit überantwortet ist, andererseits das Dasein von Seiendem nur eingenommen werden kann, wenn mit solcher Eingenommenheit ein "Aufbruch von Welt" (ebd., S.166) mitgeht, der im stiftenden Entwurf geschieht. Stiften und Bodennehmen gehören mithin "zu einer Zeitlichkeit" (ebd.) und zeitigen in ihr noch eine dritte Weise des Gründens mit, nämlich das "Be-gründen". Dieses, so wurde formal angedeutet, ist im Zusammenhang mit dem Sein-bei, dem dritten Strukturmoment der Sorge, zu sehen. So wie das Sein-bei kein intentionales Verhalten meint, sondern in der Einheit mit dem geworfenen Entwurf die Entdecktheit von Seiendem für ein Verhalten überhaupt erst ermöglicht, ist auch das Begründen ontologisch als eine Ermöglichung der Entdecktheit von Seiendem zu begreifen. Be-gründen heißt also nicht wie im herkömmlichen Sinne ''beweisen'', sondern in ihm "übernimmt die Transzendenz des Daseins die Ermöglichung des Offenbarmachens von Seiendem an ihm selbst" (ebd., S.168). Die Entdecktheit von Seiendem wurde bereits als ontische Wahrheit gegenüber der ontologischen Wahrheit als der selbsthaften Erschlossenheit von Sein überhaupt erläutert. Das Be-gründen ist also im Zusammenhang mit der ontologischen Wahrheit zu sehen, welche die ontische Wahrheit ermöglicht, und d.h. in der die ontische Wahrheit gründet. In der Tat nennt Heidegger das Begründen die ontologische Wahrheit selbst (ebd., S.169). Die Begründung ist nämlich im Seinsverständnis zu suchen, als dem geworfen entwerfenden Erschließen von Sein überhaupt, das mit jedem existenziellen verstehenden Entwurf einhergeht. Alles Fragen und "Verstehen" im gewöhnlichen Sinne ist nur möglich aus der vorgängigen Erschlossenheit von Sein im Seinsverständnis des Daseins; und die Erschlossenheit von Sein als der ontologischen Wahrheit gründet in der Weise des transzendentalen Be-gründens alles Offenbarmachen des Seienden und das darauf gründende intentionale Verhalten zu Seiendem. Das Gründen in der dreifach-einigen Weise des Stiftens, Boden-nehmens und Begründens ist das Geschehen der Transzendenz und dieses, so Heidegger, "das Sichbilden des Einbruchspielraums für das jeweilige faktische SiChhalten des faktischen Daseins inmitten des Seienden im Ganzen" (ebd., S.170). Das Gründen als Freiheit zum Grunde gründet also für das Sichhalten, für eine Beständigkeit und einen Bestand des Daseins inmitten des Seienden im Ganzen. Um diese geht es im gründenden Geschehen der Transzendenz. In Sein und Zeit lesen wir folgenden Satz: ''Der eigene geworfene Grund zu sein, ist das Seinkönnen, darum es der Sorge geht" (SuZ, S.284). Das Sein des Grundes ist ein Gründen in der Weise, wie es entfaltet wurde. Es ist dabei selbst jeweilig ein Seinkönnen, darum es dem Dasein in seinem Sein, also in der Sorge, geht. Anders gewendet: Das Seinkönnen, darum es dem Dasein in seinem Sein geht, ist immer auch ein Grund-sein, ein Gründen, das dem Dasein allein Beständig-

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keit und Bestand inmitten des Seienden im Ganzen gewährt. Damit sind wir aber auch dem Zusammenhang zwischen Grund und Sorge näher gekommen. Heidegger nennt das Gründen des weiteren das Sichbilden eines Einbruchspielraums. Es ist also zeithaft bzw. zeitigend zu denken, so daß die Zeitigung einen Spielraum bildet für das Sichhalten im Seienden im Ganzen. Das transzendentale Gründen wurzelt in der Zeitlichkeit des Daseins, deren Behandlung im folgenden erlauben wird, nicht nur das dreifache Gründen der Freiheit zum Grunde nochmals ursprünglicher zu durchdenken und in seiner Einheit zu begreifen, sondern auch ein noch ursprünglicheres Gründen zur Sprache zu bringen: ein ab-gründiges Gründen. Doch dafür muß zunächst die Zeitlichkeit behandelt werden. d) Die ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit als das Sichzeitigen der Freiheit zum Grunde Die Zeitlichkeit nennt Heidegger die "innere Möglichkeit der Transzendenz selbst" (GA 26, S.252). Diese wurde entfaltet als der in der Befindlichkeit geworfene verstehende Entwurf des Worumwillen, als geworfen entworfenes Erschließen des Seins des Seienden im Ganzen für das entdeckende Sein bei im übertriftigen Widerhalt. Sie wurde ferner entfaltet als stiftend boden-nehmend be-gründendes Gründen. Das Geschehen der gründenden Transzendenz ist dabei nicht innerzeitlich zu denken. Vielmehr zeitigt sich in ihr die ursprüngliche Zeit, so daß das Sein zeithaft erschlossen wird für das Sein beim innerweltlich Seienden. An diesem orientiert sich das vulgäre Zeitverständnis, welches das Jetzt zum Ausgang für die Zeitrechnung nimmt, indem es die Zeit als eine Reihe aufeinanderfolgender Jetztteile versteht. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Logik hebt Heidegger vor allem zwei Momente der ursprünglichen Zeitlichkeit hervor: 1. ihren ekstatischen Charakter und 2. ihren Horizontcharakter. Der Weg, den er zur Herausarbeitung der ursprünglichen Zeitlichkeit einschlägt, gleicht dem in den Grundproblemen der Phänomenologie, wo er das Phänomen der ursprünglichen Zeitlichkeit im Ausgang von der vulgär verstandenen Zeit ansteuert. In Sein und Zeit hingegen erörtert er zunächst die ursprüngliche Zeitlichkeit als Sinn der Sorge, um danach zu zeigen, wie ihr die vulgär verstandene Zeit entspringt. Es sei ferner darauf hingewiesen, daß der Horizontcharakter der Zeitlichkeit, den Heidegger in den Metaphysischen Anfangsgründen der Logik mehr anspricht als entfaltet, in die Thematik der Temporalität weist, also in den in Sein und Zeit angekündigten aber fehlenden 3. Abschnitt des ersten Teils: "Zeit und Sein". Diesen hat Heidegger in den Grundproblemen in einer zweiten Fassung ausgearbeitet, und zwar mit einigen Modifizierungen gegenüber der zuerst für Sein

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und Zeit ausgearbeiteten 1. Fassung, die nicht mehr erhalten ist. 63 "Zeit und Sein" ist der Abschnitt, in dem nach der vorbereitenden Daseinsanalytik (die jetzt allein in Sein und Zeit enthalten ist) die Thematik einkehrt in die ausdrückliche Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, welcher in der Temporalität aufgefunden wird. Sein wird hier ausdrücklich aus der Zeit verstanden. Der Einbezug der Grundprobleme ist also für die Frage nach der fundamentalontologischen Bestimmung des Wesens des Grundes unerläßlich, zumal auf ihrem Hintergrund Heidegger sowohl seine Abhandlung Vom Wesen des Grundes als auch seine Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik ausgearbeitet hat. Nachdem die Grundprobleme bisher mehr unthematisch immer schon im Blick standen, soll auf sie in der nun folgenden Erörterung der Zeitlichkeit in ihrem ekstatisch-horizontalen Charakter ausdrücklich zurückgegriffen werden. 1. Die Zeitlichkeit hat ekstatischen Charakter, sofern sie sich in drei ursprünglich einigen Zeitekstasen zeitigt: dem Gewärtigen (die ursprüngliche Zukunft), dem Behalten (die ursprüngliche Vergangenheit) und dem Gegenwärtigen (die ursprüngliche Gegenwart). Der Begriff Ek-stase hat den Sinn eines "Aus-sich-heraustretens", eines "Außer-sieh-seins" bzw. der Ent-rückung. Die Zeitekstasen sind als solche Entrückungen zu verstehen und zwar als je schon vollzogene. Dabei ermöglichen sie erst ein Zeitverständnis, das sich an einer linearen Abfolge von Jetztteilen orientiert. Heidegger erläutert dies (GA 24, S.362ff, GA 26, S.257ff) im Ausgang von der Weise, wie sich das Dasein im alltäglich besorgenden Umgang ausspricht.

In unseren alltäglichen Verhaltungen ist für unser Zeitverständnis der Gebrauch der Uhr maßgebend und exemplarisch. Im Gebrauch der Uhr sind wir aber nicht thematisch auf die Zeit als Gegenstand gerichtet, sondern wir fragen nach der Zeit, z.B. um zu wissen, wie viel Zeit wir brauchen, um dies oder jenes zu erledigen, oder wann dies oder jenes Ereignis eintritt. Der alltägliche Umgang mit der Zeit gründet in gewissen Verhaltungen, die einen zeitlichen Sinn haben. "'Dann' kann ich nur sagen, wenn ich irgendeiner Sache gewärtig bin", sagt Heidegger (GA 24, S.366). Das Gewärtigen ist somit gegenüber dem Aussprechen des "Dann" das ursprünglichere Phänomen. Ebenso gehört zum Aussprechen eines "Damals" das Behalten eines Vormaligen (wovon das Vergessen eine Modifizierung ist). Und zum "Jetzt"-sagen gehört vorgängig ein Verhalten zu einem Anwesenden, das in meiner Gegenwart ist. Das "Jetzt"sagen gründet in einem Gegenwärtigen. Gewärtigen, Behalten und Gegenwärtigen sind Verhaltungen des Daseins, die im "Dann", "Damals" und "Jetzt"

63

Vgl. F.-W. v. Herrmann: Heideggers "Grundprobleme der Phänomenologie".

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immer schon mit ausgesprochen sind. Sie sind deshalb "Zeit in einem ursprünglicheren Sinne" (ebd., S.367). Diese im Ausgang vom alltäglichen Sichaussprechen der Zeit gewonnenen ursprünglicheren Zeitbestimmungen haben, wie schon erwähnt, ekstatischen Charakter. Im Gewärtigen liegt ein vorgängiges Erschließen von einem "Dann", in dem Sinne, daß alles mögliche Seiende schon in ein "Dannhaftes" übersprungen sein, d.h. entrückt sein muß, von dem her uns ein "dann (wird dies sein)" erst verständlich sein kann. (Wir finden hier also die Struktur der Transzendenz wieder, deren zeitlicher Sinn jetzt erörtert wird.) Der Sinn eines alltäglich ausgesprochenen "Dann" liegt in dem zum Dasein je schon gehörenden Gewärtigsein, in dem es immer schon "draußen ist" in der "Zukunft", so daß es diese Zukunft in einer bestimmten Weise ist. Entsprechend gründet der Sinn eines ''Damals'' in dem Behalten bzw. Vergessen, in dem ich je schon in die Vergangenheit erstreckt bin, sofern zum Daseins das Gewesensein gehört. Ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit ist mir als Vergangenes nur verständlich, weil mir vorgängig die Gewesenheit in meinem Gewesensein erschlossen ist in der Weise, daß ich je schon darin entrückt bin. Und "Jetzt"sagen kann ich nur, sofern ich je schon in das Offene einer Gegenwart entrückt bin, aus der mir Seiendes als Anwesendes erst begegnen kann. Nun gilt es, die drei Zeitekstasen noch genauer zu fassen und vor allem aufzuzeigen, wie sie ursprünglich zusammengehören, d.h. wie sie das Siehzeitigen der einen Zeitlichkeit des Daseins ausmachen. In der Zeitekstase der Zukunft, dem Gewärtigen, liegt das "Sich-selbst-vorweg", welches das zeitigende "Zu-sich-selbst" ermöglicht (GA 26, S.266). Das Zu-sich-selbst-kommen ist das Wesenhafte der Zu-kunJt. Dasein ist sieh selbst ekstatisch vorweg in seinem Seinkönnen und kommt in diesem Seinkönnen verstehend auf sich zu. Gewärtigen besagt demnach: "sieh selbst aus dem eigenen Seinkönnen verstehen" (ebd.). Das Gewärtigen liegt damit offensichtlich vor allem dem verstehenden, stiftenden Entwurf zugrunde, d.h. ist dessen primärer zeitlicher Sinn. So wie der Entwurf nur als geworfenes Sein bei ist, so ist ursprünglicher auch das Gewärtigen nur als behaltendes Gegenwärtigen. Die drei Zeitekstasen sind gleichursprünglich, wenn auch dem Gewärtigen ein Vorrang eignet. Dieser zeigt sich, wenn gesehen wird, wie die ursprüngliche Vergangenheit, die Gewesenheit (das "Behalten" oder "Vergessen") von Heidegger aus dem Gewärtigen entfaltet wird. Das im Gewärtigen sich zeitigende Auf-sieh-zukommen erstreckt sieh, sagt Heidegger, "auf das Ganze meines Gewesenseins" (ebd.), so daß sich die Gewesenheit nur aus und in der Zukunft zeitigt. Dasein ist, sofern es ist, auch immer schon gewesen; und auf dieses sein Gewesensein kommt es aus seinem Seinkönnen auf sich zukommend immer schon zurück. Die Gewesenheit

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zeitigt sich mithin als ein "Auf-sich-zurückkommen'064. Zukünftig auf sich zurückkommend übernimmt das Dasein die Seinsmöglichkeiten. in die es immer schon geworfen ist und die sieh ihm in der Befindlichkeit erschließen. Die Gewesenheit liegt also primär der Geworfenheit zugrunde als dem Schon-seinin ...• in dem das Dasein immer schon Boden genommen hat. Die dritte Zeitigung. das Gegenwärtigen (die ursprüngliche Gegenwart) ist aus der ekstatischen Einheit von Zukunft und Gewesenheit zu denken. doch so. daß sie in diese Einheit einbehalten bleibt. Im auf-sieh-zukommenden Auf-siehzurückkommen läßt das Dasein gegenwärtigend Seiendes als Anwesendes begegnen. Das Gegenwärtigen liegt also primär dem dritten Strukturmoment der Sorge. dem Sein bei als einem Be-gründen. zugrunde. Das geworfen entworfene Sein-bei als stiftend boden-nehmendes Be-gründen gründet in dem gewärtigend-gewesenen Gegenwärtigen als einem auf-sichzukommenden auf-sieh-zurückkommenden Gegenwärtigen. Damit ist erwiesen: Die Freiheit zum Grunde wurzelt im Sichzeitigen des Daseins. Heidegger weist darauf hin. daß "die Einheit der Ekstasen selbst ekstatisch" ist (GA 26. S.268). Ihr liegt kein tragender Grund zugrunde. sie zentriert auch nicht in einem sie haltenden Pol. vor allem nieht in einem gegenwärtig anwesenden Seienden. von dem der traditionelle Begriff der Zeit seinen Ansatz nimmt. Auch das "sich" im "Auf-sieh-zu" und "Auf-sieh-zurück" darf nieht als ein solcher Pol mißverstanden werden. Wir würden sonst stillschweigend wieder eine primäre Gegenwart einschmuggeln. die an einem Seienden (einem "Sich") abgelesen wird und würden versäumen. die Gegenwart in den Zeitekstasen des Gewärtigens und des Gewesenseins einzubehalten. Entgegen solchen Fehlinterpretationen ist die Zeitlichkeit laut Heidegger zu denken als ein "freier ekstatischer Schwung" (ebd.). Doch wie ist dies zu denken? Schwebt die Zeitigung nicht gleichsam im Niehts? Und wie kommt es. daß die Zeitekstasen sich nicht in ihre Ekstasen verlaufen. sondern diese in sieh kehrige Struktur aufweisen? 2. Der nächste Schritt zur Beantwortung dieser Fragen liegt im Aufweis. daß zur Zeitlichkeit auch ein Horizont gehört. Der Horizont ist das Wohin der Entrückung der drei in sieh einigen Zeitekstasen. Er ist "die offene Weite. wohinein die Entrückung als solche außer sich ist" (GA 24. S.378). Ihm eignet also vor allem eine Offenheit. in die hinein sich die Zeitlichkeit des Daseins im auf-sieh-zukommenden. auf-sieh-zurückkommenden Gegenwärtigen zeitigt. Zugleieh wird der Horizont in der Entrückung eröffnet und offengehalten. Er ist somit durch die Ekstase bestimmt.

64

V gl. SuZ, S.326.

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Der Horizont als Offenheit, in die die dem Sein des Daseins zugrundeliegenden Zeitekstasen entrückt sind, konstituiert zeithaft das "Da" als die Erschlossenheit von Sein überhaupt, die im sichzeitigenden "Sein" des 'Da" eröffnet und offengehalten wird. Dies muß freilich noch eingehender aufgezeigt werden. Innerhalb der vorbereitenden Daseinsanalytik von Sein und Zeit behandelt Heidegger den Horizontcharakter der Zeitlichkeit nur so weit, als er zeigt, wie die Transzendenz und das In-der-Welt-sein in der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit fundiert sind. Erst in den Grundproblemen wird entfaltet, wie der in der Zeitlichkeit des Daseins eröffnete Horizont das ist, von dem aus Sein überhaupt verstanden ist, daß folglich die horizontale Zeit (die Temporalität) als der Ursprung von Sein überhaupt zu begreifen ist. Nun soH zunächst der Horizontcharakter der Zeitlichkeit des In-der-Weltseins so weit, wie er in der Daseinsanalytik von Sein und Zeit behandelt wird, verfolgt werden. Er wird sich dabei als die Bedingung der Möglichkeit der Welt im transzendierenden In-der-Welt-sein erweisen. Die Welt als das, wohin Dasein als In-der-Welt-sein je schon transzendiert, birgt aber in sich die Erschlossenheit von Sein überhaupt (also auch von Sein von Seiendem nichtdaseinsmäßiger Art), das im Seinsverständnis des Daseins temporal erschlossen ist. Dies wird erst in einem weiteren Gedankenschritt im Zusammenhang mit den Grundproblemen erörtert. Der Horizont gliedert sich, entsprechend den drei Zeitekstasen, in drei Horizonte, die Heidegger als ''horizontale Schemata" (SuZ, S.365) bezeichnet. Zu jeder Zeitekstase gehört ihr jeweiliges Wohin, also ihr horizontales Schema. Das Schema der Gewärtigung, in dem das Dasein auf sich zukommt, ist das Um willen seiner. Dieses UmwiIIen ist das primär im verstehenden Entwurf eröffnete Umwillen einer Seinsmöglichkeit des Daseins und damit einer Seinsmöglichkeit auch zu anderem Dasein und zu Seiendem von nichtdaseinsmäßiger Art. Das Schema der Gewesenheit ist das "Wovor der Geworfenheit" des Daseins bzw. das ''Woran'' seiner Überlassenheit (ebd.). In diesem Schema ist das Dasein sich selbst in seiner Befindlichkeit erschlossen. Die Ekstase der Gewesenheit ermöglicht das Sichbefinden, indem es das Dasein vor das 'Daß" der eigenen Geworfenheit bringt und so dem Dasein seine faktischen Möglichkeiten erschließt, an die es überlassen ist und die es übernimmt, insofern es auf sie gewärtigend zurückkommt. Das Schema der Gegenwart wird durch das "Um-zu" bestimmt. Im Zusammenhang mit der Zeuganalyse ergab sich, daß sich das Dasein aus einem Worumwillen her je schon an das Um-zu einer Bewandtnis verwiesen hat. Das Um-zu wird nun das horizontale Schema der Gegenwart genannt, der Horizont,

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wohin die Gegenwärtigung entrückt ist und welcher das gegenwärtigende besorgende Sein-bei ennöglicht. Nun sind aufgrund der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit auch die horizontalen Schemata in ihrer Einheit zu bedenken als das, woraufhin das Dasein je schon ekstatisch-horizontal sich zeitigend erschlossen ist, nämlich die Welt. Dasein ist also sichzeitigendes In-der-Welt-sein. Somit hat sich der Horizontcharakter der ekstatischen Zeitlichkeit als Bedingung der Möglichkeit der Welt erwiesen, und es wurde gezeigt, daß zum sichzeitigenden Dasein immer schon das Sichzeitigen einer Welt in der Transzendenz gehört. Von Anfang an wurde betont, daß in der Transzendenz des Daseins Sein überhaupt aufgeschlossen ist. Dies ist entscheidend, um zu sehen, daß das Wesen des Grundes, das von Heidegger im Bezirk der Transzendenz des Daseins aufgesucht wird, keine bloß subjektive oder ontische, sondern eine ontologische Bestimmung erfährt. Das In-der-Welt-sein als Grundverfassung des Daseins, in der Dasein je schon zu einer Welt transzendierend ist, wurde in dieser Arbeit von Beginn an so ausgelegt, daß mit der Welt Sein überhaupt aufgeschlossen ist. Dies nachzuweisen verlangte zunächst die Herausstellung der Zeitlichkeit als das, worin die Grundstrukturen des Daseins (also auch die Welt) in ihrer Einheit und Ganzheit gründen. Dies ist auch das Ziel der Daseinsanalytik. Der nächste entscheidende Schritt auf dem Wege zur Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, und damit nach dem Wesen des Grundes überhaupt, muß aber dann der sein, zu zeigen, wie im Sichzeitigen der Zeitlichkeit Sein überhaupt temporal aufgeschlossen ist. Die Brücke dazu bildet das zum Dasein wesenhaft gehörende Seinsverständnis. Wenn die Transzendenz des Daseins in der Zeitlichkeit wurzelt, dann wurzelt auch das Seinsverständnis, in dem Sein überhaupt gelichtet ist, in der Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit, sofern sie Bedingung der Möglichkeit von Seinsverständnis ist, faßt Heidegger in den Grundproblemen tenninologisch als "Temporalität" (GA 24, S.324). Diese erweist sich als die "Zeitlichkeit mit Rücksicht auf die Einheit der ihr zugehörigen horizontalen Schemata" (ebd, S.436). Für den Nachweis, daß in der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit Sein überhaupt aufgeschlossen ist, genügt es aufzuweisen, daß das Seinsverständnis, in dem Sein von nichtdaseinsmäßiger Art enthüllt ist, seinerseits in der Zeitlichkeit gründet, daß wir mithin immer schon das Sein von innerweltlich begegnendem Seienden aus der Zeit verstehen. Heidegger beschränkt sich deshalb in seinen Analysen "auf die Explikation der Gegenwart und ihres ekstatischen Horizontes, der Praesenz" (ebd., S.435). Wir sehen sogleich, daß Heidegger das horizontale Schema der Gegenwart nicht wie in Sein und Zeit als das Um-zu faßt, sondern ursprünglicher (das ergibt sich aus dem folgenden) als Praesenz. In den Grundproblemen erläutert

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er den Zusammenhang zwischen dem Gegenwärtigen (der Zeitekstase der Gegenwart) und der Praesenz (dem dazugehörenden Horizont) folgendermaßen: "Das Gegenwärtigen [... ] entwirft das, was es gegenwärtigt, dasjenige, was möglicherweise in und für eine Gegenwart begegnen kann, auf so etwas wie Praesenz." Im Sichzeitigen der Transzendenz geschieht, so lesen wir, ein Entwurf auf Praesenz. Die Zeitekstasen, die hier exemplarisch durch das Gegenwärtigen erläutert werden, faßt Heidegger als Entwürfe, wobei der Entwurf in einem engeren und zugleich ursprünglicheren Sinne zu fassen ist als der (in einem weiteren Sinne) verstehende Entwurf des Daseins auf eine Seinsmöglichkeit, von der her ihm gewärtigend auf-sieh-zurückkommend Seiendes begegnet. Im zuletzt genannten verstehenden Entwurf handelt es sich um den Entwurf auf Sein im Verstehen von Seiendem. Der Entwurf im engeren und ursprünglicheren Sinne dagegen bezieht sich auf das im Entwurf auf Sein je schon vollzogene Verstehen von Sein im Entwurf auf die horizontale Zeit. Die Betonung des Entwurfes in den Zeitekstasen ist auf dem Grunde des primär zukünftigen Charakters der Zeitlichkeit zu sehen. Es darf dabei freilich nicht vergessen werden, daß der Entwurf in sich immer auch geworfener Entwurf ist, und daß zum geworfenen Entwurf immer auch gleichursprünglich das Sein-bei gehört, auch wenn dies nicht immer eigens ausgeführt wird. Wie geschieht nun der im Seinsverständnis sichzeitigende Entwurf auf Zeit, jetzt mit Hinblick auf den Entwurf auf Praesenz erörtert? Der im Gegenwärtigen liegende Entwurf bedarf im vorhinein einer "schematischen Vorzeichnung dessen, wo hinaus" das Gegenwärtigen ekstatisch über sich hinaus ist (ebd.). "Was das Wohin des >über sich hinaus< als solches überhaupt bestimmt, ist die Praesenz als Horizont." (ebd.) Alles im Gegenwärtigen begegnende Seiende ist damit je schon auf Praesenz, d.h. auf Anwesenheit hin verstanden. Zuhandenheit, Abhandenheit, Vorhandenheit, als welche das Sein des Seienden bislang bestimmt wurde, sind Weisen der Praesenz. Damit ist gesagt, daß "das Sein des innerweltlich begegnenden Seienden praesential, und das heißt grundsätzlich temporal entworfen" ist (ebd., S.436). Und so kann Heidegger schließen: "Sein verstehen wir demnach aus dem ursprünglichen horizontalen Schema der Ekstasen der Zeitlichkeit". (ebd.) In diesem Sachverhalt liegt die innerhalb des fundamental ontologischen Ansatzes von Sein und Zeit sich vollziehende Kehre von "Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein't65, die später noch von der seynsgeschichtlich gedachten Kehre im Ereignis zu unterscheiden ist. Als das die Zeitekstasen im vorhinein in ihrem Wohin Bestimmende ist der Horizont das, woher die Zeitlichkeit sich in den Zeitekstasen zeitigt, so daß dieses

65 Vgl. dazu Heideggers Äußerungen in den Metaphysischen Anfangsgründen der Logik, GA 26, S.201f.

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bestimmende Woher sich öffnet und offengehalten wird im horizontalen Sichzeitigen der Ekstasen. Wir gelangten schon innerhalb der Daseinsanalytik zu der nunmehr vertieften Einsicht, daß die ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit Grundbedingung der Möglichkeit der Transzendenz und des in dieser gründenden entwerfenden Verstehens ist; des Verstehens von dieser oder jener bestimmten Seinsmöglichkeit, dieses oder jenes Seienden in seinem Sein, sowie vor allem des Seins überhaupt. Nun wendet Heidegger diese Einsicht in bedeutsamer Weise, wenn er sagt: "Rückwärts gewendet können wir sagen: Die Zeitlichkeit ist in sich der ursprüngliche Selbstentwurf schlechthin, so daß, wo immer und wann immer Verstehen [... ] ist, dieses Verstehen nur möglich ist im Selbstentwurf der Zeitlichkeit. Diese ist als enthüllte da, weil sie das >Da< und seine Enthülltheit überhaupt ermöglicht" (ebd., S.436f; meine Betonung). Der Selbstentwurf der Zeitlichkeit ist der letzte Grund, auf den Heidegger die Transzendenz des Daseins, die wir schon als dreifach gründendes Geschehen bestimmten, und das darin erschlossene Sein überhaupt zurückführt. Wie ist aber der "Selbstentwurf" der Zeitlichkeit zu begreifen? Der Entwurf wurde bereits als in sich wesenhaft eröffnend gefaßt. Im Sichzeitigen der Zeitlichkeit geschieht ein ekstatisch-horizontales Eröffnen, wodurch sie, wie Heidegger sagt, "das >Da< und seine Enthülltheit überhaupt ermöglicht", und zwar so, daß sie selbst in diesem Enthüllen erst als enthüllte da ist. Ihr liegt nichts weiter zugrunde, was den Entwurf vollziehen würde, und dieser bestimmt sich nicht mehr aus etwas anderem als der Zeit selbst. Zeitlichkeit ist bzw. zeitigt sich demnach als Selbstentwurf. Das Zeitigen der Zeitlichkeit vollzieht sich jedoch zugleich im Da-sein, d.h. im stiftend boden-nehmenden Be-gründen, in dem es dem Dasein in seinem Sein um sein Sein geht. Die ursprünglichste Bestimmung des Wesens des Grundes ist im Selbstentwurf der Zeitlichkeit zu suchen, genauer: im äußersten Entwurf auf die horizontale Zeit im Seinsverstehen des Daseins. Dieser äußerste Entwurf ist zugleich das anfänglichste Eröffnen. Daher bezeichnet Heidegger den Horizont, an dem die Zeitlichkeit ihr Ende hat, als "Anfang und Ausgang für die Möglichkeit alles Entwerfens" (ebd., S.437). Rühren wir auch mit dem Horizont der Zeitlichkeit an die ursprünglichste Bestimmung des Wesens des Grundes, so können wir uns dennoch mit diesem Ende nicht begnügen. Dieses Ende bleibt in vielerlei Hinsicht fragwürdig (Wie kann der als "offene Weite" bestimmte Horizont ein Ende sein? Was gibt uns eine Gewähr für diese Endlichkeit? Und wenn wir den Horizont als endlich zu begreifen haben, wie sollen wir dann diese Endlichkeit bestimmen?), ja es muß, wie Heidegger uns sagt, für eine ursprünglichere Begründung selbst noch zum Problem gemacht werden (ebd.). Heidegger verzichtet in den Grundproblemen

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darauf. Gleichwohl hat er an anderer Stelle die Endlichkeit der Zeit bedacht, nämlich in Sein und Zeit in der Thematik des Seins zum Tode. Wir werden darauf zurückkommen müssen. Besinnen wir uns zunächst auf das in der Frage nach dem Wesen des Grundes bislang Erreiehte: Das Wesen des Grundes hat einen zeitlichen Sinn, sofern es in der Zeitlichkeit gründet. Es zeitigt sich, wie wir aus den Anfangsgründen der Logik und dem Wesen der Wahrheit erfahren, als Freiheit zum Grunde. Die Freiheit wurde erläutert im Sinne eines ''Frei-machens'', als das entwerfende Eröffnen einer Ganzheit welthafter Bezüge, indem sie sich entwerfend das Umwillen als Horizont entgegenhält und sieh so an die im Entwurf eröffneten Seinsmöglichkeiten bindet. Dieses Geschehnis ist ein Gründen im Sinne eines stiftend boden-nehmenden Be-gründens und zeitigt sich als ein im Schema des Umwillen auf-sieh-zukommendes, im Schema des Wovor auf-sieh-zurückkommendes Gegenwärtigen. Im stiftenden Entwurf des Worumwillen kommt das Dasein auf sich zu. Solches Auf-sieh-zukommen durchgreift, so hieß es, die ganze Gewesenheit, in der das Dasein im Wovor der Geworfenheit auf sich zurückkommt, so daß es seine Geworfenheit übernimmt, in der es je schon Boden gewonnen hat. Das Übernehmen der im boden-nehmenden Stiften geworfen entworfenen Seinsmöglichkeiten des Daseins wurde als Be-gründen bezeichnet, als die Bedingung der Möglichkeit der Entdecktheit von Seiendem. Im Umwillen hat sich dadurch das Dasein je schon an ein Um-zu verwiesen, sofern die Freiheit sieh das Umwillen auf-sieh-zukommend auf-sieh-zurückkommend gegenwärtigend als Horizont entgegenhält. Wie fügt sich nun das als Selbstentwurf der Zeitlichkeit erläuterte ursprünglichere Wesen des Grundes in diese Bestimmung der Freiheit zum Grunde? Die Freiheit ist dasjenige, was "seinem Wesen nach so etwas wie das Umwillen überhaupt entwerfend vorwirft" (GA 9, S.163), indem sie es sich als Horizont entgegenhält. Das Umwillen kennzeichnet in einem vorzüglichen Sinne den Horizont, aus dem und in den hinein sich das Dasein stiftend bodennehmend be-gründend zeitigt. Der freie Entwurf des Umwillen ist, wie erörtert wurde, der Entwurf von Welt und darin liegt, wie die Grundprobleme uns lehren, der Entwurf der Erschlossenheit von Sein überhaupt. Die Enthülltheit von Sein im Entwurf auf den Zeithorizont geschieht aber ursprünglich aus der Zeit als Selbstentwurf der Zeitlichkeit. D.h. aber, daß die Freiheit ursprünglich als der Selbstentwurf der Zeitlichkeit zu verstehen ist. Anders gewendet: Der Selbstentwurf der Zeitlichkeit geschieht in der selbsthaften Erschlossenheit des Daseins, dem es in seinem Sein um sein Sein geht und das im Umwillen den Horizont der ekstatischen Zeitlichkeit öffnet und offenhält aus der schematischen Vorzeichnung, die im Zeithorizont selbst gegeben ist. Im Selbstentwurf

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der Zeitlichkeit gründet das stiftend boden-nehmende Be-gründen, doch so, daß er nur als stiftend boden-nehmendes Be-gründen gründet. e) Der Ab-grund als nichthafter Ursprung im nichtigen Gründen der Freiheit zum Grunde "Die Freiheit ist der Grund des Grundes." (GA 9, S.174) Sie ist als der Selbstentwurf der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit der Grund des dreifachen Gründens, also ihre ursprünglich gründende Einheit. Die Zeitlichkeit ist kein tragender Grund im Sinne eines fundamentum. Sie beruht auch nicht wiederum auf einem tragenden Grund. Die Freiheit als das zeitliche Entspringen des dreifachen Gründens in der Freiheit zum Grunde kann deshalb selber strenggenommen nicht als "Grund" bezeichnet werden. Sie ist vielmehr, wie Heidegger in Vom Wesen des Grundes auch sagt, ein Ab-grund (ebd.). Hängen dann aber nicht die ganzen bisherigen Analysen im luftleeren Raum? Das Umwillen, und damit das dreifache Gründen, entspringen gleichsam aus dem Nichts, denn der sichzeitigende Abgrund kann nicht mehr als ein "Etwas" vorgestellt werden. Er und das Gründen überhaupt entziehen sich dem gewöhnlichen Denken. Gleichwohl kann es mit dem Abgrund nicht gar nichts sein, wenn in ihm das dreifache Gründen entspringt, in dem das Dasein Sorge trägt für sein eigenstes Seinkönnen und für die Beständigkeit inmitten des Seienden im Ganzen. Der abgründige Grund im dreifachen Gründen ist also kein bloßes Nichts, wohl aber nichtig, oder nichthaft. Im Ab-grund bleibt der Bezug zum Grund ("-grund") erhalten. Der Bezug hat dann den Sinn eines "Weg von", eines Ent-zugs. Da er einen zeitlichen Sinn hat, ist der Abgrund ein abgründiges Gründen, ein nichthafter Ursprung. Doch wie ist dieser nichthafte Ursprung zu denken? Wenn er die Sorge, das Sein des Daseins, bestimmt, das Dasein aber das Wesen des Menschen ist; dann muß es für diesen auch die Möglichkeit geben, den abgründigen Grund seines Daseins existenziell zu erfahren und womöglich denkerisch zu durchdringen. Vor allem gilt es, die Zeitlichkeit konkreter aus der Erfahrung phänomenologisch zu fassen, um zu einem ursprünglicheren Verständnis derselben zu gelangen. In Vom Wesen des Grundes und in den Metaphysischen Anfangsgründen der Logik finden wir keine Antwort auf diese eindringlicheren Fragen nach dem abgründigen Gründen. Dafür bieten aber Heideggers phänomenologische Analysen zur "vorlaufenden Entschlossenheit" in Sein und Zeit die Möglichkeit, dieser Frage näher zu kommen. In der vorlaufenden Entschlossenheit wird die Zeitlichkeit ursprünglich erfahren. Die vorlaufende Entschlossenheit ist, gegenüber der durchschnittlichen Alltäglichkeit, in der das Dasein uneigentlich existiert, die eigentliche Existenzweise des Daseins, in der das Sein des Daseins ursprünglich erschlossen ist.

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Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind Grundmöglichkeiten der Existenz. Heidegger zeigt, daß das Dasein zunächst und zumeist in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit uneigentlich existiert. Es existiert zunächst und zumeist in der Verfallenheit an die Welt und damit in dem Verlorensein in die Öffentlichkeit des "Man". Alltäglich verstehen wir uns gerade nicht aus unserer eigensten Seinsmöglichkeit, sondern aus der besorgten Welt. Welt und innerweltlich Seiendes sind aber vor aller Verhaltung entdeckt im transzendierenden In-der-Welt-sein des Daseins, sofern Dasein sich in seiner Existenz immer schon an Seiendes verwiesen hat. Das Sein-bei ist gleichursprünglich mit der Geworfenheit und dem Entwurf ein Grundexistenzial der Sorge als des Seins des Daseins. Es hat aber zunächst und zumeist den Charakter des Verfallens, so daß in den alltäglichen, von der Öffentlichkeit bestimmten Verhaltungen die Entdecktheit des Seienden und die Erschlossenheit des Daseins und Mitdaseins nicht aus dem Ergreifen der eigensten Seinsmöglichkeit bestimmt sind. Die ganze Dimension der Erschlossenheit ist im Verfallen des Daseins übersprungen und bleibt verdeckt. Das Verfallen wird deshalb trotzdem von den ontologischen Existenzialien strukturiert, denn es ist nur möglich aufgrund des In-derWelt-seins, in dem Sein überhaupt aufgeschlossen ist. Wenngleich nun das Verfallen ein defizienter Modus der Erschlossenheit von Sein ist, so ist es doch andererseits die Weise, in der das Dasein zunächst und zumeist existiert. Deshalb hat die vorlaufende Entschlossenheit auch den Charakter der Ent-rückung von der alltäglichen Verfallenheit in die ursprünglichere Erschlossenheit der Seinsmöglichkeiten des existierenden Daseins. Heidegger thematisiert in Sein und Zeit die vorlaufende Entschlossenheit auf dem Wege der Frage nach dem möglichen Ganzsein des Daseins (I. Teil, 2. Abschnitt, 1. Kapitel) und der daseinsmäßigen Bezeugung des eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins (2. Abschnitt, 2. Kapitel), den wir im folgenden in einigen wesentlichen Zügen nachzeichnen werden. Das Ganzsein des Daseins wird strukturiert durch das Sein zum Tode, dessen existenziale Struktur die ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins ausmacht. (SuZ, S.234) Existenzial verstanden ist der Tod nicht das Ende des linear ablaufenden Lebens, sondern eine Seinsmöglichkeit des existierenden Daseins, in die es immer schon geworfen ist. "Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit" (ebd., S.250) und damit die äußerste Möglichkeit des Daseins. Vor diese Möglichkeit ist das Dasein immer schon geworfen. Sie ist seine äußerste Möglichkeit, die ihm immer schon bevorsteht, jedoch nicht als etwas, was das Dasein irgendwann faktisch einholen würde, so daß der mögliche Tod wirklich würde. Denn das Dasein ist immer schon in dieser Möglichkeit, die als Bevorstand das Dasein durchgreift. Diese existenziale Möglichkeit gründet vor allem im Struktunnoment der Sorge des Sich-vorweg, welches den zeitlichen Sinn eines Auf-sieh-zu hat. Das Sich-

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vorweg hat mithin im Sein zum Tode als der äußersten Daseinsunmöglichkeit "seine ursprünglichste Konkretion" (ebd., S.251). Auf sich zukommend ist dem Dasein diese äußerte Möglichkeit als ausgezeichneter, weil nie einzuholender Bevorstand erschlossen. Das Sein zum Tode ist dabei immer schon erschlossen als eine Möglichkeit, in die das Dasein auf sich zurückkommend immer schon geworfen ist. Die Befindlichkeit, in der die Geworfenheit in den Tod erschlossen ist, ist die Angst. Bereits im § 40 von Sein und Zeit behandelt Heidegger die Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins. Er zeigt dort, daß das Wovor der Angst das In-der-Welt-sein selbst ist. Im Unterschied zur Furcht, die immer Furcht vor einem innerweltlich Seienden ist, ist das Wovor der Angst völlig unbestimmt (ebd., S.185f). In der Angst rücken gerade alle konkreten Bezüge zu innerweltlich Seiendem weg, so daß "die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt" (ebd., S.187). Entsprechend ist das, worum die Angst sich ängstet, keine bestimmte Möglichkeit des Daseins, sondern das Seinkönnen des Daseins schlechthin. Indem alle konkreten Bezüge zu innerweltlich Seiendem entzogen werden, wirft die Angst das Dasein zurück von der Verfallenheit auf sein eigenstes und eigentliches Sein-können. Die Angst erschließt so mit der Geworfenheit in den Tod das In-der-Welt-sein im Ganzen und überantwortet das Dasein seinem Tod als der äußersten Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit, die es zu übernehmen hat. Das Sein zum Tode gehört so wesenhaft zum Sein des Daseins, also zur Sorge, daß es dessen Ganzsein strukturiert und dadurch die Erschlossenheit des Seins des Daseins in ausgezeichneter Weise mitkonstituiert. Freilich gibt es existenziell verschiedene Weisen, sich im Sein zum Tode zu halten und dabei dieses offenzuhalten oder zu verdecken. Zunächst und zumeist flüchtet das Dasein vor seinem eigensten Seinkönnen, also dem Sein zum Tode. 'Das Dasein stirbt faktisch, solange es existiert, aber zunächst und zumeist in der Weise des Verfallens." (ebd., S.251f) Im verfallenden Sein beim innerweltlich Seienden weicht das Dasein vor seinem Sein zum Tode aus, sofern "man" den Tod auf ein zukünftiges Vorkommnis reduziert, über ihn beruhigt und ihm gegenüber entfremdet. 66 Auch in diesem Ausweichen ist das Dasein vom Sein zum Tode bestimmt. Das Sein zum Tode ist dann ein uneigentliches, dem das eigentliche Sein zum Tode zugrunde liegt. Im eigentlichen Sein zum Tode wird dieses Sein als Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit jeglichen Existierens enthüllt. Das Sein zur Möglichkeit als Sein zum Tode nennt Heidegger das "Vorlaufen in die Möglichkeit" (ebd., S.262). Das Vorlaufen enthüllt eigens die Möglichkeit als solche

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Siehe ebd., § 51, S.252ff.

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und ermöglicht so ein eigentliches Sein zum Tode. Die Möglichkeit, die vorlaufend enthüllt wird, ist eine ausgezeichnete Seinsmöglichkeit, also ein Seinkönnen des existierenden Daseins, welches selbst als Vorlaufen sich zeitigt. Vorlaufend "erschließt sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner äußersten Möglichkeit" (ebd.). Dieses vorlaufende Erschließen ist ein verstehendes Entwerfen, in dem das Dasein sich in seinem eigensten Seinkönnen versteht, indem also das Dasein eigentlich existiert. Heidegger hebt fünf Charaktere des vorlaufenden Erschließens hervor, die die Struktur des Seins zum Tode umgrenzen. Der Tod im Sein zum Tode wird als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare, gewisse und unbestimmte Möglichkeit des Daseins bestimmt. Diese fünf Bestimmungen seien hier nur in Kürze wiedergegeben: 1) "Der Tod ist die eigenste Möglichkeit des Daseins" (ebd., S.263), sofern im Sein zum Tode dem Dasein das eigenste Seinkönnen erschlossen wird. Im Sein zum Tode, das sich dem existierenden Dasein in der Grundstimmung der Angst erschließt, geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Das Dasein versteht sich dann in seinem eigensten Seinkönnen, welches Verstehen zugleich "die faktische Verlorenheit in die Alltäglichkeit des Man-selbst" enthüllt (ebd.). 2) "Die eigenste Möglichkeit ist unbezügliche" (ebd.), weil vorlaufend in die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit das Dasein von dem alltäglich vertrauten besorgenden Sein beim innerweltlich Seienden und dem Mitsein mit Anderen zurückgeworfen wird auf sein eigenstes Seinkönnen. "Das Vorlaufen in die unbezügliche Möglichkeit zwingt das vorlaufende Seiende in die Möglichkeit, sein eigenstes Sein von ihm selbst [dem Sein] her aus ihm selbst zu übernehmen." (ebd., S.263f) 3) "Die eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar" (ebd., S.264), sofern das Dasein den Tod als die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit nicht zu überholen vermag. Der Tod ist ein "ausgezeichneter Bevorstand" (ebd., S.2S1), der immer schon in die Existenz hineinragt, aber nur im eröffnenden Vorlaufen eigens erschlossen wird. Das Vorlaufen in die Unmöglichkeit jeglichen Existierens ist dabei die Erschließung der äußersten Möglichkeit der Selbstaufgabe (ebd., S.264). Es befreit so von den in der Alltäglichkeit zufällig sich andrängenden Möglichkeiten und befreit zu einem eigentlichen Verständnis des eigenen Seinkönnens und des Seinkönnens Anderer und zu einem Wählen der faktischen Möglichkeiten, die immer schon zur Existenz, mithin auch zur eigentlichen Existenz, gehören. Das Vorlaufen in den Tod erschließt also gerade nicht nur die Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit jeglichen Existierens, sondern vorlaufend auf sich zukommend

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und auf sich zurückkommend zu und aus der äußersten Seinsmöglichkeit wird dem Dasein sein ganzes Seinkönnen eigentlich erschlossen. 4) "Die eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit ist gewiß" (ebd.). Die Gewißheit des Todes als der eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Möglichkeit ist eine ausgezeichnete Weise der Erschlossenheit dieser Möglichkeit, die durch das Vorlaufen ermöglicht wird. Nur im erschließenden Vorlaufen hält sich das Dasein in der erschlossenen Möglichkeit und ist sich so dieser gewiß. Es ist sich in der Gewißheit des Todes und durch sie auch erst der Ganzheit seines eigensten Seins und somit des In-der-Welt-seins gewiß. 5)"Die eigenste, unbezügliche, unüberholbare und gewisse Möglichkeit ist hinsichtlich der Gewißheit unbestimmt". (ebd., S.265) Im Vorlaufen bleibt das Wann der Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit unbestimmt und dadurch bleibt diese äußerste Möglichkeit als eine ständige Bedrohung. Das Vorlaufen hält sich in dieser Bedrohung, es hält sich offen für sie. Solches Offenhalten wird aber ermöglicht durch die Grundstimmung der Angst, in der das Dasein sich als vor und in die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Existierens geworfen erfährt. In der Angst I 'befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz" (ebd., S.266). Zum Vorlaufen, in dem das Dasein sich in der Ganzheit seines Seinkönnens versteht, gehört also die Grundbefindlichkeit der Angst. Die fünf Charakteristika des Seins zum Tode haben sichtbar gemacht, wie das Vorlaufen die äußerste Möglichkeit des Daseins ermöglicht. Damit ist die ontologische Möglichkeit des eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins aufgewiesen. Dieses eigentliche Ganzseinkönnen muß aber auch in seiner existenzieLlen Möglichkeit, also als ein ontisches Seinkönnen, bezeugt werden, soll es nicht nur als bloße Möglichkeit oder "phantastische Zumutung" erscheinen. "Die daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens und die Entschlossenheit" ist der Titel des zweiten Kapitels des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit, in dem Heidegger durch die existe~zialontologische Analyse des Gewissens die Entschlossenheit als ein eigentliches Erschließen zur Sprache bringt, in dem das Dasein existenziell sein eigentliches Selbstsein und Seinkönnen eigens wählt. Für uns ist das besagte wie das darauffolgende dritte Kapitel zudem von Bedeutung, weil in ihnen Heidegger das Dasein ausdrücklich als "geworfenen Grund" (ebd., S.284) entfaltet, den es in der Entschlossenheit als den "nichtigen Grund seiner Nichtigkeit" (ebd., S.306) übernimmt. Der nichtige Grund verweist aber auf den gesuchten Ab-grund, um den es uns in diesen Ausführungen geht. Es soll deshalb Heideggers Analyse des Gewissens nur in dem Umfang verfolgt und nachgezeichnet werden, als es für unser Anliegen nötig ist. Es wurde bereits mehrmals darauf hingewiesen, daß das Dasein zunächst und

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zumeist an die besorgte Welt verfällt und sich an die in ihr andrängenden Möglichkeiten hält. Dasein existiert zunächst und zumeist uneigentlich. Soll eine eigentliche Existenzweise übernommen werden, dann kann dies nur in der Abkehr von der alltäglichen Verfallenheit an das Man-selbst geschehen. Das Jeschon-aufgegangen-sein in der alltäglich besorgten Welt muß durchbrochen werden, und das Dasein muß auf sein eigenstes Seinkönnen zurückgeworfen werden. Dieses vermag laut Heidegger der Ruf des Gewissens zu leisten. Wenngleich Heidegger das Phänomen des Gewissens in Anlehnung an die alltägliche Selbstauslegung des Daseins aufgreift67 , dürfen wir dieses nicht gleich als ein psychologisches Phänomen betrachten. Vielmehr ist das Gewissen ontologisch-existenzial aus der Erschlossenheit des Daseins her zu denken, denn die erste formale Charakteristik, die Heidegger dem Phänomen des Gewissens zuweist, ist gerade seine erschließende Funktion: ''Das Gewissen gibt 'etwas' zu verstehen, es erschließt." (ebd., S.269) Die Erschlossenheit des Daseins wird primär, so sagten wir, durch die beiden Existenzialien Befindlichkeit und Verstehen konstituiert. Dabei wurde ein drittes, mit der Befindlichkeit und dem Verstehen gleichursprüngliches konstitutives Moment der Erschlossenheit ausgeblendet: die Rede. 68 Diese steht in einem besonderen Zusammenhang mit dem Rufcharakter des Gewissens, den ich hier nur kurz andeuten möchte. Die Rede, die hier nicht als verlautendes Sprechen zu verstehen ist, ist existenzial-ontologisch begriffen kein eigenständiges Existenzial neben der Befindlichkeit und dem Verstehen, sondern ein im befindlich verstehenden Erschließen geschehendes bedeutungsmäßiges Gliedern. 69 Das befindliche Verstehen, welches die Erschlossenheit der Welt konstituiert, ist demnach wesenhaft immer schon bedeutungsmäßig gliedernd. Eine existenziale Möglichkeit des redenden Sprechens ist das Hören, welches "sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen" (SuZ, S.163) konstituiert. In der alltäglichen Verlorenheit an das Man-selbst überhört aber das Dasein im Hinhören auf das Man das eigene Selbst. Das Dasein muß also wieder hörig gemacht werden für das eigenste Seinkönnen, indem das Hinhören auf das Man gebrochen wird. Solches vermag,

Siehe ebd., S.268. Vgl. ebd. § 34. 69 Die Rede wurde in vergangenen Interpretationen oft als ein neben der Befindlichkeit und dem Verstehen eigenständiges Existenzial mißverstanden (vgl. etwa W. J. Richardson: Heideggers Weg durch die Phänomenologie zum Seinsdenken, in: Philosophisches Jahrbuch 72, 1964/65, S.391.). Wie der Zusammenhang zwischen Rede, Befindlichkeit und Verstehen angemessen zu begreifen ist, zeigt F. W. v. Herrmann in: Subjekt und Dasein, S.103ff. 67

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so Heidegger, der unvennittelt einbrechende lautlose Ruf des Gewissens, welcher ein Modus der Rede ist. Heidegger unterscheidet im Ruf das Angerufene, das Gerufene bzw. das Anrufen, und den Rufer. Das im Ruf Angerufene ist das Man-selbst, das aufgerufen wird auf das eigene Selbst. Dabei "sinkt das Man in sich zusammen" (ebd., S.273) und wird bedeutungslos. Das Gewissen ruft dem angerufenen Selbst niehts zu, sondern ruft es auf zu seinem eigensten Seinkönnen, indem es das Dasein vorruft in seine eigensten Möglichkeiten (ebd.). Solches Rufen geschieht lautlos, denn "das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens" (ebd.) und zwingt das Dasein in die Verschwiegenheit seines Seinkönnens. 70 Der Rufer im Ruf des Gewissens hält sich, wie Heidegger vennerkt, in einer "auffallenden Unbestimmtheit" (ebd., S.274). Denn der Rufer ist das Dasein selbst in seiner Geworfenheit in die äußerste Möglichkeit der Daseinsunmöglichkeit, sich ängstigend um das eigenste Seinkönnen. "Er ist das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Unzuhause, das nackte 'Daß' im Nichts der Welt." (ebd., S.276f) Der Ruf des Gewissens wurde so hinsiehtlich aller Struktunnomente der Sorge entfaltet: Der Rufer ist das geworfene Dasein, das Angerufene ist das zu seinem eigensten Seinkönnen vorgerufene Dasein; und aufgerufen ist das Dasein aus der Verfallenheit an das Man. Damit offenbart sieh das Gewissen als Ruf der Sorge. Nachdem Heidegger so das Gewissen (das er zur Bezeugung des eigensten Seinkönnens des Daseins analysiert) auf die ontologische Verfassung des Daseins zurückgeführt hat, geht er dazu über, in einer Analyse des Anrufverstehens das zu erörtern, was der Ruf zu verstehen gibt: die Schuld (SuZ § 58). Dies führt aber zugleieh zum Phänomen des Grundes. Der Ruf des Gewissens erwies sich als Ruf aus der Unheimlichkeit des Daseins, der das Dasein vorruft auf sein eigenste!: Seinkönnen. Das Woher der Ruf ruft, wird aber im Rufen selbst erst miterschlossen, es wird also mitgerufen. Damit ist das Woher des Vorrufens auf das eigenste Seinkönnen zugleich das Wohin des Zurückrufens. Der Ruf ist ein "vorrufender Rückruf' (ebd., S.280), der sich zeitigt als auf-sieh-zukommendes Auf-sieh-zurückkommen. Er ruft das Dasein in die Unheimlichkeit seiner jeweiligen Geworfenheit, die es in seinem eigensten jeweiligen Seinkönnen entwerfend zu übernehmen hat. Vor dem Hintergrund des als vorrufender Rückruf gefaßten Rufes des Gewissens

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Vgl. ebd., S.165.

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gilt es zu fragen, was dieser zu verstehen gibt, unabhängig davon, ob er faktisch auch verstanden wird. So wie für das Phänomen des Gewissens, beruft sich Heidegger auch in der Frage nach dem, was das Gewissen zu verstehen gibt, auf die alltägliche Daseinsauslegung. In der alltäglichen Gewissenserfahrung wird das Dasein auf sein Schuldig-sein angerufen oder in seinem Unschuldigsein bestätigt. Nun geht es aber Heidegger darum, unter Ausschaltung aller psychologischen und moralischen Ausdeutungen, das existenziale Phänomen der Schuld aus der Interpretation des Seins des Daseins freizulegen, auf das das alltäglich ausgesprochene "schuldig" zurückweist. Um die Idee von "schuldig" aus der Seinsart des Daseins zu begreifen, formalisiert sie Heidegger so weit, daß die vulgären Schuldphänomene, die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogen sind ("Schuld haben", "schuld sein an etwas", "schuldigwerden an Anderen"; ebd., S.282f), ausfallen. Er hebt dafür zwei formale Charaktere der Idee von "schuldig" heraus: zum einen den Charakter des "Nicht" (denn in der Schuld liegt immer ein Mangel), zum anderen den Charakter des "Grundsein für ... ", der im "schuld haben an" liegt (ebd.). Die "formal existenziale Idee des 'schuldig'" bestimmt Heidegger demnach folgendermaßen: "Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein - das heißt Grundsein einer Nichtigkeit." (ebd., S.283) Soll das so formal bestimmte "schuldig" als eine Seinsweise des Daseins begriffen werden, dann kann das "Nicht", das zu dieser Seins art des Daseins gehört, nicht einfach einen Mangel an oder in einem Seienden bezeichnen. Es kann nicht einfach den Sinn eines nihil negativum haben. Das Nicht und auch das Grundsein muß im Sein des Daseins selbst, d.h. in der Sorge, aufgesucht werden. Der Zusammenhang zwischen Grundsein und Sorge wurde an früherer Stelle schon thematisiert. Es soll nun auch Heideggers Weg in Sein und Zeit verfolgt werden und dabei vor allem auf das "Nicht" im Grundsein geachtet werden. Das "Nicht" begegnet uns vor allem in der Geworfenheit des Daseins. Dieses ist als geworfenes "nicht von ihm selbst in sein Da gebracht" (ebd., S.284). Das existierende Dasein ist ständig geworfen in sein "daß es ist und zu sein hat". Es hat - so können wir in Anlehnung an das schon Ausgeführte sagen - immer schon Boden genommen, doch so, daß es dies im stiftenden Entwurf zu übernehmen hat. Das Dasein ist existierend der geworfene Grund seines Seinkönnens, es muß, wie Heidegger auch sagt, den geworfenen Grund seiner selbst legen (ebd.). Es ist nur als bodennehmend-stiftend Gründendes. Und sofern es dem Dasein als existierendem in seinem Sein (in der Sorge) um dieses Sein selbst geht, geht es ihm darum, "der eigene geworfene Grund zu sein" (ebd.). Doch kann das Dasein diesem seinen Seinkönnen nie mächtig werden, weil es

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wesenhaft geworfen bleibt. "Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein." (ebd.) Das "nicht mächtig" wird im Grundsein übernommen, es ist konstitutiv dafür, so daß das Dasein grund-seiend selbst "eine Nichtigkeit seiner selbst" ist (ebd.). Damit steht das Dasein alles andere als auf einem festen Boden, noch ist es ein solcher fester Boden in einem eigenmächtigen Entwurf. Eine Selbstbegründung in diesem Sinne ist eben dem Dasein durch die Geworfenheit von Grund auf entzogen. Die Nichtigkeit im Sein des Daseins ist aber nicht nur auf die Geworfenheit zurückzuführen. Auch der Entwurf ist von einem "Nicht" durchsetzt. Das Dasein ist sein Grund im verstehenden Entwurf, so daß es sich aus Möglichkeiten seines Seins versteht. Im existenziellen Entwurf steht es aber je schon in der einen oder anderen Möglichkeit und darin liegt: in der einen oder anderen Möglichkeit nicht. "Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft nichtig." (ebd., S.285fl Nachdem Heidegger gezeigt hat, wie beide Strukturmomente der Sorge, die Geworfenheit und der Entwurf, also die Sorge selbst, wesenhaft von Nichtigkeit durchsetzt sind, bezieht er dies zurück auf den existenzialen Begriff der Schuld. Sorge besagt: 'Das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit. Und das bedeutet: Das Dasein ist als solches schuldig" (ebd.). Das Schuldigsein konstituiert die Sorge. Und wenn der Ruf des Gewissens als Ruf der Sorge das an das Man verfallene Selbst des Daseins aus der Unheimlichkeit des geworfenen Seinkönnens vorruft in sein eigenstes Seinkönnen, indem er es zurückruft in die Unheimlichkeit der geworfenen Vereinzelung, so gibt es dem Dasein darin zu verstehen, daß es schuldig ist. Denn die Unheimlichkeit bringt das Dasein vor die Nichtigkeit, die es als geworfener Grund ist und die es im nichtigen Entwurf gründend zu übernehmen hat, sofern es ihm

1\ Eugenio Mazzarella legt in seinem Aufsatz "Volontii di fondazione e filosofia della storia in Martin Heidegger" (in: La recezione italiana di Heidegger, Hrsg. Marco Olivetti, Padova 1989, S.309-335) dieses nichtige Grundsein des Daseins in Richtung eines tragischen Fatalismus aus, den er im Zusammenhang mit dem (seiner Meinung nach) Primat des Gewesenen bringt (S.318). Das Dasein muß das, worein es geworfen ist, übernehmen. Der Ruf des Gewissens gibt dabei nichts zu hören als die Notwendigkeit, das grundlos Gewesene und darin eine bestimmte Seinsmöglichkeit zu übernehmen. Diese Haltung führt Heidegger laut Mazzarella in die Schlingen des Nationalsozialismus und in die Versteigung in das Denken des Geschicks des deutschen Volkes. Dem ist zu entgegnen, daß von einem tragischen Fatalismus bei Heidegger deshalb nicht die Rede sein kann, weil die Erschlossenheit von Seinsmöglichkeiten nicht vor dem Entwurf zu denken ist. Jeder Augenblick bleibt zutiefst Entscheidung, und das nichthafte Grundsein bleibt ein Grundsein gerade durch das Erschließen und Ergreifen von bestimmten Seinsmöglichkeiten.

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um sein eigenstes Seinkönnen geht. Der vorrufende Rückruf gibt so dem Dasein sein wesenhaftes Schuldigsein zu verstehen. Soll nun das Dasein dieses sein Schuldigsein, sich eigens darauf entwerfend, existenziell, d.h. eigentlich übernehmen, so muß es auf den Ruf der Sorge in der rechten Weise hören. Ja das rechte Hören selbst ist schon das verstehende Sichentwerfen "auf das eigenste eigentliche Schuldigwerdenkönnen" (ebd., S.287) und damit auf das eigenste eigentliche Seinkönnen. "Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich selbst gewählt." (ebd.) Das Wählen entspringt keinem eigenmächtigen Willen; es ist vielmehr ein Hörig-sein, ein Sichhalten im Rufverstehen und dem darin eröffneten und offengehaltenen eigensten Schuldigseinkönnen. Solches Rufverstehen wird dem Dasein andererseits nicht von irgendwoher aufgezwungen. Insofern liegt im Wählen wohl eine Freiheit, die jedoch jenseits der Kategorien "freie Willkür" oder "Zwang" aufzusuchen ist. Der Wähler (das Dasein) ist, wie wir wissen, auch nicht als Subjekt aufzufassen. Eine angemessene Redeweise wäre dann die folgende: Im Dasein ereignet sich ein Wählen, so daß rufverstehend das Dasein seine eigenste Existenzmöglichkeit existenziell offen hält. Erst im Rufverstehen wählt das Dasein, sich entwerfend auf das eigenste Schuldigsein, sein eigenstes Seinkönnen. Es wählt dabei nicht das Gewissen, aber das Gewissen-haben als "Bereitschaft für das Angerufenwerden", was Heidegger auch das "Freisein für das eigenste Schuldigsein" nennt (ebd., S.288). Anrufverstehen heißt dann "Gewissen-haben-wollen" (ebd.). Gewissenhaben-wollend versteht sich das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen. Im Verstehen ist dieses erschlossen, es hat selbst erschließenden Sinn. Zur Erschlossenheit gehören als weitere konstitutive Momente die Befindlichkeit und die Rede. Auch sie müssen im Gewissen-haben-wollen näher bestimmt werden. Die dem Rufverstehen entsprechende Befindlichkeit ist die Angst, in der das Dasein in der Unheimlichkeit seiner Vereinzelung, also in seiner geworfenen Nichtigkeit, erschlossen wird. Der zum Gewissen-haben-wollen gehörende Modus der Rede ist die Verschwiegenheit, die die Verständlichkeit des Daseins so ursprünglich artikuliert, "daß ihr das echte Hörenkönnen und durchsichtige Miteinandersein entstammt" (ebd., S.165). Das Rufverstehen ist immer schon durch die Verschwiegenheit gegliedert, so daß das Dasein seiner eigensten Seinsmöglichkeit hörig ist. Diese durch die Befindlichkeit der Angst, durch das Rufverstehen und die Verschwiegenheit konstituierte ausgezeichnete, weil ursprüngliche Erschlossenheit des Daseins nennt Heidegger die Entschlossenheit. Sie ist "das verschwiegene, angstbereite SichentwerJen auf das eigenste Schuldigsein" (ebd., S.296f).

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* Mit der Entschlossenheit ist, sagt Heidegger, "die ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen" (ebd., S.297). Um die ganze Tragweite dessen zu ermessen, was hierin zum Ausdruck kommt, ist ein Moment Einhalt geboten, so wie eine Rückbesinnung auf das, was bisher gesagt wurde. Wir bahnten unseren Weg zur Frage nach dem Wesen des Grundes im Ausgang von der Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Die ursprüngliche Wahrheit als die ontologische Wahrheit ist, so hieß es, im Da des Daseins aufzusuchen, welches selbsthaft erschlossen ist. Es wurde darauf hingewiesen, daß im Seinsverständnis des existierenden Daseins Sein überhaupt selbsthaft aufgeschlossen ist, auch wenn dieser ontologische Sachverhalt im uneigentlichen alltäglichen Existieren zunächst und zumeist verdeckt bleibt. Mit der Entschlossenheit soll nun die ursprünglichste Wahrheit gewonnen sein. Liegt in ihr aber nicht gerade eine Vereinzelung des Daseins auf sein eigenstes Seinkönnen und zeugt diese Vereinzelung nicht wieder von einem subjektivistischen Ansatz? Dieser Verdacht wird noch verstärkt, wenn man bedenkt, daß Heidegger den existenzialen Schuldbegriff durch eine Formalisierung gewonnen hat, in der "die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen" (ebd., S.283). Gleichwohl gilt es, nicht voreilige Schlüsse zu ziehen. Heideggers Vorgehen zielte lediglich darauf ab, das existenziale Schuldphänomen zu gewinnen im Ausgang davon, wie es sich im Alltag bekundet. Er konnte dabei gerade nicht die vulgären Schuldphänomene als solche in der alltäglichen Interpretation zum Ausgang nehmen, sofern sie bestimmt sind aus dem Verfallen an die besorgte Welt. Damit isoliert er nicht das Schuldphänomen auf das Dasein, als sei dies ein Subjekt, losgelöst von seiner Umwelt, sondern verlagert es zurück in die Offenheit, die jegliches Sein bei innerweltlich Seiendem und jegliches Mitsein mit Anderen gewährt, sofern sie nur im Mitsein mit Anderen und im Sein bei innerweltlich Seiendem ist. Die Offenheit, von der ich hier spreche, ist aber nichts anderes als die Erschlossenheit von Sein überhaupt, die in der Entschlossenheit ursprünglich offengehalten wird. Diese modifiziert als eigentliche Entschlossenheit "gleichursprünglich die in ihr fundierte Entdecktheit der 'Welt' und die Erschlossenheit des Mitdaseins der Anderen" (ebd., S.297). Sie isoliert das Dasein so wenig auf das eigene Selbst, daß sie vielmehr als eigentliches In-der-Welt-sein das Selbst in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und in das fürsorgende Mitsein mit Anderen bringt (ebd., S.298). Der Hinweis darauf, daß in der Entschlossenheit nicht nur eine subjektive Wahrheit gewonnen ist, sondern die Wahrheit von Sein überhaupt, ist für unser Anliegen von Bedeutung, weil die Entschlossenheit uns zum ursprünglichen Wesen des Grundes überhaupt führen soll.

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* Im folgenden 72 wird es darum gehen, die Entschlossenheit in Zusammenhang mit dem Vorlaufen zu bringen. Zwischen beiden muß ein innerer Zusammenhang bestehen, den Heidegger im Ausgang von der Entschlossenheit vorzeichnet. Diese, so wird zu zeigen sein, hat sich erst dann in ihre Eigentlichkeit gebracht, wenn sie sich auf die äußerste Seinsmöglichkeit entwirft. Für uns wird sich dann der geworfene Grund als in einem inneren Zusammenhang mit dem Sein zum Tode stehend erweisen. In der Entschlossenheit entwirft sich das Dasein auf das eigenste Schuldigsein. Dieses ist konstitutiv für die Sorge, in der es dem Dasein darum geht, der eigene geworfene und d.h. nichtige Grund zu sein. Es geht dem Dasein ständig darum, solange es existiert, vennag es dieses wesenhafte Schuldigsein in der Existenz existenziell eigens zu übernehmen oder nicht. Das angstbereite, verschwiegene Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein muß deshalb das Verständnis dieses Schuldigseins als eines ständigen einschließen. Dann muß dieses Verstehen aber das Seinkönnen des Daseins als Ganzes, d.h. "bis zu seinem Ende" erschließen (ebd., S.305). Das verstehende Entwerfen, welches solches vennag, ist, wie gezeigt wurde, das Vorlaufen als Sein zum Tode, das den Tod als die eigenste, unbezüglichste, unüberholbare, unbestimmte, gewisse Möglichkeit des Daseins erschließt. Die Entschlossenheit wird deshalb eigentlich das, was sie sein kann - nämlich das angstbereite, verschwiegene Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein und somit bezeugte Möglichkeit der eigentlichen Existenz - "als verstehendes Sein zum Ende, d.h. als Vorlaufen in den Tod" (ebd.). Der Tod ist existenzial begriffen die Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit jeglicher Existenz. Von der Erschlossenheit des Daseins aus gesehen ist er die Möglichkeit der schlechthinnigen Verschlossenheit. Er ist, wie Heidegger sagt, die "Nichtigkeit des Daseins" (ebd., S.306). Wir können nun besser begreifen, was Heidegger meint, wenn er sagt: ''Entschlossen übernimmt das Dasein eigentlich in seiner Existenz, daß es der nichtige Grund seiner Nichtigkeit ist." (ebd.) Der nichtige Grund ist der geworfene Grund. Dieser ist nichtig, sofern sich in der Geworfenheit die Ohnmacht des Daseins bezüglich seines Seins bekundet. Das Dasein "macht" nicht sein Sein, es setzt dieses nicht aus sich selbst und hat insofern keine Macht darüber. Es ist faktisch geworfen in sein "daß es ist und zu sein hat" und ist dabei immer schon geworfen in die äußerste Möglichkeit seiner Daseinsunmöglichkeit. Auf diese Nichtigkeit hat es sich immer schon, eigentlich oder uneigentlich, entworfen:

72

Siehe dazu SuZ § 62, S.305ff.

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uneigentlich in der Flucht vor ihr im alltäglichen Besorgen der "Welt", eigentlich in der vorlaufenden Entschlossenheit, die diese ursprüngliche Nichtigkeit überhaupt erst erschließend offenhält, indem sie sie existenziell ist. Auch der eigentliche Entwurf ist mithin im Erschließen der ursprünglichen Nichtigkeit des Daseins ohnmächtig. Diese Ohnmacht der Entschlossenheit kommt in der von Heidegger zuweilen gebrauchten Redewendung des "Ergreifens" der eigensten Existenzweise nicht eigens zur Sprache. Wenn, wie wir sahen, die Entschlossenheit primär durch das rufverstehende Hören bestimmt ist, so liegt in diesem Hören ein Sicheinlassen in das eigenste, von Nichtigkeit durchstimmte Seinkönnen des Daseins und kein eigenmächtiges Ergreifen. Doch muß das Seinkönnen des Daseins auch offengehalten werden. Das Sichhalten im eigensten Seinkönnen ist entscheidend für die eigentliche Existenz, weil nur so das Seinkönnen ursprünglich offengehalten werden kann. Hier liegt vor allem auch die entscheidende "Tat" eines Denkens, das die so offengehaltene Existenz denkend durchmessen und zur Sprache bringen möchte, oder welches das so Gedachte und Gesagte denkend nachvollziehen möchte. Darin liegt, daß die vorlaufende Entschlossenheit nur in einem solchen Denken ursprünglich gedacht werden kann, das sich als vorlaufende Entschlossenheit vollzieht. Auch das sich in der eigentlichen Existenz vollziehende Denken ist wesenhaft ohnmächtig. Zu diesem Denken kann man sich nicht eigenmächtig entschließen. Man kann sich nur hörend in es einlassen und sich in ihm halten. Für ein Denken, das sich in der theoretisch vorstellungshaften Einstellung hält, muß aber das im phänomenologisch-hermeneutischen Denken Aufgewiesene lediglich als Behauptung erscheinen, mag es in sich auch eine gewisse Schlüssigkeit aufweisen. Nach diesem Hinweis auf die denkerische Dimension, in der diese Ausführungen allein denkerisch zu erfahren sind, greifen wir die Analyse des nichtigen Grundes im Dasein wieder auf. In der vorlaufenden Entschlossenheit ist das Dasein der geworfene Grund seiner Nichtigkeit. Wie ist nun der Genitiv "seiner" zu verstehen? Lesen wir ihn zunächst als einen genitivus objectivus. Der Grund wäre dann als Grund für die Nichtigkeit zu sehen. Der nichtige Grund läge somit der Nichtigkeit zugrunde. So bestimmte Heidegger auch formal die existenziale Idee des "schuldig": "Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein - das heißt Grundsein einer Nichtigkeit." (ebd., S.283) Das durch das Nicht bestimmte Sein erwies sich als das Sein zum Tode. Und das Grundsein erwies sich als geworfenes. Wie ist aber das "Grundhafte" im Grundsein zu verstehen? Es ist das in der Sorge geschehende Gründen. Wir entfalteten es als stiftend bodennehmendes Begründen, damals noch ohne den Blick auf die eigentliche Exi-

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stenz des Daseins und unter Ausschaltung des "Nichthaften" im Sein des Daseins. Wollen wir dieses letztere mit einbeziehen, so müssen wir sagen: stiftend entwirft sich das Dasein auf die äußerste Möglichkeit seiner Existenz, d.i. auf seine Nichtigkeit, so daß es darin sein eigenstes Seinkönnen und damit das Sein überhaupt ursprünglich erschließt. Es entwirft sich dabei faktisch auf bestimmte Möglichkeiten und verschließt so andere, und dies sowohl in der uneigentlichen wie in der eigentlichen Existenz. Zu beachten bleibt dabei, daß sich das Dasein in der uneigentlichen Existenz die ursprüngliche Nichtigkeit (den Tod) verdeckt, wohingegen diese in der eigentlichen Existenz gerade offengehalten wird, indem sie ausgestanden wird. Das Dasein kann sich aber nur stiftend auf seine Nichtigkeit entwerfen, weil es immer schon Boden genommen hat, d.h. faktisch in sein In-der-Welt-sein geworfen ist, in das nackte "daß" seiner Existenz, das es als das Seiende, als welches es ist, zu übernehmen hat. Das nackte "daß" erschließt sich aber aus der miterschlossenen Möglichkeit der Daseinsunmöglichkeit, in der wesenhaften Unheimlichkeit des Daseins. Das Dasein hat somit immer schon in seiner Nichtigkeit Boden genommen. Be-gründend übernimmt das Dasein die Ermöglichung des Offenbarmachens von Seiendem. Dieses Offenbarmachen ist bereits von der zweifachen Nichtigkeit des boden-nehmenden Stiftens bestimmt. Nur ist in der eigentlichen Existenz das Offenbarmachen von der ursprünglichen Nichtigkeit bestimmt, während in der uneigentlichen Existenz das Offenbarmachen zugunsten der Entdecktheit des Seienden verdeckt bleibt. Stiftend-boden-nehmend-begründend ist das Dasein der nichtige Grund seiner Nichtigkeit. Was geschieht nun, wenn wir das "seiner" im Sinne eines genitivus subjektivus lesen? Dann würde die Nichtigkeit, die als Sein zum Tode erläutert wurde, zum abgründigen Grund des nichtigen Gründens als eines nichtigen stiftend-boden-nehmenden Begründens. Liegt in dieser Nichtigkeit der gesuchte Ab-grund, aus dem das dreifach nichtige Gründen entspringt? So müßte sie sich als die Freiheit bzw. als der Selbstentwurf der Zeitlichkeit erweisen, aus dem das dreifache Gründen entspringt. Der Selbstentwurf der Zeitlichkeit wurde entfaltet als dasjenige, was das "Da" und seine Enthülltheit ermöglicht. In ihm geschieht die ursprüngliche Eröffnung des Horizontes, aus dem das Dasein Sein überhaupt versteht. In der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit zeitigt sich mithin die ursprüngliche Wahrheit als die Erschlossenheit von Sein überhaupt. Also können wir sagen, daß die Freiheit im Grunde das ursprüngliche Sichzeitigen der Wahrheit im Da-sein ist. Die obigen Ausführungen zur vorlaufenden Entschlossenheit dienten auch dazu, das Wesen der Zeitlichkeit ursprünglicher und konkreter zu bestimmen.

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Und die Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit führte uns dazu zu sehen, daß in ihr das Dasein eigentlich seine Existenz übernimmt und so erschließt, "daß es der nichtige Grund seiner Nichtigkeit ist" (SuZ, S.306). Wollen wir in dieser Nichtigkeit die Freiheit als Abgrund auffinden, so müssen wir zum einen ihren zeitlichen Sinn erörtern und zum anderen ihren Zusammenhang mit dem Wesen der Wahrheit. "Die das Sein des Daseins ursprünglich durchherrschende Nichtigkeit", so Heidegger, "enthüllt sich ihm selbst im eigentlichen Sein zum Tode." (ebd.) Das existierende Daseins übernimmt jedoch sein Sein zum Tode eigentlich in der vorlaufenden Entschlossenheit. Welches ist der zeitliche Sinn dieser selbst? Den Ausdruck "Vorlaufen" verwendet Heidegger auch zur Kennzeichnung der eigentlichen Zukunft. Ihr kommt in der Zeitigung der Zeitlichkeit eine besondere Bedeutung zu, sofern sich die Zeitlichkeit primär aus der Zukunft zeitigt. Damit ist, wir erinnern uns, nicht gesagt, die Zukunft gehe der Gewesenheit und der Gegenwart voraus, da ja die drei Zeitekstasen gleichursprünglich sind. Dennoch zeitigt sich die Gewesenheit in gewissem Sinne aus der Zukunft: das vorlaufende Auf-sieh-zukommen durchgreift die ganze Gewesenheit, in der das Dasein auf sich zurückkommt. Das eigentliche Zurückkommen ist ein "Zurückkommen auf das eigenste, in seine Vereinzelung geworfene Selbst" (ebd., S.339). Vorlaufend übernimmt das Dasein sein eigenstes geworfenes und d.h. nichtiges Seinkönnen, indem es sich aus der Vergessenheit, als welche sich die uneigentliehe Gewesenheit zeitigt, wieder in das eigenste nichtige Seinkönnen vor-holt. Das Gewesen-sein ist also eigentlich "Wiederholung" (ebd.). Vorlaufend wiederholend ist das Dasein eigentlich gegenwärtig im "Augenblick" (ebd., S.338), der sich aus dem vorlaufenden Wiederholen zeitigt, indem er in diesen einbehalten bleibt, so daß das Dasein das Seiende ursprünglich in seinem Sein anwesen und so begegnen läßt. Sofern sich der vorlaufend wiederholende Augenblick primär aus dem Vorlaufen zeitigt, zeitigt er sich primär aus der im Vorlaufen sichzeitigenden Nichtigkeit als dem Sein zum Tode. Der vorlaufend wiederholende Augenblick ist der eigentliche Modus der Zeitlichkeit, in dem Sein überhaupt ursprünglich aufgeschlossen ist. Im Sein zum Tode zeitigt sich mithin die ursprüngliche Wahrheit. Nun zeitigt sich, wie wir sahen, Zeitlichkeit ekstatisch-horizontal, wobei im Horizont der ekstatischen Zeitlichkeit, in dem sich das 'Da" des Daseins zeitigt, die ursprünglichste Bestimmung des Wesens des Grundes zu suchen ist. Denn wir verstehen Sein aus dem temporalen Horizont. Wie bestimmt sich aber dieser Horizont aus der eigentlichen Zeitlichkeit im vorlaufend wiederholenden Augenblick? Vergegenwärtigen wir uns das bislang zum Sein zum Tode Gesagte: Das

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Sein zum Tode ist die äußerste Möglichkeit des Daseins. Es ist vorlaufend auf sich zukommend dem Dasein als ausgezeichneter Bevorstand erschlossen und ist dabei als ein solcher Bevorstand erschlossen, der wesenhaft zum Dasein gehört, mag er dem Dasein in der Verlorenheit des Man selbst verdeckt bleiben oder mag er in der vorlaufenden Erschlossenheit eigens ausgestanden werden. Indem das Vorlaufen in den Tod diese Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit als äußersten Bevorstand erschließt, hält es zeitigend das Dasein in seinem ganzen Seinkönnen offen. Vorlaufend läßt das Dasein sich in seinem ganzen eigensten Seinkönnen auf sich zukommen, so daß es auf sich zurückkommend die Geworfenheit in seinen Tod und die ihm überantworteten Seinsmöglichkeiten eigens übernimmt. Es versteht dabei seinen Tod als ständigen. Im Sein zum Tode erschließt sich der Horizont, in den hinein das Dasein sich zeitigt, als endlicher. Denn der Tod erschließt sich als die äußerste Möglichkeit der Daseinsunmöglichkeit und darin als ausgezeichneter, nie einzuholender Bevorstand, der das Offene des Daseins durchragt. Er kennzeichnet so den offenen Horizont, welcher das Da als die Erschlossenheit ermöglicht, in seinem Äußersten, d.h. in seiner Endlichkeit bzw. Nichtigkeit. Der Tod ist aber als Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit die Möglichkeit der schlechthinnigen Verschlossenheit, also der ursprünglichen Unwahrheit, die ständig, solange Dasein existiert, wesenhaft in die Erschlossenheit des Daseins hereinragt. Sie ragt in das Dasein herein als der äußerste Bevorstand, der allein das ganze Seinkönnen des Daseins gewährt; denn das Dasein zeitigt sich als vorlaufendes Auf-sich-zukommen und wiederholendes Auf-sieh-zurückkommen nur aus der Spannung zur ursprünglichen Verschlossenheit, die als Tod das ganze Dasein durchgreift und es in seiner Ganzheit strukturiert. Dann ist die im Tod sich bekundende Verschlossenheit in ihrem Hereinragen in das Dasein der sich zeitigende Quellgrund bzw. Abgrund, aus dem die Erschlossenheit des Daseins entspringt, welche nur sein kann, d.h. offen gehalten werden kann, im stiftend boden-nehmenden Be-gründen, um das es dem Dasein in seinem Sein wesenhaft geht. Der Abgrund erweist sich als das Sichzeitigen der ursprünglichen nichthaften Wahrheit, d.h. als Freiheit im Sein zum Tode, das sich nur als stiftend bodennehmendes Be-gründen zeitigt, d.h. als Freiheit zum Grunde. Der Abgrund west als in sich dreifach gründender in der Sorge des Daseins. Er wird ursprünglich offengehaiten in der vorlaufenden Entschlossenheit, die ihn als ständigen Bevorstand erschließt. In ihrem "Weg von" der alltäglichen Verfallenheit an das Man selbst enthüllt die vorlaufende Entschlossenheit zudem die Verfallenheit als eine Seinsweise des Daseins, in der der Abgrund, d.h. sowohl die im Dasein wesende Nichtigkeit als auch das darin gründende eigenste Seinkönnen, ver-

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deckt bleiben. Sie bleiben verdeckt zugunsten der Entdecktheit des anwesenden Seienden und des besorgenden Aufgehens in ihm. 73 Solches Sichhalten an das entdeckte Seiende im Vergessen des ursprünglichen Sichzeitigens seines Seins beruht im Abgrund selbst, der nur als gründender west, d.h. als stiftend boden-nehmendes Be-gründen, in dem sich das Dasein immer schon an das darin gründend entdeckte Seiende verwiesen hat, welches als beständig Anwesendes dem Dasein Beständigkeit inmitten des Seienden im Ganzen gewährt. Mit der Entfaltung der Freiheit zum Grunde als einem abgründigen Sichzeitigen der Wahrheit im stiftend boden-nehmenden Be-gründen, um das es dem Dasein in seinem Sein geht, gelangt die Frage nach dem Wesen des Grundes aus der Perspektive des transzendental-horizontalen Ansatzes von Sein und Zeit zu einem Abschluß. Es seien nochmals die wesentlichen Merkmale aufgezeigt, die diese Bestimmung des Wesens des Grundes kennzeichnen: 1) Das Wesen des Grundes wird gedacht aus dem Wesen der Wahrheit als der Erschlossenheit des Da-seins. 2) Der Bereich, innerhalb dessen das Wesen des Grundes gesucht und gefunden wird, ist die Transzendenz als das Je-schon-übersteigen des Seienden auf die selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit des Seins überhaupt hin. Diese ist der Horizont, in dem alles Seiende gründet. 3) Die Transzendenz und das Wesen des Grundes wurzeln in der ekstatischhorizontal verfaßten Zeitlichkeit des Daseins, die sich primär aus der Zukunft zeitigt. 4) Das Wesen des Grundes bestimmt sich zwiefach einig als abgründiges Gründen: zum einen als nichtiges, stiftend-boden-nehmendes Be-gründen, worum es dem Dasein in der Sorge geht, zum anderen als Sich zeitigen der ursprünglichen Wahrheit aus der ursprünglichen Verschlossenheit, wie sie im Sein zum Tode das Dasein durchdringt. Das Sichzeitigen der ursprünglichen Wahrheit geschieht dabei nur im stiftend boden-nehmenden Be-gründen des Daseins.

73 Hierin zeichnet sich sachlich die von Heidegger in "Vom Wesen der Wahrheit" (1930, in GA 9, S.177-202) entfaltete Unterscheidung im Wesen der Wahrheit zwischen "Geheimnis" und "Irre" vor. Im Geheimnis läßt sich die im Ab-grund wesende ursprüngliche Verschlossenheit wiederfinden und in der Irre das Sichhalten an das entdeckte Seiende.

§ 4. Der Wandel zum seynsgeschichtlichen Gründen

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§ 4. Der Wandel vom transzendental-horizontal bestimmten Wesen des Grundes zum seynsgeschichtlichen Gründen der Wahrheit des Seyns

a) Zur Problematik der Kehre: Die Kehre im Ereignis Die Entfaltung des transzendental-horizontal bestimmten Wesens des Grundes soll uns hinführen zum Wesen des Grundes, wie es Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) seynsgeschichtlich im Ereignis-Denken entwirft. Es wurde dafür zu Beginn des § 3 betont, daß es Heidegger sowohl in Sein und Zeit als auch in den Beiträgen, d.h. mit anderen Worten in seinem ganzen denkerischen Schaffen, immer um die eine Frage nach dem Sein selbst in seiner Wahrheit geht. Heidegger stellt diese eine Frage in immer neuen Anläufen, in dem Bemühen, sie immer wieder anfänglich und auch immer anfänglicher aus ihrem Grunde zu erfragen. Anfang der 30er Jahre erfährt Heideggers Denkweg einen entscheidenden Wandel, der ihn dazu führt, die transzendental-horizontale Ansetzung der Seinsfrage aufzugeben, um diese auf ursprünglichere Weise denkerisch zu entfalten. Ich spreche absichtlich von einem "Wandel" bezüglich des Denkens und nicht von einer "Kehre", wie es sich in der Heidegger-Forschung eingebürgert hat, um gleich Mißverständnisse gegenüber dem, was im wesentlichen unter der "Kehre" zu verstehen ist, auszuräumen. Der Titel "Kehre", wie er in Heideggers Schriften vorkommt, bezeichnet in erster Linie einen Sachverhalt im Sein selbst, also das Zudenkende, das als solches schon in einem Bezug zum Denken steht, insofern es zu denken gibt. Gerade deshalb kann die Kehre nicht auf einen Wandel im Denken reduziert werden, weil sie nicht im Ausgang vom Denken zu begreifen ist, sondern in das ursprünglichere Seinsgeschehen verweist, aus und in dem das Denken erst in sein Eigenes gelangt. Von einer "Kehre im Denken Heideggers" zu sprechen birgt also die Gefahr in sich, den denkerischen Sachverhalt zu verfehlen, der den Wandel des Denkens erst fordert, und den Heidegger unter dem Titel "Kehre" erstmals im Brief über den Humanismus öffentlich ausspricht (GA 9, S.328) und in den Beiträgen immer wieder zur Sprache bringt. Auf diesen wesentlichen Sinn der Kehre wurde inzwischen in der Heidegger-Forschung vielfach hingewiesen. 74

74 Siehe dazu: F.W. v. Herrmann, "Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers Begriff der Kehre" in: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", Frankfurt a.M. 1994, S.64-79. Ryoichi Hosokawa, Heidegger und das Problem der Kehre; in : Studies in Philosophy 5, Kyoshu University Fukuoka, Japan 1989, S.I-23. D.F. Krell: Intimations of Mortality: Time, Truth, and Finitude in Heidegger's Thinking of Being, University Park, London 1986, darin Kap.6 über die Kehre. Jean Grondin, Prolegomenes a l'intelligence du toumant chez Heidegger; in: Les etudes philosophiques 3, 1990, S.333-352. Mario Ruggenini, La questione dell'essere e

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Für die Diskussion über die Kehre bleibt Heideggers vielzitierter Brief an Richardson von Anfang April 196275 ein hilfreiches Dokument. Es sei daraus abermals ein für uns entscheidender Passus wiedergegeben: "Das Denken der Kehre ist eine Wendung in meinem Denken. Aber diese Wendung erfolgt nicht auf Grund einer Änderung des Standpunktes oder gar der Preisgabe der Fragestellung in "Sein und Zeit". Das Denken der Kehre ergibt sich daraus, daß ich bei der zu denkenden Sache "Sein und Zeit" geblieben bin, d.h. nach der Hinsicht gefragt habe, die schon in "Sein und Zeit" (S.39) unter dem Titel "Zeit und Sein" angezeigt wurde. Die Kehre ist in erster Linie nicht ein Vorgang im fragenden Denken; sie gehört in den durch die Titel "Sein und Zeit", "Zeit und Sein" genannten Sachverhalt selbst." (S.400)

Das Denken der Kehre betrifft Heideggers seynsgeschichtliche Entfaltung der Seinsfrage, die nicht mehr, wie in Sein und Zeit, auf dem transzendental-horizontalen Weg angegangen wird, sofern sie aus dem Sein selbst in seiner Wahrheit dieses denkerisch zu sagen versucht. Die Kehre nennt dabei das innerste Wesungsgeschehen der Wahrheit des Seyns76, das, wie wir sehen werden, in sich kehrig ist. Heidegger verweist darauf, daß die Kehre in dem durch die Titel "Sein und Zeit"; "Zeit und Sein" genannten Sachverhalt zu suchen ist, und erläutert dies später folgendermaßen: "Anwesen (Sein) gehört in die Lichtung des Sichverbergens (Zeit). Lichtung des Sichverbergens (Zeit) erbringt Anwesen (Sein)." (ebd., S.401) Hier wird die Zeit seynsgeschichtlich ursprünglicher als Lichtung des Sichverbergens von Anwesen verstanden, also als das Wahrheitsgeschehen des Seyns, als die Wahrheit des Seyns; und zwar so, daß das Sein im Sinne des Anwesens, des im Seienden Ins-Offene-Tretens, als in die Lichtung des Sichverbergens gehörig gedacht wird, und in der Kehre die Lichtung des Sichverbergens als ein Erbringen von Sein. Das Gehören und das Erbringen erläutern jeweils das "und" in den Titeln "Sein und Zeit", "Zeit und Sein", und nennen damit den kehrigen Bezug in der Wesung der Wahrheit des S·eyns. Heidegger schreibt weiter, "daß dieses Gehören und Erbringen im Er-eignen beruht und Ereignis heißt" (ebd.). "Ereignis" ist, so erfahren wir aus einer Anmerkung im Humanismusbrief (GA 9, S.316) seit 1936 - dem Jahr, in dem Heidegger mit der Ausarbeitung der Beiträge begann - das Leitwort seines Denkens. Es nennt nichts anderes als das in sich kehrige Gehören und Erbringen.

il senso della 'Kehre'; in: AUT AUT 248-249, marzo-giugno 1992, S.93-119. 75 In: Philosophisches Jahrbuch 72, 1964165, S.297 -402. 76 Die Schreibweise mit 'y' soll anzeigen, daß das Seyn seynsgeschichtlich aus dem Ereignis gedacht wird.

§ 4. Der Wandel zum seynsgeschichtlichen Gründen

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An all dem ist der Mensch in seinem Denken in einem wesentlichen Sinne beteiligt. Sein im Sinne von Anwesen wird nur dann durch die Lichtung des Sichverbergens erbracht, wenn diese "ein ihm entsprechendes Denken in seinen Brauch nimmt" (Brief an Richardson, S.401). Die Wahrheit des Seyns braucht das Denken, um in das Offene ihrer Wesung zu gelangen. Dieses Denken ist nicht mehr ein "rationales", vorstellungshaftes Denken, sondern ein der Wahrheit des Seyns ent-sprechendes; es bringt das zu Denkende denkerisch zur Sprache in Entsprechung zum, wie Heidegger sagt, "Zuruf' oder auch "Zuwurf' der Wahrheit des Seyns, niemals aber in einem eigenmächtigen denkerischen Entwurf. Dabei gelangt es (und das Wesen des Menschen) erst in dieser Entsprechung in sein Eigenes, erst darin wird es er-eignet, so wie umgekehrt das Seyn nur in seine Wahrheit gelangt und die Wahrheit nur dann Sein erbringt, wenn dieses durch den entsprechenden denkerischen Entwurf miteröffnet und durch die Bergung in das Seiende in der Offenheit seines Wesens gewahrt wird. Fassen wir das Denken und dem zuvor das Wesen des Menschen (das Dasein) als geworfenen Entwurf, dann ist dieser nur im kehrigen Bezug zum Zuruf der Wahrheit des Seyns als einem er-eignenden (er-bringenden, in den Brauch nehmenden) Zuwurf. Dieses in sich einige Wechselspiel von ereignendem Zuwurf und ereignetem (geworfenen) Entwurf geschieht als die ursprüngliche Kehre im Ereignis77 • Greifen wir nun zurück auf Heideggers Rede vom "Denken der Kehre", so wird einsichtig, daß hier die Betonung weniger (aber auch) auf dem Denken als auf der Kehre liegt. Das Denken denkt die Kehre, insofern es ursprünglich ein Denken aus der Kehre ist und sich dieser verdankt. Dieser Sachverhalt widerstrebt dem zeitgenössischen Denken. Denn hier bin nicht mehr ich es, als Subjekt, die etwas denkt, das Denken liegt nicht mehr, wie ich glaubte, in meiner subjektiven Macht. Ich bin, so könnte man sagen, vielmehr am Denken beteiligt, das sein Wesen einer Er-eignung verdankt, in die ich von Grund auf geworfen bin. Damit wird das Denken aber nicht einer fremden Macht übergeben. Denn das Er-eignis er-eignet nur im ent-sprechenden Entwurf des Denkens. Das Denken ist ausgesetzt in dieses abgründige Zwischenspiel, in welcher Ausgesetztheit das Wesen des Menschen einen grundlegenden Wandel erfährt. Der Mensch erfährt sich nicht mehr als ein "Etwas", als Subjekt oder denkendes Lebewesen (animal rationale), sondern er erfährt das geworfene Sich-zu-eigen-werden im kehrigen Bezug zur Wahrheit des Seyns, welches, wo diese Erfahrung aus- und offengehalten wird, auch niemals in ein greifbares Seiendes mündet.

77

7 Neu

Vgl. GA 65, S.407, 255. Abschnitt: "Die Kehre im Ereignis".

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b) Das Versagen im zureichenden Sagen der Kehre von Sein und Zeit Mit dem Denken der Kehre ist für Heidegger das Denken von Sein und Zeit, welches das Sein aus dem transzendental-horizontal sich zeitigenden Dasein bedenkt, nicht abgeschlossen. Äußerlich wird dies an den zahlreichen Äußerungen Heideggers sichtbar (in den Beiträgen und den in ihrem Horizont gehaltenen späten Vorlesungen), in denen er sein frühes Werk neu bedenkt und auch aus seinem Grunde umdeutet. Heidegger bedenkt Sein und Zeit immer wieder als Übergang 78 zum Ereignis-Denken, der - wie wir sehen werden - in der Sprache und in der transzendental-horizontalen Blickbahn noch zurückweist in die Metaphysik und im Versuch, Sein aus der Zeit zu denken, schon vorausweist in die Wahrheit des Seyns. Die Bestimmung von Sein und Zeit als einem solchen Übergang ist freilich nur rückblickend möglich. Damit ist das in Sein und Zeit Gedachte schon in eine Auseinandersetzung gerückt, die es verwandelt, insofern sie es ursprünglicher zu begreifen sucht. Einer solchen Auseinandersetzung sind historische oder philologische Gesichtspunkte völlig gleichgültig. Entsprechend soll es uns in einer Gegenüberstellung der Werke Sein und Zeit und Beiträge zur Philosophie weder darum gehen zu zeigen, wie das seynsgeschichtliche Denken schon in Sein und Zeit auffindbar ist, noch darum, Sein und Zeit den Beiträgen gegenüber als unzureichend oder falsch auszulegen, sondern es soll versucht werden, im Durchgang durch das in Sein und Zeit Gedachte in jenen Bereich der Seinsfrage vorzustoßen, der die Notwendigkeit einer gewandelten denkerisch-sprachlichen Entfaltung sichtbar werden läßt. Es seien zunächst einige Weisungen Heideggers aufgegriffen. Dieser schreibt in seinem Brief an Richardson, das Denken der Kehre ergebe sich daraus, daß er bei der zu denkenden Sache "Sein und Zeit" geblieben sei, d.h. nach der Hinsicht gefragt habe, die schon in "Sein und Zeit" (S.39) unter dem Titel "Zeit und Sein" angezeigt wurde (Brief an Richardson, S.400). Der 3. Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit, welcher "die Exp,likation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" (dies ist die 2. Hälfte der Überschrift für den ersten Teil von Sein und Zeit; vgl. ebd. S.39) behandeln sollte, wurde bei der Veröffentlichung von Sein und Zeit zurückgehalten. Warum, sagt Heidegger im Humanismusbrief "weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam" (GA 9, S.328). Die bereits in Sein und Zeit von Beginn an angelegte und in den Grundproblemen in einer neuen Fassung ausgearbeitete Kehre, von der hier die Rede

78

Siehe dazu in den Beiträgen (GA 65) S.48, 76, 182f, 205, 223, 228, 234, 305.

§ 4. Der Wandel zum seynsgeschichtlichen Gründen

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ist, ist nicht schon die Kehre im Ereignis, auch wenn das eindringlichere Fragen in ihre Hinsicht zum Denken der Kehre führen würde. 79 "Diese Kehre", so erfahren wir weiter, "ist nicht eine Änderung des Standpunktes von 'Sein und Zeit', sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der 'Sein und Zeit' erfahren ist, und zwar erfahren in der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit". (ebd.) Der Wandel zum seynsgeschichtlichen Denken vollzieht sich demnach nicht als eine Abkehr von der in Sein und Zeit angesetzten Seinsfrage (was die Rede von einem "Scheitern" der Kehre in Sein und Zeit problematisch werden läßt), sondern aus einem tieferen Eindringen in sie. In dem zitierten Satz meint zudem die Kehre die "Kehre im Ereignis", und den Standpunkt, von dem hier die Rede ist, erläutert Heidegger in der 1. Auflage des Humanismusbriefs als die Seinsfrage (siehe ebd. die Anmerkung). Mit Standpunkt ist also nicht das Denken dem Gedachten gegenüber gemeint (das wäre vorstellungshaft gesehen), sondern der Frageort der Seinsfrage selbst (das Dasein). Wenn Heidegger sagt, die Kehre sei nicht eine Änderung des Standpunktes von Sein und Zeit, heißt das folglich: der Frageort der Seinsfrage bleibt derselbe. Nun weiter: In Sein und Zeit, sagt Heidegger rückblickend, versagte das Denken im zureichenden Sagen der in diesem Werk angelegten Kehre; es kam mit der metaphysischen Sprache, in der es sich noch bewegte, nicht durch. Aber wurde nicht behauptet, Heidegger überwinde in Sein und Zeit die Metaphysik, sofern er erstmals nach dem Sein selbst fragt? Und bleibt ein Werk, das sich der Sprache der Metaphysik bedient, nicht notwendig dadurch metaphysisch? Und inwiefern bleibt die Sprache von Sein und Zeit metaphysisch? Stellen wird diese Fragen zunächst einmal zurück, um sie auf einem kleinen, klärenden Umweg anzugehen. Wie haben wir zu verstehen, daß das Denken im zureichenden Sagen der Kehre in Sein und Zeit versagte? Man könnte das Versagen auf die Seite des Unvermögens der Sprache des Denkens schieben, und doch würde damit zu kurz gegriffen. Denn das Denken versagt dem zu Sagenden gegenüber. In diesem, das schon irgendwie in die Vorhabe genommen ist, ist der "Grund" für das Versagen zu suchen; es entzieht sich dem metaphysischen sprachlichen Zugriff. D.h. aber: Eben weil mit der Seinsfrage das Gemächte der Metaphysik verlassen wird, muß die metaphysische Sprache in ihrem Sagen versagen. Und aus diesem, der Seinsfrage entstammenden Versagen, entspringt die Notwendigkeit eines gewandelten Denkens und Sagens,

79 Jean Grondin untersucht in seinem Aufsatz: Prolegomenes a l'intelligence du toumant chez Heidegger, in: Les etudes philosophiques, n. 3, 1990, S.333-352, wie das "Scheitern" der in Sein und Zeit angelegten Kehre zur Notwendigkeit eines Denkens der Kehre im Ereignis führt.

7*

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das dem Zu-sagenden ursprünglicher und d.h. anfänglicher zu ent-sprechen versucht. Es gilt also, tiefer in den Ort des Versagens einzudringen. Dafür soll zunächst gefragt werden: Inwiefern ist die Sprache von Sein und Zeit metaphysisch? Und inwiefern entzieht sich die in Sein und Zeit angesetzte Kehre einem solchen Sagen? Die metaphysische Sprache von Sein und Zeit ist unter anderem vor allem durch folgende Faktoren bestimmt: 1) die transzendental-horizontale Blickbahn80 ; 2) die Rede von "Bedingung der Möglichkeit", einmal in der Bestimmung der Erschlossenheit des Seins im Dasein als Bedingung der Möglichkeit für die Entdecktheit von Seiendem, dann in der Kennzeichnung der Zeitlichkeit als Bedingung der Möglichkeit für die Seinsverfassung des Daseins und schließlich in der Bestimmung der Temporalität als Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses. Mit diesen beiden Punkten ist verknüpft das Problem der "ontologischen Differenz". Denn so notwendig diese Unterscheidung im Übergang ist, birgt sie doch die Gefahr in sich, die Begriffe "ontisch - ontologisch" erstarren zu lassen und damit ein metaphysisch-vorstellungshaftes Denken zu verfestigen. 81 Zu 1) Die Transzendenz im Ansatz von Sein und Zeit ist, so wurde betont (§ 3), nicht ein Transzendieren von einem Seienden aus in das ihm zugrundeliegende Sein, sondern ein Je-schon-transzendiert-haben in die horizontale Erschlossenheit von Sein, aus der das Dasein erst auf solches Seiendes zu- und zurückkommt, das es selber ist, sowie auf nichtdaseinsmäßiges Seiendes. Aber selbst in dieser Fassung bleibt die Rede von einem Transzendieren problematisch, insofern sie vorstellungshaft mißdeutbar ist. Denn auch wenn von einem "Je-schon-transzendiert-haben gesprochen wird, bleibt in der Rede von einer ''Transzendenz'' die Vorstellung des Überstiegs eines zunächst gegebenen Seienden, wie ich es alltäglich erfahre, entsprechend dem auch das Wohin des Überstiegs zu einem vorgestellten Horizont wird, 'den ich mir als einen irgendwie offenen Raum vorstelle, aus dem ich allererst "eigentlich" auf mich selbst zu- und zurückkomme. In der gleichen Linie wird dann in den Grundproblemen die Temporalität verstanden, also der Entwurf des Seins auf die Zeit hin: Das als Seiendheit vorgestellte Sein entwirft sich auf eine vorgestellte Zeit, um von

80 Vgl. Heideggers kritische Anmerkungen dazu in den Beiträgen S.217, 250f, und SUZ S.39 die Randbemerkung b). 81 Vgl. auch hier Heideggers kritische Anmerkungen in den Beiträgen: GA 65, S.207, 250f, 423f, 466-469. Siehe ferner den § 14 der vorliegenden Arbeit.

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da aus in das Offene seiner Wesung zu gelangen. Um es mit Worten Heideggers zu fassen: "Wir fassen das 'Ontologische', wenn zwar als Bedingung des 'Ontischen', doch nur als Nachtrag zu ihm und wiederholen das 'Ontologische' (Entwurf des Seienden auf die Seiendheit) noch einmal als Selbstanwendung auf es selbst: Entwurf der Seiendheit als des Seyns auf seine Wahrheit." (GA 65, S.450) "Durch dieses Vorgehen wird scheinbar das Seyn selbst noch zum Gegenstand gemacht und das entschiedenste Gegenteil dessen erreicht, was der Anlauf der Seynsfrage bereits sich eröffnet hat." (ebd., S.451)

Die durch die ontologische Differenz in Angriff genommene Frage nach dem Sinn des Seins selbst will ja gerade das Sein nicht mehr wie ein Seiendes gegenständlich verstanden haben, sondern es selbst aus der Zeit als dem Entwurfsbereich denken. Daraufhin war Sein und Zeit von Beginn an angelegt. Eine Vergegenständlichung des Seins wird auch durch die Perspektive des Horizontes verstärkt. Denn diesen stelle ich mir im Gegenüber des betrachtenden oder intendierenden Subjekts vor. Damit verflochten ist auch die Gefahr, Sein und Zeit subjektivistisch-anthropologisch mißzuverstehen. Denn ist die Seinsfrage nicht gegründet im seinsverstehenden Dasein? Bleibt hier nicht der Mensch Ausgang des Fragens, der Mensch in seiner ekstatisch-horizontalen Verfaßtheit? Aber wer so fragt, sieht nicht, daß gerade in seiner ekstatischhorizontalen Verfaßtheit das Dasein die Domäne des Subjekts verlassen hat und je schon in der Lichtung des Seins steht. 82 Nur insofern kann es für die Seinsfrage in Sein und Zeit als das zunächst zu befragende Seiende fungieren. Zu 2) Metaphysisch ist auch Heideggers Rede von einer "Bedingung der Möglichkeit" zum einen bezüglich der Erschlossenheit von Sein gegenüber der Entdecktheit von Seiendem, grob gefaßt: des Ontologischen gegenüber dem Ontischen; zum anderen bezüglich der Zeitlichkeit als Bedingung der Möglichkeit für die Seinsverfassung des Daseins; und schließlich der Temporalität als Bedingung der Möglichkeit für das Seinsverständnis. 83 Im Ausdruck "Bedingung der Möglichkeit" hören wir einerseits den logischkausalen Zusammenhang "wenn A, dann B", in dem wir uns zwei Entitäten vorstellen, von denen eine Bedingung der Möglichkeit für die andere ist. Die Rede von der "Bedingung der Möglichkeit" ist uns aber vor allem aus der Transzendentalphilosophie Kants vertraut, der in der Kritik der reinen Vernunft beweist, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Als oberster Grundsatz der menschlichen Erkenntnis erweist sich dann: "daß alles Mannig-

82

83

Vgl. GA 65, S.489f, 455f. Vgl. GA 24, S.388.

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faltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe" (KrV, B 136), also unter den Kategorien, in denen sich das Selbstbewußtsein zugleich seine Einheit vorhält. Die Bedingung der Möglichkeit weist mithin zurück in den metaphysisch gedachten Grund, der seit Descartes im denkenden Subjekt aufgesucht wird. Und - so kann man durchaus argumentieren - worum geht es denn in der Daseinsanalytik der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, wenn nicht um das Beibringen eines Fundamentum, eines Grundes, auf dem dann erst die regionalen Ontologien aufgebaut würden? Sollte mit der vorbereitenden Daseinsanalytik nicht der Boden für die Gewinnung der Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein bereitgestellt werden?84 Vielleicht ist es nicht abwegig, mit Pöggeler zumindest von einem metaphysischen "Gründenwollen" zu sprechen85 . Doch wesentlicher als dies ist es, die Seinsfrage im Auge zu behalten, die in der Auslegung der Zeit als Entwurfsbereich für das Sein dieses gerade nicht mehr als metaphysischen Grund denkt, sondern als sichzeitigenden Abgrund.86 In dieser wesentlichen Hinsicht erlangt die Rede von einer "Bedingung der Möglichkeit" der Sache nach einen der Metaphysik gegenüber gewandelten Sinn, denn sie verweist nicht mehr auf einen metaphysischen Grund, sondern in ein abgründiges zeithaftes Erschließen, welches einen metaphysischen Grund überhaupt erst ermöglicht und diesen zugleich in seiner abgründigen Gegründetheit freilegt. Nach diesem Hinweis auf Heideggers metaphysische Sprache können wir dazu übergehen zu fragen, inwiefern diese Sprache im zureichenden Sagen der in Sein und Zeit angesetzten Kehre versagte. An dieser Stelle muß freilich nochmals darauf hingewiesen werden, daß es eine erste Ausarbeitung derselben gab und eine zweite Ausarbeitung von "Zeit und Sein" in den Grundproblemen vorliegt. Das Versagen, von dem Heidegger spricht, kann also nicht einfach als Sprachlosigkeit aufgefaßt werden. Man könnte auch vermuten, daß die zweite Ausarbeitung der ersten gegenüber vielleicht geglückter ist. Aber eine Äußerung gegen Ende der Vorlesung, die diese Ausarbeitung beinhaltet, zeigt einen gewissen Vorbehalt Heideggers selbst gegenüber seiner temporalen Interpretation des Seins. Er erläutert hier die Verdeckung der Transzendenz in der faktischen wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Existenz als eine "Fehl-

84 Vgl. SuZ S.17. 85 Siehe Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, 3. erweiterte Auflage, Pfullingen 1990, S.179f. 86 Vgl. § 3 in dieser Arbeit.

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interpretation", die ihren Grund und ihre Notwendigkeit in der geschichtlichen Existenz des Daseins selbst hat, und fügt hinzu: "Am Ende müssen diese Fehlinterpretationen vollzogen werden, damit das Dasein durch ihre Korrektur hindurch den Weg zu den eigentlichen Phänomenen gewinnt. Ohne daß wir es wissen, wo die Fehlinterpretation liegt, können wir ruhig überzeugt sein, daß sich auch in der temporalen Interpretation des Seins als solchen eine Fehlinterpretation verbirgt, und wiederum keine beliebige. Es wäre wider den Sinn des Philosophierens und jeder Wissenschaft, wollten wir nicht verstehen, daß mit dem wirklich Gesehenen und dem echt Ausgelegten eine grundsätzliche Unwahrheit zusammenwohnt." (GA 24, S.459)

Wenn sich nur durch "Fehlinterpretationen" ein Weg zu den eigentlichen Phänomenen gewinnen läßt, dann haben wir sie frei von negativen Bewertungen zu begreifen. Heidegger scheint hier die Möglichkeit zu sehen, auf sich selbst anzuwenden, was er unter dem Titel "Destruktion" der Metaphysik gegenüber vollzieht87 : durch den Abbau verdeckender überlieferter Wesensbestimmungen (Sein als Seiendheit im Ausgang vom Seienden) die Phänomene selbst, wie sie sich von ihnen selbst her zeigen (Sein), freilegen und darin sehen lassen. Heidegger gibt in den Grundproblemen auch schon einen Hinweis, in welcher Richtung die der temporalen Interpretation des Seins möglicherweise innewohnende Fehlinterpretation zu suchen ist: "Schon der Grundakt der Konstitution der Ontologie, d.h. der Philosophie, die Vergegenständlichung des Seins, d.h. der Entwurf des Seins auf den Horizont seiner Verstehbarkeit, und gerade dieser Grundakt, ist der Unsicherheit überantwortet und steht ständig in der Gefahr einer Verkehrung, weil diese Vergegenständlichung des Seins sich notwendig in einer Entwurfsrichtung bewegen muß, die dem alltäglichen Verhalten zu Seiendem zuwiderläuft." (GA 24, S.459)

Das Problem der Vergegenständlichung des Seins würde Heidegger auch in den Beiträgen als entscheidenden Anstoß dafür sehen, neue Wege in der Thematisierung der Seinsfrage zu suchen. Es galt "vor allem eine Vergegenständlichung des Seyns zu vermeiden, einmal durch das Zurückhalten der 'temporalen' Auslegung des Seyns und zugleich durch den Versuch, die Wahrheit des Seyns unabhängig davon 'sichtbar' zu machen (Freiheit zum Grunde in 'Vom Wesen des Grundes', aber gerade im ersten Teil dieser Abhandlung ist das Schema ontisch-ontologisch noch durchaus festgehalten)." (GA 65, S.451)

In den Grundproblemen faßt Heidegger die temporale Auslegung des Seins als eine "Vergegenständlichung" des Seins, die grundsätzlich zu scheiden ist von einer Vergegenständlichung des Seienden, wie sie durch die positiven

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Vgl. SuZ § 6.

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Wissenschaften vollzogen wird (GA 24, S.466). In der "Vergegenständlichung" des Seins ist dieses nicht einfach als Positum, als ein gegebenes Seiendes zu fassen, auf das sich ein irgendwie davon losgelöstes "Denken" bezieht, sondern als "Entwurf des Seins auf den Horizont seiner Verstehbarkeit". Sie hat dabei gerade nicht die Bedeutung von "gegenständlich vor sich stellen", sondern nennt die ausdrückliche Thematisierung des Seins in (und aus) seinem Entwurf auf seinen temporalen Verständnishorizont. Die hierin vollzogene Entwurfsrichtung, so Heidegger, läuft dem alltäglichen Verhalten zu Seiendem zuwider. Denn, so können wir ergänzen, der zeitigend öffnende Entwurf begreift das Sein gerade aus dem darin eröffneten Horizont der Temporalität, hingegen das alltägliche Verhalten sich an das schon entdeckte Seiende hält, um von ihm aus nach seinem Grund zu fragen. Die ständige Gefahr einer Verkehrung, von der Heidegger spricht, ergibt sich daraus, daß sich das Denken quasi naturgemäß immer in die Entwurfsrichtung des alltäglichen Verhaltens zurücksinken läßt. Dies liegt daran, daß mit dem Sichzeitigen von Sein immer schon Seiendes entdeckt ist und der Mensch sich zunächst und zumeist an das entdeckte Seiende hält. Die "Vergegenständlichung" des Seins führt daher immer die Möglichkeit mit sich, daß sie gemäß der alltäglichen Entwurfsrichtung, die sich in der metaphysischen Sprache niederschlägt, das Sein als Seiendheit (also wie ein Seiendes) begreift, welches auf die Zeit hin entworfen wird. Damit wird das Gegenteil dessen erreicht, was mit der Kehre von Sein und Zeit, als dem Verstehen von Sein aus der horizontalen Zeit, gemeint war. Die Verkehrung der Kehre im gewöhnlichen und im metaphysischen Denken wird aber begünstigt durch die metaphysische Rede von Transzendenz, Horizont, Vergegenständlichung, Bedingung der Möglichkeit, kurz, durch die Fragerichtung, in der Heidegger in Sein und Zeit die Seinsfrage angeht. Der Kehre gegenüber versagt das metaphysische Sagen, weil diese Sprache der Entwurfsrichtung der Kehre engegensteht. Die metaphysische Sprache vermag den Sachverhalt der Kehre nicht ohne Gefahr einer Verkehrung in ihrem Sagen in der ihr eigenen Entwurfsrichtung zu eröffnen und sehen zu lassen. Und auch dort, wo wir im phänomenologisch hermeneutischen Mitvollzug die Seinsfrage selbst im Auge behalten, schwingt durch die metaphysische Sprache immer die Gefahr der Verkehrung als wesentliche Möglichkeit mit. Sein und Zeit bleibt dadurch notgedrungen in einem Zwielicht. c) Der Sprung in die Wahrheit des Seyns Gemäß den oben bereits zitierten Äußerungen Heideggers in den Beiträgen ging es ihm darum, eine Vergegenständlichung des Seins zu vermeiden. Dafür fragte er in die Richtung weiter, die mit dem Titel "Zeit und Sein" angezeigt wurde. Er fragte also tiefer in die Kehre hinein; und wenn wir einer weiteren Äußerung Heideggers in den Beiträgen Gehör geben wollen, so entspringen die

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folgenden "Änderungen" seines Denkwegs "der wachsenden Abgründigkeit der Seynsfrage selbst" (GA 65, S.85).88 Mit der "Abgründigkeit" der Seinsfrage werden wir nun wieder auf unsere Frage nach dem Wesen des Grundes bzw. der Gründung zurückgeworfen. Die hier im § 3 vorausgehende Entfaltung der transzendental-horizontalen Bestimmung des Wesens des Grundes wurde, im Vorblick auf die Beiträge, verstärkt dahingehend ausgerichtet, die abgründige Dimension des Wesens des Grundes sichtbar zu machen und hierin den Zusammenhang Zeit - Sein Unwahrheit - Wahrheit aufzudecken, der in die seynsgeschichtlich gedachte Wahrheit des Seyns vorausweist. Gerade dort, wo nach der Entfaltung des dreifachen Gründens (Stiften, Bodennehmen, Be-gründen) der Fragegang in den Ab-grund als dem nichthaft sich zeitigenden Ursprung des dreifachen Gründens mündet, kehrt er ein in die Ortschaft der Kehre von Sein und Zeit. Es wurde versucht, diese Ortschaft im Äußersten ihrer Abgründigkeit zur Sprache zu bringen, wo im Rückgang auf das Sein zum Tode der temporale Horizont im Sichzeitigen des Daseins in seiner Endlichkeit aufgewiesen wurde. Die Endlichkeit des Horizontes wurde dann als ursprüngliche Verschlossenheit entfaltet, die ständig, solange Dasein existiert, wesenhaft in die Erschlossenheit des Daseins hereinragt, und zwar als äußerster Bevorstand im Sein zum Tode, der allein das ganze Seinkönnen des Daseins gewährt. Der hier zur Sprache kommende Zusammenhang zwischen gewährender Verschlossenheit und Erschlossenheit von Sein überhaupt im Sichzeitigen des Daseins verweist auf die Wahrheit des Seyns als lichtendes Sichverbergen. Die ursprünglichste Wesensbestimmung des Grundes im Umkreis von Sein und Zeit ist also im Sachverhalt aufzusuchen, der unter dem Titel "Zeit und Sein" gefaßt ist. Gleichwohl könnte man in dem ersten Hauptwerk Heideggers vornehmlich ein anderes Gründen am Werk sehen, wenn man, wie Pöggeler, darin ein metaphysisches Gründenwollen betont. Die Analytik des Daseins sollte ja gerade den Boden bereiten zur Entfaltung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Allein, wann ist dieser "Boden" gewonnen? Wenn der Grund des Seins des Daseins als die Zeitlichkeit freigelegt ist89 • Der Aufweis der Endlichkeit der Zeitlichkeit in der Analyse des Seins zum Tode, die Her-

88 Vgl. dazu McNeill, William: Metaphysics, Fundamental Ontology, Metontology 1925-1935, in: Heidegger Studies 8, 1992, S.63-80. McNeill entwickelt sorgfältig aus dem fundamental ontologischen Frageansatz die von Heidegger als ''Umschlag in die Metontologie" (GA 26, S.201) gefaßte Kehre von Sein und Zeit im Zusammenhang mit der Einführung in die Metaphysik (GA 40) und gelangt zu der These, daß Heidegger die Metontologie nicht durchführt, weil der Entzug von Sein als Anwesen sich in der Temporalität des Seins als so abgründig zeigt, daß der Horizont des möglichen thematischen Entwurfs des Seienden im Ganzen nicht gesichert ist (S.77). 89 Siehe SUZ, S.436.

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ausstellung der in der gründenden Sorge wesenden zweifachen Nichtigkeit, zeigten jedoch, daß die Zeitlichkeit des Daseins nicht mehr als metaphysischer Grund zu verstehen ist90 , und schon gar nicht, wenn der temporale Horizont mit in Betracht gezogen wird, aus dem im Seinsverstehen des Daseins Sein überhaupt zeithaft gelichtet ist. Der Sache nach bereitet die Daseinsanalytik weniger einen Boden, auf dem dann, wie auf die Fundamente, das Haus gebaut wird. Sondern es wird vielmehr herausgestellt, wie der Boden als nichtiger in sich schon offen ist für das abgründige Sichzeitigen des Seins. Damit verschwimmt der Boden aber nicht ins "Nichts". Er bleibt ein stiftend bodennehmendes Be-gründen, welches wesenhaft zum abgründigen Sichzeitigen der Wahrheit des Seins gehört. Was sich zunächst vielleicht als metaphysischer Boden ausnimmt (Dasein als Seiendes), erfährt also im Vollzuge der Daseinsanalytik, d.h. in der konkreten denkerischen Entfaltung, eine Destruktion, die das ursprünglichere Phänomen des nichthaft gründenden Daseins freilegt. Wenn nun auch im Hinblick auf das seynsgeschichtliche Denken Heideggers verstärkt das im Umkreis von Sein und Zeit dahin Vorausweisende hervorgehoben wurde, kann doch der in der Sprache verfestigte Schatten der Metaphysik dadurch nicht geleugnet werden, der eine metaphysische Interpretation durchaus begünstigt und Sein und Zeit somit in einer Zweideutigkeit hält. Die Einsicht in die immerwährende Gefahr einer metaphysischen Mißdeutung der Kehre zur Zeit der Publikation von Sein und Zeit würde ein entscheidender Anstoß werden, im immer tieferen Hineindringen in die Abgründigkeit der Seinsfrage neue Wege des denkerischen Sagens zu suchen. 91 Was dabei der

Vgl. §. 3 dieser Arbeit, Abschnitt e). Im SS 1928 hält Heidegger seine Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik, in der er das Wesen des Grundes im Ausgang von Leibniz' Satz vom Grund bedenkt; 1929 entstehen die Abhandlungen Was ist Metaphysik?, worin Heidegger das Nichts bedenkt, und die von uns behandelte Abhandlung Vom Wesen des Grundes. 1930 schließlich verfaßt er einen Vortrag unter dem Titel Vom Wesen der Wahrheit, in dem er vor allem die zur Wahrheit gehörende Unwahrheit (Geheimnis und Irre) thematisiert. Dieser Vortrag wurde etwas überarbeitet erst 1943 veröffentlicht. Heidegger verweist im Humanismusbrief auf ihn, sofern er "einen gewissen Einblick in das Denken der Kehre von "Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein"" gibt (GA 9, S.328). Zur Bedeutung dieses Vortrags für die "Kehre" siehe: Sang-Hie Shin: Wahrheitsfrage und Kehre Martin Heideggers. Die Frage nach der Wahrheit in der Fundamentalontologie und im EreignisDenken, Würzburg 1993. Alberto Rosales erörtert in: Transzendenz und Differenz. Ein Beitrag zum Problem der ontologischen Differenz beim frühen Heidegger, Den Haag 1970, die Differenz zwischen Urfassung und Druckfassung der Schrift Vom Wesen der Wahrheit (ebd., S.31Off). Er betont, daß "eine adäquate Bestimmung [der] Verbergung auf dem Boden der transzendental-horizontalen Denkart unmöglich ist und zur Sprengung derselben führen muß" (ebd., S.312). Vgl. ders.: Zum Problem der Kehre im 90

91

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Sachverhalt von "Zeit und Sein" fordern würde, kann mit einer Randbemerkung Heideggers aus seinem Handexemplar von Sein und Zeit wiedergegeben werden: "Die Überwindung des Horizonts als solchen. Die Umkehr in die Herkunft. Das Anwesen aus dieser Herkunft." (SuZ, S.39 b). Dort, wo der temporale Horizont nicht mehr aus der transzendentalen Hinsicht des Daseins als das bestimmt wird, von woher das transzendierende Dasein Sein überhaupt versteht, d.h. Sein überhaupt zeithaft gelichtet ist, sondern wo er anfänglich als Herkunft bedacht wird, gewissermaßen im Überspringen der zuvor angesetzten Transzendenz, kehrt sich der denkerische Weg. Anwesen, d.h. Sein, wird nunmehr aus dieser Herkunft erfahren und denkerisch entfaltet. Diese Umkehr in die Herkunft (in den Abgrund) bezeichnet Heidegger zur Zeit der Beiträge als "Sprung" in die Wesung des Seins. Der 122. Abschnitt der Beiträge gibt einen Einblick darein, wie sich dieser entscheidende Sprung im Absprung von "Sein und Zeit" vollzieht: "Der Sprung (der geworfene Entwurf) ist der Vollzug des Entwurfs der Wahrheit des Seyns im Sinne der Einrückung in das Offene, dergestalt, daß der Werfer des Entwurfs als geworfener sich erfährt, d.h. er-eignet durch das Seyn. Die Eröffnung durch den Entwurf ist nur solche, wenn sie als Erfahrung der Geworfenheit und damit der Zugehörigkeit zum Seyn geschieht. Das ist der wesentliche Unterschied gegenüber aller nur transzendentalen Erkenntnisart hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit". (GA 65, S.239)

Denken Heideggers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38, 1984, S. 241-262. Laut Rosales mußte die Kehre im noch metaphysisch angesetzten Werk Sein und Zeit mißlingen, welches Mißlingen aber zum Anstoß für die Kehre wurde. Siehe auch Rosales' kommentierende Zusammenfassung der verschiedenen Auffassungen über Heideggers "Kehre" in der Forschung: "Heideggers Kehre im Lichte ihrer Interpretationen", in: Dietrich Papenfuß und Otto Pöggeler (Hrsg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Symposion der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 24.-28. April 1989 in Bonn-Bad Godesberg. Bd I: Philosophie und Politik, Frankfurt am Main 1991, S. 118-140. Unter gewissen Vorbehalten sei verwiesen auf Ekkehard Fräntzki: Die Kehre. Heideggers Schrift "Vom Wesen der Wahrheit". Urfassung und Druckfassungen, Pfaffenweiler 1987. Sein Buch ist bezüglich der verschiedenen Fassungen der Schrift Vom Wesen der Wahrheit informativ. Interpretatorisch verfehlt er aber wesentliche Punkte, wenn er in der ''Lichtung des Sichverbergens" beim späten Heidegger eine Aufhebung der Verborgenheit in die Unverborgenheit zu sehen meint, was ihn dazu führt zu behaupten, Heidegger habe den Grund der Metaphysik nicht überwunden (S.128). F. Lleras schreibt in: Zu Heideggers Gedanken vom Ende der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1986, im Phänomen der Angst in Sein und Zeit sei noch ein Moment der Selbstbezüglichkeit, so daß dieses Werk neben Nietzsche im Gefüge der neuzeitlichen Metaphysik eine Endstellung einnimmt (ebd., S.II), wohingegen in Was ist Metaphysik und Vom Wesen der Wahrheit eine Zukehr zum Nichts und damit eine Überwindung der Metaphysik ansetzt (ebd., S.15,33,39). Gemäß unserer Interpretation kann allerdings weder der Kennzeichnung von Sein und Zeit als "metaphysischem" Werk, noch der Rede von einem "Mißlingen" zugestimmt werden.

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Der Sprung ist hier zu verstehen als denkerischer Entwurf, bei dem aber gegenüber dem geworfenen Entwurf, wie er in Sein und Zeit gefaßt ist, die Geworfenheit eine verstärkte und auch gewandelte Rolle spielt. Denn zu der Erfahrung der Geworfenheit im Entwurf gesellt sich eine neue Erfahrung: daß diese Geworfenheit ein Ereignet-sein ist durch das Seyn selbst. Der zitierte Abschnitt Heideggers versucht, diese gegenüber Sein und Zeit gewandelte Erfahrung aus ihr selbst her phänomenologisch zur Sprache zu bringen. Es ist deshalb ratsam, ihn Schritt für Schritt sorgfältig auszulegen. Der Sprung ist ein geworfener Entwurf. Wie in Sein und Zeit sind die Momente der Geworfenheit und des Entwurfs gleichursprünglich als ein Geschehen zu denken. Der Sprung ist ferner "Vollzug" des Entwurfs, d.h. er wird nicht erst formalanzeigend oder als Strukturmoment eingeführt, sondern als - um nicht ohne Vorbehalt mit Sein und Zeit zu sprechen - "existenziell" "eigentlich" sich vollziehender Entwurf der Wahrheit des Seyns. Der Entwurf ist immer ein eröffnender. In seinem Vollzug wird die Wahrheit des Seyns eröffnet, und zwar "im Sinne der Einrückung in das Offene", in welcher der "Werfer des Entwurfs", also das denkerische Dasein, sich als geworfenes bzw. durch das Seyn er-eignetes erfährt. Wird die Eröffnung eine Einrückung in das Offene genannt, so liegt darin, daß das Offene nicht als ein erst durch den Entwurf Hervorgebrachtes erfahren wird, sondern es kommt im Vollzug der Eröffnung dem Werfer bereits entgegen, und zwar so, daß der Entwurf den Charakter eines Einrückens in das im Vollzug schon Offene bekommt. Im Entwurf erfährt sich der Werfer desselben bereits als geworfen in das Offene der Wahrheit des Seyns, wobei die Geworfenheit als Er-eignung durch das Seyn erfahren wird. Der Entwurf erschließt demnach im Vollzug nicht nur die Wahrheit des Seyns, sondern zugleich sich selbst als er-eigneten aus dem Seyn. Es erschließt sich also eine ursprüngliche Gegenwendigkeit und Zusammengehörigkeit von ereignendem Seyn und ereignetem (denkerischem) Entwurf. Diese Gegenwendigkeit ist selbst als das Offene zu verstehen, in welches das Dasein im Sprung einrückt. Der letzte Absatz aus dem 122. Abschnitt der Beiträge bringt gerade dies zur Sprache:

"In der Eröffnung der Wesung des Seyns wird offenbar, daß das Da-sein nichts leistet, es sei denn den Gegenschwung der Er-eignung aufzufangen, d.h. in diesen einzurücken und so erst selbst es selbst zu werden: der Wahrer des geworfenen Entwurfs, der gegründete Gründer des Grundes." (ebd.) Im Sprung eröffnet sich also die Wesung des Seyns, die wir vorweg als zeiträumliches Walten seiner Wahrheit fassen können, so daß das Da-sein sich nicht als eigenmächtig eröffnend erfährt, sondern als primär in der Geworfenheit er-eignet. Primär aber nicht in dem Sinne, als ginge die Er-eignung und damit das Seyn dem ereigneten Entwurf zeitlich voraus, sondern in dem Sinne, daß das Da-sein erst in der Ereignung, die es im Entwurf auffängt (in die es

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einrückt), es selbst wird, sich zugeeignet wird. Und das hier angesprochene Sich-zueigen-werden meint: in sein eigenstes Wesen gelangen; der gegründete Gründer des Grundes sein. Die Erfahrung der Ereignung ist jedoch (was wir dem vorausgehenden Zitat entnehmen) zugleich die Erfahrung der Zugehörigkeit zum Seyn, d.h., daß das Da-sein sich nur in sein Wesen er-eignet erfährt, wo es sich zugleich in seiner Zugehörigkeit zum Seyn erfährt, was nur geschieht, wo es einrückt in den Gegenschwung, in dem die Wesung des Seyns zeit-räumlich gelichtet ist. Den Gegenschwung von ereignendem Zuwurf (durch das Seyn) und ereignetem Entwurf faßten wir bereits an früherer Stelle als die Kehre im Ereignis. In der vorrangigen Er-eignung als der Zugehörigkeit zum Seyn, die im Sprung in das Ereignis erfahren wird, liegt, so Heidegger, "der wesentliche Unterschied gegenüber aller [meine Betonung] nur transzendentalen Erkenntnisart hinsichtlich der Bedingung der Möglichkeit" (ebd.). Darin ist auch der transzendental-horizontale Denkansatz von Sein und Zeit angesprochen. Denn in den Beiträgen wird das Seyn nicht nur im Bereich der Transzendenz als ursprünglicher Horizont gedacht, der Bedingung der Möglichkeit für die Seinsverfassung des Daseins und für die Entdecktheit des Seienden im Ganzen ist, sondern aus der Erfahrung der Zugehörigkeit zum ereignenden Seyn wird das im ereigneten denkerischen Entwurf eröffnete gegenwendige Geschehen der Wahrheit des Seyns denkerisch zur Sprache gebracht und d.h.: im Wort geborgen. Das im Vollzug des Sprunges ereignete Denken denkt somit das Seyn aus seiner (des Denkens) Zugehörigkeit zu ihm (dem Seyn); es ist inständig in der Wahrheit des Seyns und versucht diese aus der Er-eignung denkerisch ins Wort zu heben. Mit der Inständigkeit wird in gewandelter Weise das bezeichnet, was uns aus Sein und Zeit als die Existenz vertraut ist. Doch wo wir in der Existenz das Über-sich-hinaussein des Daseins in einer Seinsmöglichkeit seiner selbst und darin das je schon Transzendieren in die Gelichtetheit von Sein überhaupt hören, hören wir in der Inständigkeit einen gewandelten Sachverhalt: das Innestehen in der Lichtung des Seyns und das in solcher Inständigkeit Offenhalten dieser Gelichtetheit, des "Da". Die Inständigkeit entspricht also in gewisser Hinsicht der eigentlichen Existenz. Stichwortartig können wir bislang das gegenüber Sein und Zeit gewandelte Denken in folgenden Punkten fassen: 1. Es vollzieht sich als Sprung, in dem das geworfen entwerfende Denken sich als vom Seyn selbst ereignet erfährt. 2. Der Sprung ist das Einrücken in das gegenwendige Geschehen von ereignendem Zuwurf (des Seyns) und ereignetem Entwurf, i.e. in das Ereignis. 3. Einrückend in das Offene der Wesung der Wahrheit des Seyns ist das Den-

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ken in ihr inständig und versucht aus dem Er-eignis das darin Erfahrene ins denkerische Wort zu heben. Ein Einwand drängt sich jedoch im Rückblick auf das bislang Dargelegte auf: Wenn erst im Sprung die Wahrheit des Seyns eröffnet wird und das Denken in das Ereignis einrückt, geht dann nicht doch eine Tat des Denkens dem dadurch Eröffneten voraus? Solcher Einwand erhebt sich, solange nicht gesehen wird, daß sich der Sprung selbst schon als Einrücken in das Offene des Gegenschwungs von ereignendem Seyn und ereignetem Entwurf in seiner Zugehörigkeit zum Seyn erfährt. Der Sprung erfährt sich selbst schon als ereignet; d.h. er entspricht schon im Auffangen des Zuwurfs des Seyns diesem selbst. Zum Sprung reicht deshalb nicht ein subjektiver willentlicher Entschluß, er (der Sprung) gehorcht selbst schon einer ursprünglicheren Gefügtheit, über die er nicht verfügt, die aber in seinem Vollzug mitgestaltet wird. Doch verlangt das Verständnis dessen, was Heidegger in den Beiträgen zur Sprache bringt, genau diesen vom Menschen unerzwinglichen Sprung, der alles geläufige vorstellungshafte Denken, welches sich am Seienden orientiert und daran auch seinen Halt findet, hinter sich läßt, um aus dem Sprung ein gewandeltes Denken und Sagen zu versuchen, das auch einen gewandelten, wesenhaften Bezug zum Seienden mit sich bringt. Wenn es darum geht, diesen Sprung zu vollziehen, so drängt sich als entscheidende Frage auf, wie denn das Denken dazu veraniaßt werden kann, einen solchen Sprung zu wagen. Gemäß dem bislang Gesagten muß ja dieser Anlaß aus dem Seyn selbst kommen. Wie dies? Um dies beantworten zu können, ist zunächst einmal die zum Sprung gehörige "ursprünglichere Einfügung in die Geschichte" (GA 65, S.451) zu thematisieren. d) Die ursprünglichere Einfügung in die Geschichte In Sein und Zeit entfaltet Heidegger die Geschichtlichkeit auf dem Grunde der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins als eine konkrete Ausarbeitung derselben (SuZ, S.382ff). Im Wort "Geschichte" haben wir deshalb das "Geschehen des Daseins" herauszuhören und die geläufige Vorstellung eines nacheinander Vorkommens von Ereignissen in der Zeit femzuhalten. Letzteres bezeichnet Heidegger als "Historie". Die eigentliche Geschichtlichkeit des Daseins dagegen entfaltet Heidegger als Erbe (das Sichüberliefern überkommener Möglichkeiten im entschlossenen Zurückkommen auf die Geworfenheit), Schicksal ("das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert"; ebd., S.384) und Wiederholung (die "ausdrückliche Überlieferung" als "Rückgang in Möglichkeiten des dagewesenen Daseins" ebd., S.385). Wir beschränken uns in unserem kurzen Blick auf die

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Geschichtlichkeit von Sein und Zeit darauf zu sehen, daß die Geschichte hier dem Dasein, der Welt seines In-der-Welt-seins und dem innerweltlich Seienden vorbehalten ist. Der Sprung in das Seyn bringt nun ein vertieftes Verständnis der Geschichte insofern mit sich, als darin das Seyn selbst in seiner Geschichtlichkeit erfahren und gedacht wird. Und auch hier besagt Geschichtlichkeit eben nicht Historie, also nicht etwa das Aufeinanderfolgen bestimmter Seinsepochen in der Zeit, sondern die Seynsgeschichte nennt die jeweilige Geschehnisweise des Seyns in seiner Wahrheit. Die Wahrheit des Seyns wird von Heidegger also nicht als ein formal gleichförmiges Gebilde gedacht, sondern in ihrer jeweiligen konkreten geschichtlichen Wesungsweise als Sichzuschicken der Wahrheit des Seyns, als Geschick. Das Seyn schickt sich aber dem Denken auf solche Weise zu, daß dieses ihm darin immer schon auch entspricht, ob in der Vergessenheit oder der eigentlichen Übernahme. Wie das Seyn in einer jeweiligen Epoche west, entscheidet sich folglich indiesem Wechselspiel von ereignendem Zuwurf und ereignetem Entwurf. Die Weise, wie das Seyn in unserer zeitgenössischen Epoche geschieht, wird von Heidegger erfahren und gedacht als die Seinsverlassenheit des Seienden, d.h. daß es mit dem Seyn heutzutage allgemein nichts mehr ist, weil "man" sich überall nur an das Seiende hält. Der Mensch lebt also in der Seinsvergessenheit, die darin gipfelt, daß die Seinsverlassenheit gar nicht erfahren wird. Alles ist in bester Ordnung: die Wissenschaft bemüht sich um den immer weiteren Fortschritt, man plant seinen Alltag weiter, sichert sich vor Unfällen und hofft, für die auftretenden Probleme wie Umweltverschmutzung, politische Auseinandersetzungen, Krankheit usw. Lösungen zu finden, die sich alle im Rahmen des Glaubens an die "Machbarkeit" des Seienden bewegen, das im vorhinein als das Vor-gestellte und Vor-stellbare verstanden wird. Auch die immer wieder auftauchenden pessimistischen Weltsichten fußen auf demselben Prinzip der Machbarkeit, sofern die Nicht-mehr-Machbarkeit (z.B. aufgrund der schon zu weit fortgeschrittenen Umweltverschmutzung) in den Vordergrund tritt und sich in ihr die "Sinnlosigkeit" oder "Nutzlosigkeit" alles HandeIns auftut. Solches kann aber nur im Horizont der Machbarkeit (Vor-gestelltheit) so erscheinen, der dadurch noch lange nicht gesprengt oder in seinem Grunde erfahren wird. Hier tut sich ein weites Feld möglicher phänomenologischer Analysen auf, denen wir vielleicht an späterer Stelle mehr Raum geben können. Zunächst geht es uns um ein annäherndes Verständnis der Seinsverlassenheit und der Seinsvergessenheit, deren Erfahrung Heidegger dahin nötigt, die Frage nach dem Seyn selbst wieder zu stellen. Die entscheidende Erfahrung der äußersten Seinsverlassenheit ist, wie gesagt wurde, die Erfahrung, daß diese als solche gar nicht gesehen wird und damit auch keine Notwendigkeit auftritt, hier irgendeine "abstrakte" Frage nach dem

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A. Vorbereitender Teil

Sein selbst wieder aufzunehmen. Nutzen und Wirksamkeit im Rahmen des Seienden bleiben die entscheidenden Kriterien. Daß aber die Notwendigkeit der Seinsfrage nicht eingesehen wird, liegt nicht im Gemächte des Menschen, sondern (was noch erläutert werden muß) im Sein selbst, das als Entzug west, indem es sich in das erscheinende Seiende verbirgt, so tief, daß heute im äußersten der Seinsvergessenheit jeder Sinn einer im Seienden verborgenen Dimension verloren geht. Das Seiende ist, ganz platt, das Positum, das, was da vor mir steht. Daß im zeitgenössischen Denken dieses Positum zuweilen zu einer Leerstelle geworden ist, die sich in Bezugsnetze auflöst, ändert nichts an dem vorstellenden Zugang zu ihm und dem vorgestellten Bezugsnetz. Mit der Erfahrung der Seinsverlassenheit geht bei Heidegger auch eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte einher, d.h. mit dem uns überlieferten Erbe. Der Rückgang besonders in die Anfänge unserer abendländischen Philosophie, d.h. zum antiken Griechentum, führt Heidegger an den Ursprungsort der Seinsverlassenheit. Was sich für Heidegger bei den Vorsokratikern zeigt, ist ein anfängliches Grundgeschehnis, das die gesamte Metaphysik aus diesem Anfang bestimmt. Ein Schlüsselbegriff ist dabei für Heidegger das griechische Wort für die Wahrheit: aletheia, "Un-verborgenheit". Für Heidegger zeigt sich im antiken Griechentum, wie das Seyn als physis in seinem Sichentbergen (Anwesen) erfahren wurde. Da es aber die eigenste Not der Griechen war, in diesem Entbergungsgeschehen, das sich ihnen in der Grundstimmung des Erstaunens offenbarte, einen Stand inmitten des Seienden im Ganzen zu gewinnen, hielten sie sich an das im Anwesen Anwesende (das Seiende) und fragten nicht mehr nach seiner Wahrheit und d.h. nach dem Seyn selbst in seinem Sichverbergen. Die Geschichte der Metaphysik beginnt also gerade mit der Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit, als dem Sichentziehen des Seins zugunsten der Offenbarkeit des Seienden, die es dem Menschen verwehrt, nach dem Seyn selbst in seiner Wahrheit zu fragen. Daß nunmehr einem Martin Heidegger so wie vielleicht manch anderem unter uns solches beschieden sein soll, liegt genausowenig in irgendeinem subjektiven Gemächte. Was den Sprung in das Seyn nunmehr ermöglicht, ist, daß die Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit in ein Äußerstes geraten ist und sich dieses Äußerste für den Einzelnen als Not bekundet. Die Anerkenntnis dieser Not als einem Aus- und Offenhalten des geschichtlich sich entziehenden Seyns öffnet nun wieder jenen ursprünglichen Bezug zum Seyn, der nach einem kurzen Aufkeimen bei den Griechen zugunsten der Anwesenheit des Seienden in Vergessenheit geraten ist. Sie versetzt dabei das Dasein in einen Entscheidungsraum, in dem nach Heidegger vor allem die geschichtliche Entscheidung vorbereitet wird, ob die Seinsvergessenheit sich in ihr Äußerstes verhärtet, oder ob der Wahrheit des Seyns und dem Menschentum nochmals ein

§ 4. Der Wandel zum seynsgeschichtlichen Gründen

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anderer geschichtlicher Anfang gewährt wird, in dem das Seyn ursprünglich im Dasein gegründet das Seiende durchwaltet. Um diese Vorbereitung und d.h. letztlich um die Gründung des anderen Anfangs geht es Heidegger in seinem seynsgeschichtlichen Denken. Dieses "um" erwächst aber dem Seyn selbst, das in der Anerkenntnis der Not der Seinsverlassenheit in seinem wesenhaften Entzug bzw. in seiner Verweigerung oder Nichtigkeit anklingt. In der Grundstimmung der Verhaltenheit versucht das seynsgeschichtliche Denken den in der Not eröffneten Entscheidungsraum offen zu halten und im Gegenhalt zum sich verbergenden Seyn jenes gegenwendige Geschehen zur Sprache zu bringen, das schon als die "Kehre im Ereignis" bezeichnet wurde. Das denkerische Zur-Sprache-bringen des Ereignisses aus dem ereignenden Zuwurf versteht sich dabei selbst als vorbereitende Gründung der Wesungsstätte und -mitte der Wahrheit des Seyns, nämlich des Da-seins, das nunmehr nicht mehr primär vom Menschen aus gefaßt ist, wohl aber weiterhin als die Wesungsstätte des darin gegründeten Menschen zu begreifen ist. 92 Das Wesen des Menschen, so vernahmen wir bereits, erfährt im Einrücken in die Kehre des Ereignisses als eigenste Bestimmung: "der Wahrer des geworfenen Entwurfs, der gegründete Gründer des Grundes" zu werden (GA 65, S.239). Was hier "Grund" besagt, inwiefern der Mensch in seinem Wesen Gründer ist und er als Gründer selbst gegründet ist, sind Fragen, die im zweiten Kapitel des Hauptteils dieser Arbeit (§ 10) eingehend behandelt werden. Zur Orientierung sei jedoch vorweggenommen, daß wie in Sein und Zeit auch in den Beiträgen das Wesen des Grundes bzw. die Gründung in zwei Hinsichten bedacht wird. Zum einen hinsichtlich des Da-seins, das im Zusammenhang mit Sein und Zeit bereits als stiftend, boden-nehmend und be-gründend entfaltet wurde, und das nunmehr aus der Ereignung bedacht wird; zum anderen hinsichtlich der Wesung der Wahrheit des Seyns selbst, d.h. hinsichtlich seiner abgründig zeit-räumlichen Entfaltung im gründenden Da-sein.93 Doch während in Sein und Zeit der Abgrund (das Sichzeitigen der Wahrheit des Seins) im Ausgang vom Sein zum Tode als die darein hereinragende ursprüngliche Verschlossenheit des Seinshorizontes, welche das ganze Seinkönnen des Dasein gewährt, entfaltet wurde, wird der Abgrund in den Beiträgen aus der Wahrheit des Seyns als das lichtende Sichverbergen gedacht. Dieses west ereignend im Da-sein als der ursprünglichste abgründige Grund, der seinerseits nur west, wenn er im Da-sein übernommen und ausgestanden wird, d.h. wenn er im Dasein gegründet wird.

92 Das gewandelte Verständnis des Da-seins spiegelt sich in der gegenüber Sein und Zeit vorrangig angenommenen Schreibweise mit einem Bindestrich ( - ) wider. 93 Vgl. dazu den 187. Abschnitt der Beiträge, GA 65, S.307.

8 Neu

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A. Vorbereitender Teil

e) Zusammenfassung: Die wachsende Abgründigkeit der Seinsfrage. Der Sprung in den Abgrund und die Notwendigkeit der Gründung aus der Not der Seinsverlassenheit. Nachdem wir uns einen Einblick in den Wandel vom transzendental-horizontal orientierten Denken zum seynsgeschichtlichen Denken überhaupt verschafft haben, sind wir nunmehr bereit, in knappen Sätzen diesen Wandel nochmals verstärkt im Hinblick auf das Wesen des Grundes zu fassen. Der Wandel des Denkens von Sein und Zeit zu den Beiträgen vollzieht sich als ein tieferes Eindringen in den Sachverhalt, der in Sein und Zeit unter dem Titel "Zeit und Sein" angekündigt wurde. Der mit diesem Titel benannte Abschnitt hatte zur Aufgabe, die horizontale Zeit (die Temporalität) als den Entwurfsbereich für das Sein sichtbar zu machen. Die Erörterung der Bestimmung des Wesens des Grundes im Umkreis von Sein und Zeit (§ 3) ergab nun, daß die ursprünglichste Wesensbestimmung des Grundes gerade im in der Zeitlichkeit sich zeitigenden temporalen Horizont aufzusuchen ist, als dem Abgrund, der sich im eigentlichen Sein zum Tode erschließt. Vorlaufend in den Tod erschließt sich dem Dasein der äußerste Horizont, den es zeitigend offen hält und aus dem es zeitigend auf sich zu kommt, als endlicher. Diese Endlichkeit des Horizonts ragt als abgründiger Grund, aus dem das Dasein im Sein zum Tode auf sich zu und auf sich zurückkommt, ständig in die im Auf-sichzukommen des Daseins erschlossenen Seinsmöglichkeiten herein. Die Erschlossenheit des Daseins und die darin fundierte Entdecktheit von Seiendem entspringen also dem Abgrund als einem Sichzeitigen der Wahrheit (Erschlossenheit und Verschlossenheit) des Seins, das nur offengehalten werden kann im stiftenden boden-nehmenden be-gründenden Sichzeitigen des Daseins. Der Wandel vom transzendental-horizontal zum seynsgeschichtlich bestimmten Wesen des Grundes vollzieht sich nun als ein tieferes Eindringen in die Abgründigkeit des Seyns. Dieses Eindringen hat den Charakter eines Sprunges, der die in die Metaphysik verweisende Blickbahn von Transzendenz und Horizont überspringt, um ursprünglicher den Abg~nd als Ursprung denkerisch zu ergründen. Der Sprung in die Wahrheit des Seyns ist nichts anderes als der Sprung in den Abgrund, der jetzt in gewandelter Weise erfahren und gedacht wird. Der Abgrund erweist sich als ereignende Wesung der Wahrheit des Seyns, die als ereignende nur abgründig gründet, wo sie zugleich von dem ereigneten, d.h. gründenden Entwurf aufgefangen und im Da-sein gegründet wird. Der Abgrund wird als lichtendes Sichverbergen (Wesen der Wahrheit) des Seyns erfahren, das im Ausstehen der Not der äußersten Seinsverlassenheit gerade in seinem wesenhaften Entzugscharakter (Verweigerungs- oder Verbergungscharakter) offenbar wird. Für das die Not und damit die Verweigerung des Seins ausstehende Denken eröffnet sich aber zumal die Notwendigkeit, die

§ 4. Der Wandel zum seynsgeschichtlichen Gründen

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Wahrheit des Seyns zu gründen. Es ist notwendigerweise gründend, indem es in der Grundstimmung der Verhaltenheit die Not, die dem abgründigen Wesen der Wahrheit des Seyns entspringt, aussteht. Das gründende Denken, das im seynsgeschichtlichen Denken versucht wird, versteht sich selbst als vorbereitend für die Gründung des geschichtlichen anderen Anfangs als dem anderen gegenüber dem ersten (und einzigen) Anfang, der seit den Griechen die gesamte Metaphysik bestimmt. In der Frage nach der Gründung im seynsgeschichtlichen Denken Heideggers gilt es also vorweg zu unterscheiden zwischen 1. der Gründung, wie sie übergänglich in den Beiträgen vollzogen und aus dem Vollzug im Sprung erdacht wird; und 2. der geschichtlichen Gründung des anderen Anfangs, die im übergänglichen Denken der Beiträge nur vorbereitet werden kann. Der andere Anfang wird von Heidegger aber nicht als in der Zeit zukünftig vorgestellt, und die Beiträge können nicht einfach als teleologisch auf dieses Ziel gerichtet vorgestellt werden. Vielmehr ist der andere Anfang mit der Not der Seinsverlassenheit im Sprung in die Wahrheit des Seyns schon eröffnet, aber nicht so eröffnet und gegründet, daß er, wie es der erste Anfang für die bisherige abendländische Geschichte ist, geschichtegründend wird. Es gilt also, gegenüber der Vorstellung eines anderen Anfangs "Epoche" zu üben und sich erst einmal fragend in den im Denken der Beiträge eröffneten Wahrheitsbereich einzulassen. Dieser ursprüngliche Wesensbereich der Wahrheit des Seyns, den Heidegger als das Ereignis bedenkt, wird erstmals in den Beiträgen in seinem ganzen Gefüge durchmessen und zur Sprache gebracht. Die "Gründung" wird darin als ein Wesensbereich dieses in sich einigen Gefüges entfaltet. Da die Beiträge der Metaphysik und Sein und Zeit gegenüber ein gewandeltes Denken und Sagen versuchen, kann man diesem "Werk" auch nicht mit der gleichen Haltung und Erwartung gegenübertreten, wie man sie sich ersteren gegenüber verschiedentlich angeeignet hat. Nachdem also versucht wurde, den Wandel von Sein und Zeit zu den Beiträgen der Sache nach aufzuzeigen, gilt es nun, einen Einstieg in die Beiträge selbst zu gewinnen, um danach aus einer weiteren Entfaltung des darin zur Sprache gebrachten Ereignisses zur Frage nach der Gründung vorzustoßen.

8'

B. Hauptteil

Erster Abschnitt: Die Gründung der Wahrheit des Seyns I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens § 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"l

a) Zum "Werkcharakter" der Beiträge Die Beiträge zur Philosophie mit dem wesentlichen Untertitel "Vom Ereignis" sind kein Werk bisherigen Stils. Nicht umsonst regten sich bei ihrem Erscheinen die verschiedensten Diskussionen darüber, wie sie denn angemessen zu bezeichnen wären. Wo auf der einen Seite von Pöggeler und v.Herrmann die Beiträge als ein zweites Hauptwerk Heideggers angekündigt wurden\ sahen andere in den Beiträgen mehr eine Ansammlung sich wiederholender Aphorismen und skizzenartiger Aufzeichnungen, denen jeder systematischeAnhalt fehlt, und die deshalb keinesfalls so etwas wie ein "Hauptwerk" hergeben könnten.

1 Als Einführung bzw. als ein erster kurzer Durchblick durch die Beiträge sei auf folgende Schriften verwiesen: F.-W. v. Hemnann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", Frankfurt a.M. 1994. Es handelt sich hierbei um einen Sammelband, der alle bislang veröffentlichten Aufsätze v. Hemnanns zu den Beiträgen enthält. P. Emad: Tbe Echo of Being in Beiträge zur Philosophie - Der Anklang: Directives for its Interpretation, in: Heidegger Studies 7, 1991, S.15-35. K. Maly: Soundings of Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Research in Phenomenology 21, 1991, S.169-181. G. Kovacs: Tbe leap (der Sprung) for Being in Heidegger's Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Man and World 25, 1992, S.39-59. (Vgl. die kritischen Anmerkungen zu Kovacs in der 2. Fußnote im § 8.) J. Greisch: Bulletin de Philosophie. Etudes Heideggeriennes: Les "Contributions ii la Philosophie (ii partir de l'Ereignis)" de Martin Heidegger, in: Revue des Sciences philosophiques et theologiques 73, 1989, S.605-632. L. Samonii: L"'Altro Inizio" della Filosofia. I Beiräge zur Philosophie di Heidegger, in: Giomale di Metafisica - Nuova Serie - XII, 1990, S.67-112. 2 Vgl. GA 65, Nachwort des Herausgebers; und F.-W. v. Hemnann: Von "Sein und Zeit" zum ''Ereignis'', in: Wege ins Ereignis, S.5-26.

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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Ob wir oder ob wir nicht die Beiträge als ein "Werk" betrachten wollen, ergibt sich daraus, was hier überhaupt mit "Werk" gemeint sein soll. Die Frage nach dem Werkcharakter der Beiträge dient hier jedoch nicht bloß einer Begriffsklügelei, sondern sie soll dazu führen, eine angemessene Zugangsart zu diesem schwierigen ''Werk'' vorzubereiten. Von einem philosophischen Werk erwarten wir vor allem eine gewisse Systematik, eine in sich geschlossene, gedanklich durchdrungene Darstellung eines philosophischen Problems. Wie steht es nun mit der Systematik der Beiträge? Die Beiträge bieten gewiß kein System in dem Sinne, wie sich dieser Begriff seit dem Heraufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaft geprägt hat. Sie sind kein auf gewissen Axiomen begründetes und darauf fortschreitendes, in sich geschlossenes und gegliedertes Ganzes. Dem so gedachten System entspricht in der Philosophie mit Beginn der Neuzeit (Descartes) das Vernunftssystem, das unter dem Maßstab des vorstellenden Denkens in der absoluten Selbstgewissheit zur vollen Blüte gelangt. Denn, wie Heidegger in seiner Freiburger Vorlesung vom SS 1936 schreibt, "erst von dem Augenblick an, wo diese Vorstellung vom System als absolutem Vemunftsystem im absoluten Wissen sich selbst weiß, ist das System aus sich selbst absolut begrundet, d.h. eigentlich mathematisch, seiner selbst gewiß, auf das absolute Selbstbewußtsein gegJiindet und alle Bereiche des Seienden durchfugend und durchherrschend" (GA 42, S.82).

In diesem Sinne genommen sind die Beiträge weder ein System, noch systematisch\ denn sie stehen weder unter dem begründenden Leitfaden der Vernunft bzw. des vorstellenden Denkens als des Selbstbewußtseins, noch haben sie, entsprechend der Endlichkeit, in der die Wahrheit des Seyns erfahren und denkerisch entfaltet wird, einen Absolutheitsanspruch. Sie sind vielmehr ein durch und durch offenes "Werk", sofern in ihnen der metaphysische Boden des Selbstbewußtseins zugunsten des Da-seins und des darin eröffneten abgründigen Wahrheits geschehens in seinen Grundfesten erschüttert und ursprünglicher in das Offene der abgründigen Wahrheit des Seyns rückgegründet wird. Dieses Wahrheitsgeschehen bietet kein Fundamentum für ein Werk, das, darauf "gründend" und aufbauend, ein in sich geschlossenes Ganzes zur Darstellung bringt. Gleichwohl weist Heidegger in der soeben genannten Vorlesung im Rückgriff auf das griechische systema auf eine weitgreifendere und ursprünglichere Bedeutung hin, wonach synistemi "ich stelle zusammen" nach seiner Übersetzung unter anderem den Sinn hat von: ich "füge in eine Ordnung derart, daß dabei die Ordnung selbst erst entworfen wird" (GA 42, S.45). Er erläutert kurz

3

Vgl. GA 65, S.65 und 81.

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B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

darauf: "der echte Entwurf wirft das Seiende so auseinander, daß es nun gerade in der Einheit seines eigensten Gefüges sichtbar wird" (ebd., meine Betonung). Systematisch hieße demnach: in eine Ordnung fügend, die das Seiende in seinem eigensten Gefüge sichtbar werden läßt. In dieser Hinsicht kann Heidegger sagen, daß jede Philosophie systematisch, aber nicht jede System ist (ebd., S.51), denn weder die griechische, noch die mittelalterliche 4 , noch Heideggers Philosophie lassen sich als System im Sinne des mathematischen Vernunftsystems begreifen, sofern sie nicht auf der selbstgewissen Vernunft gründen. Letzteres geschieht in der Philosophie erst seit Descartes. Wohl aber sind jene Philosophien systematisch im Sinne des ''Fügens'' als des Entwerfens einer Ordnung, die dem Seienden nicht "von Außen" aufgezwungen wird, sondern die das Seiende, so wie es sich geschichtlich in seinem eigenen Gefüge zeigt, entfaltet und zusammenfügt. Dabei zeigt sich das Seiende in seinem eigensten Gefüge erst für und im denkerischen Entwurf. Doch wenn für die Beiträge die Bezeichnung "systematisch" in Anspruch genommen werden soll, dann gilt es abermals, diese Bezeichnung gegenüber der Metaphysik in differenzierterer Weise zu begreifen. Wenn wir an der formalen Kennzeichnung festhalten wollen, die Heidegger zum Begriff "systematisch" gibt, nämlich: das Seiende so in eine Ordnung fügend, daß dieses in der Einheit seines Gefüges sichtbar wird, dann entscheidet sich der volle Sinn dieses Begriffes in der geschichtlichen Weise, wie jeweils das Seiende im Ganzen in seinem Gefüge offenbar wird, und noch vordem, ob und wie das Sein selbst darin erfahren und gedacht wird. Die Weise, wie im antiken Griechentum "systematisch" gedacht wurde, unterscheidet sich von dem mittelalterlichen "systematischen" Denken und beide unterscheiden sich wiederum vom neuzeitlich systematischen Denken (was hier nicht weiter ausgeführt werden kann). Jedesmal besagt "systematisch" im vollen Sinne etwas Anderes, gemäß der Weise, wie das Denken dem geschichtlich sich zuschickenden Sein entspricht bzw. wie das Seiende im Ganzen in seinem Sein geschichtlich erfahren wird (in seinem anfänglichen In-Erscheinung-treten bei den Griechen aus der Grundstimmung des Erstaunens, als göttliche Schöpfung im Mittelalter) und wie es aus dieser Erfahrung denkerisch entworfen wird. Als gemeinsames Charakteristikum des metaphysischen systematischen Denkens ließe sich jedoch herausstellen, daß das Denken eine Leitfadenfunktion hat, infolge derer das Sein des Seienden als Seiendheit (beständige Anwesenheit, Präsenz) begriffen wird. Mit dem Wandel der Leitjrage nach der Seiendheit des Seienden zur Grund-

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Vgl. GA 42, S.47ff.

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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frage nach dem Sein selbst in seiner Wahrheit, und d.i. in seinem abgründigen Verbergungs-Entbergungsgeschehen, büßt das Denken seine Leitfadenfunktion ein und versucht sich ganz in den Dienst der Wahrheit des Seyns zu stellen, bzw. sich dieser zu fügen. Dieses Denken ist dann in einem ganz ausgezeichneten Sinne systematisch, weil es in eine Ordnung so fügt, daß es sich als ereignetes dem Gefüge der Wahrheit des Seyns fügt. Hierin ist abermals der kehrige Bezug im Ereignis zu hören. Das im Entwurf fügende Denken ist vom Seyn selbst ereignet, das den Entwurf braucht, um durch die Bergung in das Seiende (hier: das Wort) ins Offene seines Wesen zu gelangen. Dieses Wesen ist aber kein nebulöses Geschehen, sondern es hat den Charakter eines Gefüges, in dem, wie wir sehen werden, verschiedene Bereiche ineinander verwoben sind und doch erst aus dem Gefüge in ihrer Unterschiedenheit hervorgehen.

Auch das Denken wird sich, wie bereits im § 4 dargelegt wurde, erst im kehrigen Bezug zu eigen. Im Ereignis wird das Denken im Vollzug gewissermaßen jedesmal neu geboren, es hebt jedesmal neu aus seinem nicht festlegbaren abgründigen Anfang an. Dieses Denken "vom Ereignis" besagt, daß hier ein anfängliches Denken aus dem Ereignis versucht wird, und d.h.: "Vom Ereignis er-eignet ein denkerisch-sagendes Zugehören zum Seyn und in das Wort 'des' Seyns" (GA 65, S.3). In der Weise des Zugehörens bildet sich die eigentümliche Strenge dieses Denkens, dem weder ein Maß vorgegeben ist, an welchem entlang es fortschreiten könnte, das aber auch nicht das Maß aus sich selbst gründet. Das Maß des Denkens wird jeweils in der vollzugshaften Zugehörigkeit zum Seyn und als diese selbst eröffnet. Heidegger schreibt: "Das anfängliche Denken im anderen Anfang hat die andersartige Strenge: die Freiheit der Fügung seiner Fugen. Hier fügt sich das Eine zum Anderen aus der Herrschaftlichkeit des fragenden Zugehörens zum Zuruf." (GA 65, S.65)

Die Strenge des anfänglichen Denkens erläutert Heidegger hier als Freiheit der Fügung. Das klingt für das gewöhnliche Denken paradox. Im Zusammenhang mit der Freiheit zum Grunde wurde diese jedoch bereits (§ 3) im Sinne des Frei-machens als ein zeitigend eröffnender Entwurf entfaltet, der Übermaß (in der vorgängigen Gelichtetheit der Seinsmöglichkeiten des Daseins und darin von Sein überhaupt) und Bindung (an die im geworfenen Entwurf eröffneten Seinsmöglichkeiten zum Seienden) gleichermaßen in sich trägt. Hier nun, in den Beiträgen, wird die Freiheit aus der Zugehörigkeit zum Zuruf des Seyns gedacht. Die Freiheit der Fügung, d.h. das eröffnende Sichfügen des Einen zum Anderen im anfänglichen Denken, fügt aus der Herrschaftlichkeit des Zugehörens zum ereignenden Seyn. Diese durchherrscht als das vollzugshafte Maß die Freiheit der Fügung, d.i. den freien, ereigneten Entwurf der inneren Gefügtheit der Wahrheit des Seyns. Entscheidend ist also die Zugehörigkeit zum Seyn, die sich, wie bereits

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B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

gesagt wurde (§ 4), im Sprung eröffnet. In der Zugehörigkeit liegt ein Hören und ein Hörig-sein; in ihr ist das anfängliche Denken dem Zuruf des Seyns hörig. Daß für das anfängliche Denken das Hören eine vornehmliche RoHe 'spielt, weist zum einen auf die wesentliche RoHe des Wesens der Sprache hin5 ; zum anderen steht das Hören in einem gewissen Gegensatz zum Sehen, welches die Metaphysik in ihrem vorstellungshaften Charakter prägt. Wird das Sein des Seienden im Anfang der abendländischen Philosophie als beständige Anwesenheit erfahren und wird diese als idea, Anblick, gedacht und ersehen, so meldet sich am Ende der Metaphysik das Sein in seinem Entzugscharakter: Im Ausstehen der Not der Seinsverlassenheit, die den Sprung in die Wahrheit des Seyns ernötigt, öffnet sich gerade die verborgene Wahrheitsdimension des Seyns, das nicht in Erscheinung tretende Sichverbergen, das im ersten Anfang ungedacht bleiben mußte. Das Seyn, dem sich das anfängliche Denken als zugehörig erfährt, ist ein sich entziehendes bzw. sich versagendes. Wenn nun das anfängliche Denken seine Strenge aus der Zugehörigkeit zum Seyn empfängt, dann ist dies so zu verstehen, daß sich der ereignete denkerische Entwurf hörend auf das sich versagende Seyn zu hält und, im Zuhalten auf die im kehrigen Bezug des im (lautlosen) Zuruf des Seyns eröffnete Wahrheit des Seyns, diese in ihren verschiedenen Bereichen denkerisch durchmißt und zur Sprache bringt. Das Wort "Zuruf' birgt im Unterschied zum "Zuwurf', der ebenfaus die im Ereignis geschehende Ereignung nennt, mehr noch den Sinn des Sichentziehens der Wahrheit des Seyns, wie es im anfänglich gründenden Da-sein offengehalten wird, in sich. Denn der Ruf im Zuruf weist, aus der Ferne kommend, in diese selbst als einer sichentziehenden zurück. Die ereignete Zugehörigkeit zum sich entziehenden Seyn wird eröffnet und gehalten von einer Grundstimmung, welche Heidegger vor auem mit dem Wort Verhaltenheit zu benennen versucht. 6 Die Verhaltenheit ist der "Stil des anfänglichen Denkens" (GA 65, S.33). In ihr ist die Strenge gewährleistet, die das anfängliche Denken inständig sein läßt im lichtend verbergenden Wahrheitsgeschehen des Seyns. Die Inständigkeit wurde bereits im Sinne der Existenz erläutert. Den Bezug zwischen Verhaltenheit und Inständigkeit benennt Heidegger folgendermaßen: "Die Verhaltenheit ist der Grund der Sorge. Die Verhaltenheit des Da-seins begründet erst die Sorge als die das Da ausstehende Inständigkeit." (ebd., S.35)

Siehe § 20 der vorliegenden Arbeit. Vgl. GA 65, 13. Abschnitt, S.33ff, 31. Abschnitt, S.69 und 249. Abschnitt, S.395f; GA 45, § 1. ''Die künftige Philosophie und die Verhaltenheit als Grundstimmung des Bezuges zum Seyn". 5

6

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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Von Sein und Zeit her ist uns die Sorge als das Sein des Daseins bekannt, welches die Strukturmomente des Entwurfs, der Geworfenheit und des Seins-bei in sich trägt. Wir entfalteten sie als stiftend boden-nehmendes Be-gründen, in dem das Sein in seiner Wahrheit zeithaft offen gehalten wird. Nun entspringt die Verhaltenheit nicht etwa der Sorge, so daß wir sie doch wieder irgendwie als eine ''Eigenschaft'' oder zumindest als einen Charakter des Wesens des Menschen verstehen könnten, sondern sie begründet erst das Sein des Da-seins, d.h. aus und in ihr be-stimmt sich erst das Wesen des Menschen, sofern sich in ihr grundstimmungshajt das abgründige Wahrheitsgeschehen öffnet, welches den Menschen in das Beständnis desselben (in das Sein des Da, also in sein Wesen) nötigt, da nur in der Inständigkeit die Wahrheit des Seyns offengehalten werden kann und das anfängliche Denken inständig dem ereignenden Zuruf zugehörig ist. In dieser anfänglichen Zugehörigkeit versucht sich der denkerische Entwurf in den Beiträgen aus der Grundstimmung der Verhaltenheit zu halten, weshalb das Gefüge der Wahrheit immer wieder von neuem anfänglich aus der Strenge der Verhaltenheit in seinen unterschiedlichen Fugen denkerisch entworfen und durchmessen werden muß. Hier gibt es keine Stufungen, als könne man von einem Befund zum nächsten fortschreiten. Die denkerischen Bereiche, die sich öffnen, sind so innig und zugleich strittig aus der Kehre im Ereignis ineinander verwoben, daß keiner zum Ausgangspunkt oder zur Grundlage für den nächsten werden kann, wenn auch die Anordnung der Fugen, wie wir sehen werden, keine zufällige ist. Die Beiträge lesen sich weniger linear als wie eine Reihe von Zyklen, in denen das Denken immer wieder von neuem aus dem selben abgründigen Wahrheitsgeschehen seine Wege schöpft und bahnt und es dabei in seinen verschiedenen Wesensbereichen entfaltet. Die einzelnen Abschnitte der Beiträge sind aus dem Versuch, die Strenge der Verhaltenheit und darin den Bezug zur Wahrheit des Seyns zu bewahren, streng durchkomponiert. Hier ist nichts einem bloßen "Einfall" oder "Zufall" überlassen. Das Bruchstückhafte, das oft dem Leser entgegenschlägt, die scheinbar nicht fertiggeschriebenen Sätze, sind, auch wo sie sich in ihrer ungeheuren Dichte jeder unmittelbaren Erklärung entziehen, streng gedacht. Schließlich ist gerade dieses Unerklärbare der größte Anstoß, sich ursprünglich fragend in das Denken der Beiträge einzulassen. b) Die geschichtliche Gefügtheit der Beiträge Der Werkcharakter der Beiträge eröffnet sich nur im Blick auf das Gefüge, das in ihnen ins denkerische Wort gehoben wird. Dieses gewinnt seine Gestalt nicht nur aus der Strenge des Denkens, sondern auch aus der Geschichtlichkeit des Seyns, dem das Denken in solcher Strenge zu entsprechen versucht. Wie immer wieder angedeutet wurde, bleiben die Beiträge bei aller Strenge des

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

Denkens und obgleich "an der Strenge des Gefüges im Aufbau" "nichts nachgelassen" wurde (ebd., S.8}), ein Versuch, das Gefüge der Wahrheit des Seyns ins denkerische Wort zu heben. Die Beiträge, sagt Heidegger, vermögen "obzwar sie schon und nur vom Wesen des Seyns, d.i. vom 'Er-eignis', sagen, noch nicht die freie Fuge der Wahrheit des Seyns aus diesem selbst zu fügen. Wenn einstmals dieses gelingt, dann wird jenes Wesen des Seyns in seiner Erzitterung das Gefüge des denkerischen Werkes selbst bestimmen" (ebd., S.4).

Das Denken, dem solches gelingen würde, wäre das streng genommen andersanfängliche Denken, demgegenüber das anfängliche Denken der Beiträge das übergängliche Denken ist. Der übergängliche Charakter der Beiträge ist dabei nicht einfach einem Unvermögen oder einer Unzulänglichkeit des Denkens zuzuschreiben. Vielmehr entspricht er der heutigen geschichtlichen Situation, genauer: der Weise, wie sich das Seyn in unserem Zeitalter geschichtlich zuschickt. "Die 'Beiträge' fragen in einer Bahn, die durch den Übergang zum anderen Anfang, in den jetzt das abendländische Denken einrückt, erst gebahnt wird. Diese Bahn bringt den Übergang ins Offene der Geschichte und begründet ihn als einen vielleicht sehr langen Aufenthalt, in dessen Vollzug der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch schon Entschiedene bleibt." (ebd.)

Geschichtlicher Übergang und übergängliches Denken stehen im kehrigen Bezug (die Bahn, in der die Beiträge fragen, wird erst durch den Übergang gebahnt - die Bahn bringt den Übergang erst ins Offene der Geschichte), d.h. keines geht dem anderen voraus, sondern der Übergang öffnet sich erst im Vollzug des Denkens, das sich darin selbst wiederum dem Übergang verdankt. Das Denken der Beiträge ist so anfänglich Gedankengang, daß sich das Zudenkende erst im ereigneten denkerischen Entwurf eröffnet und sich das Denken dabei in den durch ihn selbst eröffneten Grund (das Zu-denkende als das Wesen der Wahrheit im Übergang) zurückstellt. Sofern im Denken das Zudenkende erst anfänglich eröffnet wird, spricht Heidegger vom EI-denken, das zugleich ein Er-gründen ist, sofern es den Grund eröffnet, in dem es selbst ursprünglich gründet. 8 Der Übergang zum anderen Anfang, von dem Heidegger hier spricht, meint den Übergang vom ersten Anfang der abendländischen Geschichte, der mit den Vorsokratikern anhebt, zum anderen Anfang. Dieser Übergang ist nicht einfach ein historisches Vorkommnis, das wir losgelöst von uns wahrnehmen können,

7 Die Vorsilbe "Er-" verweist auf einen transitiven Sinn und betont das vollzugshaft Eröffnende des anfänglichen Denkens. 8 Vgl. GA 65, S.56f.

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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sondern er wird erst durch die Bahn, in der die Beiträge fragen, eröffnet. Der Übergang ist also nur solcher, wenn das Denken in ihn einrückt, und dies vermag das Denken wiederum nur, wenn es den ersten Anfang in seinem Ende begreift; d.h., wenn die Not der Seinsverlassenheit das Denken zum Einsprung in die Wahrheit des Seyns nötigt. In seinem Ende begreifen wir den ersten Anfang, der die Metaphysik umgreift, laut Heidegger nur dann, wenn wir sehen, daß in Nietzsches Philosophie alle seine wesentlichen Möglichkeiten zum Austrag gebracht werden9 • Denn gerade in der Auseinandersetzung mit Nietzsche denkt Heidegger das Äußerste der wesentlichen Möglichkeiten der Metaphysik, d.h. die äußerste Seinsverlassenheit des Seienden, als den verborgenen Grund des von Nietzsche erfahrenen Nihilismus. IO Doch neben dem denkerischen Werk Nietzsches steht für Heidegger das darüber noch hinausreichende dichterische Schaffen Hölderlins, der aus der Erfahrung der Flucht der Götter zugleich die Möglichkeit des anderen Anfangs dichterisch stiftet. I I Beide, Nietzsche und Hölderlin, erfuhren laut Heidegger "zutiefst das Ende des Abendlandes" in einem "gedoppelten Sinne" (GA 45, S.126): 1. in dem Sinne eines wesentlichen Endes, das "zugleich in der Kraft zur Vorbereitung des Überganges zu einem ganz Anderen" (ebd., S.125) besteht; 2. im Sinne des bloßen Auslaufens und Sichverlaufens "aller Auswirkungen der bisherigen Geschichte des Denkens im Abendland" in der "Vermengung überkommener Grundstellungen, Wertungen, Begriffe uns Sätze" (ebd., S.l25). Damit das Denken in den Übergang einrückt, gilt es vor allem, das Ende im wesentlichen (1.) Sinne zu begreifen, was die Besinnung auf den ersten Anfang und darin auf das unerfragt und unergründet gebliebene erstanfängliche Wesen der Wahrheit, auf die aletheia fordert. Dieses Nichtgeschehene des ersten Anfangs, nämlich die Gründung des Wesens der Wahrheit, muß laut Heidegger einstmals noch geschehen, wenn dem abendländischen Menschen nochmals eine wesentliche Geschichte vergönnt sein sollY Aus dem soeben Gesagten wird einsichtig, inwiefern Heidegger vom anderen Anfang spricht, denn dieser muß "der einzig andere aus dem Bezug zu dem

GA 47, S.IO. 10 Siehe GA 45, S.125, 133, 185f. 11 Siehe ebd., S.135. In seinem Aufsatz: Gott und Ereignis - Heideggers Gegenparadigma zur Onto-Theologie, in: Heidegger Studies 8, 1992, S.81-102, zeigt R. Thurnher, daß Nietzsches Gedanke vom Tod Gottes sich auf den "Gott der Philosophie" bezieht, hingegen Hölderlins Rede von den entflohenen Göttern dalÜber hinausreichend auf den göttlichen Gott weist (ebd., S.I(0). 12 Vgl. ebd., S.123. 9

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

einzig einen und ersten Anfang sein" (GA 65, S.5). Hier ist nicht von zwei unterschiedlichen Anfängen die Rede, sondern von dem einen, zunächst als der erste, dann als der andere zu diesem ersten. Das übergängliche Denken ist deshalb wesentlich "geschichtliche Besinnung"13 als Rückstieg in den ersten Anfang umwillen der Gründung des darin als nichtgeschehen einbehaltenen anderen Anfangs. Diese Gründung ist nicht erzwingbar, weil ihr Geschehen letztlich an der Wesung des Seyns liegt und wie der Mensch ihr zu entsprechen vermag. Dennoch kann im übergänglichen Denken der Versuch unternommen werden, jenen Entscheidungsraum als Da-sein zu gründen, der das unentscheidbare Künftige der abendländischen Geschichte offen hält, ob dem Abendland aus dem anfänglichen Abgrund nochmals eine Geschichte gewährt wird. 14 Die Bahn, die im übergänglichen Denken gebahnt wird, bringt, so hieß es, "den Übergang ins Offene der Geschichte und begründet ihn als einen vielleicht sehr langen Aufenthalt, in dessen Vollzug der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch schon Entschiedene bleibt" (ebd., S.4). Die Entschiedenheit für den anderen Anfang ist im Übergang darin zu sehen, daß das übergängliche Denken wesentlich von ihm in einer Grundstimmung bestimmt ist. Das ''Erschrecken, die Verhaltenheit, die Scheu, die Ahnung, das Erahnen", die, wie wir sehen werden, als Grundstimmung das übergängliche Denken der Beiträge bestimmen und diesem die eigene Strenge verleihen, bezeichnen zugleich die Grundstimmung des anderen Anfangs. 15 Die Entschiedenheit für den anderen Anfang erwächst auch der Einsicht in das wesentliche Ende des ersten Anfangs, das als dieses Ende in das übergängliehe Denken hereinragt, sowie der Not der Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit des Seienden, die, wo sie ausgestanden wird, das Denken in die Entschiedenheit für den anderen Anfang nötigt. c) Das Gefüge der Beiträge Es soll nun ein erster Blick auf die sechs Fugen geworfen werden, die das Gefüge der Beiträge strukturieren. Es sind: Der Anklang, das Zuspiel, der Sprung, die Gründung, die Zukünftigen und der letzte Gott. Die einzelnen Fugen erscheinen in den Beiträgen als Teil 11 (Anklang) bis VII (Der letzte Gott). Den ersten Teil bildet der Vorblick, der einen zum Teil

13

14 15

Vgl. GA 65, S.5 und GA 45, S.35 und 43. Siehe GA 65, S.96. Siehe ebd., S.2lf und 14f.

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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vorbereitenden Blick auf das Ganze des Gefüges des Ereignisses eröffnet l6 , den letzten Teil (VIII) bildet "Das Seyn" als ein "Versuch, das Ganze noch einmal zu fassen"l7. Dieser Teil entstand 1938. Er ist nicht etwa nur eine Zusammenfassung der voraufgehenden Teile, sondern faßt das Gefüge der Beiträge nochmals anfänglich in vertiefter Weise. Im Vorblick führt Heidegger die sechs Fugen des Ereignisdenkens mit folgenden Worten ein: "Der Aufriß dieser 'Beiträge' zur Vorbereitung des Übergangs ist dem noch unbewältigten Grundriß der Geschichtlichkeit des Übergangs selbst entnommen". (ebd., S.6)

Der "Aufriß" der Beiträge ist, so hören wir, dem "Grundriß" der Geschichtlichkeit des Übergangs entnommen. Diese kommt erst durch den denkerischen Entwurf, also durch den Aufriß, ins Offene, und zwar so, daß der denkerische Entwurf sich in den eröffneten Grund(riß) der Geschichtlichkeit zurückstellt. Aufriß und Grundriß gehören in sich kehrig zusammen. Im Riß liegt das jähe Öffnen eines vormals Verschlossenen. Der "Grund-riß" der Geschichtlichkeit nennt somit das Offene seines Grundes, das Sich öffnen des abgründigen Grundes der Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seyns im Übergang. Im übergänglichen Denken der Beiträge eröffnet sich das Seyn als Entzug, i.e. in seinem Sichverweigern aus der Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit des Seienden. Im Grundriß haben wir somit das Sichöffnen der Geschichtlichkeit des Übergangs aus seinem eigenen abgründigen Grunde zu hören. Dieser Grundriß, sagt Heidegger, ist "noch unbewältigt". Denn der Aufriß der Beiträge, der erst der Vorbereitung des Übergangs gilt, vermag es noch nicht, den Grundriß der Geschichtlichkeit des Übergangs in seinem ganzen Gefüge ins denkerische Wort zu gründen, so wie die Beiträge es noch nicht vermögen, "die freie Fuge der Wahrheit des Seyns aus diesem selbst zu fügen" (ebd., S.4). Sie bleiben ein Versuch, in dem sich aber das Denken bereits als ereignet erfährt und aus der Zugehörigkeit zum Seyn, die geschichtlich übergänglich sich öffnet, seine Strenge empfängt. Wenn der Aufriß der Beiträge dem noch unbewältigten Grundriß der Geschichtlichkeit des Übergangs entnommen ist, heißt das zugleich, daß das Gefüge der sechs Fugen nicht als endgültige Gestalt der Wesung der Wahrheit des Seyns im Übergang gesehen werden kann; ja, im Bereich des seynsgeschichtlichen Denkens, welches dem geschichtlich sich wandelnden Seyn entspricht und dieses dabei zur Sprache bringt, muß die Rede von einem "endgülti-

16 Vgl. P. Emad: The Echo of Being in Beiträge zur Philosophie - Der Anklang: Directives for its Interpretation, in: Heidegger Studies 7, 1991, S.17-30. Unsere einführenden Betrachtungen zu den Beiträgen halten sich zumeist an den Vorblick. 17 Vgl. GA 65, S.514 die Anmerkung des Herausgebers.

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

gen Gefüge" überhaupt unangemessen bleiben, selbst wenn ein noch kommendes Werk den Grundriß der Geschichtlichkeit des Übergangs zu bewältigen vermag. In den sechs Fugen versucht das anfängliche Denken jeweils "vom Ereignis" zu sagen, das in sich das kehrige Geschehen von ereignendem Zuruf und ereignetem Entwurf ist. Die sechs Fugen werden also aus dem Ereignis entfaltet und bringen dabei dieses selbst ins Offene: Sie empfangen aus ihm ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit und zugleich ihre Geschiedenheit. Heidegger schreibt: "Die sechs Fügungen der Fuge [des anfänglichen Denkens] stehen je für sich, aber nur, um die wesentliche Einheit eindringlicher zu machen. In jeder der sechs Fügungen wird über das Selbe je das Selbe zu sagen versucht, aber jeweils aus einem anderen Wesensbereich dessen, was das Ereignis nennt." (ebd., S.81f)

In den sechs Fugen wird nicht von der einen Fuge systematisch zur nächsten fortgeschritten, so daß jeweils ein neuer Sachverhalt auf der Grundlage des Vorausgehenden zur Sprache kommt, denn sie nennen das eine selbige Geschehen der Wahrheit des Seyns im Übergang, das in seinen unterschiedlichen und doch miteinander verwobenen Wesensbereichen denkerisch entfaltet wird. Das anfängliche Denken der Beiträge entfaltet sich fugenmäßig: "Was gesagt wird, ist gefragt und gedacht im 'Zuspiel' des ersten und des anderen Anfangs zueinander aus dem' Anklang' des Seyns in der Not der Seinsverlassenheit für den 'Sprung' in das Seyn zur 'Gründung' seiner Wahrheit als Vorbereitung der 'Zukünftigen' 'des letzten Gottes'." (ebd., S.7)

Hier umspannt Heidegger in einem Bogen die sechsfach gefügte Fuge des anfänglichen Denkens der Beiträge. Bis auf die "Zukünftigen" und den "letzten Gott" sind der Sache nach die vier anderen Fugen bereits zur Sprache gekommen. In der Not der Seinsverlassenheit des Seienden öffnet sich, sofern die Not ausgestanden wird, für das anfängliche Denken das Seyn in seinem Entzugscharakter. Darin klingt die Wesung des Seyns selbst an, und zwar als Verweigerung und aus dieser selbst. Die Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit schließt aber bereits die geschichtliche Besinnung auf den ersten Anfang in sich. Denn "die Not der Seinsverlassenheit ist die Not des nicht mehr zu bewältigenden ersten Anfangs" (GA 45, S.199), der erst in seinem wesentlichen Ende erfahren werden muß, damit die Not der Seinsverlassenheit das Denken in die Notwendigkeit des anderen Anfangs versetzt. Das Wechselspiel zwischen erstem und anderem Anfang ist das "Zu-spiel". Es erwächst aus dem Anklang des Seyns in der Not der Seinsverlassenheit, doch so, daß mit dieser Not, und d.h. im Anklang, bereits dieses Zuspiel ins Spiel tritt. Der Anklang, sagt Heidegger, "muß das Ganze des Risses umfassen und vor allem als Widerspiel zum Zuspiel gegliedert sein" (GA 65, S.107). Mit dem

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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Anklang ist also nicht nur schon das Zuspiel miteröffnet, sondern er umfaßt bereits das "Ganze des Risses", also den ganzen Aufriß der sechsfach gefügten Fuge, sofern in ihm die Wahrheit des Seyns als Verweigerung in ihren äußersten Dimensionen eröffnet wird. Die Weise der Fügung der sechs Fugen im anfänglichen Denken ist aber je eine eigene. Dieses denkt aus dem Anklang der Wahrheit des Seyns im Zuspiel des ersten und des anderen Anfangs zueinander für den Sprung in das Seyn, zur Gründung seiner Wahrheit, als Vorbereitung der Zukünftigen des letzten Gottes. Anklang und Zuspiel sind gerichtet auf ("für") den Sprung. "Das Zuspiel ist zuerst Zuspiel des ersten Anfangs, damit dieser den anderen Anfang ins Spiel bringe und aus diesem Wechselzuspiel die Vorbereitung des Sprunges erwachse." (ebd., S.9)

Aus dem Wechselzuspiel von erstem und anderen Anfang im Anklang des Seyns soll die Vorbereitung des Sprunges erwachsen. 18 Erst im Sprung wird "die Zugehörigkeit zum Seyn in dessen voller Wesung als Ereignis" ersprungen (ebd., S.227). Auch wenn der Anklang bereits den ganzen Riß des Ereignisses umspannt, ist in diesem Wesungsbereich der Wahrheit des Seyns, sowie im Zuspiel, noch nicht die volle Wesung der Wahrheit des Seyns vollzugshaft übernommen. Man könnte den Anklang und das Zuspiel als "Vorhallen" im Wesen der Wahrheit des Seyns verstehen, in denen dieses wohl schon aus der Verweigerung entwerfend eröffnet, aber noch nicht eigens in der Zugehörigkeit vollzugshaft übernommen ist. Zudem fallen diese Wesensbereiche durch den Sprung nicht weg, sondern werden aus ihm erst eigentlich in ihrer Zugehörigkeit zum Er-eignis gedacht. Der Sprung in das Seyn ist solcher "zur Gründung seiner Wahrheit". "Der Sprung erspringt den Abgrund der Zerklüftung und so erst die Notwendigkeit der Gründung des aus dem Seyn zugewiesenen Da-seins." (ebd., S.9)

Die Gründung der Wahrheit des Seyns wird im Sprung ernötigt aus der abgründigen Wesung der Wahrheit des Seyns, weil diese nur "sein" kann, d.h. ins Offene treten und darin als lichtendes Sichverbergen gehalten werden kann, wenn sie im Da-sein gegründet ist. Indem er den Abgrund der Zerklüftung erspringt, bringt der Sprung die Wahrheit des Seyns vollzugshaft ins Offene und gründet sie im und als Da-sein. Das Da-sein ist somit die Gründungsstätte der Wahrheit des Seyns und der "Grund des künftigen Menschseins" (ebd., S.294) zumal. Die Wahrheit des Seyns kann aber nur im Da-sein gegründet werden, wenn sie im Seienden geborgen wird. Zur Gründung der Wahrheit des

18 In diesen beiden Fugen bewegt sich die zu den Beiträgen gehörende Freiburger Vorlesung vom WS 37/38 Grundfragen der Philosophie (GA 45).

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

Seyns gehört deshalb die Bergung in das Seiende (Zeug, Ding, Werk). Die Wahrheit des Seyns west nicht, es sei denn im Seienden, das jene nur in sich birgt, wenn sie im Da-sein gegründet wird. Die bergende Gründung des Seyns im Seienden denkt Seyn und Seiendes ursprünglicher denn die ontologische Differenz als Einzigkeit der Wesung des Seyns. Diese ist nicht das Allgemeine zum Seienden, sondern durch die Rückgründung des Seienden in das Seyn, bzw. in der Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende, wird das Seiende ursprünglich seiend, west die Wahrheit des Seyns ursprünglich im Seienden und tritt allererst ins Offene der Geschichte. Die durch den Sprung ernötigte Gründung der Wahrheit des Seyns aus ihrem Anklang als Verweigerung im Zuspiel von erstem und anderem Anfang ist die "Vorbereitung der 'Zukünftigen' 'des letzten Gottes'" (ebd., S.7).19 Die Zukünftigen sind jene, deren Menschsein im Da-sein gegründet ist, und die darin die Gründer des Wesens der Wahrheit sind. 20 Sie werden die "Zu-künftigen" nicht deshalb genannt, weil sie noch nicht sind und erst kommen müssen; auch heute "sind schon Wenige dieser Zukünftigen" (ebd., S.400)?l Sie sind aus der ursprünglichen Zeitigung des vorlaufenden Auf-sich-zu-kommens zu denken, die wir wiederum aus dem Ereignis begreifen müssen. Auf die Zukünftigen kommt in der Grundstimmung der Verhaltenheit das Seyn als Ereignis zu: "Die Zukünftigen, die im gegründeten Da-sein Inständlichen des Gemütes der Verhaltenheit, auf die allein das Sein (Sprung) als Ereignis zu-kommt, sie ereignet und zur Bergung seiner Wahrheit ermächtigt." (GA 65, S.40I).

Sie sind aber nicht nur die Zukünftigen im Hinblick auf das Ereignis, sondern auch im Hinblick auf den letzten Gott: "Die Zu-künftigen sind jene Künftigen, auf die als die rückwegig Er-wartenden in opfernder Verhaltenheit der Wink und Anfall der Fernung und Nahung des letzten Gottes zu kommt." (ebd., S.395)

Der "letzte Gott" darf aber keinesfalls mit dem Seyn gleichgesetzt werden.

19 Heideggers Denken der Zukünftigen und des letzten Gottes erwächst vor allem seiner Auseinandersetzung mit dem dichterischen Werk Hölderlins. Eine wichtige vorbereitende Lektüre und Ergänzung zu den Beiträgen bietet deshalb nicht nur Heideggers mit diesen zeitgleich ausgearbeitete Vorlesung vom WS 37/38 (GA 45), sondern auch seine Hölderlin-Vorlesung vom WS 34'35: Hölderlins Hymnen "Germanien" und "Der Rhein" (GA 39). 20 Siehe GA 65, S. 395. 21 In seinem einführenden Artikel zu den Beiträgen (Les "Contributions a la Philosophie (a partir de I'Ereignis)" de Martin Heidegger) verkennt Greisch den Sinn der Zukünftigen, wenn er sie nur als das zukünftige (noch nicht seiende) Volk übersetzt und interpretiert (S.624f). Zu den Zu-künftigen vgl. auch § 10, Unterabschnitt a) dieser Arbeit.

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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Vielmehr ist das Seyn als Ereignis die kehrige Mitte von Gott und Mensch, und zwar so, daß der Gott des Seyns bedarf, um als Wink und Anfall wesen zu können, und der Mensch erst in der Zugehörigkeit zum Seyn in seinem Wesen gegründet ist, so daß auf ihn der Wink des Gottes zukommen kann. Die Zugehörigkeit des künftigen Menschen zum Seyn und das Bedürfen des Seyns durch den Gott "enthüllt erst das Seyn in seinem Sichverbergen als jene kehrige Mitte, in der die Zugehörigkeit das Bedürfen übertrifft und das Bedürfen die Zugehörigkeit überragt: das Seyn als Er-eignis, das aus diesem kehrigen Übermaß seiner selbst geschieht und so zum Ursprung wird des Streites zwischen dem Gott und dem Menschen, zwischen dem Vorbeigang des Gottes und der Geschichte des Menschen" (ebd., SAI3).

Das Seyn als Ereignis ist der Ursprung des Streites zwischen Gott und Mensch, sofern es erst den Gott an den Menschen übereignet, "indem es diesen dem Gott zueignet (ebd.; S.26, meine Betonung). Der letzte Gott läßt sich erst aus dem Ereignis verstehen. Zu ihm sagt Heidegger einführend, er sei "der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen" (ebd., S.403).22 Hier, wie überall im anfänglichen Denken, muß alles Vorstellungshafte fallen gelassen werden. Der letzte Gott west nicht als ein Seiendes, sondern im Wink: "Seine Wesung hat er im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als auch der Flucht der gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung." (ebd., S.409)

Anfall und Ausbleib, Ankunft und Flucht sind versammelt in der Kennzeichnung des Gottes als des "letzten". "Das Letzte ist Jenes, was die längste Vor-läuferschaft nicht nur braucht, sondern selbst ist, nicht das Aufhören, sondern der tiefste Anfang, der am weitesten ausgreifend am schwersten sich einholt." (ebd., S.405)

Der Gott ist der Letzte, sofern er der Anfänglichste ist und damit der am weitesten Hinausweisende. Er ist im Zuspiel zu den gewesenden Göttern gedacht, die in der Not der Seinsverlassenheit aus der Verweigerung in ihrer Flucht erfahren werden (Nietzsche, Hölderlin). Gerade in der Flucht und im Ausbleib meldet sich aber der Gott als Wink in seinem Äußersten und Ersten: "Die äußerste Feme des letzten Gottes in der Verweigerung ist eine einzigartige

22 Vgl. dazu den oben genannten Aufsatz von R. Thurnher: Gott und Ereignis. Siehe zu Heideggers Gottesbegriff auch die Beiträge im Sammelband: Auf der Spur des Heiligen: Heideggers Beitrag zur Gottesfrage, Hrsg. G. Pöltner, Wien, Köln, Böhlau 1991.

9 Neu

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens Nähe". "Die Nähe aber klingt an im Anklang des Seyns aus der Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit." (ebd., S.412)

Der letzte Gott steht also nicht am Ende eines Weges, der von Anklang über Zuspiel, Sprung, Gründung und die Zukünftigen geht, sondern meldet sich bereits im Anklang aus der Erfahrung der Wahrheit des Seyns als zuweisendes Sichverweigern. Wir haben nun die Fuge des anfänglichen Denkens aus ihren äußersten Wesensbereichen zu einer ersten, anzeigenden Entfaltung gebracht und damit das Gefüge, innerhalb dessen Heideggers gesamtes seynsgeschichtliches Denken sich seine Wege bahnt. 23 In dieser Fuge wird der Übergang vom ersten zum anderen Anfang ins Offene der Geschichte gebracht, sofern er vollzugshaft ins denkerische Wort gegründet wird. Im übergänglichen Denken waltet ein in sich einiges zwiefaches Woher: zum einen der erste Anfang, dessen Ende in der Not der Seinsverlassenheit in den Übergang hereinwest, und zum anderen der darin einbehaltene mögliche geschichtliche andere Anfang, welcher grundstimmungshaft den Übergang be-stimmt und doch das Unverfügbare und Unentscheidbare bleibt. Inzwischen hat das Denken aber die Möglichkeit, den Entscheidungsbereich für den anderen Anfang gründend vorzubereiten. Mit diesem ist das gemeint, was Heidegger die wesentliche "Ent-scheidung" nennt, die nichts anderes ist als die ''Wesensmitte des Seyns selbst": "das Auseinandertreten selbst, das scheidet und im Scheiden erst in das Spiel kommen läßt die Er-eignung eben dieses im Auseinander Offenen als der Lichtung für das Sichverbergende und noch Un-entschiedene, die Zugehörigkeit des Menschen zum Seyn als des Gründers seiner Wahrheit und die Zugewiesenheit des Seyns in die Zeit des letzten Gottes." (ebd., S.88)

Aus dieser Entscheidung entspringt als geschichtliche Notwendigkeit die unverfügbare Ent-scheidung, "ob das Seyn sich endgültig entzieht oder ob dieser Entzug als die Verweigerung zur ersten Wahrheit und zum anderen Anfang der Geschichte wird" (ebd., S.91). Es ist die Entscheidung, "ob der Mensch künftig ein Zugehöriger ist zur Wahrheü des Seyns [... ], oder ob der Beginn des letzten Menschen diesen in die verstellte Tierheit wegtreibt" (ebd., S.28), und damit einhergehend, ob "die Wahrheit des Seyns in der Gestalt des letzten Gottes" west (ebd., S.96) oder ob der letzte Gott versagt bleibt. J. Greisch weist in diesem Zusammenhang auf einen eschatologischen Zug im Denken Heideggers, was durch Äußerungen Heideggers in seiner Schrift über

23 Wir werden noch Gelegenheit finden zu sehen, wie die einzelnen zeitgleichen sowie späteren Schriften Heideggers als konkretere Ausarbeitungen zu verstehen sind, die im Grundgefüge der Beiträge ihren fugenmäßigen Ort haben.

§ 5. Die "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)"

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den Spruch des Anaximander (in: Holzwege, GA 5, S.327) eine gewisse Bestätigung findet. Diese Problematik wird noch zu erörtern sein. 24 Die unverfügbare geschichtliche Entscheidung über Geschichte oder Geschichtsverlust wird im anfänglichen Denken der Beiträge vorbereitet, indem der ursprüngliche Entscheidungsbereich: das Auseinandertreten im Wahrheitsgeschehen des Seyns, im Er-denken der Wahrheit des Seyns eröffnet und ins Wort gehoben wird. Die Gründung der Wahrheit des Seyns als Da-sein ist eine Notwendigkeit, die aus jener ursprünglichen Entscheidung (dem Sichverweigern des Seyns) selbst ernötigt wird. In der Notwendigkeit der Gründung der Wahrheit des Seyns im Da-sein, welche zugleich die Notwendigkeit der Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende ist, zentrieren die folgenden Ausführungen zum Denken der Beiträge. Dafür werden vorbereitend die ersten drei Fugen des Ereignis-Denkens: "Anklang", "Zuspiel" und "Sprung" anband ausgewählter Textstellen zu einer näheren Entfaltung gebracht. Die beiden letzten Fugen, "die Zukünftigen" und "der letzte Gott", werden nicht mehr gesondert behandelt, sondern werden in der Entfaltung der anderen Fugen mit zur Sprache kommen. Da die Beiträge im Bemühen geschrieben sind, sich das Zu-sagende nicht einfach gegenüberzustellen und "über" es zu sprechen, sondern es anfänglich aus dem Ereignis zu schöpfen, ist auch eine entsprechende Zugangsart gefordert, so daß auch wir nicht einfach in einer "objektiven Distanz" "über" die Beiträge schreiben können, indem wir das Geschriebene als feststellbare und analysierbare Aussagesätze lesen. Genausowenig können wir uns einfach unkritisch in die Beiträge hineinsinken lassen und das darin Gesagte im Sinne eines Lehrsystems oder der prophetischen Verkündigung einer neuen "Zukunft" nehmen. Beides wäre gleich verfehlt. Was von uns als Leser in erster Linie gefordert ist, ist eine Fragehaltung, die das Nichtfaßbare und Nichtfeststellbare in seinem "Nicht" beläßt. Das Lesen der Beiträge verlangt das Sicheinlassen auf die eigentümliche Gestimmtheit, die ihr Denken be-stimmt, aber nicht, um sich in ihr einfangen zu lassen und sich in ihr aufzulösen, sondern um sie auszustehen und dem aus dieser Gestimmtheit heraus Gesagten das angemessene Gehör zu geben. Dabei zwingen die Beiträge geradezu in die Aus-einandersetzung, denn das in ihnen wesende "Nicht" fordert, wo es wirklich erfahren wird, den stärksten Gegenhalt, um sich nicht gleich von ihm fortstoßen zu lassen in den vertrauten Bereich feststellbarer Sätze, in dem die wesentliche Verborgenheit unter dem Schein des Verfügbaren verdeckt bleibt.

24 Siehe J. Greiseh: Les "Contributions Martin Heidegger, S.628f.

9'

a la Philosophie (a partir de I'Ereignis)" de

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

§ 6. Der Anklang

a) Die Leitstimmung des Anklangs aus der einheitlichen Grundstimmung des andersanfänglichen Denkens: Verhaltenheit, Erschrecken und Scheu25 Das anfängliche Denken der Beiträge ist solches nur in einer Grundgestimmtheit, die bislang noch undifferenziert die "Verhaltenheit" genannt wurde. Diese nennt die Grundstimmung des Denkens im anderen Anfang, die jedoch übergänglich bereits das Denken der Beiträge bestimmt. Schon in Sein und Zeit denkt Heidegger die Grundstimmung im Zusammenhang mit der Geworfenheit in ihrem ursprünglich erschließenden Charakter (V gl. die Analyse der Angst). Seynsgeschichtlich begriffen gewinnt die Grundstimmung eine erweiterte Tiefendimension, da sie sich als aus dem Er-eignis geschichtlich eröffnend erweist. Jeglichem subjektiven Gemächte von Grund auf entzogen, eröffnet die Grundstimmung eine geschichtliche Welt und versetzt den Menschen so ursprünglich in das darin eröffnete Seiende im Ganzen, daß sich sein geschichtliches Sein darin erst so oder so entscheidet. In seiner Hölderlin-Vorlesung vom WS 34/35, in der das Wesen der Grundstimmung eine eingehende Erörterung erfährt, schreibt Heidegger: "Kraft der Macht der Grundstimmung ist das Dasein des Menschen seinem Wesen nach Ausgesetztheit inmitten des offenbaren Seienden im Ganzen, eine Ausgesetztheit, die das Dasein zu übernehmen hat, um darin zugleich die Bewahrung des in solcher Ausgesetztheit offenbaren Seienden im Ganzen zu übernehmen, gemäß welcher Übernahme es so oder so die Möglichkeit einer Geschichte in sich verwahrt, d.h. sie erfüllt oder verschleudert." (GA 39, S.141)

Die Möglichkeit eines geschichtlichen Anfangs verlangt mithin eine ursprüngliche Ausgesetztheit inmitten des Seienden im Ganzen und die Übernahme der darin sich eröffnenden geschichtlichen Wesung des Seyns im ereigneten Entwurf. Und auch das übergängliche Denken hält sich als anfäng-

25 Vgl. H.-H. Gander: Grund- und Leitstimmungen in Heideggers "Beiträge zur Philosophie", in: Heidegger Studies 10, 1994, S.15-31. Gander zeichnet in aufschlußreicher Weise die Bedeutung der Grundstimmungen für Heideggers Denken in Sein und Zeit (Angst), den Grundproblemen der Metaphysik (GA 29/30 über tiefe Langeweile) und den Beiträgen nach. Er zeigt, daß Anklang und Zuspiel mehr vom Erschrecken und Sprung und Gründung mehr von der Scheu gestimmt sind. Dies entspricht der engeren Verfügtheit von Anklang und Zuspiel einerseits und von Sprung und Gründung andererseits, sowie der wachsenden Innigkeit zum zögernden Sichversagen des Seyns (durch die Scheu), in die das Denken durch den gründenden Sprung gelangt. Eine klare Zuordnung der Leitstimmungen zu den Fugen bleibt allerdings dadurch problematisch oder zumindest fragwürdig, daß in den Beiträgen Anklang und Zuspiel bereits aus dem Sprung gewußt und erdacht sind. Deshalb muß für den denkerischen Nachvollzug sich auch im Anklang zum Erschrecken die Scheu gesellen.

§ 6. Der Anklang

133

liches in einer geschichtlich er-eigneten Grundstimmung, denn anders vermag es nicht anfänglich eröffnend das ihm grundstimmungshaft Zugeworfene zu entwerfen. Dazu muß die Grundstimmung des anderen Anfangs noch nicht voll angestimmt sein, wohl aber muß sie das Denken jeweils leiten. Heidegger eröffnet deshalb die Fugen des Anklangs, des Zuspiels und des Sprungs mit einem Hinweis auf die jeweils be-stimmende Leitstimmung. In der Fuge "Die Zukünftigen" schreibt Heidegger: "Anklang und Zuspiel, Sprung und Grundung haben je ihre Leitstimmung, die aus der Grundstimmung ursprunglich zusammenstimmen. Diese Grundstimmung aber ist nicht so sehr zu beschreiben als zu erwirken im Ganzen des anfänglichen Denkens. Mit einem Wort aber ist sie kaum zu nennen, es sei denn durch den Namen Verhaltenheit." (GA 65, S. 395) "Der ursprungliche Einklang der Leitstimmungen wird erst durch die Grundstimmung voll angestimmt. In ihr sind die Zukünftigen, und als die so gestimmten werden sie vom letzten Gott be-stimmt." (ebd., S.396)

Betrachten wir im Folgenden die Leitstimmung des Anklangs scheinbar für sich, muß also hier, wie auch bei den Leitstimmungen des Zuspiels, des Sprungs und der Gründung stets mitbedacht werden, daß die Leitstimmungen "gestimmt und stimmend im Einklang miteinander" (ebd.) sind und ihr ursprünglicher Einklang erst durch die Grundstimmung, der sie entspringen und in der ihr Einklang zu suchen ist, voll angestimmt wird (ebd.). Für diesen Einklang und d.h. für die Grundstimmung des Denkens im anderen Anfang, so Heidegger: "fehlt das Wort" (ebd., S.14). Wenn er sie meist mit der Verhaltenheit nennt (im 6. Abschnitt entfaltete er sie als Er-ahnen und Ahnung), ist also nur eine Anzeige der Grundstimmung genannt, die vielleicht in ihrer Einfachheit wesentlich unnennbar bleiben muß, da sie, wie wir sehen werden, in sich wechselbezüglich ist. 26 Die Leitstimmung des Anklangs, die den ersten Wesensbereich des Ereignisses eröffnet (sofern das fragende Denken sich in dieser Stimmung hält und sich von ihr leiten bzw. be-stimmen läßt), benennt Heidegger im ersten Abschnitt des' Anklangs' (50. Abschnitt der Beiträge, S.107) zweifach als "Schrecken" und "Scheu". "Schrecken und Scheu in einem erst lassen den Anklang denkerisch vollziehen" (GA 65, S.396). Versuchen wir also zunächst diese zweifacheinige Leitstimmung näher zu begreifen, obgleich wir uns darüber im Klaren sein müssen, daß mit einem Reden ''über'' die Stimmung noch keineswegs gewährleistet ist, daß sich das Denken auch wirklich durch sie anstimmen läßt. Im Vorblick (ebd., S.14ff) findet sich ein längerer Passus, in dem Heidegger

26

Vgl. GA 39, S.107.

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B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

die Grundstimmung des anderen Anfangs durch die Stimmung des "Erschrekkens", der "Verhaltenheit" und der "Scheu" zu erörtern sucht. Das Erschrecken, sagt Heidegger dort, sei am ehesten zu verdeutlichen "im Gegenhalt zur Grundstimmung des ersten Anfangs, zum Erstaunen" (ebd., S.15). Er hat dies in der Vorlesung vom WS 1937/38 ein Stück weit ausgeführt. Hier wird das Erstaunen (transitiv) zunächst vom gewöhnlichen Verständnis des "Erstaunens" als "Sichwundern", "Verwundern", "Bewundern", "Staunen" und "Bestaunen" abgesetzt (GA 45, S.163ff), um dann in 13 Punkten (ebd., S.165ff) eine positive Bestimmung zu erfahren. Es seien im Hinblick auf das zu fassende "Erschrekken" nur einige Punkte angeführt. Während in der geläufigen Auffassung des Erstaunens das Erstaunende oder Bewunderte eine Abkehr vom Gewöhnlichen mit sich führt, in der das Gewöhnliche neben dem Ungewöhnlichen bestehen bleibt, geht in der Grundstimmung des Er-staunens dieses auf das Ganze: Das Gewöhnlichste selbst von Allem wird zum Ungewöhnlichsten. Das Allergewöhnlichste wird im Er-staunen zum Ungewöhnlichsten. Im ersten Anfang wird zum Ungewöhnlichsten, daß das Seiende ist, was es ist (ebd., S.167). In diesem Ungewöhnlichsten wird aller Erklärung der Boden entzogen und das Er-staunen weiß weder ein noch aus (ebd.). Das Er-staunen eröffnet dadurch ein "Zwischen zwischen dem Gewöhnlichsten, dem Seienden, und seiner Ungewöhnlichkeit, daß es 'ist''' (ebd., S.168). Nicht nur die Ungewöhnlichkeit des Seienden wird durch das Er-staunen erbracht, d.h. eröffnet, sondern jetzt offenbart sich auch erst die vormalige Gewöhnlichkeit des Seienden als solche. Das Er-staunen wirft mithin erst das Gewöhnlichste, nämlich das Seiende, "in seine Gewöhnlichkeit und in seine Ungewöhnlichkeit auseinander" (ebd.), und erst in diesem Auseinanderwerfen, in diesem scheidenden Zwischen, tritt das Seiende als solches in seinem Wasund Wiesein zum Vorschein, in die Unverborgenheit (aletheia), oder, wie Heidegger sagt, "in das Spiel seines Seins" (ebd., S.169). Wir sehen hier, wie Heidegger aus der Grundstimmung des Er-staunens das ursprüngliche Auseinandertreten von Sein und Seiendem bedenkt, das der Metaphysik zugrunde liegt. Im Auseinanderwerfen des Spielraums des Seins des Seienden wird nun zugleich der er-staunende Mensch als Er-staunter (transitiv!) in das Zwischen, und somit erst in sein Sein, in sein Wesen versetzt und darin verwandelt. Im Zwischen des Nicht-aus-und-nicht-ein-wissens ist der Mensch im ersten Anfang in eine einzigartige Not versetzt: "Der Mensch muß als Er-staunter in der Anerkenntnis dieses Aufgebrochenen [das Ungewöhnlichste: Seiendes als seiend] Fuß fassen, es in seiner unergründlichen Enthüllung er-sehen [Vernehmen; noein] und die aletheia, die Unverborgenheit, als das anfängliche Wesen des Seienden erfahren und aushalten." (ebd.)

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Das Er-staunen ist eine Grundstimmung, weil das Zwischen, in das der Mensch durch es versetzt wird, ein ursprünglicher Entscheidungsraum ist, der Sein, Seiendes und Mensch anfänglich ent-scheidet, so daß dieser darin erst einmal Fuß fassen muß, d.h. Grund fassen muß in der Anerkenntnis des Ungewöhnlichsten. Diese wird laut Heidegger am reinsten vollbracht im Fragen, "das fragt, was denn das Gewöhnlichste selbst sei, daß es sich so als das Ungewöhnlichste auftue" (ebd., S. 172), also im Fragen nach dem Seienden in seinem Sein. Dieses Fragen erläutert er weiter als "das vom Andrang des Sichenthüllenden überdrängte Ertragen und Aushalten des Unerklärbaren als solchen" (ebd.). Das fragende Aushalten vollzieht sich als ein Leiden, worin Heidegger ein Vernehmen und Verwandeltwerden zugleich zur Sprache zu bringen versucht27 • Mit dem Andrang des Sichenthüllenden ist aber das erstanfänglich erfahrene Seiende im Sinne der physis gemeint, welches im Auseinandertreten als das Ungewöhnlichste des Gewöhnlichsten in die Unverborgenheit tritt, sofern es durch das denkerische Fragen im Sinne des Leidens ausgehalten, d.h. im Offenen der Unverborgenheit in seinem Anwesen und seiner Beständigkeit leidend vernehmend gehalten wird. Heideggers Erläuterung der Grundstimmung des Er-staunens im ersten Anfang führt dahin zu zeigen, wie aus dieser Grundstimmung und der in ihr aufbrechenden Not die erstanfängliche Wesensbestimmung des Seins als Beständigkeit und Anwesenheit hervorgeht, so daß diese Not zugleich ein Fragen nach der Verborgenheit, aus der diese Bestimmung hervorgeht, verwehrt. Solche Besinnung gehört bereits ins Zuspiel. Zugleich soll aber die Besinnung auf die Grundstimmung des ersten Anfangs dazu dienen, das den Anklang durch stimmende andersanfängliche Erschrecken zu begreifen. Wir hören deshalb jetzt, was Heidegger in den Beiträgen zum Erschrecken sagt: "Das Erschrecken ist das Zurückfahren aus der Geläufigkeit des Verhaltens im Vertrauten, zurück in die Offenheit des Andrangs des Sichverbergenden, in welcher Offenheit das bislang Geläufige als das Befremdliche und die Fesselung zugleich sich erweist. Das Geläufigste aber und deshalb Unbekannteste ist die Seinsverlassenheit. Das Erschrecken läßt den Menschen zurückfahren vor dem, daß das Seiende ist, während zuvor ihm das Seiende eben das Seiende war: daß das Seiende ist und daß dieses - das Seyn - alles 'Seiende' und was so schien verlassen, sich ihm entzogen hat." (GA 65, S.15)

Auch im Erschrecken waltet, wie im Erstaunen, die Versetzung aus dem Gewöhnlichen ins Ungewöhnliche dieses Gewöhnlichen. Das Gewöhnliche wird nun von Heidegger als Geläufigkeit des Verhaltens im Vertrauten bezeichnet,

27 Heidegger entfaltet das ''Leiden'' in der Deutung eines Stücks aus Hölderlins späten Hymnendichtung. Ebd., S.175ff.

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die sich im Erschrecken als das Befremdliche und die Fesselung erschließt. Im Erschrecken weicht der Mensch zurück aus seinen alltäglichen Verhaltungen, in denen er sich verschiedentlich an das besorgte Seiende hält (rechnend, planend, herstellend, genießend), und das soeben selbstverständlich besorgte Seiende leuchtet in seiner Befremdlichkeit auf. Es und wir selbst inmitten von ihm sind uns fremd. Wir kennen das Seiende und uns nicht mehr; beides wird uns ein Fragwürdiges. Das im Erschrecken waltende Versetzen hat den Charakter des Zurückfahrens. Darin ist zum einen das (vom Seienden aus gesehen) Unvermittelte, Plötzliche zu hören, der Ruck, der auch in der "Ent-rückung" und "Ver-rükkung" zum Ausdruck kommt. Zum anderen hören wir im Zurückfahren auch das Zurück in das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen, "in die Offenheit des Andrangs des Sichverbergenden", in der das Seiende als das Befremdliche und die Fesselung sich auftut, sofern wir nun erfahren, daß wir in unseren alltäglichen Verhaltungen in es verloren und im Netz des besorgten Seienden gefesselt waren. Das Wahrheitsgeschehen, in das der Mensch versetzt wird, so daß er selbst in seinem Wesen erst zur Entscheidung steht, ist im Erschrecken gegenüber dem Erstaunen einerseits dasselbe und andererseits doch wieder ein anderes: Versetzte das Er-staunen in den Andrang des Sichenthüllenden, versetzt nun das Er-schrecken in den Andrang des Sichverbergenden. Dies steht im Zusammenhang damit, wie das geläufige, gewöhnliche Seiende sich in seiner Ungewöhnlichkeit erschließt. Im Erschrecken begegnet nicht primär das Wunder, daß das Seiende ist. Wohl läßt es den Menschen davor zurückfahren, daß das Seiende ist, aber zugleich tut sich auf, daß das Seyn alles Seiende verlassen hat. Heidegger setzt hier das "Seiende" in Anführungszeichen mit dem Zusatz: "und was so schien", um anzuzeigen, daß das seinsverlassene Seiende nicht mehr im vollen Sinne (seiend) ist, sofern gerade dieses "seiend", das Sein des Seienden, dieses verlassen hat. Das Seiende ist nicht mehr geborgen in seinem anfänglichen Anwesen, es steht nicht (mehr) in seiner ursprünglichen Wahrheit, im Offenen des Sichverbergens seines Wesens. Wie dies im Einzelnen sichtbar wird, wird noch zu erörtern sein. Das Geläufigste des Geläufigen, das im Erschrecken als das Befremdliche begegnet, ist die Seinsverlassenheit des Seienden. Diese offenbart sich als solche erst im Zwischen des Andrangs des Sichverbergenden, in welches das Erschrecken den Menschen zurückfahren läßt. Erst in der Grundstimmung des Erschreckens eröffnet sich das Seiende in seiner Seinsverlassenheit. Es eröffnet sich jedoch auch, daß die Seinsverlassenheit nicht "Nichts" ist, sondern daß sie dem Wesen des Seyns entspringt, das als Sichverbergen west. Das Er-schrecken ver-rückt den Menschen aus der Geläufigkeit des Verhaltens in das Zwischen

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des abgründigen Wesungsgeschehens der Wahrheit des Seyns. Auch hier öffnet sich, wie im ersten Anfang, eine Not. Sie ist aber nicht mehr die Not des Nichtaus-und-nicht-ein-wissens, die den Menschen dahin nötigt, im Andrang des Sichenthüllenden einen Stand zu gewinnen, sondern die Not der Notlosigkeit, daß nämlich im geläufigen Verhalten der wesentliche Bezug zum Seyn verloren ist, daß das Seyn in Vergessenheit geraten ist und darin die Entwurzelung des Seienden so weit vorangeschritten ist, daß die Erfahrung der Notwendigkeit einer ursprünglichen Verwurzelung gar keinen Raum mehr findet. Die im Erschrecken waltende Not der Notlosigkeit wird aber nur dann nötigend, wenn sie als solche ausgestanden wird, d.h. wenn das Zwischen des Andrangs des Sichverbergenden, in dem das Seiende als Befremdliches sich eröffnet, offengehalten wird. Das Erschrecken wird nur dann zur stimmenden Macht, die den Menschen in sein ursprüngliches Wesen versetzt und darin Grund gewinnen läßt, wenn das Erschrecken kein bloßes "Zurückfahren" ist, das sogleich wieder vorschnellt, um sich im vertrauten Verlorensein an das bekannte Seiende zu beruhigen, sondern sich in ihm auch die Verhaltenheit als sein "eigenster 'Wille'" (ebd., S.15) auftut. Waltet im Erschrecken vornehmlich das "Zurückfahren aus", so liegt in der Verhaltenheit, der das Erschrecken (wie auch die Scheu) ursprünglich zugehört, zugleich die "Zukehr zu", nämlich zum zögernden Sichversagen der Wesung des Seyns (ebd.). Das Sichversagen bzw. Sichverweigern des Seyns nennt positiv die Weise, wie das Sichverbergen des Seyns, das ursprünglich zum vollen Wesen der Wahrheit (lichtendes Sichverbergen) gehört, im Zeitalter der Seinsverlassenheit west. In der Grundstimmung der Verhaltenheit, in der das Zwischen des abgründigen Wahrheitsgeschehens eröffnet und offengehalten wird, erschließt sich das Sichverweigern als zögerndes, d.h. es schnellt nicht gleich in ein bloßes "Nichts" zurück, das die Öde des seinsverlassenen Seienden hinterläßt, sondern im zögernden Geschehen öffnet sich der Zeit-Spiel-Raum der Wahrheit des Seyns. Die Verhaltenheit erläutert Heidegger als "die Mitte [... ] für das Erschrekken und die Scheu"(ebd.). Diese, so sagt er weiter, "kennzeichnen nur ausdrücklicher, was ursprünglich zu ihr gehört" (ebd.). Erschrecken und Scheu sind mithin Ausfaltungen der Verhaltenheit, und wo das Erschrecken das in der Verhaltenheit wesende Zurückfahren ausdrücklich machen soll, liegt in der Scheu nicht einfach Schüchternheit, sondern die zur Verhaltenheit gehörende Zukehr zum Sichversagen. Insofern kann Heidegger sagen, daß die Scheu "noch den 'Willen' der Verhaltenheit überwächst, und dies aus der Tiefe des Grundes der einheitlichen Grundstimmung" (ebd.). Denn die Scheu bringt das Moment der Zu kehr ausdrücklich und so verstärkt zur Sprache, das schon in der Verhaltenheit, aber "nur" als ein Moment, zu finden ist.

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Inwiefern liegt aber in der Scheu eine Zukehr zum zögernden Sich versagen als der Wesung des Seyns? Wir hören, was Heidegger dazu sagt: "Ihr, der Scheu im besonderen, entspringt die Notwendigkeit der Verschweigung, und sie ist das alle Haltung inmitten des Seienden und Verhaltung zum Seienden durchstimmende Wesenlassen des Seyns als Ereignis. Die Scheu ist die Weise des Sichnahens und Nahebleibens dem Fernsten als solchem (vgl. der letzte Gott), das in seinem Winken dennoch - wenn in der Scheu gehalten - zum Nächsten wird und alle Bezüge des Seyns in sich sammelt [... ]." (ebd., S.15t) Sie ist "Scheu vor dem anklingenden Ereignis" (ebd., S.396).

In der Scheu liegt eine Zukehr im Sinne des Sichnahens und Nahebleibens dem Fernsten als solchen. Dieses wird als solches nur bewahrt, wenn das Sichnahen die Ferne nicht einholt und damit auslöscht. Die Scheu öffnet und hält offen die Nähe des Fernsten und läßt darin das Seyn als Ereignis wesen. Wie ist jedoch dieses Fernste zu verstehen? Wir sind durch die bisherigen Erörterungen noch kaum imstande, es angemessen zu entfalten, auch wenn einige Hinweise schon vorliegen. Das Fernste wird in seinem Winken zum Nächsten. Das Winken aber wurde schon genannt als das Wesen des letzten Gottes. Dieser west in seiner Nähe als das Fernste: "Die äußerste Ferne des letzten Gottes in der Verweigerung ist eine einzigartige Nähe". "Die Nähe aber klingt an im Anklang des Seyns aus der Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit." (ebd., SAI2)

Die Scheu versetzt mithin grundstimmungshaft in den Bezug zum Göttlichen, indem in ihr ein dem Fernsten Nahebleiben geschieht. Das Fernste klingt in seiner Nähe im Anklang des Seyns als Verweigerung an. Sich diesem Fernsten (dem Entzug des Göttlichen) in der Scheu zu nahen, ist also ein Sich-auf-dieVerweigerung-zu-halten und darin die Nähe zum Fernsten als solchem offen halten. Als Verweigerung bzw. Versagung offenbart sich die Wesung des Seyns in der Erfahrung und Anerkenntnis der Seinsverlassenheit des Seienden, und ihr wird in der Scheu vor allem durch die Verschweigung entsprochen. Liegt im Erschrecken das Zurückfahren aus der Geläufigkeit, so daß das bislang Geläufige, nämlich das seinsverlassene Seiende, als das Befremdliche sich erweist, so liegt in der Scheu ein gewandelter Zugang zum Seienden, sofern in der Haltung inmitten des Seienden und Verhaltung zum Seienden das darin als Versagung wesende Seyn in sein Wesen gelassen wird. Dabei geschieht aber schon ein Bergen der Wahrheit des Seyns in das Seiende bzw. eine Rückgründung des Seienden in das Seyn. In der Leitstimmung des Anklangs, die aus der einheitlichen Grundstimmung Schrecken und Scheu in sich vereint, wird das Ereignis bereits in seinen äußer-

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sten Bereichen (von der Seinsverlassenheit zum Sichnahen des Fernsten als des Göttlichen) aufgerissen, auch wenn die darin einbehaltenen Wesensbereiche noch nicht voll entfaltet und gründend er-dacht sind. Nach unseren Ausführungen zur Leitstimmung des Anklangs, aus der allein diese Fuge angemessen zu denken wäre, wenden wir uns den Worten zu, mit denen der 50. Abschnitt der Beiträge den Anklang eröffnet: "Anklang der Wesung des Seyns aus der Seins verlassenheit durch die nötigende Not der Seynsvergessenheit. Diese Vergessenheit durch eine Erinnerung als Vergessenheit zum Vorschein ihrer verborgenen Macht bringen und darin den Anklang des Seyns. Die Anerkenntnis der Not. Die Leitstimmung des Anklangs: Schrecken und Scheu, aber entspringend je der Grund-stimmung der Verhaltenheit. Die höchste Not: die Not der Notlosigkeit. Erst einmal anklingen lassen, wobei Vieles notwendig unverstehbar und unfragbar bleiben muß und dennoch ein erstes Winken möglich wird." (ebd., S.107)

In diesen Worten kommen die wesentlichen Inhalte zur Sprache, die bereits verschiedentlich angesprochen und in der Erörterung des Schreckens und der Scheu entfaltet wurden. Die nötigende Not der Seynsvergessenheit nötigt, so sahen wir, in der Stimmung des Schreckens und der Scheu in das abgründige Zwischen des sichlichtenden Sichverweigerns, in dem die Wesung des Seyns als Verweigerung anklingt. In diesem Zwischen eröffnet sich auch erst die Seinsverlassenheit als solche: daß in ihr das Seiende des Seins ent-eigner8 bleibt. In der Seinsverlassenheit, deren Wesen in ihrem Walten verborgen bleibt, wenn das Da-sein nicht grundstimmungshaft in jenes Zwischen verrückt wird, in dem sie als solche erst zum Vorschein kommt, west das Seyn in seinem Unwesen als Ausbleib des ereignenden Zurufs für den ent-eigneten seinsvergessenen Entwurf. Daß das Seyn als Verweigerung anklingt und sich diese im Er-eignis als zuweisende Verweigerung für den er-eigneten Entwurf öffne, verlangt zuvor die Anerkenntnis, also das ausstehende Offenhalten der Not der Seinsvergessenheit. Wir sprachen aber bislang zumeist von der Not der Seinsverlassenheit und nicht von der Not der Seinsvergessenheit. Letztere bezeichnet die Weise, wie der Mensch dem Seyn, das in der Seinverlassenheit als Verweigerung west, entspricht. In der Seinsvergessenheit liegt im Wesen der neuzeitlichen Subjektivität gegenüber der Seinsverlassenheit eine Steigerung: in ihr verfestigt sich

28

Vgl. zu diesem Wortgebrauch ebd., S.120 und 231.

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die Seinsverlassenheit endgültig 29 , und erst in dieser endgültigen Verfestigung meldet sich die höchste Not als Not der Notlosigkeit im verborgen waltenden Unwesen des Seyns. Diese, sagt Heidegger, gilt es erst einmal anklingen zu lassen, wozu gehört, daß die Vergessenheit durch eine Erinnerung an ihren geschichtlichen Ursprung als solche zum Vorschein gebracht werden muß. Heidegger besinnt sich hier darauf, was das zuerst zu Leistende ist, um im Hörer oder Leser jenen Wahrheitsbereich anzustimmen und zu eröffnen, aus dem die Wesung des Seyns zum Anklang kommt. Die in sich verflochtenen Themenkreise des Anklangs sind auf eben diese erste Aufgabe - den Aufweis des Unwesens des Seyns in der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit gerichtet. Es sind: 1) Die Seinsverlassenheit und die Seinsvergessenheit (die Wissenschaft) 2) Machenschaft und Erlebnis 3) Das Riesenhafte. b) Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit "Die Seinsverlassenheit: sie muß als das Grundgeschehnis unserer Geschichte erfahren und ins Wissen - das gestalterische und führende - gehoben werden. Und hierzu ist nötig: 1. daß die Seinsverlassenheit in ihrer langen und verdeckten, sich selbst verdeckenden Geschichte erinnert wird. Es genügt nicht der Hinweis auf das Heutige; 2. daß die Seinsverlassenheit ebensosehr als die Not erfahren wird, die in den Übergang hinüber ragt und diesen als den Zu-gang auf das Künftige befeuert. Auch der Übergang muß in seiner ganzen Weite und Vielspältigkeit erfahren werden [... ]." (ebd., S.1l2)

1. Die Seinsverlassenheit des Seienden wird nur dann zur nötigenden Not, wenn sie als das Grundgeschehnis der abendländischen Geschichte erfahren wird. Solche geschichtliche Besinnung impliziert aber bereits das Zuspiel, das mit dem Anklang untrennbar verflochten ist. Die Seinsverlassenheit als Grundgeschehnis unserer Geschichte hebt an im ersten Anfang mit der "Entmachtung der physis" und dem "Einsturz der aletheia"30. Dies wird erstanfänglich bei den vorsokratischen Denkern vorbereitet, wo das Denken aus der im Er-staunen sich öffnenden Erfahrung der Übermacht der physis in ihrem Hervortreten dahin genötigt wird, das Anwesen (Sein) ver-

29

Siehe ebd., S.107.

30

Vgl. GA 40: Einführung in die Metaphysik, §§ 55 und 56, S.187ff.

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nehmend im Anwesenden (Seienden) zu sammeln (logos), um einen Stand inmitten des überwältigenden Seienden zu gewinnen. Der Einsturz der aletheia vollzieht sich in Heideggers Auslegung am Ende der griechischen Philosophie bei Platon und Aristoteles, d.h. in dem Augenblick, da sich die Bestimmung der Seiendheit als idea vordrängt, wobei der logos der physis gegenübertritt und es nunmehr für das Denken darauf ankommt, dem sich bietenden Anblick (idea) zu entsprechen. Die Wahrheit wird zur Richtigkeit der Angleichung. Mit dem Vordrängen der Bestimmung des Seins als idea wird das erstanfängliche Wahrheitsgeschehen in der Weise verdeckt, daß das Sein gerade in seinem Sichverbergen sich zugunsten der Offenbarkeit (Anwesenheit) des Seienden entzieht: "das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden" (GA 65, S.lll). Nun sieht Heidegger im Christentum einen entscheidenden Schritt der Verfestigung der Seinsverlassenheit. Diese sei "am stärksten dort, wo sie sich am entschiedensten versteckt" (ebd., S.llO), und das ist dort der Fall, wo das Seiende in seinem Ursprung durch das Ursache-Wirkungs-Verhältnis erklärbar wird. Für die christliche Dogmatik ist der Schöpfergott als Ursache alles von ihm geschaffenen Seienden das Gewisseste, womit die Möglichkeit eines ursprünglichen Fragens nach dem sichentziehenden Charakter des Seins verschüttet wird. Das Prinzip der Erklärbarkeit nach dem Ursache-Wirkung-Schema wird auch dann beibehalten, wenn anstelle des Schöpfergottes die menschliche Vernunft tritt. Wo der Grund des Seienden sich auf die "Seite" der selbstgewissen Vernunft schlägt (Neuzeit, Descartes), wandelt sich die Seiendheit zur Gegenständlichkeit des vorstellenden Subjekts. In der Erklärbarkeit (oder Unerklärbarkeit, wo immer noch der Maßstab der möglichen Erklärbarkeit angelegt wird) alles Seienden verfestigt sich die zur Seinsverlassenheit gehörende Seinsvergessenheit. Diese hat ihren Grund in jener, sofern das wachsende Sichentziehen des Seyns sich selbst von seiten des Menschen immer entschiedener in Vergessenheit geraten läßt. Die Seinsvergessenheit verfestigt sich aber endgültig im neuzeitlichen Wesen der Subjektivität, wo die Seiendheit sich wandelt zur Gegen-ständigkeit des Vor-stellens, und sich der Grund der Seiendheit in das Selbstbewußtsein verlagert. Sofern erst hier die Seinsvergessenheit verschärft zu Tage tritt und die Seinsverlassenheit ins Äußerste sich verfestigt, wird von Heidegger der Begriff der Seinsvergessenheit vorwiegend in diesem engeren, die Endzeit der Metaphysik betreffenden Sinne verwendet. In diesem Sinne wird auch im folgenden die Seinsvergessenheit bedacht:

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B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens 2. "Die Seinsvergessenheit weiß nicht von ihr selbst, sie venneint beim 'Seienden', dem 'Wirklichen', zu sein, dem 'Leben' nahe und des 'Erlebens ' sicher." (ebd., S.1l4)

Die Seinsvergessenheit kennt keine Notwendigkeit eines ursprünglicheren Fragens, ihre eigene Entwurzelung ist ihr völlig verdeckt, denn sie hat sich im Seienden vollständig eingerichtet, das sie als das 'Wirkliche" kennt und "erlebt"3'. Das Verhängnisvolle dieses Zustandes liegt gerade in seiner Fraglosigkeit und Notlosigkeit. Für ein Denken, das im Erschrecken und der Scheu diese Notlosigkeit als die äußerste Not erfährt, zeigt sich die in der Seinsvergessenheit waltende Seinsverlassenheit des Seienden auf vielfache Weise. Heidegger nennt vor allem drei "Verhüllungen der Seinsverlassenheit"32. Man kann sich dabei unschwer die historische Situation vorstellen, die Heidegger dabei sicherlich auch im Auge hatte, nämlich den Aufbruch des Nationalsozialismus, mit dem sich der Philosoph in den Beiträgen wiederholt kritisch auseinandersetzt. Doch auch in unserer Zeit haben diese drei Verhüllungen nichts von ihrer Schärfe verloren, sondern treten nur noch augenscheinlicher an den Tag. Es sind: i) die Berechnung ii) die Schnelligkeit iii) der Aufbruch des Massenhaften i) Die Berechnung wird erst in der Neuzeit maßgebend "durch die im Mathematischen wissensmäßig gründende Machenschaft der Technik" (ebd., S.120). Sie meint nicht eine Tätigkeit des Denkens, sondern ein "Grundgesetz des Verhaltens" (ebd., S.121), das eben durch die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik bestimmt ist. Alles naturwissenschaftlich-technische Verhalten, d.h. die Weise, wie ich mich zum naturwissenschaftlich-technisch entborgenen Seienden verhalte und dieses mir im Verhalten entgegnet, liegt im vorhinein unter der Gesetzmäßigkeit der Berechnung. Das Seiende ist dadurch im vorhinein entborgen als das Berechenbare, als das, womit man umwillen der Sicherung und Erhaltung und des immer weiteren Fortschritts des "Lebens" und der "Menschheit" rechnet. Das Seiende wird nicht nur speziell in der Naturwissenschaft, sondern in allen von der modernen Naturwissenschaft und Technik geprägten Lebensbereichen im Vorgriff auf Leitsätze und Regeln organisiert und dadurch berechnet. Im Rahmen der modernen Naturwissenschaft im spe-

31 Heidegger setzt hier das "Seiende", das ''Wirkliche'', das "Leben" und "Erleben" in Anführungszeichen, um anzuzeigen, daß diese Begriffe aus der Perspektive der Seinsvergessenheit und nicht aus dem seynsgeschichtlichen Denken gegriffen sind. 32 Siehe den 58. Abschnitt der Beiträge: ''Was die drei Verhüllungen der Seinsverlassenheit sind und wie sie sich zeigen", ebd., S.120ff.

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ziellen widmet Heidegger zahlreiche Überlegungen dem Experiment, in dem der genannte Vorgriff dadurch erfolgt, daß der Gegenstandsbereich im vorhinein schon quantitativ-regelhaft vorbestimmt ist, so daß alle Ergebnisse notwendig innerhalb des im voraus angesetzten Rahmens erzielt werden. 33 Was im Vorgriff auf Leitsätze und Regeln und im Vorrang der Organisation, kurz: in der Berechnung, von vorhinein unterbunden wird, ist "eine frei wachsende Wandlung von Grund aus" (ebd., S.121), die nur dort eröffnet wird, wo die in der Berechnung waltende Seinsverlassenheit als Not erfahren wird und ein wesentlicher Bezug zum Sein in seiner Wahrheit gegründet wird. ii) "Die Schnelligkeit - jeglicher Art; die mechanische Steigerung der technischen 'Geschwindigkeiten', und diese überhaupt nur eine Folge dieser Schnelligkeit; diese das Nichtaushalten in der Stille des verborgenen Wachsens und der Erwartung" (ebd.).

Die in unserer Zeit immer größere Steigerung der Geschwindigkeiten auf den verschiedenen Gebieten verweist auf die Schnelligkeit als der Weise, wie das berechenbare Seiende entborgen wird. Darin liegt ein "Nichtaushalten", das als solches sich nur zeigt, wo der ursprüngliche Zeitraum des verborgenen Wachsens in der Verhaltenheit ausgestanden wird. Erst dann eröffnet sich das Befremdliche der Sucht nach der Schnelligkeit und die in ihr waltende Seinsverlassenheit. iii) "Der Aufbruch des Massenhaften". (ebd., S.12l)

Unter dem Massenhaften ist zu verstehen das "jedermann in gleicher Weise Zugängliche" (ebd.), nämlich durch die Berechnung und die Schnelligkeit, die "dem Massenhaften die Geleise und die Rahmen beistellen" (ebd., S.122). Das Massenhafte gilt als das "Über-ragende", welches Vielen und Allen gemein ist. Im Massenhaften sieht Heidegger "die schärfste, weil unauffälligste Gegnerschaft gegen das Seltene, Einzige (das Wesen des Seins)" (ebd.). Das Wesen des Seyns steht in einem entscheidenden Gegensatz gegen seine gewöhnliche Kennzeichnung als die leerste, allgemeinste Bestimmung des Seienden. Es west eben nur in der Einzigkeit der Augenblickshaftigkeit des Ereignisses, jeweilig gegründet als Da-sein in Zeug, Ding, Wort, Werk, Tat und Opfer. Wo aber das Allen Gemeine der Maßstab für "Größe", "Mächtigkeit" und "Wirkkraft" hergibt, rückt der Rang der Einzigkeit der Wesung des Seyns erst gar nicht ins Blickfeld und in die Erfahrung; die im Massenhaften wesende Seinsverlassenheit bleibt verhüllt. In der Berechnung, der Schnelligkeit und dem Aufbruch des

JJ Vgl. hierzu Heideggers Ausführungen zur Wissenschaft und zum Experiment, 73.80. Abschnitt der Beiträge, S.14l-l66.

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Massenhaften, ''überall in diesen Verhüllungen der Seinsverlassenheit macht sich das Unwesen des Seienden, das Unseiende breit und zwar im Schein eines 'großen' Geschehens" (ebd.). Das Unwesen benennt die Weise, wie das Seyn in der Seinsverlassenheit west. Dieses "Un-" nennt also gerade nicht die ursprüngliche Nichthaftigkeit der Wahrheit des Seyns, wie sie im Ereignis west, es nennt mithin nicht den ursprünglichen Verbergungscharakter des Seyns, in dessen Lichtung das Seyn als Er-eignung west, sondern gerade die Verhüllung desselben in der seinsverlassenen Offenbarkeit des Seienden. "Die Seynsverlassenheit [... ] ist Ausgeschlossenheit und Verwehrung des Ereignisses" (ebd., S.114), d.h. im Unwesen des Seienden bleibt dieses der Wahrheit des Seyns enteignet: Die Wahrheit des Seyns west als Ent-eignis, als Ausgeschlossenheit und Verwehrung des Ereignisses. 34 Die Wortbildung "Enteignis" weist auf einen weiteren Sprachgebrauch des Ereignisses, das im engeren Sinne die anfängliche Wesung der Wahrheit des Seyns im Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit nennt. Im weiteren Sinne umfaßt das Ereignis auch das Unwesen des Seyns, wodurch angezeigt werden kann, daß dieses eine Wesensfolge des Ereignisses ist, bzw. daß das Unwesen des Seyns aus dem Ereignis so zu denken ist, daß dieses sich dabei gerade verhüllt in der ereigneten Offenbarkeit des seinsverlassenen Seienden. Heidegger denkt das Ereignis also nicht nur als andersanfängliche Wesung der Wahrheit des Seyns, sondern er sieht es in einem kurzen Aufblitzen schon im anfänglichen griechischen Denken, wo aber das Seyn notwendig im Sinne des Anwesens gedacht werden mußte und die Offenheit, in der das Seyn als Ereignung weste, nach ihrem ersten Aufblitzen nicht eigens gegründet wurde. Das Ereignis ist so gesehen auch der verborgene, doch nie eigens gegründete Grund der Metaphysik, der vielmehr sogleich in sein Unwesen umschlägt ,(sich entzieht) und als Ent-eignis west. c) Machenschaft und Erlebnis Das Unwesen des Seyns entfaltet Heidegger im Anklang als Machenschaft und Erlebnis. Wie die Seinsverlassenheit wird auch die Machenschaft in einem zweifachen Sinne bedacht, demzufolge sie eine weitere und eine engere Bedeutung hat. Die Machenschaft im weiteren Sinne nennt die geschichtliche Wesungsweise des Seins in der Metaphysik, die mit dem Einsturz der aletheia

34 In "Zeit und Sein" wird die Ent-eignis noch in einem weiteren Sinne gedacht aus dem ursprünglichen, wesenhaft zum Ereignis gehörenden Entzug im Sinne der ursprünglichen Verbergung. Siehe Zur Sache des Denkens, S.23 und den § 13 der vorliegenden Arbeit zur 5. Ereignisweise.

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durch das Überhandnehmen des logos und der techne über die physis anhebt; im engeren Sinne wird sie in ihrer "schrankenlosen Herrschaft" (GA 65, S.124) in der Neuzeit erläutert, wozu dann das Erlebnis gehört. "Machenschaft und Erlebnis ist formelhaft die ursprünglichere Fassung der Formel für die Leitfrage des abendländischen Denkens: Seiendheit (Sein) und Denken (als vor-stellendes Be-greifen)." (ebd., S.l28).

Wir werden sehen inwiefern. Die Machenschaft im weitesten Sinn bedenkt Heidegger vor allem im 61. Abschnitt der Beiträge. Im Wort "Machenschaft" ist, sagt Heidegger dort, "der Beiklang des Abschätzigen [... ] fernzuhalten" (ebd., S.126) und das Machen herauszuhören, das in sich auf die poiesis und die techne verweist. Das Machen als menschliches Verhalten ist "selbst nur möglich auf Grund einer Auslegung des Seienden, in der die Machbarkeit des Seienden zum Vorschein kommt" (ebd.). Dies geschieht im griechischen Denken (Platon, Aristoteles) dort, wo die Seiendheit des Seienden am Leitfaden des herstellenden Verhaltens als das beständig Anwesende genommen wird, als die idea oder das eidos, das zum Beispiel ein Tischler im vorhinein im Blick haben muß, um einen Tisch herzustellen. In der Folge wird dann die physis als das Sich-von-selbst-machen verstanden. Solche Auslegung entspringt der physis selbst, die aus der aletheia in ihrem Aufgehen, im Hervorkommen aus der Verborgenheit erfahren wird, und die des Gegenhalts der techne bedarf, um in ihrem Anwesen und in ihrer Beständigkeit offengehalten zu werden. 35 Die Machbarkeit tritt aber, sagt Heidegger (ebd., S.126), erst im Mittelalter in ihrem vollen Wesen an den Tag, wo das Seiende zum vom Schöpfergott geschaffenen ens creatum, und der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang maßgebend wird. Damit ist der Übergang bereitet zur neuzeitlichen Bestimmung der Seiendheit als Gegenständlichkeit. Diese gründet im vorstellenden Selbstbewußtsein, für welches das (naturwissenschaftlich betrachtete) Seiende, wie etwa Kant zeigt, in seiner kategorial bestimmten Gegenständlichkeit als Ding in Raum und Zeit erscheint, geeinigt unter den Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Wie und als was das Seiende als Gegenstand erreicht wird, steht unter dem Vorgriff des vorstellenden Denkens, dem das Seiende, sofern es dieses in seiner Gegenständlichkeit bestimmt, im vorhinein als erklärbar, berechenbar und somit in seiner Machbarkeit zugestellt wird. 36 Heidegger nennt drei ineinandergefügte Gesetze der MachenschaJt, welche

35 36

IO Neu

Vgl. dazu GA 40, S.168 und GA 65, S.I90f. Vgl. Leibniz' principium rationis.

B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

146

verhindern, daß diese als solche, und d.h. als das Unwesen der Wahrheit des Seyns, erfahren wird: 1.

Je maßgebender sich die Machenschaft entfaltet, umso hartnäckiger und machenschaftlicher verbirgt sie sich als solche. Je entschiedener sie sich verbirgt, umso mehr drängt sie auf die Vorherrschaft des Erlebnisses. "Je unbedingter das Erleben als Maßgabe der Richtigkeit und Wahrheit (und damit 'Wirklichkeit' und Beständigkeit), umso aussichtsloser wird es, daß von hier aus eine Erkenntnis der Machenschaft als solcher sich vollzieht." (ebd., S.l27)

2. 3.

Zu 1: In der Neuzeit verbirgt sich die Machenschaft hinter der Gegenständlichkeit und Objektivität. Denn für das sichzustellende Vorstellen ist das von ihm vorgestellte Seiende der wirkliche, objektive Gegenstand in seiner ganz objektiven Meßbarkeit und Analysierbarkeit. Zu 2: Aber auch wo der objektiven Gegenständlichkeit das (subjektive) Erlebnis entgegengesetzt wird, herrscht die Machenschaft, und sogar entschiedener, weil noch verborgener. Vom Erlebnis wurde schon gesagt, es sei zu verstehen im Sinne des vor-stellenden Be-greifens, so sehr auch das Erlebnis scheinbar dem "Denken" entgegengesetzt zu sein scheint. Heidegger entfaltet dies ganz knapp im 63. Abschnitt der Beiträge, welcher die Überschrift trägt "Er-leben": "Das Seiende als Vor-gestelltes auf sich zu als die Bezugsmitte beziehen und so in 'das Leben' einbeziehen. Warum der Mensch als 'Leben' (anima I rationale) (ratio - Vor-stellen!). Nur das Er-lebte und Er-lebbare, in dem Umkreis des Er-lebens Vor-dringliche, was der Mensch sich zu bringen und vor sich zu bringen vennag, kann als 'seiend' gelten." (ebd., S.129)

Das Er-leben wird hier ganz im Sinne des vor-stellenden Sichzustellens gedacht, also in jener Struktur des Selbstbewußtseins, in der sich das Denken, welches jetzt zum Erleben geworden ist, des Gegenstandes und seiner selbst vergewissert. "Das Leben" wird in Anführungszeichen gesetzt, um anzuzeigen, daß dieser Lebensbegriff subjektivistisch vorstellungshaft geprägt ist. Diesem "Leben" liegt zugrunde die Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale, nur daß jetzt die ratio, das Vorstellen, im Dienste der animalitas, des "Leibes" und des ''Lebendigen'' getreten ist, ohne jedoch sein vorstellungshaftes Wesen darin zu verlieren. Heidegger denkt diese Umkehr in den Vorrang des vorstellend sich zustellenden Leibes vor allem in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche, bei dem die Vernunft unter die Obhut des leibenden Willens zur Macht genommen wird. 37 Erst hier vollendet sich die Subjektivität, weil hier

31

GA 50, S.48ff.

§ 6. Der Anklang

147

das Zustellbare erst zu einem solchen ermächtigt wird. Das Zustellbare ist im Erleben das Er-lebte und Er-Iebbare, das allein als "seiend" gilt. Wenn Heidegger das Er-leben mit Bindestrich schreibt, so finden wir darin den vollzugshaft eröffnenden Charakter zum Ausdruck gebracht. Dem Er-leben liegt der Gegenstand nicht vor, so daß er dann erst erlebt wird, sondern was als wirklich wahrer Gegenstand, und d.h. als Seiendes gelten kann, wird im vorhinein durch das Er-leben entschieden, das den Gegenstand im vorhinein als das Er-Iebbare und Er-lebte auf sich zu stellt. Die Selbstgewißheit bzw. "Ichgewißheit", wie Heidegger sagt (GA 65, S.131), ist im Erleben ins Äußerste gesteigert im Schein des "Lebendigsten", "Wirklichsten" und "Wahrsten". Zu 3: In der Vorherrschaft des Erlebnisses wird eine Erkenntnis der Machenschaft als solcher immer aussichtsloser. Das Seiende wird immer fragloser (man ist sich ihm ja als Er-Iebbarem, Wirklichem, gewiß) und erst recht rückt die Fragwürdigkeit des Seyns aus dem Er-staunen oder dem Erschrecken und der Scheu aus jedem Blickfeld. Die neuzeitliche Endherrschaft der Machenschaft bezeichnet Heidegger immer wieder als das Zeitalter der völligen Fraglosigkeit. Im 59. Abschnitt der Beiträge bezeichnet er es auch als das Zeitalter der "Verzauberung" (ebd., S.124). An anderer Stelle spricht er von der Machenschaft als "das in die eigene Fesselung [das Schema der durchgängigen berechenbaren Erklärbarkeit] Losgelassene" (ebd., S.132). In der Schrankenlosigkeit so wie in der Loslassung kommt jedesmal die Entwurzelung zur Sprache, die Seinsverlassenheit des Seienden, welches dem machenschaftlichen Unwesen der Seiendheit überlassen wird. Innerhalb von diesem herrscht aber der Schein der größten "Lebendigkeit" und "Wirklichkeit", denn die Wirksamkeit des Seienden, seine Berechenbarkeit und Erklärbarkeit, kann allzeit erprobt und dieses selbst kann allzeit erlebt werden. Dieser Schein kommt einer Verzauberung gleich, die alles Seiende und dem zuvor den Menschen ergreift. Wenn aber in der schrankenlosen Herrschaft der Machenschaften alles nur noch im Scheine der Verzauberung erscheint, "dann sind keine Bedingungen mehr, um die Verzauberung noch eigens zu spüren und gegen sie sich zu sperren" (ebd., S.l24). Aber all dies wird als solches nur sichtbar und erfahrbar für ein Denken, das die Not dieser Notlosigkeit aussteht. Erst dann wird der Sinn der "Loslassung in die Machenschaft" offenkundig, daß nämlich diese gerade die in der Verhaltenheit eröffnend offengehaltene ursprüngliche Dimension der Wahrheit des Seyns, i.e. ihr Wesen als zuweisendes Sich verweigern verdeckt und sich von ihm immer weiter loszureißen sucht (Verdrängung des Todes) in ihre schrankenlose Herrschaft.

10'

148

B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

d) Das Riesenhafte Die Schrankenlosigkeit der Machenschaft im Zeitalter der modernen Technik bedenkt Heidegger als das Riesenhafte, in dem sich die Quantität als Grundcharakter des Seyns selbst erweist. D.h. die Quantität wird nicht primär mit Blick auf das Seiende als das grenzenlos Quantitative ausgelegt, sondern wird als Qualität, als quale, Washeit, Wesen des Seins selbst gesehen. Das Riesenhafte bezeichnet also die Entborgenheitsweise des grenzenlos quantitativen Seienden. 38 "Das Riesenhafte gründet in der Entschiedenheit und Ausnahmslosigkeit der 'Rechnung' und wurzelt in einem Ausgriff des subjekthaften Vor-stellens auf das Ganze des Seienden." (ebd., S.44I)

In diesem vor-stellungshaften Ausgriff, demzufolge das Seiende je schon dem Vorstellen gegenständlich entgegensteht, wurzelt das Wesen des Quantitativen. Denn als das im Vor-stellen Gegenstehende, ist alles Seiende im vorhinein das quantitativ Berechenbare. Im Riesenhaften liegt mithin, daß die vorgreifend-planend-einrichtende Erfassung von allem am Gegebenen keine Grenze findet: "Alles ist menschen-möglich, wenn nur Alles in jeder Hinsicht und dieses wiederum im voraus in Rechnung gestellt und die Bedingungen beigebracht werden." (ebd., S.136)

Im Riesenhaften und d.h. in der uneingeschränkten, berechenbaren Machbarkeit und Erlebbarkeit alles "Seienden" vollendet sich die Seinsverlassenheit. Und dennoch ist die Seinsverlassenheit nichts nur ''Negatives'', weil gerade hier, im Äußersten des Unwesens der Wahrheit des Seyns, die Möglichkeit der Gründung eines anderen Anfangs aufbehalten liegt. Wenn sich das Unwesen der Wahrheit des Seyns in der Not der Seinsverlassenheit dem durch Schrecken und Scheu gestimmten Denken als solches eröffnet und es im Zuspiel des ersten Anfangs aus dem Grundgeschehnis des ursprünglichen Einsturzes der aletheia angedacht wir.d, dann klingt durch die Seinsverlassenheit die Wahrheit des Seyns als Verweigerung an; dann zeigt sich, daß die Seinsverlassenheit ihren abgründigen Grund darin hat, daß das Seyn als Verweigerung west. Im Anklang klingt aber zugleich an, daß solche Verweigerung nicht "der bloße Rückzug und Abzug ist", sondern die "Innigkeit einer Zuweisung", in der das Da als im Da-sein zu Gründendes zugewiesen wird (ebd., S.240).

38

Siehe ebd., S.135.

§ 7. Das Zuspiel

149

"Der Anklang des Seyns will das Seyn in seiner vollen Wesung als Ereignis durch die Enthüllung der Seinsverlassenheit zurückholen, was nur so geschieht, daß das Seiende durch die Gründung des Da-seins in das im Sprung eröffnete Seyn zurückgestellt wird." (ebd., S.116)

Dieser 'Wille" des Anklangs ist zu begreifen aus der ihn denkerisch durchstimmenden Not der Seinsverlassenheit, aus der der andere Anfang als das Seyn in seiner vollen Wesung als Ereignis in der Entscheidung steht. Die Not der Seinsverlassenheit birgt schon in sich die Notwendigkeit der Gründung des Daseins und darin der Rückgründung des Seienden in das Seyn. § 7. Das Zuspiel

a) Die Leitstimmung des Zuspiels: ''Die Lust der fragenden wechsel weisen Übersteigung der Anfänge" Der innere Zusammenhang von Anklang und Zuspiel mußte bereits im Anklang entfaltet werden, sofern die Not der Seinsverlassenheit zur nötigenden Not nur dann wird, wenn sie als Grundgeschehnis der bisherigen abendländischen Geschichte aus dem erstanfänglichen Einsturz der aletheia bedacht wird. Nur im Zuspiel des ersten Anfangs klingt in der Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit die Wahrheit des Seyns und die Notwendigkeit der Gründung des anderen Anfangs an. Das Zuspiel entfaltet sich im Anklang aus der in Schrecken und Scheu ausgestandenen Not der Seinsverlassenheit, d.h. aus der Ent-rückung von der Seinsvergessenheit in das nötigende Zwischen des sichverweigernden Seyns. Ihm eignet zudem eine eigene Leitstimmung: ''Die Lust der fragenden wechselweisen Übersteigung der Anfänge" (GA 65, S.l69), und dies aus der einheitlichen Grundstimmung der Verhaltenheit. Die Lust der fragenden wechselweisen Übersteigung der Anfänge ist die Weise, wie sich grundstimmungshaft das Zuspiel von erstem und anderem Anfang eröffnet, so daß das fragende Denken in der Lust in das Zwischen ihrer wechselweisen Übersteigung versetzt ist. Wenngleich Heidegger über die Leitstimmung des Zuspiels nichts Näheres kann doch ein kurzer Absatz über das Fragen aus dem Vorblick dem Versuch einer Erläuterung dienlich sein. Dort schreibt Heidegger: ~usführt,

"[ ...] im Fragen ist der treibende Ansturm des Ja zum Unbewältigten, die Weitung in das noch unausgewogene Zuerwägende. Hier waltet das Übersichhinausfahren in das uns Überhöhende. Fragen ist die Befreiung zum verborgen Zwingenden." (ebd., S.IO)

In diesen Worten bringt Heidegger, wie mir scheint, die Lust der fragenden

150

B. I. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

Übersteigung der Anfänge zum Ausdruck, die im Zuspiel waltet. Das Moment der Lust liegt im "treibenden Ansturm des Ja", in der "Weitung" und im "Übersichhinausfahren". Es ist aber nicht nur für sich zu nehmen, sondern in eins mit dem in der Lust grundstimmungshaft Eröffneten: das Zwischen des Wechselbezugs der geschichtlichen Anfänge und das darein versetzte fragende Denken. Das Unbewältigte, von dem im obigen Zitat die Rede ist, kann verstanden werden im Sinne des Unbewältigten des ersten Anfangs, daß nämlich dort die Wahrheit des Seyns (die aletheia) ungegründet blieb, sofern nicht weiter nach ihr gefragt wurde. Dieses Unbewältigte ist das erste im Übergang zum anderen Anfang zu Bewältigende und Zuerwägende, in das das Denken im Schrecken und in der Scheu ver-setzt wird und in das sich in der Lust das Fragen weitet. Indem aber das Unbewältigte des ersten Anfangs, die Gründung der aletheia, in die fragende Besinnung gehoben wird, wird der erste Anfang erst in seine verborgene Größe zurückgestellt, in der die Möglichkeit des anderen Anfangs beschlossen liegt. So übersteigt der erste Anfang den anderen Anfang, der aber wiederum erst durch das Ende des ersten Anfangs möglich und ernötigt wird und darin diesen übersteigt. Die Anfänge übersteigen sich wechselweise im Zuspiel aus dem "treibenden Ansturm des Ja zum Unbewältigten", im "Übersichhinausfahren in das uns Überhöhende", in der "Befreiung zum verborgen Zwingenden". Dieses letztere ist im Zuspiel die Wahrheit des Seyns als Verweigerung, die aus der Not der Seinsverlassenheit anklingt. Im Seyn als Verweigerung liegt das Unbewältigte und uns Überhöhende (letzteres ist aus der transzendental-horizontalen Sicht gesprochen). Der "treibende Ansturm des Ja zum Unbewältigten", das Übersichhinausfahren und die Befreiung sind deshalb nicht einfach als eine Lust im Sinne eines grenzenlosen Vorstürmens zu begreifen, sondern aus der Verhaltenheit im eröffnenden Gegenhalt zur zuweisenden Verweigerung der Wahrheit des Seyns. Das fragende Denken entfaltet sich im Zuspiel aus der Verhaltenheit in der Lust der wechselweisen Übersteigung der Anfänge. b) Die übergängliche Aus-einander-setzung von erstem und anderem Anfang Thema des Zuspiels ist die in der Lust der fragenden wechsel weisen Übersteigung der Anfänge sich haltende Auseinandersetzung des ersten und des anderen Anfanges. In diesen Wesensbereich des Ereignisses gehört, wie Heidegger im ersten Abschnitt des Zuspiels vermerkt, "die Unterscheidung von Leitfrage und Grundfrage"; aus ihm entspringen "alle Vorlesungen über 'Geschichte' der Philosophie" (ebd., 81. Abschnitt, S.l69). Es soll in den folgenden Besinnungen nicht abermals Heideggers Auslegung

§ 7. Das Zuspiel

151

der Geschichte der Metaphysik aus ihrem ersten Anfang und in ihrem Ende dargestellt werden. Solches wurde im Hinblick auf das Wesen des Grundes im § 2 bereits versucht und kam auch im Anklang wiederholt zur Sprache. Vielmehr soll auf die im Zuspiel waltende "Auseinandersetzung" von erstem und anderem Anfang abgehoben werden, um den geschichtlichen Gang des Übergangs näher zu erörtern, den das anfängliche Denken der Beiträge er-denkend eröffnet. Leitende Frage wird hierbei sein, wie die Metaphysik in den Übergang hereinsteht und wie bereits der andere Anfang das übergängliche Denken bestimmt. Das Zuspiel hebt im 81. Abschnitt der Beiträge an mit den Worten: "Die Auseinandersetzung der Notwendigkeit des anderen Anfangs aus der ursprünglichen Setzung des ersten Anfangs." (ebd.)

Im Wort "Aus-einander-setzung" hören wir dreierlei: Im "Aus-" liegt die Scheidung und der Ursprung; im "einander" die wechselweise Zukehr im Sichscheiden; in der "-setzung" schließlich jenes, was die Bewegtheit des Auseinander und Zueinander in der einigenden Scheidung hält. In diesem Sinne ist auch die als geschichtliche Besinnung sich vollziehende Auseinandersetzung des ersten und des anderen Anfangs zu begreifen. Der erste und der andere Anfang sind nicht einfach als zwei beginnliche "Augenblicke" in einer linear ablaufenden Zeit vorzustellen. Solche historische Vorstellung drängt sich jederzeit auf, vermag es aber niemals, die eigenste Aufgabe der in der Not der Seinsverlassenheit aufbrechenden geschichtlichen Besinnung zu vollbringen, nämlich den anderen Anfang in der Auseinandersetzung mit dem ersten Anfang in die Entscheidung zu stellen. Der erste und der andere Anfang ent-scheiden sich als der erste und der andere zu diesem ersten im Zuspiel. Das in der Auseinandersetzung eröffnete Zwischen des Übergangs eröffnet erst den ersten und den anderen Anfang als solche und bringt sie ins Spiel. Wie dies? Die Notwendigkeit des anderen Anfangs erwächst aus der ursprünglichen Setzung des ersten Anfangs. Diese wird im übergänglichen Denken in zweierlei Hinsicht vollzogen: Zum einen aus dem Begreifen des wesentlichen Endes des ersten Anfangs in der Erfahrung der Seinsverlassenheit, was zugleich (zum anderen) ein ursprünglicheres Begreifen und darin Setzen seines Anfangs erfordert. Die äußerste Seinsverlassenheit wird als solche nur erfahren, wenn sie als Wesensfolge der ungegründet gebliebenen aletheia begriffen wird. Die ursprüngliche Setzung des ersten Anfangs unterliegt im gewohnten Denken allzu leicht der Deutung, hier werde die Metaphysik endgültig abgefertigt und werde nun doch dem vorstellenden Denken als fertiges Gebilde dargebracht. Heideggers geschichtliche Vorlesungen können durchweg historisch verstanden werden, denn, wie er selbst bemerkt, unterscheidet sich die äußere

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B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

Fonn seiner geschichtlichen Besinnungen in Nichts von dem, "was nur noch eine nachträgliche Gelehrsamkeit zu einer abgeschlossenen Geschichte der Philosophie darstellt" (ebd., S.170). Es gilt also den ersten Anfang anfänglich aus der als Zuspiel sich öffnenden Auseinandersetzung zu denken und d.h. diesen ersten Anfang in seiner Fragwürdigkeit offen zu halten aus der Not der Seinsverlassenheit in der Scheu vor der als Verweigerung anklingenden Wahrheit des Seyns in der fragenden geschichtlichen Besinnung auf die erstanfängliche griechische physis und aletheia als den verborgenen, unbewältigten, weil ungegründet gebliebenen Grund der Metaphysik. Das übergängliche Denken darf, sagt Heidegger, "nicht der Versuchung verfallen, das, was es als Ende und im Ende begriffen hat, nun einfach hinter sich zu lassen, statt dieses hinter sich zu bringen, d.h. jetzt erst in seinem Wesen zu fassen und dieses gewandelt in die Wahrheit des Seyns einspielen zu lassen" (ebd., S.l73). Die Metaphysik muß der Philosophie "jetzt erst in ihrer Wesensunmöglichkeit zugespielt und die Philosophie selbst so in ihren anderen Anfang hinübergespielt werden" (ebd.). Erst das Begreifen des Endes des ersten Anfangs ernötigt den anderen Anfang. Dieses Andere, als die Wesensunmöglichkeit der Metaphysik in der bedingungslosen Herrschaft der Machenschaft und des Erlebnisses, muß vom übergänglichen Denken so hinter sich gebracht werden, daß es diesem gewandelt zugespielt wird. Es gilt also weniger, sich das Ende als einen die Metaphysik abgrenzenden Grenzpunkt vorzustellen, als es aus seinem Wandel zu begreifen, in dem es in den Übergang zum anderen Anfang hineinspielt. Sobald die Metaphysik in ihrem Ende begriffen wird, rückt sie auch schon in den Übergang. Sobald aus der Not der Seinsverlassenheit in der verhaltenen Besinnung auf den erstanfänglichen Einsturz der aletheia und die ihm folgende Geschichte der Metaphysik diese in ihrem Ende begriffen wird, klingt aus der Not der Seinsverlassenheit die Wahrheit des Seyns als Verweigerung an. Das geschichtliche Ende der Metaphysik ernötigt erst die Not und aus ihr spielt dieses Ende gewandelt in den Übergang hinein, sofern es als Verweigerung und d.h. aus der Wahrheit des Seyns begriffen wird. "[ ... ] im übergänglichen Denken kommt alle Rede von 'Metaphysik' in die Zweideutigkeit" (ebd., S.l7l). In der Zweideutigkeit steht die Metaphysik, weil sie zum einen gedeutet werden kann als die Geschichte der Leitfrage nach dem Seienden in seiner Seiendheit (ti to on), der ihr eigener Ursprung verborgen bleiben muß; zum anderen kann die Metaphysik aus der Grundfrage nach der Wahrheit des Seyns in einer ursprünglicheren Zueignung des ersten Anfangs in ihr ursprüngliches Wesen zurückgegrundet werden, d.h. aus der Wahrheit des Seyns als ein Geschick derselben begriffen werden.

§ 7. Das Zuspiel

153

Die gewandelte Weise, wie das Ende der Metaphysik in den Übergang hineinspielt entspringt dem Wandel von der Leitfrage zur Grundfrage, wobei die Leitfrage als solche freilich erst aus der Grundfrage zu Tage tritt. Mit der ursprünglichen Zueignung des ersten Anfangs in der Grundfrage 39 ist, sagt Heidegger, alle Metaphysik überwunden (ebd., S.171), weil diese nun in ihrem Wesen erkennbar wird, und d.h., daß sie schon verwandelt in den Übergang, in die Aus-einander-setzung, gerückt ist. Das übergängliche Denken fragt im Fragen der Grundfrage nicht mehr metaphysisch, sondern anfänglich, und auch nicht mehr erstanfänglich (denn der erste Anfang wird gerade in seinem Ende begriffen), sondern aus dem möglichen anderen Anfang. Das Ende des ersten Anfangs spielt mithin in einem ganz wesentlichen Sinne in den Übergang hinein. Es ist der Stoß (aus der ver-setzenden Not) in den Übergang, der die Metaphysik aus der ursprünglichen Zueignung verwandelt und sie darin gerade aus dem Anschein der Vergeblichkeit herausnimmt. Denn erst jetzt wird einsichtig, daß zum Wesen des Seyns die Verweigerung gehört und erst jetzt öffnet sich die Notwendigkeit der Gründung der Wahrheit des Seyns: "Der Um-weg [der Metaphysik] führt ja doch erst in die Not der Verweigerung und in die Notwendigkeit, das zur Entscheidung zu erheben, was erstanfänglich nur der Wink eines Geschenkes war (physis, aletheia), das sich nicht fassen und bewahren ließ." (ebd., S.434) Wir haben bislang versucht, die ursprüngliche Setzung des ersten Anfangs zu erörtern, aus der die Notwendigkeit des anderen Anfangs erwächst, um die im Zuspiel waltende Aus-einander-setzung und damit den Übergang, als welcher das Denken der Beiträge sich vollzieht, näher zu begreifen. Es wurde entfaltet, inwiefern die ursprüngliche Setzung des ersten Anfangs im Begreifen seines Endes aus seiner ursprünglichen Zueignung im Fragen der Grundfrage erfolgt. Diese fragt aber bereits übergänglich aus dem anderen Anfang, und so zeigt sich, daß die Setzung des ersten Anfangs nicht etwa eine Voraussetzung für den anderen Anfang ist, sondern daß beides - die Setzung des ersten Anfangs durch den besinnenden Rückgang in ihn und das Eröffnen des anderen Anfangs im Übergang - ein und dasselbe Geschehen sind: 'Der Einsprung in den anderen Anfang ist der Rückgang in den ersten und umgekehrt." (ebd., S.185) Der "Rückgang" kann hier natürlich nicht heißen, daß wir nochmals zurückgehen können in den ersten Anfang. Dieser muß vielmehr in seinem wesentlichen und endgültigen Ende als Stoß in den Übergang zu dem anderen Anfang bewahrt bleiben. Der Rückgang in den ersten Anfang, der sich als seine ursprüngliche Setzung vollzieht, ist, so Heidegger, "eher und gerade Entfernung von ihm"

39 Als Freilegung des ersten Anfangs sowie der metaphysischen Grundstellungen ist bei Heidegger die Destruktion zu verstehen. Vgl. ebd., S.179 und 221.

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B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

(ebd.), in welcher Ent-fernung gerade das Aus-einander-setzen zu hören ist, in dem die Notwendigkeit des anderen Anfangs sich ent-scheidet. Den Rückgang in den ersten Anfang bedenkt Heidegger auch als "Wiederholung"40 • Damit ist gemeint: "das selbe, die Einzigkeit des Seyns, wieder und somit aus einer ursprünglicheren Wahrheit zur Not werden zu lassen. 'Wieder' besagt hier gerade: ganz anders" (ebd., S.73).

Die Wiederholung der Seinsfrage (der schon Heideggers Grundwerk Sein und Zeit gilt) fragt wohl nach ein und demselben Geschehen des Seyns in seiner Wahrheit, das sich aber geschichtlich gewandelt zuschickt. Die Wiederholung der Seinsfrage in der Endzeit der Metaphysik fragt aus einer anderen Not und d.h. anders als im ersten Anfang. Nicht mehr waltet die Not, das Seiende in der Beständigkeit und Anwesenheit zu halten, sondern nun waltet die Not, gerade die sich im Sichverweigern des Seyns bekundende Verborgenheit der Wesung des Seyns zu wahren. In eins mit der äußersten Seinsverlassenheit als geschichtliche Wesungsweise der Wahrheit des Seyns in der Endzeit der Metaphysik gibt sich also die Möglichkeit einer ursprünglicheren geschichtlichen Gründung der Wahrheit des Seyns als Ereignis. Unter dem Geleit der Notwendigkeit dieser Gründung steht das übergängliche Denken, dem zunächst aufgegeben ist, aus dem grundstimmungshaft versetzenden Zuspruch des Seyns als Verweigerung im ereigneten Entwurf aus der Verhaltenheit den ursprünglichen Entscheidungsraum (die Wahrheit des Seyns) im Da-sein zu gründen, in dem sich allererst das Nichterzwingbare entscheiden kann, ob dem Abendland nochmals ein geschichtegründender Anfang gewährt wird oder nicht. c) Das verwandelte Hereinstehen der Metaphysik in den Übergang Die vorbereitende Gründung des Da-seins durch das übergängliche Denken im Hinblick auf einen möglichen anderen geschichtlichen Anfang muß Einem umso abenteuerlicher erscheinen, je mehr man sein Augenmerk auf die momentane geschichtliche Situation richtet und darauf, wie wir heutigen Menschen darin stehen, die wir weitgehend oder ganz dem Gesetz der Machenschaft und des Erlebnisses als der herrschenden Seinsweise unterliegen. Und selbst wo die Not des äußersten Entzugs denkerisch ausgestanden wird und das Denken gewandelt in den Übergang rückt, bleibt die Endzeit der Metaphysik die vielfach herrschende geschichtliche Wesungsweise. Denkerisch ist im Ereignisdenken die Metaphysik im Übergang überwunden; geschichtlich bleibt sie auch noch bestehen, für das übergängliche Denken jedoch so, daß sie, wie wir sahen,

40

Vgl. ebd., S.185.

§ 7. Das Zuspiel

155

verwandelt in den Übergang hereinsteht, sofern sie jetzt erst in ihrem Wesen erkennbar wird. Das Wesen des geschichtlichen Übergangs und des übergänglichen Denkens bleibt dennoch eine der schwierigsten Fragen, besonders in Anbetracht der Rolle, die die Metaphysik darin noch spielt. Es soll im folgenden deshalb näher erörtert werden. Wir hörten bereits, daß, auch wenn das übergängliche Denken aus dem anderen Anfang fragt, es doch noch nicht jenes andere Fragen vennag, in dem "die Geschichte des Seyns selbst [... ] zum Ereignis wird" (ebd., S.430); es vennag "noch nicht die freie Fuge der Wahrheit des Seyns aus diesem selbst zu fügen" (ebd., S.4). Solches Unvennögen hat seinen verborgenen Grund in der geschichtlichen Wesungsweise der Wahrheit des Seyns als Ent-eignis. Die tiefe Verwandlung, die der darin aufbehaltenen Not entspringen kann, in der das Ereignis aus der Verweigerung anklingt, muß sich ihren eigenen Zeitraum im Verborgenen erst erwirken. Die geschichtliche Umwälzung, die sich in der Not der Seinsverlassenheit anbahnt, hat ihren vom Denken unverfügbaren und doch dieses in Anspruch nehmen müssenden eigenen Zeit-Raum, der aus dem Vorstellen einer linear ablaufenden Zeit niemals begriffen werden kann. Das übergängliche Denken tritt auch nicht einfach an die Stelle des metaphysischen Denkens, denn es verlangt zuvor die Verwandlung des Wesens des Menschen vom anima I rationale zum Da-sein (Sein und Zeit). Besser gesagt steht das Wesen des Menschen aus der Gründung der Wahrheit des Seyns im Da-sein erneut anfänglich zur Entscheidung. Dieser Entscheidungs-Zeit-SpielRaum wird durch das übergängliche Er-denken der Wahrheit des Seyns aus dieser selbst erst eröffnet, um darin die Zukünftigen als jenes Menschsein vorzubereiten, "das in seiner Gründer- und Wächterschaft zuvor stark genug und wissend genug werden soll, den lang angezeigten, aber noch länger verweigerten Stoß des Seyns zu empfangen und die Ermächtigung des Seyns zu seiner Wesung in einen einzigen Augenblick der Geschichte zu sammeln" (ebd., S.430).

Das übergängliche Denken steht wohl ganz im Dienste des anderen Anfangs, in ihm erschließt sich anfänglich die Geschichte des Übergangs; und doch kann es, wie Heidegger sagt, die "metaphysische Gewöhnung" nicht einfach "mit einem Gewaltstreich" abschütteln, und "muß der Mitteilung wegen oft noch in der Bahn des metaphysischen Denkens gehen und dennoch stets das Andere wissen" (ebd.). Die Bahn des metaphysischen Denkens geht Heidegger dort, wo er aus der transzendental-horizontalen Blickbahn die Sprache der Metaphysik spricht. Er tut dies in Sein und Zeit und in seinen geschichtlichen Vorlesungen. Aber auch in den Beiträgen schwingt die Sprache zuweilen in eine metaphysische Redeweise und damit Blickbahn ein. Entscheidend ist dabei, daß dieses

156

B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

metaphysische Sprechen dennoch "stets das Andere wissen" muß. Dieses Andere muß als stimmender Grundton aus der Verweigerung das Denken bestimmen. Und wenn dieser stimmende Grundton nicht gehört wird und der verschwiegene, anfängliche Grund der Geschichtlichkeit des Übergangs nicht mitbedacht wird, muß der Anschein bestehen bleiben, Heidegger bleibe vielfach und vor allem in seiner transzendental-horizontalen Blickbahn in der Metaphysik verstrickt. Der stimmende Grundton (Verhaltenheit) aus dem Sichverweigern des Seyns ist das im Gesagten Ungesagte, das Er-schwiegene, dem sich der Versuch einer ursprünglichen Auslegung von Heideggers Denken zu-wenden muß, um dieses von seinen wesentlichen Möglichkeiten und nicht in seinen venneintlichen Schwächen zu begreifen. Der stille Grundton, in dem das Wissen um das Ereignis geborgen liegt, ist jenes, was verhindert, daß das Gedachte zu einer Reihe feststellbarer Aussagesätze verflacht. Er hält das Gesagte im Offenen seines Sichverbergens und d.h. in seiner wesentlichen Fragwürdigkeit. Solange das "Andere" aus der Verhaltenheit das Gewußte bleibt, kann dieses, daß das übergängliche Denken "oft noch in der Bahn des metaphysischen Denkens" geht, nicht heißen, das Denken im Übergang habe die Metaphysik doch noch nicht überwunden, weil die Metaphysik aus der stimmenden Not der Seinsverlassenheit venvandelt in den Übergang hereinsteht, indem sich ihr (der Metaphysik) verborgener (nicht metaphysischer) Grund öffnet. Das geschichtliche Denken des Übergangs waltet im abgründigen Grund der Geschichte der Metaphysik, deren Ende sich lang hin erstreckt, zumal sie "jetzt in das Geschichtslose übergeht [Machenschaft, Erlebnis], ja dieses erst eröffnet" (ebd., S.431). Es bleibt jedoch "in der eigenen Tiefe verborgen, [... ] in der Klarheit eines schweren Dunkels der sich selbst wissenden, in der Besinnung erstandenen Tiefe" (ebd.). Das übergängliche Denken folgt also nicht etwa vulgärzeitlich der Geschichte der Metaphysik, sondern bahnt sich seinen Weg aus und in ihrem Grunde in einem ganz anderen Bereich der Geschichte41 , der der Metaphysik selbst verschlossen bleiben muß, und umso hartnäckiger verschlossen bleibt, je mehr in der Vonnacht des "Seienden" in der Machenschaft und dem Erlebnis das Seiende sich vom Seyn entwurzelt und dadurch der Geschichte des Seyns verlustig geht. Der Zeitraum des Übergangs öffnet sich dabei aus dem Wechselzuspiel von erstem und anderem Anfang, so aber, daß dieses ursprünglich schon dem anderen Anfang entspringt, der aus dem Ereignis in der Not der Seinsverlassenheit grundstimmungshaft eröffnet wird.

41

Vgl. ebd., S.227 und den folgenden § 8.

§ 8. Der Sprung

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d) Das Verhältnis von Anklang und Zuspiel zum Sprung Heidegger weist darauf hin, daß das Begreifen, daß die geschichtliche Besinnung als Zuspiel übergänglich dem anderen Anfang entspringt, ''bereits den Sprung verlangt" (ebd., S.169). An anderer Stelle hieß es jedoch, aus dem Wechselzuspiel VOn erstem und anderem Anfang erwachse erst "die Vorbereitung des Sprunges" (ebd., S.9) als einern ersten Vordringen in den Bereich der Seynsgeschichte (ebd., S.227). Wir entnehmen dem, daß in den Beiträgen das Verhältnis von Anklang und Zuspiel zum Sprung in zweifacher Hinsicht zu sehen ist. Zum einen in Hinsicht auf den denkerischen Vollzug und das denkerische Wissen und zum anderen in Hinblick auf die Geschichtlichkeit des Übergangs als dem Gedachten. Heidegger entfaltet in den Beiträgen das Zuspiel denkerisch bereits aus dem Sprung, obgleich das Zuspiel und der Anklang im gedachten geschichtlichen Gang des Übergangs, d.h. in einern engeren Sinne, noch nicht den Sprung (und darin das Wissen des anderen Anfangs) verlangt, sondern ihn erst vorbereitet. Da der Sprung ein Unerzwingbares ist und vorn Seyn selbst ereignet, ist es einsichtig, wieso Heidegger in seinen öffentlichen Schriften, den geschichtlichen Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen zumeist im Bereich von Anklang und Zuspiel verbleibt. Heideggers Bemühen bleibt dort weitgehend dabei, durch eine vollständige Entfaltung der Leitfrage in ihrem Anfang, ihren vielgestaltigen metaphysischen Grundstellungen und in ihrem nötigenden Ende "einen Übergang zum Sprung in die Grundfrage zu schaffen" (ebd., S.233). Auch die fundamentalontologische Besinnung von Sein und Zeit wird von Heidegger selbst erst als "Übergang zum Sprung" (ebd., S.234) oder auch "Anlauf für den Sprung" bezeichnet (ebd., S.228). Sie gehört damit bereits in den Übergang, genauer in den Wesensbereich von Anklang und Zuspiel in einern engeren Sinn, sofern diese als solche noch nicht eigens seynsgeschichtlieh aus dem Sprung begriffen sind. § 8. Der Sprung

a) Der Sprung in das Seyn als Verweigerung Der Sprung wurde im § 4 anband des zentralen 122. Abschnitts entfaltet als der denkerische Vollzug des Entwurfs der Wahrheit des Seyns, in dem der Werfer (der Denker) sich als vorn Seyn selbst er-eignet erfährt. Er ist der Sprung in die volle Wesung der Wahrheit des Seyns als Ereignis, in den Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit. In der Zugehörigkeit zum Seyn ist das Denken aus der Grundstirnrnung der Verhaltenheit inständig im Offenen der Wesung des Seyns und versucht diese aus der wesenhaften Zugehörigkeit ins

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begreifende Wort zu heben. 42 In der dritten Fuge des Gefüges des übergänglichen Denkens wird somit erstmals vorrangig das Ereignis zu einer ersten wesenhaften Entfaltung gebracht. 43 Wir finden aber auch immer wieder Besinnungen auf den "Absprungsbereich", nämlich Anklang, Zuspiel (im engeren Sinne), und darin der Übergang von der Leit- zur Grundfrage, und Sein und Zeit. Mit dem "Absprungsbereich" soll freilich nicht gemeint sein, daß dieser im Sprung verlassen wird, vielmehr wird er ursprünglicher ersprungen und aus dem Ereignis ins Wissen gehoben. Anklang und Zuspiel sind für den Sprung vorbereitend in dem Sinne, daß in ihnen der erste eröffnende Stoß in das übergänglieh anfängliche Wesen der Wahrheit des Seyns - in der denkerischen Entfaltung der Not der Notlosigkeit aus dem Unwesen des Seyns durch die geschichtliche Besinnung auf die Metaphysik aus ihrem Anfang - aufgefangen wird. Damit wird der Wesensbereich der Wahrheit des Seyns, in den der Sprung vollzugshaft einrückt, bereits in seiner äußersten Dimension vorbereitend eröffnet bzw. bereitgestellt für den gründenden Sprung. Anklang und Zuspiel sind in den Beiträgen aber bereits als solche aus dem Vollzug des Sprungs gedacht in ihrer wesenhaften Zugehörigkeit zum ganzen Gefüge der Wahrheit des Seyns im Übergang. Vom Sprung sagt Heidegger in dem die Fuge eröffnenden 115. Abschnitt der Beiträge ("Die Leitstimmung des Sprungs"): "Der Sprung, das Gewagteste im Vorgehen des anfänglichen Denkens, läßt und wirft alles Geläufige hinter sich und erwartet nichts unmittelbar vom Seienden, sondern erspringt allem zuvor die Zugehörigkeit zum Seyn in dessen voller

Vgl. GA 65, S.241. Der Sprung ist der entscheidende und zu vollziehende Schritt, der erst das ganze Gefüge des Ereignisses ursprünglich eröffnet. Es ist deshalb durchaus verständlich, daß George Kovacs in seinem Aufsatz: The leap (der Sprung) for Being in Heidegger's Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (in: Man and World 25, 1992, S.39-59) die Fuge ''Der Sprung" als jene Fuge bezeichnet, die "letztlich alle anderen Fugen zusammenfügt (sie artikuliert, orchestriert)" ["ultimately joins togeher (articulates, orchestrates) all the other joinings") (ebd., S.45). Da jedoch der Sprung ereignet ist und somit das Ereignis im Übergang die fügende Mitte bildet, aus der sich die sechsfache Fuge entfaltet, scheint es mir problematisch, den Sprung zu der Kernfuge zu erheben, denn jede Fuge ist gedacht aus dem Ereignis und jede gewährt somit einen je eigenen Zugang zum Ganzen des Gefüges der Wahrheit des Seyns aus diesem selbst. Kovacs begeht auch den Irrtum, die Wesung des Seyns mit "coming to presence" d.h. "in die Anwesenheit kommen" zu übersetzen, mit der Begründung, letztlich spreche das Seyn als Ereignis von der Eröffnung des Seyns und nicht von dessen Verschlossenheit. Damit verkennt Kovacs die wesenhafte Zugehörigkeit des Nichts zum Seyn, der Verbergung zur Entbergung im Offenen der Wahrheit des Seyns, und sieht nicht, inwiefern der Sprung gerade das Seyn in seinem Sichverweigern erspringt. 42 43

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Wesung als Ereignis. Der Sprung erscheint so im Schein des Rücksichtslosesten und doch ist er gerade gestimmt von jener Scheu [... l, in der der Wille der Verhaltenheit sich übersteigt zur Inständigkeit des Ausstehens der fernsten Nähe der zögernden Versagung." (GA 65, S. 227)

Der Sprung ist ein Wagnis. Er wirft alles Geläufige hinter sich, und d.h. vor allem den vertrauten Bereich des Seienden in seiner, den neuzeitlichen Menschen sichernden, Bestandhaftigkeit; er überspringt (und läßt hinter sich) die metaphysische Blickbahn zum einen der Metaphysik, also die maßgebende Rolle des Seienden für den Überstieg zur Seiendheit, zum andern von Sein und Zeit, sofern auch hier die Perspektive von Transzendenz und Horizont maßgebend bleibt. Das Wagnis, das das Denken im Sprung vollzieht, kann aber niemals aus dem begriffen werden, was es hinter sich wirft (und so ursprünglich vor sich bringt, wie wir aus dem Zuspiel wissen), denn so unterschiede es sich in nichts von blinder Kühnheit. Es kann erst aus dem ermessen werden, was es wagt, bzw. wohin der Sprung das Denken einrücken läßt: die Wahrheit des Seyns als Er-eignis. Diese ist nicht mehr als metaphysischer Grund zu verstehen, sondern als abgründiger Grund, der im Gegenschwung von ereignendem Zuruf des sichverweigernden Seyns und ergründendem Entwurf des Daseins gründet. Der Sprung ist ein Wagnis, weil das Gewagte sich erst in seinem Vollzug erschließt. Vor dem Sprung bleibt die Wahrheit des Seyns ein Unerwägbares und im Sprung wird sie erwogen, d.h. denkerisch in verschiedenen Weiten und Graden allererst eröffnend ermessen und ins Wort gehoben. Die Wahrheit des Seyns hört, wenn sie ersprungen wird, nicht auf, ein Wagnis zu sein. Vielmehr erschließt sie sich gerade dann als das Befremdliche, Abgründige und stets gründend zu Erwägende. Daß das Wagnis des Sprungs vollzogen wird, ist auch keine bloße Willkür, sondern entspringt der erfahrenen Not des Sichverweigerns des Seyns (Anklang, Zuspiel), die im Sprung gerade ursprünglicher ersprungen wird, so daß die Not um so nötigender wird und, wie Heidegger sagt, "das denkerische Sagen vom Sein zum Wort zwingt" (ebd., S.242). b) Die Scheu als die Leitstimmung des Sprungs Die Leitstimmung des Sprungs ist die Scheu, die schon als jenes Moment der Grundstimmung des anfänglichen Denkens erörtert wurde, das den 'Willen" der Verhaltenheit noch überwächst (ebd., S.l5), insofern in ihm vor allem die Zukehr zum sichversagenden Seyn liegt. Im 155. Abschnitt wird dieses "Überwachsen" aus der Verhaltenheit selbst gedacht, indem gesagt wird, in der Scheu übersteige sich der Wille der Verhaltenheit "zur Inständigkeit des Ausstehens der fernsten Nähe der zögernden Versagung" (ebd., S.22?). Im Sichübersteigen des Willens ist die Weise angezeigt, in der die Scheu aus der einheitlichen Grundstimmung der Verhaltenheit und d.h. im Einklang mit den Leitstimmun-

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gen des Anklangs (Schrecken) und Zuspiels (Lust des fragenden Sichübersteigens der Anfänge) den Sprung stimmt und be-stimmt. Der Sprung erspringt die Zugehörigkeit zum Seyn, die sich öffnet in der Scheu vor dem sichverweigernden Seyn, in der die innigste Zukehr zu diesem waltet, ohne daß der in der Verhaltenheit waltende Schrecken, d.h. das "Zurückfahren vor" beseitigt würde. Die Innigkeit der Zukehr zum Sichverweigern des Seyns sammelt sich im anfänglichen Denken des Sprungs in die Inständigkeit des Ausstehens, d.h. Offenhaltens der Verweigerung, im "sein" des "Da". In der Inständigkeit wird die "fernste Nähe" der "zögernden Versagung" ausgestanden. Während im Begriff "fernste Nähe" das "fern" auf die Versagung verweist, in der, wie im Anklang schon erörtert wurde, die äußerste Feme des letzten Gottes waltet, ist die "Nähe" aus dem "Zögern" zu begreifen, d.h. aus dem Offenhalten des Sichverweigerns in der Verhaltenheit und Scheu, in dem die Feme zu einer Nähe wird. Die "fernste Nähe" nennt die zeit-räumliche Dimension, in der sich die Wahrheit des Seyns als zögernde Versagung in der von der Scheu gestimmten Inständigkeit des Da-seins in ihr Äußerstes ausspannt. c) Der übergängliche, vorbereitende Charakter des Sprungs Bevor wir dazu übergehen, diese im Sprung ersprungene und in der durch die Scheu gestimmten Inständigkeit ausgestandene volle Wesung der Wahrheit des Seyns als Er-eignis näher darzulegen, soll nochmals die Geschichtlichkeit des Übergangs im Sprung und damit auch der übergängliche bzw. vorbereitende Charakter des Sprungs in Erwägung gezogen werden. ''Der Sprung", so beschließt Heidegger den 115. Abschnitt der Beiträge, "ist das Wagnis eines ersten Vordringens in den Bereich der Seinsgeschichte." (ebd., S.227) Dieser Bereich ist nicht etwa völlig außerhalb oder jenseits der Metaphysik vorzustellen, sondern er erschließt sich aus dem Anklang im Zuspiel als der abgründige Grund der Metaphysik selbst, so aber, daß sich dabei zugleich anfänglich die Möglichkeit eines anderen Anfangs erschließt. Der Bereich der Seinsgeschichte ist mithin nicht etwa "eine noch nicht gewesene 'Periode'" (ebd.), sondern ein ganz anderer Bereich der Geschichte, nämlich jener Bereich, in dem das Wesen des Seyns als Ereignis anfänglich zur Entscheidung steht, und er öffnet sich im anfänglichen Denken nur im der Not des Seyns entspringenden gründenden Sprung. Im Sprung öffnet sich der Bereich der Seinsgeschichte anfänglich, aber auch erst übergänglich als Geschichte des Übergangs vom ersten zum anderen Anfang.

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"Hier im Übergang bereitet sich die ursprünglichste und deshalb geschichtlichste Entscheidung vor, jenes Entweder-Oder, dem keine Verstecke und Bezirke des Ausweichens bleiben: entweder dem Ende verhaftet bleiben und seinem Auslauf und d.h. erneuten Abwandlungen der 'Metaphysik', die immer grober und grundund zielloser werden (der neue 'Biologismus' und dgl.), oder den anderen Anfang anfangen, d.h. zu seiner langen Vorbereitung entschlossen sein." (ebd., S.229)

Im Übergang, in den das anfängliche Denken im Sprung einrückt, wird die Entscheidung entweder des Verhaftetbleibens im Ende des ersten Anfangs oder des Anfangens des anderen Anfangs vorbereitet. Es ist die ursprünglichste Entscheidung, denn hier geht es um die Möglichkeit eines geschichtlichen Anfangs überhaupt, die im Verhaftetbleiben im Ende des ersten Anfangs aus der vorantreibenden Entwurzelung des Seienden immer endgültiger verschlossen wird. Diese Entscheidung ist letztlich eine Entscheidung "über Geschichte oder Geschichtsverlust, d.h. über Zugehörigkeit zum Seyn oder Verlassenheit im Unseienden" (ebd., S.I00). In der denkerischen Vorbereitung des anderen Anfangs ist dieser wohl schon in der Hinsicht entschieden, daß das Denken sich im Sprung aus der andersanfänglichen Grundstimmung als vorn Seyn er-eignet erfährt, das als Verweigerung das Denken in das Beständnis des Da-seins und somit in die Vorbereitung der Gründung der Wahrheit des Seyns nötigt. In der ernötigten Vorbereitung des anderen Anfangs ist dieser schon entscheidungshaft eröffnet in seiner Unentscheidbarkeit. Vorbereitend kann der Sprung deshalb nur sein, weil die genannte geschichtliche Entscheidung nicht im Gernächte des Menschen liegt. Im 120. Abschnitt der Beiträge steht dazu: "Der Sprung ist die Er-springung der Bereitschaft zur Zugehörigkeit in das Ereignis. Anfall und Ausbleib der Ankunft und Flucht der Götter, das Ereignis, ist nicht denkmäßig zu erzwingen, wohl dagegen ist denkerisch das Offene bereitzustellen, das als Zeit-Raum (Augenblicksstätte) die Zerldüftung des Seyns zugänglich und beständlich macht im Da-sein. Nur scheinbar wird das Ereignis durch den Menschen vollzogen, in Wahrheit geschieht das Menschsein als geschichtliches durch die das Da-sein so oder so fordernde Er-eignung." (ebd., S.235f)

Hier wird zunächst genauer der Sprung als ''Er-springung der Bereitschaft zur Zugehörigkeit in das Ereignis" gefaßt. In der ''Er-springung'' hören wir wieder das vollzugshaft anfänglich Eröffnende des Sprungs heraus. Er-sprungen wird aber nicht direkt die Zugehörigkeit in das Ereignis, sondern die Bereitschaft dazu. Inwiefern? Wenn sich im Sprung das Denken in seiner Zugehörigkeit zum Seyn erfährt, kann die Bereitschaft wohl kaum so zu verstehen sein, als ginge sie der Zu-

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gehörigkeit in dem Sinne voraus, daß mit ihr diese noch nicht gewährleistet sei. Vielmehr muß die Bereitschaft die Weise nennen, in der die Zugehörigkeit zum Seyn übergänglich ersprungen wird. Diese geschieht ja durch das er-eignende Seyn; das Ereignis ist ein im Denken Unerzwingbares. Die Bereitschaft bringt eben dies zum Ausdruck, daß in ihr der denkerische Entwurf in der Bereitschaft der Ereignung steht, daß er die Ereignung nicht bewerkstelligt, wohl aber jenen Bereich erspringt, in dem ihm die Ereignung widerfährt. In der Bereitschaft zur Zugehörigkeit in das Ereignis wird denkerisch erst das Offene bereitgestellt und so vor-bereitet, "das als Zeit-Raum (Augenblicksstätte) die Zerklüftung des Seyns zugänglich und beständlich macht im Da-sein". Wie dies zu verstehen ist, gilt es jetzt Schritt für Schritt zu erörtern. Der Zeit-Raum, der in der Fuge der Gründung als der Ab-grund entfaltet wird44, nennt die Wesung der Wahrheit selbst, die zeitigend-räumend geschieht. Sie wird durch den Sprung bestanden und offengehalten in der Inständlichkeit des Da-seins, so daß sich durch den Sprung das 'Da" als das Offene des Zeit-Raums erschließt: ''[ ... ] der Sprung läßt erst das Da, als zugehörig ereignet im Zuruf, als die Augenblicksstätte des Irgendwo und Wann entspringen" (ebd., S.236) ..

Die Wahrheit west zeitigend-räumend nur im Da-sein, in dem die Zerklüftung des Seyns zugänglich und beständlich gemacht wird. Deshalb ist das zunächst zu Bereitende und d.h. im Sprung vorbereitend zu Gründende eben das Da-sein. Das Offene des Zeit-Raums muß im Da-sein gegründet werden, im entwerfenden Innestehen in diesem Offenen selbst als dem abgründigen Grund des Da-seins45 , damit das Seyn in dieser Augenblicksstätte als die Zerklüftung wese. d) Die Zerklüftung des Seyns Zu klären bleibt jetzt diese Zerklüftung des Seyns selbst. In der Fuge "der Sprung" tragen fünf Abschnitte die Überschrift 'Die Zerklüftung" (127., 156., 157., 158. und 159. Abschnitt), davon ist beim 157. und 158. Abschnitt die Überschrift erweitert zu: 'Die Zerklüftung und die 'Modalitäten'''. Wir entnehmen dem zunächst, daß die Zerklüftung ein zentrales Thema im Sprung ist und daß sie in irgendeinem Zusammenhang mit den Modalitäten, die wir aus der Metaphysik unter den Namen Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit kennen, steht. Nun muß gesehen werden, daß die uns bekannten Modalitäten

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45

Ebd., 242. Abschnitt "Der Zeit-Raum als der Ab-grund", S.379ff. Vgl. Kap. 3.

§ 8. Der Sprung

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nicht einfach auf das Wesen des Seyns als Zerklüftung übertragen werden können. Heidegger weist vielmehr darauf hin, inwiefern das Denken der Modalitäten notwendig hinter der Zerklüftung zurückbleiben muß. Die Modalitäten sind metaphysische Kategorien, in denen die Seiendheit des Seienden bestimmt wird. Sie sind gewonnen im Ausgang vom Seienden in seinem beständigen Anwesen, wobei die Wirklichkeit in der Bestimmung der Seiendheit vor der Möglichkeit und der Notwendigkeit einen Vorrang hat. 46 Aufgrund dieser Herkunft der Modalitäten führt von ihnen aus kein Weg zu der Zerklüftung des Seyns. Wir sind deshalb aufgerufen, die Zerklüftung mit Hilfe der wenigen weisenden Worte, die Heidegger zu ihr gibt, aus ihr selbst, d.h. vom Wesen der Wahrheit selbst her, zu begreifen, was zunächst nur annähernd gelingen kann. In Hinblick auf die Fuge der Gründung, aus der die Zerklüftung erst zu einem volleren Verständnis kommen kann, soll diese in einer ersten Annäherung in zweierlei Hinsicht thematisiert werden: zum einen im Hinblick auf die in ihr wesende Zugehörigkeit des "Nicht" zum Seyn (Seyn als "Möglichkeit" bzw. Vermögen), zum anderen hinsichtlich ihrer weitesten Ausmessung im Bedürfen des Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen. Dadurch gelangt die volle Wesung der Wahrheit des Seyns, die im Sprung ersprungen wird, zu einer ersten Ausfaltung in ihren äußersten Dimensionen. 1. Die Zugehörigkeit des "Nicht" zum Seyn in der Zerklüftung Im 127. Abschnitt der Beiträge schreibt Heidegger zu Beginn: "Die Zerklüjtung. Sie ist die in sich bleibende Entfaltung der Innigkeit des Seyns selbst, sofern wir es als die Verweigerung und Umweigerung 'erfahren'." (ebd., S.244)

Und der 156. Abschnitt beginnt: "Die Zerklüjtung. Um sie in ihrem Gefüge zu wissen, müssen wir den Abgrund [...] erfahren als zugehörig zum Ereignis." (ebd., S.278)

Hier liegt jeweils der Verweis auf das Nichthafte im Wesen des Seyns (Verweigerung, Abgrund), das im Sprung als dem denkerischen Vollzug des (eigentlichen) Da-seins erfahren wird. In der den Sprung stimmenden Scheu wird gerade aus der Zukehr zum Sichverweigern dieses nichtende Geschehen des Seyns eröffnend offengehalten, und nur in dieser Inständigkeit kann die Zerklüftung gewußt werden.

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11*

Vgl. 158. Abschnitt, ebd., S.281.

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Im Wort "Zerklüftung" hören wir die Kluft, den Spalt, und weiter das Auseinanderklaffen der Kluft. Heidegger spricht bezüglich ihrer auch von der "Ausfälligkeit der Er-eignung" (ebd., S.280). Im obigen Zitat wurde das Auseinanderklaffen in der "Entfaltung" genannt. Die Ent-faltung wird gedacht aus der Innigkeit des Seyns, so daß zu ihr gleichermaßen das Insichbleiben gehört. Denn, wie wir mit Blick auf Heideggers Hölderlin-Vorlesung vom WS 34/35 sagen können, nennt die Innigkeit die ursprüngliche Einheit des Widerstreits, also das Auseinanderklaffen, das im Insichbleiben ursprünglich einig und im Auseinander gehalten wird. 47 Das Insichbleiben wird von Heidegger als eine wesentliche Kluft in der Zerklüftung genannt. Es ist "das Sein in der Zurückgebogenheit (Vermögen, aber nicht von Möglichkeit her, die immer nur bisher aus dem Seienden als Vorhandenem gedacht wurde)" (GA 65, S.281). Im Sprung in die Wahrheit des Seyns wird aus der Verhaltenheit in der Scheu das Sichverweigern bzw. das Seyn als Zerklüftung ausgestanden und im Da-sein inständig gründend offengehalten, weshalb das in der Wesung geschehende Auseinandertreten sich nicht in das Geschiedene verläuft, sondern im Auseinandertreten in sich bleibt, d.h. zurückgegründet in den Abgrund als lichtendes Sichverbergen in seiner zeiträumlichen Entfaltung. Die Zerklüftung ist in sich bleibend aus der daseinshaft gegründeten Hineingespanntheit in das in ihr wesende "Nicht", das eben nicht einfach nichts ist, sondern ursprüngliches Vermögen. Das Vermögen steht als ursprüngliche (nicht mehr metaphysisch gedachte) Möglichkeit nicht im Gegensatz zur Notwendigkeit und Wirklichkeit, sondern ist in sich zugleich ursprüngliche Notwendigkeit (das Sichverweigern ist in sich nötigend) und damit höchste Wirklichkeit. 48 Schon in Sein und Zeit denkt Heidegger die Möglichkeit ursprünglich aus der ekstatisch-horizontalen Entrückung in die temporale Erschlossenheit von Sein, aus der erst Seiendes entdeckt wird und das Dasein selbsthaft sich erschließt. Wie aufgewiesen wurde, erschließt sich hier das Sein als Möglichkeit des Daseins eigens erst im Vorlaufen in den Tod a!s der schlechthinnigen Verschlossenheit, die das Ganzseinkönnen des Daseins und darin die Erschlossenheit von Sein überhaupt erst gewährt. Diesen Zusammenhang hat auch Heidegger im Auge, wenn er im 160. Abschnitt die Zerklüftung aus dem Sein zum Tode als Wesensbestimmung der Wahrheit des Da-seins bedenkt. Im Sein zum Tode, sagt er, "verbirgt sich [...] die wesenhafte Zugehörigkeit des Nicht zum Sein als solchem" (ebd., S.282). Sie verbirgt sich, sofern sie im Sein zum

47 Vgl. GA 39, S.I17 und zahlreiche Äußerungen zur Innigkeit ebd. im 3. Kapitel des 2. Teils. 48 In einer solchen Kennzeichnung liegt freilich die Gefahr, daß das Seyn nun doch metaphysisch verstanden wird. Vgl. dazu GA 65, S.244.

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Tode geborgen ist und d.h. sofern sie darin waltet. Sie waltet aber verborgen, weil sie darin noch nicht eigens aus der Wahrheit des Seyns selbst gedacht ist. 49 In der Zugehörigkeit des Nicht zum Seyn, bzw. in der Zurückgebogenheit des Seyns liegt eine Grundbestimmung der Zerklüftung, ja Heidegger nennt sie an anderer Stelle sogar die "tiefste Klüftung"50, d.i. das Vermögen bzw. die wesentliche Möglichkeit. Seynsgeschichtlich wird diese gedacht aus dem Seyn selbst, das als Verweigerung aus der Not der Seinsvergessenheit anklingt. In der Verweigerung ist die wesentliche Möglichkeit als das Versagende und daraus nothaft immer auch Gewährende zu denken (siehe ebd.), im Sinne eines ursprünglich zeit-räumlich sich aus-spannenden Geschehnisses im nichthaften Grund der Wahrheit des Seyns. Das Seyn als Möglichkeit bzw. Vermögen aus dem in ihm sich zeitigenden Nichthaften bedenkt Heidegger auch als Reife: "Das Ereignis als die zögernde Versagung und darin die Reife der 'Zeit', die Mächtigkeit der Frucht und die Größe der Verschenkung, aber in der Wahrheit als Lichtung für das Sichverbergen. Die Reife ist trächtig des ursprünglichen 'Nicht', Reifung noch nicht Verschenkung, nicht mehr beides im Gegenschwung, selbst in der Zögerung versagt und so die Berückung in der Entrückung. Hier erst das wesende Nichthafte des Seyns als Ereignis." (ebd., S.268) In der "Wesung des Winkes kommt das Seyn selbst zu seiner Reife. Reife ist Bereitschaft, eine Frucht zu werden und eine Verschenkung. Hierin west das Letzte, das wesentliche, aus dem Anfang geforderte, nicht ihm zugetragene Ende. Hier enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns: im Wink des letzten Gottes. In der Reife, der Mächtigkeit zur Frucht und der Größe der Verschenkung, liegt zugleich das verborgenste Wesen des Nicht, als Noch-nicht und Nicht-mehr." (ebd., S.41O)

Die Reife, die wir hier im Sinne des nothaften Vermögens als die tiefste Klüftung des Seyns in Anspruch nehmen, ist Bereitschaft, eine Frucht zu

49 Das Sein zum Tode birgt in sich, wie Heidegger im 160. Abschnitt der Beiträge schreibt, neben der Grundbestimmung der Zerklüftung, die die Zugehörigkeit des Nicht zum Seyn genannt wurde, auch eine zweite Grundbestimmung: die Wesensfülle der "Notwendigkeit". Der hier waltende Zusammenhang sei nur kurz angezeigt Das Dasein ist im Sein zum Tode in die Möglichkeit der Daseinsunmöglichkeit geworfen und muß diese endliche Geworfenheit entwerfend übernehmen, um stiftend boden-nehmend begründend inmitten des Seienden im Ganzen zu sein. (Vgl. § 3 dieser Arbeit) 50 Vgl. ebd., S.475: ''Im Seyn allein west als seine tiefste Klüftung das Mögliche, so daß in der Gestalt des Möglichen zuerst das Seyn gedacht werden muß im Denken des anderen Anfangs."

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werden und eine Verschenkung. Sie west im Ereignis als zögernde Versagung und ist Bereitschaft in der Hinsicht, daß sich in ihr das Noch-nicht und das Nicht-mehr der Verschenkung zeitigt. Noch-nicht also nicht im Sinne der Innerzeitigkeit als das erst Zukünftige, das von der Gegenwart und dem Sein ausgeschlossen ist, sondern aus der ursprünglichen Zeit gedacht als das zu-künftig währende, als Gewährendes. Das Noch-nicht der Verschenkung ist zugleich ein Nicht-mehr, das kein bloß Vergangenes ist, sondern ein Gewesendes. Die Verschenkung folgt mithin nicht der Reife, noch geht sie dieser voraus. Dagegen zeitigt sich in der Reife die Verschenkung als Noch-nicht und Nicht-mehr, als ursprüngliche Möglichkeit. Solches denkt Heidegger aus dem Wink des letzten Gottes: Im Wink wird die Einheit von innigster Näherung und äußerster Entfernung aus der Flucht der gewesenden Götter und darin der möglichen Ankunft oder des Ausbleibs der künftigen Götter gedacht. Der Wink läßt die gewesenden Götter bzw. das Gotthafte nicht in ein bloßes "Nichts" verschwinden, sondern hält sie als gewesene in ihrem wesentlichen Ende offen und damit in einer einzigartigen Nähe. Derselbe Wink sammelt aber auch die mögliche Ankunft aus ihrer Ferne in der Nähe. Im Wink ent-spannt sich mithin aus dem nichthaften Sichzeitigen in der nähernden Ferne ein Zeit-Raum: der Zeit-Raum der Reife. Die tiefste Kluft in der Zerklüftung, das Seyn als Möglichkeit, weist in das ursprüngliche Sichentfalten des Zeit-Raums im da-seinshaft gründend gegründeten Abgrund der Wahrheit des Seyns. Dieses Geschehnis wird im nächsten Kapitel anhand des 242. Abschnitts "Der Zeit-Raum als der Ab-grund" eine eingehende Erörterung erfahren. Es sei nur eine erste Anzeige gegeben, wie in der im Da-sein gründend gegründeten zögernden Versagung das Seyn als Vermögen in der Zeitigung und Räumung auf-klafft bzw. sich entfaltet: Die Zeitigung geschieht als Entrückung in das Sichversagen, die Räumung als Berückung aus dem Zögern des Sichversagens, d.h. als Einräumung. Der Zeit-Raum entfaltet sich ursprünglich nichthaft: Aufklaffen und Zurückgebogenheit in den Abgrund sind ein zeitigendräumendes Geschehen in der Wahrheit des Seyns im Sinne der Lichtungfiir das Sichverbergen, das nur geschieht im nothaft ergründenden Da-sein, welches das abgründig Offene inständig besteht. 2. Die weiteste Ausmessung der Zerklüftung im Bedürfen des Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen Die zweite Hinsicht, in der nun das Seyn als Zerklüftung thematisiert wird, ist "ihre erste und weiteste Ausmessung im Bedürfen des Gottes in der einen und in der Zugehörigkeit (zum Seyn) des Menschen nach der anderen Rich-

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tung" (ebd., S.279). In der äußersten Ausmessung der Zerklüftung muß stets mitbedacht werden, was zur tiefsten Kluft des Seyns, nämlich seinem nichthaften Sichzeitigen als ursprünglich abgründigem Vermögen, und dabei als aufklaffendem Insichbleiben, gesagt wurde. Mitbedacht werden soll also das ursprüngliche Aufklaffen und die darin gehaltene Zurückgebogenheit in den Abgrund. Als solche Zerklüftung west das Seyn als Er-eignung von Göttern und Menschen. Die Er-eignung ist zu denken als eine Zuweisung aus der Verweigerung, in der der Zeit-Raum sich abgründig erbreitet in das scheidende Sichbegegnenlassen von Göttern und Menschen. Seyn west so als die gewährende "Mitte" bzw. das ursprüngliche "Zwischen" des Brauchens des Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen. Bislang wurde das Ereignis nur gekennzeichnet als der Gegenschwung von ereignendem Zuwurf des Seyns und ereignetem Entwurf des Da-sein. Jetzt gilt es, den Blick zu weiten und zu sehen, wie im ereignenden Zuwurf das Bedürfen des Seyns durch den Gott dem Menschen übereignet wird, und wie so der Mensch als Zugehöriger zum Seyn dem Gott zugeeignet wird. 51 Was heißt jedoch dies, daß der Gott oder die Götter des Seyns bedürfen? In welchem Verhältnis sind beide zu denken und wie sind darin der Gott oder die Götter zu verstehen? Der metaphysische Gottesbegriff (und vom metaphysisch gedachten Gottesbegriff - etwa bei Thomas von Aquin - soll hier allein die Rede sein) setzt Gott und Sein gleich. Wenn Gott als das summum ens gedacht wird, wird er gleich wie ein Seiendes vorgestellt. Mit einer solchen Vorstellung haben wir uns allerdings den Weg zum Gott oder den Göttern, wie Heidegger sie denkt, schon versperrt. Heidegger denkt das Gotthafte in einer denkerischen Erfahrung, deren bedeutsamste Quelle in seiner Auseinandersetzung mit dem Dichter Hölderlin liegt. Die Hölderlin-Vorlesung vom WS 34/35 gibt einigen Aufschluß darüber. Durch das Wort des Dichters, sagt Heidegger dort, werden die Götter in ihrem Winken offenbar.52 Die Götter gehen dem Winken nicht voraus, sondern wesen als Wink. Dieses Wesen erfährt der Dichter, sofern er selbst von ihm getroffen ist, und er stiftet es im dichterischen Wort, das nicht einfach als Sprachzeichen für etwas (Vorgestelltes) zu verstehen ist, sondern selbst als ein Offenbarmachen des Winkes, ein Weiterwinken der Winke der Götter. 53 Der Dichter erfährt zunächst geschichtlich die Götter in ihrer Flucht. Indem

51 Vgl. ebd., S.280: "Das Er-eignis übereignet den Gott an den Menschen, indem er diesen dem Gott zueignet [...]." 52 Vgl. GA 39, S.32. Vgl. auch § 20 der vorliegenden Arbeit. 53 Vgl. ebd ..

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B. l. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

er aber die Götter als gewesene sein läßt und im Verzicht ihre Feme aussteht und offenhält, wird ihre Göttlichkeit zugleich in einer einzigartigen Nähe bewahrt. Im Bewahren liegt jedoch, so Heidegger, die Bereitschaft zu einer möglichen Neubegegnung der Götter (GA 39, S.95ff). Der Wink versammelt wesende Feme und Nähe in der Flucht und Ankunft der Götter bzw. des Gotthaften: Die sichentfernenden Götter wesen im Wink in ihrer als vergangene wesenden Göttlichkeit, die, im Erharren der Flucht, in ihrer, wenn auch unerfüllten, Nähe gehalten, eine Bereitschaft für ein mögliches Winken des letzten Gottes (der noch erläutert wird) zeitigt. Nach dem Hinweis, daß das nicht vorstellbare "Gotthafte" sein Wesen im Wink hat, sind bezüglich der sich aufdrängenden Frage, weshalb Heidegger aus dem Gespräch mit dem Dichter einmal von "Göttern" und dann vom "letzten Gott" spricht, noch einige klärende Worte nötig. Die Rede von den Göttern, so erfahren wir im 259. Abschnitt der Beiträg~ (im abschließenden Teil "Das Seyn") hat nichts mit "Polytheismus" zu tun, "sondern bedeutet den Hinweis auf die Unentschiedenheit des Seins der Götter, ob eines Einen oder Vieler" (GA 65, S.437). "Die Unentschiedenheit, welcher Gott und ob ein Gott welchem Wesen des Menschen in welcher Weise noch einmal zur äußersten Not erstehen werde, ist mit dem Namen 'die Götter' genannt." (ebd.)

Aber hat Heidegger das Wesen des kommenden Gotthaften nicht schon bestimmt, wenn er sein seynsgeschichtliches Denken als die Vorbereitung der Zukünftigen des letzten Gottes faßt? Wie steht es mit diesem letzten Gott, von dessen Vorbeigang Heidegger immer wieder spricht? Der letzte Gott, so sagt er, muß so genannt werden, "weil zuletzt die Entscheidung über die Götter unter und zwischen diese bringt und so das Wesen der Einzigkeit des Gottwesens ins Höchste hebt" (ebd., S.406). Hier fehlt nicht etwa im Nebensatz das Subjekt. Gesagt ist, daß die Entscheidung über die Götter (wen? - d.h. auch das Wesen des Menschen steht in der Entscheidung) unter und zwischen diese bringt und daß sie so das Wesen der Einzigkeit des Gottwesens ins Höchste hebt. Der letzte Gott entscheidet nichts, sondern ist selbst zu denken als die Entscheidung über die Götter bzw. das Gotthafte. Er ist das Gottwesen (die Götterung) im Augenliek der Gründung des anderen Anfangs als Ereignis. Sein Vorbeigehen nennt nichts anderes als seine Zeitigung im geschichtegründenden Augenblick. 54 Das Gottwesen waltet hier in der Einzigkeit des geschichtegründenden Augenblicks und ist insofern ins Höchste

54 Vgl. dazu GA 39, S.lll: "... vorbeigehen, nicht bleiben, nicht ständig anwesend dastehen, d.h. der Sache nach: wesend als Gewesendes, anwesend in einem kommenden Andrang".

§ 8. Der Sprung

169

gehoben. Es waltet im Anfänglichsten und wird deshalb "der letzte Gott" genannt: "Das Letzte ist Jenes, was die längste Vor-Iäuferschaft nicht nur braucht, sondern selbst ist, nicht das Aufhören, sondern der tiefste Anfang, der am weitesten ausgreifend am schwersten sich einholt." (GA 65, S.405)

Der letzte Gott ist also als anfängliches Göttern des Gottwesens, oder, wie Heidegger in Identität und Differenz sagt: als "göttlicher Gott"55(1D, S.65) zu begreifen, der in sich aber bezogen bleibt auf die gewesenen Götter (die eben nicht mehr göttern), sofern in der Verweigerung aus der Flucht der Götter das Wesen des Gotthaften im Wink sich nähert. Dies freilich nur, wenn die Flucht daseinsmäßig in der Verhaltenheit ausgestanden wird. Gerade im Äußersten des Ausbleibs der Götter naht die Entscheidung über ihre Ankunft als äußerste Not. Im Ausstehen der äußersten Ferne des Gotthaften eröffnet sich denkerisch die Notschaft des Gottes56 : daß der Gott für seine Götterung des Seyns bedarf. Das Seyn west seinerseits nur geschichtlich als Ereignis, wenn es im Da-sein gegründet wird, und dafür braucht es den Menschen in seiner Zugehörigkeit zum Seyn57 als gegründeten Gründer der Wahrheit des Seyns im Da-sein, bzw. als jenen, der inständlich das abgründig Offene offenhält. Geschieht die Gründung des Seyns im Da-sein aber immer in der Bergung seiner Wahrheit in Werk, Tat und Denken, dann bedarf letztlich der Gott der Bergung des Seyns in seine Wahrheit: "[ ...] die Wesung des Seins gründet die Bergung und damit schaffende Verwahrung des Gottes, der je nur in Werk und Opfer, Tat und Denken das Seyn durchgottet." (GA 65, S.262)

In den verschiedenen Weisen des gründenden Bergens wird der Mensch erst eigentlich geschichtlich aus der Zugehörigkeit zum Seyn in der Inständigkeit im Da-sein. Die anfängliche Gründung der Wahrheit des Seyns im Da-sein kommt einer Verwandlung des Wesens des Menschen gleich, welcher aus dieser Gründung zum Wächter und Wahrer der Wahrheit des Seyns wird. Der Zusammenhang von Seyn, Da-sein und Mensch wird schwerpunktmäßig im

55 In der Sekundärliteratur zu Heidegger hat sich terminologisch die Unterscheidung zwischen dem metaphysischen Gott und dem göttlichen Gott eingebürgert. 56 Von der ''Notschaft'' der Götter spricht Heidegger erst im VIII. Abschnitt der Beiträge "Das Seyn". Diese Notschaft wird aber bereits gedacht, wenn vom Brauchen des Gottes die Rede ist. (Vgl. GA 65, S.470) 57 Siehe ebd., S.251: "Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, auf daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe."

170

B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

nächsten Kapitel zur Gründung behandelt. An dieser Stelle kommt es vor allem darauf an zu sehen, inwiefern der Vorbeigang des Gottes und die Geschichte des Menschen immer in eins gedacht werden müssen: zu begreifen ist dies aus der Wesung des Seyns, die vom Gott gebraucht ist und die ihrerseits das Dasein braucht, um als solche abgründig gründend gegründet überhaupt zu wesen, wofür das Da-sein in der Inständigkeit menschenhaft ausgestanden werden muß. Das Ereignis übereignet den Gott an den Menschen im ereignenden Zuwurf des Seyns. Es übereignet ihn als den des Seyns Bedürftigen bzw. als die Notschaft des Gottwesens, die den Menschen trifft in der Not der Seinsverlassenheit und die dieser im Sprung aus dem ereignenden Zuwurf des Seyns übernimmt, so daß er sich dem Gottwesen zugeeignet erfährt. Übereignen heißt in unserem gewöhnlichen Wortgebrauch: als Eigentum übergeben. Bezüglich des Gottwesens kann dies freilich nicht so verstanden werden, als ginge dieses in den Besitz des Menschen über. Vielmehr wird das Bedürfen des Seyns durch das Gottwesen dem Menschenwesen übereignet, auf daß der Gott in sein Eigenes bzw. in seine Götterung gebracht werde durch die Gründerschaft des Menschen. Das Wort "Zueignen" wird in unserem alltäglichen Sprachgebrauch im Sinne der Widmung verstanden. Der Mensch wäre so aus dem Er-eignis dem Gottwesen gewidmet, ihm zu eigen gegeben, aus dem Ereignis jedoch insofern, als der Mensch in der Er-eignung zuvor zum ''Eigentum des Seyns" bestimmt wird (ebd., S.263), das Seyn aber das vom Gottwesen Gebrauchte ist. Damit löst sich das Menschsein gerade nicht in das "Sein überhaupt" auf, sondern aus der Zugehörigkeit zum Seyn entspringt das geschichtliche Menschsein in seinem Eigensten: in seiner Gründer- und Wächterschaft. Das im Sprung ersprungene Ereignis ist das scheidend entspringenlassende Zwischen von Gott und Mensch, in dem zu Gott und Mensch ein je eigener Bezug bzw. ein je eigenes bezugshaftes Entspringenlassen waltet: "[ ... ] der Bezug zum Vorbeigang [des letzten Gottes] ist die vom Gott gebrauchte Eröffnung der Zerklüftung [...], und der Bezug zum Menschen ist das ereignende Entspringenlassen der Gründung des Da-seins und somit der Notwendigkeit der Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden als einer Wiederbringung des Seienden" (ebd., S.27).

Hier wird deutlich, daß Heidegger die Zerklüftung vor allem aus der Notschaft des Gottes denkt. Dies wird verständlich, wenn wir uns die erste Hinsicht vergegenwärtigen, in der die Zerklüftung thematisiert wurde. Die tiefste Kluft, so hieß es, sei das Seyn als Möglichkeit oder Vermögen gedacht, das wiederum aus dem zuweisenden Nichthaften im Seyn zu denken ist. Die Notschaft des Gottes öffnet sich jedoch gerade im Seyn als Verweigerung. Mit anderen

§ 8. Der Sprung

171

Worten waltet zwischen der Notschaft des Gottes und dem Sichverweigern ein inniger Zusammenhang. Der Gott göttert nicht als Seyn, und gerade aus diesem "Nicht" ist er des Seyns als eines gründenden und im Da-sein gegründeten bedürftig. Der Gott bzw. das Gottwesen göttert nur in der Bergung, die das Seyn gerade in seinem Sichverweigern wahrt. Als der im Nicht des Seyns wesende braucht der Gott für seine Götterung die Eröffnung der Zerklüftung und des in ihr wesenden Streites von Seyn und Nichtseyn58 • Die im Sprung eröffnete Zerklüftung nötigt dabei zugleich aus dem in ihr aufklaffenden Nicht und der Notschaft des Gottes den Menschen in das Beständnis des Da-seins in der Inständigkeit, auf daß das nichthaft wesende Seyn im Da-sein gegründet werde und durch die Bergung der Wahrheit des Seyns die Augenblicksstätte gegründet werde für den Vorbeigang des letzten Gottes. Götter und Menschen stehen aus dem als Zerklüftung wesenden Ereignis im äußersten Gegeneinander, d.h. in einer nothaften Ent-scheidung, aus der allein das Seyn als Er-eignis wesen kann im Vorbeigang des Gottes und der Geschichte des Menschen. Gott und Mensch werden durch die Er-eignung in der nothaften Entscheidung einander übereignet und zugeeignet. Dieses Auseinander und Zueinander von Gott und Mensch nennt Heidegger die Ent-gegnung von Göttern und Menschen. 59 e) Der Sprung in das Offene der Unentscheidbarkeit über die Götter und die Geschichte des Menschen. Der denkerische Sprung als der eigentlichste und weiteste. Der Sprung erspringt die Wesung des Seyns als Er-eignis. Als ereigneter Entwurf gründet er übergänglich zunächst jenes Offene, in dem das Seyn als Ereignis, dj. als ereignender Zuwurf für den ereigneten Entwurf, west. In ihm wird denkerisch übergänglich erst das Offene bereitgestellt, das die Zerklüftung des Seyns zugänglich und beständlich macht im Da-sein. Im Sprung wird das Denken verrückt "in den Spielraum des Anfalls und des Ausbleibs der Ankunft und Flucht der Götter" (ebd., S.234), und d.h. in die Ferne der Unentscheidbarkeit über Anfall oder Ausbleib des Gottes, über einen anderen geschichtlichen Anfang oder das Verenden in der Geschichtslosigkeit. Wohl wird das Gotthafte im inständlichen Ausstehen der Flucht der Götter bewahrt, doch göttert es nicht. Die Ferne der Götter ist darin so sehr ins Äußerste getrieben, daß die sie Erfahrenden nicht wissen können (nicht entscheiden können), ob der Gott sich auf uns zu (Ankunft) oder von uns weg (Ausbleib) bewegt. Das

58

59

Vgl. ebd. den 146. Abschnitt, S.267f. Vgl. ebd., S.470.

172

B. 1. I. Das Gefüge des Ereignis-Denkens

Göttern des Gottes in der Gestalt des Vorbeigangs des letzten Gottes ist eine dem Menschen gänzlich entzogene Entscheidung, die sich nur entscheiden kann aus der Wesung des Seyns selbst. Aber das Zwischen der Wesung des Seyns als das Offene der Unentscheidbarkeit über die Götter und die Geschichte des Menschen ist die für das Unentscheidbare unentbehrliche Augenblicksstätte, um deren Gründung als Da-sein das übergängliche Denken sich allein bemühen kann. Nach der wiederholten Rede vom denkerischen Sprung, der den geschichtlichen anderen Anfang (der nicht nur ein anderer Anfang des Denkens ist) im Fragen nach der Wahrheit des Seyns vorbereitet, muß nun noch eine Anmerkung zum Verhältnis zwischen dem Denken und den anderen Weisen des schaffenden Da-seins eingeschoben werden. Hier wird nicht anderen Weisen des schaffenden Da-seins ihre Bedeutung für die Vorbereitung des anderen Anfangs abgesprochen. Die ausgezeichnete Rolle der Dichtung in diesem Zusammenhang wurde bereits erwähnt (Hölderlin), aber auch das Ins-Werksetzen der Kunst oder eine politische Tat können in sich gründend sein, sowohl übergänglich als auch andersanfänglich geschichtlich. In einem weiteren Sinne kann die Rede vom Sprung auch diese anderen Weisen des übergänglichen Gründens umfassen. Und dennoch insistiert Heidegger: "Der eigentlichste und weiteste Sprung ist der des Denkens. Nicht, als ob vom Denken her (Aussage) das Wesen des Seyns bestimmbar wäre, sondern weil hier im Wissen um das Ereignis die Zerklüftung des Seins am weitesten durchstiegen und die Möglichkeiten der Bergung der Wahrheit im Seienden [die auch in Dichtung, Kunst, politischer Tat usw. erfolgen kann] am weitesten ermessen werden können." (ebd., S.237)

Das Denken vermag deshalb nicht, andere für die geschichtliche Gründung notwendige Weisen des Gründens zu ersetzen, aber es vermag nach Heidegger denkerisch am weitesten zu ermessen, wie das anfängliche Gründen sich vollzieht und was darin zur Entscheidung steht. Mehr noch: es erschließt im Sprung am weitesten den anfänglichen Entscheidungsraum und rückt damit, ihn eröffnend, in den geschichtlichen Übergang, der aus dem anderen Anfang seine Bestimmung erfährt. Auch der den geschichtlichen anderen Anfang vorbereitende Sprung ist anfänglich gründend und bergend: gründend in der Bereitung des Offenen (des Da-seins), bergend im Versuch der Sage des Ereignisses.

11. Die Gründung § 9. Die Fuge der Gründung

Die vierte Fuge des übergänglichen Ereignisdenkens der Beiträge, die Gründung, steht in einem engeren Zusammenhang mit dem Sprung, so wie Anklang und Zuspiel in sich eine engere Verfügtheit bilden. Das übergängliche Denken bahnt sich anfänglich entwerfend seinen Weg, der zugleich und, weil aus dem Geschick des Seyns erfahren, zuvor der geschichtliche Gang des Übergangs ist, in den ineinander verwobenen Bereichen des Anklangs und Zuspiels, des Sprungs und der Gründung, der Zukünftigen und des letzten Gottes. Dieses Denken zeichnet sich (unter anderem) vor allem dadurch aus, daß es als Sprung in das Seyn selbst, welches als dessen Quellgrund das Denken gewährt, im ursprünglichen Sinne geschichtlich ist und sich nicht in jener Abständigkeit bewegt, die dem uns vertrauten vor-stellenden Denken eigen ist und den betrachtenden und analysierenden Verstand dem, was ist und wie es ist, gegenüberstellt. Das andersanfängliche Denken der Beiträge hält sich versuchshaft im Offenen der Widerfahrnis des Seyns in seiner Befremdlichkeit sowohl gegenüber dem bisher metaphysisch gedachten Seienden als auch dem in unseren vertrauten alltäglichen Verhaltungen begegnenden Seienden, in dem wir diesem, es so oder so besorgend, ganz hingegeben sind. Die Widerfahrnis des Seyns in ihrem Vollzug denkerisch nach den in ihr sich öffnenden Bahnen und Weiten aus ihr selbst ins Wort zu heben ist ein im tiefsten Sinne phänomenologisch hermeneutisches Vorgehen, das alle Krücken vorgeformter Begriffsstrukturen fallen läßt, indem es in ihren Ursprungsbereich einrückt. Was Heidegger anfänglich Grund und Gründung nennt, verlangt strenggenommen den genannten Vollzug: das denkerische Offenhalten der Widerfahrnis des Seyns in seiner ungeschützten Befremdlichkeit, das jeweils übernommene "Da" zu sein. Die hier versuchte Auslegung der Beiträge versteht sich unter anderem als Einübung in ein solches Denken, wenn auch vielfach in der Darlegung der inneren Strukturiertheit der Beiträge und des übergänglichen Denkens ein vorstellendes, metaphysisch geprägtes Denken und Sprechen überwiegt, das mehr in der formalen Anzeige bleibt als es in das anfängliche Denken vollzugshaft einrückt.

B. 1. 11. Die Gründung

174

Das vollzugshafte Einrücken (der Sprung) in den Wesungsbereich der Wahrheit des Seyns als lichtendes Sichversagen ist in sich gründend, sofern das sich in ihm Eröffnende kein zuvor schon irgendwo (als Idee) Gewesenes ist, sondern nur im gründenden Entwurf aus der Widerfahrnis des Seyns in seinem Sichverweigern geschichtlich ins Offene tritt. Das anfängliche Denken hat so teil an einem Gründungsgeschehen, dem kein irgendwie seiender Grund vorausgeht, das dann aber auch nicht in ein geschaffenes Seiendes mündet, sondern innerhalb dessen sich alle Bezüge zum Seienden wandeln und in ihrem Sein und Nichtsein bewahrt bleiben. Der Einsprung in das Gründungsgeschehen, als welches die Wahrheit des Seyns waltet, bedeutet nach Heidegger dies: den anderen Anfang anfangen und dennoch dies erst übergänglich und noch nicht in dem Sinne geschichtlich, daß die bisherige Weise zu Denken in einem schöpferischen Sinne vergessen ist! und die Geschichte des Menschen in diesem anderen Anfang und nicht mehr im ersten Anfang ihren Aus- und Fortgang nimmt. Die beiden Anfänge, Übergang und anderer Anfang, können sich überschneiden (v gl. Zuspiel), aber noch steht für Heidegger die Entscheidung offen, ob es zu einem vollen geschichtlichen anderen Anfang kommen kann; d.h. um das Offene dieser Entscheidung und darin das Hereinstehen des anderen Anfangs in das Ende des ersten Anfangs geht es Heidegger vor-läufig. Die hiesige Auslegung der Beiträge war und bleibt unter anderem geleitet von der Frage nach dem Verhältnis von Übergang und anderem Anfang, von übergänglich gründendem und - in einem engeren Sinne - andersanfänglich gründendem Denken, wobei ich es vorzog, letzterem gegenüber eine gewisse Epoche zu üben, d.h. es nur innerhalb des übergänglichen Denkens anzudenken, sofern es mir problematisch scheint, sich ein Unentscheidbares vorzustellen, dessen Wesen und Gestalt erst im Augenblick der Entscheidung phänomenologisch auslegbar wird. Hier liegt für mich einer der fragwürdigsten Gedanken in Heideggers Beiträgen zur Philosophie. Die Augenblicksstätte für den Vorbeigang des letzten Gottes und die Gründung der Geschichte des Menschen ist auch das Äußerste, in das Heidegger in diesem Werk vorausdenkt, jenes Äußerste, um dessen Vorbereitung es ihm allein geht in der Gründung der Wahrheit des Seyns im Da-sein und der Bergung seiner Wahrheit im Seienden. Die Fuge der Gründung ist aus der gegenschwingenden Kehre im Ereignis selbst zu denken, und d.h. zunächst im Gegenschwung von Zuruf des Seyns und Zugehörigkeit des Da-seins. Dies entfaltet Heidegger im 187. Abschnitt der Beiträge:

!

Vgl. GA 65, S.278.

§ 9. Die Fuge der Gründung

175

"Gründung ist zweideutig: I. Der Grund gründet, west als Grund (vgl. Wesen der Wahrheit und ZeitRaum). 2. Dieser gründende Grund wird als solcher erreicht und übernommen. Er-gründung: a) den Grund als gründ~nden wesen lassen; b) auf ihn als Grund bauen, etwas auf den Grund bringen. Das ursprüngliche Gründen des Grundes (1) ist die Wesung der Wahrheit des Seyns; die Wahrheit ist Grund im ursprünglichen Sinne. Das Wesen des Grundes ursprünglich aus dem Wesen der Wahrheit, Wahrheit und Zeit-Raum (Ab-grund). Vgl. "Vom Wesen des Grundes"; Anmerkungen dazu 1936. Unter dem Titel "Gründung" ist zunächst gemäß dem Zusammenhang mit "Sprung" die Bedeutung 2. a) und b) gemeint, aber deshalb gerade auf I. nicht nur bezogen, sondern von da bestimmt." (GA 65, S.307) 1. Das Wesen des Grundes ist im ersten und ursprünglichen Sinne aus dem Wesen der Wahrheit und seiner zeit-räumlichen Ent-faltung zu begreifen. Im lichtenden Verbergen, als welches Wahrheit geschieht, west das Seyn als Sichverweigern. Dieses ist aber in sich nötigend bzw. zuweisend als ereignender Zuwurf. Wenn dieser auch nur im Da-sein, i.e. im ereigneten Entwurf waltet, ist er doch die im Ereignis als ursprunglicher zu begreifende Hinsicht, weil in ihm das ursprungliehe Gewähren bzw. Ereignen geschieht. Das Gründungsgeschehen ist somit in erster Linie aus der Er-eignung zu begreifen.

2. Dasselbe Gründungsgeschehen der Wahrheit des Seyns wird in der anderen Hinsicht vom Da-sein aus als Er-gründung begriffen. Diese wird im denkerischen Entwurf vollzogen, dem a) die Ereignung widerfährt, der sie also erreicht, ihr inständig zugehört (das Sein des Da besteht) und so die Wahrheit des Seyns als Grund wesen läßt, und der b), wie Heidegger sagt, auf den gründenden Grund als solchen ''baut'', d.h. etwas· "auf den Grund bringt". Dieses Bauen und Auf-den-Grund-bringen nennt den Bezug zum im ereigneten Entwurf Entworfenen, also die Bergung der Wahrheit des Seyns in Wort, Tat, Opfer, Ding, in der allein die Lichtung des Seyns bzw. das lichtend verbergende Wahrheitsgeschehen ausgestanden und offengehalten wird. Die Er-gründung des Grundes als der Wahrheit des Seyns ist Grundung des Da-seins durch die Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende aus ihrem Beständnis in der Verhaltenheit. Die doppelte Hinsicht der Gründung wurde ansatzweise in dieser Arbeit bereits im § 3 entfaltet, allerdings aus der transzendental-horizontalen Perspektive, in der die Wesung des Seyns als Ereignung noch verhüllt ist, bzw. nicht zureichend gedacht werden kann. Das ursprüngliche Gründen des Grundes wurde dort erörtert als das Sichzeitigen der Wahrheit aus der ursprunglichen Verschlossenheit, die im Sein zum Tode entwerfend eröffnet wird. Die Er-

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B. I. 11. Die Gründung

gründung kam zur Sprache im stiftend boden-nehmenden Begründen. Ursprünglicher gedacht ist das Boden-nehmen (Geworfenheit) als Erreichen des gründenden Grundes zu begreifen, der in der Ereignung zugeworfen wird; und das Stiften (Entwurf) ist seynsgeschichtlich zu denken als die entwerfende Übernahme des Zugeworfenen. Das erreichende Übernehmen läßt den Grund erst als gründenden wesen, da nur in der Kehre von Zuwurf des Seyns und ereignetem Da-sein die Wahrheit des Seyns ins Offene ihrer Wesung gelangt. Das aus der Perspektive von Sein und Zeit entfaltete Begründen schließlich nennt Heidegger in den Beiträgen das "Bauen" und "auf den Grund bringen". In der Fuge der Gründung nennt Heidegger keine eigene Leitstimmung mehr, spricht aber dafür immer wieder von der Grundstimmung der Verhaltenheit. In dieser sind die Zukünftigen, die Gründer der Wesung des Seyns2 • Im übergänglichen Denken der Beiträge ist aber die Grundstimmung des anderen Anfangs nocht nicht voll angestimmt. Auch der Fuge der Gründung eignet zunächst eine Leitstimmung. H.-H. Gander sieht sie, wie den Sprung, vornehmlich durch die Scheu gestimmt. 3 Dafür spricht zum einen die enge Verwobenheit von Sprung und Gründung (Heidegger schreibt "Anklang und Zuspiel, Sprung und Gründung haben je ihre Leitstimmung, die aus der Grundstimmung ursprünglich zusammenstimmen", GA 65, S.395, meine Betonung.) und zum anderen auch die Tatsache, daß, wie Gander bemerkt, die Fuge der Gründung im 242. Abschnitt zentriert, in dem der Zeit-Raum aus der zögernden Versagung entfaltet wird, der Grundbezug zur zögernden Versagung aber in der Scheu sich lichtet4 • Auch wenn Heidegger in den Beiträgen im Gang des Übergangs aus der Metaphysik in den anderen Anfang das Sichzuhalten auf den Ab-grund betont, gehört dennoch thematisch zur Gründung das bereitende Vorausdenken in das volle andersanfängliche Gründungsgeschehen und darin vor allem in die Bergung aus der Grundstimmung der Verhaltenheit. Heidegger gliedert die Fuge der Gründung in fünf Unterabschnitte a) - e). Die ersten zwei Unterabschnitte a)'Da-sein und Seinsentwurf" und b)"Das Dasein" bedenken die Gründung vor allem in der zweiten, schon im Sprung mitzudenkenden Hinsicht (Entwurf). Die Unterabschnitte c)"Das Wesen der Wahrheit" und d)'Der Zeit-Raum als der Ab-grund" thematisieren die Gründung vorrangig in ihrer ersten, ursprünglichen Hinsicht (Zuwurf). Der letzte Unterabschnitt e) schließlich: 'Die Wesung der Wahrheit als Bergung", bringt die Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden, also die Er-gründung im Sinne des Bauens und Auf-den-Grund-bringens zur Sprache.

Vgl. die Fuge der Zu-Künftigen, GA 65, S.395f. Siehe H.-H. Gander: Grund- und Leitstimmungen in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", in: Heidegger Studies 10, 1994, bes. S.23 und S.29f. 4 Vgl. GA 65, S.15f und S.227. 2

3

§ 10. Da-sein und Mensch

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Die Problematik der Bergung wird in der vorliegenden Arbeit ein eigenes Kapitel bilden. Die Paragraphen dieses jetzigen Kapitels werden sich in der Folge sachlich an Heideggers Anordnung anschließen. Die §§ 10 und 11 behandeln das Da-sein, wobei zunächst nach dem Verhältnis von Da-sein und Mensch gefragt wird (§ 10) und dann das Da-sein gleichermaßen vom Seyn aus als Wendungsmitte des Ereignisses bedacht wird (§ 11). Der § 11 greift auch die Thematik von Heideggers Unterabschnitt c) auf: die Frage nach dem Wesen der Wahrheit, aus dem das ursprüngliche Gründen von Heidegger entfaltet wird. Der § 12 entspricht dem Unterabschnitt d) in den Beiträgen: "Der Zeit-Raum als der Ab-grund", in dem die zeit-räumliche Ent-fügung des Wesens der Wahrheit als ab-gründiges Gründen erdacht wird. Der anschließende § 13 versucht, nochmals das ganze Gründungsgeschehen des Ereignisses anband des 267. Abschnitts der Beiträge aus dem letzten Teil "Das Seyn" zu fassen. Wie das ganze Gefüge der Beiträge entspricht auch das innere Gefüge der "Gründung" dem Gang des Übergangs vom ersten zum anderen Anfang. Die sachlich ursprünglichere Hinsicht der Gründung folgt den Gedanken zu Da-sein und Mensch, denn der Einstieg in das seynsgeschichtliche Denken verlangt vom Menschen aus gesehen zunächst die Verwandlung des Wesens des Menschen durch die Einrückung in das Da-sein. Solange das Wesen des Menschen sich aus dem vorstellenden Bezug zum Seienden in seiner Seiendheit bestimmt, bleibt der Weg zum Seyn selbst aus diesem selbst versperrt. Die Destruktion der bisherigen Wesensauffassung des Menschen durch den Aufweis seines ursprünglicheren Gegründetseins im Da-sein bleibt ein unabdingbarer Schritt im übergänglichen Denken. Daß durch diesen Weg "vom Menschen aus", genauer, durch die Hinsicht auf sein Wesen aus der Erschlossenheit von Sein überhaupt gerade die Herrschaft der Subjektivität gesprengt wird, kann fteilich nur einsichtig werden, wenn denkerisch erfahren wird, daß solche Hinsicht schon geleitet und be-stimmt ist von ihrem "Wohin", vom Seyn selbst im Offenen seines Sichverbergens, das im Da-sein inständig ausgestanden wird. § 10. Da-sein und Mensch

a) Die Verwandlung des Wesens des Menschen Wenngleich wir in Sein und Zeit den Hinweis finden, das Wort Dasein sei als "reiner Seinsausdruck" zu nehmen (SuZ, S.12), sofern sein Sinn verfehlt wäre, wenn wir es als ein sachhaltiges Etwas vorstellten, und es jeweils nur im geschichtlichen selbsthaften Vollzug, d.h. im "Sein" begriffen werden kann, bleibt die häufig auftauchende Rede vom Dasein als dem Seienden, das wir jeweils sind, irreführend. Man sieht sich unversehens der Anstrengung entho-

12 Neu

B. 1. 11. Die Gründung

178

ben, das Sein des Da zu vollziehen, und in diesem Vollzug Da-sein zu verstehen, und sieht sogleich das Dasein als Charakter des Seienden "Mensch". Heidegger sieht bezüglich Sein und Zeit die naheliegende Gefahr dieses Mißverständnisses und ist in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Da-sein und Mensch in den Beiträgen in ständiger Auseinandersetzung mit seinem frühen Werk. Er versucht jenes Verhältnis seynsgeschichtlich ursprünglicher zu erdenken und zur Sprache zu bringen, wodurch der Sinn des Da-seins eine Verschiebung erfährt. Nannte das Dasein in Sein und Zeit die Seinsverfassung des existierenden Menschen (deren Explikation freilich dazu führte zu zeigen, daß der Mensch in solcher Verfaßtheit wesenhaft im Offenen von Sein überhaupt steht), so wird das Da-sein in den Beiträgen ausdrücklicher als das "Zwischen" zwischen Zuruf und Zugehörigkeit, zwischen den Menschen und Göttern (GA 65, S.311), d.h. als Gründungsstätte der Wahrheit des Seyns gefaßt, in der Götter und Menschen je in ihr Eigenes ereignet werden. Gleichwohl stehen Da-sein und Mensch in einem ausgezeichneten Bezug, den es zu begreifen gilt, um aus ihm auch erst das andersanfänglich gedachte Wesen des Menschen zu verstehen. In den Beiträgen schreibt Heidegger: "Das Da-sein ist eine Weise zu sein, die, indem sie das Da 'ist' (activ-transitiv gleichsam), gemäß diesem ausgezeichneten Sein und als dieses Sein selbst ein einzigartiges Seiendes ist (das Wesende der Wesung des Seyns)." (ebd., S.296)

'''Das Seiende' aber ist nicht der 'Mensch' und das Da-sein sein Wie zu sein (so noch leicht mißverständlich in 'Sein und Zeit'), sondern das Seiende ist das Dasein als Grund eines bestimmten, des künftigen Menschseins, nicht 'des' Menschen an sich; auch hier nicht genügend Klarheit in 'Sein und Zeit'." (ebd., S.3(0)

Hier wird zunächst erneut bedacht, inwiefern Da-sein ein Seiendes ist, wobei "Seiendes" nicht als Vorhandenes mißzuverstehen ist. Was "Seiendes" und "Mensch" besagen sollen, steht seynsgeschichtlich erneut von Grund auf in der Frage (deshalb die Anführungszeichen). Da-sein ist ein "einzigartiges" Seiendes gemäß dem "Sein" (im geschichtlichen Vollzug) des 'Da" als der Lichtung für das Sichverbergen. Das Seiende, als welches Da-sein geschieht, ist nicht das zunächst vorzustellende, dem dann "Dasein" zukommt, sondern ist umgekehrt aus dem Da-sein selbst zu erdenken (d.h. in der Widerfahrnis zu denken). Hier rühren wir an eine der schwierigsten Fragen des Heideggerschen Denkens, nämlich an die Frage nach dem Unterschied von Seyn und Seiendem, der eine Entfaltung der Problematik der Bergung verlangt. Dabei werden wir auch auf einen anderen Fragebereich gestoßen, den Heidegger hier und da angetippt, aber niemals ausgeführt hat: der Mensch in seiner Leiblichkeit. Auf diese Fragen soll im nächsten Kapitel eingegangen werden. Wir beschränken uns

§ 10. Da-sein und Mensch

179

zunächst darauf zu sehen, daß das künftige Menschsein seine Bestimmung aus dem andersanfänglichen Da-sein empfängt, bzw. in diesem gegründet ist. Damit ist freilich nicht gesagt, das künftige Menschsein sei vulgärzeitlich als noch nicht seiend vorzustellen. Das künftige Menschsein ist das andersanfänglich beund gestimmte, das aus solcher Be- und Gestimmtheit sein Wesen empfängt und im Entwurf inständlich besteht. Das Seiende, das der andersanfänglich gedachte künftige Mensch ist (aber nicht nur), ist geschichtlich als das Wesende der Wesung des Seyns; es birgt und verwahrt das Offene des Seyns in seinem Sichverweigern als Da-sein, d.h. es bleibt rückgegründet in dieses selbst. "Da-sein - was den Menschen zugleich unter-gründet und überhöht. Daher die Rede vom Da-sein im Menschen als Geschehnis jener Gründung. Man könnte aber auch sagen: der Mensch im Da-sein. Das Da-sein 'des' Menschen. Jede Rede ist hier mißdeutbar und ungeschützt [... ]." (ebd., S.301)

Das Da-sein steht zum Menschen in einem überschüssigen Verhältnis. Dasein ist in einem gewissen Sinne immer "mehr" als der jeweilige künftige Mensch in seinem Menschsein, dies aber so, daß der Mensch in seinem Sein im Offenen dieses "Mehr" und des "Anderen" zu ihm selbst steht und dieses Andere offen hält. Das Da-sein überhöht im Überschuß den bestimmten künftigen Menschen und untergründet ihn, sofern der künftige Mensch im Da-sein gründet, d.h. aus der verhaltenen Inständigkeit im Offenen des Sichverbergens sein Wesen empfängt und gestaltet. Das Da-sein im Menschen heißt dann so viel wie: das im Menschen als dessen überschüssiger, nichthafter Grund wesende Sein. Die andere Wendung: "der Mensch im Da-sein" kann dasselbe besagen: das in das Da-sein gegründete Menschsein. Das Da-sein "des" Menschen ist kein Eigentum des Menschen, noch ein Zusatz zu ihm, sondern sein Wesensgrund. Das künftige, im Da-sein gegründete Menschsein kommt einer Verwandlung des Wesens des Menschen gleich. Doch was besagt das Wort "Verwandlung"? Die Verwandlung im Sinne Heideggers meint einen Wandel von Grund aus, eine Neugründung des Wesens des Menschen, in der sich ein anderer Bereich der Geschichte öffnet und der Mensch sich versetzt, eingerückt findet in seinen ursprünglichen Wesens-zeit-raum, in das abgründig gegründete gründende Dasein. Der erste denkerische Schritt zu dieser Verwandlung wird in Sein und Zeit vollzogen und er ist eigens entfaltet in der Entschlossenheit, dem eigentlichen Vorlaufen in den Tod. Wie ausgeführt, übernimmt das Dasein seine eigensten Seinsmöglichkeiten nur im Ergreifen seiner äußersten Möglichkeit, der Daseinsunmöglichkeit als der schlechthinnigen Verschlossenheit. Diese weist

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seynsgeschichtlich gedacht in die Wahrheit des Seyns, in den Ab-grund, aus dem das Dasein genötigt ist, stiftend boden-nehmend begründend die eigensten Seinsmöglichkeiten zu ergreifen. Sofern das Dasein zunächst und zumeist alltäglich existiert in der Verfallenheit an das zu besorgende Seiende, muß es zu seinem eigensten Seinkönnen genötigt werden, was Heidegger in Sein und Zeit mit Hilfe des Rufs des Gewissens entfaltet, welcher das Dasein zurückruft aus der Verfallenheit in sein eigenstes Schuldigseinkönnen, d.i. in die Übernahme seines nichthaften Grundes. Die Verwandlung des Wesens des Menschen ist ein nichtendes Geschehen, in dem die bisherigen Bezüge zum Seienden wegrücken und der Mensch ausgesetzt ist in seinen nichthaften Wesensgrund, in sein eigenstes, durch die Möglichkeit des Nichtseins durchdrungenes Seinkönnen. Seynsgeschichtlich gedacht wird der neuzeitliche Mensch durch die Not der Seinsvergessenheit verrückt in das abgründige Zwischen des sichverweigernden Seyns, das in das Beständnis seiner Offenheit nötigt, auf daß es im Da-sein gegründet und im Seienden verwahrt werde. Seinsvergessen lebt der neuzeitliche Mensch in den alltäglichen Verhaltungen und in den metaphysischen und metaphysisch begründeten Denkweisen. In der Widerfahrnis der Not der Seinsvergessenheit wird er aus dem ihm vertrauten Bereich des Seienden verrückt und ausgesetzt in eine Fremde, die sich ihm als sein eigenster Wesensgrund offenbart. Heidegger denkt den Wesenswandel des Menschen aus der Widerfahrnis solchen Wandels im denkerischen Vollzug. Das Zwischen, in das er sich denkerisch aus der Not der Seinsvergessenheit im Sprung in das Sein versetzt findet, ist der in der Erschwingung der Kehre von Zuwurf und denkerischem Entwurf sich öffnende Entscheidungsraum, die Wesung der Wahrheit als Lichtung für das Sichverweigern, in der Sein und Nichtsein sich ent-scheidet und das Wesen des Menschen wie auch Ankunft und Flucht der Götter (in ihrer Unentscheidbarkeit) in der Ent-scheidung stehen. Dieser ursprüngliche Entscheidungs-zeit-raum ist nur solange offen und nur dann offen, wenn er im und als Da-sein entwerfend offengehalten wird aus der ursprünglichen Zugehörigkeit zum Seyn, d.h. im verhaltenen Sichzuhalten auf das Nichthafte des Sichverweigerns des Seyns (Sein zum Tode). Bezüglich des Verhältnisses von Da-sein und Mensch besagt dies, daß der Wesenswandel des Menschen auf dem Grunde des Da-seins in die Ent-scheidung von Da-sein und Weg-sein rückt; denn zum Da-sein, zum inständigen Ausstehen des Offenen des Seyns gehört wesenhaft das Mitoffenhalten des Nichthaften, des Sichverweigerns; es bedeutet aber auch, in der ständigen Gefahr bzw. Möglichkeit zu stehen, daß das Offene samt dem ihm zugehörigen Verborgenen verdeckt wird, d.h. in der Sprache von Sein und Zeit, daß das Dasein wieder in eine uneigentliche Seinsweise zurücksinkt.

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Heidegger verwendet dieses Wort "Weg-sein" in den Beiträgen in diesem zwiefachen Sinne: 1. als Terminus für eine ursprünglichere Fassung der Uneigentlichkeit des Daseins: dann heißt Weg-sein soviel wie seinsvergessen sein;5 2. im Sinne des im Seyn als Verweigerung wesenhaft wesenden "Nicht", das angezeigt ist im Sein zum Tode. 1. Heißt "Da-sein: die Offenheit des Sichverbergens ausstehen", so heißt Weg-sein im ersten Sinne: "die Verschlossenheit des Geheimnisses und des Seins betreiben, Seinsvergessenheit" (ebd., S.301). Verschlossen ist im Wegsein auch das Geheimnis, d.i. wie in Vom Wesen der Wahrheit gedacht, die wesenhafte Verborgenheit im Wesen der Wahrheit, die ursprünglich zur Wesung des Seyns gehört, also das Weg-sein im zweiten Sinne. Das 'Weg" im Weg-sein als der Seinsvergessenheit, nennt die "Beseitigung, Abdrängung des Seyns" und steht gegen das ursprüngliche "Da" des Da-seins in einem vom Dasein aus begriffenen defizienten Modus. Das so gefaßte Weg-sein ist ein ursprünglicherer Titel für die Uneigentlichkeit des Da-seins (ebd.,S.324), sofern es vom Da-sein her verstanden ist als dem Beständnis des Da in der Weise der Bergung der Wahrheit des Seyns und weniger eine moralisch-existenzielle Auslegung begünstigt6 , der schon so mancher Heidegger-Interpret verfallen ist. Das Weg-sein im ersten Sinne nennt auch schlicht das "gewöhnliche Menschsein", das ganz dem vorhandenen Seienden hingegeben ist und dieses besorgt (ebd., S.323). Heidegger äußert sich in den Beiträgen bezüglich des Weg-seins im ersten Sinne nicht explizit zur dazugehörigen Alltäglichkeit, in der das Seiende in seiner Zuhandenheit begegnet und die schon in Sein und Zeit gegenüber der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit als indifferenter Modus begriffen wird7 • Auch differenziert er nicht zwischen dem erstanfänglichen Weg-sein in der Seinsvergessenheit, d.h. dem metaphysisch bestimmten Wegsein, und dem Weg-sein (immer im ersten Sinne) des andersanfänglichen Wegseins, etwa in der Alltäglichkeit. Denn, wie Heidegger spezifiziert, ist "Da-sein nur Augenblick und Geschichte" (ebd., S.323), in der sich Da-sein von alltäglichen Seinsweisen abhebt und das Seyn in seinem Sichverweigern denkerisch, dichterisch, bauend, führend ausgestanden wird. Es ist zu erwarten, daß Heidegger die Alltäglichkeit im anderen Anfang aus der anders anfänglichen Gestimmtheit gegenüber der metaphysisch betimmten Alltäglichkeit unterscheiden würde, sofern sich in der Gründung des Da-sein alle Bezüge zum Seienden wandeln. Das Weg-sein im ersten Sinne muß übergänglich also in mannigfach

5 6

7

Vgl. GA 65 Abschnitte 177 (S.3011) und 201 (S.323f) Vgl. ebd., S.302. Siehe SUZ, S.43f.

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zu differenzierenden Weisen gesehen werden, die hier nur zum Teil und kurz angedeutet wurden. 2. Zum Weg-sein im zweiten Sinne schreibt Heidegger: "Zum Da gehört als sein Äußerstes jene Verborgenheit in seinem eigensten Offenen, das Weg, als ständige Möglichkeit das Weg-sein; der Mensch kennt es in den verschiedenen Gestalten des Todes. Wo aber Da-sein erstmals begriffen werden soll, muß der Tod bestimmt sein als die äußerste Möglichkeit des Da. (ebd., S.324) Das Weg im Weg-sein (diesmal liegt die Betonung auf dem Weg) als die zum Da gehörende Verborgenheit "ist das völlig Andere des Da, uns ganz verborgen, aber in dieser Verborgenheit zum Da wesentlich gehörig und in der Inständigkeit des Da-seins mit zu bestehen" (ebd). Das in dieser Arbeit bereits im § 3 entfaltete Verhältnis von Dasein - Tod und Wesen der Wahrheit als lichtende Verbergung, das hier im Blick steht, wird von Heidegger eigens als "Widerschein" gefaßt: "Was hier als eigenste Verborgenheit in das Da hereinsteht, der Wechselbezug des Da zu dem ihm zugekehrten Weg, ist der Widerschein der Kehre im Wesen des Seins selbst." (ebd., S.325) Der Tod bzw. das wesentliche Weg-sein im Da-sein ist nicht einfach mit dem Sichverbergen im Wesen der Wahrheit gleichzusetzen. Sein Hereinstehen in das Da ist Widerschein der Kehre im Wesen des Seins selbst, die Weise, wie das lichtende Sichverbergen im Da-sein gegründet, d.h. aus dem ereignenden Zuwurf entwerfend übernommen und bergend im Seienden (auch im Leib) ergründet wird. 8 Gerade für das philosophierende Dasein ist das Ausstehen des wesentlichen Weg-seins im Da-sein, also das Sein zum Tode notwendig, um das Sein in seiner Wahrheit bis ins Äußerste zu durchmessen und diesen Wesensbereich phänomenologisch hermeneutisch zur Sprache zu bringen. 9 Der Tod spielt eine wesentliche Rolle in der Verwandlung des Wesens des Menschen; er ist "als das Äußerste des Da zugleich das Innerste seiner möglichen völligen Verwandlung"(ebd., S.325), weil erst hier die wesentliche Not ins

8 Der Zusammenhang zwischen ursprünglicher Verbergung und Sein zum Tode im Weg-sein wird auch von Richardson in seinem Aufsatz "Dasein and the Ground of Negativity: A Note on the Fourth Movement in the Beiträge-Symphony", in: Heidegger Studies 9, 1993, S.35-52, aufgenommen: n[ ... ] the role of death in Da·sein' s relationship to beon is to serve as the ultimate limit of Da-sein' s capability of functioning as ground for beon's truth, death itself bearing witness to the 'primordial not belonging to beon' from which it radically derives. n (ebd., S.47) 9 Siehe GA 65, S.285.

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Spiel tritt, das Sichverweigern, das, wo es da-seinshaft ausgestanden wird, die innigste Zuweisung birgt, die Heidegger denkt in der Notschaft des Gottes und der Notwendigkeit der Gründung der Wahrheit des Seyns aus der Not der Seinsverlassenheit. Das Beständnis des wesenhaften Weg-seins im Da-sein ist das Offenhalten des Ab-grunds und damit das Stehen in der Fremde, im Ungestützten und Ungeschützten, das Heidegger zuweilen die Verzichtung nennt lO • Der Verzicht entspricht aus der Verhaltenheit dem Sichversagen des Seyns im Weg-sein. Er ist keineswegs ein bloß negatives Verhalten, sondern als Verzicht auf das beherrschende Ergreifen des Seienden gerade das Wesen lassen der Wesung des Seyns als Ereignis, so daß diese etwa im denkerischen Wort geborgen wird. Schöner noch kommt bezüglich der Sprache dieser Zusammenhang zwischen Grund-sein-Iassen und Verzicht im Wort Ent-sagen zum Vorschein. Dieses hat zum einen den Sinn des Verzichtes, zum anderen kann darin wie im Ent-Iassen, Ent-binden und auch Ent-werfen ein öffnendes Freilassen gehört werden, das Wesenlassen des Ereignisses als abgründiger Grund, so daß im Ent-sagen dieser in der denkerischen Sage oder im dichterischen Wort geborgen wird. 1I In der Verzichtung gründet das Da-sein "als Inständigkeit den vom Seyn in der Ereignung ausgeworfenen und doch getragenen Ab-grund in jenes Seiende, als welches der Mensch ist" (ebd., S.488). Durch diese Gründung des Abgrunds im Menschen als einem Seienden, d.h. auch in seiner Leiblichkeit, vollzieht sich die Verwandlung seines Wesens und seine Neubestimmung auf dem Grunde des Da-seins. b) Da-sein und Selbstsein Das Da-sein gründet stiftend das Offene des Sichverbergens im Gegenwurf zum Zuwurf des Seins, so daß es boden-nehmend aus dem Zuwurf ereignet ist und begründend die geschichtlich zugeworfenen Seinsmöglichkeiten übernimmt in der Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden. Der Mensch ist andersanfänglich auf dem Grunde des Da-seins erst "in der Folge ereignet" (GA 65, S.299), was jetzt gerade nicht heißt, Da-sein könne als Gründungsstätte des Ereignisses ohne den Menschen ereignet werden, sondern was heißt, daß das "Wer" des ereigneten Entwurfs, der Werfer und Gründer, aus dem Da-sein selbst geschöpft ist und aus diesem erst sein Wesen empfängt. Hier liegt der wesentliche Sinn der Frage nach dem Wer, daß dieses ursprünglich in Frage steht aus dem Ereignis und dort, wo wir es bestimmt zu haben glauben, schon

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Vgl. ebd., S.487. Vgl. GA 9, S.315 eine Anmerkung zum Humanismusbrief

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seines Wesens verlustig gegangen ist. Die Frage danach, wer wir sind, weist in den im Da-sein gegründeten Ab-grund, aus und in dem das sichversagende Seyn als zuweisendes geschieht und das Da-sein ereignet. Der Werfer des Entwurfs des Seyns ist "zuvor" das Da-sein und, sofern Dasein nur selbsthaft und bergend geschieht, jeweilig ein Mensch, allerdings ein Mensch, dessen Wersein aus dem ereigneten Entwurf von Grund aus in Frage steht, der ursprünglich zu sich kommt in der Übernahme der Zugehörigkeit in die abgründige Wahrheit des Seyns. Dabei ist dieses "zu sich" kein subjektiv zu verstehendes. Heidegger ist mit Äußerungen, in denen der Werfer als Mensch genannt wird, äußerst zurückhaltend. Meist schreibt er nur vom Werfer (Vgl. ebd., S.304 und 239) oder vom Da-sein als Werfer (ebd., S.304), da hier die Wer-Frage und somit der Ursprung im Ereignis offengehalten wird. Oder er spezifiziert etwa, daß "die Geworfenheit des Menschen in das Seiende [... ] ihn zum Werfer des Seins [... ] bestimmt" (ebd., S.45), so daß der Werfer nie als vorausgehendes Subjekt vorgestellt wird. Geworfen ist der Werfer aus dem Zuwurf des Seyns, d.h. aus der im Ereignis geschehenden Ereignung. Wie Heidegger im Hurnanisrnusbrief schreibt, ist "das Werfende im Entwerfen [... ] nicht der Mensch, sondern das Sein selbst [als Ereignis], das den Menschen in die Ek-sistenz [Inständigkeit] des Da-seins als sein Wesen schickt" (GA 9, S.337). Der Entwurf des Da-seins ent-spricht schon dem ursprünglichen Wurf der Wahrheit des Seyns. Als Ent-wurf im Sinne des Los-wurfs1 2 läßt der im Da-sein gründende Mensch sich los in den Wurf des Seins, empfängt er und eröffnet in der Inständigkeit kehrig mit den abgründig erschwingenden Seinswurf. Der Entwurf des Da-seins ist ursprünglich Gegenwurf. Der selbsthafte Vollzug des Da-seins, daß es dem Dasein wesenhaft in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, ist uns schon aus Sein und Zeit vertraut. Er gründet zuletzt in der Zeitlichkeit des Da-seins: im vorlaufenden Aufsich-zu- und Auf-sieh-zurückkommen, in dem sich die Seinsmöglichkeiten des Daseins und auch das Sein von nichtdaseinsmäßigem Seienden eröffnen. In den Beiträgen wird das Selbstsein des Da-seins auf das Ereignis als Eigen-turn zurückgeführt: "Selbstheit entspringt als Wesung des Da-seins aus dem Ursprung des Da-seins. Und der Ursprung des Selbst ist das Eigen-turn. Dieses Wort hier genommen wie Fürsten-turn. Die Herrschaft der Eignung im Ereignis." (GA 65, S.319t)

'Das Eigen-turn [... ] ist Geschehnis der in sich gefügten Zu- und Übereignung." (ebd., S.320) Das Da-sein kommt zu sich selbst, indem es "sich zugeeignet wird als zugehörig zum Ereignis" (ebd). Die Zueignung geschieht aus

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Zum ''Los-wurf'' vgl. den 263. Abschnitt der Beiträge, GA 65, S.452f.

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dem Zuwurf des Seyns aus der Notschaft des Gottwesens und der Not der Seinsverlassenheit, so daß das Da-sein sich darin zu eigen wird. Es wird sich jedoch ursprünglich nur durch die Zugehörigkeit zum Ereignis zu eigen, also nur dann, wenn es dem Sichversagen des Seyns und seiner Not hörig ist, wenn es sich entwerfend in der Verhaltenheit auf das nichtende Seynsgeschehen zu hält. Die Zu-eignung in die Zugehörigkeit ist zugleich Über-eignung in das Ereignis (ebd.), in der das Da-sein zum Eigentum des Seyns ereignet wird I3 • Die Übereignung geschieht, so Heidegger, nur, "wo zuvor und ständig Zueignung; beides aber aus der Er-eignung des Ereignisses" (ebd., S.317). In der Übereignung geschieht die Rückgründung des Da-sein in die Wahrheit des Seyns, wofür aber das Offene im Da-sein durch die zu übernehmende Zueignung auf-geworfen werden muß. Das Geschehnis der in sich gefügten Zu- und Übereignung nennt also die Kehre im Ereignis, die als Eigen-turn geschieht, als Herrschaft der Eignung im Beständnis der Kehre. Die Selbstheit, die Heidegger als "Bahn und Reich der Zu-eignung" erläutert (ebd.), ist Wesung des Da-seins, auf deren Grunde sich erst das anfängliche geschichtliche Selbstsein des Menschen vollzieht, gesetzt, daß er inständlieh ist im Da-sein. Denn erst die Inständlichkeit im in sich gefügten Geschehnis von Zu- und Übereignung ermöglicht dem Menschen, "geschichtlich zu 'sich' zu kommen und bei-sich zu sein" (ebd., S.320). Sie vollzieht sich als Verzicht, der das Ereignis als Grund wesen läßt, als Herrschaft der Eignung, in der der Mensch erst wieder zu sich kommt. 14 Inständigkeit (Ek-sistenz) heißt Ausgesetztsein in die Offenheit des Seyns, in das abgründige Da, und dieses verhalten ausstehen, wesen lassen. In der Inständigkeit übernimmt der Mensch eigens die Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seyns, so daß er aus der Zu-eignung in die Zugehörigkeit zu sich kommt und bei sich ist. Bei-sieh-sein heißt dann gerade nicht, bei einem Subjekt Mensch sein, sondern Zugehörigsein dem Seyn selbst, das abgründige Offene des Seyns im gegenwendigen Geschehen (im Streit) von nichtendem Zu wurf und Entwurf bestehen und die zugeworfenen Seinsmöglichkeiten bergend, d.h. schaffend übernehmen. Weist Heidegger dann darauf hin, das so verstandene Bei-sieh-sein sei der (metaphyisch gesprochen) "zureichende Grund, um das Für Andere wahrhaft zu übernehmen" (ebd., S.320), dann wird gerade kein Egoismus einem Altruismus vorgeschoben. Vielmehr wird dadurch angezeigt, daß das ''Für Andere" gründet in der selbsthaft ereigneten Zugehörigkeit zum Seyn.

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Vgl. ebd., S.263. Vgl. ebd., S.31.

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c) Die andersanfängliche Wesensbestimmung des Menschen auf dem Grunde des Da-seins Der 171. Abschnitt der Beiträge beginnt: "Da-sein der in der Gründung wesende Grund des künftigen Menschseins. Das Da-sein - die Sorge. Der Mensch auf diesem Grunde des Da-seins: 1. der Sucher des Seyns (Ereignis) 2. der Wahrer der Wahrheit des Seins 3. der Wächter der Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes. Stille und Ursprung des Wortes." (ebd., S.294)

Die Wesensbestimmung des Menschen im anderen Anfang faßt Heidegger übergänglich dreifach als Suchersein, Wahrersein und Wächtersein. Sie gründet auf dem Da-sein - mit der Betonung auf dem "Sein", also der Inständlichkeit als der Sorge. Heidegger gebraucht also auch in den Beiträgen den in Sein und Zeit geprägten Begriff der Sorge, die den Grundzug des Daseins nennt: "In ihrem Namen [der Sorge] sammelt sich die Bestimmung des Menschen, sofern er aus seinem Grunde, d.h. aus dem Da-sein, begriffen wird, welches Dasein kehrig dem Ereignis als dem Wesen des Seyns ereignet ist und nur kraft dieses Ursprunges als Gründung des Zeit-Raumes ('Temporalität') inständlich werden kann, um die Not der Seinsverlassenheit zu verwandeln in die Notwendigkeit des Schaffens als der Wiederbringung des Seienden." (ebd., S.17f)

Die Sorge nennt in Sein und Zeit die Strukturganzheit des Daseins (Entwurf, Geworfenheit, Sein bei), welche in der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit gründet. Sie wurde aus dieser Zeitlichkeit entfaltet als stiftend boden-nehmendes Begründen. In den Beiträgen wird die Sorge in ihrer Ganzheit zurückgeführt auf die Verhaltenheit: "Sorge ist als Beständnis des Da-seins die vorgreifende Entschiedenheit zur Wahrheit des Seyns und die Zugewiesenes austragende Verhaftung in das Da zumal; der Grund dieses Zumal ist die Verhaltenheit des Daseins." (ebd., S.35)

Die vorgreifende Entschiedenheit nennt den Entwurfscharakter der Sorge, die austragende Verhaftung die Geworfenheit. Wir werden sehen, wie in der Wesensbestimmung des künftigen Menschen diese Hinsichten zu Wort kommen und wie sie in der Verhaltenheit gründen. Es wird sich auch ein Zusammenhang zwischen ihnen und den Zeitlichkeitsekstasen erweisen, wie sie Heidegger in Sein und Zeit entfaltet. Seynsgeschichtlich wird die in der Temporalität gründende Zeitlichkeit ursprünglicher als das Sichentfügen des Zeit-Raums gedacht, d.h. daß die Wesensbestimmungen des Menschen vom Zeit-Raum her zu entfalten wären. Da wir dazu noch nicht im Stande sind (die Ausfaltung des Zeit-Raums folgt erst), soll der Aufweis der Zeitlichkeitsekstasen lediglich eine

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erste Anzeige des Zusammenhangs zwischen künftigem Menschsein, Zeit-Raum und Verhaltenheit bieten. 1. Das Suchen des Seyns, das dem künftigen Menschen eignet, steht nicht, wie in der gewöhnlichen Bedeutung, im Gegensatz zum Finden. Es ist nicht bezogen auf ein Noch-nicht: "Suchen nach dem Seyn? Der ursprüngliche Fund im urspünglichen Suchen: Suchen - schon das Sich-in-der-Wahrheit-halten, im Offenen des Sichverbergenden und Sichentziehenden. Das Suchen (ursprünglich) als Grundbezug zur zögernden Versagung. Das Suchen als Fragen und dennoch Erschweigen. [... ] das ursprüngliche Suchen ist jenes Ergreifen des schon Gefundenen, nämlich des Sich verbergenden als solchen. [ ... ]

Daher wird der ursprüngliche Fund in der ursprünglichen Bergung gerade als das Suchen als solches geborgen. Das Fragwürdigste würdigen, im Fragen verharren, Inständlichkeit." (ebd., S.80)

Wenn das ursprüngliche Suchen nicht im Gegensatz zum Finden steht, fragt man sich, weshalb dann Heidegger gerade dieses Wort wählt. Warum das Suchen des Seyns? Das Suchen, so hören wir, ist ein Fragen. Im Suchen wie im Fragen liegt ein Gerichtetsein auf etwas hin. Jedes Fragen hat einen Horizont, der in der Frage schon eröffnet ist und innerhalb dessen wir eine Antwort suchen. Auch das Suchen hat in sich ein Geöffnetsein zu etwas hin, ist in sich erstreckt, geweitet in das Gesuchte und hat dieses solchermaßen schon "gefunden". Ja in gewissem Sinne geht das Gesuchte dem Suchen voraus, weist ihm seine Richtung und Bestimmtheit. Das Gesuchte ist jedoch als dieses Vorzeichnende zugleich verborgen. Im Suchen des Seyns ist dieses bereits der Wegweiser und ist dennoch verborgen, da es selbst als Sichverweigern west. Das Suchen des Seyns erläutert Heidegger als den Grundbezug zur zögernden Versagung. Das in ihm schon Gefundene ist das Sichverbergende als solches, das, wo der Sucher sich auf dieses zu hält, in solchem Auf-es-zu-halten "ergriffen" wird. Das so verstandene Ergreifen, das man im Hinblick auf das ereignende Seyn besser als ein im Entsprechen übernehmendes Zulassen oder Wesenlassen des Sichverbergenden im Offenen seiner Wahrheit begreifen kann, geschieht nicht neben dem Suchen, sondern als dieses selbst. Der im denkerischen Suchen geschehende Grundbezug zum Sichversagen hat entsprechend dem Sichversagen, aus welchem Da-sein im Gegenschwung ursprünglich ereignet wird, den Charakter des Er-schweigens und zwar auch und gerade dort, wo das zögernde Sichversagen des Seyns im verlautenden Wort geborgen wird. Die Erschweigung weist in den Ursprung der Sprache selbst, nämlich in das Sichversagen des Seyns, und bringt zum Ausdruck, daß

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die denkerische Sage von der Wahrheit des Seyns aus dieser selbst entspringt und nicht in einem Gegenüber zum Seyn von einem irgendwie losgelösten Subjekt ausgesagt wird. 15 Das Erschweigen schwingt im Gesprochenen als dessen abgründiger Grund, sofern das Gesprochene geschöpft ist aus dem hörenden Sichzuhalten auf das zögernde Sichversagen, das in seinem Zögern gerade das Zu-sagende zuweist. Dem hörenden Sichzuhalten auf das Sichverbergende liegt die Verhaltenheit zugrunde, aus der wir also das Suchen zu begreifen haben. Wir werden vor allem an die in der Verhaltenheit wesende Scheu erinnert, die Heidegger im Zusammenhang mit dem Suchen zwar nicht eigens nennt, der aber, wie er im Vorblick sagt, ins besondere "die Notwendigkeit der Verschweigung" (ebd., S.15) entspringt und so das "Wesenlassen des Seyns als Ereignis" (ebd., S.16). Aus der übergänglichen Perspektive von Sein und Zeit betrachtet ist das Suchen angezeigt im Vorlaufen in den Tod als der schlechthinnigen Verschlossenheit, welches primär in der Zeitekstase der Zukunft gründet, im vorlaufenden "Auf-sich-zu-kommen". Seynsgeschichtlich ursprünglicher gedacht schreibt Heidegger in der V. Fuge "Die Zu-künftigen": "Zuerst und eigentlich ist das Suchen das Vor-gehen in den Bereich, in dem Wahrheit sich eröffnet oder versagt. Suchen ist in sich zukünftig und ein In-dieNähe-kommen zum Sein. Das Suchen bringt den Suchenden erst zu ihm selbst, d.h. in die Selbstheit des Da-seins, in dem Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht. Das Selbst-sein ist der schon im Suchen liegende Fund [... ] " (ebd., S.398)

Wir werden hier ausdrücklich auf die "Zukünftigkeit" des Suchens hingewiesen, die wir wie in Sein und Zeit nicht vulgärzeitlich zu begreifen haben, sondern als ein Vor-gehen im Sinne des Entrücktseins und Erstrecktseins in den Bereich der Wahrheit des Seyns, aus dem das Suchen selbst er-eignet ist und seine Bestimmung empfängt. Sofern erst das in sich zukünftige Suchen als Grundbezug zum zögernden Sichversagen den Suchenden zu ihm selbst bringt, wird der als Sucher im Da-sein gegründete Mensch der künftige Mensch oder der Zukünftige genannt. Das Suchen als Fragen ist ein "Sich-in-der-Wahrheit-halten", ein Würdigen des Fragwürdigsten, nämlich des Offenen des Sichverbergenden und Sichentziehenden, dadurch, daß das Suchen im Fragen verharrt, liebend sich auf den Abgrund zu hält 16 • In diesen Wendungen kommt jeweils die Inständigkeit zu

Siehe ebd., S.79. Vgl. ebd., S.13: Das Suchen der Fragenden "liebt den Abgrund, in dem sie den ältesten Grund wissen". 15

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Wort, in der der Mensch ursprünglich ausgesetzt ist in das Da, in das abgründige Offene des lichtenden Sichverbergens. In der Inständigkeit gründen denn auch die weiteren Wesensbestimmungen des künftigen Menschen. 2. Die zweite andersanfängliche Wesensbestimmung des Menschen ist nicht etwa eine zweite neben dem Suchersein. Sie kam aufgrund der ursprünglichen Zusammengehörigkeit mit diesem bereits notwendig zur Sprache. Der andersanfänglich gründende Mensch ist suchend Wahrer der Wahrheit des Seyns, sofern er sich inständlieh in der Wahrheit hält. Das Sich-in-der-Wahrheit-halten ist zu denken aus der Verhaltenheit gegen das zögernde Sichversagen. Dieses ernötigt in der Verhaltenheit den inständig es ausstehenden Menschen, jenen, der in seinem Sein im Gegenhalt zum Sichverweigern dieses offenhält als Da des Da-seins. Der Mensch ist vom Seyn selbst gebraucht als jener, der das Offene bewahrt, in dem das Seyn in seinem Sichversagen geschehen kann. Solche Bewahrung geschieht nur in der Bergung etwa in Wort, Tat und Werk, in der Verwahrung des ursprünglich abgründigen Wahrheitsgeschehens im Seienden. Wenn Heidegger auch keinen expliziten Hinweis auf einen vorrangigen Zusammenhang des Bewahrens mit der Zeitekstase der Vergangenheit gibt, so ist er dennoch aufweisbar. Denn lag im Suchen das zukünftige Vor-gehen in die Wahrheit des Seyns, so kommt im Wahren als Bewahren der Gegenhalt zur Wahrheit des Seyns zur Sprache, der Rückhalt in der Verhaltenheit, in dem das Wahrheitsgeschehen so offengehalten wird, daß das Da-sein darin selbsthaft ereignet wird und der Mensch auf sich zurückkommend und so dem Seyn übereignet inständlich zum Wahrer der Wahrheit des Seyns wird. 3. Der künftige Mensch ist als Sucher des Seyns und Wahrer seiner Wahrheit zugleich Wächter der Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes. Die dritte Wesensbestimmung des Menschen ist im besonderen bezogen auf das Sichzeitigen (Vorbeigang) des Gottwesens im Augenblick seiner Götterung, d.i. der Augenblick der geschichtlichen Gründung des anderen Anfangs. Solcher Bezug zum Gottwesen ist, wie bereits entfaltet, zu denken aus dem Ereignis, das den Menschen aus der Not der Seinsverlassenheit dem Gott zueignet, indem er diesen dem Menschen übereignet. Die Übereignung des Gottwesens an den Menschen geschieht als Zuwurf seiner Notschaft und darin als Überantwortung des Menschen an das Da-sein: "Der Mensch ist bTÜckenständig im Zwischen, als welches das Er-eignis die Not der Götter zuwirft der Wächterschaft des Menschen, indem es diesen dem Dasein überantwortet." (ebd., S.488)

Die Überantwortung des Menschen an das Da-sein geschieht so, daß das Dasein aus der Notschaft des Gottes im Sichverweigern des Seyns sich zugeeignet wird und der Mensch auf diesem Grunde genötigt wird, in der Inständigkeit die

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Zugehörigkeit zur abgründigen Wahrheit des Seyns zu übernehmen. Das Zwischen, in dem der Mensch ''brückenständig'' ist, ist also das Da-sein. Dieses ist die Augenblicksstätte für den Vorbeigang des letzten Gottes und die Geschichte des Menschen zumal, in deren Gründung der Mensch verwandelt wird "in die Wächterschaft der Notschaft der Götter" (ebd.). Der Mensch wird verwandelt zum Wächter der Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes. Das Gottwesen göttert im geschichtegründenden Augenblick in einer Stille; Heidegger spricht auch von der "großen Stille" (ebd., S.34). "Diese Stille entspringt nur dem Schweigen. Und dieses Erschweigen entwächst nur der Verhaltenheit." (ebd.) Das Erschweigen ist die Weise, wie das Da-sein dem Sichversagen des Seyns entspricht und zwar im verhaltenen Sichzuhalten auf das zögernde Sichversagen (Suchen) und im verhaltenen Offenhalten der Wahrheit des Seyns im Gegenhalt zum Sichversagen (Wahren). Im ansichhaltenden Sich-zuhalten auf das zögernde Sichversagen in der Grundstimmung der Verhaltenheit geschieht die Sammlung in die Stille und der Mensch wird schaffend (bergend die Wahrheit in das Seiende) zum Wächter für diese Stille. 17 Sofern das Wächtersein in sich bezogen ist auf die Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes, d.h. auf den geschichtegründenden Augenblick, kann man in ihm einen vorrangigen Zusammenhang mit der Zeitekstase der Gegenwart sehen, die in sich freilich nur zu begreifen ist aus dem in sich einigen Sichzeitigen von "Zukunft" und "Gewesenheit". Das Wesen des künftigen Menschen zeitigt sich in den die Sorge konstituierenden drei Zeitekstasen, die in sich ursprünglich versammelt sind in der Verhaltenheit, in der der Mensch selbsthaft ereignet wird zum Sucher des Seyns, zum Wahrer seiner Wahrheit und zum Wächter der Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes, gesetzt, daß er inständig ist in solcher Verhaltenheit. Die Verhaltenheit ist die Grundstimmung des anderen Anfangs, in der sich die Bezüge des Ereignisses ursprünglich erschließen, und sie versammelt in sich schon die widerwendige Gerichtetheit in der Kehre des Ereignisses. Die Wesensbestimmung des Menschen erfolgt auf dem Grunde seiner verhaltenen Inständigkeit im Da-sein, welche sich zeithaft als Selbstsein konstituiert, aus dem Ereignis bzw. aus dessen Wesen als Eigen-turn. Wie dies geschieht, bleibt an dieser Stelle noch offen. 18

17 In der Verhaltenheit "stimmt sich das Da-sein auf die Stille des Vorbei gangs des letzten Gottes. Schaffend in dieser Grundstimmung des Daseins wird der Mensch zum Wächter für diese Stille" (ebd., S.17). 18 Vgl. § 12 dieser Arbeit: Der Zeit-Raum als der Ab-grund.

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Wenn man mit metaphysischer Distanz Heideggers Äußerungen folgt, nach denen der Mensch vom Seyn selbst ereignet ist, so daß in seinem daseinsmäßigen Schaffen nur das gegründet wird, was ihm vom Seyn selbst zugeworfen wird, und der Mensch letztlich "nur noch" Wächter und Wahrer der Wahrheit des Seyns bzw. "Hirt des Seins" ist, wie es im Humanismusbriejheißt (GA 9, S.342), dann mag die "übrigbleibende" Gestalt des Menschen ein recht dürftiges Bild abgeben. Jegliches Vermögen wird letztendlich dem Sein zugesprochen, auch dasjenige des Denkens 19 , woraus etwa M. Haar schließt, der Mensch werde seiner grundlegenden Vermögen beraubt, er habe kein eigenes Vermögen meh~o. In einer solchen Interpretation hat sich jedoch stillschweigend eine vorgestellte Dualität von Sein und Mensch eingeschlichen: Das Sein gibt und das armselige Subjekt Mensch empfängt hütend in stiller Demut die Gunst des Seins. Daß sich der neuzeitliche Mensch gegen ein solches Bild auflehnt, ist sicherlich gesund und richtig. Allein hat dieses Bild mit dem von Heidegger gedachten Wesen des künftigen Menschen wenig zu tun. Dieser steht anfänglich gedacht in keinem Gegenüber zu einer übermächtigen Seiendheit, sondern ist ausgesetzt in das Offene der Wesung des Seyns und erfährt diese als Ereignung, als ein Geben seines Eigensten, gesetzt, daß er sie im Da-sein übernimmt, d.h. sie inständig im Sein des Da aussteht. Wenn der Mensch, wie Heidegger im Humanismusbriej schreibt "in der Nähe des Seins wohnt" (GA 9, S.342), dann nennt die Nähe den Wesungsbereich der Wahrheit des Seyns selbst (den Zeit-Raum), in dem der Mensch inständig wohnt, seinen eigensten Wesensbereich hat. Metaphysisch gesprochen steht der Mensch, wohnt er im Mehr seiner "selbst" als einem Seienden. Diesem Mehr kann er niemals begrifflich habhaft werden. Es entfaltet sich jedoch im jeweiligen Menschsein als dessen eigenste Herkunft und als schöpferischer Quellgrund, sofern und nur sofern es suchend bewahrend offengehalten und schaffend (denkend, dichtend, handelnd) übernommen wird. d) Die Zukünftigen Das Verhältnis von Da-sein und Mensch ist von Heidegger in den Beiträgen übergänglich anfänglich er-dacht. Wenn wir aber auch ernst damit machen, daß das Da-sein erst gegründet werden muß, fragt es sich, wer denn die künftigen Menschen sind. Heidegger scheint sich bezüglich ihrer zu widersprechen. Denn zum einen sagt er: "Diese Zukünftigen gilt es vorzubereiten" (GA 65, S.395); und zum anderen: ''Heute sind schon Wenige dieser Zukünftigen" (ebd., S.400).

19 20

Vgl. GA 9, S.316. Siehe M. Haar: Heidegger et J'essence de J'homme, Grenoble 1990, S.171.

192

B. 1. 11. Die Gründung

Die Verwandlung des Wesens des Menschen auf dem Grunde des Da-seins geschieht schon heute, im seynsgeschichtlichen Denken, in der Dichtung (Hölderlin ist für Heidegger der Zukünftige par excellence, sofern in seiner Dichtung die Möglichkeit des anderen Anfangs gestiftet wird), in der Kunst und vielleicht auf anderen Wegen, auch und gerade dort, wo dies der Öffentlichkeit unbekannt ist. Doch beschränken wir uns auf das Denken: Die Vorbereitung der Zukünftigen geschieht im anfänglichen Denken "als Erschweigung des Ereignisses" (ebd., S.395), das selbst schon eine Verwandlung des Wesens des Menschen in sich schließt. "Unsere Stunde ist das Zeitalter des Untergangs. Unter-gang, im wesentlichen Sinne gemeint, ist der Gang zur verschwiegenen Bereitung des Künftigen, des Augenblicks und der Stätte, in denen die Entscheidung über Ankunft und Ausbleib der Götter fällt. Dieser Untergang ist erstester Anfang." (ebd., S.397)

Der ersteste (andere) Anfang ist im Übergang schon eröffnet, einige Zukünftige sind "schon". Kann das Denken sich nicht mit diesem Geschehnis bescheiden? Warum denkt Heidegger hinaus in einen noch unentschiedenen geschichtlichen anderen Anfang? Laufen wir nicht die Gefahr, den geschichtlichen anderen Anfang dann doch wieder als utopisches, großartiges "Ereignis" in der "Zukunft" vorzustellen, und verlieren wir in solcher Vorstellung nicht gerade das Gesuchte, das jeweils geschichtliche Sein des Da und das bergende Schaffen in inständiger Verhaltenheit? Wie entscheidet sich die Schwelle vom Übergang zum anderen Anfang? Ist nicht der Übergang die Schwelle selbst? Wodurch entscheidet sich der geschichtliche andere Anfang? Entscheidet er sich nicht durch die Zukünftigen? Und hieß es nicht, einige davon seien schon? Im 45. Abschnitt der Beiträge aus dem Vorblick scheint Heidegger eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Die Entscheidung über Geschichte oder Geschichtsverlust und damit über den anderen Anfang (Geschichte) fällt durch die Erfahrung und be standhafte Ermächtigung des "Auftrags", welcher ist: "die Bergung der Wahrheit des Ereignisses aus der Verhaltenheit des Daseins in die große Stille des Seyns"(ebd., S.96). D.h. im Bezug auf den Menschen fällt die Entscheidung "durch das Geschenk oder den Ausbleib jener ausgezeichneten Gezeichneten, die wir 'die Zukünftigen' nennen [... l" (ebd.). "Zu diesen Gezeichneten gehören: 1. Jene wenigen Einzelnen, die in den wesentlichen Bahnen des gründenden Daseins (Dichtung - Denken - Tat - Opfer) für die Bereiche des Seienden die Stätten und Augenblicke vorausgründen. Sie schaffen so die wesende Möglichkeit für die verschiedenen Bergungen der Wahrheit, in denen das Da-sein geschichtlich wird.

§ 10. Da-sein und Mensch

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2. Jene zahlreicheren Bündischen, denen es gegeben ist, aus dem Begreifen des wissenden Willens und der Gründungen der Einzelnen die Gesetze der Umschaffung des Seienden, der Wahrung der Erde und des Entwurfs der Welt in ihrem Streit zu erahnen und im Vollzug sichtbar zu machen. 3. Jene vielen Zueinanderverwiesenen, gemäß ihrer gemeinsamen geschichtlichen (erdhaft-welthaften) Herkunft, durch die und für die die Umschaffung des Seienden und damit die Gründung der Wahrheit des Ereignisses Bestand gewinnt." (ebd.)

Hier wird oberflächlich gesehen zunächst der Anschein geweckt, der andere Anfang sei abhängig von der wachsenden Anzahl der Zukünftigen. Die Entwicklung geht deutlich von den Einzelnen zu den Vielen. Dazwischen sind die zahlreicheren Bündischen, die Heidegger weiterhin die "Wenigen" nennt. Dennoch verweist er darauf, die Einzelnen, die Wenigen und die Vielen seien "nicht als Anzahl genommen, sondern hinsichtlich ihrer Gezeichnetheit" (ebd., S.97). Ihre jeweilige Gezeichnetheit ist aber darin zu suchen, wie sie jeweilig zukünftig sind. 1. Von den wenigen Einzelnen, die für die Bereiche des Seienden die Stätte und Augenblicke vorausgründen, kennen wir im Sinne Heideggers wenigstens zwei: so wie Hälderlin der Dichter der künftigen Dichtung ist, ist Heidegger selbst der Denker des künftigen Denkens. Denn sein Denken ist als Fragen und Suchen eben darauf gerichtet, die Augenblicksstätte für die Entscheidung erdenkend zu gründen. Die wenigen Einzelnen sind solche gemäß ihrem Auftrag: der erstmaligen Stiftung und vorbereitenden Gründung des Entscheidungsbereiches, innerhalb dessen durch die Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende (ins dichterische oder denkerische Wort) Da-sein geschichtlich wird. Die wenigen Einzelnen sind die genannten Unter-gehenden, die ohne Vorläuferschaft erstmals in die Bereiche des anfänglichen Sichverbergens eindringen und so notwendig Einsame21 sind.

2. Die zahlreicheren Bündischen (die Wenigen) sind nicht etwa untereinander bündisch, sondern im Hinblick auf die Einzelnen, deren wissenden Willen und Gründungen sie begreifen, so daß sie die Gesetze der Umschaffung des Seienden, also seine Bergung im Sinne der Rückgrundung in die Wahrheit des Seyns (v gl. Bergung), im Vollzug und d.h. gründend bergend sichtbar machen. Solches kann wieder in der Dichtung geschehen, im Denken (man bedenke unter diesem Aspekt Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlin), in den Künsten, in der politischen Tat und auf andere Weise 22 •

21 Zum Bezug zwischen Einsamkeit und Nichts siehe § 13 dieser Arbeit die 8. Ereignisweise. 22 Vgl. § 15 dieser Arbeit.

13 Neu

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B. 1. 11. Die Gründung

3. Die Auszeichnung der vielen Zueinandergewiesenen ist offenbar die, daß durch und für sie die bergende "Gründung der Wahrheit des Ereignisses Bestand gewinnt" und zwar "gemäß ihrer gemeinsamen geschichtlichen (erdhaftwelthaften) Herkunft" (ebd., S.96, meine Betonung). Diese wird stiftend eröffnet durch die wenigen Einzelnen, und werkhaft sichtbar gemacht durch die zahlreichen Bündischen. Die Zueinandergewiesenen sind solche nur aufgrund der zuvor erfolgenden Eröffnung und Sichtbarmachung ihrer gemeinsamen Herkunft, durch die für sie die andersanfängliche Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende Bestand gewinnt. Zwischen den Einzelnen, den Wenigen und den Vielen gibt es, so Heidegger, ein verborgenes "Einverständnis", das "vom je verschiedenen Walten des Ereignisses" durchherrscht ist (ebd., S.97). Das Ereignis waltet je verschieden in der Ereignung der Einzelnen, Bündischen und Zueinandergewiesenen gemäß ihrer je eigenen Weise des gründenden Bergens. In seinem jeweiligen Walten bereitet sich eine ursprüngliche Sammlung vor, "in der und als die dasjenige geschichtlich wird, was ein Volk genannt werden darf" (ebd.). Für Heidegger wird der andere Anfang offenbar nur dann in seiner ganzen Fülle geschichtlich, wenn er zur Geschichte eines Volkes wird. Auch das Volk dürfen wir nicht zahlenmäßig begreifen, sondern aus der Einzigkeit des Seyns selbst, das durch die Zukünftigen als den eigentlich Schaffenden gegründet wird. In seiner Hölderlin-Vorlesung vom WS 34/35 weist Heidegger darauf hin, daß die eigentlich Schaffenden: Dichter, Denker und Staatsschöpfer "eigentlich das geschichtliche Dasein eines Volkes gründen und begründen" (GA 39, S.51; vgl. auch ebd., S.288. In diesem Sinne ist Hölderlin als der Dichter des deutschen Volkes zu begreifen.). Doch muß das Volk selbst seine Wahrheit "einmalig an einer einzigen Stätte in einem einzigen Augenblick" gründen (GA 65, S.97). Solche Einzigkeit hat ursprünglich nichts zu tun mit einem Jetztpunkt, einem ''historischen Augenblick" und einem geographischen Ort. Sie ist zu begreifen aus der Einzigkeit des Seyns selbst, das im Da-sein als der Augenblicksstätte jeweilig durch die Zukünftigen berg~nd gegründet ist. Solche im schaffenden Da-sein gegründete Einzigkeit des Seyns wird als Volk im vollen Sinne geschichtlich. In unserer modemen Zeit der weltweiten kommunikativen Vernetzung ist es freilich schwierig zu verstehen, was Heidegger unter einem geschichtlichen Volk versteht. Es läßt sich nicht an äußeren Anzeichen, wie der Gebundenheit an eine geographische Gegend und das Eingelassensein in eine gemeinsame Tradition, festmachen, wie sie früher war und sich in Sitten und Gebräuchen, lokalen Zubereitungen von Speise und Trank und religiösen Praktiken manifestierte. Vielmehr ist es solches aus einer gemeinsamen welthaft-erdhaften Herkunft, die durch die Zukünftigen gestiftet und begründet wird.

§ 11. Da-sein und Wahrheit des Seyns

195

Das Begreifen des Volkhaften des Volkes verlangt nach einer eigens durchzuführenden Studie, die es aus der Dichtung, dem Denken, der staatsgründenden Tat und der Kunst zu entfalten hätte. Ein das jeweilige Volk öffnender und umgrenzender Wesens- und Bergungsbereich wäre auch im Bezug auf die jeweilige Sprache zu erörtern (etwa im Andenken an die griechische Sprache im ersten Anfang). Erst dann ließe sich auch begreifen, weshalb Heidegger insbesondere vom deutschen Volk spricht, dem Volk, dem Hölderlin und er selbst zugehören. Wir müssen uns hier jedoch darauf beschränken zu sehen, daß für Heidegger die Schwelle zum anderen Anfang bereits betreten ist, sobald schon einige Zukünftige sind, daß aber die volle Ausfaltung des geschichtlichen anderen Anfangs nur dann geschieht, wenn ein Volk au/grund der durch die Schaffenden vollzogenen gründenden Bergung, geschichtlich wird. § 11. Da-sein und Wahrheit des Seyns

a) Da-sein als die sich öffnende Mitte in der Kehre des Ereignisses Wurde bislang für das Verhältnis von Da-sein und Mensch vor allem das "sein" des Da-seins und so die Inständlichkeit als Bereich des Menschen im Dasein thematisiert, soll nun im folgenden für die Hervorhebung des "Zwischenhaften", das dem Da-sein eignet, auch das ''Da-'' des Da-seins näher entfaltet werden: die Lichtung für das Sichverbergen als die Wesung der Wahrheit. Im Da-sein trifft der künftige Mensch auf das Andere zu ihm selbst, oder besser: erfährt er sich ausgesetzt in das Offene als das Freie und Ungeschützte, das er inständlich zu übernehmen und im Seienden zu bergen hat, um so erst er selbst zu werden. Der ereignete Entwurf des Da-seins erspringt und öffnet als der Gegenwurf des Seyns erst das Da (das Offene) "als das Freie der Kühnheit des Schaffens"23 und "als das Ungeschützte des Austrags der Geworfenheit" (GA 65, S.328). Das Freie des Ent-wurfs und das Ungeschützte der Geworfenheit sind "in sich zusammengehörig als die Lichtung des Sichverbergens" (ebd.), die es im Da-sein zu gründen gilt, so daß dieses rückgegründet bleibt in seinen Grund: die Wesung der Wahrheit des Seyns. Dieses zwiefache Gründen: die Gründung der Lichtung für das Sichverbergen im Da-sein und die Gründung des Da-seins in die Wahrheit des Seyns, nennt die Kehre im Ereignis, welche

23 Das Schaffen ist hier nicht im weiten Sinne der Bergung, sondern im engeren Sinne des stiftenden Entwurfs zu verstehen.

13·

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B. 1. 11. Die Gründung

schwingt zwischen Zuruf und Entwurf, so daß heide darin erst er-schwungen werden in ihrer Gegenwendigkeit. Im 140. Abschnitt der Beiträge schreibt Heidegger: "Die Wahrheit des Seins und so dieses selbst west nur, wo und wann Da-sein. Da-sein 'ist' nur, wo und wann das Sein der Wahrheit. Eine, ja die Kehre, die eben das Wesen des Seins selbst als das in sich gegenschwingende Ereignis anzeigt. Das Ereignis gründet in sich das Da-sein (1.). Das Da-sein gründet das Ereignis (11.). Gründen ist hier kehrig: I. tragend durchragend, 11. stiftend entwerfend [... ]." (ebd., S.261)

Warum spricht Heidegger hier einmal von der Wahrheit des Seins und das andere mal vom Sein der Wahrheit? Inwiefern liegt in der Umkehr dieser Wendung schon die Anzeige der Kehre im Wesen des Seins selbst, wie Heidegger immer wieder vermerkt?24 Die Wahrheit ist nie einfach nur Offenheit, sondern wesenhaft Lichtung für das Sichverbergen: Wahrheit ist wesenhaft Wahrheit des Seyns. Ihre Lichtung muß erst im geworfenen Entwurf als das Da eröffnet und so gestiftet werden, indem er sie als das Freie und Ungeschützte im Da-sein erreicht und übernimmt. Der Entwurf läßt so die Lichtung für das Sichverbergen erst als den Grund wesen und gründet sie durch ihre Bergung in das Seiende. Im Sichverbergen aber west das Seyn in der Lichtung des Da25 . Es braucht diese Lichtung und so die Gründung im Da-sein, um als das Sichverbergende wesen zu können, und er-eignet in seinem Brauchen das Da-sein. Das Sichverbergen erweist sich so als ein Wesenscharakter des Seyns (ebd., S.330), nämlich der, kraft dessen, sofern es in das Offene hereinsteht, Seyn als Ereignis west, als zuweisendes Sichversagen.26 Mit dem Hinweis auf die Er-eignung des Da-seins sind wir unvermittelt übergekehrt zum Sinn der zweiten Wendung: das Sein der Wahrheit. Wahrheit west nur gegründet im Da-sein, sofern Seyn die Wahrheit braucht, um als Ereignis wesen zu können, und so das Da-sein ereignet. Wahrheit west nur in der Ereignung. Die Wesung der Wahrheit ist Lichtung vom Sichverbergen und für das Sichverbergen zumal.

Vgl. GA 65, S.95. Vgl. ebd., S.342. 26 Da das Seyn als Sichversagendes sich im Ereignis gerade entzieht, schreibt Heidegger in späteren Jahren das als Ereignis gedachte Seyn (nicht das Sein im Sinne des Anwesens) durchgestrichen: Sein. Vgl. Heideggers Anmerkungen zum Humanismusbrief, GA 9, S.306 (von 1943) und S.315 (von 1949). 24 25

§ ll. Da-sein und Wahrheit des Seyns

197

Durch die Zugehörigkeit zum Sichversagen des Seyns in der Inständigkeit im abgründigen Wahrheitsgeschehen ist das Da-sein in der Wahrheit des Seyns gegründet. Das Ereignis ist so der verborgene Grund, der in seinem Sichverbergen das Da-sein ereignend trägt und es im Da ereignend durchragt. Da-sein ist als das Ereignete nicht einfach im Gegenüber zum Zuwurf vorzustellen, so daß irgendwo "dazwischen" die Wahrheit des Seyns west, sondern Da-sein öffnet sich und geschieht im lichtenden Sichverbergen als Gründungsstätte und Wendungsmitte des Ereignisses. Im 191. Abschnitt schreibt Heidegger: "Das Da-sein ist der Wendungspunkt in der Kehre des Ereignisses, die sich öffnende Mitte des Widerspiels von Zuruf und Zugehörigkeit, das Eigentum, verstanden wie Fürsten-turn, die herrschaftliche Mitte der Er-eignung als Zueignung des Zu-gehörigen zum Ereignis, zugleich zu ihm: Selbstwerdung. So ist das Da-sein das Zwischen zwischen den Menschen (als geschichtegründenden) und den Göttern (in ihrer Geschichte). Das Zwischen, das nicht erst sich aus dem Bezug der Götter zu den Menschen ergibt, sondern jenes Zwischen, das erst den Zeit-Raum gründet für den Bezug, indem es selbst in der Wesung des Seyns als Ereignis entspringt und als sich öffnende Mitte die Götter und die Menschen für einander entscheidbar macht." (ebd., S.311f)

Das Da-sein ist der im Ereignis ereignete Herrschaftsbereich, d.i. jener Bereich, in dem das Ereignis als erschwingender Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit geschieht, Geschichte wird, der Bereich, in dem es tragenddurchragend gründet. Da-sein geschieht als Eigentum (Selbstwerdung) durch die Zueignung des Da-seins zu ihm selbst in seiner Zugehörigkeit zum Ereignis. Da-sein ist als die sich öffnende Mitte die Augenblicksstätte, in der Seyn als Zerklüftung west, in der aus der Ereignung Götter und Menschen in ihre Geschiedenheit auseinandertreten und zugleich in der Zu- und Übereignung sich ent-gegnen. Im Da-sein ent-fügt sich der Zeit-Raum für diese Ent-gegnung als Ab-grund, der, wie wir sehen werden, aus dem in ihm sich öffnenden Ereignis als dem Ur-grund 27 zu denken ist. b) Das Wesen des Grundes im Wesen der Wahrheit Das Wesen des Grundes liegt nicht im Sichverbergen allein, auf dem dann, gleich wie auf einem seienden Grund, alles Sichlichten von Seiendem beruht, sondern im in sich einigen Geschehen von Lichtung und Verbergung als dem Wesen der Wahrheit des Seyns. Der Grund ist in erster Linie nicht das, worauf

27

Vgl. ebd., S.380.

198

B. 1. 11. Die Gründung

etwas gründet, noch das Warum und so die wirkende Ursache des Gründens. Der Grund west vielmehr in erster Linie als das Worin des Gründens28 • Sofern der Grund als lichtendes Sichverbergen im Da-sein gründet, ist er wesenhaft Ab-grund. 29 Gleichwohl erschöpft sich darin das Wesen des Grundes nicht. Wie schon angezeigt, gehört zu diesem auch der Ur-grund, nämlich das Ereignis, und der Un-grund, was noch aufzuweisen ist. "Der gegründete Grund ist zugleich Abgrund für die Zerklüftung des Seyns und Ungrund für die Seinsverlassenheit des Seienden." (GA 65, S.31)

Heidegger spricht hier vom im Da-sein gegründeten Grund in seiner zweifachen Nichtigkeit: einmal als Ab-grund, dann als Un-grund. Den Ab-grund nennt er die "ursprüngliche Wesung des Grundes" (ebd., S.379) oder auch die "erste Wesung des Grundes" (ebd., S.383). Das Ereignis ereignet nur im lichtenden Sichverbergen. Dieses "nimmt das Ereignis auf und läßt, es tragend, seine Schwingung durch ragen durch das Offene" (ebd.). Das Offene wird ausgestanden im Da des Da-seins, indem das Da-sein aus seiner Offenständigkeit den Zuwurf des Seyns als die Schwingung des Ereignisses empfängt und entwerfend übernimmt. ''Tragend - ragenlassend ist die Wahrheit der Grund des Seyns. Der 'Grund' nicht ursprünglicher als das Seyn, sondern der Ursprung als das, was dieses, das Ereignis, erspringen läßt." (ebd.)

Tragend und ragenlassend west die Wahrheit nicht nur als Ab-grund, sondern als Grund des Seyns. Der Genitiv ist hier wieder kehrig zu denken, was eine andere Stelle in den Beiträgen deutlich werden läßt, wo Heidegger schreibt: Die Wahrheit "ist der Grund als zurücknehmender und durch ragender, der das Verborgene überragt, ohne es aufzuheben, die als dieser Grund stimmende Stimmung. Denn dieser Grund ist das Ereignis selbst als Wesung des Seyns. Das Ereignis trägt die Wahrheit = die Wahrheit durchragt das Ereignis." (ebd., S.346)

28 Vgl. ebd., S.29: "Die Wahrheit als Wesen des Grundes: Grund - das Worin gegründet (nicht das Woher der Ursache)." 29 Da der Grund als Ab-grund gründet, ist es nicht ganz korrekt, wie Richardson in seinem Aufsatz "Dasein and the Ground of Negativity" zu sagen, der Ab-grund sei ursprünglicher als der Grund (S.42). Es sei denn man würde diesen metaphysisch begreifen. Seynsgeschichtlich muß der Grund als Geschehnis begriffen werden, das gleichursprünglich ab-gründig, un-grundig und auch ur-gründig ist. Den Ur-grund, als welcher das Ereignis west, thematisiert Richardson in seinem Aufsatz nicht. Er beschränkt sich vielmehr willentlich auf den Aufweis des Nichthaften im Wesen des Grundes, das auf die Kehre im Ereignis und somit in dessen tiefsten Grund verweist (ebd., S.45). Mit seinen Ausführungen stimmen wir im Übrigen überein.

§ 11. Da-sein und Wahrheit des Seyns

199

Tragen und Durchragen sind in sich kehrig. Die Wahrheit überragt das Seyn als Sichverbergen in seiner Lichtung, so daß das Seyn als Ereignis darin west, als Schwingung bzw. Zuruf und Zugehörigkeit erschwingender Gegenschwung. Also durchragt die Wahrheit das Ereignis. Wahrheit öffnet sich aber als Grund nur in einer Grundstimmung, die im Ereignis stimmt, das so die Wahrheit trägt. "Die Wahrheit als Grund grundet aber ursprünglich als Ab-grund" (ebd., S.383), als welcher sie der Ursprung ist, der nothaft das Ereignis erspringen läßt, so daß der Sprung allerdings selbst schon ereignet ist. Erst die Lichtung des Sichverbergens bringt die Not ins Offene, die den Einsprung in das Da-sein als dessen Gründung ernötigt. Der Abgrund öffnet so erst die Zerklüftung des Seyns, in der das Ereignis geschieht; er ist aber dennoch aus der Ereignung des Ereignisses als dem Urgrund zu denken, der die Wahrheit und so den Abgrund zu seiner Wesung braucht und seine Gründung im Da-sein ereignend ernötigt. Zum Wahrheitsgeschehen gehört nicht nur die Verbergung in der Weise des Sichversagens, als welches das Seyn ursprünglich nichtbaft west, sondern zugleich das Verstellen. Im Verstellen west Wahrheit als der Ungrund. Das Verstellen und der Un-grund verlangen die Entfaltung des Wesens der Wahrheit in einer Hinsicht, die bislang nur periphär in den Blick kam, die aber gleichwesentlich zum Geschehen der Wahrheit und Gründung gehört. Es handelt sich um den Bezug der Wahrheit zum Wahren als dem Seienden, also um die Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden. Da die Bergung speziell Thema des ganzen nächsten Kapitels sein wird, soll der Bezug zwischen Wahrheit und Seiendem nur in seinen Grundzügen angerissen werden. Im Ursprung des Kunstwerks schreibt Heidegger; "Die Wahrheit ist der Urstreit, in dem je in einer Weise das Offene erstritten wird, in das alles hereinsteht und aus dem alles sich zuIiickhält, was als Seiendes sich zeigt und entzieht. [... ] Die Offenheit dieses Offenen, d.h. die Wahrheit, kann nur sein, was sie ist, nämlich diese Offenheit, wenn sie sich und solange sie sich selbst in ihr Offenes einrichtet. Darum muß in diesem Offenen je ein Seiendes sein, worin die Offenheit ihren Stand und ihre Ständigkeit nimmt. Indem die Offenheit das Offene besetzt, hält sie dieses offen und aus." (GA 5, S.48)

Das Wahrheitsgeschehen (die Offenheit) ist nicht einfach ein Geschehen für sich, das allem Seienden zugrundeliegt. Wenn Wahrheit ist bzw. sich ereignet, dann nur als augenblickhaftes Geschehen im jeweiligen Seienden. Die Offenheit ist eine bestimmte ("diese") auch dadurch, daß sie sich in ihr Offenes einrichtet, d.h. durch ihre Bergung im Seienden. 30

30 Streng genommen ist die Bergung urspIiinglicher zu begreifen als die Einrichtung. Vgl. GA 65, S.71.

200

B. 1. 11. Die Gründung

Um als Lichtung wesen zu können und nicht sogleich in die Verborgenheit zurückzusinken, muß die Lichtung offengehalten werden. Die Lichtung muß sich ihren Stand und ihre Ständigkeit dadurch erstreiten, daß sie sich in ein Seiendes einrichtet. Dieses ist nicht einfach als ein vorher schon anwesender Gegenstand vorzustellen, sofern das Seiende als solches durch die Wahrheit erst eröffnet wird. Daher sagt Heidegger, die Wahrheit richte sich selbst in ihr Offenes ein; freilich nur durch die Inständigkeit des Menschen im Da-sein. Das "Seiende" wird wahrhaft seiend nur dadurch, daß in ihm Wahrheit geschieht. Wahrheit geschieht ursprünglich nur, sofern sie daseinshaft ausgestanden und im Seienden geborgen wird. "Die Gründung des Da-seins geschieht als Bergung der Wahrheit in das Wahre, das so erst wird. Das Wahre läßt das Seiende seiend sein." (GA 65, S.344)

Das Wahre, von dem Heidegger hier spricht, ist das Offene, das im Urstreit der lichtenden Verbergung erstritten wird. Seiendes ist nur, sofern es in das Offene hereinsteht und sich zurückhält (dies verweist auf den Streit von aufgehender Welt und sich verschließender Erde). Im Sein des Seienden wird das Offene offengehalten und west als das Wahre der Wahrheit, als das im Urstreit Erstrittene. Heidegger faßt diese Zusammenhänge auch im 220. Abschnitt der Beiträge: "Die Wahrheit selbst ist jenes, worin das Wahre seinen Grund hat.

Grund hier: 1. das, worin geborgen, wohin einbehalten;

2. wodurch emötigt; 3. wovon durchragt. Das Wahre: was in der Wahrheit steht und so seiend bezw. unseiend wird. Wahrheir. die Lichtung für die Verbergung (Wahrheit als die Un-Wahrheit), in sich strittig und nichthaft und ursprüngliche Innigkeit (vgl. Gründung und Frankfurter Vorträge), und dieses, weil Wahrheir. Wahrheit des Seyns als Ereignis. Das Wahre und das Wahre sein zugleich bei sich das Unwahre, das Verstellte und seine Abwandlungen. Die Wesung der Wahrheit." (GA 65, S.345)

Das Wahre ist einbehalten im lichtenden Sichverbergen, sofern es das durch dieses erstrittene Offene ist. Als erstrittenes ist es ernötigt: das Sichverbergen braucht die Lichtung, um als solches wesen zu können; die Lichtung braucht das Sichverbergen, um als solche wesen zu können. In diesem gegenwendigen Brauchen entfacht sich der Streit, in dem das Wahre erstritten wird, in das der Streit sich einrichtet, so daß er dieses durchragt. Das Wahre steht in der Wahrheit und ist als ständiges seiend bzw. unseiend. Unseiend ist das Wahre das "Unwahre", das Heidegger als das "Verstellte und seine Abwandlungen" erläutert. Dieses geschieht, sofern das Seiende zwar

§ 11. Da-sein und Wahrheit des Seyns

201

erscheint, aber sich anders gibt als es ise l • Im Offenen stehend erscheint das Seiende und bietet dem Vernehmen einen Anblick. Doch stellt sich zuweilen heraus, daß etwas anders schien als es sich im nachhinein zeigte. Der bloße Schein einer Sache kann zerfallen und ein vormals verhülltes Geschehen kann aufgedeckt werden. Oder ein einzigartiges Geschehnis sinkt in die Gewohnheit herab. Für die Verstellung und ihre Abwandlungen (in Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, wird sie als die Irre entfaltet) ließen sich unzählige Beispiele finden. In jeglicher Weise des vorstellenden Denkens ist das Seiende im Grunde unwahr und unseiend, sofern dort das Seiende als Gegenstand nur hinsichtlich seines dem Vor-stellen zugekehrten Anblicks genommen wird und nicht durch die Inständigkeit im Da-sein geborgen bzw. eingelassen ist in seinen ursprünglichen abgründigen Grund. Heidegger entfaltet das erstanfängliche Verflachen des Seienden zu einem Vorgestellten (im weitesten Sinne) etwa in seiner Vorlesung Einführung in die Metaphysi12 2 und zeigt zugleich, wie das Abfallen des Seienden zum Unseienden im sich verbergenden Seyn gründet, das die Lichtung bzw. Anwesung braucht, um als solches wesen zu können. Dabei verdeckt aber gerade das in der Anwesung anwesende Seiende das Anwesenlassen und Sichverbergen. Das Anwesenlassen entzieht sich zugunsten des erscheinenden Seienden. Entscheidend für uns ist zu sehen, inwiefern das Verstellte bzw. Unwahre nicht ein "Zusatz" zum Wahrheitsgeschehen ist, oder eine aufgelegte Verdekkung, unter der dann die "reine Wahrheit" anzutreffen ist. Vielmehr gehört die Unwahrheit wesenhaft zum Wahrheitsgeschehen: "Die Verbergung kann ein Versagen sein oder nur ein Verstellen. Wir haben nie geradezu die Gewißheit, ob sie das eine oder das andere ist. Das Verbergen verbirgt und verstellt sich selbst." (GA 5, S.41)

Durch diese reflexive Wendung, nach der das Verbergen, das im Wesen der Wahrheit geschieht, sich selbst wesenhaft verbirgt (im Sichversagen des Seyns) und verstellt (im Unwahren und Unseienden) werden wir auf das Ereignis verwiesen. Dieses ist nur als das Ereignis der Gründung im Da-sein. Und das Menschsein, das in diesem gegründet ist, ist zutiefst endlich; nicht nur im Hinblick auf das Sein zum Tode, in dem die ursprüngliche Verbergung widerscheint, sondern auch im Hinblick darauf, daß es dem Trug, der Verstellung der Wahrheit wesenhaft ausgesetzt ist.

Vgl. GA 5, S.40. Siehe GA 40 das vierte Kapitel und besonders S.110 ff und 116f über die Zusammengehörigkeit und das Auseinandertreten von Sein und Schein. 31

32

202

B. I. 11. Die Gründung

Das Unwahre kann also nicht einfach auf eine Unfähigkeit des Menschen zurückgeführt werden, der, wenn er sich nur der rechten Methoden aneignet und die rechten Regeln befolgt, sich der "reinen Wahrheit" vergewissern kann. Und je tiefer das Menschsein aus dem Da-sein der Wahrheit des Seyns zugehörig ist, desto tiefer liegt auch die Gefahr und Möglichkeit der Irre. Die Verbergung verbirgt und verstellt sich selber, weil in ihr das Seyn als Ereignis west, welches das Da-sein ereignet, in dessen Offenem Seiendes anwest und erscheint. Im Anwesenden verbirgt das Sein sich aber zwiefach: zum einen, sofern zum Anwesen (Lichtung) das Sichverbergen gehört, zum anderen, sofern das Sichverbergen selbst durch das anwesende Seiende verdeckt oder verstellt bleibt. Die Wahrheit ist "Unwahrheit"33 im Doppelsinn der Verbergung und der Irre bzw. Verstellung. Sie ist Grund als Ab-grund, in dem der Urstreit von Lichtung und Verbergung geschieht, und Un-grund, sofern sie dazu neigt, im Seienden verdeckt und verstellt zu werden. Aber sie kann auch, im Offenen der Möglichkeit der Irre ursprünglich gründend, im Seienden gerade als der Urstreit von lichtender Verbergung im Streit von Welt und Erde verwahrt werden. " Grund - stiftend - tragend - belegend Ab-grund

und

Verbergung

Un-grund

Verstellung

des Seyns Nichtung

Verwesung" (GA 65, S.308)

§ 12. Der Zeit-Raum als der Ab-grund

a) Der Ab-grund als die erste Wesung des Grundes Der Ab-grund im Wesen der Wahrheit ist die "erste Wesung des Grundes" (GA 65, S.383), die im er-gründenden Sprung in das Ereignis gründet. Im Abgrund öffnet sich die Zerklüftung des Seyns, die sich zeit-räumlich entfügt und ihre weiteste Ausmessung im Bedürfen des Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen hat. Das Beständnis des Ab-grunds ist der erste wesentliche Schritt im Übergang

33 Die 'Unwahrheit" bezieht sich auf das zweifach nichtige Wesen der Wahrheit. Heidegger ist sich der Verfanglichkeit dieser Fassung bewußt (vgl. GA 65, S.351), deren innerer Widerstreit, wie mir scheint, in provozierender Weise auf das Nichthafte der Wahrheit deuten soll. (Vgl. ebd., S.356)

§ 12. Der Zeit-Raum als der Ab-grund

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zum anderen Anfang. Den Ab-grund und damit das lichtend-verbergende Wahrheitsgeschehen offen zu halten ist schon ein Anfangen des anderen Anfangs, ja sogar das anfänglichste Anfangen, wenn auch nicht schon der volle geschichtliche andere Anfang, der nach Heidegger das Geschichtlichwerden eines Volkes aufgrund der Bergung der Wahrheit des Seyns durch die Zukünftigen verlangt. Die Betonung des Abgründigen und des Sichverbergens im Wesen des Seyns ist kein nihilistischer Zug im Denken Heideggers, sondern entwächst der Einsicht, daß für eine Zugehörigkeit zum Seyn dieses in seinem anfänglichsten und äußersten Wesen aufgedeckt werden muß durch die Erfahrung und das Ausstehen der Not der Seinsverlassenheit. Im Da-sein öffnet sich übergänglich der Ab-grund als die Augenblicksstätte (Zeit-Raum) der Entscheidung über das Gotthafte und die Geschichte des Menschen. Die Augenblicksstätte ent-fügt sich aber selbst in der ursprünglichen Ent-scheidung als die Wesung der Wahrheit des Seyns: "das Auseinandertreten selbst, das scheidet und im Scheiden erst in das Spiel kommen läßt die Er-eignung eben dieses im Auseinander Offenen als der Lichtung für das Sichverbergende und noch Un-entschiedene, die Zugehörigkeit des Menschen zum Seyn als des Gründers seiner Wahrheit und die Zugewiesenheit des Seyns in die Zeit des letzten Gottes" (ebd., S.88).

Das Sichentfügen des Zeit-Raums im Da-sein geschieht in der ursprünglichen Ent-scheidung als dem Wesen des Ereignisses. Es ist die Weise, in der die Erklüftung des Seyns im Da-sein ursprünglich auseinandertritt und sich der ursprüngliche Bereich der Geschichte öffnet, der das Gotthafte, das Wesen des Menschen und das bergend-gegründete Seiende ins Spiel treten läßt, und zwar nicht überhaupt und im Allgemeinen, sondern in der Einzigkeit des Da-seins und der Wesung des Seyns als Ereignis. Von hier aus ist Heideggers eröffnender Hinweis auf den Zeit-Raum und die "Faktizität" des Daseins zu begreifen: "Der Zeit-Raum und die 'Faktizität' des Daseins (v gl. Laufende Anmerkungen zu 'Sein und Zeit' I, Kapitel 5!). Das Inzwischen der Kehre und zwar als geschichtlich eigens inständliches! Bestimmt sich als das Jetzt und Hier! Die Einzigkeit des Da-seins. Daher Einzigkeit des wissenden Bestehens des Aufgegebenen und Mitgegebenen." (ebd., S.371)

Im Kapitel 5 von Sein und Zeit (S.135) erläutert Heidegger durch die Faktizität die Geworfenheit des Daseins. Die Faktizität bezieht sich nicht auf das Vorkommnis eines Vorhandenen, sondern ist ein Seinscharakter des Daseins. Sie ist Faktizität der Überantwortung des Daseins an sein 'Daß es ist und zu sein hat", d.h. die Überantwortung an sein Sein, das in der eigentlichen Existenz bzw. in der Inständigkeit geschichtlich übernommen wird. Nur in solcher

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Übernahme existiert das Da-sein in seiner Einzigkeit in der jeweiligen Bergung im Seienden, erst dann existiert es im Jetzt und Hier, wobei dieses Jetzt und Hier sich eben aus dem ursprünglichen Zeit-Raum bestimmt. Mit dem Beständnis des Ab-grundes betritt das Denken die Schwelle zur Seinsgeschichte und wird so selbst erst seinsgeschichtlich. Im Unterabschnitt d) der V. Fuge der Beiträge ''Der Zeit-Raum als der Ab-grund" und insbesondere im gleichlautenden 242. Abschnitt wird der Ab-grund durch eine phänomenologische Ausfaltung seiner zeit-räumlichen Entfügung bestimmter gefaßt und zugleich wird darauf hingewiesen, daß der Ab-grund als Zeit-Raum "die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit" ist, "die sie erst in ihre Geschiednis auseinandergehen läßt" (GA 65, S.379). Der Aufweis, wie der mathematische Raum und die mathematische Zeit aus dem Zeit-Raum entspringen, durch den Nachweis, wie sie erstanfänglich auf die physis und ihre sich vordrängende Wesensbestimmung als ousia34 zurückzuführen sind (Zuspiel), muß hier ausgeklammert werden. Ich beschränke mich lediglich darauf, entlang des 242. Abschnitts den Zeit-Raum im Hinblick auf den Ab-grund zu entfalten. Ich folge aber dem Gang Heideggers, der im besagten Abschnitt zunächst unter Zurückstellung der Zeitigung und der Räumung das Geschehen des Ab-grundes bzw. das ursprüngliche Ab-gründen des Grundes im Da-sein eingehender zur Sprache bringt. "Der Ab-grund ist das Weg-bleiben des Grundes. Und was ist der Grund? Er ist das Sichverhüllende-Aufnehmen, weil ein Tragen, und dieses als Durchragen des Zugründenden. Grund: das Sichverbergen im tragenden Durchragen." (ebd., S.379)

Das Weg-bleiben des Grundes ist ein Charakter des Grundes selbst, der im Tragen im Sinne des sichverhüllenden Aufnehmens und im Durchragen gründet. Im Sichverbergen waltet das Seyn in seiner Zurückgebeugtheit, im Insichbleiben, kraft dessen als dem Tragen oder dem sichverhüllenden Aufnehmen Seyn als das Sichverbergende in der Ereignung das Offene der Wahrheit durchstimmen, durchragen und durchzittern kann. Auf solche Weise gründet der Grund. Das Weg-bleiben des Grundes bezieht sich offenbar auf den im Gründen waltenden Grundzug des Sichverbergens. Dieses ist "ein Sichverbergen in der Weise der Versagung des Grundes" (ebd.), ein Ausbleib. Die Versagung wiederum ist eine ''ursprüngliche Art des Unerfüllt-, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung" (ebd.). Im Ausbleib ent-spannt sich eine Öffnung, d.h. aber, daß im Sichversagen zugleich ein Geben geschieht, nämlich die Gabe des Offenen, welches die Leere

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Vgl. GA 65, S.373f.

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des Ausbleibs ist. Der Ab-grund steht in keinem Gegensatz oder Jenseits des Grundes: "Der Ab-grund ist Ab-grund. Im Sichversagen bringt der Grund in einer ausgezeichneten Weise in das Offene, nämlich in das erst Offene jener Leere, die somit eine bestimmte ist" (ebd., S.379f). Die Leere, die sich im Ab-gründen ausspannt, ist keine bloße Leere, die sich dann mit irgendeinem Inhalt füllt, sondern ist je schon eine bestimmte, aus dem geschickhaft geschichtlich ereignenden Ereignis gestimmte. In ihr räumt sich geschichtlich erst das Offene ein, in dem der Grund als tragend-durchragender geschichtlich augenblickshaft gründet. Es ist keine Willkür, daß Heidegger von Anfang an den Ab-grund aus dem Grund entfaltet und nicht den Ab-grund einem irgendwie entspringenden seienden "Grund" als dunklen Ursprung vorausschickt. Der Ab-grund ist eine Weise, wie der Grund, der immer ab-gründig west, gründet: Er ist ein Wesenszug des Grundes. Zu bemerken ist diesbezüglich, daß in der Metaphysik dieser Wesenszug vorherrscht. Das Sichverbergen durch schwingt dort gerade nicht das Offene des Da-seins, sondern verbirgt sich selbst in das Anwesende als dem seinsverlassenen Seienden. Im andersanfänglich gedachten Ereignis und seiner Gründung im Da-sein verwandelt sich die Wesung des Grundes dahingehend, daß der Ab-grund bergend offengehalten wird, so daß das Ereignis tragend-durchragend ursprünglich gründen kann, d.i. das Offene des Da und das verwahrende Seiende durchzittert, Mensch und Götter in ihr Eigenes ereignend. Im 242. Abschnitt der Beiträge wird der Ab-grund im Hinblick auf diese volle Wesung des Grundes er-dacht. Im Ab-grund west der Grund "nicht eigentlich", doch "noch" gründet er darin (ebd., S.380). Nicht eigentlich gründet er, sofern er ein ''Leerlassen'' oder "Unerfülltlassen" ist; "noch" gründet er, sofern in diesem Leerlassen ein "InsOffene-bringen" geschieht. Dieses "noch" und doch "nicht eigentlich" bringt Heidegger zur Sprache als "Zögerung": "Ab-grund ist die zögernde Versagung des Grundes." (ebd.) Das Sichöffnen der ursprünglichen Leere in der Versagung ist das Geschehnis der Lichtung (in der wir zuerst das Freimachen zu hören haben und nicht das Licht) im Wesen der Wahrheit. Die Lichtung geschieht jedoch, "damit sich in ihr die Zögerung zeige" (ebd.), nämlich das Sichverbergen. Abermals werden wir also auf das einige gegenwendige Geschehen von Lichtung und Verbergung verwiesen. Im Weg-bleiben des Grundes geschieht die erste Lichtung des Offenen. In der Anerkenntnis der Not der Seinsvergessenheit öffnet sich zuerst das Seyn in seinem Entzug, im Ausbleib seiner Wahrheit: Der Ab-grund öffnet sich als die "erstwesentliche lichtende Verbergung" (ebd). Doch im Einsprung (im Los-

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wurf) in den Ab-grund erschließt sich zumal, daß das Sichversagen des Seyns in sich zuweisend ist, ereignend. Der Ab-grund ist lichtende Verbergung des Seyns als Ereignis und ist deshalb "zuvor Grund, der nur gründet als das tragende Durchragenlassen des Ereignisses. Denn die zögernde Versagung ist der Wink, in dem das Da-sein [... ] erwunken wird, und das ist die Schwingung der Kehre zwischen Zuruf und Zugehörigkeit, die Er-eignung, das Seyn selbst" (ebd.).

Die zögernde Versagung ist nur in der Verhaltenheit des Da-seins, im "Ansichhalten vor der zögernden Versagung" (ebd., S.382), welches im Nähe und Ferne versammelnden Wink, als welcher das Ereignis ereignet, erwunken wird. Der Wink stimmt in die Verhaltenheit, die, durch das inständliche Ausstehen des abgründigen Da, als Ansichhalten jene ''Leere'' bzw. das Da mit erschwingt, in dem allein das Sichverbergen sich in seiner Zögerung lichtet und das Ereignis als tragend-durchragendes gründet. Das Leerlassen, das im Weg-bleiben des Grundes geschieht, ist jene bestimmte "Leere", auch weil sie immer schon durch den Wink des Ereignisses

geschickhaft gestimmt und gefügt ist. Deshalb ist das im Sichversagen geschehende Lichten "kein bloßes Aufklaffen und Aufgähnen (chaos - gegen physis), sondern das stimmende Erfügen der wesentlichen Ver-rückungen eben dieses Gelichteten, das jenes Sichverbergen in es hereinstehen läßt" (ebd., S.381).

Dieses Gelichtete wird in der jeweiligen Einzigkeit des Da-seins bestanden, das den Menschen in seine augenblickshaften wesentlichen Seinsbezüge, zu denen auch die Verwiesenheit des Menschen als eines Seienden an das jeweils entdeckte Seiende gehört, einrücken läßt. In die wesenhaften Seinsbezüge ist (man erinnere sich an den Verweis auf die Faktizität) der Mensch jeweilig überantwortet aus dem stimmend bestimmenden Wink (Zuruf) des Ereignisses, der sich im Weg-bleiben des Grundes öffnet, bzw. das Gelichtete des Abgründenden durchragt. Dabei wird das Gelichtete in seiner Bestimmtheit anfänglich durch das Da-sein und die Bergung seines Offenen im Seienden mit erschwungen. "Die Wahrheit gründet als Wahrheit des Ereignisses. Dieses ist daher von der Wahrheit als Grund her begriffen: der Ur-grund. Der Ur-grund öffnet sich als Sichverbergendes nur im Ab-grund. [... ] Der Ur-grund, der gründende, ist das Seyn, aber je wesend in seiner Wahrheit." (ebd., S.380)

Im Ab-grund als der ersten oder ursprünglichen Wesung des Grundes öffnet sich das Ereignis als Ur-grund, sofern dieses kehrig den Ab-grund je schon im Gegenschwung durchstimmt. Im Ur-grund geschieht die Er-eignung der Verhaltenheit (Da-sein) zur zögernden Versagung, in der die Lichtung sich öffnet.

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Als gestimmter weist der Ab-grund je schon auf den Grund, nämlich die Wahrheit des Seyns. Dieser Grund, sagt Heidegger, ist das zu Entscheidende (ebd., S.382), und die zögernde Versagung, als welche das Abgründen geschieht, gründet die Augenblicksstätte der Entscheidung. Die "Leere", die sich aus-spannt, "ist ebenso und eigentlich die Fülle des Nochunentschiedenen" (ebd.) und ist deshalb nicht eigentlich eine Leere. Als noch-unentschiedene ist sie in sich auf das zu Entscheidende bezogen, öffnet sie den Bezug: "Die 'Leere' ist die erfüllte Not der Seinsverlassenheit, aber diese schon in das Offene gerückt und somit auf die Einzigkeit des Seyns und dessen Unerschöpflichkeit bezogen." (ebd.)

Von hier aus begreifen wir deutlicher, inwiefern das Seyn als Zerklüftung ursprüngliche Möglichkeit bzw. Vermögen ist aus der wesenhaften Nichthaftigkeit des Seyns, die in der Zögerung das Offene der Wahrheit durchstimmt. Heidegger bestimmt das im Ab-gründen sich öffnende Nochunentschiedene genauer als "die Ferne der Unentscheidbarkeit darüber, ob der Gott von uns weg oder auf uns zu sich bewegt. Das will sagen: in dieser Ferne und ihrem Unentscheidbaren zeigt sich die Verbergung von Jenem, was wir dieser Eröffnung zufolge den Gott nennen" (ebd).

Die Unentscheidbarkeit des Sichnahens oder Entfernens ist versammelt im Wink, der in der zögernden Versagung das Da-sein erwinkt, das Beständnis der Augenblicksstätte der Entscheidung über Ankunft und Flucht der Götter und die Geschichte des Menschen. So geschieht das Ereignis im Ab-grund als die entscheidende Ereignung von Göttern und Menschen. b) Der Zeit-Raum als Augenblicksstätte der Entscheidung "Der Ab-grund als erste Wesung des Grundes gründet (läßt den Grund als Grund wesen) in der Weise der Zeitigung und Räumung." (ebd., S.383)

Die Leere, die im zögernden Versagen aufklafft, ist eine "zeit-räumliche Leere" (ebd., S.380f), das Ab-gründen geschieht als das Zeitigen und Räumen der Lichtung, durch die das Ereignis schwingt. Sofern die zeit-räumliche Entfügung der Lichtung nur geschieht in der Er-eignung der Verhaltenheit gegen die zögernde Versagung, haben Zeitigung und Räumung "ihr Wesen aus dem, woher der Grund der Grund ist, aus dem Ereignis" (ebd., S.383). Wir sind durch Sein und Zeit bereits vorbereitet, die Zeitigung und Räumung nicht anband der vulgären Zeit- und Raumvorstellungen zu begreifen. In den Beiträgen wird auch die Zeitigung und Räumung gegenüber Sein und Zeit ursprünglicher gefaßt aus der Ereignung des Zeit-Raums als der ursprünglichen Einheit, aus der Zeitigen und Räumen in ihrer Geschiedenheit hervorgehen.

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Dadurch wird die Räumlichkeit nicht wie in Sein und Zeit auf die Zeitlichkeit zurückgefüh~5, sondern erweist sich als mit der Zeitlichkeit gleichursprünglichen Wesens, so daß beide zu denken sind aus dem Ereignis. In seinem Vortrag Zeit und Sein (1962) entfaltet Heidegger das Wesen von Zeit und Sein aus dem Ereignis als ein Geben von Zeit als lichtend-verbergendes Reichen und als ein Geben von Sein als einem Schicken. Die Vergegenwärtigung der Hauptgedankenschriue des Vortrags wird zum einen erlauben, die knappen Ausführungen in den Beiträgen weiter zu entfalten, und wird zum anderen dazu führen zu sehen, wie dem Vortrag Zeit und Sein die in den Beiträgen aufgewiesenen Zusammenhänge (das Gefüge des Ereignisses) unausgesprochen zugrunde liegen. Der Mensch ist der von Anwesenheit, in der das Seiende als Anwesendes aus dem Anwesen und Anwesenlassen (Sein) anwest, Angegangene (ZuS, S.12). Doch geht uns nicht nur das (im engen Sinne) gegenwärtig Anwesende an, sondern auch das nicht mehr Gegenwärtige in seinem Abwesen. Auch "im Gewesen wird Anwesen [jetzt nicht mehr im Sinne der Gegenwart] gereicht" (ebd., S.13). Ebenso geht uns das Auf-uns-Zukommende an. Auch "in der Zukunft, im Auf-uns-Zukommen wird Anwesen gereicht" (ebd.). Ebenso geschieht schließlich auch in der Gegenwart ein Reichen von Anwesen. Heidegger denkt hier die Zeitlichkeit und ihre ursprüngliche Einheit ganz im Sinne der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins, wie sie in Sein und Zeit aus einem gewissen Vorrang der Zukunft gedacht ist: "Ankommen, als noch nicht Gegenwart, reicht und erbringt zugleich nicht mehr Gegenwart, das Gewesen, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesen, sich Zukunft zu. Der Wechselbezug beider reicht und erbringt zugleich Gegenwart." (ebd., S.14)

In diesem Einander-sieh-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart lichtet sich, so Heidegger in Zeit und Sein, ein Offenes: der Zeit-Raum (vgl. ebd., S.14f). Das lichtende Reichen nennt Heidegger die "Dimension" der

35 Siehe SUZ § 70. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit. Die Räumlichkeit des Daseins entfaltet Heidegger hier als "Sicheinräumen des Daseins", das sich durch "Ausrichtung und Ent-femung" konstituiert. "Zur Einräumung des Daseins gehört das sichausrichtende Entdecken von so etwas wie Gegend" als dem "Wohin der möglichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, platzierbaren Zeugs". Der Horizont des Wohin der gegendhaften Hingehörigkeit wird aber durch den Horizontcharakter der Welt ermöglicht, der sich zeitigend konstituiert: "Das sichausrichtende Entdecken von Gegend gründet in einem ekstatisch behaltenden Gewärtigen des möglichen Dorthin und Hierher. Das Sicheinräumen ist als ausgerichtetes Gewärtigen von Gegend gleichursprünglich ein Nähern (Ent-fernen) von Zuhandenem und Vorhandenem." (ebd., S.368f)

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Zeitekstasen, sofern in ihnen ein "Durchmessen", ein "Hindurchlangen" geschieht. Die Zeit ist, so gesehen, "dreidimensional" (ebd., S.15). Der nächste Schritt Heideggers geht dahin, zu fragen, woher sich die Einheit der drei Zeitdimensionen bestimmt, die er als eine vierte Dimension bezeichnen wird. In allen drei Zeitdimensionen spielt eine Art von Anwesen, das aus der Einheit der drei Zeitdimensionen zu denken ist, als dem "Zuspiel jeder für jede" (ebd., S.l6). "Dieses Zuspiel erweist sich als das eigentliche, im Eigenen der Zeit spielende Reichen" (ebd.). Es bringt die drei Zeitdimensionen nicht nachträglich zusammen, sondern ist "das alles bestimmende Reichen" (ebd.), das in der Ankunft, im Gewesen und der Gegenwart das ihnen jeweils eigene Anwesen erbringt. Das ursprüngliche Reichen spielt im Sicheinanderreichen der drei Zeitdimensionen als Erbringen von Anwesen (das ist die vierte Dimension der Zeit), so daß es Ankunft, Gewesen und Gegenwart lichtend auseinanderhält in ihre je eigene Dimensionalität. In ihrer Geschiedenheit zeitigen diese sich erst als ein Einanderreichen in ihrem Zueinander. Weil das in ihnen geschehende ursprüngliche Reichen sie in der Nähe hält, "aus der die drei Dimensionen einander genaht bleiben", nennt Heidegger es "die nähernde Nähe" (ebd.). Sie nähert, insofern sie Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart in ihr Auseinander (ihre Dimensionalität) lichtet. Ihr Nähern ist ursprünglich ein Entfernen. "Denn sie hält das Gewesen offen, indem sie seine Ankunft als Gegenwart verweigert. Dies Nähern der Nähe hält das Ankommen aus der Zukunft offen, indem es im Kommen die Gegenwart vorenthält." (ebd.; Betonungen von mir)

Im verweigernden Vorenthalt von Gegenwart lichtet sich das Offene der ursprünglichen Zeitlichkeit in ihrer Vierdimensionalität im Einander-sieh-reichen (1. Dimension) von Ankommen (2. Dimension, Vorenthalt von Gegenwart) und Gewesen (3. Dimension, Verweigerung von Gegenwart) und Gegenwart (4. Dimension) aus dem verweigernden Vorenthalt. Das Nähern der Nähe hat sich als ein verweigernd vorenthaltendes Gewähren erwiesen, als lichtend verbergendes Reichen des Offenen des Zeit-Raums. Vor dem Hintergrund der Beiträge zeigt sich, daß dieses verweigernd vorenthaltende Gewähren nichts anderes nennt als die im Abgründen sich öffnende Ereignung des Ereignisses. Der verweigernde Vorenthalt von Gegenwart geschieht im Sichversagen des Grundes, und die ''Leere'', die sich daraus lichtet, ist das Offene des vierdimensionalen Bereiches der Zeit. Freilich ist in diesem Abgründen stets mitzudenken das verhaltene Ansichhalten des Da-seins vor dem Sichversagen. Das Sichversagen schließt schon in sich die nothafte Ereignung des Da-seins. Der Ab-grund ist solcher nur aus dem Ereignis, aus dem im Abgründen geschehenden Geben als einem lichtend-verbergenden Reichen. Die im Sichversagen sich entfügende Leere, so Heidegger in den Beiträgen,

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ist "eine in sich entrückende, entrückend in die Künftigkeit" (GA 65, S.383). Mit Zeit und Sein können wir nun sagen: Sie ist entrückend in die Künftigkeit aus dem Vorenthalt von Gegenwart im ereigneten Ansichhalten des Da-seins. Dieses ist im Vorenthalt von Gegenwart ursprünglich entrückt in die Künftigkeit, aus der es auf sich zukommend in sein Eigenes ereignet wird. Die Leere des Abgrundes ist jedoch als Entrückung in die Künftigkeit zugleich in sich "aufbrechend ein Gewesendes" (ebd.) aus der Verweigerung von Gegenwart, so daß das auf sich zukommende Da-sein im ereigneten Ansichhalten vor der Verweigerung auf sich zurückkommt. Das Gewesende macht, "mit dem Künftigend auftreffend die Gegenwart als Einrückung in die Verlassenheit" (ebd.) aus. Die Gegenwart ist Einrückung in die Verlassenheit aus dem verweigernden Vorenthalt, in dem sich die Entrükkung in die Künftigkeit und in die Gewesenheit zeitigt. Vorenthalt von Gegenwart in der Entrückung in die Künftigkeit ist vom Da-sein aus betrachtet ein Erwarten (oder "Erharren"). Die Verweigerung von Gegenwart in der Entrükkung in das Gewesende ist vom Da-sein aus betrachtet ein Erinnern. Die Einrückung in die Verlassenheit ist in sich erinnernd-erharrend. Also zeitigt sich die Leere aus dem Sichversagen im verweigernden Vorenthalt als Einrückung in die Verlassenheit des Seins. Das Einrücken in die Seinsverlassenheit ist "erinnernd eine verhüllte Zugehörigkeit zum Seyn" und "erharrend einen Zuruf des Seyns" (ebd., S.384); es ist also ein Einrücken in den Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit, als welche das Ereignis ereignet. Während sich die Zugehörigkeit primär als erinnernd zeitigt - was im Zusammenhang damit gesehen werden muß, daß das Da-sein (und infolgedessen der Mensch) in die Zugehörigkeit ereignet wird (geworfen ist) und aus dieser Zugehörigkeit auf sich zurückkommt und als Selbstheit west -, zeitigt sich der Zuruf des Seyns aus dem Sichversagen primär als erharrend, sofern aus dem Zuruf das Da-sein sich zugeeignet wird in die Zugehörigkeit zum Seyn. Die erinnernd-erwartende Verlassenheit ist "die aufgerichtete und allein in die Entscheidang hinausgerichtete Gegenwart: Augenblick. In diesen sind die Entrückungen eingerückt, und er selbst west nur als die Sammlung der Entrückungen" (ebd., S.384).

Die im verweigernd-vorenthaltenden Sichversagen aus dem Wegbleiben des Grundes sich zeitigende Verlassenheit ist als Sammlung der Entrückungen (erinnernd die Zugehörigkeit, erharrend den Zuruf) aufgerichteter Augenblick, der allein in die Entscheidung hinaus gerichtet ist. Die Entscheidung ist die des "Ob oder Ob-nicht des Anfalls des Seyns" (ebd.). Die Hinausgerichtetheit des Augenblicks ist ein Erharren des Zurufs des Seyns aus der Erinnerung einer verhüllten Zugehörigkeit. Sofern sich der Entscheidungsbereich in der Sammlung der Entrückungen aus dem Sichversagen öffnet, gründet "die Zeitigung als diese Fügung des Sichver-

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sagens (des zögernden) [... ] ab-gründigerweise den Entscheidungsbereich" (ebd.). Die in Klammern gesetzte Zögerung, die zum Sichversagen gehört, weist darauf hin, daß jene bislang ausgeklammert wurde. Und es wird sich zeigen, daß, so wie das Sichversagen primär zeitigend fügt, die Zögerung die Räumung entspringen läßt. Dabei sind Zeitigung und Räumung selben Ursprungs und stets zusammenzudenken; denn: "mit der Entrückung in das Sichversagende (das ist eben das Wesen des Zeitigens) wäre ja schon alles entschieden. Das Sichversagende aber versagt sich zögernd, es schenkt so die Möglichkeit der Schenkung und Ereignung" (ebd.).

Entschieden wäre hier alles in die Richtung des Ausbleibs des Anfalls des Seyns. Denn gerade in der Zögerung west das "noch" des Grundes im Abgrund. Das Sichversagende öffnet sich als solches nur in der Zögerung. Nur in dieser geschieht die Gabe im Leerlassen, die Möglichkeit der Schenkung und Ereignung. Nur in der Zögerung nötigt das Sichversagen in die Verhaltenheit und das Beständnis des Da-seins und schwingt das Ereignis im Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit. Als zögerndes ist das Sichversagen, das die Entrückung in das Sichversagende fügt, "zugleich ursprünglichste Berückung" (ebd.). In der Be-rückung liegt die Öffnung, die das Weg des Abgrundes im "noch" hält. Heidegger nennt die Berückung den "Umhatt, in dem der Augenblick und damit die Zeitigung gehalten wird" (ebd.). Der Urnhalt entspringt selbst dem Sichversagen als einem zögernden. Die Begrenzung, die in ihm anklingt, ist zu denken aus der Nichthaftigkeit des Seyns, die in der Verhaltenheit bestanden wird, so daß das Sichversagen im Da-sein als zögerndes sich zeitigt. Die Berückung "gibt die Möglichkeit der Schenkung als wesende Möglichkeit zu, räumt sie ein" (ebd.; meine Betonung). Die in der Berückung geschehende Eimäumung ist nicht zu begreifen wie das umgangssprachliche Einräumen etwa eines Zimmers, also eines schon offenen Raumes, dem etwas hinzugefügt wird. Heidegger verweist uns vielmehr auf einen anderen Sprachgebrauch: Dort wo wir jemandem eine Sache zugeben, räumen wir dem Anderen eine Wahrheit ein. Das Eimäumen hat hier den Sinn eines Freigebens (wie die Lichtung). Das Offene wird erst durch das Einräumen, das nicht ein Offenes abgrenzt, sondern es ent-grenzt (ent-fügt) in den Urnhalt aus dem Sichversagen als der Entrückung in den erinnernd-erwartenden Augenblick. Weil die Berückung die Möglichkeit der Ereignung schenkt, ist sie "Einräumung des Ereignisses", der Erschwingung von Zuruf und Zugehörigkeit im verhaltenen Beständnis des Da-seins. "Die Verlassenheit ist durch die Berükkung eine fest-gestellte, auszustehende" (ebd.), weil in ihr erst das Da-sein in

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das Beständnis des Sichversagenden ereignet wird aus der Not der Seinsverlassenheit. Gründet die Zeitigung den Entscheidungsbereich als Augenblick, so gründet das Einräumen diesen Bereich als Stätte des Augenblicks. Zeitigen und Räumen sind das eine ab-gründige Gründungsgeschehen der Wahrheit des Seyns als zögerndes Sichversagen im Da-sein. "Der Zeit-Raum als die Einheit der ursprünglichen Zeitigung und Räumung ist ursprünglich selbst die Augenblicks-Stätte, diese die ab-gründige wesenhafte Zeit-Räumlichkeit der Offenheit der Verbergung, d.h. des Da." (ebd.)

Zeit-Raum und Augenblicks-Stätte schreibt Heidegger jeweils mit Bindestrich, um die Einheit anzuzeigen, und doch getrennt und mit großen Anfangsbuchstaben, um auf die Geschiedenheit hinzuweisen. Er denkt den Zeit-Raum als einigend-scheidendes Geschehnis, als einigendes Entspringenlassen in die Geschiedenheit von Zeitigung und Räumung und schließlich in die von Zeit und Raum, welche beide "von Grund aus eigensten Wesens [sind], und nur kraft dieser äußersten Verschiedenheit" (ebd., S.377) in ihren Ursprung zurückweisen. Sie weisen in ihren Ursprung zurück, weil ihr Entspringen kein Losriß ist, sondern anfänglich zu denken ist als "die Wesensentfaltung der Wesung des Wahrheit" (ebd., S.386) als des Wesens des Grundes. Ihre äußerste Verschiedenheit gründet in der ursprünglichen Widerwendigkeit der lichtenden Verbergung, im Urstreit, als welcher Wahrheit west. Zeitigung und Räumung haben ihre Geschiednis, die kein Resultat darstellt und deshalb eher als ein Sichscheiden im Wesen des Grundes zu denken ist, "aus der Entrückung und Berückung, die grundverschieden sich fordern, aus der Einheit der zögernden Versagung" (ebd., S.384). "Raum ist die berückende Ab-gründung des Umhalts. Zeit ist die entrückende Ab-gründung der Sammlung. Die Berückung ist abgründiger Umhalt der Sammlung. Die Entrückung ist abgründige Sammlung auf den Umhalt." (ebd., S.385)

Entrückung in das Sichversagen geschieht nur als Berückung in den Urnhalt und umgekehrt. Dieses kehrige Verhältnis geschieht nur im Da-sein, d.h. im ereignenden Zuwurf für den ereigneten Entwurf, der den zeit-räumlichen Abgrund im Gegenschwung mit eröffnet und offenhält im Da des Da-seins. Das Widerwendige von Entrückung und Berückung ist versammelt im Ab-grund als der zögernden Versagung. Doch auch diese nennt noch nicht die ursprünglichste Einheit, aus der das Sichscheiden von Zeitigung und Räumung als die Gründung der Augenblicksstätte zu denken ist. "[ ... ] die zögernde Versagung selbst hat diese ursprünglich einigende Fügung des Sichversagens und des Zögerns aus dem Wink. Dieser ist das Sicheröffnen des Sichverbergenden als solchen und zwar das Sicheröffnen für die und als die Er-

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eignung, als Zuruf in die Zugehörigkeit zum Ereignis selbst, d.h. zur Gründung des Da-seins als des Entscheidungsbereichs für das Seyn." (ebd.)

Im ereignenden Wink als dem Zuruf, der Anfall und Ausbleib versammelt, ist also die ursprüngliche Einheit des Zeit-Raums und so das ursprünglichste Wesen des Grundes zu suchen. Im Wink aber west der letzte Gott "als Anfall und Ausbleib der Ankunft und Flucht der Götter und ihrer Herrschaftsstätte" (ebd., S.408). D.h. in ihm spielt sich die Unentscheidbarkeit über das Gottwesen als zu entscheidendes zu. Aus ihm wird das Da-sein in seine Zugehörigkeit zum Seyn ereignet und öffnet sich die Gründung der Augenblicksstätte. Dennoch kommt der Wink "nur zum Winken im Anklang des Seyns aus der Not der Seinsverlassenheit" (ebd., S.385). Nur in der Not öffnet sich aus dem Wink das Zwischen (der Ab-grund als die erste Wesung des Grundes), in dem Zuruf und Zugehörigkeit erschwungen werden und in dem sich also das Ereignis eröffnet. Und erst im Erschwingen des Ereignisses "wird der [denkerische] Entwurf des Ursprungs des Zeit-Raumes als ursprünglicher Einheit aus dem Abgrund des Grundes vollziehbar" (ebd., S.385). Im § 7 (Ende) und § 8 (Anfang) kam bereits zur Sprache, daß Anklang und Zuspiel vorbereitend sind für den Sprung und d.h. für den ereigneten Entwurf des Ereignisses, daß sie in den Beiträgen aber bereits versuchshaft aus dem Sprung denkerisch entfaltet werden. Wir sehen jetzt warum: weil das denkerische Begreifen des Ab-grundes (Wesen der Wahrheit), der sich im Anklang eröffnet, den Ab-grund nur im Erspringen des Ereignisses (im Los-wurf in das Ereignis) aus dem Zuwurf des Seyns ursprünglich zur Sprache bringen kann. Es ist entscheidend, den Ab-grund zu erfahren, d.h. in ihn aus einer Not verrückt zu werden, damit sich das Seyn als Ereignis erschließt. Nur wenn das Dasein in seiner radikalen Endlichkeit begriffen wird aus der Zugehörigkeit des Nichts im ''Da'' des Da-seins, kann gesehen werden, daß hier das metaphysische Denken, das sich an die Anwesenheit des Anwesenden hält, von Grund auf und in seinen verborgenen abgründigen Grund aufgebrochen ist. Doch ebenso entscheidend ist es, den Ab-grund als die erste Wesung des Grundes und d.h. noch nicht als die volle Wesung zu begreifen, auf die er gleichwohl gestimmt-stimmend bezogen ist. Sonst verfällt man der Fehlinterpretation, Heideggers Denken sei schlicht "grundlos", also nihilistisch. Statt dessen sagt dieser: "Der Umhalt der Berückung hat die ungeschlossene Weite der verhüllten Möglichkeiten des Winkes. Die Sammlung der Entrückung hat die ungemessene, maßfremde Feme des zugewiesenen Mitgegebenen und Aufgegebenen. Das Offene des Ab-grundes ist nicht grundlos. Abgrund ist nicht das Nein zu jedem Grund wie Grundlosigkeit, sondern das Ja zum Grund in seiner veborgenen Weite und Feme.

214

B. I. 11. Die Gründung Der Ab-grund ist so die in sich zeitigend-räumend-gegenschwingende Augenblicksstätte des "Zwischen", als welches das Da-sein gegründet sein muß." (ebd., S.387)

Das Verhältnis vom Ab-grund zur vollen Wesung des Grundes ist nicht nur das einer übergänglich vorbereitenden Ab-gründung, die im Sprung und in der sich dadurch vollziehenden vollen Wesung des Grundes (in unterschiedlichen Weiten und Weisen freilich) wegfällt. Auch wenn im Sprung in das Ereignis die Seinsverlassenheit sich dahingehend wandelt, daß die aus ihr geschehende Ereignung erfahren und denkerisch ins Wort gehoben wird, auch wenn schließlich durch die Gründung der Zukünftigen ein Volk auf dem Grunde des Daseins geschichtlich wird, grundet der Grund weiterhin abgründig als das nichthafte Sich-ent-fügen des Zeit-Raums, aus dem dem zugehörigen Da-sein die zu bergenden Möglichkeiten zugewiesen werden. Gemäß dieser Überlegungen muß das seynsgeschichtliche Denken im Übergang als ab-gründig gründend begriffen werden, d.h. daß hier zumindest versuchsweise ein er-denkendes Er-gründen nicht nur des Ab-grundes, sondern der vollen Wesung des Grundes aus dem Ereignis geschieht. Im 267. Abschnitt der Beiträge aus dem letzten, vertiefenden Teil "Das Seyn" versucht Heidegger eine Ergründung des Ereignisses auf dem Gang seiner Entfaltung in acht Ereignisse bzw. Ereignisweisen oder Ereignisbezüge. Der Nachvollzug dieses Abschnitts soll uns im folgenden Paragraphen erlauben, die volle Gründung des Ereignisses in den Blick zu bekommen. § 13. Das Ereignis als Ur-grund

Der 267. Abschnitt der Beiträge hebt an mit den Worten: "Das Seyn ist das Er-eignis. Dieses Wort nennt das Seyn denkerisch, gründet seine Wesung in ihr eigenes Gefüge" (GA 65, S.470).

Das Denken der Beiträge begreift sich an dieser Stelle ausdrücklich als Denken des Seyns, als Sage, die aus der Entsprechung zum Zuruf des Seyns dieses zu er-gründen sucht aus seinem und in seinem eigensten Grund, der sich dem Denken in einem mannigfaltigen Gefüge erschließt. Wir werden so von Heidegger selbst auf die Auszeichnung dieses Abschnitts hingewiesen, denn der Versuch des anfänglichen Denkens ist in den Beiträgen nicht immer gleichursprünglich durchgehalten. Vieles hält sich noch im Vorfeld der Vorbereitung des Übergangs, in einer Sprache also, die metaphysisch geprägt ist oder in Absetzung von der Metaphysik gesprochen ist und damit nicht unmittelbar aus dem Seinsvollzug selbst. In der folgenden Nennung der Mannigfaltigkeit der Ereignisse im 267. Abschnitt wird aber, laut Heidegger, jedesmal "das Denken 'des' Seyns durch dieses selbst in seine Ungewöhnlichkeit gerissen und jeder

§ 13. Das Ereignis als Ur-grund

215

Beihilfen aus Erklärungen von Seienden beraubt" (ebd., S.471). Weil jede Nennung des Ereignisses der Einzigkeit des Seyns selbst entspringt, der sie sich verdankt, wird in jeder das Ereignis "ganz" gedacht. Wir werden jedoch darauf hingewiesen, daß die einzeln zur Sprache gebrachten ''Ereignisse'', also die Ereignisweisen oder Ereignisbezüge des Ereignisses, nicht das volle Wesen des Seyns denken. Ob die im Text folgende einheitliche "Aufzählung" der Mannigfaltigkeit der Ereignisse die volle Wesung des Seyns als Ereignis nennt, ob das anfänglich denkerische Wort ''Er-eignis'' in sich selbst schon das volle Wesen des Seyns versammelt, oder ob eine Nennung des vollen Wesens des Seyns dem anfänglichen Denken wesenhaft versagt bleiben muß aus dem Sichversagen des Seyns selbst, kann äußerlich nicht entschieden werden. Wir entnehmen dem vor allem, daß der Plural "Ereignisse" uns hinweist auf die "Mannigfaltigkeit der Ereignisse", in der sich das Gefüge des Seyns "anzeigen" läßt. Dieses soll nicht in Teile zerlegt werden, sondern die Mehrfältigkeit der widerwendigen Bezüge seines einheitlichen Gefüges soll angezeigt werden. Die Anzeige zeigt in das dem er-gründenden Denken abgründig Zugewiesene. Sie vermag aufgrund des im Ereignis waltenden Entzugs das daraus Zugewiesene nicht ganz dem Verborgenen zu entreißen, doch schwingt in der Anzeige des jeweiligen Ereignisbezugs das darin Angezeigte gerade in seinem wesenhaften Sichverbergen und bleibt so im er-gründenden Denken verwahrt in seinem lichtendverbergenden Grund. "Ereignis ist: 1. die Er-eignung, daß in der Notschaft, aus der die Götter des Seyns bedürfen, dieses zur Gründung seiner ihm eigenen Wahrheit das Da-sein er-nötigt und so das Zwischen, die Er-eignung des Daseins durch die Götter und die Zueignung der Götter zu ihnen selbst zum Er-eignis wesen läßt." (ebd., 5.470)

Die Entfaltung des Ereignisses beginnt mit der innigsten Wesungsweise der Wahrheit des Seyns als Er-eignung: Das Seyn er-nötigt zur Gründung seiner ihm eigenen Wahrheit das Da-sein. Die Er-eignung des Da-seins geschieht als diese Er-nötigung. Doch geht diesem Gedanken nicht zufällig in der Wortfolge das voraus, worin die Er-eignung er-nötigend ist: "in der Notschaft, aus der die Götter des Seyns bedürfen". Dem er-gründenden Denken des Übergangs spricht sich mithin zunächst die Notschaft der Götter bzw. des Gottwesens zu. Die Götter sind nicht und brauchen doch das Offene des Seyns, um in diesem in ihrer Nichthaftigkeit, d.h. in ihrer Notschaft wesen zu können. Diese hat in sich den Charakter der Grund-Iosigkeie6• Weil sie grund-los wesen, brauchen die Götter, um zu wesen, das Seyn als lichtendes Sichverbergen, in dem sie in ihrer Notschaft gerade bewahrt bleiben, sofern das Seyn im Da-sein bergend offen gehalten wird. Die Grundlosigkeit, die in sich Seinsbedürftigkeit der Götter ist,

36

Vgl. ebd., 5.472.

216

B. 1. 11. Die Gründung

bezieht sich nicht nur auf die Flucht der Götter in der Endzeit der Metaphysik. Die Notschaft der Götter wird im anderen Anfang nicht aufgehoben, sondern durch die Ereignung des Da-seins eigens gegründet, so daß die Grund-Iosigkeit des Gotthaften auf den Seinsgrund als das Gebrauchte bezogen bleibt und das Gottwesen in seiner ihm eigenen Notschaft göttern kann. In der Er-eignung des Da-seins werden so die Götter ihnen selbst zugeeignet. Die Er-eignung geschieht ursprünglich im Ab-gründen der Götter. Dieses geht deshalb dem Seyn nicht voraus. Im Da-sein erfährt dieses sich als ereignet vom Seyn, das in sich ereignend ist aus der im Da-sein sich öffnenden Notschaft der Götter, die aus dem Sichversagen des Seyns im Wink zugeworfen wird. Die Er-nötigung des Da-seins geschieht als seine Er-eignung durch die Götter (aus ihrer Notschaft), worin diese selbst sich erst zugeeignet werden. Denn die Götter wesen in ihrer Notschaft als solche erst an und ab - versammelt im Wink -, wenn die Notschaft im Da-sein abgründig offengehalten wird. Die Er-eignung des Da-seins und die Zueignung der Götter zu ihnen selbst geschehen in der einen Er-eignung, im Seyn, das als das lichtend verbergende Zwischen Da-sein und Götter aus der Er-eignung erst hervorgehen läßt in .ihr Eigenstes. In der Er-eignung des Da-seins und der Zueignung der Götter zu ihnen selbst west das Ereignis als die Kehre von ereignendem Zuruf und ereignetem Entwurf im lichtenden Verbergen des Seyns selbst. "2. Das Ereignis der Er-eignung schließt in sich die Ent-scheidung: daß die Freiheit als der abgründige Grund eine Not erstehen läßt, aus der als dem Überschwung des Grundes die Götter und der Mensch in die Geschiedenheit hervorkommen." (ebd.)

Er-eignung und Ent-scheidung sind in eins zu denken: die Götter und der Mensch auf dem Grunde des Da-seins kommen erst so zu sich, werden so in ihr Eigenstes gebracht, daß sie darein geschieden werden. 37 Götter und Mensch kommen hervor (Ent-) im Sichscheiden (-scheidung). Dieses geschieht im Wesen des Seyns selbst als lichtendes Sichverbergen, als Wesung des gründenden Grundes, das Heidegger hier einheitlich als Ab-gründen und überschwingendes Gründen (Ur-grund) denkt. Die Freiheit, so heißt es, läßt als abgründiger Grund eine Not erstehen, gibt sie in ihrem Offenen frei. Sie nennt das Wesen der Wahrheit selbst, das im Dasein Offene, in dem kehrig das ab-gründende Gründen geschieht. Die Not öffnet sich im Ab-gründen des Grundes als Ausbleib, der sich im Da-sein zeitigt als

31 Wenn "die Götter" hier im Plural stehen und "der Mensch" im Singular, dann weist der Plural auf die "Unentschiedenheit des Seins der Götter, ob eines Einen oder Vieler" (ebd., S.437), und der Singular "der Mensch" weist auf die Jemeinigkeit des Da-seins in der Selbstwerdung des Menschen.

§ 13. Das Ereignis als Ur-grund

217

Entrückung in das Sichversagende und Einrückung in die Verlassenheit, so aber, daß das Sichversagende aus der Berückung in der Zögerung steht und sich in der Verhaltenheit die Augenblicksstätte öffnet, aus der Götter in der Berükkung und Menschen in der Entrückung sich in ihr Eigenes ent-scheiden. Der überschwingende Grund öffnet sich im Abgründen der Not aus dem Urnhalt der Entrückung in das Sichversagende. Der überschwingende Grund ist das im Versagen aus der Berückung geschehende Gewähren, die Er-eignung, d.i. der im Abgrund sich öffnende Urgrund. Doch warum kommen Götter und Menschen in ihre Geschiedenheit hervor? Die Götter wesen als Wink im Ausbleib, also im Abgrund. Ihre Notschaft muß aus der Berückung da-seinshaft ausgestanden werden in der inständigen Verhaltenheit gegen das Sichversagende, um als solche ins Offene zu treten. Das inständige Ausstehen des lichtenden Sichverbergens in der Sammlung der Entrückungen auf den Urnhalt gründet das Menschsein, das ursprünglich aus der Notschaft der Götter im äußersten Gegen zu diesen steht und doch gerade in und aus diesem Gegen inständig ist im Offenen des Da-seins, d.h. aus der Entrückung in das Sichversagende zu sich selbst kommt, in sein eigenstes Wesen ereignet wird. Damit kommen wir aber schon zur dritten Ereignisweise: "3. Die Er-eignung als Ent-scheidung bringt den Geschiedenen die Enl-gegnung: daß dieses Zu-einander der weitesten nothaften Entscheidung im äußersten 'Gegen' stehen muß, weil es den Ab-grund des gebrauchten Seyns überbrückt."(ebd., S.470)

Die ent-scheidende Er-eignung bringt Götter und Mensch die Ent-gegnung in der Zueignung des Menschen zum Gott und der Übereignung des Gottes an den Menschen, wie bereits im § 8 erörtert wurde. Dem im Da-sein inständlichen Denken öffnet sich aus dem ausgestandenen Ab-grund in der Berückung die Zugewiesenheit an das Gottwesen, das sich aus der Notschaft im Wink erschließt. Der Bezug zum Gottwesen, in dem dieses und das Menschsein erst in ihr Eigenes gebracht werden, erschwingt beide in einem ab-gründigen Gewähren in ihr äußerstes Gegeneinander und Zueinander. Götter und Menschen müssen im äußersten Gegen stehen, weil nur im Ab-gründen das Da-sein ereignet wird, weil die Inständigkeit nur in der Not der Seinsverlassenheit sich sammelt in den Urnhalt des Abgrundes, aus dem das Ereignis Götter und Mensch in ihr je Eigenes ereignet. Der Bezug von Göttern und Mensch ist, so könnte man sagen, zueignend-übereignend vermittelt durch das Nichts des Seyns. "4. Die Ent-gegnung ist der Ursprung des Streites, der west, indem er das Seiende seiner Verlorenheit in die bloße Seiendheit entsetzt. Die Enl-setzung kennzeichnet das Er-eignis in seinem Bezug zum Seienden als solchem. Die Ereignung des Da-seins läßt dieses inständig werden im Ungewöhnlichen gegenüber jeglichem Seienden." (ebd.)

218

B. I. 11. Die Gründung

Mit dem vierten Ereignisbezug tritt das Denken in den Bereich des Unterschieds (der immer vollzugshaft als ereignendes Sichscheiden im Da-sein zu verstehen ist) von Seyn und Seiendem. Aus der Ent-gegnung von Göttern und Mensch in der ent-scheidenden Er-eignung entspringt die Ent-setzung als der Streit, der das Seiende seiner Verlorenheit in die bloße Seiendheit entsetzt. Das Wohin der Ent-setzung ist die Ungewöhnlichkeit des Seyns selbst. Zunächst sei das Verhältnis der Ent-setzung zu den ersten drei Ereignisweisen in den Blick genommen. Wenn die ent-scheidend er-eignete Ent-gegnung Ursprung für die Ent-setzung ist, dann ist jene dieser gegenüber ursprünglicher, jedoch in dem einen, einzigen Ereignis, das im 267. Abschnitt der Beiträge in seiner Mannigfaltigkeit, d.i. in den in ihm wesenden Hinsichten und Widerwendigkeiten aus dem Da-sein als seiner Wendungsmitte entfaltet wird. Die Ent-setzung muß also als im Ur-sprung, als welcher die Ent-gegnung geschieht, einbehalten verstanden werden. Der Streit der Ent-setzung entfaltet sich im Da-sein aus der Ent-gegnung von Göttern und Mensch im ab-gründigen Gründen des Ereignisses. In der ab-gründig sich ent-fügenden Ent-gegnung von Göttern und Mensch wird das Seiende seiner Verlorenheit in die bloße Seiendheit ent-setzt. Das Seiende ist dem neuzeitlichen Menschen zunächst und zumeist in seiner bloßen Seiendheit bekannt und vertraut, sei es als das alltäglich besorgte Seiende oder als das eigens metaphysisch vor-gestellte Seiende. Die Verlorenheit des Seienden in die bloße Seiendheit nennt Heidegger im 267. Abschnitt der Beiträge die "Belagerung des Menschen durch das Seiende" (ebd., S.481). "Diese [... ] besteht in dem Gedoppelten, daß er als Seiender selbst zu diesem, unter dieses gehört, daß er zugleich aber das Seiende als ein solches je im Umkreis eines Ganzen (Welt) offen um sich, vor sich, unter und hinter sich hat" (ebd., S.48If).

Nun bedeutet die Ent-setzung des Seienden (Mensch als Seiender und innerweltlich Seiendes) aus seiner Verlorenheit nicht, daß der Mensch seiner Leiblichkeit entsagen und von allen weltlichen Bezügen ablassen soll. Im Gegenteil geht es darum, daß er aus dem Ereignis im Da-sein ursprünglicher und wesenhafter in sein Seiendsein und in die Bezüge zum Seienden eingelassen wird. Die Belagerung vom Seienden, sagt Heidegger, bedeute "nichts, was zu beseitigen wäre [... ], sondern sie gehört mit zu dem, was die Aus-einander-setzung des Menschen als eines Seienden inmitten des Seienden mit diesem ausmacht" (ebd., S.482). Die Ent-setzung vom Seienden hebt diese Aus-einander-setzung nicht auf, sondern begründet sie und schenkt ihr deshalb "die Möglichkeiten zu Gründungen [... ], in denen der Mensch über sich hinausschafft" (ebd.). Wenn die Belagerung durch das Seiende wesenhaft zum Menschen als einem Seienden in seinen welthaften Bezügen gehört, dann gehört diese auch zum

§ 13. Das Ereignis als Ur-grund

219

andersanfänglichen Menschsein. Wir können mithin die Ent-setzung des Seienden von seiner Verlorenheit zum einen hinsichtlich des ersten Anfangs begreifen als die Entsetzung aus der metaphysischen Wesensauffassung des Menschen und des Seienden als eines vor-gestellten; zum anderen können wir sie hinsichtlich der indifferenten Alltäglichkeit begreifen, in die auch im anderen Anfang der Mensch zunächst und zumeist verloren ist. Doch wie geschieht die Ent-setzung? Wodurch und wohin erfolgt sie? Das Ent-setzen, sagt Heidegger, "ist ein Stimmen, ja der ursprüngliche Aufriß des Stimmungshaften selbst" (ebd., S. 483). Sofern der Aufriß des Stimmungshaften in sich erschließend ist, kann das Ent-setzen nur aus dem in ihm sich Öffnenden begriffen werden. Das Denken muß das Ent-setzen selbst erfahren, stimmungshaft ausstehen. Eine Grundstimmung, in der die Ent-setzung ausgestanden wird, ist die Angst. Heidegger hat in Was ist Metaphysik? (1929) aufgezeigt, wie in der Grundstimmung der Angst das Seiende im Ganzen und wir selbst uns mit entgleiten (GA 9, S.112) und das Nichts in eins mit dem Seienden im Ganzen sich offenbart. Das Nichts ist das Sein selbst in seinem Sichversagen. Es erschließt sich aus der Ent-setzung grundstimmungshaft als das "schlechthin Andere zu allem Seienden" (ebd., S.306) bzw. als das "Ungewöhnliche gegenüber jeglichem Seienden" (GA 65, S.470). Im Ent-setzen ist andererseits das Seiende aus der Ungewöhnlichkeit des Seyns als das "Abgesetzte" (vgl. ebd., S.483), d.h. es tritt nichtend, und deshalb in seiner Befremdlichkeit, gerade als solches hervor. Im Nachwort zu:"Was ist Metaphysik?" finden wir einen Verweis auf den Zusammenhang zwischen der Angst und der Grundstimmung des anderen Anfangs (siehe GA 9, S.306f). Im Ent-setzen bricht also die Grundstimmung des anderen Anfangs auf. Sie nennt dasselbe wie der Schrecken als das "Zurückfahren aus der Geläufigkeit des Verhaltens im Vertrauten, zurück in die Offenheit des Andrangs des Sichverbergenden" (GA 65, S.15). Zu ihm gesellt sich aber aus der Verhaltenheit die Scheu als das 'Wesenlassen des Seyns als Ereignis" (ebd., S.16).38 Das Ent-setzen ist das Geschehnis des Unterschieds von Seyn und Seiendem im Ereignis. Es geschieht in diesem als Ereignung des Da-seins, in der sich grundstimmungshaft aus dem Ab-grund die Ungewöhnlichkeit des Seyns gegenüber dem Seienden eröffnet. Der Unterschied von Seyn und Seiendem vollzieht sich im Da-sein als der Gründungsstätte, in der aus der Inständigkeit des Menschen die Möglichkeit der gründenden Bergung geschenkt wird als der

38 Vgl. dazu den Anfang von § 6 dieser Arbeit, wo die Grundstimmung des anderen Anfangs entfaltet wurde.

220

B. 1. 11. Die Gründung

Verwahrung der Wahrheit des Seyns in dem in seiner Befremdlichkeit nichthaft wesenden Seienden. "5. Die Ent-setzung aber ist aus der Lichtung des Da begriffen zugleich der Entzug des Ereignisses; daß es sich jeder vorstellenden Verrechnung entzieht und als Verweigerung west." (ebd., S.470) "Die Ent-setzung besteht in der Er-eignung des Daseins, so zwar, daß im so sich lichtenden Da (dem Ab-grund des Ungestützten und Ungeschützten) die Ereignung sich entzieht. Ent-setzung und Entzug sind des Seyns als des Ereignisses." (ebd., S.482)

In eins mit der Ent-setzung als dem nichtenden Bezug zum Seienden denkt Heidegger den Ent-zug des Ereignisses. Dieser wird als solcher im Da-sein aus der Lichtung des Da gedacht, da erst in der Er-nötigung des abgründigen Daseins das Sichverweigern des Seyns grundstimmungshaft erschlossen wird. Der Ent-zug wird in eins mit der Ent-setzung gedacht, da im nichtenden Entgleitenlassen des Seienden im Ganzen das Seyn in seinem Sichversagen als das ganz Andere zum Seienden sich offenbart. Das Er-eignis ent-zieht sich daher lichtend-verbergend dem vorstellenden Zugriff des metaphysischen Denkens; es kann niemals wie ein Seiendes als vorgestellte Seiendheit begriffen werden. Es ist wesenhaft Ent-eignis, wobei jetzt dieser Begriff nicht nur die Weise nennt, wie in der Seinsverlassenheit der Metaphysik das Ereignis ereignet. Auch im anderen Anfang gehört die Verweigerung, "die Enteignis", wie sie etwa in Zeit und Sein gedacht wird39 , zum Ereignis selbst. "6. So reich gefügt und bildlos das Seyn west, es ruht doch in ihm selbst und seiner Einfachheit. [... ] Das Seyn ist gebraucht, die Notschaft der Götter, und dennoch nicht aus ihnen abzuleiten, sondern gerade umgekehrt ihnen überlegen, in der Ab-gründigkeit seines Wesens als Grund. Das Seyn ereignet das Da-sein und ist dennoch nicht dessen Ursprung. Unvermittelt west das Zwischen als der Grund der in ihm Ent-gegneten. Dies bestimmt seine Einfachheit, die nicht Leere, sondern Grund der Fülle ist, die aus der Ent-gegnung als Streit entspringt." (GA 65, S.470f)

Mit der Einfachheit wird nicht eine neue Hinsicht im Ereignis entfaltet. Vielmehr liegt in ihr das versammelnde Andenken an das Ganze des Ereignisses aus seiner Wesensmitte. Diese verleiht dem Seyn als Ereignis sein In-sichruhen, das gerade nicht Reglosigkeit ist, sondern Versammlung der Widerwendigkeit im Gefüge des Ereignisses. 40

Siehe Heidegger: Zur Sache des Denkens, S.23. Vgl. ebd., S.194: "Metaphysisch [und auch anfänglich gedacht] aber ist Ruhe im eigentlichen Sinne die höchste Sammlung der Bewegtheit, Sammlung als das Zumal der Möglichkeiten in der ständigsten und erfüllten Bereitschaft". Vgl. auch im Ursprung des Kunstwerks GA 5, S. 34f, wo es um das In-sich-ruhen des Kunstwerks geht. 39

40

§ 13. Das Ereignis als Ur-grund

221

Das Seyn west unvennittelt als Grund der in ihm Ent-gegneten, sofern es ereignend diese im zwischenhaft erschwingenden Gegenschwung erst zu ihnen selbst bringt. Es west unvennittelt in der entscheidenden Ereignung in die Entgegnung, in der die Ent-gegneten gründen. Das Seyn ist den Göttern "überlegen", weil ihre Notschaft gründet in seinem lichtenden Sichverbergen und erst durch dieses die Notschaft als eine das Seyn brauchende ins Offene tritt. Das Seyn erst übereignet, indem es das Da-sein ereignend trägt und durchragt, die Notschaft des Gottwesens im Wink an den Menschen, so daß dieser, den Göttern zugeeignet, inständig das Da-sein aussteht, in dem die Notschaft zur Götterung des Gottwesens gelangt. Im tragenden Durchragen des Da-seins west das Seyn unvennittelt zum Dasein, das dem Seyn nicht ent-springt, sondern es gründend offenhält in der Weise der entrückend-berückenden Ent-fügung des Zeit-Raums als der Augenblicksstätte der Ent-gegnung von Göttern und Menschen. Die Einfachheit des Seyns als Ereignis ist im Wesentlichen darin zu sehen, daß sein Gefüge sich nicht etwa in Fundierungsverhältnisse ausfalten läßt, gleichsam in Gründungsschichten, deren es die oberste oder unterste Grundlage wäre, sondern daß das Ereignis tragend durchragend die in ihm sich ent-fügenden Widerwendigkeiten in ihrem Gegenschwingen versammelt hält und durchzittert, gesetzt daß es in dem in ihm abgründig sich entfügenden Da-sein gründend offengehalten wird. "7. Das Einfache des Seyns hat in sich das Gepräge der Einzigkeit. Sie bedarf gar nicht der Abhebung und der Unterschiede, nicht einmal des Unterschiedes zum Seienden. Denn dieser ist nur gefordert, wenn das Sein selbst zu einer Art des Seienden gestempelt und damit nicht und nie als das Einzige bewahrt, sondern zum Allgemeinsten vergemeinert wird." (GA 65, S.471)

Die Einzigkeit des Seyns läßt sich zunächst begreifen im Unterschied zu jener Seinsbestimmung, nach der das Sein die allgemeinste Bestimmung des Seienden ist. Das Seyn als Ereignis gründet augenblickshaft im Da-sein durch die jeweilig geschickhaft geschichtliche Verwahrung der Wahrheit des Seyns im Seienden. Es versammelt und verschenkt in seiner Einfachheit das in ihm Ereignete. Die Rede eines "Außerhalb" des Ereignisses, in Abhebung zu welchem man es bestimmen wollte, ist aus dem Da-sein begriffen widersinnig und nur möglich, wenn das Da-sein nicht inständig bestanden und das "Seyn" doch wieder als ein Vorgestelltes genommen wird. Die Einzigkeit des Seyns verweist auf seine äußerste und innigste Bestimmtheit als augenblickshaft geschichtlich gründendes. Sofern sie anfänglich aus dem Da-sein begriffen ist, ist die Einzigkeit des Seyns auch nicht in Absetzung vom metaphysisch gedachten Seienden oder seiner Seiendheit gedacht. Daß sie nicht des Unterschiedes zum Seienden bedarf, darf aber deshalb nicht so ver-

222

B. I. 11. Die Gründung

standen werden, als wären Seyn und Seiendes einerlei, als würde alles Seiende sich im "Sein" (als doch wieder dem Allgemeinsten) aufheben oder alles Sein auf die 'Wirklichkeit" des (seinsverlassenen) Seienden reduziert. In der Einzigkeit des Seyns waltet aus dem ent-setzenden Ent-zug ein Unterschied zwischen Seyn und Seiendem, der in der Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende gerade geschieht, bewahrt und rückgegründet bleibt in das Ereignis als dem gründenden Grund. Das Fragwürdige dieses Unterschieds wird noch weiter zu bedenken sein. "8. Die Einzigkeit des Seyns begründet seine Einsamkeit, gemäß der es einzig nur das Nichts um sich wirft, dessen Nachbarschaft die echteste bleibt und die Einsamkeit am treuesten behütet. Ihr zufolge west das Seyn stets nur mittelbar durch den Streit von Welt und Erde zum 'Seienden'." (ebd.)

Die Einsamkeit kennzeichnet das Seyn in seiner Einfachheit und Einzigkeit hinsichtlich seiner Nachbarschaft zum Nichts. Dieses gehört zum Seyn selbst als Ereignis, welches in der Weise des ent-setzenden Entzugs des Da-seins aus der Notschaft der Götter ereignet. Seyn als Ereignis tritt niemals ins Offene wie das in ihm bergend entborgene Seiende. Mit Zeit und Sein gesprochen wird es als das ''Es gibt" von Anwesendem, d.h. als Anwesenlassen, gerade selbst niemals anwesend, sondern erschließt sich in der Ent-setzung als das ganz Andere zum Seienden. Im Wesen des Unterschieds, des scheidenden Entspringenlassens, wirft es, sich entziehend, "einzig nur das Nichts um sich". Diese Wendung erinnert41 an eine Wendung aus Heideggers Nachwort zu "Was ist Metaphysik?": ''Das Nichts als das Andere zum Seienden ist der Schleier des Seins." (GA 9, S.312; meine Betonung) Auf derselben Seite finden wir eine dazugehörige Anmerkung Heideggers von 1949: ''Das Nichts: das Nichtende, d.h. als Unterschied, ist als Schleier des Seyns, d.h. des Seyns im Sinne des Ereignisses des Brauchs". (ebd.) Zufolge seiner Einsamkeit, so Heidegger, west das Seyn stets nur mittelbar zum "Seienden" durch den Streit von Welt und Erde. Wir werden den Streit von Welt und Erde im Zusammenhang mit Heideggers Abhandlung vom "Ursprung des Kunstwerkes" zu erörtern haben. Anzeigend sei gesagt, daß dieser Streit von Welt (das Sichöffnen der geschichtlichen Bahnen) und Erde (das Hervorkommen des Sichverschließenden) im Offenen geschieht, das anfänglich im Seienden verwahrt wird. Der Streit von Welt und Erde west in dem im Seienden verwahrten Offenen und gründet im Urstreit als dem lichtenden Sichverbergen der Wahrheit des Seyns. Die Mittelbarkeit des Seyns ist in diesem Zusammenhang so zu begreifen,

41 Den Hinweis auf die Parallelität der hier angeführten TextsteIlen verdanke ich F.W. v. Herrmann.

§ 13. Das Ereignis als Ur-grund

223

daß es, sofern es gerade als ereignend-sichentziehender Unterschied zum Seienden west, in diesem niemals unmittelbar aufgeht, sondern darin gerade als Entzug west, nichtet. Mit der Einsamkeit schließt Heidegger seine Entfaltung des Ereignisses. Rückblickend wird ersichtlich, daß die ersten 3 Ereignisweisen die drei Grundbezüge entfalten, in denen das Seyn als Ereignis gründet. Die 4. und 5. Ereignisweise nennen den in diesem ursprünglich abgründenden Gründen sich entfügenden Bezug zum Seienden. Die 6., 7. und 8. Ereignisweise nennen das Ganze des Ereignisgefüges in einem versammelnden Blick. Das Ereignis wird dabei jeweils gedacht aus dem Da-sein, in dem sich dem Denken allein diese mehrfältigen Bezüge erschließen. In der Ergründung des Ereignisses, die dem geschichtlichen Gang des Übergangs selbst entspringt, ist die Entscheidung über den anderen Anfang bereits angebrochen, wenn auch vorerst nur im Verborgenen, wie Heidegger etwa im 45. Abschnitt aus dem Vorblick der Beiträge schreibt: "Die schon längst im Verborgenen und Verstellten angebrochene Entscheidung ist die zur Geschichte oder zum Geschichtsverlust. Geschichte aber begriffen als die Bestreitung des Streites von Erde und Welt, übernommen und vollzogen aus der Zugehörigkeit zum Zuruf des Ereignisses als der Wesung der Wahrheit des Seyns in der Gestalt des letzten Gottes." (GA 65, S.96)

Heideggers Weg des Denkens er-gründet im Verborgenen den Wesensbereich der anfänglichen Geschichtlichkeit des Seyns. Im Verstellten dieses Bereichs geht das durch die neuzeitliche Technik geprägte Ende der Metaphysik weiter seinen Weg in die Geschichtslosigkeit als der völligen Seinsvergessenheit in der alleinigen Anerkenntnis des berechenbaren seinsverlassenen Seienden. Aber kann die Menschheit überhaupt völlig geschichtslos werden? Bleibt nicht in der äußersten Geschichts-Iosigkeit wesenhaft noch der Bezug zur Geschichte erhalten? Und wird, sofern die Geschichtslosigkeit selbst dem Geschick des Seyns entspringt, es nicht immer jene schöpferischen Menschen geben, die angegangen bleiben vom Sein als ihrem Wesensgrund und die das Geheimnis des Seyns jeweilig ins Werk setzen? Muß das anfängliche Denken auf die Entscheidung der Geschichtlichkeit eines Volkes hinausdenken, gleichwie ein notwendig zu erreichendes Ziel, oder ist nicht schon Wesentliches vollbracht, wo einzelne Menschen anfänglich geschichtlich sind und in solchem Sein dieses schaffend in das Seiende gestalten? Nichts spricht dagegen, daß der Übergang Übergang bleibt. Vielleicht bleibt die so in sich gespaltene Geschichte des Menschen in ihrer Gespaltenheit. Vielleicht gehört diese zum Wesen des Seyns selbst. Die Frage nach der Bergung, die im folgenden bedacht werden soll, fragt in die Geschichtlichkeit unserer Zeit. Sie fragt dahinein, wie die Wahrheit des

224

B. I. II. Die Gründung

Seyns ins Offene tritt durch ihre Bergung im Seienden. Sie fragt nach den verschiedenen Wegen der Bergung, mit besonderem Schwerpunkt auf dem Denken, und wie jeweilig Seyn in seiner Einzigkeit gründend gegründet und geborgen wird.

III. Die Bergung § 14. Der Unterschied von Seyn und Seiendem

Wenn unser Denken langehin gewohnt ist, Sein nur vom Seienden her vorzustellen und sich von diesem aus den Weg zum Seyn in seiner Wahrheit zu verstellen, liegt eine der schwierigsten Aufgaben für das anfängliche Denken darin, das Seiende in gewandelter Weise aus dem Seyn zu denken. Denn natürlicherweise sinkt das Denken in die alten Gewohnheiten zurück und nimmt das Seiende als das bloß Vorgestellte. Das Seyn braucht wohl zu seiner Wesung das Seiende, aber: "Nicht so bedarf das Seiende des Seyns" (GA 65, S.30). Seyn west in seiner Wahrheit nur, wo diese im Da-sein ausgestanden und in ein Wahres (Seiendes) geborgen wird. Wohingegen das Seiende gerade in seiner äußersten Seinsverlassenheit zur maßgebenden Herrschaft gelangt. Das vorgestellte und im sich zustellenden Vorstellen erlebbare Seiende (vgl. Anklang) gilt als das "Wirklichste" und "Lebendigste". Was soll da noch die abstrakte Frage nach der leeren Worthülse "Sein"? Das Seiende erscheint so als das eines "Seins" Unbedürftige. Um so notwendiger wird dabei für den, der diese Unbedürftigkeit als Not der Notlosigkeit erfährt, die Besinnung auf das Sein des Seienden und zuvor auf das Seyn selbst in seiner Wahrheit. Das Denken der ontologischen Differenz im Umkreis von Sein und Zeit bricht einen ersten Weg in die Richtung auf, das Seiende aus dem Sein zu denken, im Aufweis, wie der Entdecktheit von Seiendem die im Transzendieren des Da-seins aufgeschlossene Welt, in der Sein überhaupt erschlossen ist, vorausgeht. Nur faßt Heidegger dieses Vorausgehen in der Sprache der Metaphysik als ein Verhältnis der Bedingung der Möglichkeit zum Bedingten. Das Sein wird dann wieder gegenüber dem Seienden denkbar als apriori, und das metaphysische Denken fällt allzu leicht dahin zurück, das Sein doch wieder nur vom Seienden aus als dessen Bedingung der Möglichkeit vorzustellen. Wir finden in den Beiträgen zahlreiche Äußerungen Heideggers, in denen dieser mit der Notwendigkeit des Denkens der ontologischen Differenz im Übergang aus der Metaphysik in den anderen Anfang zugleich das Verhängnisvolle dieser Unterscheidung bedenkt:

15 Neu

226

B. 1. III. Die Bergung "Denn diese Unterscheidung entspringt ja gerade einem Fragen nach dem Seienden als solchem (nach der Seiendheit). Auf diesem Wege aber ist niemals zur Seynsfrage unmittelbar. zu gelangen. Mit anderen Worten, diese Unterscheidung wird gerade zur eigentlichen Schranke, die ein Fragen der Seynsfrage verlegt, sofern versucht wird, unter Voraussetzung des Unterschiedes von diesem weiter nach seiner Einheit zu fragen." (ebd., S.250)

Nach dem Seienden als solchen fragt das Denken der Metaphysik. In diesem Fragen vollzieht die Metaphysik die ontologische Differenz, doch so, daß sie diese nicht eigens bedenkt, bzw. sie vermag nicht das Sein als solches in seiner Wahrheit zu denken, das niemals wie ein Seiendes zu begreifen ist, weil ihr transzendierendes Fragen vom Seienden aus nur nach dessen Seiendheit fragen kann (der Unterschied ist dann nur der von Seiendem und höchstem Seienden oder Seiendheit). Wenn nun Heidegger die Notwendigkeit der Frage nach dem Sein selbst anfänglich erfährt und wieder anfänglich aufgreift, dann ist, von der Metaphysik herkommend, der Aufweis der in dieser verborgen spielenden ontologischen Differenz unumgänglich, um das ganz Andersartige der Seinsfrage deutlich zu machen. In Sein und Zeit geht Heidegger den Weg, aufzuweisen, wie das Seiende im alltäglich besorgenden Umgang je schon in seiner Bewandtnis (Wassein) als Zuhandenheit (Wiese in) entdeckt ist, wie diese Entdecktheit selbst in der Erschlossenheit von Welt gründet, die im Transzendieren des Daseins je schon zeithaft aufgeschlossen wird. Im ekstatisch-horizontalen Sichzeitigen des Daseins ist Seiendes je schon entdeckt. Das Dasein selbst ist also der Vollzug der ontologischen Differenz. Inwiefern wird nun diese Unterscheidung zur eigentlichen Schranke für ein Fragen nach dem Seyn? Heidegger antwortet: "sofern versucht wird, unter Voraussetzung des Unterschiedes von diesem weiter nach seiner Einheit zu fragen" (ebd.). D.h. nicht, Heidegger habe solches versucht. Es heißt nur, daß die Ansetzung der ontologischen Differenz solches begünstigt. In der Tat geht Heideggers Denkweg eine ganz andere Richtung. Sein Bemühen geht dahin, den Ursprung, d.h. die "echte Einheit" der ontologischen Differenz zu fassen (ebd.). Zu dieser ursprünglichen Einheit, welche ursprünglicher ist als die ontologische Differenz, führt vom metaphysisch gedachten Seienden aus kein Weg. "Deshalb gilt es, nicht das Seiende zu übersteigen (Transzendenz), sondern diesen Unterschied und damit die Transzendenz zu überspringen und anfänglich vom Seyn her und der Wahrheit zu fragen." (ebd., S.250f)

Solches Überspringen ist der denkerische Sprung in das Ereignis, die Verrückung in das Da-sein aus dem ent-setzenden Ent-zug des Seyns selbst. Vom Seyn her fragen heißt, im Vollzug fragen aus der Widerfahrnis des Seyns.

§ 14. Der Unterschied von Seyn und Seiendem

227

Im Sprung werden Seyn und Seiendes, so Heidegger, verwandelt in ihre zeiträumliche "Gleichzeitigkeit" (ebd., S.13t). Diese dürfen wir freilich nicht vulgärzeitlich verstehen, sondern wir müssen sie begreifen aus dem ent-setzenden Ent-zug, in dem das Ereignis Da-sein er-eignet, so daß grundstimmungshaft der Ent-zug des Seyns in eins mit der Ent-setzung vom Seienden sich öffnet. Auch seynsgeschichtlich wird der Unterschied von Seyn und Seiendem im Vollzug des Da-seins gedacht, aber er wird er-dacht als ein Grundgeschehnis im Seyn selbst als Ereignis aus der Ereignung des Da-seins. Das im lichtenden Sichverbergen, im Aufriß des Ab-grundes geschehende Ereignen erweist sich als die ursprüngliche Einheit der ontologischen Differenz; dies aber so, daß diese Einheit im Da-sein als das Sichscheiden von Seyn und Seiendem geschieht. In eins mit der Einsicht in die ursprüngliche Einheit der ontologischen Differenz erschließt sich dem Denken auch der ursprüngliche Grund, weshalb der Unterschied von Seyn und Seiendem im ersten Anfang ungedacht bleiben mußte. Denn das Ereignis ereignet so, daß es sich in der ursprünglichen entsetzenden Eröffnung des Seienden zugleich ent-zieht und sich in dieses verbirgt. Die Eröffnung des Seienden ereignet im Erstaunen das erstanfängliche Fragen und Denken vor das Ungewöhnliche, daß Seiendes ist. Den Entzug im Ereignis eigens zu bedenken ist erst dem neuzeitlichen Menschen aus der äußersten Not der Seinsverlassenheit eine Notwendigkeit geworden. Mit dem Fragen nach dem Entzug selbst wandelt sich aber auch die Frage nach dem Seienden. Im 267. Abschnitt der Beiträge, gleich im Anschluß an die Entfaltung des Ereignisses in acht Ereignisweisen, finden wir gegenüber der metaphysischen Aussage "Seiendes ist" den unerhörten Ausspruch: "Seiendes ist nicht" und "nur das Seyn ist".1 "Die volle Wesung des Seyns in der Wahrheit des Ereignisses läßt erkennen, daß das Seyn und nur das Seyn ist und daß das Seiende nicht ist. Mit diesem Wissen vom Seyn erreicht das Denken erst die Spur des anderen Anfangs im Übergang aus der Metaphysik. Für diese gilt: das Seiende ist und das Nicht-Seiende 'ist' auch und das Seyn ist das Seiendste Seiende. Dagegen steht: das Seyn ist einzig, und deshalb 'ist' es nie ein Seiendes und am wenigsten das Seiendste. Das Seiende aber ist nicht, und gerade deshalb spricht ihm das seynsvergessene Denken der Seiendheit diese als allgemeinste Eigen-

I Auf diese anfängliche Sprechweise verweist Heidegger auch in späteren Schriften, so etwa im Humanismusbriej. "Vielleicht kann das 'ist' in der gemäßen Weise nur vom Sein gesagt werden, so daß alles Seiende nicht und nie eigentlich 'ist'." (GA 9, S.334f). In seinem Vortrag Die Kehre schreibt Heidegger geradewegs: "Das, was ist, ist keineswegs das Seiende. [... ] Im 'ist' wird 'Sein' ausgesprochen" (TuK, S.44).

15·

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B. 1. III. Die Bergung

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schaft zu. Dieser Zuspruch hat im gewöhnlichen Vorstellen sein Recht, und deshalb muß diesem gegenüber gesagt werden: das Seyn west; das Seiende 'ist'." (GA 65, S.472)

Die letztgenannte Redeweise ist die uns von Heidegger bislang vertraute. Zu sagen: das Seyn west, erinnert das metaphysisch gewöhnte Denken daran, daß vom Seyn nicht wie vom Seienden das "ist" ausgesagt werden kann. Das Seyn widersetzt sich dem gewohnten Aussagecharakter , wo gesagt wird: Seyn west, d.h. Seyn geschieht oder ereignet sich. Gedacht wird dabei das Seyn selbst, und zwar nicht als Subjekt und damit als Seiendheit. Heidegger führt diese Sprechweise aus der Metaphysik herkommend im Übergang ein, auch um einer Verwechslung mit der metaphysisch gedachten Seiendheit vorzubeugen. Zu sagen, "das Seyn west" ist auch in einer Gegenstellung, in Absetzung zur Metaphysik gesprochen. Dieses Sprechen ist mithin durch die Metaphysik mitbestimmt. Es ist erst übergänglich und noch nicht ganz andersanfänglich. Beibehalten wurde bislang auch die metaphysische Aussage "Seiendes ist": Vom Seienden wird dessen Sein ausgesagt. Im angeführten Zitat setzt Heidegger das "ist" in Klammern, weil dieses, anfänglicher (aber immer noch übergänglich) gedacht und gesagt, nur dem Seyn zukommt. Andersanfänglich muß gesagt werden: Das Seiende ist nicht. Metaphysisch ist solch eine Aussage widersinnig. Wir müssen aber versuchen, sie vom Seyn her zu begreifen und vielleicht enthüllt sich ein Sinn in dem so Gesagten. "Das Seyn ist" ist, anfänglich gehört, keine Aussage, aber eine Sage des Seyns selbst: "In dieser Sage wird das Seyn aus dem 'ist' her gesagt und gleichsam in das 'ist' zurückgesprochen." (ebd, S.473) Das "ist" wird dem Seyn nicht zugefügt. In ihm spricht sich das Seyn aus, das Seyn in seiner Einzigkeit, der gemäß es keine Abhebung und Unterschiede bedarf, weder zu Seienden, noch zum Nichts. Warum sagt Heidegger dann nicht einfach: "Seyn"? Warum lautet die Sage: ''Das Seyn ist"? Offenbar, weil zu ihr ein Woher und ein Wohin gehört bzw. die Erbreitung des Zeit-Raums als das Offene des Zwischen zwischen dem abgründigen Woher und dem abgründigen Wohin, das Offene der Wahrheit als lichtendes Sichverbergen. Die Sage ist eine solche'nur, wenn in ihr das Sichöffnen geschieht als ein Sichscheiden: Das Seyn scheidet sich, vom "ist" herkommend, von diesem, um in diesem Sichscheiden zurückgesprochen zu werden in das "ist", das Woher und Wohin ursprünglich versammelt hält. In der Sage geschieht ein Ent-fernen im zwiefachen Sinne des Ent-fernens und Ent-fernens, welches letztere ein Nähern ist. Zu erläutern bleibt noch der bestimmte Artikel: "Das Seyn ist". Seyn ist nicht überhaupt und im Allgemeinen; es ist immer bestimmt. Es ist anfänglich geschichtlich, so daß es sich in der zögernden Versagung in ein bestimmtes Offenes augenblickshaft einräumt. Ein solches Offenes, das in der Zögerung das

§ 14. Der Unterschied von Seyn und Seiendem

229

Sichversagen offenhält, lichtet sich in der Sage: ''Das Seyn ist", gesetzt diese findet das ent-sprechende Gehör. Nun ist jedoch diese Sage und das in ihr Gesagte nicht nichts. Das Gesagte steht geschrieben, ist jederzeit verlautbar. Diese Sage: "Das Seyn ist", ist doch ein Seiendes? Oder nicht? Wie anders könnte Seyn sein, wenn nicht im Seienden, in dieser Aussage zum Beispiel. Die Sage "das Seyn ist" kann jederzeit problemlos als Aussage genommen werden. Dann haben wir allerdings die Sage als solche verloren. Ihr Offenes ist ein Unwahres geworden. Das Sagen hält das Seyn als sichverbergendes nicht mehr offen, sondern ist verstellt durch das als Aussage genommene Gesagte: das Seyn ist zum Seienden geworden: es ist nicht mehr. Das Gesagte ist, als Seiendes genommen, gerade nicht: es ist nicht im Offenen der Wahrheit des Seyns. Jetzt sind wir unvermerkt auch diesem unerhörten Ausspruch Heideggers näher gekommen, welcher lautet: ''Das Seiende ist nicht ". Das Seiende wird dabei zunächst als das bloße Seiende im Sinne des seinsverlassenen Seienden gedacht. Sein Nichtsein wird gesprochen und gedacht aus dem Seyn in seiner Wahrheit. Eine Sage vom Seienden gibt es nicht. Die Sage, wie Heidegger sie begreift, ist immer des Seyns, aus dem "ist" gesprochen in dieses zurück. Vom Seienden gibt es nur Aussagen, und in der Aussage ist das Seiende gerade nicht. Dadurch wird das Seiende aber nicht einfach als Nichtiges gedacht, aufgelöst zugunsten des Seyns und weggesprochen. Allein: Was bleibt von ihm übrig, wenn es so ganz dem Seyn geopfert wird? Versuchen wir nochmals genauer hinzuhören: "Das Seiende ist nicht." Im Nicht des Seienden verbirgt sich das Seyn. In dem Gesagten bleibt, aus dem "ist" gedacht, das Seiende dem Seyn zugehörig. Heidegger schreibt: "Wenn aber das Seiende nicht ist, dann sagt dies: Das Seiende bleibt dem Seyn zugehörig als die Verwahrung seiner Wahrheit, vermag jedoch nie sich in die Wesung des Seyns zu verlegen. Das Seiende aber unterscheidet sich als ein solches hinsichtlich der jeweiligen Zugehörigkeit zur Wahrheit des Seyns und der Ausgeschlossenheit aus seiner Wesung." (ebd., S.474) Abermals wird der Leser vor ein Paradox gestellt: Dadurch, daß das Seiende nicht ist, verwahrt es die Wahrheit des Seyns. Und abermals sind wir aufgerufen, unser Ohr zu spitzen und anders zu hören, als wir es gewohnt sind. Die Aussage: ''Das Seiende ist" verwahrt die Wahrheit des Seyns nicht. In dieser Aussage schiebt sich gleichsam das vorgestellte Seiende vor die Offenheit des Seyns. Es verstellt somit gerade sein eigenes Wesen. Sagt Heidegger aber: ''Das Seiende ist nicht" und hören wir in diesem "ist" das Offene des Seyns, dann befreien wir dieses von der Verstellung durch das vor-gestellte Seiende und im "Nicht" des Seyns des Seienden bleibt das Seyn verwahrt.

230

B. I. III. Die Bergung

Das Seiende vermag sich nie in die Wesung des Seyns zu verlegen, weil es gerade aus dem Entzug des Seyns, aus dem Unter-Schied west. In diesem bleibt das Seyn dem bloßen Seienden gegenüber stets reicher, reicher aus seinem ursprünglichen Wesen als Vermögen. Das Seiende unterscheidet sich aus dem Entzug des Seyns, besser: aus seinem Wesen als lichtendes Sichverbergen im Sinne der ursprünglichen Ent-scheidung: das Auseinandertreten, das im Ereignis die Geschiedenen erst in ihr Wesen ereignet. In der ursprünglichen Ent-scheidung tritt das Seiende aus dem Entzug des Seyns in sein Wesen hervor, es unterscheidet sich, empfängt seine Bestimmtheit, sein jeweiliges Wesen hinsichtlich der jeweiligen Zugehörigkeit zur Wahrheit des Seyns und der Ausgeschlossenheit aus seiner Wesung. Die Ausgeschlossenheit gehört zur Zugehörigkeit des Seienden in die Wahrheit des Seyns dazu. Wir können sie zum einen so verstehen, daß das Seiende gerade im ent-setzenden Ent-zug hervortritt in sein Wesen und aus dem anfänglichen Da-sein rückgegründet bleibt im Seyn. Dann begreifen wir die Ausgeschlossenheit aus dem Ent-zug als das im Seienden verwahrte Nicht. Zum anderen kann die Ausgeschlossenheit gegenüber der Zugehörigkeit einen Vorrang dadurch einnehmen, daß das Seiende bloß als Vorhandenes genommen wird. Dann wird die ursprüngliche Zugehörigkeit zum Seyn und dessen Ent-zug gerade verdeckt. Im ersten Fall west die Wahrheit im Offenen ihres Sichverbergens und geschieht die Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende. Im zweiten Fall west die Wahrheit in der Irre. Das Seiende trägt immer beides als Möglichkeit in sich, weil es aus der ursprünglichen Ent-scheidung im Wesen des Seyns als Ereignis - nicht ist. Wir sehen also, wie der Unterschied von Seyn und Seiendem aus dem und im Wesen der Wahrheit des Seyns als Ent-scheidung gedacht wird. Deshalb kann Heidegger auch noch in den Beiträgen sagen, daß, trotz der zeit-räumlichen "Gleichzeitigkeit" von Seyn und Seiendem, das Seyn allem in es hereinstehenden Seienden zuvor west (vgl. ebd., S.303). Dieses "zuvor" hat weder einen zeitlichen Sinn noch eine apriorische Bedeutung im Sinne der Bedingung der Möglichkeit. Demgegenüber haben wir in ihm den Überschuß zu hören im Wesen des Seyns als nichthaftes Vermögen und dieses, daß Seiendes sich aus diesem Überschuß, aus dem ereignenden Ent-zug im Da-sein scheidee und als

2 In Identität und Differenz (darin: "Die onto-theo-Iogische Verfassung der Metaphysik") geht Heidegger den Weg, von der die Metaphysik bestimmenden ontologischen Differenz zu ihrem Ursprung im Unter-Schied im Wesen des Seyns als Ereignis. Dieses wird dabei gedacht als "entbergende Überkommnis" (wir hören darin die Ereignung als überschwingendes Gründen), d.h. "Sein geht über (das) hin, kommt entbergend über (das), was durch solche Überkommnis erst als von sich her Unverborgenes ankommt". Dieses von sich her als Unverborgenes Ankommende ist das Seiende. Die Ankunft wird gedacht als "sich bergen in die Unverborgenheit: also geborgen anwähren: Seiendes

§ 14. Der Unterschied von Seyn und Seiendem

231

solches hervorkommt in sein Wesen. Das Seiende steht dabei in das Seyn herein, worin die Sichtweise vom Seyn bzw. vom Da-sein aus liegt als dessen Wesungsmitte. Der "Stand" weist auf die Ständigkeit, die das Offene der Wahrheit des Seyns durch die Bergung im Seienden erlangt. Denken wir nochmals zurück an Heideggers Satz: "Das Seiende ist nicht". Man könnte jetzt freilich Heidegger vorhalten, dieser Satz denke das Seiende darin noch nicht andersanfänglich, sofern er es noch metaphysisch ansetzt (das Seiende als das, worüber etwas ausgesagt wird), um es im selben Satz aus dem "ist" gedacht zu destruieren zugunsten der Einzigkeit des Seyns. Vom metaphysisch gedachten Seienden führt kein Weg zu Seyn, weil jenes gerade nicht ist. Doch spricht Heidegger selbst in den Beiträgen von der Möglichkeit "- mit dem entsprechenden Vorsprung in das Seyn allerdings -, vom 'Seienden' her den Weg zur Wesung der Wahrheit zu finden und auf diesem Weg die Bergung als zur Wahrheit gehörig sichtbar zu machen" (GA 65, S.389).

Jetzt steht das "Seiende" in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß dieses in gewandelter Weise, nämlich aus dem Vorsprung in das Seyn, begriffen wird. Den Weg vom "Seienden" zum Seyn ist Heidegger zugleich mit der Ausarbeitung der Beiträge in seiner Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes gegangen. Er ist ihn aber auch in späteren Vorträgen, nämlich Das Ding oder Bauen, Wohnen, Denken gegangen, wo der Unterschied von Seyn und Seiendem gedacht wird im Verhältnis von Welt und Ding aus dem Denken des Gevierts. Letztere Vorträge nennt Heidegger in Zeit und Sein "Wege in das Ereignis" (ZuS, S.38). Diese Wege sind selbst ein Bergen, bzw. sie sind zu begreifen als gründendes Denken, das zu er-denken versucht, wie im Ding oder in einem Bauwerk das Welt-Geviert von Sterblichen, Göttlichen, Himmel und Erde geschieht, bzw. wie das Seyn als Ereignis im Ding das Geviert ereignet und das Ding das Geviert und so das Ereignis versammelt. Bevor im folgenden über die Kunstwerk-Abhandlung zunächst deutlicher gemacht werden soll, wie Heidegger in den Beiträgen das Geschehnis der Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende genauer begreift, soll vorerst im §15 ein erstes Vorverständnis der Bergung und ein erster Durchblick durch die verschiedenen Bergungsweisen im Ganzen des übergänglichen Denkens gegeben werden.

sein" (ebd., S.56). Die ontologische Differenz wird mithin ursprünglich gedacht aus dem Unter-Schied von Überkommnis (des Seins) und Ankunft (des Seienden) als "der entbergend-bergende Austrag beider" (ebd., S.57). Das Wort "Unter-Schied" muß dabei so gehört werden, daß im ''Unter'' die ursprüngliche Einheit der Scheidung gedacht wird.

232

B. I. III. Die Bergung

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses

a) Die Bergung als ausgezeichneter Bezug der Wahrheit des Seyns zum Seienden In der Bergung wird im Hinblick auf die Gründung des anderen Anfangs versuchshaft vom Ereignis her ein ausgezeichneter, weil anfänglicher Bezug zum Seienden erdacht aus der Inständigkeit im Da-sein. Besinnen wir uns auf dieses als das zeit-räumliche Sichöffnen der Wendungsmitte der Wahrheit des Seyns, so wird einsichtig, daß es Wendungsmitte auch für den nichthaften Bezug des Seyns zum Seienden ist. Im Da-sein wird inständig die Zerklüftung des Seyns offengehalten, sofern aus der Verhaltenheit im Da das Sichverbergen sich lichtet. Zum Seyn als Zerklüftung, als ursprüngliches Auseinandertreten, als Unter-Schied, gehört, daß es sich entzieht, und sein anfänglichster Wesensraum, seine ursprüngliche Wahrheit kann nur so eröffnet und offen gehalten werden, daß das Sichverbergen des Seyns in der Zögerung gehalten wird, daß das "Da", das Offene, einen Stand und eine Ständigkeit gewinnt. Deshalb bedarf die Wahrheit des Seyns der Bergung im Seienden. Die Rede von der Bergung im Seienden ist freilich nicht ganz unverfänglich, wie Heidegger bemerkt: "als könnte die Wahrheit je zuvor schon für sich 'Wahrheit' sein" (GA 65, S. 390), um dann in einem Seienden "geborgen" zu werden. Dagegen sind Wahrheit des Seyns und Seiendes, wie gesagt, aus dem ent-setzenden Ent-zug im Da-sein in ihrer zeit-räumlichen Gleichzeitigkeit zu begreifen. Die anfängliche Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden verwahrt anders anfänglich gerade das Sichverbergen im Da des Daseins, so daß das Ereignis in der ent-scheidenden Ent-gegnung Götter und Menschen in ihr je Eigenes ereignet. Die Notschaft des Gottes und die Geschichte des Menschen ereignen sich nur in der Bergung der Wesung der Wahrheit im Seienden. Das Wort "Bergung" läßt den Sinn der "Verbergung" mitschwingen: das Geborgene entzieht sich dem es fassen wollenden Blick. Diesem wird gleichsam nur die Schale dargeboten, der Anblick dessen, worein das Geborgene verwahrt wird. Damit soll auf die Metaphysik angespielt werden. In dieser entzieht sich das Sein zugunsten des Seienden, von dem aus nach dessen Seinsgrund gefragt wird. Anders ist in der andersanfänglichen Gründung die verbergende Bergung zu begreifen. Auch hier west das Seyn als Entzug; doch entzieht es sich nicht ''hinter'' das anwesende Seiende als dem zuvor Wahrgenommenen, sondern das "Seiende" wird verwandelt erfahren aus dem bergend gründenden Da-sein, das das Sichentziehen (die ursprüngliche Verbergung) gerade in der Zögerung offen hält.

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses

233

Daß in jeder Bergung die Möglichkeit der bloßen Verbergung mitschwingt, das Wahre durch Verstellung oder Verdeckung ein Unwahres werden kann, gehört freilich dazu. Wo sich aber dem Vernehmen in erster Linie das Seiende darbietet, ist die Wahrheit des Seyns im Seienden verborgen und nicht mehr anfänglich in ihrem Sichverbergen verwahrt. 3 Und gerade letzteres versucht Heidegger in der anfänglich gründenden Bergung zu denken. Es ist deshalb irreführend, wenn italienische Heidegger-Forscher hin und wieder die Bergung einseitig mit "nascondimento", d.h. "Verbergung", übersetzen. Wenn das Seiende nur als verbergendes gedacht wird, kann der Bezug zum sichverweigernden Seyn nur aus der Vernichtung des Seienden gedacht werden. Damit hätten wir Heideggers Denken allerdings als Nihilismus verkannt und in die Tatenlosigkeit verbannt: Dem Denken bliebe nur das immer neue Entgegendenken gegen den Entzug, ohne Hoffnung auf irgendeine Ver-wirklichung im Seienden. 4 Heidegger geht es aus der Not der Seinsverlassenheit und der Notschaft des Gottwesens, jetzt mit Blick auf das Seiende gesagt, um eine Rückgründung des Seienden in das Sein bzw. um seine Wiederbringung 5, in der das Seiende eben nicht mehr das bloße Seiende ist, von dem gesagt werden muß: es ist nicht, sondern in dem dieses aus dem Seyn dessen Bezüge in ihre geschickhafte Augenblicklichkeit versammelt und verwahrt. Das Seiende empfängt seine Einzigkeit und Bestimmtheit dann eben nicht mehr aus dem Vergleich mit anderem Seienden, aus seiner gattungs- und artmäßigen Zergliederung und innerräumlichen innerzeitlichen Vorhandenheit, sondern aus der Einzigkeit des

3 An dieser Stelle muß ergänzt werden, daß neben dem metaphysischen Verbergen und dem anfänglichen Bergen der Wahrheit des Seyns ein mögliches Verbergen in der Alltäglichkeit bzw. im bergenden Umgang mit dem Zeug, zu denken ist. Es würde sich hierbei um ein anfängliches, wenn auch nicht ausgezeichnetes Bergen handeln, das selbst den Charakter der Unauffälligkeit behält. Die Wahrheit des Seyns wird zwar geborgen, scheint aber nicht eigens auf. Vgl. dazu Heideggers Wesensentwurf des anfänglichen Zeugseins in der Kunstwerk-Abhandlung, der im folgenden § 16 eine Erläuterung erfährt. 4 Bei Costantino Esposito wird in: Heidegger: Storia e Fenomenologia deI Possibile (Bari 1992) eine solche Auslegungstendenz deutlich, was ihn in eine zwiespältige Stellung gegenüber Heidegger führt: Zeigt Esposito auf der einen Seite in einer aufmerksamen Analyse von Texten Heideggers, wie das Seyn als geschichtliches Vennögen zu denken ist, sieht er andererseits darin, daß das Seyn als Entzug wesenhaft nicht im Seienden "verwirklicht" werden kann, eine ursprüngliche Machtlosigkeit des Seyns (ebd., S.9). Das Denken gerät in eine Aporie: Gerade weil es als vom Seyn ereignetes nicht willentlich die Metaphysik verlassen kann, scheint ihm allein aufgegeben, die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit der Seinsvergessenheit des Seienden anzudenken (ebd., S.326). 5 Siehe GA 65, S.27.

234

B. 1. IlI. Die Bergung

geschickhaft augenblickshaft wesenden Seyns, das im offenen Walten dieses Wahren ("Seienden") verwahrt ist und seine wesentlichen Bezüge entfaltet. Die Rückgriindung verweist darauf, daß im anderen Anfang das Seiende in das Seyn als seinen Wesensgrund riickgegriindet wird. Aus diesem Wesensgrund tritt das Seiende in der Metaphysik heraus, um dem (im weitesten Sinne) vorstellenden Denken als bloß Vorhandenes entgegenzutreten. Rückgegriindet steht dagegen das Seiende als Wahres in die im Da-sein offengehaltene Wahrheit des Seyns herein. Aus derselben Perspektive ist auch die Wiederbringung des Seienden zu begreifen. Wir hören darin zumal den Anklang an den erstanfänglichen griechischen Anfang des abendländischen Denkens, nämlich Anaximander, Parrnenides und Heraklit, wo sich zwar die metaphysische Scheidung von Sein und Seiendem vorbereitet, wo aber das Seiende aus dem aufgehenden Anwesen, aus der physis in der a-letheia eifahren wurde. Doch kann man nicht im strengen Sinne sagen, daß im ersten Anfang die Wahrheit des Seyns in das Seiende geborgen wurde, wenn zur anfänglichen Bergung gerade die Verwahrung des Seyns in seinem Sich verweigern gehört. b) Der Streit von Welt und Erde Es stellt sich freilich die Frage, wie denn das Seiende das Sichverbergen und so das Seyn als Ereignis verwahren soll, wenn dieses gerade als ent-setzender Ent-zug zum Seienden west, und wie wir von da aus das riickgegriindete Seiende positiv zu denken haben. Im 267. Abschnitt der Beiträge gibt Heidegger den entscheidenden Verweis, wenn er sagt, das Seyn west "stets nur mittelbar durch den Streit von Welt und Erde zum 'Seienden'" (ebd., S.471). Das Geschehen des Sichverbergens als die Wesung der Wahrheit "wird verwandelt und erhalten [... ] in den Streit von Erde und Welt" (ebd., S.391). Weil das Ereignis als ent-setzender Ent-zug zum Seienden west, kann die Wesung der Wahrheit als Lichtung für das Sichverbergen sich nicht einfach direkt in das Seiende verlegen, in diesem gänzlich aufgehen, so wenig wie das Seiende sich in die Wahrheit des Seyns zu verlegen vermag. Der Streit von Welt und Erde ist die Weise, wie im Seienden als einem Wahren Wahrheit geschieht, so daß es aus dem in ihm geschehenden Streit verwandelt erfahren wird. Dieses Wahrheitsgeschehen griindet aber im lichtenden Sichverbergen der Wahrheit des Seyns als dem Urstreit. Im nächsten Paragraphen über die Kunstwerk-Abhandlung wird der Streit von Welt und Erde und sein Zusammenhang mit dem Urstreit eine nähere Erörterung erfahren. Zunächst soll der Blick darauf gelenkt werden, in welchem Ereignisbezug aus dem Ganzen des Gefüges des Ereignisses die Frage nach dem Streit von

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses

235

Erde und Welt und der Bergung zu orten ist. Heidegger faßt das Ganze des Ereignisses in bezug auf das Seiende zu Beginn des 268. Abschnitts der Beiträge folgendermaßen: "Das Seyn west als die Er-eignung der Götter und des Menschen zu ihrer Entgegnung. In der Lichtung der Verbergung des Zwischen, das aus der entgegnenden Ereignung und mit ihr entspringt, ersteht der Streit von Welt und Erde. Und erst im Zeit-Spiel-Raum dieses Streites kommt es zu Verwahrung und Verlust der Ereignung, tritt ins Offene jener Lichtung Jenes, was das Seiende genannt wird." (ebd., S.477)

Die ereignete Ent-gegnung von Göttern und Menschen ist der Grund des Streites von Welt und Erde. Nicht im Sinne eines Fundierungsverhältnisses, sondern in dem Sinne, daß in der Ent-gegnung der Streit sich entfacht. Er entfacht sich genauer im Zwischen, das mit und aus der Götter und Menschen entgegnenlassenden Ereignung entspringt. Dieses Zwischen ist das Da-sein als die Wendungsmitte der Kehre im Ereignis, die sich im Aufriß des Stimmungshaften, im entsetzenden Entzug öffnet. Dieser wurde als der vierte Ereignisbezug bei der Erörterung des 267. Abschnitts erläutert. Dort wurde ebenfalls die ereignete Ent-gegnung von Göttern und Menschen als Ursprung der Ent-setzung gekennzeichnet, doch so, daß die Ent-setzung vom Seienden und der Entzug des Seyns, mit anderen Worten das Geschehnis des Unter-Schieds in den Ursprung einbehalten bleibt. Im entsetzenden Entzug ersteht der Streit von Welt und Erde. Er ersteht im zeit-räumlich sich ent-fügenden "Da" des Da-seins, und "erst" hier kommt es zu Verwahrung und Verlust der Ereignung als Bergung des "Da" und seines "Weg" in das Seiende. Das "erst" ist gesprochen aus dem "im voraus" geschehenden Ereignen, das in seinem "Voraus" überschwingender Grund ist für das in ihm ereignete Da-sein sowie für das in die Lichtung des "Da" tretende Seiende. Das "erst" können wir im Hinblick auf die "Gleichzeitigkeit" von Seyn und Seiendem andererseits auch so hören, daß das Ereignis nur in der Bergung in ein Wahres verwahrt wird und verloren geht. D.h. streng genommen: ohne Bergung (sei es eine eigentliche oder eine verstellende) geschieht auch kein Ereignen. Die Wendung: "Verwahrung und Verlust", verweist auf das zur Wahrheit gehörende zwiefache Geschehen der Unwahrheit. Es kommt in der Bergung des Seienden immer zu einem ursprünglichen Verlust des Ereignisses, sofern dieses im Seienden aus dem Unter-Schied als Entzug west. Es kann zudem wesenhaft noch zum Verlust in dem Sinne kommen, daß das Seiende das Ereignis nicht ursprünglich zu bergen vermag, weil es das im Streit von Welt und Erde erstrittene Offene nicht offenhält, sondern verstellt oder verdeckt. Heidegger dürfte aber an der zitierten Stelle in den Beiträgen den im verwahrenden Seien-

236

B. I. III. Die Bergung

den gerade offen gehaltenen ursprünglichen Verlust aus dem Entzug des Ereignisses vor Augen gehabt haben. c) Das Seiende in der Entzweiung Durch den notwendig in der Bergung geschehenden Entzug des Seyns als Ereignis bleibt das Seiende, auch wenn es das Ereignis verwahrt und so in der Ereignung schwingt, vom Seyn geschieden: "Das Seyn ist, obzwar das Seiende als ein solches einzig in der Ereignung schwingt, allem Seienden abgründig fern." (ebd.; meine Betonung)

Das Wort "abgründig" ist im Sinne des Abgrundes zu denken, wie er entfaltet wurde. Der Unter-Schied und mit ihm das Seyn als Zerklüftung geschieht als Ab-gründen, als lichtendes Verbergen, in dem das Seyn als Ereignis west. Im abgründigen Wesen des Ereignisses wurzelt die Feme des Seienden zum Seyn, wobei das Seiende als Verwahrung in der Ereignung schwingt, als Gabe eines Gebens in diesem einbehalten bleibt. Und gerade weil das Seiende in dieser äußersten Feme zum Seyn west, vermag es dieses im Offenen seines Sichverbergens (in seiner Feme) zu halten und dem Seyn eine Beständigkeit im Streit von Welt und Erde zu verleihen. Einerseits eingelassen in die Ereignung und andererseits dieser abgründig fern (die Gabe vermag sich nie in das Geben aufzulösen), kommt das Seiende zur ''Entzweiung'' (ebd., S.331) und muß im Streit von Welt und Erde stehen, der dem Wesen der Wahrheit als Urstreit entspringt. In der Entzweiung steht das Seiende ursprünglich, so daß es nur aus der Entzweiung und dem Streit als solches hervorkommt, seiend ist. Das Seiende ist in seinem Grunde entzweit, und wir können hier schon mitbedenken, daß mit dem Seienden nicht nur das Naturding oder das angefertigte Ding, sondern auch der Mensch in seiner Leiblichkeit angesprochen ist. Der Entzweiung aus der abgründigen Zerklüftung des Seyns verdankt das Seiende seine Einzigkeit und geschichtliche Bestimmtheit, und wo die Entzweiung des Seienden durch das schaffende und bergende Da-sein anfänglich ausgestanden wird, zeigt sich im Riß des Seienden der Streit von Welt und Erde, so daß in diesem die ereignete Entgegnung von Göttern und Menschen eine augenblickshafte geschichtliche Stätte findet. d) Das schaffende und bewahrende Da-sein Die Bergung der Wahrheit in das Seiende geschieht nur durch das schaffende und bewahrende Da-sein. Heidegger hat in seiner Hölderlin-Vorlesung vom WS 34/35 vor allem drei ausgezeichnete Weisen des geschichtlichen Schaffens vor Augen: die Dichtung, das Denken und die staatsgründende Tat; und wir werden sehen, daß er sie zugleich in einem bestimmten Zusammenhang denkt.

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses

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Im Ganzen des Ereignisses ist das schaffende und bewahrende, d.h. bergende Da-sein zu denken aus dem im abgründigen Ereignis schwingenden Wink der Götter. Aus dem Wink ist das Wesen des Menschen in eins entrückt in das Sichversagen und erharrt erinnernd-erwartend aus der Berückung auf-sichzukommend auf-sich-zurückkommend ihre mögliche Ankunft. So lichtet sich im Abgrund aus der Ereignung in der Entgegnung von Göttern und Menschen der Zeit-Raum bzw. die Augenblicksstätte als das Offene, in dem der Streit von Erde und Welt ersteht und im Seienden geborgen wird. Erinnern wir uns an das einleitend zur Gründung Gesagte: In ihr wurde unterschieden der ursprünglich gründende Grund und das Er-gründen 1. als ein Wesenlassen des Grundes und 2. als ein Bauen auf ihn. Dieses letztere kennzeichnet das Da-sein in seinem Bezug zum Seienden zum einen als bewahrendes und zum anderen als schaffendes. Das Er-gründen ist ereigneter Entwurf: Aus der Ereignung des Da-seins wird in der Inständigkeit das Offene des Sichverbergens und somit die Wahrheit des Seyns erreicht (Geworfenheit), übernommen (Entwurf) und - bergend ins Wort gehoben, ins Werk gesetzt, in der Tat vollbracht (entbergendes Sein bei). Um sich der Fülle dessen zu nähern, was Heidegger in der Gründung des anderen Anfangs vorausdenkt, kann dieses letzte Moment der Gründung nicht ausdrücklich genug gemacht werden. Er sagt: "Unser Wissen reicht nur so weit, als die Inständlichkeit im Da·sein ausgreift und d.h. die Kraft der Bergung der Wahrheit in das gestaltete Seiende." (ebd., S.315)

Bei einer dumpfen Ahnung, einem tatenlosen Warten, einem bloßen "Vorausdenken" geschieht nichts und kann nichts wahrhaft (inständig) gewußt werden. Worauf es ankommt, ist der vollbringende Vollzug. Erst in diesem ist Da-sein als geschichtliches. Nur wo im Denken das Seyn ins begriffliche Wort gehoben wird, wo im Dichten im worthaften Bild Seyn gestiftet wird, in der Kunst die Wahrheit ins Werk gebracht wird und in der staatsgründenden Tat Seyn geschichtlich wird, ist ein Augenblick Geschichte. Heidegger geht es in der Vorbereitung des geschichtlichen anderen Anfangs um das eröffnende Vorausdenken in ausgezeichnete, geschichtegründende Bergungsweisen. Aus der Hölderlin-Vorlesung vom WS 34/35 erfahren wir vom inneren Zusammenhang des dichtenden, denkenden und staatsgründenden Schaffens, aufgrund dessen Heidegger das geschichtliche Seyn eines Volkes denkt: "Dieses Seyn aber wird dichterisch gestiftet, denkerisch gefügt und ins Wissen gestellt und in der Täterschaft des Staats gründers der Erde und dem geschichtlichen Raum velWurzelt." (GA 39, S.120)

Hier wird das dichterische Stiften als ein Aufnehmen der Winke der Götter

238

B. I. III. Die Bergung

und als ein Weiterwinken dieser Winke im Wort begriffen (ebd., S.3lff). Der Dichter, dem solches in ausgezeichneter Weise zustieß, ist Hölderlin. Er ist der für Heidegger entscheidende Dichter der Deutschen6 , der den anderen Anfang bereits vorausgedichtet hat. "Das so enthüllte Seyn des Seienden aber wird als Seyn begriffen und gefügt und damit erst eröffnet durch den Denker, und das so begriffene Seyn wird in den letzten und ersten Ernst des Seienden, d.h. in die be-stimmte geschichtliche Wahrheit gestellt dadurch, daß das Volk zu sich selbst als Volk gebracht wird. Das geschieht durch die Schaffung des seinem Wesen zu-bestimmten Staates durch den Staatsschöpfer." (ebd., S.I44)

Daß Heidegger sich hier selbst zumindest als einen ersten Denker begreift, der im Gespräch mit Hölderlins Werk das geschichtliche Seyn des deutschen Volkes vorbereitet, steht wohl außer Zweifel. Schwieriger ist die Frage nach dem Staatsschöpfer. Die staats schöpfende Tat geschieht jedenfalls im vom Dichten gestifteten und vom Denken bewahrend eröffneten Offenen. Sie ist es, durch die das Eröffnete ins Volk gebracht wird. In ihr erst gründet sich der volle geschichtliche Anfang als Anfang eines geschichtlichen Volkes. Die Notwendigkeit eines anderen geschichtlichen Anfangs scheint aber immer stärker hervor, wo die Herrschaft der modernen Technik zunehmend in die durchgängige Machbarkeit des Seienden und so in die Geschichtslosigkeit drängt. Im Lichte des soeben Gesagten findet die von F.-W. v. Herrrnann7 hervorgehobene Unterscheidung vom verborgenen Wachstum des Rettenden im vorbereitenden Denken und seinem geschichtlichen Aufgang im geschichtlichen anderen Anfang ihre Bestätigung. Das Anfangen des anderen Anfangs im Denken des Übergangs wäre dann "nur" als verborgenes Wachstum zu begreifen und ebenso Hölderlins Dichtung, so wie das Denken und künstlerische Tätigsein all jener, die die durch Hölderlin und Heidegger eröffneten Wege weiterzugehen oder zumindest offen zu halten versuchen. Allein, auch hierzu gehört die Bergung in Wort, Tat und Werk. Wo aber in Dichtung, Denken und Kunst Wahrheit geschieht, wird Wahrheit geschichtlich, tritt sie in ihrem Augenblick und ihrer Stätte ins Offene. Ist es dann sachgemäß zu sagen, daß der andere Anfang nur im Verborgenen vorbereitet wird und noch nicht geschichtlich ist, "aufgeht"? Muß das Aufgehen des Anfangs auf ein ganzes Volk

6 Heideggers Gedanken zum Deutschen werden vor allem durch sein Gespräch mit Hölderiin geprägt. Das Deutsche ist dabei gerade nicht im Sinne des Nationalen zu begreifen. Siehe dagegen Heideggers Hölderlin-Vorlesung: Hölderlins Hymne "Andenken" vom WS 41/42 (GA 52), drittes Hauptstück, wo er das Deutsche ausdrücklich von biologischen Auslegungen absetzt. 7 Siehe v. Herrmann: Wege ins Ereignis, S.149.

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses

239

bezogen sein? Vielleicht - und ich will diese Sichtweise vertreten - durchkreuzen sich in unserer Zeit Machenschaft, verborgenes Wachstum und Aufgang. Vielleicht kommt es eines Tages zu einem anderen Anfang, wie Heidegger ihn erhofft, vielleicht auch nicht. Wie dieser volle geschichtliche andere Anfang aussehen würde, bleibt unserer denkenden Sicht wesenhaft verborgen. Wo wir uns ihn bloß vorstellen, entrinnt uns das Anfängliche des Anfangs, das wesenhaft unvorstellbar ist. Der einzige Weg zu diesem ist das An-fangen selbst: das Auffangen des Wurfs des Seyns aus der Not der Seinsverlassenheit im bergenden Schaffen und Verwahren seiner Wahrheit. Es bleibt demnach das Notwendigste für den Einzelnen in unserer Zeit - wenn ihm denn die Geschichtslosigkeit zur Not geworden ist -, sich auf das zu besinnen (im Kleinen wie im Großen), was ihm in seinem Sein zugetragen ist, und dieses im Vollzug in Werk, Wort und Tat (und ich meine jetzt nicht nur die staatsschöpfende) zu vollbringen. Auch in diesem Sinne, und nicht nur im Hinblick auf den von Heidegger vorbereiteten und erhofften vollen anderen geschichtlichen Anfang, sollen die einzelnen Weisen bedacht werden, in denen die Wahrheit des Seyns ins Seiende geborgen wird. e) Weisen der Bergung In den Beiträgen finden wir neben den in der Hölderlin-Vorlesung genannten "drei schöpferischen Gewalten des Da-seins": Dichtung, Denken, Staatsschaffen (GA 39, S.I44) zahlreiche Stellen, an denen Heidegger auf weitere Weisen der Bergung hinweist. Er spricht vom "Spiel des Seienden, das in der Bergung seiner Wahrheit als Ding, Zeug, Machenschaft, Werk, Tat, Opfer seiend wird" (GA 65, S.70). "[ ... ] die Wahrheit selbst west nur in der Bergung als Kunst, Denken, Dichten, Tat und fordert deshalb die Inständigkeit des Da-seins" (ebd., S.256) Die Lichtung ''bedarf dessen, was sie in der Offenheit erhält, und das ist je verschieden ein Seiendes (Ding - Zeug - Werk)" (ebd., S.389). "Die Bestreitung des Streites [von Erde und Welt] setzt die Wahrheit ins Werk, in das Zeug, er-fährt sie als Ding, vollbringt sie in Tat und Opfer." (ebd., S.391) ''Wir müssen zugleich wissen und uns daran halten, daß die Bergung der Wahrheit in das Seiende und damit die Geschichte der Bewahrung des Gottes erst durch ihn selbst und die Weise, wie er uns als da-seinsgründende braucht, gefordert wird; gefordert [...] so, daß sein Vorbeigang eine Beständigung des Seienden und damit des Menschen inmitten seiner fordert; eine Beständigung, in der erst das Seiende je in der Einfachheit seines zurückgewonnenen Wesens (als Werk, Zeug, Ding, Tat, Blick und Wort) dem Vorbeigang standhält, ihn so nicht still legt, sondern als Gang walten läßt." (ebd., S.413)

Heideggers "Aufzählungen" verschiedener Bergungsweisen sind durchaus nicht einheitlich, was sicher darauf zurückzuführen ist, daß er sie nicht einfach

240

B. 1. III. Die Bergung

schematisch "im Kopf' hat, sondern daß er sie im jeweiligen Gang des Denkens neu denkt. Im Ganzen kann man dennoch einen weiteren und einen engeren Begriff der Bergung unterscheiden: Der engere Begriff der Bergung umfaßt die ausgezeichneten Weisen der Bergung, in denen die Wahrheit im Streit von Welt und Erde offen gehalten wird. Dazu gehören die bereits genannten: Dichtung, Denken, Kunst, staatsschaffende Tat. Die Kunstwerk-Abhandlung, in der Heidegger das künstlerische Ins-Werk-setzen vom handwerklichen Verfertigen unterscheidet, wird es erlauben, dies im Einzelnen noch genauer zu erörtern. In einem weiteren Sinn spricht Heidegger von der Bergung der Wahrheit in "Ding, Zeug, Machenschaft, Werk, Tat, Opfer" (ebd., S.70). Daß auch hier die Bergung in einem anfänglichen, nicht-metaphysischen Sinn gemeint ist, bestätigt auch die Textstelle, in der "Werk, Zeug, Ding, Tat, Blick und Wort" (ebd., S.413) als in ihr Wesen rückgegründete Seiende begriffen werden, die der Stätte des Vorbeigangs des letzten Gottes Beständigkeit geben. Wie eine anfängliche Bergung im Zeug zu begreifen wäre, versucht Heidegger ebenfalls in der Kunstwerk-Abhandlung aufzuweisen. Es sei im folgenden eine kurze Kennzeichnung der verschiedenen von Heidegger genannten Weisen der Verwahrung in unterschiedlich Seiendes gegeben: Das Ding nennt in erster Linie das nicht hergestellte Naturding (Baum, Tier, Berg). Dieses wird rückgegründet in seine Wahrheit durch den er-fahrenden oder begegnenden Bezug, in dem aus der Inständigkeit im Da-sein der im naturhaft Seienden waltende Streit von Erde und Welt offengehalten wird. Das Zeug bezieht sich auf das herzusi;:llende Gebrauchsding. Der Streit von Welt und Erde wird in der Weise der Anfertigung ins Zeug gesetzt. Doch denkt Heidegger hier sicherlich auch an eine anfängliche Weise des zutunhabenden Umgangs mit dem Zeug und damit an eine gewandelt erfahrene Alltäglichkeit. Diese wäre dann durchstimmt vom Da-sein in der inständigen Bestreitung des Streites von Welt und Erde, aber so, daß diese und damit die Wahrheit nicht eigens hervortreten, daß sie mithin nicht ausdrücklich ins Wissen gehoben und dennoch im Vollzug geborgen sind. Die Machenschaft wird im Anklang der Beiträge zum einen als die Art der Wesung des Seyns im Ende der Metaphysik genannt. Sie verweist aber zum anderen ursprünglich auf die griechischen Begriffe poiesis und techne (ebd., S.126) und ist so im ursprünglichen, weiten Sinn ein Hervorbringen. In diesem wesentlichen Sinne wäre die Machenschaft anfänglich gedacht als ein weiter Begriff für jegliche Art der hervorbringenden Bergung zu begreifen im Unterschied zur er-fahrenden Bergung. Es könnte in einem engeren Sinne jedoch auch eine anfängliche Bergung der Technik angedacht werden. Das Werk kann als dichterisches Sprachwerk, als Kunstwerk der Malerei,

§ 15. Die Bergung im Ganzen des Ereignisses

241

Skulptur und Architektur und als denkerisches Werk begriffen werden. Es nennt jedenfalls eine ausgezeichnete, die Wahrheit ins Werk setzende Weise der Bergung. Die Tat nennt bei Heidegger in erster Linie die staats schöpfende Tat. Doch spricht nichts dagegen, die Tat auch in einem weiteren Sinne zu begreifen als jegliches Tun, in dem Wahrheit vollbracht wird (vgl. ebd., S.391), und zwar durch den im Da-sein gegründeten Menschen. Die Bergung wird hier also nicht im Hinblick auf nichtmenschliches Seiendes bedacht (hervorgebrachte Werke, Gebrauchsdinge, er-fahrenes Naturding), sondern auf das Tun des Menschen, aus dem allerdings der Mensch erst derjenige ist, der er ist. Das Opfer ist ebenfalls in Bezug auf das menschliche Da-sein im Verhältnis zum Seienden zu begreifen. Eine Stelle aus dem Nachwort zu "Was ist Metaphysik" macht deutlich, was Heidegger darunter versteht: "Das Opfer ist der Abschied vom Seienden auf dem Gang zur Wahrung der Gunst des Seins. Das Opfer kann durch das Werken und Leisten im Seienden zwar vorbereitet und bedient, aber durch solches nie erfüllt werden. Sein Vollzug entstammt der Inständigkeit, aus der jeder geschichtliche Mensch handelnd auch das wesentliche Denken ist ein Handeln - das erlangte Dasein für die Wahrung der Würde des Seins bewahrt." (GA 9, S.3100 Wenn im anderen Anfang das Seiende dem Seyn geopfert wird, dann erhält es dadurch erst seine WahrheitS und der Mensch rückt ein in das Da-sein. Den "Blick" nennt Heidegger in der Fuge "der letzte Gott". Zum Verständnis dessen, was er damit meint, kann sein Vortrag Die Kehre dienen, wo er von den Menschen als "die vom Blitz des Seins in ihrem Wesen Getroffenen" spricht. Der Mensch, der dem Einblick als dem Blitz des Seins entspricht, ist "ge-eignet, daß er im gewahrten Element von Welt als der Sterbliche dem Göttlichen entgegenblickt" (TuK, S.45). Der Blick wäre somit aus dem Ereignis anfänglich als eine Weise des Bezugs zum Göttlichen zu verstehen, in dem der Mensch in seinem Da-sein dessen Vorbeigang standhält. Heidegger bedenkt in den genannten Weisen der Bergung diese also zum einen hinsichtlich des er-fahrenen oder hervorgebrachten bergenden Seienden, zum anderen hinsichtlich des erfahrenden und schaffenden (tätigen, opfernden, blickenden) Menschenwesens aus seiner Inständigkeit im Da-sein. Der Blick wird dabei zum einen auf das Wie der Bergung: er-fahren, hervorbringen, und zum anderen auf das Worein der Bergung (Seiendes) gelenkt. Das Er-fahren und das Hervorbringen werden uns in den folgenden Paragraphen unter den Bezeichnungen "Schaffen und Bewahren" (§ 16) oder "Pflegen und Errichten"

8

16 Neu

Vgl. GA 65, S.230.

242

B. 1. III. Die Bergung

(§ 18) immer wieder als die beiden Grundweisen des gründenden Bergens begegnen. Es ist auffallend, daß Heidegger den Menschen bezüglich seines Verhaltens zum Seienden thematisiert und die Frage nach seinem Seiendsein im Sinne seiner Leiblichkeit nicht ausdrücklich fragt. Die Leiblichkeit ist von der Sache her in allen Bergungsweisen mitzudenken. Sie kann aber auch, in der Tanzkunst z.B., eine hervorragende Rolle spielen. Jedenfalls impliziert die Verwandlung des Wesens des Menschen in das Da-sein, aus der die Bezüge zum Seienden anfänglich aus dem Seyn sich bestimmen, auch eine Verwandlung des Bezuges zur Leiblichkeit des Menschen: eine Rückgründung der Leiblichkeit in das Seyn. Im folgenden (§ 16) soll zunächst im Durchgang durch Heideggers Kunstwerk-Abhandlung aufgezeigt werden, wie dieser im Horizont der Beiträge die Bergung begreift. Wir gehen dann über zur sogenannten "Spätphase" des Heideggerschen Denkens, dem "topologischen Denken" oder Gevierts-Denken. Heidegger bezeichnet dieses im Seminar in Le Thor (1969) als einen dritten Schritt auf dem Weg seines Denkens (GA 15, S.344). Dieser dritte Schritt ist aber nicht in gleicher Weise ein Wandel wie der Übergang vom fundamentalontologischen zum seynsgeschichtlichen Denken, sondern eine vertiefende Fortführung des Ereignisdenkens, wie es in den Beiträgen erstmals in seinem Grundgefüge aufgerissen wurde. Die vorliegende Arbeit wird zu zeigen versuchen, daß von einer Vertiefung oder einem ursprünglicheren denkerischen Sagen im Geviertsdenken insofern gesprochen werden kann, als Heidegger hier die Bergung radikaler begreift, sofern sein Denken sich anfänglicher in der Ortschaft aufhält, in der alle Bergung sich vollzieht. Anband des Vortrags Das Ding soll im § 17 gezeigt werden, wie der Unter-Schied von Seyn und Seiendem sich in den von Welt(-Geviert) und Ding verwandelt und wie das Ding die Welt aus dieser selbst bergend versammelt. Im § 18 wird im Durchgang besonders durch den 1. Teil des Vortrags Bauen, Wohnen, Denken das gründend bergende Sein des Menschen als pflegendes und errichtendes Wohnen bedacht. Dieses wird dann im § 19 vertiefend und erweiternd befragt hinsichtlich der Leiblichkeit des Menschen. Anschließend soll im § 20 das in jeder Bergung mitspielende Wesen der Sprache thematisiert werden, sowie die darin begründete hervorragende Rolle der Dichtung und des Denkens. Der das Kapitel und den ersten Teil dieser Arbeit abschließende § 21 hebt nochmals eigens die Aufgabe des gründenden Denkens in der Endzeit der Metaphysik hervor. Dies wird überleiten zur Frage nach der unsere zeitgenössische Geschichte mitprägenden Dekonstruktionsbewegung und damit zum 11. Teil dieser Arbeit.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

243

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise. "Der Ursprung des Kunstwerks"

a) Die Kunstwerk-Abhandlung im Gefüge des Ereignisdenkens In dem knappen Abschnitt e) "Die Bergung" aus der IV. Fuge der Beiträge "Die Gründung" findet sich zweimal der Verweis auf Heideggers KunstwerkAbhandlung mit dem Titel: Der Ursprung des Kunstwerkes. 9 Der 247. Abschnitt der Beiträge mit dem Titel: "Gründung des Da-seins und die Bahnen der Bergung der Wahrheit" beginnt folgendermaßen: "Aus diesem Bereich entnommen und deshalb hierher gehörig die gesonderte Frage nach dem 'Ursprung des Kunstwerks' (v gl. den Freiburger und die Frankfurter Vorträge)." (GA 65, S.392)

Die in den Holzwegen (GA 5) veröffentlichte Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes ist als eine wesentliche Ergänzung zu dem in den Beiträgen zur Bergung Gesagten zu begreifen. Heidegger hat in ihr im Einzelnen erörtert, was in den Beiträgen, in denen es um eine erstmalige Durchgestaltung des ganzen Gefüges des Ereignisdenkens geht, nur angezeigt werden konnte. Umgekehrt wird in der Kunstwerk-Abhandlung ihr Quellbereich verschwiegen IO • Im 1956 verfaßten Zusatz zur Abhandlung schreibt Heidegger: "Die ganze Abhandlung 'Der Ursprung des Kunstwerkes' bewegt sich wissentlich und doch unausgesprochen auf dem Weg der Frage nach dem Wesen des Seins. [...] Die Kunst [... ] gehört in das Ereignis." (GA 5, S.73)

Daß die Kunstwerk-Abhandlung sachlich ihren Wesensort in der Fuge der Gründung des Ereignisdenkens findet, gilt ganz unabhängig davon, daß Hei-

9 Heideggers Besinnung auf den "Ursprung des Kunstwerkes" hat sich in 3 Ausarbeitungen niedergelassen, deren die erste vermutlich schon 1931/32 datiert. Dieser Text wurde im Bd 5 der Heidegger Studies (1989) veröffentlicht. Die zweite Ausarbeitung ist der noch unveröffentlichte Freiburger Vortrag vom 13. November 1935, der im Bd 80 der Heidegger-Gesamtausgabe erscheinen wird. Bei der dritten Ausarbeitung schließlich handelt es sich um die drei (mit den Beiträgen zeitgleichen) Frankfurter Vorträge von 1936. Die letzte, leicht überarbeitete Fassung dieser Vorträge ist im Bd 5 der HeideggerGesamtausgabe veröffentlicht, der auch einzeln unter dem Titel "Holzwege" (1950) erschienen ist. Es sei ferner auf Heideggers Aufzeichnungen verwiesen, die zur Besinnung auf das Kunstwerk gehören und die im Bd 8 der Heidegger Studies (1992) \-eröffentlicht wurden, sowie auf den 1967 in Athen gehaltenen Vortrag "Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens", in: Distanz und Nähe: Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart, hrsg. von Petra Jaeger und Rudolf Lüthe, Würzburg 1983, S.11-22; und in: Martin Heidegger: Denkerfahrungen, Hrsg. H. Heidegger, Frankfurt a.M. 1983, S.135-149. 10 Vgl. GA 5, S.74.

16'

244

B. 1. III. Die Bergung

degger die ausgezeichnete Rolle der Kunst schon 1931/32 bewegte (die Ausarbeitung der Beiträge begann 1936, der Plan war aber bereits 1932 festgelegt), wie Heidegger in einer Aufzeichnung von 1935 festhäle 1 und was auch die erste Fassung der Abhandlung aus jenen Jahren bezeugt. In diesen Jahren vollzieht sich der Wandel zum seynsgeschichtlichen Denken, in welchem die Kunst und vor allem die Dichtung eine hervorragende Bedeutung gewinnen. Die Frage nach der Kunst, und zwar nach der "großen Kunst", bewegte Heidegger schon 1931/32 im Hinblick auf die Vorbereitung einer geschichtlichen Entscheidung mit der Frage: "Ist die Kunst uns wesentlich, ist sie ein Ursprung und damit ein stiftender

Vorsprung in unsere Geschichte [... ]"? (Heidegger Studies 5, S.22)12

Die große Kunst wird als solche verstanden, die die Wahrheit stiftend ins Werk setzt, so daß darin das geschichtliche Sein eines Volkes gestiftet wird. Diese denkerische Besinnung auf die Kunst stellt sich von vornherein in die Erfahrung der Kunstlosigkeit im bloßen "Kunstbetrieb" unserer Zeit durch die Herrschaft des Wesens der modemen Technik und in die erfahrene Notwendigkeit der stiftenden Gründung des geschichtlichen Seins eines Volkes, woran die große Kunst einen wesentlichen Anteil nimmt. Heidegger spricht schon in der ersten Fassung der Kunstwerk-Abhandlung die Einsicht aus, daß Wahrheit geschichtlich nur west, wenn sie erdhaft west: "Wahrheit ist wesentlich erdhaft" (ebd., S.2l), d.h. in der Sprache der Beiträge, wenn sie in ein Seiendes (Werk, Zeug, Ding) geborgen wird. Ferner ist auch schon ansatzweise der Zusammenhang zwischen dem Wesen der Wahrheit (in seiner zweifachen Unwahrheit), dem Streit von Welt und Erde, dem werkhaft Seienden, sowie dem stiftenden Charakter der Kunst (Da-sein) gewonnen, um dessen Heraushebung es in diesem Paragraphen vor allem gehen soll. Wir orientieren uns in unserer Frage nach der Bergung im Kunstwerk an der in den Holzwegen veröffentlichten dritten Fassung der Kunstwerk-Abhandlung. Die Abhandlung gliedert sich in 3 Abschnitte: 1, Das Ding und das Werk, 2. Das Werk und die Wahrheit, 3. Die Wahrheit und die Kunst. Da diese Abhandlung im Einzelnen in der Heidegger-Forschung schon mehrfach ausgelegt worden ist '3 , werden wir uns im folgenden nur den Textstellen interpretierend

11 Siehe den Brief Heideggers an Elisabeth Blochmann vom 20. Dez. 1935, in: Martin Heidegger, Elisabeth Blochmannn. Briefwechsel 1918-1969, Hrsg. Joachim W. Storck, Marbach a.N. 1989, S.87. 12 Heidegger verweist hierauf im 277. Abschnitt der Beiträge. 13 Siehe die ausführliche systematische Interpretation der Kunstwerk-Abhandlung F.W. v. Herrmanns: Heideggers Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M. 19942. Für einen übersichtlichen Einblick in den Aufbau der Kunstwerk-Abhandlung siehe ders.: Wege

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

245

zuwenden, die für ein Verständnis der Bergung im Horizont des in den Beiträgen aufgerissenen Ereignisgefüges relevant sind. Wir verfolgen dafür (b) den denkerischen Wesensentwurf der Bergung im Zeug, der mit dem 2. Teil des ersten Abschnittes der Abhandlung ansetzt. Danach wird (c) der im Kunstwerk eröffnete Streit von Erde und Welt erörtert. Wir kommen dann (d) zur Frage des im Streit von Welt und Erde geschehenden Wesens der Wahrheit, um von diesem aus die Bergung im Kunstwerk als das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit zu begreifen. Es wird daraufhin (e) der Blick auf das schaffende und bewahrende Da-sein gelenkt, von dem aus die Bergung im Kunstwerk als InsWerk-setzen der Wahrheit zu begreifen ist. Das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit ist zu denken aus dem Zuwurf der Wahrheit des Seyns und das InsWerk-setzen der Wahrheit aus dem ereignet entwerfenden Da-sein (Heidegger spricht diesbezüglich von der Zweideutigkeit des Ins-Werk-setzens der Wahrheit (GA 5, S.73f». Beide Deutungsrichtungen sind in sich ursprünglich einig aus dem Gegenschwung des Ereignisses und nennen zusammen das ganzheitliche Wesen der Kunst 14• Dieses faßt Heidegger im 3. Abschnitt der KunstwerkAbhandlung ursprünglicher als Dichtung im weitesten Sinne (f). Für uns wird es abschließend (g) darum gehen, Heideggers Wesensentwurf der großen Kunst hinsichtlich der denkerischen Vorbereitung der geschichtlichen Gründung des anderen Anfangs zu befragen.

ins Ereignis, S.20lff. Joseph J. Kockelmans bietet in seinem Buch: Heidegger on art and art works, Dordrecht 1985, ebenfalls eine ausführliche Auslegung der KunstwerkAbhandlung, der ein~ zusammenfassende und immer wieder berücksichtigte Darstellung der Geschichte der Asthetik vorausgeht. Zu einer Kontroverse zwischen Kockelmanns und Pöggler siehe O. Pöggeler, "Heidegger und die Kunst", in: Martin Heidegger, Kunst, Politik und Technik, Hrsg. ehr. Jamme u. K. Harries, München 1992, S.6lff. Pöggeler hält entgegen Kockelmans und v.Herrmann daran fest, "daß Heideggers Beitrag keine Philosophie der Kunst enthält" (ebd., S.62). Pöggelers Behauptung, Heideggers Zuwendung zur Kunst sei eine romantische Position und eine Flucht weg von der politischen Wirklichkeit, wird von v.Herrmann (in: Heideggers Philosophie der Kunst, 2.Aufl., S.xIXff) und von Kockelmans (Heidegger on art and art works, S.8lff) zurückgewiesen. Gerhard Fadens Buch: Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik, Würzburg 1986, geht ergänzend im Einzelnen auf die Tragödie, auf verschiedene Epochen der Malerei und auf den Zen-Buddhismus ein und läßt auch Maler und Dichter selbst zu Wort kommen. Siehe ferner die verschiedenen Beiträge zu Heideggers Kunstdenken im Sammelband: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag Martin Heideggers. Hrsg. W. Biemel, F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1989; und W. Biemel: Heidegger, Reinbeck bei Hamburg, 1973, S.79ff. Annemarie Gethmann-Siefert weist in "Martin Heidegger und die Kunstwissenschaft" (in: Heidegger und die praktische Philosophie, Hrsg. A. Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt a.M. 1988, S.251-285) auf den bislang geringen und verkehrten Einfluß Heideggers auf die Kunstwissenschaft hin. 14 Darauf weist schon v. Herrmann hin in: Heideggers Philosophie der Kunst (2.Auflage), S.414, und in: Wege ins Ereignis, S.2OO.

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B. I. III. Die Bergung

b) Die Bergung im Zeug Bevor Heidegger im ersten Abschnitt der Kunstwerk-Abhandlung dazu übergeht, anband der von van Gogh gemalten Bauemschuhe das Zeug in seinem Sein zu bestimmen, finden wir den Hinweis: "Wir sehen jedoch von der Möglichkeit ab, daß auch noch in der Weise, wie das Zeug ist, wesensgeschichtliche Unterschiede walten." (GA 5, S.17; meine Betonung)

Die Frage nach dem Zeug wird damit in einen unentfalteten seynsgeschichtlichen Kontext gestellt. Das Gemälde van Goghs dient Heidegger als Ausgangspunkt, um das Zeug in seinem anfänglichen Wesen aufzusuchen. Davon zu unterscheiden ist die anschließende Beschreibung des Herabsinkens des Zeugseins zum ''bloßen Zeug". Der denkerische Wesensentwurf des Zeugseins des Zeuges in Auseinandersetzung mit einem Gemälde van Goghs gilt dem (anders)anfänglich gedachten Zeug als einem solchen, das die Wahrheit des Seyns birgt. Daß Heidegger das Sein des Zeuges in einem Kunstwerk des ersten Anfangs aufsucht, weist uns zunächst auf dreierlei hin: 1. Das Zeugsein des Zeuges scheint in werkmäßiger Weise erst im Kunstwerk auf. Im alltäglich zutunhabenden Umgang mit dem Zeug bleibt dieses gerade unausdTÜcklich und d.h. verborgen. Die anfängliche Geborgenheit des Seins im Zeug hat den Charakter der Verborgenheit. Diese ist nochmals zu unterscheiden von der "Verborgenheit" bzw. Verstelltheit, die im bloßen Zeug in der Seinsvergessenheit waltet. 2. Erst das Kunstwerk macht für den Verstehenden das Sein des Zeuges eigens erfahrbar. Das Kunstwerk hat gegenüber dem Zeug wahrheitseröffnenden Charakter. 3. Heidegger wendet sich zur Auffindung des anfänglichen Wesens des Zeuges einem Kunstwerk aus dem ersten Anfang (Zuspiel) zu. D.h. auch die Kunst der Metaphysik birgt in einer ausgezeichneten Weise Wahrheit. Diese gelangt aber erst ins Offene durch einen anfänglich bewahrend-verstehenden (eröffnend entwerfenden) Zugang zum Werk. Aus dem von van Gogh gemalten Schuhen 15 öffnen sich für Heidegger stimmungshaft eine Vielzahl erdhaft-welthafter Bezüge: Die dunkle Öffnung des Schuhzeugs verweist auf die Mühsal der Arbeitsschritte, die Schwere des Schuhzeugs auf den langsamen Gang durch den Acker, über dem ein rauher Wind steht. Das Leder verweist auf den Boden, die Sohle auf "die Einsamkeit

15 Zur Diskussion um Heideggers Auseinadersetzung mit den Schuhen van Goghs auch aus kunsthistorischer Sicht (Kunsthistoriker vertreten die Hypothese, es handle sich bei den sogenannten Bauemschuhen um van Goghs eigene Schuhe), siehe O. Pöggeler: Heidegger und die Kunst, in: Martin Heidegger. Kunst, Politik und Technik, S.64ff.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

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des Feldweges durch den sinkenden Abend" (GA 5, S.19). "In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde" (ebd.). Zur Erde gehören die naturhaften Bezüge (Acker, Wind, Feldweg, Abend), das, was man traditionell das Dinghafte der Schuhe selber nennen könnte (Öffnung, Leder, Sohle), und die erdhaften Bezüge zum Menschen, die sich in einer eigentümlichen Gestimmtheit auftun: die Mühsal der Arbeitsschritte, der langsame Gang. Auf der ganzen Schilderung der sich im Schuhzeug öffnenden erdhaften Bezüge liegt eine eigentümliche Schwere in der Betonung. des Sichverschließenden und Unerklärlichen. Im Schuhzeug öffnen sich aber auch welthafte Bezüge: "das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes" (ebd.). Die welthaften Bezüge spannen sich aus zwischen Geburt und Tod. Ein eigentümliches Schweigen schwingt aus der Gestimmtheit, die sich in Heideggers Schilderung entfaltet ("klagloses Bangen", "wortlose Freude"). In der Entfaltung der erdhaft-welthaften Bezüge des Schuhzeugs liegt die Betonung auf dem Sichverschließen. Sie münden ein in den Hinweis auf das ''behütete Zugehören", in dem das Zeug selbst zu seinem "Insichruhen" ersteht (ebd.). Was hier von Heidegger im denkerischen Entwurf ausdrücklich hervorgehoben wird, bleibt in der Welt der Bäuerin unausdrücklich. Diese "trägt einfach die Schuhe" (ebd.), die in ihrer Dienlichkeit untergehen. Und dennoch denkt Heidegger einen möglichen ursprünglichen Bezug der Bäuerin zum Schuhzeug, in dem diese um die im denkenden Gespräch mit dem Kunstwerk herausgestellten welthaft-erdhaften Bezüge, aus denen die Schuhe sind, was sie sind, unausdrücklich weiß. Unter "Wissen" versteht Heidegger keinen theoretischen Erkenntnisbezug. Es ist dagegen zu begreifen aus dem zum Wesen des Menschen immer schon gehörenden Seinsverständnis, in dem ihm Seiendes und er selbst erschlossen sind. Im Umkreis der Beiträge begreift Heidegger das Wissen aus der Inständigkeit als einer ursprünglichen Weise der Erschlossenheit des Seins im Da des Da-seins. In der Welt der Bäuerin lebt ein unausdrückliches Wissen, in dem durch das Schuhzeug deren Sein als Verläßlichkeit geborgen ist. Van Goghs Gemälde offenbart für das verstehende Denken Heideggers, daß die Dienlichkeit des Zeuges in der Verläßlichkeit ruht. "Kraft ihrer [der Verläßlichkeit] ist die Bäuerin durch dieses Zeug eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde, kraft der Verläßlichkeit des Zeuges ist sie ihrer Welt gewiß." (ebd.)

Im Zeug sind für die Bäuerin und für jene, die mit ihr sind, Welt und Erde da, wenn sie wissend eingelassen ist in die erdhaft-welthaften Bezüge, welche

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B. I. III. Die Bergung

im Zeug verborgen walten. Das Zeug birgt verbergend Welt und Erde der Bäuerin. Die Dienlichkeit des Zeuges begreift Heidegger als eine Wesensfolge der Verläßlichkeit, wobei diese zugleich verdeckt wird. In der gewöhnlichen Abnutzung und Vernutzung des Zeuges sinkt dieses zum ''bloßen Zeug" herab. Wir dürfen davon ausgehen, daß Heidegger in der Dienlichkeit des bloßen Zeuges die Weise sieht, in der in unserer seinsverlassenen Zeit das Zeug "ist" bzw. gerade nicht ist. Um das in unserem seinsverlassenen Zeitalter verdeckte Zeugsein des Zeuges aufzudecken, bedurfte es dessen ausdrücklicher Hervorhebung und Sichtbarmachung durch das Kunstwerk so wie des verstehenden denkerischen Zugangs zu dem im Kunstwerk Geoffenbarten. Durch und im Werk erst kommt "das Zeugsein des Zeuges eigens zu seinem Vorschein" (ebd., S.21). Durch das Sicheinlassen auf das Werk denkt Heidegger zurück und dadurch voraus in eine mögliche anfängliche Seinsweise, in der im alltäglichen (hier im Sinne von "natürlichem" und nicht von "uneigentlichern") Leben der Bäuerin das Zeug in seiner Verläßlichkeit Welt und Erde birgt und - da diese unthematisch und eingebettet bleiben in den Umgang - zugleich verbirgt. Die in der Welt der Bäuerin gedachte Bergung von Welt und Erde und damit der Wahrheit des Seyns in das Zeug hat den Charakter der Unauffälligkeit. Das Zeugsein verbirgt sich im Zeug und bewahrt so die ursprünglichen welthafterdhaften Bezüge. Diese öffnen sich und schwingen in einer eigentümlichen, verschwiegenen Gestimmtheit, aus der das Zeug im Wissen der Bäuerin in seiner Verläßlichkeit ruht. Die sichverbergende Verläßlichkeit bestimmt auch die Weise der Zeuganfertigung, die Heidegger im dritten Abschnitt der Kunstwerk-Abhandlung thematisiert, um sie gegen das ausgezeichnete Hervorbringen des Kunstwerks zu unterscheiden. Im Fertigsein des Zeuges ist dieses "über sich selbst hinweg dahin entlassen [... ], in der Dienlichkeit aufzugehen" (ebd., S.52).

Was sich im Zeug verbirgt, kommt im Kunstwerk eigens zum Vorschein. Diesem eignet somit ein Offenbarmachen des Seienden in seinem Sein. Damit ist eine erste Wesensbestimmung der Kunst gewonnen: Sie ist "das Sich-insWerk-Setzen der Wahrheit des Seienden" (ebd., S.21). c) Der im Kunstwerk eröffnete Streit von Welt und Erde Um die im Werk geschehende Wahrheit erneut am Werk sichtbar zu machen, wählt Heidegger einen griechischen Tempel und zeigt zunächst, wie darin die welthaft-erdhaften Bezüge hervortreten: "Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen. [... ] Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

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Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall - dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen. Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes. Aus ihr und in ihr kommt es erst auf sich selbst zum Vollbringen seiner Bestimmung zurück." (ebd., S.27f) Der griechische Tempel dient Heidegger als Beispiel der großen Kunst des erstanfänglichen griechischen Anfangs unserer abendländischen Geschichte und verweist damit in ausgezeichneter Weise auf die große Kunst, die zur geschichtlichen Gründung des anderen Anfangs beitragen soll. Der griechische Tempel sammelt und fügt laut Heidegger die geschickhaft-geschichtlichen Weltbezüge, aus denen das griechische Volk anfänglich auf sich selbst zurückkommt. Er öffnet gründend erst jenes Offene, in und aus dem ein Volk ist, was und wie es ist. Er sammelt und fügt das ''Da'' des Da-seins, aufgrund dessen das griechische Volk geschichtlich wird. Der Tempel öffnet jedoch nicht nur eine Welt, sondern stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dabei erst als heimatlicher Grund eines Volkes hervortritt: Der Tempel ruht auf dem Felsgrund, der so erst als tragender hervorscheint, er hält dem Sturm stand und zeigt so erst diesen selbst in seiner Gewalt; sein Gestein ''bringt [... ] das Lichte des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vor-schein" (ebd., S.28); sein Ragen "macht den unsichtbaren Raum der Luft sichtbar" (ebd.); Pflanzen und Tiere in ihrer jeweiligen Einzigkeit "gehen erst in ihre abgehobene Gestalt ein und kommen so als das zum Vorschein, was sie sind" (ebd.). Felsgrund, Sturm, Himmel, ... , Pflanzen und Tiere, kurz: das naturhaft Seiende sowie das Gestein, aus dem der Tempel herausgeschlagen ist, gehen erst aus dem im Tempel Eröffneten als solche eigens hervor. In dem durch den Tempel eigens hervortretenden Seienden west die Erde als tragende und bergende. Dergestalt ist die Erde der heimatliche Grund eines Volkes. "Die Erde ist das, wohin das Aufgehen [physis, also Sein im Sinne von Anwesen] alles Aufgehende [Seiende im Sinne des Anwesenden] und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende" (ebd.; meine Betonung). Das Aufgehende (das naturhaft Seiende) wird durch den Tempel in die durch ihn eröffnete Erde zurückgeborgen, so daß in dieser Rückgründung im Aufgehenden die Erde als das Bergende west. Der Tempel läßt im Öffnen einer geschickhaften Welt und im Zurückstellen derselben auf die Erde das Aufgehende bzw. das Seiende in seinem Anwesen allererst hervortreten. Also geschieht im Tempel das Offenbarwerden des Seienden. Im Hinblick auf die Frage nach dem Werksein des Werkes stellt Heidegger

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B. 1. III. Die Bergung

zwei Wesenszüge des Werkes heraus: 1. das Aufstellen einer Welt und 2. das Herstellen der Erde. 1. In der "Erstellung eines Bauwerkes", in der "Errichtung eines Standbildes" und der Darstellung der Tragödie in der Festfeier wird ein Werk aufgestellt. Dies geschieht als ein ''Weihen und Rühmen":

''Weihen heißt heiligen in dem Sinne, daß in der werkhaften Erstellung das Heilige als Heiliges eröffnet und der Gott in das Offene seiner Anwesenheit hereingerufen wird. Zum Weihen gehört das Rühmen als die Würdigung der Würde und des Glanzes des Gottes." (ebd., S.30)

Der griechische Tempel wurde von Heidegger als Beispiel eines Werkes der großen Kunst mit Sicherheit auch 16 im Hinblick auf das Gotthafte ausgewählt. Aus den Beiträgen wissen wir, daß er die andersanfängliche Gründung des Daseins als der Augenblicksstätte des Vorbeigangs des letzten Gottes denkt. Die andersanfängliche Bergung der Wahrheit des Seyns in das Seiende gilt Heidegger wesentlich zur Bewahrung des Gottes, und die große Kunst, die andersanfänglich Geschichte gründende, wird solches zu leisten haben, wie es Heidegger im Zuspiel des ersten Anfangs aus der Besinnung auf einen griechischen Tempel denkt. Durch diesen west der Gott an. In der Aufstellung eines Werkes geschieht ein Weihen, d.i. ein Eröffnen des Heiligen als solchen und ein Hereinrufen des Gottes in das Offene seiner Anwesenheit. Es geschieht ferner ein Rühmen der Würde und des Glanzes des Gottes, in denen der Gott anwest. Weihen und Rühmen nennen das im Aufstellen eines Werkes waltende Verhalten zum Gotthaften. Die Welt lichtet sich, sagt Heidegger, im "Abglanz" des gotthaften Glanzes, d.h. das Sichlichten der WeIt ist aus dem Glanz des Gottes bestimmt. Weihen und Rühmen sind ein Er-richten. Dieses öffnet "das Rechte im Sinne des entlang weisenden Maßes, als welches das Wesenhafte seine Weisungen gibt" (ebd., S.30). Im Er-richten öffnet sich das Maß der welthaften Bezüge, die ihre Bestimmung aus dem weihend-rühmend mit eröffneten Anwesen des Gotthaften (mit den Beiträgen gesprochen: aus der ereignenden Zuweisung des Gotthaften an den Menschen) empfangen. Die Aufstellung des Werkes, so Heidegger, ist eine weihend-rühmende Errichtung, weil das Werk selbst in seinem Werksein eine Welt aufstellt. Die weihend-rühmende Aufstellung des Werkes wird also aus dem Werksein selbst bestimmt.

16 Einen weiteren Grund für die Wahl des Tempels hebt J. Sallis hervor, nämlich daß es sich hierbei nicht um ein Werk der darstellenden Kunst handelt und so die Problematik des Abbildes ausgeschaltet bleibt (Heidegger's Poetics: The Question of Mimesis, in: Kunst und Technik, S.177).

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

251

Die Eröffnung der Welt und das sie Offenhalten im Werk wird in einem ausgezeichneten Sinne gedacht. Aus Sein und Zeit ist uns die Welt als das Offene vertraut, aus dem her innerweltlich Seiendes in seiner Bewandtnisganzheit entdeckt ist. In der Kunstwerk-Abhandlung wird das Geschickhafte bzw. das Geschichtliche der Welt betont: "Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weitet die Welt." (ebd., S.31)

Zur Welt gehören die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte. Diese werden im Er-richten eines Kunstwerks der großen Kunst eröffnet. Die Entscheidungen unserer Geschichte, in der Endzeit der Metaphysik, faßt Heidegger in den Beiträgen in eine einzige zusammen: "ob das Seyn sich endgültig entzieht oder ob dieser Entzug als die Verweigerung zur ersten Wahrheit und zum anderen Anfang der Geschichte wird" (GA 65, S.91). Es ist die Entscheidung über Geschichte oder Geschichtsverlust und darin über den Vorbei gang des Gottes und die Geschichte des Menschen zumal. Auf diese Entscheidung denkt Heidegger im Andenken an das Aufstellen einer Welt im griechischen Tempel hinaus. Im Aufstellen einer Welt räumt das Werk jene Geräumigkeit ein, "aus der sich die bewahrende Huld der Götter verschenkt oder versagt" (GA 5, S.31). Ob sich die Huld der Götter verschenkt oder versagt, ob sich Geschichte anfänglich ereignet, liegt nicht am Werk allein. Es räumt aber das Offene ein, in dem die wesenhaften Entscheidungen fallen. "Einräumen bedeutet hier zumal: freigeben das Freie des Offenen und einrichten dieses Freie in seinem Gezüge" (ebd.). Das Einrichten gibt dem Freien seine bestimmten geschickhaften Bezüge, deren Maße im weihend-rühmenden Er-richten aus dem Gotthaften eröffnet werden. Deshalb sagt Heidegger, das Ein-richten wese aus dem weihend-rühmenden Errichten (ebd.). 2. Der zweite Wesenszug im Werksein des Werkes ist das Herstellen der Erde. Auch das Herstellen (jetzt im gewöhnlichen Sinne gedacht) eines Werkes denkt Heidegger aus dem Wesen des Werkes selbst, welches in seinem Wesen (in einem anfänglichen Sinne) her-stellend ist. Das, woraus ein Werk hergestellt wird, wird gewöhnlich als der Werkstoff (Ton, Metall, Stein) begriffen. Diesen denkt Heidegger nun ursprünglicher als Erde. Wurde bislang die Erde auch außerhalb des Kunstwerks mehr im Hinblick auf das naturhaft Seiende bedacht, das aus dem eröffnenden (Tempel)Werk ursprünglich in seinem Sein hervortritt, wird die Erde nun betonter im Hinblick auf das "Stoffartige" des Werkes selbst thematisiert. Sie kommt zum einen im Werk hervor. Im Tempel kommt der Fels "zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; [... ] die Farben [kommen] zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen" (ebd. S.32). Als hervorkommende west sie im Tragen und Ruhen des Felsens, im Leuchten, im Ertö-

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B. 1. III. Die Bergung

nen. Die Bestimmung des Felsens, der Farbe und des Tons als Werkstoff entspringt erst dem Wesen der Erde als hervorkommender. Doch stellt das Werk sich zugleich in die in ihr hervorkommende Erde zurück "in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes" (ebd.). Auch hier ist das, worein das Werk sich zurückstellt, nicht einfach der Stein, das Holz, der Ton, sondern deren bergendes, zurücknehmendes Wesen (das Massige, das Schwere, das Feste ... ). Als das, worein sich das Werk zurückstellt, ist die Erde das Bergende des Kunstwerks. Sie ist in eins "das Hervorkommend-Bergende" (ebd.). Ist im Hervorkommen die Erde in ihrem Bezug zum Wahrheitsgeschehen gedacht, weist ihr bergender Charakter auf den Bezug zum bergenden Seienden. Das Her-stellen der Erde im Werk gilt es aus ihrem angedeuteten Wesen im Kunstwerk anders als gewöhnlich, nämlich wörtlicher zu hören: "Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt." (ebd.) "Her-" heißt dann: hervorrücken ins Offene l7 , und das "Stellen" ist zu begreifen als ein im Offenen halten durch die Bergung im erdhaft Seienden. Deshalb "macht" das Kunstwerk die Erde nicht, sondern: "Das Werk läßt die Erde eine Erde sein." (ebd.) Das Her-stellen der Erde geschieht im Kunstwerk so, daß dieses sich selbst in die durch es eröffnete Erde zurückstellt. Zurückstellen kann und muß sich das Werk in die Erde, weil diese in sich selbst "das wesenhaft Sichverschließende" ist. Die Erde läßt, sagt Heidegger, "jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen". Wir können zwar einen Stein in seiner Schwere physikalisch bestimmen, aber diese Bestimmung faßt niemals die Schwere des Steins an ihm selbst. Die Erde kommt als solche nur zum Vorschein, wenn sie in ihrem Sichverschließen bewahrt bleibt. Wo wir die "Erde" nach dem Stoff-FormGefüge beschreiben und wissenschaftlich erklären, bleibt von ihr nur das bloß Dinghafte übrig. Wo wir ihrer habhaft werden wollen und sie in einen erklärenden Begriff zu zwingen suchen, hat sie sich schon entzogen. Sie selbst in ihrem eigensten wesenhaften Sichverschließen, in ihrem eigenen Ge-heim-nis, tritt in erklärenden Bestimmungen erst gar nicht hervor, sondern wird verdeckt. Das Hervortretenlassen der Erde als der Sichverschließenden geschieht im großen Kunstwerk, wo die Erde in ihrem verschließenden Wesen gelassen wird. Es seien nochmals die verschiedenen Bezüge bedacht, in denen in der Kunstwerk-Abhandlung die Erde gedacht wird. M. Haar unterscheidet in Le Chant de

17 Vgl. die Rede vom Hereinstehen des Seienden bzw. Wahren in die Wahrheit des Seyns.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

253

la Terre vier Bedeutungen der Erde: 1. die Erde als Hervorkommend-Bergende in einem ontologischen Sinn, 2. die Erde im Sinne der Natur (physis), 3. die Erde als der "Stoff" des Werkes, 4. die Erde als heimatlichen Grund 18. Die so geschiedenen Begriffe der Erde sind in ihrer ursprünglichen Einheit aus ihrem ersten Sinn zu begreifen, den Haar leicht mißverständlich (weil in der Scheidung ontologisch/ontisch sprechend) den ontologischen Sinn nennt. Denn wir werden sehen, daß die Erde nicht einfach mit dem sichverschließenden Zug der Wahrheit des Seyns gleichzusetzen ist. Diesem gegenüber ist sie "ontischer" bzw. nennt sie gerade den sichverschließenden Wesenszug im Seienden, einmal im naturhaft Seienden und dann im ''Werkstoff'. Man kann die Erde aber auch nicht einfach auf das bloß "ontische" reduzieren und sie sich als Natur und Werkstoff oder im Ausgang von diesen vorstellen, denn gerade in solchem Vorstellen hat sie sich schon entzogen.

Die Erde ist geschichtlich, weil im Geschick des Seyns einbehalten. Als Hervorkommend-Bergende im Streit von Welt und Erde ist sie je schon geschichtlich, ob sie eigens gründend übernommen wird (und heimatlicher Grund eines Volkes wird) oder nicht. Im eigentlichen Sinne muß sie jedoch zum geschichtlichen Grund erst werden dadurch, daß sie gründend im Werk hergestellt wird in das Offene einer Welt. 19 Das Werk ist aufstellend eine Welt und herstellend die Erde. Welt und Erde sind dabei grundverschiedenen Wesens: Ist die Welt "die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im

18 Michel Haar: Le Chant de la Terre: Heidegger et les assises de l'histoire de l'etre, Paris 1985, S.l22ff. 19 M. Haar weist in ''Le Chant de la Terre" auch auf den ungeschichtlichen Charakter der Erde hin, der sich vordrängt, wenn man sie in der Gegenstellung zur geschichtlichen Welt nimmt (ebd., S.22ft). Da sich die Erde aber nur mit und in einer geschichtlichen Welt als deren geschichtlicher Grund erschließt, scheint es mir problematisch, die Erde als ungeschichtlich zu bezeichen. Ungeschichtlich, im Sinne von nicht geschickt, ist das Ereignen in seinem Sichentziehen, das Geben selbst, das sich als Unter-Schied gerade von der Gabe unterscheidet, nicht Geschichte (Geschicktes) ist. Dieses Sichentziehende Gewähren ist aber nicht mit der Erde gleichzusetzen. Andererseits können wir sagen, daß in der geschichtlichen Gründung der Entzug des Ereignisses im Offenen des Ereignens und seines Ereigneten mitschwingt. Im Geschickten waltet, so gesehen, stets mit das selbst Ungeschickte des Ereignens. Und sofern das Sichverschließende der Erde besonders auf das Sichentziehen des Ereignisses verweist, kann man sagen, daß die Erde in ausgezeichneter Weise die Spur des geschichtslosen Urgrundes verbergend verwahrt. In einem anderen Sinne ist jedoch auch der Urgrund geschichtlich, sofern er ein Geschehen ist, dem die Seinsgeschichte im Sinne des Geschickten entspringt. Haar greift diese Gedanken in seinem letzten Buch: La fracture de I 'histoire: Douze essais sur Heidegger (Grenoble 1994), sie vertiefend, wieder auf.

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Geschick eines geschichtlichen Volkes", so ist die Erde "das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden" (GA 5, S.35; Betonungen von mir). Welt und Erde stehen in ihrem Sichöffnen und Sichverschließen vollzugshaft im Gegeneinander, im Streit. Als sichöffnende duldet die Welt kein Verschlossenes und trachtet danach, die Erde zu überhöhen. Als sichverschließende neigt die Erde dahin, die Welt in sich zurückzunehmen und einzubehalten. In der Welt liegt der Zug zur Freiheit, in der Erde derjenige zur Bindung. Und doch können beide nur geschehen durch das andere: Die Erde kann nur aufgehen in ihrem Sichverschließen, wenn sie die Welt durchragt, die Welt als das Offene der Bahnen der geschickhaften Entscheidungen eines Volkes braucht die Erde als das, worauf diese sich gründen. Der Mensch gründet sein Wohnen in der Welt auf und in die Erde als den bergenden Grund. Das Werk kann nur eine Welt aufstellen und die Erde herstellen, indem sie beide in ihr strittiges Wesen freiläßt und darin hält. "Das Werksein des Werkes besteht in der Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde" (ebd., S.36). Durch die Sammlung der Bewegtheit der sich Widerstreitenden, welche Sammlung aus dem gegenseitigen sich Bedürfen zu begreifen ist, erhält das Werk sein In-sieh-ruhen. Diese Ruhe begreift Heidegger aber als die höchste Innigkeit der Bewegtheit. Im innigen Gegeneinander von Welt und Erde eröffnet das Kunstwerk, diese ins-Werk-setzend, die Wahrheit im Seienden. d) Das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit Es gilt nun zu begreifen, wie im Streit von Welt und Erde Wahrheit als das Widerwendige von Lichtung und zwiefacher Verbergung (Versagen und Verstellen) geschieht. Das Gegeneinander von Lichtung und Verbergung nennt Heidegger in der Kunstwerk-Abhandlung den ursprünglichen Streit oder den Urstreit, "in dem jene offene Mitte erstritten wird, in die das Seiende hereinsteht und aus der es sich in sich selbst zurückstellt" (ebd., S.42). Die offene Mitte ist der ab-gründig sich entfügende Zeit-Raum im "Da" des Da-seins im Gegenschwingen von ereignendem Zuruf und ereignetem Entwurf. Zu dem im abgründigen Wesen der Wahrheit erstrittenen, zeit-räumlichen Offenen gehört eine Welt und eine Erde. Diese entspringen dem Urstreit und bleiben als entspringende in diesem einbehalten. Da die Welt als das sichöffnende Offene der Bahnen der geschickhaften Entscheidungen und die Erde als das aufgehende Sichverschließen gekennzeichnet wurden, scheint es zunächst naheliegend, die Welt mit der Lichtung und die Erde mit der Verbergung im Wesen der Wahrheit gleichzusetzen. Denn Wahrheit geschieht ja nirgends für sich, um dann erst umgewandelt zu werden in den Streit von Welt und Erde. Wahrheit ist immer schon geschickhaft und erdhaft.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

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Wollen wir nicht in ein metaphysisches Denken zurückfallen und den Urstreit von lichtender Verbergung einfach als Bedingung der Möglichkeit für den Streit von Erde und Welt begreifen, dann bekommt der Unterschied zwischen Urstreit und Streit von Welt und Erde etwas Fragwürdiges. Der Urstreit scheint gegenüber dem Streit von Welt und Erde eine weitere Bedeutung zu haben, diesem gegenüber in einem überschüssigen Verhältnis zu stehen. Welt und Erde haben ihrerseits eine größere Bestimmtheit. Die Welt ist nicht einfach das Offene, was der Lichtung entspricht, sondern sie ist ''Lichtung der Bahnen der wesentlichen Weisungen, in die sich alles Entscheiden fügt. [... ] Die Erde ist nicht einfach das Verschlossene, sondern das, was als Sichverschließendes aufgeht." (ebd.; Betonungen von mir)

Die Bahnen und Bezüge der Entscheidungen eines Volkes erhalten ihre Weisung aus dem in der Lichtung des Sichverbergens ereignenden Ereignis als das Schickende im Geschick eines Volkes. Das Ereignis ereignet das Offene, in das Seiendes hereinsteht, nicht immer auf gleichförmige Weise. Im ersten Anfang der Griechen, im Mittelalter, in der Neuzeit, im Übergang zum anderen Anfang, lichtet sich das Sein des Seienden auf je unterschiedliche Weise. Erstanfänglich in der physis als das von sich her Aufgehende, dann als ousia (beständige Anwesenheit), im Mittelalter wird es zur substantia creata bzw. zum ens creatum des summum ens, in der Neuzeit zur Vorgestelltheit. Jedesmal wandelt sich grundlegend die Weise, wie Seyn in seinem Sichverbergen das Seiende in die Offenheit seines Anwesens treten läßt bzw. diese verstellt. D.h. aber, daß das Ereignis sich nicht in nur einer Weise des Geschickes erschöpft. In seiner Zurückgebogenheit in das Sichversagen gibt es der jeweiligen Epoche ihren Umriß, ihre Grenze und damit Einzigkeit; aber durch sein Wesen als ereignender Entzug ist das Ereignis ursprüngliches Vermögen und nicht selbst geschickt. In diesem Sinne ist es ungeschichtlich. Begreifen wir die Geschichte aber im weiten Sinne als Geschehen, als Wesung, dann ist das Ereignis wohl geschichtlich. Es ist so geschichtlich, daß es das Seiende in seine jeweilige welthafte erdhafte Wahrheit schickt. Es ist kein verborgener seiender Grund, sondern das abgründige Schicken selbst, das sich im Schicken gerade entzieht. Die Erde ist immer schon heimatlicher Grund einer Welt. Das Wie ihres Aufgehens ist aus dem Ereignis als Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit ebenfalls geschickhaft bestimmt, und nur in ihrem Aufgehen weilt die Erde als das Sichverschließende. Das zwiefache Sichverbergen der Wahrheit des Seyns gibt jeweils endliche, einzige Weisen des Aufgangs der Erde in ihrem Sichverschließen frei. Die Erde kann in ihrem ursprünglichen Aufgehen ereignet werden, wie es erstanfänglich in der physis geschieht. Sie kann aber auch zum bloßen Bestand in der Herrschaft der modernen Technik werden, um den extremsten Gegenfall zu nennen.

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Welt ist nicht bloß Lichtung, aber in ihr geschieht eine Lichtung. Erde ist nicht nur das Sich verbergende, aber in ihr geschieht ein geschickhaftes Aufgehen des Sichverschließenden. Die ursprüngliche Wahrheit geschieht im Streit von Welt und Erde und doch liegt in der Wahrheit aus dem Ereignis als ursprünglichem Vermögen gedacht ein "Mehr", ein sichentziehendes "Mehr" gegenüber dem in ihr gelichteten, aus dem Gegenschwung des Ereignisses geschickhaft bestimmten Offenen, in dem im Streit von Welt und Erde das Seiende als solches sich erschließt. Das Kunstwerk, wie Heidegger es denkt, ist eine ausgezeichnete Weise der Bergung der Wahrheit des Seyns dadurch, daß es nicht nur dieses oder jenes Seiende als ein Wahres ins Werk setzt, sondern dadurch, daß in ihm Unverborgenheit in bezug auf das Seiende im Ganzen geschieht (ebd., S.43). Im Aufstellen einer Welt und Her-stellen der Erde wird die Wahrheit des Seienden im Ganzen ins Werk gesetzt. Die Wahrheit des Seins scheint im Werk auf und west im Schönen des Kunstwerks. 20 Im dritten Abschnitt der Kunstwerk-Abhandlung wird das Fragen nach dem Bezug von Kunstwerk und Wahrheit dahingehend gekehrt, daß im Ausgang von der Wahrheit gefragt wird, was diese sei, daß sie in einem Geschaffenen geschehen muß, und inwiefern sie "aus dem Grunde ihres Wesens einen Zug zum Werk" hat (ebd., S.48). Die Frage ist dann nicht mehr die nach dem InsWerk-setzen der Wahrheit durch das Kunstwerk (wie geschieht im Kunstwerk Wahrheit?), sondern die nach dem Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit des Seyns. Diese Blickrichtung fragt in betonter Weise aus dem Ereignis bzw. aus dem ereignenden Zuwurf der Wahrheit des Seyns, wenngleich dies in der Kunstwerk-Abhandlung verschwiegen wird. Die Wahrheit west nur als Lichtung für das Sichverbergen, wenn die Lichtung im Da des Da-seins eröffnend offengehalten wird. Dafür muß sie sich selbst in ihr Offenes einrichten (ebd., S.48). Seinen Stand und seine Ständigkeit nimmt die Wahrheit im Seienden, welches ihr Offenes bergend offenhält. Die Einrichtung nennt den Bezug der Wahrheit zum Seienden, ihren (der Wahrheit) "Zug zum Werk" (ebd., S.50). In einer Aufzeichnung schreibt Heidegger: "Die eigentliche metaphysische Notwendigkeit der Kunst nur da, wo das wesentliche Seyn und seine Wahrheit in sich so tief und ursprünglich, daß sie zugleich und gerade eine Versinnlichung fordern (Einrichtung) und nur in ihr wahrhaft ins Da- treten; z.B. die griechischen Götter." (Heidegger Studies 8, 1992, S.9)

Die Einrichtung wird hier als "Versinnlichung" begriffen. Darin ist das zu

20

Vgl. ebd., S.43.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

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hören, was Heidegger das Sichzurückstellen des Werkes in die Erde als einer bergenden nennt. Die Versinnlichung ist aber eine geforderte aus der Not des Seyns, aus seinem Sichverweigern. Der Zug zum Werk entspringt dem Ent-zug des Seyns in seiner Wahrheit. Wo dieser am tiefsten und ursprünglichsten das Beständnis seiner Wahrheit ernötigt (im anfänglichen Wesen des Ereignisses), ernötigt er die Einrichtung der Wahrheit in ein Offenes (Wahres) durch das Zurückstellen des Offenen einer Welt in die bergende Erde in Kunstwerk, Wort, Tat. Das Sicheinrichten der Wahrheit meint eine ausgezeichnete ursprüngliche Weise, wie Wahrheit im Seienden geschieht. Das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit im Kunstwerk nennt derer nur eine Weise. Heidegger verweist in der Kunstwerk-Abhandlung auch auf die staatsgründende Tat, auf die Nähe des Seiendsten des Seienden, auf das wesentliche Opfer und das Fragen des Denkers (GA 5, S.49). Doch wie geschieht genauer das Sicheinrichten der Wahrheit in ein Seiendes, das so allererst als solches ins Offene tritt? In ein hervorzubringendes Seiendes richtet sich die Wahrheit als Streit nur so ein, "daß der Streit in diesem Seienden eröffnet, d.h. dieses selbst in den Riß gebracht wird" (ebd., S.5l). Mit dem Riß kennzeichnet Heidegger den Streit von Welt und Erde im Kunstwerk. Er ist zumal Grundriß, Auf-riß und Umriß. Zwischen Welt und Erde geschieht nicht nur ein Aufriß, der beide auseinanderreißt. Vielmehr heben sich die Streitenden in ihrem Gegeneinander gegenseitig in die "Selbstbehauptung" ihres Wesens (ebd., S.35). Die Welt waltet nur als Offenheit eines Offenen, sofern sie sich auf die Erde gründet; die Erde waltet nur als die Sichverschließende, wenn sie in ihrem Sichverschließen Welt durchragt. Der Riß reißt die Gegenwendigen zugleich zusammen, und zwar "in die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen Grunde" (ebd., S.5l). Insofern ist der Riß Grund-riß. Die Herkunft der Einheit von Welt und Erde ist das Ereignis im Wesen der Wahrheit als lichtendes Sichverbergen, als sichentziehendes Ereignen. Der Riß ist zu denken aus dem Wesen des Seyns als Zerklüftung, die sich im Da-sein öffnet und in ihrer Zurückgebeugtheit das in ihr Auseinandertretende in ihre ereignende Herkunft einbehält. "Er ist Auf-riß, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung des Seienden zeichnet." (ebd.) Die Grundzüge des Aufgehens sind die bestimmten Weisen des Offenbarwerdens des Seienden in den geschickhaften Bahnen, die in einer Welt eröffnet werden, und in den unterschiedlichen Weisen, wie das welthaft Gelichtete in die Erde zurückgestellt wird (als Zeug, Werk, Ding). Der Riß im Streit von Welt und Erde bringt als Grundriß und Aufriß "das

17 Neu

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Gegenwendige von Maß und Grenze in den einigen Umriß" (ebd.; meine Betonung). Das Maß nennt die in der Welt aus dem Gotthaften sich lichtenden geschickhaften Weisungen, gemäß denen das Seiende ins Offene tritt. Die Grenze verweist auf das Sichverschließen der Erde. Eröffnendes Maß und verschließende Grenze geschehen gegen wendig, werden aber durch Grund- und Auf-riß im Umriß zueinander gehalten. Das hervorzubringende Seiende, das Kunstwerk, wird in das einheitliche Gezüge von Aufriß, Grundriß und Umriß gebracht, in das im Streit von Welt und Erde sich lichtende Offene, und hält so das Offene besetzt. Dies kann aber nur dadurch geschehen, "daß sich das Hervorzubringende, der Riß, dem Sichverschließenden, das im Offenen ragt, anvertraut." (ebd.) Dies ist der entscheidende Schritt, in dem die Wahrheit im Streit von Welt und Erde (der Riß) sich in das Seiende einrichtet. Der Riß wird in die Erde ("in die ziehende Schwere des Steins, in die stumme Härte des Holzes, in die dunkle Glut der Farben") zurückgestellt, und nur so wird er auch erst in das Offene hergestellt. Im Zurückstellen des Risses in die Erde hält das so erst hervortretende Seiende das Offene besetzt, nimmt dieses in seinem Sichverschließen in die Hut. Das hervorzubringende Seiende wird selbst in den Riß des Streites von Welt und Erde gebracht, um so erst das Werk zu sein, das den Streit und damit den Riß offen hält. Das Stehen im Riß ist die Weise, wie das hervorgebrachte Kunstwerk in der Zerklüftung des Seyns steht, so aber, daß im Zurückstellen des Risses in die Erde das Seyn als ereignender Ent-zug west, der im Sicheinrichten seiner Wahrheit in ein Wahres je eine geschichtliche Welt und die bergende Erde hervorgehen läßt. "Der in den Riß gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt. [... ] Sie ist das Gefüge, als welches der Riß sich fügt." (ebd.)

Die als Gefüge gedachte Gestalt wird nicht im Ausgang vom Seienden begriffen (als die Form eines Stoffes), sondern aus dem Sichfeststellen des in sich einigen Grund-, Auf- und Um-risses der Wahrheit in die bergende Erde, aus dem Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit. e) Schaffen und Bewahren Das Sich-einrichten der Wahrheit ins Werk ist ein Hervorbringen der Offenheit des Seienden. Solches geschieht freilich nicht ohne den schaffenden Künstler. In der Kunstwerk-Abhandlung denkt Heidegger das Schaffen als eine ausgezeichnete Weise des Hervorbringens im Unterschied zum Hervorbringen

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

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in der Zeuganfertigung. 21 Was das Wesen des Schaffens eines Kunstwerks ist, bestimmt sich aus dem Wesen des Werkes selbst, daß in ihm Wahrheit geschieht. Das Werk rückt alles Seiende und auch sich selbst in jenes Offene, das durch es geschieht. Es selbst bestimmt sich erst aus dem in ihm geschehenden Streit von Welt und Erde, aus dem Wesen der Wahrheit. Zu diesem steht das Schaffen in einem ausgezeichneten Bezug. Es muß sich im vorhinein in jenem Offenen halten, das durch das hervorzubringende Werk erst seine Gestalt gewinnt. Um das Schaffen in seinem Wesen zu begreifen, muß jegliche Vorstellung eines handelnden Subjekts ferngehalten werden. Es ist nur zu begreifen aus der Inständigkeit im Da-sein als eine Weise, wie das Da entwerfend offengehalten wird. Als ein Hervorbringen ist das Schaffen, so Heidegger im KunstwerkAufsatz, "eher ein Empfangen und Entnehmen innerhalb des Bezuges zur Unverborgenheit" (GA 5, S.50). Dadurch werden wir vor dem Hintergrund der Beiträge darauf hingewiesen, das schaffende Da-sein aus dem Ereignis zu denken. Der Bezug des Schaffens zur Wahrheit ist so zu begreifen, daß in der Er-eignung des Da-seins der Zuwurf empfangen wird - d.h. die Wahrheit des Seyns als gründender Grund erreicht wird - und im Gegenschwung von Zuruf und Zugehörigkeit das sich darin Eröffnende übernommen und ins Werk gebracht wird. Letzteres geschieht dadurch, daß der Streit von Welt und Erde in die Erde zurückgestellt wird. Gedanklich muß noch ergänzt werden, daß der Riß nur Riß ist, wenn er im schaffenden Da-sein inständig ausgestanden wird. Andersanfänglich ist dies zu denken aus der Notschaft des Gottwesens, das im ab-gründigen Wahrheitsgeschehen dem Menschen zugeeignet wird, so daß dieser zugleich an das Gottwesen übereignet wird. In dieser übereignenden Zueignung öffnet sich, maßnehmend am lichtend verbergenden Wink des Gotthaften, aus der berückenden Entrückung im ent-setzenden Entzug der Streit von Welt und Erde als Riß, sofern dieser schaffend in die Erde zurückgestellt wird. Dabei wird die Erde nicht nur gebraucht, sondern geht selbst allererst als Sichverschließende hervor (hingegen sie im Zeug sich in der Dienlichkeit verbirgt). Im Schaffen erschöpft sich jedoch der Bezug des Menschen zum Kunstwerk nicht. Ganz wesentlich ist auch der bewahrende Bezug zum Kunstwerk. Wenn im Kunstwerk Wahrheit geschehen soll, wenn sich in ihr die Welt und die Erde eines Volkes öffnen sollen, dann muß der Mensch selbst in die durch das Werk geschehende Wahrheit ver-rückt werden. Daß das Kunstwerk solches vermag, liegt laut Heidegger daran, daß in ihm nicht nur das Wahrheitsgeschehen als

21 Zum Unterschied zwischen der Hervorbringung im Werkschaffen und in der Zeuganfertigung siehe F.-W. v. Hermann: Heideggers Philosophie der Kunst, S.27 1-277.

17"

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B. 1. III. Die Bergung

Streit von Welt und Erde in die Gestalt gebracht wird, sondern auch sein Geschaffensein, sein Hervorgebrachtsein mit hineingeschaffen ist: "[ ... ] das einfache 'factum est' soll im Werk ins Offene gehalten werden: dieses, daß Unverborgenheit des Seienden hier geschehen ist und als dieses Geschehene erst geschieht" (ebd., S.S2f; meine Betonung). Im Geschaffensein des Kunstwerks schwingt sein geheimnisvoller Ursprung, aus dem es hervortritt in sein Sein, als geschehender mit. Dieses Ungewöhnliche, daß das Werk ist, ist der nötigende Stoß, der den Menschen einrücken läßt in den durch das Sein des Werkes eröffneten Wahrheitsbereich. Durch das Hervorgebrachtsein des Werkes geschieht die Ent-setzung vom Seienden in die Ungewöhnlichkeit des Seins, und die Bezüge nicht nur zum Kunstwerk, sondern zum Seienden im Ganzen wandeln sich. Der Mensch als der ver-rückte erfährt auch sich in gewandelter Weise. Erst durch das Verweilen in der im Werk geschehenden Wahrheit geschieht in diesem die Unverborgenheit des Seienden, eine Welt lichtet sich mit ihren geschickhaften Weisungen und die Erde geht auf in ihrem Sichverschließen als der heimatliche Grund. Erst durch die Verhaltenheit des Verweilens in der im Werk geschehenden Wahrheit ist dieses, was es ist. Im verhaltenen Innestehen in der Wahrheit des Werkes geschieht die Bewahrung des Werkes. Ein Werk ist Werk durch die Schaffenden und die inständig Bewahrenden. Auf diese bleibt es auch dann bezogen, wenn es auf sie erst wartet. So steht es für Heidegger etwa mit Hölderlins Dichtung. 22 Die ausgezeichnete Rolle der Kunst im Übergang zum anderen Anfang, ihr Vermögen, an der vollen Gründung des anderen geschichtlichen Anfangs zu wirken, muß vor allem bezüglich der Bewahrung des Kunstwerks angedacht werden. Denn die Bewahrung des Werkes rückt die Menschen ein "in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehenden Wahrheit und gründet so das Für- und Miteinandersein als das geschichtliche Ausstehen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit" (GA 5, S.55). Denken wir zurück an den 45. Abschnitt der 'Beiträge, wo Heidegger unter den Zukünftigen die wenigen Einzelnen, die zahlreichen Bündischen und die vielen Zueinanderverwiesenen unterscheidet, so wird ersichtlich, daß die WerkSchaffenden zu den wenigen Einzelnen gehören, "die in den wesentlichen Bahnen des gründenden Da-seins (Dichtung - Denken - Tat - Opfer) für die Bereiche des Seienden die Stätten und Augenblicke vorausgründen" (GA 65, S.96). Die Werk-Bewahrenden scheinen dagegen eher zu den zahlreichen Bündischen zu gehören, die die Gründungen der Einzelnen erahnen und im Vollzug sichtbar machen. Hierzu kann durchaus auch Heideggers denkerische

22

Vgl. GA 65, den 258. Abschnitt, S.42lff.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

261

Auseinandersetzung vor allem mit der Dichtung Hölderlins zählen. Man kann aber nicht davon ausgehen, daß jeder, der in die im Werk geschehende Wahrheit durch diese selbst entrückt wird, zu einem denkerisch inständigen Wissen gelangt. In der Tat sagt Heidegger: "Die Bewahrung geschieht in verschiedenen Stufen des Wissens mit je verschiedener Reichweite, Beständigkeit und Helligkeit." (GA 5, S.56)

Unter "Wissen" versteht Heidegger die "Inständigkeit der Bewahrung" und kein bloßes "Kennen und Vorstellen von etwas" (ebd., S.55). Es ist zu vermuten, daß nicht alle Bewahrenden im Sinne der zahlreichen Bündischen das im Werk Eröffnete im Vollzug sichtbar machen. Als eine weitere Stufe der inständigen Bewahrung könnten die Vielen begriffen werden, für die, gemäß ihrer im Werk eröffneten gemeinsamen geschichtlichen Herkunft, die Gründung der Wahrheit Bestand gewinnt. Die hier vorgenommene Zuordnung des Schaffens und Bewahrens zu den verschiedenen Weisen des Zukünftigseins sollte nicht zu schematisch genommen werden, zumal Schaffen und Bewahren immer zusammen gedacht werden müssen und sich nicht einfach auf verschiedene Personen verrechnen lassen. Zudem verweisen in einem ursprünglicheren und weiteren Sinne das Schaffen und das Bewahren auf die beiden Grundexistenzialien des Entwurfs und der Geworfenheit. So gesehen gehört zum Schaffen als einem entwerfenden Eröffnen auch wesenhaft das Be-wahren im Sinne des Wesenlassens des eröffneten gründenden Grundes. Und umgekehrt kann das Wesenlassen des ereigneten Offenen (das Bewahren im weiten wie im engen Sinne, d.h. zum einen des gründenden Grundes und zum anderen der Wahrheit im Seienden) nur im inständigen Entwurf geschehen. Im Kunstschaffen wie im Kunstbewahren (im engeren Sinne) geschieht auf je eigene Weise ein ereignet entwerfendes Bergen als Ins-Werk-setzen der Wahrheit. Die Kunst ist in ihrem Wesen das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit zum einen im Sinne des schaffenden FeststeIlens der sich einrichtenden Wahrheit in die Gestalt. Sie ist Ins-Werk-Setzen der Wahrheit aber auch im Sinne der Bewahrung, die das Werksein in Gang und ins Geschehen bringt. Kunst ist "die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk" (ebd., S.59); sie ist "ein Werden und Geschehen der Wahrheit" (ebd.). Damit ist jedoch in der Kunstwerk-Abhandlung noch nicht die letzte Bestimmung der Kunst gewonnen. Vielmehr fragt Heidegger weiter danach, wodurch in der Kunst Wahrheit geschieht. Die Eröffnung des Offenen und die Lichtung des Seienden geschehen nur im geworfenen Entwurf der Offenheit. Diesen in aller Kunst geschehenden lichtenden Entwurf der in der Geworfenheit ereigneten Offenheit begreift Heidegger als Dichtung im weiten Sinne.

262

B. 1. III. Die Bergung

f) Das Wesen der Kunst als Dichtung "Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung." (ebd.)

Die Poesie bzw. die Dichtung im engeren Sinne ist nur eine Weise der Dichtung im weiten Sinne des lichtenden Entwerfens der ereigneten Wahrheit, welches auch in der Architektur, Bildhauerei, Malerei und Musik geschieht. Der lichtende Entwurf, den Heidegger als Dichtung im weiten Sinne faßt, ist ein Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit, sofern er aus der Wahrheit des Seyns selbst ereigneter Entwurf ist, der das Zugeworfene entwerfend miteröffnet und erst anwesen läßt. Um zu begreifen, warum Heidegger den in der Kunst geschehenden lichtenden Entwurf als Dichtung faßt, muß gesehen werden, inwiefern das Wesen der Sprache in der Eröffnung des Seienden eine wesentliche Rolle spielt. Die Sprache, sagt Heidegger, ''bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene" (ebd., S.61). Gemeint ist hier das Wesen der Sprache, das nicht gleichzusetzen ist mit der verlautenden Sprache, die Gegenstand der Sprachwissenschaft wird. Schon in Sein und Zeit begreift Heidegger als existenzialontologisches Fundament der Sprache die Rede, die mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich ist (SuZ, S.160ff). Sie ist ein bedeutungsmäßiges Gliedern der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins. Die verlautenden Worte entspringen erst dieser existenzialen bedeutungsmäßigen Gliederung als dem ursprünglichen Wesen der Sprache. Das in Befindlichkeit und Verstehen, also im geworfenen Entwurf sich lichtende Seiende ist immer schon sprachlich verfaßt. Das Seiende wird als solches nur in der Sprache entdeckt. In der Kunstwerk-Abhandlung muß seynsgeschichtlich das Wesen der Sprache ursprünglicher aus dem Zu wurf der Wahrheit des Seyns als einer Zusage oder einem Zuspruch gefaßt werden?3 Die Sprache west im Ereignis als die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von ereignendem Zuspruch und ereignetem Entsprechen. So gesehen spricht in erster Linie nicht das Subjekt Mensch, sondern die Sprache, in der alles Seiende sich lichtet: "Indem die Sprache erstmals das Seiende nennt, bringt solches Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen. Dieses Nennen ernennt das Seiende zu seinem Sein aus diesem. Solches Sagen ist ein Entwerfen des Lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt." (GA 5, S.61)

Nennen und Sagen sind im Sinne des bedeutungsmäßigen Gliederns zu

23

Vgl. § 20 dieser Arbeit.

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

263

begreifen. Das Seiende in seinem Was- und Wiesein, in seinen geschick- un bewandtnishaften Bezügen tritt als solches im Da-sein nur hervor durch das im ereigneten Entwurf geschehende Nennen, in dem das verlautende oder geschriebene Wort gründet, welches das Genannte mehr oder weniger ursprünglich unverstellt oder verstellt ins Wort bringt. Das Seiende wird aus seinem Sein zu seinem Sein ernannt. Das Nennen selbst bringt aus dem Sein des zu entbergenden Seienden dieses in sein geschichtliches Was- und Wiesein hervor. Es entwirft dabei nicht das Sein selbst, sondern ist ein Sagen, das als ereigneter Entwurf den Wurf des Seins selbst miteröffnet, Heidegger sagt, "auslöst" (ebd.). Das Sagen ist das im ereigneten Entwurf geschehende Ent-sprechen, welches dem Zuspruch des Seyns entspricht, der nur im Ent-sprechen (das auch ein Frei-sprechen ist) ins Offene tritt. Das entwerfende Sagen, als welches Heidegger die Dichtung (im weiten Sinne) begreift, entwirft vor diesem oder jenem Seienden zuvor das Offene, in dessen Bahnen es sich geschichtlich fügt: Es ist "Sage der Welt und der Erde, die Sage vom Spielraum ihres Streites und damit von der Stätte aller Nähe und Ferne der Götter" (ebd.). "Das entwerfende Sagen ist jenes, das in der Bereitung des Sag baren zugleich das Unsagbare als ein solches zur Welt bringt. In solchem Sagen werden einem geschichtlichen Volk die Begriffe seines Wesens, d.h. seiner Zugehörigkeit zur Welt-Geschichte vorgeprägt." (ebd., S.61f)

Das Unsagbare ist jenes, was im Gesagten als Verborgenes mitschwingt als Spur der sich zögernd entziehenden Herkunft einer geschichtlichen Welt (Ereignis). Die Bahnen und Weisungen der wesenhaften Entscheidungen einer geschichtlichen Welt (in diesem "ontologischen" Sinne: Welt-Geschichte) eröffnen sich durch die Sage. Weil die welthaft-erdhafte Unverborgenheit des Seienden in der Sprache geschieht, nennt Heidegger "die Poesie, die Dichtung im engeren Sinne, die ursprünglichste Dichtung im wesentlichen [und weitesten] Sinne" (ebd., S.62).24 Das Wesen der Dichtung im weiten Sinne ist Stiftung der Wahrheit, der jeweils ein Bewahren entspricht. In der Kunstwerk-Abhandlung nennt Heidegger drei Weisen des Stiftens: das Schenken, das Gründen und das Anfangen, welche den drei Strukturmomenten des Da-seins entsprechen: dem Entwurf, der Geworfenheit und dem Sein bei. Diese entfaltet Heidegger in Vom Wesen des Grundes als stiftend boden-nehmendes Begründen. In der Kunstwerk-Abhandlung umgreift aber der Begriff des Stiftens alle drei Weisen des Gründens.

24

Vgl. § 20 dieser Arbeit.

264

B. 1. III. Die Bergung

Die im Kunstwerk geschehende Stiftung der Wahrheit ist Schenkung und Überfluß, weil sie das Un-geheure, das Seyn selbst in seiner Wahrheit aufschließt und den Menschen aus den gewohnten Bezügen zum Seienden anfänglich ent-setzt in die geschickhafte Wahrheit seines geschichtlichen Seins. Im dichterischen Entwurf wird die Wahrheit zugleich "den kommenden Bewahrenden, d.h. einem geschichtlichen Menschentum zugeworfen" (GA 5, S.63). Dem geschichtlichen Menschentum wird im Kunstwerk aber nur jenes eröffnend zugeworfen, "worein das Dasein als geschichtliches schon geworfen ist" (ebd.). Dieses ist die Erde eines geschichtlichen Volkes, sein sich verschließender Grund, der seine künftige Bestimmung als Mitgegebenes (Erbe) verwahrt. Das Mitgegebene muß im stiftenden Entwurf aus dem verborgenen Grund jedoch eigens heraufgeholt (geschöpft) und auf ihn gegründet werden. Das Stiften ist ein eröffnendes Entwerfen in der Weise des schöpfenden Gründens des Mitgegebenen. Schenkung und Gründung haben, so Heidegger, das Unvermittelte des Anfangs, der den Charakter des Sprunges hat (ebd., S.64). Stiftung als Anfangen ist Anstiftung des Streites von Erde und Welt, innerhalb dessen ein geschichtliches Volk ersteht. Der Anfang ist Anfang einer Geschichte. Wenn in der stiftenden Schenkung und Gründung Kunst geschieht, ''kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an" (ebd., S.65). Heidegger denkt ein solches Anfangen nicht nur bezüglich des Griechentums, sondern auch in jenen Epochen der Metaphysik, in denen eine Verwandlung des Seienden im Ganzen geschieht: im Mittelalter, wo das Seiende im Ganzen sich verwandelt zum von Gott Geschaffenen, und in der Neuzeit, wo das Seiende zum vorgestellten Gegen-stand wird. 25 Maßgebend blieb aber nach Heidegger für die Kunst des Mittelalters und der Neuzeit das, was in der griechischen Kunst geschah. Die Frage ist nun die, "ob die Kunst in unserem geschichtlichen Dasein ein Ursprung ist oder nicht, ob und unter welchen Bedingungen sie es sein kann und sein muß" (ebd., S.66).26 g) Der Wesensentwurf des Kunstwerks im Übergang zum anderen Anfang Für die Beantwortung der Frage, ob die Kunst, und Heidegger meint immer die große Kunst, in unserem geschichtlichen Dasein ein Ursprung ist oder nicht, gibt es weder subjektiv noch objektiv begründbare Kriterien. Entscheidend ist

VgJ. Heideggers Aufzeichnungen in den Heidegger-Studies 8, 1992, S.8. Zum Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik, siehe M. Riedei, "Überwindung der Ästhetik. Heideggers Wege zur Kunst und das Problem der Naturhermeneutik, in: Musis et Litteris: Festschrift für Bemhard Rupprecht zum 65. Geburtstag. Hrsg. Silvia Glaser und Andrea M. Kluxen unter Mitarbeit von Volkmar Greiselmayer, München 1993, S.551-566. 2S

26

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

265

der ereignet-entwerfende Sprung in den so allererst entspringenden Ur-sprung und dabei nicht nur das Geschaffensein eines großen Kunstwerks, sondern auch die Kraft, den Stoß des Werkes aufzufangen und zu bewahren. Was die große, geschichtegründende Kunst, wie Heidegger sie vorausdenkt, betrifft, so hat dieser selbst keinen Zweifel, daß wir heute trotz und gerade wegen des wachsenden Kunstbetriebs, der einen wahrhaften Zugang zur Kunst versperrt, keine Kunst haben. 27 Unsere Zeit ist eine Zeit der Kunst-Iosigkeit. Zugleich sieht Heidegger aber im Wissen (das immer aus der Inständigkeit zu begreifen ist) um die Kunst-Iosigkeit die Möglichkeit der Vorbereitung eines anderen Anfangs der Kunst: "Das Wissen aber, dadurch die Kunst-Iosigkeit geschichtlich bereits ist, ohne öffentlich bekannt zu sein und zugestanden zu werden innerhalb einer ständig zunehmenden 'Kunsttätigkeit' , dieses Wissen gehört selbst im Wesen einer ursprünglichen Ereignung, die wir das Da-sein nennen, aus dessen Inständigkeit sich die Zertrümmerung des Vorrangs des Seienden vorbereitet und damit das Un-gewöhnliche und Un-natürliche eines anderen Ursprungs der 'Kunst': der Anfang einer verhüllten Geschichte der Verschweigung einer abgründigen Entgegnung der Götter und des Menschen." (GA 65, S.506)

Das Wissen um die Kunst-Iosigkeit ist das Ausstehen der Not der Seinsverlassenheit und darin das Wissen um die Not-wendigkeit der Kunst - die Notwendigkeit der Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden. Heideggers Wesensentwurf des Kunstwerks in der Kunstwerk-Abhandlung versucht aus dem Wissen um die Kunst-Iosigkeit (Anklang) im Zuspiel mit einer anfänglichen Wesenserfahrung von Kunstwerken des ersten Anfangs weisend vorauszudenken in das Geschehen der Wahrheit im Kunstwerk. Die geschichtegründende Kunst im anderen Anfang kann aus dem Zuspiel des ersten Anfangs nur erahnt werden, denn sie muß, so Heidegger, ''unvergleichlich mit allem Vorigen" (Heidegger-Studies 8, 1992, S.11) sein. "Aber niemand kennt die Gestalt des kommenden Seienden. Nur dies Eine mag gewiß sein: daß jedes Er-denken des Seyns und alles Schaffen aus der Wahrheit des Seyns, ohne den schon behütenden Zuspruch des Seienden, andere Kräfte des Fragens und des Sagens, des Werfens und des Tragens braucht, als sie die Geschichte der Metaphysik jemals hervorbringen konnte." (GA 65, S.431f)

Heideggers Wesensentwurf der Kunst denkt voraus in eine große geschichtegründende Kunst, die ihre Macht noch nicht entfaltet hat. Und keiner wird entscheiden können, ob eine geschichtegründende große Kunst in der Tiefe und dem Ausmaß, wie Heidegger sie aus der Not der Kunst-Iosigkeit entwirft,

27 Vgl. Heideggers Aufzeichnungen in den Heidegger-Studies 8, 1992, S.9, sowie den Vortrag "Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens, in: Distanz und Nähe, S.II-22.

266

B. I. III. Die Bergung

jemals sein wird. Gerade weil Heidegger in das Sein eines noch nicht Seienden vorausdenkt, bleibt sein Wesensentwurf der Kunst ein Anruf ohne Antwort, eine offene Frage. Doch scheint Heidegger sich seiner Sache gewiß: "Dichterische Gründung diesmal vorzubereiten durch denkerisches Wissen." Heidegger-Studies 8, 1992, S.12)

Das andersanfängliche Kunstschaffen braucht danach die denkerische Vorbereitung; es muß sich von dieser in seine anfänglichen Möglichkeiten weisen lassen. Doch woher empfängt Heidegger sein denkerisches Wissen? Mit der Not allein ist es nicht get~. Gleichwesentlich ist das Gespräch mit der Geschichte der Kunst des ersten Anfangs. Im bewahrenden denkerischen Zugang zu großen Kunstwerken des ersten Anfangs geschieht auch eine Rückgründung ihrer Wahrheit in den ihnen selbst denkerisch verborgenen Grund. Dadurch wird die erstanfängliche Kunst im anderen Anfang be-wahrt, bzw. ihr Anfängliches wird allererst als solches eröffnet und offengehalten, und damit wird jenes anfängliche Offene gründend ausgestanden, in dem sich auch alles andersanfängliche Gründen vollzieht. Wenn auch in unserer Zeit eine große Kunst, aufgrund derer ein Volk geschichtlich wird, offensichtlich keine Macht entfaltet, wenn auch der Kunstverstellende Kunstbetrieb unsere Zeit durchherrscht, möchte ich dennoch die Frage offenhalten, ob unser Zeitalter schlichtweg als kunst-los (weil durchwegs dem Ge-stell unterliegend) bezeichnet werden kann. Heidegger selbst hat das lebendige Gespräch mit zeitgenössischen Künstlern gepflegt. 28 Niemand, und die "Öffentlichkeit" zuletzt, wird beweisen können, ob und wo in unserer Zeit schaffend bewahrend Wahrheit ins Werk gesetzt wird. Eine andere Frage, die ich Heidegger stellen möchte, ist, ob eine anfängliche Kunst notwendig als große Kunst eines geschichtlichen Volkes geschehen muß, ob dies im Zeitalter der Weltzivilisation überhaupt möglich ist. Ich möchte damit gleichermaßen in Frage stellen und in der Frage halten, ob das Wesen der modemen Technik heute alle Daseinsbezüge des Menschen durchherrscht und ob es noch eine große Kunst geben kann, die selbiges vermag. 29 Ist der An-

28 Zu Heideggers Auseinandersetzung mit der modemen Kunst und zeitgenössischen Künstlern (van Gogh, Cezanne, Klee) vgl. H. Petzet: Auf einen Stern zugehen: Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger 1929-1976, Frankfurt a.M. 1983, S.141-167; O. Pöggeler, Heidegger und die Kunst, in: Kunst, Politik, Technik, S.59-84; ders.: Neue Wege mit Heidegger, S.303-31O; und D. Jähnig: Die Kunst und der Raum, in: Erinnerungen an Martin Heidegger, Hrsg. G.Neske, Pfullingen 1977, S.131-148. 29 In eine ähnliche Richtung fragt auch Pöggeler: "Führt die Sorge um das Eigene und das Eigentliche nicht dazu, die heutige Welt allzusehr als einen Verschlossenheitszusammenhang zurückzustoßen, so aber das Miteinander von Kunst und Technik unangemessen zu bestimmen?" (Wächst das Rettende auch? Heideggers letzte Wege, in:

§ 16. Die Kunst als ausgezeichnete Bergungsweise

267

spruch des Wesens der modemen Technik der alleinige, der uns heute anspricht? Walten in und neben diesem nicht auch andere, anfänglich wegweisende Ansprüche? Durchkreuzen sich in unserer Zeit nicht verschiedene Bereiche der Geschichte und ihre Wahrheit? Dazu gehört die Frage, wonach sich das wahrhafte Geschehen einer Zeit bemißt: nach ihren einzelnen schöpferischen Kräften und Werken oder nach der vordergründig sich breitmachenden Öffentlichkeit? Gehört nicht beides zusammen, so wie zum Wesen der Wahrheit immer auch die Verstellung gehört? Wie auch immer man sich zu Heideggers Entwurf einer andersanfänglichen großen Kunst stellen mag, zweifellos hat er neue ursprüngliche Wege zur denkerischen Auseinandersetzung mit der Kunst eröffnet und die Notwendigkeit der Gründung im geschichtlichen Da-sein aufgezeigt. Heideggers Denken und denkerischer Versuch der gründenden Bergung wandelt sich, wie bekannt, in dem sogenannten "topologischen Denken" seiner Spätwerke, das aber die in den Beiträgen eröffnete Ereignisbahn nicht verläßt. Die Bergung der Wahrheit des Seyns wandelt sich in das Verhältnis von Welt (Geviert) und Ding. Diesen Wandel gilt es im folgenden zu begreifen. Es sei dafür zum Abschluß dieses Paragraphen nochmals zusammenfassend dargelegt, wie die Bergung aus der Gründung im achtfältigen Wesensgefüge des Ereignisses zu denken ist. Im durch die Not der Seinsverlassenheit im Zuspiel des ersten Anfangs emötigten Sprung in die abgründige Wahrheit des Seyns eröffnet sich im Gegenschwung von ereignendem Zuwurf des Seyns und ereignetem Entwurf des Da-seins die Zerklüftung des Seyns. Im Da-sein erschließt sich aus der Ereignung die Notschaft des Gottwesens, welches für seine Götterung das Seyn und seine Gründung im Da-sein braucht. In der Er-eignung kommen Götter und Menschen in ihre Geschiedenheit hervor und werden durch die Zueignung des Gottes an den Menschen und durch die Übereignung des Menschen an die Götter aus dem Ab-grund in ihre Ent-gegnung gebracht. Diese Ent-gegnung ist der Ursprung für den ent-setzenden Entzug, in dem durch die Verweigerung des Seyns der Mensch seiner Verlorenheit in die bloße Seiendheit ent-setzt wird. Der Mensch erfährt sich im ent-setzenden Ent-zug als ver-rückt in die Ungewähnlichkeit des Seyns gegenüber dem Seienden. Im ent-setzenden Entzug lichtet sich der Streit von Welt und Erde als ein im Seienden zu verwahrender in der Weise des Sichzurückstellens der welthaften Bezüge in die sichverschließende Erde. Die Verwahrung der Wahrheit des Seyns im Streit von Welt und Erde geschieht in der schaffenden und bewahrenden Inständigkeit durch die

Kunst und Technik, S.7)

268

B. 1. III. Die Bergung

Hervorbringung und die bewahrende "Übernahme der Begegnung des Leblosen und des Lebendigen" (GA 65, S.7l). In der Kunst geschieht die Bergung der Wahrheit durch das schenkend gründend anfangende Stiften, welches der gründende Entwurf des Da-seins ist, das in der Notschaft des Gottwesens ereignet wird zur Gründung der Wahrheit des Seyns. Das Stiften ist zu denken aus der Ereignung als gründender Ent-wurf (Loswurf) des Wurfs der Wahrheit des Seyns selbst. Stiftend werden die verborgenen Bestimmungen der Geschichte eines Volkes entwerfend in die Erde zurückgeborgen, so daß in solchem Stiften der Streit von Welt und Erde und die Geschichte des Menschen ihren Anfang nehmen. § 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

a) Der Vortrag ''Das Ding" vor dem Hintergrund der Beiträge Obgleich Heidegger in den Beiträgen die Bergung aus dem Da-sein als "gleichzeitiges" Geschehen von Ereignung und Bergung denkt, faßt er sie sprachlich als ein Verhältnis von Ursprung (Wahrheit des Seyns) und Entspringendem (Welt und Erde, das "Seiende"), was wieder den Gedanken eines Fundierungsverhältnisses nahe legen könnte. Es soll nun im folgenden gezeigt werden, daß der in den Beiträgen auftauchende Gedanke der Gleichzeitigkeit von Wahrheit des Seyns und bergendem Seienden im topologischen Denken radikaler denkerisch-sprachlich vollzogen wird aus dem Loswurf in das Dasein30 als dem Ort, in dem das Verhältnis von Sein und Ding sich entfügt. Dies kann sich, vom vorstellenden Denken her gesehen, als eine "Verflachung" darstellen, was einige Heidegger-Interpreten dazu verleitet hat, von einer "Ontizität" des topologischen Denkens zu sprechen3' • Damit soll wohl die radikale

30 K. Fischer faßt in: Abschied. Die Denkbewegung M. Heideggers (Würzburg 1990) die Seinstopologie als "das konstruktive Gegenstück (Ankunft) zur seinsgeschichtIichen Destruktion (Abschied)" (S.xVIIIf). Wenn mir eine solche Gegenüberstellung auch zu simplifizierend erscheint und das seynsgeschichtliche Denken nicht durchwegs als destruktiv bezeichnet werden kann, würde ich zustimmen, daß das seynsgeschichtliche Denken im Umkreis der Beiträge stärker als das topologische Denken aus einer Absetzung gegen die Metaphysik spricht (Abschied von der Metaphysik), während das Geviertsdenken in höherem Maße eingelassen ist (Ankunft im Anfänglichen) in das Dasein. Andererseits gehört die Bergung, die im topologischen Denken vollzogen wird, in die Gründung, wie sie in den Beiträgen andersanfänglich (also in der Ankunft) gedacht wird. 31 So Ute Guzzoni in: Identität oder nicht. Zur kritischen Theorie der Ontologie, München 1981, S.222; und K. Bohrmann in: Die Welt als Verhältnis (Frankfurt a.M.

§ 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

269

Gleichursprünglichkeit von Welt und Ding (Sein und Seiendem) hervorgehoben werden, was auch mein Anliegen ist. Aber der Begriff "ontisch" stiftet hier nur Verwirrung, denn auch das Geviertsdenken ist wesentlich und radikal Seinsdenken bzw. Ereignisdenken, und darf nicht mit einer naiven Beschreibung oder ''Erfahrung'' von Seiendem verwechselt werden. Im Sprung in die Wahrheit des Seyns wird das Seiende dem Seyn "geopfert" und erhält von diesem aus sein ursprüngliches Wesen anfänglich zurück. Wir werden in diesem Paragraphen besonders auf das Verhältnis von Welt und Ding im Geviertsdenken eingehen. Im nächsten Paragraphen (§ 18) soll dann das Verhältnis von Mensch (Denken) und Geviert näher erörtert werden. Der Vortrag "Das Ding", der den Ausführungen dieses Paragraphen zugrundeliegt, gehört in den Bremer Vortragszyklus "Einblick in das was ist" von 1949. Der Vortragszyklus ist vor kurzem im Bd 79 der Heidegger Gesamtausgabe erschienen. Eine fast identische, nur leicht überarbeitete Fassung des Vortrags liegt im einzeln erschienenen Band Vorträge und Aufsätze vor. Sie wird im folgenden als Textgrundlage dienen. In Zur Sache des Denkens verweist Heidegger auf die Bremer Vorträge als zu den Wegen in das Ereignis gehörige (ZSD, S.38f). Der Ding-Vortrag ist demnach als ein Weg in das Ereignis zu begreifen, dessen erste fugenmäßige Durchgestaltung in den Beiträgen vorliegt, was ebenfalls in Zur Sache des Denkens angedeutet wird (ebd., S.46). Der Ding-Vortrag ist der erste Vortrag des Bremer Vortragszyklus. Auf ihn folgt der Vortrag "Das Ge-stell", dann der Vortrag "Die Gefahr" und schließlich der letzte Vortrag "Die Kehre". Ein Blick auf das Ganze der Vortragsreihe erlaubt eine erste Anzeige dessen, in welchem seynsgeschichtlichen Kontext der Ding-Vortrag eingebettet ist. Der Vortrag "Das Ge-stell" thematisiert die Herrschaft des Wesens der modernen Technik in der die Endzeit der Metaphysik prägenden Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit des Seienden als der Verwahrlosung des Dinges. Der Vortrag "Die Gefahr" bedenkt die in dem Ge-stell waltende Not der Notlosigkeit und somit die äußerste Gefahr des Geschichtsverlusts. Der (ebenfalls bereits einzeln veröffentlichte) Vortrag "Die Kehre" weist auf, wie in der äußersten Gefahr durch die Anerkenntnis derselben (als der Not der NotIosigkeit) und durch den Einblick in das seynsgeschichtliche Wesen des Ge-stells die Möglichkeit einer Rettung liegt, im Sinne einer ursprünglichen Bergung der

1983), S.ll und S.l6. U. Wenzel spricht in seinem Buch: Die Problematik des GIiindens beim späten Heidegger. GIiinden in einer weltlichen Bezugshaftigkeit als "anderes GIiinden" (Rheinfelden 1986) von einem "ontischen GIiinden", im Gegensatz zur metaphysisch verstandenen Ontologie, im späten Denken Heideggers, ebd., S.35f.

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B. 1. III. Die Bergung

Wahrheit des Seyns als Welt in das Ding. Die Kehre nennt hier die Kehre aus der Vergessenheit des Seyns in die andersanfängliche Wahrheit des Seyns32 • Dem voran stellt Heidegger einen anfänglichen denkerischen Wesensentwurf der Bergung der Wahrheit des Seyns in das Ding, das jetzt nicht wie in der Kunstwerk-Abhandlung das Naturding gegenüber dem Zeug meint, sondern alles erdhaft Seiende. Dieser Wesensentwurf hat denkerisch bereits die Kehre vollzogen, in die die drei folgenden Vorträge münden, bzw. zeigen die drei folgenden Vorträge den seynsgeschichtlichen Weg aus der Seinsvergessenheit als der Verwahrlosung des Dinges in dessen mögliche anfängliche Bergung. Sie bewegen sich seynsgeschichtlich übergänglich vor allem in den Fugen des Anklangs und des Zuspiels. Der Ding-Vortrag hingegen gehört vorrangig zur Gründung. Aber auch diesem Vortrag schickt Heidegger einen Hinweis vorweg, der den Ausbleib von Nähe und Ferne im abstandlosen Zeitalter der modernen Technik (Machenschaft) bedenkt, welche durch die Beseitigung jeder Möglichkeit der Ferne (Schnelligkeit, Fernseher) auch die Möglichkeit der Nähe zu den Dingen vertreibt. 33 Die Nähe west im Nähern von Welt, in der Ereignung von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen. Der Ausbleib der Nähe ist Seinsverlassenheit des Seienden. Daß zur Nähe gleichermaßen die Ferne gehört, weist in das Ereignis als den Unter-Schied. In der Ferne liegt der Entzug, aus dem das Ereignis ereignet bzw. nähert. Solches Nähern geschieht in der Versammlung des Gevierts (Erde, Himmel, Sterbliche, Göttliche) im Ding, das die nähernde Nähe verwahrt. E. Kettering hat in seinem Buch "Nähe,,34 diesen Grundbegriff des Heideggerschen Denkens in seiner Vieldimensionalität erörtert und hat gezeigt, wie er als Bezug von Sein und Menschenwesen zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund der Beiträge ist die nähernde Nähe im späten Denken Heideggers zu begreifen als der Zeit-Spiel-Raum des Da-seins, als die Augenblicksstätte der Wendungsmitte der Kehre im Ereignis. b) Das versammelnd ereignende Verweilen des Gevierts im Ding Im Ding-Vortrag geht Heidegger den Weg, die Nähe in der Nähe zu den Dingen aufzusuchen. Er fragt deshalb zunächst nach dem Ding, was und wie dieses an ihm selbst und von ihm selbst her ist. Als Beispiel wird ein Krug gewählt. Gefragt wird nach dem Krug als einem Insichruhenden und Selbständigen. Denn nur wenn wir den Krug als solchen bedenken, ist auch die wahrhafte Nähe zu ihm verbürgt. Dies wird weder dadurch erreicht, daß wir

Vgl. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S.42. Dieser Hinweis ist in "Vorträge und Aufsätze" in den Ding-Vortrag integriert. 34 E. Keuering: Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987. 32 33

§ 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

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den Krug bloß als Gegenstand unseres Vorstellens fassen, noch dadurch, daß wir seine Hergestelltheit als Ausgang nehmen (VA, S.l59). Heidegger denkt diesbezüglich vor allem an Platon, der zwar aufweist, daß zur Herstellung eines Dinges dieses zuvor in seinem Wesen (eidos, idea) geblickt werden muß, der aber eben dadurch das Ding in seiner Dingheit doch wieder für ein Herstellen begreift. Das Ding (ein Tisch oder ein Krug) wird dabei noch nicht im neuzeitlichen Sinne als Gegenstand eines vorstellenden Sichzustellens begriffen, sondern als Gegenstand des Herstellens bzw. als ''Herstand''. Mit diesem Wort denkt Heidegger "einmal das Her-Stehen im Sinne des Herstammens aus ... , sei dies ein Sichhervorbringen [physis] oder ein Hergestelltwerden [poiesis, techne]; zum andem das Her-Stehen im Sinne des Hereinstehens des Hervorgebrachten in die Unverborgenheit des schon Anwesenden [also das Anwesen in der a-letheia]" (ebd., S.160),

Alles Vorstellen im weitesten Sinne des Herständigen bei Platon sowie des neuzeitlich gedachten Gegenständigen gelangt, so Heidegger, "nie zum Ding als Ding" (ebd., S.161). Nun, wie gelange ich dann zum Ding als Ding? Welches ist der Weg zum Krughaften des Kruges an ihm selbst und von ihm selbst her? An dieser Stelle setzt Heidegger, ähnlich wie in der Zeuganalyse von Sein und Zeit, mit einem alltäglichen Verständnis des Kruges an, aus der Weise, wie er uns im natürlichen, vortheoretischen Umgang vertraut ist. Der Zugang zum Krug wird dort gesucht, wo wir zunächst und zumeist bei ihm sind, wenn wir mit ihm umgehen: Der Krug ist ein Gefäß, das wir mit Wein oder Wasser füllen können. Wenn wir ihn füllen, erfahren wir ihn als fassenden. Sein Fassendes beruht aber nicht in Wandung und Boden, sondern in seiner Leere, denn wir gießen den Wein ja nicht in den Boden, sondern in die Leere. Folglich gestaltet der Töpfer, der den Krug herstellt, nicht Wand und Boden, sondern die Leere. "Für sie, in sie und aus ihr bildet er den Ton ins Gebild. Der Töpfer faßt zuerst und stets das Unfaßliche der Leere und stellt sie als das Fassende in die Gestalt des Gefäßes her." (ebd.)

Bevor Heidegger weiter dazu übergeht, das Wesen des Kruges aus seiner fassenden Leere zu begreifen, läßt er in Form eines Einwands die Physik auftreten, die heutzutage als die Erkenntnisweise anerkannt ist, die uns die Gegenstände in ihrer meßbaren Wirklichkeit zu erklären vermag. Physikalisch begriffen ist die Leere des Kruges mit Luft gefüllt, die in dem Augenblick, da wir den Krug füllen, durch eine Flüssigkeit verdrängt wird. Wie der Krug als Gegenstand in seiner Wirklichkeit zu fassen ist, ist für die Physik aus ihrem physikalischen Gesichtspunkt und dem durch ihn eröffneten Horizont her im

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B. 1. III. Die Bergung

vorhinein entschieden. An Stelle eines mit Wein gefüllten Kruges setzt sie einen Hohlraum, in dem sich Flüssigkeit ausbreitet. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise löst die Dinge aus dem heraus, wie wir zunächst bei ihnen sind, und macht den Krug, so Heidegger, zu etwas "Nichtigem" (ebd., S.162). In ihrem Anspruch, allein die Wirklichkeit des Dinges zu treffen, "vernichtet" sie das Ding als Ding, dessen Wesen verborgen und vergessen bleibt. Der verstehende Umgang mit dem Krug läßt uns dagegen erfahren, daß dieser ein Gefäß ist durch seine fassende Leere. Diese faßt, insofern sie den Wein, den wir in sie gießen, nimmt und behält. Der Krug dient aber dazu, Wein, Wasser oder andere Getränke auszugießen. Er hat, mit Sein und Zeit gesprochen, sein Bewenden beim Ausgießen. Folglich sind das Nehmen und Einbehalten einheitlich vom Ausgießen her bestimmt. Das Ausgießen nennt Heidegger ein Schenken, in dem gleichwohl mehr liegt als das bloße Ausgießen. Das Schenken versammelt das zwiefache Fassen (Nehmen und Behalten) in das Ausgießen. Das Versammeln wird im Deutschen durch die Vorsilbe "Ge-" ausgedrückt. Das Schenken, in dem der Krug in seinem Was- und Wiesein ist, in dem sich seine nehmend behaltende Leere umwillen des Ausgießens versammelt, ist ein Ge-schenk: "Das Krughafte des Kruges west im Geschenk des Gusses." (ebd., S.I64) Aus dem Geschenk des Gusses, welches das Wesen des Kruges ist, entfaltet Heidegger die vier welthaften Grundbezüge, die in sich einig das Geviert genannt werden. Sofern das Geschenk des Gusses uns Wasser oder Wein zu trinken gibt, ist es ein Trunk. In diesem Trunk, zu dem wir aus unserem nächsten Sein bei dem Krug über die fassende Leere des Kruges gelangt sind, weilen Erde und Himmel, Sterbliche und Göttliche. Die vier sind nicht neben dem Geschenk des Gusses, so daß dieses auf jene (oder umgekehrt) mittels einer Gedankenassoziation oder eines bloßen Verweises "bezogen" ist. "Weilen" ist ein Seinsbegriff, der in sich zeitlich und räumlich ist: wir weilen an einem Ort, d.h. wir sind an einem Ort (im weitesten Sinne). Erde und Himmel, die Sterblichen und die Göttlichen sind im Geschenk des Gusses, im Wesen des Kruges. Wie dies? "Im Wasser des Geschenkes weilt die Quelle. In der Quelle weilt das Gestein, in ihm der dunkle Schlummer der Erde, die Regen und Tau des Himmels empfängt. Im Wasser der Quelle weilt die Hochzeit von Himmel und Erde. Sie weilt im Wein, den die Frucht des Rebstocks gibt, in der das Nährende der Erde und die Sonne des Himmels einander zugetraut sind. Im Geschenk von Wasser, im Geschenk von Wein weilen jeweils Himmel und Erde." (ebd., S.l64f)

Denken wir einen Augenblick zurück an die Kunstwerk-Abhandlung. Was hat sich gewandelt? Heidegger denkt im Ding-Vortrag die Erde offensichtlich in einem engeren Sinne als in der Kunstwerk-Abhandlung. Die Erde nannte in

§ 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

273

dieser ein Vielfaches; Sie nannte 1. gleich der griechischen physis das Aufgehen des naturhaft Seienden, zu dem gleichermaßen der Stein, die Tiere und das Wetter gehörte. Der Himmel gehörte mit zur Erde in ihrem naturhaften Aufgang. Sie nannte 2. im Streit von Welt und Erde das Sichverschließende, in das die Welt sich zurückstellt. Sie nannte 3. den heimatlichen Grund eines geschichtlichen Volkes und nannte 4. das 'Dinghafte", das uns metaphysisch als das "Stoffliche" bekannt ist und sich dennoch nicht in diesem erschöpft. Die im Trunk des Kruges weilende Erde kommt der ersten Bedeutung der Erde gleich. An einer späteren Stelle des Ding-Vortrags spricht Heidegger grundsätzlich von der Erde als der bauend Tragenden, der nährend Fruchtenden, "hegend Gewässer und Gestein, Gewächs und Getier" (ebd., S.170). Und der "Himmel ist der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers" (ebd., S.171).

Auffallend ist, daß Heidegger Erde und Himmel im Andenken an den Krug aus dem Wein und dem Wasser entfaltet, welche als Geschenk des Gusses sind. Der Ton, aus dem der Krug hergestellt ist, bleibt unbeachtet. Er ist schon ganz zu Anfang eingegangen in die fassende Leere, die nehmend behaltend ausgießend als Geschenk des Gusses sich erweist. Denke ich an den Ton, aus dem der Krug hergestellt ist, dann bin ich in einen vorstellenden Bezug zum Krug getreten. Der Ton erscheint mir als der Stoff, aus dem der Krug geformt ist. Dadurch, daß sich Heidegger ganz im Sein beim Krug hält, beim nächsten Umgang mit ihm, und die Hergestelltheit des Kruges abblendet, wird die metaphysische Vorstellung des Kruges als einem Gegenstand ferngehalten. Bleiben wir also mit Heidegger möglichst nahe beim Krughaften des Kruges als einem Geschenk des Gusses: Das Wasser des Kruges labt den Durst, der Wein erquickt die Muße. Durst und Muße sind des Menschen als des Sterblichen. Das Geschenk ist ein Trunk für die Sterblichen. Das Geschenk des Gusses kann aber auch den Göttern gespendet werden. Dann ist der Guß des Kruges "der den unsterblichen Göttern gespendete Trank" (ebd., S.165). Trankopfer gehören anfänglich zu jeder Kultur, und Heidegger sieht gerade im Trank der Götter "das eigentliche Geschenk" (ebd.). Der Hinweis darauf, daß das Wort "Guß" eigentlich Spende und Opfer bedeutet, was das indogermanische "ghu" bezeugt, kann freilich kein Beweis dafür sein, noch will er es. 35 Wir können diese Äußerung Heideggers zunächst nur hinnehmen: "Gießen ist, wo es wesentlich vollbracht, zureichend gedacht und echt gesagt wird: spenden, opfern und deshalb schenken." (ebd.)

35

18 Neu

Zur Bedeutung der Etymologie bei Heidegger siehe den nächsten Paragraphen.

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B. 1. III. Die Bergung

Ob ein Einzelner das genannte Vollbringen, zureichende Denken und echte Sagen vermag, kann nicht bewiesen werden. Formal kann nur festgehalten werden, daß Heidegger das Wesen des Kruges aus seiner erfülltesten Möglichkeit denkt, aus dem Spenden und Opfern des Gusses, das deshalb ein Schenken ist. Der bloße Ein- und Ausschank ist, laut Heidegger, eine Verkümmerung des wesentlichen Schenkens. Der Guß als Trunk und der Guß als Trank sind nicht dasselbe und sind doch in einem Geschenk versammelt: Im Trunk "weilen nach ihrer Weise die Sterblichen" (ebd.). Im Trank "weilen nach ihrer Weise die Göttlichen, die das Geschenk des Schenkens als das Geschenk der Spende zurückempfangen" (ebd). Warum Heidegger hier von einem Zurückempfangen spricht, bleibt zunächst dunkel. "Im Geschenk des Gusses weilen zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Diese Vier gehören, von sich her einig, zusammen. Sie sind, allem Anwesenden zuvorkommend, in ein einziges Geviert eingefaltet." (ebd.,S.165f)

Das Geschenk des Kruges versammelt in Wasser oder Wein Erde und Himmel. Es ist aber Trunk für die Sterblichen und Trank für die Götter. Keiner der vier geht dem Anderen voraus. Doch in ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit als ihrer Einfalt gehen sie allem Anwesenden voraus, auch dem Krug als einem Anwesenden. Und dennoch weilen die Vier im Wesen des Kruges. Mehr noch: Das Geschenk seines Gusses "verweilt" Erde und Himmel, Sterbliche und Göttliche (ebd., S.166) und bringt sie so erst hervor in ihr Eigenes und in ihr Zueinander. "Verweilen ereignet." (ebd.) Nicht der Krug als Anwesender ereignet das Geviert und lichtet die Vier in ihr Wesen, sondern das Wesende, aus dem der Krug ist, was und wie er ist: das versammelnde Geschenk, das Nehmen und Behalten, Leere und Ausgießen versammelt. Diese werden im Geschenk darin versammelt, die Einfalt von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen ereignend zu verweilen in ihr je Eigenes. Wie das Ereignen geschieht, wird an späterer Stelle erörtert. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt zunächst auf dem Versammeln im Geschenk des Kruges: "Das Wesen des Kruges ist die reine schenkende Versammlung des einfältigen Gevierts in eine Weile." (ebd.) Durch den Hinweis auf ein Bedeutungsmoment des althochdeutschen "thing", in dem dieses auch "Versammlung" heiße6 , fordert Heidegger uns auf, fortan das "Ding" im Sinne der erörterten Versammlung zu hören:

36 Heidegger spricht von der "Versammlung zur Verhandlung einer in Rede stehenden Angelegenheit, eines Streitfalls" (ebd., S.167).

§ 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

275

"Der Krug west als Ding. [... ] Das Ding dingt. Das Dingen versammelt. Es sammelt, das Geviert ereignend, dessen Weile in ein je Weiliges: in dieses, in jenes Ding." (ebd., S.166)

Das so verstandene Ding hat nichts mehr mit einem vorgestellten Seienden zu tun,37 Ding heißt Versammeln. 'Das Ding dingt" (ebd.) heißt: Das Versammeln versammelt. Gemeint ist aber ein Versammeln, wie es im Wesen des Kruges geschieht, ein versammelnd ereignendes Verweilen des Gevierts nicht irgendwo und überhaupt, sondern in ein je Weiliges; und dies ist ein bestimmtes Ding. Im scheinbar tautologischen Satz: "Das Ding dingt" ist das Ding als ein je Weiliges aus dem Dingen als einem ereignend verweilenden Versammeln zu begreifen. Wir finden hier dieselbe Gedankenbewegung wie in der Sage: "Das Seyn ist", wo das Seyn aus dem "ist" in dieses zurückgesprochen wird. Der Krug dingt nicht, d.h. er versammelt nicht ereignend das Geviert in eine Weile, weil er ein "Ding" ist, sondern: "Der Krug ist Ding, insofern er dingt. Aus dem Dingen des Dinges ereignet sich und bestimmt sich auch erst das Anwesen des Anwesenden von der Art des Kruges." (ebd., S.170)

Was und wie der Krug als Anwesender ist, bestimmt sich aus dem im Geschenk des Gusses geschehenden Versammeln seines zwiefachen Fassens und Ausgießens, das im vorhinein darin versammelt ist, das Geviert ereignend zu verweilen. Der Krug als Ding, also in seiner ausgezeichneten Seinsweise, bestimmt sich, mit Sein und Zeit gesprochen - und dies nur anzeigend -, aus seinem WorumwiIIen, also aus dem, worin er im vorhinein versammelt ist, und dieses ist das ereignende Verweilen des Gevierts in ihm als Ding. Doch was besagt genau dieses Verweilen? Es wurde auf es bereits als ein Seinsbegriff hingewiesen, der zugleich einen zeithaften und einen räumlichen Sinn birgt. Heidegger begreift nun dieses Verweilen als ein Nahebringen oder Nähern und dieses ist das Wesen der Nähe, die Weise, wie sie geschieht. "Das Ding dingt. Dingend verweilt es Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen; verweilend bringt das Ding die Vier in ihren Fernen einander nahe." (ebd.)

Verweilend werden die Vier nicht einfach durch das Versammeln des Dinges einander nahe gebracht, sondern zugleich in ihren Fernen zueinander bewahrt. In der nähernden Nähe lichten sich Erde und Himmel, die Göttlichen und die

37 Wir verzichten hier auf Heideggers Erörterungen, wie sich die Bedeutung des Dinges in der Metaphysik mit der Auslegung des Seienden wandelt. Siehe dazu ebd., S.167-170.

1S'

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B. 1. III. Die Bergung

Sterblichen in ihrem je Eigenen zueinander. Das Nähern geschieht nur im Wahren des Femen. In ihm öffnet sich die Dimension des Gevierts. Sie öffnet sich im ereignend-versammelnden Verweilen des Dinges. Das Nähern begegnete uns bereits im § 12 aus dem späten Vortrag Heideggers Zeit und Sein, wo die Nähe als ein Reichen von Zeit (Anwesen) im Verweigern des Gewesen und im Vorenthalt des Kommens entfaltet wird. Die verweigernd-vorenthaltende Nähe "gewährt das Offene des Zeit-Raumes und verwahrt, was im Gewesen verweigert, was in der Ankunft vorenthalten bleibt" (ZuS, S.16). Vor dem Hintergrund der Beiträge erwies sich die nähernde Nähe als das sichentziehende zeitigend-räumende Ereignen in der entrückend berükkenden Lichtung der Wahrheit des Seyns. Im Dingen des Dings wird das Geviert aus der Entrückung versammelt und aus der Berückung in den Umhalt ereignet, im Offenen eines Jeweiligen. Das versammelnd-ereignende Verweilen des Gevierts geschieht als zeit-räumliches Sichlichten und Offenhalten des ZeitRaums als der Augenblicksstätte des Da-seins, als nähernde Nähe im Dingen des Dings. Im versammelnd-ereignenden Verweilen werden Erde und Himmel, Sterbliche und Göttliche einander genähert in ihrem Femen, so daß die Nähe (das Ereignen) nähernd sich entzieht (im Femen) (VA, S.170). Hier wird wieder unausdrücklich auf den Unter-Schied im Wesen des Ereignisses verwiesen: Das Femen wahrend, verbirgt die Nähe sich und waltet dennoch als das Dingen des Dings in dem versammelnd-ereignenden Verweilen des Gevierts. c) Die Welt als Spiegel-Spiel des Gevierts Es gilt nun zu sehen, wie Heidegger im Ding-Vortrag das Ereignen des Gevierts denkt. Er denkt e\ als das Spiegel-Spiel des Gevierts. Das Ereignen spielt im Verhältnis des Gevierts in der Weise eines Spiegelns: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen spiegeln jeweils, jedes nach seiner Weise, das Wesen der übrigen wider, und spiegelp sich dabei, jedes nach seiner Weise, in ihr Eigenes innerhalb der Einfalt des Gevierts zurück (ebd., S.l72). Die Erde ist nur Erde unter dem Himmel für die Sterblichen vor den Göttlichen. Der Himmel ist nur Himmel über der Erde für die Sterblichen vor den Göttlichen. Die Sterblichen sind nur, indem sie auf der Erde und unter dem Himmel wohnen und die Göttlichen erwarten. Die Göttlichen erscheinen nur im Wohnen der Menschen auf der Erde unter dem Himmel. Das Wort "Spiegeln" hat den Vorzug, die Einfalt des Gevierts zugleich mit dem Eigenen und so jeweils Anderen der Sichspiegelnden zu nennen: Das

§ 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

277

Gespiegelte gehört wesensmäßig zum Spiegelnden und wirft als ein Anderes das Spiegelnde auf sich zurück. Das Spiegeln nennt das ereignende Sichlichen der Vier aus ihrem Spiegelverhältnis. Das Spiegeln hat hier einen wesentlich anderen Sinn als bei Leibniz, an den man erinnert sein könnte. Bei Leibniz spiegeln die Monaden, die einfachen Substanzen, die allem Seienden zugrundeliegen, jeweils jede einzig und auf ihre Weise das Universum alles Seienden wider durch ihre Verknüpfung und Anpassung aneinander, die in ihrem Geschaffensein durch Gott gründees. Das Spiegeln ist hier zum einen von einer einfachen Substanz als dem Zugrundeliegenden gesehen, wohingegen bei Heidegger die vier Weltgegenden aus dem Spiegel-Spiel erst in ihr Eigenes hervorgehen. Zum anderen gründet das Seiende, sein monadisches Sein und die Verknüpfung desselben untereinander bei Leibniz in dem Schöpfergott als dem zureichenden Grund. Dagegen hat das Ereignen des Gevierts im Dingen des Dinges keinen (seienden oder Seins-) Grund, aus dem her es Himmel und Erde, Sterbliche und Göttliche ereignet. Das Ereignen im Spiegel-Spiel des Gevierts ist metaphysisch gesehen grundlos. Und doch ist es in sich ein abgründiges Gründen, denn es vereignet die Vier, sie lichtend (freigebend) in ihr Eigenes zueinander (bindend): "Das ereignende Spiegeln gibt jedes der Vier in sein Eigenes frei, bindet aber die Freien in die Einfalt ihres wesenhaften Zueinander." (VA, S.I72)

Das Freigeben in das Eigene im Spiegel-Spiel nennt Heidegger auch ein Enteignen (''Ent-'' im Sinne von Freilassen); das Binden zueinander ist ihre Vereignung, innerhalb derer die Vier in ihr Eigenes enteignet werden. Das enteignend vereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen ist aber die Welt (ebd.). In Anlehnung auch an die althochdeutschen Worte "ring" und "gering", was "schmiegsam, schmiedbar, geschmeidig, fügsam, leicht heißt" (ebd., S.173), begreift Heidegger das Spiegel-Spiel der Welt als "Gering": "Das Spiegel-Spiel der weItenden Welt entringt [entfügt] als das Gering [Gefüge] des Ringes [Fügung] die einigen Vier in das eigene Fügsame, das Ringe ihres Wesens. " (ebd.)

Im Gering der Welt sind die Vier einfältig einander zugetraut. Im ringenden Spiegel-Spiel der Welt ereignet sich die Hochzeit von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen.

38

Leibniz: Monadologie, Abschnitte 53-60.

278

B. 1. III. Die Bergung

Wie sieht nun das Verhältnis von Welt und Ding aus? "Aus dem SpiegelSpiel des Gerings des Ringen ereignet sich das Dingen des Dinges." (ebd.) Das Dingen des Dings ist das versammelnd-ereignende Verweilen des Gevierts bzw. der Welt in ein Ding. Das Dingen nähert Welt. Im Nähern ereignet sich lichtend das Spiegel-Spiel des Gevierts. Es lichtet sich so erst die Welt, in der auch das jeweilige Ding bzw. Seiende aus seinem Dingen als seinem Welt-versammelnden Wesen erscheint. Das Nähern im Dingen des Dings "ist die eigentliche und die einzige Dimension des Spiegel-Spiels der Welt" (ebd., S.174). Wir als die Sterblichen bewohnen die Nähe, wenn wir das Ding aus dem Spiegel-Spiel der Welt in seinem Dingen wesen lassen. Das Denken, das dieses vermag, nennt Heidegger das andenkende Denken. d) Das Verhältnis von Ding und Welt gegenüber dem Streit von Welt und Erde Die Frage nach dem Wesen des Menschen im Geviert und nach dem andenkenden Denken von Welt und Ding ist Thema des folgenden Paragraphen. Wir werden dann auch erst in der Lage sein, zureichend zu erörtern, wie das Geviertsdenken vor dem Hintergrund des Ereignisdenkens zu begreifen ist, bzw. was sich im topologischen Denken Heideggers gegenüber dem seynsgeschichtlichen Denken der Beiträge wandelt. Es soll dennoch bereits jetzt eine Zwischenbetrachtung erfolgen zur Frage nach dem Verhältnis von Ding und Welt (Geviert) gegenüber dem Streit von Welt und Erde, der im Zusammenhang mit der Kunstwerk-Abhandlung thematisiert wurde. Im Verhältnis von Ding und Welt denkt Heidegger in gewandelter Weise das Verhältnis von Sein und Seiendem. Wenn wir so sprechen, laufen wir allerdings Gefahr, uns nur an eine äußere Struktur zu halten, statt im Offenen des Wesensraumes zu verweilen, den Heidegger im Denken des Dingens des Dings und des Weltens der Welt andenkt. Das Dingen ist das versammelndereignende Verweilen des Gevierts in ein je Weiliges, welches selbst aus dem nähernden Verweilen erst als Anwesendes hervorgeht. Das Welten ist das ereignende Spiegel-Spiel des Gevierts. Das Ding ist nicht einfach das Seiende in seinem Anwesen, sondern bleibt, übergänglich metaphysisch gesprochen, eingebettet in das Anwesen aus diesem selbst: Es ist das versammelnde Jeweilige eines versammelnd-ereignenden Verweilens. Dieses selbst geschieht als ereignendes Spiegel-Spiel des Gevierts. Sein ist das Welten der Welt als ereignend entfügendes Spiegel-Spiel von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen im Dingen eines je Weiligen. Im andenkenden Denken von Ding und Welt wird das metaphysisch gewohn-

§ 17. Die Bergung im Geviert. "Das Ding"

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te Denken in eine seltsame Schwebe versetzt. Die Greitbarkeit des Seienden wird gänzlich entzogen. Wie steht es, so will man fragen, mit der erdhaften Dinghaftigkeit des Dinges, mit dem "Stoff', mit der "Substanz"? In der Kunstwerk-Abhandlung wurde dieses in greitbarerer Weise aus der Erde begriffen. Eine Bestimmung der Erde war die des "Stofflichen" eines Dinges selbst, das aus einer Gestimmtheit jeweilig hervortrat: das Lederne der Schuhe, die Schwere des Steins des Tempels. Der Verweis auf das "Stoffliche" war in der Kunstwerk-Abhandlung allerdings mehr eine Krücke, und es galt vielmehr die Erde in ihrem Aufgehen aus dem Sichverschließen zu begreifen. Die Erde als das Dinghafte des Dinges kam zum Tragen im Werk als einem Hervorzubringenden. Die hervorzubringende Wahrheit muß als Riß (Streit von Welt und Erde) zurückgestellt werden in die bergende Erde: in die ziehende Schwere des Steins, in die stumme Härte des Holzes, usw .. Im Ding-Vortrag thematisiert Heidegger den Krug als Hergestellten nur in destruktiv er Absicht: Bedenken wir den Krug als Hergestellten, so nehmen wir ihn als Herstand oder Gegenstand. Und der Töpfer, der den Krug herstellt, gestaltet nicht den Ton, sondern - die Leere: 'Das Dinghafte des Gefäßes beruht keineswegs im Stoff, daraus es besteht, sondern in der Leere, die faßt." (VA, S.161) Aus der fassenden Leere entfaltet Heidegger dann das Krughafte des Krugs im Geschenk des Gusses, das in seiner Weise das Geviert ereignend versammelnd verweilt. Der Ton des Kruges geht ganz in die fassende Leere des Kruges ein. Das Seiende verschwindet im Sein. Es sei an das im § 14 zur Sage des Seins Erörterte erinnert: Das Seiende ist nicht; nur das Sein ist. Die Entfaltung des Dinghaften des Kruges ist als Sage seines Seins zu begreifen und nicht als Aussage über ein Seiendes. Aus der fassenden Leere bestimmt sich also das Tonhafte des Kruges. Es erscheint erst im Welten des Gevierts, aus dem jegliches Anwesende erst hervorgeht. Im Geviert tritt die Erde nicht im Streit zur "Welt" als die aufgehend Si-· chentziehende auf, sondern wird im Sinne der physis als das Aufgehende und Verschlossene der "Natur" begriffen, das in das Weltgeviert gehört. Der Himmel, der in der Kunstwerk-Abhandlung in der Erde einbehalten bleibt, tritt erst im Geviertsdenken in seinem Eigenen auf. Die Erde entringt sich mit Himmel, Sterblichen und Göttlichen zusammen im Spiegel-Spiel der Welt. Die Erde bildet kein "Gegengewicht" mehr zur Welt, sondern ist freigelassen in ihr Welten. Freilich verschiebt sich dabei auch die Bedeutung der Welt. In der Kunstwerk-Abhandlung nannte sie die Lichtung der Bahnen der wesentlichen Weisungen, in die sich alle Entscheidungen fügen. Sie erfährt im Geviertsdenken eine Weitung. Nicht nur Erde und Himmel, sondern auch die Menschen und die Götter treten erst in ihrem Welten in ihr Eigenes.

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B. I. 1II. Die Bergung

In den Beiträgen geht die Ereignung der Menschen und Götter in die Entgegnung dem Streit von Welt und Erde voraus, sofern erst in dieser Entgegnung aus dem entsetzenden Entzug der Streit von Welt und Erde entspringt. Dieser lichtet sich im Offenen des Da des Da-seins. Das Dasein wurde als sich öffnende Wendungsmitte des Ereignisses erläutert. In ihm treten erst die Ereigneten: Götter und Menschen, in ihr Eigenes, und es lichtet sich durch die inständige Bergung der Streit von Welt und Erde. Im Geviertsdenken wird das in den Beiträgen gedachte Ursprungsverhältnis zwischen der ereignend entscheidenden Entgegnung von Göttern und Menschen und dem entspringenden Streit von Erde und Welt aufgelöst: die Erde und der Himmel (der in den Beiträgen noch als in die Erde einbehalten gedacht wird) lichten sich gleichursprünglich mit Göttlichen und Sterblichen. Die Welt aber nennt das Offene des Da, das in der ereignend-entscheidenden Entgegnung als das Spiegel-Spiel sich lichtet. Wie steht es dabei mit dem Gedanken der Verwandlung des Wesens der Wahrheit in den Streit von Erde und Welt durch das Wesen des Seyns als Unter-Schied? Wie steht es, mit anderen Worten, mit dem Streit von Erde als der Sichverschließenden und Welt in ihrem Sichlichten? Heidegger scheint diesen Denkweg aus den Holzwegen nicht weitergegangen zu sein. Er bricht jäh, wie ein Holzweg, im Unbegangenen ab. Nirgends finden wir die Rede davon, daß die Erde in ihrem Sichverschließen danach trachtet, die Welt in sich einzubeziehen. Dennoch bleibt im Geviertsdenken die verschlossene Dimension der Erde verwahrt, wenn Heidegger etwa vom "dunklen Schlummer der Erde" (VA, S.l64) spricht oder, in Bauen, Wohnen, Denken, vom Hineingebreitetsein der Erde in Gestein und Gewässer (ebd., S.143). Selbst im Aufgehen der Erde in "Gewächs und Getier" (ebd., S.170) schwingt das Verschlossene der Erde mit. Es muß zudem auch im Ding das Erdhafte mitgedacht werden: Gerade durch das Absehen vom Tonhaften des Kruges hin zur fassenden Leere tritt das Sichverschließende der Erde als solches hervor. Nur in diesem sich Verschließen des Tonhaften öffnet sich die Welt-versammelnde ''Leere'' des Dings. Das Sichentziehen des Seyns im Wesen der Wahrheit wird weiterhin im Ereignen gedacht. Im ereignenden Spiegel-Spiel der Welt entzieht sich das Ereignen zugunsten des ereigneten Gevierts (nicht zugunsten des Seienden als eines Anwesenden, wie in der Metaphysik). Im versammelnd-ereignenden Verweilen des Gevierts nähert die Nähe und verbirgt sich dabei selbst. Doch wenn wir in der Nähe als der zeit-räumlichen Dimension des Gevierts wohnen, so lassen wir mit ihrem Nähern auch ihr Verbergen das Offene des WeltGevierts durchschwingen. Das Sichverbergen schwingt gleichermaßen in der Erde, im Himmel, in den Sterblichen, die den Tod als Tod vermögen und so das Nichts bewahren, und in dem verborgenen Walten der Gottheit im Wink

§ 18. Das schonende Wohnen im Geviert

281

der Göttlichen. 39 Jedes verwahrt im Spiegel-Spiel der Welt das Geheimnis des Sichentziehenden auf je eigene Weise. Der Bezug zum Sichverschließen im Wesen der Wahrheit wandelt sich gegenüber dem seynsgeschichtIichen Denken der Beiträge von einem Ausstehen des Widerständigen zum gelassenen Waltenlassen des Geheimnisses des Seyns im Dingen des Dings. Dieser Wandel läßt sich aus einer Radikalisierung der Inständigkeit im Da-sein begreifen, aus einer Radikalisierung des Los-wurfs vom Seienden in das Da-sein als einem Aufenthalt bei den Dingen, was aus dem folgenden Paragraphen noch deutlicher hervorgehen wird. § J 8. Das schonende Wohnen im Geviert. "Bauen, Wohnen, Denken"

a) Das Wohnen als der Grundzug des Menschseins Der Vortrag Bauen, Wohnen, Denken 40 von 1951 geht den Weg, das Bauen aus dem Wohnen als dem Sein des Menschen im Geviert zu entfalten. Er ist in zwei Abschnitte gegliedert, deren erster nach dem Wohnen und deren zweiter nach dem Bauen als einer Weise des Wohnens fragt. Da es in diesem Paragraphen mit Blick auf die Rolle des menschlichen Daseins im gründenden Bergen des Gevierts um eine Erörterung der Frage nach dem Wohnen des Menschen im Geviert geht, wendet er sich vorzüglich dem ersten Abschnitt des Vortrags zu. Auch hier weist Heidegger zunächst auf unser gängiges Verständnis von Bauen und Wohnen hin. Im engen Sinn heißt wohnen für uns, ein Haus bewohnen, darin eine Unterkunft haben. In einem weiteren Sinn gehören zum Wohnen aUe vom Menschen errichtete Bauten (Brücke, FlughaUe, Stadion, Kraftwerk, Bahnhof, Autobahn, Staudamm, Markthal1e). Das Bauen, so scheint es, dient zum Wohnen. Doch genau dieses Mittel-Zweck-Schema weist Heidegger zurück, indem er sich der Sprache zuwendet, um sich aus ihr das Maß für das Verständnis des wesenhaften Wohnens und Bauens geben zu lassen. "Der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache, vorausgesetzt, daß wir deren eigenes Wesen achten." (VA, S.I40) Die genannte Voraussetzung ist entscheidend, um Heideggers Zuwendung zur Etymologie zu begreifen, der man aus sprachwissenschaftlicher Hinsicht gern immer wieder Ungenauigkeiten und Willkür vorwirft. Das Wesen der Sprache

39

40

Vgl. zu den Göttlichen den folgenden § 18. Der Vortrag ist in "Vorträge und Aufsätze" erschienen, S.139-156.

282

B. 1. III. Die Bergung

ist zu begreifen aus dem Seyn selbst, das, wie bezüglich der Kunstwerk-Abhandlung erwähnt wurde, im stiftenden Entwurf sich immer schon sprachlich entfügt. In diesem Sinne ist die durch den Humanismusbriefberühmt gewordene Rede von der Sprache als dem "Haus des Seins" (GA 9, S.313, 323) zu verstehen. Inständig wohnt der Mensch dichterisch, d.h. sprachlich, in der Lichtung des Seyns. Das Seyn ist nicht in der Sprache als einem Haus eingeschlossen, aber ereignet sich sprachlich. Die Sprache ist des Seyns und deshalb kommt es für das Denken darauf an, auf den Zuspruch des Seyns zu achten und sich nicht an bloße etymologische "Erkenntnisse" zu halten. "Das althochdeutsche Wort für bauen, 'buan', bedeutet wohnen. Dies besagt: bleiben, sich aufhalten." (VA, S.I40) Hier wird zum einen gesagt, bauen heißt ursprünglich wohnen, und zum anderen, wohnen heißt bleiben, sich aufhalten. Stellen wir uns dies als menschliches Verhalten vor, so denken wir zwar Richtiges, aber nach Heidegger noch nicht das Wesentlichste, was im Wort "bauen" spricht. "Bauen, buan, bhu, beo ist nämlich unser Wort 'bin' in den Wendungen: ich bin, du bist, die Imperativform bis, sei." (ebd., S.141)

Das Bauen als Wohnen reicht ursprünglich so weit wie unser Sein. Das althochdeutsche Wort ''buan'' nennt "die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind" (ebd.). Heidegger entfaltet aus dem alten Wort bauen zwei Grundweisen des menschlichen Seins. Denken wir an die Ausdrücke "den Acker bauen, Reben bauen", so zeigt sich uns die eine Weise des bauenden Wohnens: das "hegen und pflegen", das das Wachstum hütet (ebd.). Die andere Weise des bauenden Wohnens ist die herstellende: das Errichten von Werken. Wir erkennen hierin sogleich die zwei Grundweisen der gründenden Bergung, die uns aus der Kunstwerk-Abhandlung als Schaffen und Bewahren bekannt sind, die in den Beiträgen auch als Hervorbringung und Übernahmen der Bergung des Leblosen und des Lebendigen (GA 65, S.71) gefaßt werden und die schon im § 12 von Sein und Zeit als Weisen des In-Seins genannt werden, in die das Dasein sich je schon zerstreut hat (SuZ, S.56). Bauen als Pflegen und Bauen als Errichten sind Seinsweisen des menschlichen Da-seins, Weisen, in denen der Mensch immer schon im Da-sein wohnt. Deshalb bleibt dieses Wohnen im Alltäglichen auch das "Gewohnte" und nicht eigens Beachtete. Es tritt hinter den jeweiligen Tätigkeiten des Pflegens und Errichtens zurück, was darein mündet, daß ''bauen'' in der heutigen Sprache nur noch heißt: ein Gebäude errichten. So kommt es, daß das Wohnen als "Grundzug des Menschseins" weder erfahren noch gedacht wird (VA, S.142). Dies gründet in der Seinsvergessenheit. Die Sprache selbst nimmt im Zuge der wachsenden Seinsvergessenheit aus

§ 18. Das schonende Wohnen im Geviert

283

der Seinsverlassenheit die eigentliche Bedeutung des Wortes bauen, das Wohnen, gleichsam zurück. Denn, so können wir hinzufügen: die Sprache ist des Seyns und dieses west anfänglich als Entzug. Es entzieht sich dem erkenntnismäßigen Zugriff. Unser vorerkenntnismäßiges, vortheoretisches Sein bei den Dingen und die Weise, wie wir uns vortheoretisch aussprechen, bildet aber eine Tür, durch die Möglichkeiten eröffnet werden, den anfänglichen Zuspruch des Seins in seinem Schweigen (Sichentziehen) zu vernehmen und in ein anfängliches Entsprechen zu ihm zu gelangen. Heidegger faßt zusammen: 1. Bauen ist eigentlich Wohnen. 2. Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. 3. Das Bauen als Wohnen entfaltet sich zum Bauen, das pflegt, nämlich das Wachstum, - und zum Bauen, das Bauten errichtet. In der Folge wird in Bauen, Wohnen, Denken dazu übergegangen, eindringlicher nach dem Wesen des Wohnens zu fragen, wofür sich Heidegger abermals dem Zuspruch der Sprache zuwendet. Diesmal greift er das altsächsische "wunon" und das gotische "wunian" auf, die ebenfalls (wie das althochdeutsche "buan") das Bleiben, Sich-Aufhalten bedeuten (ebd., S.143). "Wunian" heißt bleiben im Sinne von "zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben" (ebd.). Der Friede steht aber im Zusammenhang mit dem Freien im Sinne des Freiseins von, des Bewahrtseins vor und Geschontseins vor Schaden und Bedrohung. Das "Freien" als Bewahren-vor ''bedeutet eigentlich schonen" (ebd.). Das Schonen haben wir dabei auch und vor allem "aktivisch" zu hören: So wie im Freisein von ein Freilassen zuJin liegt, geschieht das eigentliche Schonen "dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen" (ebd.). Das Geschonte wird so zurückgeborgen in sein Wesen, eingefriedet. "Wohnen, zum Frieden gebracht sein, heißt: eingefriedet bleiben in das Frye, d.h. in das Freie, das jegliches in sein Wesen schont." (ebd.)

Das Eingefriedet-bleiben und das In-das-Wesen-schonen machen zusammen das ursprüngliche Wesen des Wohnens aus. Das Einfrieden wurde bereits als Zurückbergen von etwas in sein Wesen, d.h. in sein Sein gekennzeichnet. Heidegger denkt hier nicht an das Wohnen als Grundzug des Menschseins überhaupt, sondern an ein anfängliches Wohnen, das geborgen bleibt in seinem anfänglichen Wesensraum. Das Bleiben im Freien als dem Offenen des Seins geschieht nur durch die Rückgründung in der Übernahme des Zuwurfs des Seyns. Das Freie, das jegliches in sein Wesen schont, nennt das Offene des Seins als lichtendes Entwerfen.

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B. 1. III. Die Bergung

Im Freien, das jegliches in sein Wesen schont, und im Bleiben im Freien denkt Heidegger die uns aus der Kunstwerk-Abhandlung vertrauten Weisen des Stiftens als Schenkung und Gründung, die im Zusammenhang mit Vom Wesen des Grundes aus der transzendental-horizontalen Blickbahn als Stiften und Boden-nehmen entfaltet wurden und in Verbindung mit dem Entwurf und der Geworfenheit zu sehen sind. 41 Das Schonen, das das Offene des Seins zum voraus in seinem Wesen beläßt, es freigebend und rückgründend, nennt Heidegger den "Grundzug des Wohnens", der dieses "in seiner ganzen Weite" durchzieht (ebd.). Das Wohnen des Menschen in seiner ganzen Weite ist ein solches auf der Erde, unter dem Himmel, vor den Göttlichen und mit den Sterblichen. Das schonende Wohnen des Menschen nennt die Weise, wie die Menschen als die Sterblichen im Geviert eigentlich bzw. inständig wohnen. In Bauen, Wohnen, Denken nennt Heidegger zunächst die vier Weltgegenden im Einzelnen mit Hinweis auf ihre Zusammengehörigkeit, um dann die Weise des Wohnens der Sterblichen jeweils auf der Erde, unter dem Himmel, vor den Göttlichen und mit ihnen selbst zu erörtern. Da wir die vier Weltgegenden in ihrer Zusammengehörigkeit bereits bedacht haben, soll gleich dazu übergegangen werden, das Geviert aus dem Wohnen zu bedenken. b) Das schonende Wohnen im Geviert 1. "Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten,,42 (ebd., S.I44).

Das Retten will Heidegger nicht nur im Sinne des Rettens vor einer Gefahr begriffen haben, sondern auch im Lessingschen Sinne als das Freilassen von etwas in sein eigenes Wesen, also als ein Schonen im erörterten Sinne. Im Retten des Erde wird diese nicht ausgenützt, abgemüht und ausgebeutet. Letztere sind die Weisen, in denen die Erde im Ge-stell als dem Wesen des Seins im Zeitalter der modernen Technik herausfordernd entborgen wird. Die Erde wird im Ge-stell zum Bestand für ein herausforderndes Entbergen, das die Natur hinsichtlich der in ihr gespeicherten Energie ausbeutet. 43

41 P.B.Kraft begeht in seinem Buch: Das anfängliche Wesen der Kunst, Frankfurt a.M. 1984, den groben Fehler, das Stiften in seiner Dreifalt dem Bauen, Wohnen und Denken zuzuordnen (S.38). Demnach sollte das Bauen ein Schenken, das Wohnen ein Gründen und das Denken ein Anfangen sein. Dagegen sind Bauen, Wohnen und Denken als Weisen des Wohnens zu verstehen und dieses anfänglich als dreifältig stiftend. 42 Meine Hervorhebung, auch in den folgenden Punkten. 43 Vgl. Heideggers Vortrag ''Die Frage nach der Technik", in: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962 (bes. S.14ff) und in: Vorträge und Aufsätze, S.l8ff, sowie GA

§ 18. Das schonende Wohnen im Geviert

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Dagegen geschieht im schonenden Wohnen der Sterblichen ein ursprüngliches Entbergen, das die Erde freiläßt in ihr Wesen und sie so pflegend errichtend hervorgehen läßt als die "dienend Tragende" und ''blühend Fruchtende" (VA, S.l43). Die Erde ist ihrerseits die dienend Tragende für das errichtende Wohnen und die blühend Fruchtende für das pflegen