Zur Philosophie der Orientierung 9783110447682, 9783110446951

Orientation is situated at the beginning of all things, without itself being a graspable beginning. Therefore, the Philo

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Zur Philosophie der Orientierung
 9783110447682, 9783110446951

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Die Philosophie der Orientierung und die philosophische Tradition
Weisheit und Orientierung
Raum und Rede. Zum Verhältnis von Topographie und Thema in Platons Phaidros
Beruhigung und Beunruhigung. Über den Umgang mit Unsicherheit bei Epikur und in der Philosophie der Orientierung
Wie kommen die Menschen zur Vernunft? Die Kant-Herder-Kontroverse im Licht der Philosophie der Orientierung
Die Philosophie im Leib
Nietzsche on Nihilism (Eine unersättliche Diskussion?)
Moralische und politische Skepsis. Über den Orientierungswert der Regeln bei Nietzsche
II. Orientierung und Erkenntnis
Zum Selbst der Orientierung
Unsicherheit der Orientierung. Drei Versuche über das Unverfügbare
Quellen der Orientierung
Verstehen als Orientierungspraxis. Eine hermeneutische Skizze
Orientation and Truth in Nietzsche
Orientierung, Perspektive, Wahrheit. Versuch einer Verbindung
III. Orientierung und praktische Philosophie
Paradoxien ethischer und religiöser Orientierung als Neuanfänge des Denkens
Der „Pflock des Augenblickes“. Über die Situation und die Tugenden der Orientierung
Vom Zeichen-Setzen. Moralische Integrität und ethische Souveränität
Wie orientiert Geschichte?
Staat, Demokratie und Rechtssubjekt. Eine Kritik zeitgenössischer Politik
IV. Übergänge und Perspektiven des Orientierungsbegriffs
Triskaidekalog
Dass einer des anderen Kleidung verstehe? Zum Orientierungswert der vestimentären Zeichensprache
Brauchen die wissenschaftliche Psychologie und Psychotherapie philosophische Fluglotsen?
Kompetenz als Schlüsselbegriff der Bildungstheorie. Vorschlag einer orientierungsphilosophischen Fundierung
Der Humor in der Orientierung. Dittsche – Das wirklich wahre Leben
Nachwort
Zur Philosophie der Orientierung. Fragen und Antworten
Siglenverzeichnis
Personenregister

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Zur Philosophie der Orientierung

Zur Philosophie der Orientierung Herausgegeben von Andrea Bertino, Ekaterina Poljakova, Andreas Rupschus und Benjamin Alberts

Gedruckt mit Hilfe der Förderung der Trebuth-Stiftung im Stifter-Verband für die deutsche Wissenschaft.

ISBN 978-3-11-044695-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044768-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044708-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: yogesh_more/iStock/thinkstock Datenkonvertierung/Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Werner Stegmaier begeht am 19. Juli 2016 seinen 70. Geburtstag. Ihn wollen wir zusammen mit anderen Schüler(inne)n, Kolleg(inn)en und Freund(inn)en durch diese Festschrift ehren. Gefördert wurde sie durch die Trebuth-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft. Dafür danken wir herzlich. Das Spektrum der philosophischen Forschung von Werner Stegmaier, deren Ergebnisse in verschiedensten renommierten Reihen und Zeitschriften erschienen sind, ist breit gefächert und sehr vielfältig. Die Hauptwerke seiner wissenschaftlichen Laufbahn lassen sich, neben seiner kontinuierlichen Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche, chronologisch in drei Perioden einordnen: In der Zeit seiner Promotion in Tübingen beschäftigte sich Stegmaier besonders mit dem Substanzbegriff der abendländischen Tradition.1 Danach arbeitete er als Assistent von Josef Simon und Habilitand in Bonn über die weitere Dynamisierung des Substanzbegriffs bei Dilthey und Nietzsche, einen Prozess, für den er den Begriff ,Fluktuanz‘ prägte.2 In den 90er Jahren schließlich rückte der Begriff der Orientierung zusehends ins Zentrum von Stegmaiers philosophischer Forschung – die 2008 erschienene Monographie Philosophie der Orientierung [PO] stellt ohne Zweifel Stegmaiers anspruchsvollsten und gewichtigsten Versuch dar, eine autonome philosophische Position zu entwickeln.3 Unermüdlich hat er sowohl in der Forschung als auch in der Lehre an der Universität Greifswald, in der er über zwei Jahrzehnte das philosophische Denken vieler Student(inn)en und Doktorand(inn)en prägte, zur Klärung des Orientierungsbegriffs, zur Rekonstruktion seiner Geschichte und zu einer vehementen Artikulation der Lebenswelt als Ort von vielfältigen Orientierungsprozessen gearbeitet. Um diese dritte Phase seines Schaffens drehen sich die hier gesammelten Beiträge. Sie sollen die Diskussion über die Ideen der Philosophie der Orientierung sowie über die Denker, die für Stegmaiers Entwicklung dieser Philosophie von Bedeutung waren, weiter stimulieren. Von den früheren Reflexionen über Kants Orientierungsbegriff4 bis zur Monographie von 2008 hat Stegmaier ein Gedankennetz artikuliert, das mit plastischer

1 Der Substanzbegriff der Metaphysik. Aristoteles – Descartes – Leibniz. Diss. Tübingen 1974. Unverändert erschienen unter dem Titel: Substanz. Grundbegriff der Metaphysik (problemata, Bd. 63), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. 2 Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche (Habilitationsschrift Bonn 1990) (Neue Studien zur Philosophie, Bd. 4), Göttingen 1992. 3 Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008. 4 ,Was heißt: Sich im Denken orientieren?‘ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17.1 (1992), S. 1–16.

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 Vorwort

Kraft Intuitionen und Gesichtspunkte von Autoren wie Nietzsche, Wittgenstein, Levinas, Derrida und Luhmann – um nur die wichtigsten zu nennen – in einem bemerkenswert homogenen und originellen Ganzen bündelt. Durch die Übertragung von Grundmetaphern der räumlichen Orientierung in die Dimension des Denkens schafft Stegmaier eine neue philosophische Sprache, mit der er traditionelle Probleme und Fragestellungen neu fassen kann. Wenn philosophische Probleme unlösbar oder endgültig gelöst scheinen, wenn Diskussionen als selbstverständlich abgeschlossen gelten: dann soll die PO zeigen, dass die Belebung von routinierten Sprachspielen durch Kontakt und Kontamination mit anderen, zunächst fremden Sprachspielen zu neuen Interpretationen jener Probleme und Diskussionen, zu neuen Lösungen und Anschlussfragen führen kann. Die Philosophie der Orientierung erinnert Philosoph(inn)en an den lebensweltlichen Ursprung ihres Denkens. Stegmaier zeigt, dass jedes Sich-im-DenkenOrientieren stets ein Handeln ist und als solches bestimmte Lebensbedürfnisse berücksichtigen muss, die nicht nur jene einer abstrakten, allgemeinen Vernunft sind. Hier kommt die lectio von Nietzsche und Dilthey in der Philosophie der Orientierung sichtbar zur Geltung: Die reine Vernunft wird Teil einer zeitlichen, fließenden Realität, und gerade darum ist man auf Orientierung angewiesen. Die PO geht sprachphänomenologisch vor, behält die Alltagsprache stets im Blick und geht häufig von ihr aus. Dadurch kann zwar zunächst der Eindruck entstehen, als biete sie Leser(inne)n keine folgenreichen hermeneutischen Schwierigkeiten. Doch die Einfachheit der Sprache der Philosophie der Orientierung trügt. Obwohl Stegmaiers Philosophie weitestgehend auf Technizismen und ein formales Begriffssystem verzichtet, bringt sie Leser(innen) dazu, Augenmerk auf den ganzen philosophischen Entwurf zu richten. Im Denken Stegmaiers trifft sich – wie auch seine jüngste, gleichzeitig mit dieser Festschrift erscheinende Monographie zeigt5 – Nietzsches Sensibilität für das Besondere und Individuelle, seine Suche nach einer Sprache feiner Nuancen und Nuancierungen mit Hegels und Luhmanns Idee, dass sich das Ganze nur systematisch fassen lässt und auf Begriffe angewiesen bleibt. Zugespitzt formuliert: Das Leben ist ‚unendlich kompliziert‘ (Nietzsche), Leben und System darum prinzipiell verschieden. Dennoch muss man, um leben zu können, die Komplexität des Lebens je nach individuellen Nöten und Möglichkeiten reduzieren. Philosophen können dazu ihren Beitrag leisten, indem sie neue Systeme artikulieren. Dieser scheinbar unversöhnbare Widerspruch wird bei Stegmaier gelöst. Für ihn gewinnt die Philosophie als Ganze erst dann ihre Plausibilität, wenn eine Pluralität von Prozessen vereinheitlicht und auf einander abgestimmt wird – durch die Sprache der Orientierung.

5 Luhmann meets Nietzsche. Orientierung im Nihilismus (im Erscheinen).

Vorwort 

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Die hier gesammelten Beiträge unterscheiden sich im Allgemeinen zwischen jenen, die die PO als Ganze, als Gedankensystem auffassen und auf ihre spezifischen Fragestellungen eingehen, und anderen, die von ihr Impulse bekommen, um eigene Forschungsfragen zu behandeln, die in der PO nur angedeutet werden. Zur Orientierung der Leser(innen) sind die Beiträge in vier Sektionen gegliedert. Darauf folgt ein Nachwort von Werner Stegmaier, der die Beiträge nach einer eigenen Systematik liest und auf Anregungen und kritische Bemerkungen antwortet. Die Beiträge der ersten Sektion „Die Philosophie der Orientierung und die philosophische Tradition“ behandeln verschiedene klassische Anhaltspunkte der Philosophie der Orientierung, setzen sich also mit der philosophischen Tradition auseinander, an die die Philosophie der Orientierung anschließt. So steht sie mit der abendländischen Philosophie in Wechselwirkung, denn einerseits nährt sie sich von philosophischen Intuitionen und Einsichten der Vergangenheit, anderseits fungiert sie als Interpretationsinstrument dieser traditionellen philosophischen Positionen. Beide Momente kommen in den hier publizierten Aufsätzen zur Geltung. Die ersten drei Beiträge fokussieren das Verhältnis zwischen der altgriechischen Philosophie und der PO: Andreas Speer deutet in seinem Aufsatz eine maßgebliche Nähe zwischen den Begriffen Orientierung und Weisheit an. Beide Begriffe lassen sich nur mit Verweis auf das Handeln verstehen, schließen in sich jedoch auch ein kognitives Moment ein. Enrico Müller beschäftigt sich mit der Form des platonischen Dialogs unter der Voraussetzung, dass die Grunddynamik dieses Dialogs eine Art von strategischer Desorientierung darstellt. Benjamin Alberts thematisiert die therapeutische Funktion der Philosophie Epikurs als Praxis der Orientierung, als Schaffen von Anhaltspunkten zugunsten der Beruhigung von aus Desorientierung resultierenden Ängsten, interpretiert also Epikurs Werk und Wirken mit Grundbegriffen und Denkwerkzeugen der PO neu. Aus historischer Perspektive unterstreicht Tilman Borsche die Bedeutsamkeit von Johann Gottfried Herder für die Philosophie der Orientierung, der mit seiner Auffassung der Vernunft als Gesamtheit von Sprachlichkeit, Leiblichkeit und Geschicklichkeit für die PO vielleicht nicht weniger wichtig ist als Kant. Ebendiese natürliche Grundlage des Geistes thematisiert auch Sigridur Thorgeirsdottir. In ihrem Beitrag präsentiert sie einen Kanon genealogischer Leibphilosophie, der das Denken von Nietzsche über Foucault bis in die PO und zu anderen Autoren wie Judith Butler reicht. Dass die Verankerung des Geistes im Leib zugleich eine Rücknahme der Ansprüche der Erkenntnis bedeuten kann, zeigen am Ende der Sektion auch die Beiträge von João Constâncio und Carlo Gentili. Für Constâncio ist Nietzsches Nihilismus, für Gentili sein Skeptizismus unvermeidbar. Während beide Autoren zeigen, inwiefern diese zwei Geistesphänomene für Nietzsche eine

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 Vorwort

Herausforderung darstellen, wertet die PO sie letztlich zu positiven Bedingungen der Beweglichkeit des Geistes um. Die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ist kaum von Bedeutung für die innere Dynamik der PO, weil der Orientierungsbegriff sie gerade auflösen bzw. hinter sie zurückgehen will. Dennoch sind in der zweiten Sektion „Orientierung und Erkenntnis“ Beiträge versammelt, die sich mit erkenntnistheoretischen und alethiologischen Themen beschäftigen. So werden Verbindungen der PO zu aktuellen Positionen deutlich. Konrad Ott stellt die Selbstbezüglichkeit der Orientierung in den Mittelpunkt und deutet damit eine mögliche Verwandtschaft mit traditionellen Metaphysiken der Subjektivität an. Eine weitere Herausforderung der Orientierung im Denken stellt Ekaterina Poljakova am Beispiel von Kant (und Carl Friedrich von Weizsäckers Auseinandersetzung mit ihm) sowie Heidegger und Wittgenstein dar: Es geht um den Gedanken des Unverfügbaren, das für eine ständige Beunruhigung des Denkens sorgt und es veranlasst, die gewohnten Routinen gelegentlich zu verlassen und sogar die Sehnsucht nach Sicherheit preiszugeben, um sich als Denken zu behaupten. Der Sprache als Horizont der Orientierung ist der Beitrag von Günter Abel gewidmet, der die Nähe der PO mit der Interpretationsphilosophie aufzeigt. Auch die Praxis des hermeneutischen Verstehens lässt sich, so der Beitrag von Ingolf Dalferth, als Moment der Orientierung rekonstruieren. Die Sektion schließt mit zwei Beiträgen, die sich dem Thema der Wahrheit widmen. John Richardson und Francesco Totaro gehen von Nietzsches Perspektivismus und Relativismus aus – die, wie Richardson betont, grundlegend für den Wahrheitsbegriff der PO sind –, um zugleich jedoch Möglichkeiten einer Beschränkung des Relativismus und Perspektivismus zu sondieren. Die moralphilosophische Dimension der PO ist in der dritten Sektion „Orientierung und praktische Philosophie“ das zentrale Thema. Claudia Welz rekonstruiert die innere Verbindung der Paradoxien der ethischen Orientierung mit jenen der Identitätsbildung und des religiösen Glaubens und demonstriert so die Relevanz der Philosophie der Orientierung für die Theologie. Die ethische Orientierung ist auch der Gegenstand der zwei folgenden Beiträge: Paul van Tongeren beschäftigt sich mit den Tugenden der ethischen Orientierung und weist mit Hannah Arendt darauf hin, dass die Orientierung selbst nur aufgrund zweier Tugenden möglich ist – dem Vermögen des Versprechens und dem des Verzeihens. Eine Erweiterung der Tugenden der ethischen Orientierung ist auch nach Andrea Bertino sinnvoll, der das Verhältnis des modernen Begriffs der moralischen Integrität zur ethischen Souveränität der PO untersucht. Andreas Rupschus geht in seinem Beitrag von dem Umstand aus, dass jede Orientierung immer schon historisch ist. Die daraus resultierenden Orientierungsfunktionen der Geschichte liegen, so Rupschus, nicht nur im traditionellen Feld der (poli-

Vorwort 

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tischen) Prognostik, sondern zumal auch in der Ausbildung und Stabilisierung der individuellen moralischen Orientierung. Schließlich fragt Oswaldo Giacoia nach der politischen Bedeutung des souveränen Individuums – einer Figur, die zunächst bei Nietzsche und dann in der PO von erheblicher Bedeutung ist. Die letzte Sektion „Übergänge und Perspektiven des Orientierungsbegriffs“ sammelt Beiträge, die die Anwendbarkeit der Philosophie der Orientierung auf anderen Feldern des Wissens und der menschlichen Erfahrung demonstrieren. Daniel Krochmalnik deutet an, dass religiöse Gebote auch als Anhaltspunkte der Orientierung gelesen werden können. Hubertus Busche analysiert die Bedeutung von Kleidung und Mode für die Orientierung an Anderen. Günter Gödde zeigt, in welchem Sinn man dem Begriff des Verstehens in den psychologischen Wissenschaften gerade vom Standpunkt der PO aus eine spezielle Bedeutsamkeit zuschreiben kann. Nach Mathias Schlicht von Rabenau können auch aktuelle pädagogische Ansätze – im Kern seiner Betrachtung steht die Kompetenz als Schlüsselbegriff der Bildungstheorie –, von der Sprache der Orientierung profitieren. Abschließend entwickelt Silvio Pfeuffer in Termini der PO eine ästhetische Analyse des Komischen am Beispiel der populären Fernsehshow Dittsche. Die in der Festschrift gesammelten Beiträge lassen den Reichtum an lebendigen Ideen und Inspirationen, an philosophischem Wissen und geistiger Erfahrung erahnen, den Stegmaiers Philosophie der Orientierung birgt, und doch berühren sie nur einen Bruchteil ihrer denkerischen Vielfalt. Wir wünschen Werner Stegmaier herzlich, dass diese Vielfalt und dieser Reichtum seiner Gedankengänge die ihnen zustehende Aufmerksamkeit erfahren, sie weiter studiert und diskutiert werden und er sie noch für lange Zeit mit derselben Schaffenskraft und Begeisterung weiterentwickeln kann. Berlin / Greifswald / Regensburg, im Oktober 2015 In Dankbarkeit

die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis I. Die Philosophie der Orientierung und die philosophische Tradition Andreas Speer Weisheit und Orientierung — 3 Enrico Müller Raum und Rede. Zum Verhältnis von Topographie und Thema in Platons Phaidros — 15 Benjamin Alberts Beruhigung und Beunruhigung. Über den Umgang mit Unsicherheit bei Epikur und in der Philosophie der Orientierung — 33 Tilman Borsche Wie kommen die Menschen zur Vernunft? Die Kant-Herder-Kontroverse im Licht der Philosophie der Orientierung — 49 Sigridur Thorgeirsdottir Die Philosophie im Leib — 71 João Constâncio Nietzsche on Nihilism (Eine unersättliche Diskussion?) — 83 Carlo Gentili Moralische und politische Skepsis. Über den Orientierungswert der Regeln bei Nietzsche — 101

II. Orientierung und Erkenntnis Konrad Ott Zum Selbst der Orientierung — 115 Ekaterina Poljakova Unsicherheit der Orientierung. Drei Versuche über das Unverfügbare — 127

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 Inhaltsverzeichnis

Günter Abel Quellen der Orientierung — 147 Ingolf U. Dalferth Verstehen als Orientierungspraxis. Eine hermeneutische Skizze — 171 John Richardson Orientation and Truth in Nietzsche — 185 Francesco Totaro Orientierung, Perspektive, Wahrheit. Versuch einer Verbindung — 197

III. Orientierung und praktische Philosophie Claudia Welz Paradoxien ethischer und religiöser Orientierung als Neuanfänge des Denkens — 217 Paul van Tongeren Der „Pflock des Augenblickes“. Über die Situation und die Tugenden der Orientierung — 233 Andrea C. Bertino Vom Zeichen-Setzen. Moralische Integrität und ethische Souveränität — 247 Andreas Rupschus Wie orientiert Geschichte? — 261 Oswaldo Giacoia Junior Staat, Demokratie und Rechtssubjekt. Eine Kritik zeitgenössischer Politik — 275

IV. Übergänge und Perspektiven des Orientierungsbegriffs Daniel Krochmalnik Triskaidekalog — 293

Inhaltsverzeichnis 

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Hubertus Busche Dass einer des anderen Kleidung verstehe? Zum Orientierungswert der vestimentären Zeichensprache — 311 Günter Gödde Brauchen die wissenschaftliche Psychologie und Psychotherapie philosophische Fluglotsen? — 335 Mathias Schlicht von Rabenau Kompetenz als Schlüsselbegriff der Bildungstheorie. Vorschlag einer orientierungsphilosophischen Fundierung — 349 Silvio Pfeuffer Der Humor in der Orientierung. Dittsche – Das wirklich wahre Leben — 363

Nachwort Werner Stegmaier Zur Philosophie der Orientierung. Fragen und Antworten — 375 Siglenverzeichnis — 409 Personenregister — 411

I. Die Philosophie der Orientierung und die philosophische Tradition

Andreas Speer

Weisheit und Orientierung I. Die Philosophie trägt die Weisheit in ihrem Namen. Sie bezieht sich namentlich und der Sache nach somit auf etwas, das sie bereits vorfindet. Platon erfindet nicht nur den Namen „philosophia“, sondern er macht – insbesondere in seinen frühen sokratischen Dialogen – auch deutlich, auf welche Weise sich die Philosophie auf die Weisheit bezieht, wo die Anknüpfungs- und die Differenzpunkte zu einem im Alltag präsenten Verständnis der Weisheit liegen. Hierbei geht es zugleich um verschiedene Formen und Weisen von Orientierungswissen. Denn ohne Zweifel kann man die Weisheit in den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen zu den Grundbegriffen einer umfassenden, zugleich theoretischen wie praktischen Daseinsorientierung zählen, als eine Weise ausgezeichneten Wissens, das zum einen auf menschlicher Erfahrung beruht, sich zum anderen aber einer besonderen Einsicht verdankt. Dieses Thema ist also alt – so alt wie die Philosophie. Darum möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, diesen doppelten Anfang der Philosophie aufzusuchen – historisch wie systematisch. Denn die Weisheitsarchäologie verweist über die Suche nach dem „ersten Anfang“ als dem historischen Ursprung, soweit dieser geschichtlich nachvollzogen und rekonstruiert werden kann, hinaus auf den „anderen Anfang“ als Rückgang auf den Ursprung unseres Suchens und Fragens, der, indem und obgleich er sich stets zu entziehen scheint, gleichwohl den impliziten Horizont aller Denkerfahrung und unserer Existenz bildet (Speer 2001). Damit verbunden ist – zumindest avant la lettre, wenn man dem entsprechenden Artikel des Historischen Wörterbuches folgt (Stegmaier 2004) – ein epis­ temischer Begriff von Orientierung, der gleichfalls mit dem Anfang der Philosophie in seiner doppelten Gestalt verbunden ist. Diesen Zusammenhang gilt es im Folgenden näher auszuarbeiten und zu erläutern. Dem Alltagsverständnis der Weisheit nähert sich Platon in verschiedenen Anläufen, und in fast allen Fällen ist Sokrates sein Protagonist. Aber welcher Weisheit? Die durch Homer, Lykurg und die sogenannten Sieben Weisen verkörperte Weisheit der alten Götter scheint zur Zeit des Sokrates an Verbindlichkeit verloren zu haben. In ironischer Distanz stellt der Sokrates des platonischen Protagoras die „lakonische“ Weisheit der sogenannten Sieben Weisen: „Erkenne Dich selbst!“, „Nichts zu sehr!“, „Schwer ist es, edel zu sein.“ (Protagoras 343b–c), der Weisheit der Weisheitslehrer (sophístai) und der Alleswisser (pánsophoi) gegenüber, die gleichermaßen im Fechtkampf wie im Rededuell vor

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 Andreas Speer

Gericht, ja im Streitgespräch überhaupt als „Redemeister“ und „Alleswiderleger“ stets die Oberhand behalten, ohne jedoch der alten Weisheit etwas entgegensetzen zu können (Protagoras 342a–343c; Euthydem 271c–272a). Es sind vor allem diese neuen Weisheitslehrer, die den Anspruch erheben, vollendete richtige Erkenntnis der Dinge im Ganzen und Allgemeinen anzubieten und – zum Teil gegen Geld – ein Wissen um die vernünftig-zweckvolle Gestaltung des Lebens als Folge der Einsicht in den Sinn desselben und der Erkenntnis der Mittel, die zur Erfüllung eines solchen gelingenden Lebens führen können (Apologie 19e–20c; Euthydem 288d–289b). Im Mittelpunkt der öffentlichen Tätigkeit des Sokrates steht daher die Kritik an der überkommenen Weisheit der Dichter, aber auch an der Weisheit derjenigen, die diese zu einem lehrbaren Gegenstand machen wollen wie die Sophisten. Es ist zugleich eine Kritik an einer Vorstellung von Weisheit, deren Wissen operational ist, deren Wort sich in der Tat bewähren muss; an einer Weisheit, die situationserhellend wirkt und konkrete Wahrheit sucht – etwa nach Art von Anleitungen zum gelingenden Leben; an einer Weisheit in Form der autoritativen Rede, die zudem den Nimbus des Besonderen pflegt. Als „Weisheit über menschliches Maß hinaus“ (Apologie 20d–e) kritisiert Sokrates in der Apologie den aus ihrer bereichsbezogenen Kompetenz abgeleiteten Anspruch der Politiker (Apologie 21c–22a), der Dichter (Apologie 22a–c) und der Handwerker (Apologie 22c–e), die er auf ihre Weisheitskompetenz befragt, „auch im übrigen ganz ungeheuer weise zu sein“ (Apologie 22d–e). Dagegen setzt Sokrates eine andere Form der Orientierung: durch eine Weisheit nach menschlichem Maß, die in der Einsicht in das eigene Nichtwissen besteht (Apologie 23b). Orientierung durch Verzicht, durch Verzicht auf den göttlichen Standpunkt, durch Beschränkung des eigenen Anspruchs auf allumfassende Orientierung. Mit der gleichen kritischen Einstellung tritt er folglich auch dem göttlichen Weisheitsspruch des delphischen Orakels gegenüber, das ihn als den Weisesten bezeichnet hatte. Vielmehr, so Sokrates, muss derjenige als der Weiseste gelten, der wie er selbst „erkannt hat, dass er, recht betrachtet, nichts wert ist, was seine Weisheit betrifft“ (Apologie 23b). Dieses Ignoranzmotiv – für Sokrates der Kern einer Weisheit nach menschlichem Maß – steht im Mittelpunkt der Aitiologie, dergemäß Platon die Philosophie in kritischer Distanz zur Weisheit bestimmt: Die Weisheit des Philosophen besteht darin, nichts zu wissen, sich seines Nichtwissens aber bewusst zu sein. Folgerichtig tritt Sokrates nicht als Weisheitslehrer auf, der weiß, was der andere zu tun hat, um ein gutes Leben zu führen (wie die Sophisten, die dies berufsmäßig und gegen Lohn tun), sondern er versucht, sein Gegenüber zur Selbsterkenntnis zu führen, zur eigenen Einsicht in das Gebotene. Sokrates ist interessiert an der konkreten Existenz, und er ist interessiert an seinem Gegenüber, den er in sein Gespräch hineinzieht – ohne zuvor, wie es bei Plutarch



Weisheit und Orientierung 

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heißt, Bänke aufzustellen und sich auf einem Katheder niederzulassen (Plutarch, Moralia X, 26). Und so geht Sokrates auf die Marktplätze und Straßen, zu abendlichen Trinkgelagen und in die Häuser guter Freunde – dorthin eben, wo die Weisheit, wie es auch im alttestamentlichen Buch der Weisheit heißt, zu finden ist: vor der Türe, wo sie sich dem, der nach ihr verlangt, sogleich zu erkennen gibt (Weish 6,12–14 und Spr 8,1–3). Sokrates eigenes Fragen ist existentiell. Es geht aus vom Einzelnen und ist bestimmt durch die Sorge um sich selbst und um den anderen. Die Weisheit des Sokrates ist nicht so sehr ein Wissen, vielmehr eine Haltung der Sorge. Sie ist daher nicht kodifizierbar, sondern artikuliert in der Aufforderung zur Selbsterkenntnis ihre bleibende existentielle Dimension. Aus dieser Kritik entsteht die Philosophie. Als „Liebe zur Weisheit“, als „philo-sophia“, bewahrt sie die kritische Distanz gegenüber jedem Anspruch, Weisheit zu besitzen, in ihrem Namen. Die Philosophie definiert sich gewissermaßen durch das, was sie entbehrt, das ihr allenfalls als ein sie selbst übersteigendes Ideal die Richtung weist, Orientierung gibt. Und als Kritik überlieferten, autoritativen Wissens bestimmt die Philosophie schließlich das Wissen als eine Aufgabe und ihr eigenes Tun als ein Fragen und Suchen nach Gründen für dieses Wissen. Gerade darin zeigt sich die Weisheitssuche als etwas ursprünglich zum Menschen Gehöriges – als eine Konstante im Denken und im Weltverhältnis (Hadot 1995, S. 81 f.). Die Philosophie beginnt also mit einem Bruch mit der überkommenen Weisheit (sophía), um zugleich auf eine neue Weise an diese anzuknüpfen – nämlich als „philo-sophia“. So zumindest können wir es bei dem „Erfinder“ dieser Aitiologie, bei Platon nachlesen. Dieser für das philosophische Weisheitsverständnis konstitutive Zusammenhang ist unter dem Leitbegriff der „philosophia“ begriffsgeschichtlich zwar erstmals im (vor)klassischen Griechenland fassbar, stellt in meinen Augen jedoch zugleich ein taugliches methodisches Paradigma für den komparatistischen Umgang mit den verschiedensten Weisheitstraditionen dar, in denen es ebenfalls diese Phänomene der Selbstverständigung aufzusuchen gilt, kraft der die Philosophie sich in der europäischen Tradition mit Blick auf dasjenige, das sie lediglich erstrebt und im eigentlichen Sinne nicht schon besitzt, immer wieder von neuem als Liebe zur und Streben nach Weisheit definiert hat. Die Invention des Begriffs „Philosophie“ und die reziproke „philosophische“ Thematisierung des Weisheitsbegriffs, der nun selbst ein philosophischer Leitbegriff wird, sind wechselseitig miteinander verschränkt und verweisen auf die durch den Weisheitsbegriff indizierten Probleme. Von der Weisheit „erbt“ die Philosophie hierbei ihren universalen, transkulturellen Anspruch und die enge Verbindung von theoretischer und praktischer Orientierung. Die Problematik, die aus dieser Einteilung der Philosophie („divisio philosophiae“) in ein theoretisches und in ein praktisches Wissen erwächst, wird im Begriff der Weisheit selbst ausdrücklich reflektiert, sofern dieser die ursprüngli-

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 Andreas Speer

che Einheit von Theorie und Praxis festhält und thematisiert. Allerdings steht das darin ausgesagte Ideal für Platon unter dem Vorbehalt der Endlichkeit. Demnach nimmt gegenüber den im eigentlichen Sinne Weisen – das sind allein die Götter – und gegenüber den Unverständigen der Liebhaber und Freund der Weisheit, der „philósophos“, eine mittlere Position ein (Phaidros 278d; Symposion 204a), die bestimmt ist durch die Spannung von Streben nach Weisheit als dem höchsten Wissen und der Einsicht in die notwendige Nichterfüllung unter den Bedingungen der Endlichkeit und Leibgebundenheit. Philosophieren ist für Platon ein bewusster Lebensvollzug zwischen (metaxú) Nicht-Wissen und Wissen (Lysis 204b5), das Bewusstsein eines gegenüber seiner absoluten Form, der Weisheit, defizienten Wissens. Die Philosophie trägt also in ihrem Namen die Bestimmung desjenigen, über das sie nicht verfügt und das sich der Objektivierung entzieht: die Weisheit, und es ist der Philosoph, der als „Freund der Weisheit oder dergleichen“ (Phaidros 278d4) sich mit seiner ganzen Person einsetzen muss, ist doch die Philosophie als angemessene Suche nach der Weisheit ein Wissen, das an beständige Selbstprüfung und Selbsterkenntnis gebunden ist (Hadot 1995, S.  56–85; Speer 2002a, S.  3–32). Diese Reflexionsfigur ist für die eigentümliche Gestalt der philosophischen Weisheit charakteristisch; in ihr tritt das sachliche Proprium der philosophischen Distanznahme hervor, die als die eigentliche Prämisse des philosophischen Diskurses anzusehen ist – und zwar unabhängig von dem jeweiligen kulturellen Kontext und Traditionszusammenhang.

II. Diese Einsicht in die Struktur philosophischer Weisheit erhebt Aristoteles zu Beginn seiner Metaphysik zur philosophischen Methode (méthodos) (Met. A 2, 983a20–23) und etabliert den Weisheitsdiskurs zugleich als Vernunftdiskurs. Damit begründet er eine wirkmächtige Tradition für ein Philosophieren im Horizont der Weisheit. In der Genese des Wissens (epistéme) findet der Begriff der Weisheit zunächst – gleichsam als Reflex der ursprünglichen Wortbedeutung von „sophía“ / „sophós“ als auf Sachkunde und Wissen beruhende Tüchtigkeit, die den Einzelnen aus der Menge hervorhebt, wie den tüchtigen Zimmermann bei Homer oder den Wetterkundigen bei Pindar (Belegstellen bei Pauly-Wissowa 1927, S. 1019) – komparativisch Verwendung mit Blick auf alle Formen der erfahrungs-, handlungs- und wissensmäßigen Weltorientierung, die Aristoteles nach Art der Einsicht in die Regeln und Ursachen „architektonisch“ aufeinander bezogen sieht (Met. A 1, 980a27–982a1). Bemerkenswert bei dieser wissensgenetischen Rekonstruktion ist die Berufung auf die Evidenz der Alltagserfahrung, etwa auf diejenige



Weisheit und Orientierung 

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des Handwerkers oder des Arztes. Auf diese Weise stellt der Gedankengang am Beginn von Aristoteles’ Metaphysik eine eigentümliche Mischung aus erfahrungsund begründungstheoretischer Argumentation dar. Für Alexander von Aphrodisias, einen der bemerkenswertesten spätantiken Aristoteleskommentatoren, ist dieser Ausgang von der allgemeinen Alltagspraxis kennzeichnend für die Art und Weise, wie Aristoteles seine Untersuchungen gewöhnlich beginnt, um schließlich zu allgemeinen Vorstellungen bzw. Allgemeinbegriffen (koinaí énnoiai) zu gelangen (Alexander von Aphrodisias, Comm. in lib. Met. Aristotelis, A 2, 982a6). Im Ausgang von der flüchtigen, auf den singulären Eindruck beschränkten Wahrnehmung (aísthesis) bietet das Gedächtnis (mnéme) die Möglichkeit, derartige Eindrücke zu speichern und somit die Grundlage für die Erfahrung (empeiría) bereitzustellen, die sich stets auf eine Mehrzahl gleicher und gleichartiger Eindrücke beruft. Diese erlauben uns eine bessere Orientierung in vergleichbaren Situationen, ohne daraus eine feste Regel gewinnen zu können. Das Regelhafte zu erkennen, ist dagegen eine Kunst (techné), die schließlich zum Wissen (epistéme) im eigentlichen Sinne führt, das darin über die Kunstfertigkeit hinausgeht, dass es stets auch das Prinzip der jeweils erkannten Gesetzmäßigkeit in den Blick nimmt. Die Strukturmerkmale dieser Form weisheitlicher Orientierung gewinnt Aristoteles durch eine erfahrungsbezogene Heuristik, die auch bei der Bestimmung jener Ursachen und Prinzipien, deren Wissen die Weisheit selbst (sophía) ist, ihren Ausgang von den Ansichten nimmt, die wir vom Weisen (perì toû sophoû) haben (Met. A 2, 982a6–982b4). Der Weise nämlich wisse alles, soweit dies möglich ist, ohne jedoch dabei ein Wissen im Einzelnen von allen Dingen zu haben. Sodann hielten wir den für weise, der das Schwerere und für den Menschen nicht leicht zu Erkennende zu begreifen vermag, der der Genauere und zum Lehren Befähigtere in jeder Wissenschaft ist, und dies vor allem mit Bezug auf die Wissenschaften, die um ihrer selbst willen und allein um des Wissens willen gewählt werden und denen gerade darin der Vorzug vor den dienenden „angewandten“ Wissenschaften zukommt (Met. A 2, 982a6–19). Ein solches Wissen ist jedoch am schwersten zu gewinnen, da es am weitesten von den Wahrnehmungen entfernt ist; es ist genauer, da es mit weniger Bestimmungen auskommt; es befähigt am meisten zum Lehren, sofern es uns in die Lage versetzt, von jedem Ding die Ursachen anzugeben, und bildet gerade darin mehr als alles übrige Wissen die Voraussetzung dafür zu erkennen, worum willen ein jegliches zu tun ist. Die Protagonisten des Aristoteles für diese architektonische Orientierungsleistung sind der Heerführer und der Kapitän. So weiß Letzterer nicht nur um den Konstruktionsplan eines Schiffes wie der Schiffsbauer, sondern auch um den Zweck des Schiffes, d.h. wie und wozu es gebraucht wird, wie es zu seinem geographischen Ziel gelangt. Auf den geographischen Ursprung des Orientierungsbegriffs, den auch

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Immanuel Kant zum Ausgang seiner Überlegungen zur Orientierung im Denken nimmt, hat Werner Stegmaier hingewiesen (Kant, AA VIII, S. 134–135; Stegmaier 2004, Sp. 498). Das Wissen um das Ziel eines Ordnungszusammenhangs („ordo in finem“) – so legt Thomas von Aquin zu Beginn seines Kommentars zur Nikomachischen Ethik dar – stellt gegenüber dem bloßen Wissen um ein Zuordnungsverhältnis („ordo ad invicem“) ein höherrangiges Wissen auch in theoretischer Hinsicht dar (In Eth. I, cap. 1 [n. 1]). Deshalb bestimmt Aristoteles das äußerste Wissen um die Ursache und das Ziel des übrigen Wissens auch als zweckfrei und als ein Verstehen um seiner selbst willen – nicht im Sinne eines l’art pour l’art, sondern als Reflexion auf jene Bedingungen und Prinzipien, „durch die und aus denen die übrigen Dinge erkannt werden“ (Met. A 1, 982b1–3). Demnach ist Weisheit ein Wissen (epistéme) im höchsten Sinne, das gegenüber allem übrigen Wissen und den übrigen Wissenschaften eine ordnungsstiftende Funktion, ja eine gebietende Stellung besitzt. Darin liegt die eigentliche Orientierungsleistung und auch die Notwendigkeit der ersten Wissenschaft (he próte epistéme) (Met. K 4, 1061b30 f.) und damit zugleich der Weisheit. Ein solches Wissen aber, das der Mensch nicht um eines Nutzens willen sucht, ist von göttlichem Rang und an Würdigkeit und Freiheit das höchste. Hier tritt neben die Erfahrungskomponente der Weisheitstradition die Intuition ihres göttlichen Ursprungs. Dieses göttliche Wissen ist Weisheit nicht mehr im komparativen, sondern im superlativen und eminenten Sinn: eben erste Philosophie oder Metaphysik oder Theologie (Met. A 2, 982a1–983a11). Die Weisheit ist mithin die vollkommenste epistéme, da sie nicht bloß die Folgerungen aus den Prinzipien weiß, sondern auch bezüglich der Prinzipien die Wahrheit erkennt. Die Zweckdienlichkeit, die der Weisheit ursprünglich anhaftete, scheint einem ausdrücklich theoretischen Ideal gewichen, das gerade durch seine Selbstzwecklichkeit bestimmt ist: ein Wissen, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Konsequent unterscheidet Aristoteles im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik theoretische Weisheit von der praktischen Klugheit (Eth. Nic. VI,7–8): anders als die Weisheit, die stets etwas Allgemeines bezeichnet, geht es der Klugheit um die Erkenntnis des Besonderen und des Konkreten; sie hat es mit den irdischen und menschlichen Dingen zu tun, die Gegenstand der Überlegung (dianoía im Unterschied zu epistéme) sind. Die Klugheit ist praktisch, und darum muss sie über beides verfügen: über die Kenntnis des Allgemeinen und des Besonderen, wenn nur über eines, dann über das Letztere. Und letztlich ist die Klugheit vorzüglich die eigene Klugheit, die sich auf die eigene Erfahrung bezieht. Dennoch bleibt die Verbindung der Weisheit mit ihrem praktischen Motiv auch bei Aristoteles bestehen. Ja, der Zusammenhang zwischen der Möglichkeit und der Gestalt vollendeten Wissens und dem Menschen als dem Träger dieses Wissens bildet ein Charakteristikum philosophischer Weisheit. Denn die Weis-



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heit übersteigt das Wissen gerade darin, dass sie zur vollkommenen Verwirklichung an die existentielle Vollendung des Menschen, des jeweiligen philósophos, zurückverwiesen ist. So haben die Ausführungen zum Vorrang des Weisheit (oder erste Philosophie oder Metaphysik) genannten Wissens (Met. A 2, 982a1–983a11) ihre Entsprechung in der aristotelischen Lehre vom Vorrang der auf die vollkommene Verwirklichung der menschlichen Vernunftnatur gerichteten betrachtenden Lebensweise im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik (Eth. Nic. X,7–8; Speer 2002b, S. 75–78). Hierbei zieht Aristoteles für die Bestimmung der eudaimonía als der Tätigkeit, die der dem Menschen eigentümlichsten Tugend gemäß ist, im Grundsatz dieselben Kriterien heran wie bereits zu Beginn des ersten Buches. Diese Tätigkeit ist die vornehmste, die anhaltendste, die genussreichste und lustvollste, die genügsamste, die um ihrer selbst willen geliebt und begehrt wird und deren Vollzugsform mit der zweckfreien Muße einhergeht (Eth. Nic. X, 7, 1177a12–b31, vgl. Met. I, 2, 982a6–983a9). Dieses Leben nach der Vernunft wäre für den Menschen die vollendete Glückseligkeit, doch ist ein solches Leben höher, als es dem Menschen als Menschen zukommt; es ist recht eigentlich kein menschliches Gut (anthrôpinon ágathon) mehr. Und doch ist dieses Göttliche in uns unser wahres Selbst, da es unser vornehmster und bester Teil ist; kraft die­ses Vermögens ist unser Leben – wie es am Ende des bei Iamblich überlieferten Protreptikos heißt – „obwohl von Natur aus armselig und mühsam, so herrlich eingerichtet, dass der Mensch im Vergleich zu den anderen Lebewesen ein Gott zu sein scheint“ (Protreptikos B 109; Aristoteles 1993, S. 86 f.). Daher solle man die Philosophie nicht fliehen, da diese „Aneignung und Anwendung der Weisheit ist und die Weisheit selbst zu den höchsten Gütern zählt“ (Protreptikos B 52; Aristoteles 1993, S. 56 f.). Das protreptische Moment verweist auf ein durch Selbstsorge und Lebenskunst gekennzeichnetes Philosophieverständnis der sich herausbildenden Philosophenschulen, in dem die Philosophie als Weisheit im Sinne einer umfassenden theoretischen und vor allem praktischen Daseinsorientierung, und in diesem Sinn als Lebensform verstanden wird. Im Unterschied zu rein epistemologischen Begründungsfiguren benennt Weisheit also den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit und der Gestalt vollendeten Wissens und dem Menschen als dem Träger dieses Wissens; mehr noch, die eminente Vollzugform der als Weisheit gekennzeichneten Vernunfttätigkeit erscheint auf besondere Weise gebunden an die Möglichkeiten des Subjekts. Epistemischer Primat und existentielle Dimension der Weisheit stehen nicht in einem Gegensatz zueinander, sondern koinzidieren. Die Vorrangstellung weisheitlichen Wissens muss demnach sowohl nach Seiten des Wissenden wie auch nach Seiten der Wissenschaft bzw. der Wissensform ausgewiesen werden – ein Zusammenhang, der im Begriff des „habitus sapientiae“ erfasst und gleichermaßen reflektiert wird. Als intellektuelle Tugend

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ist die Weisheit ein natürliches Vermögen des Menschen und entspringt seinem natürlichen Wissensverlangen: sie ist das von dem nach Wissen Strebenden zuhöchst Ersehnte (Eth. Nic. VI,7 1141ab; Met. A 1 980a–981b). Daher lebt auch derjenige Mensch in der besten Verfassung, die ihm möglich ist, der sein Leben in das Studium der Weisheit setzt. „Dies aber ist das Leben des Philosophen, und ein jeder, der es nicht hat, hat nicht das richtige Leben“ (Boethius von Dacien, De summo bono, 377). Hier tritt Philosophie als Lebensform, ja, als die dem Menschen einzig angemessene Lebensweise hervor. Diese Konsequenz zieht allerdings nicht Aristoteles selbst. Sie findet sich vielmehr am Ende der Schrift eines Pariser Artes-Magisters aus dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts, Boethius von Dacien. Dieser Schrift des Boethius mit dem sprechenden Titel De summo bono sive de vita philosophi ist ein programmatischer Charakter für jenen Typus von universitären Intellektuellen zugemessen worden, die zu Beginn des letzten Drittels des 13. Jahrhunderts – inspiriert insbesondere durch das zehnte Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles – ein ethischintellektuelles Ideal des Menschen formulierten, das die Philosophie nicht allein als eine bloße Theorie begreift, vielmehr als eine Lebensform, die auch die Vervollkommnung der moralischen Tugenden einschließt und zur höchsten Verwirklichung dessen führt, was der Mensch seinem Wesen nach ist (De Libera 1991, S. 222–224). Dieses Ideal des Intellektuellen (Le Goff 1957) benennt ein anderer Pariser Magister dieser Zeit, Aubry von Reims, im Ausgang von der Bestimmung der intellektuellen Tugenden im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik, als Weisheit. Denn diese ist Ausdruck jenes wiedergefundenen Genusses, den der erfährt, der an sein Ziel gelangt ist. Von der Art dieser Weisheit ist die Philosophie, dort ist der ihr eigentümliche Ort zu suchen (Aubry von Reims, Philosophia, 192–195).

III. Weisheit also durch den Weg der Wissenschaft? – Genau dies ist für Immanuel Kant der einzige Weg, auf dem die Vernunft die unbedingte Totalität des Gegenstandes unter dem Namen des höchsten Gutes denken kann (KpV A 194). Diese Idee aber ist für Kant eine praktische Idee. Sie gehört in den Bereich der praktischen Vernunft. Denn während die reine (theoretische) Vernunft in der Antinomie gefangen bleibt, die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten nur in den Dingen an sich selbst antreffen zu können, wobei sich diese Dinge aber nicht an sich selbst, sondern bloß als Erscheinungen erkennen lassen – eine in Kants Worten „wohltätigste Verirrung“ der reinen Ver-



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nunft (KpV A 193) –, wird die unbedingte Totalität unter dem Namen des höchsten Guten von der praktischen Vernunft als Maxime unseres vernünftigen Verhaltens bestimmt (KpV A 194). Dies ist für Kant die Weisheitslehre, „und diese wiederum als Wissenschaft ist Philosophie in der Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden, bei denen sie eine Anweisung zu dem Begriffe war, worin das höchste Gut zu setzen, und zum Verhalten, durch welches es zu erwerben sei“ (KpV A 194). Darin sieht Kant zugleich eine Begründung für die in der Etymologie – Philosophie als Liebe zur Weisheit – enthaltene theoretische Einschränkung auf eine Liebe zur Wissenschaft, die alle spekulative Erkenntnis betrifft, zugleich aber ist mit Blick auf den praktischen Bestimmungsgrund der Hauptzweck, um dessen willen die Philosophie allein Weisheitslehre genannt werden kann, nicht aus dem Auge verloren (KpV A 195). Kant selbst spricht in diesem Zusammenhang von einer spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und einer praktischen Erweiterung derselben. Dies ist der Weg zur Weisheit, wenn er gesichert und nicht ungangbar oder irreleitend werden soll, der bei uns Menschen unvermeidlich durch die Wissenschaft durchgehen müsse (KpV A 255). Das bedeutet für Kant zugleich der Sache nach, sich im Denken zu orientieren. Auch in der gleichnamigen Schrift „Was heißt: Sich im Denken orientiren?“ ist es nicht der theoretische Gebrauch der Vernunft, deren Orientierungsleistung letztlich subjektiv bleibe, sondern deren praktischer Gebrauch, der für alle „auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist, so fern es allein durch Freiheit möglich ist“ und auf die „größte Glückseligkeit“ führt, indem es „dem Begriffe vom höchsten Gut objektive Realität zu geben“ imstande ist (Kant, AA VIII, S. 137 und S. 139; Stegmaier 1992, S. 5). Die Idee der Weisheit müsse daher, so Kant in seiner Vorlesung zur Philosophischen Enzyklopädie, der Philosophie „zum Grunde liegen, so wie dem Christenthum die Idee der Heiligkeit“. Der Philosoph aber „als ein Führer der Vernunft, leitet den Menschen zu seiner Bestimmung. Seine Erkenntniße gehen also auf die Bestimmung des Menschen“. Als ein solcher Führer der Vernunft ist der Philosoph „ein Lehrer der Weisheit, und als Vernunft Künstler ein Lehrer der Wißenschaft“ (Philosophische Enzyklopädie AA 14–15). Die Philosophie nämlich „ist die einzige Wissenschaft, die uns diese innere Genugtuung zu verschaffen weiß; denn sie schließt gleichsam den wissenschaftlichen Zirkel und durch sie erhalten sodann erst die Wissenschaften Ordnung und Zusammenhang“. Dies gilt insbesondere für die Metaphysik. Denn diese, „sowohl der Natur, als der Sitten, vornehmlich die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, welche vorübend (propädeutisch) vorhergeht, machen eigentlich allein dasjenige aus, was wir im echten Verstande Philosophie nennen können“. Denn diese, so schließt Kant, „bezieht alles auf Weisheit, aber

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durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst, und keine Verirrungen verstattet“ (KrV A 850). Weisheit also durch den Weg der Wissenschaft? Und Wissenschaft als Orientierungswissen? Dies ist die Grundstellung der Philosophie von Anbeginn und ihr Problem. Gegenüber dem vermeintlich sicheren und objektiv gültigen Wissen der Experten verweist Sokrates auf den stets subjektiv zu verantwortenden Ausgangspunkt aller Erkenntnis. Dieser liegt in der Selbsterkenntnis, die jedoch nicht so sehr ein Wissen, vielmehr eine Haltung der Sorge ist. Als „Liebe zur Weisheit“ definiert sich die Philosophie folglich in kritischer Distanz zu jedem Anspruch, Weisheit zu besitzen. Ihr erster und konstitutiver Schritt besteht also in einem Akt der Selbstbeschränkung, die es jedoch zu verantworten gilt. Und so bestimmt die Philosophie als Kritik überlieferten, autoritativen Wissens schließlich das Wissen als eine Aufgabe und ihr eigenes Tun als ein Fragen und Suchen nach den Gründen für dieses Wissen. Die gleiche Vorsicht gilt gegenüber jeder Art von Wissen, das als ein inhaltlich bestimmtes Wissen vom Ganzen und Ersten zugleich eine orientierende Funktion beansprucht. Dieser Anspruch wird heute von einer Vielzahl anderer Wissenschaften erhoben, die oftmals unreflektiert ihre Weltbildimplikationen als verbindlich voraussetzen. Hierzu hat sich die Philosophie nicht affirmativ oder gar dienstbar, sondern kritisch zu verhalten.

IV. Doch ist ein solches Modell von Philosophie bzw. von philosophischer Weisheit nicht anachronistisch geworden? Dies betrifft sowohl den emphatischen Vernunftbegriff wie die damit verbundene Vorstellung, darin die Bestimmung des Menschen zu fassen. Ist nicht spätestens seit Nietzsche an die Stelle der betrachtenden Vernunft der wertsetzende Wille getreten, und erstreckt sich die setzende Kraft des Willens nicht auch auf die kognitiven Gehalte und Kategorien (Za II, Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4.146)? Wenn dem so ist, ist damit aber nicht das Projekt der philosophischen Weisheit an sein Ende gekommen? Ja, sind nicht seine Möglichkeiten ebenso wie die der abendländischen Metaphysik erschöpft? Nicht ohne Grund ist die Rede vom „postmetaphysischen“ Zeitalter zum Jargon einer „philosophical correctness“ geworden. Und gilt dies nicht auch für jene von der bleibenden Geltung der Geschichte als faktisch erkannter Größe ausgehende überhistorische Geisteshaltung, die Nietzsche in seinen zweiten der „Unzeitgemässen Betrachtungen“ mit dem Weisheitsanspruch verbindet (UB II, HL 1, KSA 1.256 f.)? Es ist nur konsequent, dass Nietzsche in der gleichen Schrift die Abkehr von dem überkommenen abendländischen Philosophiebegriff proklamiert, der



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in seinen Augen mit der Vorstellung einer „aeterna veritas“ verbunden ist (KSA 1.254 f.). Nietzsche will – gegen Sokrates und Platon – zurück zu Aischylos und Sophokles, zu Thales und Heraklit, zum vorklassischen Griechentum, zur archaischen Epoche der Philosophie, in der er den „allgemeinen Typus des Philosophen“ zu finden glaubt, und vollzieht damit zugleich ausdrücklich einen Bruch mit einem Philosophieverständnis im Horizont der Weisheit, das sich gerade in der Distanznahme gegenüber der „alten“ Weisheit bildete (PHG 1–4, KSA 1.806– 817). Leben wir nicht erkennbar in einer Welt der Experten, die aus ihrem jeweiligen Bereichswissen eine umfassende Deutungskompetenz in theoretischen und praktischen Fragen ableiten? Was aber bleibt dann von der philosophischen Weisheit? Nietzsche selbst spricht im Vorwort zu seinen zweiten Unzeitgemäßen Betrachtungen von einer produktiven Unzeitgemäßheit: Es komme darauf an, „gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit“ zu wirken (UB II, HL, Vorwort, KSA 1.247). Mit einigem Recht dürfte man etwa das Anliegen Pierre Hadots und anderer, die existentielle, spirituelle oder therapeutische Bedeutung der Philosophie in einem unmittelbaren Rückgang zur Antike wiederzufinden, in diesem Sinne verstehen (Hadot 1995, S. 379–424). Ein Gleiches gilt für das Bestreben des sogenannten „nouveau médiévisme“, die Unzeitgemäßheit des Mittelalters als eine Form der unmittelbaren Geltung zu verstehen und so eine Präsenz des Mittelalters ohne die sattsam bekannte historische Legitimation zu erreichen (De Libera 1991, S. 9–25 und S. 68–72). Das Vorbild ist zumeist Michel Foucault, der sich in seinem letzten Werk „Le souci de soi“ auf die Suche nach einer „Kultur seiner selbst“ macht, als Rekonstruktion der (soziologischen) Bedingungen in der antiken Kultur für eine Lebenskunst im Zeichen der Sorge um sich, in der sich souveräne, individuelle Selbstverhältnisse gegenüber gesellschaftlichen Diskursund Machtpraktiken zu behaupten vermögen (Foucault 1984, S. 55–84). Doch dürfte die von Nietzsche angesprochene hermeneutische Produktivität unzeitgemäßer Betrachtungen – wenn wir die Frage nach der philosophischen Weisheit so fassen wollen – kaum in einer unmittelbaren existentialistischen Ausrichtung des Philosophierens, erst recht nicht in einer Praktik oder in einer philosophischen Therapeutik bestehen, vielmehr in der Suche nach dem, was Philosophie ihrem Wesen nach ist. Eine Weisheit nach menschlichem Maß hatte Sokrates gefordert, und das bedeutete eine endliche Weisheit, die um ihr Nichtwissen weiß und eben daraus dem Wissen seine Orientierung zu geben vermag. Dieses Erbe der philosophischen Weisheit hat auch heute nichts von seiner Bedeutung eingebüßt.

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Literaturverzeichnis Alexander von Aphrodisias (1847): Comm. in lib. Met. Aristotelis. Hrsg. von H. Bonitz. Berlin. Aristoteles (1957): Metaphysica. Hrsg. von W. Jaeger. Oxford. Aristoteles (1894): Ethica Nicomachea. Hrsg. von I. Bywater. Oxford. Aristoteles (1993): Protreptikos. Hrsg. von I. Düring. 2. Auflage. Frankfurt am Main. Aubry von Reims (1984): Philosophia. Hrsg. von R.-A. Gauthier. In: „Notes sur Siger de Brabant, II. Siger en 1272–1275, Aubry de Reims et la scission des Normands“. In: Revue de Sciences philosophiques et théologiques, 68, S. 3–49. Boethius von Dacien (1976): De summo bono. Hrsg. von N. G. Green-Pedersen [Boethii Daci Opera VI,2]. Hauniae. De Libera, Alain (1991): Penser au Moyen Âge. Paris. Foucault, Michel (1984): Histoire de la sexualité III: Le souci de soi. Paris [dt.: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt am Main]. Hadot, Pierre (1995): Qu’est-de que la philosophie antique?. Paris [dt. Wege zur Weisheit. Frankfurt am Main]. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe V. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe III/IV. Kant, Immanuel: Was heißt: Sich im Denken orientiren (1786), Akademie-Ausgabe VIII. Kant, Immanuel: Philosophische Enyzklopädie, Akademie-Ausgabe XXIX. Le Goff, Jacques (1957): Les intellecturels au Moyen Âge. Paris. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Pauly-Wissowa (1927): Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaften, 2. Reihe, 5. Halbbd. Stuttgart. Platon (1900–1907): Opera omnia. Hrsg. von J. Burnet. Oxford. Plutarch (1927): Moralia X. In: O. Apelt (Hrsg.): Plutarch, Moralische Schriften, Bd. 3. Leipzig. Speer, Andreas (2001): „Im Horizont der Weisheit: Philosophie als Denken aus dem Anfang bei Martin Heidegger“. In: Quaestio, 1: Heidegger e i Medievali. Hrsg. von C. Esposito und P. Porro, Turnhout, S. 175–191. Speer, Andreas (2002a): „Endliche Weisheit“. In: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales, 69, S. 3–32. Speer, Andreas (2002b): „Der Weise und der Philosoph“. In: Tilman Borsche (Hrsg.): Denkformen – Lebensformen, Hildesheim, S. 67–93. Stegmaier, Werner (1992): „‚Was heißt: Sich im Denken orientieren?‘ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant“. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 17, S. 1–16. Stegmaier, Werner (2004): „Weltorientierung; Orientierung“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel, Sp. 498–507. Thomas von Aquin (1964): In decem libros Ethicorum Aristotelis ad Nicomachum expositio. Hrsg. von R.M. Spiazzi. Turin.

Enrico Müller

Raum und Rede. Zum Verhältnis von Topographie und Thema in Platons Phaidros I. Der Ort des Gesprächs und der Ort der Seele Platons Philosophie liegt bekanntlich nicht als propositionales Gebilde im Sinn einer oder mehrerer Lehrschriften vor. Sie bietet auch keinen ausformulierten Begriff dessen, was Philosophie ist. Sie existiert weitgehend in Form von – oftmals als Dramen komponierten – Dialogen. Platon hat auch davon abgesehen, dasjenige, was er schrieb, im eigenen Namen zu schreiben. Seine Philosophie ereignet sich stattdessen maßgeblich im Medium kommunikativer Szenen und ist innerhalb dieser Szenen am ehesten noch in Sokrates verkörpert. Sokrates seinerseits aber tritt in den Dialogen nicht allein als derjenige auf, der sachlich argumentierend Rechenschaft ablegt über seine Art zu denken und zu leben (logon didonai) und selbiges von den anderen einfordert, sondern beinahe immer gleichzeitig auch als bekennender Nichtwisser, Ironiker, Erotiker und Mythenbildner. Die platonischen Dialoge zeigen Sokrates als einen Dialektiker, der souverän den Umgang mit Argumenten praktiziert, dabei aber, je nach Situation und Personenkonstellation, sowohl von direkten als auch indirekten Mitteilungen Gebrauch macht. So stellt der Dialog bereits seiner Form nach die Frage nach dem Zusammenhang von propositionalen und nichtpropositionalen Momenten der Wissensbildung (vgl. Wieland 1982). Die Wissensformen bleiben in der platonischen Darstellung irreversibel zurückgebunden an die als Lebensform nahegelegte philosophische Praxis des Sokrates (zum Zusammenhang zwischen den Formen des Wahr-Sprechens und der zunächst nur individuell verantwortbaren Lebensweise bei Sokrates vgl. zuletzt Foucault 2010). Unsere Ausführungen nehmen ihren Ausgangspunkt von der Annahme, dass Platon im späten Dialog Phaidros eine Revision seines Philosophieverständnisses vornimmt. Lange galt dieser Dialog – etwa in den Deutungen Schleiermachers und Nietzsches – ob seiner überbordenden Bildlichkeit und inszenierten Sinnlichkeit als faszinierender, aber auch unvollkommener Anfang der platonischen Schriftstellerei. Heute wissen wir dagegen, dass er das Werk eines mindestens 60-jährigen Autors ist. Es scheint, dass Platon als Gründer und Haupt der Akademie mit dem Phaidros wieder zum sokratischen Ausgangsimpuls seines Philosophierens zurückkehrt, um, ausgehend von der eigenen Lehrerfahrung, das Verhältnis der Philosophie zu einem lehrbaren Wissen neu zu klären. Noch einmal muss Sokrates dafür in seiner ganzen Lebendigkeit und Unkonventionali-

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tät dargestellt werden.1 Es scheint, dass die Institutionalisierung der Philosophie nicht ohne den Preis einer Tendenz zur Dogmatisierung ihres Wissens zu haben war und dass Platon in dieser Tendenz eine Gefahr gesehen hat. Bezeichnend ist darum der Umstand, dass im Dialog einerseits alle „klassischen“ Themen der platonischen Philosophie verhandelt werden: das Schöne, die Liebe, die Natur der Seele, die Ideen-Lehre, die Anamnesis-Theorie, die Entfaltung der Dialektik als analytische oder synthetische Begriffsexplikation und die obligatorische Kritik an den intellektuellen Konkurrenz-Unternehmungen von Seiten der Rhetorik und der Sophistik. Andererseits sind diese Themen zwar versammelt, aber gänzlich neu perspektiviert und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Abgekürzt ließe sich sagen: Statt einer Kritik der Rhetorik und ihrer Abgrenzung von der Philosophie finden wir ihre vollständige Integration in die philosophische Dialektik, statt einer Ideen-Ontologie finden wir die Darstellung einer psychischen Ausnahmesituation, in der die Ideen in Erscheinung treten, statt einer anamnetischen Erkenntnistheorie eine mythische Zusammenschau, die das Verstehen als Wiedererinnerung von der konkreten sinnlichen Erfahrung abhängig macht, statt einer hierarchisch organisierten Psychologie finden wir eine kosmische Topographie der Seele in ihrer stetigen Bewegung und – was den Phaidros im Ganzen angeht – statt einer Lehre von der Dialektik einen Dialog, der in Form und Inhalt fortwährend seine eigene Dialogizität verhandelt. Verständlich werden die angeführten Zusammenhänge und Besonderheiten vor allem durch eine Interpretation der Exposition des Dialogs. Auch diese steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Problematik der Vermittelbarkeit des Wissens und wählt dafür zwei Inszenierungsmomente, die ihrerseits singulär sind im Werk Platons. Zum Einen wird die Rede eines Abwesenden als Ganzes verlesen – sie bildet auf diese Weise nicht nur thematischen Auftakt, sondern wird zum Objekt umfangreicher kritischer Interventionen, zum Modell für an ihr orientierten Gegenreden und zum Dialogende exemplarischer Fall einer zuletzt auf sie bezogenen Schriftkritik. Zum anderen wird die gesamte Dialogszenerie außerhalb der Polis verlegt und mit Mitteln der Dramaturgie der Zusammenhang zwischen den Formen der Rede und dem Raum, in dem sich die Reden ereignen, hergestellt. Der Phaidros zählt innerhalb der Philosophiegeschichte nicht zufällig zu den Werken mit der komplexesten Topographie. Dies gilt sowohl für die Dichte der Raumbezüge als auch für die Konsequenz ihrer literarischen Durchführung. Die

1 Auch Cahn 1996, S. 109 ff., hebt den Umstand, dass Platon im Phaidros letztmals die Person des Sokrates in der ganzen Breite ihres Spektrums und damit auch ihrer Widersprüchlichkeit zeigt, als entscheidend für die Interpretation hervor.



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scheinbar beiläufige Eingangsfrage des Dialogs nach dem „Wohin und Woher“, die Sokrates an den „Freund Phaidros“ richtet, bildet hierfür den bezeichnenden Auftakt (227a).2 Als vermeintlich schlichte Begrüßungsfloskel und Auftakt des Gesprächs zielt sie zunächst auf das situative Hier und Jetzt in der raum-zeitlichen Situation ab. Als philosophische Frage aber geht sie sofort über die Situation hinaus und fragt unvermittelt nach dem Äußersten: dem Woher und Wohin des Menschen. Und als eine solche, eschatologische Frage wird sie den weiteren Gang des Dialogs szenisch und thematisch bestimmen. Während Sokrates und Phaidros gemeinsam den Weg von der Grenze der Polis in den apolitischen Raum des Umlands beschreiten, wird ihnen der seelische Raum selbst in neuer Weise problematisch. Unsere Grundthese zur Exposition des Phaidros, die in der Forschung immer wieder ob ihrer literarischen und künstlerischen Meisterschaft bewundert, dabei aber nur selten auf ihre dialoginternen philosophischen Konsequenzen befragt wurde, ist folgende: Platon inszeniert eine „Vertauschung der gewohnten Ordnungen“ (265a), die seinen Protagonisten gleichermaßen räumlich und seelisch entortet, um den Seelenraum als solchen im zentralen Mythos des Dialogs neu entwerfen zu können. Die Komposition des Phaidros hat damit Züge eines existentiellen Dramas, das den Verlust des gewohnten Ortes der Philosophie als Bedingung für die reflexive Verortung des Psychischen inszeniert. Nur dieses eine Mal im Corpus Platonicum verlässt Sokrates die Stadt. Ergebnis dieser Unternehmung ist ein kosmologischer Entwurf, der die Seele an die Erfahrung des Schönen bindet und den Gewinn der Selbsterfahrung konstitutiv mit der Philia (Freundschaft, Liebe) verknüpft. Philia bildet, was sicher auch kein Zufall ist, das erste und das letzte Hauptwort des Dialogs. Wie sehr Raum, Rede und Liebe hier in ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit eingelassen sind, verdeutlicht auch das Ende des Dialogs. In ihm wird sich Sokrates bei den Göttern des Ortes für das Erlebte und das Gesagte bedanken, mit einem Sprichwort schließen, das besagt, dass alles, was da ist, unter Freunden ein Gemeinsames ist. Aus unterschiedlichen Richtungen kommend, sind sich Sokrates und Phaidros außerhalb der Mauern begegnet – gemeinsam gehen sie daraufhin ins Draußen und verändert werden sie in die Polis zurückkehren. Unter den Bedingungen einer Philosophie der Orientierung, wie sie Werner Stegmaier vorgelegt hat (Stegmaier 2008, vgl. darin insbesondere das Kapitel 7: „Orientierung als Halt“, S. 226–268), ließe sich der angedeutete Zusammenhang

2 Platons Phaidros wird nachfolgend fortlaufend im Text zitiert. Übersetzungen aus dem Griechischen sind, so nicht anders ausgewiesen, vom Verfasser. Als griechischer Text liegt zugrunde: Platonis opera rec. brevique adnotatione critica instr. Johannes Burnet. 5. Bde. [2. Auflage] Oxford 1906–14.

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vielleicht wie folgt charakterisieren: Platon geht im Dialog Phaidros zunächst von der lebensweltlichen Selbstverständlichkeit eines immer schon im Hier und Jetzt Orientiert-Seins aus. In dieser Ausgangssituation wird der sonst so souveräne Dialektiker Sokrates gezielt Fremdheits- und Irritationserfahrungen ausgesetzt, die ihn sukzessive desorientieren und eben damit die Bedingungen der Orientierung als solche thematisch werden lassen. Dadurch aber, dass das Athematische thematisch wird, wird es zugleich zur Disposition gestellt. Das zunächst unwillkürliche Heraustreten aus den gewohnten Ordnungen macht diese Ordnungen überhaupt erst als solche erfahrbar – im Übertreten der Grenzen wird somit die Grenze als Grenze sichtbar und zugleich die Not einer Neuorientierung im Unbegrenzten virulent. Unter den Bedingungen eines dergestalt geöffneten Erfahrungs- und Denkraums lässt Platon seinen haltlos gewordenen Sokrates dann schrittweise neue Anhaltspunkte der Orientierung gewinnen. In dieser Wiedergewinnung der Orientierung wird schließlich das Spiel mit Grenzen, sowohl von der Seite ihrer Übertretung als auch von der Seite der Grenzziehung, als das eigentliche Geschäft der Philosophie plausibel gemacht.

II. Entortung und Entgrenzung: Sokrates extra muros Auch die Personenkonstellation des Dialogs ist von Beginn an auf das Thema des Dialogs und seine weitere Entfaltung bezogen: An den Mauern Athens begegnet Sokrates dem Namensgeber des Dialogs, der zuvor im Haus eines stadtbekannten Mäzens eine Epideixis, eine rhetorische Musterrede über die Liebe (einen erotikos logos) gehört hat, von dieser begeistert ist und sie – wie Sokrates sogleich erkennt – bereits auswendig zu lernen beginnt. Ihren Verfasser Lysias, als Logograph eine schillernde Erscheinung in Athen, nennt Phaidros schlicht „den gewaltigsten heutigen Schriftsteller“ (228a) und fügt hinzu, dass das Thema der Rede in besonderer Weise Sokrates passe (zur Ausgangssituation des Dialogs vgl. die einführende Darstellung in Heitsch 1997). Dies gelte umso mehr für das raffinierte Ausgangsparadox der Rede, die an einen umworbenen Geliebten adressiert ist: dass man nämlich dem Nicht-Liebenden gegenüber dem Liebenden den Vorzug geben solle. Sokrates zeigt sich als erklärter Spezialist hinsichtlich aller die Liebe betreffenden Dinge3 sofort mehrfach herausgefordert: als Philosoph vom Rhetor, als Nichtschreiber von der abgefassten Rede des Logographen und

3 Vgl. dazu Symp. 177d: „Nichts anderes behaupte ich zu verstehen als die Erotika.“



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als Erotiker von ihrem Paradox. Er sei krank nach Reden, und werde Phaidros für die Verlesung überall hin folgen, heißt es in einem Spiel wechselseitiger Ironisierungen und Re-Ironisierungen, aus dem ersichtlich wird, dass nicht nur Sokrates seinen Phaidros, sondern auch Phaidros seinen Sokrates kennt. Platon inszeniert einen Dialog, der sein leitendes Thema gleichzeitig und von Beginn an auch zeigt und prozessiert: die Liebe, die in der Gestalt des schönen Phaidros,4 des werbenden Lysias und des philosophischen Erotikers auf drei verschiedene Weisen anwesend ist und in drei verschiedenen Konstellationen praktiziert wird. Sein Protagonist Sokrates kann das Verhältnis von Beginn an nicht anders deuten, denn als Dreiecksbeziehung, in welcher Phaidros das Objekt der Begierde ist, das es zu gewinnen gilt, und Lysias als der anwesend abwesende Dritte als Konkurrent und Gegner figuriert, den es moralisch zu disqualifizieren, intellektuell zu überbieten und erotisch auszustechen gilt. Unter diesen Voraussetzungen werden die beiden mit der Lysiasrede auf Veranlassung des Phaidros die Mauern Athens verlassen (zur über die fortifikatorische Ebene hinausgehenden symbolischen Bedeutung der Mauern vgl. Hölscher 1988, S. 27 ff.) – abbiegen und barfuß dem Lauf des Ilissos folgen, solange bis ein Platz gefunden ist, an dem man sich niederlassen kann (229a) (zur archäologischen Rekonstruktion der Topologie vgl. Lind 1987). Phaidros, so heißt es, habe mit der Rede das richtige Heilmittel bzw. Gift gefunden (pharmakon),5 von dem sich Sokrates ins „Draußen“ locken lasse (230d). Sukzessive wird nun eine

4 Bei Platon tritt Phaidros in bezeichnender Weise stets als Person auf, die den Eros repräsentiert, ohne sich zu ihm in ein distanziertes Verhältnis setzen zu können. Er verkörpert die Macht der Liebe und kann sie darum nicht angemessen reflektieren: das müssen andere tun. Bereits im Symposion wird er in diesem Sinn als „Vater des Gesprächs“ (pater tou logou, Symp. 177d) eingeführt. 5 Derrida 1995 hat anhand des Gebrauchs des Worts Pharmakon die supplementäre Struktur des Logos im Werk Platons eindringlich und differenziert herausgearbeitet. Ausgehend von der im Wort Pharmakon angelegten Ambiguität, die zwischen den Bedeutungen Gift, Droge, Arznei, Heilmittel und Werkzeug changiert, nimmt er seine Dekonstruktion vor. Dabei wird ein strukturelles Problem ersichtlich: Wann immer Platon sich pharmazeutischer Termini bedient, scheint er rigorose Abwertungen vorzunehmen. Pharmaka werden wahlweise als Gifte, Zaubereien, Krankheiten und „unnatürliche“ Zustände, dysfunktionale Institutionen, Täuschungen und Trugbilder eingeführt, die es auf den Ebenen der Medizin, der Politik, der Naturwissenschaft oder der Ontologie durch das Medium des Logos aufzuheben oder zu beseitigen gilt. Zugleich sei das „Zeichen Pharmakon“ in jenen Stellen des platonischen Werks präsent, in denen konstitutive semantische Fixierungen, Oppositionen und Hierarchisierungen vorgenommen würden. Für Derrida wird sichtbar, dass überall dort, wo Pharmazeutika vonseiten des Logos ausgeschlossen werden, es gleichzeitig das Operieren mit dem Zeichen „Pharmakon“ ist, das diesen Ausschluss erst ermöglicht.

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Situation aufgebaut, in der Sokrates einen in Platons Werk einmaligen Souveränitätsverlust erfährt. Die szenische Exposition des Dialogs ist maßgeblich als Konfrontation des Sokrates mit einem ihm weitgehend unvertrauten und explizit als irrelevant und epistemisch wertlos abgetanen Draußen komponiert. Sokrates selbst, so will es die Dramaturgie, scheint dies zunächst gar nicht, oder wenn, dann nur partiell und immer erst im Nachhinein zu bemerken – während Phaidros ihn Stück für Stück auf die Dimension der beide umgebenden Chora aufmerksam macht, von der sich sein Gegenüber philosophisch bereits emanzipiert glaubte. Damit kehrt die Natur, der Sokrates im Phaidon in seinem antiphysiologischen Bekenntnis als Gegenstand des Denkens entsagt hat, als das Andere der selbstgesetzten Normen des Denkens und Lebens in unserem Dialog machtvoll zurück. Gerade weil die Polis für Sokrates der notwendige Ort des Sich-Verstehens im Gespräch mit anderen ist, wird damit eine bedeutungsvolle Ausnahmesituation angezeigt. Denn außerhalb der Mauern, in der Chora, gelten auch andere Mächte. Als Ursprungsland jenseits gesetzter Kultur beginnt hier nach griechischem Verständnis ein rituell geprägter Erfahrungsraum, ein durch das Wirken von Dämonen und Göttern geprägtes Zwischenreich. Interpreten strukturalistischer und historisch anthropologischer Provenienz haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder auf die konstitutive Unterscheidung von Polis und Chora bei den Griechen aufmerksam gemacht (vgl. dazu Vidal-Naquet 1989; Horster 2010). Die im Draußen waltende Religiosität ist im Unterschied zu den in die Polis integrierten Kulten ungebundener und unberechenbarer. Geprägt vom vegetativen Wuchern und der Erfahrung noch ungezügelten Lebens sind hier jene Wesen zu Hause, die Vitalität, Sexualität und Gewalt symbolisieren: neben den lokalen Fruchtbarkeitsgottheiten vor allem Pan und die Nymphen, Dionysos und die Satyrn sowie Artemis und ihr wechselndes Gefolge. Chora steht für eine Wildnis, die dem menschlichen Gesetz noch selbstständig gegenübersteht: dem Reisenden als eine stete Gefahr, religiös als Raum persönlicher Devotion, kulturanthropologisch wiederum als Raum für Initiationsriten und Reinigungsrituale. Platon evoziert diese Eigentümlichkeit der Chora von Beginn an, um sie in der Folge durch präzise mythische Bezüge auf das Thema des Dialogs hin zuzuspitzen. Bereits nach wenigen Schritten abseits der ausgetretenen Pfade wird der Ort mit entsprechender Bedeutsamkeit aufgeladen. Verweise auf den Altar des Boreas und den naheliegenden Tempel der Agra, der Artemis Agrotera, den Hain des Acheloos tragen dem Chthonischen der Chora Rechnung. Schnell ist man am sagenumwobenen Ort, wo Boreas, der Nordwind, die athenische Königstochter Oreithyia raubte und ins unzivilisierte Thrakien entführte. Bekannt für seine Gewaltbereitschaft und Eifersucht indiziert Boreas sowohl die Gesetzlosigkeit der Chora als auch das entfesselnde Begehren des Eros.



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Sokrates aber nimmt die Eigenart der ihm neuen Umgebung bestenfalls zur Kenntnis und bringt mit dem Verweis auf die Forderung des delphischen Orakels demgegenüber seine Position mit Nachdruck zur Geltung: „Lernfreudig (philomathes) bin ich. Das Umland (ta choria) freilich und die Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt“ (230d). Das Bekenntnis seines Protagonisten wird in der platonischen Dialogdramaturgie von nun an nachhaltig konterkariert. In der Tat ist die sokratische Lebensform als Maieutiker und Dialektiker bei Platon ohne den Bezug zur Polis Athen und ihren öffentlichen Plätzen sonst nicht denkbar. Nicht zufällig haben die Dialoge jene Topoi, öffentlich oder privat, zum szenischen Ausgangspunkt gewählt, die das Urbane repräsentieren: die Agora, das Lykeion, die Stoa, die Mauern und die Gasthäuser ausgewählter stadtbekannter Persönlichkeiten.6 Im diesbezüglichen Schlüsseltext, der Apologie, ist der angeführte Zusammenhang über den Bezug zum delphischen Orakel formuliert und damit auch gerechtfertigt. Danach hat Sokrates seine Lebensaufgabe darin gesehen, den problematischen Satz des Orakels, niemand sei weiser als er, einer permanenten Prüfung zu unterziehen und wurde auf diese Weise zum Exponenten jener dialektischen Lebensform, die sich als kultiviertes Wissen vom Nicht-Wissen kundgab. Der alleinige Bezugspunkt eines solchen Lebens kann folgerichtig nur die Polis und mit ihr „die Menschen in der Stadt“ sein. Im Phaidros ist es die Chora, die Sokrates zu einer ganz anderen Interpretation seiner Lebensaufgabe bringt. Als Phaidros ihn drängt, die Geschichte von Boreas und Oreithya zu deuten, wird die gewohnte Selbstdarstellung des Sokrates von einer spektakulären Mythisierung abgelöst. Zunächst betont er, noch ganz dem vertrauten Narrativ entsprechend, dass er noch immer nicht imstande sei, gemäß der delphischen Forderung sich selbst zu erkennen. Angesichts dieses Umstands sei es lächerlich (geloion), anderes zu erforschen. Plötzlich aber oszilliert Sokrates zwischen sachlicher Selbstlegitimierung und der Freilegung existentieller Motive. In Bezug auf die zuvor noch ironisierte Mythenkritik bekennt er unvermittelt:

6 Eine eher äußerliche Unterscheidung zwischen „philosophie-freundlichen und philosophiefeindlichen Orten“ bietet Müller 1986. Die Differenz setzt einen klaren Begriff der Philosophie bereits voraus und fragt von ihm aus nur noch nach einer Umgebung, in der es sich besser oder schlechter philosophieren lässt – so etwa werden „aufgeschlossene Privathäuser“ unterschieden von „Häusern, in denen Vertreter der falschen Werte herrschen.“

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[…], nicht diese Dinge nämlich, sondern mich selbst erforsche ich, ob ich vielleicht selbst ein Untier (therion) bin, vielverschlungener und noch aufgeblähter als Typhon, oder ein sanfteres und einfacheres Wesen, welches von Natur aus Anteil an einem göttlichen und unaufgeblähten Los hat. (230a)7

Vom Kontext der Polis entbunden, beginnt sich Sokrates in der mythenumrankten Chora selbst als ein mythisches Wesen zu erfahren. Und damit nicht genug: Er lässt sich innerhalb seiner Neudeutung von der hybridesten Gestalt der griechischen Mythologie inspirieren. Typhon, schon etymologisch mit dem Wahnsinn assoziiert, hat in der so genannten Typhonomachie der Theogonie Hesiods (820– 868) ein eindrucksvolles Porträt erfahren. Als gewaltbesessener Sohn der Gaia versteigt er sich zum Kampf gegen Zeus und wird von diesem erst durch einen Weltenbrand bezwungen. Er und seine schlangengestaltige Frau Echidne sind als Verkörperungen grausamer und antizivilisatorischer Macht zugleich die Erzeuger so berüchtigter Fabelwesen wie des Kerberos, der Hydra, der Chimaira und des Orthos. Das von Sokrates gewählte Attribut der Vielverschlungenheit deutet auf die „hundert Köpfe von Schlangen und schrecklichen Drachen“ zurück, die der mythischen Bestie nach Hesiods Darstellung eignen. Aus ihnen entstehen Stimmen und Geräusche, die nur manchmal von den Göttern verstanden würden, deren Gehalt aber zumeist „unaussprechlich“ sei (Theogonie, 830). Mit der Semantik des mythischen Ungeheuers bringt der Sokrates extra muros nur hier im Corpus Platonicum Aspekte seines Daseins zum Ausdruck, die als existentielles Korrelat zum Selbstverständnis eines dialogisch ausgetragenen Wissens vom Nichtwissen angesehen werden können. Im Zeichen des Typhon wird eine Kraft des Seelischen manifest, die das Projekt eines logozentrischen Selbst- und Weltbildentwurfs gleichsam von innen heraus bedroht. Mit ihr ist der Eintritt der fremdartigen Natur als einer nur unzureichend ausgeloteten Gewalt im eigenen Selbst signalisiert. Mit anderen Worten: Der nach Selbsterkenntnis strebende Protagonist Platons ist sich nicht lediglich ein kognitives Rätsel. Vielmehr ist ihm die als amorph erfahrene Zusammenballung seiner Leidenschaften und Begierden eine stete Gefahr, die es mit den Mitteln des Logos zu begrenzen und damit zu versachlichen gilt. Der Drang zum Gespräch mit Anderen, das Insistieren auf eine gemeinsame Grundlage der Gesprächspartner und sein permanentes Bestreben nach begrifflicher Bestimmung sind aus dieser Perspektive als

7 In der chiastischen Konstruktion korrespondieren die Komparative polyplokoteron („vielverschlungener“) und haplousteron („einfacher“) sowie epitethymenon („aufgeblähter“) und hemeroteron („sanfter“) miteinander. Die Aufgeblähtheit schließt hier an die Vorstellung vom Thymos als dem Sitz der Leidenschaftlichkeit an, der seit Homer als sackartiges Organ vorgestellt wird, dass sich in Wut- und Wahnzuständen aufbläht.



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Versuche anzusehen, die eigene Selbstwahrnehmung zu strukturieren. Nur oder zumindest vornehmlich im Dialog scheint Sokrates den Logos zu kultivieren und sich als rationales Wesen empfinden zu können. Der epistemisch-therapeutische Doppelcharakter der sokratischen Philosophie, der sonst über die Konzepte des „Rechenschaft Ablegens“ (logon didonai) und der „Sorge um die Seele“ (epimeleia psyches) programmatisch fundiert ist, wird einzig hier im Phaidros in seiner existentiellen Brisanz offengelegt. Schnell beginnt die Chora Wirkung zu entfalten und Sokrates zu belehren. Irritiert von den eigenen Worten hält er nach dem Typhons-Bild inne, um seinen Begleiter nach dem Weg zu fragen. Dialogimmanent bleibt es Phaidros vorbehalten, Sokrates auf sein Unverständnis gegenüber dem ihn umgebenden Raum zur Sprache zu bringen. Er gleiche einem Fremden, weil er niemals „über die Grenze“ (eis ten hyperorian, 230c) hinaus gelange. Er, der ohnehin oft als unverortbar (atopos) gekennzeichnet wird (eine gute Darstellungen der Eigenheiten des Sokrates und ihrer Bedeutung bietet Böhme 1992), sei nun „völlig unverortbar“ (atopootatos, 230d): einer, der seinen Ort ganz und gar verloren habe. Jenseits der Grenze wird Sokrates ortlos – und eben darum scheint es zu gehen. Abgebogen vom Ilissos und angelangt am von Phaidros angestrebten Ort, legt man sich im Schatten einer Platane nieder. Phaidros verliest hier die Rede des Lysias, nach der die Liebe eine Krankheit sei, die den Liebhaber obsessiv, besitzergreifend und asozial mache, weswegen sich der Umworbene also zu seinem eigenen Wohl für den Nicht-Verliebten zu entscheiden habe. Die Rede ist eigentlich eine Antwort auf das zeitgenössische Problem der als soziale Praxis zwar anerkannten, aber in ihrer Gestaltung in Athen stark umstrittenen Knabenliebe – eine Diskursformation, die bei Michel Foucault unter dem Thema der „Antinomie des Knaben“ aufgearbeitet wurde (vgl. dazu Foucault 1989). Die Überlegungen dieses Diskurses kulminieren in der Frage: Wie kann ein kommender Polisbürger, der auf Machtausübung, Aktivität und Exklusivität hin zu erziehen ist, in seiner Jugend das passive Objekt einer emotional und sexuell asymmetrischen Beziehung sein. Die Antwort des Lysias ist insofern, anders als es Sokrates nahelegt, moralisch integer und als urbaner Diskursbeitrag direkt auf das angeführte Erziehungsproblem bezogen: Das Verhältnis bleibt kontrollierbar, so der politisch motivierte Sinn des Paradoxes, wenn es mit dem Konzept der Paideia vereinbar ist, wenn man sich also den Erastes nicht als krankhaften Liebhaber, sondern als seiner Verantwortung bewussten Bürger in einem temporären Rollenspiel vorzustellen habe. Im außerurbanen Raum der Chora zwischen Pan und den Nymphen, zwischen Boreas und Acheloos, vor allem aber zwischen Sokrates und Phaidros muss eine dergestalt pragmatische Beziehungskonzeption zum Problem werden. Sie mag in der Polis ihr Recht haben – außerhalb dieser ist sie schlicht deplat-

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ziert. Platon zeigt dies zunächst nur dadurch an, dass er seinen Sokrates, unmittelbar an die Rede des Lysias adressiert, auf Anakreon und Sappho anspielen lässt. Dichter also, die das Exzessive und Gefährdende der Liebe in ihrer Lyrik eindringlich darzustellen wussten. Doch Sokrates selbst, obwohl bereits verändert, weiß noch immer nicht, mit welcher Umgebung er es eigentlich zu tun hat. Seine jetzt einsetzenden Ausführungen zur Lieblichkeit des Ortes (230b–d) haben Platon oft Lob beschert, belegen sie doch seine Meisterschaft in der idyllischen Naturbeschreibung. Doch die Anerkennung Platons als eines subtilen Gestalters der locus amoenus-Topik geht meist einher mit einer Verkennung seiner dialog­ internen kompositorischen Intentionen. Vielmehr ist gerade hier die Positionierung im dramaturgischen Kontext entscheidend für ein Verständnis. Denn wieder hebt Platon mit der sokratischen Rede einerseits die konstitutiven Züge der Chora hervor und macht andererseits das Unverständnis seines Protagonisten gegenüber diesen kenntlich. Sokrates steht der dämonischen Umgebung ahnungslos gegenüber. Seine Aufmerksamkeit gilt folgerichtig nicht ihr, sondern dem „schönen Rastplatz“. Dieser sei „äußerst wohlriechend“, überzeuge zudem auch wegen seiner „lieblichen Quelle“ und der „guten Luft“. Das „Allerreizendste“ aber sei „das Gras“, eigne es sich doch als hervorragende Unterlage für den Kopf (230b–c). So expressiv dieses Miniaturidyll auch vorgetragen sein mag, so wenig entspricht es doch dem eigentlichen Charakter des Raums, in dem sich Sokrates bewegt. Das Anmutige der Chora erfasst Sokrates, das Unheimliche ihrer religiösen Aufgeladenheit aber spricht er aus, ohne dass es ihm wirklich zu Bewusstsein gelangt. Und eben darin besteht die formale Meisterschaft Platons in der Gestaltung der Szene. Die kompositorische Deixis der Gesamtsituation konterkariert und übersteigt die propositionale Einstellung des Protagonisten. Phaidros erwartet nun die Überbietung der Rede des von ihm verehrten Lysias, verlangt nach Kritik und Diskussion und endlich nach einem sokratischen Beitrag zum Thema. Gezwungen zur Übernahme dergleichen These und desselben Ausgangsparadoxes, also unter den Voraussetzungen des Lysias sprechend, redet Sokrates nun mit verhülltem Gesicht (egkalypsamenos, 237a) und legt es dabei auf eine Überbietung des Konkurrenten an. Anfangs diskreditiert er Lysias, der sich nicht wehren kann: Dieser sei selbst verliebt und sein Paradox nur raffinierte Strategie, um selber zum Zuge zu kommen. Es erstaunt, dass bis heute die meisten Interpreten dieser dialogintern durch nichts belegten Unterstellung folgen. Seine Rede ist nun einerseits philosophisch strukturiert: Sie definiert im Gegensatz zu der des Lysias das Thema und schafft Kriterien zur begrifflichen Verortung des Eros. Andererseits verschärft sie in rhetorischer Hinsicht die Antithesen des Lysias nochmals, um das Krankhafte der Liebe drastisch herauszuarbeiten. Sie endet mit einem Hexameter: „So wie die Wölfe das Lamm, so lieben Verliebte die Knaben“ (241d). Das Fazit ist schonungslos einseitig: Krank und



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unfrei durch die Heimsuchung der Liebe vernichtet man als Liebender das Objekt seiner Begierde. Begann die sokratische Widerrede mit der Bitte um Inspiration, so schließen sich in ihrer Mitte Thema, Personenkonstellation und Szene zu einer Situation zusammen, die nun erstmals auch vom Protagonisten überschaut wird. Denn der konventionelle Musenanruf fand offenbar Gehör. Unsicher geworden, unterbricht sich Sokrates in seiner Rede, um an sich eine „göttliche Einwirkung“ (theion pathos) zu diagnostizieren, die irgendwie mit dem „göttlichen Ort“ (theion topos) zusammenhänge. Seine Worte würden sich, er wisse nicht warum, allmählich dem Dithyrambenstil annähern. Phaidros bestätigt dies und attestiert seinem Gegenüber erneut ein Verhalten „gegen die Gewohnheit“ (para too eiootos, 238c). Die Intensität der Szenerie wird von Platon nach dem Ende der ersten Rede nochmals erhöht. Weil der Diskurs über die pragmatische Gestaltung der Liebe mit der sokratischen Übertrumpfung erschöpft ist, stellt sich das eigentliche Problem, nämlich die Rehabilitierung der Liebe mit all ihren psychologischen Implika­ tionen, nun umso mehr. Während Phaidros von seinem Engagement für Lysias abzurücken beginnt, erklärt sich Sokrates seine wachsende Haltlosigkeit und Verliebtheit in Phaidros damit, dass er „von den Nymphen des Ortes ergriffen“ (nympholeptos, 238e) sei. Die Erwähnung des religionspsychologischen Motivs der Nympholepsie, auf deren mitunter persönlichkeitszerstörende Dimension Herwig Görgemanns aufmerksam gemacht hat,8 bildet die äußerste Steigerung in der dämonischen Struktur der Chora und ihrer Wirkungen auf Sokrates. Dieser gerät nun, „von Phaidros den Nymphen ausgeliefert“, in „göttliche Begeisterung“ (241d), will nur noch schnell zurück in die Polis, um nicht „zu etwas Größerem gezwungen“ zu werden. Denn niemand könne ihn mehr und in derartiger Weise zum Sprechen bringen als sein göttliches Gegenüber Phaidros (242b). Die dämonische Gesamtsituation lässt Sokrates nun scheinbar alles: sich selbst, den Phaidros, das Thema und seine Reden als göttlich erscheinen. Der Moment, in dem Sokrates dialogintern dessen gewahr wird, was Platon dialogextern inszeniert, erzwingt eine Stellungnahme. Das bisher Gesagte, heißt es nun, sei Frevel am Gott Eros gewesen – ein Sakrileg, das nach Katharsis und Opfer verlange. Obwohl

8 Görgemanns 1993 zählt zu den wenigen Interpreten, die dem Bedrohungspotential der platonischen Inszenierung jenseits literaturgeschichtlicher Motivverfolgung Rechnung tragen. Am Beispiel des Archedamos von Thera und des Pantalkes von Pharsalos, die sich Nymphenhöhlen eingerichtet, in diesen gelebt und sich in ihren Inschriften als nympholeptos bezeichnet haben, deutet er die Nympholepsie als ein „lebenslanges Verfallensein an die Nymphen und ihren Dienst“ mit einhergehender „Befähigung zu besonderen Leistungen“ und schlussfolgert, dass Platon mit ihr ein „religionspsychologisches Motiv aufgegriffen hat, das zu seiner Zeit geläufig war“ (S. 140 f.).

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er gehen wolle, verbiete ihm dies sein Daimonium. Da es schamlos gewesen sei, müsse er jetzt den wahren Eros zur Sprache zubringen: in Form einer Palinodie (242c–243c). Der Kulminationspunkt der dramatischen Exposition des Dialogs ist von Platon gleichermaßen als Moment vollständiger Entgrenzung und als Augenblick der Erfüllung komponiert. In ihm schließen sich das Thema, die Raum-Zeit-Verhältnisse und die Figuration des Dialogs vollständig zusammen. Offenbar bedarf es in der Inszenierung Platons für den Seelenmythos einer letzten erotischen Selbstversicherung. Sokrates, der jetzt entschleiert sprechen wird, versichert sich des schönen Phaidros, der seinerseits im Werk Platons nie anderes wollte, als jene wahren Reden zu Ehren der wahren Liebe zu erzeugen, die er selbst zwar verkörpert, aber nicht zu halten versteht: Martha Nussbaum hat die hier voll­zogene ultimative wechselseitige Geste als „perhaps the most haunting and splendid moment in philosophy“ bezeichnet (Nussbaum 1986, S.  211). Sokrates, der mit seinem Gegenüber im Schatten der Platane sitzend vorzustellen ist, fragt zum Gesang der Zikaden offenbar schon entrückt in die flirrende Mittagshitze hinein: „Wo ist mir nur der Jüngling zu dem ich sprach? Auf dass er auch dies höre und nicht voreilig einem Nichtliebenden gefällig ist.“ Und Phaidros antwortet, wie man es wohl bedingungsloser nicht tun kann: „Dieser ist bei Dir, immer ganz nah, wann immer du willst.“ (243e)

III. Neuorientierung im Mythos: Der „überhimmlische Ort“ als Halt der Seele Der nun folgende Mythos von der Natur der Seele ist eine Abfolge teils aufeinander aufbauender, teils einander überblendender Bilder. In ihm wird nicht nur die Liebe vollständig rehabilitiert, sondern der Zusammenhang von Schönheit und Wahrheit, und damit der sokratische Existenzmodus selbst, als konstitutive Verbindung von Philosophie und Liebe erhellt. Sokrates ist durch die Gewalt der Chora, den schönen Phaidros und die Erfahrung seines eigenen Begehrens haltlos geworden, seine Haltlosigkeit aber ist zugleich die Wirkung des Eros, aus der heraus die gegebenen Bestimmungen der Liebe umgewertet werden. Die platonische Inszenierung lässt ihn nun als Liebenden im Angesicht des Geliebten über die Liebe sprechen. Ebendieser Ausnahmezustand ermöglicht den Wiedergewinn des Halts in einer neuen Orientierung. Schon in seiner ersten, alle Grenzen einreißenden Voraussetzung scheint der Mythos das gesamte Anliegen der platonischen Philosophie zu konterkarieren: Die Rehabilitation der Liebe erfolgt auf dem Boden einer Apologie des Wahn-



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sinns: Die „größten Güter“ (ta megista ton agathon) würden den Griechen „durch den Wahnsinn“ (dia manias) zuteil, der den Menschen als ein göttliches Geschenk verliehen wird (244a). Mantischer, kathartischer, dichterischer und nicht zuletzt der erotische Wahnsinn gelten Sokrates als allgemein zustimmungsfähige Belege für die kulturelle Produktivität eines außerordentlichen Bewusstseinszustands.9 Gezielt wird der Wahnsinn als ein Phänomen einführt, das alle Sinnstiftungen übersteigt.10 Erst im Heraustreten aus der Vernunft kann diese selbst als eine bestimmte und insofern auch beschränkte sichtbar gemacht werden. Der Liebende dagegen kann nun nicht mehr als epistemisches Defizienzwesen kategorialisiert werden, stellt der rauschhafte Zustand seiner Un-vernunft, Un-zurechnungsfähigkeit, Ir-rationalität doch nun das Kategoriengefüge selbst infrage. Auch der von Vernunftbestimmungen befreite Eros bedarf einer Form, um in seinem göttlichen Charakter überhaupt sichtbar zu werden. Da aber die en­thusiastische Seele nicht mehr zum Objekt einer vergegenständlichenden Rede gemacht werden kann, lässt sie sich nur bildhaft aufzeigen11 vom enthusiastischen Dichter: Sokrates, dem Mythopoeten. Das Ausgangsbild des Seelenmythos ist eines der berühmtesten Gleichnisse überhaupt. In ihm wird die Seele als „der zusammengewachsenen Kraft eines geflügelten Gespanns und des Wagenlenkers“ (246a) gleichend beschrieben. Das Bild ist hochkomplex und unterläuft genau jene konventionellen Deutungsansätze,12 die ausgerechnet hier eine Son-

9 Die erneute dialogische Einheit von Form und Inhalt sei an dieser Stelle nur angedeutet: Alle Formen des Wahnsinns, die Sokrates beschreibt, werden dialogintern von ihm selbst repräsentiert: Sein Daimonium macht ihn zum Mantiker, die Nymphen des göttlichen Ortes lassen ihn zum Dichter werden, der Frevel seiner ersten Rede erzwingt eine Katharsis und der Gesamtzusammenhang von personaler und situativer Dimension zeigt ihn im erotischen Ausnahmezustand. 10 Mit Recht stellt Stegmaier 1998 an dieser Stelle den Bezug zur ersten Erosrede her: Hatte Sokrates dort zur Bestimmung der Liebe noch den Logos als Kriterium für die Unterscheidung von Besonnenheit und Hybris eingeführt, „wird der Wahnsinn des Eros nun höher geschätzt als die sophrosynae des Logos.“ (S. 214) 11 Im dafür gewählten Begriff der Apodeixis (245c) ist der Doppelcharakter von Aufzeigung qua Beweis und Visualisierung von Bedeutung für die Verschiedenheit der Sprach- und Bildebenen enthalten, derer sich Sokrates im Folgenden bedient. 12 Zur Überlagerung der Bilder im Seelenmythos vergleiche die treffende Bemerkung von Heitsch 1997, S. 93: „So bildhaft die Darstellung zu sein scheint, in Wahrheit wird eine realistische Anschaulichkeit durch den Wechsel der Metaphorik gerade verhindert und damit auch jeder Versuch, Einzelheiten der Bilder auszudeuten.“ Es bleibt anzumerken, dass solche Einzelheiten durchaus ausgedeutet werden können und müssen, allerdings nur, wenn man von Vornherein der Interferenz der Bilder im mythischen Gesamtgefüge Rechnung trägt. Zu kurz dagegen greift Szlezak 1996, der im Wagenlenker „ein durchsichtiges Bild für die Vernunft der Seele“ sieht und folgert: „Von den Teilen des Seelenwagens ist nur dieser menschengestaltig. Nur die Ver-

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dierung des psychischen Apparates nach statischen Einzelteilen vornehmen wollen. Ausgehend von einer Allbewegung des Seelischen, die im vorhergehenden Unsterblichkeitsbeweis dargelegt wurde (245c–246a), lässt sich vielmehr konstatieren: Da die Seele als das Immer-Bewegte gilt, kann der Wagenlenker sein Gespann niemals zum Anhalten zwingen und damit vollständig beherrschen – andernfalls käme die Seele selbst zum Stehen, was aber zuvor per definitionem ausgeschlossen wurde. Demgegenüber wird das Eigenleben der Seele im Gleichnis sukzessive als strukturelles Koordinationsproblem entfaltet. Das Problem der Gestaltung psychischer Regungen gewinnt damit Priorität gegenüber dem ihrer Gestalt. Dem Lenker kommt die Aufgabe zu, den gegenläufigen Bewegungsdrang der Pferde zu koordinieren, um das Gefährt in eine gerichtete Gesamtbewegung zu überführen. Die Charaktere und Eigenheiten, die Sokrates den Pferden zuerkennt, implizieren scharfe Wertungen. Das eine Ross wird als schön, edel und von ebensolcher Herkunft (246b) charakterisiert und nimmt damit die Selbstbeschreibung der Athener Eliten als Kalokagathia, als die „die Schönen und Edlen“ auf. Das andere Pferd wird jenem eigenschaftlich entgegengesetzt und später als stumpfnasig, schwarz, ungebildet und triebhaft ausgewiesen. Es ist mit „Hybris und Schamlosigkeit vertraut“, „schwerhörig, der Peitsche und den Stacheln kaum gehorchend“ (353e). Die so in der Seele angelegte Asymmetrie der Bestrebungen macht das Geschäft des Lenkens „mit Notwendigkeit schwierig und unangenehm“ (246b).13 Präzisiert wird die kybernetische Problematik des Wagenbilds durch die Flügelmetaphorik, in der das Seelendrama als Taumel zwischen der Aufwärtsbewegung zum Göttlichen und dem Absturz zurück in die Bereiche der Sterblichen geschildert wird. Nur die mögliche Berührung des Göttlichen bietet jetzt den Bezugspunkt für das Seelenleben als Ganzes. Während die vollendete Seele befiedert ist und ungehindert den Kosmos durcheilt, hat die unvollkommene einstmals „irgendwie“ ihre Flügel verloren und sich im Sturz an etwas Festes, Körperliches geheftet, das durch diese seelische Bereicherung seinerseits zum Lebewesen wurde. Das Göttliche im Menschenwesen ist innerhalb dieser Verortung in

nunft ist also das eigentliche Menschliche am Menschen, in Platons Sprache freilich zugleich das Göttliche in ihm.“ (S. 120) Die im Mythos etablierten Verhältnisse sind mit dieser platonistischen Lesart geradezu konterkariert. 13 Für Graeser 1969, S. 42 f., ist „das rationale Substrat dieser Allegorie unschwer zu erkennen“. Er sieht sie in der Dreiteilung der Seele aus Politeia IV, die ebendort „als theoretisch hergeleitete Psychologie“ formuliert werde, sich hier aber lediglich „bildhaft“ wiederfinde. Die Deutung zeigt exemplarisch, wie einem systematischen Anliegen die dialogischen Kontexte und mit ihnen auch die augenscheinlichen Unterschiede zwischen beiden Entwürfen zugunsten eines rekonstruierten „Substrats“ geopfert werden.



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der Natur des Gefieders, in dessen Fähigkeit, das Schwere nach oben zu führen, gegeben. Durch die Wiedereinblendung des Bilds vom Gespann wird das interne Koordinationsproblem jetzt kosmologisch ausgerichtet. Das schlechte Pferd zieht hinab, während das edle aufwärts strebt – „der Seele stehen äußerste Mühe und Kampf bevor“ (247b). Die psychischen Passionen werden als Entfernung vom Göttlichen veranschaulicht und manifestieren sich in Sturz und Fall. 14 Sokrates stellt, an diesem Punkt des Mythos angelangt, den Bezugscharakter des Unbedingten für das Bedingte durch eine weitere gewagte Bildverschiebung her: Die Seele nähert sich dem Göttlichen in dem Maße, in dem sich das Seelengefieder von den göttlichen Eigenschaften ernährt (trephetai) und infolgedessen seine Federfülle und Flugfähigkeit vermehrt (auxetai, 246e) wird. Den äußersten Bezugspunkt in der metaphorischen Verräumlichung der Seele bildet der „überhimmlische Ort“ (hyperouranios topos, 247c). Dieser höchste Punkt der sokratischen Vision ist als Angel- und Wendepunkt zugleich konzipiert. An ihm trennen sich göttliche und menschliche Gespanne endgültig. Während wenigen Wagenlenkern der Menschenseele ein Blick durch den durchlässigen Gipfel ins Außerhalb des Überhimmels gewährt ist, dringen die Gespanne der Götter vollständig nach außen durch und stellen sich auf die „Rückseite des Himmels“. Was jene dauerhaft erleben, haben die Menschenseelen nur kurz erspähen dürfen, bevor sie wieder nach unten gerissen wurden: Ein eidetisches Reich des „farb- und gestaltlosen, unberührbaren, wahrhaft seienden Seins“ (247c), das im Gestus religiöser Emphase als vollständig unprädizierbar ausgewiesen wird.15 Die Kenntnisnahme dieses Ursprungsortes aller möglichen Sinnstiftung macht den Menschen erst zu einem solchen: Eine Seele, „die nämlich niemals die Wahrheit gesehen hat, wird nicht in diese [menschliche] Gestalt eingehen“ (249b). Es bleibt dies jedoch eine Kenntnisnahme um den Preis massiver Irritationen. Gestört von den Pferden, kann der Lenker nur mit Mühe (mogis) auf das wahre Sein blicken. Es gelingt ihm nicht, das Gespann auf der notwendigen Höhe zu halten – die Seele sinkt und steigt abwechselnd und sieht dementsprechend manches vom überhimmlischen Ort, vieles anderes aber nicht. Dieses einstmals nur hastig Erschaute ist jedoch das, was den Sterblichen das Denken überhaupt erst ermöglicht. Die Tätigkeit des Denkens ist im gegebenen

14 Vgl. dazu Karl Reinhardts Vorbehalte gegenüber theoretischen Übersetzungsversuchen der Seelendramatik: „Wen der Mythos nicht als Mythos überzeugt, wer nicht zuerst erkennt: das ist die Seele, dies ist, was da schwingt und stürzt, der mag mit einer Theorie über die Seele, die er aus dem Mythos ziehen mag, machen was er will.“ (Reinhardt 1960, S. 257) 15 Zum Problem der Ideen und ihrem Inszenierungsgrad in den unterschiedlichen Konzeptionen Platons vgl. Wieland 1982, für den „eine recht verstandene Ideenlehre […] immer nur den Status einer Reflexionstheorie“ (S. 103) hat.

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Bild als wesenhaft anamnetisch, als Wiedererinnerung des im alltäglichen Leben verloren geglaubten Ideenbezugs ausgewiesen. Das anamnetische Seelendrama erweist sich mit all seinen qualifizierenden und disqualifizierenden Momenten schließlich als Selektionsprozess, in dem „nur wenige übrig bleiben“ (250a). Dass der Philosoph zu diesen gehört, steht von Beginn an außer Frage. Er hat am intensivsten um die Schau des überhimmlischen Ortes gerungen und ist dementsprechend am meisten befähigt, das damals Erblickte in der innerweltlichen Reflexion zu aktualisieren. Dass ihm der Schönheitsliebende und der Erotiker gleichrangig sind, wird von Sokrates dagegen zunächst nur apodiktisch gesetzt. Warum dies so ist, blieb bis hierher noch offen. Denn der entscheidende Zusammenhang zwischen Wahrheit und Schönheit, zwischen Liebe und Philosophie wird erst jetzt hergestellt. Die sinnliche Erfahrung des Schönen ist ein Totaleindruck, der als einziger in der Zeit gegebene Eindruck über sich hinaus auf das Zeitlose verweist. Die vermeintlich bevorzugten „Gegenstände“ geistiger Bemühung wie Gerechtigkeit, Besonnenheit etc. sind daran gemessen ohne eigene Leuchtkraft und verbleiben so als nachrangige Abbilder (homoiomata). Sie verweisen bei aller intellektuellen Bemühung immer nur mittelbar auf ihre jeweiligen Urbilder. Nur das Schöne wirkt auf Menschen entschieden unvermittelt. Es ist durch eine schmerzhafte Präsenz charakterisiert. Für Sokrates sind es allein ein gottgleiches Antlitz (theoeides prosopon) oder die Gestalt eines Körpers (somatos idea), die Erschütterung auslösen und zur Verehrung des entsprechenden Objekts zwingen. Den Anblick des Schönen schildert er nicht als ästhetischen Genuss, sondern als existentiellen Einschlag, der einen aus der Sphäre der alltäglichen Wahrnehmung herausreißt und nolens volens wahrheitsfähig macht. Dass die Schönheit dabei als sexueller Reiz wirkt, ist konstitutiv für die im Mythos folgende Pathologisierung des Liebenden, die zugleich die Gestaltung der Liebe als Akt der Selbstkonstitution entwickelt. Das Ergriffen-Werden von der Liebe ist so verstörend, dass Sokrates ihr den bei weitem ausführlichsten Teil des gesamten Mythos widmet. Denn die Schrankenlosigkeit des Begehrens und der Versuch, dieses zu begrenzen, formieren nun einen psychischen Dauerkonflikt, eine agonale seelische Konstitution, die so angelegt ist, dass der Liebende seine spezifische Disposition und damit sein individuelles Selbst überhaupt erst in der Erfahrung der Liebe kennenlernt. Im ständigen Kampf gegen die natürliche Gewaltsamkeit der Triebe – Sokrates malt ihn mit einer Reihe blutiger Domestikationsmetaphern aus (254c–e) – entsteht erst in dem Maß ein Selbst, in dem sich eine einsichtsfähige Gegengewalt etablieren kann.16 In der allmählichen Disziplinierung und Kultivierung des

16 Vgl. dazu Stegmaier 1998, S. 216: „Aber eben hier hat das Selbst seinen Ort, konstituiert sich



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Begehrens verwandelt sich die Seele des Erotikers in ein Selbst, das lernt, in ein Spiel von Begrenztheit, Entgrenzung und neuer Grenzziehung einzutreten. Es ist diese Befähigung zur Selbstkonstitution, in der die Praxis des Philosophen und des Erotikers unmittelbar konvergieren. Offenbar ist der mythische Entwurf der Seele von Platon zugleich als Genealogie des sokratischen Philosophierens angelegt worden. Wenn Sokrates als Liebender zur Philosophie gelangte, so konnte er sich doch auch und vor allem als Philosophierender zu seiner Befangenheit durch die Liebe verhalten. Die Fähigkeit, zu seinem leitenden Affekt in ein reflektiertes Verhältnis zu treten, steht dabei nicht im Dienst der endgültigen Beherrschung der sinnlichen Impulse. Vielmehr wird von ihr her auch die Kultivierung dieses Affekts möglich. Um die letztmalige Vergegenwärtigung dieser ihn zur Philosophie führenden Ausgangserfahrung scheint es Platon im Phaidros gegangen zu sein. Während Sokrates aus der permanenten Gespanntheit des erotischen Bezugs heraus gelebt und philosophiert hat, musste Platon – nicht zuletzt als Gründer der Akademie – diesen Vorgang in eine allgemein lebbare Form, in die Lebensform des Miteinander-Philosophierens (symphilosophein) überführen. Die Akademie als erste philosophische Schule institutionalisiert den sokratischen Drang zum Rechenschaft-Ablegen vor sich und anderen (logon didonai) und verwandelt das erotische Ereignis in eine von gemeinsamen Interessen geleitete Freundschaft (philia). Die Disziplinierung und Verortung des atopischen Sokrates war, so gesehen, Bedingung für die Ermöglichung der Philosophie als einer Disziplin.

das Selbst: im Kampf um Selbstbeherrschung mitten im Begehren“. Griswold 1986 dagegen thematisiert zwar ebenfalls die Formation des Selbst, verkennt diese jedoch, indem er sie als eine notwendig in sich abschließbare Bewegung deutet. Das formierte Selbst ist bei ihm das Produkt einer allmählich gewonnenen Einsicht der menschlichen Natur: dass sie die ihr jeweils gesteckten Grenzen trotz aller Bemühung nicht übertreten kann. In seiner statischen und finalisierenden Interpretation wird „the surpression of the subject“ (S. 104) als das entscheidende Moment geltend gemacht, während die Seele sich im Eros auf gefährliche Weise vergesse. Der problematischen Idealisierung der Schönheit korrespondiert bei Griswold ein Selbst in der Gestalt eines fixierten Herrschaftsverhältnisses.

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 Enrico Müller

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Beruhigung und Beunruhigung

Benjamin Alberts

Beruhigung und Beunruhigung. Über den Umgang mit Unsicherheit bei Epikur und in der Philosophie der Orientierung Epikur ist durch systematische und individuelle Autorität seit Beginn seiner Lehrtätigkeit im 4. Jahrhundert v. Chr. ein bedeutsamer philosophischer und persönlicher Anhaltspunkt für Menschen unterschiedlichster Herkunft und Altersstufen. Seine Anziehungskraft wurde so zu einer Orientierungsmöglichkeit für die Denkund Lebensweise vieler und besteht bis heute fort. Die Philosophie Epikurs soll hier unter Gesichtspunkten der Philosophie der Orientierung untersucht und in Grundzügen mit ihren Begriffen dargelegt werden. Beide Philosophien weisen grundlegende Gemeinsamkeiten auf: So kann das Ziel des Epikureismus als „Kontingenzbewältigung“ (Geyer 2004, S. 25) gesehen werden, die nicht endgültig, sondern immer wieder zur Erreichung der Seelenruhe (ἀταραξία) führt. Aufgabe der Orientierung hingegen ist das „SichZurechtfinden“ in immer neuen Situationen und in einer Grundstimmung der „Beunruhigung durch Zeitdruck“. „Beruhigung ist das Kennzeichen der gelingenden Orientierung und auch schon ihr Maßstab“ (Stegmaier 2008, S. 164), und auch Epikurs Philosophie strebt nach dieser Beruhigung. Exemplarisch dafür ist das Tetrapharmakon (τετραφάρμακον), also das vierfache Heilmittel: Denn wer, glaubst du, ist stärker als jener, der über die Götter ehrfürchtige Vermutungen hegt, der gegenüber dem Tod ganz und gar angstfrei ist […] und klar erfaßt, daß das Höchstmaß der Güter leicht zu erfüllen und leicht zu beschaffen ist, das Höchstmaß der Übel aber flüchtige Phasen oder Qualen aufweist? (Brief an Menoikeus 133)

Durch therapeutische Maßnahmen will Epikur den Menschen die Angst vor Göttern, dem Tod, vor Mangel und Schmerzen nehmen und sie durch stetes Üben zu souveränen Weisen machen. Seine Strategien und Methoden im Umgang mit dem Ungewissen sind durch die Mittel der Philosophie der Orientierung auf eine neue Weise zugänglich: Sie beschreibt, wie man durch Halt an Zeichen und Routinen, durch Achtung, Planung und Standardisierung mit Unsicherheit und Beunruhigung umgeht und so lähmende Halt- und Orientierungslosigkeit vermeidet. An Epikur lassen sich diese Orientierungsweisen beispielhaft nachvollziehen.

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Persönliche Voraussetzungen Epikur ist geprägt von den politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und religiösen Umbrüchen des frühen Hellenismus. Die griechische πόλις befindet sich während der anhaltenden Diadochenkriege in einer Krise,1 und nicht zuletzt aufgrund dieser äußeren Unsicherheit wendet sich der Blick des Philosophen zusehends nach innen.2 Statt Mythos und Religion steht nun vermehrt eine Philosophie im Mittelpunkt, die als „neue Lebensorientierung […] zur ,Lebenskunst‘, zur Orientierungshilfe für den einzelnen in den Nöten des Lebens“ (Müller 1991, S. 11) werden soll. Grundlegend für das neue Denken Epikurs ist dabei der Gedanke des Zufalls (τύχη), der seine Erfahrungen philosophisch widerspiegelt. Die Sicherheit und Stabilität der äußeren Ordnungen und Traditionen ist durch die krisenhaften Umwälzungen haltlos geworden: weder auf die Politik noch auf das Militär, die Wirtschaft oder die Götter war Verlass. Durch das Versagen dieser alten Routinen der Polis und die dem folgende allgemeine Orientierungslosigkeit trat für Epikur die Notwendigkeit einer funktionierenden individuellen Orientierung umso deutlicher hervor. Ihm wurde bewusst, dass es absolute Sicherheiten und verlässlichen Halt an anderen nicht mehr gibt und man stattdessen lernen muss, mit dauernden Unsicherheiten und dem Zufall umzugehen – in den Worten der Philosophie der Orientierung: „Es ist die Grundbedingung jeder Orientierung, unter Ungewissheit zu operieren.“ (Stegmaier 2008, S. 14) Dafür entwickelt Epikur die unterschiedlichsten Strategien.

Sicherheit durch persönliche Autorität und Vertrauen Sein erster Schritt ist der Rückzug in den κῆπος, einen Garten in Athen, in dem er lehrt und lebt. Durch diesen Schritt ist der radikale Bruch zum traditionellen,

1 Ging man früher von einem Niedergang der Polis während des Hellenismus aus, nimmt man inzwischen eher an, dass sich die Poleis in dieser Zeit zwar strukturell veränderten, insbesondere hinsichtlich ihres demokratischen und nun zusehends oligarchischen Charakters, sie aufgrund der geographischen Ausbreitung und des ökonomischen Gewichts der griechischen Kolonien jedoch eine mindestens so große Bedeutung wie in der klassischen Epoche besaßen. Vgl. Hansen 2006. Auch Epikur selbst wuchs in einer Kolonie auf, weil sein Vater Neokles als Kolonist von Athen nach Samos umsiedelte. 2 Vgl. Geyer 2004, S. 14. Geyer spricht von „einem völligen Umbau des Selbst- und Weltverständnisses des griechischen Menschen.“



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aber unsicher gewordenen Leben in der Öffentlichkeit vollzogen. Die Abgeschlossenheit und Übersichtlichkeit des Gartens bietet Stabilität, Autonomie und neue Sicherheit vor der Kontingenz der Umwelt. Epikur installiert hier feste Strukturen, an denen man Halt findet: Er setzt seine eigene Persönlichkeit so in Szene, dass er für alle mit ihm im Garten lebenden Schüler, Freunde und Interessierte selbstverständlich die zentrale Autorität darstellt. Die bewusst abgegrenzte Lebensweise der epikureischen Gemeinschaft ist sicher auch als Antwort auf die scharfe Konkurrenz der verschiedenen Philosophenschulen in Athen zu verstehen. Epikurs Anhänger treffen „eine Entscheidung zur Loyalität, zum Anschluss an eine kollektive Identität […] auch über entgegenstehende Gründe hinweg.“ (Stegmaier 2008, S.  485) Diese Identität als Epikureer bietet der Orientierung Sicherheit, erweckt ein Gefühl von Verlässlichkeit auf die Gemeinschaft, der man angehört: „Man ist ,stolz auf‘ sie, ist sich in ihr der Anerkennung anderer gewiss und hat so einen ,festen Halt‘ an ihr“ (Stegmaier 2008, S. 439). Epikur stellt als „Person die Plausibilisierung des Programms“ (Geyer 2004, S.  9) dar. Ganz bewusst stilisiert er die „Vorbildwirkung seiner Persönlichkeit“ (Müller 1991, S. 21), ohne sich allein auf die Überzeugungskraft seiner Schriften zu verlassen. In Zeiten der Unsicherheit ist Entschiedenheit gefragt, an die sich andere halten können. Epikur liefert genau dies eben mit seiner persönlichen „Autorität, die über die Grundgedanken entscheidet“, die dann wiederum „nicht mehr bewiesen, sondern nur noch gelernt werden“ (Hossenfelder 2006, S.  19) müssen. Autorität hat man dann, wenn die eigenen „Maßstäbe ohne weitere Begründung von andern übernommen werden“, wenn man also selbst „die Plausibilitätsstandards setz[t]“ (Stegmaier 2008, S. 512) und andere ihnen mit Achtung begegnen. Diese Autorität hat Epikur einerseits durch seine philosophische Kompetenz und Eigenständigkeit erworben, die er aus diesem Grund bewusst betont.3 So sei er von keiner anderen Strömung der Philosophie beeinflusst und in seinem Denken gänzlich unabhängig. Er distanziert sich von seinem Lehrer Nausiphanes und erwähnt Demokrit kaum, obwohl zumindest dessen Atomismus eine offensichtliche Prägung für ihn darstellt (vgl. Bailey 1964). Sein offensichtliches Vertrauen in die eigene Philosophie erleichtert es Epikurs Schülern, sich auf ihn zu verlassen. Er bemüht sich um weitestgehende Eindeutigkeit in der Kommunikation und wird durch diese Entschlossenheit zum „Fixpunkt“ für seine Schüler. Sie

3 Vgl. Erler, 2011, der deutlich „Epicurus’ zeal for originality“ betont: „he established straightforward guidelines that allowed him as founder of a school to appropriate material from existing philosophical and literary traditions while still maintaining a critical distance from them, and that allowed his students room for personal emphases, notwithstanding their own firm commitment to school dogma.“ (S. 9 f.)

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wissen in jeder Situation, was sie von ihrem Lehrer zu erwarten haben, da er sich klar ausdrückt und konstant verhält. Dies führt zu einem „Aufbau von Vertrauen“ ihrerseits, in welches wiederum der Lehrer vertrauen kann. Diesem „Vertrauen in den Umgang mit Vertrauen“ entspringen schließlich „Vertrauensroutine[n]“, die das Miteinander in der „doppelten Kontingenz“ (Stegmaier 2008, S. 417–419) erheblich vereinfachen.4 Andererseits stammt die Autorität auch aus der Art des Zusammenlebens mit seinen Anhängern. Epikur ritualisiert das Miteinander, indem er regelmäßig verschiedene, monatlich und jährlich und auch über seinen Tod hinaus wiederkehrende Feste feiern lässt, an denen man seine Schriften vorträgt und seiner Person gedacht wird. Diese Veranstaltungen sollten mitunter auch „Werbezwecke“ (Hossenfelder 2006, S. 18) erfüllen, also zu neuen Schülern und finanziellen Mitteln verhelfen. Überdies lässt er verschiedene Statuen und Bildnisse von sich aufstellen, die zur Verehrung anregen sollten.5 Diese nahm „zuweilen religiöse Züge“ (Hossenfelder 2006, S. 20) an. Epikur bleibt zudem, anders als etwa bei den Stoikern, das einzige bedeutende Oberhaupt der Schule. Diese Selbstinszenierung ist laut Epikur aber nicht vorrangig durch Eigennutz motiviert: „Die Verehrung des Weisen ist ein großes Gut für jene, die ihn verehren.“ (Weisungen 32) Das Vorbild des Weisen ist vor allem eine Orientierungshilfe, ein Zeichen für andere, an das sie sich halten können, wenn sie es nötig haben.6 Es ist als Zeichen auch dann wirksam, wenn der Weise selbst abwesend ist, weil man ihn sich immer als ethisches Regulativ und Korrektiv denken kann: „,Handle in allem so […], als ob Dir Epikur zusähe!‘“ (Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, III 25.5)

4 Vgl. Stegmaier 2008, S. 408–422. Doppelte Kontingenz bedeutet, „[d]ass man den Verlauf von Kommunikationen nur begrenzt vorhersehen und steuern, dass er immer überraschend sein kann“, und zwar für alle Kommunikationsteilnehmer. „Doppelte Kontingenz ist das Problem, das in der Kommunikation immer neu bewältigt werden muss“ (S. 409). 5 Die ästhetische Faszination dieser Bildnisse hat über 2000 Jahre später noch Friedrich Nietzsche gespürt: „Ich sah […] mir noch einmal Epicur’s Büste an: Willenskraft und Geistigkeit sind im höchsten Grade an dem Kopfe ausgeprägt.“ (Brief an Heinrich Köselitz, 1. Juli 1883, Nr. 428, KSB 6.389) „Der antike Kopf Epikurs […] gab mir zu denken“ (Brief an Franz Overbeck, 20. Mai 1883, Nr. 419, KSB 6.379). Nietzsche hatte sich zuvor im Mai und Juni 1883 mehrfach eine Marmorbüste Epikurs im Kapitolinischen Museum in Rom angesehen und eventuell sogar eine Reproduktion von ihr erworben (vgl. KGB III 7/1.388). Für die verschiedenen Formen der ästhetischen Verehrung Epikurs vgl. Frischer 1982. 6 Vgl. Bertino 2007, S.  128: In den „hellenistischen Weisen […] kann man ethische Symbole sehen. Sie sind ethische Vorbilder jenseits normativer Theorien der Moral. Sie machen in einer Figur, in einem Zeichen, ein Ganzes von Werten plausibel, die sich nicht in einem moralischen Diskurs entwickeln lassen.“ Für ein Beispiel vgl. Lukrez, De rerum natura, III 1–6.



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Formen der philosophischen Schriftstellerei Auf die Bedürfnisse seiner Schüler geht Epikur auch bei der Wahl der Formen seiner philosophischen Schriftstellerei ein. Unterschiedlichen Lesern begegnet er mit unterschiedlichen Schreibweisen, um ihnen unterschiedliche Inhalte vermitteln zu können. Das zeigt sich besonders an seiner „kunstvoll auf den jeweiligen Adressaten zugeschnittene[n] Privatkorrespondenz“ (Krautz 2000, S.  135), die in mehreren Brieffragmenten erhalten ist. Auch im direkten Verkehr mit seinen Schülern ist die individuelle Ansprache besonders wichtig, nicht zuletzt, weil sich im κῆπος auch Frauen und Sklaven befinden, die kaum über Vorwissen verfügen. Seine „entscheidenden Lehrsätze“ etwa, die 40 κύριαι δόξαι, formuliert Epikur äußerst knapp, pointiert und einprägsam. Auch seine anderen Schriften, darunter zusammengefasste Vorträge und katechistische Spruchsammlungen, sind auf Übersichtlichkeit, Verständlichkeit und Eindeutigkeit ausgerichtet. Die Schüler sollen die philosophischen „Hauptlehren memorieren, gedanklich beherrschen und, sofern es um ethische Grundsätze ging, praktisch einüben.“ (Krautz 2000, S.  147) Tiefergehende Schriften stehen nur den begabten Anhängern offen, die schon Bereitschaft zum ernsten philosophischen Leben gezeigt haben. Allein ihnen behält Epikur philosophische Entscheidungen vor, die er in erster Linie nicht als Privileg, sondern als Belastung sieht, weil sie Verantwortung erfordern und so ein Hindernis für die angestrebte Seelenruhe darstellen können. Auch wenn das Auswendiglernen von bestimmten Grundsätzen wie ein starres Lehrsystem erscheinen mag, geht es Epikur gerade nicht um die Vermittlung von „zeit- und kontextlos gültige Regeln“, er „wollte gerade kein Instrumentarium zur diskussionsfreien Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Leben vorgeben.“ (Geyer 2004, S. 63) Die Regeln bleiben Anhaltspunkte neben anderen Anhaltspunkten für die Anhänger, sind als Leitfaden von Empfehlungen zu verstehen. Das Einüben der Leitsätze soll den Spielraum des jeweiligen Schülers im Umgang mit den je eigenen Erfahrungen erweitern, soll die Möglichkeit von immer anderen Perspektiven erfahrbar machen – epikureische Schriftstellerei ist im Kern Lebenshilfe. Das Spezielle an ihr ist die enge Verbindung zwischen Form der Schriftstellerei und Lebensform: „Philosophie erlernen heißt gleichzeitig, eine Lebensweise zu erlernen und zu praktizieren, selbst wenn man Texte liest.“ (Hadot 1999, S.  180) Gerade die im Epikureismus so wichtigen Spruchsammlungen müssen insofern mit der Paradoxie umgehen, individuell auf den jeweiligen Rezipienten abgestimmt zu sein, gleichzeitig aber die epikureische Philosophie möglichst allgemein wiedergeben zu müssen, um sich nicht in vom Wesentlichen ablenkenden Details zu verlieren.

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Die Lebens- und Praxis-Orientierung der Philosophie Epikurs Der Lebensbezug steht auch inhaltlich im Zentrum der epikureischen Philosophie. Dem Primat des Ethischen haben sich andere Bereiche wie Kanonik und Physik unterzuordnen. Weil Epikur beispielsweise Dialektik und Rhetorik nicht als Beitrag zu einem besseren Leben sieht, lehnt er sie schlicht ab. Ihm geht es nie um bloße Wahrheitsfindung und -verkündung, sondern um Überzeugungen, die sich auf praktischer Ebene auswirken: „Leer ist jenes Philosophen Rede, durch die kein Affekt geheilt wird. Denn wie die Heilkunde unnütz ist, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch die Philosophie nichts, wenn sie nicht die Erregung der Seele vertreibt.“ (Fragment Us. 221) Epikureische Ethik ist Bewältigungshilfe für das Leben. Es geht Epikur wie der Orientierung immer zuerst um das Zurechtkommen. Er fixiert sich nicht auf den theoretischen Wahrheitsstatus einer Überzeugung, sondern darauf, ob er sie im Alltag produktiv nutzbar machen kann. Wahrheit ist für ihn Nützlichkeit. Das heißt aber auch, dass Wahrheiten immer nur Wahrheiten auf Zeit sind. Man ist auf immer neue Perspektiven und Standpunkte angewiesen, um angemessen auf sich ändernde Umstände reagieren zu können, muss von Überzeugungen also auch absehen können. Epikurs Lehre ist „zufallsabhängig (stochastisch) definiert […], insofern [sie] dem Augenblick und den Umständen Rechnung tragen muß.“ (Hadot 1999, S. 249) Diesen Umgang mit der Unsicherheit, mit dem Zufall kann und muss man üben. Das praktische Einüben bzw. die Askese (ἄσκησις), die einen Grundpfeiler des Epikureismus darstellt, ist paradox: Der Zufall ist das Ungewisse, also etwas, auf das man sich gerade nicht vorbereiten kann – denn wenn man sich auf etwas vorbereiten will, muss man schon Kenntnis davon haben. Die epikureische Übung ist eine Berechnung des Unberechenbaren. – „Die Orientierung antwortet auf die Grundstimmung der Beunruhigung mit der Grundhaltung der Aufmerksamkeit.“ (Stegmaier 2008, S. 169) Auch die Übungen sollen zunächst aufmerksam machen, um mit dem Unberechenbaren und der Beunruhigung umgehen zu können. Diese Aufmerksamkeit gilt nicht nur der Umwelt, sondern besonders auch dem Inneren, den eigenen Bedürfnissen und Nöten. So lautet ein grundlegender Satz des Epikureismus: „alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung (ἐν αἰσθήσει) gegeben“ (Brief an Menoikeus 124). Gutes und Schlimmes gibt es nicht an sich. Sie sind keine objektiven Werte, sondern abhängig von der jeweiligen Perspektive einer individuellen Orientierung, die immer auch anders sein könnte. Es ist der Sinn der Übungen, die eigene Orientierung durch Beschäftigung mit ihren Bedingungen und ihrer Funktionsweise auf äußere Zwänge vor-



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zubereiten. Eine Aufgabe etwa ist es, „[s]ich […] zu gewöhnen an einfache und nicht aufwendige Mahlzeiten“, weil dies „den Menschen unbeschwert gegenüber den notwendigen Anforderungen des Lebens“ (Brief an Menoikeus 131) mache. Ziel dabei ist es, „angstfrei gegenüber dem Zufall“ (ebd.) handeln zu können. Die Fähigkeiten (τέχναι), die durch die Übungen erlernt und geschult werden, steigern die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit, machen souverän. Wenn man dem Zufall angstfrei entgegentritt, kann man beruhigt handeln. Durch Souveränität kann man sich Beruhigung leisten. „Eine Minderung des Handlungs- und Zeitdrucks“ (Stegmaier 2008, S. 335) führt zu Ruhe und Entspannung. Weil die Kontingenz der Umwelt nie verschwindet, sind die Übungen eine nie endende Aufgabe. Durch ihre ständige Wiederholung wird man routiniert, es entsteht eine Regelmäßigkeit. Diese „Vertrautheit, die sich einstellt, wenn ,alles läuft wie üblich‘, ist die Basisstabilität der Orientierung.“ (Stegmaier 2008, S.  304) Die epikureischen Übungen zielen eben darauf ab, auf eine Selbststabilisierung unter instabilen Umständen. Erfolgreiche Routinen, die sich bereits bewährt haben, sollen schließlich durch Erinnerung und Verinnerlichung nochmals gefestigt werden.7

Freundschaft als Orientierung an anderer Orientierung Die freundschaftliche Atmosphäre der Schul- und Lebensgemeinschaft im κῆπος, den man als eine „inter-individuelle oder gemeinschaftliche Orientierungswelt“ mit ähnlichen „Lebensbedingungen und -bedürfnissen“ (Stegmaier 2008, S. 315) für alle bezeichnen könnte, trägt zur Erleichterung der philosophischen Übungen bei. Die Freundschaft ist für Epikur und seine Philosophie ein zentrales Gut: „Von dem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des gesamten Lebens bereitstellt, ist das weitaus Größte der Erwerb der Freundschaft.“ (Hauptlehren XXVII) „Jede Freundschaft ist um ihrer selbst willen zu wählen. Ihren Anfang jedoch nimmt sie beim Nutzen.“ (Weisungen 23) Die epikureische Auffassung der Freundschaft ist keine unerfüllbare Forderung nach ständiger Selbstlosigkeit, sondern eine realistische Beschreibung der alltäglichen Lebenswelt. Freundschaften entstehen zunächst meist, weil sie Vorteile für beide Seiten bieten, etwa Halt und Sicherheit durch wechselseitige Orientierung aneinander und eine Erweiterung der eigenen Perspektiven. Freundschaft ist Orientierung an anderer Orientierung

7 Darin ist auch eine Erklärung für Epikurs hohe Wertschätzung von Erinnerung und Gedächtnis zu sehen. Vgl. Weisungen 19.

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und erleichtert die „Übernahme bewährter Orientierungen“ (Stegmaier 2008, S. 364). Epikur betont besonders das Vertrauen, das zwischen Freunden wächst: „Nicht in dem Maße stützen wir uns auf die Unterstützung von seiten der Freunde wie auf das Vertrauen in ihre Unterstützung.“ (Weisungen 34)8 Es ist genau dieses „[p]ersönliche[] gegenseitige[] Vertrauen“, das „am stärksten zum Vertrauen in einen ,festen Halt‘ der Orientierung [ermutigt].“ (Stegmaier 2008, S. 418) Zugleich ermöglicht es zumindest auf Zeit einen Ausweg aus der Vereinzelung und Individualisierung, die die hellenistische Philosophie nach dem Kollaps der Gemeinschaft der Polis traf. Anhaltspunkt ist nicht die abstrakte gemeinschaftliche Identität als Grieche oder Athener, sondern vielmehr der konkrete „Freund, der Einzelne in der Begegnung mit dem Einzelnen.“ (Hadot 1999, S. 142) Durch eine „freundschaftliche Zurechtweisung“ kann er Anlass zur Selbstreflektion und Neuorientierung geben. Nicht immer bietet eine Freundschaft Sicherheit. Freundschaften sind nicht berechenbar, sondern können jederzeit auch irritieren und verunsichern. „Andere Menschen sind das Zuverlässigste, aber auch das Überraschendste in der Orientierung.“ (Stegmaier 2008, S. 365) Eine solche Überraschung mag in einer langen Freundschaft zwar unwahrscheinlich sein, ist dann, wenn sie dennoch eintritt, aber umso beunruhigender. Epikur ist sich dieses Wagnisses in jeder Freundschaft bewusst: „Man muß […] etwas riskieren um der Freundschaft willen.“ (Weisungen 28) Sind beide Seiten zu dem Risiko bereit, kann „daraus eine so innige Zuneigung [erblühen], daß die Freunde sich gegenseitig lieben, auch wenn sich kein Vorteil aus der Freundschaft ergibt.“ (Cicero, De finibus bonorum et malorum, I 69) Erst der „Verzicht auf Gegenseitigkeit“ (Stegmaier 2008, S. 593), der die moralische Forderung des μὴ βλάπτειν ἀλλήλους μηδὲ βλάπτεσθαι und die Verrechnung von Nutzen übersteigt, führt dazu, „daß wir die Freunde ebenso lieben wie uns selbst.“ (Cicero, De finibus bonorum et malorum, I 67) Die Liebe ist hier „volles Vertrauen ohne Distanz zum anderen, so aber auch keine Hilfe zu seiner Orientierung mehr.“ (Stegmaier 2008, S. 608)

Göttliche Anhaltspunkte „Von ,reiner Liebe‘ […], von einer Liebe, die nichts im Gegenzug verlangt“ (Hadot 1999, S. 147), kann man auch bei der Beziehung des epikureischen Weisen zu den

8 Vgl. Hauptlehren XXVIII: „[D]ie Sicherheit [wird] gerade unter eingeschränkten Bedingungen am ehesten durch Freundschaften vollkommen.“



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Göttern sprechen. „Der Weise bewundert Wesen und Verfassung der Götter; er versucht, dieser nahezukommen, und strebt gleichsam danach, sie zu berühren und mit ihr zusammenzusein; er nennt die Weisen Freunde der Götter und die Götter Freunde der Weisen.“ (Brief an unbekannten Adressaten, Us. 386) Damit es zu einer solchen Freundschaft kommen kann, bemüht sich Epikur zunächst, seinen Schülern den Aberglauben und die Angst vor den Göttern zu nehmen. Er versetzt die Götter dazu in entlegene Intermundien (μετακόσμια), also Zwischenwelten, die einen Einfluss der Welt auf die Götter und vor allem einen Einfluss der Götter auf die Welt unmöglich machen sollen. Auch sind die Götter bei Epikur unveränderlich, unsterblich und vollkommen sorgenfrei. Einerseits sind sie physisch konstant, weil sie in ihren Zwischenwelten keiner wesentlichen atomaren Veränderung unterliegen. Andererseits sind sie auch in ihrem Empfinden, ihrer Glückseligkeit konstant, weil sie aufgrund ihrer Unsterblichkeit immun gegen jeglichen Zeitdruck sind und keiner Orientierungsnot unterliegen. Sie haben daher keinen Anlass, sich in die Belange der Menschen einzumischen und so selbst in ihrer Ruhe zu stören, sondern bleiben auf Distanz zum weltlichen Geschehen. Durch diese idealisierten Attribute haben die Götter eine ethische Vorbildfunktion: Sie sind „das Vorbild für die Menschen, ihr Glück zu suchen.“ (Bertino 2007, S. 106) Epikur empfiehlt daher eine häufige Anbetung der Götter,9 nicht um sich etwas von ihnen zu erbitten,10 sondern um sie in ihrer Vollkommenheit betrachten und sich in ständigem Vergleich mit ihnen durch kontinuierliche Selbstüberwindung an sie annähern zu können. Er gibt damit seinen Schülern ein Ziel, nach dem sie sich ausrichten können, auch wenn es nie ganz zu erreichen ist. Genau dies ist der Sinn eines Fluchtpunkts der ethischen Orientierung: Man strebt nach etwas, „ohne dass man es schon ,greifen‘ kann und ohne dass man es vielleicht je erreichen kann.“ (Stegmaier 2008, S. 608 f.) Auch dieser Fluchtpunkt ist paradox: Epikur nimmt die Götter eigens aus der Welt und platziert sie in Intermundien, um sie von den Menschen zu trennen und jede Interaktion, jede Wechselwirkung zu verunmöglichen. Gleichzeitig aber soll es jedem möglich sein, diese Distanz zu überwinden und von den Göttern zu profitieren, indem man sie als Vorbild nimmt und sich an ihnen orientiert. Die Götter sind wirkungsvoll nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer gesetzten Wirkungslosigkeit.

9 Vgl. Brief an Anaxarchos, Us. 387: „Wir wollen den Göttern ehrfürchtig und formvollendet opfern, wie es sich gehört, und alles formvollendet den Bräuchen entsprechend verrichten“. 10 Vgl. Weisungen 65: „Sinnlos ist es, von den Göttern zu erbitten, was einer sich selbst zu verschaffen imstande ist.“

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Physik im Dienst der Orientierung Epikur will Angst, die größte Gefahr für die Seelenruhe, nicht nur vor den Göttern, sondern auch vor scheinbar unerklärlichen, unberechenbaren Naturphänomenen vermeiden. Dazu entwickelt er eigens eine materialistische, atomistische Physik: Es ist nicht möglich, die Angst bezüglich der entscheidendsten Gesetzmäßigkeiten zu lösen, wenn man nicht verstanden hat, welches die Gesetzlichkeit des Alls ist, sondern von sich aus irgend etwas auf Grund der Mythen argwöhnt. Es ist also nicht möglich, ohne Naturforschung unbeeinträchtigte Lustempfindungen zu erlangen. (Hauptlehren XII)

Die Natur ist bei Epikur nicht teleologisch ausgerichtet, sondern wird als kontingent und unvorhersehbar erfahren. Nicht nur die zwischenmenschliche, auch die natürliche Umwelt ist also stets unsicher und eine Quelle der Beunruhigung. Fundamentale Ängste, die den Handlungsspielraum derart einengen, dass man keine Anhaltspunkte mehr findet, sind eine Gefahr für die Orientierung im Ganzen. Die epikureische Physik hat das Ziel, die Menschen durch Informationen über die Natur so zu beruhigen und zuversichtlich zu machen, dass ihre Orientierung auch dann gelingt, wenn sie sich in kritischen Situationen befinden. Das Wissen um die Stellung, die der Weise im Kosmos einnimmt, gibt ihm bereits Halt und Sicherheit. Weil es Epikur um die praktische Dimension der Überzeugung geht, setzt er erneut nicht auf die Wahrheit, sondern auf die Plausibilität seiner Naturphilosophie. Plausibel ist das, worauf sich „[j]ede Orientierung verlässt“ (Stegmaier 2008, S.  15) und verlassen muss, weil sie nicht endlos nach weiteren Gründen fragen kann, sondern irgendwann zur Handlung gezwungen ist. Das Wissen um die Naturphilosophie Epikurs soll seinen Schülern so selbstverständlich werden, dass es schließlich „selbstvergessen“ (Stegmaier 2008, S. 306) ist und somit ohne weitere Entscheidungen, ohne weiteres Nachdenken funktioniert. Wahrheit ist für Epikur also nicht nur in ethischer, sondern auch in physikalischer Hinsicht nicht objektiv, sondern immer bezogen auf konkrete und individuelle Orientierungsbedürfnisse. Es spielt keine Rolle, ob die herangezogenen Erklärungen – mitunter bietet Epikur auch verschiedene, inkongruente Lösungen zu einer Sachfrage – die wirklichen Gründe sind oder ob es überhaupt möglich ist, von einzigen, eindeutigen oder wirklichen Gründen zu sprechen. Abschließende, letztgültige Erklärungen (ἀκριβώματα) sind für die Orientierung in Gefahrensituationen gar nicht nötig, um zurechtzukommen.11 Wichtig

11 Vgl. Borsche 1990, S. 112: „Die Epikureer lehnen es ab, nach ewigen Wahrheiten überhaupt zu



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ist allein, dass man in einer solchen kritischen Situation die Gründe Epikurs für ausreichend verlässlich hält, um vorläufige Gewissheit zu haben. Damit man sich etwa während eines Gewitters nicht in Zögern oder Panik verliert und handlungsunfähig wird, „entscheidet sich die Orientierung, Ungewissheit als Gewissheit zu behandeln.“ (Stegmaier 2008, S. 253) Zu einer solchen Entschiedenheit soll die Naturphilosophie Epikurs beitragen, die er selbst möglichst entschieden präsentiert. Bereits das Versprechen einer eindeutigen Erklärung des Alls kann bei den Anhängern zu einer Beruhigung führen. Dass er sein atomistisches Weltbild in Grundzügen von Demokrit übernimmt, übergeht Epikur konsequent. Zudem ist es möglichst einfach gehalten, um einen Zugang auch ohne entsprechende Vorbildung zu ermöglichen. Epikur unterscheidet Atome und den leeren Raum. Der Raum enthält die unveränderlichen, unendlich vielen Atome, die sich in einer fallenden Bewegung auf verschiedene Weise verteilen und so alles Existierende, selbst die Götter, bilden. Der Substanzanspruch von letzten, unteilbaren und unveränderlichen Einheiten ist eine metaphysische Tendenz, die sonst in Epikurs Denken kaum zu finden ist. Ob Epikur dabei wirklich an einen festen Bestand der atomaren Substanzen glaubt und damit dem „Bedürfnis nach festem Halt an festen Beständen“ (Stegmaier 2008, S. 645) durch Metaphysik nachgibt, oder dies nur vorgibt, um seinen Schülern in seiner Sicherheit und Eindeutigkeit einen festeren Anhaltspunkt zu bieten, ist letztlich unerheblich. Die verlässliche, nicht zu hinterfragende Grundlegung des Atomismus kürzt die Wahrheitssuche der Schüler Epikurs ab und gibt ihrem naturphilosophischen Denken ein festes Fundament. Durch die Gewissheit, die sie ausstrahlt, kommt die Lehre ihnen in ihrem Orientierungsbedürfnis entgegen. Die Erklärungen spezieller Phänomene und Sachfragen hingegen bieten mehr Interpretationsspielraum, können jederzeit revidiert werden und haben nur hypothetischen Charakter. Sie sind stets zugänglich für neue Antworten, solange sie nur plausibel sind.

forschen, weil sie befürchten, daß Fragen, die man nicht mit Sicherheit beantworten kann, den Seelenfrieden stören könnten.“

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Paradoxien I: Freiheit des Willens Im Zentrum des epikureischen Atomismus steht eine Paradoxie – in den Worten von Lukrez: Endlich, wenn immer sich schließt die Kette der ganzen Bewegung Und an den früheren Ring sich der neue unweigerlich anreiht, Wenn die Atome nicht weichen vom Lote und dadurch bewirken Jener Bewegung Beginn, die des Schicksals Bande zertrümmert, Das sonst lückenlos schließt die unendliche Ursachenkette. (De rerum natura, II 251–255)

Einerseits impliziert der Materialismus eine vollständige Kausalität aller Ereignisse, alles ergibt sich gesetzmäßig und determiniert. Selbstbestimmung kann es dann nicht mehr geben. Andererseits gibt es eine zufällige Atomabweichung, die Deklination. Sie ist eine Ausnahme im physikalischen System, „eine Ungesetzlichkeit innerhalb der Gesetzmäßigkeit“ (Geyer 2004, S.  108), und durchbricht den strengen Determinismus. Sie öffnet zugleich den Raum für individuelle Entscheidungen, für Willen, die selbst nicht weiter begründet sind und so geradezu als Inbegriff der Kontingenz gelten können (vgl. Stegmaier 2008, S. 421–424). Die Physik als fest geregeltes System schafft die Voraussetzung für ungeregeltes Verhalten, für den eigenen Willen. So kann man die Paradoxie der Physik Epikurs zugleich als Grundlage seiner Ethik begreifen. Bisher hat man ihm immer wieder die Inkonsistenz seiner Naturphilosophie vorgeworfen. „Die Deklination ist immer wieder als gravierendes Paradoxon empfunden worden.“ (Jürß 1991, S. 25) „[D]ie Philosophiehistoriker von der Antike bis heute [haben] an dieser Ablenkung ohne Ursache, an diesem Verlassen des Determinismus Anstoß genommen.“ (Hadot 1999, S. 145) Es geht Epikur aber nicht um logische Konsistenz, sondern um gelingendes Leben. Paradoxien sind dabei kein Hindernis, sie „machen der alltäglichen Orientierung keine Probleme. Sie kann ganz selbstverständlich auch mit [ihnen] arbeiten.“ (Stegmaier 2008, S.  XVII) Vielmehr sind die Paradoxien ein Mittel der Orientierung, im Denken Halt zu finden. „Eben weil Paradoxien das Denken blockieren, kann es nicht mehr ,hinter sie zurückgehen‘, und so können gerade sie zu ,letzten‘ und ,festen‘ Anfängen oder Ursprüngen des Denkens werden.“ (Stegmaier 2008, S. 10) So ließe sich die vermeintliche Schwäche des epikureischen Atomismus gerade als seine eigentliche Stärke begreifen. Freilich hat Epikur als Philosoph der Antike, die logischer Inkonsistenz und paradoxen Selbstbezüglichkeiten insgesamt ablehnend gegenübersteht, einen grundlegend anderen Hintergrund als die Gegenwartsphilosophie, die beispielsweise auf Luhmanns produktiven Umgang mit Paradoxien im Denken zurückgreifen kann, an der sich auch die Philosophie der Orientierung orientiert (vgl. Stegmaier 2008, S. 10). Es kann also nicht darum gehen, Epikur



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eine bewusste Verwendung von Paradoxien zuzuschreiben. Dennoch eröffnen die Interpretationswerkzeuge, die die Philosophie der Orientierung bietet, hier einen gänzlich neuen Zugriff auf die Philosophie Epikurs.

Paradoxien II: Die ἡδονή Eine zweite grundlegende Paradoxie bei Epikur ist die ἡδονή.12 Sie ist das Ziel (τέλος) des Epikureismus: Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste der Hemmungslosen und jene, die im Genuß bestehen, wie einige, die dies nicht kennen und nicht eingestehen oder böswillig auffassen, annehmen, sondern: weder Schmerz im Körper noch Erschütterung in der Seele zu empfinden. (Brief an Menoikeus 131)

Den entscheidenden Teil dieser Lust macht, neben der Schmerzlosigkeit des Körpers (ἀπονία), die Seelenruhe oder Unerschütterlichkeit (ἀταραξία) aus. Die ἀταραξία wiederum besteht gerade darin, weder Schmerz noch Lust zu empfinden. Einerseits ist sie also eine Lust und soll als τέλος verfolgt werden, andererseits ist sie nur erreichbar, wenn man frei von Lust ist. Das Ziel von Epikurs Philosophie ist ein paradoxes: durch Lustvermeidung soll man Lust erreichen. Eine Entparadoxierung ist mittels Differenzierung der Lust möglich. So unterteilt Epikur die Lust in zwei Arten, die kinetische und die katastematische (vgl. Held 2007, S. 48–103). Erstere ist eine „bewegte Lust“, die sich beispielsweise ergibt, wenn man einen Mangel, der sich als Durst äußerst, durch Trinken beseitigt. Die Lust entsteht dabei während des Trinkens. Die katastematische Lust soll dazu entgegensetzt eine ruhige, dauerhaftere Lust sein. Sie ergibt sich nach dem Trinken, wenn der Durst und damit der Mangel vollständig beseitigt sind, setzt also dann ein, sobald keine körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen vorliegen. Die ἀταραξία ist eine katastematische Lust, da sie als Seelenruhe den Zustand bezeichnet, der keine seelischen Störungen aufweist. Nur diese Lust ist als τέλος Epikurs zu sehen. Die bewegte Lust hingegen behindert die ἀταραξία in

12 Der Begriff wird im Deutschen üblicherweise als ,Lust‘ übersetzt, was allerdings zu häufigen Fehlinterpretationen geführt hat. Andere Möglichkeiten sind ,Annehmlichkeit‘, ,Vergnügen‘, ,Freude‘, ,Vorteil‘, ,Nutzen‘ und ,Gunst‘. Die ἡδονή umfasst alle diese Aspekte, wird durch sie aber nicht ausgeschöpft. Vgl. Geyer 2004, S. 75: „Von allen möglichen Übersetzungen von ,hedone‘ dürfte die als ,Lust‘ die am wenigsten schlechte sein“, so dass sie auch hier Verwendung findet.

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ihrer Ruhe und ist somit immer nur Mittel, den Zustand des Mangels aufzuheben und die ἀταραξία erst herzustellen.

Oszillation zwischen Beunruhigung und Beruhigung Ruhe und Beunruhigung stehen im Zentrum der Philosophie Epikurs, sie sind das Maß nicht nur seiner Ethik, sondern auch seiner Physik und Theologie. Dennoch ist die Ruhe kein Ziel, das, einmal erreicht, zeitlos gesichert wäre. Epikurs Konzept der εὐδαιμονία, also des Glücks oder der Lebenserfüllung, besteht, wie gezeigt, in einer möglichst großen Unabhängigkeit von äußeren Lebensbedingungen wie Natur, Eigentum und Politik, in Autarkie oder einer selbstständigen, souveränen Orientierung. Schon an diesen Formulierungen wird deutlich, dass es keinen dauerhaften Zustand des Glücks geben, sondern man es immer nur auf Zeit erreichen kann. Weil die Umwelt nicht konstant ist, muss man sich immer wieder neu auf sie einstellen, muss man seine Souveränität immer neu unter Beweis stellen. Worin Glück besteht, wird immer wieder neu erfahren. Es ist keine Lebenserfüllung nach dem Fund eines einzigartigen „Sinns des Lebens“, sondern ständiges Sich-Zurechtfinden in unterschiedlichen Lebensbedingungen.13 Die Philosophie als Umgang mit dem Zufall und der Unsicherheit ist daher eine Tätigkeit, eine ἐνέργεια,14 die der Weise betreiben muss, ist also Gegenteil vom vermeintlichen epikureischen Idyll ewiger Ruhe. Der epikureische „Begriff der Weisheit“ ist kein „Besitz von Informationen über die Wirklichkeit, sondern […] eine Lebensweise.“ (Hadot 1999, S. 256) Die Kunst des erfüllten Lebens besteht darin, die Momente der Ruhe zu maximieren. Diese Momente können schon deswegen nicht von Dauer sein, weil das Bemühen um Beruhigung selbst beunruhigt, „das Sich-sicher-fühlen-, Zur-Ruhe-kommen-Wollen […] seinerseits Unsicherheit und Unruhe [schafft]“ (Stegmaier 2008, S. 292). Das Glücks-Idyll wird nicht verworfen, sondern reformuliert: es gewinnt seine Stärke gerade aus seiner Zeitlichkeit, die es zu einem realistischen, erreichbaren Ziel macht, ohne es zu verklären. Seine Verwirklichung bleibt ein Versuch, der gelingen oder scheitern kann. In beiden Fällen reproduziert der Versuch sich selbst: scheitert er, will man ihn wiederholen. Gelingt er, führt er zu Beruhigung

13 Vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum, I 41: Nicht „hat unser Denken irgend etwas, wo es zur Ruhe kommt wie an einem Endpunkt“. 14 Vgl. Fragment Us. 219: „Ἐπίκουρος μὲν ἔλεγε τὴν φιλοσοφίαν ἐνέργειαν εἶναι“.



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und Entspannung, die unaufmerksam werden lassen und schließlich eine Anpassung an die geänderte Umwelt nötig machen. Epikurs Konzept der εὐδαιμονία ist damit autopoietisch. Es verursacht ein „Pendeln […] zwischen Lustgefühl und Abspannung, Erfüllung und Versagung“ (Krautz 2000, S.  165), eine „Oszillation der Orientierung zwischen Beruhigung und Beunruhigung“ (Stegmaier 2008, S. 165).

Schluss: Ein neuer Zugang zu Epikur Epikurs Philosophie ist Ausdruck seines Ringens um Orientierung. Es geht ihm nicht um ein abstraktes, theoretisches, auf Wahrheiten basierendes Lehrsystem, sondern um die Praxis eines gelingenden Lebens. Durch nüchterne Planung und Einsicht in die Abläufe der Natur will er Ängste vermeiden und eine sichere Orientierung auch im Umgang mit dem Ungewissen gewährleisten: „Nur bei geringfügigen Problemen kommt dem Weisen ein Zufall dazwischen, die größten und entscheidendsten hat bereits die Überlegung geregelt, regelt sie im stetigen Zeitverlauf eines Lebens und wird sie regeln.“ (Hauptlehren XVI) „Als -ismen titulierte oder in -ismen formulierte ,Positionen‘ der Philosophie sind schon ,Standpunkte‘ besonderer Sichten, die an einzelnen Anhaltspunkten der Orientierung ansetzen und gleichermaßen plausibel sein können. Eine Philosophie der Orientierung kann bei solchen Positionen nicht stehenbleiben, sondern muss nach ihren Funktionen in der Orientierung und den Standards fragen, die sie plausibel machen“ (Stegmaier 2008, S. 28). Der Epikureismus ist als -ismus eine solche Position. Er lässt sich mit grundlegenden Begriffen und Konzepten der Philosophie der Orientierung deuten, darunter Vertrauen, Autorität, Plausibilität, Paradoxien, Orientierung in Routinen und Orientierung durch Achtung und Planung. Die Philosophie Epikurs ist darüber hinaus in ihren Inhalten und ihrem Vollzug nicht nur Ausdruck, sondern auch ein Mittel der Orientierung – daraufhin hat sie Epikur ja gerade konzipiert. Sie trägt zur Befähigung im Umgang mit ständigem Zeit- und Handlungsdruck bei und ist durch ihren pragmatischen Lebensbezug wie nur wenige Philosophien in der Lage, „mit der Zeit gehen zu können.“ (Stegmaier 2008, S. XVI) Es ist aber festzuhalten, dass Epikur, so könnte man aus Sicht der Philosophie der Orientierung einwenden,15 einen zu einseitigen Schwerpunkt auf die Beruhigung legt. Auch wenn sie nur im Zusammenspiel mit der Beunruhigung denkbar

15 Vgl. Stegmaier 2008, S. 162: „Orientierung lebt auch von der Beunruhigung.“

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ist, steht sie doch immer im Fokus der epikureischen Philosophie. Dies ist jedoch vor dem Hintergrund von Epikur Lebens und seinen persönlichen Erfahrungen gut verständlich. In den Differenzen der Philosophie Epikurs und der Philosophie der Orientierung mag man die Differenzen einer antiken hellenistischen und einer „modernen westlichen“ (Stegmaier 2008, S. 30) Orientierung und ihren jeweiligen Plausibilitäten und Standards erkennen. „Auch eine Philosophie der Orientierung ist Teil der Selbststrukturierung der Orientierung, eine Orientierung über Orientierung im Fluss der Orientierung.“ (Stegmaier 2008, S. 28) Damit ist sie abhängig von der jeweiligen Orientierung, durch die sie sich strukturiert, von ihren Bedingungen, Anschlüssen, Vororientierungen und der „Sprache, in der und durch die“ der jeweilige Autor „sich orientiert“ (Stegmaier 2008, S. 33). So, wie sie einen neuen und aufschlussreichen Zugang zur Philosophie Epikurs ermöglicht, vermag die Philosophie Epikurs ihr vielleicht in der Orientierung aneinander und durch die so sichtbar werdenden Differenzen zwischen einander Aufschluss über die jeweilige Bedingtheit ihrer eigenen Orientierung zu geben.

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Wie kommen die Menschen zur Vernunft?

Tilman Borsche

Wie kommen die Menschen zur Vernunft? Die Kant-Herder-Kontroverse im Licht der Philosophie der Orientierung Die Philosophie der Orientierung widmet Herder nur einen kurzen Abschnitt (3.2.4., S. 100–103). Auch dieser Abschnitt gilt nicht eigentlich Herder, sondern dessen Kontroverse mit Kant. Kant hingegen ist vom Vorwort – er ist der erste namentlich genannte Philosoph (S. XVII), das letzte Wort behält Nietzsche – über den Herder-Abschnitt bis zum Schlusswort (S. 664) allgegenwärtig. Dieser Befund reizt den Leser, der sich gerne auch an Herder orientiert, zur kritischen Nachfrage und damit zu einer Relektüre der Kant-Herder-Kontroverse im Licht der Philosophie der Orientierung.

I. Die Entstehung der Kant-Herder-Kontroverse aus der Sicht der Philosophie der Orientierung Einleitend sei kurz gefragt, wie sich die Entstehung der Kant-Herder-Kontroverse in der Philosophie der Orientierung darstellt. Die in einen erläuternden Relativsatz versteckte Behauptung, Herder habe die Kontroverse mit Kant „entfacht“ (S. 100), erscheint problematisch. Wie man rückblickend sehen kann, fanden die unterschiedlichen philosophischen Interessen beider Autoren, die erst sehr viel später zu einer veritablen Kontroverse eskalierten, ihren ersten Ausdruck in der zurückhaltenden Reaktion des Magisters Kant1 auf die verehrungsvoll übergebene Hausarbeit seines noch nicht zwanzigjährigen Studenten aus dem zweiten Studienjahr, der bei ihm unentgeltlich Kollegs hören durfte. Noch vier Jahre später hoffte Kant, die Autorschaft Herders in andere Bahnen lenken zu können. Nach der Lektüre der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur, die Herder als Autor berühmt gemacht hatten, schreibt er an den vormaligen Schüler: „Bei der frühen Auswickelung Ihrer Talente sehe ich mit mehrerem Vergnügen auf den Zeitpunkt hinaus, wo der fruchtbare Geist, nicht mehr so sehr getrieben

1 Nach dem 10.08.1764 schreibt Herder in einem ausführlichen Lagebericht aus Königsberg an den abwesenden Freund und Mentor Hamann: „Auch Kant scheint ganz retiré gegen mich zu seyn!“ (Herder 1984, S. 28, Z 105). Näheres ist über Kants Reaktion auf die Erstlingsschrift Herders nicht zu erfahren.

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durch die warme Bewegung des jugendlichen Gefühls, diejenige Ruhe erwirbt, welche sanft, aber empfindungsvoll ist und gleichsam das beschauliche Leben des Philosophen ist, gerade das Gegenteil von demjenigen, wovon Mystiker träumen.“ (Brief vom 9.5.1768, Kant 1972, S. 55 f.) Der so Beratene zeigt sich wenig begeistert über die wohlmeinende Platzanweisung (vgl. Herder 1984, S. 117–120). Kant wird dieser frühen Entfremdung von seinem vormaligen Lieblingsstudenten, dem inzwischen berühmt gewordenen, aber umstrittenen Autor, zunächst keine besondere Bedeutung beigemessen haben. Manifest wurde die Entfremdung beider für Kant in dessen kurzem, aber intensiven und ausführlichen Briefwechsel mit Hamann über Herders Älteste Urkunde aus dem Jahr 1768.2 Umgekehrt musste spätestens die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft von 1781 auch für Herder die inzwischen offen zu Tage liegenden Differenzen deutlich gemacht haben. Auf eklatante Weise publik wurden diese aber erst im Jahr 1784, als Kant im Novemberheft der Berlinischen Monatsschrift seine erste geschichtsphilosophische Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (künftig: Idee) publizierte, nachdem auf der Ostermesse desselben Jahres der erste Teil (die Bücher 1–5) von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (künftig: Ideen) erschienen waren. Damit war die Kontroverse in die Öffentlichkeit gebracht. Ihr Gegenstand war eine die Zeitgenossen vielfältig bewegende geschichtsphilosophische Streitfrage, die Frage nach der fortschreitenden Entwicklung des Menschengeschlechts.3 Herder entwickelt in den Ideen Teil I eine Anthropologie, die derjenigen, die Kant in seiner Idee wenige Monate später thesenartig exponieren wird, diametral entgegengesetzt ist. Aber Kant war die unzeitgemäße anthropologische Grundkonzeption Herders schon aus dessen viel diskutierter früheren Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 bekannt (Herder 1994, bes. S.  32–42). Die späteren Ideen waren zunächst als eine Neuauflage der vergriffenen4 ersten Version seiner „Philosophie der Geschichte“5 geplant. Schon in dieser frühen Schrift kritisiert Herder, dass „der allgemeine, philosophi-

2 Vgl. Kant 1972, Briefe Nr. 50–54, S. 118–130: zwei detaillierte rezensionsähnliche Briefe Kants (6.4. und 8.4.1768 und zwei ebensolche Antwortschreiben Hamanns 7.4. und April 1768). 3 Wichtige Exponenten dieser Diskussion waren Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), Voltaire, Essai sur l’histoire générale et les moeurs et l’esprit des nations (1756) und Philosophie de l’histoire (1765), G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80); für Herder wichtig war ferner Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit (11764). 4 Vgl. Vorrede zu den Ideen, Herder 1989, S. 11; Brief an Eichhorn, nach dem 3.10.1783, Herder 1986, S. 21, Z 93 f.; sowie z.B. die Korrespondenz Herder/Hartknoch 1784, Herder 1986, Nr. 20, 21, 27. 5 Unter dieser Kurzform hat Herder in seinen Briefen auf beide Texte referiert, z.B. an Eichhorn,



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sche, menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts […] jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glückseligkeit so gern ‚unser eigen Ideal‘ [gönnet]“ (Herder 1994, S. 40, Z 6–9), und setzt dem die Auffassung entgegen, dass „menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert“, sei (Herder 1994, S.  38, Z 17 f.). Vielmehr habe jedes Individuum, jede Epoche und jede Nation „ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“ (Herder 1994, S. 39, Z 5 f.) Zu Recht fühlt Kant sich angesprochen und reagiert, als das Erscheinen des Ersten Teils der Ideen Herders eine Reaktion unumgänglich macht, indem er im Zweiten Satz seines Idee-Aufsatzes vom Nov. 1784, hier allerdings noch ohne Namensnennung, erklärt: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“ (Kant 1964a, S. 35) Beide anthropologischen Grundsätze, der Herder‘sche und der Kant‘sche, lassen sich nicht beweisen. Selbstverständlich wissen das beide Autoren. Es handelt sich in der sehr hilfreichen Terminologie der Philosophie der Orientierung um metaphysische Sätze, die „Abschlussgedanken“ zum Ausdruck bringen, deren jeder, von anderen „Anhaltspunkten“ ausgehend, im Licht dieser Anhaltspunkte plausibel gemacht werden kann. So verstanden, hätten beide einen fairen Wettkampf verdient. Die Geschichte hat anders entschieden. Außerhalb des Turnierplatzes der beiden Schriften, in denen Kant und Herder ihre Anthropologien dem Publikum präsentierten, griff Kant im selben Jahr noch einmal zur Feder, nun aber in der Rolle des Schiedsrichters oder Zensors, der den Text des Kontrahenten von außen im autoritativen Gestus mit einer argumentatio ad hominem kritisierte. Sicherlich kam Kant dabei die Autorität seiner Person und seiner Stellung zugute. Jedenfalls war mit dieser Kritik das metaphysische Turnier unmissverständlich und nachhaltig entschieden.6 Der maßgebliche Herder-Biograph Rudolf Heym, selbst Kantianer, verfestigte das hier von Kant lancierte Herderbild in der deutschen Philosophie für das 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein (vgl. Heym 1880, bes. S. 22–51). Seither und bis heute meidet die Fachphilosophie die Anstrengung, sich ernsthaft auf die „Abschlussgedanken“

8.11.1783 (Herder 1986, S. 22, Z 23), an Jacobi, 6.2.1784 (Herder 1986, S. 27, Z 7); an Gleim, 12.4.1784 (Herder 1986, S. 33, Z 13 f.), 26.4.1784, (Herder 1986, S. 36, Z 96). 6 Ulrich Gaier, einer der besten Kenner der Geistesgeschichte dieser Zeit, charakterisiert die literarhistorische Bedeutung dieser Rezension treffend mit diesem Satz: „Kants berühmt-berüchtigte Ideen-Rezension vom Januar 1785 […] erscheint angesichts dieser Sachlage als spektakulärer Blattschuss, mit dem Kant seine Philosophie der Öffentlichkeit bekannt machte und den Konkurrenten Herder in den Augen der Kantianer für 200 Jahre auslöschte.“ (Gaier 2006, S. 109)

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Herders einzulassen, sie zu rekonstruieren, zu reflektieren und zu evaluieren. Die Philosophie der Orientierung bietet die Möglichkeit und lädt dazu ein, hier neu anzusetzen. Das gilt aber gerade nicht für den Abschnitt über Herder aus der Philosophie der Orientierung. Deshalb nun zunächst dazu der folgende kurze Einschub:

II. Die Kant-Herder-Kontroverse in der Darstellung der Philosophie der Orientierung Das einschlägige Kapitel 3.2.4. in der Philosophie der Orientierung beginnt mit einem großen rhetorischen Lob (S. 100): „Herder war mutig zu neuen Orientierungen entschlossen, wollte sich, wie er schrieb, aufs offene Meer begeben und dort wohl ‚die Pole nicht verlaßen, um die sich alles dreht, Wahrheit, Bewußtseyn des Wohlwollens, Glückseligkeit der Menschheit!‘, aber ‚auf der größten Höhe des Meers, auf welcher wir jetzt schweben, in Irr- und Nebellichte, das vielleicht ärger ist, als völlige Nacht, […] fleißig nach diesen Sternen, den Punkten aller Richtung, Sicherheit und Ruhe hinsehen, und denn mit Treue und Emsigkeit unsern Lauf steuren!‘7“ In einer Anmerkung zu dieser Stelle verweist Stegmaier erläuternd auf Kant, Kritik der reinen Vernunft A 235 f./B 294 f., um zu zeigen, dass Kant vor solchen Abenteuern warnte. Ein im Sinne Herders unterstützender Verweis auf Nietzsche wäre hier genauso gut möglich gewesen. Diesem einleitenden Lob folgt die entscheidende Kritik: „Die Rede vom SichOrientieren griff er [Herder] jedoch scharf an.“ (S. 100) Die Erläuterung weist darauf hin, dass Herder sich an einem zu jener Zeit eher üblichen transitiven Wortgebrauch orientierte und damit von vorne herein das Kantische „orientieren“ als ein verräterisches Schlüsselwort im Sinn der von ihm von Anfang an kritisierten subjektzentrierten Bewusstseinsphilosophie verstand, als das, was Jacobi einmal den „Unfug des Kantischen Orientierens“ nannte, wie Stegmaier aus einem späteren Brief Jacobis an Hamann zitiert.8 Doch die hier und im Folgenden zur Erläuterung und Bestätigung des Missverständnisses des Kantischen Orientierungsgedankens angeführten Zitate stammen aus einer sehr viel späteren Schrift Herders. In dieser Schrift geht es

7 Hier zitiert nach Johann Gottfried Herder (1891): Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. V, S. 584; entsprechend: Herder 1994, S. 105, Z 23–30. 8 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief vom 30.04.1787. In: Hamann (1979), S.  184, zitiert bei Stegmaier, S. 99 f., Anm. 131.



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nicht mehr um einen Streit zwischen den Konkurrenten Herder und Kant vor dem gelehrten Publikum wie 1784. Dieser Streit war längst – zugunsten Kants – entschieden; das Publikum hatte sich von Herder abgewandt, anderen Themen zugewandt. Hier kartet einer nach, der sich zu Recht missverstanden fühlt, und rechnet ab mit einem Gegner, der, anders als fünfzehn Jahre zuvor (1784), nicht mehr zuhört. Es kann nicht überraschen, dass Herder, wenn er in einer Anmerkung dieses Textes auf die Orientierungsschrift zu sprechen kommt (Herder 1998, S. 597 f.), sich wenig Mühe gibt, dem von Jacobi so harsch kritisierten Neologismus der „Orientierung“ im Kantischen Sinn gerecht zu werden. Dass er ihm in der Tat nicht gerecht wird, hat bis Stegmaier, der diese Anmerkung ausführlich zitiert und kommentiert (S. 102), niemand ernsthaft zu zeigen auch nur versucht. Diese Nachlässigkeit war verzeihlich, solange man annehmen konnte, dass es sich hier um einen im Oeuvre Kants wenig bedeutenden Nebenschauplatz handle. Doch nur mit Rücksicht auf eine polemisch gewendete Verzweiflung wird verständlich, was Herder aus dem in seinen Augen „verfehlten“ Wortgebrauch Kants9 ableitet: Auch mit diesem Wort sieht Herder sich wieder in seiner Kritik an der CartesischKantischen subjektzentrierten Bewusstseinsphilosophie bestätigt, die er ohne Namensnennung als eine „Schwindelphilosphie“ (Herder 1998, S. 598; zitiert bei Stegmaier, S. 103) charakterisiert. Der geneigte Leser mag sich eingeladen fühlen, hier an Kant zu denken. – Doch, wie gesagt, diese späte Schrift zeigt Herder nicht auf der Höhe seiner Auseinandersetzung mit Kant. Diese fand fünfzehn Jahre früher statt. Dazu nun Genaueres im folgenden Abschnitt:

III. L’enjeu des Streits Streitpunkt zwischen Kant und Herder ist nur in zweiter Linie die Anthropologie (die Frage nach der Bestimmung des Menschen). Im Kern wird der Streit um die metaphysischen Anfangsgründe der Geschichtsphilosophie ausgefochten, einer neuen und hoch aktuellen philosophischen Disziplin; auf dem Spiel steht dabei aber noch mehr, nämlich die philosophische Grundorientierung beider Autoren, und damit, repräsentativ, ihrer Epoche. Herder, wie gesagt, hatte in den Ideen Teil I eine Anthropologie entwickelt, die derjenigen, die Kant in seiner Idee wenige Monate später publizieren wird, diametral entgegengesetzt ist. Ganz Entsprechendes gilt nun auch und noch dramatischer für Herders Geschichtsphi-

9 Die Anmerkung beginnt mit dem Worten: „Die Abhandlung hat den Sinn des Worts [orientieren] verfehlet.“ (Herder 1998, S. 597, Anm. 23)

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losophie, die in den Ideen zwar erst in Teil II, der, im Frühjahr des Jahres 1785 redigiert, im August 1785 erscheint, voll entfaltet wird. Aber dem gelehrten Publikum und Kant war die unzeitgemäße geschichtsphilosophische Grundkonzeption Herders schon aus der genannten früheren und gerade auf diesem Gebiet epochemachenden Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 bekannt.

III. 1. Exposition (1): Herders Anthropologie nach Ideen Teil I (Ostern 1784) Schon die frühesten geschichtsphilosophischen Überlegungen Herders bauen auf der Einsicht Humes auf,10 dass wir historische Zusammenhänge niemals erkennen können, Geschichte also niemals Wissenschaft (mit mathematischer Strenge, wie das für die Wissenschaft seit Descartes und Galilei gefordert und praktiziert wurde) werden kann, dass sie sich vielmehr einer „Ordnungsleistung des erkennenden Subjekts“11 verdankt. Der Geschichtsschreiber ist Künstler, es kommt darauf an, mit Aristoteles gesprochen, Geschichte zu erzählen, die, wenn nicht wahr, was nicht möglich, so doch wahrscheinlich ist – wahrscheinlicher für die Wahrnehmungsfähigkeit und Wahrnehmungsbereitschaft der zeitgenössischen Hörer und Leser als alle anderen bislang bekannten Versionen. Der grundlegende Schritt Herders auf dem Weg zu einer solchen Geschichte ist die teleologische Grundannahme des Leibniz’schen Optimismus: Nur rhetorisch wird gefragt: „Der Gott, der in der Natur Alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet,… sollte in der Bestimmung und Einrichtung unsres Geschlechts im Ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben?“ (Herder 1989, S. 14, Z 30–32, S. 15, Z 4–7) Das ist keine metaphysische Behauptung im durch Kant und seither allgemein kritisierten Sinn dieses Wortes, wohl aber eine metaphysische „Gewissheit“ und damit ein „Anhaltspunkt“ im Sinn einer Philosophie der Orientierung (vgl. u. III.). Unter diesen – explizit reflektierten und begründeten – metaphysischen bzw. methodologischen Prämissen erweitert Herder die geschichtsphilosophischen Überlegungen seiner frühen Philosophie der Geschichte in den Ideen Teil I um eine Anthropologie. Ideen Teil I, Ostern 1784 separat publiziert, enthält nichts anderes als eine solche Anthropologie. Zur Unterstreichung der fundamentalen Bedeutung dieser Erweiterung sei auf

10 Im schon erwähnten Brief an Kant vom Nov. 1768 nennt Herder Hume den „grösten Geschichtschreiber unter den Neuern“ (Herder 1984, S. 119, Z 63 f.) 11 Vgl. den Kommentar der Herausgeber zu Auch eine Philosophie… (Herder 1994, S. 824)



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die noch viel frühere programmatische Bemerkung verwiesen, an der Herder die „Einziehung der Philosophie auf Anthropologie“ fordert,12 sowie darauf, wie er der ersten brieflichen Mahnung Kants (s.o., 2.) kontrastierend entgegen hält: „so ist diese Menschliche Philosophie meine liebste Beschäftigung.“ (Herder 1984, S. 120, Z 102 f.)13 Diese neue Anthropologie ist durch zwei ungewöhnliche Merkmale charakterisiert: (1) Das Buch, das sie zum Thema hat (Ideen Teil I), beginnt nicht mit einer Definition des Menschen. Vielmehr trägt das erste Kapitel den Titel: „Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen“, und der erste Satz erklärt: „Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll.“ (Herder 1989, S.  21) Über drei Bücher hinweg wird der Mensch als ein Produkt der Natur vorgestellt: der kosmischen, der geographischen, der klimatischen, der mineralischen, der organischen – pflanzlichen und tierischen – Natur. Er ist ein Teil der Natur, wenn auch, dem allgemeinen Verständnis der Zeit entsprechend, dem auch Kant nicht widerspricht, als ihr letztes und höchstes Glied, und er ist nur als ein solches integral-historisch zu verstehen. (2) Im Reich der lebendigen Natur unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Lebewesen in vielfältiger Weise. Nicht durch die Vernunft, insofern diese als ein gesondertes Vermögen verstanden und seinem natürlichen Organismus hinzugefügt wäre, sondern gerade durch Besonderheiten seiner natürlichen, animalischen Organisation. Der Mensch, so führt Herder über viele Kapitel des 4. Buches aus, ist seiner Natur nach „zur Vernunftfähigkeit“, „zur Kunst und zur Sprache“, ferner „zur Freiheit“, „zur Humanität und Religion“ „organisieret“.14 So ist der Mensch als Individuum verstanden, das sich nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu dem bildet, was er seiner Anlage nach zu werden bestimmt ist.

12 Fragment von 1765 (!) ‚Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann‘ (Herder 1985, S. 132, dazu der Kommentar von Ulrich Gaier 2006, S.  818). 13 Dieser kurzen apologetischen Bemerkung geht folgende bemerkenswert kühne Gegenkritik voraus: „Wie manches hätte ich Ihnen zu sagen, wenn ich wüste, daß Sie Geduld haben würden, mir zu antworten. Zweifel wider manche Ihrer Philosophischen Hypothesen u. Beweise, insonderheit da wo sie mit der Wißenschaft des Menschlichen grenzen sind mehr als Spekulationen“ (Herder 1984, S. 120, Z 95–98). Auch hier schon zeichnet sich der künftige Kampfplatz ab: der einzelne Mensch als raum-zeitlich und leiblich, sprachlich, kulturell, „national“ und „säkular“ situiertes Subjekt der Philosophie. 14 Diese Formulierungen finden sich programmatisch schon im Inhaltsverzeichnis des Ersten Teils (Herder 1989, S. 201) und werden in den angegebenen Kapiteln ausführlich entwickelt.

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III. 2. Exposition (2): Kants anthropologische Gegenthese in Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Nov. 1784) Kant stimmt in vielen Kerngedanken seiner Anthropologie, wie sie in dem Ideeaufsatz in neun Sätzen thesenartig präsentiert und expliziert wird, mit der Vorlage Herders in den Ideen Teil I überein. Auch er weiß und bestätigt ausdrücklich, dass sich in der hier verhandelten Frage nichts beweisen lässt, dass eine Wissenschaft der Geschichte nicht möglich ist, da ihre „Ursachen verborgen“ sind (Kant 1964a, S. 33). Doch die Erfahrung mit der Geschichte lässt ihn „hoffen“, dass, „was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt [?] werden können.“ (ebd.) Das ist seine metaphysische Gewissheit, sein Anhaltspunkt, wenn auch von ihm nicht mit diesen Namen bezeichnet. Die Argumentation des Aufsatzes ist, wie die in Herders Ideen, grundsätzlich teleologisch. Unter dieser methodologischen Prämisse empfiehlt er dem „Philosophen“, dass er, da man „bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann,“ versuche, ob man „nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne.“ Und Kant ist zuversichtlich, dass es ihm „gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden“ (Kant 1964a, S. 34): gesucht ist eine Menschheitsgeschichte als Kunstwerk, ein poetischer Entwurf, in den sich unsere beschränkte historische Erfahrung integrieren lässt – anderes sucht auch Herder nicht. Die erste der folgenden neun Thesen oder den „Ersten Satz“, der die teleologische Struktur des Entwurfs expliziert, würde Herder nicht anders formulieren als Kant: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.“ (Kant 1964a, S. 35) Die Anthropologie beginnt mit dem Zweiten Satz: Beim Menschen verhält es sich anders. Denn der Mensch ist, nach einer verbreiteten Tradition, die Kant auch hier fraglos aufnimmt, durch seine Vernunft bestimmt. Herder bestreitet das nicht, sondern modifiziert die Bestimmung „Vernunft“ zu „Vernunftfähigkeit“ und ergänzt und erläutert diese durch die Fähigkeit zur Bildung von Kunst, Sprache, Freiheit, Humanität und Religion. Die entscheidende Differenz in dem nicht apriorisch zu verstehenden, sondern gerade im Gegenteil: tief erfahrungsgesättigten, aber doch „nur“ angenommenen und anderen angesonnenen „Menschenbild“ beider wird im Zweiten Satz klar ausgesprochen, der oben schon einmal zitiert wurde: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft [also auf sein Menschsein im eigentlichen Sinn] abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig



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entwickeln.“ (Kant 1964a, S.  35) Eine irritierende Konsequenz dieser Annahme wird in der Erläuterung zum Dritten Satz nachgetragen: „Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben,…“ (Kant 1964a, S. 37) Kant ist ausdrücklich bereit, diesen Preis für seine geschichtsphilosophische Grundannahme zu zahlen (ebd.). Er nimmt sogar dessen offenkundig chiliastische Anmutung billigend in Kauf, die er für „nichts weniger als schwärmerisch“ hält. Herder hatte genau diese Irritation ebenfalls vorweggenommen, aber auf seine Weise anders gelöst (vgl. Herder 1989, Buch 5, Kap. 5, S. 187–192). Zur Erklärung greift er auf theologische Topoi zurück: Das Ziel und die Bestimmung des Menschen liegt nicht in der künftigen Menschheitsgeschichte, sondern „geht über unser Dasein hinaus und die Erde ist nur ein Übungsplatz, eine Vorbereitungsstätte“ (Herder 1989, S. 188). Die Spätgeborenen erreichen ihr Ziel also nicht leichter und besser als ihre Vorfahren, vielmehr erreicht es keiner, jeder kann es nur für sich selbst erstreben. „Der Mensch soll sich nämlich“ den seiner individuellen Lage angemessenen „Grad des Lichts und der Sicherheit durch Übung selbst erwerben, damit er unter der Leitung seines Vaters ein edler Freier durch eigne Bemühung werde und er wirds werden.“ (Herder 1989, S. 189) „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung“ (Herder 1989, Buch 4, Kap. 4, S. 145 f.), Freiheit ist seine Aufgabe, sein Ziel, auf jeder Stufe der Kultur. Herder beruft sich in gleicher Weise, wie Kant sich auf die Erfahrung für die Anerkennung seines „chiliastischen“ Menschheitsideals „einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung“15 beruft, auf die Erfahrung für sein vielgestaltiges Ideal der Humanität, und er belegt diese Erfahrung so umfassend, wie es ihm möglich ist, mit vielen hundert Seiten historischer Berichte aus aller Welt. Mit der Freiheit, zu der wir nach Herder eingeladen und aufgerufen sind, ist der zweite Differenzpunkt im Menschenbild der beiden Kontrahenten angesprochen. Kants Sechster Satz statuiert in der Erläuterung: „Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“, „einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nötige, einen allgemein-gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen.“ (Kant 1964a, S. 40) Nur so komme der einzelne Mensch zur allgemeinen Vernunft, die seine Naturanlage ist. Doch dieser Herr ist nach Kant selbst ein Mensch, daher ist das „größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt,“ nämlich die Errichtung einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“, kaum lösbar (Kant 1964a, S. 39). Denn „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

15 So die Formulierung im „Siebenten Satz“ (Kant 1964a, S. 41).

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(Kant 1964a, S.  41) Auch Herder spricht vom Herrn, den wir nötig haben, aber auf andere Weise, und zwar wieder in einem theologischen Bild.16 Er begegnet den Zweiflern an der Weisheit und Güte der göttlichen Vorsehung mit der rhetorischen Frage, ob sie denn die Menschheit für eine Herde ohne Hirten halten. Gewiss nicht, meint Herder, doch dieser Hirte verhält sich zu seiner Herde nicht wie ein Herr zu seinen Knechten, auch nicht wie ein aufgeklärter Monarch zu seinen Untertanen, sondern wie ein Vater zu seinen Kindern. Und vor allem: Der Herr in Herders Menschenbild ist nicht nur kein Mensch und aus so krummem Holz geschnitzt wie dieser, sondern der „Allein-Weise“, der, nach unserem unzulänglichen Bild von ihm, mit „Eine[r] Weisheit, Güte und Macht“ nicht nur über alle Menschen, sondern über die ganze Natur „herrschet“ (Herder 1989, S. 15, Z 2 u. S. 14, Z 36).  – Die Gemeinsamkeiten der anthropologischen Grundüberzeugungen beider Autoren sind also groß, die Differenzen gleichwohl markant. – Nach dieser Phase der Exposition beider Positionen im Jahr 1784 folgt 1785 die Phase der expliziten wechselseitigen Kritik. Hier beschränke ich mich auf eine kurze Befragung der drei ersten zentralen Texte:

III. 3. Kritik (1): Kants Rezension der Ideen Teil I (Allgemeine Literatur-Zeitung, Jan. 1785) Am 10. Juli 1784 übersendet der vormalige Schüler Kants, Christian Gottfried Schulz, Professor für Beredsamkeit in Jena, seinem „verehrungswürdigsten“ „Lehrer“ die Einladung der gerade neu gegründeten Allgemeinen Literatur-Zeitung, Herders Ideen (d.h. den erschienenen Ersten Teil) zu rezensieren. Kant nimmt an und liefert pünktlich, die Rezension erscheint anonym in der ALZ am 6. Januar 1785 (Kant 1964b). – Die Rezension umfasst dreizehn Seiten (Kant, Werkeausgabe). Acht davon, die Seiten 2–9, referieren klar und treffend Themen, Thesen und den Gedankengang der fünf Bücher. Ohne Empathie für den Autor, ohne Verständnis für das Projekt Herders wird der Leser, vor allem durch lange Zitate und Paraphrasen, die mehr als 90% des referierenden Teils der Rezension ausmachen, über den Inhalt des Werkes gut informiert. Die Kritik der Thesen konzentriert sich auf die abschließenden vier Seiten (S. 790–794), sie trifft drei zentrale Gedanken des Herder’schen Entwurfs einer Anthropologie: (a) Die geistige Natur der Seele soll „aus der Analogie mit den Naturbildungen der Materie,

16 „Was ist das menschliche Geschlecht im Ganzen, als eine Herde ohne Hirten? oder wie jener klagende Weise sagt: Lässest du sie gehen wie Fische im Meer und wie Gewürm, das keinen Herrn hat?“ (Herder 1989, Vorrede, S. 15, Z –13, nach Habakuk 1,14)



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vornehmlich in ihrer Organisation, bewiesen werden“ (S. 790); undenkbar für Kant. (b) Die Annahme organischer Kräfte in der ganzen Natur (über die Grenzen der Arten hinaus), gar eine einige Grundkraft der ganzen Natur, das sei dogmatische Metaphysik (S. 792). (c) Die dargestellte Stufenleiter der Organisationen in der Natur suggeriert eine über die „Ähnlichkeit“ der Gattungen hinausgehende „Verwandtschaft unter ihnen“. Doch nähme man das ernst, würde man auf Ideen geführt, die „so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt, dergleichen man unserm Vf., ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen darf“ (ebd.). Es ist hier nicht der Ort, auf die visionären Elemente in denjenigen naturphilosophischen Ideen Herders einzugehen, vor denen Kant hier eben wegen ihrer so nahe liegenden wie grundstürzenden Konsequenzen zurückschreckt. Klar sollte nur werden, dass diese Kritik in den Augen des gelehrten Publikums der Zeit, und zwar nicht nur im Raum der Berliner Aufklärung, vernichtend wirken musste. Doch schlimmer noch als diese Kritik in der Sache, über die man streiten könnte, wirkt die Einleitung der Rezension, in der Kant nicht ad rem, sondern ad hominem schreibt. Damit ist das Urteil über das zu rezensierende Werk vor der Darstellung des Inhalts bereits gefällt. Die Rezension beginnt mit den Worten: „Der Geist unsres sinnreichen und beredten Verfassers zeigt in dieser Schrift seine schon anerkannte Eigentümlichkeit.“ (S. 781) Eine Seite lang werden Denk- und Schreibstil des rezensierten Autors charakterisiert, was zu dem Resultat führt, dass das, was dem Autor „Philosophie der Geschichte der Menschheit heißt, etwas ganz anderes sein [möchte], als was man gewöhnlich unter diesem Namen versteht“ (ebd.) – jedenfalls weder Philosophie noch Wissenschaft. Das Werk enthalte, so die suggestiv dem Leser vermittelte Ansicht des Rezensenten, entgegen dem Titelversprechen – nicht etwa eine andere, gar eine neue, sondern überhaupt keine Philosophie, keine Wissenschaft. – Es wird hier in der Tat ein ernster Streit um Namen geführt. Welche Diskursart darf sich Philosophie nennen, welche wird aus diesem Feld exkludiert, und warum? Für Kant steht die Antwort fest, sie wird am Beispiel des zu rezensierenden Werkes auf den folgenden Seiten exekutiert. Als Herder diese Rezension las, empfand er sie, wie er seinem Freund Johann Georg Hamann in einem langen Brief vom 14.02.1785 schrieb, „so hämisch u. verdrehend u. metaphysisch u. ganz außer dem Geist des Buchs von Anfang bis zu Ende, daß ich erstaunte, aber an nichts weniger dachte, als daß Kant, mein Lehrer, u. den ich nie wißentlich mit etwas beleidigt habe, eines so niederträchtigen Werks fähig seyn könne.“ (Herder 1986, S. 105, Z 45–58) Kritik war Herder von vielen Seiten gewohnt. Auch dass Kant mit seinen Thesen nicht übereinstimmen würde, konnte und musste er erwarten. Aber durch diese vernichtende Kritik seiner Person und seiner philosophischen Autorschaft aus der Feder seine „hochgeschätzten Lehrers und Freundes“ – so hatte er ihn in einem langen freund-

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schaftlichen Brief vom Nov. 1768 aus Riga angesprochen – fühlte er sich tief verletzt. Hier schrieb nicht der kritische Freund, den er sich als Leser erhofft hatte. Für die sich versöhnlich gebenden und aufmunternden Schlussbemerkungen des Rezensenten hat er nur noch Verachtung übrig: „Seine letzten Präceptorlichen Lehren an mich sind ganz unanständig“ (Herder 1986, S. 106, Z 78 f.). Er fühlt sich, nicht ganz zu Unrecht, in seinem Anliegen nicht nur nicht verstanden, sondern nicht ernst genommen und an einem philosophischen Maßstab gemessen, den er mit seinem Werk gerade zur Diskussion stellen und überwinden wollte. Kant aber ruft ihn väterlich mahnend auf seine (Kants) Schulbank zurück.

III. 4. Kritik (2): Herders Kantkritik in den Ideen Teil II (August 1785) Herder liest die Rezension Kants im Januar 1785. Etwa gleichzeitig liest er auch den Aufsatz Kants Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, der in der Berlinischen Monatsschrift vom Nov. 1784 erschienen ist. Als erstes fällt ihm die enge Verwandtschaft der beiden Projekte auf, des Kantischen Aufsatzes und seines (Herders) in der Vorrede der Ideen ein halbes Jahr zuvor publizierten Plans einer Philosophie der Geschichte der Menschheit als ganzer, eingebettet in eine Anthropologie oder eine aus der Erfahrung erschlossene Darstellung der Natur des Menschen.17 Ebenso klar wird ihm aber auch sogleich die gegensätzliche anthropologische Kernthese beider Projekte. Der Kantische Lösungsvorschlag des Problems, einen „Leitfaden“ für den Entwurf einer Geschichte der Menschheit „nach einem bestimmten Plane der Natur“ zu entdecken, ist mit Herders Lösungsweg unvereinbar und unversöhnlich. Die Lektüre der Rezension und des programmatischen geschichtsphilosophischen Aufsatzes von Kant zeige ihm, schreibt Herder wenige Zeilen später, „daß ich seinen [Kants] kindischen Plan, daß der Mensch für die Gattung u. die vollkommenste Staatsmaschiene am Ende der Zeiten geschaffen sei, nicht brauche.“ (Herder 1986, S.  106, Z 67–69) Diese Charakterisierung bringt die Differenz zwischen den Antworten beider Autoren auf den Punkt.

17 Diese Nähe erscheint ihm so groß, dass er hier nur ein Plagiat sehen kann, wie er in dem schon zitierten Brief vom 14.2.1785 an Hamann schreibt: „Denn wie hämisch u. Knabenmäßig es sei, den Plan eines unvollendeten, kaum angefangnen Buchs aus der Vorrede zu nehmen, darauf eine Idee in eben der Manier sogar hinzustellen u. zu thun, als ob kein Buch der Art in der Welt sei; gar von einem Newton und Kepler zu reden, der diesen Kantischen Plan künftig ausführe […] – das fällt jedermann in die Augen“ (Herder 1986, S. 106, Z 58–65 pass.).



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In den folgenden Monaten redigiert Herder den zweiten, den eigentlich geschichtsphilosophischen Teil der Ideen. Erst mit den späteren Teilen III und IV beginnt die Darstellung der Geschichte der Menschheit selbst, die als eine Realisierung der zuvor philosophisch aus der Erfahrung entwickelten Leitgedanken zu lesen ist. In diesen zweiten Teil sind zahlreiche Stellen eingearbeitet, an denen Herder offensichtlich die geschichtsphilosophische Position Kants aus dem Aufsatz vom Nov. 1784 und ihre Konsequenzen kritisiert, allerdings ohne Namen zu nennen und immer ad rem, niemals ad personam argumentierend. Ausführlich wird z.B. in Buch 8, Kap. 5 die These kritisiert, dass die Glückseligkeit des Menschen erst am Ende der Zeiten und damit nur für die Gattung zu erreichen sei. Das Thema Glückseligkeit steht unter der Titelthese: „Die Glückseligkeit der Menschen ist allenthalben ein individuelles Gut“ (Herder 1989, S. 327, Z 10). „Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen [einiger Menschen!], der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land.“ (S. 347, Z 30–36) Hier trifft die Kritik nicht nur die Kantische Geschichtsphilosophie, sondern den philosophischen Standpunkt der Transzendentalphilosophie Kants insgesamt. – Es ist hier nicht der Ort, die kantkritischen Passagen der Ideen ausführlich zu erheben und zu kommentieren. Die genannten knappen Hinweise sollten genügen, um die gegensätzlichen Positionen deutlich zu machen. Beide sind methodisch ausdrücklich und ausführlich reflektiert. Es ist beiden Autoren hinreichend klar, dass hier Menschbilder gegeneinander stehen, die, aus Erfahrung über die Erfahrung hinaus erschlossen, der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt und als Leitfaden für den Plan einer (einheitlichen zusammenhängenden) Geschichte der Menschheit (nach einem Plan der – weisen und unfehlbaren – Natur bzw. Gottes) verwendet werden.

III. 5. Kritik (3): Kants Rezension der Ideen, Teil II (Allgemeine Literatur-Zeitung, Nov. 1785) Die zweite Rezension ist der ersten vergleichbar aufgebaut. Doch die Gewichtung fällt signifikant anders aus, sie ist zudem in der Sache polemischer: Der Text umfasst nur ca. neun Seiten (Kant 1964c). Die lange Einleitung mit einer diskreditierenden Charakterisierung der Person des Autors wird dem Leser erspart, sie bleibt aber aus der ersten Rezension in Erinnerung. Der den Inhalt der fünf Bücher referierende Abschnitt fällt mit ca. zwei Seiten deutlich kürzer aus als in der ersten Rezension, und er eröffnet den Text (S. 797–799). Etwas ausführlicher

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werden lediglich die geographischen und klimatischen Bedingungen der Verschiedenheit der Menschen angesprochen (Bücher 6 und 7), nur hierzu enthält das kurze Referat auch ein längeres Zitat. Die revolutionären Gedanken zu den für Herder zentralen philosophischen Themen wie Glückseligkeit, Vernunft, Sprache und Religion, die in den Büchern 8 und 9 der Ideen Teil II entwickelt sind, werden mit keinem Satz erwähnt. Auf das eröffnende Kurzreferat folgt der sieben Seiten lange Hauptteil der Rezension mit einer Reihe von konkreten Kritikpunkten Kants zu einigen Kernfragen, die, wie immer akademisch zurückhaltend formuliert, den systematischen Anspruch des geschichtsphilosophischen Entwurfs der Ideen grundlegend in Frage stellen. (a) Zunächst geht es auch hier wieder um eine Kritik des „poetischen Geist[es]“, der zwar den Ausdruck belebe, aber unberechtigterweise „in die Philosophie des Vf. eingedrungen“ sei und dadurch „zuweilen die Grenzen und Besitzungen von beiden [Sprachen] völlig verrückt“ habe (S. 799). Es folgen Beispiele für „dithyrambische“ und „epische“ Ausdrucksweisen, die der Rezensent als für einen philosophischen Text unpassend beurteilt (S. 800). (b) Ein methodischer Hauptkritikpunkt ist die prekäre Informations- und Quellenlage der welthistorischen Forschung, die über ungeprüfte Daten aus literarisch inspirierten Reiseberichten kaum hinausgeht (vgl. S. 801). Beiden, Herder und Kant, ist diese Sachlage klar, beide bedauern sie und hoffen auf bessere Zeiten. Doch die gegensätzlichen Ideen, die dem einen und dem anderen angesichts und trotz dieser Sachlage zum „Leitfaden“18 für ihre Unternehmungen dienen, um eine „Naturabsicht in diesem widersinnigen Gedränge menschlicher Dinge“ (Kant 1964a, S. 34) zu „entdecken“ bzw. den verborgenen „Gang Gottes“ nicht nur in der Natur, sondern auch in der Geschichte der Menschheit „buchstabieren“ zu lernen (vgl. Herder 1989, Vorrede, S. 14–16, zitiert S. 16, Z 28,32), führen zu gegensätzlichen, unvereinbaren, unversöhnlichen Gebäuden.19 Kant kritisiert Herders umfassend ausgeführten Entwurf einer Geschichtsphilosophie, den er selbst – auf der gleichen unzureichenden Materialbasis und mit vergleichbarer

18 Herder verwendet dieses Bild des Ariadne-Mythos an markanter Stelle, nämlich in dem für seine geschichtsphilosophische Methodenreflexion sehr aufschlussreichen Eröffnungsabschnitt des II. Teils der Ideen (Herder 1989, S. 209), aber auch schon in Teil I, z.B. S. 75. Kant greift es wiederholt auf (Kant 1964a, S. 34 (2×), S. 43, 48 f. (2×), 1964d, S. 86). 19 Nur Kant verwendet den Ausdruck „System“ in diesem Zusammenhang: „…so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen, als ein System darzustellen“ (Kant 1964a, Neunter Satz, S.  48). Herder verwendet diesen Ausdruck in den Ideen, Teile I und II nur im Blick auf naturphilosophische Spekulationen, nicht aber im Blick auf Geschichte.



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Emphase der Gewissheit – an einem ganz anderen Leitfaden nur skizziert. Eine kritische Diskussion beider Positionen müsste zuerst und vor allem diesen Leitfaden betreffen, doch eine solche Diskussion wird in der Rezension nicht angeschnitten. Auch Herder tut das an keiner Stelle, er rezensiert die Kantische Idee aber auch nicht öffentlich, er teilt sie einfach nicht und lässt seine Freunde das auch wissen. Kants Kritik an den Ideen aufgrund mangelnder historisch-kritischer Vorarbeiten über die (Un-)Zuverlässigkeit der Quellen (Kant 1964c, S.  801) ist (un)billig, denn alle universalgeschichtlichen Entwürfe, auch der Kantische, stehen in diesem Sinn unter einem unaufhebbaren kritischen Vorbehalt. Dass der gewählte Leitfaden selbst keine wissenschaftliche Erkenntnis zu sein behauptet, sich vielmehr an der Erfahrung des Historikers im Versuch der Deutung geschichtlicher Daten bewähren muss, das wissen und versichern beide, Herder mit mehr Worten und größerer Emphase als Kant und zugleich verbunden mit dem Bewusstsein, dass das Bemühen des Geschichtsphilosophen um Bewährung seiner leitenden Grundsätze niemals vollständig gelingen, niemals in eine wissenschaftliche Verifizierung münden kann.20 (c) Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Begriff der Rasse (S. 801 f.), zu dem Kant im gleichen Monat seiner Rezension, im Nov. 85, einen eigenen Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift publiziert, offensichtlich, um seine schon früher geäußerten Ansichten zu diesem Thema (Kant 1964e) gegen die Kritik Herders zu präzisieren und zu verteidigen, in dem er seinen eigenen Begriff von Rasse expliziert, und zwar deutlich in Abgrenzung gegen Herder (vgl. Ideen Teil II, Buch 7, 1. Kap.: Herder 1989, S. 255 f.), aber wiederum ohne Namensnennung. Hier konkurrieren zwei naturphilosophische Begriffsbestimmungen, die auch für den (anti-)kolonialistischen Diskurs der Zeit von Bedeutung sind. Auch sie müssen sich in der Forschung bewähren. – Diese Apologie Kants in eigener Sache wird hier nicht weiter berücksichtigt, da Herder nicht mehr direkt auf sie reagiert. (d) Über mehr als eine Seite verteidigt Kant seine von Herder immer wieder kritisierte anthropologische Prämisse, „der Mensch sei ein Tier, das einen Herrn nötig habe“ (Kant 1964c, S. 804 f.). (e) Und schließlich verteidigt Kant seine Ansicht von der Erziehung des Menschgeschlechts als Gattung nach einem Plan der Natur gegen Herders These von der Erziehung des Individuums in seiner jeweils konkreten Lebenswelt (S. 805). Man kann aus dieser Aufzählung der Hauptkritikpunkte Kants Folgendes erkennen: Fortschreitend im Text zeigt sich, dass Kant in der zweiten Rezen-

20 Zu Herders Selbstreflexion der Methode einer Philosophie der Geschichte vgl. auch die für diese Fragen zentrale Eröffnungspassage des 8. Buchs der Ideen Teil II (Herder 1989, S.  286, Z 2–19).

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sion nicht mehr väterlich kritisch belehrend ad personam schreibt, sondern sich offensichtlich genötigt sieht, ad rem zu argumentieren, d.h. die Thesen Herders als Gegenthesen zu den seinen ernst zu nehmen und sie explizit zurückzuweisen. Einleitend zu dem letzten ausdrücklich apologetischen Teil der Rezension, der fast ein Drittel des Textes umfasst, schreibt Kant selbst in einem ungewohnt epischem Ton, der vielleicht ironisch gemeint ist, aber den Kern des Problems sehr genau trifft: „In einer unbefahrnen Wüste muß einem Denker gleich Reisenden frei stehen, seinen Weg nach Gutdünken zu wählen; man muss abwarten, wie es ihm gelingt und ob er, nachdem er sein Ziel erreicht hat, wohlbehalten wieder zu Hause, d.i. im Sitze der Vernunft zur rechten Zeit eintreffe und sich also Nachfolger versprechen könne.“ (Kant 1964c, S. 803) Heute würden wir sagen, man muss abwarten, ob sich seine neuen Gedanken als anschlussfähig erweisen. Nach dieser epischen Einleitung fährt Kant mit einem erstaunlichen Bekenntnis fort: „Um deswillen hat Rezensent über den eigenen von dem Verfasser eingeschlagenen Gedankenweg nichts zu sagen…“ Wäre nicht gerade das seine Aufgabe gewesen? Gesteht der Rezensent damit nicht ein, dass er zu dem rezensierten Werk, zumindest insofern es philosophisches Neuland betritt, nichts zu sagen habe, nichts sagen wolle? Doch der Gedanke setzt sich in anderer Richtung fort: „… nur glaubt er [der Rezensent] berechtigt zu sein, einige auf diesem Wege von ihm [dem rezensierten Autor] angefochtenen Sätze in Schutz zu nehmen, weil ihm jene Freiheit, sich seine Bahn selbst vorzuzeichnen, auch zustehen muss.“ (Kant 1964c, S. 803 f.) Daraufhin folgen die genannten apologetischen Passagen. Erst der Schlusssatz der Rezension erhellt den Zusammenhang und die Bedeutung dieser Inanspruchnahme des freien philosophischen Denkens in der „Wüste“ akademisch noch nicht geregelter Erfahrungen und Probleme. Aus den Grundsätzen der Ideen, die kritisch zu den bekannten Ansichten Kants – nicht nur in dessen geschichtsphilosophischem Aufsatz – und damit auch zu denen der zeitgenössischen opinio cummunis der etablierten Philosophen stehen, „läßt sich schließen,“ so resümiert der Rezensent, „daß unser Verfasser, dem so oft alles, was man bisher für Philosophie ausgegeben, mißfällig gewesen, nun einmal, nicht in einer unfruchtbaren Worterklärung, sondern durch Tat und Beispiel in diesem ausführlichen Werke ein Muster der echten Art zu philosophieren der Welt darlegen werde.“ (S. 806) Mit diesem letzten Satz, der eine in fünf Stufen – zwischen Ostern 1784 und Nov. 1785 – öffentlich ausgetragene Kontroverse abschließt, wird der eigentliche Streitpunkt erstmals klar benannt: Es geht um den Begriff der Philosophie, den Kant und Herder sehr unterschiedlich verstehen und verwenden. Für uns schien diese Kontroverse über lange Zeit hinweg entschieden; sie war es – an der Oberfläche, im Mainstream der akademischen Philosophie. Sie ist heute wieder offen. Ein klares Symptom für diese Sachlage kann darin gesehen werden, dass die



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Geschichtsphilosophie, um die beide Autoren sich stritten und zerstritten, keine Rolle mehr spielt. Man muss heute anders fragen: nicht mehr, wer hatte Recht? sondern, warum dieser Streit?

IV. Ein neuer Blick auf die Kant-HerderKontroverse aus der Sicht der Philosophie der Orientierung Für eine philosophische Neubewertung Herders bietet die Philosophie der Orientierung wegweisende Hilfestellung. Im vorletzten Kapitel über „Metaphysik in der Orientierung“ wird nach der konsequenten Zurückweisung aller metaphysischen Ansprüche auf allen Ebenen und in allen Bereichen das schon von Kant konstatierte unvermeidliche Bedürfnis nach Metaphysik zum Thema. Wir brauchen festen Halt; für den Moment, bis auf Weiteres, immer auf Zeit: „Anhaltspunkte“ des Denkens. Nur mit Hilfe von jeweiligen und zeitweiligen Anhaltspunkten können wir uns im Denken wie im Leben orientieren. Anders gesagt: Es gehört zur Orientierungsleistung des menschlichen Denkens, den permanenten Fluss des Sich-Orientierens immer wieder anzuhalten, feste Begriffe zu erlernen und uns in deren etabliertem Gebrauch zu disziplinieren, um fortan mit ihnen verlässlich operieren und kommunizieren zu können – bis sich aufgrund neuer Erfahrungen, vielleicht, die Überzeugung durchsetzt, dass wir uns mit neuen, mit modifizierten, präzisierten oder erweiterten Begriffen künftig besser orientieren könnten. Diese Bereitschaft zur Disziplinierung einerseits und zur Flexibilität andererseits ist die unerlässliche Eintrittskarte in die Wissenschaft (scientific community), auch in die Philosophie, nicht nur die akademische. – Auf einer solchen Basis ist mit und in der Zeit von Kant die mächtige kulturelle Praxis entstanden, die wir moderne Forschungswissenschaft zu nennen uns gewöhnt haben. Herder und andere Autoren aber erinnern uns daran, dass es viele kulturelle Praktiken des Wahrnehmens, Denkens, Erkennens gibt, die nicht den neuen wissenschaftlichen Kriterien genügen, dafür aber ganz andere, ebenfalls lebenswichtige Bereiche des Denkens zu erschließen, zu ordnen und zu gestalten ermöglichen. Es geht dabei um andere Artikulationsformen des Denkens, die man als Künste (artes, arts) von der Wissenschaft (scientia) bzw. den Wissenschaften (sciences) unterschieden hat und in einem gewandelten Sinn des Wortes auch heute so bestimmt. Vor diesem historischen Hintergrund lesen sich die kontroversen „Leitfäden“ Herders und Kants als zwei konkurrierende Angebote für metaphysische

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„Anhaltspunkte“ zu einer möglichen Geschichtsphilosophie. Der orientierungsphilosophische Ausdruck „Anhaltspunkte“ ist umsichtig gewählt: Er nimmt die „metaphysischen Anfangsgründe“ Kants auf, verweist aber zugleich darauf, dass diese Kantischen Bezeichnungen noch zu sehr „wirkliche Anfänge“ und „letzte Gründe“ suggerieren, die in unserem endlichen Denken, das sich nur in bedingten Zeichen und besonderen Sprachen kunstvoll artikulieren kann und muss, nicht zu finden sind. „Anhaltspunkte“ haben demgegenüber funktionale Bedeutung, sie sind von einem Zweck her gedacht. Können sie diesen nicht mehr erfüllen, sollten Alternativen gesucht werden. Beide geschichtsphilosophischen Grundsätze („Leitfäden“) betreffen das Ganze unseres jeweiligen Denkens, von dem es nach Kant wohl Ideen gibt, geben muss, aber keine „Erkenntnis“ geben kann. Herder denkt genauso, vermeidet aber eine terminologische Festlegung, denn er zieht es vor, mit jedem Gesprächspartner in dessen Sprache zu sprechen und aus diesem Grund in der eigenen Terminologie flexibel zu bleiben. Umso größer ist die subjektive Gewissheit, mit der beide die Evidenz der Wahrheit ihrer jeweiligen Grundsätze verteidigen. Was also steht jeweils hinter ihrer Behauptung, das ihren so heftigen Streit rechtfertigen könnte? Für Kant hängt die Annahme einer uns verborgenen weisen Naturabsicht und Gesetzmäßigkeit auch in der Geschichte, wenigstens als Ganzer, eng mit der Moralphilosophie zusammen. Müssten oder wollten wir stattdessen Regellosigkeit, Zufall und Chaos, kurz: Vernunftlosigkeit als Verlaufsform der Geschichte im Ganzen annehmen, würde das menschliche Handeln insgesamt als ziellos, zwecklos, an keine Gesetze gebunden erscheinen. Dem Skeptizismus in Theorie und Praxis wäre, so fürchtet er, kein Einhalt mehr zu gebieten. In der gleichen Absicht, nämlich die Annahme einer weisen Naturabsicht und Gesetzmäßigkeit auch in der Geschichte – nun aber in ihrem sichtbaren Verlauf – verständlich zu machen, beruft Herder sich auf den common sense. Er gewinnt sein entscheidendes Plausibilisierungsargument aus einem theologischen Topos, der den Zeitgenossen als natürliche Theologie oder Leibniz’scher Optimismus vertraut ist und plausibel erscheint. Der Streit geht also um die bessere Begründungsstrategie für die von beiden Kontrahenten sowie von den meisten Zeitgenossen geteilte geschichtsmetaphysische Hypothese, die Hypothese von der „Vernunft“ in der Geschichte, einer Vernunft, die die Geschichte ebenso gesetzmäßig beherrscht wie die Natur.



Wie kommen die Menschen zur Vernunft? 

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V. Welcher Begriff von Vernunft ist – heute und für uns – vernünftig? Es war nicht die Absicht des vorliegenden Beitrags, eine historische Kontroverse zu entscheiden. Es ging allein darum, den logischen Status der beiden Grundsätze („Leitfäden“) als metaphysischer Hypothesen herauszuarbeiten. Das schien besonders aussichtsreich im Blick auf einen Streitfall, der einerseits prominent genug ist, um auch heute noch auf allgemeines Interesse zu stoßen, andererseits in der Sache, die er verhandelt, die Gemüter längst nicht mehr bewegt. – Abschließend folgen ein paar knappe Hinweise zu der Frage, wie die Kontroverse aus einer heutigen Perspektive neu bestimmt werden könnte. Herder entwirft eine radikale Philosophie der Orientierung avant la lettre. Der Name ist ihm allerdings verwehrt. Er betreibt Kritik in einem ganz anderen Sinn als Kant. Für Herder gilt: Denken selbst, Selbstdenken, ist bereits Kritik. Denn Denken ist nie in einem absoluten Sinn ursprünglich, sondern immer schon Kritik an anderem vorgängigen Denken: selbstständiges und freies Antworten auf Vernommenes. So viel zur Autonomie einer über sich selbst aufgeklärten menschlichen Vernunft nach Herder. Dieses Verständnis von Kritik zeigt sich bei Herder schon in den ersten eigenen Texten, den Kritischen Wäldchen. Schon hier geht es um Kritik an verfestigten Begriffen in den gerade modernen kritischen Texten zur neueren Literatur. Herder bemerkt nicht, auch darin übrigens Nietzsche ähnlich, dass seine heftige Wortwahl in kritischer Absicht gegenüber dieser über sich selbst unaufgeklärten Kritik selbst als dogmatisch ausgelegt werden kann – und von Gegnern selbstverständlich auch ausgelegt wird. Denn er weiß und ist sich dessen in seinen Äußerungen stets bewusst, dass alles Reden in Begriffen Ungleiches gleichsetzt und seine Gegenstände damit auch verfälscht. Begriffe fixieren und verallgemeinern, das Sein aber ist überall individuell und im Fluss.21 Das ist Herder so klar und so gewiss, dass er, weil wir nun einmal – trotzdem – in Begriffen denken und reden müssen, einerseits sehr vorsichtig, andererseits sehr locker mit Allgemeinbegriffen umzugehen sich gera-

21 Wegweisend und geradezu klassisch zu diesem Problem ist folgende Stelle aus dem methodischen Mittelteil des frühen geschichtsphilosophischen Entwurfs: „Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat an gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen? – Endlich man faßt sie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! Wie kann man mißverstanden werden!“ (Herder 1994, S. 32, Z 21–30)

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dezu bemüht. Er vermeidet bindende Definitionen und verwendet kontext- und situationsbezogen immer wieder anders variierende Umschreibungen. Alle im Moment evident erscheinenden Grundbegriffe unseres Denkens, orientierungsphilosophisch ausgedrückt: alle „Abschlussgedanken“, und so auch der hier zur Diskussion stehende geschichtsphilosophische Leitbegriff von einer für uns verständlichen „Vernunft“ in der Geschichte, rechtfertigen sich nur dadurch, dass sie sich in der Erfahrung des Umgangs mit ihnen bei der Deutung der uns gegebenen Phänomene bewähren. Um welche „Vernunft“ geht es hier? Nach Herder ist menschliche Vernunft dynamisch auf die Natur bezogen, die zugleich ihr Gegenstand ist. Er kann es nicht vermeiden zu sehen, wahrzunehmen, dass die menschliche Vernunft selbst in der und aus der Natur organisch erwachsen ist. Diese Einsicht steht Pate für den ungewöhnlichen Aufbau der Ideen, Teile I und II, und sie bleibt Grundmotiv des gesamten Werkes. Diese Einsicht führt aber unweigerlich auch auf Ideen, die Kant als so „ungeheuer“ markiert, dass die „Vernunft vor ihnen zurückbebt“ (Kant 1964a, S. 791, vgl. o. III. 1), Ideen von einem natürlichen Ursprung der Arten und ihrer natürlichen Transformation in der Zeit. Vernunft müsste sich wohl neu interpretieren, wenn sie dieser Idee standhalten wollte. Es ist daher nur konsequent, dass ein Hauptkritikpunkt Herders gegenüber der neuzeitlichen Philosophie – Descartes, Leibniz, Kant – den Begriff der Vernunft betrifft, das klassische Unterscheidungsmerkmal des Menschen, das also, was bei Descartes meist mens/Geist, bei Leibniz raison, bei Kant Vernunft genannt wird.22 Nach Herder ist Vernunft nicht einfach da und nicht bei allen Menschen gleich, sondern den Menschen als Naturanlage gegeben. Sie muss einerseits körperlich von außen (durch die Sinne und von anderer Vernunft) angeregt und mitgeteilt und andererseits von innen (im Medium des eigenen Körpers) gelernt werden. Alle ihre Produkte, unsere allgemeinen Begriffe, auch die Grundbegriffe der Selbstreflexion unseres Denkens, sind endlich, bedingt, durch fremdes Denken und unsre eigenen Sinne vermittelt. So erfahren, erscheint die Vernunft, nach einer berühmten Formulierung aus Buch 9 der Ideen Teil II, als „ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unsrer Seele; eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die, nach gegebenen fremden Vorbildern, der

22 Selbstverständlich wird eine solche Gleichsetzung verschieden lautender Grundbegriffe bei verschiedenen Autoren und in verschiedenen Sprachen diesen im Einzelnen nicht gerecht. Aber für den vorliegenden Zweck ist eine solche Verallgemeinerung nicht illegitim, in philosophiehistorischem Kontext ist sie weithin anerkannt. Herder selbst bringt sie an klassischer Stelle zur Eröffnung des 9. Buchs der Ideen auf folgende Formel: „Nicht nur Philosophen haben die menschliche Vernunft, als unabhängig von Sinnen und Organen, zu einer ihm ursprünglichen, reinen Potenz erhoben…“ (Herder 1989, S. 336).



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Erzogne zuletzt als ein fremder Künstler an sich selbst vollendet.“ (Herder 1989, S. 337, Z 20–23; zur Vernunft vgl. umfassend und ausführlich: Herder 1989, Buch 4, Kap. 4, bes. S. 144–148) Ein solcher Wandel in der Bestimmung von Grundbegriffen, der selbstverständlich nicht auf den Begriff der Vernunft beschränkt bleibt, befreit den Autor z.B. von der Last, mit Descartes die Seelenlosigkeit der Tiere oder mit Leibniz die Fensterlosigkeit der Monaden postulieren zu müssen.23 Entsprechendes gilt nun auch für Herders Kritik an der in gleichem Geist entstandenen Geschichtsmetaphysik Kants und ihrem schwer erträglichen Chiliasmus. Darin liegt ein Anfang ihrer Bewährung. Doch das wäre ein neues Thema. Jedenfalls zeigt sich damit, dass Herders Kantkritik tiefere Wurzeln hat als die Kontroverse um die metaphysischen Grundannahmen der Geschichtsphilosophie, an denen sie manifest wurde. Es geht über die Geschichtsphilosophie hinaus um unser Denkvermögen, die „Vernunft“ des Menschen, und – das führt zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück – um den Menschen selbst, um Herders Begriff der „Humanität“. Im Blick auf die wieder offene Kant-HerderKontroverse wäre neu zu fragen: Welcher Begriff von Vernunft wäre – heute und für uns – vernünftig? – Doch das wäre wiederum ein neues Thema. In der Philosophie der Orientierung bleibt neben Kant als dem Vorläufer einer Philosophie der Orientierung und Nietzsche und Luhmann als ihren gegenwärtig wirkmächtigen Exponenten für den viel radikaleren Orientierungsphilosophen im Schatten Kants, nämlich für Herder, kein Raum. Dazu verhilft und verführt zugleich die Orientierung der Narration des Buchs am Wortgebrauch. Hatte Kant das Wort „Orientierung“ zwar nicht terminologisch über den aktuellen Anlass seiner Einführung hinaus weiter verfolgt und auch nicht in sein System integriert, so hatte er es in diesem einen Fall doch konstruktiv eingesetzt. Langfristig hat er damit traditionsbildend gewirkt. Herder hingegen hat sich in seiner seit 1785 ablehnenden Haltung gegenüber Kant einen konstruktiven Umgang mit diesem Wort, dessen philosophischen Gebrauch er durch Kant kennen lernte, von vornherein und nachhaltig verbaut.

23 Dass man Descartes und Leibniz auch anders lesen kann, hermeneutisch wohlwollend, zieht Herder nicht in Erwägung. Was er kritisiert, ist der zum allgemeinen Bildungsgut geronnene Cartesianismus (Leib-Seele-Dualismus) bzw. Leibnizianismus („Fensterlosigkeit“ der Monaden, des Ichs etc.).

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Literaturverzeichnis Gaier, Ulrich (2006): „Hamann und Herder – eine philosophische Alternative zu Kant?“. In: Tilman Borsche (Hrsg.): Herder im Spiegel der Zeiten, München, S. 103–125. Hamann, Johann Georg (1979): Briefwechsel, 7. Band, 1786–1788. Hrsg. von Arthur Henkel. Frankfurt am Main. Haym, Rudolf (1880): Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. 1. Berlin. Herder, Johann Gottfried (1984): Johann Gottfried Herder. Briefe. Erster Band. April 1763 – April 1771. Hrsg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar. Herder, Johann Gottfried (1985): „Frühe Schriften“. In: Werke, Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main. Herder, Johann Gottfried (1985 ff.): Johann Gottfried Herder Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt am Main. Herder, Johann Gottfried (1986): Johann Gottfried Herder. Briefe. Fünfter Band. September 1783 – August 1787. Hrsg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar. Herder, Johann Gottfried (1989): „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. In: Werke, Bd. 6. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt am Main. Herder, Johann Gottfried (1994): „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. In: Werke, Bd. 4, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt am Main, S. 9–107. Herder, Johann Gottfried (1998): „Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Zweiter Teil: Vernunft und Sprache“. In: Werke, Bd. 8, Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800. Hrsg. von Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main, S. 303–640. Kant, Immanuel (1964): Werke, 10 Bände. Hrsg. von. Wilhelm Weischedel. Darmstadt. Kant, Immanuel (1964a): „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (Berlinische Monatsschrift, Nov. 1784). In: Werke, Bd. 9, S. 33–50. Kant, Immanuel (1964b): „Rezension zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Erster Teil“ (Allgemeine Literatur-Zeitung, Jan. 1785). In: Werke, Bd. 10, S. 781–794. Kant, Immanuel (1964c): „Rezension zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Zweiter Teil“ (Allgemeine Literatur-Zeitung, Nov. 1785). In: Werke, Bd. 10, S. 797–806. Kant, Immanuel (1964d): „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (Berlinische Monatsschrift, Jan. 1786). In: Werke, Bd. 9, S. 85–102. Kant, Immanuel (1964e): „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ (Königsberg 1775). In: Werke, Bd. 9, S. 11–30. Kant, Immanuel (1972): Briefwechsel. Hrsg. von Otto Schöndörffer, Hamburg. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York.

Sigridur Thorgeirsdottir

Die Philosophie im Leib „Man hat nach Nietzsche eine Philosophie im Leib, bevor man eine Theorie aus ihr macht.“ (Stegmaier 2011, S. 10 f.)

Am Ende seines Vorwortes zu Nietzsches Befreiung der Philosophie, seiner Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, schreibt Werner Stegmaier, dass das V. Buch „das Irritierendste und Faszinierendste“ ist, was ihm „in einer über vierzigjährigen akademischen Beschäftigung mit der Philosophie begegnet ist“ (Stegmaier 2012, S. VI). Er beschreibt hier seine Erfahrung als Leser und Interpret der Philosophie Nietzsches, wobei für ihn die Kunst der Mitteilung von Ideen, Gedankengängen und Theorien Wesentliches zur Faszination der Texte beiträgt. Die irritierende Wirkung der Texte, mit welcher sie den Leser und Interpreten ansprechen, machen die Lektüre zu einer Herausforderung eigener Art. Was Stegmaier mit seinen Deutungen der Philosophie Nietzsches wie kein anderer gezeigt hat, ist, wie viel Wert Nietzsche auf die Kommunikation mit dem Leser seiner Schriften legt. Hier geht Stegmaier vor gegen das allzu wörtliche Verständnis von Nietzsches berühmter Äußerung, er schreibe nur für sich, und zeigt, wie gerade solche Sätze die Leserinnen und Leser zum eigenen Denken durch die herausfordernde Lektüre animieren. In Stegmaiers Interpretation tritt Nietzsche als Philosoph der Kommunikation hervor, der Kommunikation mit dem Leser. Ein solcher Zugang zu Nietzsches Schriften bringt diesen Philosophen aus dem Schatten des einseitig individualisierten Bildes des einsamen Philosophen, das von namhaften Interpreten wie Adorno, Heidegger und Gadamer entworfen worden ist. Der Individualismus Nietzsches in ihren Interpretationen beschränkt sich weniger auf die Person Nietzsches als einsamen Denker als auf sein Bild des singulären, philosophierenden Individuums, das durchaus im Geniebild der Spätromantik seine Wurzeln hat. Sowohl in der Gestalt des freien Geistes, des Übermenschen als auch des dionysischen Philosophen scheint das sich selbst emanzipierende und auf sich allein gestellte Individuum durch. Dieses Bild, das die oben genannten Nietzsche-Interpreten unterstrichen haben, scheint des Weiteren das Ideal der Aufklärung, des autonomen Individuums, deutlich zu verkörpern. Mit seiner Betonung auf das kommunikative Philosophieren von Nietzsche kritisiert Stegmaier nicht nur die daraus zugespitzte Idee des solipsistischen Philosophen als Ideal Nietzsches, sondern auch das Bild des autonomen Individuums, das an das Ideal der Aufklärung gebunden ist. Zwar legt Nietzsche Wert auf das selbständige und individuelle Denken des freien Geistes, aber das Individuum, das dahinter

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steckt, ist ein durch und durch relationales Individuum. Dieses Individuum steht in Relationen zu Anderen, zu sich selbst und zu den Kontexten, in denen sie/er sich befindet. Nach dem Verfall des Glaubens der Aufklärung an die universelle Vernunft bleibt nur die „Kommunikation unter Individuen“ (Stegmaier 2012, S. 5). Nietzsches Werke, vor allem die Fröhliche Wissenschaft, werden von Stegmaier in diesem Sinne, als Illustration dieser Kommunikation, gelesen.

Philosophie als Kommunikation leiblicher Individuen Das denkende Individuum, das sich philosophisch äußert, ist ein kommunikatives Individuum, weil es ein sprachlich interaktives und leibliches Wesen ist. Die Kommunikation durch den geschriebenen Text ist zwar nicht interaktiv wie ein lebendiges Gespräch unter zwei oder mehreren, aber das Schreiben Nietzsches zielt auf eine Wirkung bei dem Leser, die ihn herausfordert und mitdenken lässt. Der Gedanke, der vermittelt wird, lebt weiter und transformiert sich im Denken der Leser und Leserinnen. Dennoch bedeutet das nicht, dass Nietzsches Absage an universelle Vernunft und absolute Wahrheit einem Wahrheitsrelativismus Platz macht. Sein wichtigstes Anliegen ist, einen Nihilismus in der Gestalt einer Gleichgültigkeit der Wahrheit gegenüber anzufechten. Wahrheit spielt für ihn weiterhin eine wichtige Rolle. Das Philosophieren bedeutet Wahrheiten zu suchen, aber in dem Wissen, dass alle Wahrheiten vorläufig sind und nur so lange gültig sind, bis andere bewiesen werden. Das gilt sowohl für wissenschaftliche Wahrheiten als auch für persönliche Einstellungen zu dem, was als wahr oder unwahr gilt, d.h. für den Wert von Wahrheiten. Und selbst wenn alle Wahrheiten auf tief liegenden Werten beruhen und von Selbsterhaltungsinteressen getrieben sind, dann ist ein Pragmatismus der Wahrheit keineswegs mit Wahrheitsrelativismus gleichzusetzen. Wir sind kontextuelle, leibliche Wesen, die sich aus bestimmten Situationen, in der Realität zurechtfinden und orientieren müssen, wie Stegmaier so genau und ausführlich in seiner Philosophie der Orientierung analysiert (Stegmaier 2008). Ein solcher Wahrheitstrieb ist nicht mit Selbsterhaltung gleichzusetzen. Die Erkenntnissuche, wie Nietzsche in seinen Überlegungen zur Leidenschaft der Erkenntnis nahe legt, ist nicht durch die Selbsterhaltung beschränkt. Der Philosoph/die Philosophin hat dann den Mut zu „gefährliche[n] ,Wahrheiten‘“, auch um den Preis der Selbsterhaltung (Stegmaier 2012, S. 67). Den Mut zur Wahrheit zu haben, ist weniger mit einer Disposition der Furchtlosigkeit als mit einer Disposition einer tieferliegenden Ahnung um eine Wahrheit verbunden, die Mut fordert, um sie wahrhaben zu wollen. Es fordert eine



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Überwindung, einen Kampf gegen einen inneren oder äußeren Widerstand. Man wird irritiert oder man wird fasziniert von einer philosophischen Aussage, und es bringt eine Dynamik in Gang, die zu einer Entscheidung führt. Man misst der Aussage im philosophischen Text Nietzsches Wert bei, urteilt, ob diese den Sachbestand betrifft, wahr oder unwahr, richtig oder falsch ist. Wie weiß man oder wie kann man sich sicher sein, dass eine philosophische Aussage wahr oder falsch ist? Die rationale Begründung und Prüfung von Aussagen haben für Nietzsche immer tiefere Dimensionen im Leib, im Unbewussten, im Prädiskursiven. Es sind diese Ebenen, die die entscheidenden Kriterien für die Wahrheit beinhalten. Das heißt nicht, dass diese Kriterien wahrheitstheoretisch rein subjektiv und relativ sind. Die große Vernunft des Leibes weiß immer am besten, was wahr oder richtig ist. Und diese Ebene wird intersubjektiv wahrgenommen. Stegmaier hat das einleuchtend mit seiner Interpretation von Nietzsches Philosophie als Befreiung von den Bindungen einer metaphysisch verankerten Vernunft dargestellt, was am deutlichsten in Nietzsches philosophischer Kommunikation sichtbar wird. Nietzsche, so Stegmaier, sprach nicht im Namen jener metaphysischen Vernunft, sondern „als unverwechselbares Individuum zu ihrerseits unverwechselbaren Individuen“ (Stegmaier 2012, S. 6). Der Denker ist ein unverwechselbares Individuum und der Leser/die Leserin ist ebenso ein unverwechselbares Individuum. Ihre Unverwechselbarkeit ist ihre Individualität, die sie einzigartig macht. Zugleich ist die Unverwechselbarkeit, als die Möglichkeit, die alle besitzen, um ihr Eigenes zu spüren, die Eigenschaft, die allen gemeinsam ist. Aufgrund der eigenen Unverwechselbarkeit, wo jede/ jeder spürt oder erkennt, was richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist, haben wir die Möglichkeit, die Unverwechselbarkeit von Anderen zu erkennen. Es ist unser leibliches Wesen, das jede und jeden unverwechselbar macht. Wir sind alle in unterschiedlichen Körpern. Sogar genetisch identische, eineiige Zwillinge, die in derselben Familie aufwachsen, wachsen in unterschiedlichem Umfeld auf, da sie nicht den selben Platz oder Raum einnehmen können, und damit unterschiedliche Positionen und Relationen zu einander und zu Anderen einnehmen. Ihre Positionalität und Relationalität und die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie dadurch machen, machen sie wie alle Anderen unverwechselbar. Es sind nicht nur unterschiedliche Relationen und Umfelder, die auch eineiige Zwillinge unverwechselbar machen. Es gibt auch eine tiefere Ebene, insofern Umwelten nicht nur räumlich, äußere Umwelten sind. Unsere Körper sind immer in Interaktion mit der Umwelt. Wir nehmen diese wahr durch Sinne und Verstand, und wir befinden uns in einer Interaktion mit einer Umwelt, in der wir von Tagesrhythmen abhängig sind, durch das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen, u.s.w. beeinflusst sind. Unsere Leiber sind daher unverwechselbar und die Quelle der Individualität und damit die Möglichkeit unserer

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jeweils eigenen Originalität. Die Möglichkeit, in Kontakt mit dem eigenen zu kommen, ist zugleich die Möglichkeit, die Individualität der Anderen zu erkennen. Das eigene Eigene erkennt das andere Eigene. So erkennen wir die Wahrheit der Anderen und können uns damit auseinandersetzen. Nietzsche legt ja Wert darauf, dass der Leser ihn nicht verwechselt, wie er in Ecce homo schreibt (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 1). Jeder Leib hat laut Nietzsche seine eigene Philosophie, wie Stegmaier es formuliert, bevor er eine Theorie aus ihr macht (Stegmaier 2011, S. 10 f.). Der Philosoph und die Philosophin müssen ihr eigenes finden, um ihre eigene Philosophie artikulieren und ausdrücken zu können. Daraus folgt: je eigener, desto unverwechselbarer ist sie. Mit dieser Interpretation hat Stegmaier einen entscheidenden Schritt zu einer reichhaltigeren Artikulation von Nietzsches Idee, dass Philosophie einerseits leiblich fundiert ist und andererseits intersubjektiv bestimmt ist, gemacht. Diese Interpretation von Stegmaier erlaubt die besondere Stellung der Philosophie der Gegenwart zwischen empirisch fundierten Naturwissenschaften und statistisch, quantitativ fundierten Sozialwissenschaften einerseits und Kunst und Religionen andererseits deutlicher zu markieren. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen diesen verschiedenen Disziplinen, angenommen Religion wird hier als Theologie aufgefasst. Die Philosophie ist des Öfteren grenzüberschreitend, indem sie Erkenntnisse anderer Disziplinen und Fachrichtungen in ihren Lehren mitberücksichtigt. Andere Disziplinen haben auch philosophische Fundamente, sofern ihnen Konzepte als Ausgangspunkte ihrer Forschungen zugrunde liegen, die nicht hinterfragt werden. Und alle Disziplinen haben eine künstlerische, kreative Komponente, die intuitive Aspekte aufweist. Nichts desto weniger und trotz dieser Überschneidungen, nimmt die Philosophie eine Sonderstellung ein, so wie Nietzsche sie versteht, laut Stegmaiers Interpretation. Die Philosophie fasziniert und irritiert auf eine besondere Weise, auf eine andere Weise als etwa eine Wissenschaft wie die Chemie faszinieren kann. Die Chemie fasziniert durch den Einblick, den sie in unsere stoffliche Welt und die materiellen Bausteine des Universums gewährt. Faszinierend und irritierend zugleich, wie die Philosophie es sein soll, kann sie aber kaum sein. Das Irritieren kann nicht zur programmatischen Methode der Chemie gehören, wie es in der Philosophie der Fall ist. In der Chemie als Wissenschaft können grundlegende Wahrheiten hinterfragt werden, sobald es um philosophischen Grundlagen der Chemie geht. Die Methode des Hinterfragens ist aber konzeptionell und basiert auf Schemata und Gesetzen, die das Fachwissen der Chemie bestimmen. Revisionen und Neuentdeckungen entstammen durchaus kreativen und individuellen Impulsen der Forscher. Dennoch hat das individuelle, das Erfahrungswissen, das im Leib fundiert ist, dort nicht die tragende, schöpferische Rolle wie in der Philosophie. In Kontrast zu den Wissenschaften, die sich in der Hauptsache schematischen und



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empirischen Methoden bedienen, verlässt sich die Philosophie darüber hinaus in wesentlichen Aspekten auf das individuelle Erfahrungswissen der Philosophierenden. Der Philosoph/die Philosophin bewegt sich in einer Lebenswelt, und das kann mit der phänomenologischen Methode verdeutlicht werden. Philosophen/Philosophinnen beziehen sich auf das eigene Erfahrungswissen, wenn sie gängige fachwissenschaftliche Urteile eines Tatbestandes in Klammern setzen, um ihr eigenes Gespür für einen Tatbestand zu erkunden. Es wird nicht anhand des vorhandenen theoretischen Wissens beurteilt, um eine frische Sicht der zu betrachtenden Sachverhalte zu gewinnen. Das eigene Nachdenken ermöglicht ferner aus festgefahrenen Denkmustern zu befreien. Diese Komponente des Philosophierens hat durchaus Gemeinsamkeiten mit dem künstlerischen Denken als intuitivem Denken. Die Vermittlungsart der individuellen Intuition und des Erfahrungswissens bedient sich aber philosophischer Begrifflichkeiten und Argumentationsmuster, die dieses Wissen in bestimmte Bahnen lenken. Als künstlerischer Philosoph ist Nietzsche darum bemüht, diese fachimmanenten Muster und Schemen aufzulockern, wenn es nötig ist, um seinem eigenen Anliegen gerecht zu werden. Eines seiner Hauptanliegen ist es, dualistische Denkschemata, die der platonisch verankerten metaphysischen Tradition entstammen, zu untergraben. Dennoch legt er sehr viel Wert auf Opposi­ tionen, was darin deutlich wird, dass seine Aussagen und Behauptungen absichtlich irritieren und zum Widerspruch herausfordern sollen. Um diese in Gang zu setzen, muss der Leser in seiner Unverwechselbarkeit angesprochen werden, und das heißt, der Text muss ihn leiblich berühren, einen wunden oder empfindsamen Punkt treffen und aufwühlen. Leiblich berührt zu werden bedeutet in diesem Zusammenhang des Textes, dass die Leser als denkende und fühlende Wesen angesprochen werden.

Der Leib im Spannungsfeld von Erfahrung und Diskursen: Nietzsche vs. Foucault und Butler Was heißt es, dass wir eine Philosophie im Leib haben, ehe wir eine Theorie aus ihr machen? Dass wir schon wissen, was wir denken, bevor wir es artikulieren, und dass wir eine Verbindung zu dieser leiblichen Dimension unseres philosophischen Denkens haben müssen, um sie in Begriffe fassen zu können? Ja, grundsätzlich ist es so, dass es affektive Dimensionen sind, die unser Denken mitbestimmen. Kann so eine Idee vertreten werden, wenn Nietzsches nachfolgende Philosophen, die Nietzsches Philosophie des Leibes weiterführten, wie etwa Michel Foucault mit seiner Philosophie der Kontrolle des Leibes, vor allem

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analysiert haben, wie der Leib durch gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen biopolitisch bestimmt wird? (Foucault 1987, 1989, 1993) Eine solche Annäherungsweise an den Leib wurde von Judith Butler mit Blick auf Geschlechter­ identitäten angewendet (Butler 2003). Nach Butler gibt es keine natürlichen Geschlechtsidentitäten, die vor der kulturell-gesellschaftlichen Determinierung existieren. Mit ihrer Theorie der Performativität von Körpern legt Butler dar, wie die Geschlechteridentitäten von Körpern Erzeugnisse von Sozialisation und deren linguistischen und symbolischen Diskursen sind. Es gibt ihrer Ansicht nach keine Geschlechteridentität hinter dem Ausdruck des Geschlechts, wobei sie sich mit dieser These ausdrücklich auf Nietzsches Genealogie der Moral bezieht (Thorgeirsdottir 2012). Das geschlechtliche Sein ist dementsprechend ein Tun, was performativ wiederholt wird. Foucault und Butler betonen beide die externe Kontrolle und Bestimmung von Körpern und körperlichen Identitäten. In Anschluss an Nietzsche und Freud, die die Verinnerlichung von prohibitiven Normen als bestimmend für die Subjektwerdung ansehen, betonen Foucault und Butler zusätzlich, wie das Subjekt als soziales Konstrukt auch in seinem psychischen Selbstsein von denselben konstruierenden Mächten abhängig ist. Der Titel von Butlers Werk, The Psychic Life of Power (1997), zeigt ihren Versuch, das Affektive und das Psychische als von soziokulturellen Mächten Bestimmtes zu verdeutlichen. Die externen Mächte sind Teil des subjektiven Bewusstseins. Dabei bezieht Butler sich ausdrücklich auf Nietzsches Genealogie der Moral, in der er analysiert, wie der Wille oder das Verlangen sich gegen sich selbst wendet, indem es seine Aggression nach innen wendet (Butler 1997, S. 63). Damit werden Mächte im Bewusstsein verankert und werden Teil der Reflexivität. Von diesem Ansatz her argumentiert Butler, dass unsere psychische Existenz von den sozialen Operationen der Macht generiert wird, wobei die soziale Operation der Macht von der Psyche, die sie produziert, verstärkt wird. Die Psyche wird durch die Macht hervorgebracht. Das leitet Butler zu Foucaults Satz, dass die Seele das Gefängnis des Leibes ist (Butler 1997, S. 59). Durch die Regulierung und Normierung wird die Seele bestimmt und somit für die politische Anatomie instrumentalisiert (Butler 1997, S. 59) zuzustimmen. Dennoch hat Butler Schwierigkeiten, bei diesem Ansatz zu bleiben, und kommt nicht umhin, um Widerstandsfähigkeit zu verdeutlichen, auf die Kraft des Verdrängten im Unbewusstsein zurückzugreifen. Wie könnte sie sonst zeigen, was eines ihrer Hauptanliegen ist, wie nicht von der Gesellschaft öffentlich anerkannte und nicht erlaubte Emotionen und Neigungen sich zur Geltung bringen? Mit ihrer Theorie des politischen Widerstandes als Subversion eröffnet Butler einen Weg zum Leib mit der Annahme, dass das Subjekt ein nicht akzeptiertes Verlangen unterdrückt, wobei das Subjekt weiß, dass dieses Verlangen sein eigenes ist oder war. Sie weist auf den Ansatz Lacans hin, wonach das Unbewusste sich gegen die symbolische



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Ordnung stemmen kann, was in den Lücken und Ausrutschern, die die Funktionsweise des Imaginären in der Sprache kennzeichnen, deutlich wird (Butler 1997, S. 97). Sie wendet sich dennoch gegen diese Möglichkeit der Eröffnung auf das Vordiskursive, wenn sie mit Bezug auf Foucault behauptet, dass Widerstand nicht außerhalb des Gesetzes von Unterdrückung existieren kann. Im Gegensatz zu Lacan, der die Möglichkeiten des Aufbegehrens gegen die soziale Ordnung im Imaginären verortet, stimmt Butler Foucault zu, nach dem die Widerstandskraft der Effekt (die Wirkung) der symbolisch-sozialen Ordnung ist (Butler 1997, S. 98). Foucaults und Butlers Ansätze können nicht überzeugend erklären, wie trotz der Macht der Diskurse (in der Wissenschaft, in der Erziehung, in der Politik und der Kultur) das eigene Verlangen gespürt und zum Ausdruck gebracht wird. Hier wird deutlich, dass Butler in Psychic Life of Power Nietzsche einseitig interpretiert oder genauer nur die eine Seite seiner Theorie des Leibes im Auge behält. Sie geht davon aus, dass psychische Erfahrung von kulturellen und gesellschaftlichen Normen hervorgebracht wird, wie Nietzsche vor allem in der Entwicklung des schlechten Gewissens in der Genealogie der Moral darlegt. Normen oder Irrtümer, wie Nietzsche sie nennt, werden einverleibt (FW 11). Nietzsche geht so weit und behauptet: „Moralische Gefühle sind Leidenschaften von Werthurtheilen umgewandelt. Einfluß des Urtheils auf das Gefühl.“ (Nachlass 1883, 9[39], KSA 10.357) Für Butler ist das ein entscheidender theoretischer Hintergrund für ihre Interpretation der Einwirkung der Macht auf die Gefühle. Um es erkenntnistheoretisch zu erläutern, weist sie auf Nietzsches Idee der Kausalitätskette hin: „Unser ganzes Träumen ist die Auslegung von Gesammt-Gefühlen auf mögliche Ursachen: und zwar so, daß ein Zustand erst bewußt wird, wenn die dazu erfundene Causalitäts-Kette ins Bewußtsein getreten ist“ (Nachlass 1888, 15[90], KSA 13.459). Die Theorie der Einverleibung stellt dennoch, wie gesagt, nur die eine Seite von Nietzsches Philosophie des Leibes dar. Die Expressivität des Leibes, die Fähigkeit, innere Zustände des Leibes wahrzunehmen um sie dann auszudrucken, ist die andere Seite der Philosophie des Leibes als die große Vernunft in Nietzsches Philosophie. Das will nicht heißen, dass die inneren Zustände des Leibes mit „Essenz“, „Substanz“, „Natur“ oder dem Ursprünglichem gleichzusetzen sind. Wie Foucault mit seiner Interpretation von Nietzsches Begriff der Genealogie gezeigt hat, kann es keinen festzumachenden, einheitlichen Ursprung geben (Foucault 1971). Jede „erste Natur“ war irgendwann mal „zweite Natur“ insofern, als dass sich alle Eigenschaften und Attribute im Laufe der Zeit in Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt haben und daher entstanden sind. Diese Eigenschaften bleiben weiterhin im Werden begriffen, soweit der Mensch nach Nietzsche das nicht festgestellte Tier ist. Das heißt, dass das Innere und das Äußere (sofern diese auseinandergehalten werden können, da die Grenzen fließend sind) jeweils eine

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eigene Ordnung haben, die kontinuierlich mit- und gegeneinander wirken und einander modifizieren können. Butlers Verständnis nach hat der Leib aber keine eigene Ordnung, da diese nur von außen, durch die symbolische Konditionierung des Denkens, kommen kann. Der prädiskursive Leib, den Butler als das eigene Verlangen beschreibt, hat keine Möglichkeit, von sich selbst aus zur Sprache zu kommen. Dies ist umso erstaunlicher, da Butler darum bemüht ist, die körper­ lichen Dimensionen der geschlechtlichen Identität ernst zu nehmen und diese in ihrer subversiven Funktion zu betonen, insofern sie vorherrschende dualistische Ordnungen wie die Geschlechterbinarität durcheinander bringen können. Sie ist sich dessen bewusst, dass Nietzsche in Also sprach Zarathustra über die große Vernunft des Leibes spricht, dessen kleine Vernunft des Geistes nur ein Werkzeug ist. Nietzsche behauptet daher: „Unser Leib ist weiser als unser Geist!“ (Nachlass 1884, 26[355], KSA 11.244) Butler geht davon aus, dass diese große Vernunft des Leibes sich allein durch eine auferlegte Ordnung ausdrücken kann. Die Möglichkeit eines eigenen, leiblichen Erfahrungswissens wird hier abgelehnt, indem es der symbolischen Ordnung gänzlich untergeordnet ist. Dennoch muss Butler wie Nietzsche der Ansicht sein, dass der Leib sich philosophisch aus einer Not oder einem kreativen Überschuss äußert, wie Stegmaier schreibt: Man macht nur eine Theorie aus der eigenen Philosophie des Leibes, wenn man es „nötig hat“. „Welche Theorie einer vorträgt“, schreibt er ferner, „verrät … wer er ist; eine philosophische Theorie ist nicht wahr oder falsch, sondern ein Symptom von etwas, über das einer hinwegkommen will.“ (Stegmaier 2011, S. 11)

Der Leib in der Erfahrung und in der Sprache Für Nietzsche haben die Philosophien des Abendlandes meistens den Leib missverstanden, was sich in ihren Theorien, vor allem den dualistischen Theorien der Metaphysik, ausdrückt. Daher fragt er sich im zweiten Vorwort der FW, ob Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein M i s sve r s t ä n dniss des Leib e s gewesen ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei es von Ständen oder ganzen Rassen. (FW, Vorwort 2)

Wir besitzen die Kraft, den Leib besser zu verstehen, weil es für Nietzsche „unzählige Gesundheiten des Leibes“ gibt (FW 120). Jeder einzelne hat im Leibe die Möglichkeit der eigenen Gesundheit. Nietzsche konnte aus seinen Krankheiten Lehren ziehen und versuchen sich zu heilen, weil er „im Grunde“ gesund ist,



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wie er es in EH formulierte (EH, Warum ich so weise bin 2). Zugleich sind die körperlichen Leiden ein Erkenntnisgewinn. Die Krankheit ist eine Philosophie, wenn sie in die „geistigste Form“ umgesetzt wird. „[D]iese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie.“ (FW, Vorwort 3) Die leibliche Erfahrung wird keineswegs mit einer neu erfundenen Sprache des Leibes ausgedrückt, darin sind sich Butler und Nietzsche einig. Körperliche Ausdrücke, die nicht verbal sind, sondern Klangausdrücke von Empfindungen wie Schmerz, Wonne, Lust, Staunen u.s.w. sind enger an die leibliche Erfahrung gebunden als Wörter, und dennoch sind sogar solche Ausdrücke und Ausrufe auch kulturell bedingt. Laut Nietzsche tritt die „innere Erfahrung“ erst in unser Bewusstsein, nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht. Zu verstehen bedeutet daher, etwas Neues in der Sprache von etwas Altem ausdrücken können (Nachlass 1888, 15[90], KSA 13.460). Das will heißen, dass Sprache im Leib implizit ist, so dass eine Verbindung zum inneren Zustand des Leibes eine neue Erörterung oder Formulierung erlaubt. Die innere Erfahrung ist damit die Quelle eines kreativen Umgangs mit der Sprache, die es erlaubt, Erlebnisse auf neuartige Weise auszudrücken. Nietzsche beschreibt das anhand der Inspiration, wie er sie in seinem philosophischen Schaffen erlebt hat: Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt — die Länge, das Bedürfniss nach einem weitgesp a n n te n Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung … Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit … Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. (EH, Za 3)

Nietzsche beschreibt ferner die Verbindung der inneren Erfahrung und der Sprache, indem er erläutert, wie ein kreativer Stil des Schreibens einen inneren Zustand wirklich mitteilt: Ich sage zugleich noch ein allgemeines Wort über meine Ku n s t d e s S t i l s. Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen, mitzutheilen — das ist der Sinn jedes Stils; und in Anbetracht, dass die Vielheit innerer Zustände bei mir ausserordentlich ist, giebt es bei mir viele Möglichkeiten des Stils — die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat. G u t ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mittheilt, der sich über die Zeichen, über das tempo der

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Zeichen, über die G e b ä rd e n — alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde — nicht vergreift. Mein Instinkt ist hier unfehlbar. — Guter Stil a n s i ch — eine re i n e T h o r h e i t , blosser „Idealismus“, etwa, wie das „Schöne a n s i ch“, wie das „Gute a n s i ch“, wie das „Ding an sich“ … Immer noch vorausgesetzt, dass es Ohren giebt — dass es Solche giebt, die eines gleichen Pathos fähig und würdig sind, dass die nicht fehlen, denen man sich mittheilen darf . — Mein Zarathustra zum Beispiel sucht einstweilen noch nach Solchen — ach! (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 4)

Stegmaier behauptet, dass es Nietzsche anscheinend nicht in erster Linie um die Inhalte seiner Texte gehe, sondern um ihre Form, „ihre Stimmung, ihre Dynamik, ihre ,Musik‘.“ Gerade das sei es, was die Texte irritierend und überraschend „wie das Leben selbst“ mache (Stegmaier 2012, S. 73). Im gleichen Sinne deutet Nietzsche die Kunst der Auslegung seiner Texte als eine Art von Musik. So wie Nietzsche den Begriff der Musik braucht, so Stegmaier, kann „eine passende Musik“ „der richtigste und deutlichste Commentar“ zum „geheimsten Sinn“ einer Szene sein (GT 16, KSA 1.105), sogar „eine Art philologischen Commentars“ sein (Nachlass 1878, 30[111], KSA 8.541). Die Philosophie ist im Leib als innerer Zustand, ein „gefühlte[r] Text“, den Nietzsche kunstvoll mitteilen kann (M 119, KSA 3.113). In Za beschreibt er, wie es gelernt oder geübt werden kann, diesen gefühlten Text wahrzunehmen: Und diess redlichste Sein, das Ich — das redet vom Leibe, und es will noch den Leib, selbst wenn es dichtet und schwärmt und mit zerbrochnen Flügeln flattert. Immer redlicher lernt es reden, das Ich: und je mehr es lernt, um so mehr findet es Worte und Ehren für Leib und Erde. (Za I, Von den Hinterweltlern, KSA 4.36)

Butler kann mit ihrer Theorie der Diskurse erläutern, wie das Erleben immer mit einem sprachlichen Interpretieren einhergeht. Die Interpretation allein ist aber nicht das ganze Werk. Nietzsche zeigt, dass der Leib mehr ist als die kulturellen Zeichen und Diskurse, die seine „inneren Zustände“ deuten und mitbestimmen. Sprache und Diskurse sind nämlich Ausdruck des Leibes. Daher meint Nietzsche, dass der Geist eines Philosophen ein guter Tänzer ist (FW 381). Mit der Gleichung des Tanzes weist Nietzsche darauf hin, dass der

Mensch als Leib zugleich Rhythmen schafft und Rhythmen des Leibes unterworfen ist. „Der Mensch ist“ einerseits „ein rhythmen-bildendes Geschöpf. Er legt alles Geschehen in diese Rhythmen hinein, es ist seine Art, sich der „Eindrücke“ zu bemächtigen.“ (Nachlass 1883/84, 24[14], KSA 10.651) Der Mensch ist andererseits natürlichen, körperlichen Rhythmen unterworfen, wie Schlaf und Wachsein, Wachstum und Verderb, Gesundheit und Krankheit, Verlangen und Befriedigung, Anspannung und Loslassen. Die Musik als eine temporale Ausdrucksform und als Rhythmus spricht den Menschen als Leib direkter an



Die Philosophie im Leib 

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als andere Kunstformen.1 Kreativität, die im Leib erwacht, stärkt die Intuition, erblickt viele Möglichkeiten und gibt ein Gefühl der Kraft. Musik zu hören ist daher nicht auf die sinnliche Wahrnehmung, das Hören, beschränkt, sondern ist eine leibliche Erfahrung. Darum ist für Nietzsche die sinnliche Wahrnehmung im Leib verankert und die leibliche Erfahrung weiter zu fassen als die sinnliche Wahrnehmung.

Die erweiterte Denkungsart der Philosophie aus dem Leib Naturwissenschaften, die sich empirischer Methoden bedienen, sind in der sinnlichen Wahrnehmung begründet (Wiltschko 2008, S.  78–87). Von dem Standpunkt von Nietzsches Philosophie des Leibes aus hat die Philosophie, die in der leiblichen Erfahrung einen Ausgang hat, den empirischen Wissenschaften etwas voraus, insofern sie eine erweiterte Denkungsart sein kann. Es ist eine Denkungsart, die für Nietzsche affektive Elemente beinhaltet. Der „verarmte Leib“ und die „Furcht vor den Sinnen“ ist dagegen für Nietzsche das Rezept für eine sterile Denkweise (Nachlass 1888, 17[9], KSA 13.530). Nietzsche ist sich dessen bewusst, dass das Denken der großen Vernunft, d.h. das Denken, das die Affekte und die leibliche Erfahrung nicht ausklammert, nicht immer zu guten Denkschlüssen führt. Die Geschichte ist voll von negativen Beispiele von regressiven Rückgriffen auf Leidenschaften und Emotionen. Gefühle ohne Vernunft sind blind, wie Vernunft ohne Gefühl steril sein kann. Nietzsches Konzeption der erweiterten Denkungsart beinhaltet, dass die Affekte reguliert werden müssen (Welsch 1998). Leidenschaftlich, philosophisch zu denken, heißt, die kognitiven Aspekte der Gefühle auszuloten, um aus ihnen als Quelle der Erkenntnis zu schöpfen. Das will ferner heißen, dass die Vernunft über Affekte informiert wird und die Affekte von der Vernunft illuminiert werden können. In seiner Interpretation der Erfahrung des Lesens von Nietzsches Philosophie betont Stegmaier, dass der Umgang mit dem Emotiven im philosophischen Schaf-

1 „Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist Das der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen.“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10)

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 Sigridur Thorgeirsdottir

fen Distanz erfordert, wie Nietzsche in der Vorrede zu der Genealogie der Moral beschreibt. Selbstdistanzierung und Selbstverfremdung sind notwendig, um mit dem leiblich-affektiven in einer philosophisch produktiven Weise umzugehen. Die Erkennenden müssen, um Erkenntnisse „heimzubringen“, ihre Erlebnisse ausblenden, die sie für ihre Erkenntnisse einstimmen (Stegmaier 2012, S.  69). Damit ist gemeint, dass der „Gewinn an Selbstdistanz“ einen „Gewinn an Selbstkritik oder Selbstüberwindung“ bedeutet, was zugleich ein „Gewinn an Spielräumen des Philosophierens“ ist (Stegmaier 2012, S. 68, vgl. JGB 257). Ein reflektierter Umgang mit den affektiven Aspekten der Erlebnisse macht uns fähig, nicht automatisch auf Gefühle zu reagieren, sondern die Gefühle richtig auf uns einwirken zu lassen und ihr Wirken empfindsam auszuloten. Damit wird der Spielraum der Ausdrucksmöglichkeiten erweitert. Auf den Leib zu hören, den gefühlten Text dort zu empfinden und ihn sorgfältig und von allen Seiten zu erkunden, ist damit eine Quelle des philosophischen Denkens, des Denkens aus dem Leib.2

Literaturverzeichnis Butler, Judith (1997): The Psychic Life of Power: Theories in Subjection. Stanford. Butler, Judith (2003): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1971): „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“. In: S. Bachelard (Hrsg.): Hommage à Jean Hyppolite, Paris, S. 145–172. Foucault, Michel (1987): Sexualität und Wahrheit (Bd. 1): Wille zum Wissen. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1989): Sexualität und Wahrheit (Bd. 2): Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1993): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2011): Friedrich Nietzsche zur Einführung. Hamburg. Stegmaier, Werner (2012): Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft. Berlin/Boston. Thorgeirsdottir, Sigridur (2012): „Die Philosophie Nietzsches im Spiegel von Philosophinnen des 20. Jahrhunderts“. In: Renate Reschke/Marco Brusotti (Hrsg.): „Einige werden posthum geboren“ (Nietzsche Heute, Bd. 4), Berlin, S. 97–115. Welsch, Wolfgang (1998): „Nietzsche über Vernunft: ,Meine wiederhergestellte Vernunft‘“. In: J. Beaufort/P. Prechtl (Hrsg.): Rationalität und Prärationalität, Würzburg, S. 107–115. Wiltschko, Johannes (2008): Focusing und Philosophie. Hrsg. von Johannes Wiltschko. Wien.

2 Herzlichen Dank an Elisabet Sigridar-Magnusdottir für ihre hilfreichen Kommentare und sprachlichen Korrekturen.

João Constâncio

Nietzsche on Nihilism (Eine unersättliche Diskussion?) I. A personal note There are few people with whom I have learned more than Werner Stegmaier. When we meet in person, our philosophical conversations usually last for hours. Werner has termed these conversations our ‘unersättliche Diskussionen’. One of the topics we have often discussed is nihilism. Just recently, Werner was so kind as to send me a draft of a text on nihilism which shall soon become a chapter of his forthcoming book on Nietzsche and Luhmann.1 What follows is a short reflection on some of the themes and claims of this text of his. Most likely, it will soon become material for one more unersättliche Diskussion — hopefully for many more than one.

II. New research questions One of the main claims of Werner Stegmaier’s new text on Nietzsche’s conception of nihilism is that there is no textual evidence for the so often repeated assertion that Nietzsche’s project is ‘the overcoming of nihilism’. It was Heidegger who created this interpretation of Nietzsche’s project. His starting point was one of Nietzsche’s most quoted Nachlass notes on nihilism: ‘What does nihilism mean? That the highest values devaluate themselves. The goal is lacking; “why?” finds no answer’ (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350). Since this seems to call for a new ‘positing of values’, Heidegger concluded that Nietzsche thought his philosophical task had to be the overcoming of the devaluation of the highest values by means of the creation of new values, a new Wertsetzung. But, as Stegmaier remarks, the very note that Heidegger quotes starts with the assertion that nihilism is a ‘normal condition’ (‘Der Nihilism ein normaler Zustand’, Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350), not something to be overcome by the creation of new values.

1 Werner Stegmaier, “Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus”, forthcoming in: Werner Stegmaier, Nietzsche meets Luhmann. Orientierung im Nihilismus.

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 João Constâncio

But the problem with ascribing to Nietzsche the project of ‘overcoming nihilism’ is not just textual. Stegmaier argues that nihilism as the ‘devaluation of all values’, or ‘lack of goals’, ‘goal-lessness’ (Ziellosigkeit), involves paradoxes of which Nietzsche was acutely aware — and which cannot be ‘overcome’. The first paradox is that one only needs to make nihilism the object of a philosophical inquiry to lose it. Once one establishes that one’s goal is to disclose the nature of nihilism one loses one’s ‘goal-lessness’. Setting oneself the task of ‘overcoming nihilism’ is, par excellence, the way to cease to be attuned to it and hence to misunderstand it. And Nietzsche seems indeed to suggest this much: On the genesis of the nihilist — It is only late that one musters the courage for what one really knows. That I have hitherto been a thorough-going nihilist, I have admitted to myself only recently: the energy and radicalism with which I advanced as a nihilist deceived me about this basic fact. When one moves toward a goal it seems impossible that “goal-lessness as such” is the principle of our faith (Nachlass 1887, 9[123], KSA 12.407 f., Kaufmann’s translation).

The second paradox concerns the question that most divides Nietzsche scholars: the question of truth. A person is a nihilist living in goallessness if she lives by the motto, ‘nothing is true, everything is allowed’ (Za IV, Der Schatten, GM III 24). But, if so, then nihilism qua goallessness entails the usual paradox regarding the skeptical denial of truth: in saying that ‘nothing is true’, one is saying that at least that is true. In saying that the highest values have devalued themselves and human existence is now goallessness Nietzsche falls into the paradox of denying truth by claiming to have gotten hold of at least one truth (even if it is only ‘the truth of the possible untruth of truth’, as Stegmaier puts it). Like Luhmann, Stegmaier believes that paradoxes are not necessarily logical dead-ends. Paradoxes can be productive, for they open up new possibilities for thought. Regarding Nietzsche, Stegmaier believes that Nietzsche’s project involves learning to ‘live with nihilism’, and that this involves accepting both the paradox that the only truth is that there is no truth and the paradox that one cannot decide to face one’s goallessness without at least setting the goal of facing one’s goallessness. In what follows, I shall reflect on Stegmaier’s text in the light of my recent book on art and nihilism (Constâncio 2013). I shall start by considering the question of truth and why is there an intrinsic link between goallessness and the denial of truth (section III). My aim is to arrive at a provisional definition of nihilism (section IV), to provide a very brief historical typology of nihilism (section V), and last but not least, discuss (even if very superficially) whether Nietzsche is a nihilist (section VI).



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III. Nihilism and truth For many scholars and readers of Nietzsche, it is perhaps far from obvious that there is an intrinsic link between goallessness and the denial of truth. For it is a fact that many accounts of nihilism do not consider the problem of truth. But it should at least be clear that, according to Nietzsche, (a) goallessness results from the devaluation of the highest values; (b) the devaluation of the highest values results from the ‘death of God’; (c) this is so because the death of God is ultimately tantamount to the death of the idea of metaphysical truth; (d) Nietzsche is wellaware that goallessness cannot be ‘overcome‘ by a new metaphysical positing of values, and no ‘relative truth’, or non-metaphysical truth, could provide a new version of the ‘highest values’. I shall now try to clarify these claims. The ‘highest values’ (as the famous note quoted above implies) are values that provide ultimate goals by giving answers to the highest, most fundamental ‘why-questions’: why do human beings suffer? why is there the human being at all? why is there anything and not nothing? That the highest values have devalued themselves means, by definition, that ‘the goal is lacking; “why?” finds no answer’ (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350). The assertion that (a) goallessness results from the devaluation of the highest values should, therefore, cause no problems. The ‘why-questions’ at stake here are metaphysical questions. Kant thought that the nature of human reason made metaphysical questions unavoidable — for he thought that it belonged to the nature of human reason to demand the ‘unconditional’, to ask for ultimate explanations, to inquiry about the ‘in-itself‘ of things. The human need to seek answers for such questions is what Schopenhauer termed our ‘metaphysical need’. And when Nietzsche describes the human need for meaning or purpose (GM III 1, GM III 28), he seems to intend it precisely as a need for metaphysical meaning or purpose, that is, as a Schopenhauerian ‘metaphysical need’. At the very least, it is certain that he claims that ‘so far‘ there has been only a kind of answer to those questions — namely the kind of answer provided by the ‘ascetic ideal’ (GM III 28) —, and that this kind of answer assumes that those questions are metaphysical. For Nietzsche, a proposition is metaphysical and answers a metaphysical question if it claims to be ‘unconditioned’, i.e. ultimate (e.g. Nachlass 1883, 8[25], KSA 10.342). The ascetic ideal takes the ‘whyquestions’ as metaphysical questions because it responds to these questions by providing answers that purport to be unconditioned, or ultimate. And that is why Nietzsche sees the will to truth as the ‘kernel’ of the ideal ascetic (GM III 27). As FW 344 makes clear, he construes the will to truth as a will to a ‘Platonic’, metaphysical truth. The ascetic ideal is the ideal whose kernel is the will to truth because it is the ideal that assumes that there are ‘unconditioned’, ultimate

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truths that answer the fundamental, highest why-questions. Being driven by a will to such ‘unconditioned’, ultimate truths, the ascetic ideal posits an ‘in-itself’ of things, and this means (for Nietzsche, at least) that it posits a transcendent ‘true world’ beyond the phenomenal world (GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde) — it ‘affirms another world than that of life’ (FW 344). The ascetic ideal creates metaphysics as a metaphysics of transcendence, and the many forms of that ideal are the many forms that a metaphysics of transcendence can take.2 If this is right, one should then agree with Heidegger on an important point: for Nietzsche, the ‘death of God’ is not just the death of the Judaeo-Christian God, but, besides that, the death of all transcendent values created by the ascetic ideal since Socrates and Plato. The kind of answer the ascetic ideal used to give to the highest why-questions is no longer credible; what has ‘died’ (at least for the European cultural elite) is the assumption that there is an ‘unconditioned’, ultimate truth about the universe and that knowledge of this truth could provide answers to the most fundamental, highest why-questions. It thus becomes clear (I hope) my claim that (b) the devaluation of the highest values results from the ‘death of God’ because (c) the death of God is ultimately tantamount to the death of the idea of metaphysical truth. However, Nietzsche’s belief that science is also a manifestation of ‘the will to truth’, and particularly his assertion that science is the ‘most rigorous’ and the ‘most spiritual’ formulation of the ascetic ideal (GM III 27), may perhaps cause confusion. Does Nietzsche fail to see that modern science looks for results within the phenomenal world, not in a transcendent world of metaphysical truth? Nietzsche’s point is that ‘our faith in science rests on a metaphysical faith’ (FW 344, GM III 24). Faith in science is faith in the results obtained in science, but such faith takes these results to be step by step advancements towards an absolute truth, towards the ‘thing in-itself’. Therefore faith in science rests on the metaphysical assumption that there is such an ‘in-itself’ (FW 344, GM III 27). That is why Nietzsche writes that science is the ascetic ideal reduced to its ‘kernel’, to the most pure will to truth. In fact, that is also why he writes that even the ‘godless anti-metaphysicians’ who only believe in science take their ‘fire, too, from the flame lit by the thousand-year old faith, the Christian faith which was also Plato’s faith, that God is truth; that truth is divine…’ (FW 344). And this implies that we have to distinguish two different stages in what Nietzsche calls the death of God. As described in the famous aphorism of the madman in The Gay Science, the death of God is already more than the death of

2 Note, for example, how in GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde, equates ‘truth’ and ‘true world’ with ‘thing in itself’.



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the Judaeo-Christian God (and the madman makes this fairly explicit by claiming that the atheists do not know that they have killed ‘God’, FW 125), but it falls behind the complete death of the ‘kernel’ of the ascetic ideal. The ‘shadows’ of God remain (FW 108, FW 109, FW 343), for the ‘Christian faith which was also Plato’s faith’ remains the faith that moves the ‘godless anti-metaphysicians’ who believe in science. As Nietzsche puts it in Beyond Good and Evil, in ‘the moral epoch of humanity, […] people sacrificed the strongest instincts they had, their “nature”, to their god’; but in modernity — in the scientific age — the death of God causes people to ‘sacrifice God himself and worship rocks, stupidity, gravity, fate, or nothingness itself’ (JGB 55). In the scientific, modern age of the death of God people still worship the truth, and therefore they worship whatever aspect of the truth they find in rocks, stupidity, gravity, or fate. People can even worship ‘nothingness itself’ — if they believe, for example, to have found an important aspect of the truth in the fact that the universe has no purpose and is therefore ‘an infinite nothing’ (to borrow the expression from FW 125). The second stage of the death of God occurs only in Nietzsche’s own philosophy. This is the stage in which truth itself is questioned and ultimately denied. From what precedes, it should be clear that by ‘the truth’ or ‘the truth itself’ I mean ‘metaphysical truth’, the object of the ‘will to truth’ taken as the metaphysical conception of an absolute truth, of an ‘in-itself’ of things, of a ‘true world’ that transcends all finite perspectives. The crucial text here is GM III, especially GM III 27. Here Nietzsche argues that the very logic and dynamics of the ‘will to truth’ could not one day fail to make this will become self-referential and selfcritical — and Nietzsche’s own philosophy is precisely the moment in the history of the European spirit when the will to truth finally becomes self-referential, criticises its own presuppositions, and draws ‘its most striking inference, the inference against itself’ (GM III 27). By becoming self-referential the will to truth ends up cancelling itself. This self-cancellation (Selbstaufhebung, GM III 27) of the will to truth is undoubtedly a cancellation of itself as a ‘will’. As ‘will’, the will to truth values the truth, and hence wants the truth ‘at any price’, wants the truth to predominate over all other values and to be valued ‘unconditionally’ over its opposite, namely falsehood, untruth. The self-cancellation of the will to truth is first of all a questioning of the the value of truth, a cancelling of the will to value truth ‘unconditionally’, or ‘at any price’. Truth can no longer be ‘worshipped’ — ‘the Christian faith which was also Plato’s faith, that God is truth; that truth is divine…’ (FW 344) is now dead (see JGB 1 f., FW 344, GM III 27). But, secondly, the self-cancellation of the will to truth also cancels or denies ‘the truth’, that is, the metaphysical conception of truth involved in the ascetic ideal. Nietzsche’s questioning of the value of truth could be merely prudential. He

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could be simply saying (and he often says) that if one considers the consequences of valuing the truth unconditionally, one has to realise that there is no reason to do that, as the simple matter of fact is that untruth is crucial for life to thrive. But it is hard to deny that he also questions truth itself (as the ‘thing in-itself’, the ‘true world’ beyond the phenomenal world etc.): For Nietzsche, there is an intrinsic connection between questioning the value of truth and questioning the truth itself.3 In order to understand why this is so, we may, for example, recall the Preface to Beyond Good and Evil. There, Nietzsche does not yet use the expression ‘ascetic ideal’, but he explains the nature of this ideal by claiming that it started in ‘a dogmatist’s error, namely Plato’s invention of pure spirit and the Good in itself’ (JGB, Vorrede). The point of this should be clear: Plato’s invention of a ‘true world’ beyond appearances entails two other inventions, which are the crucial ‘error’: the invention of the idea that the spirit could become pure by aiming at absolute truth beyond appearances and thus freeing itself from the perspectival finitude of its body; and, most crucially, the invention of the idea that the absolute truth beyond appearances is divine, is worthy of worship, is in fact ‘the Good in itself’. Truth is worthy of worship because it gives a goal to human existence (the goal of attaining the truth), but truth is more than that — truth is ‘the Good in itself’, because the existence of truth as absolute truth entails the existence of normative truth. Platonism is the idea that if the spirit becomes pure and attains the truth, it will have access to the meaning or purpose of human existence — it will become wise and learn what to will and what to do in life. Or, in other words, the ascetic ideal was built upon the belief that absolute truth is worthy of worship not only because it can give a goal to existence, but also, and most importantly, because absolute truth is the answer to the riddle of the world, the answer to our most fundamental, highest why-questions. We can now see the intrinsic link between goallessness and Nietzsche’s denial of truth. Goallessness only becomes complete when the very idea of an absolute normative truth is questioned. Firstly because then, and only then, the last goal that was still standing in the value-system of the ‘godless anti-metaphysicians’ who have faith in science — the last of the ‘highest values’, the only one that had survived the first stage of the death of God, and that was also the value which had always been there at the ‘kernel’ of ascetic ideal and its metaphysics of transcendence — devalues itself and ceases to function as a goal or purpose

3 FW 344 and GM III 27 are again the best instances (at least among the published writings) of passages in which Nietzsche does not separate the questioning of the value of truth from the questioning of the truth; see also GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde.



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for the whole of existence. Secondly because then, and only then, all possible ‘highest values’ show themselves as merely ‘posited’ or ‘projected‘ — that is to say, show themselves not as ‘truths’, but as mere ‘fictions’ that human beings invent in order to give meaning or purpose to their lives, or (better still) merely posited, projected fictions that, so to speak, ‘life’ invents and puts in people’s minds for the sake of its own preservation (and not necessarily for the sake of its specimens). All possible ‘highest values’ are now shown to be merely posited or projected because even the very idea of an absolute normative truth is merely a projection. Nietzsche says all of this most clearly in a posthumous note from 1887: That there is no truth; that there is no absolute nature of things, no ‘thing-in-itself — this is itself a nihilism, and indeed the most extreme one. It places the value of things precisely in the fact that no reality corresponds and has corresponded to that value, which is instead only a symptom of force on the part of the value-positers, a simplification for the purposes of life (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.351 f., Bittner’s translation).

In saying this, Nietzsche does indeed dovetail goallessness with the denial of truth, and thus he evidently falls into the paradox that the only truth is that there is no truth, as Stegmaier remarks. (And I made the same point in my book.) However, if we concede that Nietzsche never really abandoned the idea of a relative, perspectival truth (e.g., the idea of ‘my truths’, the idea of degrees of plausibility in science, etc), one might feel tempted to try to dissolve the paradox on this basis. One could, for example, reconstrue Nietzsche’s claim as, ‘the relative truth is that there is no absolute truth’, or, more specifically, ‘the relative and descriptive truth is that the notion of an absolute and normative (or prescriptive) truth is merely a human projection’. But it is a fact that in the late Nachlass Nietzsche insists always in the most paradoxic formulations, as well as in the most radical denials of truth, and most likely he thought (as Stegmaier supposes) that one cannot truly solve the paradox. Most likely, the idea of a relative or perspectival truth cannot be coherently formulated without the implicit idea of the possibility of an absolute truth, or of a not projected, but real ‘thing in-itself’. And Nietzsche clearly wants to exclude this possibility (by saying, for example, that the thing in-itself is a contradictio in adjecto etc.). The important point, however, is that no relative or perspectival truth can function as the ultimate basis of a new system of values — that is, of a new normative or prescriptive ‘truth’.4 The idea of a normative or prescriptive truth depended on the idea of an absolute truth, or of truth as ‘divine’ and synonymous with ‘the

4 Which is not to say, of course, that there are no conditional normative ‘truths’ of the type, ‘if you want to be a good teacher, you have to study what you teach’; ‘if you want to be a good pa-

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Good in itself’ (see also, for example, Nachlass 1887, 10[192], KSA 12.571). That this idea is ‘dead’ means that we now have to consider all our values as merely fictious and projected. And that is why the idea of an ‘overcoming’ of nihilism is so questionable. It is clear that (d) Nietzsche was well aware that goallessness cannot be ‘overcome’ by a new metaphysical positing of values, and no ‘relative truth’, or non-metaphysical truth, could provide a new version of the ‘highest values’. Once one reaches the stage of complete or extreme goallessness and realises that all values (including the idea of truth) are projections, how is one supposed to proceed in order to ‘overcome’ one’s goallessness? Will it make sense to decide to value ‘life’ or ‘power’ instead of truth, or ‘genius’ and ‘art’ instead of compassion? If one attempts something like this, will it not be all too obvious that one will be only arbitrarily replacing old projections with new ones? It is indeed very hard to see how could that ever count as an overcoming of the nihilistic motto of goallessness: ‘nothing is true, everything is allowed’.

IV. Goallessness and the definition of nihilism But let us now consider an easier problem. So far, I have equated nihilism with goallessness. But although neither Platonism nor Christianity can be said to entail any form of goallessness, Nietzsche often refers to both as ‘nihilistic’; in fact, he considers the whole ascetic ideal and its values to be ‘nihilistic’. Most interpretations of Nietzsche’s conception of nihilism evade the question of why is this so. My thesis is that, on Nietzsche’s view, values are ‘nihilistic’ when they entail a negation, devaluation, and indeed a perspectival reduction of this earthly world to ‘nothingness’ (nihil). From Socrates and Plato onwards and through to modern philosophy and modern science, humanity in Europe lived by metaphysical values which were nihilistic because they implied a devaluation of our world in comparison with a ‘higher’ world, a ‘true’ world. Paradoxically, the world was then valued by being devalued. Existence in this world acquired meaning or purpose — and hence value — in the light of what people thought their conception of a transcendent ‘Good in itself’ entailed, that is, in the light of normative ‘truths’ that were supposed to have emanated from a more valuable, indeed unconditionally valuable, world of normative truth that people projected and posited as existing beyond the world of their finite perspectives. By providing answers to the fun-

rent, you need to love your child’, etc. But the point is that goodness itself cannot be determined by any (non-metaphysical) ‘truth’.



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damental why-questions, the metaphysical values of the ascetic ideal gave some enchantment to the world: the projection of an absolute normative truth capable of giving goals to human life masked the fundamental goal-lessness of human life (and indeed of the universe). The metaphysical interpretation of existence provided by the ascetic ideal was unconsciously devised to give purpose to human existence, and this means: devised to cover up the fundamental goallessness of human existence. That is why the ascetic ideal managed to save the human will from ‘suicidal nihilism’ (GM III 28). Stegmaier’s position on this topic (if I understand it rightly) seems to me to be slightly different from mine. He argues that the ‘nihilism of the ideal’ (Nihilismus des Ideals) — as he terms the (fundamentally Platonic) nihilism of the ascetic ideal — is a subsidiary kind of nihilism. Its origin lies in an ‘originary nihilism’ (ursprünglicher Nihilismus) that preceded it, and its nature is the masking of our goallessness. Given that Nietzsche writes that the ascetic ideal saved humanity from ‘suicidal nihilism’, there must have been a nihilistic crisis of meaning — a crisis of goallessness — before the development of the ascetic ideal. Instead of responding with ‘suicidal nihilism’ humanity responded with ‘nihilism of the ideal’ to a first manifestation of nihilism qua goallessness.5 From this it really seems to follow that nihilism qua goallessness corresponds to something like an ‘originary nihilism’ and, above all, deserves to be considered the proper, nonsubsidiary sense of the word ‘nihilism’. Although there is certainly something fundamentally correct about this interpretation, I see two problems here. The first one is that it makes nihilism an essentially ahistorical condition: it entails that the nihilism qua goallessness that emerged after the death of God and reached its complete form only in Nietzsche’s philosophy had in fact been with us all along, as it has already been experienced before in the same, exact terms. It is true (as mentioned) that Nietzsche calls nihilism a ‘normal condition’ (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350). But does that mean that nihilism has always been and will always be the same? Nietzsche’s main tendency is to describe nihilism as a history, a long historical process that develops, finds many forms across time, and finally culminates in his own philosophy. Famously, Nietzsche announces that nihilism qua goallessness is now (i.e., not only after the death of God, but also after the self-cancellation of the will to truth in Nietzsche’s own philosophy) ‘at the door’ as something terrible and unheard of — something which has started to manifest itself with the death of God among the modern spiritual elite of Europe, but which is still to hit European

5 Thus GM III sketches a new history of Greek culture, which is however very much the same as the one presented in GT (where Nietzsche did not yet use the word ‘nihilism’).

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culture in full force. Consequently, there must be a relevant difference between this form of nihilism and the forms nihilism may have taken before the development of the ascetic ideal. The second reason why I see a problem in the notion of ‘originary nihilism’ is because I think one should try to give unity to the different forms of nihilism by establishing a univocal meaning of the word ‘nihilism’ common to all those different forms, and the notion of ‘originary nihilism’ makes this impossible. In the expression ‘originary nihilism’, the word ‘nihilism’ means ‘goallessness’, but in the expression ‘nihilism of the ideal’ does not. For in the expression ‘nihilism of the ideal‘ the word ‘nihilism’ means ‘masked goallessness’ (that is, ‘goallessness masked by the ideal’), and in the expression ‘originary nihilism’, the word ‘nihilism’ means simply ‘goallessness’. The unity between the two forms of nihilism is given by the relationship between an originary and a subsidiary meaning, which forces the conclusion that ‘nihilism of the ideal’ is not strictly speaking a form of ‘nihilism’, for being a form of nihilism is then tantamount to being a form of goallessness. If one confronts Platonists and Christians with this characterisation of their ideals, and especially with the concession that their ideals are only subsidiarily (but not strictly speaking) ‘nihilistic’, they will most likely retort that in fact their ideals overcome nihilism, and are not at all nihilistic. As I suggested at the beginning of this section, my thesis is that nihilism, for Nietzsche, involves always and by definition a devaluation of the world. A value, or a value-system, or an ideal, or a philosophy, or a religion is ‘nihilistic’ if it creates a perspective in which the world we inhabit (i.e., the phenomenal, immanent, this earthly world) appears and is felt as meaningless (sinnlos) and worthless (werthlos), so that it is perspectivally reduced to ‘nothingness’ (nihil). In an excellent, forthcoming paper on nihilism, Ken Gemes develops a point made by Robert Pippin and argues that Nietzsche considers Platonism and Christianity (as well as Buddhism) to be nihilistic because they ‘turn us against life’, that is, they ‘turn us against our natural drives’ or, more precisely, ‘turn our drives against themselves’.6 Or, in Nietzsche’s own terms, the reason why the values of the

6 Gemes (im Erscheinen); see Pippin 2010, pp. 19–21, 33–39, 44, 54–69, 119, 123, and Pippin (im Erscheinen) for the conception of nihilism as a ‘failure of desire’, or a ‘pathology of desire’. The affective dimension of nihilism is particularly clear in GM, where Nietzsche presents it as the history of a ‘wound’ in the human being (GM III 13), a violent ‘nausea’, or ‘disgust’ in relation to existence as such (GM II 24), the ‘pathos’ that everything is in vain, that everything is nothing, (GM III 26), and a ‘will to nothingness’ (GM III 28), ‘the “last will” of man, his will to nothingness’ (GM III 14). The late Nachlass also defines nihilism as ‘a piercing feeling of nothingness’ (Nachlass 1887/88, 11[228], KSA 13.89) and usually equates the historical forms of nihilism with forms of ‘physiological’ (i.e. psychological, or physiopsychological) décadence. It should be clear that



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ascetic ideal are ‘nihilistic’ is because they are ‘hostile to life’ (lebensfeindlich), and thus they cause the human will to become a ‘will turned against life’ (GM, Vorrede 5). My additional point is only that this turning of the will or the drives against themselves and hence against life involves always a deflating, indeed negating perspective on the world. Living with one’s drives turned against life is always part of living with an affective perspective on the world that reduces it to ‘nothing’ — that makes us feel that it is ‘nothing’. The ascetic ideal creates such a perspectival and affective nothingness by ‘affirming another world than that of life’ and thus by ‘denying’ the world of life, ‘this world, our world’ (FW 344). It projects all positive value onto a transcendent realm of absolute truth in such a way that the immanent world becomes a mere copy of that fictitious, transcendent world — or, put differently, in such a way that it makes the nothingness of that transcendent world appear as if it were something, and it makes the reality of our immanent world appear is if it were nothing. It is true that this projection of transcendent meaning gives some sort of value to this earthly world and thus ‘saves the human will’. But this is not an intrinsic value — it is rather the merely relative, peripheral, subordinate value of a ‘cave’, a ‘vale of tears’, etc. Therefore, this earthly world as such is indeed reduced to something meaningless; that is, the immanent world is indeed felt as something which is as such worthless — as something which is in fact ‘nothing’ because within itself offers no goals worth pursuing, and is hence a token of goallessness. In the case of ‘complete’ or ‘extreme’ nihilism — when goallessness is actually experienced as such —, what happens is that the nothingness of this earthly word is allowed to appear as nothingness, and no longer as a cave or a vale of tears. The nothingness is no longer masked, no longer covered up by a metaphysical interpretation devised to give purpose to human existence. Thus a perspective is formed in which this earthly world appears and is felt as devoid of goals, devoid of meaning, devoid of worth (or value, Werth) — and hence as ‘nothing’. This makes both forms — namely, nihilism as ‘nihilism of the ideal’ and nihilism as ‘(explicit) goallessness’ — perfect tokens of nihilism. Both are strictly speaking forms of nihilism, for the word ‘nihilism’ applies stricto sensu to both. Or in both cases, the word ‘nihilism’ means ‘goal-lessness’, ‘meaning-lessness’, ‘worth-lessness’ (Ziellosigkeit, Sinnlosigkeit, Werthlosigkeit).

none of this involves a reduction of nihilism to an affective phenomenon. See Stegmaier’s brief critique both of the view that nihilism is in fact curable melancholy (a view defended by Edith Düsing) and of the view that nihilism is in fact a mere skeptical (metaethical) theory (a view defended by Andreas Urs Sommer).

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The difference between the two forms is just the difference between masked and naked nihilism. Note also that in identifying and describing these two forms of nihilism Nietzsche does not commit himself to the view that the world is a token of ‘goallessness’, ‘meaninglessness’, ‘worthlessness’. The implication is only that nihilists see the world as ‘nothing’, or as ‘goalless’, ‘meaningless’, ‘worthless’. ‘Goallessness’, ‘meaninglessness’, ‘worthlessness’ is a property of the world — but only in the sense that it is a property of their world — of their perspective on the world —, and hence a perspectival property. The definition of ‘nihilism’ as ‘goallessness’, ‘meaninglessness’, ‘worthlessness’ is tantamount to its definition as ‘the perspectival reduction of the world to nothingness’ (which is the definition I developed and worked with in my book).

V. A brief historical typology of nihilism The definition of nihilism proposed in the previous section seems to me to entail the following historical typology of nihilism: 1. Pre-ascetic nihilism; 2. The masked nihilism of the ascetic ideal; 3. The naked nihilism resulting from the death of God in the modern age; 4. The extreme or complete nihilism resulting from the will to truth’s self-cancellation in Nietzsche’s own philosophy. But this historical typology has to be further refined. Firstly, it should be clear that ‘suicidal nihilism’ is a threat that crosses all ages. Even when humanity is protected by the ascetic ideal’s projection of tran­ scendent meaning, the veil of projected meaning that does the protecting and masks the perspectival feeling of goallessness is always fragile; after the death of God, ‘suicidal nihilism’ acquires new forms and becomes as dangerous as it was before the creation of the ascetic ideal. Secondly, ‘pre-ascetic nihilism’ (unlike ‘originary nihilism’) can be described in complex historical terms, such that it should be subdivided in different historical forms. The crucial point to be considered here (the point that really justifies the notion of ‘pre-ascetic nihilism’) is that although all forms of nihilism presuppose that the fundamental why-questions be asked, it is not at all the case that all forms of nihilism presuppose that these questions be interpreted within the conceptual framework of an ascetic metaphysics of transcendence. It is perhaps unavoidable that we call those questions ‘metaphysical’, but not all metaphysics involves the idea of transcendence — not all metaphysics belongs



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to the ascetic ideal. Nihilism is inseparable from the history of metaphysics, but it is perfectly separable (in abstracto) from the history of the ascetic metaphysics of transcendence. Or, in other words, if we follow Nietzsche in historicising Schopenhauer’s ‘metaphysical need’, we can speculate that not only there was a time before this need appeared in the human being, but its original, primitive forms did not yet involve the ascetic conception of a transcendent ‘true world’, an ‘absolute truth’, an ‘in-itself’. In The Birth of Tragedy, Nietzsche interprets the whole of Greek culture in the light of the threat of ‘suicidal nihilism’ (though he does not yet use the word ‘nihilism’), and his hypothesis is that Greek culture was several times saved by ‘art’ (GT 7), or more precisely, by religious cults that put art at their centres and did not posit a transcendent true world beyond nature (or ‘appearances’). The ‘thing in-itself’ and the ideal of living a philosophical life focused on the search for the absolute truth are Socratic and Platonic inventions. And yet the why-questions of the metaphysical need existed well before that (as Nietzsche emphasises). Hence, there must have been a pre-ascetic, pre-platonic form of nihilism, that is, a form (or indeed forms) of perspectival reduction of the world to nothingness — or experiences of goallessness, meaninglessness, worthlessness — that preceded the ascetic ideal and did not result in ‘suicidal nihilism’ because the Greek ‘will’ was saved in extremis by the aesthetic religion of Apollo, or by the aesthetic religion of Dionysos, or by the spirit of music in tragedy, the tragic chorus of Satyrs etc. Similarly, before Judaism developed as a monotheistic religion, and long before it could co-determine the shape the ascetic ideal would take in Christianity, there must have been forms of pre-Judaic nihilism, that is, of radical metaphysical interrogation leading to experiences of goallessness, meaninglessness, worthlessness, but not to ‘suicidal nihilism’. The same goes for Buddhism.7 Thirdly, what I call ‘the masked nihilism of the ascetic ideal’ has, of course, several sub-forms with long and complex histories. Nietzsche’s focus is usually on ‘European nihilism’, and hence on how the ascetic ideal evolved from Platonism and Judaism to become Christianity, and then on how modernity secularised the values of Christianity, such that ‘science’, as a pure ‘will to truth’, became the last

7 AC 20 makes the case of Buddhism very interesting. Although Nietzsche obviously believes that Buddhism is ascetic and nihilistic (perhaps the most clear-cut case of ‘will to nothingness’), he also believes that Buddhism came after an oriental ‘death of God’: ‘Buddhism is a hundred times more realistic than Christianity, — its body has inherited the art of posing problems in a cool and objective manner, it came after a philosophical movement that lasted hundreds of years, the idea of “God” had already been abandoned before Buddhism arrived’ (AC 20).

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form of masked nihilism by embodying the ‘most strict and most spiritual’ form of the ascetic ideal (GM III 27). Fourthly, at least one important note on ‘the naked nihilism resulting from the death of God in the modern age’ is in place. As FW 357 makes clear, Nietzsche believes that Schopenhauer posed the problem of ‘the value of existence’ (i.e., asked the terrifying question, ‘does existence have any meaning at all?’) in a way that was hardly less radical than the way Nietzsche’s famous ‘madman’ of FW 125 posed it when he declared the death of God. And, just like Nietzsche’s madman, Schopenhauer posed the problem still under ‘the shadows of God’, and hence in the expectation that existence ought to have an overriding purpose. That is why both Schopenhauer and the madman believe and feel that they have to condemn existence as a whole if they cannot find either an immanent or a transcendent purpose for it. And their moral condemnation of existence under the shadows of God is the mark of their nihilism — for ‘a nihilist is a man who judges that the world as it exists ought not to exist, and that the world as it ought to exist does not exist’ (Nachlass 1887, 9[60], KSA 12.366). The ‘will to nothingness’ is not exclusive to the masked nihilism of the ascetic ideal.8 The affective dimension of Schopenhauer’s and the madman’s naked nihilism — the ‘failure of desire’ involved in their feeling of goallessness, meaninglessness, and worthlessness — is a will that resents existence as such, a will that wants to cease to be a will, to free itself from itself and from the world it perspectivally feels to be ‘nothing’. Thus, the nihilism of Nietzsche’s madman has still much more in common with Schopenhauer’s than one might think. It is, no doubt, important to distinguish between the two, and one way to do it is to follow Bernard Reginster and Ken Gemes in terming Schopenhauer’s nihilism a ‘nihilism of despair’ and the madman’s a ‘nihilism of disorientation’ (and, according to Gemes, the latter designation also applies to ‘Dostoevskian nihilism’) (see Reginster 2006, Reginster 2013, and Gemes (im Erscheinen)). ‘Nihilism of despair’ occurs when someone believes that there are ultimate values (such as pleasure or truth) but also believes that those values cannot be realised in the real world; ‘nihilism of disorientation’ occurs when someone simply believes that there are no ultimate values. But although the latter may be ascribed to the madman in a comparison with Schopenhauer’s ‘nihilism of despair’, it cannot be unconditionally ascribed to him. In section III above, I had already argued that the madman’s nihilism does not entail complete disbelief in ultimate values because it does not yet involve the self-cancellation of the will to truth.

8 Note how in GM III 14 ‘will to nothingness’ occurs has a definition of nihilism.



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Finally, a crucial note on the ‘extreme nihilism resulting from the will to truth’s self-cancellation in Nietzsche’s own philosophy’. It seems clear to me that Nietzsche believed that this extreme or complete nihilism would eventually make its way into popular culture and (in a simplified, unphilosophical form) become dominant among common people, indeed among most people, whole societies. What Nietzsche calls ‘the last man’ is precisely a common man of the future who will have incorporated the post-metaphysical perspective of extreme nihilism. Such a man won’t need to make any effort to reach the realisation that nothing is valuable in itself. It will be obvious for him that there are no overriding purposes or values in the universe, he will gladly dispense with every ‘meta-narrative’ and live without acknowledging any overriding values or purposes. He shall live for his own comfort, maybe also for the comfort of his family, but at any rate without any care for the collective existence and destiny of the human species as such, or for ‘life’, or ‘human freedom’, or anything supra-personal. As Ken Gemes argues, ‘last man nihilism’ is tantamount to a ‘nihilism of complacency’: last men believe that there are no overriding or ultimate values, but they also fail to feel a need for such values (see Gemes (im Erscheinen)). But, since last men feel neither despair nor disorientation, and instead live content in their ‘bovine satisfaction in the low and base’ (as Pippin puts it), it is not clear why is there any ‘failure of desire’ here, or why are they ‘nihilists’ at all (see Pippin 2010, p. 10). My view (to state it briefly) is that the problem with last men is that they absolutely fail to be ‘faithful to the earth’ (Za I, Zarathustra’s Vorrede 3), or to display amor fati, or to acknowledge the tragic in the human existence — and these are all aspects of a peculiar form of nihilism because these are all aspects of a peculiar way of not caring for the world as such, of not seeing any immanent, intrinsic goals, purposes or values in the world as such or as a whole. Here, too, there is a masked ressentiment against the world as such. But my main point in the context of such a short paper as this one is just to present a more detailed historical typology of nihilism than the one put forward at the beginning of this section: 1. Pre-ascetic nihilism; (a) Pre-Buddhistic nihilism; (b) Pre-Platonic nihilism; (c) Pre-Judaic nihilism; (d) Pre-ascetic suicidal nihilism; 2. The masked nihilism of the ascetic ideal; (a) Buddhistic nihilism; (b) Platonic-nihilism; (c) Christian-nihilism (or Platonic-Judeo-Christian nihilism); (d) Scientific-nihilism;

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3. The naked nihilism resulting from the death of God in the modern age; (a) Schopenhauerian nihilism of despair; (b) Post-Schopenhauerian nihilism of disorientation (like the madman’s); (c) Post-Schopenhauerian suicidal nihilism (like Hartmann’s); 4. The extreme or complete nihilism resulting from the will to truth’s self-cancellation in Nietzsche’s own philosophy. (a) The philosophical form of extreme nihilism; (b) The popular form of extreme nihilism (or ‘last man nihilism’); (c) post-metaphysical suicidal nihilism.9 I shall now conclude by considering — indeed very briefly — the question whether Nietzsche is a ‘nihilist’.

VI. Is Nietzsche a ‘nihilist’? It is indeed a fact that Nietzsche never presents his philosophy as an ‘overcoming’ of nihilism. In the posthumous notebooks, the most that Nietzsche says is that his philosophy is part of a ‘struggle against nihilism’ (Nachlass 1886/87, 5[50], 7[31], KSA 12.202, 306]) — a struggle which is likely to last at least 200 years (as Nietzsche likes to point out), and which is likely to be lost in the end. And yet Nietzsche does claim that winning the struggle is ‘possible’ (Nachlass 1887/88, 11[119], KSA 13.56). Isn’t this enough to conclude that Nietzsche is not a nihilist? As Stegmaier points out in detail, there are many passages in which Nietzsche calls himself a nihilist.10 And in a few of these passages Nietzsche seems even proud of being a nihilist, because being a nihilist is what makes sense for someone who belongs to the cultural and spiritual elite of the fin de siècle. His affinity with people like Taine or Burckhardt lies precisely in the fact that they all are ‘gründliche Nihilisten’ (Brief an Erwin Rohde, 23. Mai 1887, Nr. 852, KSB 8.80 f.) — they all are people who understand that God is dead, there are no ultimate values, and free spiritedness in late modernity must consist in facing one’s goallessness

9 This historical typology expands Gemes’ typology (which includes ‘affective nihilism’, ‘nihilism of despair’, ‘nihilism of disorientation’, and ‘nihilism of complacency’ as the four basic types of nihilism). 10 This is the case mostly in Nietzsche’s letters. Stegmaier highlights four important letters: Brief an Heinrich Köselitz, 13. März 1881, Nr. 88, KSB 6.68; Brief an Erwin Rohde, 23. Mai 1887, Nr. 852, KSB 8.80 f.; Brief an Heinrich Köselitz, 10. November 1887, Nr. 948, KSB 8.192; Brief an Elisabeth Förster, 31. März 1888, Nr. 1011, KSB 8.281.



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and the absence of absolute truth. Therefore, Stegmaier believes that Nietzsche’s ‘struggle against nihilism’ is fundamentally (a) a struggle against the masked nihilism of the ascetic ideal — the ‘struggle against Plato’ (JGB, Vorrede) and, of course, against Christianity and the ‘shadows of God’; (b) a struggle against personal ressentiment against a world that has no overriding purpose. But none of this entails the philosophical project of ‘overcoming nihilism’. (According to Stegmaier, Nietzsche’s philosophical project consists rather in ‘living with nihilism’, or finding ‘Orientierung im Nichts’). For my part, I still tend to take Nietzsche’s project of Dionysian ‘affirmation of life’ seriously. In the published writings, ‘nihilism’ has always a pejorative meaning, and there Nietzsche never comes even close to calling himself a ‘nihilist’. His attitude in the published writings seems to me to be the attitude expressed in the Nachlass note where he writes that he is ‘Europe’s first complete nihilist’, and yet he has ‘already lived nihilism to the end’ and hence has it ‘behind him, below him, outside of him’ (Nachlass 1888, 11[411], KSA 13.190). I concede (and so I have argued in my book) that this does not entail that his writings include a refutation of nihilism, a philosophical overcoming of the problem posed by the self-cancellation of the will to truth. But it seems to me that, besides (a) struggling against the masked nihilism of the ascetic ideal, besides (b) struggling against personal ressentiment and at least pretending to have recovered the health of his instincts, in his published writings Nietzsche is also engaged in (c) a serious, although perhaps quixotic struggle against the nihilism of last men, and in (d) a serious, although perhaps quixotic effort to articulate a ‘Dionysian pessimism‘ capable of contributing to the cultural struggle against nihilism which (he believes) is likely to continue for at least 200 years after his death. My tendency is still to read Nietzsche as a modern, not a postmodern thinker — which entails, perhaps, reading him as a quixotic modernist.

Literaturverzeichnis Constâncio, João (2013): Arte e niilismo: Nietzsche e o enigma do mundo. Lisboa. Gemes, Ken (im Erscheinen): „Nietzsche, Nihilism, and the Paradox of Affirmation“. In: Daniel Came (Hrsg.): Nietzsche on Morality and the Affirmation of Life. Oxford. Pippin, Robert B. (2010): Nietzsche, Psychology, & First Philosophy. Chicago/London. Pippin, Robert B. (im Erscheinen): Heidegger on Nietzsche on Nihilism. Reginster, Bernard (2006): The Affirmation of Life. Nietzsche on Overcoming Nihilism. Cambridge/London.

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Reginster, Bernard (2013): „The Psychology of Christian Morality: Will to Power as Will to Nothingness“. In: Ken Gemes/John Richardson (Hrsg.): The Oxford Handbook of Nietzsche. Oxford. Stegmaier, Werner (im Erscheinen): „Orientierung im Nichts: Nihilismus nach Nietzsche und Luhmann“. In: Werner Stegmaier: Nietzsche meets Luhmann. Orientierung im Nichts.

Moralische und politische Skepsis

Carlo Gentili

Moralische und politische Skepsis. Über den Orientierungswert der Regeln bei Nietzsche Dass Nietzsches Denken politische Implikationen besitzt und ihm politische Bedeutungen beigelegt wurden, beweisen die philosophische Reflexion und – zum Teil auf schlimmste Weise – die politische Ideologie des 20. Jahrhunderts. Ob er deshalb als ‚politischer Denker‘ oder als ‚politischer Philosoph‘ definiert werden kann, ist eine ganz andere Frage. Jedem Versuch, Nietzsches Philosophie einen politischen Sinn zu entnehmen, muss sicher die Feststellung von Tamsin Shaw vorausgeschickt werden: Nietzsche „is a frustrating figure for political theorists“. Gesteht man ihm „Einsichten“ (insights) in die Moral, die Kultur und Religion zu, so muss man jedenfalls zugeben, dass er sich „abstains from developing these insights into a coeherent theory of politics“ und in seinem Denken folglich keine „unifying basis in some implicit and coeherent normative political theory“ (Shaw 2007, S. 1) ausfindig gemacht werden kann. Wenn Shaw sowohl Nietzsches Positionen zur Moral, zur Religion usw. wie diejenigen zur Politik mit dem Begriff „insights“ beschreibt, so legt dies nahe, dass Nietzsche in seiner politischen Reflexion keinen anderen Weg beschreitet als beim Nachdenken über andere Themen. Mit anderen Worten gibt es bei Nietzsche weder eine zusammenhängende politische Theorie noch eine zusammenhängende Morallehre. Die vielen Anstrengungen, die unternommen wurden, um bei Nietzsche ein politisches Denken aufzuspüren, sind eher auf die Erfordernisse der Philosophie des 20. Jahrhunderts sowie der heutigen zurückzuführen als auf die tatsächlichen Merkmale seiner Reflexion. Das heißt, sie verdanken sich, wie Bernard Williams erkannt hat, der Tatsache, dass „we need a politics, in the sense of a coherent set of opinions about the ways in which power should be exercised in modern societies, with what limitations and to what ends“ (Williams 1993, S. 10 f.). Jedenfalls kann man, wenn man diese Erfordernisse zur Kenntnis nimmt, nicht von dem spezifisch unsystematischen und fragmentarischen Charakter der Philosophie Nietzsches absehen, womit freilich nicht ausgeschlossen wird, dass sie Antworten auf jene Erfordernisse liefert. Zu diesem Zweck wird man vor allem den Begriff ‚Theorie‘ durchdenken und seine Vereinbarkeit mit einer nicht systematischen Philosophie aufzeigen müssen. Eine Möglichkeit dazu bietet der ursprüngliche Sinn des Begriffes, der Platon zufolge das von jenen unsterblichen Seelen ‚Gesehene‘ bezeichnet, die auf dem Rücken des Himmels stehen und „beschauen“ (theorousi), was außerhalb des Himmels ist, und somit das Wahre, „das wahrhaft seiende Wesen“ (Phaedr. 247 c ff.). Später ermöglicht die „Erinnerung“ (anamnesis) an das Gesehene, je nach der Gestalt, welche die Seele nach

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dem Eingehen in einen Leib annimmt, die Erkenntnis gemäß der Idee, wobei sie von der Vielheit der Wahrnehmung zur Einheit des Denkens fortschreitet. In dieser ursprünglichen Sicht bewahrt die theoria vor der Gefahr der Zerstreuung im Vielfältig-Sinnlichen: „[Z]u dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet“ (Phaedr. 249 c ff.) kann die Seele des Philosophen sich darin orientieren. Schon in dieser Formulierung präsentiert sich die ‚Theorie‘ als ein ‚In-den-BlickNehmen‘, das einen Ort im Raum impliziert: die Einnahme eines Standpunktes, der es gestattet, Ordnung in die Vielfalt zu bringen. Jedes Ordnen in diesem Sinn, das heißt jede Orientierungsmöglichkeit, schließt jedenfalls ein, dass man bereits orientiert ist, also bereits eine theoria besitzt. Zum einen bedeutet sich orientieren, dass der Horizont, in dem die Handlung steht, die ursprünglich aufgrund der Sicht der Dinge eingenommene Orientierung zwangsläufig verändert; doch impliziert dies zum anderen, dass dieses Sehen so konstant wie möglich bleiben muss, um eine Orientierung überhaupt zu ermöglichen. Wie Werner Stegmaier feststellt, ist eine Theorie „eine standpunktfreie, wohlbegründete, allgemeingültige, lange bewährte Sicht auf die Dinge“, und dies ist „das Ideal aller Orientierung“. Die Orientierung, welche die Theorie erreicht, wird damit „definitiv, nicht mehr provisorisch, sie ist Wissen“. Doch um diesen Status zu erreichen, muss die Theorie ihrerseits Orientierungen heranziehen, das heißt, sie muss einstweilen im Zustand der Vorläufigkeit bleiben. Sie hat durch die Verknüpfung von „Anhaltspunkten“ Gestalt angenommen. Diese Anhaltspunkte ließen Alternativen offen, die aufgrund der Plausibilität jener Verknüpfungsarbeit dann ausgeschlossen wurden. Als Resultate nicht plausibler Verknüpfungen erwiesen sich diese Alternativen selbst als unplausibel. Eine Theorie erscheint also produktiv, insofern sie Anhaltspunkte hervorhebt, die ihre Korrektur oder auch ihre Zurückweisung ermöglichen. Dies versetzt uns in die Lage, uns „auch in der Theorie neu [zu] orientieren“, und legt die eigentlich provisorische Natur der Theorie fest: „Auf lange Sicht bleiben auch bewährte Theorien provisorisch“. Die Korrektur der Theorie bildet eine Art Orientierung in der Orientierung: „um uns neu orientieren zu können, müssen wir auch immer schon orientiert sein“ (Stegmaier 2005, S. 8 f.). Vor dem Hintergrund der ursprünglichen Bedeutung der theoria als ‚Sicht‘ und des räumlichen Ortes, den sie voraussetzt – wie die unsterblichen Seelen im Plato-Beispiel auf dem Rücken des Himmels stehen –, wird Kants Definition der Orientierung verständlich. Obwohl dieser Begriff dazu dienen soll, „die Maxime der gesunden Vernunft in ihren Bearbeitungen zur Erkenntniß übersinnlicher Gegenstände deutlich darzustellen“, muss er in erster Linie auf einem „Gefühl“ beruhen. Sich orientieren bedeutet nämlich zunächst, einen Ort einzunehmen, also „aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden“. Die Verortung in jener ‚gege-



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benen Weltgegend‘, in der wir sind, kann aber nur aufgrund eines subjektiven Gefühls erfolgen, nämlich „eines Unterschiedes an meinem eigenen Subject“, des Unterschiedes zwischen der rechten und der linken Hand. Kant nennt diesen Unterschied ‚Gefühl‘ und nicht ‚Anschauung‘, weil in letzterer „diese zwei Seiten äußerlich […] keinen merklichen Unterschied zeigen“ (Kant 1923, S.  134 f.; vgl. dazu Stegmaier 2008, S. 79 ff.). Das ‚Gefühl‘ ist somit das Ergebnis einer Korrektur der Anschauung. Was Kant als geografische Orientierung bezeichnet, welche die eigene Stellung in Beziehung zu den vom Himmel gelieferten objektiven Tatsachen (und folglich in Beziehung zur Sicht – theoria – des Himmels) festlegt, ist demnach eine fortschreitende Anpassung dieser Tatsachen, die provisorisch bleiben, solange sie nicht mit dem subjektiven Gefühl verbunden sind. Wir können es jetzt wagen, die Anpassungs- und Korrekturarbeit, die an sich provisorisch ist und die zugleich auch die theoria, auf die sie sich richtet, provisorisch macht, mit dem alten Begriff Skepsis zu belegen, der hier in seiner ursprünglichen Bedeutung der ‚Betrachtung‘ und ‚Untersuchung‘ verstanden wird. Der provisorische, nicht endgültige Charakter einer solchen Untersuchung liegt im Begriff der Skepsis selbst. Diogenes Laertius erwähnt, dass diese Philosophie „zetetisch“ oder „skeptisch“ genannt wird, „weil sie immer bloß prüft und niemals findet“ (IX, XI, 70). Unter philosophischem Gesichtspunkt beinhaltet dies, wie Diogenes, die Meinung von Ainesidem über Pyrrhon referierend, schreibt, die Übung der „Zurückhaltung des Urteils“ (epoche); was dagegen das Verhalten im Alltagsleben angeht, „habe er [Pyrrhon] […] nicht durchweg so blindlings alle Vorsicht beiseite gesetzt“ (IX, XI, 62). Diese ‚Vorsicht‘ trägt der Tatsache Rechnung, dass die theoria zwar vielfältige Alternativen eröffnet und aufgrund dieser Vielfalt das Urteil über sie ausgesetzt werden muss, das Alltagsleben jedoch, wenn die Alternativen erst ‚untersucht‘, also der Skepsis unterworfen wurden, in jedem Fall erfordert, dass man sich pragmatisch darin orientieren muss. So tritt jene Wirklichkeit, die in der Vielfalt der Hypothesen beiseite gelassen wurde, zum Schluss als unverzichtbarer ‚Anhaltspunkt‘ wieder hervor. In diesem Sinn fällt die ‚Vorsicht‘ nicht aus dem Bereich der Philosophie heraus, sondern ist vielmehr deren integraler Bestandteil. Es handelt sich um den bekannten Rest von ‚Realismus‘,1 der das Resultat jeder radikalen Skepsis ist.

1 Der Begriff wird hier im Sinne Hegels gebraucht, obgleich er bei ihm eine ganz und gar negative Bedeutung besitzt. Das skeptische Bewusstsein ist für Hegel „ein ganz zufälliges, einzelnes Bewußtsein“, „ein Bewußtsein, das empirisch ist, sich nach dem richtet, was keine Realität für es hat“; dergestalt „macht es sich […] zum allgemeinen sichselbstgleichen“, so dass es durch die Leugnung jeder Differenz in Wirklichkeit in die „Zufälligkeit“ zurückfällt. Es ist im Grunde eine Form von Sprachlosigkeit, welche die sinnliche Gewissheit in ihrer rohsten Gegebenheit aufnimmt (Hegel 1970, S. 161 f.).

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Dieser Rest stimmt damit überein, dass die Politik nicht auf eine allgemeine Form der Klugheit bezogen werden kann, sondern genau auf diejenige, die sich mit dem Einzelnen befasst. So legt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik „den gemeinsamen Namen der politischen Wissenschaft“ derjenigen Klugheit bei, „die das Einzelne (ta kath’ ekasta) behandelt“ (1141 b 26; übers. von O. Gigon); das griechische Wort phronesis, das diese spezifische Klugheit bezeichnet, deckt ein Bedeutungsfeld ab, dem der Begriff der ‚Vorsicht‘ zugeordnet werden kann.2 Nietzsches Haltung zur Politik ist vor allem durch eine solche ‚Vorsicht‘ geprägt, die sich in erster Linie in der Distanznahme gegenüber den politischen Positionen seiner Zeit ausdrückt. Aufgezählt werden diese zum Beispiel im Aph. 377 der FW: „Wir „conserviren“ Nichts“, was in politische Begriffe übersetzt so viel heißt wie ‚wir sind keine Konservativen‘. „[W]ir wollen auch in keine Vergangenheit zurück“, was in dieselbe Sprache übersetzt bedeutet ‚wir sind keine Reaktionäre‘.3 Andererseits sind wir „durchaus nicht „liberal“, wir arbeiten nicht für den „Fortschritt““. Hinter den Losungen der ‚Liberalen‘ erblickt Nietzsche lediglich den Gesang der „Zukunfts-Sirenen des Marktes“: „„gleiche Rechte“, „freie Gesellschaft“, „keine Herrn mehr und keine Knechte““ ebnen der „Vermittelmässigung und Chineserei“4 (FW 377, KSA 3.629), dem Aufkommen des Massenmenschen des 20. Jahrhunderts den Weg, das sich schon im Zarathustra als das Reich des ‚letzten Menschen‘ ankündigte.5 Ebenso geht Nietzsche weiter unten zum deutschen Nationalismus auf Abstand: „Andererseits sind wir aber auch lange nicht „deutsch“ genug, wie heute das Wort „deutsch“ gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass6 das Wort zu reden“; und so

2 Vgl. Ebert 1995, S. 171 ff. Ebert schließt zunächst aus, dass phronesis mit dem Ausdruck „sittliche Einsicht“ übersetzt werden könne, da Aristoteles ihren Besitz auch den Tieren zuschreibe, und schlägt dann als angemessenste Übersetzungen das deutsche Wort ‚Klugheit‘ bzw. das englische und französische ‚prudence‘ vor. 3 Vgl. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 43: „– Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte –, eine Rü ck b i l du ng, eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich […]. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es giebt auch heute noch Parteien, die als Ziel den K reb sga ng aller Dinge träumen. Aber es steht Niemandem frei, Krebs zu sein.“ 4 Vgl. Nachlass 1880, 3[98], KSA 9.73: „Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefülchen über Alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesenthum, das wäre das letzte Bild, welches die Menschheit bieten könnte?“ 5 Vgl. Za I, Zarathustra’s Vorrede 5, KSA 4.20: „Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.“ 6 Es handelt sich vermutlich um eine Stellungnahme gegen die antisemitische Partei; vgl. dazu MA I 475: „Das ganze Problem der Ju d e n ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden […], so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je



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auch zur „kleine[n] Politik“ der europäischen Nationalstaaten, derenthalben „sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt“ (FW 377, KSA 3.630).7 Diese Feststellungen bringen nicht bloß einen gleichen Abstand zum Ausdruck, sondern enthalten eine Absage an jede Verwicklung in eine Politik, die sich als abstrakte Verkündigung eines ideologischen Credos darstellt und folglich im Gegensatz steht zu einer politischen Praxis im Zeichen der ‚Vorsicht‘ und der Orientierung. Wie Stegmaier anmerkt, zeichnen Nietzsches Sätze ein genaues Bild der politischen Kräfte des zweiten Reichs, wo „die politischen Parteien […] nach der Reichsgründung zunächst alle mehr oder weniger ‚konservativ‘, ‚liberal‘ und ‚fortschrittlich‘, auf die Erhaltung und Erweiterung bürgerlicher Besitzstände und Freiheitsrechte bedacht [waren]“ (Stegmaier 2012, S. 552). Die politische Praxis, auf die Nietzsche mit seiner Distanznahme im Zeichen der ‚Vorsicht‘ anspielt, schließt die Verteidigung eines ideologischen Credos und folglich auch die ‚berufsmäßige‘ Ausübung der Politik aus. An anderem Ort führt Stegmaier aus, dass die Entscheidungen der Politik der Gesellschaft Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart und Zukunft sichern und solche Entscheidungen Interessen, Konflikte und Widerstände berücksichtigen müssen, in denen das politische Handeln sich orientieren muss: „Politik braucht darum nicht nur Übersicht, sondern besondere Umsicht, Weitsicht für vorausschauende Planungen“. Sie muss „,Taktiken‘ und langfristige ‚Strategien‘“ bereitstellen, um die gesteckten Ziele, die nicht direkt zu erreichen sind, auf indirekten Wegen zu erreichen. Somit ist sie durch die grundlegende „Ungewissheit“ geprägt, die jede Orientierungsmöglichkeit begleitet. Wenn sich das in Nietzsches Fall mit der Definition der Politik als „Kunst des Möglichen“ deckt, die sein ‚Gegner‘ Bismarck lieferte, lässt sich daran nichts ändern: „Dies dürfte immer noch die prägnanteste und am wenigsten ideologische unter den Bestimmungen der Politik sein, und sie kommt einer Philosophie der Orientierung am weitesten entgegen“ (Stegmaier 2008, S. 478 f.). Wir fragen uns nun, ob diese Distanznahme Nietzsches – zu der auch seine erklärte Feindschaft gegenüber Bismarck gehört8 – dem entspricht, was er als

mehr diese sich wieder national gebärden –, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen.“ 7 Vgl. auch dazu MA I 475, wo Nietzsche feststellt, dass der Entstehung der „Mischrasse […] des europäischen Menschen“ heute „bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung nati o n a l e r Feindseligkeiten entgegen[wirkt]“, die er als einen „künstliche[n] Nationalismus“ bezeichnet. 8 Trotz der wiederholten Negativurteile lässt sich in Nietzsches Schriften auch der ein oder andere Ausdruck, wenn nicht der Bewunderung, so doch der Rechtfertigung von Bismarcks Werk

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‚unpolitisch‘ bezeichnet, oder ob sie etwas anderes einschließt. Festgehalten sei zunächst, dass Nietzsche mit diesem Begriff einen Gegensatz zwischen Staat und Kultur definiert: „Die Cultur und der Staat […] sind Antagonisten: „CulturStaat“ ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen“. Der Begriff ‚unpolitisch‘ steht also auf der Seite der Kultur und löst die hegelsche Identität von Staat und Kultur wieder auf: „Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch.“ (GD, Was den Deutschen abgeht 4) Es geht nun darum zu sehen, ob diese Stellungnahme zugunsten der Kultur und gegen den Staat auch eine allgemeine Stellungnahme gegen den Begriff des ‚Politischen‘ beinhaltet und ob Nietzsche folglich als ‚politischer Denker‘ bzw. als ‚politischer Philosoph‘ bezeichnet werden kann oder nicht. Daniel Conway hat beklagt, dass Nietzsche „is rarely considered, on the strength of his teachings, an important political thinker in his own right“. Dies habe seinen Grund in der ungebührlichen Vereinnahmung seines ‚politischen Denkens‘ durch die nationalsozialistische Ideologie, die sich dank einer gewissen „family resemblance“ zwischen einigen seiner Feststellungen und bestimmten Elementen jener Ideologie vollzogen habe – so dass „even sympathetic readers have refused to take seriously his political thinking on its own terms“. Daher habe zwar Nietzsches Reflexion über bestimmte, aber unzusammenhängende Aspekte der Politik – z. B. seine Kritik des Liberalismus, der Moderne, des deutschen Nationalismus usw. – Beachtung gefunden, doch habe man das Vorhandensein eines kohärenten ‚politischen Denkens‘ bei Nietzsche geleugnet (Conway 1997, S. 120). Dass es ein solches Denken nicht gibt, muss unseres Erachtens bestätigt werden, aber wohl aus anderen Gründen als den von Conway angeführten. Es ist charakteristisch für Nietzsches Ansatz, dass er gewisse Positionen zur Politik – namentlich zu derjenigen seiner Zeit – vertritt, ohne sie zu einem System des politischen Denkens zusammenzuführen. Erklären lässt sich dies anhand des hier als Skepsis Bezeichneten, wofür Stegmaier den Ausdruck orientierungsphilosophischer Begriff des Politischen verwendet (Stegmaier 2008, S. 478 ff.). Wenn ein

finden. So beschreibt Nietzsche z. B. in MA I 450, die Unterscheidung zwischen Regierung und Volk als „ein Stück vererbter politischer Empfindung“, die „der historischen Feststellung der Machtverhältnisse“ entspricht: „Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann).“ In dieselbe Richtung geht wahrscheinlich in FW 357 die Anerkennung der Bismarck’schen „Realpolitik“ als eine Form von „Macchiavellismus“, der dem Geist der Deutschen ebenso grundsätzlich fremd ist wie es „Goethe’s Heidenthum mit gutem Gewissen“ war (KSA 3.597 f.).



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zusammenhängendes Denksystem, dem der Name ‚politisches Denken‘ gebührt, in erster Linie auf den Bereich beziehbar ist, der mit dem Ausdruck ‚das Politische‘ abgesteckt wird, so ist zuerst festzustellen, dass Nietzsche diesen nur am Rande benutzt. Das ist offensichtlich, denn in dem Sinn, in dem wir ihn heute verstehen, wurde er 1927 von Carl Schmitt eingeführt. In seiner Erwiderung auf die Argumentationen von Conway hebt Paul van Tongeren an erster Stelle hervor, dass Nietzsche „speaks about apparently political topics from a perspective which is not primarily political“ (van Tongeren 2008, S. 70). Insbesondere scheine er keinen grundsätzlichen Unterschied zu machen zwischen dem, was dem Bereich des Politischen und dem, was dem Bereich des Moralischen zukommt. Als Beispiel führt van Tongeren den § 211 von JGB an, wo Nietzsche von den „philosophischen Arbeiter[n]“ – wie Kant und Hegel – spricht, die sich bemühten, ihre Wertschätzungen „in Formeln zu drängen“: „sei es im Reiche des Logischen oder des Po l i t i s ch e n (Moralischen) oder des Künstlerischen.“ Hier ist die Gleichsetzung zwischen dem Politischen und dem Moralischen evident. Carl Schmitt führt den Begriff des ‚Politischen‘ bekanntlich auf die „spezifisch politische Unterscheidung“ „von Freund und Feind“ zurück. Da diese sich nicht „aus anderen Kriterien“ ableiten lasse, „entspricht sie für das Politische den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Häßlich im Ästhetischen usw.“ Diese Unterscheidung sei also in der Weise ‚selbständig‘, „daß sie weder auf einem jener anderen Gegensätze oder auf mehreren von ihnen begründet, noch auf sie zurückgeführt werden kann“ (Schmitt 2009, S. 25). Die Selbstständigkeit des ‚Politischen‘ bestehe also darin, dass der Freund-FeindGegensatz sich von allen anderen Gegensätzen unterscheide und im Verhältnis zu ihnen ursprünglicher sei. Es geht nun aber nicht darum, festzustellen – wie van Tongeren es, im Übrigen zu Recht, tut –, dass es bei Nietzsche eine solche vollständig formulierte Freund/Feind-Theorie nicht gibt (van Tongeren 2008, S. 75 f.), sondern zur Kenntnis zu nehmen, dass die ursprüngliche Unterscheidung für ihn diejenige zwischen Gut und Böse, Gut und Schlecht ist, aus der die archaische Gesellschaftsform hervorgeht. In GM I 6 bemerkt Nietzsche, „dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff auslöst“; bestätigt wird dies dadurch, dass die Kaste, die zuerst als die höchste anerkannt wird, „die p r i e s te r l i ch e Kaste“ ist. Folglich wird das erste „Ständeabzeichen“ die Unterscheidung zwischen „„rein“ und „unrein““, aus der dann später die zwischen „„gut“ und „schlecht““ „in einem nicht mehr ständischen Sinne“ wird. Schon in JGB 257 hatte Nietzsche an dieser Unterscheidung die Form jener ursprünglichen Gesellschaft festgemacht, die er „aristokratische Gesellschaft“ nennt, und ihr den Namen „P athos der Distanz“ gegeben: eine Gesellschaft „welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und

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Mensch glaubt“. Ein solches Pathos entspringt „aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge“. In diesem „Ausblick und Herabblick“ liegt der Ursprung der „moralischen Werthunterscheidungen“. Sie sind „unter einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde“ (JGB 260, KSA 5.208 f.). Bis hierhin hat Nietzsche vom Ursprung dessen gesprochen, was er ‚Gesellschaft‘ nennt und durch die Verquickung von – jeweils ‚eingefleischter‘ –sozialer Hierarchie und moralischen Wertungen gekennzeichnet ist. Vom Ursprung des Staates spricht er bezeichnenderweise erst vor diesem Hintergrund. „Dergestalt beginnt ja der „Staat“ auf Erden“: Irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. (GM II 17)

Wenn sich nach Carl Schmitt die Identität von Staat und Gesellschaft erst mit dem „totale[n] Staat“ verwirklicht und der Staat erst ab dann „potentiell jedes Gebiet“ – also auch das der Moral – ergreift (vgl. Schmitt 2009, S. 23), so vollzieht sich dagegen in Nietzsches Sicht der Übergriff der Herren-Rasse gegenüber den Unterworfenen aufgrund einer moralischen Wertung, in die sie ihre Überlegenheit legt. Dies wird an der Gegenüberstellung der Begriffspaare agathos/esthlos auf der einen und kakos/deilos auf der anderen Seite deutlich, die Nietzsche bei Theognis von Megara vorfindet. Esthlos bezeichnet „Einen, der ist, der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist“, agathos denjenigen, der „adelig“ ist, im Gegensatz zu kakos/deilos, dem „Plebejer“, der durch „Feigheit“ gekennzeichnet ist. Auch nach dem Niedergang des Adels bleibt das Begriffspaar agathos/esthlos „zur Bezeichnung der seelischen noblesse übrig“ (GM I 5). Wir haben versucht zu zeigen, dass das Problem des Ursprungs der moralischen Wertschätzung bei Nietzsche dem Ursprung des Staates und selbst der sozialen Rangordnung vorausgeht, in seinem Denken also keine Autonomie ‚des Politischen‘ im Sinn von Carl Schmitt gegeben ist. Es bleibt nun zu klären, ob seine skeptische Haltung in politicis aus einer ähnlichen Haltung hervorgeht, die seiner Moralkritik zugrunde liegt. Am Schluss des Aph. 345 der FW weist Nietzsche sowohl den Standpunkt derer zurück, die aus dem „Volks-Aberglauben des christlichen Europa“ die „unbedingte Verbindlichkeit“ der Moralprinzipien ableiten, wie die Position derjenigen, die aufgrund der Feststellung, „dass bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen nothwendig verschieden sind“, „auf Unverbindlich-



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keit aller Moral“ schließen: „was Beides gleich grosse Kindereien sind“. In Wirklichkeit ist die Frage des „Werthes“ der Moral nicht einmal gestreift, selbst wenn man die Einsicht gewonnen hätte, dass sie „aus einem Irrthum“ entstanden ist. Bedeutsamerweise zieht Nietzsche an diesem Punkt einen Vergleich zwischen der Moral und der Medizin: „so gewiss der Werth eines Medikaments für den Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich […] denkt“. Daher besteht die Aufgabe, die Nietzsche sich stellt, darin, „den Werth jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral“ zu prüfen. Der Wert der Moral kann also nicht aufgrund ihres Wesens („wissenschaftlich“), sondern nur aufgrund ihrer Wirkungen festgestellt werden; das heißt indem man hinsichtlich ihrer theoretischen Definition die Skepsis übt und das Feld ihrer Anwendungen offen lässt. Diese Position muss mit der des nachfolgenden Aph. 352 zusammengebracht werden, wo die Moral als die „Verkleidung“ des Europäers erscheint, der „ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat, „zahm“ zu sein“ (FW 352); sie wird also – in der bei Nietzsche sicher vorwiegenden Weise – als die Form präsentiert, die der Wille zur Macht in den Schwachen und im „Heerdenthier“ annimmt. Doch weisen die beiden Formulierungen in den Metaphern der Medizin bzw. der Verkleidung ein gemeinsames Element auf, das Stegmaier zu Recht herausgestellt hat. Sicher sind die Medikamente dazu bestimmt, eingenommen zu werden, so wie es der Zweck der Verkleidungen ist, angelegt zu werden, doch in beiden Fällen kommt es auf die Entscheidung an, sie einzunehmen bzw. anzulegen. Es bleibt also „ein Spielraum der Entscheidung“: Was die Medikamente angeht, „kann [man] sie auch verweigern“; die Verkleidungen hingegen „kann [man] bei Gelegenheit auch ablegen“ (Stegmaier 2012, S. 180). Dieser Spielraum macht aus der Moral ein Werkzeug, dessen Tauglichkeit nur in der Praxis bzw., um es mit Nietzsches Worten zu sagen, im Verhältnis zu den Lebensbedingungen überprüft werden kann. Aufs Deutlichste scheint mir folgendes kurzes Fragment vom Sommer–Herbst 1884 Nietzsches Position zur Moral zusammenzufassen: „Unsere Werthschätzungen stehen im Verhältniß zu unseren geglaubten Lebensbedingungen: verändern sich diese, so verändern sich unsere Werthschätzungen.“ (26[45], KSA 11.159) Dass die Moral ihres ‚unbedingten‘ Fundaments enthoben wird, ist das Resultat einer tiefen, radikalen Skepsis; dass die Wertungen, die sie bereitstellt, nach den veränderlichen Lebensbedingungen ‚geregelt‘ sein müssen, ergibt sich aus jenem Rest von ‚Realismus‘, den jede auch noch so radikale Skepsis berücksichtigen muss.9 Dieser Rest setzt die praktische Notwendigkeit der ‚Orientierung‘.

9 Ein plausibler Einwand gegen unseren Ansatz könnte darin bestehen, dass Nietzsche sich oft negativ über die Skepsis äußert. In Wahrheit ist sein diesbezüglicher Standpunkt durchaus nicht

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Wenn die Regeln, die das soziale Leben möglich machen, keine metaphysische Grundlage mehr haben, so sind sie deshalb nicht weniger ‚verbindlich‘. Vielmehr wird dadurch ein besseres Funktionieren des Sozialgefüges möglich, insofern es eine fortwährende Anpassung der Regeln einschließt. Stegmaier stellt weiter fest: „Regeln sind Orientierungsinstrumente, Instrumente der wechselseitigen Orientierung“ (Stegmaier 2008, S.  370). Gerade aufgrund dieser Wechselseitigkeit können Regeln den Lebensbedingungen angepasst werden. Insofern sie nicht im ‚Unbedingten‘ verwurzelt sind, eröffnen sie Spielräume, die Abweichungen von den Regeln ermöglichen. Dies führt nicht zu einem Zerfall des Sozialgefüges, sondern lediglich zur Entstehung anderer Regeln als Korrektur und Anpassung der Ausgangssituation, was die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts ermöglicht (vgl. Stegmaier 2008, S. 372 f.). Als Letztes bleibt nun zu überprüfen, ob die skeptische Haltung, die sich in Bezug auf die Moral ermitteln lässt, auch in einem Text über eine spezifisch politische Frage zu finden ist und ob auch in diesem Fall der Hinweis auf eine praktische Orientierung an die Stelle des rein abstrakten Ansatzes tritt, welcher die Unmöglichkeit einer Problemlösung vom theoretischen Standpunkt mit sich bringt. Als Beispiel kann der Aph. 472 aus MA dienen. Auch hier stehen zwei theoretisch unvereinbare Thesen einander gegenüber, wie schon in FW 345, wo die unversöhnlichen Aussagen über die ‚unbedingte Verbindlichkeit‘ und die ‚Unverbindlichkeit‘ der Regeln kontrastiert wurden und die pragmatische Lösung in ihrer ‚bedingten Verbindlichkeit‘ bestand. Tamsin Shaw hat in diesem Text den paradigmatischen Ausdruck von Nietzsches „political skepticism“ erblickt, in dessen Mittelpunkt das Problem der „legitimacy“ stehe (Shaw 2007, S. 2). Nietzsche geht von der – in Bezug auf den Kulturkampf aufgeworfenen – Frage aus, „ob die Religion zu erhalten oder zu beseitigen sei“, um den Staat bzw. die Regierung zu erhalten, solange diese „als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge“ aufzufassen sind. In diesem Fall lautet die Antwort ‚ja‘, denn nur die Religion

eindeutig. Ein drastisches Beispiel liefert die Gegenüberstellung der Aph. 110 und 111 der FW. Im ersten schreibt er, „die feinere Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis“ habe die Existenz des von den Eleaten erfundenen „Weisen“ unmöglich gemacht. Auch in diesem Fall befreite die Skepsis den Rest von ‚Realismus‘, der hier durch das sinnliche Leben repräsentiert ist, von den Abstraktionen: auch das Leben jener Menschen „ergab sich als abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles empfindenden Daseins.“ Im zweiten Aph. behauptet Nietzsche dagegen, dass „an und für sich […] jeder skeptische Hang eine grosse Gefahr für das Leben“ ist. Die Erhaltung jedes Lebewesens hängt ab von dem „entgegengesetzte[n] Hang, lieber zu bejahen, als das Urtheil auszusetzen“. Doch scheint er in diesem Fall nicht zu bedenken, dass gerade die epoche als Aufhebung der Abstraktheit des Denkens das deutliche Hervortreten des ‚Realen‘ ermöglicht.



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kann „die Macht, welche in der Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen für Alle, liegt“, garantieren; in diesem Fall „wird der Staat sich die Priester zu gewinnen wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborgenen Erziehung der Seelen benöthigt ist […]. Ohne Beihülfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht „legitim“ werden“ (MA I 472, KSA 2.302 f.). Die Situation ändert sich jedoch mit der Entstehung des demokratischen Staates, in dem die einzige anerkannte Souveränität die des Volkes ist. Paradoxerweise wird sich daraus eine Stärkung des religiösen Gefühls ergeben, das der Staat nicht mehr unter seine Kontrolle stellt, und folglich entsteht ein Konflikt zwischen Religion und Staat, der sich auf den Kampf zwischen entgegengesetzten Parteien überträgt: „Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr, als die, sich augenblick der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen“. Was Nietzsche voraussieht, ist das Aufkommen des liberalistischen Staates in seiner ungezügeltsten Form. Die Privatinteressen werden sich des Staates bemächtigen: „selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden“; das Ergebnis wird „d e r Tod des Staates“ sein (MA I 472, KSA 2.305). Die Gegenüberstellung der beiden Positionen – der Abschaffung oder Erhaltung der Religion zum Zweck der Stiftung von Volkskonsens – führt Nietzsche jedoch nicht zu katastrophalen Schlüssen. Die Entstehung des liberalen Staates wird nämlich wenigstens zur Folge haben, „die Klugheit und de[n] Eigennutz der Menschen“ besser auszubilden, so dass „eine noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen“ wird (MA I 472, KSA 2.306). Nietzsche enthält sich also des Urteils über die beiden unversöhnlichen Thesen und beruft sich auf eine Lösung, der er lediglich in Form einer Hoffnung Ausdruck gibt,10 deren Voraussetzungen jedoch auf dem Rest von ‚Realismus‘11 beruhen, für den hier ‚Klugheit und Eigennutz‘ stehen.

10 „Vertrauen wir also „der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen“, dass jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!“ (MA I 472, KSA 2.307) 11 Der Begriff ‚Realismus‘ wurde hier in einem Sinn gebraucht, der sich mit dem von Shaw gemeinten nicht ganz deckt. Wenn sie Nietzsches Position als einen „political skepticism“ definiert, der aus einem „perceived conflict between the requirements of political authority and the requirements of normative authority“ entspringe (Shaw 2008, S. 78), so rechtfertigt sich die Bezeichnung Nietzsches als „realist“ durch dessen Universalismus im Bereich der moralischen Urteile: „Nietzsche’s value-criticism is universalist in scope and realist in its basic orientation“ (S. 109). Die Feststellung, dass „different people value different things“, erhält zwar die Universalität des Urteilens aufrecht, doch reduziert sie die moralischen Urteile auf „mere preferences“, die sicher

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Dies sind die ‚Anhaltspunkte‘, um ausgehend von einer Skepsis, die auch auf das spezifische Gebiet der Politik angewandt wird, Regeln und Verfahren der Orientierung zu gewinnen.

Literaturverzeichnis Conway, Daniel (1997): Nietzsche and the Political. London/New York. Ebert, Theodor (1995): „Phronêsis. Anmerkungen zu einem Begriff der Aristotelischen Ethik (VI 5, 8–13)“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin, S. 165–185. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes [1807]. In: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. Hrsg. von E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt am Main. Kant, Immanuel (1923): „Was heißt: Sich im Denken orientiren?“ [1786]. In: Kant’s Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 8. Hrsg. von Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig, S. 131–147. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Schmitt, Carl (2009): Der Begriff des Politischen. Berlin. Shaw, Tamsin (2007): Nietzsche’s Political Skepticism. Princeton. Stegmaier, Werner (2005): „Vorwort“. In: Werner Stegmaier (Hrsg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt am Main, S. 7–13. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2012): Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft. Berlin/Boston. Tongeren, Paul van (2008): „Nietzsche as ‚Über-Politischer Denker‘“. In: Herman W. Siemens/ Vasti Roodt (Hrsg.): Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, Berlin/New York, S. 69–83. Williams, Bernard (1993): Shame and Necessity. Berkeley/Los Angeles.

„a universal scope“ haben können, jener Universalität jedoch die Objektivität entziehen. Wenn Nietzsche also auf der einen Seite ein „moral realist“ sei, insofern er denke, „that we can arrive at value judgements that are universally valid“ – denn die Urteile über das für die Menschheit Gute „can be universally valid“ –, so nehme er auf der anderen Seite nicht an, „that everyone will be capable of arriving at these valid judgements“; er sei also „an anti-universalist about moral capacities“ (S. 110). Daher sein „political skepticism“: „Insofar as he is a moral realist, he cannot give up the demand that political life be governed by the correct norms. But equally he cannot imagine how normative truth could ever be made the basis of political authority“ (S. 112).

II. Orientierung und Erkenntnis

Konrad Ott

Zum Selbst der Orientierung 1. Hinführung zur Fragestellung Die „Philosophie der Orientierung“ (Stegmaier 2008, im Folgenden: PO mit Seitenangabe) kann auf unterschiedliche Weise zur lebenspraktischen und zur philosophischen Orientierung beitragen. Man kann das Werk einmal als ein philosophisches Handbuch nutzen, aus dem hervorgeht, welche Philosophen sich wann und wie zum Begriff der Orientierung geäußert haben. Hierfür sind die Namenund Sachregister eine wertvolle Unterstützung. Dies aber ist allenfalls ein erster Einstieg in Werner Stegmaiers „opus magnum“.

1.1 Die PO kann auch als eine Enzyklopädie der menschlichen, ja sogar auch der pflanzlichen und tierischen Orientierungsleistungen studiert werden, die sich auf die vielen Möglichkeiten bezieht, sich im Lebensvollzug an etwas zu orientieren. In diesem Sinn ist die PO eine „summa“. Die explikatorische Darstellung des Spektrums möglicher Orientierungsleistungen ist angesichts des unbestreitbaren Lebensbedürfnisses nach Orientierung pragmatisch erhellend, ja, mit Nietzsche gesagt, lebensdienlich und -förderlich. Sofern niemand sein Leben völlig orientierungslos oder dauerhaft desorientiert führen kann, dient es der Orientierung, zu erkennen, auf welche Arten und Weisen man sich orientieren kann. Dadurch werden Orientierungsleistungen von etwas intuitiv Bekanntem zu etwas explizit Erkanntem. Auf diesem Wege der Explikation werden auch die jeweiligen Spielräume von Orientierungsleistungen einsichtig, und es wird möglich, sich angesichts neuer Relevanzen um- und neu zu orientieren. Die Orientierungsleistungen sind dabei so wenig statisch wie das Leben selbst: „et nos mutamur in illis“. Bewährte Orientierungsleistungen müssen ja häufig veränderten Situationen und „Lagen“ angepasst werden. Auf dieser Ebene wird die PO gelegentlich sogar eine Fundgrube für implizite „Ratschläge der Klugheit“, was bei gelingender Orientierung zu beachten ist.

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1.2 Ein „Schwergewicht“ der PO liegt bei moralischer und ethischer Orientierung, über deren Charakter und Sinn Werner Stegmaier und ich uns bei vielen Greifswalder Gelegenheiten austauschen durften. Dies betraf unter anderem die Frage nach dem rechten Umgang mit unterschiedlichen Moralen. Sofern man mit Luhmann davon ausgeht, dass die vielen faktisch koexistierenden Moralen den allgemeinen Code des Moralischen („gut und böse“) nur einseitig auf sich selbst anwenden, sich also selbst für „gut“ halten müssen, ist moralische Kommunikation angesichts der eigentümlichen Kategorizität moralischer Urteile nicht nur, aber auch eine unerschöpfliche Quelle polemogener Irritation. Während die Diskursethik darauf setzt, diese Irritationen, Dissense und Kontroversen im fragilen Medium regelgeleiteter Diskurse auszutragen, fordert die PO auf eher tugendethische Weise Takt, Höflichkeit, Zurückhaltung, Diplomatie, Toleranz, antizipatorische Ärgervermeidung und ähnliche Haltungen im Umgang mit den jeweils fremden Moralen. Dabei kann eine Tugendethik letztlich allerdings nur darauf hoffen, dass sich die Vertreter anderer Moralen dieser Tugenden ebenfalls befleißigen werden. Hierüber und über manche anderen Themen moralischer Orientierung, wie etwa die Regelbefolgung (PO, S. 500 ff.) und das Problem des Rechtsgehorsams, ließe sich durchaus streiten. So könnte man bspw. trefflich darüber disputieren, ob eine rote Ampel (zumindest zu bestimmten Tages- oder Nachtzeiten) nur eine Orientierungsmarke ist oder eine Regel, die generell zu befolgen ist. Oder darüber, wo die Grenzen verlaufen zwischen solchen Regeln, die man kreativ umgehen darf, und „schweren Vergehen“ (PO, S.  504), bei denen die entsprechenden Verbotsnormen prima facie zu befolgen sind. Einzelne Dispute dieser Art blieben aber an der Oberfläche einer Philosophie der Orientierung, weshalb ich sie außer Betracht setze.

1.3 Die Methode der PO wird als „phänomenologisch“ und auch als „sprachphilosophisch“ bezeichnet. Gerade die sprachphänomenologischen Zugänge zu Orientierungsleistungen sind immer wieder aufschlussreich und eine beständige Quelle der Lesefreude. Die Arten und Weisen, wie wir nicht in akademischen Terminologien, sondern in der natürlichen Umgangssprache (in unserem Falle kontingenterweise des Deutschen) über unsere alltagsweltlichen Orientierungen sprechen, zeigen deren mannigfaltige „Sitze im Leben“. So ist die PO auch ein Kompendium des Sprachgebrauchs unserer alltäglichen Orientierungsleistun-



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gen (und als solches nutze ich die PO als Ergänzung zu einer mit Idealisierungen arbeitenden Theorie kommunikativen Handels). Diese Ebene der PO kann als maßgeblicher Beitrag zur „ordinary language philosophy“ von Orientierungsleistungen interpretiert werden. Ich vermute, dass jede Leserin ihr diesbezügliches Lieblingskapitel haben wird.

1.4 Besonders bemerkenswert sind die Partien der PO, die von der Orientierung an der Orientierung der jeweils anderen Individuen handeln, also von inter-individueller Orientierung mitsamt allen Irritationen und Verwicklungen, die solche Orientierungen (Stichwort: „doppelte Kontingenz“) aneinander mit sich bringen können. Die individuellen Orientierungen sind nun allerdings voneinander getrennt, weshalb jede und jeder zuletzt mit sich und seiner bzw. ihrer Orientierung allein bleibt (PO, S. 3). In diesem Sinne muss die PO „von der Trennung der Orientierungen ausgehen, die mit der Geburt, mit der Trennung vom Körper der Mutter beginnt“ (PO, S. 362). Die individuellen Orientierungsleistungen sind voneinander so getrennt wie die individuellen Leiber, deren primordiale Perspektiven von anderen nicht übernommen werden können. Gleichwohl sind andere Orientierungsleistungen die wohl wichtigsten Anhaltspunkte der je eigenen Orientierung (PO, S. 362).1 So kann uns ein Lächeln ebenso orientieren wie eine ärgerliche Stimme. Ich konzediere gerne, dass inter-individuelle2 Orientierung phänomenologisch mehr und anderes ist als eine gemeinsame, kritisch prüfende Orientierung mit Gründen an Gründen in Diskursen. Als Fortsetzung einfachen kommunikativen Handelns mit argumentativen Mitteln sind Diskurse ein ungewöhnlicher Sonderfall inter-individueller Orientierung, die ihren eigenen Regeln folgt. Diese Orientierung an Gründen steht nicht im Mittelpunkt der PO, könnte aber mit sprachphänomenologischen Mitteln nachgetragen werden, was auch für eine Argumentationstheorie von Belang wäre: Wie reden wir miteinander über die Arten und Weisen, wie wir uns an Gründen orientieren, die wir gemeinsam zur Kenntnis nehmen und die doch offenbar höchst unterschiedliche Spielräume der

1 Inter-individuelle Orientierung könnte zwanglos mit einer Philosophie gegenseitiger Anerkennung vermittelt werden. 2 Ich selbst unterscheide epistemische Subjektivität, normativ gehaltvolle Personalität und kulturelle Individualität als drei Modi des Daseins. Der Einfachheit halber verwende ich in diesem Aufsatz nur den Ausdruck „Individualität“.

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Stellungnahme belassen? Warum nehmen manche Individuen Gründe nicht an, die andere höchst überzeugend finden? So gesehen, können auch Diskurstheoretiker die sprachphänomenologische Herangehensweise der PO zum Ausgangspunkt von Bemühungen nehmen, die Orientierung an Gründen zu explizieren. Allerdings ist eine sprachphänomenologische Erhellung all dessen, was sich zu und über Orientierungsleistungen so oder anders sagen lässt,3 nicht die philosophische Pointe der PO. Daran lässt der letzte Satz des ersten Kapitels keine Zweifel: „Auch darin, dass sie die alltägliche Sprache der Orientierung zu ihrer Beschreibung der Orientierung benutzt, ist sie selbstbezüglich“ (PO, S. 33).4 Eine sprachphänomenologische Umschau über all das, was man über Orientierungen so sagen kann, ist nur eine Propädeutik zu einer Philosophie der Orientierung.

1.5 Im Rahmen einer PO bietet es sich an, von alltagsnahen Darlegungen zu systematischen Explikationen von Orientierungsleistungen überzugehen. Dies leistet die PO in den Kapiteln 4 bis 18 auf gewinnbringende Weise. Man könnte im Anschluss an die Explikationen von „Übersicht“, „Halt“, „Routinen“, „Planungen“, „Zeichen“ usw. eine allgemeine Präsuppositionsanalyse in Angriff nehmen, also fragen, was Orientierungsleistungen (OL) voraussetzen. Eine solche Präsuppositionsanalyse könnte ein generelles und entsprechend abstraktes Schema konstruieren. Es könnte etwa folgende Begriffe und Konzepte enthalten: existierende selbstbewusste Individuen, Freiheit, Situationen, Umstände, Plausibilitäten, Zeit, vielleicht gar Rationalität und ein „An“ der Orientierung. Ein präsuppositionsanalytisches Schema könnte dann ungefähr folgendermaßen aussehen: OL = I(s, f, r) orientiert (sich) in t in S(U) an X. In normalsprachlicher Lesart: Der Begriff der Orientierungsleistung OL besagt, dass sich ein präsumtiv selbstbewusstes, freies und rationales Individuum I in einem bestimmten Zeitintervall t und in einer Situation S, die durch die Umstände U gekennzeichnet ist, an irgend etwas (X) orientiert, das als Halt, Zeichen, Routine, Planung, Gründe usw. näher charakterisiert werden kann.5

3 Und für Werner Stegmaier lässt sich alles, was sich so und so sagen lässt, auch anders sagen. 4 Grammatisch scheint das zweimalige „sie“ in der Luft zu hängen. Es kann sich nur auf die Philosophie der Orientierung beziehen, die dann so selbstbezüglich wäre wie die Orientierung selbst. 5 Und die PO kann dann noch einmal auf das Zeichen X reflektieren (PO, S. 285 ff.).



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Dieses Schema bezöge sich auf all das, woran „man“6 sich orientieren kann, ohne vorzuschreiben, woran Individuen sich orientieren sollten. Man könnte X zu X(P) erweitern, indem man voraussetzt, dass das jeweilige X für I(s, f, r) einen gewissen Grad an Plausibilität P aufweisen muss. Diese Erweiterung wäre im Begriff der Orientierung pragmatisch impliziert, da sich niemand an etwas orientiert, das er/sie für wenig plausibel oder für ganz und gar unplausibel hält. Es sagt sich nicht leicht, dass man sich an etwas orientiert, an das man selbst nicht glaubt.7 Es ließe sich weiterhin auch das Moment der Vorläufigkeit in das Schema integrieren, auf das Werner Stegmaier insistiert. Keine Orientierung gilt ein für alle Mal. Zwar können die Folgen einzelner Orientierungen irreversibel sein, sofern sie zu Entscheidungen führen, die Konsequenzen zeitigen; aber im Prinzip kann man, d.h. können jeweilige Individuen sich zu anderen Zeiten in ähnlichen Situationen auch anders orientieren. Bei gegebenen Erweiterungen sähe das Schema also folgendermaßen aus. OL = I(s, f, r) orientiert (sich) in t in S(U) vorläufig an X(P). Mit diesem Schema könnten sich Nietzscheaner, Aristoteliker, Utilitaristen, Ökonomen und Vertreter anderer philosophischer Strömungen anfreunden, obschon sie dieses Schema je anders „füllen“ würden. Mit Nietzsche könnte man sagen, dass leiblich-physiologisch so und so gestimmte Individuen sich eher an diesem als an jenem X orientieren werden (an „höchsten Zielen“ oder „vornehmen“ Tugenden). Mit Aristoteles wäre von der Ausrichtung an der „εὐδαιμονία“, ökonomisch von der Ausrichtung an der Maximierung des diskontierten Eigennutzens usw. zu sprechen. Entscheidend für eine solche präsuppositionsanalytische Grundlegung der PO wäre, dass sämtliche Orientierungsleistungen als individuelle Fähigkeiten des Sich-Zurechtfindens (und nichts außerdem) aufgefasst werden.8 Viele Ausdrücke, die in der PO von „der“ Orientierung (im Nominativ oder Genetiv) handeln, wären demzufolge zu verstehen als elliptische Abkürzungen für individuelle Orientierungsleistungen gemäß diesem oder einem ähnlichen Schema. Aber (und dies ist mein „Frage-Zeichen“) würde eine schematische Präsuppositionsanalyse, wie immer man sie im Detail modifizieren und interpretieren mag, zu einem tieferen Verständnis der PO gelangen? Meine Antwort lautet: Nein! Eine Präsuppositionsanalyse wäre zwar pragmatisch und didaktisch

6 Das „man“ kommt in der PO sehr häufig vor. 7 Man orientiert sich nicht am Wegweiser, wenn man weiß, dass die Straßenräuber ihn verdreht haben. 8 Ob eine solche Grundlegung dann gemäß der üblichen Etikettierungen als „individualistisch“ oder „relativistisch“ zu bezeichnen wäre, erscheint mir zweitrangig, ja unerheblich.

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sinnvoll, aber philosophisch irreführend, weil die Orientierung in der PO als voraussetzungslos und selbstbezüglich gilt.

1.6 Meinen Beitrag zur PO möchte ich demzufolge weder auf der moralisch-ethischen, der (sprach)phänomenologischen noch einer schematisierenden präsuppositionsanalytischen Ebene leisten. Ich möchte vielmehr die PO als eine Philosophie „der“ Orientierung so ernst wie nur irgend möglich nehmen. Ich möchte in den folgenden Abschnitten auf eine demgegenüber grundlegendere, d.h. genuin philosophische Schicht in der PO zu sprechen kommen, deren Signifikanz für die PO mir erst bei mehrmaliger Lektüre auffällig wurde. Sub specie dieser (Tiefen) schicht wäre ein präsuppositionsanalytische Grundlegung womöglich sogar irreführend. Ich möchte die Aufmerksamkeit – die ja selbst ein Moment der Orientierung ist – zukünftiger Leserinnen und Interpretinnen der PO auf „die“ Orientierung als auf einen selbstbezüglichen „Ursprung“ lenken. Dadurch möchte ich zu einem vertieften philosophischen Verständnis der PO beitragen, worin ja die Absicht dieses Bandes liegt.

2. Die Orientierung als Ursprungsmacht 2.1 Gleich zu Beginn der PO schreibt Werner Stegmaier: „Sofern Orientierung allem definitiven Feststellen vorausgeht, ist sie ursprünglich, ein Ursprung oder Anfang, gr. ἀρχή, lat. principium, wie ihn die Philosophie seit ihren Ursprüngen oder Anfängen gesucht hat. Sie ist jedoch ein Prinzip, das, eben weil es allem definitiven Feststellen vorausliegt, seinerseits nicht definitiv festzustellen ist. Jedenfalls ist sie nicht von anderem her zu begreifen. Also ist alles aus ihr zu begreifen, und so ist sie ein unbegreiflicher Ursprung oder Anfang allen Begreifens.“ (PO, S.  5 f., Hervorhebungen im Original) Die Formulierung „eben weil“ im zweiten Satz des Zitates wandelt das „sofern“, mit dem der erste Satz scheinbar konditional anhebt, implizit in eine „da nun“-Aussage um („Da nun die Orientierung allem definitiven Feststellen“ usw.). Direkt im Anschluss daran wird ausgeführt, dass die Orientierung ein „selbstbezügliches Prinzip“ sei, aus dem alles andere zu begreifen ist. Der All-Quantor wird zweimal in Verbindung mit dem schlussfolgerungsanzeigendem „also“ verwendet. Also: „also alles“. Demnach sind alle



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Unterscheidungen, die getroffen, und alle Begriffe, die eingeführt werden, stricto sensu nachträglich. In diesem Sinne ist die PO – und dies ist meine Deutung – als prima philosophia zu verstehen, als eine Ursprungsphilosophie, die alle nachträglichen und innerweltlichen Orientierungsleistungen von Individuen als Leistungen konzipiert, die sich letztlich dem Ursprung selbst verdanken. Ich versuche im Folgenden, diese Deutung zu plausibilisieren. Der Ausdruck „ἀρχή“ entstammt der sog. Vorsokratik. Er bezieht sich bei Anaximander auf ein in sich Erstes, das notwendig als „unentstanden“ zu verstehen ist (Angehrn 2000, S. 72). Die ἀρχή steht hinter allem, sie „durchherrscht“ und durchwaltet alles Übrige. Sie ist eine Art „Urquell“, dem alles entspringt und entquillt.9 In einem sehr ähnlichen Sinne ist, so meine These, die Orientierung „Prinzip ihrer selbst, nur aus sich selbst zu begreifen“ (PO, S. 6). Das, was nicht aus etwas anderem, sondern nur aus sich selbst zu begreifen ist, ist „unbegreiflicher Ursprung oder Anfang alles Begreifens“ (PO, S. 6, kursiv im Original). Die Orientierung an sich selbst ist schlechterdings unzugänglich; eine Philosophie der Orientierung muss sich an ihre wahrnehmbaren Wirklichkeiten halten.

2.2 Ein „Jenseits“ oder „Außerhalb“ der Orientierung kann es jedenfalls nicht geben. Metaphysische Systeme sind Versuche, das Orientierungsgeschehen zu fixieren, d.h. es fest zu stellen. Deshalb wohnt jeder Metaphysik die Antinomie inne, Metaphysik „auf Zeit“ zu sein (hierzu Kap. 18). Auch eine Philosophie der Orientierung bezieht das „Bedürfnis der Orientierung nach Metaphysik“ (PO, S. 650, Hervorhebung im Original) in ihre Überlegungen mit ein.10 Die Philosophie der Orientierung selbst ist keine Metaphysik unter vielen, sondern versteht sich selbst als ein „Teil der Selbststrukturierung der Orientierung“ (PO, S.  28). Die voraussetzungslose Orientierung strukturiert sich selbst, d.h. „in ihrer Ursprünglichkeit und Selbstbezüglichkeit muss sie selbst es sein, die sich strukturiert“ (PO, S. 23). Das „muss“ drückt eine begriffliche Notwendigkeit aus. Wenn die Orientierung eine ἀρχή ist, so ist freilich der Übergang von ihr als einem Ersten zum Zweiten

9 Eine ähnliche Ursprungsphilosophie vertritt später Plotin. Bei Plotin ist das Hen (τὸ ἓν) die Überfülle, die nous (νοῦς), logos (λόγος), psyche (ψυχή) und alles Übrige aus sich entlässt, wobei all dies weniger vollkommen ist als das Hen selbst. 10 Aber ist dieses Bedürfnis der Orientierung nach Metaphysik identisch mit dem, was seit Schopenhauer als „metaphysisches Bedürfnis“ bezeichnet wird? Nach der hier vertretenen Lesart nicht.

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besonders schwierig; denn ein Zweites ist dann ein Verhältnis des Ersten zu etwas Anderem. Insofern stößt man hier auf das Problem einer Selbstkonfiguration des einen Ursprungs zur Mannigfaltigkeit von Unterschieden, die unsere Welt ausmachen. Die Selbststrukturierung der Orientierung (und dieser Genetiv bezieht sich von nun an primär auf die Orientierung als Ursprung) ist der Grund von Erläuterungen, wie „mit der Zeit gehende Orientierungen ‚Halt finden‘, wie sie sich, auch wenn sie in sich nichts fest voraussetzen können und sich auch an nichts außer ihnen fest halten können, […] doch auf Zeit an etwas halten können“ (PO, S. 27). In diesem Sinne verstehe ich auch den Hinweis auf die absolute und paradoxe Metapher Diltheys des „beständig strömenden Flusses“, in dem gleichwohl „Linien gezogen“ und „Figuren gezeichnet“ werden (PO, S. 24 f.). Die „Fluktuanzen“, die der Orientierung Halt geben, sind somit keine ihr äußerlichen Entitäten, die sie vorfindet, sondern von ihr selbst erzeugt. Sie finden Halt nur an sich selbst. Diese Strukturen sind „selbst erworben[]“ (PO, S.  27) und veränderlich, worauf sich der Begriff der Dekonstruktion bezieht (PO, S. 26). Die Selbststrukturierung hebt an mit einer primären Unterscheidung zwischen Orientierung und Situation, wodurch die primäre Beziehung einer Korrelation zwischen der Orientierung und der Situation entsteht. „,Situation‘ ist das Korrelat zur ‚Orientierung‘“ (PO, S. 151). Dadurch wird Orientierung zum Umgang genötigt mit den jeweils relevanten Kontingenzen, die in Situationen auftauchen können. Die Gegebenheiten und Umstände einer Situation sind etwas, das „es gibt“, wobei dieses „es“, das gibt, „anonym“ bleibt (PO, S.  153).11 Das in einer Situation jeweils Gegebene sind unhinterfragbare Kontingenzen, mit denen es die Orientierung zu tun hat. Damit ist das Konzept einer „Orientierungssituation“ gegeben. Die jeweiligen Gegebenheiten beunruhigen und erfordern Aufmerksamkeit (und sogar Mut),12 durch die sich die Orientierung allmählich zu „konturieren“ beginnt – „und damit wird die Orientierung überhaupt erst Orientierung“ (PO, S. 169). Aus all dem, was es in Situationen gibt, werden durch Selektion Relevanzbeziehungen. Damit ist der Weg zu weiteren Bestimmungen geöffnet, den sich die Orientierung durch die korrelierende Differenz zur Situation selbst geöffnet hat. Diesem Weg kann eine Philosophie der Orientierung nun nachgehen. Die PO folgt dabei einer Richtung. Die Selbststrukturierung der Orientierung hat nämlich durchaus eine Richtung eingeschlagen, nämlich die „Richtung

11 Ähnlich hat auch Heidegger den Ausdruck „es gibt“ gedeutet, nämlich als Frage nach dem Es, das gibt. 12 „Die Orientierung antwortet auf die Grundstimmung der Beunruhigung mit der Grundhaltung der Aufmerksamkeit“ (PO, S. 169).



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auf Sinn“ (PO, S.  191). Orientierung orientiert sich auf Sinn hin. Vielleicht darf man sogar sagen: Die Orientierung macht ihren Sinn. In dieser selbst-justierenden Richtung auf Sinn gewinnt die Orientierung ihre erste Grundordnung in der triadischen Strukturganzheit von Horizont, Standpunkt und Perspektive (PO, S. 194). Die absoluten Metaphern von Horizont, Perspektive und Standpunkt sind „unentbehrlich notwendige Illusionen“ der Orientierung (PO, S. 221). Man bedarf ihrer, da man sich ohne sie nur schwer „über Orientierung orientieren könnte“ (PO, S. 221). Hier nun kommt Bewegung auf, denn Horizonte sind verschiebbar, Standpunkte veränderlich und Perspektiven beweglich. Das unermesslich weite, bewegliche und bewegende Feld der Fluktuanzen und Spielräume ist eröffnet. In diesem Feld differenzieren sich sukzessive diverse „Orientierungswelten“ (PO, S. 312 ff.). In diesem Sinne ist in der PO von der fortschreitenden „Selbststrukturierung“ der Orientierung die Rede, deren Manifestationen sich nunmehr sprachphänomenologisch und konzeptionell erhellen lassen. Die Grundstruktur der indoeuropäischen Sprachen, nämlich die Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur, ist dabei „freilich auch“ ein „Weg der Orientierung zur Selbststabilisierung“ (PO, S. 294). Die abendländische Philosophie ist diesem Weg der Orientierung gefolgt und hat auf diesem Wege das „Orientierungsgeschehen“ (PO, S. 294) mit „Metaphysizierungen“ untersetzt und damit Fixpunkte des Denkens geschaffen, „die sie offenbar nötig hatte, jedenfalls auf Zeit“ (PO, S. 294). Das „sie“ dieses Satzes kann sich auch auf die Orientierung selbst beziehen, die dann aber eine Wesenheit wäre, die irgendetwas „nötig“ haben konnte oder kann.13

3. Das Selbst der Orientierung Die Orientierung als selbstbezügliches Ursprungsprinzip wird im weiteren Verlauf der PO mehrfach angesprochen. Das dritte Kapitel handelt von der Evolution des philosophischen Begriffs der Orientierung. Die Seite 150 scheint die Position von Gilles Deleuze nur kurz zu streifen, endet dann aber mit folgendem Satz, der explizit auf Kapitel 1.2 rückverweist. „Die letzte Konsequenz der philosophischen Orientierung über Orientierung ist so die Voraussetzung einer Orientierung des Denkens vor jeder Orientierung durch das Denken oder die Ursprünglichkeit,

13 Grammatisch macht dieser mehrgliedrige Satz nur Sinn, wenn das „es“ sich auf das „Orientierungsgeschehen“ bezieht. Das fragliche „sie“ ist allerdings doppeldeutig: Es kann sich auf die Orientierung selbst beziehen oder aber auf „die europäische Philosophie“. Diese Doppeldeutigkeit ist philologisch nicht aufzulösen; der Autor selbst müsste dies tun.

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Selbstbezüglichkeit und Zeitlichkeit der Orientierung (1.2)“ (PO, S.  150). Der Rückbezug auf Kap. 1.2 der PO wird mit der Unterscheidung zwischen der „Orientierung des Denkens“ und der „Orientierung durch das Denken“ ergänzt. Diese Unterscheidung ist keineswegs trivial, sondern, wenn sie denn Sinn machen soll, folgenschwer. Sie macht nur Sinn, wenn der Genetiv so zu verstehen ist, dass das Denken orientiert wird. Wir vermeinen, uns durch unser Denken zu orientieren (und so beantwortet auch Kant die Frage, was es bedeutet, sich „im“ Denken zu orientieren), aber es erfolgt in Wirklichkeit eine Orientierung des Denkens. Wer hier fragt: „Wodurch?“, kann nur eine Antwort erhalten: „Durch die Orientierung selbst“. Ein, vielleicht der Schlüsselsatz der gesamten PO findet sich am Ende der erhellenden Ausführungen zum „Wer?“ der Orientierung. Er lautet: „Das Selbst der Orientierung ist die Orientierung selbst“ (PO, S. 302, kursiv im Original). Der Abschnitt 9.1, an dessen Ende sich dieser Satz findet, beginnt mit dem Hinweis darauf, dass bisher „behelfsweise“ (PO, S.  293) davon die Rede war, dass „die Orientierung“ als eine Art Subjekt von Sätzen auftaucht, in denen sie etwas tut. Somit scheint dieser vorläufige Behelf nun behoben werden zu sollen. Der zweite Satz, der auf Heideggers „Sein und Zeit“ verweist, erklärt nun aber die „klassischen“ akteursbezogenen Annahmen hinsichtlich eines „Wer?“ des Denkens allesamt für problematisch (was sie wohl auch sind). Dies gilt mutatis mutandis für die Annahme eines „Ichs“, einer „Seele“, eines „Subjekts“ und sogar eines „Individuums“. An diesem Punkt scheint sich die PO sogar von Nietzsche zu distanzieren. Für Nietzsche sind es leibhaftig individuierte Gattungswesen mit ihren unterschiedlichen (aufstrebenden oder degenerativen) physiologischen Gestimmtheiten, die je individuelle Orientierungsleistungen hervorbringen (PO, S. 299). An dieser Stelle möchte ich kurz einflechten dürfen, dass die gemeinsamen „Greifswalder Jahre“ für mich insofern befruchtend waren, als Werner Stegmaier mir einen neuen Zugang zur Philosophie Nietzsches eröffnet hat.14 Daher war ich bei meiner ersten Lektüre der PO auf S. 299 f. verblüfft über die Volte von Nietzsche zu Kierkegaard. Kierkegaard wird nun ja dafür gelobt, dass er das „Wer“ der Orientierung von allen Unterscheidungen löst und es als „bloßes Selbst“ begreift, genauer: als bloßes Selbstverhältnis. Dieses „Selbst“ bezieht sich aber nun nicht, wie etwa im Pragmatismus, auf Akteure bzw. „Täter“ (PO, S.  294) im weitesten Sinne.15 Stattdessen kann das „Selbst“ nichts anderes mehr sein als ein „Kürzel

14 Hieraus gingen einige von Werner Stegmaier angeregte Rezensionen in den Nietzsche-Studien hervor. 15 Es geht nicht um „Problems of the Self“ im Sinne Strawsons.



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der bloßen Selbstbezüglichkeit“ (PO, S.  302). Selbstbezüglichkeit aber ist die Grundbestimmung der Orientierung. „In der Rede vom Sich-Orientieren ist das Selbst als Selbstbezüglichkeit der Orientierung schon vorausgesetzt und in der Orientierung darum nicht weiter zu begründen“ (PO, S.  302, Hervorhebung im Original). Das Selbst der Orientierung spricht nicht von sich selbst als von einem Selbst, „eben weil die Orientierung in sich kein solches Selbst unterscheidet“ (PO, S. 302). Vielmehr nimmt es „Gestalt“ an (PO, S. 303) in den Selbststrukturierungen der Orientierung, während wir von uns selbst als „ich“, „man“ oder „du“ sprechen.

4. Vorläufiges Fazit In jedem Falle sollten alle Auslegungen der PO zwischen folgenden Ebenen unterscheiden, nämlich zwischen 1. der Orientierung als selbstbezügliches Ursprungsprinzip 2. einem fluktuanten Orientierungsgeschehen 3. Orientierungssituationen mitsamt den in ihnen „gegebenen“ Umständen 4. einer ersten Grundordnung der Orientierung, bestehend aus Horizont, Standpunkt und Perspektive mitsamt den hierdurch gegebenen Spielräumen 5. diversen Orientierungswelten mit all ihren Routinen und Plausibilitäten 6. individuell zurechenbaren Orientierungsleistungen, durch die Situationen „bewältigt“ werden. Die Frage ist, ob die Ebenen hierarchisch angeordnet sind, und ob die Beziehung zwischen diesen Ebenen als eine Art von „Hervorgang“ zu verstehen ist, der beim Prinzip seinen Ursprung und Ausgang nimmt, also ein „πρόοδος“ im Sinne des Neoplatonismus wäre. Wenn diese ursprungsphilosophische Deutung der PO haltbar wäre, so wäre es letztlich ein der ἀρχή entspringendes fluktuantes Orientierungsgeschehen,16 in dessen Fluss wir treiben. Letztlich orientieren nicht wir uns an etwas, sondern wir werden in Orientierungsgeschehnissen orientiert. Unsere vermeintlichen Leistungen verdanken sich letztlich einer unvordenklichen Ursprungsmacht. Es mag freilich sein, dass diese Deutung der PO fehlgeht. Das erste Urteil hierüber steht dem Autor der PO zu. Wäre die Deutung haltbar, so dürfte, ja müsste man fragen, was Werner Stegmaier dazu bewogen haben mochte, sein „opus magnum“

16 Parallelen zu Heideggers „Seyn“ drängen sich hier natürlich auf.

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als Ursprungsphilosophie anzulegen, wo doch die Kritik an Ursprungsphilosophie zum Standardrepertoire der Gegenwartsphilosophie zählt. Und ist nicht seit Nietzsche die „wahre Welt“ unwiderruflich zur „Fabel“ geworden?

Literaturverzeichnis Angehrn, Emil (2000): Der Weg zur Metaphysik. Weilerswist. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York.

Ekaterina Poljakova

Unsicherheit der Orientierung. Drei Versuche über das Unverfügbare1 „Es ist die Grundbedingung jeder Orientierung, unter Ungewissheit zu operieren“ steht am Anfang von Werner Stegmaiers Philosophie der Orientierung (Stegmaier 2008, S. 14). Und tatsächlich – Schritt für Schritt zeigt er, wie wir, indem wir uns orientieren, Ungewissheit bewältigen. Gerade darum wird die Orientierung zum grundlegenden Bedürfnis unseres Alltagslebens und unseres Denkens – wegen der Sehnsucht, wenn nicht nach ewiger Gewissheit, so zumindest nach einer Sicherheit auf Zeit. Die Orientierung weiß sich der Zeit zu widersetzen, auch wenn sie die Zeit in ihrem Recht anerkennt. Wenn es also um Orientierung geht, geht es um deren Sicherheit. Das gilt schon für den für die Philosophie der Orientierung grundlegenden Aufsatz Kants Was heißt: Sich im Denken orientiren? (vgl. Stegmaier 2008, S. 83). Die Orientierung liegt jedem Denken und jeder Unterscheidung voraus. Freilich basiert auch sie auf einer Unterscheidung, aber auf einer, die man schon immer getroffen hat. Oder vielleicht wäre es korrekter zu sagen: die schon immer getroffen wurde, bevor „man“ sich überhaupt als in einer Situation befindlich verstehen konnte. Eine Situation mit ihren Unterscheidungen als solche einzusehen, setzt bereits Orientierung voraus. Die Orientierung ist so weder ein Gedanke noch eine Aktion. Wenn man sie mit den gewohnten Begriffen beschreiben würde, würde man sagen, sie sei ein Gefühl.2 Aber vielleicht ist es besser, selbst diese Bezeichnung zu vermeiden (vgl. Stegmaier 2008, S. 86 ff., S. 162). Denn traditionelle Unterscheidungen wie Gedanke/Emotion werden in der Philosophie der Orientierung außer Kraft gesetzt: Orientierung ist das, was ihnen zuvorkommt und sie ermöglicht. Erst wenn mit diesem „Gefühl“ etwas nicht stimmt, wenn das Bedürfnis nach Orientierung und folglich deren Mangel als solche empfunden werden, erst dann werden Unterscheidungen entwickelt, mit denen sie begründet und in Theorien aufgehoben

1 Dieser Text ist im Rahmen eines größeren Projekts Philosophischer Umgang mit dem Unverfügbaren entstanden, das mit dem Käthe-Kluth-Stipendium der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 2012–2014 ausgezeichnet wurde. 2 In Was heißt: Sich im Denken orientiren? nennt Kant die Orientierung mehrmals „Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Su bje c t “, weil es weder spekulativ noch anschaulich begründet werden kann (AA 8, 134). Kants Werke werden außer der Kritik der reinen Vernunft mit dem Hinweis auf die Akademie-Ausgabe Kant 1900 ff. (AA) unter Angabe des Bandes und der Seite zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) wird im Folgenden nach: Kant 2003 mit dem Hinweis auf die Ausgabe 1787 (B) zitiert.

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wird. Aber auch das geschieht – dies geben die historisch-philosophischen Exkurse Stegmaiers deutlich zu verstehen – nur auf Zeit. Die Anhaltspunkte der Orientierung, ob Gefühl oder theoretische Unterscheidung, stehen nicht fest, fest würden sie unbrauchbar und desorientierend wirken. Sie ändern sich ständig, indem wir uns bewegen – von einer Lebenssituation zur nächsten. Sicherheit wird dabei nur bis zu einem gewissen Moment unseres Lebens von der Orientierung her gewährt, nur solange Veränderungen der Lebenssituation unbemerkt bleiben. In einer neuen Situation muss die gewohnte Orientierung revidiert werden. Freilich kann man sich vorstellen, dass Anhaltspunkte angenommen werden können, die so weit über das konkrete Leben erhoben sind, dass sie für immer festzustehen und sicher zu sein scheinen (vgl. das Kapitel zum „Halt am ewig Unbegreiflichen“ in der religiösen Orientierung in Stegmaier 2008, S. 528 ff.). Jedoch wären sie damit in konkreten Situationen nur wenig brauchbar. In solchen müsste man dann eine andere, „nähere“ Orientierung aufsuchen.3 Doch der wichtigste Einwand gegen diese Alternative wäre, dass man Anhaltspunkte der Orientierung gerade nicht „aufsuchen“ kann. Sie sind keine Ware, die frei zur Auswahl stünde. Orientierung ist nämlich das Unverfügbare schlechthin. Zwar gewährt sie Sicherheit, selber aber ist sie keinesfalls sicher. Man kann nicht über sie verfügen. Obzwar sie uns einen sicheren Umgang mit den Dingen garantiert, kann sie selbst nicht garantiert werden. Sie kann sich ändern, ohne dass wir es verlangen noch wünschen, sie kann auch feststehen, wenn wir uns nach Veränderung sehnen. Es scheint eine offene Frage zu sein, inwiefern man sich bewusst für eine Umorientierung entscheiden kann. Wie die Antwort auch ausfallen mag, offensichtlich ist, dass einer solchen Entscheidung eine Vor-Entscheidung, einer Umorientierung eine Vor-Orientierung vorausgeschaltet ist, und dass erstere von letzterer bestimmt wird. Um die Orientierung zu beherrschen, muss man wissen, welche Entscheidungsmöglichkeiten es überhaupt gibt. Gerade dafür braucht man wiederum die Orientierung, ohne die man weder entscheiden noch handeln könnte. Die Orientierung, haben wir gesagt, ist das Unverfügbare schlechthin. Doch ist das vielleicht nicht ganz korrekt. Orientierung hat ständig mit dem Unverfügbaren zu tun – mit Lebenssituationen und den Grenzen der eigenen Spielräume. Sie erschließt damit die Grenze der Verfügbarkeit, ohne nach dieser Grenze selber

3 So ließ Clive Stapels Lewis einen Teufel ironisch empfehlen, die „Stufen des Himmels“ („the stairs of heaven“) als Abkürzung in die nächste Apotheke zu benutzen, was metaphorisch für die menschlichen Fehlversuche steht, eine gerechte Gesellschaftsordnung nach dem Evangelium zu errichten. Die ewige Wahrheit des Evangeliums lässt sich dagegen nach Lewis nicht instrumentalisieren, auch nicht für durchaus lobenswerte Zwecke. Vgl. Lewis 2000, S. 127.



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zu fragen, so wie man in einem Horizont operiert, ohne diesen selbst wahrnehmen zu können. Dafür gibt es gute Gründe. Denn wäre der Horizont wahrnehmbar, wäre er, wie in der Philosophie der Orientierung argumentiert wird, kein Horizont mehr (Stegmaier 2008, S.  196 f.). Dennoch wird die Orientierung von der Beweglichkeit des Horizonts bestimmt bzw. von der Grenze zwischen dem, was der Wahrnehmung unverfügbar bleibt und dem, was verfügbar ist oder gerade verfügbar wurde. Dies ist die grundlegende Paradoxie des Horizonts: Diese Grenze, die nicht wahrnehmbar ist, muss jedoch im gewissen Sinn wahrgenommen werden, um weitere Beobachtungen zu ermöglichen. So ist es auch mit der Grenze des Verfügbaren. Das ist die Grenze des Denkens überhaupt, über die nachzudenken heißt, sie schon zu verschieben. Hier können, wie in der Philosophie der Orientierung aufgezeigt, Paradoxien nicht vermieden werden. Die Frage ist nur, wie man mit ihnen umgeht. Im Folgenden möchte ich die Aufmerksamkeit auf die paradoxe Grundlage der Orientierung lenken. Was bedeutet die Grenze des Verfügbaren, die in der und durch die Orientierung gezogen wird? Wie kann man sie beschreiben? Kann man sich dem Begriff des Unverfügbaren anders annähern, als ihn schlicht zu negieren, indem man von Situation zur Situation auf Verfügbarkeit hinweist? Ist es zureichend, vom Bedürfnis nach Sicherheit zu sprechen? Oder muss man es nur als ein Bedürfnis deuten, dem auch ein anderes, umgekehrtes, entgegentritt: das Bedürfnis nach Erweiterung des Verfügbaren, jenseits des Sicherheitstriebs und vielleicht sogar ihm zu Trotz? Hier kann das Problem nur angedeutet werden. An drei Beispielen möchte ich zeigen, wie sich das Denken dem Unverfügbaren annähern kann, ohne die Situation der Lebensorientierung aus dem Auge zu verlieren, sondern mit dem Ziel, sie und ihre Grenzen, ihre Sicherheiten und Risiken zu erschließen. Die Beispiele sind zwar nicht willkürlich gewählt, doch sie könnten auch andere sein. Wie die Orientierung selbst, ist das Problem des Unverfügbaren für das Denken immer mehr oder weniger präsent. Es macht jedoch einen Unterschied, ob die Grenze des Verfügbaren selbst als solche anerkannt und ob über sie reflektiert wird oder ob sie schließlich negiert und als Moment eines Systems in einer geschlossenen Theorie aufgehoben wird. Die vorgeschlagene Fragestellung soll deutlich machen, dass das Unverfügbare samt seinen Paradoxien nur im ersteren Fall philosophisch ernst genommen wird. Nimmt man es in Kauf, dann auch die damit verbundenen theoretischen Schwierigkeiten. Doch gerade die Philosophie der Orientierung hat u. a. gezeigt, dass erstens die Paradoxien philosophisch produktiv sein können und dass zweitens das Denken sich vom Systematischen lösen kann, ja lösen muss, um für das Alltägliche als seiner Grundsituation offen zu bleiben, ihm näher zu kommen und es beschreiben zu können. Die folgenden drei Beispiele sollen veranschaulichen, wie die Philosophie sich dieser Aufgabe stellt, indem sie das für das Denken Unverfügbare zu denken versucht.

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Im ersten Beispiel möchte ich auf Kant zu sprechen kommen. Seine kleine Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren? bildet einen der wichtigsten Ausgangspunkte für Stegmaiers Philosophie der Orientierung. In ihr machte er die Wichtigkeit und philosophische Tiefe dieser Schrift Kants ausdrücklich zum Thema (Stegmaier 2008, S.  78–96). Hier soll vom Standpunkt einer späteren Kritik an Kant, nämlich vonseiten des Quantenphysikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, erläutert werden, was Kants Denken über Orientierung auch heute noch zu leisten vermag, u. a. wie das Unverfügbare, das als solches freilich nicht genannt wird, zu seinem eigentlichen Thema wird. Das zweite Beispiel bildet der Philosoph, der laut Stegmaier für die nach Kant „umfassendste und gründlichste Analyse des Sich-Orientierens“ steht – Martin Heidegger (Stegmaier 2008, S. 134). Hier, anders als bei Kant, wird das Unverfügbare ausdrücklich thematisiert. Mit dem dritten Exempel wenden wir uns dann einem Denker zu, dessen Werk für die Philosophie der Orientierung ebenso von erstrangiger Bedeutung ist. Die Behandlung des Unverfügbaren beim späten Wittgenstein soll zeigen, wie die Grenze des Denkbaren das philosophische Denken fortwährend beunruhigen und so für dessen Beweglichkeit garantieren kann. Die drei Beispiele sind heterogen und scheinen zunächst nur wenig gemeinsam zu haben. Was sie verbindet, ist jedoch, dass sie jeweils einen Versuch darstellen, über das Unverfügbare menschlicher Orientierung nachzudenken, indem es als solches – als ständige Irritation, als Stein des Anstoßes für ein sich nach sicheren Anhaltspunkten sehnendes Denken – anerkannt wird.

Von Kant zur modernen Physik: die Lust an (Un)passungen In seinem Buch Zum Weltbild der Physik, im Kapitel Das Verhältnis der Quantenmechanik zur Philosophie Kants, versucht Carl Friedrich von Weizsäcker Kants Kritik der cartesianischen Ontologie aus der Perspektive moderner physikalischer Erkenntnisse darzustellen und dabei, anders als z. B. Werner Heisenberg, Kant gerecht zu werden (von Weizsäcker 1958, S. 80–117).4 Er versucht, möglichst weit mit Kant mitzugehen, bis zu dem Punkt, an dem es nach heutigen wissenschaft­

4 Trotz des Tiefgangs seiner philosophischen Überlegungen hat Heisenberg den kantischen Begriff a priori deutlich missverstanden, ebenso Kants Deutung von Raum und Zeit als apriorische Formen der Anschauung. Vgl. Heisenberg 2000, S. 124 ff.



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lichen Vorstellungen tatsächlich nicht mehr möglich wäre. Schauen wir uns seine Argumentation etwas genauer an. Es geht hier u. a. um die kantische Unterscheidung von Phänomena und Noumena. Das berühmte physikalische Teilchen-Wellen-Dilemma lässt sich, so von Weizsäcker, auf diese Weise wunderbar lösen. Denn wie die Dinge „an sich“ sind, kann und darf man gar nicht beurteilen. Eine nichtklassische Theorie darf sich der klassischen Interpretationen ihrer Messergebnisse bedienen, gerade weil sie ja nicht von „Teilchen an sich“, sondern von Erscheinungen reden will (von Weizsäcker 1958, S. 104 f.). Erscheinungen sind jedoch an die Art und Weise gebunden, wie wir Menschen Dinge wahrnehmen und einordnen können. Die Behauptung ihrer Wahrheit an sich, d. h. unabhängig von dem sie wahrnehmenden und über sie urteilenden Subjekt, wäre widersinnig. Es sei daran erinnert, was Kant über das Fragen nach der „Wahrheit der Erkenntnis der Materie“ in der Kritik der reinen Vernunft sagte: Wenn einer dies fragt und ein anderer eine Antwort versucht, so würden beide, so Kant, einen „belachenswerthen Anblick“ geben, so wie wenn einer „den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält“ (KrV, B 82 f.). Nur ein formales Kriterium für die Wahrheit unserer Erkenntnisse über die Welt der Erfahrung sei möglich, „nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntniß mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“ (KrV, B 84). Also: Nur die Form der Wahrheit, v. a. die Widerspruchsfreiheit, kann allgemein wahr sein, nicht der Inhalt einer konkreten Erfahrung. Für diese gibt es kein allgemeines Kriterium. Kants Position scheint somit mit der der modernen Physik völlig kompatibel oder, wie von Weizsäcker es ausdrückt, sie lässt sich „wörtlich übertragen“ (von Weizsäcker 1958, S. 105). Die apriorischen Formen der Anschauung, die der klassischen Theorie entsprechen, behalten ihre Geltung auch für die experimentellen Erfahrungen der nicht-klassischen Physik, und solange diese sie nur auf die Phänomene bezieht, entsteht kein Widerspruch zur kritischen Philosophie Kants. Im Gegenteil: Sie erweist sich als äußerst nützlich, indem sie verhindert, dass Wissenschaftler ihre Modelle für Wirklichkeit halten. Sie ist nützlich, aber, wie von Weizsäcker zeigt, nur bis zu einem gewissen Punkt, an dem die Quantenphysik angelangt ist. Das Unheimliche der neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse besteht nun darin, dass sie allein dann als solche angesehen werden können, wenn auch das formale Kriterium der Wahrheit, d. h. die Übereinstimmung eines Urteils mit den Gesetzen der formalen Logik, nicht mehr als durchgehend geltend anerkannt wird. Sobald wir uns auf den Boden der nichtklassischen Physik wagen, verfällt das, was Kant niemals in Frage gestellt hätte, nämlich das Widerspruchsprinzip, das tertium non datur. Was nach Kant undenkbar wäre, ist „die logische Verknüpfungsform der Komplementarität“. Da „die zur Hervorbringung einer bestimmten Erscheinung notwendigen experimentellen Hilfsmittel

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das Auftreten gewisser anderer Erscheinungen unmöglich machen“, zeigt sich die logische Stimmigkeit der Erfahrung als Produkt einer willkürlichen SelbstBeschränkung des Beobachters. Dafür, so von Weizsäcker, „fehlt […] das Analogon in der Lehre Kants“. Und er fügt hinzu: „Das hängt eben damit zusammen, daß Kant die Rolle des Willens beim Aufbau der empirischen Welt nicht genug berücksichtigt“ (von Weizsäcker 1958, S. 105 f.). Dieser Wille verfahre in Willkür, freilich unter dem Zwang, sich für ein Modell zu entscheiden, das nur für gewisse Zwecke angenommen werden kann, in dem klaren Bewusstsein, dass eine solche Entscheidung willkürlich ist, dass auch andere Entscheidungen möglich sind, dass dadurch vieles, was ebenso zur Erfahrung gehört bzw. gehören könnte, ausgeschlossen werden muss. Und so von Weizsäcker: [E]s zeigt sich, daß eine du rchgä ng ige Verknüpfung aller Erfahrungen in einem klassischen Modell nicht möglich ist, und daß wir nur zu wählen haben, wo wir durch experimentelle Nachprüfung klassische Verknüpfungen schaffen wollen und wo nicht. (von Weizsäcker 1958, S. 107, meine Kursivierungen – E.P.)

Der Ausdruck „es zeigt sich“ weist auf etwas, was das Denken nicht vorhersehen kann, was also für das Denken unverfügbar ist. Es zeigt sich etwas, was nicht nur von der klassischen Theorie her nicht vorhersagbar war, sondern was auch den anscheinend unveränderlichen Bedingungen unserer Erfahrung selbst widerspricht. Es ist nicht bloß das Scheitern einer allgemeinen Theorie. Es ist, wie von Weizsäcker im Anschluss an Heisenberg sagt, das Scheitern unseres Weltbildes, und Heisenberg hätte selbst hinzugefügt: unserer Sprache. Doch das ist immer noch zu wenig gesagt, liegt darin doch eine grundlegende Veränderung, nicht bloß in dem, was wir verstehen, sondern in dem, was wir unter Verstehen verstehen – eine Erschütterung der Grundlage unseres Denkens, seine Des- und Umorientierung. Diese Veränderung, dieses Sich-Zeigen des Unverfügbaren ist doppelt wichtig: Es zeigt sich, dass das Denken über die eigenen Grenzen (auch die formalen Grenzen, die Grenzen der Logik) zwar nicht verfügen kann, dass aber diese Unverfügbarkeit nicht unveränderlich bleibt, sondern im Moment ihrer Entdeckung verfügbar gemacht werden kann. Von Weizsäcker benutzt für diese verfügbare Unverfügbarkeit den alten Begriff des Willens. Und das nicht zu Unrecht. Denn traditionell steht gerade der Wille für das Verfügen über das Unverfügbare, für das Beherrschen dessen, was durch dieses Beherrschen erst entsteht. Der Wille steht ferner für die Spaltung der Welt in Alternativen, in einander ausschließende, in ihm aber zusammenfallende und durch ihn erst entstehende Möglichkeiten. Es zeigt und meldet sich etwas, das nicht bloß von der sinnlichen Wahrnehmung herkommt, sondern vom Willen, der darüber bis zu einem gewissen



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Grad verfügt, wie sich Erfahrung zeigt, der dabei aber an seine Grenzen stoßen muss. Und gerade darum geht es hier – um diesen Anstoß, nicht um abstraktes Wissen. Es handelt sich nicht darum, eine neutrale, gegen uns gleichgültige Welt in ein kohärentes System der Erkenntnis einzuschließen, sondern darum, dass wir unsere Grenzen erfahren, um sie so eventuell entgrenzen zu können, dass wir neu definieren, was es bedeutet, etwas zu ‚verstehen‘.5 Der Wille ist damit das Vermögen über die eigenen Grenzen, über das eigene Verstehen zu verfügen. Wenn er sich als solches entdeckt hat, kann man sich nicht bedingungslos an allgemein-formale Kriterien der Logik halten, freilich kann man auf sie auch nicht völlig verzichten, sondern muss entscheiden können, wann und wo man sich an sie hält und wann man ihnen nicht mehr so streng folgen sollte. So wird die Grenze der Verfügbarkeit durch den Willen des Wissenschaftlers zwar nicht aufgehoben, aber doch verschoben. Dennoch ist der von Weizsäcker angesprochene Wille sicherlich nicht der Wille in einem klassischen Sinn, kein souveräner Wille eines Subjekts, der gleichsam dem Nichts entspringt. Gemeint ist nicht der Wille wie z.  B. Kant ihn verstand, als „Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ (AA 6, 211) Vielmehr könnte man das, was hier gemeint wird, mit einem anderen kantischen Begriff beschreiben: der Vernunftglaube. Die Vernunft wird durch eigene Bedürfnisse gedrängt und muss folglich gewisse, feste Anhaltspunkte annehmen, obwohl sie sich zugleich eingestehen muss, dass die objektiven Gründe einer solchen Annahme nicht einsehbar sind. Diesen Gedanken findet man in Kants Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren?. Hier sagt Kant ausdrücklich, dass die Vernunft, obwohl sie zweifellos der alleinige „Probirstein der Wahrheit“ ist (AA 8, 140), sich im Ungewissen orientieren muss. Und woran kann und darf sie sich dabei halten? Nur an sich selbst, an ihr eigenes Bedürfnis. In dieser Suche nach Sicherheit der Orientierung zeigt sich die Vernunft jedoch gerade als Wille. Die Vernunft in ihrem konkreten Gebrauch ist der Wille nach Orientierung, der vom Bedürfnis getrieben wird. Auch wenn Kant das formale Kriterium der Wahrheit – die Widerspruchsfreiheit – tatsächlich für einen unveränderlichen Anhaltspunkt der Vernunft hielt, war es aus seiner Sicht für deren konkreten Gebrauch unzureichend. Für Letzte-

5 Vgl. hierzu Heisenbergs Erinnerung an ein Gespräch mit Niels Bohr: „Ich fragte Bohr daher: ‚Wenn die innere Struktur der Atome einer anschaulichen Beschreibung wenig zugänglich ist, wie Sie sagen, wenn wir eigentlich keine Sprache besitzen, mit der wir über diese Struktur reden können, werden wir dann die Atome überhaupt jemals verstehen?‘ Bohr zögerte einen Moment und sagte dann: ‚Doch. Aber wir werden dabei gleichzeitig erst lernen, was das Wort verstehen bedeutet.‘“ (zit. nach: Audretsch 1990, S. 17). „Lernen“ kann man das aber vielleicht nur auf Zeit.

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ren brauchte man auch weitere Anhaltspunkte, die nur subjektiv, als Vernunftglaube, angenommen werden konnten, die nur daran zu messen waren, ob sie der Vernunft tatsächlich Halt gewährten und so ihre Sehnsucht nach Sicherheit stillen konnten – in Abgrenzung von Unsicherheiten der alltäglichen Erfahrung.6 Der Vernunftglaube ist somit Kants Analogon zum Willen des Wissenschaftlers, der über bestimmte Verknüpfungen der Erfahrungen entscheiden muss. Er ist „bloß subjectiv, nämlich ein nothwendiges Bedürfniß der Vernunft“, sich dort zu orientieren, wo kein Wissen möglich ist (AA 8, 141). Die Vernunft verdient nach Kant nur dann ihren Namen, wenn sie der Erfahrung, ja dem Leben selbst, dienlich ist.7 Die Vernunft in ihrem konkreten Gebrauch ist aber die Urteilskraft. Hier – in der Kritik der Urteilskraft – bedachte Kant Vieles neu und setzte in Bewegung, was zu Beginn seines kritischen Unternehmens eher statisch konzipiert war. Hier kommt der „Wille“ von Weizsäckers ausdrücklich ins Spiel – der Wille, der über bestimmte Ordnungen entscheiden muss, obwohl er dies nicht durchgehend machen kann und um die Alternativen weiß. Die reflektierende Urteilskraft erschafft Ordnungen, derer sie bedarf. Das einzige Kriterium, das Kant für sie findet, und das hieße eigentlich für das Denken selbst (denn nur die reflektierende Urteilskraft kann m. E. mit dem „Denken“ identifiziert werden), sei das Gefühl von Lust und Unlust.8 Das ist die Lust an Passungen – an Passungen, für die keine Regel angegeben werden kann, selbst nicht dafür, was als das Passen gelten soll. Damit wird das Lustgefühl – ein Gefühl, das vom Willen, Ordnung in der Welt zu schaffen, geleitet wird, der seinerseits vom Bedürfnis, sich im Gegebenen zu orientieren, getragen wird und ohne dieses Bedürfnis nicht gerechtfertigt wäre, – zur eigentlichen Grenze einer wissenschaftlichen Theorie. Als Kant die Lust an Passungen zum Leitfaden des Wissenschaftlers erklärte, blieb also weder der Wille noch eine gewisse Willkür bei ihm unberücksichtigt, die von Weizsäcker meint, wenn er von dem Willen spricht, klassische Verknüpfungen auf Quantenvorgänge anzuwenden.9 Denn

6 In Stegmaiers Interpretation ist Kant „davon ausgegangen, dass die Vernunft stets eines ‚Standpunktes‘ bedarf, von dem aus sie sich jeweils auf das Nicht-Vernünftige, die sich unablässig verändernde Welt beziehen kann“ (Stegmaier 2008, S. XVIII). 7 Vgl. den Gedanken Josef Simons, Kants kritisches Denken stehe nicht im Dienst des puren, abstrakten Wissens, „sondern des Lebens mit dem Zweck, einen vernunftgemäßen Begriff des Wissens in seiner Bedeutung für das Leben zu vermitteln“ (Simon 2003, S. 6). 8 Vgl. die Passage zum „Gefühle der Lust und Unlust, als dem Mittelgliede zwischen dem Erkenntnißvermögen und Begehrungsvermögen“ (AA 5, 168). Vgl. ferner AA 5, 178, 186 ff. 9 Vgl. den Anfang des Aufsatzes Was heißt: Sich im Denken orientiren?, wo Kant versucht zu beschreiben, wie die Logik selbst mit Hilfe „manche[r] h e u r i s t i s ch e [ n ] Methode“ entstanden



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Willkür ist auch dort keine Beliebigkeit, sondern von der Not her bestimmt: „daß wir zu wählen haben“ (s. o.). Selbst von Weizsäckers mäßige Kant-Kritik, so wollte ich damit andeuten, geht an diesem vorbei. Jedoch bringt sie einen wichtigen Punkt zum Ausdruck, der bei Kant vielleicht nicht explizit genug thematisiert wurde. Als Leitfaden der reflektierenden Urteilskraft kann nach Kant nur die Lust an Passungen dienen, denn dadurch, dass die Erfahrung sich einordnen lässt, merkt der Mensch, dass er selbst „in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“ (AA 16, 127). Was dabei ungesagt bleibt, ist, dass diese Lust nur dann möglich ist, wenn dies nicht immer geschieht. Dass etwas nicht immer oder sogar größtenteils gerade nicht „passt“, anders gesagt: dass etwas für das Denken unverfügbar bleibt, ist die notwendige Bedingung dieser Freude. Und gerade dadurch, dass etwas nur gelegentlich „passt“, dass man nur gelegentlich über die eigene Erfahrung im Denken verfügt – ich würde von Weizsäckers Kritik an Kant an dieser Stelle Recht geben –, erkennt die Vernunft sich selbst als Willen, als Willen zur Erschaffung von Ordnungen, der von der Not, sich zu orientieren, getrieben ist. Hier kommt die Philosophie der Orientierung uns wieder zu Hilfe. Die Orientierung ist eine Art „Oszillation“ „zwischen Beruhigung und Beunruhigung“ (Stegmaier 2008, S.  164). Nicht nur Unpassendes und Fremdes kann beunruhigen, sondern auch umgekehrt – Gewohntes, Immer-Passendes und Routiniertes, das sich nicht ändert. „Die Lust an Veränderung ist eine Lust an der ‚Lebendigkeit‘ der Orientierung“ (Stegmaier 2008, S. 165). Und nicht nur an Veränderung selbst, sondern daran, was sie veranlasst – das, was gerade nicht in unser Weltbild passt. So entsteht eine Vermutung, die an Kants Kriterium der Urteilskraft angeschlossen werden kann, dieses aber in Frage stellt. Speist sich die Lust an Passungen vielleicht gerade dadurch, dass nicht immer alles passt, d. h. durch das, was sich gelegentlich als unverfügbar zeigt? Gibt es vielleicht eine Unlust an Passungen, an Bekanntem, an dem, was zwar verfügbar ist, jedoch gerade dabei uninteressant und sogar beunruhigend wirken kann? Gehören Passungen und Unpassungen, das Verfügbare und das Unverfügbare, in der Orientierung vielleicht zusammen so wie die Beruhigung und die Beunruhigung, so wie der Sicherheitstrieb und der Mut zu Veränderungen, sei es auch die Veränderung einer Theorie? Vielleicht bezog sich von Weizsäckers Unzufriedenheit auf diese Einseitigkeit des Kriteriums für die reflektierende Urteilskraft, als er sagte, dass Kant den Willen „beim Aufbau der empirischen Welt nicht genug berücksichtigt“ habe. In derselben

ist, welche Methode jedoch „in dem Erfahrungsgebrauche unseres Verstandes und der Vernunft vielleicht noch verborgen“ liegt (AA 8, 133).

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Orientierungsschrift hat Kant doch die „Festigkeit des Glaubens“ an „das Bewußtsein seiner Unveränderlichkeit“ geknüpft (AA 8, 141, Anm.  5). Er hat damit „das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls“, wie Nietzsche dies später zum Ausdruck bringen wird, zur einzigen Grundlage nicht nur der Erkenntnis, sondern des Denkens selbst erklärt (FW 355; vgl. dazu Stegmaier 2008, S. 164 f.). Jedoch zeigt dieses Frohlocken an, dass es eher eine Ausnahme, nicht eine Regel sein kann. Anders formuliert: Nur Unpassendes kann eine Wende im Denken verursachen, nur so wird das Denken sensibel für seine Grenzen und aufmerksam für seine Plausibilitäten, für die Anhaltspunkte, die weder alternativlos sind noch feststehen (zum Begriff der Plausibilität(en) vgl. Stegmaier 2008, S.  14  ff). Was wäre das Denken, ohne an die eigenen Grenzen zu stoßen? Es wäre das, wozu es immer tendiert – ein in sich geschlossenes System, das unsere Alltagserfahrung kaum berührt; ein System, das von aller Erfahrung abstrahiert und deshalb gerade nach Kant für die Erfahrung untauglich wird. Ein Denken, das nicht gelegentlich an die eigenen Grenzen käme, wäre selbstbezüglich und leer. So könnte man Kants berühmte Formel (Anschauungen ohne Begriffe seien blind, Gedanken aber ohne Inhalte seien leer (KrV B 75)) auf unsere Überlegungen anwenden und dadurch, nebenbei gesagt, die kantische Form-Inhalt-Unterscheidung preisgeben. Das Bedürfnis nach einer sicheren Orientierung, das Kant zur Grundlage des unveränderlichen Vernunftglaubens erhob, ist so nicht das einzige. Ihm wirkt ein anderes Bedürfnis entgegen. Indem das Denken an seine eigenen Grenzen stößt, insofern sich ihm etwas als unpassend zeigt, macht es das Unverfügbare zu seinem eigentlichen Gegenstand, von dem es in Frage gestellt und gleichzeitig herausgefordert wird, sich als Denken zu behaupten. Das Denken wird so vom Willen, über das Unverfügbare zu verfügen, getragen und so auch vom Bedürfnis nach Sicherheit, aber nicht weniger von dem Bedürfnis, diese Sicherheit bisweilen in Frage zu stellen, die eigenen Grenzen zu erschließen, um so das zu revidieren, was seine unveränderliche Grundlage zu sein scheint. Es gilt, wie wir gleich bei Heidegger sehen werden, dass man sich auf das Unverfügbare einlassen muss, um neue Seins- und Denkmöglichkeiten zu entdecken – jenseits aller Anhaltspunkte, die einen sicheren Gang des Wissens garantiert hatten.

Heidegger: sich dem Sein zur Verfügung stellen In demselben Buch Zum Weltbild der Physik schrieb von Weizsäcker, Heidegger habe in Sein und Zeit „diejenigen denkerischen Aufgaben angegriffen“, die „im Hintergrund der modernen theoretischen Physik“ liegen, doch ganz unabhängig von dieser (von Weizsäcker 1958, S.  243). „Die Auflösung der überlieferten



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Begriffe von Raum, Zeit, Materie, Determination erzeugt in jedem Menschen, der ihr ernstlich begegnet, zunächst das Gefühl, vor dem Nichts zu stehen. […] In Heideggers Philosophie wurde aber das Nichts ausdrücklich zum Thema“ (von Weizsäcker 1958, S.  244).10 Die Orientierung wird bei Heidegger daher zum schwerwiegendsten Problem, dessen Lösung der Philosophie dringend empfohlen wird. Laut Stegmaier habe Heidegger die Orientierung zur „Grunddimension der Philosophie“ gemacht und in Sein und Zeit eine „tiefgreifende[] Phänomenologie der Orientierung“ vorgelegt (Stegmaier 2008, S. 135). Seine Analyse des Sich-Orientierens stützt sich dabei ausdrücklich auf die Unterscheidung zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren, die sich für das Denken als grundlegend erweist. Dabei wird nicht nur gefragt, ob und wie das Denken über die eigenen Grenzen verfügen kann, sondern auch, wie sich das Dasein von fremder Herrschaft, die über das Dasein selbst verfügt, wie das Denken sich von vermeintlicher Sicherheit befreien und seine eigentlichen Seins- bzw. Orientierungsmöglichkeiten entdecken kann. Was Heidegger ,Welt‘ nennt, ist zuerst das schlechthin Verfügbare. Heideg­ gers Analyse des Daseins geht zunächst von einer „umsichtig orientierte[n] Verfügbarkeit eines zuhandenen Zeugganzen“ aus, das als „Verweisungszusammenhang“ die „Weltlichkeit der Welt“ entdecken lässt (Heidegger 2006, S.  80; vgl. Stegmaier 2008, S. 138). Doch das Verfügbare zeigt auch das Unverfügbare an. Im Entgleisen, im Ungehorsam, im Widerstand, welche die Welt dem Dasein entgegenbringt, meldet sich die Grenze des Verfügbaren und gleichzeitig seine Unverborgenheit. Und so entsteht die Frage nach dem Sein: als Orientierung an der Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein, einer Grenze, über die man nicht verfügen kann. Oder genauer gesagt, gerade das „Man“ erhebt den Anspruch, auch über sie zu verfügen, sie definieren zu können. Das ist nach Heidegger die Quelle der „Machenschaft“. Durch sie wird diese Grenze für das Dasein unsichtbar; das Unverfügbare wird quasi-verfügbar; die Frage nach dem Sein gerät in Vergessenheit. Doch dann meldet sich das Unverfügbare wieder, unabwendbar, indem das Sein als etwas Bekanntes, als das Naheliegende, als das Nächste und gleichzeitig als das Fernste und Unverständlichste entdeckt wird.

10 Hier könnte man allerdings erwidern, dieses „Gefühl, vor dem Nichts zu stehen“, bekäme man viel früher. Der Glaube an die Wissenschaft im Sinne objektiver Begrifflichkeiten und Vorgänge war schon für Nietzsche ein mythologischer Glaube, ein Vorurteil des Erkennenden. Schließlich war es Nietzsche, der sagte: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, — er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg — wohin? in’s Nichts? in’s „durchbo h re n d e Gefühl seines Nichts“?“ (GM III 25, KSA 5.404)

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Die Frage nach dem Sein (und später nach dem Seyn) kann man so als Thematisierung der Grenze des Verfügbaren, als Inkaufnahme ihrer Unverborgenheit und Unverfügbarkeit bei Heidegger verstehen. Auf diese Thematisierung, so meine Interpretation, läuft die ganze Phänomenologie des Daseins und seiner Orientierung in der Welt hinaus. In seiner Analytik des Daseins ist Heidegger zunächst auf das Verfügbare fokussiert, auf das, was diesseits dieser Grenze liegt und die Orientierung sicher und unproblematisch macht. In Sein und Zeit ist es der Sinn vom Sein, der „schon in gewisser Weise verfügbar sein“ muss, das „verfügbare Seinsverständnis[]“, das jeder hermeneutischen Bewegung vorausgehen soll (Heidegger 2006, S. 5). Das in den Fokus der Analyse rückende Dasein soll so gedacht werden, dass es „das umweltlich begegnende Seiende ausdrücklich entdecken, darum wissen, darüber verfügen, die ‚Welt‘ haben“ kann (Heidegger 2006, S.  58). Und das ursprünglich und „eigentlich“, so dass das Dasein ursprünglich „in Wahrheit“ steht und diese Wahrheit selbst ist. Das Verfügen-Können ist somit der primäre Modus im Umgang mit dem Unverfügbaren. Dann jedoch offenbart sich das Unverfügbare als solches. Das Dasein entgleist seiner Welt. Heidegger betont in Sein und Zeit unermüdlich, dass diese Entgleisung zum Sein des Daseins selbst gehört, darum also nicht negativ bewertet werden darf. Schließlich muss das Zuhandene seine „Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit“ zeigen und so „seiner Zuhandenheit verlustig“ gehen (Heidegger 2006, S. 74). Im Anschluss an Dilthey (und latent auch an Nietzsche) betrachtet Heidegger die Widerständigkeit der Welt als ihre Realität (Heidegger 2006, S. 209). Dies sei „die Undienlichkeit, Widerständigkeit, Bedrohlichkeit des Zuhandenen“ (Heidegger 2006, S.  137). Hier meldet sich etwas, was die verfügbare Welt sprengt, was für Unruhe sorgt. Das VerfügenKönnen entpuppt sich als Einbildung, und das ratlose Dasein kann nicht anders, als sich in „Gerede“ zu verlieren. Das unvermeidliche Entgleisen aus dem vertrauten Verfügen des Daseins über die eigene Welt und so auch aus der sicheren Orientierung an die angeblich klaren Seinsmöglichkeiten ruft zum Fragen und zur „Zeichenstiftung“ (Heideg­ger 2006, S. 80) auf, führt schließlich weg von der „verfügbaren Zeugganzheit“ (Heidegger 2006, S. 103), hin zu Sorge und Angst, zu fremder Herrschaft, die, wie schon gesagt, im unpersönlichen „Man“ über „die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins“ verfügt (Heidegger 2006, S. 126). Nun herrscht das Dasein nicht mehr über die Welt, sondern umgekehrt: Es wird beherrscht, und zwar von einem unpersön­lichen „Man“, das alle sind und niemand ist. „[D]er Entwurf des Seinkönnens seiner selbst ist [nun] der Verfügung des Man überlassen“ (Heidegger 2006, S. 193). Doch das „Man“ verbürgt vermeintlich die eine „verfügbare und herrschende Erschlossenheit des Daseins“ (Heidegger 2006, S. 177). Die Unverfügbarkeit der Seinsmöglichkeiten wird durch seine Herrschaft wesentlich verdunkelt.



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Hier ist wichtig, zu betonen: Die Unverfügbarkeit der Welt kann vom Dasein bei Heidegger nur um den Preis entdeckt werden, dass das Dasein sich verliert und so selbst verfügbar wird, dass jemand oder etwas über es verfügt – zunächst das unpersönliche „Man“ mit seiner vermeintlichen Herrschaft. In der ursprünglichen Eigentlichkeit des Verfügens, wie Heidegger sie sich vorstellte (von einem Handwerker her), konnte das Dasein über die wahre Unverfügbarkeit der Welt nichts wissen. Das heißt aber: Es war noch kein Dasein, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, kein fragendes, kein sorgendes und kein sich fürchtendes Dasein. Es meinte nur, über alles zu verfügen, was in seine Nähe kam. Nur in diesem Zustand war eine sichere Orientierung in der Welt möglich. Man könnte dies als tierisch und glücklich-ursprünglich bezeichnen, in dem Sinn, dass dieser hypothetische Zustand für das menschliche Dasein schon immer verloren ist. Anders gesagt: Das Dasein, das dem Unverfügbaren nicht begegnete, ist kein Denken – noch nicht mal sein Anfang, der zu einer dialektischen Bewegung führen könnte. Es ist dem Denken ebenso fern wie das „Man“, das selbst über den Tod zu verfügen glaubt (Heidegger 2006, S. 261). Mehr noch: Erst wenn das Dasein entdeckt, dass nicht „ein besorgendes Verfügbarmachen eines Wirklichen“, sondern die „Möglichkeit des Möglichen“ in das Eigentliche zurückführen kann, wird es der Herrschaft des „Man“ entrissen. Das heißt (so zumindest könnte man es interpretieren), dass nicht die Wirklichkeit des Verfügbaren, sondern die Möglichkeit des Zukommenden, d. h. des Unverfügbaren schlechthin, das Dasein zu sich selbst zurückführt. In der Sprache der Orientierung: Erst wenn die Orientierung ihre Sicherheit verliert, kann sie als solche entdeckt werden, samt den Möglichkeiten, die in ihr verborgen sind, samt den grundlegenden Unsicherheiten und Risiken, die mit ihr unzertrennlich verbunden sind. In Heideggers Sprache: Das über die Welt verfügende Dasein wird zu einem nach dem Sinn des Seins fragenden Dasein, die Macht über das Sein wird zur Ehrfurcht vor der Wahrheit des Seins, die Philosophie wird zum Denken. Das Dasein soll so nach Heidegger auf das Zukommende, auf das Unbeherrschbare und Unverfügbare schlechthin ausgerichtet werden. Es soll entdecken, dass es nicht nur über seine Welt nicht verfügt, sondern selbst dem Unverfügbaren zur Verfügung steht. „Nur sofern Widerständiges auf dem Grunde der ekstatischen Zeitlichkeit des Besorgens entdeckt ist, kann sich das faktische Dasein in seiner Überlassenheit an einer ‚Welt‘, deren es nie Herr wird, verstehen.“ (Heidegger 2006, S. 356) So also wurde das Thema in Sein und Zeit behandelt. Nach Heideggers ‚Kehre‘ rückt das Unverfügbare noch stärker in den Fokus, es wird zum eigentlichen Thema seiner Philosophie. In den Beiträgen zur Philosophie wird das philosophische Denken selber, wie Werner Stegmaier betont, zum Sich-Orientieren, indem es den Weg bahnt und vorbereitet, indem es Menschen als in der „Fuge“ des Seyns stehend entdeckt (Stegmaier 2008, S. 141). Hier steht der Mensch wieder zur Ver-

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fügung – nicht mehr dem vermeintlichen „Man“, sondern einem zukommenden und schlechthin unverfügbaren Ereignis des Seyns. Vgl. bei Heidegger: „Und fügend in die Fuge des Seyns stehen wir den Göttern zur Verfügung.“ (Heideg­ ger 1989, S. 18) Anschließend fragt Heidegger: „Zur Verfügung den Göttern – was meint dies? […] Jenes Wort meint: zur Verfügung für das Gebrauchtwerden in der Eröffnung des Offenen.“ (Heidegger 1989, S. 18) Nun soll sich das Dasein, indem es das Unverfügbare entdeckt und sich so der Herrschaft des „Man“ entreißt, dem Ereignis des Seyns und seiner Göttlichkeit zur Verfügung stellen. Um alle normativen und mythologischen Untertöne zu vermeiden, kann man auch sagen, dass der Mensch nur dann das Unverfügbare entdecken kann, wenn er sich ihm selbst zur Verfügung stellt, wenn er sich auf das Mögliche und Zukommende ausrichtet. Der Mensch steht dem Seyn, dem Ereignis, dem zukommenden Gott zur Verfügung. Nur dann kann er über die Seinsmöglichkeiten, über das Unverfügbare schlechthin verfügen.11 Das Unverfügbare, das zuerst in der Frage nach dem Sein aufkommt, wird beim späten Heidegger als Ereignis gedeutet, dem der Mensch sich hörend und denkend annähert. Das Denken kann und darf nicht bei der vermeintlich sicheren Orientierung im Verfügbaren – beim „Man“ – bleiben. Wird das Unverfügbare aber entdeckt, wirkt es desorientierend und umorientierend zugleich. Sich für diese Erneuerung offen zu halten, gehört nach Heidegger zum Denken und steht dem Sicherheitstrieb entgegen, der sein Ziel ständig verfehlen muss. Dem grundlosen Seyn zur Verfügung zu stehen, heißt gerade auf alle Sicherheiten zu verzichten, sich dem Unverfügbaren anzuvertrauen, ohne Garantien und ohne Begründung, warum dies getan werden soll.

Wittgenstein: „eine große Lücke in meinem Denken“ Ludwig Wittgenstein ist ein weiterer Denker, der sich beiden Problemen – dem der Orientierung und der Frage nach deren Gewissheit bzw. der Grenze des Verfügbaren – stellte. Theoretische Probleme der Philosophie führte er zuerst auf die logische Analyse der Sprache zurück, durch die sie sich als Scheinprobleme erwiesen; später prüfte er sie am alltäglichen Sprachgebrauch. Die Philosophie wurde so beim späten Wittgenstein zu einer Art Selbsttherapie theoretischer

11 Ralf Becker hat diesen Gedanken mit der Formel „unverfügbare Verfügbarkeit“ beschrieben. Das trifft m. E. den Sinn von Heideggers ‚Kehre‘. Vgl. Becker 2004.



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Fragestellungen. An sie richtete er eine paradoxe Forderung, den alltäglichen Sprachgebrauch nicht anzutasten – so als ob die Philosophie für diesen eine Bedrohung darstellte (vgl. Wittgenstein 1984a, S. 124). Und tatsächlich schien dem Autor der Philosophischen Untersuchungen die Philosophie desorientierend auf die Alltagssprache zu wirken. Seine ganze Philosophie kann so, wie Werner Stegmaier formuliert, als Beantwortung der Frage „Was heißt: Sich in der Sprache orientieren?“ angesehen werden (Stegmaier 2008, S. 128). Dass man das nicht lernen kann (und den Sprachgebrauch deshalb vor der Bedrohung weder schützen kann noch muss), folgt daraus, dass die Steuerung der Sprache durch ein Subjekt weder nötig noch möglich ist. Aufgabe der Philosophie sei dementsprechend das „Schauen“ und nicht das „Denken“, das Beschreiben und nicht das Unterweisen (vgl. die Beschreibung der Methode, die Stegmaier seiner Philosophie der Orientierung vorausschickt (Stegmaier 2008, S. 33)). Philosophie nach Wittgenstein soll also vor allem die Unverfügbarkeit ihres Gegenstandes verstehen und akzeptieren. In seiner logischen Analyse der Sprache im Tractatus logico-philosophicus wies Wittgenstein auf ihre Grundlage hin als auf das für sie schlechthin Unverfügbare.12 Das ist das „Unaussprechliche[ ]“ (TLP 6.522), das jedoch nicht im Sinne von etwas Verborgenem missverstanden werden darf, das man quasi nicht erreichen kann, obzwar gern erreichen möchte. Es ist nicht verborgen, sondern es „zeigt sich“ wie unser Leben und wie die Logik unserer Sprache. Letztere zählt selbst zum Mystischen, das am Ende des Tractatus als das Rätselhafte des Lebens thematisiert wird, das, wenn wir es enträtseln wollen, zum Problem des Lebens wird. Probleme würden jedoch verschwinden, wenn man die Logik der Sprache begriffen und ihre Grenzen gekannt hätte. Gerade dies schien im Tractatus der Fall zu sein. Wittgenstein rühmte sich im Vorwort, alle Probleme der Philosophie „endgültig gelöst zu haben“. Freilich musste er gleich anmerken, „wie wenig damit getan ist“ (TLP 6.521). Diese Lösung stimmte den Autor des Tractatus jedoch nicht zufrieden. Denn es scheint so, als ob wir in unserer Welt – in der Welt sinnvoller Sprache – wie in einem Käfig eingeschlossen sind. Und das „Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos“ (Wittgenstein 1989, S. 19). Ist es dennoch sinnvoll, über den Käfig zu sprechen?13 Ist damit nicht eine Art Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht, die wieder zum Problem werden kann? Mehr noch: Das „Anrennen“ ist zwar aussichtslos, aber deshalb nicht gänzlich ohne Sinn. Am Ende seines Vortrag

12 Der Tractatus (TLP) wird nach der Ausgabe: Wittgenstein 1984b mit Angabe des entsprechenden Paragraphen zitiert. 13 Vgl. die private Aussage Wittgensteins, die gerade das Gegenteil behauptet: „Anrennen gegen die Grenzen der Sprache? Die Sprache ist ja kein Käfig.“ (Waismann 1965, S. 14)

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über Ethik sagt Wittgenstein, dieses Anrennen sei ein „Zeugnis eines Dranges im menschlichen Bewusstsein“, das er seinerseits „nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde“ (Wittgenstein 1989, S. 19). Die Probleme, die im Tractatus zum Verschwinden gebracht werden sollten, tauchen bei Wittgenstein später wieder auf. Zu fragen, was den Sprachspielen zugrunde liegt, was diese beschränkt und wie sie sich ändern können, ist zwar aussichtslos, jedoch nicht sinnlos. Es steht damit wie mit dem Staunen über die Existenz der Welt. Letzteres macht offensichtlich keinen Sinn, zumindest keinen, den man widerspruchsfrei ausdrücken könnte, und dies deshalb, weil man sich die Welt nicht als inexistent vorstellen kann. Trotzdem bringt dieses Staunen etwas zum Ausdruck – eine Haltung gegenüber der Welt und deren Unverfügbarkeit, die u. a. von der Wissenschaft ausgeblendet wurde. Und tatsächlich sagt Wittgenstein an einer Stelle: „zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist ein Mittel, um ihn wieder einzuschläfern“ (Wittgenstein 1984c, S. 457). In einer Notatsammlung, die unter dem Titel Über Gewißheit posthum veröffentlicht wurde, stellt Wittgenstein sich den von ihm gleichsam zum Verschwinden gebrachten Problemen erneut.14 Hier gebraucht er die Metapher eines Flussbetts. In unserem Weltbild, so Wittgenstein, in allem, was wir als unser Wissen verstehen, was uns als Gewissheit vorkommt und die Grenzen der sinnvollen Sprache markiert, könne man die „erstarrten“ und die „flüssigen“ Erfahrungssätze unterscheiden, die festen Stellen, an denen man sicher sein kann, und die, die weniger sicher sind. Doch diese Sicherheit steht selber nicht fest. Denn das Verhältnis ändert sich „mit der Zeit“ (ÜG 96): Die „erstarrten“ Sätze sind quasi „Gesteine“ (ÜG 99), die „das Flußbett der Gedanken“ bilden, das uns immerwährend zu sein scheint. Aber „zwischen der Bewegung des Wassers im Flussbett und der Verschiebung“ des Flussbetts gibt es keine scharfe Trennung (ÜG 97). Genauso – und auf diesen Vergleich zielt Wittgenstein – wie es keine scharfe Trennung zwischen einem Irrtum und einer Geistesstörung gibt (ÜG 73) bzw. „zwischen den Fällen, in denen ich mich nicht, und solchen, worin ich mich schwerlich irren kann“ (ÜG 673). Denn, so Wittgenstein: „Man wird oft von einem Wort behext. Z. B. vom Wort ‚wissen‘“ (ÜG 435). Die „Verhexung“ durch Sprache (und davon ist auch in den Philosophischen Untersuchungen die Rede (Wittgenstein 1984a, S.  299)) liege gerade in der Illusion einer klaren Trennung des Gewissen und Ungewissen und d. h. in der Illusion einer andauernden Sicherheit – der Unveränderlichkeit des Sprachspiels. Durch die Überzeugung, dass manche von unseren „Aussagen nicht falsch sein

14 Über Gewißheit (ÜG) wird nach der Ausgabe: Wittgenstein 1984d mit Angabe des entsprechenden Paragraphen zitiert.



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können“ (ÜG 436), scheint uns alles verfügbar zu sein, selbst Gott scheint „durch unser Wissen gebunden“ zu sein. Gelegentlich – und das ist das Faszinierende und Beunruhigende unseres Lebens, das Problematische schlechthin – zeigt sich jedoch, dass die „erstarrten“ Teile unserer Sprache eventuell in Frage gestellt werden können – auch wenn sich damit gleich das ganze Sprachspiel verändern muss, d. h. alles, was wir als unser „Wissen“, als Gewissheit des Sprachspiels, als dessen Boden und Flussbett verstehen. Die Gewissheit der „Gesteine“ als solche zu begründen und von den „sandigen“ Teilen des Flussbettes zu unterscheiden, bleibt allerdings ein Problem, das weder von der Philosophie noch von dem Sprachspiel her gelöst werden kann. Wittgenstein notiert sich dazu in Klammern: „[Hier ist noch eine große Lücke in meinem Denken. Und ich zweifle, ob sie noch ausgefüllt werden wird.]“ (ÜG 5.4.) Wenn man bedenkt, dass dieses Notat spätestens ein Jahr vor seinem Tod gemacht wurde, kann man die Probleme, die hier angesprochen werden, ohne Übertreibung als die schwersten bezeichnen. Und dennoch ist es kein bloßes Scheitern, das hier festgestellt wird. Das positive Ergebnis dieser späten Überlegungen Wittgensteins ist die Zurückweisung einer Vorstellung, nach der das Sprachspiel samt seinen Grenzen erschlossen und festgelegt werden kann, – eine Vorstellung, die wir, wie er in den Philosophischen Untersuchungen sagte, einer „Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (Wittgenstein 1984a, S. 299) zu verdanken haben. Auch Sprachspiele verändern sich wie das Flussbett eines Flusses. Die „Verhexung“ kann zwar nicht aufgehoben werden, aber sie bleibt nicht ewig, sondern ändert sich mit der Zeit. Unverfügbares kann wieder verfügbar werden. Die Metapher des Käfigs, gegen dessen Wände anzurennen aussichtslos wäre, scheint hier zu versagen. Die Wände können zwar nicht durchbrochen, aber doch verschoben werden. Sie stehen nicht fest. Die ‚Verhexung‘ besteht eben darin, sie als unveränderlich und ewig unverfügbar anzusehen. Und derjenige, der um die ‚Verhexung‘ weiß, kann nicht umhin, mit ihr zu ringen und den Bann brechen zu wollen. Auch dann, wenn man weiß, dass ihm dies nicht gelingen kann, auch dann, wenn dieses Ringen eine wesentliche Lücke in seinem Denken hinterlässt. Im Denken Wittgensteins, so möchte ich damit andeuten, wird diese Lücke von dem Unverfügbaren aufgerissen – von dem Unverfügbaren, das sich durch die Sprache und über die Sprache hinaus zeigt. Weder die strengen sprachlogischen Überlegungen des Tractatus noch die aufweisenden Bemerkungen zur Pluralität der Sprachspiele in den Philosophischen Untersuchungen reichten aus, um diese Lücke auszufüllen oder zu negieren. Das Problem der verfügbaren Unverfügbarkeit, die jeder Gewissheit entgegenwirkt, das Problem, das sich unter anderem im Fragen nach dem Sinn des Lebens ausdrückt, verschwand nicht, im Gegenteil: mit der Zeit wurde es nur noch gravierender und aufdringlicher. Bis Wittgenstein in einer anderen Sammlung von Notaten bemerken musste:

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Aber haben wir nicht das Gefühl, daß der, welcher nicht darin ein Problem sieht, für etwas Wichtiges, ja das Wichtigste, blind ist? Möchte ich nicht sagen, der lebe so dahin – eben blind, gleichsam wie ein Maulwurf, und wenn er bloß sehen könnte, so sähe er das Problem? (Wittgenstein 1984c, S. 488)

Es ist genauso unmöglich, sich dem, wie Wittgenstein es hier nennt, „Problematischen“ (Wittgenstein 1984c, S.  488) zu entziehen, wie es unmöglich ist, über die Grenzen der Sprache zu verfügen. Es ist töricht, mit dessen „Verschwinden“ zu rechnen. Und ebenso töricht ist es, zu denken, man könne sie bloß unberührt lassen. Wittgenstein versucht dies ethisch zu lösen: Oder soll ich nicht sagen: daß, wer richtig lebt, das Problem nicht als Traurigkeit, also doch nicht problematisch, empfindet sondern vielmehr als eine Freude; also gleichsam als einen lichten Äther um sein Leben, nicht als einen fraglichen Hintergrund. (Wittgenstein 1984c, S. 488)

Diese ethische Lösung ist bedeutungsvoll, jedoch m.  E. gerade nicht in ihren ethisch-präskriptiven Implikationen, sondern vielmehr in den erkenntnistheoretischen. Die Lücke in unserem Denken ist keinesfalls ethisch neutral. Das Problematische des Lebens und der Sprache wird zum Anrennen gegen die Wände des Käfigs, wenn man ihnen ausweichen will. In unserer Begrifflichkeit: Wenn das Unverfügbare als solches negiert und vermieden wird, werden die Grenzen unseres Denkens ihm zum Verhängnis, zum fruchtlosen und sinnlosen VerfügenWollen. Wenn man jedoch seine Haltung ihm gegenüber ändert, wenn man, wie Wittgenstein es ausdrückt, in ihm keinen fraglichen Hintergrund mehr sieht, so ändert sich die ganze Lebensorientierung. Das Unverfügbare wird zum „lichten Äther“ um unser Leben, der das Denken erst ermöglicht. Das Problematische zeigt sich dann nicht mehr als ungelöste Aufgabe, die dem Denken keine Ruhe lässt, sondern als „Aspekt“ unseres Sehens (vgl. Wittgenstein 1984a, S. 518) und unserer Welt, dem gegenüber wir nicht gleichgültig bleiben können und dem wir eventuell mit Freude oder aber mit Traurigkeit (in kantischer Sprache, mit Lust oder Unlust) entgegentreten. „Die Welt des Glücklichen“, so hieß es noch im Tractatus, „ist eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP 6.43). Das ist eine Haltung, die unsere ganze Orientierung bestimmt. Aber weder Glück noch Unglück, weder Traurigkeit noch Freude, weder Lust noch Unlust kann man für sich auswählen. Im Gegenteil: Es sei sehr wahrscheinlich, so mehrere spätere Überlegungen Wittgensteins, dass man dazu auserwählt, dass man dazu prädestiniert wird (vgl. Wittgenstein 1984c, S. 552). Die Feststellung der eigenen Machtlosigkeit, des eigenen Schicksals scheint womöglich das Sicherste zu sein, was wir im Hinblick auf unsere Lebensorientierung sagen können. Sie ist jedoch nach Wittgenstein nicht mehr



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als „eine wissenschaftliche Hypothese“, die die Lebensprobleme nicht berühren kann. Solche Probleme lassen sich erst auf „dem schmalsten Boden“ des religiösen Denkens (Wittgenstein 1984c, S. 554), wenn nicht auffassen, so zumindest aufrechterhalten. Unter dem Religiösen versteht Wittgenstein jedoch, dass man gerade nicht bei der besonnenen Feststellung der eigenen Machtlosigkeit stehenbleiben darf, sondern das Unsichere wagt: Man müsse „kämpfen“ (Wittgenstein 1984c, S.  572), kämpfen um eine „glückliche Welt“, in der das Problematische zum „lichten Äther“ wird, in der das Unverfügbare Freude bereitet – die Lust an Unpassungen, die Freude am Unverfügbaren und Ungewissen schlechthin. Ob eine solche Umorientierung möglich ist, kann man nur selber herausfinden. Dafür müsste man aber die sicheren Orientierungsroutinen gerade verlassen und sich dem Ungewissen stellen. Und vielleicht hat man es schon getan, indem man nach der Gewissheit fragt und alle Probleme zum Verschwinden zu bringen sucht. So zeigt Wittgensteins Beispiel das, was wir bei Heidegger und Kant in von Weizsäckers Interpretation gesehen haben: Das Denken kann sich dem Unverfügbaren stellen, indem es die eigenen Grenzen entdeckt. Das Unverfügbare taucht dabei unter verschiedenen Namen auf: als das Unvorhersagbare und Unpassende, als das Widerständige und das Zukommende, als wesentliche Lücke in unserem Denken, als das Problematische schlechthin. Die letztere Bezeichnung – das Problematische schlechthin –, scheint ihm gerade in Hinblick auf die sich nach sicheren Anhaltspunkten sehnende Orientierung besonders adäquat zu sein. Denn das Unverfügbare zeigt sich gerade als das Problem, mit dem das Denken in seiner Orientierungsnot zu ringen hat, und schließt dabei alle anderen Benennungen in sich ein. Freilich bleibt es dabei auch unterbestimmt. Aber es genauer bestimmen zu wollen, wäre vielleicht unangemessen. Denn das Unverfügbare kann keinen Platz in einem System des Denkens einnehmen. Seine Funktion ist gerade die, das Systematische in jedem System in Frage zu stellen; das Denken auf seine Grenzen immer wieder aufmerksam zu machen; und ihm so das zu gewähren, was kein System ihm geben kann: die Möglichkeit, die gewohnten Sicherheiten zu verlassen und so auch die Sehnsucht nach Gewissheit von Zeit zu Zeit preiszugeben. Denn das Denken kann sich nur dann als solches behaupten – wenn es sich auf das Ungewisse einlässt und so immer wieder versucht, über sich selbst hinauszugehen.

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Literaturverzeichnis Audretsch, Jürgen (1990): Eine andere Wirklichkeit: Zur Struktur der Quantenmechanik und ihrer Interpretation. In: Jürgen Audretsch/Klaus Mainzer (Hrsg.): Wieviele Leben hat Schrödingers Katze? Zur Physik und Philosophie der Quantenmechanik, Mannheim, S. 17–61. Becker, Ralf (2004): „Der blinde Fleck der Anthropologie. Heideggers ‚Kehre‘ als unverfügbare Verfügbarkeit“. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, 1, S. 233–263. Heidegger, Martin (1989): Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). (Gesamtausgabe, Bd. 65). Frankfurt am Main. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen. Heisenberg, Werner (2000): Physik und Philosophie. 8. Auflage. Stuttgart. Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften in 29 Bde. (Akademie-Ausgabe). Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin. Kant, Immanuel (2003): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von Jens Timmermann. Hamburg. Lewis, Clive Staples (2000): The Screwtape Letters. San Francisco. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Simon, Josef (2003): Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie. Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Waismann, Friedrich (1965): „Notes on Talks with Wittgenstein“. In: The Philosophical Review, 74.1, S. 12–16. Weizsäcker, Carl Friedrich von (1958): Zum Weltbild der Physik. 7. Auflage. Stuttgart. Wittgenstein, Ludwig (1984a): Philosophische Untersuchungen. In: Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus; Tagebücher 1914–1916; Philosophische Untersuchungen. (Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1). Frankfurt am Main. Wittgenstein, Ludwig (1984b): Tractatus logico-philosophicus. In: Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus; Tagebücher 1914–1916; Philosophische Untersuchungen. (Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1). Frankfurt am Main. Wittgenstein, Ludwig (1984c): Vermischte Bemerkungen. In: Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. (Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 8). Frankfurt am Main. Wittgenstein, Ludwig (1984d): Über Gewißheit. In: Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. (Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 8). Frankfurt am Main. Wittgenstein, Ludwig (1989): Vortrag über Ethik. Frankfurt am Main.

Günter Abel

Quellen der Orientierung I. Orientierung in offenen, instabilen und indeterministischen Prozessen In seinem Opus Magnum Philosophie der Orientierung (2008) hat Werner Stegmaier die Fragen der Orientierung in ihrer ganzen Breite und ihrem Facettenreichtum eindringlich beschrieben und analysiert. Beschreibung und Analyse erfolgen sowohl in systematischer als auch in historischer Perspektive. Vor dem Hintergrund dieser Forschungen Stegmaiers und in Anknüpfung an viele seiner Befunde möchte ich in meinem Beitrag vor allem zwei Dimensionen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und erörtern: zum einen das flüssige, selbstverständliche und anschlussfähige Funktionieren erfolgreichen Orientiertseins; zum anderen die jederzeit möglichen Störungen im Sinne von Desorientierung oder gar Orientierungslosigkeit (unter Einschluss auch psychischer Erkrankungen) sowie die mögliche Behebung solcher Störungen. Auf beide Dimensionen bezogen werde ich zwei heuristische und komplementäre Modellierungen von Orientierung vorschlagen: (a) Orientierung in einem vertikal gestuften Modell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse und (b) Orientierung in einem horizontalen Modell des Zusammenspiels unterschiedlicher Wissensformen. Der Zusammenhang der beiden Modellierungen wird durch eine Erörterung einiger unserer wichtigsten Quellen der Orientierung weiter plausibilisiert. Zentral ist dabei der Rekurs auf die Rolle unserer Lebenswelten, unserer Weltbilder, des Rationalitätsgebots und des impliziten Wissens. Orientierung ist eine Herausforderung vor allem für Menschen. Ein Stein braucht keine Orientierung. Sie ist ihm mit seiner physischen Natur gegeben. Wir Menschen dagegen sind nicht in gleicher Weise determiniert. Dass auch Tiere (Vögel oder Fische zum Beispiel) über bemerkenswerte Leistungen der Orientierung verfügen, kraft deren sie sich in ihrer Umwelt zurechtfinden, sei nachdrücklich betont (vgl. Stegmaier 2008, Kap. 2.2). Gleichwohl möchte ich mich im Folgenden ganz auf die Frage menschlicher Orientierung konzentrieren. Wir Menschen sind von Natur aus offen, unterbestimmt und indeterminiert. Wir führen unser Leben unter instabilen und unsicheren Risikobedingungen. Mithin sind wir darauf angewiesen, uns in unserer Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber zu orientieren. Orientierung ist unverzichtbar angesichts jeweils neuer Situationen und der mit diesen verbundenen Offenheiten, Indeterminiertheiten, Ungewissheiten, Unsicherheiten und Risiken. Sofern die triangu-

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lären Ich-Wir-Welt-Beziehungen, in denen wir leben, flüssig, selbstverständlich und anschlussfähig funktionieren, sind wir bereits orientiert. Freilich können Störfälle jederzeit eintreten. Sobald sie eintreten, fragen wir nach Orientierung, um sie zu beheben und das flüssige und anschlussfähige Funktionieren wieder herzustellen. Das Spektrum der Orientierungsleistungen umfasst unterschiedliche Formen der Orientierung. Es reicht von den elementaren Orientierungen in Raum und Zeit über die Orientierung anderen Personen sowie der eigenen Person gegenüber bis hin zur Orientierung einer ganzen Lebensführung. Fehlt Orientierung, so haben wir es mit Störungen des Orientiertseins, etwa mit kurzfristigen Desorientierungen oder, in Grenzfällen, mit anhaltender Orientierungslosigkeit zu tun. Ohne Orientierung jedenfalls wäre menschliches Leben nicht möglich, nicht einmal das physische Überleben, ganz zu schweigen von dem, was es heißt, sein Leben richtig zu führen. Glücklicherweise müssen wir Orientierung nicht in jeder Situation gänzlich neu und initial erfinden. Vielmehr greifen wir auch (obzwar keineswegs nur) auf bislang erfolgreiche Mechanismen der Orientierung zurück, um neue Situationen zu meistern, uns auf diese zu verstehen und unsere Lebenswirklichkeiten zu organisieren. Ohne solche Re-Aktivierungen wären wir hoffnungslos überfordert und nicht lebensfähig. Der Rückgriff auf die in unserem bisherigen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln erfolgreichen Weisen des Orientiertsein spielt mithin eine überaus wichtige Rolle. Zu den Quellen unserer Orientierung zählen nicht zuletzt die Strukturen unserer Lebenswelt und unseres Weltbildes, der Rationalität und des impliziten Wissens. Diesen vier Quellen der Orientierung kommt im Verlauf des vorliegenden Beitrags eine exemplarische Rolle zu. Im Rekurs auf diese Quellen möchte ich in Sachen Orientierung zunächst eine Dimension adressieren, die in den Fällen erfolgreicher Orientierung zwar stets bereits am Werke ist, gleichwohl jedoch an den orientierenden Zeichen selbst, zum Beispiel einem Wegweiser, nicht direkt ablesbar ist. Im Orientierungszeichen ,Wegweiser‘ steckt mehr als man sieht (das Beispiel des Wegweisers entnehme ich Wittgenstein 1977, Nr. 85). Nehmen wir an, ich suche in der Technischen Universität Berlin den Hörsaal H 104. Im Foyer sehe ich einen Wegweiser „H 104“, ein Orientierungszeichen, dessen Pfeilspitze in Richtung links zeigt. Ohne groß nachzudenken folge ich dem Wegweiser in Richtung Pfeilspitze nach links. Damit jedoch das Orientierungszeichen ohne weitere Erläuterungen erfolgreich ist, sind längst schon Bedingungen als erfüllt unterstellt, die im direkten Befolgen nicht eigens mehr thematisch und nicht repräsentiert werden. Dass dies so ist, zeigt sich auch daran, dass ich bestimmte Handlungen nicht ausführe. So gehe ich beispielsweise nicht in die zur Pfeilspitze entgegengesetzte Richtung. Auch hole ich nicht etwa einen Presslufthammer aus dem Gepäck und beginne, mich in Rich-



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tung des Wegweiser-Ständers senkrecht ins Foyer der TU Berlin vorzuarbeiten, um zum Hörsaal H 104 zu gelangen. Vielmehr weiß ich längst schon, dass es in unserer Welt und auch in Universitäten Wegweiser gibt, dass wir Wegweisern in Richtung Pfeilspitze folgen und dass diese Handlung nicht eine idiosynkratische Attitüde meinerseits, sondern eine mit anderen Personen lebensweltlich geteilte Praxis ist. All dies ist im Hintergrund längst geklärt und entsprechend folgen wir dem Wegweiser auf die gewohnt direkte Weise. Unthematisiert ist mithin ein vielfältiges Netzwerk von Bedingungen bereits in Anspruch genommen worden und orientierend wirksam gewesen. Komponenten der skizzierten Art sind es, die hier unter dem Titel des „Orientiertseins“ in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. Eine solche Betrachtung schließt nicht aus, sondern ein, dass bislang erfolgreiche Lebenswelten, Weltbilder, rational-diskursive Verfahren und implizites Wissen an der Bewältigung neuer Situationen scheitern und auch ihrerseits in Krisen geraten können. Die Entwicklungsgeschichten von Personen, Gruppen, Institutionen und ganzen Kulturen liefern Belege für solche Krisen. Verfügen zum Beispiel Personen in den ihnen bislang bestens vertrauten und selbstverständlichen Situationen der IchWir-Welt-Beziehungen nicht mehr über ausreichend Orientierungskraft, dann haben wir es mit Störungen in der Orientierung zu tun. Es gibt keine Garantie, dass solche Störungen nicht eintreten könnten. Dass Störungen möglich sind, macht zugleich jedoch auch die Frage umso dringlicher, worin denn das in erfolgreicher Orientierung bereits in Anspruch genommene Orientiertsein und des näheren die Orientierungskraft der Lebenswelten, der Weltbilder, des Rationalitätsgebots und des impliziten Wissens eigentlich bestehen. In der Regel funktionieren unsere Beziehungen zu anderen Personen, zur Welt und zu uns selbst flüssig, selbstverständlich und anschlussfähig. Treten Störungen in den triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen auf, dann fahnden wir nach Orientierung. Sie soll uns dann aus der misslichen Lage herausführen, in der wir uns eingestehen müssen, dass (mit Fokus auf der Ersten-Person-Perspektive) ich mich nicht mehr auskenne, mich nicht auf die neue Situation verstehe und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Auch hinter einer solch abkürzenden Beschreibung kann sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Erfordernisse verbergen. Das Spektrum kann beispielsweise von der Frage nach räumlicher Orientierung in einer fremden Stadt bis hin zur Frage nach existenzieller und moralischer Orientierung reichen, etwa angesichts einer Entscheidung auf der Intensivstation einer Klinik über den weiteren Einsatz lebenserhaltender Medizintechnik oder deren Abbruch. Geraten wir in solche Situationen, dann hoffen wir zunächst und zumeist, dass unser bisheriges Orientiertsein selbst in denjenigen Situationen uns nicht im Stich lässt, in denen besonders viel, im Grenzfall Leben oder Tod, auf dem Spiel stehen. Aber eine Garantie gibt es dafür natürlich

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keineswegs. Zudem befinden wir uns oftmals in Entscheidungssituationen mit konfligierenden Orientierungen, in denen (wie im Falle der Entscheidung auf der Intensivstation) wir es möglicherweise mit zwei und mehreren gleichermaßen legitimen und verantwortbaren Alternativen zu tun haben. Die metaphorische Kennzeichnung der Ich-Wir-Welt-Beziehungen als ein ,Triangel‘ greift übrigens ganz bewusst das Bild des gleichnamigen Musikinstruments auf: wird eine der drei Seiten angeschlagen, schwingen die anderen beiden sogleich auch mit. In Sachen Orientierung ebenso wie in puncto Orientierungsstörung haben wir es stets mit solcherart triangulären Beziehungen zu tun. Wir haben es nicht zu tun mit strikt gegeneinander isolierten Dimensionen, Komponenten, Zuständen und Prozessen, die dann erst sekundär in Beziehung zueinander gesetzt werden müssten. Die Unterscheidung der drei Komponenten und Dimensionen ist eine nachträgliche und heuristische (keine theoretische) Unterscheidung (– welche Unterscheidung freilich dann, wenn es, wie im Grenzfall psychischer Erkrankungen, um Differentialdiagnostik geht, ganz ohne Frage von hoher Relevanz ist). Diesem Bild entsprechend ist eine Ich-Orientierung nicht ohne Beziehung auf andere Personen, mithin nicht ohne Du-/Wir-Orientierung, und beide nicht ohne Einbeziehung der Weltorientierung konzipierbar. Vor dem skizzierten Hintergrund kann man (neben der Unterscheidung zwischen „Orientierung“ und „Orientiertsein“ auch) zwischen einer „externen“ und einer „internen“ Orientierung unterscheiden. Den später näher zu erläuternden Rekurs auf Lebenswelt, Weltbild, Rationalität und implizites Wissen als Quellen der Orientierung verstehe ich als einen Rekurs auf interne Orientierung der Ich-WirWelt-Beziehungen, als intern mit der Praxis unseres Lebens verknüpfte Orientierung. Unter einer externen Orientierung verstehe ich die normativen Regelungen und Vorgaben (und auch Verbote und Gesetze), die von außen auf unsere Lebensführung einwirken und auf externe Weise Stabilitäten im menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben sichern. Externe Orientierungszeichen finden wir auf dem ganzen Spektrum von zum Beispiel Verkehrszeichen, Wegweisern, Vorschriften, staatlichen Gesetzen und Verfassungen mit dem Ziel der Organisation des Zusammenlebens in Gesellschaften und in den internationalen Beziehungen. Wichtig sind dann natürlich die beiden Fragen, (a) welcher Art das Verhältnis zwischen interner und externer Orientierung ist und (b) wie wir in Konfliktfällen und bei Störungen verfahren, um in erneut flüssig und anschlussfähig funktionierende Verhältnisse des Empfindens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns zu gelangen. Diese beiden Fragen sind relevant sowohl auf der Ebene des subjektiven und intersubjektiven Lebens einzelner Personen (z.B. auch im Blick auf psychische Erkrankungen) als auch auf der Ebene der Gesellschaften und Staaten (z.B. im Blick auf Konflikte unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung, der Internationalisierung und der Interkulturalität).



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Ist eine externe Orientierung erfolgreich, dann hat diese stets bereits an Muster und Standards der internen Orientierung angedockt. Dieser Befund gilt selbst noch für den Fall, dass eine grundständige Um- oder Neu-Orientierung erforderlich ist. Letzteres kann der Fall sein, wenn wir im Rekurs auf ein bisheriges Orientiertsein eine neue Situation gleichwohl und partout nicht meistern können. Selbst in diesem Falle jedoch noch muss zumindest an ein internes Verständnis für Orientierungsangebote sowie für mögliche neue Muster und Standards angeknüpft werden können. Anderenfalls bliebe eine externe Orientierung letztlich eine bloß von außen herangetragene Orientierung. Sie ginge entweder ins Leere oder wäre bloß deshalb verpflichtend, weil bei Nichtbeachtung der Einsatz externer Machtmitteln droht (wie zum Beispiel Sanktionen seitens anderer Personen, Institutionen, Gesellschaften oder internationaler Organisationen). Der Verlust an bislang erfolgreichem, weil selbstverständlichem Orientiertsein bleibt jederzeit möglich. Dem Ich-Wir-Welt-Modell zufolge kann dies in allen drei Dimensionen des Triangels eintreten. Zum einen kann sich Orientierungsverlust auf personaler Ebene einstellen (von kleineren Irritationen bis hin zu psychischen Turbulenzen und Erkrankungen). Zum anderen kann es zu Orientierungsverlust auf der Ebene der intersubjektiven Konventionen, Regeln und Gesetze einer Gesellschaft kommen. Und schließlich kann sich Orientierungsverlust hinsichtlich unseres Weltbezugs einstellen (auf dem Spektrum von Defiziten in der raum-zeitlichen Orientierung bis hin zu Störungen in der bisherigen Weise des Erschlossenseins meiner mit anderen Personen geteilten Welt und Lebenswirklichkeit). Angesichts dieser Situation ist es Aufgabe sowohl aller Wissenschaften vom Menschen als erklärtermaßen auch der Philosophie, dazu beizutragen, den Menschen Mittel und Verfahren bereitzustellen, die bei der Behebung von Orientierungsverlusten helfen können. Dies ist das Humanitäts-Prinzip der Philosophie, das ich an anderer Stelle verteidigt habe und mit dem philosophischen Pragmatismus teile (vgl. Abel 2004, S. 310, und Abel (im Erscheinen)).

II. Orientierte Lebensprozesse als Zeichenund Interpretationsprozesse Im Folgenden möchte ich zunächst (Kapitel II) die orientierten menschlichen Lebensprozesse als Zeichen- und Interpretationsprozesse charakterisieren. Sodann (Kapitel III) versuche ich eine genauere Bestimmung dessen zu geben, was als eine erfolgreiche Orientierung und was als ein Orientierungsverlust angesehen werden kann. Beide Komponenten möchte ich dann (Kapitel IV) auch hin-

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sichtlich der für unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen überaus wichtigen und unterschiedlichen Typen, Praktiken und Dynamiken des Wissens modellieren. Orientiertsein und Orientierung enthalten eine Vielfalt kognitiver und nichtkognitiver Leistungen. Wird ein Orientiertsein aktualisiert oder eine neue Orientierung zustande gebracht, so können beide Aktivitäten beschrieben werden als komplexes und dynamisches Zusammenspiel (a) unterschiedlicher Zeichen- und Interpretations-Prozesse1 sowie (b) unterschiedlicher Formen des Wissens (wie des perzeptiven, sprachlichen, emotionalen, motivationalen, evaluativen und des Handlungsmöglichkeiten eröffnenden Wissens). In jedem Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln beziehen wir uns gleichursprünglich auf andere Personen, auf die Welt und auf uns selbst. Ohne diese Beziehungen wären wir gar nicht die erlebenden, wahrnehmenden, sprechenden, denkenden und handelnden Personen, die wir sind. Die Ich-Wir-Welt-Beziehungen sind primordial für menschliche Lebenswirklichkeiten. Und exakt diese Beziehungen, Prozesse und Zustände können des näheren als zeichen-verfasste und interpretations-bestimmte Beziehungen, Prozesse und Zustände, kurz: als ZuI-Verhältnisse charakterisiert werden. Das ist die Grundthese der Zeichen- und Interpretationsphilosophie, so wie ich diese in anderen Zusammenhängen im Einzelnen entwickelt habe.2 Als schöpferisch-konstruktionale und darin zugleich orientierende ZuI-Prozesse können die für unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen so grundlegenden Vorgänge charakterisiert werden, kraft deren wir: etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren; Individuationen vornehmen; Identifikationen und Re-Identifikationen durchführen; Prädikate und sortale Kennzeichen applizieren; Zuschreibungen vornehmen; Zusammenhänge konstruieren; mittels Einteilungen klassifizieren; in Bezug auf so formierte Welten und Wirklichkeiten dann über Meinungen, Überzeugungen, Wissen und Können verfügen; in Kooperationen eintreten; Erfahrungen mit anderen Personen austauschen und auch über Orientierungen verhandeln, in deren Spielräumen wir dann So-und-so-Handlungen vollziehen. Die in dieser Auflistung angeführten Aktivitäten sind charakteristisch für Orientiertsein und Orientierung.

1 Die Rede von „Zeichen- und Interpretations-Prozessen“ wird im Folgenden abgekürzt als: „ZuIProzesse“. Entsprechendes gilt auch für alle anderen „ZuI“-Komposita, wie z.B. „ZuI-Modell“. 2 Vgl. Abel 1993 (2. Auflage 1995); Abel 1999 und Abel 2004, insbesondere die Einleitung, S. 13– 49. Vgl. jetzt vor allem auch meine Repliken in Dirks/Wagner (Hrsg.) (im Erscheinen). In diesem Band entwickle ich in den Antworten auf eine Vielzahl von Beiträgen zur Zeichen- und Interpretationsphilosophie die Grundzüge des Ansatzes weiter und entfalte seine Anwendbarkeiten und Leistungsfähigkeiten. Zum Folgenden vgl. ausführlicher vor allem Abel 1999, Kapitel 1.



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Kaum eigens braucht betont zu werden, dass die genannten ZuI-Verhältnisse keineswegs als eine statische, stabile, in Gleichgewichtszuständen befindliche, deterministische und keiner weiteren Um- und Neu-Ausrichtung bedürftige Ordnung des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns angesehen werden können. Das Gegenteil ist der Fall. Die Dynamik, die Temporalität, die situative Perspektivierung und die Alterität der genannten Prozesse, Zustände und Situationen sind intern und jederzeit mitgesetzt. Die basale Offenheit, Unterbestimmtheit, Indeterminiertheit, Ungewissheit und Unsicherheit der ZuI-Prozesse kann nicht in einem naturalistischen oder in einem anders gearteten metaphysischen Sinne hintergangen und in einer stabilen Hintergrundstruktur zur Ruhe, gar zur Apathie und Ataraxie gebracht werden. Vielmehr sind den Ich-WirWelt-Beziehungen und des näheren den Lebenswirklichkeiten die dynamischen Eigenschaften selbst inhärent. Der Traum des Naturalisten wie des Metaphysikers besteht in der Vorstellung, Orientierung sei keine wirkliche Herausforderung, da naturalistisch oder metaphysisch gegeben. Aber das ist eben nur ein Traum, weder Welt- noch Lebenswirklichkeit. Eine solche Einstellung wäre nicht nur irreführend. Sie wäre auch gefährlich im Blick auf die erforderliche Organisation und Strukturierung unserer Lebenswirklichkeit und unserer Lebensfähigkeit. In einer neuen Situation darauf zu vertrauen, dass es entweder die Natur selbst oder die metaphysischen Prozesse oder die Götter schon richten werden, dass wir die Situation meistern, könnte, im Grenzfall, für uns die letzte neue Situation gewesen sein. Man denke hier zum Beispiel an die von mir als Autofahrer geforderte Leistung, mich in einem plötzlichen Verkehrsunfall so zu orientieren und zu verhalten, dass ich und andere Personen nicht zu Schaden kommen. Glücklicherweise verlassen wir uns in solchen überlebenswichtigen Situationen weder auf die Natur noch auf die Metaphysik. Das wäre: Letalität durch Passivität. Vielmehr bringen wir, im glücklichen Falle, in Windes Eile abkürzende und auf die dominanten Anhaltspunkte bezogene Orientierungsleistungen zum Zuge. So muss ich, im Beispiel des Verkehrsunfalls, die Zeichen der Situation direkt erkennen und mit den richtigen Interpretationen aufwarten (vgl. auch Stegmaier 2008, Kap. 8: „Orientierung in Zeichen“).

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III. Orientierung im 3-Stufenmodell der Zeichenund Interpretationsverhältnisse Hinsichtlich der soeben (Kapitel II) adressierten Lebensprozesse arbeitet die ZuIPhilosophie mit einem 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse.3 Mit beispielhaftem Bezug zum einen (a) auf die zwischen Sprecher und Hörer geteilte Sprache und zum anderen (b) auf die psychischen Zustände einer Person kann dieses Modell im Blick auf die Problematik der Orientierung wie folgt verdeutlicht und fruchtbar gemacht werden. Geht es beispielsweise um die semantischen Merkmale von Wörtern, Handlungen oder psychischen Zuständen auf Seiten der Sprecher/Hörer, Akteure und Erlebnissubjekte, so sei diese Ebene als ZuI-3-Ebene adressiert. Auf dieser Ebene sind etwa auch unsere wissenschaftlichen Theorien und Modelle über die entsprechenden Phänomene, Prozesse und Zustände angesiedelt. Konkrete Beispiele wären: die Linguistik der Farbprädikate oder die Psychopathologie der Schizophrenie. In beiden Feldern (Sprache; psychische Zustände) sind wir zunächst bereits orientiert, finden uns in unserer Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber gut zu Recht (zur „Orientierung als Sich-Zurechtfinden“ vgl. Stegmaier 2008, Kap. 4, und Stegmaier 2005, Vorwort). Die flüssig funktionierende Sprache bezieht sich auf Wirklichkeit, und die flüssig funktionierenden psychischen Prozesse beziehen sich auf die triangulären Ich-WirWelt-Beziehungen. Jedoch können, wie betont, jederzeit Störungen auf dieser ZuI-3-Ebene auftreten, – zum Beispiel Ungereimtheiten und Inkonsistenzen der jeweiligen Theorien und Modelle sowie mangelnde Passgenauigkeit zu den adressierten Phänomenen. Der Störfall kann sich etwa darin manifestieren, dass nach den semantischen Merkmalen der bis dato flüssig funktionierenden Wörter einer Sprache gefragt wird. Im Falle psychischer Zustände kann die Störung darin bestehen, dass die im bisherigen psychischen Erleben gegebene Selbstverständlichkeit nicht mehr gegeben ist. Treten solche Probleme ein, dann suchen wir nach Lösungen. Dies erfolgt möglicherweise zunächst einfach dadurch, dass wir auf die üblicherweise flüssig funktionierenden und in unseren lebensweltlichen Praktiken verankerten Gewohnheiten und Konventionen, kurz: dass wir auf eine umfänglichere und tieferliegende Ebene zurück-

3 Vgl. die in Anmerkung 3 genannten Texte. Das Modell ist erklärtermaßen ein heuristisches, kein theoretisches Modell. Mit ihm wird nicht behauptet, dass es die drei Stufen in einem ontologisch-metaphysischen Sinne gibt. Die Relevanz des ZuI-Modells bemisst sich daher vor allem an seiner Leistungsfähigkeit in puncto Beschreibung, Analyse, Explikation, Diagnose und Orientierung unserer triangulären Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse.



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gehen. Diese Ebene adressiere ich als: ZuI-2-Ebene. Die Hoffnung ist, dass wir im Rekurs auf die Mechanismen der ZuI-2-Ebene die Störungen auf der ZuI-3Ebene beheben können. Im Falle der Sprache gehen wir in die Ebene der selbst im Störfall noch vorausgesetzten Sprache (zum Beispiel des Deutschen oder des Chinesischen) zurück. Ohne die stillschweigende Voraussetzung einer gegebenen Sprache könnten Störfälle gar nicht identifiziert und re-identifiziert werden. Im Falle einer psychischen Erlebnisstörung gilt Ähnliches. Ohne Rekurs auf ein stillschweigend vorausgesetztes und gegebenes psychisches Netzwerk habitueller, subjektiver wie intersubjektiver psychischer Erlebniswirklichkeiten könnten Störungen gar nicht identifiziert sowie re-identifiziert und entsprechend auch nicht therapiert werden. Im glücklichen Falle gelingt es im Rekurs auf die Mechanismen der ZuI2-Ebene die Störfälle auf der ZuI-3-Ebene zu beheben und ein erneut flüssiges und anschlussfähiges Funktionieren zu gewährleisten, – bis auf weiteres. In Bezug auf psychische Zustände könnte man im gelingenden Falle sagen: eine Desorientiertheit auf der ZuI-3-Ebene konnte durch Rückgang in das Orientiertsein der ZuI-2-Ebene behoben werden. Und „beheben“ meint hier so viel wie: sich erneut auf die triangulären IchWir-Welt-Beziehungen zu verstehen, mithin wieder orientiert zu sein. Im Falle psychischer Störungen heißt dies: erneut anschlussfähige und leidensfreie psychisch-leibliche Erlebnisse haben zu können. Eine Garantie, dass mit dem Rückgang in die ZuI-2-Ebene die Störung beseitigt wird, gibt es jedoch keineswegs. Der nächste Sprecher/Hörer kann erneut nach der Bedeutung des Wortes „Tisch“ oder „Heiterkeit“ fragen. Und in Fällen psychischer Erlebniskonflikte kann es durchaus so sein, dass der Konflikt sich schnell wieder einstellt und/oder dass es nicht zuletzt die gegebenen Konventionen und habitualisierten Normen der ZuI-2-Ebene selbst sind, die als Auslöser oder Verstärker des Konflikts und der Störung wirken. Gelingt es dem Rekurs auf die ZuI-2-Ebene nicht, die fragliche Störung zu beheben, dann greifen wir in vielen Fällen auf die noch tieferliegende ZuI-1-Ebene zurück. Wir gehen dann in die primordiale Ebene der Formierung und Individuation unserer Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten zurück. Damit reflektieren wir uns in diejenige Ebene zurück, die für uns endliche Wesen und nach Menschenermessen nicht ihrerseits noch einmal hintergangen werden kann. Vornehmlich auch auf dieser Ebene treffen wir auf Offenheiten, Indeterminiertheiten und Instabilitäten der unsere Lebenswirklichkeiten individuierenden Prozesse. Die selbst auf dieser Ebene intern mitgesetzten Alteritäten und Temporalitäten bringen sich etwa in der Frage nach dem zur Geltung, was unsere Lebenswirklichkeiten und des näheren unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen konstituiert und im Kern zusammenhält.

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Im Modell der ZuI-Philosophie wird mit Rekurs auf die ZuI-1-Ebene durchaus versucht, noch hinter die Struktur des „In-der-Welt-seins“ (Heidegger) zurückzugreifen. Wir gehen gleichsam in die in der Rede vom In-einer-Welt-zu-sein bereits vorausgesetzte Struktur eines Welt-Habens und der Generierung unserer Lebenswirklichkeiten zurück. Und zwar tun wir dies einfach entlang der beiden Fragen: (a) nach den zeichen- und interpretations-prozessualen Bedingungen auch selbst noch des In-der-Welt-seins; und (b) nach der Genealogie unserer spezifisch menschlichen Erfahrungs- und Lebenswirklichkeiten aus den zeichen- und interpretations-verfassten Formen der zunächst noch ungegliederten, kontinuierlichen, vor-intentionalen, vor-bewussten, vor-reflexiven und vor-signifikativen Prozesse, aus denen heraus es dann zu zunehmend bestimmteren Ich-Wir-WeltBeziehungen kommt. Wie deutlich zu sehen ist, versuche ich die ZuI-1-Prozesse dermaßen primordial anzusetzen, dass sie es sind, die das Geflecht und die Ausrichtung selbst noch unserer Ich-Wir-Welt-Verhältnisse prägen. Die ZuI-1-Ebene formiert gleichsam, so die These, die Bedingungen für das In-der-Welt-sein sowie unserer Erfahrungs- und Lebenswirklichkeit, – nicht umgekehrt. Diese weitreichende These möchte ich hier nicht im Detail entfalten. Ich habe sie (vor allem in Dirks/Wagner (Hrsg.) (im Erscheinen)) in meinen Repliken auf diejenigen Autoren erläutert, die in der ZuI-Philosophie (irrtümlicherweise) eine Variante der klassischen Hermeneutik, einschließlich der Heideggerschen Hermeneutik, sehen möchten. Von unseren Erlebnissen, Handlungen, Welten, Erfahrungs- und Lebenswirklichkeiten als ZuI-Erlebnissen, ZuI-Handlungen, ZuI-Welten und ZuI-Wirklichkeiten zu sprechen, heißt mithin in keinem Falle, die methodischen Verfahren der klassischen Hermeneutik im Sinne einer Kunst der Auslegung von Texten, Personen, Handlungen und anderen kulturellen Gebilden auf die primordiale Ebene des Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses hinunterzuprojizieren. Erst der Rückgang in die ZuI-1-Prozesse macht die Hermeneutik zu einem sinnvollen Unternehmen, nicht umgekehrt. In den beiden angeführten Beispielen bedeutet der Rückgang in die ZuI-1Ebene Unterschiedliches. Im Falle der Sprache bedeutet es, in die Dimension der Sprachlichkeit unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse zurückzugehen. Im Falle psychischer Prozesse bedeutet es, in die Ebene der phänomenalen, leiblichen, funktionalen sowie der sub-personalen und sub-interpersonalen Dispositionen und Genealogien zu psychischen Erlebniswirklichkeiten und Zuständen zurückzugehen. Der Rekurs auf die ZuI-1-Prozesse kann auch als ein Rückgang in die primordialen Formen der Generierung von Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz (im weiten Sinne des englischen Ausdrucks „significance“) angesehen werden. Die ZuI-1Ebene der Generierung von Bedeutsamkeit und Relevanz formt und imprägniert



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gleichsam die möglichen Profile des menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns auf einer Ebene, die noch vor den Bedeutungen (im engeren Sinne des englischen Ausdrucks „meaning“) der Zeichen auf den ZuI-3+2-Ebenen liegt. Zugleich ist jede buchstäbliche Bedeutung („meaning“) auf der ZuI-3-Ebene stets bereits von der umfänglicheren Bedeutsamkeit, Relevanz und Sinnhaftigkeit der ZuI-2+1-Ebene abhängig und von diesen gleichsam vorgeformt. Funktioniert das Zusammenspiel dieser ZuI-Ebenen flüssig und anschlussfähig, dann sind wir in genau diesem Sinne bestens, weil selbstverständlich orientiert. Mit Bezug auf die (jederzeit möglichen) Störungen können wir die Situation wie folgt zusammenfassen. Im 3-stufigen ZuI-Modell werden in einem ersten Schritt (a) Störungen als diejenigen Brüche, Diskontinuitäten, Unterbrechungen und Rupturen verstanden, die dazu führen, dass das in der Regel flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche Zusammenspiel der drei ZuI-Ebenen nicht mehr gegeben ist. Zwecks Behebung der Störungen machen wir dann einen zweiten Schritt. Wir gehen nämlich (b) in die ZuI-2-Ebene und, erforderlichenfalls, von dort weiter in die primordiale ZuI-1-Ebene zurück. Ziel dieser Rekurse ist es, die Störungen in dem Sinne zu beheben und Orientierung in dem Sinne zu gewährleisten, dass der Rückgang in die jeweils tieferliegende ZuI-Ebene genau diejenigen Mittel bereitzustellen vermag, die zu der (Wieder)Herstellung eines erneut flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Zusammenspiels der drei ZuI-Ebenen führt. In Fällen psychisch-leiblicher Störungen und Erkrankungen geht es entsprechend darum, die Erlebniswirklichkeiten psychosomatischer Zustände und Prozesse erneut als flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche Zustände der triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen (wieder)herzustellen. Auf diese Weise könnte, im glücklichen Falle, die Störung beseitigt und die korrelierte Leidenserfahrung ein Stück weit erträglicher werden. Gelingt dieses Unterfangen, dann haben wir es darin zugleich auch mit einer tiefenorientierten Wiederherstellung der zuvor in Turbulenzen geratenen existenziellen und psychisch-leiblichen Orientierung individueller Personen in ihren Welten, sich selbst und anderen Personen gegenüber zu tun. Deutlich dürfte entlang der bisherigen Überlegungen auch geworden sein, dass es sowohl bei der Identifizierung von Störungen als auch bei deren Behebung auf dem ganzen Spektrum vom menschlichen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln darum geht, sowohl unser vorgängiges Orientiertsein zu aktivieren als auch angesichts neuer Situationen neue Orientierungen bereitzustellen. Orientierung wird nicht einfach bloß fertig vorgefunden. Vornehmlich angesichts neuer und herausfordernder Situationen müssen wir sie gegebenenfalls auch erst kreativ erfinden. Orientierung will sowohl gefunden als

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auch erfunden sein. Erfolgreiche Orientierung dockt an das vorgefundene Orientiertsein einer gegebenen Lebens- bzw. ZuI-Praxis ebenso an wie sie auf diese im Sinne einer Um- und Neu-Orientierung aktiv zurückzuwirken vermag. In beiden Hinsichten ist Orientierung in sich multipel, flexibel und dynamisch. Sie umfasst kognitive ebenso wie nicht-kognitive Komponenten wie zum Beispiel sub-personale, leiblich-emotive, vor-intentionale und künstlerische Ingredienzen. Umund Neu-Orientierungen werden dann, wenn sie ihre Orientierungsleistung unter Beweis gestellt haben, in das Corpus eines dadurch veränderten Orientiertseins adoptiert. Auch in diesem Sinne ist und bleibt Orientierung ein dynamischer Prozess.

IV. Orientierung im Modell der Wissensformen In den letzten Jahren habe ich das 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse ergänzt um das epistemologische Modell der Wissensformen (vgl. im Einzelnen Abel 2004, Teil III: „Formen und Dynamiken von Wissen“; Abel 2012a bzw. Abel 2015a; Abel 2012b; Abel 2012c und Abel in Dirks/Wagner (Hrsg.) (im Erscheinen)). Die beiden Modelle sind komplementär und miteinander verzahnt. Im Folgenden möchte ich auch mit Hilfe dieses Modells die Frage nach dem Orientiertsein sowie der Orientierung angesichts neuer Situationen adressieren. Im Modell der Wissensforschung geht es um die vielfältigen Wechselspiele der unterschiedlichen Wissensformen (wie zum Beispiel des theoretischen, alltäglichen, praktischen, technischen, sprachlich-propositionalen, psychischen, leiblichen, emotionalen, ästhetischen, moralischen, expliziten und des impliziten Wissens). Die Systematische Wissensforschung ist diejenige Disziplin, welche die kardinale Rolle des Zusammenspiels der Wissensformen in unserem Alltag ebenso wie in den Wissenschaften und in den Künsten in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. In erfolgreichem Orientiertsein und Sich-Orientieren ist das flüssige und anschlussfähige Zusammenspiel der unterschiedlichen Wissensformen nicht nur gegeben. Es ist eine der Voraussetzungen für belastbares Orientiertsein ebenso wie für effektive Orientierung angesichts neuer Situationen sowie zur Beseitigung von Störfällen. Im vorliegenden Kapitel IV möchte ich dafür argumentieren, dass genuine Orientierungsleistungen auch als ein effektives Zusammenspiel unterschiedlicher Wissensformen beschrieben, analysiert und modelliert werden können. Die beiden Modelle (ZuI-Modell; Modell der Wissensformen) stehen reziprok verstärkend zueinander. Ein Beispiel für die Art von Wissensforschung, die ich dabei im Auge habe, sei anhand der Antwort eines Neurochirurgen auf die Frage gegeben, worauf er



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sich denn verlasse und woran er sich denn orientiere, wenn er eine Operation am offenen Gehirn durchführt. Die Antwort kommt in der Regel wie aus der Pistole geschossen. Er verlasse sich auf seine Augen, die auf den Monitor gerichtet sind. Denn er möchte ja mit dem Laserskalpell den Hirntumor und nicht das Sprachzentrum treffen. Diese Form des Wissens nennen wir ein piktoriales und perzeptionales Wissen. Er verlasse sich zugleich auf die Geschicklichkeit seiner Hände beim Führen des Laserskalpells, welches Wissen und Können ein haptisches und praktisches Wissen ist. Er verlasse sich auf seine Erfahrung, die darin bestehe, dass er schon viele neurochirurgische Eingriffe durchgeführt habe. Diese Form des Wissens bezeichnen wir als Erfahrungswissen, einschließlich des „learning by doing“. Und natürlich verlasse er sich auch auf seine Ausbildung, mithin auf sein theoretisches Hörsaal- und Lehrbuchwissen. Wenn die Operation gut verläuft, liegt ein störungsfreies, weil flüssig und anschlussfähig funktionierendes Zusammenspiel dieser (und weiterer) unterschiedlicher Wissensformen vor. Beispiele für solches Zusammenspiel lassen sich leicht auch aus anderen Bereichen liefern. Man denke an das Steuern eines Automobils, ein erfolgreiches Tennisspiel, die Durchführung eines Experiments in einem Physik-Laboratorium oder an die gelungene Aufführung einer Partitur durch eine Cellistin. Systematische Wissensforschung konzentriert sich auf den genuinen Charakter, die Konfigurationen, die Wechselspiele, die Dynamiken und die Praktiken der unterschiedlichen Wissensformen. Mit Fokus auf den beiden Themenfeldern (a) der psychischen Störungen und deren Behebung und (b) der Wiedergewinnung verlustig gegangener Orientierung möchte ich eine kurze und sehr vereinfachende Vorstellung von einer möglichen Kooperation zwischen ZuI-Philosophie, Systematischer Wissensforschung und Psychiatrie skizzieren, – alle drei Anstrengungen als Orientierungsanstrengungen verstanden (zum Folgenden vgl. Abel (im Erscheinen), Abschnitt C). Solange wir es in unserer Erlebnis- und Lebenswirklichkeit mit flüssig funktionierenden und anschlussfähigen Prozessen, Phänomenen und Zuständen zu tun haben, ist störungsfrei und bis auf weiteres alles in Ordnung. Die sich gleichgewichtsstabil vollziehenden Prozesse können im Rekurs auf die Figur des strukturierten Zusammenspiels der ZuI-Ebenen (siehe Kapitel III) ebenso beschrieben werden wie im Rekurs auf das dazu korrelierte effektive Zusammenspiel der beteiligten Wissensformen. Störungen ebenso wie deren Beseitigung können als Störungen und als Wiederherstellen des strukturierten Zusammenspiels der ZuI-Ebenen sowie der mit diesen intern verknüpften unterschiedlichen Wissensformen analysiert, diagnostiziert und therapiert werden. Wenn unsere Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber flüssig und anschlussfähig funktioniert, dann liegen, so die These, genau diese strukturierten Zusammenspiele der ZuI-Beziehungen sowie der Wissensformen vor. Wir vollbringen dann

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auf nahezu spielerische Weise genau diese multiplen und komplexen Orientierungsleistungen. Betont habe ich bereits, dass in der ZuI-Philosophie ein Bild psychischer Probleme und psychisch-leiblichen Leidens angesetzt wird, das Störungen vornehmlich als Störungen in den normalerweise flüssigen, selbstverständlichen und anschlussfähigen Ich-Wir-Welt-Beziehungen thematisiert. In dieser Perspektive und mit Blick auf das Feld der Psychopathologie sehe ich eine Reihe von Verbindungen generell zwischen Philosophie und Psychiatrie, des näheren vornehmlich zwischen der phänomenologischen Psychopathologie, der ZuI-Philosophie und der Systematischen Wissensforschung (was die Seite der phänomenologischen Psychiatrie angeht vgl. zum Beispiel Blankenburg 2012 und Fuchs 2014, S. 128–163, sowie Fuchs 2013). Aus Sicht der phänomenologischen Psychiatrie wie auch aus Sicht der ZuIPhilosophie haben psychisch-leibliche Störungen und Erkrankungen ihren Sitz weder einfach unter der Schädeldecke im Gehirn noch in einem mysteriösen Reich verborgener psychischer Zustände und Entitäten. Sie können vielmehr als Störungen in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen und das heißt: in den unser Leben ausmachenden ZuI-Prozessen beschrieben und modelliert werden. Des näheren handelt es sich unter anderem um Dysfunktionalitäten, Diskontinuitäten, funktionelle Abweichungen, Inkohärenzen und um Verluste von stabilen Gleichgewichten und Stimmigkeiten in den zeichen- und interpretations-verfassten Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Dass in diesen Beziehungen der Dimension der Leiblichkeit eine besondere Wichtigkeit zukommt, habe ich an vielen Stellen betont und möchte dies hier nicht im Einzelnen wiederholen, sondern lediglich hervorheben.4 Die Dimensionen der Verkörperung und der enaktiven Leiblichkeit werden in der ZuI-Philosophie nicht erst sekundär ins Spiel gebracht. Sie sind von vornherein und primordial stets bereits im Spiel. Zudem entspricht es dem holistischen Bild der ZuI-Philosophie, dass sie im Blick auf das Themenfeld psychisch-leiblicher Störungen und Erkrankungen ihre ganze Betrachtung diesseits der (reduktionistischen) Zweiteilung von neurophysiologischem Gehirn und reiner Psyche ansiedeln möchte. Die drei Ansätze (ZuI-Philosophie; Systematische Wissensforschung; phänomenologische Psychiatrie) könnten – im Zeichen der Orientierungproblematik – integral zusammenwirken, wechselseitig voneinander profitieren und darin zugleich

4 Vgl. zuletzt meine Repliken in Dirks/Wagner (Hrsg.) (im Erscheinen), vor allem zu den Beiträgen von H. M. Emrich, J. Conill und R. Lopes. Vgl. Abel 1990, S. 100–130, und ausführlich Abel 1998, Register „Leib-Organisation“.



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auch zur Stärkung des erwähnten Humanitäts-Prinzips der Wissenschaften und der Philosophie beitragen. Quer durch die bislang skizzierten Szenarien hindurch kommt den eingangs genannten vier Quellen der Orientierung (Lebenswelt; Weltbild; Rationalität; implizites Wissen) eine wichtige Funktion zu. Diese Funktion möchte ich im Folgenden näher beschreiben. Zunächst (Kapitel V) wird die Rolle der Lebenswelt in puncto Orientierung untersucht. Sodann (Kapitel VI) gehe ich auf den Status der Orientierungskraft rational-diskursiver Argumente ein. Schließlich (Kapitel VII) wird die Orientierungskraft der Weltbilder herausgestellt. Abschließend (Kapitel VIII) möchte ich die Rolle des impliziten Wissens als Quelle der Orientierung in den Blick rücken.

V. Lebensweltliche Verankerung als Orientierung In der Regel funktionieren die lebensweltlichen Verhältnisse der intersubjektiven Verständigung, des kooperativen Handelns und der Erfahrungswirklichkeiten flüssig (zu den Thesen des vorliegenden Kapitel V vgl. ausführlicher Abel 2011). Dies manifestiert sich vor allem darin, dass an Wörter, Sätze, Zeichen, Gedanken, Handlungen, Welt-, Fremd- und Selbstbezüge direkt angeschlossen werden kann, ohne dass zuvor nach den pragmatischen und semantischen Merkmalen der involvierten Aktivitäten auch nur gefragt werden müsste. Die Selbstverständlichkeiten verkörpern den höchsten Grad an Orientiertheit. Der Sinn, in dem wir es in diesen Zusammenhängen mit einer orientierten und orientierenden Stellung der Lebenswelt zu tun haben, ist kein metaphysischer. Es ist ein pragmatischer. Es handelt sich nicht um metaphysisch ,letzte‘ Instanzen der Begründung und Orientierung. ,Lebenswelt‘ wird im Folgenden vielmehr im Sinne Edmund Husserls als die Welt verstanden, die den Horizont einer jeden unserer Tätigkeiten formt, als die Welt mithin, wie sie vom Subjekt erfahren und erlebt wird, in Husserls Worten: als „die Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit.“ (Husserl 2011) Entscheidend ist, dass wir zwecks Beseitigung von Störfällen in den genannten Prozessen und Zuständen der Kommunikabilität, der Kooperativität sowie der subjektiven und intersubjektiven Erlebnisbewandtheiten nicht über ein metaphysisches rotes Telefon verfügen, mit dem wir bei den Göttern, der Evolution, einer metaphysischen Semantik-Kommission, einem Kooperations-Notdienst oder einer psychiatrischen Krisenintervention anrufen und für die Beseitigung der Störfälle Hilfe beantragen und abrufen könnten. Die Lebenswelt kann und muss vielmehr verdeutlicht werden als die pragmatisch letzte Instanz der Fundierung, des Orientiertseins und der Orientierung

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sowohl im Bereich des Theoretischen (in Bezug auf zum Beispiel Theorien) als auch im Bereich des Praktischen (in Bezug auf zum Beispiel moralische Entscheidungen). So haben wir es zum Beispiel in der Forschung unter anderen mit den folgenden vier Festlegungen und Orientierungsgrößen (vgl. die Darstellung dieser Punkte bei Poser 2012, S. 195–202) zu tun: (a) „ontologischen“ Festsetzungen, die festlegen, welches die elementaren Gegenstände sind, auf die unser Forschen gerichtet ist (wie z.B. Atome, Blutdruck, Viren oder Farbkanäle); (b) „axiomatischen“ Festlegungen, die für die Durchführung der Forschung als unabdingbar angesehen werden (wie in der Physik z.B. der Energieerhaltungssatz); (c) „judikalen“ Festsetzungen, die festlegen, was als ein Beweis, als eine Begründung oder als eine Kritik zählt; und (d) „normativen“ Festsetzungen, die festlegen, warum bestimmte Theorien oder Theorieteile akzeptiert und anderen gegenüber vorgezogen werden. Werden die genannten Orientierungen als methodologische Regeln verstanden, dann haben wir es innerhalb eines gestuften Modells mit Regeln erster Stufe und Regeln zweiter Stufe zu tun. Letztere enthalten diejenigen Verfahren, nach denen die objekt-bezogenen Regeln erster Stufe gegebenenfalls verändert oder verworfen werden können. Geht es um die Fundierung und die Begründung der Regeln zweiter Stufe, zeigt sich sehr schnell, dass die Fundierung mit der Verankerung in einer Lebenswelt verbunden ist und dass die Begründungen nicht ihrerseits auf der objekt-sprachlichen Ebene, sondern letztlich im Rekurs auf das Weltbild einer Zeit und Kultur gegeben werden (zum Folgenden und insbesondere zur Macht der Weltbilder vgl. ausführlich Abel 2004, Kap. 3, und unten Kapitel VII). Im Bereich des Praktischen und zum Beispiel in puncto moralische Entscheidung und gelebte Sittlichkeit liegt eine entsprechende Rückführung des Orientiert- und Fundiertseins der Normen moralischen Handelns in die Lebenswelt ebenfalls auf der Hand. Man stelle sich etwa die folgende Situation vor: ich komme an den Ort eines Autounfalls, sehe sofort, dass die verletzte Person schnelle Hilfe benötigt, rufe über das Mobiltelefon einen Krankenwagen und leiste Erste Hilfe. Obzwar ich selbst gerade von einer Tagung zum Thema Organspende komme, wo alle Teilnehmer, auch ich selbst, die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung zur Organspende bedauerten, ist es doch so, dass ich angesichts der hilfebedürftigen Person nicht einmal von Ferne auf den Gedanken käme, dass vor mir ein nächster Organspender liegt. Fragen wir nun, woher dieses und vergleichbares Orientiertsein sowie die Orientierung angesichts der neuen und herausfordernden Situation letztlich ihre Kraft bekommen, so stellt sich schnell die einfache Einsicht ein, dass es die tief sitzenden orientierten und orientierenden Strukturen unserer Lebenswelt sind, die hier als pragmatisch letzte Instanz des moralisch verpflichteten Handelns fungieren.



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Dies zu sagen, verkennt keineswegs die zumal in der heutigen wissenschaftlich-technischen Welt so oft gegebenen Situationen, in denen angesichts mehrerer gleichermaßen legitimer moralischer Alternativen explizit Beratung und moralische Argumentation erfordert sind. Man denke beispielsweise an Entscheidungen in Bezug auf hoch invasive medizinische Eingriffe in das menschliche Leben oder an wissenschaftliche Forschungseingriffe an Tieren. Und man denke diese Situationen sogleich in ihrer herausforderndsten Art, als Situationen nämlich, in denen es um Leben oder Tod geht, beispielsweise auf der Intensivstation einer Klinik. Die Lebenswelt als Orientiertheits-, als Orientierungs- und als Fundierungsinstanz zu betonen, verkennt auch keineswegs, dass in der Lebenswelt offenkundig und zumal bei intensiverer Prüfung nicht nur widerstreitende, sondern auch widersprüchliche Normen anzutreffen sind. Auch laufen die voranstehenden Überlegungen nicht darauf hinaus, dass am Ende einer moralischen Beratung und Argumentation stets nur eine und einzig gerechtfertigte Handlungsoption steht. Dieser Befund gilt einschließlich der möglichen tragischen Konflikte, der Unentscheidbarkeiten sowie der Übernahme der Verantwortung für das je eigene Handeln auch ohne eine letztinstanzliche, ohne metaphysische Absicherung. Lebensweltlich fundierte Orientierung bleibt Orientierung unter Risikobedingungen.

VI. Rationalität als Orientierung Die Lebenswelt in ihrer skizziert starken, weil fundierenden Rolle anzusetzen, heißt freilich keineswegs, das Prinzip der Vernunftkritik zugunsten eines lebensweltlichen Konservativismus außer Kraft zu setzen. Nicht jede lebensweltliche Überzeugung ist vernünftig. Mehr noch: eingefleischte und sich bei genauerer Prüfung als unvernünftig bzw. selbstwidersprüchlich erweisende Vorurteile sind nicht selten so fest in unserer Lebenspraxis sedimentiert, dass kaum gegen sie anzukommen ist. Zwar sind lebensweltliche Vor-Urteile einerseits durchaus wichtig, um Verhaltens- und Handlungsoptionen zu eröffnen. Andererseits jedoch können sie aber einer erfolgreichen Orientierung unter Risikobedingungen und unter Zeitdruck durchaus auch im Wege stehen. Hierher gehört auch die Widerständigkeit sowohl gegen neue Situationen und überhaupt gegen Neues als auch gegen das bessere Argument diskursiver Rationalität. Zugleich ist der schlichte Umstand hervorzuheben, dass es zwar die Lebenswelt ist, welche die Horizonte unserer Entscheidungen formt. Aber es sind die Menschen, nicht die Lebenswelten, die entscheiden. Es geht mir hier also keinesfalls um einen lebensweltlichen Reduktionismus oder dogmatischen Traditionalismus.

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Die Toolbox möglicher Orientierungsleistungen ist keineswegs auf nur jeweils ein einziges Instrument beschränkt. Und umgekehrt kann nicht ein und nur ein einziges Instrument einen Monopolstatus beanspruchen. Das gilt auch im Blick auf die Rationalität und Diskursivität als Quellen der Orientierung. Nur ein überzogener Intellektualismus würde bestreiten, dass auch die Rationalität eine unter anderen Orientierungsleistungen ist. So kann zum Beispiel angesichts einer plötzlich eintretenden Situation eine sinnlich-sensorische, eine affektive, eine emotionale oder eine gefühlsbetonte Reaktion durchaus höhere Orientierungskraft verkörpern als eine rational-diskursive Analyse und Argumentation. Einerseits steht mithin außer Frage, dass der Rekurs auf Rationalität, Diskursivität und Wissenschaften auch in Sachen Orientierung wichtige Beiträge leistet. Andererseits aber ist der Rekurs allein auf diese Verfahren nicht in der Lage, die letztlich entscheidenden Selbstverständlichkeiten einer flüssig funktionierenden und anschlussfähigen Orientiertheit in den triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen zu erklären und zu gewährleisten.5 Immer dann, wenn rational-diskursive und wissenschaftliche Verfahren bei der Beseitigung von Orientierungs-Störungen erfolgreich sind – und das sind sie auf dem ganzen Spektrum menschlicher Lebenstechniken in vielen Fällen durchaus –, beruht der Erfolg letztlich doch darauf, dass mit diesen Verfahren erfolgreich an die vor-reflexive, vor-intentionale, vor-theoretische, vor-wissenschaftliche und vor-kognitive Ebene der Lebenswelten, der Weltbilder und des impliziten Wissens angedockt wurde. Der sich einstellende Erfolg selbst beruht mithin letztlich auch auf der fundierenden und begründenden Rolle unter anderem unserer Lebenswelt, unseres Weltbildes und unseres impliziten Wissens. Wichtig ist mir hier die Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Begriff von Rationalität (vgl. zu dieser Unterscheidung Abel 2012c bzw. Abel 2015b). Das enge Verständnis im Sinne formaler Konsistenz und prämissenfolgernd korrekten Schließens ist in puncto Lebens-Orientierung nur begrenzt hilfreich. So sollten wir zum Beispiel bei allen wirklich wichtigen Entscheidungen unseres Lebens (z.B. bei einer Heirat), bei denen viel auf dem Spiel steht, nicht bloß auf formale Konsistenz und formal korrektes Schließen achten. Den

5 Empirische Wissenschaften sind auf kausale Erklärungen, nicht auf Orientierungen in den IchWir-Welt-Beziehungen ausgerichtet. Formale Rationalität ist im engen Verständnis dieses Ausdrucks auf die formale Konsistenz über Situationen und Zeiten hinweg sowie auf das korrekte prämissenfolgernde Schließen ausgerichtet, nicht auf Orientierung in dem angesprochenen Sinne. Zu der Frage, ob im Lichte der ZuI-Verhältnisse, der Pluralität der Wissensformen und der menschlichen Orientierungsbedarfe auch der Begriff der ,Rationalität‘ einer Erweiterung und Reformulierung unterzogen werden kann und muss, vgl. ausführlicher Abel 2012c und Abel 2015b.



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weiten Sinn von ,Rationalität‘ verbinden wir vornehmlich mit Kohärenzanforderungen. So nennen wir eine Person in diesem weiten Sinne rational, wenn sie nicht systematisch und nicht dauerhaft gegen das Netzwerk ihrer Überzeugungen und/oder anderer lebens- und überlebens-wichtiger Bedürfnisse, Interessen und Einstellungen verstößt. In diesem weiten Verständnis spielt Rationalität unter unseren Orientierungsleistungen eine überaus wichtige Rolle. Wir können unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen ein gutes Stück weit entlang rationaler Gründe ausrichten, können uns selbst und andere Personen als Adressaten von rationalen Gründen behandeln und die Relevanz des „Logischen Raums der Gründe“ (W. Sellars) für das Denken und Handeln betonen. Unbeschadet davon jedoch sagt die formale Logik, wie die Logiker selbst nachdrücklich betonen, nichts über unser Leben und schon gar nichts über dessen Orientierung. Logik ist so gesehen orientierungs-leer. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass es wohl keine Person gibt oder bislang gegeben hat, die die Herausforderung, ihr Leben richtig zu führen, ausschließlich im Rückgriff auf die Regeln des prämissenfolgernden Schließens gemeistert hätte. Vor diesem Hintergrund wird erneut deutlich, dass es sich in Sachen Orientiertsein und Orientierung keineswegs um beweis-deduktive oder apriorische Argumente handelt. Vielmehr geht es um pragmatische und problemlösende Plausibilitäten. Desnäheren geht es möglichst um solche Plausibilitäten, die möglichst nahe an die flüssig funktionierenden Selbstverständlichkeiten der Lebensprozesse in den Ich-Wir-Welt-Beziehungen kommen. Eine Orientierungsleistung bemisst sich entsprechend an ihrer Organisationskraft für unser Leben und unsere Erfahrungswirklichkeit, nicht an der Antwort auf die Frage, ob sich ein Wissensanspruch im logischen Raum der Gründe als wasserdicht erweist oder nicht.

VII. Die Orientierungskraft der Weltbilder Neben der Lebenswelt und dem Rekurs auf rational-diskursive Argumentation kommt in Sachen Orientierungskraft den Weltbildern eine wichtige Rolle zu.6 Ich knüpfe hier an die Wittgensteinsche Auffassung von Weltbild in Über Gewissheit an (im Folgenden abgekürzt als: ÜG plus Nummer). In ihr wird ein Weltbild als der „überkommene Hintergrund“, als das Fundament menschlichen Sprechens, Denkens und Handelns und in diesem Sinne als die Grundlage der jeweiligen

6 Mit Akzent auf der Frage der Orientierung greife ich im Folgenden auf Materialien zurück, die ich ausführlicher entwickelt habe in Abel 2004, Kap. 3.

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menschlichen Kultur angesehen. Dieser Hintergrund umfasst propositionale Elemente (wie Überzeugungen und Meinungen) und nicht-propositionale Komponenten (wie religiöse und mythische Einstellungen) ebenso wie sprachliche Teile (wie Erzählungen oder Legenden) und nicht-sprachliche Elemente (wie Sitten, Gebräuche und Rituale). In Bezug auf die Rolle von Weltbildern in puncto Orientierung seien im Folgenden vor allem zwei Aspekte hervorgehoben: (1) Weltbilder in ihrer Funktion als Garanten von Gewissheit, und (2) Weltbilder als Stabilisatoren von Handlungen. (1) Die Orientierungsfunktion eines Weltbildes lässt sich mit Blick auf solche Sätze verdeutlichen, deren Gegenteil kaum jemand glauben und behaupten würde. Wittgenstein denkt hier zu seiner Zeit an Sätze wie „daß kein Mensch sich je weit von der Erde entfernt hat“ (ÜG, Nr. 93) (die spätere Mondlandung sei hier mit eingeschlossen). Entscheidend ist, dass nichts in meinem Weltbild dafür spricht, das Gegenteil solcher Sätze zu glauben und zu behaupten. In diesem Sinne gehören derartige Weltbild-Sätze zu unserem Arsenal orientierender und orientierter Anhaltspunkte. Unsere Weltbild-Sätze besitzen einen solchen Grad an Selbstverständlichkeit, sodass in Bezug auf sie in der Regel auch niemand die Forderung einer eigenständigen Prüfung aufstellt. Das ist letztlich deshalb nicht der Fall, weil diese Sätze von der Art sind, dass sie in den angemahnten Prüfungen bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen werden müssten. Die Grundüberlegung dabei ist, dass dann, wenn überhaupt geprüft wird, wir in eben solchem Prüfen „schon etwas voraus[setzen], was nicht geprüft wird“ (ÜG, Nr. 163). Manche Dinge werden sinnvollerweise gar nicht geprüft, sondern man geht selbstverständlich von ihnen aus. Prüft denn, Wittgensteins Beispiel, jemand ernsthaft, ob der Tisch vor uns auch dann noch stehenbleibt, wenn wir ihm den Rücken zuwenden, ihn also nicht kontinuierlich beobachten? Man kann hier auch Überzeugungen anführen wie z.B. die, dass Menschen Eltern haben, dass es verschiedene Städte gibt, dass wir uns auf der Oberfläche der Erde bewegen (ÜG, Nr. 234). Annahmen solcher Art sind offenkundig von stabilisierender Relevanz für unsere Selbst-, Fremd- und Welt-Orientierung. Weltbilder sind verkörperte Weltorientierung. (2) Weltbilder üben ihre orientierenden Funktionen nicht nur in Bezug auf theoretische Einstellungen und Gewissheiten aus. Sie spielen auch im Hinblick auf unser praktisches und alltägliches Handeln eine orientierende Rolle. Weltbilder wirken als Stabilisatoren von Handlungen. Des näheren sind Weltbilder wichtig: (a) hinsichtlich des Eintretens in eine Handlung; und (b) in puncto Bewertung einer Handlung. (a) Die Orientierungskraft des Satzes „Die Erde ist rund“ merkt man etwa daran, dass man sich in einem Reisebüro leicht über unterschiedliche Flugrouten



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rund um die Erde verständigen kann. Der Satz selbst muss dabei kein einziges Mal ausgesprochen oder gar begründet und gerechtfertigt werden. Die bildliche Voraussetzung, dass die Erde rund ist, ist zum Beispiel auch eine der Bedingungen dafür, dass die sprachlichen Sätze bei der Buchung in einem Reisebüro semantisch gehaltvoll sind und ich eine Reise etwa von Berlin über Moskau nach Japan buchen, mithin in die Handlung des Buchens der Reise eintreten, und, im Falle einer Last-Minute-Reise, umgehend zum Flughafen fahren und die Reise ,um den halben Globus‘ über Moskau statt über Los Angeles antreten kann. (b) Dass Weltbilder in puncto Bewertung einer Handlung von grundlegender Bedeutung sind, ist offensichtlich. Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen ist ein Weltbild an der Handlungsbewertung in dem Sinne stets bereits beteiligt, dass es an der Festlegung dessen beteiligt ist, was überhaupt als eine erlaubte und gerechtfertigte (bzw. als unerlaubte und nicht-gerechtfertigte) Handlung gilt und was nicht. Zum anderen werden Handlungen oftmals im Nachhinein bewertet. Sobald wir dies tun (also z.B. sagen, dass die Handlung X gut ist, oder dass die Handlung Y verwerflich ist), sind unterschiedliche Orientierungskräfte stets bereits am Werke, wie zum Beispiel: wertschätzende Hintergründe, Horizonte, Einstellungen, Perspektiven, Standards und Normen. Ohne das in diesen Komponenten wirksame Weltbild wäre die Bewertung einer Handlung erst gar nicht möglich.

VIII. Implizites Wissen als Ressource der Orientierung Im erfolgreichen Orientiertsein ebenso wie im effektiven Orientieren angesichts von Störfällen und Herausforderungen seitens neuer Situationen greifen wir auch auf das Arsenal unseres impliziten Wissens zurück. Implizites Wissen ist (im Unterschied zu explizitem Wissen) eine Form des in den Aktionen selbst unthematisierten Wissens. Zwecks Orientierung beuten wir auch dieses Wissen aus. Im Wissen steckt mehr, als wir explizit wissen, so unter anderem Fähigkeiten, Kompetenzen, Erfahrungen, Kontexte, Hintergründe, Einstellungen, Zwecke, Gewohnheiten und vieles mehr. Ein Beispiel für explizites Orientierungswissen wäre etwa das Wissen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Solches Wissen ist bewusst, in einer Sprache artikuliert, mitteilbar sowie empirisch und intersubjektiv überprüfbar. Ein Beispiel für das darin bereits in Anspruch genommene implizite Wissen wäre etwa das Wissen, wie man eine physikalische Hypothese überprüft oder eine entsprechende Messapparatur in einem Observatorium bedient. Um ein explizites Orientierungswissen von etwas zu haben, muss man bereits

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viel vom umfänglicheren impliziten, d.h. noch unspezifizierten, unthematisierten und unterschwellig mitlaufenden Hintergrund-Wissen in Anspruch nehmen. In der Regel wird Orientierung auf den Bereich des expliziten Wissens begrenzt. Die mit dem Netzwerk des impliziten Wissens gegebenen Möglichkeiten eines dynamischen Orientiertseins dieses Netzwerks treten selten in den Blick. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil leicht sich das TausendfüßlerSyndrom einzustellen droht. Diesem Syndrom zufolge können unsere selbstverständlichen und unthematisierten Fähigkeiten ihre orientierende Kraft verlieren, sobald sie zu sehr befragt und explizit gemacht werden sollen. Die Folge: Paralyse durch Analyse, und auf die Orientierungsleistung bezogen: Verlust der selbstverständlichen Orientierungskraft durch reflexives Bewusstmachen und Analysieren. Wer zuviel analysiert, kann durchaus Gefahr laufen, in der Desorientierung oder gar in der Orientierungslosigkeit zu enden. Von diesem Syndrom können zum Beispiel auch Tennis- oder Billardspieler ein Lied singen, deren Leistung oft massiv abfällt, sobald sie sich ihre ansonsten intuitiv ausgeführte Spielweise bewusst zu machen versuchen. Gleichwohl hängt die Verbesserung ihres Spiels sowie grundsätzlich das effektive Orientiertsein unseres Handelns vornehmlich auch davon ab, auf das implizite Wissen als Ressource der Orientierung zurückgreifen zu können. Im Netzwerk impliziten Wissens schlummern Möglichkeiten für orientierte und orientierende Problemlösungen (vgl. erste Überlegungen in dieser Richtung in Abel 2014).

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Ingolf U. Dalferth

Verstehen als Orientierungspraxis. Eine hermeneutische Skizze Menschen können verstehen – andere, anderes, einander und sich selbst. Aber sie tun es nicht immer, und wenn sie verstehen, dann tun sie es in der Regel nur mehr oder weniger. Meist macht das nichts, weil das genügt und das Leben auch so weitergeht. Ritualisierte Abläufe, konventionelle Gepflogenheiten und individuelle Gewohnheiten halten es in Gang. Man tut, was man tut, ohne sich ständig zu fragen warum, ohne es zu verstehen, verstehen zu müssen oder verstehen zu wollen und ohne sich ohne Anlass Gedanken über Alternativen zu machen. Es ist, wie es ist. Dass es anders sein könnte und oft auch anders sein sollte, kommt nicht in den Sinn, wird nicht beachtet oder spielt keine Rolle, solange das Leben seinen gewohnten Gang geht. Man lebt weiter, wie man bisher gelebt hat. Bis das nicht mehr geht. Dann gerät man ins Stocken oder kommt aus dem Tritt. Man merkt, dass etwas fehlt oder nicht so geht wie gewohnt oder erwartet. Man sieht, dass andere ganz anderes aus ihrem Leben machen. Man will etwas ändern, weiter machen wie bisher oder etwas Neues beginnen. Aber man weiß nicht, wie man das machen soll. Man findet keinen Anschluss, weil man nicht sieht, wie es weitergehen könnte, oder sich nicht entscheiden kann, wie es weitergehen sollte. In solchen Situationen wird Verstehen wichtig. Denn was nicht verstanden wird, zu dem kann man sich nicht bewusst verhalten, weder zustimmend noch ablehnend noch gleichgültig. Wozu man sich nicht verhalten kann, daran kann man nicht anknüpfen, weder im Fühlen noch im Denken noch im Handeln. Und woran man in Fortsetzung, Entgegensetzung oder Abgrenzung nicht anknüpfen kann, durch das wird man nicht bestimmt und dessen Fortgang kann man nicht mitbestimmen. Das Leben wird auf störende Weise unterbrochen, ohne dass Anschlüsse eröffnet und Fortsetzungen möglich würden. Es geht nicht weiter, obwohl es doch, solange man lebt, weitergehen muss und, wie man schnell lernt, auch weitergehen wird nur eben so, dass man selbst nicht mehr als Gestalter oder Gestalteter daran beteiligt ist. Das Leben geht an mir vorbei, heißt es dann. Ich komme nicht mehr in ihm vor. Um solche Störungen zu überwinden, also wieder lebens- und gestaltungsfähig zu werden, wird auf Umwegen gesucht, was sich direkt nicht einstellt: die Fähigkeit, Situationen fortzubestimmen und weiterzugestalten. Diese Fähigkeit besteht darin, sich in der eingetretenen Situation orientieren und deren schwer überschaubare Komplexität auf die zur Fortsetzung des Lebensprozesses hier und jetzt wichtigen Aspekte hin vereinfachen zu können. Wo bin ich und was ist

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mit mir? Was ist eingetreten? Wie ist es dazu gekommen? Welche Möglichkeiten zeigen sich? Wie lässt sich diese Situation verändern? Welche Ziele könnte oder sollte ich ansteuern? Was will ich, und warum, und was nicht? Jede dieser Fragen hat mehr als eine mögliche Antwort. Aber schon die Fragen implizieren, dass man sich ein Stück weit von der eingetretenen Situation distanziert, um sich in ein bewusstes Verhältnis zu ihr setzen zu können, also nicht nur bei dem stehen zu bleiben, was ist, sondern das zu sehen, was möglich sein könnte. Das, worum wir uns bemühen, um Lebensstörungen auf diese Weise zu überwinden, nennen wir ‚verstehen‘. Wir suchen es auf Wegen zu erreichen, die wir als ‚interpretieren‘ bezeichnen. Und ‚Hermeneutik‘ heißt die Disziplin, die über diese Umwege zum Verstehen systematisch nachdenkt, ihre Grundlagen, Voraussetzungen, Verfahrensweisen und Möglichkeitsbedingungen erhellt (als philosophische Hermeneutik) und für kulturell wichtige Bereiche wie Alltag, Recht, Religion oder Literatur und die in ihnen virulenten Arten des Nichtverstehens darzulegen sucht, welche Umwege zum Verstehen auf methodisch geregelte Weise gegangen werden können (alltägliche Verstehenspraktiken, juristische, religiöse, literarische Hermeneutik).

1. Verstehen im Vollzug 1. Lebensroutinen: In der Regel haben wir keine Verstehensprobleme. Vieles in unserem Alltagsleben versteht sich von selbst, und vieles funktioniert, ohne dass man es verstehen müsste. Wir folgen den Routinen unseres Lebens, ohne sie im Detail oder überhaupt zu verstehen – ja sie funktionieren gerade deshalb so gut, weil wir keine Zeit darauf verwenden müssen, sie zu verstehen (Blumenberg 2010, S. 100–108). Durch vielfache Wiederholung zur Gewohnheit geworden, leben sie von ihrer Wiederholbarkeit, nicht von ihrer Verständlichkeit (Lügner 1997; Betsch 2005). Nicht dass man sie nicht verstehen könnte. Aber sie ausdrücklich zu verstehen, ist keine Bedingung dafür, dass sie funktionieren, weder im Sinn eines Verstehens-wie (‚Wie geht das?‘: Vollzugsverstehen) noch eines Verstehens-dass (‚Warum geht das so?‘: Tatsachenverstehen) noch eines Verstehens-was (‚Was geht da?‘: Sachverstehen). Vieles verstehen wir praktisch im (Mit-)Vollzug, ohne zu verstehen, was wir da verstehen, indem wir es vollziehen. Beispiele kennen wir alle. Wir sprechen unsere Muttersprache, ohne über ihre Grammatik Auskunft geben zu können. Wir halten uns an die unausgesprochenen Verhaltensregeln und Tabus unserer Kultur, ohne sagen zu können, worin sie bestehen. Wir beherrschen die meisten unserer lebensweltlichen Praktiken spielend und ohne sie uns bewusst zu machen. In vielem, was wir tun, folgen



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wir Regeln, die uns nicht bewusst sind. Wir treffen Entscheidungen, meiden bestimmte Orte, wählen unsere Freunde und Partner, bevorzugen bestimmte Farben, lieben bestimmte Speisen, kleiden uns auf bestimmte Weise, reagieren auf bestimmte Musik, und all das nach Gesetzmäßigkeiten, die wir nicht durchschauen. Wir schalten das Licht an, ohne eine Ahnung von Elektrizität oder Stromversorgung zu haben. Wir surfen im Internet, ohne zu verstehen, wie das geht. Wir können eine Melodie nachsingen, ohne zu verstehen, wie wir dazu in der Lage sind. Aber wir verstehen auch ohne weiteres, was uns jemand sagen will, der mit seinem Zeigefinger an seine Stirn tippt; oder was wir tun müssen, wenn die Milch überkocht; oder dass ein Kind, das in den Fluss fällt, Hilfe braucht. Wir verhalten uns in vielen Situationen angemessen, ohne uns damit aufzuhalten, sie zu verstehen. Und wir verstehen viele Situationen auf einen Blick, ohne uns Gedanken zu machen, ob man sie auch anders verstehen könnte. Sie scheinen uns offensichtlich. Der Schein kann zwar trügen, wie wir wissen. Aber in der Regel tut er es nicht. 2. Nichtverstehen: Es ist also keineswegs so, dass wir stets verstehen. So unbestreitbar Menschen verstehen können, so offenkundig ist es, dass sie es nicht immer und überall auch tun. Dass es möglich ist zu verstehen, ist eines (‚Es ist möglich, dass Menschen verstehen‘), dass es tatsächlich geschieht, ein anderes (‚Es ist der Fall, dass Menschen verstehen‘). Um die Fälle, wo wir tatsächlich verstehen, von denen unterscheiden zu können, wo das nicht der Fall ist, müssten wir wissen, was mit ‚verstehen‘ gemeint ist. Um das zu erhellen, gehen wir nicht von der problematischen Wirklichkeit, sondern von der Möglichkeit des Verstehens aus. Denn die zeigt sich nicht nur da, wo verstanden wird, sondern auch und gerade dort, wo nicht verstanden wird. Nichtverstehen gibt es in vielfacher Gestalt, nicht nur als Nichtverstandenes, das auf Verstehen drängt (Joseph 1986; Fohrmann 1994; Schurz 1995; Waldenfels 1999; Chamrad 2001; Simon 2002; Kogge 2002; Albrecht et. al. 2005; Dalferth 2007). Das Verstehen hat Grenzen, Voraussetzungen und Grundlagen. Es beruht auf Prozessen, die nicht selbst Verstehen sind oder sein müssen. Unser Leben vollzieht sich nach Regeln, die wir häufig nicht bewusst verstehen. Wir verstehen sie in der Regel aber auch nicht unbewusst. Unser Verhalten so zu charakterisieren, ist problematisch. Es steht in Gefahr, die Sichtweise ausdrücklichen Verstehens in die Alltagsvollzüge unseres Lebens und unserer Lebenswelt zurück zu projizieren und diese so überrationalisiert und damit falsch zu beschreiben. Es ist nicht grundsätzlich so, dass wir immer schon verstehen. Vieles, was uns widerfährt, verstehen wir nicht oder können es nur unzureichend oder gar nicht verstehen. Von einer Selbstverständlichkeit oder einem Universalismus des Verstehens kann weder faktisch noch im Prinzip ausgegangen werden. Nicht alles wird verstanden, nicht alles muss verstanden werden, und nicht alles lässt sich

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verstehen (Shusterman 1996, S.  67 ff.; Graeser 1996; Angehrn 2004, S.  204 ff.; Stoellger 2005; Stoellger 2007). Um das zu erhellen, was wir ‚verstehen‘ nennen, ist also nicht davon auszugehen, dass wir ‚immer schon‘ verstehen oder dass alles verstehbar ist, sondern dass wir verstehen können. Das wissen wir, weil wir es manchmal tun und manchmal nicht. 3. Grenzen des Verstehens: Dass wir verstehen können, ist allerdings nicht das einzige, was uns Menschen auszeichnet, und es prägt auch nicht alle Vollzüge unsres Lebens. Unser Verstehen und Verstehenkönnen haben mannigfache Grenzen (Dalferth 2007). Immer wieder fehlen uns Voraussetzungen, um etwas Bestimmtes zu verstehen, die andere vielleicht haben und die auch wir uns verschaffen könnten, wenn wir uns darum bemühen würden (die small beyonds unseres alltäglichen Nichtverstehens). Immer wieder aber stoßen wir auch auf Fragen, die unsere Verstehensfähigkeit prinzipiell zu überschreiten scheinen (big beyonds wie die Transzendenz von Personen, die Unergründlichkeit des Bösen, die Unfasslichkeit des Glücks, die Unausschöpflichkeit des Glaubens oder die Unbegreiflichkeit Gottes). Vor allem aber baut unser Verstehenkönnen auf biologischen (faktischen) Grundlagen (Was sind wir als Menschen unter anderen Lebewesen?) und anthropologischen (normativen) Voraussetzungen (Wie wollen wir als Menschen unter Menschen leben?) auf, die selbst nicht als Verstehen zu charakterisieren sind, und wir können verstehen, ohne dass man verstehen müsste, dass man versteht. Aufmerksam werden wir auf das Phänomen des Verstehens in der Regel daher nicht dort, wo es gelingt, sondern gerade umgekehrt da, wo es Probleme gibt, weil wir es noch nicht oder nicht mehr tun.

2. Verstehen, Missverstehen, Nichtverstehen 1. Negative Phänomenologie des Verstehens: Dass wir verstehen können, merken wir, wenn wir es nicht (mehr) tun. Dann bleibt uns der Sinn einer Situation verschlossen und unser Lebensprozess kommt ins Stocken. Wir finden keine Anschlüsse zum Weitermachen oder ziehen falsche Schlüsse, wie der Tuttlinger Handwerksbursche in Johann Peter Hebels Kalendergeschichte, der sich in Amsterdam vom exorbitanten Reichtum des vermeintlichen Herrn Kannitverstan beeindrucken ließ (Franz 1985). Das war ein Missverständnis, aber auch das brachte ihn auf weiterführende Einsichten. Nicht nur Verstehen kann für das Leben ein Gewinn sein, sondern auch Missverstehen und Nichtverstehen. Zur Wirklichkeit menschlichen Lebens gehören alle drei Gruppen von Phänomenen. Besser als Phänomene gelungenen Verstehens erhellen aber gerade Missverstehen und Nichtverstehen, worin Verstehen besteht. Sie treten in vielfäl-



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tigen Weisen auf – im Modus von Unkenntnis, Unsinn, Widersinn (Kogge 2002; Kogge 2005) oder in den mannigfaltigen Formen des Falsch- und Fehlverstehens, des Mehr oder Weniger-Verstehens oder des Kaum- oder Gar Nicht-Verstehens (Dalferth 2007). Aber sie alle belegen nicht, dass es kein Verstehen gibt (Mersch 2005), sondern machen deutlich, was fehlt, wenn nicht verstanden oder falsch verstanden wird (Schurz 1995). Wer das Verstehen verstehen will, ist gut beraten, sich an diese negativen Phänomene zu halten. Nicht von ungefähr sind Missverstehen als Fehler und Nichtverstehen als Negation schon sprachlich auf das Verstehen als Zentralphänomen bezogen. Auch wenn Nichtverstehen als Nicht-Verstehen auf eine unendliche Menge von Phänomenen verweist, die nicht Verstehen zu nennen sind, ist der Bezug zum Verstehen in der unendlichen Negation ‚NichtVerstehen‘ gesetzt. Das heißt nicht, dass auch das Nichtverständliche und Unverständliche dem Regime des Verstehens unterworfen würde. Das Ziel des Verstehens besteht nicht ausschließlich darin, „das Nicht-Verstehen zu überwinden oder zu beseitigen, sondern oft nur, es schärfer zu fassen“ (Stoellger 2005, S. 13). Aber erst im Horizont des Verstehens lässt sich von Nichtverstehen und Missverstehen reden. Das hat gute Gründe. Menschen sind Gemeinschaftswesen, Gemeinschaftsvollzüge gibt es nicht ohne Verstehen, und nur weil wir verstehen können, können wir auch falsch oder nicht verstehen. Würden wir niemals verstehen, dann könnten wir nicht zusammen leben. Und würden wir immer verstehen, dann wäre es nicht unser Leben und unser Zusammenleben wäre keine Herausforderung. Doch Verstehen ist riskant. Es kann missglücken, und häufig geschieht das auch. Eben das zeigt, dass es auch anders sein könnte. Misslungenes Verstehen belegt die Möglichkeit des Verstehens. Andersfalls könnte man es nicht einmal misslungen nennen. 2. Mehrdeutige Verstehensprobleme: Die Möglichkeit des Verstehens wird im Horizont einer negativen Phänomenologie nicht aus den Phänomenen gelungenen Verstehens, sondern aus den vielfältigen Phänomenen des Nicht- und Missverstehens erschlossen. Dass Verstehen möglich ist, heißt also nicht, dass es immer irgendwie schon wirklich ist. Die Wirklichkeit von Verstehen ist weder vorausgesetzt noch bestritten. Nur die Möglichkeit wird angenommen: ‚Menschen können verstehen‘, bzw. genauer ‚Es ist möglich, dass Menschen verstehen‘. Doch das ist nicht genug. Gäbe es überhaupt kein Verstehen in unserem Leben, dann könnten wir nicht zusammen leben und nicht den Versuch machen, uns über das Verstehen zu verständigen. Vieles, was uns widerfährt, verstehen wir nicht. Andererseits scheinen wir aber auch vieles zu verstehen, was wir tun, ohne es zu bemerken, und zwar nicht nur in unserem Alltagsleben. Irgendwie verstehen wir in den meisten Situationen irgendetwas.

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Das ist so trivial, dass wir normalerweise nicht darauf achten. Erst wenn eine Störung auftritt, fällt uns auf, dass etwas anders ist als zuvor. Aber was genau ist anders? Verstehen wir jetzt nicht mehr, obwohl wir vorher verstanden haben? Oder gab es vorher keine Notwendigkeit oder keinen Anlass zu verstehen, während sich jetzt ein Verstehensproblem stellt? Mit ‚verstehen‘ kann das gemeint sein, was zum Problem geworden ist – dann ist das fehlende Verstehen das Problem, das zu lösen ist, und es ist gelöst, wenn wir wieder verstehen. Oder aber ‚verstehen‘ meint das, womit wir versuchen, ein bestimmtes Problem zu lösen – dann ist Verstehen die Lösung bzw. ein Weg zur Lösung des Problems und sein Verlust nicht dessen Anlass. Beides ist möglich, und beides ist häufig auch der Fall. Man hatte verstanden (oder gemeint zu verstehen) und versteht jetzt nicht mehr. Oder man muss sich jetzt um Verstehen bemühen, während es vorher ohne Verstehen ging (oder zu gehen schien). Es ist nicht unerheblich, wie man hier antwortet und von welcher Seite man sich dem Phänomen des Verstehens nähert. Im ersten Fall wäre es normal zu verstehen, nicht zu verstehen dagegen wäre die als Störung empfundene Ausnahme. Im zweiten Fall wäre es normal, nicht zu verstehen, und die Verstehensfrage wäre Symptom eines Problems. Beides hat Folgen für die Fassung des Verstehensproblems. Ist Verstehen ein Grundphänomen, ohne das es menschliches Leben nicht gibt? Dann müsste man davon ausgehen, dass immer irgendwie verstanden wird oder doch verstanden werden könnte: Die Grenzen des Verstehens – des faktisch Verstandenen oder des prinzipiell Verstehbaren – wären dann die Grenzen unseres Lebens. Oder ist Verstehen ein Gelegenheitsphänomen, das nur auftritt, wenn sich im Leben ein Problem stellt, das man damit zu lösen sucht? Dann würde es nur dort Verstehensphänomene geben, wo das Leben nicht mehr wie von selbst funktioniert. Verstehen wäre dann eine Strategie zur Lösung bestimmter Probleme und nicht die Voraussetzung dafür, überhaupt Probleme zu haben und nach Lösungsstrategien suchen zu können. Was Verstehensprobleme sind, wird in beiden Fällen ganz verschieden verstanden. Im einen Fall sind es Fragen, die sich dem Verstehen stellen, im anderen Fall dagegen Fragen, auf die Verstehen die Antwort ist. Verstehen wir also immer schon, oder beginnen wir erst zu verstehen, wenn es nicht mehr anders geht? 3. Lebensphänomenologie oder Methodenlehre? Das ist eine alte Debatte, und sie prägt sich in zwei grundlegend verschiedenen Konzeptionen von Hermeneutik aus. Versteht man unter ‚Hermeneutik‘ den Versuch, auf die Frage nach dem Verstehen von ‚Verstehen‘ eine Antwort zu geben, dann führt die erste Fragerichtung dazu, Verstehen als Grundzug menschlichen Lebens zu identifizieren und Hermeneutik als Phänomenologie des menschlichen Lebens als umfassenden Verstehensvollzugs zu entwerfen (wie es in unterschiedlicher Weise Heidegger, Gadamer oder Ricoeur versucht haben). Die zweite dagegen sieht Verstehen



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als eine Teilfunktion menschlichen Lebens bzw. als eine besondere Operation menschlichen Geistes neben anderen an und konzipiert Hermeneutik dementsprechend als eine Methodenlehre der Operation(en) des Verstehens – sei es für bestimmte Verstehensbereiche (literarische, juristische, theologische Hermeneutik) oder für menschliches Verstehen überhaupt: „Thoroughly understand what it is to understand and not only will you understand the broad lines of all there is to be understood but also you will possess a fixed base, an invariant pattern, opening upon all further developments of understanding“ (Lonergan 1992, S. 22). Beide Betrachtungsweisen müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Nicht alles Verstehen ist der Versuch, ein Verstehensproblem zu lösen, und wenn menschliches Leben grundsätzlich durch Verstehensvollzüge charakterisiert ist, dann schließt das nicht aus, dass sich im Leben auch spezifische Verstehensprobleme stellen. Es gibt kein menschliches Leben, das nicht Gemeinschaftsleben wäre, und es gibt kein menschliches Gemeinschaftsleben, das nicht durch Prozesse des Verstehens, Missverstehens und Nichtverstehens, oder kurz: durch Verstehensprozesse charakterisiert wäre. Wo Menschen zusammen leben, gibt es auch Verstehensprozesse, und wo es Verstehen gibt, auch Missverstehen und Nichtverstehen.

3. Verstehenkönnen als Möglichkeit und Fähigkeit 1. Möglichkeit und Fähigkeit: Dass Menschen verstehen können, kann nun allerdings auf verschiedene Weisen verstanden werden. Einerseits kann es heißen ‚Es ist möglich, dass Menschen verstehen‘, andererseits ‚Es ist Menschen möglich zu verstehen‘. Das erste ist eine de dicto-Aussage über eine hermeneutische Möglichkeit, das zweite eine de re-Aussage über eine menschliche Fähigkeit. Beides ist nicht zu verwechseln. Zum einen sind Möglichkeiten nicht dasselbe wie Fähigkeiten, zum andern gründet nicht alles, was Menschen gemeinsam können, in ihrem individuellen Vermögen. Gemeinsam ist mehr möglich als das, wozu einzelne Menschen je für sich fähig sind, aber individuelle Fähigkeiten können auch Grundlage für den Erwerb ganz anderer weiterer Fähigkeiten werden, die sich nicht direkt aus ihnen ableiten lassen. Man kann lernen, Streichquartett zu spielen, aber die individuellen Kompetenzen, die dazu nötig sind, schließen nicht das Vermögen ein, Streichquartett spielen zu können. Nicht jedem Gemeinschaftsphänomen korrespondiert eine entsprechende individuelle Fähigkeit. Ob und inwiefern das der Fall ist, ist von Fall zu Fall zu prüfen. Das gilt auch für das Verstehen. Dass Menschen manchmal verstehen, erlaubt keinen zuverlässigen Schluss auf ihre Fähigkeit zum Verstehen, und dass

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sie oft nicht oder falsch verstehen, keinen Schluss auf das Fehlen einer solchen Fähigkeit. Dennoch spricht vieles dafür, dass ihr Verstehenkönnen nicht nur als Möglichkeit, sondern als Fähigkeit zu verstehen ist. Ohne die Fähigkeit zu verstehen scheint es für Menschen keine Möglichkeit zu verstehen geben zu können. Die de dicto-Aussage ‚Es ist möglich, dass Menschen verstehen‘ scheint nur wahr sein zu können, wenn die de re-Aussage ‚Es ist Menschen möglich zu verstehen‘ wahr ist. Dass Menschen oft nicht verstehen, spricht nicht dagegen. Man kann etwas nicht verstehen, obgleich man die Fähigkeit zum Verstehen hat, weil es keine Möglichkeit oder Gelegenheit gibt, sie zu gebrauchen. Aber hätte man nicht die Fähigkeit, dann wäre es nie möglich, etwas zu verstehen, und würde man nie verstehen, dann könnte man nicht menschlich unter Menschen leben. Die Fähigkeit zu verstehen gehört zur Wirklichkeit des Menschen als Gemeinschaftswesen. Diese Fähigkeit kann man pflegen und entwickeln oder vernachlässigen und missachten. Sie kann mehr oder weniger ausgebildet sein. Aber fehlte sie gänzlich, wäre es unmöglich, als Mensch mit Menschen zusammenzuleben. Das belegen nicht nur die Phänomene des Verstehens, sondern auch die des Missverstehens und Nichtverstehens im menschlichen Leben. 2. Achten auf Zusammenhänge: Worauf es ankommt, wird deutlich, wenn wir auf die Operationen achten, die dabei vollzogen bzw. nicht vollzogen werden: Wer nicht versteht, kann eine bestimmte Situation oder bestimmte Prozesse in einer Situation nicht sinnvoll fortsetzen. Er hat bestimmte Zusammenhänge nicht erfasst, und wer falsch versteht, hat die in diesem Fall relevanten Zusammenhänge nicht beachtet oder sich auf andere konzentriert. Umgekehrt versteht, wer auf Zusammenhänge achtet, in denen sich der Sinn von etwas aus seinen Differenzen und Beziehungen zu anderem erschließt. Dazu müssen Unterscheidungen vorgenommen werden und es darf nicht alles zugleich und in gleicher Weise in den Blick kommen. Wer alles zugleich sehen will, wird nichts erkennen, und um eines nach dem anderen sehen zu können, muss man jeweils vieles ausblenden, um etwas sehen. Ohne Vereinfachung ist nichts zu erfassen. Manches in einer Situation muss hervorgehoben und anderes zurückgestellt, einiges in den Vordergrund gerückt und anderes im Hintergrund belassen werden. Durch Unterscheiden und Verknüpfen entsteht so ein ‚Bild‘ der Situation, das diese im Medium von Zeichen vereinfachend präsentiert und nicht mit dieser selbst zu verwechseln ist. Was wir sehen, ist das, was wir auswählen, indem wir auf Bestimmtes achten und auf anderes nicht. Das ist riskant, weil anderes wichtiger oder relevanter sein könnte als das, auf das wir achten. Aber das erweist sich unter Umständen erst im Lauf der Zeit, und es setzt voraus, dass ausgewählt und vereinfacht wurde. Im Medium des Zeichens wird das Ausgeblendete und Zurückgestellte allerdings nicht vernichtet, sondern bleibt als Möglichkeit präsent. Es ist daher nie ausgeschlossen, auch anderes auszuwählen und es anders zu verknüpfen, also



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ein anderes ‚Bild‘ der Situation zu entwerfen. Doch das bestätigt nur das Gesagte: Ohne riskante Selektion und kontingente Kombination gibt es kein Verstehen. Nur das, was anders sein könnte, kann verstanden werden, und kein Verstehen ist so, dass es das einzig mögliche wäre. 3. Verstehen und Sinn: Das ist kein Ausdruck hermeneutischer Beliebigkeit. Im Medium von Zeichen wird durch Unterscheiden Bestimmtheit und durch Verknüpfen von Unterschiedenem Einheit generiert. Diese semiotischen Operationen konstituieren nicht das Sein, sondern den Sinn der Dinge. Sein wird in Sinn überführt, indem das, was ist, in Zeichen übersetzt wird, in denen es als etwas präsentiert wird, das sinnvoll oder sinnlos ist. Das kann auf mehr als eine Weise geschehen, weil es mehr als ein System von Zeichen und mehr als eine Übersetzungsweise gibt. Doch erst im Medium von Zeichen und damit im Horizont der Unterscheidung von Sinn (sinnvoll) und Nichtsinn (sinnlos) bzw. Sinn (sinnig) und Unsinn (unsinnig) wird Verstehen möglich. Verstehen zielt auf das Erfassen von Sinn, Sinn ist das, was verstanden werden kann, und weil es Sinn nur im Zusammenhang von Zeichenprozessen gibt, kann auch Verstehen nur im Horizont von Zeichenprozessen verstanden werden. Ganz allgemein lässt sich Verstehen daher als der kreative „Prozeß des Herausarbeitens, des Verwandelns von Unbestimmtem in Bestimmtes“ beschreiben (Fellmann 1991, S. 108). Vor dem Hintergrund bleibender Unbestimmtheit wird Bestimmbares in einer konkreten Lebenssituation durch Selektion und Symbolisierung als Phänomen (oder Phänomenkomplex) herausgehoben, indem anderes zurückgestellt wird, und eben so als Bestimmtes erlebt, erfasst und bezeichnet. Verstehensprozesse sind so im Kern Zeichen- und Interpretationsprozesse. Und die gibt es nicht solipsistisch im Leben isolierter Einzelner, sondern nur in Gemeinschaften.

4. Verstehenkönnen als menschliches Orientierungsvermögen 1. Menschliches Leben als zoe und als bios: Verstehen ist für Menschen die wohl wichtigste Weise, sich in der Welt zu orientieren, in der sie gemeinsam mit anderen leben. Würden wir uns, andere und anderes1 nicht wenigstens ansatz-

1 Auf der Reihenfolge liegt hier kein Gewicht. Es kann mit guten Gründen vertreten werden, dass wir ohne andere zu verstehen auch uns selbst oder anderes nicht verstehen können – oder umgekehrt.

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weise verstehen, könnten wir uns in den wechselnden Situationen unserer Lebenswelten und der unübersichtlichen Komplexität unserer gemeinsamen Welt nicht zurechtfinden. Wir würden dann allenfalls nebeneinander existieren, aber nicht menschlich miteinander leben. Schon biologisch sind Menschen keine isolierten Einzelwesen, sondern Gemeinschafts- bzw. Paarwesen (Fellmann 2005). Sie leben nicht nur in Horden zusammen wie andere Herdentiere, da sich ihre Bedürfnisse (Hunger, Sexualität, Selbsterhaltung, Fortpflanzung) so besser befriedigen lassen. Sie leben vielmehr gemeinsam als Menschen unter Menschen in Beziehungen, in denen sie nicht nur als Exemplare einer Gattung (Besondere eines Allgemeinen), sondern als Wesen aufeinander bezogen sind, die sich selbst und die anderen in bestimmter Weise verstehen (Individuen, Selbste) und die ihr Leben deshalb nicht nur nach vorgegebenen Mustern vollziehen, sondern im Licht alternativer Möglichkeiten so oder anders führen können. Das ist eine alte Einsicht. Menschliches Leben ist nicht nur zoe, also das biologische Sein eines auf seine Selbsterhaltung bedachten Organismus, sondern bios, also Lebensentwurf eines Lebewesens, das seine Lebensform und die Mittel zu seiner Verwirklichung im Zusammenleben mit anderen im Rahmen seiner Möglichkeiten mehr oder weniger frei wählt, weil es nicht nur darauf aus ist zu leben (zen, esse), sondern gut zu leben (eu zen, bene esse).2 Um zu sein, was sie sind, müssen Menschen werden, was sie sein können. Während es im Horizont der zoe immer um Sein oder Nichtsein geht, geht es im Horizont des bios um gelungenes oder verfehltes, menschliches oder unmenschliches Leben. Niemand kann ein Leben führen (bios), der nicht lebt (zoe), und nur wer sein Leben als Mensch unter Menschen zu führen vermag, kann menschlich oder unmenschlich leben. Ein Leben als Mensch zu führen aber ist unmöglich, ohne zu verstehen, und deshalb kann nur, wer versteht, auch menschlich mit anderen zusammen leben. 2. Kontingenz und Steigerungsfähigkeit des Verstehens: Nichts von all dem ist zwangsläufig der Fall. Niemand muss leben, und niemand muss gut leben. Wer lebt, hätte auch nicht leben können, und wer gut lebt, hätte auch nicht gut leben können. Menschen müssen nicht menschlich leben, und sie tun es auch nicht immer. Man kann leben, ohne zu verstehen, und man kann verstehen, ohne menschlich zu leben. Verstehen ist eine Möglichkeit menschlichen Lebens, die nicht schon dadurch verwirklicht ist, dass man lebt (zoe), sondern erst dort, wo man auf bestimmte Weise lebt (bios). So zu leben ist nicht nur eine Möglichkeit für uns, sondern wir haben auch die Fähigkeit dazu. Allerdings realisiert sich das mit der menschlichen Evolution ent-

2 Die Bestimmung ‚gut‘ kann, muss hier aber nicht in moralischem Sinn verstanden werden.



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standene Vermögen zu verstehen nicht nur im Verstehen, sondern auch im Missverstehen und Nichtverstehen. Würden wir immer und nur verstehen, müssten wir uns nicht darum bemühen, und würden wir nichts und niemals verstehen, könnten wir uns nicht darum bemühen. Doch die Bemühung um Verstehen ist für uns Menschen weder unnötig noch unmöglich, sondern eine in vielen Situationen sich stellende Herausforderung. Dabei geht es in der Regel nicht abstrakt um Verstehen anstelle des Nichtverstehens, sondern um ein Mehr oder Weniger des Verstehens, das in vielen Formen, Graden und Stufen auftreten kann. Verstehen ist selten Sache eines scharfen Entweder-Oder. Manchmal verstehen wir nichts, manchmal mehr oder weniger, manchmal meinen wir verstanden zu haben und haben es nicht, und fast immer könnten wir noch besser verstehen. 3. Verstehen als Gemeinschaftsphänomen: Das verweist auf die lebenspraktischen Herausforderungen, die zum Verstehen nötigen. Menschen leben, indem sie sich in und zu den Situationen, in denen sie leben, in bestimmter Weise verhalten. Das setzt voraus, dass sie diese Situationen und sich selbst in bestimmter Weise wahrnehmen und verstehen, um sich in ihnen zu ihnen und zu sich selbst verhalten zu können. Sie nehmen wahr im Medium ihrer Sinne (also durch leiblich vermittelte Kausalprozesse), und sie verstehen im Medium des Sinns (also durch Kommunikationsprozesse, die in komplexe Interaktionen eingebettet sind). Die Sinnlichkeit ihres Wahrnehmens bindet Menschen kausal in die Situationen ein, in denen sie leben. Und diese haben für sie Sinn, weil sie in ihnen nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen leben, mit denen sie kommunizieren und interagieren. So nehmen Menschen ihre Lebenssituationen und sich selbst wahr, indem sie die Gegebenheiten und Konstellationen von Phänomenen ihrer Umgebung über ihre Sinne von ihrem jeweiligen Ort aus (also im Bezug auf sich) im Wechsel von Ort und Zeit differenziert registrieren, sich mittels neuronaler Prozesse ein mentales Bild ihrer wechselnden Situationen und ihrer selbst machen, und dieses Bild im Prozess der kausalen Veränderung ihrer emotionalen Zustände (emotions) und Glaubensansichten (beliefs) permanent modifizieren. Und sie verstehen ihre Lebenssituationen und sich in ihnen, weil und insofern sie gemeinsam mit anderen in lebensweltlichen Praxiszusammenhängen leben, in denen ihnen die Welt immer schon in bestimmter Weise erschlossen und verständlich ist. Sie können sie so nur wahrnehmen, weil sie im Verlauf der Evolution einen Wahrnehmungsapparat ausgebildet haben, der ihnen normalerweise verlässliche Informationen liefert. Und sie können sie so nur verstehen, weil sie darüber hinaus die grundlegende emotionale und kognitive Fähigkeit entwickelt haben, sich mit anderen zu identifizieren, sich in sie hineinzuversetzen und sich, ihre Situationen und ihr Verhalten auch aus ihrer Perspektive wahrzunehmen und zu verstehen. Nur weil sie fähig sind, die Welt, die sie wahrnehmen, auch aus anderer Sicht zu sehen und verstehen, können sie die Welt in ihrer Sicht und damit überhaupt verstehen.

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Es ist daher zwar immer der einzelne Mensch, der versteht, aber Menschen verstehen nur, weil sie zu Gemeinschaften gehören, die verstehen. Das zeichnet sie von anderen Primaten aus. Mit der kognitiven Fähigkeit zur geteilten Intentionalität in gestischer Kommunikation und zur Übernahme der Perspektiven anderer in elementaren Kooperationssituationen des gemeinsamen Lebens (Tomasello 2009) begann die kumulative Entwicklungsbeschleunigung, die den Menschen von der Natur in die Kultur und damit über das Tierreich hinaus führte. Er konnte jetzt in Gemeinschaft und als Gemeinschaft lernen, verstehen und handeln. Und diese Gemeinschaft stellte die kulturelle Entwicklung des Menschen auf Dauer, indem sie für (relativ) zuverlässige Mechanismen der generationsübergreifenden Weitergabe gemeinschaftlich geteilten Wissens sorgte. Wie wir daher nicht allein und ohne andere leben können, obwohl jeder selbst leben muss und das nicht an andere delegieren kann, so können wir auch nicht allein und ohne andere verstehen, auch wenn jeder selbst verstehen muss, um sinnvoll leben und sich verhalten zu können, und jeder anders als andere versteht, wenn er wirklich selbst versteht. Wir leben, lernen und verstehen als Glieder von Gemeinschaften, die leben, lernen und verstehen, aber wir tun es auf je andere Weise als die anderen. Wir sind Kulturwesen, weil wir in Gemeinschaft verstehen, aber wir verstehen auch nur, weil wir kulturell in Gemeinschaft leben. Hier liegt der Grund dafür, dass Menschsein ohne Verstehen nicht das wäre, was wir kennen. 4. Wechselseitige Einbettung: Das heißt nicht, dass es Verstehensprozesse nur bei Menschen geben könnte. Es ist zumindest mit der Möglichkeit zu rechnen, dass auch andere Lebewesen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ‚verstehen‘ können – was immer das im Einzelnen besagen mag. Es wäre jedenfalls vorschnell, Verstehen von vornherein auf menschliches Verstehen zu beschränken. Menschen verstehen menschlich, andere (vielleicht) anders. Hier wie dort tritt Verstehen aber nicht isoliert und für sich auf. Menschliches Verstehen ist eingebettet in die Vollzüge menschlichen Lebens, das seinerseits in die Vollzüge biologischen Lebens und des Lebens überhaupt eingebettet ist bzw. genauer: das diese Prozesse in sich einbettet und sie damit in bestimmter Weise menschlich überformt und (trans)formiert. Es gibt keine Phänomene, die Menschen mit anderen Tieren teilten, ohne sie auf ganz spezifische Weise zu formen und durch Anpassung an ihre komplexeren Strukturen zu modifizieren. Das gilt für Stoffwechselprozesse, neurologische Informationsprozesse, Wahrnehmungsvorgänge, Stimmungen, Emotionen, Kognitionen oder Reflexionen von Menschen ebenso wie für ihre Interaktionen, Kommunikationen und Kollaborationen. Nichts geschieht an irgendeinem Punkt, ohne sich auf irgendeine Weise auch auf anderes auszuwirken. Die Wirkrichtung ist daher nie nur vom Einfachen zum Komplexen, sondern stets auch gegenläufig. Bottom up causation steht neben top down causation und umgekehrt. Sämtliche



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Momente menschlichen Lebens modifizieren sich im Lebensprozess gegenseitig. Der alte Organismusgedanke brachte das durch die Figur der wechselseitigen Bestimmung des Ganzen durch die Teile und der Teile durch das Ganze zum Ausdruck, so dass jeder Teil immer zugleich als Mittel und Zweck aller anderen fungiert (Kant 1977, § 65). Dieses Ganzheitskonzept ist heute fragwürdig geworden und durch dynamischere Begriffe wie Emergenz, Einbeziehung, Einbildung und Einbettung im Rahmen des Konzepts eines lebenden Organismus als eines Stufenbaus offener Systeme abgelöst, der sich im Wechsel der Bestandteile selbst erhält (Ewers 1986). Die Einheit eines Ganzen ist keine Vorgegebenheit, sondern immer Resultat von Vereinheitlichungsoperationen und durch deren Vollzug bedingt. Ändern sich die Operationen, dann ändert sich auch die entsprechende Einheit, und werden diese Operationen durch komplexere Operationszusammenhänge überformt und bestimmt und in andere Operationszusammenhänge eingebunden, dann ändern sich mit ihrem Charakter auch ihre Resultate. Das gilt auch und in besonderer Weise für das menschliche Leben. Durch Einbettung in die komplexeren Strukturen menschlichen Lebens werden die basalen Operationen des Lebens spezifisch menschlich geformt und tragen zum Aufbau des menschlichen Organismus in seinen internen und externen Vollzügen bei. In diesem komplexen Zusammenhang interagieren sie mit Strukturen und Operationen, die ihre Wirkung modifizieren, aber nicht den grundlegenden Charakter ihrer Wirkweise ändern. Auf allen Ebenen vollzieht sich das Leben als Zeichenprozess, von den basalen physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen bis zu den hochkomplexen Interaktionen und Kommunikationen menschlichen Gemeinschaftslebens. Um vorschnelle Verengungen zu vermeiden, sind Verstehensprozesse im Horizont dieser komplexen Zeichenprozesse des Lebens zu verstehen. Und sie zu verstehen heißt, eine zentrale Orientierungspraxis menschlichen Lebens zu erhellen.

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 Ingolf U. Dalferth

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John Richardson

Orientation and Truth in Nietzsche Nietzsche’s diagnosis of our age’s nihilism, with its associated critique of morality, draws in a crucial further target. He famously calls ‘the will to truth’ the very kernel of the ascetic ideal (GM III 27), thus binding it up with morality in its aspect as saying-no to life. This critical diagnosis of our effort at truth is linked with doubts and denials of the very possibility of truth itself – the very coherence of the notion. This apparent campaign against truth is one of the most radical and unsettling elements in Nietzsche’s thought. What we interpret its upshot to be has enormous repercussions for our overall reading of him. I will address this critique of truth by paying particular attention to Werner Stegmaier’s account of it. Stegmaier takes (or so I read him) Nietzsche to draw a more radical lesson from this critique than I will attribute to him – a lesson that gives up more of the age-old ideal of truth than I think he really does. This is the rough gist of the disagreement I take us to have, although I also have doubts whether the difference really amounts to very much – whether it isn’t just terminological, regarding ‘truth’. For I find that Stegmaier pays apt and ample attention to most of the points in defense of (Nietzschean) truth I will offer. He seems to think that they don’t leave enough to be still called ‘truth’. I will sketch how the notion of truth can be modified to answer some of the doubts Stegmaier has against it. Perhaps the ultimate issue is ‘merely’ whether these modifications are so radical that it’s ‘no longer a matter of truth’. Stegmaier’s reading is pervasively couched in terms of ‘orientation’ [Orientierung], a rich and original idea that he has developed in its own right as well as in relation to various other philosophers.1 He takes the notion to be particularly apt in application to Nietzsche, and I think we can well bring out his account of Nietzsche’s position on truth in relation to it. An orientation is – I believe – a stance or bearing that provides some degree of competence within (and with respect to) a certain situation.2 It is ‘knowing one’s way’ in that situation, and hence has a basically practical force. ‘Orientation is the achievement of finding one’s way [zurechtzufinden] in a new situation, to settle possibilities of action, through which it is able to master [beherrschen] the situation’ (Stegmaier 2011a, p. 170). An orientation is thus relative to a situation, and to some problem or challenge or task (viewed as) confronted within that

1 I will rely on several texts that treat the notion in relation to Nietzsche. 2 The idea has strong Heideggerian resonance for me – which helps it well along.

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 John Richardson

situation. An orientation involves a task (or tasks); it has the aim to ‘find its way’, and thereby to ‘master the situation’. Stegmaier takes this to be the root idea in Nietzsche’s notion of will to power. More strictly, an orientation is something dynamic, rather than a state or condition, so that Orientierung might better be translated ‘orienting’ (or ‘orientating’ or even ‘orienteering’). Moreover Stegmaier denies that this process or activity can be attributed to any of the usual culprits – not to ‘the Aristotelian soul, the Cartesian consciousness, the Kantian subject … the human of anthropology or the Heideggerian Dasein’ (Stegmaier 2011a, p. 171). This of course fits well with Nietzsche’s claim to replace being with becoming, and to deny any doer behind the doing. But what use does Stegmaier make of this idea of orientation? What application does he intend it to have? I think part of the point is that orientation is the actual structure of human meaning – something like the real logic of it. Orientation is our deepest project, our basic relation to the world.3 (Here too I hear the point with Heideggerian resonance.) But another part of Stegmaier’s idea is valuative: orientation is to serve as a kind of goal or standard in our theoretical or philosophical practice – we’re to see this as a kind of orienting. What we should want in this practice is really orientation, something quite different from what philosophers have thought they wanted, a systematic truth. An orientation is distinct from a ‘system’, and a number of special features of the former emerge in this contrast. Stegmaier speaks (Stegmaier 2011b, pp. 118–9) of Nietzsche’s ‘renunciation of system’. He objects in particular to Heidegger’s interpretation of Nietzsche, and to the way it attributes to him a set of ‘doctrines’ [Lehren] such as will to power and eternal recurrence – doctrines in which the interpretation tries to ‘fix’ [festlegen] his thinking. Having myself some allegiance to system – and to providing a systematic reading of Nietzsche – I will pay particular attention to Stegmaier’s account of this contrast. I will focus on two main features Stegmaier attributes to orientation and denies to system. First, it belongs to orientation’s dynamic character that it is always provisional: by its very competence it alters the situation it deals with, and calls forth a new orientation. It involves a project that expects to surpass its current stance. By contrast a system attempts to ‘fix’ (fixate) thinking in a set of theses or doctrines. A system has a ‘structure [that] indicates a certain generality and duration, on the basis of which it is thematizable in a general theory’ (Steg-

3 ‘Orientation is the first and most urgent need for all living beings. Everything else, even nutrition or sex or finding a place to sleep, already presupposes orientation’ (Stegmaier 2014, p. 8).



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maier 2011a, p. 170). So a system tries to foreclose orientation’s openness towards the future – its persisting will to ‘restructure’ itself. Secondly and more crucially, an orientation is ‘autonomous’ in that it is out of its own self-relation that it settles all other relations. (It is, as it were, its own ultimate authority.) Stegmaier puts great weight on this ‘self-relation’ [Selbstbezüglichkeit] of orientation. An orientation gives its criteria to itself – its criteria for its own success. ‘It has no stopping-point [Halt] outside itself, but must create it quite by itself’ (Stegmaier 2011a, p. 171). It ‘renounces the illusion of a stopping-point outside of itself, beyond its own standpoint, horizon, and perspective’ (Stegmaier 2011b, p. 141); it ‘makes its stopping-point for itself’ (Stegmaier 2013, p. 6). And in this it is presumably again different from a system that purports to match and take its bearing from facts. It’s by deferring to and matching these facts, that a system claims privilege over competing viewpoints – but this is (claimed to be) misguided. Orientation’s autonomy is (I take it) a freedom from this need to ‘correspond’ to an independent reality; its aim instead is to cope with its own experienced situation, its practical challenges. Stegmaier takes correspondence to be ruled out for Nietzsche by the utter unalikeness of propositions and facts. An alignment of proposition and fact is paradoxical, since ‘they are at the same time supposed to be of a different kind’ (Stegmaier 2005, p. 9). And yet Stegmaier also shows – without putting it so – how Nietzsche can rescue a correspondence-truth. For he points out (Stegmaier 2005, p. 9) a Nachlass note that interprets the distinction between ‘false’ and ‘true’ as a distinction between ‘“abbreviations of the signs” in contrast to the signs themselves’; this eliminates the paradox, Stegmaier suggests, by making it a matter of fit between signs and other signs.4 But as I’ll try to show below, this is precisely the way Nietzsche saves the possibility of a correspondence-truth: it’s the kind of such truth appropriate to a world of perspectives interpreting other perspectives. It is the ‘autonomy’ Stegmaier attributes to orientations that brings us into the domain that will most concern us, for it begins to clarify, I think, the sense in which an orientation is something ‘perspectival’ in what Stegmaier takes to be a Nietzschean sense. In being subject only to its own criteria an orientation is (in some sense) immune to judgment by other orientations and their other criteria. It occupies, as it were, a world of its own. And it’s also not subject to assessment by whether it matches ‘the facts’, or ‘things in themselves’. It’s subject to a practical criterion: whether it successfully handles the situation, with its posed problems

4 ‘While it remains unclear how to compare and align facts and propositions, signs can no doubt be applied to signs, aligned to signs, abbreviated by signs’ (Stegmaier 2005, p. 9).

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or challenges. This situation is very much shaped by the particular interests and goals of the orientation – is quite specific to its perspective. So Stegmaier says (Stegmaier 2011b, p. 150) that Nietzsche renounces ontological reductions, and derivations of the conditioned from an unconditioned, and that: ‘Instead he allows different means of access from different standpoints, he recognizes, as the first in the history of European philosophy in this result, the perspectivity of orientation.’ This perspectivity is true even of the general, such as the Kantian a priori, which simply belongs to a broader perspective (Stegmaier 2011b, p. 151). Even this perspectivism itself is an orientation, which likewise has its grounds only in itself, and not in some independent truth about the world. Nietzsche’s perspectivism is not a thesis or dogma claiming to match reality, but an effort to cope within a given domain of problems. So it is paradoxical to assert perspectivism, or to treat it as a ‘doctrine’. ‘Perspectivism can therefore only be an hypothesis and as hypothesis no positive assertion, but only a negative concession [Einräumung]’ (Stegmaier 2011b, p. 151). A perspective ‘leaves open the possibility of ever-further interpretations in ever-further perspectives’ (Stegmaier 2011b, p. 152). Crucially, in my view, Stegmaier interprets this perspectivism as a kind of relativism. Hence it is a feature of the kind of orientation he encourages us to pursue that it understands itself as not an absolute truth but a relativized one. Stegmaier counsels us – including in the very title of his (Stegmaier 2013) – against ‘anxiety over relativism’ [Angst vor dem Relativismus]. ‘Relativism means not that everything is optional [or arbitrary or ‘as you like’: beliebig], but that every orienting has its standpoint, its horizon and perspective, in which it finds in its situation its own stopping-points’ (p. 7). Each orienting faces its own practical problem, to cope with its given situation, and its successes, including its truths, must be measured by how they help that coping. Stegmaier’s (rejected) opposite to relativism is absolutism. It’s not clear to me whether he thinks these are the only alternatives. Stegmaier understands absolutism as ‘the assumption of an ultimate ground, that is no longer to be grounded and so also no longer can be set in question’ (Stegmaier 2013, p. 6). It believes in ‘an absolute ordering, valid for all and for ever unalterable’ (p. 6). Absolute truth purports to be both unalterable – violating orientation’s provisionality – and true-for-all – violating its autonomy. And – I think Stegmaier supposes – both claims are bound up with the idea of truth as correspondence to facts. The idea of such privileging facts already posits an absolute truth. What then are the implications of all this – of this reading of Nietzsche through the lens of orientation – on the status of truth? Truth is ‘relative’ in the sense that it is always internal or subordinate to some orientation or other. I take this to be Stegmaier’s way of understanding the view often attributed to Nietzsche, that ‘truth is



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perspectival’. There is no criterion to judge the truth of an orientation, outside that orientation itself; this is due to orientation’s ‘autonomy’. There is no external criterion (reality, the facts) to judge one orientation as ‘more true’ than another. There is no ‘absolute’ truth that different orientations can have more or less of. It’s in this light that we should read, I think, Stegmaier’s interpretation of Nietzsche’s views on science and knowledge. The problem with science – unless it becomes fröhlich or gay – is that it pursues and claims an absolute truth. It seeks a system that finds a deeper ground than in its orientation, a ground that privileges it above other orientations. So (Stegmaier 2011b, p. 135): ‘If one can no longer speak of truth in the sense of the correspondence of scientific statements with their objects, because the objects are not graspable without the statements, they become “articles of faith”.’ I suggest that we separate two points in the relativist perspectivism Stegmaier attributes to Nietzsche: (i) it denies that perspectives can/should be judged or assessed by whether they ‘correspond’ to an external reality, (ii) it resists (more generally) ‘privileging’ perspectives over one another and views them as all ultimately equal as perspectives. Stegmaier is more unequivocally committed to (i), but one may suspect that (if not in him then in many others) the deeper allegiance is to (ii), so that objective truth is rendered suspect by its threat to the equality of viewpoints. The idea that all perspectives are ‘on a par’ with one another, each being authoritative regarding itself, stands in prima facie tension with Nietzsche’s insistence on ‘rank-order’. He stresses that wills and perspectives stand in an order of rank – are higher and lower, better and worse. But that relativist reading can defend itself here. It can argue in defense of (i) that Nietzsche’s frequent critiques of truth show that he doesn’t rank perspectives by how true they are. And it can argue in defense of (ii) that he offers his rankings as only ‘from his perspective’, with no claim to find truths that must be binding on us (with our different perspectives). I hear the first point in Stegmaier’s stress on ranking by Orientierungsfähigkeiten: what matters is practical progress, not the truth. And Stegmaier quite explicitly makes the second kind of argument: he relativizes assessments of rankorder to the type of person that makes them – whether solitary or herd-ish. ‘These types can’t and shouldn’t be measured against one another, “assessed” by one another. For they follow inevitably different perspectives: the rank-order looks inevitable from each rank in its difference, it can give no universal understanding, no universally-valid concept, and Nietzsche too can have only his understanding’ (Stegmaier 2011b, p. 182). Nevertheless I think inspection reveals that Nietzsche’s main view is the reverse, on both of these crucial points. He makes the truthfulness of perspectives

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a major criterion in ranking them. And he insists that his own perspective is really higher than others’ perspectives, in large part by being more true. Ecce homo is particularly emphatic in casting Nietzsche’s lot on the side of truth; he wants us not to misunderstand him here, after all his expressed doubts. So EH, Warum ich ein Schicksal bin 1: ‘the truth speaks out of me. – But my truth is terrible: because lies have been called truth so far. … I was the first to discover the truth because I was the first to see – to smell – lies for what they are’.5 I think all the elements of Nietzsche’s positive position on truth are individually recognized by Stegmaier. He makes all the important points – yet doesn’t acknowledge the extent to which they amount to a crucial valuing of truth. We can see this in Stegmaier’s ideas about the ‘decisive new orientation’ he thinks Nietzsche calls for, in the face of nihilism, understood (very plausibly) as a severe ‘disorientation’ (Stegmaier 2011b, p. 120). What counts in favor of the new orientation Nietzsche hopes for are, I suggest, ways it will have found and incorporated truths – ways it will be truer than our orientation so far. Perhaps the most defining feature of this new orientation is that it will see its own perspectivity. Stegmaier expects, I take it, that the new orientation will recognize its own character as orientation – and give up pursuing absolute truths. It will escape disorientation not by throwing itself back into beliefs in absolute truths, but by learning the lesson of morality’s self-overcoming, the lesson that truth and value are both perspectival. I agree in attributing this idea to Nietzsche; I even take it to be his dominant project to ‘incorporate’ the truth of perspectivism. But we must acknowledge that this is indeed a claim about a kind of truth – a second-order truth about the real character of truth itself. Nietzsche puts this guiding ambition in a famous passage in GS 110: The thinker – that is now the being in whom the drive to truth and those life-preserving errors are fighting their first battle, after the drive to truth has proven itself to be a life-preserving power, too. In relation to the significance of this battle, everything else is a matter of indifference: the ultimate question about the condition of life is posed here, and the first attempt is made here to answer the question through experiment. To what extent can truth stand to be incorporated? – that is the question; that is the experiment.6

The new orientation Nietzsche wants will rest on more than just this meta-truth, however. It will ‘revalue’ existing moral values not just by stripping them of their absolutist force, but by holding them up to certain positive standards that Nietz-

5 And EH, Warum ich ein Schicksal bin 3: ‘Zarathustra is more truthful than any other thinker. His teaching, and his alone, has truthfulness as the supreme virtue.’ 6 See too GS 11.



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sche builds around his notion of ‘life’. He judges moral values by whether they are healthy or sick, strong or weak, and – above all – by whether they advance or hinder ‘life’. However this is not the place to examine this key notion and its basis for other terms such as healthy and strong. What’s important here is that Nietzsche’s judgments about moral values’ damaging effects, as about their (expression of) sickness and weakness, can only be claims to the truth – a correspondence truth – about either these values’ results, or their (expressive) sources. Nietzsche’s lessons to us depend on the truth of such claims as that pitying harms the pitier, or that moral blame expresses ressentiment. If he’s not right in his psychology on points such as these, his critique of morality loses what is really its sole support – the only reasons he gives us for assessing and valuing as he does. He purports to see better than we do morality’s real sources and effects. I suggest that efforts to (as it were) read the value of truth out of Nietzsche contradict a main part of the experience of reading him: he so imposingly conveys that he ‘sees better’ and ‘knows more’ than the rest of us do, about human psychological paths in particular.7 It is part of the very flavor of his writing that it purports to be keenly, exceptionally discerning. This is the powerful claim it makes to our attention. Nietzsche presents himself to know more about ‘life’ – about human psychological life – than his readers. The truths Nietzsche purports to have are about perspectives – about the viewpoints expressed in various values, theories, experiences, etc. Usually he purports to see truths about them that are not overt in the perspectives themselves: he claims to know something about them that they don’t know themselves. He claims on the one hand to be able to ‘see as they see’, but also to see something very important that they don’t see, i.e. why they see as they do. He claims at once to understand the perspective ‘from inside’, but also to understand it from a particular ‘external’ angle that shows a reason or cause it doesn’t notice itself. If Nietzsche has a ‘perspectivism of truth’, it lies in the idea that truth is a matter of perspectives understanding perspectives.8 We can see him as adapting the notion of truth to suit this model. So truth involves a conjunction of two attitudes, in one of which one ‘occupies’ a perspective, in the other of which one ‘sees why’ the perspective sees that way. And to the extent that one achieves this double viewpoint, one knows more than the perspective one understands. This

7 EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 5: ‘that a psychologist without equal speaks from my writings, is perhaps the first insight reached by a good reader’. 8 Nachlass 1886, 5[12], KSA 12.188 (LNp107) says that the perspectival would belong to the essence if ‘everything is something that perceives’.

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shows us Nietzsche’s crucial way to have more (of the) truth. It’s the claim he makes for his genealogy, and is implicit in every one of his psychological diagnoses. I noted above how a correspondence-truth is rescued from Nietzsche’s doubts against thoughts matching facts, by seeing that it’s a matter of perspectives understanding perspectives – and that these can ‘match’. If truth involves ‘occupying’ the perspective to be understood, this looks like a kind of matching. But what about the other attitude involved in truth about a perspective – seeing ‘why’ it is as it is? Won’t the causes of perspectives be non-perspectival facts, opening up an unbridgeable gap once again? Nietzsche thinks not, because he thinks that those causes are also perspectival wills, and can likewise be understood ‘from within’. So one sees, for example, that a common kind of moral judgment (which one knows from experience) has its roots in ressentiment – an attitude one is also well-acquainted with, though its presence in the judgment was suppressed in the judging. It is by understanding perspectives this way, and by understanding more and more such perspectives, that Nietzsche claims to be a psychologist without equal. One favorite device is to use two opposing viewpoints to diagnose one another, so that each exposes in the other an unflattering aspect it can’t itself avow. Nietzsche prides himself on his ability to ‘switch’ perspectives in a way that lets him ‘know more’ than either does individually.9 When truth’s domain is perspectives, the main lesson is to multiply perspectives in such a way as to synthesize them into a fuller – and truer – view.10 Nachlass 1888/89, 25[6], KSA 13.639: ‘I have the greatest comprehensiveness [Umfänglichkeit] of soul that a human has ever had’. Nietzsche thinks – I suggest – that adapting the notion of truth to apply to perspectives requires one quite basic change in it. We must no longer see true and false as ‘opposites’, but as relationships along a scale. x is true in relation to the false y, when x has ‘more of the truth’, lies higher on the scale than y. To see truth as a scalar notion is a way to give up ‘absolute truth’, while still allowing a ranking of perspectives by ‘how true’ they are. Nietzsche claims not ‘the truth’, but ‘more truth’ than the usual views he engages. I suggest that this one impor-

9 See the end of EH, Warum ich so weise bin 1, culminating in: ‘I have a hand for switching perspectives: the first reason why a “revaluation of values” is even possible, perhaps for me alone.’ 10 GS 382: ‘Whoever has a soul that thirsts to have experienced the whole range of values and desiderata so far … , whoever wills to know from the adventures of his ownmost experience how a conquerer and discoverer of the ideal feels, and also an artist, a saint, a legislator, a sage, a scholar … ’.



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tant modification in the notion of truth shows what a ‘non-absolute’ and yet ‘nonrelativist’ truth might be like. Nietzsche’s scalar notion of truth mostly foregoes the effort to imagine an end-point to the scale, a ‘full truth’. Sometimes he speculates that the full truth about a thing (a perspective) would be a kind of synthesis of every perspective on it.11 But mainly he treats the notion of a full truth as incoherent. There may indeed, as GS 374 suggests, be infinite perspectives that would need to be brought together for full truth – showing the latter’s impossibility. Nachlass 1885/86, 1[120], KSA 12.39 (LNp63): ‘The same text allows countless interpretations: there is no “correct [richtige]” interpretation.’ However this does not at all exclude these interpretations being truer and falser than one another – and Nietzsche will insist on this. (As GS 374 itself goes on to speak of ‘stupidity, foolishness [Dummheit, Narrheit] of interpretations’.) But I haven’t addressed the question of ‘system’, and I would like to conclude with some comments on this. I agree that systematicity as Stegmaier understands it cannot be congenial to Nietzsche. He expresses hostility to it in such passages as Nachlass 1885/86, 2[155], KSA 12.142 (WP.470, LNp91): ‘Deep disinclination to come to rest once and for all in any total-view of the world; charm of the opposite way of thinking; not to let the attraction of the enigmatic character be taken from one.’ But I think the notion of system is more flexible than Stegmaier (or often Nietzsche) allows. I want to suggest some ways it can be adapted to suit this kind of truth by/of perspectives I’ve mentioned. I take systematicity to be a matter of (insisting on) thinking the connections between points. So, in application to Nietzsche, it’s a matter of trying to see his viewpoint ‘as a whole’, in how it unites and draws together a great many separate ideas. A system tries to distinguish those separate points sharply and distinctly (it is in this aspect ‘analytic’), but then to unite them by making them pay attention to one another. A system need not be ‘architectonic’ – grounded in first foundations everything else is built upon. It can aptly have a ‘hermeneutic’ justificatory logic, due to its very effort to make the different parts of the theory take account of one another – to adjust them to one another. It will be appropriate to think of Nietzsche as such a systematizer to the extent that he does insist on thinking the connections between points – does ‘mean’ them in relation to one another. And I suggest that this is true of him. He thinks often about the connections between his ideas, he tries very hard to pull them together. To be sure his systematicity is well-disguised by the ‘aphoristic’ character of so much of his writing – by how he breaks it apart into sections or

11 Nachlass 1885/86, 2[149], KSA 12.140 (WP.556, LNp90).

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paragraphs not tied successively to one another. But still he is highly attentive to the relations among his main thoughts and themes. He has, in this regard, quite a systematic mind, in his need to mesh his ideas to another. So in GM, Vorrede 2: [Philosophers] have no right to be single in anything: we may neither err singly nor hit upon the truth singly. Rather, with the necessity with which a tree bears its fruit our thoughts grow out of us, our values, our yes’s and no’s and if’s and whether’s – the whole lot related and connected among themselves, witnesses to one will, one health, one earthly kingdom, one sun.

We’ve seen that Stegmaier thinks that system rules out the ‘provisionality’ he associates with orientation. He thinks of a system as attempting to ‘fix’ positions in place. But I don’t see why a system needs to foreclose improvement – why it can’t have the same openness to amendment that belongs to orientation.12 A system – as a synthetic organization of a multiplicity of ideas – can embrace that ‘scalar’ notion of truth just introduced. It can recognize that truth comes in degrees, and posit itself as not ‘the’ conclusive and ultimate truth, but as truer than the perspectives it seeks to supplant. It can understand itself to lie on a relative position on a ladder or scale. Indeed, it can aspire to exceed other positions precisely by its systematicity – by the way it is able to unite its elements. Stegmaier also thinks that system is incompatible with orientation’s ‘autonomy’. Here I agree, but think that this counts in favor of system. Stegmaier has Nietzsche give up more of the aim of correspondence or matching than I think he really does. Nietzsche wants to ‘see better’ the world – a world he sees as consisting of perspectives (or perspectival wills). It’s out of this principally-psychological insight that he sets himself up to evaluate morality, and everything else we care about. He thinks he sees as we see, but sees more. He knows well the moral attitude ‘from within’, but knows as well some further things that explain it, such as ressentiment. Nietzsche’s critique of Christianity and morality cannot dispense – I suggest – with such claims to ‘see better’ than they in such ways. Now what are the consequences of all this for the applicability to Nietzsche of Stegmaier’s notion of orientation? The notion is richly useful, and is in many respects well suited to Nietzsche. But I think it needs to be adjusted in one crucial respect. It needs to ‘make more room for truth’. It should be recognized that an orientation can see better or know more than another orientation – or than itself

12 I find that Stegmaier recognizes this in his Philosophie der Fluktuanz (Stegmaier 1992). He says that Nietzsche ‘expected of [his thoughts] that they be systematically connected. What he rejects is not system as a form of later presentation of the thought, but as a form that binds the course of thinking from the start’ (p. 285).



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at an earlier date. It should be allowed that orientations are not the ultimate authorities on themselves, but can be judged by others that see why they are oriented so. So rather than being, in their autonomy, all on a par with one another, each valid in its own terms, as relativism would have it, they can be ranked, and ranked by how true they are. Such a ranking depends not on positing any ‘absolute truth’, but a scalar truth which is still a matter of ‘correspondence’. Truth is about perspectives, is a matter of ‘getting right’ how they see, and why they see so.

Literaturverzeichnis [Note: In citing the Nachlass I append references to notes’ appearances (if they do appear) in the collections The Will to Power [WP] and Writings from the Late Notebooks [LN], for easier access by English readers.] Bittner, Rüdiger (Hrsg.) (2003): Writings from the Late Notebooks. Übers. von K. Sturge, Cambridge. Stegmaier, Werner (1992): Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche. Göttingen. Stegmaier, Werner (2005): „Nietzsche’s Doctrines, Nietzsche’s Signs“. In: The Journal of Nietzsche Studies, 31, S. 20–41. Stegmaier, Werner (2011a): „Die Autonomie der Orientierung“. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, 10, S. 161–173. Stegmaier, Werner (2011b): Friedrich Nietzsche zur Einführung. Hamburg. Stegmaier, Werner (2013): „Keine Angst vor dem Relativismus. Der Halt der Orientierung“. In: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte, 4.2, S. 377–395. Stegmaier, Werner (2014): „7 Theses“ [Konferenzpapier]. The Moral Challenge of Nietzsche’s Nihilism. Salt Lake Community College.

Francesco Totaro

Orientierung, Perspektive, Wahrheit. Versuch einer Verbindung Ziel der folgenden Überlegungen ist ein zweifaches, wie auch der Sinn meines Versuchs einer Verbindung ein zweifacher ist. In erster Linie möchte ich die Orientierung und die Perspektive mit der Wahrheit in Verbindung bringen. Zugleich liegt mir daran, so weit wie möglich, an die Philosophie der Orientierung Werner Stegmaiers anzuknüpfen.1 Beginnen werde ich mit einer Betrachtung der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der „Philosophie der Orientierung“, wobei diese zu einer Art Katalog geordnet und einer kritischen Auseinandersetzung unterworfen werden sollen. Ein jeder der untersuchten Punkte ist daher in zwei Momente artikuliert: a) Exposition des Themas, mit direkten Zitaten des Autors oder einer Zusammenfassung meinerseits; b) mein jeweiliger Kommentar zu diesen Themen. Dieses Gerüst könnte den Eindruck erwecken, dass ein für sich genommen sehr reiches und fließendes Denken in Segmente zerschnitten wird. Trotzdem erlaubt es mir, seine konstitutiven Kernpunkte zu Tage zu fördern und im Folgenden, mit einem unvermeidlichen Downgrade, dazu überzugehen, thematisch meine Position darzustellen.

1. Der situationelle (oder praktisch-situationelle) Charakter der Orientierung Exposition Auszugehen ist von dem Umstand, dass man sich in einer Situation befindet. Beim Übergang von einer gegebenen zu einer neuen Situation ist es notwendig, sich zu orientieren, indem Handlungsmöglichkeiten ausgemacht werden, mit denen eine solche Situation zu beherrschen ist.

1 Ich beziehe mich auf das imposante Werk Werner Stegmaiers Philosophie der Orientierung (Stegmaier 2008). Der Autor hat eine Kurzfassung seines Denkens in Form einer Vorlesung an der Universität Macerata am 2. November 2010 vorgestellt, mit dem Titel Nietzsches Freisetzung einer Philosophie der Orientierung. Aus diesem Text wird im Folgenden zitiert.

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Kommentar Voraussetzung ist, dass man in jeder Situation immer über die Situation selbst hinausgeht, indem man die Situation verlässt. Das Handeln selbst ist ein ständiges Verlassen einer Situation. Zugang zu einer neuen Situation hat man, weil die Situation, in der man sich befindet, partiell und provisorisch ist. Sich in einer Situation zu befinden und sich dabei darauf vorzubereiten, mit einer neuen fertig zu werden, bedeutet daher, ein gegenüber der Situation befindliches Darüber­ hinaus anzustreben. Was macht den Überstand gegenüber der Situation möglich? Eine intentionale Öffnung, die sich nicht mit der gegebenen Situation deckt. Eine intentionale Öffnung deckt sich jedoch mit keinem bestimmten Horizont, sondern ist vielmehr der Horizont der Horizonte. Die intentionale Öffnung, die einen jeden Horizont umfasst, deckt sich mit der transzendentalen Öffnung des Bewusstseins. In welcher Beziehung stehen die intentionale Öffnung und die Beherrschung der bestimmten Situation? Was heißt es, die Situation zu ‚beherrschen‘? Zu vermeiden, dass die neue Situation in Kontrast zu der vorhergehenden steht? Dafür zu sorgen, dass sie die Handlungsfähigkeiten desjenigen, der sich mit ihr auseinanderzusetzen hat, nicht übersteige? Zu vermeiden, dass die Beziehung zu ihr passiver Natur sei, in einem Zustand der Abhängigkeit? Was immer die Antworten auf diese Fragen sind, sie kommen nicht umhin, als Hintergrund eine Idee der Irreduzibilität zu besitzen, nicht nur gegenüber der gegebenen Situation, sondern gegenüber einer jeden Situation. Man ist also niemals nur in einer Situation, sondern immer in einer Bewegung der Überschreitung der Situation.

2. Ursprungs- oder Hauptcharakter der Orientierung E. Orientierung ist Arché: „Sie geht allem Denken und Handeln voraus“, denn „alles Denken und Handeln hängt von vorausgehenden Orientierungsentscheidungen ab“. K. Dies bedeutet, dass Denken und Handeln vorweg die Entscheidung haben, sich zu orientieren. Die Orientierung, die für sich genommen kein Gegenstand einer Entscheidung ist, weil sie „immer das Erste“ ist, würde also über Denken und Handeln entscheiden. Aber in Bezug worauf entscheidet die Orientierung? Entscheidet sie über die Inhalte von Denken und Handeln? Entscheidet sie über ihre Richtung? Oder entscheidet sie, genauer gesagt, über die sachdienlichsten Modalitäten der Auswahl, was die tatsächliche Verwirklichung der Inhalte von Denken und Handeln angeht? Wäre dem so, so wäre der Bereich von Denken und Handeln breiter angelegt als im Falle ihrer Orientierung auf eine bestimmte Richtung hin.



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3. Selbstbezüglichkeit der Orientierung E. Jede Orientierung ist selbstbezüglich bzw. verweist auf eine vorausgehende Orientierung. Das bedeutet, dass immer schon eine Orientierung vorliegt oder man immer schon orientiert ist. Die Orientierung orientiert sich selbst, und aus dem Kreis der Orientierung kommt man nicht heraus. „Orientierung ist insofern immer Umorientierung“. K. Hier wird die Orientierung in ihrer allgemeinen Ausdehnung betrachtet und nicht nur in ihrer Anwendung auf eine besondere Bestimmung; sie ist in erster Linie eine transzendentale Öffnung. Da sich gleichzeitig auf alles hin zu orientieren bedeuten würde, sich auf nichts hin zu orientieren, beschränkt sich die Orientierung in ihrem tatsächlichen Funktionieren und partikularisiert sich. Nur indem die Orientierung selektiv wird, funktioniert sie. Das heißt, dass eine an sich auf alle Inhalte hin offene Funktion sich immer auf den einen oder anderen Inhalt richtet. In diesem Sich-Ausrichten wird die Orientierung als trans­ zendentale Funktion zu einer empirischen Funktion. Da man in der aktuellen Erfahrung jedoch immer offen bleibt gegenüber jeder möglichen Erfahrung, gibt die Orientierung ihre transzendentale Valenz niemals auf.

4. Zeitlichkeit und Evolution der Orientierung E. Die Orientierung hat es mit Zeit zu tun: „Sofern es die Orientierung mit neuen Situationen zu tun hat, hat sie es mit der Zeit zu tun“. So kann die Orientierung, hinsichtlich vieler Dinge, sich verändern: „Wird vieles nachhaltig anders, muss sich auch die Orientierung nachhaltig ändern“. K. Es heißt, dass sich zwar Vieles verändern kann, die Kontinuität oder das Andauern der Funktion der Orientierung selbst jedoch bleibt. Das bedeutet, dass die Orientierung, die als transzendentale Funktion des Bewusstseins bleibt, immer etwas vor sich findet, das von Mal zu Mal jeweils gegeben ist – etwas, das das Bewusstsein selbst als etwas Gegebenes anerkennt – und das es zur Kenntnis nimmt. Dies ist der Moment der empirisch-phänomenologischen Gegenüberstellung der Orientierung. Ihr ist es zu verdanken, dass die Orientierung tatsächlich ausgeübt werden kann. Dies bringt es mit sich, dass die Orientierungsfunktion sich immer in der Beziehung zur Erfahrung neu strukturieren muss.

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5. Die Paradoxalität der Orientierung E. Was bedeutet Paradoxalität? Im Laufe der Zeit ist die Orientierung immer das gleiche und doch etwas verschiedenes. Paradoxe sind keine Blockierungen des Denkens, sondern Mittel desselben. Eine gewisse Steife des wissenschaftlichen Denkens könnte im alltäglichen Denken ein Beispiel für die Fähigkeit finden, sich neu zu orientieren. K. Die Paradoxalität deckt sich mit dem empirisch-transzendentalen Charakter der Orientierung. Die Umorientierung ist untrennbar eine ständig allem gegenüber offene Orientierung und eine solche, die sich immer wieder neu zu orientieren hat.

6. Die Ungewissheit der Orientierung E. Unter dem Zeitdruck bedarf die tägliche Orientierung der Schnelligkeit, da man andernfalls von der Situation überrollt wird. Das liegt am Zeitdruck in den alltäglichen Situationen. Vormalig vernachlässigte Bezugspunkte machen Gewissheiten zu etwas Ungewissem. Um über die tägliche Orientierung Rechenschaft abzulegen, muss die Philosophie der Gewissheit der Ungewissheit weichen. K. Die Ungewissheit ist eigentlich eine provisorische Gewissheit. Dies impliziert, dass man in der Gewissheit ungewiss sein muss. Die Ungewissheit ist nicht absolut. Ist sie also ihrerseits provisorisch? Wäre sie es nicht, hätte man nur Ungewissheit, die jedoch nichts besäße, auf dem sie gründet. Auch das ist ein Paradoxon, von der Seite der Ungewissheit aus gesehen.

7. Die Plausibilität der Orientierung E. Die vorläufigen Gewissheiten werden plausibel, wenn sie zu guten Ergebnissen führen. Das Kriterium der Plausibilität besteht darin, sich im Handeln zu bewähren. „Vorläufige (also letztlich ungewisse und darum paradoxe) Gewissheiten reichen zum Handeln aus“. „Soweit sie sich im Handeln bewäh­ren, werden sie zu Plausibilitäten“. Was ist also eigentlich plausibel? Hier die Definition: „Plausibel ist das, dem man spontan, ohne weitere Fragen und Begründungen, zustimmt“. K. Die „spontane“ Konnotation der Plausibilität schließt „weitere Fragen und Begründungen“ aus. Das bedeutet jedoch, dass die Plausibilität selbst grundlegend wird: „Alle Fragen nach Begründungen enden zuletzt bei Plausibilitäten, und alle propositionalen Begründungen gehen von ihnen aus. Auch philosophische Orientierungen beruhen zuletzt auf unbegründeten Plausibilitäten“. Auf



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diese Weise scheint die Plausibilität den Platz der Wahrheit einzunehmen. Aber besteht die Wahrheit nur im guten Gelingen des Handelns? Oder ist sie etwas Weitläufigeres? Zur Beantwortung dieser Frage kehren wir zur intentionalen Öffnung des Bewusstseins zurück. Diese ist nicht allein auf das Handeln ausgerichtet. Das Handeln ist einer der Modi der Öffnung. Wenn das so ist, so ist die Plausibilität eine partielle Seite der intentionalen Öffnung. Beim Handeln kann das Paradigma der Vorläufigkeit und der Plausibilität gelten. Man muss jedoch aufpassen, nicht in einem Teufelskreis zu enden. Ich versuche zu erklären, was ich damit meine. Wenn ich sage, dass ein gewisser Inhalt dadurch plausibel wird, dass er durch das Handeln bewiesen wird, oder es erlaubt, beim Handeln Erfolg zu haben, so leite ich die Plausibilität vom Ergebnis des Handelns ab. Nur a posteriori kann ich also behaupten, dass dasjenige, was als plausibel bewiesen wird, auf Annahme, Einverständnis etc. stößt. Das Plausible basiert also auf dem Gelingen des Handelns. Andererseits sollte das Plausible jedoch jeder Grundlegung und Begründung vorausgehen. Mehr noch: alle Fragen der Grundlegung (vermutlich mit einer Bewertung auf Grund von Wahr-FalschWerten) würden auf die Plausibilität verweisen. Darin besteht der Teufelskreis: plausibel ist, was a posteriori erscheint, jedoch zugleich a priori ist. Wie könnte es zugleich Ziel- und Ausgangspunkt sein? Vielleicht könnte man sagen, dass es zu Beginn nur eine Hypothese der Plausibilität gibt. Sodann müsste erklärt werden, was eine Hypothese plausibel macht, von der man die Ergebnisse noch nicht kennt.

8. Die Positionalität der Philosophie E. „Philosophie mit wissenschaftlichem Anspruch be­ ansprucht heute keine absolute Wahrheit oder Geltung mehr“. Weiter: die Philosophie „wird als Auseinandersetzung unter gegensätzlichen Positionen betrieben, denen gleiche Gel­ tungsansprüche zugestanden werden“. K. Problem: impliziert überhaupt einen Geltungsanspruch zu besitzen nicht bereits, einer Vorstellung von Geltung an sich Raum zu gewähren? Ist hierbei nicht zumindest implizit der Verweis auf eine ,unbedingte‘ Idee der Wahrheit immer vorhanden und drücken in der Orientierung auf sie die verschiedenen und kontrastierenden Positionen nicht ihre ,bedingte‘ Wahrheit aus? Erlaubt nicht gerade die Orientierung auf eine Geltung als solche die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Positionen und ermöglicht sie es also nicht, diese in ihrem besonderen Wahrheitsanspruch akzeptabel zu machen? Jede dialogische Haltung impliziert einen Meta-Logos, der das Dialogieren selbst möglich macht und jeder Position die Würde legitimer Wahrheitssuche verleiht, auch derjeni-

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gen, die sich zu anderen Perspektiven in Beziehung setzt. Der positionale Charakter einer jeden Behauptung braucht eine absolute oder, besser noch, unbedingte Wahrheitsidee nicht auszuschließen. Er verlangt vielmehr, keine vollkommene Deckung einer solchen absoluten Idee zu beanspruchen. Also könnten die unterschiedlichen und auch kontrastierenden Positionen perspektivisch betrachtet werden bzw. als anders an der Wahrheit orientierte Gesichtspunkte. Die intentionale Orientierung an der Wahrheit durch eine jede Position würde auf deren Vorstellung von sich selbst Einfluss nehmen. Jeder Position obläge es, einem teilnehmenden Verständnis zugängliche Argumente und Begründungen zu verwenden, egal ob sie, jeweils unter Anfügung verständlicher Argumentierungen oder Begründungen, geteilt oder abgelehnt werden. Es handelt sich um die Aufgabe gegenseitiger Überzeugungsarbeit durch übersetzbare und verallgemeinerbare sprachliche Angebote. Die Orientierung an einer gemeinsamen Wahrheit kann deren gutes Gelingen erleichtern. Die Öffnung gegenüber einem logischen und motivationalen überpositionalen Feld ermöglicht die Geflechte von Plausibilitäten zwischen den verschiedenen Gesichtspunkten.

9. Die Kulturalität der Philosophie E. Da es unterschiedliche Plausibilitäten gibt, wird Philosophie „heute immer mehr als interkulturelle betrieben“. Weiter: „Eine Philosophie der Orientierung kann die Orientierungskulturen zueinander in Beziehung setzen“. K. Die Beziehung zwischen Kulturen, die zur Orientierung bereit sind, impliziert in der Orientierungstätigkeit die Anerkennung von etwas Gemeinsamem, von einem Horizont der Horizonte, zu dem eine jede Orientierung in Spannung steht. Andernfalls wäre die Beziehung sowohl dem Respekt als auch der Unterdrückung ausgesetzt.

10. Die Pluralität der Freiheiten und Wahrheiten E. Die Philosophie der Orientierung schließt aus, dass diejenigen Freiheiten, die spezifischen Bereichen eigen sind, auf eine solche Freiheit zurückgeführt werden können, die als etwas Metaphysisches oder Transzendentales verstanden wird. Ebenso schließt sie aus, dass Wahrheiten unterschiedlicher Art auf eine Wahrheit zurückgeführt werden können. Eine Wahrheit kann höchstens von anderen in ihrer Orientierung geteilt und auf diese Weise zu einer allgemeinen werden. Es bleibt jedoch bestehen, dass die Wahrheiten immer Wahrheiten für jemanden sind. Man kann sich ‚für‘ oder ‚gegen‘ sie entscheiden.



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K. Es drängen sich zwei Themen auf, die die Freiheit und die Wahrheit betreffen. Was die Wahrheit angeht, muss Stegmaier, obwohl er von Wahrheiten im Plural spricht, in jedem Falle eine ‚Definition‘ geben, die für eine jede Wahrheit zu gelten scheint: „Als wahr gilt etwas, solange ihm nichts entgegensteht oder ihm nicht widersprochen wird“. Diese Definition schließt eine doppelte logische Bindung ein. Die erste ist eine Bindung der Kohärenz ad intra: wer etwas mit dem Anspruch auf Wahrheit behauptet, muss ein Kriterium des inneren Nicht-Gegensatzes gegenüber des von ihm Behaupteten respektieren bzw. sich ihm anpassen und mehr noch ein Kriterium des Nicht-Widerspruchs. Zugleich A und das Gegenteil von A zu behaupten, und mehr noch A und Nicht-A, würde den Verzicht darauf bedeuten, etwas als wahr Geltendes auszusagen. Die zweite Bindung ist eine solche der Kohärenz ad extra: wer der eigenen Aussage mit Gründen widersprochen sieht, der muss auf sie verzichten, um der von der eigenen Behauptung verschiedenen Aussage den Charakter des Nicht-Gegensatzes und der NichtWidersprechbarkeit einzuräumen. Die provisorische Dauer einer Aussage mit Anspruch auf Wahrheit hängt ab von ihrer begründeten Überwindung durch eine Wahrheit, die zeigt, größere Geltung zu besitzen, sofern sie zumindest momentan nicht dem Gegensatz oder Widerspruch ausgesetzt ist. Die Begegnung mit anderen Gesichtspunkten findet also nach Wahrheit statt, wenn die Entscheidung zugunsten eines solchen auf der Annahme einer für alle Gesichtspunkte gültigen logischen Bindung gründet. Eine solche Bindung hängt nicht vom jeweiligen Gesichtspunkt ab, sondern ist das, woran ein jeder Gesichtspunkt gemessen wird. Aus diesem Grunde kann eine jede, im Ursprung besondere Wahrheit (besonders in ihrer Entstehung oder ihrem Entdeckungsprozess) danach streben, allgemein zu werden. Da sie in einer Perspektive steht, reduziert die Wahrheit sich nicht auf den in der Perspektive eingeschlossenen Horizont und erstreckt sich über die Perspektive hinaus. Die Wahrheit in der Perspektive ist zugleich eine Perspektive auf die Wahrheit. Die Wahrheiten orientieren sich an der Wahrheit. Letztere kann auch noch nicht in ihren Inhalten definiert sein, nach ihr zu streben ist jedoch die Bedingung, dank derer die besonderen Wahrheiten sich als etwas darstellen können, das als wahr gilt. Wahrheiten sehr unterschiedlicher Art erkennen sich in einer gemeinsamen Wahrheitsbindung wieder. Hinsichtlich der Freiheit ist es notwendig hervorzuheben, dass diejenigen Freiheiten, die spezifischen Spielräumen eigen sind, welche als „geregelte Grenzen ungeregelten Verhaltens“ verstanden werden, als Bedingung ihrer Möglichkeit die Anerkennung der Freiheit als solcher besitzen. Um als Staatsbürger die Freiheit in einem Rechtsstaat auszuüben, innerhalb der von Regeln festgelegten Grenzen, oder um moralisch Handelnde zu sein, innerhalb der von Normen und Werten vorgesehenen Grenzen, oder um als Wissenschaftler frei zu sein, innerhalb der von logisch-disziplinären Standards gesetzten Grenzen, muss ich

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mich als der Freiheit tout court fähig vorstellen. Auch in Anbetracht der Lebenszusammenhänge, in denen ein jeder handelt, kann jedes Subjekt zugleich dem Bereich der Staatsbürgerschaft, der moralischen Sphäre und dem Bereich der Wissenschaft angehören. Mehreren Bereichen angehörend, verbindet ein jeder die vielfachen Freiheitsperspektiven mit einer und derselben Fähigkeit. Sodass sich die Frage stellt, ob die Freiheiten, die in den verschiedenen Spielräumen praktiziert werden, auf eine einzige Wurzel zurückgeführt werden können. Haben die unterschiedlichen Freiheiten einen gemeinsamen Background? Gibt es in den verschiedenen Orientierungen an der Freiheit eine Fähigkeit, frei zu denken und zu handeln? Es wäre schwer, eine fragmentarische Sicht der Freiheit zu vertreten, obwohl es stimmt, dass eine abstrakte, nur auf metaphysischer und transzendentaler Ebene ohne Anwendung in den Spielräumen behauptete Freiheit ohne Inhalt bleibt. Es stellt sich außerdem eine noch radikalere Frage: sind die verschiedenen Spielräume, in denen unsere Erfahrung stattfindet, nicht vielleicht innerhalb einer Spielfähigkeit als solcher? Gäbe es also auf diese Weise nicht ein Spiel der Spiele? Wenn uns so nicht eine Spielfähigkeit als solche zugestanden ist, ist es dann möglich, den besonderen Spielraum zu denken? Diese Fragen geben der metaphysischen Frage der Freiheit oder der transzendentalen Reflexion über sie einen Sinn, unabhängig von eventuellen Antworten.

11. Der Begriff des Begriffs in einer Philosophie der Orientierung E. Die Begriffe von Freiheit und Wahrheit verweisen auf das Thema vom „Begriff des Begriffs“. Die Philosophie der Orientierung weicht vom traditionellen Begriff des Begriffs als dem eindeutig festzulegenden ab. In der Orientierung wird, aufgrund der Struktur des Orientierens selbst, Spielräumen oder, sozusagen, Variationsfeldern Platz gemacht, je nachdem, was es zu verstehen gilt (die Spielraumtheorie der Wahrscheinlichkeit geht auf Johannes von Kries zurück). „Man orientiert sich an etwas oder jemandem, man richtet sich an ihm aus, ohne sich schon nach ihm zu richten, betrachtet es oder ihn als bloßen Anhaltspunkt, zu dem man Distanz hält, und behält sich eigene Festlegungen vor. So wird berücksichtigt, dass jede Situation, in der und über die man sich orientiert, anders ist. Dieser Andersheit müssen auch die Begriffe entsprechen, durch die man sich orientiert. Der Begriff des Begriffs in einer Philosophie der Orientierung ist der Gebrauch des Begriffs in Spielräumen“. K. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs heben die Möglichkeit nicht auf, einen Begriff der verschiedenen Deklinationen desselben



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Begriffs zu denken. Den Begriff auf verschiedene Weisen in Bezug auf spezifische Situationen zu deklinieren, das geht über die univoke Konnotation des Begriffs hinaus, macht diesen jedoch nicht äquivok. Das ‚Rot‘, das in verschiedenen Farbtönen gedacht und ausgesagt werden kann (purpurrot, amarantrot, scharlachrot, rubinrot, bordeauxrot, karminrot etc.), bleibt im allgemeinen Begriff auch in der Variation seiner Wahrnehmungsnuancen rot. Letztere, wenn sie ihrerseits in einem Begriff dargestellt werden, beziehen sich als besondere Unterbegriffe zum allgemeinen Begriff von Rot. Das Purpurrot bleibt immer ein Typus von Rot und ebenso die weiteren eben aufgelisteten Rotnuancen. Die traditionelle Logik hat versucht, der vielfachen Deklination des Begriffs – eines jedes Begriffs  – Rechnung zu tragen, und zwar durch die Unterscheidung in Gattung und Art. Diese Unterscheidung erlaubt es, die Bedeutung ‚rot‘ und die Spannbreite ihrer Nuancen in möglichst angemessener Übereinstimmung mit der Wahrnehmungserfahrung zu denken. Dabei gilt es anzuerkennen, dass die Vielfältigkeit der Wahrnehmungen (z. B. die Wahrnehmung von Rot) immer sehr viel reicher ist als diejenige der Begriffe, die die wahrgenommenen Inhalte denken. Aber die relative Armut des Begriffs gegenüber der Vielfalt der Erfahrung ist dem in Begriffen ausgedrückten Denken bekannt. Der über den Begriff reflektierende Begriff weiß, dass es ihm nicht gelingt, alle Erfahrungsvielfalt abzudecken. Ein anderer Weg, der vielfachen Deklination des Begriffs Rechnung zu tragen, ist derjenige der Analogie. Von unterschiedlichen Dingen wird auf der Grundlage der Analogie die gleiche Bedeutung auf teils identische und teils differente Weise behauptet. Zum Beispiel ist das Grün der Blätter der Platanen zum Teil identisch und zum Teil verschieden von dem Grün der Blätter des Ahornbaums; je nach unterschiedlichen Bedingungen von Zeit und Raum ist dasselbe Platanen- oder Ahornblatt auf identische und auf unterschiedliche Weise grün. Nach Aristoteles wird auch vom Begriff des Seins gesagt, er sei pollachṓs, d. h. auf mehrfache Weise je nach den vielfachen seienden Bestimmungen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die vielfachen Seins-Bestimmungen als Einheitskern ihren Widerstand gegenüber dem Nicht-Sein haben. Diesen Widerstand gilt es in jedem Falle zu hüten, indem die Lehre des Parmenides wieder aufgenommen wird und die traditionellen Interpretationen korrigiert werden, die bei der Lektüre des ‚verehrungswürdigen und schrecklichen‘ Philosophen das unbedingte Sein vom Sein der Erscheinungen trennen. Das unbedingte Sein muss nämlich – wie wir im Folgenden behaupten werden – in seiner untrennbaren Verbindung mit der Sphäre des im Erscheinen und Verschwinden sich gebenden Seins betrachtet werden. Bis dahin ist es möglich, sich mit dem Begriff des Seins an den Situationen zu orientieren, in denen die Seins-Bestimmungen sich gewiss auf verschiedene Art und Weise geben, wobei sie jedoch immer als Bestimmungen-des-Seins betrachtet werden.

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12. Die Metaphorizität der Begrifflichkeit der Orientierung E. Die Revision des Begriffs des Begriffs durch Stegmaier ist eng verbunden mit der Vorstellung von der ‚absoluten Metapher‘. Die Orientierung entsteht als eine Erweiterung jener Bedeutung‚ etwas ‚nach dorthin auszurichten, wo die Sonne aufgeht‘ (Lateinisch: oriri). Als eine Metapher könnte die Orientierung nicht durch einen Begriff ersetzt werden. Daher wäre die Metapher eine absolute. Die Konnotation der Metaphorizität wird auf weitere Begriffe ausgedehnt, in die die Orientierung sich differenziert: Standpunkt, Horizont, Perspektive, Anhaltspunkt, Spielraum. Auch diese Bedeutungen wären absolute, d. h. Metaphern, die nicht durch Begriffe ersetzt werden können, d. h. Begriffe, so könnte man sagen, die keine eigentlichen Begriffe sind. K. Eine Metapher ist die Transposition einer eigentlichen Bedeutung in eine übertragene. Bedingung dieser Transposition ist das Analogieverhältnis zwischen der Grundbedeutung und der weiteren Bedeutung. Wenn ich die Bedeutung der Orientierung metaphorisch verwende, so meine ich damit nicht nur die Angleichung an den Punkt, an dem die Sonne aufgeht, sondern die Gesamtfähigkeit, mich über den Punkt hinaus zu begeben, an dem ich mich befinde, um einen anderen zu erreichen. Orientierung bedeutet daher die intentionale Operation eines Bewusstseins, sofern es offen ist für etwas, hinsichtlich sowohl der Theorie als auch der Praxis. Wie oben bereits gesagt wurde, ist das Sich-Orientieren das Explizieren der intentionalen Öffnung des Bewusstseins. Also ist es offensichtlich, dass ich, wenn die Metapher der Orientierung von mir als Synonym der intentionalen Öffnung verwendet wird, die Bedeutung der Orientierung mit einer breiten und komplexeren semantischen Dichte versehe. Deswegen funktioniert die Orientierung als Metapher, da sie sich auf einen extensiveren Sinnzusammenhang oder eine Intentionalität bezieht, die sich in der Orientierung spezifiziert. Die Orientierung, kann man sagen, befindet sich innerhalb einer transzendentalen Intentionalität, die die Wurzel eines jeden ‚Auf-etwas-Zugehens‘ ist. Das bedeutet, dass die Orientierung, wenn sie ein Synonym der intentionalen Fähigkeit ist, eine absolute Metapher darstellt. Ebenso wirken die Submetaphern der Orientierung, nämlich Standpunkt, Horizont, Perspektive, Anhaltspunkt, Spielraum, wie Gestalten der Intentionalität. Der semantische Raum der Metapher wird also als im Begriff der intentionalen Aktivität mit enthalten verstanden und die einzelnen metaphorischen Gestalten sind seine jeweilige Artikulierung.



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Schwerpunkte eines Vergleichs 1. Das Ganze und die Positivität des Seins Hinter der Auseinandersetzung mit Stegmaier geht meine Überlegung von der Öffnung des Bewusstseins gegenüber dem Ganzen aus. Ich bin der Ansicht, dass dies die Urorientierung ist. Indem unser Bewusstsein, d. h. die Fähigkeit zu Sinn und Bedeutungsverleihung, sich dem Ganzen gegenüber öffnet, wendet es sich nicht nur an etwas, sondern nimmt von diesem, an das es sich wendet, die eigene Richtung an. Das Ganze ist also sowohl das ‚Worauf-hin‘- als auch das ‚Von-woher‘-Denken (das ‚Woher‘ des Denkens). Der Reflexionsakt auf dem Weg zum Ganzen, die μετά όδός oder Methode, sagt uns, dass wir es nicht mit irgendeinem Weg zu tun haben, sondern mit einem solchen, der es erlaubt, eine Richtung einzuhalten und auch eine Bindung aufzubauen (μετά = ‚in Richtung auf‘ und ‚zusammen‘). Richtung und Bindung stammen aus dem Ganzen, das sich als gemeinsamer Bezug anbietet oder etwas Gemeinsames darstellt (Heraklits ξυνόν: das ‚Gemeinsame‘, dem ’ίδιον – dem ausschließenden proprium – entgegengestellt). Die Intentionalität des Ganzen ist also Öffnung eines Horizontes und, zugleich, Angabe eines zu denkenden Inhalts. Das Ganze fordert uns auf, das zu denken, was zu der Öffnung zu ihm passen kann. Wie kann das Denken – der Logos – dem Ganzen gegenüber treu sein? Seiner ganzheitlichen Öffnung treu ist dasjenige Denken, das sich nicht der Herausforderung entzieht, in erster Linie das zu denken, was dem Ganzen selbst gewachsen ist. Wohl bemerkt: zu denken, noch vor jedem ‚Anspruch‘ des Erkennens. Es ist also notwendig, sich zu fragen, ob es auf dem Weg der Wahrheitssuche Bedeutungen gibt, von denen auf keine Weise abzusehen ist. Gäbe es unabdingbare Bedeutungen, so wären dieselben der Anhaltspunkt, um das Ganze bzw. das, was von diesem hierzu in der Lage ist, zur Erscheinung kommen zu lassen. Bedeutungen, von denen wir nicht absehen können, sind in dem Begriffspaar positiv-negativ vorhanden. In allem unserem Aussagen behaupten oder verneinen wir in erster Linie. Positiv oder negativ sind die dem Behaupten oder Verneinen korrelierten Bedeutungen. Sie erfüllen eine Funktion der semantischen Orientierung, die einer jeden ihrer Anwendung auf bestimmte Inhalte immanent ist. Positiv oder negativ sind kategoriale Koordinaten mit transzendentaler Valenz, sofern sie die Bedingungen der Möglichkeit einer jeden diskursiven Bewegung sind, sei sie theoretisch oder praktisch. Das transzendentale semantische Paar positiv-negativ liegt jener radikalen Frage zu Grunde, die von Leibniz wirklichkeitsnah formuliert worden war und schließlich unter anderen von Heidegger wieder aufgenommen worden ist:

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„Warum das Sein und nicht vielmehr das Nichts?“ (in Leibniz’ Principes de la nature et de la grâce fondé en raison heißt es bekanntlich genau: „Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?“ – Bei Heidegger, in der Einführung in die Metaphysik, steht hingegen feierlicher: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“). Schaut man genau hin, so sind Sein und Nichts die inhaltliche Auffüllung des transzendentalen semantischen Paars positiv-negativ. Die Alternative zwischen Sein und Nichts macht den Gegensatz von positiv und negativ zu etwas Strengem, indem sie das Feld eines Widerspruches einrichtet, der es nicht erlaubt, zwischen dem einen und dem anderen Pol der begrifflichen Dualität zu schwanken. Wie verknüpfen sich in dieser radikalen Frage das Sein und das Nichts? Sie verknüpfen sich mit einer strukturellen intentionalen Asymmetrie. Die Bedeutung ‚Nichts‘ wird nämlich gedacht und kann gedacht werden allein im Ausgang von der Evidenz des Sich-Gebens des Seins oder von etwas, das ist. Die Frage „Warum das Sein und nicht vielmehr das Nichts?“ impliziert das Sein, das schon gegeben ist. Daher wird in dieser Frage nach den Gründen von etwas gefragt, das bereits gegeben ist. Das Sein wird zu einem Problem im Ausgang vom eigenen Schon-Sein. Also muss die Frage neu gestaltet werden: warum das Sein, das schon gegeben ist, und nicht vielmehr das Nichts? Welches Ziel hat die Frage? Die Frage geht eigentlich nicht das Sein an, sofern es bereits gegeben ist: es führt vielmehr die Furcht ein, dass das, was gegeben ist, in Zukunft nicht mehr gegeben sein könnte, so wie es in der Vergangenheit nicht gegeben war. Ein jedes Scheinen desjenigen, was gegeben ist, könnte ein ephemer Moment des Übergangs sein von dem, was noch nicht, zu dem, was nicht mehr gegeben ist. Das bloße Erscheinen der Positivität des Seins schließt seine Abhängigkeit vom negativen vor und nach dem Erscheinen dessen, was erscheint, nicht aus. Als Konsequenz ließe sich das Dilemma von Sein und Nichts nicht im Bereich einer einfachen Phänomenologie des Seins auflösen. Das Dilemma betrifft jegliches Sein und daher das Ganze des Seins: warum ist das Schicksal des Seins – jedes Seins – das Sein und nicht vielmehr das Nichts? Wo sind die Worte zu suchen, die einem solchen abgründigen Hervortreten der Frage gerecht werden? Im Zusammenhang des abendländischen Denkens ist es das Parmenideische Sein2, das den von dieser Frage aufgerissenen Abgrund auf-

2 Das griechisch-abendländische Imprinting dieses Begriffs vom Sein wird zum Nachteil des Allgemeinheitsanspruches im Seinsdiskurs angenommen. So wird beispielsweise das Fehlen eines Lemmas ‚Sein‘ im Chinesischen unterstrichen (vgl. Moro 2010). Die bekannte Unterscheidung zwischen Entstehung und Wert der Begriffe mag jedoch dienlich sein: die Entstehung besonderer Art einer Bedeutung schließt ihren hinsichtlich ihres Wertes nicht besonderen Statut nicht



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füllt. „Das Sein ist und kann nicht nicht sein“, erklärt, dass das Ganze des Seins, ohne Überreste, sich dem Nichts entgegenstellt. Wenn Parmenides behauptet, dass „das Sein ist und das Nicht-Sein nicht ist“, so formuliert er keine doppelte Tautologie, sondern stellt klar, dass die Setzung des Sein aus der Selbstannullierung der Setzung des Nicht-Seins hervorgeht. Der Anspruch, das Nicht-Sein zu setzen, würde nämlich in einen Selbstwiderspruch umkippen, weil das Negative zu einem Positiven würde. Das Nicht-Sein ist gerade deshalb nicht mit Bezug auf sich selbst gesetzt (völlig zu Recht besteht das behutsame nihil de nihilo), sondern nur auf die Positivität des Seins. Das Nichts ist gesetzt, da es in der Positivität des Seins eingeschlossen ist. Es ist also als ein Absolutes ausgeschlossen. Im absoluten Gegensatz Sein-Nichtsein hat das Letztere die positive Funktion, das Sein zu bedeuten. Deshalb ist es eigentlich keine Bedeutung an sich, sondern etwas, das ein von sich Unterschiedenes bedeutet, nämlich das Sein selbst. Paradoxerweise ist das Nichtsein im Sein als das von ihm Ausgeschlossene eingeschlossen, es ist zur Absolutheit des Seins relativ. Die Dialektik Sein-Nichtsein, die eine transzendentale Tragweite besitzt, da es das Ganze des Seins angeht, endet daher in einem Urteil von ebenso transzendentaler Tragweite, das die Identität des Sein mit sich selbst aussagt – das Sein ist – und zusammen damit seine unbedingte Dauer – das Sein kann nicht nicht sein. Das im transzendentalen Urteil behauptete Sein vervollständigt das durch phänomenologische Evidenz festgestellte Sein: das Sein ist nicht nur das, was jeweils in den Dingen erscheint, die sich als Phänomene vor mir befinden, sondern es ist das, was der Totalität der Dinge auch vor und nach ihrem Erscheinen beitritt. Das will sagen, dass jeder Bestimmung des Seins die Würde-zu-sein zuerkannt werden muss.3

aus (in diesem Zusammenhang schlage ich das vor, was ich scherzhaft den Pizza-Test nenne: die Pizza gefällt überall auf der Welt, auch wenn ihr Ursprung in Neapel ist). Im Falle des Semantems ‚Sein‘ kann seine Verallgemeinerbarkeit in Zusammenhängen, in denen es nicht ausdrücklich vorhanden ist, sich einer geeigneten periphrastischen Übersetzung anvertrauen, die in der Lage ist, dem Inhalt des Gegensatzes von negativ und positiv Evidenz zu verleihen. 3 Der metaphysische Diskurs muss sodann in einer Ontoaxiologie vervollständigt werden, die auf die Frage nach der Qualität des Seins antwortet, welches zu bleiben verdient, und auf ein Heilsversprechen verweist, dank dessen, um es mit Augustinus zu sagen, sich ein Zustand abzeichnet, von dem gesagt werden kann: „es werde nichts fehlen, was da war“, sowie „daß Fehlendes da sein wird“ (Augustinus 1997, 22. Buch, 14. Kap, S. 788). Hierzu sei verwiesen auf Totaro 2013.

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2. Die Wahrheit in Perspektive Kehren wir zu dem erscheinenden Sein zurück. Von diesem sind die Modalitäten, mit denen es der Seins-Positivität beitritt, die im transzendentalen Urteil behauptet wird, nicht manifest; die konkreten Weisen des Einschlusses einer jeden SeinsBestimmung in der Positivität des Ganzen erscheinen selbst nicht. Wir wissen, dass das Erscheinen nicht vom Sein getrennt werden kann, aber wir wissen nicht, wie die Auflösung eines jeden Erscheinens im Sein zustande kommt. Versuchen wir die Sache zu vertiefen, indem wir nicht mehr vom Sein als solchem sprechen, sondern von unserer existentiellen Perspektive hinsichtlich des Seins. Wir können in der Tat das Sein als unbedingt denken, haben aber keine Erfahrung von diesem unbedingten Sein. Wir befinden uns in einer Situation, in der das Sein vom noch nicht und vom nicht mehr Erscheinen bedingt ist. Wir erfahren die Differenz gegenüber dem unbedingten Sein. Das Sein gibt sich uns an der Grenze des Geschehens, dem Zeichen unserer Endlichkeit. Das Für-unsSein ist eine Art der Kontraktion des Seins, das als unbedingte Positivität behauptet werden kann. Es eröffnet sich so für uns die Dimension des relativen Seins, das sich auf das absolute Sein immer aus der Perspektive der Grenze verhält. Nun ist es offensichtlich, dass die Positivität des Ganzen die Trennung des unbedingten vom bedingten Sein nicht ertragen kann, welches letzteres unter der Obskurität hinsichtlich der Weisen der eigenen Orientierung am Sein leidet, bis dahin, an der Möglichkeit selbst, sich auf ihre Spuren zu begeben, zu verzweifeln. Die theoretische Bilanz unserer Überlegung führt uns zu der Feststellung, dass das Ganze, als angemessene Synthese von unbedingt und bedingt, in der aktuellen Erscheinung noch nicht gegeben ist. Das Ganze erscheint nicht, wie es erscheinen sollte. Die unwidersprüchliche Behauptung des Seins lebt mit dem Widerspruch der Existenz zusammen. Wir gehören dem Ganzen an, aber die Art und Weise des Angehörens ist nicht manifest. In der Existenz, und damit in der Sphäre unserer Erfahrung, orientieren wir uns am Sein, indem wir für seine Erscheinung verantwortlich werden, auch wenn wir diese Orientierung nicht thematisieren. Die zumeist unthematische Orientierung am Sein geschieht in der Autonomie unserer theoretisch-praktischen Aufgaben, gemäß der Logiken und Verfahren der spezifischen Fachsprachen. Indem wir beim Erkennen und Handeln Stellung nehmen, entscheiden wir, ausdrücklich oder öfters eher implizit, uns an der Fülle des Seins zu orientieren oder uns von ihr zu entfernen. Das Für-uns-Sein ist also der Ort, an dem die Wahrheit sich beinahe wie in einem Prisma zu einer Pluralität der Perspektiven bricht. Eine jede von ihnen neigt dazu, die Wahrheit des Seins zu erfassen und drückt eine Interpretation der Intentionalität des Ganzen aus. Aus diesem Grund ist jede Perspektive Orien-



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tierung am Absoluten von einem Gesichtspunkt aus. Als Gesichtspunkt kann sie nicht beanspruchen, andere, unterschiedliche und auch gegensätzliche Gesichtspunkte auszulöschen, und das nicht trotz ihrer Spannung auf das Absolute hin, sondern gerade weil sie sich bewusst ist, dass die Totalität des Absoluten von keinem immer begrenzten und besonderen Gesichtspunkt aus einzufangen ist. Die gemeinsame Anteilhabe an den Gesichtspunkten, dank derer das, was im Beginn besonders war, sich zum Allgemeinen erheben kann, besitzt deshalb in der Spannung auf das Absolute einen entscheidenden Antrieb und nicht etwa ein Hindernis. Daraus geht eine relationale Vorstellung von der Wahrheit hervor. Diese wäre auch als Schlüssel zur Lösung jenes Konfliktes zwischen Absoluten von Bedeutung, der mit Virulenz auf der aktuellen kulturellen Szene hervortritt. Relationalität ist jedoch nicht Relativismus. Wenn der Relativismus zur Aberkennung der Spannung auf das Absolute hin gelangt, die doch auch er auf seine Weise ausdrückt, so wird er unfähig, sich mit dem Konflikt zwischen absolute Werte behauptenden Kulturen auseinanderzusetzen. Es geht nämlich gar nicht darum, die absoluten Werte zu bekämpfen, sondern vielmehr ihren absolutistischen Anspruch. Hier kann die Idee einer perspektivischen Wahrheit geltend gemacht werden oder, wie man auch sagen könnte, eines Wahrheitsperspektivismus. Im Mittelpunkt dieser Vorstellung steht die Überlegung, dass kein Ausdruck des Absoluten den Reichtum desselben ausschöpft. Das Absolute kann immer nur durch vielfache Perspektiven angenähert werden. So können wir die Beziehung zwischen dem Unbedingten und der Pluralität der Bedingten in einem richtigen neuen Licht sehen. Wenn die bedingten Wirklichkeiten sich in ihrer Pluralität immer in einer Beziehung zum Unbedingten befinden, ohne sich jedoch mit diesem zu identifizieren, so nimmt diese Beziehung die Struktur eines Verhältnisses zwischen Perspektiven an, die auf einen Konvergenzpunkt hin orientierbar sind.

3. Der Wahrheitsperspektivismus und die Epistemologie des Scheins bei Nietzsche Der veritative Perspektivismus kann von einer Wiederaufnahme der von Nietzsche formulierten Epistemologie des Scheins suggeriert werden, die dieser in seiner Kritik am einseitigen Erkenntnismodell formuliert, das er der Welt der versteiften logischen Wahrheiten in ihrer abstrakten Reinheit zuschreibt. Nietzsche macht demgegenüber das pluralistische Modell des Erkennens geltend, das mit Perspektiven arbeitet, die bis zum Gegensatz von einander verschieden sind und doch, genau so wie der Gegensatz, auf die Wahrheit hin konvergieren, ein Modell, das dem immer offenen Spiel des Scheins am nächsten kommt. In Nietz-

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sches Sprache geht es darum, die kalte Wahrheit zur warmen Quelle des Lebens zu bringen: Wenn wir allmählich die G e ge n s ä t z e zu allen unsern Fundamentalmeinungen formuliren, nähern wir uns der Wahrheit. Es ist zunächst eine Kalte todte Begriffswelt; wir verquicken sie mit unseren anderen Irrthümern und Trieben und ziehn so ein Stück nach dem anderen das Leb en h in ein . In d er A n passu ng a n d i e l e b e n d e n I r r t h ü me r kann allein d ie zu n äch st immer todte Wah rh e i t z u m Le b e n ge b r a ch t we rd e n . (Nachlass 1881, 2[229], KSA 9.529)

Die Anpassung der Wahrheit an das Leben, und an die immer fehlerhaften, weil partiellen Gesichtspunkte, ist das, was in der Öffnung jeder Position gegenüber den entgegengesetzten Positionen die Orientierung an der Wahrheit erlaubt, als dem Ziel der schrittweisen Annäherung. Die Wahrheit der abstrakten Logik kommt in der Verabsolutierung der Definition dessen, was relativ und zufällig ist, nicht umhin, die Wahrheit als konkrete Erschließung der Perspektiven in der gemeinsamen Spannung auf das Ganze hin zu verhindern. Das relative Spiel von wahr und falsch, ein Spiel, in dem wahr und falsch sich als Gegensätze einander entgegensetzen, ohne in einem absolutem Gegensatz zu stehen, vertraut die Suche nach der Wahrheit dem omnilateralen Logos an. Der Perspektivismus, als Weg oder Zusammen von Wegen der Annäherung an die Wahrheit in der Erfahrung ihres Erscheinens, impliziert jedoch nicht die Verneinung eines letzten Korrelats der Erkenntnisintentionalität. Er bedeutet vielmehr die Bedingtheit und Relativität eines jeden unserer prädikativen Ansätze, während die komplexe Dynamik der Wahrheit im Gang der Konvergenz der Perspektiven lebt, gerade im Spiel der Gegensätze und im Konflikt der Interpretationen. Eine solche Konvergenz auf die Wahrheit hin kann auf das zurückgeführt werden, was Nietzsche als die innere Strukturierung des ‚Willens zur Macht‘ betrachtet. Letzterer agiert nämlich als Verbindungskraft oder Wille zur Konvergenz in der Vielfalt des Erscheinens.4

4 In diesem Sinne kann die berühmte Note „gegen das Wort „E r s ch e i n u nge n““ gelesen werden: „S chein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, – das, dem alle vorhandenen Prädikate erst zu kommen und welches verhältnißmäßig am besten noch mit allen, also auch den entgegengesetzten Prädikaten zu bezeichnen ist. Mit dem Worte ist aber nichts weiter ausgedrückt als seine Un z ugä ngl i ch ke i t für die logischen Prozeduren und Distinktionen: also „Schein“ im Verhältniß zur „logischen Wahrheit“ – welche aber selber nur an einer imaginären Welt möglich ist. Ich setze also nicht „Schein“ in Gegensatz zur „Realität“ sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative „Wahrheits-Welt“ widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre „der Wille zur



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Eine wesentliche Hinzufügung: über die Wertschätzung der Perspektiven anderer hinaus, verlangt der Perspektivismus auch die Dezentrierung der eigenen Perspektive. Für eine jede der Perspektiven ist das Ganze der Wahrheit ein asymptotisches Ziel. Gegenüber dem Ziel werden die einzelnen Perspektiven immer auf dem falschen Fuß erwischt. Ein jeder Dia-logos sollte also auf dem Szenarium eines Meta-logos stattfinden. Andernfalls wird er in einer falschen Kommunikation verzerrt. Ich hoffe ausreichend aus meiner Perspektive herausgetreten zu sein, um den Gesichtspunkt Werner Stegmaiers auf dem Weg zu einer gemeinsamen Wahrheit aufzunehmen.

Literaturverzeichnis Augustinus (1997): Vom Gottesstaat. Übers. von W. Thimme. 4. Auflage. München. Moro, Andrea (2010): Breve storia del verbo essere. Milano. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Totaro, Francesco (2007): „Nietzsche e la verità in prospettiva“. In: Francesco Totaro: Verità e prospettiva in Nietzsche. Roma. Totaro, Francesco (2013): Assoluto e relativo. L’essere e il suo accadere per noi. Milano.

Macht“, nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen ProteusNatur aus.“ (Nachlass 1885, 40[53], KSA 11.654) Zu einer Vertiefung vgl. Totaro 2007, S. 147–175.

III. Orientierung und praktische Philosophie

Claudia Welz

Paradoxien ethischer und religiöser Orientierung als Neuanfänge des Denkens ‚Lass dir Erfolge nicht zu Kopfe steigen und Fiaskos nicht zu Herzen gehen!‘1 So lautet ein dänisches Sprichwort, das mir aus dem Munde eines Kopenhagener Kollegen zu Ohren kam, als die Förderung des interdisziplinären Projekts „ReOrientation in Ethics, Religion and Psycho(patho)logy: Norms, Means and Paradoxes“ durch die European Research Foundation abgelehnt wurde. Die geplante Forschungskooperation kam nie zu ihrer Entfaltung und die angezielte Rückkopplungsschleife zwischen empirisch-klinischer Arbeit und philosophischer Analyse entfiel, doch die existenziellen und gesellschaftlichen Orientierungsprobleme, die erforscht werden sollten, haben sich seither keinesfalls erledigt. Werner Stegmaiers opus magnum, Philosophie der Orientierung, das den Ausgangspunkt des Projekts bildete, ist heute aktueller denn je. Probleme der Orientierung bzw. Re-Orientierung entspringen komplexen Situationen, Krisen oder Konflikten, in denen die vertraute Welt aus den Fugen gerät und das bisherige ‚Koordinatensystem‘ an tragenden Beziehungen aus dem Gleichgewicht gebracht wird – sei es durch den Verlust eines geliebten Menschen, durch einen unversöhnbaren Streit, eine schwere Krankheit oder andere erschütternde Erfahrungen oder Widerfahrnisse. Eine systematische Untersuchung der Rolle von Paradoxien der Orientierung in ethischen, religionsphilosophischen und psycho(patho)logischen Kontexten ist immer noch ein Forschungsdesiderat, zumal diese Disziplinen selten in ihrem Zusammenhang gesehen werden. Der Jubilar schrieb mir damals, er freue sich, dass sein Werk eine so prominente Rolle spielen solle, „und nun auch noch mit seinem Filetstück, der Rolle von Paradoxien in der Orientierung“ (Email vom 20.8.2011). Grund genug, das Thema wiederaufzunehmen! In der Philosophie der Orientierung wird sowohl die Geschichte des Orientierungsbegriffs nachgezeichnet wie auch nach bestimmten Orientierungsformen differenziert (z.B. als Sich-Zurechtfinden, Übersicht, Halt, Ausrichtung in Spielräumen und Fluktuanz; Orientierung in Zeichen, Routinen und in doppelter Kontingenz; Orientierung durch Achtung, Planung, kritische Distanzierung, Selbstbindung, Standardisierung). Orientierung ist ein „Letzt- und Grundbegriff“, der allen Definitionen vorausgeht, wobei Orientierung gerade dann erfolgreich ist,

1 Auf Dänisch: „Lad ikke successer gå dig til hovedet eller fiaskoer til hjertet!“

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wenn sie nicht definitionsbedürftig ist: als „Leistung, sich in immer neuen Situationen immer neu zurechtzufinden“ (Stegmaier 2008, S. xi). Im Prozess des Sich-Orientierens können Paradoxien entstehen, ohne dass zwischen den beiden einander widersprechenden Alternativen entschieden werden könnte, denn „beide sind gleich richtig“ (Stegmaier 2008, S.  9). Sucht man „unter den Alternativen einer Antinomie oder Paradoxie die eine als richtig, die andere als falsch zu erweisen, also zwischen ihnen zu entscheiden, gerät das Denken in eine Oszillation und blockiert“ (Stegmaier 2008, S. 10). Wie können solcherlei Blockaden als Mittel des Denkens fruchtbar gemacht werden? Im Anschluss an Niklas Luhmann wird Folgendes vorgeschlagen: Zum Einen können widerspruchsvolle Aussagen, eben weil das Denken nicht hinter sie zurückgehen kann, zu (mehr oder weniger) ‚festen‘ Neuanfängen des Denkens gemacht werden; zum Anderen kann man, indem man mit beiden Alternativen operiert und sie offenhält, neue Spielräume des Denkens erschließen.2 Dass Paradoxie-Management vor allem dann verheißungsvoll ist, wenn die Paradoxien weder aufgelöst noch unsichtbar gemacht, sondern als solche re­spektiert werden, sei im Folgenden im Blick auf Normen ethischer und religiöser Orientierung gezeigt, die dadurch ambivalent werden. Ambivalenz sorgt für Verwirrung. Wie kann die Konfusion in Konfrontation mit Paradoxien in eine erfahrungsgesättigte Klarheit verwandelt werden? Wie können Individuen und Gemeinschaften zwischen einander widerstreitenden (bzw. in sich selbst spannungsgeladenen) handlungsleitenden Normen navigieren und zu einem vielschichtigen, facettenreichen Verstehen gelangen, in dem auch Aspekte und Nuancen zutage treten, die ansonsten übersehen werden?

1. Paradoxien ethischer Orientierung Ethik als praktischer Orientierungsvollzug und Theorie, die sich mit den Voraussetzungen, Bedingungen, Normen und Grenzen menschlichen Handelns befasst (vgl. Welz 2015, S.  1), stößt auf kontingenzbedingte Schwierigkeiten. Ethische Orientierung wird erforderlich und zugleich erschwert durch die Ungewissheit, wie sich eine bestimmte Situation entwickeln wird. Man muss sich für einen Weg entscheiden, den man noch nicht kennt, ohne dass man hinreichende Gründe

2 Stegmaier 2008, S. 11, zitiert Luhmann 1993, S. 320: „die Paradoxie ist das Heiligtum des Systems, seine Gottheit in vielerlei Gestalt: als unitas multiplex und als re-entry der Form in die Form, als Selbigkeit des Unterschiedenen, als Bestimmbarkeit der Unbestimmbarkeit, als Selbstlegitimation.“



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zur Entscheidung hätte. Solcherlei Entscheidungen sind „Entscheidungen von eigentlich Unentscheidbarem“ (Stegmaier 2008, S. 248). Als Beispiel eines paradoxen Fluchtpunkts der ethischen Orientierung wird die Toleranz genannt, in der abweichende Überzeugungen zwar zurückgewiesen, aber dennoch ertragen werden, d.h. man toleriert letztlich Untolerierbares (vgl. Stegmaier 2008, 608–613). Des Weiteren wird mit Verweis auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Menschenwürde genannt, die als Maßstab des Rechts dem Einzelnen Spielraum für die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ in ihrer körperlichen Unversehrtheit, ihren Meinungen, ihrem Glauben und Gewissen gibt (GG Art. 1, 2, 4 und 5). Einerseits darf sie inhaltlich nicht allgemein bestimmt sein, damit jeder selbst bestimmen kann, worin er seine Würde sehen will, soweit er dadurch andere nicht gefährdet, andererseits muss sie inhaltlich bestimmt werden, wo Selbstbestimmung nicht möglich ist, wie etwa vor der Geburt oder bei Hirntoten (vgl. Stegmaier 2008, S. 613 f.). Selbstbestimmung geschieht immer vor dem Hintergrund des Schon-bestimmt-Seins. Die Normen ethischer Orientierung nehmen dort paradoxe Gestalt an, wo sie dem Schutz der schwierigen Freiheit von Menschen dienen, die sich zwar selbst unfrei machen können, sich die verlorene bzw. noch gar nicht erlebte Freiheit jedoch nicht selbst (wieder)geben können. Wie steht es dann um die persönliche Identität des Individuums – dürfen wir annehmen, dass diese plastisch, frei formbar, ja wählbar ist? Als Norm ethischer Orientierung ist die Identität eine nicht zu vernachlässigende Bezugsgröße: ein Zusammenhalt oder Abgrenzung hervorrufender Vergleichspunkt in zwischenmenschlichen Interaktionen. Egal ob Identität als Selbigkeit in der Sache (etwas ist identisch) oder in der Erkenntnis (etwas wird als identisch erkannt) bestimmt wird, so bleibt doch „die Paradoxie des mit sich selbst Identischen, das, um mit sich identisch sein zu können, von sich unterscheidbar sein muss und doch nicht von sich unterscheidbar sein soll“ (Stegmaier 2008, S. 432). Identität enthält Nicht-Identität und setzt diese voraus, sofern das Selbst-Verstehen und Sich-(Wieder)-Erkennen über Umwege geschieht. Wir verstehen uns selbst nie isoliert von anderen, sondern im Verhältnis zu ihnen und zu der Welt, in der wir leben. Unser Selbstverhältnis ist je schon verwoben mit unserem Verhältnis zu anderem und anderen. Persönliche Identität bildet sich einerseits dadurch heraus, dass andere mich in einer bestimmten Weise sehen, andererseits dadurch, dass ich mich zustimmend oder ablehnend zu ihrer Sichtweise verhalte. Identität ist also, sofern sie von Selbst- und Fremdzuschreibungen abhängt, eine dynamische Selbstveränderung und Differenzierung des Selbst von sich selbst (vgl. Welz 2010a). Wie Bernhard Waldenfels in Sinnesschwellen zeigt, bietet sich „eine indirekte Sicht- und Sprechweise“ an, die das Selbst im Fremdbezug „mit-sehen und mit zur Sprache kommen“ lässt, ohne dass die Selbstaffektion der Fremdaffektion vorausginge, und dementsprechend verweist Waldenfels auf Aristoteles, der in

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der Nikomachischen Ethik (IX, 9. 1170a-b 12) von einem „Mitwahrnehmen (synaisthánesthai)“ spricht, dem wiederum die Wortprägungen syn-eídesis oder conscientia (griech. und lat. für ‚Gewissen‘) entsprechen (Waldenfels 1999, S.  50). Das im syn oder con angedeutete ‚mit‘ verweist „auf etwas, das da ist, indem es sich entzieht“, d.h. dem Selbstbezug ist ein Selbstentzug eingeschrieben, der jede Koinzidenz des Selbst mit sich selbst untergräbt (Waldenfels 1999, S. 51). Dass ich nur als andere(r) ich selbst bin und mich nur fasse, indem ich mir entgleite, gilt sowohl von der Leiblichkeit wie auch vom Gewissen, dem Mit-Wissen mit sich selbst, im Guten wie im Bösen. Im Gewissen wird die eigene Identität im Zusammenhang mit persönlicher Integrität bzw. der Verletzung derselben gesehen. Letztere ruft ‚Gewissensbisse‘ und Gefühle der Scham und Schuld hervor (vgl. Welz 2011a; 2011b). Der Zusammenhang von Identität und Integrität – verstanden als moralische Unversehrtheit im Gegensatz zur moralischen Korruption – ist handlungsrelatiert. Inwieweit wir unsere Integrität bewahren können, hängt zuvörderst von unseren eigenen Taten ab, von dem, was wir selbst (mit oder gegen uns selbst, für oder gegen andere) tun, sodann von Reue als Re-Orientierung. Nichtsdestotrotz liegt die Bildung unserer Identität nicht nur in unseren eigenen Händen. Unser je eigenes Selbstbild wird auch von anderen Menschen und weiteren Faktoren mitgeprägt. Persönliche Identität beruht teils auf natürlichen Gegebenheiten (wie z.B. dem Geburtsort, der Muttersprache oder vererbten Eigenschaften), teils ist sie an die eigenen Entscheidungen geknüpft (z.B. was Berufs- und Partnerwahl oder eine Wahlheimat angeht). Insbesondere Menschen mit ‚Bindestrich-Identitäten‘ (wie ‚jüdisch-deutsch‘) befinden sich in einem Zwiespalt, der gerade von der Doppelheit ihrer Identität (dual identity) verursacht wird. Paul Mendes-Flohr zufolge ist jüdische Identität in der Moderne „nicht mehr ausschließlich jüdisch“, weil die Juden zahlreichen verschiedenen lokalen, beruflichen, kulturellen, politischen und freizeitlichen Gemeinschaften angehören, so dass es eine Herausforderung wird, „diese jüdische Identität so zu definieren, daß sie zugleich verbindlich und nicht exklusiv ist“ (2004, S.  121). Als Mottosatz zitiert er einen Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 8. Januar 1919: „Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam“ (Kafka 1990, S. 622). Darin drückt sich eine Selbstentfremdung aus, die sich durch die kaum beeinflussbare Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nur noch verstärkt. Obwohl Kafka sich damit schwertut, sich selbst als Jude zu sehen, wird er von anderen als ein solcher klassifiziert und kann sich von dieser Zuschreibung nicht durch eigene Interpretationsakte befreien. Selbst eine Konversion könnte seinen jüdischen Hintergrund nicht einfach zum Verschwinden bringen. Identität als Norm ethischer Orientierung leitet unser Handeln, lässt sich aber nur in begrenztem Umfang selbst durch Handeln verwandeln.



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Die Paradoxien persönlicher Identitätsbildung seien am Beispiel des 1937 in Wiener Neustadt geborenen und ein Jahr später mit seiner Familie nach Israel geflohenen Aphoristikers Elazar Benyoëtz beleuchtet. Mit den Worten „Assimilation – Identitäuschung“ trauert er über den Ausschluss der Juden aus Österreich und den Anschluss des Landes ans Dritte Reich (Benyoëtz 1995, S.  9). Fünfzig Jahre nach Kriegsende wurde er zur ersten Dichterlesung in seiner Geburtsstadt eingeladen, was er folgendermaßen kommentierte: „Das Thema heißt nach wie vor Treffpunkt Scheideweg, denn mögen sich Österreicher und Juden auch in lauterster Gesinnung, mit bester Absicht, am schönsten Ort treffen, der Treffpunkt wird immer zunächst doch ‚Scheideweg‘ heißen“ (Benyoëtz 1995, S. 10). Sowohl das Paradox einer Begegnung an jenem Punkt, an dem die Wege sich trennen, wie auch die Zusammenfügung der Begriffe ‚Identität‘ und ‚Täuschung‘ in einem einzigen Wort, das zudem mit ‚Assimilation‘, der Angleichung an Andere(s), assoziiert wird, zeigen das Problem an, mit dem der Dichter zeitlebens gekämpft hat: seinem „Weg als Israeli ins Deutsche“ (Benyoëtz 1995, 16), der für ihn keine Heimkehr, sondern eher ein Hin und Her zwischen zwei einander fremdgewordenen Welten bedeutet hat. Als Variation dieses Themas zitiert Benyoëtz die Anfangspassage von Jakob Wassermanns Buch Mein Weg als Deutscher und Jude (1921), in der von „jener Disharmonie“ die Rede ist, die durch sein „ganzes Tun und Sein zieht“ und ihm „mit den Jahren immer schmerzlicher fühlbar und bewußt geworden ist“ (vgl. Benyoëtz 1995, S.  15). ‚Bindestrich-Identitäten‘ basieren also auch auf einem Trennungsstrich, der mitten durch die Seele dessen geht, der sowohl das Eine wie auch das Andere, Ersterem mehr oder weniger Entgegengesetzte, verkörpert. Das Brachiale der Geschichte spiegelt sich in einer hammerharten, dennoch poetischen, von Paradoxien durchsetzten Sprache, die das Erlebte, um wieder mit Benyoëtz zu sprechen, mit „Sprachialgewalt“ ans Licht bringt: „Behauptet, geköpft“ – „Geschoren / und schornsteingebetet“ – „Einhellige Finsternis“ (Benyoëtz 1995, S. 35). Der etwas bzw. sich behauptende Kopf wurde geköpft; das Haar geschoren und verbrannt. Der Rauch, der von den Krematorien der Todeslager zum Himmel stieg, war freilich kein Gott wohlgefälliges Gebetsopfer, wurden doch im ‚Ganzopfer‘ des ‚Holocaust‘ ganze Menschen gegen ihren Willen ‚geopfert‘ („schornsteingebetet“). Auf wenigen Zeilen wird hier die Schoa (und das Schönreden derselben) ent-euphemisiert. Die pädagogische Frage ‚Wie sage ichs meinem Kinde?‘ beantwortet Benyoëtz wiederum mit einem Paradox: „Willst du deine Ruhe finden, laß dich nicht beruhigen“ (Benyoëtz 1995, S.  44). Die Sehnsucht nach Ruhe, die gerade durch Ruhelosigkeit befriedigt und zugleich von neuem provoziert wird, entsteht nicht nur im Blick auf ethische, sondern auch auf religiöse Orientierung, womit wir beim nächsten Topos wären.

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2. Paradoxien religiöser Orientierung Wenngleich sich Religion nicht auf Ethik reduzieren lässt, spielen ethische Fragen unweigerlich in sie hinein, da wir uns nur vermittels des uns Verfügbaren und durch unser Tun Veränderbaren dem uns unverfügbaren und unserem Zugriff entzogenen Göttlichen nähern können. Die Paradoxien religiöser Orientierung betreffen einerseits (zumindest in einem monotheistischen Kontext) unaufhebbare Spannungen im Gottesbegriff (2.1), andererseits den Glauben des Menschen an Gott, durch den sich die Paradoxien des Gott-Denkens auf die menschliche Existenz auswirken (2.2).

2.1 Als Ausrichtung auf Gott geht religiöse Orientierung von folgender Start-Paradoxie aus: „dass Gott der ist, aus dem alles zu begreifen ist, der seinerseits aber unbegreiflich ist“ (Stegmaier 2008, S. 530). Dementsprechend heißt es bei Kierkegaards Climacus in den Philosophischen Brocken (1844): „Das ist denn des Denkens höchstes Paradox: etwas entdecken zu wollen, das es selbst nicht denken kann“ (Kierkegaard 1991, 35). Das Paradox des Denkens umfasst denkend, was sich absolut von dem unterscheidet, was denkbar ist. Wie aber können wir das Undenkbare denken? David R. Law (2013, S. 168) kommentiert dies wie folgt: „If there were any affinity or point of contact between thought and the unknown, then thought would be able to think the unknown, which would mean that the unknown can be known and is therefore not the unknown.“ Gegen Climacus könnte man einwenden, dass der unbegreifliche Gott und der (zumindest in manchen Aspekten) begreifbare Mensch einander nicht unbedingt paradoxal entgegengesetzt sind. Climacus geht es allerdings noch um eine andere Form der Gegensätzlichkeit: diejenige zwischen uns endlichen, raumzeitlich und im Blick auf unser Vermögen eingeschränkten Menschen und einem Gott, den Christen aller Zeiten sich als unendlich, allgegenwärtig und allmächtig vorgestellt haben. Sofern Endlichkeit und Unendlichkeit, Begrenztheit und Unbegrenztheit nicht zur gleichen Zeit in gleicher Hinsicht demselben Subjekt zugeschrieben werden, sondern Gott auf der einen und uns Menschen auf der anderen Seite, ensteht jedoch kein Paradox im Sinne eines Denkwiderspruchs. Dass Climacus mit Recht von einem Paradox spricht, zeigt sich erst im Zusammenhang mit der Rede von der Inkarnation, wodurch die absolute Differenz zwischen Gottes Göttlichkeit und den Bedingungen menschlichen Existierens kenotisch aufgehoben wird, indem Gott selbst Mensch wird und sich uns gleich macht (vgl. Law 2013, S. 170), denn nun vereinigt die Person Christi die Gegensätze zwi-



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schen Endlichkeit und Unendlichkeit in sich selbst in einer paradoxen Einheit (Eenhed: Kierkegaard 2008, S. 164) zweier ganz und gar verschiedener Naturen (vgl. Law 2013, S. 219). In der Einübung im Christentum (1850) folgt Kierkegaard alias Anti-Climacus dem Chalcedonense. Interessanterweise versucht er des Weiteren, den reformierten Grundsatz finitum non capax infiniti (das Endliche kann das Unendliche nicht fassen), der den inkarnierten Gott-Menschen allererst zum absoluten Paradox macht, zu kombinieren mit dem lutherischen Grundsatz neque caro extra logon neque logos extra carnem (weder ist das Fleisch jenseits des Logos, noch der Logos jenseits des Fleisches), weshalb er zum Ergebnis kommt, dass der allmächtige Gott selbst im Menschen Jesus litt und sich – aufgrund der Freiwilligkeit des Leidens – seine Allmacht gerade in seiner Ohnmacht am Kreuz manifestierte (vgl. Law 2013, S. 279, 258). Somit entsteht im Gottesbegriff zwar keine Paradoxie allmächtiger Ohnmacht, aber eine Dialektik, sofern Gottes Allmacht in ihrer Menschenliebe selbst (zumindest zeitweilig) die Ohnmacht in Kauf nimmt (vgl. Welz 2008, S. 168 f.). In seinem immer noch lesenswerten Beitrag „Zur Frage des Paradoxon in der Theologie“ unterschied Wilfried Joest (1963, S. 117) zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen von Paradoxien: einer prä-logischen, wonach Paradoxien einem bestimmten Vorverständnis zuwiderlaufen, und einer logisch akzentuierten Bedeutung, wonach Paradoxien denkanstößige Behauptungen sind, die einen logischen Widerspruch implizieren. Kann dieser Widerspruch überwunden werden, handelt es sich um ein synthetisierbares Paradox, kann und soll er nicht aufgelöst werden, handelt es sich um ein nicht-synthetisierbares Paradox. Als Beispiel für Letzteres nennt Joest Kierkegaards Paradoxbegriff in Bezug auf das Denken der Offenbarung und Menschwerdung Gottes (vgl. Joest 1963, S. 118). Dieses Paradox will „als eine nicht-synthetisierbare Antithese“ verstanden sein: „der Glaube löst den Denkwiderspruch nicht auf, sondern er hält ihn aus“ (Joest 1963, S.  122). Man beachte, dass der Widerspruch nicht „am Zusammen Gottes mit dem Kreatürlich-Menschlichen“ aufbricht, sondern „am Zusammen Gottes mit dem Gottwidrig-Menschlichen“, d.h. mit der Sünde als existentiellem Widerspruch des Geschöpfes gegen den Schöpfer und gegen sein eigenes geschöpfliches Sein (Joest 1963, S. 128). Kierkegaard geht freilich von der Sündlosigkeit Christi aus – wie kann dann ein Paradox simultaner Sünde und Sündlosigkeit entstehen? Dies ist allenfalls im Blick auf eine lutherisch verstandene communicatio idiomatum möglich, wonach Christus unsere Sündenschuld auf sich nimmt und wir in einem glücklichen Tausch oder fröhlichen Wechsel dafür seine Heiligkeit bekommen. Im Kontext der Rechtfertigungslehre bedeutet dies, dass Gott uns als gerecht ansieht, wenngleich wir in uns selbst, isoliert von Christus, noch der vor Gott

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geltenden (Glaubens-)Gerechtigkeit ermangeln. Ein logisches Paradox ist dies nicht, da die Rede von Gerechtigkeit versus Ungerechtigkeit, Sünde versus Sündlosigkeit in zwei verschiedenen Hinsichten gilt: einerseits im Blick auf den uns von unserer Sünde befreienden Gott, andererseits im Blick auf uns selbst allein. Die Christologie aber bleibt paradoxal. Climacus’ Paradox des Denkens führt uns somit vom Absoluten selbst, das undenkbar bleibt, zu einer Reflexion über unser Verhältnis zum Absoluten, d.h. zum Überdenken unserer Relation zu Gott. Wie Arne Grøn (2010, S. 113) gezeigt hat, stellt der Versuch, das Paradox zu denken, selbst ein paradoxes Denken dar, durch das wir verstehen sollen, dass wir das Paradox gerade nicht verstehen können. Die Frage nach dem Absoluten wird von Kierkegaard nicht so beantwortet, dass der Eindruck entsteht, wir hätten es im Griff und hätten Antworten, die selbst absolut sind, so dass das Fragen nicht mehr nötig wäre. Vielmehr ist das Paradox als „Leidenschaft des Denkens“ (Kierkegaard 1991, S. 35) auch in einem existenziellen Sinne kritisch, indem es den Denkenden mit sich selbst konfrontiert. Da sich das absolut Andere dem Denken entzieht, „stößt das Denken auf Grund“ (Grøn 2014b, S. 85) – und wird bewegt von dem, was sich ihm entzieht. „Das Paradox des Denkens ist eine kritische Figur, in der es darum geht, die Grenzen des Denkens zu denken, jedoch nicht nur (wie bei Kant) als Selbstbegrenzung des Denkens, sondern als Erfahrung des Denkens, die es uns ermöglicht, anders zu denken“ (Grøn 2014b, S. 83). Das Absolute als Gott zu denken bedeutet, das Absolute nicht nur als das zu verstehen, „womit unser Verstehen – letzten Endes – endet“, sondern auch als das, was unseren Anfang in Frage stellt: „Gott als das absolut Andere ist ein Gegenüber, das nur so ins Spiel kommt, dass Gott dem Spiel zuvorkommt“ (Grøn 2014b, S. 93). Gott gegenüber werden wir selbst Adressaten. Wie aber sollen wir uns coram Deo selbst verstehen?

2.2 In seiner komparativen Studie The Uses of Paradox: Religion, Self-Transformation, and the Absurd untersucht Matthew Bagger die Rolle von Paradoxien in westlichen und asiatischen Religionen und konkludiert, dass Paradoxien der Selbstveränderung dienen – sei es, dass sie durch kognitive Dissonanzen die Selbstverleugnung des Individuums befördern (und es dadurch bescheidener machen) oder das Selbst zu einer mystischen Vereinigung mit Gott (und dadurch über sich selbst hinaus) führen. Kierkegaard verweigere sich dagegen, Widersprüche miteinander zu versöhnen, weil er das Christentum nicht als eine Doktrin, sondern als Existenz-Kommunikation verstehe, die der subjektiven Aneignung bedarf,



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um den Menschen und dessen Leben von innen heraus verändern zu können, so Bagger (2007, S. 26–28). Dass sich lebensverändernde Paradoxien des Gott-Denkens auch im Judentum finden, zeigt beispielhaft die Aphorismenkomposition Scheinhellig von Benyoëtz, die den Untertitel Variationen über ein verlorenes Thema trägt. Die Rede ist vom Glauben an Gott – als verlorenes Thema. „Zu fragen ist nicht nur, wie wir das Thema verloren haben, sondern auch, wie wir überhaupt Gott als Thema ‚haben‘ können“ (Grøn 2014a, S. 232). Dass wir Gott nur in der Suche nach Gott ‚haben‘ können, liegt in folgendem, paradox formulierten Satz: „Der gefundene Gott ist der verlorene, nicht der gesuchte“ (Benyoëtz 2009, S. 22). Doch um ihn überhaupt suchen zu können, „muss man den Weg zu ihm schon gefunden haben“ (ebd.). Obwohl dieser Weg Benyoëtz zufolge „weder nah noch fern, weder leicht noch schwer“, sondern „ohne Umschweife“ ist, führt er nicht direkt zu Gott: „Gottes Ferne ist es, die den Menschen so nahe geht“ (Benyoëtz 2009, S. 22). Wir werden berührt aus der Ferne, und vielleicht ist es gerade unser ‚Abstand‘ von Gott, der uns in Bewegung setzt, auf die Suche nach ihm, den wir nicht fassen können. „Warum? Wir sollen mit dem Fragen anfangen. Wir können aber nur mit dem Fragen anfangen, indem wir selbst in Frage stehen, als Befragte“ (Grøn 2014a, S. 233). In seinem Kommentar zum Sch’ma Jisrael formuliert Benyoëtz, dass auch das Gehör des von Gott berührten, befragten Menschen „eine Verlautbarung“ sei: „Gott zeigt sich nicht, er spricht, und der Angesprochene ist der Mensch schlechthin: Wo bist du, Adam? Das war die erste, in die Welt eingeführte, im Sprache gewordenen Raum vernommene Frage“ (Benyoëtz 2009, S. 35). Die Frage nach Gott kehrt sich um in eine Frage nach dem Menschen. Wie kann sich der Mensch weiterhin als frag-würdig, als der Frage würdig erweisen? Eine naheliegende Antwort wäre: durch das Bekenntnis zu dem, der sich dem aufmerksam Hörenden verlautbart – ohne sich selbst zu verorten. Wie aber ist das möglich, wenn wir Gott nicht angemessen denken, geschweige denn begreifen können? Dass es im Glauben nicht in erster Linie um einen Gott fassenden Gottesbegriff geht, drückt Benyoëtz folgendermaßen aus: „Wir kennen das Wort Gottes nur in unserer Sprache, darum kann er uns, nicht wir ihn beim Wort nehmen“ (Benyoëtz 2009, S. 41), oder: „Gott nimmt uns bei seinem Wort“ (Benyoëtz 2009, S. 41). Wohl ist es der Mensch, der in seiner Sprache von Gott spricht – doch verpflichtend wird die Rede von Gott erst dadurch, dass sie über sich hinausweist auf den, der in unsere Sprache eingeht und sie dennoch dergestalt übersteigt, dass sein Wort überhaupt nur mit Hilfe sprechender Menschen zu Gehör kommt, die sich von ihm in Dienst nehmen lassen. Lassen wir uns von einem sprechenden, uns ansprechenden Gott in Dienst nehmen, setzen wir voraus, dass wir in eine persönliche Beziehung mit Gott eingehen können. Heißt dies, dass er selbst persönliche Züge trägt? Im 6. Abschnitt

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seines Jerusalemer Nachworts (1957) zu seinem 1923 erschienenen Büchlein Ich und Du gelangt Martin Buber zu folgender Konklusion: Gott ist eine Person und ist es nicht. Buber erörtert zunächst die Frage, wie „das ewige Du“ in der Beziehung zwischen Gott und Mensch „zugleich exklusiv und inklusiv sein“ könne, so dass das Du-Verhältnis des Menschen zu Gott zugleich eine „durch nichts abgelenkte Hinwendung“ zu Gott bedingt und dennoch alle anderen, zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehungen dieses Menschen mit umfasst (Buber 1995, S.  127). Zwar hält Buber die Gottesbeziehung für „übergegensätzlich“, doch sei sie „nur im Paradox auszusagen“ (Buber 1995, S. 128). Soll Gott anderes für uns sein als ein Prinzip oder eine Idee, ist die Bezeichnung Gottes als einer Person, die „in schaffenden, offenbarenden, erlösenden Akten“ (Buber 1995, S. 128) zu uns in Beziehung tritt und uns damit ermöglicht, zu ihm in Beziehung zu treten, in der Tat unentbehrlich. Diese Bezeichnung enthalte jedoch den Widerspruch, dass zur Personhaftigkeit die Eigenständigkeit der Person gehöre, welche durch die Eigenständigkeit anderer relativiert werde, was für Gott als einer „absoluten Person, d.h. der nicht relativierbaren“ freilich nicht gelten könne, sofern er seine Absolutheit in seine Beziehung zum Menschen mit aufnehme und der Widerspruch damit einer „höheren Einheit“ weichen müsse (Buber 1995, S. 129). Der Begriff der Personhaftigkeit ist folglich nicht ganz zutreffend und „außerstande das Wesen Gottes zu deklarieren, aber es ist erlaubt und nötig zu sagen, Gott sei auch eine Person“ (ebd.). Wir kommen also nicht hinaus über eine widersprüchliche Aussageform, die in der gelebten Gottesbeziehung auftritt und dort auch wieder transzendiert wird. Was bedeutet dies für die Rede von Gott – wird sie überflüssig? In seinem jüngsten Buch kritisiert Elliot Wolfson die sich in zeitgenössischen Rezeptionen negativer Theologie ausdrückende ‚Gottessucht‘ und persifliert deren exzessiven Paradoxgebrauch im Blick auf einen Gott, der nur als Unerkennbarer erkennbar sei, mit den Worten: „Even agnostic claims that all we can know is that we cannot know and apophatic utterances that all we can speak is that we cannot speak are, in the last analysis, self-refuting human fabrications – they are true only if untrue and untrue only if true“ (Wolfson 2014, S. xvi). Die gängigen Versionen apophatischer Theologie sind ihm nicht radikal genug. Er möchte sie ersetzen durch eine noch viel weitreichendere Paralipse: an apophasis of the apophasis, based on the acceptance of an absolute nothingness – to be distinguished from the nothingness of an absolute – that does not signify the unknowable One but the manifold that is the pleromatic abyss at being’s core, the negation devoid of the negation of its negation, a triple negativity, the emptiness of the fullness that is the fullness of the emptiness emptied of the emptiness of its emptiness (Wolfson 2014, S. xxvii).



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Der Vorstellungskraft wird schwindlig angesichts dieser dreifach potenzierten Negation im Herzen eines Abgrunds, der die Fülle einer ihrer selbst entleerten Leere darstellt. Nicht das, was Gott nicht ist, kommt in den Blick, sondern das sich jedem Blick entziehende, mit keinem Absoluten mehr verbindbare absolute Nichts. Dies ist die äußerste Konsequenz eines Denkens, das auf der Basis des Bilderverbots nicht nur Idolatrie, sondern auch Theolatrie ausschließen will – u.a. dadurch, dass die Crux des Theismus, die Darstellung Gottes als Person, vermieden wird. So heißt es am Ende des letzten Kapitels: „Worshipping the one God without images was predicated on smashing the idols of the other gods, but if this one God were to be truly deprived of all imagery, including the apophatic image of no image, then there would be nothing to see and, consequently, nothing to venerate as what cannot be seen“ (Wolfson 2014, S. 260). Das biblische Bilderverbot wird dann zu einem Vorstellungs- und Anbetungsverbot erweitert. Wie aber kann vermieden werden, dass das unvorstellbare absolute Nichts selbst zu einer alles-verschlingenden Totalität avanciert? Die Bewegung einer apophatischen Theologie, die der Begriffsvergötterung dadurch entgegenwirkt, dass sie die Unangemessenheit aller Gott bezeichnenden Begriffe zeigt, alles Gesagte wieder in Frage stellt und somit auf der Suche bleibt, wird beendet, wenn die Spannung zwischen Theismus und Atheismus nicht aufrechterhalten wird, sondern Letzterer siegt. Dann wird Gott nicht mehr gesucht und der Mensch in seiner Gottsuche nicht mehr hinterfragt. Wolfsons Kritik der ‚Gottessucht‘ des theomaniac stützt sich auf folgende Passage in Ich und Du (Buber 1995, S. 111): Wie der ichsüchtige Mensch, statt irgend etwas, eine Wahrnehmung, eine Zuneigung, unmittelbar zu leben, auf sein wahrnehmendes oder zugeneigtes Ich reflektiert und damit die Wahrheit des Vorgangs verfehlt, so reflektiert der gottsüchtige Mensch (der sich übrigens mit jenem recht gut in einer Seele verträgt), statt die Gabe sich auswirken zu lassen, auf das Gebende, und verfehlt beides.

Gott als Geber aller Gaben ist hier unpersönlich als „das Gebende“ wiedergegeben – auf einer Seite, wo zuvor die Verdinglichung Gottes kritisiert wurde, welche das Du Gottes in ein „Gottes-Es“ verwandelt. Der Abschnitt beginnt mit der Aussage: „Die Gottesbegegnung widerfährt dem Menschen nicht, auf daß er sich mit Gott befasse, sondern auf daß er den Sinn an der Welt bewähre.“ (Buber 1995, S. 111) Etwas salopp interpretiert heißt dies, dass wir Gott selbst ‚in Ruhe lassen‘ sollen, aber das, was wir von ihm vernehmen und tagtäglich geschenkt bekommen, auf solche Weise an andere weitergeben sollen, dass die Gabe auch für sie in ihrer Wirkung spürbar wird. Auf der nächsten Seite steht zu lesen, dass „der in der Sendung Wandelnde“ Gott stets vor sich habe; „befassen kann er sich freilich mit Gott nicht, aber unterreden kann er sich mit ihm“ (Buber 1995, S. 112). Bubers

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pejorative Rede von der ‚Gottessucht‘ ist folglich keine versteckte Aufforderung zum Atheismus oder zur Annahme absoluter Nichtigkeit, sondern eher eine Einladung zum Gespräch mit Gott, der nicht studiert, sondern angeredet werden will: als ein lebendiges, wenngleich theoretisch nicht fassbares Gegenüber! Geschieht dies, bleibt es nicht beim Gott der Philosophen. Das Darüberhinaus, das metaphorisch mit dem ‚Ruf‘ Gottes und der ‚Berufung‘ des Menschen bezeichnet werden kann, involviert einen Gott, der nicht nur das Denken herausfordert, sondern auch den vernunftbasierten Glauben an das, was höher ist als alle Vernunft. So schreibt der Philosoph Volker Gerhardt, dass Menschen sich zwar darauf einigen können, „das Göttliche als Ursprung, Wesen, Grund oder als ein die Welt überschreitendes Ziel anzusehen“, aber kein Wissen davon haben, weil Gott stets mehr ist als das, was sich über Tatsachen und deren mögliche Relationen sagen lässt (Gerhardt 2014, S. 210). Gleichwohl kommen wir, so Gerhardt, nicht um den Begriff des Göttlichen herum, sei es, dass wir es „als das über uns Hinausreichende, als das uns Umgreifende, als das alles Tragende und Vollkommene, als das Ganze oder vielleicht auch nur als die Grenze alles Denkens und Wollens“ denken – wobei wir es streng genommen „nicht nur als ein (wie auch immer begriffenes) ‚Etwas‘“, sondern „als Etwas, das uns etwas angeht“ verstehen (Gerhardt 2014, S.  212). Die in diesen Formulierungen hervortretende Objektivierung des Göttlichen kann zwar als unzureichend kritisiert werden (‚Etwas‘ müsste als ‚Jemand‘ gedacht werden), doch ist die Pointe festzuhalten, dass Gott uns nicht gleichgültig sein kann, sobald wir verstanden haben, was wir denken. Wir können ihn nicht auf einen Erkenntnisgegenstand reduzieren, denn „[w]enn er das Wesen ist, das alles bestimmt“ (Gerhardt 2014, S.  218), kann er nicht selbst durch anderes definiert werden, doch genausowenig können wir uns damit zufriedengeben, ihn als ein undefinierbares ‚Nichts‘ zu nehmen oder links liegenzulassen. Dementsprechend sieht Gerhardt die negative Theologie als „ein verdienstvolles Propädeutikum, solange sie uns hilft, Gott nicht mit dem zu verwechseln, was er nicht sein kann“, will ihr aber den Titel ‚Theologie‘ nicht zugestehen, „wenn das Wissen darüber, was Gott nicht ist, schon alles sein soll, was man über ihn sagen kann“, denn dann kann man nicht an Gott glauben (Gerhardt 2014, S.  229). Das an der negativen Theologie geschätzte Verwechslungsverbot Gottes mit dem Nichtgöttlichen scheint Gerhardt allerdings selbst nicht ernst genug zu nehmen, sofern er das Göttliche als „Integral von Mensch und Welt“ (Gerhardt 2014, S. 282–288) auffasst: „Das Minimum eines geglaubten Gottes liegt somit darin, dass er als die Stimme begriffen wird, in der sich die Welt dem Individuum mitteilt“ (Gerhardt 2014, S. 277). Auch Gerhardts rationale Theologie, die Gott als Sinnhorizont des Ganzen oder, wie der Buchtitel nahelegt, als Sinn des Sinns auffasst, kann nicht alle Widersprüche des Gott-Denkens umschiffen.



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Dies ist bereits in der epistemologisch gewendeten Horizontmetapher angelegt, die Stegmaier minutiös analysiert. Der Horizont als ‚begrenzender Kreis‘ ist die paradoxe Grenze der Sicht, die Grenze des Abgrenzens überhaupt: Sieht man etwas vor einem Horizont, ist er selbst als Grenzlinie zu sehen und doch nicht zu sehen, denn sobald man auf ihn sieht, ist er schon kein Horizont mehr; stattdessen sieht man das, was man dann sieht, bereits wieder vor einem anderen Horizont (vgl. Stegmaier 2008, S. 194–197). Dasselbe gilt vom Horizont, in oder aus dem man etwas versteht. Als „weder sichtbare noch unsichtbare Grenze des Sehens und Verstehens“ macht der Horizont das Sehen und Abgrenzen erst möglich – als „das ausgeschlossene Dritte der Unterscheidung von sichtbar und unsichtbar, ihre Einheit und Bedingung der Möglichkeit“ (Stegmaier 2008, S. 197). Der Horizont ist eine räumliche Grenze des Abgrenzens (man sieht bis zum Horizont, der immer fern ist und ‚zurückweicht‘, wenn man sich ihm nähern will) – aber nur auf Zeit, denn an jedem Horizont können sich auch wieder neue Horizonte auftun. Überdies bekommt man es gerade beim Gewinnen von Übersicht mit der „Paradoxie des Alles-und-Nichts-Sehens“ zu tun (Stegmaier 2008, S. 185). Indem man eine Situation ‚übersteigt‘, um zu einem ‚Panorama‘ (wörtlich: ‚Alles-Sehen‘) zu kommen, muss man auch über Einzelnes ‚hinwegsehen‘, um überhaupt noch etwas sehen zu können: „Indem man alles sieht, sieht man nichts“ (Stegmaier 2008, S. 186). Sieht man den ganzen Wald, übersieht man den einzelnen Baum; sieht man dagegen einzelne Bäume, kann man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Dies ist die Paradoxie vom Ganzen und den Teilen, die jedoch in der alltäglichen Orientierung kein Problem ist, sofern die Paradoxie temporalisiert wird: Im oszillierenden Hinsehen auf und Absehen von Einzelheiten zeigen sich Sinnzusammenhänge und entsteht die übersichtliche Darstellung (vgl. Stegmaier 2008, S. 187). Wo Gott wie bei Gerhardt als Sinnhorizont des Ganzen bezeichnet wird, entkommt man weder der einen noch der anderen Paradoxie. Ingolf U. Dalferth hat wohl als erster – seinerseits inspiriert von Werner Stegmaier – eine orientierungsphilosophische Religionsphilosophie entwickelt. Die Wirklichkeit der universalen Gegenwart Gottes gilt ihm als „Bezugspunkt“ menschlicher Orientierung, zu dem sich alle „an jedem Hier und Jetzt“ ihres Lebens in Beziehung setzen können (Dalferth 2003, S.  153). Stegmaier selbst definiert religiöse Orientierung als „Halt am ewig Unbegreiflichen“: Jenseits der begrenzten Horizonte aller Orientierungswelten werde Halt „an einem überall und immer Gegenwärtigen“ gesucht (Stegmaier 2008, S. 528). Die insbesondere nach der Schoa nicht zu überhörende Rede von Erfahrungen der Entzogenheit, Verborgenheit oder sogar Abwesenheit Gottes scheint keine ernst zu nehmende Anfechtung des Glaubens an Gottes Omnipräsenz darzustellen. Was aber, wenn die vor dem Hintergrund einer zwei Jahrtausende alten christlichen Tradition wohl einleuchtende Prämisse der Allgegenwärtigkeit Gottes plötzlich nicht mehr

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plausibel vorkommt und somit der Referenzpunkt menschlicher Orientierung nicht mehr als unverrückbar feststehender Fixpunkt, sondern eher als ein flüchtiger Lichtpunkt erscheint, der verdunkelt wird von einer das ganze Koordinatensystem in Frage stellenden kulturellen Katastrophe – woran ist dann noch Halt zu finden? Wird Gott als unbegründbarer, selber grundloser Grund menschlichen Gottvertrauens verstanden (vgl. Welz 2010b, S. 69–114), kann der existenziellen Ungewissheit standgehalten und ihr zum Trotz an Gott festgehalten werden, auch wenn mit dessen gnadenvoller Gegenwart nicht immer und überall zu rechnen ist. Der Paradoxie des Glaubens an einen fernnahen Gott entspricht die Neigung, Widersprüche nicht zugunsten der einen oder anderen Seite aufzulösen, sondern sie gleichsam als Stachel gegen eine falsche Sicherheit zu bewahren. So verweist Stegmaier Luhmann folgend auf das Potential religiöser Orientierung, Sinnprobleme als Paradoxieentfaltungsprobleme zu stellen, wodurch die Religion die Paradoxien als Geheimnisse Gottes stehen lassen „und damit eine unbegrenzte Aufmerksamkeit auf sie wachhalten“ kann (Stegmaier 2008, S. 531). Da religiöse Orientierung „keinen Grund außer dem Glauben selbst“ hat, kann sie ‚bodenlos‘ werden und geht damit das äußerste Risiko ein, „sich an Haltloses zu halten“ (Stegmaier 2008, S. 536). Der rational nie restlos begründbare Glaube, das Vertrauen auf Gott, umarmt dieses Risiko – jenseits aller Berechnung und im Gegenzug zu menschlichen Selbstsicherungstendenzen – als ein Wagnis um Gottes und des Menschen willen.

Schluss und Neuanfang Wie die Paradoxien ethischer Orientierung und persönlicher Identitätsbildung dazu führen, dass der Mensch zeitlebens offen bleibt für den unabschließbaren Prozess des Sich-Entdeckens und -Hinterfragens, so lassen uns die Paradoxien religiöser Orientierung und des Gott-Denkens zeitlebens darauf gespannt sein, wie uns der lebendige, nicht festlegbare und mit nichts anderem identifizierbare Gott begegnen will. Intellektuell unauflösbare Widersprüche halten uns in Bewegung und bewirken, dass wir auf der Suche bleiben – nicht zuletzt nach jenem absolute beginner, der all unserem Anfangen je schon zuvorgekommen ist und den wir denkend und handelnd niemals einholen können. In ihrem Artikel „A Plea for Ambivalence“ untersucht Amélie Rorty die Fähigkeiten und Strategien, die uns erlauben, Ambivalenz konstruktiv zu nutzen (use: Rorty 2009, S. 425). Letztere betrifft nicht nur das gleichzeitige Wollen und Nichtwollen von etwas, sondern auch die Normen, Kriterien oder Situationsbe-



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schreibungen, nach welchen uns sowohl das Eine wie das ihm entgegengesetzte Andere relevant erscheint (vgl. Rorty 2009, S. 428–431). Hierzu sei hinzugefügt, dass sich die ‚Verwendung‘ von Ambivalenz insbesondere dann als fruchtbar erweist, wenn eine ‚Wendung‘ derselben eingeschlossen ist, wodurch die Argumente für das Eine wie das Andere hin- und hergewendet werden, ohne dass es damit sein Bewenden hätte. Ein oszillierendes Denken blockiert: Es kommt nicht weiter als vor und zurück, vor und zurück. Über sich hinaus gerät es erst, wenn es bei Bewahrung der Paradoxien die binäre Logik überschreitet. Doch wie ist das möglich? Rorty beschließt ihr Plädoyer für Ambivalenz mit einer jiddischen Anekdote (Rorty 2009, S. 444): A very wise and famous rabbi was asked to settle a long-standing dispute between two philosophers. He listened intently as the first philosopher presented his case, and, after reflecting carefully, he said, ‘You’re right.’ After hearing the second philosopher’s brilliant and ingenious refutation, the rabbi said, ‘You’re right.’ Somewhat confused by this performance, his wife complained: ‘You told both philosophers that they were right, but their arguments were totally contradictory. They can’t both be right.’ The rabbi replied, ‘You know something? You’re also right.’

Was aussieht wie ein Schluss, der sich selbst widerspricht, ist in Wahrheit ein neuer Anfang. Die Paradoxie als unitas multiplex verwandelt voreilige Schlussfolgerungen in Neuanfänge stutzenden, staunenden Denkens.

Literaturverzeichnis Bagger, Matthew (2007): The Uses of Paradox: Religion, Self-Transformation, and the Absurd. New York. Benyoëtz, Elazar (1995): Identitäuschung. Ulm. Benyoëtz, Elazar (2009): Scheinhellig. Variationen über ein verlorenes Thema. Wien. Buber, Martin (1995): Ich und Du. Stuttgart. Dalferth, Ingolf U. (2003): Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Tübingen. Gerhardt, Volker (2014): Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche. München. Grøn, Arne (2010): „At forstå – og at forstå“. In: Joakim Garff/Ettore Rocca/Pia Søltoft (Hrsg.): At være sig selv nærværende. Festskrift til Niels Jørgen Cappelørn, Kopenhagen, S. 100–115. Grøn, Arne (2014a): „Erinnerung und Nachdenken“. In: Bernhard Fetz/Michael Hansel/Gerhard Langer (Hrsg.): Elazar Benyoëtz. Korrespondenzen (Profile – Magazin des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 21), Wien, S. 229–243. Grøn, Arne (2014b): „Paradox des Denkens – paradoxes Denken“. In: Ingolf U. Dalferth/Andreas Hunziker (Hrsg.): Gott denken – ohne Metaphysik? Zu einer aktuellen Kontroverse in Theologie und Philosophie, Tübingen, S. 79–94.

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Joest, Wilfried (1963): „Zur Frage des Paradoxon in der Theologie“. In: Wilfried Joest/Wolfhart Pannenberg (Hrsg.): Dogma und Denkstrukturen, Göttingen, S. 116–151. Kafka, Franz (1990): Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt am Main. Kierkegaard, Søren (1991): „Drittes Kapitel: Das schlechthinnige Paradox“. In: Philosophische Brocken. Gesammelte Werke, 10. Abteilung. Hrsg. von Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes. 3. Auflage. Gütersloh, S. 34–46. Kierkegaard, Søren (2008): „Indøvelse i Christendom“. In: Søren Kierkegaards Skrifter. Bd. 12. Hrsg. von Søren Kierkegaard Forskningscenteret, Kopenhagen. Law, David R. (2013): Kierkegaard’s Kenotic Christology. Oxford. Luhmann, Niklas (1993): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt am Main. Mendes-Flohr, Paul (2004 [1999]): Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden. Übers. von Dorthe Seifert. München. Rorty, Amélie (2009): „A Plea for Ambivalence“. In: Peter Goldie (Hrsg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, Oxford, S. 425–444. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Waldenfels, Bernhard (1999): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3. Frankfurt am Main. Welz, Claudia (2008): „Welche Macht ist mächtiger als Ohnmacht? Mit Levinas auf den Spuren dessen, was sich den Zeichen entzieht“. In: Philipp Stoellger (Hrsg.): Sprachen der Macht: Gesten der Er- und Entmächtigung in Text und Interpretation, Würzburg, S. 165–185. Welz, Claudia (2010a): „Identity as Self-Transformation: Emotional Conflicts and their Metamorphosis in Memory“. In: Continental Philosophy Review, 43.2, S. 267–285. Welz, Claudia (2010b): Vertrauen und Versuchung. Tübingen. Welz, Claudia (2011a): „Das Gewissen als Instanz der Selbsterschließung: Luther, Kierkegaard und Heidegger“. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie, 53.3, S. 265–284. Welz, Claudia (2011b): „The Self as Site of Conflicts: Guilt, Recognition, and Reconciliation“. In: Ingolf U. Dalferth/Heiko Schulz (Hrsg.): Religion und Konflikt: Grundlagen und Fallanalysen, Göttingen, S. 137–164. Welz, Claudia (2015): „Introduction: Dialectics of In-Visibility in Religion, Art, and Ethics“. In: Claudia Welz (Hrsg.): Ethics of In-Visibility: Imago Dei, Memory, and Human Dignity in Jewish and Christian Thought, Tübingen, S. 1–18. Wolfson, Elliot R. (2014): Giving Beyond the Gift. Apophasis and Overcoming Theomania. New York.

Paul van Tongeren

Der „Pflock des Augenblickes“. Über die Situation und die Tugenden der Orientierung 1. Der Pflock des Augenblicks und der Anfang der Orientierung In seiner umfangreichen und wegweisenden Philosophie der Orientierung hat Werner Stegmaier die Lage der Menschen beschrieben im Sinne ihrer Orientierungs-Bedürftigkeit. Menschen müssen sich unvermeidlich „in immer neuen Situationen immer neu zurecht[...]finden“1, d.h. sie müssen sich ständig orientieren. Obwohl er vom Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht ausdrücklich spricht, könnte man vielleicht sagen, dass Stegmaier den Menschen dadurch unter den Tieren auszeichnet, dass er sich orientieren muss. Das könnte man verbinden mit einer frühen Bemerkung Nietzsches, der in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung schreibt: Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt — denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. (UB II 1, KSA 1.248)

Weil der Mensch nicht mehr „an den Pflock des Augenblickes“ angebunden ist, irre er ständig umher. Im Gegensatz zu dem eher düsteren Schopenhauerisch-pessimistischen Ton dieser Klage, mit der Nietzsche die Diagnose der historischen Krankheit seiner Zeit beginnt, liefert Werner Stegmaier mit seiner philosophischen „Klärung“ der Orientierung, d.h. dieses „Anfang[s] [...] aller Entscheidungen im Leben [und] in der Wissenschaft“ (S.  XV), eine erhellende und einleuchtende Beschreibung der Art und Weise, wie der Mensch mit dieser Lage zurechtkommt, d.h. wie er sich orientiert.

1 Stegmaier 2008, S. XV. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich Seitenbelege im laufenden Text im ersten Abschnitt des Beitrags auf dieses Buch.

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Die Tatsache, dass der Mensch sich von seinem „Pflock“ losgerissen hat, verurteile ihn ja nicht zum ewigen Herumirren, sondern definiere eben seine Existenz als die Aufgabe, „sich in [s]einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich die Situation beherrschen lässt“ (S. 2), oder auch: „[s]eine Situation daraufhin zu erschließen, was [er] tun muss, um sie zu bewältigen“ (S. 151). Die „Situation“ ist also „das Korrelat zu ‚Orientierung‘“ (S. 151). In gewissem Sinne befindet man sich ja immer in einer Situation und geht es ‚nur‘ darum sie zu erschließen, sich in ihr zurechtzufinden und sie zu bewältigen. „Die ‚gegenwärtige Situation‘ ist“ – Stegmaier zufolge – „immer ein ‚Hier und Jetzt‘“ (S.  155), d.h. sie soll nicht nur räumlich, sondern auch – und vielleicht sogar an erster Stelle – zeitlich verstanden werden. Die Zeitlichkeit der Situation, die normalerweise „als Zeitnot und Zeitdruck erfahren“ (S. 166) wird, macht auch die Orientierung „in sich zeitlich“ (S. 7). Orientierung hat es „mit dem zu tun [...], was es in einer Situation jeweils gibt [und] ist [...] danach Umgang mit Kontingenz.“ (S. 153). Sie hat „es mit der Zeit zu tun“, es ist „ihre Funktion, mit der Zeit zurechtzukommen“ (S. 7). Die Zeitlichkeit ist also der Rahmen schlechthin dieser Philosophie der Orientierung. Alles ist fortwährend im Fluss: die Zeit ist ja dasjenige „was nicht feststeht“ (S.  12). Das macht die Orientierung notwendig, zugleich aber auch schwierig: Um sich überhaupt auf die Zeit einlassen zu können, muss die Orientierung [...] etwas gegen die Zeit ‚festhalten‘, aber auch dies auf Zeit [...]. Der Bedarf der Orientierung an Halt ist ein ‚Standhalten‘ gegen die Zeit in der Zeit (S. 229).

Statt sich darum verloren zu geben, dass jede Orientierung darauf beschränkt sein wird, nur eine Orientierung „auf Zeit“ zu sein (passim), zeigt Stegmaier, wie wir uns tatsächlich in dieser Lage ohne festen Halt zurechtfinden, und er hilft uns in dieser Weise bei unserer Aufgabe. Dazu fängt er, wie gesagt, bei der Situation an, in der wir uns befinden. Obwohl diese Situation „immer ein ‚Hier und Jetzt‘“ ist, ist „dieses Hier und Jetzt [...] nicht einfach der Augenblick, in dem, und der Ort, an dem man sich befindet“ (S. 155). Der Schluss dieses Satzes verrät aber eine Schwierigkeit, auf die ich mit dem zitierten Gedanken von Nietzsche hinweisen wollte. Auch Nietzsche geht es um unsere Zeitlichkeit. Mit dem Bild des „Pflocks“ verweist er auf den Augenblick, oder auf die Gegenwart. Die Gegenwart ist die Zeitspanne „zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft“, in der das Tier völlig „aufgeht“ und in der auch das Kind noch „in überseliger Blindheit spielt“. Der Mensch hat sich aber von diesem „Pflock des Augenblickes“ losge-

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rissen. Sein Herumirren ist daher ein Irren durch das, was jenseits dieser Zäune liegt. Nietzsche richtet sich in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung vor allem auf die Vergangenheit und die Unmöglichkeit sie zu vergessen, d.h. auf die (den Menschen auszeichnende, aber ihn auch mit Erkrankung bedrohende) Erinnerung und Historie. Ähnliches gälte aber wohl auch für die Zukunft und unsere freudige oder ängstliche, geduldige oder gehetzte Art und Weise sie zu erwarten oder zu antizipieren. Nietzsche scheint auf beide zu verweisen, wenn er in diesem Rahmen das menschliche Dasein „im Grunde [...] ein nie zu vollendendes Imperfectum“ nennt. (UB II 1, KSA 1.249) Für Stegmaier, wie auch für Nietzsche, ist die existentielle Aufgabe des Menschen durch die Zeitlichkeit gezeichnet. Während der eine aber den Ausgangspunkt der Erledigung dieser Aufgabe im (Hier und) Jetzt findet, scheint der andere gerade dieses Jetzt zu problematisieren. In meinem Beitrag will ich die Aufmerksamkeit richten auf das gemeinte Problem. Die Frage, die ich stellen möchte, ist diese: Was bedeutet die Tatsache, dass der Mensch sich vom „Pflock des Augenblickes“ losgerissen hat, für dieses „Hier und Jetzt“, in dem und von dem aus wir uns orientieren wollen, und was für die Orientierung selbst? Ist unsere Ausgangssituation nicht zunächst und zumeist ‚pervertiert‘, – wobei der Terminus ‚Pervertierung‘ keineswegs die Häufigkeit, oder Normalität des damit angezeigten Phänomens dementiert – und wenn ja, welche Orientierungs-Vermögen (oder ‚Vor-Orientierungs-Vermögen‘?) brauchen wir dann in dieser Lage? In diesem Beitrag kann die letzte Frage nur gestellt, ihre Beantwortung (sowie eine gründlichere Erörterung der Art und Weise, in der Werner Stegmaier sie beantwortet) muss auf später verschoben worden; das Problem, auf das sie reagiert und das ich mit Nietzsche einführte, möchte ich jetzt weiter ausarbeiten, nun aber nicht mit Nietzsche, sondern mit Hilfe eines Textes von Søren Kierkegaard.2

2 Stegmaier verweist selber mehrmals auf Kierkegaard, z.B. in Verbindung mit dem Begriff der ‚Stimmung‘: „Die Stimmung als Grundbegriff der Orientierung wurde von Kierkegaard in die Philosophie eingeführt.“ (Stegmaier 2008, S. 164) Und: „In ihren Stimmungen geht die Orientierung am weitesten in ihrer Situation auf; hat sie sich auf die Situation eingestimmt, wird sie mit einem Wort ‚stimmig‘.“ (Stegmaier 2008, S. 163). Mein Beitrag könnte als ein kleiner Kommentar zu diesem Satz gelesen werden.

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2. Der Unglücklichste Im ersten Teil von Entweder/Oder findet sich ein kurzer Aufsatz mit dem Titel Der Unglücklichste.3 Es soll „eine begeisterte Ansprache an die Συμπαρανεκρωμενοι“ sein, gehalten an einer ihrer „Freitagszusammenkünfte“. Mit Hilfe dieses Textes, in dem der Autor auslegt, was es eigentlich heißt, unglücklich zu sein und worin er die menschliche Lage als eine des Unglücklich-Seins (S.  255) darstellt, kann Stegmaiers Ausgangspunkt der Orientierung (das „Hier und Jetzt“, das „nicht einfach der Augenblick, in dem, und der Ort, an dem man sich befindet“, ist) in seiner Fragwürdigkeit (mit Nietzsche verstanden als ‚Würdigkeit, befragt zu werden‘) erprobt werden. In dieser „Ansprache“ erzählt der Autor die sowohl makabre als auch belustigende Geschichte von einem Grab, „irgendwo in England“, dessen Grabstein nur meldete, dass hier der Unglücklichste begraben sein sollte, von dem sich aber, nachdem es geöffnet wurde, herausstellte, dass es leer war. Damit ist die Frage gestellt, wem dieses Grab wohl gehöre (oder gehörte, oder gehören wird …), und wer also dieser Unglücklichste ist. Diese Frage führt dann dazu, dass man „einen freien Wettbewerb“ (S.  257) ausruft, durch den „für alle Welt entschieden werden muss“, wer diesen Namen und den Preis des leeren Grabes verdient. Um das wegen der vielen Kandidaten drohende Chaos zu vermeiden, bedarf es Kategorien des Unglücks, damit man „die Unglücklichen in bestimmten Gruppen aufteilen [kann], für die nur je einer das Wort führen darf“, gleichsam als Repräsentant seiner Klasse (S. 258). Kategorien sind aber Unterteilungen eines allgemeinen Begriffs. Kierkegaard – oder der Autor dieser Ansprache – entnimmt sie Hegels Phänomenologie des Geistes (und zwar der Sektion über das unglückliche Bewusstsein). Und hier fängt es an, für unseren Kontext wichtig zu werden. Unglück wird nämlich definiert als Abwesenheit („Der Unglückliche ist immer sich abwesend, nie sich selbst gegenwärtig“) und diese Abwesenheit wird nicht räumlich, sondern zeitlich interpretiert: Der Unglückliche ist also abwesend. Abwesend aber ist man, wenn man entweder in der vergangenen oder der zukünftigen Zeit ist. (S. 259)

Man bekommt den Eindruck, dass im Hintergrund die Passage aus den Confessiones mitspielt, in der Augustinus Vergangenheit und Zukunft anzeigt als die Zeiten, die eigentlich nicht sind, denn: „Wie kann man sagen, dass sie sind, da doch die

3 Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich Seitenbelege im laufenden Text dieses und des folgenden Abschnitts auf Kierkegaard 1975.

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vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist?“ (Augustinus 1960, Lib. XI.17) Unglücklich oder abwesend ist der Mensch daher, wenn er in der abwesenden Zeit der Vergangenheit oder in der abwesenden Zeit der Zukunft ist. Diese beiden Kategorien sind durchaus klar und diejenigen, die zu ihnen gehören, kann man leicht erkennen. Wer kennt nicht einen Menschen, der einmal tief verwundet wurde und für den nachher alles nur auf dieses Trauma zurückverweist. Was auch immer neu passiert, es wird im Lichte des Damaligen verstanden. Es scheint, als ob seitdem die Zeit nicht mehr weitergeht. Solche Menschen leben eigentlich nicht in der Gegenwart, sondern bleiben ständig in der Vergangenheit. Ebenso kennen wir die umgekehrte Pathologie (oder leiden wir vielleicht sogar selber an ihr): Es gibt ja Menschen, die fortwährend und fast ausschließlich mit dem, was kommen wird oder muss, beschäftigt sind, die immer schon an die nächste Aufgabe denken, oder die – zum Beispiel während eines Empfangs – im Gespräch mit der einen Person immer schon die nächste im Auge haben. Kierkegaard selber verweist zum einen auf Menschen, die um ein verlorenes Glück trauern: das Mädchen, das von ihrem Geliebten verlassen worden ist, oder Niobe, Tochter des Tantalus und Gattin des Thebanischen Königs Amphion, deren Kinder alle auf einmal ermordet wurden: „sie hat verloren, dem sie das Leben gab, sie hat verloren, was ihr das Leben gab!“ (S. 264 f.) Von diesen „sich erinnernden Individualitäten“ (es gibt also doch mehr als nur einen Repräsentanten jeder Kategorie) unterscheidet er zum anderen die „Hoffenden“. Sie sehen an erster Stelle anders aus als diejenigen, die ich oben skizzierte, stellen aber eben eine Variante der gleichen ‚Pathologie der Zukunft‘ dar. Als Repräsentanten der Hoffnung werden sie von Kierkegaard der Bibel entnommen. Bei Hiob darf es noch zweifelhaft sein, ob er dabei bleibt, sich seinem Gott anzuvertrauen, aber der Vater des verlorenen Sohnes beharrt ohne Zögern auf seiner Hoffnung (S. 265 f.). Diese Figuren verweisen zwar auf ein Problem mit Bezug auf den Ausgangspunkt der Orientierung im „Hier und Jetzt“ der Situation, aber kein unüberwindbares. Sie zeigen eben, was es bedeutet, dass – wie wir schon sahen – „Hier und Jetzt [...] nicht einfach der Augenblick, in dem, und der Ort, an dem man sich befindet“ ist. Ihr Hier und Jetzt ist gerade ein Dort und Damals oder ein Irgendwo und Jemals. Orientierung wird wahrscheinlich in diesen Fällen wohl vor allem darin bestehen, dass man den Weg findet, der das Damals oder Jemals mit dem Heute verbindet. Bevor wir uns aber fragen, welche Orientierungstugenden gerade dazu befähigen können, und um zu vermeiden, dass wir uns diese Aufgabe zu leicht vorstellen, empfiehlt es sich, zunächst weiter zu lesen. Der Text zeigt nämlich, dass die Aufgabe bald kompliziert werden wird. Gerade die Tatsache, dass man bis hier immer noch von einer Situation oder einem Situiert-Sein sprechen kann, ist nämlich der Grund dafür, dass die Richter

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in Kierkegaards Erzählung diese Kandidaten für den Titel des Unglücklichsten zurückweisen. Sie wohnen immerhin in ihrer traurigen Erinnerung oder verweilen in der von ihr erhofften Zukunft. Und deswegen sind sie nicht wirklich unglücklich, sind sie doch nicht abwesend, sondern anwesend, sei es auch in einer abwesenden Zeit. Niobe steht als ein Denkstein auf dem Grabhügel ihrer ermordeten Kinder; nichts kann sie noch von ihnen trennen: „nichts vermag ihr Glück ihr zu nehmen, die Welt wandelt sich, sie aber kennt keinen Wechsel“ (S. 265). Man kann „in strengem Sinne eine Individualität nicht unglücklich nennen, die präsentisch ist in Hoffnung oder in Erinnerung“ (S. 260). Es gibt aber mehr als nur diese zwei Kategorien der Abwesenheit. Das wirkliche Unglück müssen wir dort suchen, wo jemand nicht anwesend, sondern abwesend ist in einer abwesenden Zeit, d.h. bei demjenigen, der „die Hoffnung verliert“ und dennoch „eine hoffende Individualität“ bleiben will, oder vor allem (denn „[d]ie Erinnerung ist vorzüglich das eigentliche Element der Unglücklichen“, S. 260 f.) bei demjenigen, der sich an etwas erinnern will, was es nie gab. Als „recht passendes Exempel“ für diese letzte Figur nennt Kierkegaard „einen Menschen, der selbst keine Kindheit gehabt hätte [...], der aber nun [...] seiner eigenen Kindheit sich erinnern, immer auf sie zurückstarren wollte“ (S. 261 f.). Für die erste Figur bringt er noch einmal das Mädchen auf die Bühne: sie erklärt nämlich, dass sie nicht in ihrem Kummer wohnen kann, weil sie noch immer auf den untreuen Geliebten hofft, zugleich aber nicht in ihrer Hoffnung bleiben kann, weil er „ein Rätsel“ war (S. 267). Auch diese Kandidaten gewinnen aber noch nicht den Wettbewerb: „Das Grab können wir ihr nicht zuerkennen, wohl aber den Platz zunächst dem Grabe“ (ebd.). Der Unglücklichste dagegen ist derjenige, der die beiden Weisen der doppelten Abwesenheit (Abwesenheit in einer abwesenden Zeit) kombiniert. Es ist derjenige, der „immerfort auf das hofft, woran er sich erinnern sollte“ und der „sich immerfort an das [erinnert], worauf er hoffen sollte“ (S. 262). Kierkegaards Bemühung, diese Figur zu beschreiben, liefert eine lange Reihe von Paradoxen: er kommt „stets zu spät“, weil er „zu früh auf die Welt gekommen ist“ (S. 263). „Das, worauf er hofft, liegt also hinter ihm, das, woran er sich erinnert, liegt vor ihm. Sein Leben ist nicht rückwärts gerichtet, jedoch in doppeltem Sinne verkehrt.“ (ebd.)

Es ist offenbar nicht einfach, uns diesen Unglücklichen vorzustellen. Und es wird wohl noch schwieriger sein, zu sagen, wie ein solcher Mensch sich orientieren könnte. Wie könnte er sich je zurechtfinden in seiner Situation, wie könnte er überhaupt beginnen, sich von seiner Situation abzuheben, um in ihr zu Unterscheidungen zu kommen? Wie könnte er je seine Situation limitieren? Was wäre

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eigentlich seine „Situation“, d.h. dasjenige, was als Korrelat seiner Orientierung fungieren sollte? Was wäre wohl das Hier und Jetzt für diesen Menschen?4 „[E]r hat keine Gegenwart, an die er anknüpfen, keine Vergangenheit, nach der er sich sehnen kann, denn seine Vergangenheit ist noch nicht gekommen, keine Zukunft, auf die er hoffen kann, denn seine Zukunft ist schon vorüber.“ (S. 264)

3. Normalität und Pathologie Oder müsste man sagen, wie es die Auffassung Stegmaiers zu sein scheint5, dass diese Figur die Grenze zwischen Normalität und Pathologie überschritten hat, dass sie also höchstens die Ausnahme darstellt, aber dann gerade – als Ausnahme – die normale Orientierung und ihren Ausgangspunkt in einer „Situation“ anzeigt? Es gibt jedoch einige Hinweise im Text Kierkegaards, die suggerieren, dass diese Pathologie keine Ausnahme, sondern eher unsere Normalität ist. Zunächst fällt auf, dass der Autor, der bis jetzt alle Kategorien mittels historischer, mythologischer oder selber erdichteter Beispiele veranschaulicht hat, jetzt gar keine konkreten Figuren mehr zeichnet, sondern nur vage und paradoxe Beschreibungen gibt: dort steht er, der Abgesandte aus dem Reiche der Seufzer, auserkorener Liebling der Leiden [...] Er ist matt und doch wie kraftvoll, sein Auge macht nicht den Eindruck, als hätte es viele Tränen vergossen, wohl aber sie getrunken, und doch lodert ein Feuer darin, das die ganze Welt verzehren könnte, aber nicht ein Splitter der Trauer in seiner eigenen Brust; er ist gebeugt, und doch verheißt ihm seine Jugend ein langes Leben, seine Lippe lächelt über die Welt, die ihn missversteht. (S. 267 f.)

Es ist klar: wir müssen selber uns eine Vorstellung dieses Unglücklichen machen, der „in seinem Erinnern verwirrt [ist] von der Hoffnung Licht, in seinem Hoffen getäuscht von der Erinnerung Schatten“ (S. 267).

4 Die verwendeten Ausdrücke sind alle dem Paragraphen 4.1 („Orientierung über die Situation in der Situation“) der Philosophie der Orientierung (Stegmaier 2008, S. 151–158) entnommen. 5 Vgl. Stegmaier 2008, S. 152: „Das Sich-Abheben der Orientierung von der Situation ist die Vor­ aussetzung der Orientierung über sie und ihr Anfang als Orientierung, die Unterscheidung der Orientierung von der Situation also Voraussetzung aller weiteren Unterscheidungen. Darum ist sie auch nicht zu begründen; denn dies wäre wieder nur durch Unterscheidungen möglich.“ Vgl. auch oben Fußnote 2.

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Vielleicht könnte man an den im Ruhestand lebenden Mann denken, der sich nach Enkeln sehnt, oder eigentlich: nach einem Leben mit Kindern, wie er das gehabt haben konnte und sich erinnern sollte – damals hat er aber die Kinder, die er hatte, kaum gesehen: er hatte ja dafür keine Zeit … Oder an denjenigen, der beim Anfang der Ferien, auf die er sich so lange schon gefreut hat, bereits daran leidet, dass sie nun rasch vorüber sein werden. Das heißt: vielleicht muss man an durchaus alltägliche Figuren denken, wie wir sie erkennen, wenn wir einfach um uns schauen, oder vielleicht auch, wenn wir uns selber einen Spiegel vorhalten. Ein zweiter auffälliger Punkt hat damit zu tun, dass der Autor diese Figur nicht so sehr beschreibt, sondern sie anspricht, und vor allem mit dem, was in dieser Anrede passiert: „du großer Unbekannter, dessen Namen ich nicht weiß“ (S. 268). Wir erinnern uns, dass auch der Text als ganzer, seinem Untertitel zufolge, eine „Ansprache“ sein sollte, und zwar an die Συμπαρανεκρωμενοι. Jetzt scheint aber die Anrede des Unglücklichsten mit dieser Ansprache des Textes zusammenzufließen. Die eben zitierte Anrede ist nämlich der Anfang einer Begrüßung, mit der der Unglücklichste willkommen geheißen wird unter Seinesgleichen: Ich grüße dich, du großer Unbekannter, dessen Namen ich nicht weiß, ich grüße dich mit deinem Ehrentitel: der Unglücklichste. Sei gegrüßt hier in deinem Heim von der Gemeinde der Unglücklichen, sei gegrüßt beim Eingang in die demütige niedrige Behausung, die doch stolzer ist denn alle Paläste der Welt. (S. 268)

Ist der Unglücklichste vielleicht einer von den Συμπαρανεκρωμενοι? Am Ende der Ansprache stellt sich heraus, dass der Angesprochene entschwunden ist, und dass es nur noch die ebenfalls und tatsächlich angesprochenen Συμπαρανεκρωμενοι gibt: „Er ist entschwunden, und wir stehen wieder an dem leeren Grab“ (S. 269). Im Kommentar der von mir benutzten Ausgabe suggeriert Niels Thulstrup, dass die Συμπαρανεκρωμενοι von Kierkegaard erdacht worden sind nach dem Beispiel der Συναποθανουμενοι, von denen Plutarch erzählt: „die berühmte makabre Gesellschaft [...] die Kleopatra und Antonius nach der Niederlage bei Actium gründeten“. (Thulstrup 1975, S.  959) Sie wussten, dass der Augenblick ihres Todes nah war, wollten aber vollauf vom „wollüstigen Überfluss“ genießen, so lange ihnen noch Zeit vergönnt war, bevor sie zusammen sterben würden. Vielleicht muss man sogar sagen, dass der Unglücklichste nicht nur einer von den Συμπαρανεκρωμενοι ist, sondern effektiv einer von uns, den Lesern dieses Textes. Kierkegaard selber schreibt in seinem Tagebuch, dass er diesen griechischen Ausdruck fand für „jene Klasse von Menschen [...], für die ich gerne schreiben möchte, überzeugt, dass sie meine Anschauung teilen würden“ (Kierkegaards Tagebuch, 9. Januar 1838, zit. nach Thulstrup 1975, S.  958). Wir, die ja den Augenblick unseres Todes nicht genau kennen, aber wissen, dass er

Der „Pflock des Augenblickes“. Über die Situation und die Tugenden der Orientierung 

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kommen wird, dürfen annehmen, dass Kierkegaard für uns schreiben will. Für den Unglücklichsten gilt, wie für uns, dass „vielleicht [...] die Zeit noch nicht da [ist], weit vielleicht noch der Weg“ (S. 268). Und wenn wir einwerfen, dass wir doch keineswegs unglücklich sind, sondern unser Leben genießen, sind wir für Kierkegaard vielleicht auch darin den Συναποθανουμενοι von Plutarch ähnlich. […] denn wer ist schon der Glücklichste, es sei denn der Unglücklichste, und wer der Unglücklichste, es sei denn der Glücklichste, und was ist das Leben anderes als Wahnsinn, und der Glaube anderes als Torheit, und die Hoffnung anderes als Galgenfrist, und Liebe anderes als Essig in der Wunde. (S. 268 f.)

Ich habe suggerieren wollen, dass die Lage des Unglücklichsten, der „immerfort auf das hofft, woran er sich erinnern sollte“ und der „sich immerfort an das [erinnert], worauf er hoffen sollte“ (S. 262), nicht sosehr die Ausnahme, sondern eher die Normalität ist. Nicht zufällig schließt Kierkegaards Text mit einer Evokation dieser alltäglichen Realität: Stehet auf, liebe Συμπαρανεκρωμενοι! Die Nacht ist vorüber, der Tag beginnt wieder seine unermüdete Tätigkeit, niemals, wie es scheint, überdrüssig, immer und ewig sich selbst zu wiederholen. (S. 269)

Wenn es aber die Normalität ist, dann wird die im 2. Abschnitt mit Bezug auf den Unglücklichsten gestellte Frage wohl noch wichtiger: wie könnte ein solcher Mensch sich orientieren, sich in seiner Situation zurechtfinden? Wie kann er, wie können wir uns überhaupt in einer Situation befinden, d.h. anwesend werden, statt darin (wie der Unglücklichste) doppelt abwesend zu sein?

4. Tugenden der Anwesenheit Die Rede von „abwesenden Zeiten“ haben wir einer Passage der Confessiones von Augustinus entnommen, in der er die Frage, was die Zeit ist (quid est enim tempus?), zu beantworten versucht. Zunächst vergrößert Augustinus das Problem maximal dadurch, dass er feststellt, dass es die Zeit, die er sich vorzustellen versucht, welche auch immer, eigentlich nicht gibt: die zukünftige Zeit ist noch nicht, die vergangene Zeit ist nicht mehr, und die heutige Zeit ist kaum mehr als der unmerkbar kleine Punkt, an dem die Zukunft zur Vergangenheit wird.6

6 Es klingt fast wie eine Erinnerung an seine Augustinus-Lektüre, wenn Nietzsche in der zweiten

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 Paul van Tongeren

Dann findet er aber bekanntlich die abwesenden Zeiten dennoch wieder, und zwar in der Seele: Es gibt die Gegenwart der Zukunft in der Erwartung (expectatio), die Gegenwart der Vergangenheit in der Erinnerung (memoria), und die Gegenwart der Gegenwart in der Anschauung (contuitus; Augustinus 1960, XI.26). Das sind aber nicht drei unterschiedliche Gegenwarten, wie als ob die Seele sich zugleich an drei unterschiedlichen Orten befinden könnte. Eher muss man sagen, dass die Seele sich über diesen drei Zeiten ausdehnt, und dass die Zeit gerade diese Ausdehnung ist: sie ist die distentio [...] animi. (Augustinus 1960, XI.33) Die Zeit existiert als Erwartung, Aufmerksamkeit und Erinnerung, und als Erwartung, Aufmerksamkeit und Erinnerung ist die Seele Zeit. Erwartend, aufmerksam und sich erinnernd ‚verzeitlicht‘ sich der Mensch. Angemessener wäre es deshalb zu sagen, dass der Mensch, die Seele, nicht eigentlich ist, sondern geschieht. Augustinus schreibt sogar, dass er in der Zeit aufgelöst wird: ego in tempora dissilui. (Augustinus 1960, XI.39) Die Frage, zu der unsere Erörterung des Ausgangspunkts der Orientierung, d.h. vom „Hier und Jetzt“ der Situation, geführt hat und mit der die beiden vorigen Abschnitte abgeschlossen wurden, kann also folgendermaßen umformuliert werden: Wie können wir lernen, in diesem Geschehen anwesend zu sein, in dieser „Auflösung“ uns zu bewahren, ohne sie aber zu verneinen? Wie können wir uns (uns selber wie auch einander) Dauer geben, vorausgesetzt dass Dauer das Bleiben des sich Ändernden anzeigt? Wenn wir die Ethik auffassen als das Nachdenken darüber, was das menschliche Leben und Zusammenleben gut, schön oder sinnreich macht, ist die gestellte Frage eine Frage der Ethik.7 Insofern man die erwähnte Frage an ethische Theorien stellt, wäre die Tugendethik wohl am meisten geeignet sie zu beantworten. Sie ist nicht nur eine Theorie des guten Lebens, sondern scheint auch am meisten der Zeitlichkeit jenes Lebens angemessen: ist sie doch darauf gerichtet, die Person zu gestalten und ihr ein èthos, eine Bleibe zu verschaffen. Tugenden bringen Dauer in unsere Existenz. Sie sind „durch Gewöhnung, Übung, Erfahrung und Einsicht erworbene“ und daher dauerhafte „Haltungen“ (Stegmaier 2008, S. 604), in denen unsere natürlichen Vermögen und Gefühle ihre optimale

Unzeitgemäßen Betrachtung schreibt: „der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts“ (UB II 1, KSA 1.248). 7 Meine Auffassung der Ethik ist also breiter als die Stegmaiers, der sie auf die Reflexion über Moralen einzuschränken scheint (vgl. Stegmaier 2008, § 16.2), oder auf die „Moral im Umgang mit Moral“ (Stegmaier 2008, § 15, S. 544), wobei „Moral“ ausdrücklich auf die Interessen Anderer bezogen zu sein scheint, so dass er schreiben kann: „Wo Sichten sich auf die Sichten anderer beziehen, bekommen sie ethische Bedeutung“ (Stegmaier 2008, S. 189).

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Form bekommen haben. Als habiti oder eingeschliffene Patrone des Wahrnehmens, Reagierens und Handelns geben sie unserem Leben Dauer. Zudem sind die Tugenden nach Aristoteles bekanntlich eine Mitte zwischen zu viel und zu wenig, wobei diese Polarität öfters eine temporale Bedeutung hat. Sie steht jedenfalls auch für ‚zu früh‘ oder ‚zu spät‘, ‚zu schnell‘ oder ‚zu langsam‘, ‚zu lange‘ oder ‚zu kurz‘, usw. Auch mit Bezug auf die Ausdehnung unserer Zeitlichkeit wird sie uns wohl helfen können, uns zu behüten vor einem Haften an der Vergangenheit, vor der Flucht in die Zukunft, oder vor der doppelten Abwesenheit der Schwermut oder der utopischen Illusion. Werner Stegmaier spricht, wenn auch ganz kurz, von „Orientierungstugenden“ die er vor allem in unterschiedlichen Formen des „Sichtens“ („von der Absicht bis zur Zuversicht“) findet (Stegmaier 2008, S. 187–190). Zudem erwähnt er in einem Abschnitt über die „Tugenden der ethischen Orientierung“ mehrere Haltungen, durch die die Orientierung sich auszeichnen kann. Obwohl es unter den von ihm erwähnten Tugenden mehrere gibt, die gerade mit Bezug auf die Zeitlichkeit sehr wichtig sind, wie Rücksicht, Vorsicht, Zuversicht und Aufgeschlossenheit, werden sie von ihm aber in diesem Sinne weder gesammelt noch ausgearbeitet – vielleicht, weil er sich nicht auf die Problematisierung der Situation als Ausgangspunkt der Orientierung fokussiert hat. Um zu erklären, was ich mit einer solchen Sammlung und Ausarbeitung meine, möchte ich zum Schluss dieses Beitrages kurz auf einige dieser Haltungen verweisen, ohne sie hier und jetzt richtig ausarbeiten zu können. Es gilt dabei nicht zu vergessen, was wir von Kierkegaard und von Augustinus und Nietzsche gelernt haben: zum einen (Kierkegaard eingedenk) müssen wir darauf achten, dass wir uns nicht in einer oder beiden der abwesenden Zeiten verschließen, dass wir also nicht abwesend, sondern anwesend sind; zum anderen (Augustinus wie auch Nietzsche eingedenk) dürfen wir nicht vergessen, dass wir als Menschen nicht an einen Pflock des Augenblickes angebunden sind, sondern immer auch schon in der Zukunft, und immer auch noch in der Vergangenheit leben. Die gemeinten Haltungen werden daher wohl Tugenden sein, die uns helfen, Erwartung von Zukunft und Erinnerung an Vergangenheit zusammenzutragen in einer gegenwärtigen Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit. Insofern sie uns ermöglichen, in unserer Ausdehnung über die Zeiten anwesend zu sein, dürfen sie vielleicht als Tugenden der Anwesenheit, und daher als Vorbedingungen der Orientierung, angedeutet werden. Zwei dieser Haltungen, die ich meine (die übrigens beide auch von Stegmaier erwähnt, aber nicht als Tugenden der Orientierung beschrieben werden), werden von Hannah Arendt als die zwei „Vermögen“ (faculties) beschrieben, durch die der Mensch sich befreit von dem Zwang der Vergangenheit und von der chaotischen Ungewissheit der Zukunft (Arendt 1958, p. 236 ff.). Es handelt sich bekannt-

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lich um das Vermögen zu versprechen und um das Vermögen zu vergeben. Diese beiden Vermögen werden aber erst voll verwirklicht in den Tugenden der Zuverlässigkeit und der Treue einerseits, und in der Bereitschaft zur Reue und der Gesinnung zur Vergebung andererseits. Versprechen kann nur, wer einerseits der Zukunft seinen Stempel aufprägt, andererseits aber weiß, dass er die Zukunft nicht zwingen kann. Ein Versprechen ist ein Wagnis, das die Offenheit der Zukunft bewahrt, ohne sich der Ungewissheit auszuliefern, aber auch ohne sie zu verneinen. Es verbindet die Zukunft mit dem Heute dadurch, dass es sich verpflichtet.8 Wer verspricht, ist in der Gegenwart bei der Zukunft anwesend. Durch die Vergebung, und das Gleiche gilt für deren Komplement, die Reue, befreit sich der Mensch von der Gefangenschaft durch die Ketten von Ursache und Folge, wie die Vergangenheit sie geschmiedet hat. Zwar können die Tatsachen der Vergangenheit nicht geändert oder rückgängig gemacht werden, aber Vergebung und Reue können die Bedeutung dessen, was passiert oder getan worden ist, nachher doch ändern und ihr eine neue Wendung geben. Menschen können sich befreien von der Herrschaft der Vergangenheit, dadurch dass sie sich selber und einander nicht an nur eine Interpretation dessen, was getan worden ist, anbinden.9

5. Fazit: eine paradoxe Aufgabe Es gibt zweifelsohne viele solcher Haltungen, die im Rahmen der Problematik der Zeitlichkeit unserer Existenz als Tugenden der Anwesenheit, oder der VorOrientierung, beschrieben werden könnten. Ich entnahm die Problematik der Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches, in der er vom Pflock des Augenblicks sprach. In seiner Suche nach einer dieser Problematik angemessenen Haltung spricht er von der spannungsvollen Beziehung zwischen unterschiedlichen Standpunkten der Vergangenheit gegenüber: „das Unhistorische und das Ueberhistorische sind die natürlichen Gegenmittel gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische

8 Vgl. auch Stegmaier 2008, S. 546: „Die moralische Selbstbindung wird gegenüber andern als Versprechen kommuniziert, als Zusage künftiger Verlässlichkeit aus eigener Überzeugung.“ 9 Vgl. auch Stegmaier 2008, S. 623 f.: „Wer vergibt, verzichtet darauf, auf die Schuld eines andern ‚zurückzukommen‘ und Forderungen aus ihr abzuleiten […]. Er lässt ihm damit, ohne weitere Vorbedingungen, Zeit für neue Anfänge, gibt ihm eine neue Zukunft in ihrem Verhältnis. Geben heißt dann einfach Zeit geben.“

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Krankheit“ (UB II 10, KSA 1.331) Das Vermögen, diese Beziehung auszuhalten und die damit implizierte Spannung vielleicht sogar zu intensivieren, könnte als ein solches tugendhaftes Verhalten interpretiert werden. Das Gleiche gilt m.E., obwohl es weniger explizit von Nietzsche selber so behauptet wird, für die Beziehung zwischen den drei „Arten der Historie“, die monumentalische, die antiquarische und die kritische (UB II 2, KSA 1.258): wie gegensätzlich auch immer sie sein dürfen, nur ihre Verbindung bringt Gesundheit, jedenfalls für den, der der damit gegebenen Spannung gewachsen ist. Wenn wir diese Beispiele ausarbeiten würden und wenn wir weitere Beispiele hinzufügen würden (bei Nietzsche z.B. das Vermögen, Erinnerungen zu verdauen oder seine Rache zu überwinden in Bezug auf die Vergangenheit, oder auch die Kunst, „langsam [zu] werden“ oder die der Geduld und des Wartens in Bezug auf die Zukunft), würden wir jedes Mal finden, dass es hier um sehr große und schwierige Aufgaben geht. Das würde das Paradoxe unseres Ergebnisses noch vergrößern: um dafür zu sorgen, dass wir – auch ohne den Pflock des Augenblicks – anwesend sein werden, d.h. dass wir uns in einer Situation befinden werden, in der wir anfangen könnten, uns zu orientieren, brauchen wir schon Orientierung und Orientierungstugenden, und sogar die schwierigsten. Glücklicherweise aber scheut die Philosophie der Orientierung nicht vor Paradoxen zurück; sie besteht ja „in einem fortgesetzten Paradoxie-Management.“ (Stegmaier 2008, S. 12)

Literaturverzeichnis Arendt, Hannah (1958): The Human Condition. Chicago. Augustinus (1960): Confessiones. Zwolle. Kierkegaard, Søren (1975): Entweder-Oder. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhager Kierkegaard-Gesellschaft hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest. München. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Thulstrup, Niels (1975): „Kommentar“. In: Kierkegaard, Søren (1975): Entweder-Oder. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest. München.

Andrea C. Bertino

Vom Zeichen-Setzen. Moralische Integrität und ethische Souveränität Die Philosophie der Orientierung (PO) behandelt die Moral deskriptiv und verzichtet auf die Begründung einer normativen Ethik. Nichtsdestoweniger wird die Rekonstruktion moralischer und ethischer Orientierungsprozesse mit der Vorstellung eines ethisch souveränen Individuums abgeschlossen, dem eine gewisse „Anziehungskraft“ auf Individuen zugeschrieben wird, die nach moralischen Anhaltspunkten suchen. Die Auszeichnung eines solchen Typus fügt dem deskriptiven und rekonstruktiven Verfahren der PO eine evaluative Färbung hinzu, und die „ethische Souveränität“ wird zu einem werthaltigen Faktum.1 Die ethische Souveränität weist darin deutliche Analogien mit dem Begriff der Integrität auf, in dem ebenfalls die deskriptive Dimension mit der normativen verschmilzt. Für eine weitere Diskussion der originären Konzeption der ethischen Orientierung der PO bietet sich daher ein Vergleich zwischen beiden Begriffen an. Ich werde zunächst einige Grundaspekte der Prozesse moralischer und ethischer Orientierung hervorheben, wie sie in der PO dargestellt sind; danach werde ich die Bedeutung der moralischen Integrität für die ethische Orientierung stark machen und fragen, ob und inwiefern sie eine weitere Tugend der ethischen Orientierung sein kann. Dabei soll die Fähigkeit des ethisch souveränen Individuums, die Moralen anderer Menschen in Bewegung zu bringen, präzisiert werden. Weil nach der PO ethische Souveränität sich auch in Narrationen zeigen kann, werde ich am Ende des Aufsatzes ein literarisches Beispiel aus Also sprach Zarathustra heranziehen, um das Verhältnis zwischen ethischer Souveränität und Integrität zu verdeutlichen.

1 Moralische und ethische Orientierung Die PO beteiligt sich nicht an der Begründung ethischer Theorien. Stattdessen versucht sie, die Moral als vielfältiges Kommunikationssystem zu beschreiben. Stegmaiers „Beobachtung der moralischen Orientierung“2 (S.  542) verzichtet

1 Hier ist an den Begriff des ,thick ethical concept‘ zu denken. Vgl. Williams 1985, S. 141. 2 Der moralischen und der ethischen Orientierung sind die Kapitel 15 (S. 541–590) und 16 (S. 591– 626) der PO gewidmet.

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auch bewusst auf eine explizite Definition der Moral und setzt nur voraus, dass es im menschlichen Leben von Zeit zu Zeit zu einer „innere[n] Nötigung der moralischen Selbstbindung“ kommt. Diese Nötigung sei ein Faktum der moralischen Orientierung. Dabei kann man sich fragen, wie man wissen kann, dass ein Anstoß zur Selbstverpflichtung, zu einem aktiven Engagement moralischer Natur ist, wenn Moral gar nicht definiert werden kann. Die PO setzt immerhin eine allgemeine Vorstellung von Moralität voraus, nach der es als moralisch gilt, in der Situation der „Nötigung“ zu moralischem Handeln jede „Rücksicht auf eigene Vor- und Nachteile“ aufzugeben (S.  545). Die Nötigung zur Selbstlosigkeit wird als „auffälligster und stärkster Anhaltspunkt“ (S. 544) der moralischen Orientierung überhaupt verstanden. Auf diese Weise kann man klare Grenzen gegenüber der politischen und ökonomischen Orientierung ziehen, in denen das Kalkül eigener Interessen eine entscheidende Rolle spielt. Schwieriger ist die Trennung des Moralischen vom Religiösen. Denn beide orientieren sich an etwas, das nicht vollständig durch Begriffe zu erfassen ist: im einen Fall das subjektive Erlebnis der Nötigung zur Selbstlosigkeit, im anderen Fall der Glaube an Gott. Die Nötigung zur Selbstlosigkeit ohne Rücksicht auf eigene Interessen ist jedoch etwas, das man nicht einfach in interiore homine, durch bloße Selbstbesinnung, erfahren kann. Dazu ist die Irritation durch den Anderen nötig. Nach der PO sind es die „Nöte“ anderer Menschen, die die Nötigung auslösen. Damit wird bewusst eine Beschränkung des Feldes der moralisch relevanten Phänomene in Kauf genommen: Selbstlose Handlungen, die nicht von den Nöten anderer Menschen ausgelöst werden, scheinen nicht moralisch relevant zu sein; und ob das menschliche Verhalten gegenüber Lebensformen, in denen keine menschlichen Nöte hervortreten, unter moralischen Kategorien betrachtet werden kann, bleibt vom Standpunkt der PO aus eine offene Frage. Moralische Orientierung ist in der PO zunächst ein Verhalten von Menschen zu Menschen; die traditionelle moralpsychologische Aufwertung der Sympathie wird durch das Schema ,Reiz (Not) → Filterung des Reizes → innere Nötigung → moralisches Verhalten‘ präzisiert, wobei die Filterung der Reize durch den Charakter der Person bedingt ist. Der Charakter differenziert die Erfahrung von Nöten anderer Menschen, und so entscheidet sich individuell, ob überhaupt eine moralische Nötigung und in welcher Intensität sie entsteht. Die moralische Orientierung, wie die PO sie fasst, kennt somit Spielräume, aber keine Freiheit im Sinne eines liberum arbitrium indifferentiae. Das hier als selbstverständlich angenommene Reiz-Reaktions-Schema be-­ dingt auf entscheidende Weise die evaluative Färbung der moralischen Orientierung. Als Ergebnis eines nahezu unwillkürlichen Prozesses wird die moralische Orientierung als eine Form von vollständiger Inanspruchnahme dargestellt; Stegmaier spricht von einer abrupten „Schließung der Spielräume der Orientierung“, um deren Eröffnung es ihm zuvor vor allem gegangen ist. Gerade in der Situa-



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tion der moralischen Orientierung ist der Mensch kein wirklich autonomes Wesen mehr, sondern wird alternativlos; er vergisst die Beschränktheit des eigenen moralischen Standpunkts und verabsolutiert damit unvermeidlich den Geltungsanspruch seiner praktischen Überzeugungen. Unproblematisch verläuft moralische Orientierung dann nur, solange man die eigene Orientierung nicht reflektiert und die anderen außermoralischen Dimensionen der Orientierung nicht thematisiert. In der Not anderer sieht man sich zuallererst, wie Stegmaier betont, genötigt zu helfen. Im reflektierten Umgang mit der eigenen Moralität aber gewinnt die moralische Orientierung eine neue Qualität. Auch für einen solchen reflexiven Umgang mit der eigenen Moral kann man sich nach der PO nicht wirklich entscheiden: Er drängt sich dann auf, wenn man erfährt, dass auch andere Moralen zur Geltung kommen wollen. Zwar kann auch die Erfahrung anderer Formen nicht-moralischer, etwa politischer oder ökonomischer, Orientierung diesen Reflexionsprozess in Gang bringen; und damit beschäftigt sich die PO auch ausführlich. Was aber die Moral im Umgang mit Moral betrifft, setzt die PO ganz auf den möglichen Selbstbezug jeder moralischen Orientierung, die sich selbst aufhebt, wenn sie erfährt, dass sie auch anderen Moralen gerecht werden muss. Sie muss dazu aber schon andere Moralen als Moralen erkennen, also nicht als vollkommen fremd betrachten. Und um andere Moralen als Irritationen der eigenen moralischen Orientierung wahrnehmen zu können, müssen sie für die jeweilige Moral mindestens realistische Lebensoptionen darstellen, sonst bleiben sie einfach fremd. Ob es dann zu einem Konflikt von Moralen und daraufhin zur Selbstreflexion einer moralischen Orientierung kommt, hängt davon ab, ob andere Moralen immer noch als Teil einer möglichen gemeinsamen Lebensform empfunden werden können. Die Selbstreflexion der moralischen Orientierung scheint somit nur in pluralistischen Gesellschaften möglich zu sein, in denen unterschiedliche Moralen unter dem sicheren Dach eines gemeinsamen Rechtsstaats zusammen existieren können. Wenn der Konflikt von Moralen in einer Auseinandersetzung zwischen Lebensformen besteht, ist die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik – als Moral im Umgang mit Moralen – nicht mehr die zwischen Theorie (Ethik) und Gegenstand (Moral). Ethik ist in der PO Theorie und Praxis, Sprachspiel und Lebensform zugleich: Man kommuniziert über eigene und andere Moralen und entwickelt dabei eine Disposition, der die PO eine höhere Moralität zuerkennt. Wenn man sich nun fragt, für wen diese Moralität dessen, was hier ,Ethik‘ heißt, eine höhere sein soll, wird die situative Natur der deskriptiven Ethik der PO noch deutlicher. Die moralische Überlegenheit der ethischen Orientierung ist nicht selbstverständlich, schon weil sie für eine schlichte, unreflektierte moralische Orientierung durchaus unmoralisch erscheinen kann. Die Beziehung zwischen

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der ‚moralischen Moral‘ und der ‚ethischen Moral‘ muss kein friedliches Nebeneinander sein, denn ethische Reflexion macht den Horizont der Moral ja beweglicher und entzieht ihr dadurch ihre Selbstverständlichkeit. Aber anders als bei der direkten Verunsicherung, die eine moralische Orientierung beim Konflikt mit Normen und Prinzipien anderer Moralen erfährt, stößt man in der Dimension des Ethischen nach der PO auf die Entscheidbarkeit von moralischen Normen und Werten überhaupt; konkrete moralische Anhaltspunkte werden dabei nicht einfach in Frage gestellt, sondern als solche in ihrer Bedingtheit und Situativität thematisiert. Für wen ist dann die ethische Orientierung moralisch? Hier kann die PO auf eine wohletablierte Form moralischer – oder nun: ethischer – Orientierung zurückgreifen, der nämlich, dem reflektierten Befolgen moralischer Normen einen höheren Rang zu geben als dem blinden. Die moralische Überlegenheit des Ethos eines sich selbst prüfenden Lebens hatte schon in der Figur des Sokrates sein Paradigma und kulminierte in der kritischen Selbstreferenz des christlich geprägten moralischen Gewissens. Die Moralität der ethischen Orientierung ist die einer Aufklärung der schlichten und selbstblinden moralischen Orientierung, aber ohne das Kriterium eines transzendentalen, allgemeinen Vernunftprinzips zur Überprüfung von moralischen Überzeugungen. Die moralische Überlegenheit eines sich ethisch orientierenden Individuums zeigt sich nach der PO auch darin, dass es in schwierigen moralischen Situationen für andere „Zeichen setz[t]“ (vgl. S. 625–626). Voraussetzung dafür sei „ethische Souveränität“. Ethisch souveräne Individuen seien solche, „die unbefangen und entschieden ihren eigenen moralischen Maßstäben folgen und damit auch schwierige Situationen mit andern, die andern moralischen Maßstäben folgen, leicht meistern und stets gut mit ihnen auskommen“ (S. 625). Mit diesen schwierigen Situationen dürften jene Konflikte gemeint sein, von denen schon die Rede war. Ethische Souveränität geht über moralische Autorität hinaus, wenn damit „Kapitalisierung“ moralisch erworbener Achtung (S.  561) gemeint ist. Moralische Autoritäten sind Autoritäten für bestimmte Moralen; sie können darum nur solche Menschen orientieren, die ihre Moral schon teilen. Die ethische Souveränität kommt so dem Charisma nahe. Doch ethische Souveränität kann einem Handelnden nur unter spezifischen Bedingungen zugeschrieben werden: 1. Die Person muss eine eigene vor-ethische Moralität haben. 2. Sie muss ein Gespür für Menschen mit anderen vor-ethischen Moralen und für die Konflikte haben, die sie auslösen können. 3. Sie muss mit diesen anderen moralischen Orientierungen „stets gut auskommen“. Vor allem diese letzte Bedingung ist vieldeutig und verdient weitere Aufmerksamkeit. Denn Konflikte können auf sehr unterschiedliche Weise beigelegt werden: Man kann zeigen, dass der andere falsch liegt, Kompromisse eingehen oder die Konflikte einfach



Vom Zeichen-Setzen. Moralische Integrität und ethische Souveränität 

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ignorieren. Die Moralität des sich ethisch orientierenden Individuums ist darum pragmatisch zu verstehen: Moralisch plausible und darum Zeichen setzende ethische Orientierung besteht nicht darin, dass man anderen wohlbegründete praktische Normen mitteilt, sondern in einer Praxis, die anderen ein Beispiel gibt, wie man moralische Konflikte ernst nehmen und trotzdem mit ihnen leben kann. Verzichtet man auf Begründungen und auf ein allgemeines Kriterium für die Moralität einer ethischen Orientierung, geht es um den praktischen Beweis von Tauglichkeiten, die nicht nur ermöglichen, gut miteinander auszukommen, sondern diesem Miteinander-Auskommen auch ethische Qualität geben: Die PO nennt Aufgeschlossenheit, Unbefangenheit, Wohlwollen und Freundlichkeit, Vornehmheit, Takt, Höflichkeit, Güte und Liebe als „Tugenden der ethischen Orientierung“. Sie sind nicht gleichsam ‚technische Bedingungen‘, um ethische Souveränität zu schaffen, sondern haben eine semiotische Funktion. Dass die an moralischen Konflikten Beteiligten das Verhalten eines Individuums, das jene Konflikte aufheben kann, mit solchen Tugenden beschreiben, signalisiert, dass die Aufhebung in der Tat ethischer Natur ist. Umgekehrt wirkt ein Individuum, dem sie nicht zugeschrieben werden können, wohl wie ein Guru, der neue Adepten anwirbt. Während die PO wichtige Anhaltspunkte für den Begriff ethischer Souveränität in Nietzsches Bild des souveränen Individuums aufweist, sind deutliche Parallelen auch zum aristotelischen Begriff der megalopsychia zu erkennen. Beide, aristotelische megalopsychia und die ethische Souveränität der PO, stellen die Einheit verschiedener Tugenden dar, die ihrerseits die Bedingungen dieser Einheit sind. Weder ist ethische Souveränität ohne besagte Tugenden möglich, noch besitzen diese ohne ihre Einheit in der ethischen Souveränität einen ethischen Wert. Sie können nicht getrennt voneinander verstanden werden, da jedes Fehlen einer von ihnen die Fähigkeit des Individuums, Zeichen für andere zu setzen, beeinträchtigen kann. Ethische Souveränität als Einheit der Tugenden der ethischen Orientierung zu verstehen bedeutet aber, dass ethisch souveränen Individuen auch eine gewisse Einheit und Festigkeit des Charakters zugeschrieben wird. Diese besteht nicht einfach in der Übereinstimmung von kommunizierten Überzeugungen und Handlungen des Individuums. Meine These ist, dass jemandem ethische Souveränität zuzuschreiben auch heißt, ihm persönliche Integrität zuzuerkennen. Hier könnte die PO ein Defizit haben. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum ethische Souveränität einerseits schwer ohne den Rekurs auf die Begriffe der persönlichen und moralischen Integrität gedacht werden kann, sich aber andererseits durch narrative Strategien von einer nur vorausgesetzten Integrität abhebt.

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2. Integrität als Tugend der ethischen Orientierung Wie ,ethische Souveränität‘ wird auch ‚Integrität‘ für bewertende Beschreibungen des menschlichen Verhaltens verwendet. Nach der Etymologie des Wortes wird der integren Person eine Art ‚Vollständigkeit‘ und ‚Unberührtheit‘ zugeschrieben, mithin eine gewisse Harmonie zwischen Überzeugungen, Verpflichtungen und Lebensprojekten. Die Qualitäten einer moralischen Persönlichkeit, die mit dem Wort Integrität zusammengefasst werden, sind vor allem Ehrlichkeit, Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Fairness. Angesichts dieses komplexen Spektrums von Bedeutungen haben Moralphilosophen versucht, die alltagssprachliche Semantik des Begriffs und seinen normativen Status zu rekonstruieren.3 Er stellte sich als ambivalent heraus, denn persönliche Integrität ist nicht immer schon ein moralischer Wert. Im Einklang mit eigenen Selbstbindungen zu sein kann sich auch als moralisch inakzeptabel erweisen, da Selbsttreue und Beständigkeit auch zu Eigensinn, Verbohrtheit, Integralismus und Fanatismus führen können. Persönliche Integrität als Treue zu identitätsstiftenden Bindungen, sogenannten commitments, macht insbesondere ethischen Theorien Schwierigkeiten, weil gerade Selbsttreue ebenso mit konsequentialistisch wie mit utilitaristisch begründeten moralischen Normen in Konflikt treten kann.4 So wurde der Begriff der Integrität vor allem zur Kritik von Moraltheorien und ihres Anspruchs, die Idee des guten Lebens durch allgemeine Kriterien festzulegen, gebraucht. Die alltägliche, vorwiegend positive Verwendung des Wortes Integrität signalisiert, dass die moralische Orientierung nicht einfach darin bestehen kann, Moraltheorien in die Praxis umzusetzen. Wird der Begriff der Integrität als Selbsttreue in der kommunikativen Dynamik der moralischen Orientierung bedeutsam, sei es als Selbst- oder als Fremdzuschreibung, dann beginnt die vor-ethische moralische Orientierung ihren unreflektierten Anspruch auf absolute Geltung zu verlieren. Die deskriptive Bewertung der eigenen oder fremden Persönlichkeit unter der Kategorie der Integrität eröffnet den Weg zur ethischen Orientierung, wenn diese denn darin besteht, dass moralische Anhaltspunkte zusammen mit anderen, nicht oder nicht nur moralisch relevanten Anhaltspunkten – in diesem Fall die identitätsstiftenden Bindungen, denen man treu bleiben will – abgewogen und auf ihre Orientierungskraft hin geprüft werden. Auch deshalb scheint es geboten,

3 Der Begriff der Integrität wird vor allem in der angloamerikanischen Moralphilosophie diskutiert. Allgemeine Überblicke dazu findet man in Diamond 2001 und Cox et al. 2013. Die wichtigste deutschsprachige Analyse dieses Begriffs bietet Pollmann 2005. 4 Zur Spannung zwischen dem Utilitarismus und der Moral der Integrität vgl. Williams 1973, 1981a, 1981b, und Scheffler 1982.



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persönliche Integrität als eine Tugend und gerade als eine Tugend der ethischen Orientierung im Sinne der PO zu betrachten.5 Ihre Umsetzung in die Praxis braucht in der Tat stets ein richtiges Maß, um ihre moralische Akzeptanz nicht zu verlieren, die sich daraus ergibt, dass man Bindungen treu bleibt und zudem deren Wert für die Anderen nicht außer Betrachtung lässt. Integrität als Tugend ist nicht empirisch beobachtbar, sondern zeigt sich in einer Hermeneutik des Handelns, die Wünsche und Grundüberzeugungen der Person sowie deren Rangordnungen in Betracht zieht. Denn Integrität setzt eine elementare Kohärenz der integren Person voraus, eine Übereinstimmung ihrer Präferenzen mit ihren Handlungen, und sie ist nichts, was man einfach feststellen könnte. Die Zuschreibung von Integrität setzt ferner eine persönliche Kenntnis der Person voraus; wie das ‚stets gut auskommen mit anderen‘ des ethisch souveränen Individuums ist auch die moralische Bewertung der Integrität nur Personen möglich, die mit dem Agenten vertraut genug sind, um die Bedeutungen seiner Meinungen und Handlungen verstehen und die innere Rangordnung seiner Wünsche und Überzeugungen erkennen zu können. Eine solche Hermeneutik setzt aber nicht nur die Kenntnis des Charakters, sondern auch der sozialen Rolle des Agenten voraus. Die Person, die im Zug ihrer ethischen Orientierung Selbstbindungen eingeht, entscheidet sich als soziales Wesen für Handlungs- und Lebensoptionen, die sie in ihrer Gesellschaft weitgehend vorbestimmt findet. Ob ihre Selbstbindungen kohärent sind, ist somit nicht einfach ‚ihre Sache‘; das Zusammenspiel von Individuellem und Sozialem bei der Wahl der Selbstbindungen zeigt zugleich, dass Integrität zwar auch eine gewisse Authentizität voraussetzt, aber nicht auf sie reduzierbar ist. In der Diskussion wurde bemerkt, dass sowohl Integrität als auch Authentizität „‘are connected to truth, [...] authenticity requires knowing the truth about what you care about’. Instead, ‘intellectual integrity [...] does not require knowing any particular type of truth. It requires, rather, caring about the truth in general.’“ (Lynch 2004, 135) Sich möglichst wenige Illusionen und Selbsttäuschungen zuzugestehen und wahrhaftig zu reden und zu handeln, ist noch keine hinreichende Bedingung, um Handlungen eine moralische Qualität zuzuschreiben. Authentizität allein ist keine Tugend der ethischen Orientierung, denn man kann in einer sehr bornierten, egozentrischen Weise authentisch sein. Eine authentische Person beweist nicht unbedingt schon ethische Souveränität, denn sie muss nicht notwendigerweise mit moralischen Konflikten „stets gut auskommen“: Man kann wahrhaftig reden und handeln, ohne zu bemerken, dass die eigenen Überzeugungen für andere keinen moralischen Wert haben.

5 Zur Integrität als Tugend vgl. Scherkoske 2013.

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In der Moralkommunikation gewinnt persönliche Integrität weitere Bedeutung für die ethische Orientierung, wenn in ihr über die Authentizität hinaus Selbstreflexion und Opferbereitschaft erkennbar werden, wenn ihre Umsetzung in der Praxis also einen Preis hat, dessen der Agent sich bewusst ist. Wenn aber Integrität als Tugend der ethischen Orientierung eine Disposition zur Reflexion der eigenen Moral einschließt, muss die integre Person auch den Wert der eigenen Kohärenz reflektieren und, wo nötig, in Frage stellen können. Denn wie ethische Souveränität wird auch Integrität in der Kommunikation thematisiert, sobald sich moralische Konflikte ergeben. Diese Konflikte erschweren die Treue der Person zu und ihr aktives Engagement für ihre Überzeugungen und Selbstverpflichtungen (vgl. Calhoun 1995). Der Wert der praktischen Kohärenz, d.h. der Fähigkeit, geäußerte Überzeugungen konsequent in die Praxis umsetzen zu können, ist so nicht mehr selbstverständlich. Während in routinierten moralischen Orientierungen die moralische Qualität des Handelns ohnehin weitgehend kohärent ist, können schwierige moralische Situationen im Gegenteil oft nur dadurch bewältigt werden, dass bestimmte Überzeugungen aufgegeben werden. Integrität wird darum Personen zugeschrieben, die starke moralische Selbstbindungen haben und sie trotzdem ändern können, ohne dass dabei ihre Handlungen als inkonsistent oder als Ausdruck von Täuschung, Selbsttäuschung, Heuchelei oder akrasia interpretiert werden. Einerseits sind Kohärenz und Konsistenz des Handelns somit Bedingungen von ethischer Souveränität und Integrität: Nur sie gewährleisten Vertrauen, ohne das man keine Zeichen für andere setzen kann. Andererseits werden integren Personen in besonderen Situationen Ausnahmen und überraschende Entscheidungen zugestanden. Moralische Überraschungen zerstören ihre Integrität nicht, weil sie bereits gezeigt haben, dass sie eine Moral haben und sich an sie halten können. Als Tugend der Orientierung hat Integrität folglich eine sowohl eine ethische als auch eine dianoetische Seite, denn sie braucht Mut und kritische Selbstdistanzierung gleichzeitig: „[…] Because integrity essentially involves the responsible exercise of epistemic agency — specifically, the skilful regulation of one’s convictions in the face of uncertainty, disagreement and challenge — integrity is an excellence of persons qua epistemic agents.“ (Scherkoske 2010, S. 356–357) Ob einer Person moralische Integrität plausibel zugeschrieben werden kann, hängt außerdem von ihrer (meist metaphorischen) Opferbereitschaft ab. Auch aktuelle moralphilosophische Betrachtungen des Integritätsbegriffs rekurrieren bei ihrer Analyse häufig auf die Opfermetaphorik: „When we grant integrity to a person, we need not to approve of his or her principles or commitments, but we must at least recognize them as ones a reasonable person might take to be of great importance and ones that a reasonable person might be tempted to sacrifice to some lesser yet still recognizable goods.“ (McFall 1987, S. 11) Noch dramatischer



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ausgedrückt: „that one is willing to die for something does not make it true, but it is the clearest proof we have of such commitments. There are things we could not do without self-betrayal and personal disintegration.“ (McFall 1987, S.  17) Ohne die Sprache des Opfers scheint der Diskurs der Integrität überhaupt nicht artikulierbar, denn das Reden von identitätsstiftenden Selbstbindungen setzt selbst die Möglichkeit des Opfers voraus: „An individual who displays integrity is willing to sacrifice her interests for some other end, such as adhering to an ideal or a principle that she has internalized.“ (Holley 2002, S. 5) Auf Opferbereitschaft wird so hingewiesen, um eine Handlungsoption als Selbstbindung (‚commitment‘) auszuweisen; dennoch kann es immer wieder auch dazu kommen, dass man jene Selbstbindungen selbst opfert: „[...] it is partly constitutive of having a commitment that one is not prepared at all times to set it aside. This is not to say that commitments can never be sacrificed, but rather that if one’s attitude to any of one’s projects is that it could at any time be set aside, then setting it aside when it comes to it will hardly be a sacrifice.“ (Harcourt 1998, S.  90) Somit ist Opferbereitschaft sowohl Bedingung der Annahme von selbstkonstituierenden commitments als auch ihrer Selektion, je nachdem, wie viel man bereit ist, für sie zu opfern. Auch das folgende Zitat kann bestätigen, dass die Hierarchisierung von persönlichen Wünschen, Werten und allgemeinen Vorstellungen von einem guten Leben in der Sprache des Opfers ihren Ort hat: „Some of our principles or commitments are more important to us than others. Those that can be sacrificed without remorse may be called defeasible commitment.“ (McFall 1987, S. 12) Und vor allem setzt jede Rangordnung von Selbstbindungen voraus, dass zwischen Opfern und Selbstopfern unterschieden werden kann: „Self-sacrifice occurs when one gives up the fulfillment of significant self-regarding desires in order to fulfill some other kind of desire. But whether such action is opposed to one’s interest depends on whether self-interest is identified with the fulfillment of selfregarding desires.“ (Holley 2002, S.  17) Selbstopfer seien jene metaphorischen Opfer des eigenen Selbst, die anders als allgemeine Manifestationen von Verzicht die Verwirklichung existenzieller Interessen und Wünsche beeinträchtigen: „acts of self-sacrifice are connected with the ideals that an individual comes to regard as vitally important components of her identity.“ (Holley 2002, S. 18) Damit Integrität in unserer Moralkommunikation als Tugend betrachtet wird, müssen Opferbereitschaft und Reflexion also eine Einheit bilden. Ohne kritische Reflexion ist die Opferbereitschaft moralisch blind; umgekehrt bleibt die ethische Reflexion ohne Opferbereitschaft ein bloßes Gedankenspiel.

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3. Von der Integrität zur ethischen Souveränität Integrität als reflektierter und mutiger Umgang mit den eigenen Selbstbindungen ist aus dem Katalog der Tugenden einer ethischen Orientierung schwer wegzudenken, da ohne sie das Bild des ethisch souveränen Individuums viel von seiner Anziehungskraft verliert. Dennoch sind Integrität und ethische Souveränität nicht dasselbe. Nicht jede Person mit Integrität beweist schon ethische Souveränität. Dem souveränen Individuum, das für andere moralische Zeichen setzen kann, wird in der PO auch eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit dem moralischen Ernst zugeschrieben (vgl. S. 625). Doch die ethische Souveränität, obwohl sie Integrität als Opferbereitschaft und Selbstreflexion voraussetzt, manifestiert sich erst, wenn Opferbereitschaft und Reflexion nicht thematisiert werden. Nur wenn Opferbereitschaft und Selbstreflexion in den Hintergrund rücken, können Individuen in ihrer ethischen Orientierung souverän genug erscheinen, um Zeichen für andere zu setzen und deren moralische Orientierungen in Bewegung zu bringen. Das setzt voraus, dass man gegebenenfalls auf die Semantik des reflektierten Opfers zu verzichten weiß. Ethische Souveränität zu beweisen in den Augen von Menschen, die sich moralisch orientieren, ist also nicht allein auf der Basis von Integrität möglich. Wirksame Beispiele für ethische Souveränität kommen vor allem durch narrative Strategien zur Geltung, etwa, wie in der PO bemerkt wird, durch literarische oder filmische Inszenierungen. In Nietzsches Also sprach Zarathustra findet sich ein solches literarisches Beispiel einer ethisch souveränen Orientierung, und hier wird interessanterweise die Opferbereitschaft gerade umgewertet. Der vierte Teil des Werks handelt bekanntlich von höheren Menschen, die exemplarische Opfer erbracht haben. In Das Honig-Opfer (KSA 4.295 f.), dem ersten Abschnitt in diesem vierten Teil, wird dramatisch inszeniert, wie Zarathustra sich der Unbrauchbarkeit von traditionellen, durch die Opfersemantik artikulierten Selbstdarstellungen bewusst wird, als er sich und seinen Gesprächspartnern unter zwei moralischen Alternativen Orientierung geben will. Schauen wir uns dieses Beispiel im Detail an. Zarathustras Tiere beobachten ihn, wie er auf das Meer schaut, und fragen, ob er „nach seinem Glücke schaut“. Zunächst widerspricht er entschieden: „Was liegt am Glücke! antwortete er, ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke“. Er schließt für sich die Suche nach Glück aus. Die Tiere hören darin jedoch den Ton eines traditionellen, vermoralisierten Gebrauchs des Opferdiskurses, durch den eine Rangordnung zwischen individuellen Präferenzen – das eigene Werk ist wichtiger als etwa das Erlangen von Lust oder Glück – hergestellt wird. Vom Standpunkt der ethischen Orientierung aus ist die Irritation Zarathustras zunächst so zu erklären: Ihm wird ein Moralkodex, genauer: eine Art Hedonismus oder Eudä-



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monismus zugeschrieben, den er öffentlich nicht vertritt. Seine Selbstbindungen sollen ein Ethos der heroischen Selbstopferung im Namen eigener identitätsstiftender, lebensrelevanter Aufgaben bilden. Er strebt, anders gesagt, zwar nach persönlicher Integrität, erscheint aber den Tieren, seinen Gesprächspartnern, im Laufe des Dialogs immer unglaubwürdiger, unsouveräner, wenn man so sagen darf. Sie deuten an, dass er sein Heldenethos nach eudämonistischen Kriterien lebt. Denn es könnte gerade sein Opfer sein, das Zarathustra glücklich macht, da er von seinem eigenen Werk als jemand spricht, der „in einem himmelblauen See von Glück“ liegt. Zarathustra, lächelnd, bestätigt das Glück, versucht aber die Opferrolle weiterzuspielen und behauptet, dass er von seinem Glück gedrängt wird. Die Tiere bestehen jedoch auf ihrer Provokation und erwidern, dass er auf diese Weise immer dunkler, trübseliger wird. Die Inszenierung seiner Opferbereitschaft gibt ihnen, anders gesagt, keine ethische Orientierung, sie kann für sie keine Zeichen setzen. Erst danach gewinnt die moralische Orientierung Zarathustras ethische Souveränität, und zwar dadurch, dass er seinen eigenen Gebrauch der Opfermetaphorik reflektiert und ironisch betrachtet. Er spricht nämlich von einer quasi-archaischen Opferung, einem bloßen Honig-Opfer und erklärt damit, dass es dabei um kein wirkliches Opfer geht. Indem er die Instrumentalität seines Opfers ankündigt, negiert er de facto das Opfer, denn ein Opfer darf keinen Nutzen haben. Er will „das Honig-Opfer bringen“, nämlich seine neu gesammelte Weisheit verschenken und verschwenden. „Dass [er] von Opfern sprach“, stellt er für sich als „eine List“ seiner „Rede“, als eine „nützliche Thorheit“ dar. Das Opfer des Glücks soll als „Köder“ fungieren, „wie er Jägern und Fischfängern noththut“ – es findet nicht statt, sondern wird nur inszeniert, um erkennbar zu machen, „ob nicht an meinem Glücke viele Menschen-Fische zerrn und zappeln lernen.“ (KSA 4.297) Die Sprache des Opfers kann also in gewissen Situationen nützlich sein. In der Dimension der moralischen Orientierung kann man überzeugend auf die Orientierung anderer Menschen wirken, wenn man von Opfern redet, und moralische Autoritäten können so glaubwürdig Opfer auch von anderen Menschen verlangen. In der Terminologie der PO gesagt: Mit Hilfe der Sprache des Opfers kann man Achtung ,kapitalisieren‘. Damit die Orientierung aber die ethische Qualität einer Moral im Umgang mit anderen Moralen gewinnt, sie in Bewegung bringen kann, bedarf es anderer Narrationen. Zarathustra will, dass sein Opfer nun als reine Verausgabung interpretiert wird: „Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Händen: wie dürfte ich Das noch – Opfern heissen!“ (KSA 4.296)6 Schon am Ende des ersten Buches hatte Nietzsche

6 In GD merkt Nietzsche an, dass auch in nicht-philosophischen Kontexten Aufopferung nicht

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Zarathustra von einer „schenkenden Tugend“ sprechen lassen, einem „Durst, selbst zu Opfern und Geschenken zu werden“ (Za I, KSA 4.98). Vom Modell des moralischen Lebens als bewusste und reflektierte Aufopferung von persönlichen Interessen im Namen einer strukturierten, integren Persönlichkeit kommt man so zu einer Art von Moralität, die sich als reine Verausgabung versteht. Der Sinn des Beispiels für unser Thema lässt sich so zusammenfassen: Die ethische Qualität besteht in der hier geschilderten Episode darin, dass der moralische Konflikt zwischen dem Streben nach Glück und dem Streben nach Integrität als Treue zum eigenen Werk, d.h. zu den eigenen commitments und Selbstbindungen, zusammen mit der moralischen Sprache des Opfers aufgehoben wird. Zarathustra muss zunächst eine Sprache verwenden, die andere Menschen in ihrer moralischen Orientierung anspricht, die Sprache einer durch Opfer verbürgten Integrität. Zarathustra gibt von sich selbst das Bild eines Menschen, der im Namen seines Werkes auf sein Glück verzichtet, und will damit als eine quasimoralische Autorität wirken, d.h. Achtung erwerben und kapitalisieren. Damit scheitert er – jedenfalls bei seinen Tieren, seinen Zuhörern. Die Semantik des Opfers wird gerade dann verdächtig, wenn die eigene moralische Orientierung in der Kommunikation mit anderen zum Thema wird, und zwar vor allem, weil jedes selbstinszenierte menschliche Opfer ein Residuum von Instrumentalität verrät. Sobald man die eigenen Opfer als Opfer vorzuführen versucht, zeigt man ein persönliches Interesse, andere zu überzeugen. Ethische Souveränität gewinnt man nur dann, wenn man zu den eigenen Opfern, zur eigenen Integrität und zur Tugend der moralischen Orientierung überhaupt in ironische Distanz geht, so wie Zarathustra in seiner Rede von einem Opfer, das kein Opfer, sondern einfach verschwenderische Verausgabung ist. Diese ironische Distanzierung von der eigenen Selbstzuschreibung ist aber nur der negative Teil einer ethischen Orientierung, und das scheint auch der einzige Beitrag zu sein, den die Moralkommunikation dazu leisten kann. Nach der Grundperspektive der PO sind Moral und Ethik wohl lebendige Formen der Kommunikation, wirken auf andere aber nur, wenn Schweigen noch möglich ist. Im Lauf des Spiels von moralischen Selbstund Fremdzuschreibungen bleibt für das „Zeichen Setzen für andere“ (S. 625 ff.) das konkrete Beispiel des souveränen Individuums entscheidend, das mit seinen

sinnvoll ist. Auch hier muss es um ein Sich-Verausgaben, Sich-Verschenken gehen. „Man nennt das ‚Aufopferung‘; man rühmt seinen ‚Heroismus‘ darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine große Sache, ein Vaterland: Alles Missverständnisse ... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht – mit Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist.“ (GD, Streifzüge 44)



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Handlungen und nicht mit seinen Reden andere moralische Orientierungen in Bewegung bringen kann. Beide Momente – die sprachliche Artikulation von moralischen Überzeugungen, Grundprinzipien und praktischen Implikationen einerseits und die schweigende Geste des souveränen Individuums anderseits – bleiben allerdings untrennbar. Während moralische Rede und moralische Reflexion ohne ein konsequentes Handeln leicht den Eindruck von Moralismus oder sogar Scheinheiligkeit hinterlassen kann, büßt das Beispiel des souveränen Individuums seine ethische Bedeutsamkeit ein, wenn die moralischen Größen, die in einer konkreten Situation im Spiel sind, nicht adäquat thematisiert werden.

Literaturverzeichnis Calhoun, Cheshire (1995): „Standing for Something“. In: Journal of Philosophy, XCII, S. 235–260. Cox, Damian et. al. (2013): „Integrity“. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. http://plato.stanford.edu/entries/integrity/. Diamond, Cora (2001): „Integrity“. In: Lawrence Becker/Charlotte Becker (Hrsg.): The Encyclopedia of Ethics. Bd. 2. 2. Auflage. New York, S. 863–866. Harcourt, Edward (1998): „Integrity, Practical Deliberation and Utilitarianism“. In: The Philosophical Quarterly, 48.191, S. 189–198. Holley, David M. (2002): „Self-Interest and Integrity“. In: International Philosophical Quarterly, 42.1, S. 5–22. Lynch, Michael (2004): True to Life. Why Truth Matters. Cambridge. McFall, Lynne (1987): „Integrity“. In: Ethics, 98, S. 5–20. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Pollmann, Arnd (2005): Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie. Bielefeld. Scheffler, Samuel (1982): The Rejection of Consequentialism. New York. Scherkoske, Greg (2013): Integrity and the Virtues of Reason. Leading a convincing Life. Cambridge. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Williams, Bernard (1973): „A Critique of Utilitarianism“. In: J.J.C. Smart/Bernard Williams: Utilitarianism: For and Against, Cambridge, S. 77–150. Williams, Bernard (1981a): „Utilitarianism and Moral Self-Indulgence“. In: Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge, S. 40–53. Williams, Bernard (1981b): „Practical Necessity“. In: Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge, S. 124–31. Williams, Bernard (1985): Ethics and the Limits of Philosophy. Cambridge.

Andreas Rupschus

Wie orientiert Geschichte? Die Geschichte besitzt Autorität. Man vertraut und baut auf sie. Die Gestalt dieser Autorität hat sich in den zweitausend Jahren, seit Cicero die historia zur magistra vitae erklärte, durchaus verändert oder besser: ausdifferenziert, doch die Autorität ist geblieben. Wer erkannt hat, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke 1824, S.  VI) – und dieser Anspruch ist, bei allen berechtigten konstruktivistischen geschichtstheoretischen Einwänden (vgl. dazu etwa Febvre 1998; White 2008, bes. S. 15–62), bis heute zumindest als regulative Idee letztlich der jeder Geschichtsschreibung und auch der jedes Menschen, sofern er auf sein Geschichtsbild zumindest teilweise vertrauen will und vertrauen muss –, der glaubt sichere, weil als vergangene unveränderliche Anhaltspunkte in Händen zu halten, an die die Orientierung in Krisen- und Entscheidungssituationen anschließen kann. Dabei lassen sich zwei Funktionen von Geschichte unterscheiden: die der (politischen) Prognostik und die der Selbststabilisierung der moralischen Orientierung. Ihre spezifischen Orientierungsleistungen, ihre Differenzen und ihr Zusammenhang sollen im Folgenden in Grundzügen entwickelt werden. Der Schwerpunkt wird dabei auf der zweiten genannten Funktion liegen, da sie philosophisch und geschichtstheoretisch bislang nur wenig reflektiert worden ist, obgleich sie für den Einzelnen und seine alltägliche Orientierung wohl eine höhere Relevanz besitzt als die prognostische Funktion von Geschichte.

1. Die Geschichte als Instanz politischer Prognostik Die traditionsreichste Antwort auf die Frage, wie Geschichte orientiert, hat Cicero in die Worte gefasst: „Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?“ (De orat. II, 9, 36) So universal seine Bestimmung klingt, so deutlich grenzt Cicero die Relevanz der Geschichte als „magistra vitae“ doch ein, indem er den orator zu ihrem Sachwalter macht. Der Redner aber ist für Cicero der politische Redner, der über zu treffende politische Entscheidungen reflektiert. „Magistra vitae“ ist die historia demnach in Ciceros Augen gerade nicht so sehr für den Einzelnen in seiner individuellen Orientierung, sondern hauptsächlich für das politische Handeln. Als „nuntia vetustatis“, Botin des Altertums, ist die Geschichte Instrument der Prognostik. Sie kann dies sein, weil sie „voller Bei-

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spiele“ ist („Plena exemplorum est historia […].“, De Divinatione I, 24, 50), die sich (bis zu einem gewissen Grad) verallgemeinern, dekontextualisieren und auf vergleichbare Konstellationen in der Gegenwart übertragen lassen. Hinter dem, was Cicero schlicht „exempla“ nennt, verbirgt sich also der Befund, dass sich in der Geschichte, mit einem Begriff Reinhart Kosellecks, „Wiederholungsstrukturen“ oder „Rekurrenzen“ feststellen lassen, „formale Strukturen, die sich wiederholen, auch wenn ihr konkreter Inhalt jeweils einmalig und für die Betroffenen überraschend bleibt“ (Koselleck 2003b, S.  208). Diese formalen Strukturen können, auf Kriterien gebracht, dann analogisch auf die jeweilige Gegenwart angewendet werden (vgl. dazu im Einzelnen Koselleck 2003a, S. 21–24; Koselleck 2003b, S. 208 ff.).1 Dass Cicero historische Prognostik spezifisch politisch denkt, mag auf den ersten Blick irritieren, ist aber wohl bis heute eine zutreffende Charakterisierung. Denn es ist offensichtlich, dass diese Funktion der Geschichte keine sein kann, die der individuellen Orientierung im gleichen Maße förderlich ist wie der Gesellschaft im Ganzen, repräsentiert in der Politik durch die politischen Entscheidungsträger. Wohl können die Bürger am Diskurs über Prognosen und Planungen teilnehmen, aber die Entscheidungen treffen, gewiss unter dem Eindruck und Einfluss des öffentlichen Diskurses, zumindest in repräsentativen Demokratien und dort zumindest in den meisten Fällen auch heute noch letztlich meist politische Entscheidungsträger. Ciceros Vorstellung von der Erschließung und Planung der Zukunft durch Konsultation von Beispielen aus der Geschichte beruht auf einem Geschichtsverständnis, das von der Gleichförmigkeit und Unveränderlichkeit historischer Strukturen und mithin von ihrer elementaren Wiederholbarkeit ausgeht. Nur unter dieser Voraussetzung konnten die Beispiele der Geschichte „der Ewigkeit

1 Natürlich weist nicht nur die Geschichte im Großen, sondern auch das Leben des Einzelnen Wiederholungsstrukturen auf: Koselleck 2003a zieht als Beispiel den Postboten heran, der „jeden Morgen zur selben Zeit“ kommt (S.  21). Orientierungsphilosophisch lassen sich diese alltäglichen Wiederholungsstrukturen, anders als historische Wiederholungsstrukturen, mit dem Begriff der Routine beschreiben, der „Vertrautheit, die sich einstellt, wenn ‚alles läuft wie üblich‘“ (Stegmaier 2008, S. 304). Alltägliche Wiederholungsstrukturen wiederholen sich also nicht nur formal, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ihrem konkreten Inhalt nach, sind also keine „Wiederkehr des analogisch Gleichen oder Ähnlichen“ (Koselleck 2003b, S. 209; Hervorhebung A.R.), sondern tatsächlich die Wiederkehr des Ähnlichen, in unserem Beispiel: die Wiederkehr des Postboten (der freilich jeden Tag andere Briefe bringt). Alltägliche Wiederholungsstrukturen unterlaufen insofern unseren Begriff der (Lebens-)Geschichte – es sei denn, sie werden durch neue Strukturen abgelöst und so historisiert. Sie bleiben hier daher zunächst außen vor, wenngleich die Lebensgeschichte des Einzelnen mit ihren individuellen Prägungen später noch eine Rolle spielen wird (s. Punkt 2.4).



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anvertraut werden“ („immortalitati commendatur“), d.h. dauerhafte Gültigkeit beanspruchen (De orat. II, 9, 36). Diese Überzeugung hält sich bis ins 18. Jahrhundert. Dies war möglich, weil ihr „eine[ ] tatsächliche[ ] Konstanz jener Vorgegebenheiten“ entsprach, „die eine potentielle Ähnlichkeit irdischer Ereignisse zuließen“ (Koselleck 2013, S.  40). Veränderung gesellschaftlicher, politischer, religiöser Strukturen vollzog sich so langsam, dass sie gar nicht oder kaum als Veränderung wahrgenommen wurde. So behielten auch Beispiele aus vergangenen Zeiten ihre Anwendbarkeit auf Probleme der jeweiligen Gegenwart. Spätestens im Zuge der frühneuzeitlichen Erfahrungen fundamentalen historischen Wandels und historischer Diskontinuität, kurz von Beschleunigung wurde die Autorität der Geschichte als Lehrmeisterin unveränderlicher Lebenswahrheiten jedoch nachhaltig erschüttert: Früher gültige Exempla schienen nun keine brauchbaren Prognosen mehr liefern zu können, da fundamentale Umbrüche die Orientierungsbedingungen der Gegenwart verschoben und Analogieschlüsse von der Vergangenheit auf die Gegenwart und mithin auf die Planung der Zukunft unmöglich zu machen schienen.2 Alexis de Tocqueville brachte diese Erfahrung 1840 im zweiten Band von De la Démocratie en Amerique auf den Punkt, als er schrieb: „Seit die Vergangenheit aufgehört hat, ihr Licht auf die Zukunft zu werfen, irrt der menschliche Geist in der Finsternis.“ (zit. Koselleck 2013, S. 47, vgl. zum Phänomen der Beschleunigung auch Koselleck 2003c und Rosa 2005, bes. S. 444 ff.). Ihre Zuverlässigkeit konnte die Prognosefähigkeit der Geschichte nur dann bewahren bzw. wiedergewinnen, wenn die (wenigstens in diesem Ausmaß) neue Erfahrung der mit dem Abstand zur jeweiligen Gegenwart exponentiell wachsenden Inkommensurabilität geschichtlicher und gegenwärtiger Strukturen und Situationen geschichtstheoretisch mit bedacht wurde. An ihrer heuristischen Funktion und mithin an der Erkenntnismöglichkeit von Strukturen in der Geschichte und der Möglichkeit, ihr Prognosen zu entnehmen, änderte dies insofern etwas, als die geschichtstheoretische Reflexion zu einem Bewusstsein der Beschränktheit der Orientierungsfunktion der Geschichte führt, sofern jede neue Gegenwart den durch Analyse der Geschichte auf Kriterien gebrachten Strukturen eine neue, sie entscheidend ins Unberechenbare verschiebende Wendung geben kann.3 Das aber heißt: Das Bewusstsein, dass es immer auch (völlig) anders kommen kann

2 Die Ablösung des alten Begriffs der „Historie als exemplarischem Bericht“ durch den der „Geschichte als einmalige[r] Begebenheit oder als universale[m] Ereigniszusammenhang“ scheint mit dieser Erfahrung in Zusammenhang zu stehen (Koselleck 2013, S. 47 ff., zit. S. 48). 3 Ein Programm der Selbstbescheidung der alten politischen Lehrmeisterin Geschichte formuliert exemplarisch Mommsen 1861, S. 461.

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als prognostiziert, muss selbst Teil jeder funktionalen politischen Prognostik qua Geschichte sein.4 Das in der heutigen Öffentlichkeit mitunter zu beobachtende Misstrauen gegen Versuche, aktuelle politische Krisen durch Zuhilfenahme historischer Analogien zu begreifen,5 also den Maßstab historischer Rekurrenz anzulegen, um Handlungsoptionen für gegenwärtiges politisches Handeln zu generieren, lässt sich vor diesem Hintergrund als lebendiger Ausdruck dieses Bewusstseins der Brüchigkeit historischer Prognostik interpretieren.

2. Die Geschichte als Instanz der Selbststabilisierung der moralischen Orientierung 2.1. Die abstrakte Autorität der Geschichte als Lehrerin der Moral Es ist eine weithin anerkannte Auffassung, dass der demokratische Staat auf Voraussetzungen beruht, die er selbst nicht bereitstellen kann und die die Bürger in ihn einbringen müssen (Böckenförde 1967, S. 93): Sie müssen demokratische Werte vertreten, um die Demokratie funktional zu halten. Der Staat kann diese Voraussetzungen nur indirekt bereitstellen, indem er sie bei den nachwachsenden Generationen anlegt. Das ist die Aufgabe der politischen Bildung, die in der Praxis zu ganz wesentlichen Teilen aus historischer Bildung besteht, zumal im Schulunterricht. Die Geschichte fungiert hier aber nicht als Lehrerin politischer Handlungsklugheit, sondern als Lehrerin der Moral: Für eine freiheitlich-demokratische, tolerante Gesinnung sprechen plausible geschichtliche Gründe in Gestalt von Wiederholungsstrukturen (wie etwa die Gewalt gegen religiöse und

4 Es ist insofern nur folgerichtig, dass sich im Zuge der Beschleunigung der Welt und der Entscheidungsprozesse, die zur sinkenden Halbwertszeit historischer Wiederholungsstrukturen geführt hat, die moderne Demokratie herausgebildet hat. Als ihr Spezifikum ist nach Niklas Luhmann gerade nicht zu begreifen, dass sie „Herrschaft des Volkes“ im alten, antiken Sinn ist, sondern dass in ihr durch den fortwährenden Wechsel von Regierung und Opposition durch Wahl politische Entscheidungsprozesse als reversibel begriffen werden. Vgl. dazu Luhmann 1971, bes. S. 39 f. 5 Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Diskussion darüber, ob es sich bei den Spannungen mit Russland im Zusammenhang mit der Krim-Krise und dem Krieg in der Ukraine seit 2014 um einen neuen Kalten Krieg handele.



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ethnische Minderheiten), aber auch von einmaligen Ereignissen, deren Wiederholung gerade verhindert werden soll. Jedoch können moralische Lehren nicht nur ex negativo aus der Geschichte gezogen werden, sondern auch mittels positiver Beispiele und Vorbilder. In beiden Fällen trägt die Geschichte zur Selbststabilisierung der moralischen Orientierung bei, indem sie unter Rekurs auf die Vergangenheit (sei es in Abgrenzung oder in Anknüpfung) moralische Routinen und moralische Identitäten (dazu Stegmaier 2008, S.  553–558) legitimiert (und mitunter auch generiert, vgl. Punkt 2.3). Diese Orientierungsfunktion kann Geschichte nur erfüllen, weil wir ihr in der Frage, wie gelebt werden solle (und wie nicht), eine große Autorität zuschreiben. Diese Autorität scheint im selben Grad gewachsen zu sein, in dem sich die Veränderung der Welt und des Lebens in der oben beschrieben Weise beschleunigte und damit zugleich immer mehr die Überzeugung durchsetzte, dass, wie Nietzsche sich ausdrückte, wir „historisch durch und durch“, also immer schon in Geschichte verstrickt sind (Nachlass 1885, 34[73], KSA 11.442).6 So wuchs auch das Interesse an der Geschichte als einer immanenten Wahrheit über sich selbst und die Welt, in der man lebt.7 Signifikant an dieser neuen Autorität der Geschichte ist dabei folgendes: Weil die neue Autorität von Geschichte auf dem abstrakten Postulat der wesentlichen Historizität des Menschen beruht, kann sie sich, anders als die alte Prognoseautorität, empirisch nicht konkret beweisen – aber sie muss es auch nicht. Denn eine unter Berufung auf die Geschichte stabilisierte moralische Routine kann offensichtlich nicht auf dieselbe Weise scheitern wie eine auf der Analyse historischer Wiederholungsstrukturen basierende politische Prognose. Geht die Prognose fehl, schadet dies, sofern nicht der Prognostiker verantwortlich gemacht wird, der Autorität der Prognosefähigkeit der Geschichte, wie es in der Neuzeit tatsächlich passierte. Gerät aber die moralische Routine in Bedrängnis, schadet dies der Autorität der Geschichte bzw. des mit ihr subjektiv gleichgesetzten Geschichtsbildes des Einzelnen nicht. Vielmehr stabilisiert das Geschichtsbild die durch externe Umstände infrage gestellte moralische Routine. Der Wahrheitsanspruch der Geschichte siegt über den der konkreten Situation. Dieses Phänomen soll nachfolgend näher untersucht werden.

6 Wichtige Zeichen für die Entwicklung dieses Bewusstseins waren etwa das Aufkommen des Historismus und der Evolutionstheorie. 7 Koselleck 2013, S.  52, spricht von einem „erhöhten Wahrheitsanspruch der wirklichen Geschichte“. Er war „der Historie“ bislang „seit Aristoteles – bis zu Lessing – immer wieder vorenthalten worden“.

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2.2. Die Instrumentalisierung der Geschichte als Mittel der Orientierung Der Grad der Bedeutung der Geschichte für die Stabilisierung von moralischen Überzeugungen weicht zwar von Individuum zu Individuum ab, da auch stets andere Stabilisierungsparameter wie Religion und soziales Umfeld eine Rolle spielen und mit der Geschichte in Wechselwirkung treten. Dennoch kommt der Geschichte insgesamt eine wesentliche Bedeutung in der Ausbildung und Stabilisierung der moralischen Orientierung des Einzelnen zu. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass sie diese Funktion keineswegs immer in der aus der Sicht der demokratischen Gesellschaft erwünschten Weise der Beförderung freiheitlich-demokratischer Gesinnung erfüllt, die zu Beginn des Abschnitts 2.1 angedeutet wurde: Auch solche moralischen Gesinnungen, die von der freiheitlich-demokratischen Perspektive aus offensichtlich abzulehnen sind, werden von ihren Anhängern mithilfe der Geschichte legitimiert. Dass eine solche moralische Vereinnahmung der Geschichte überhaupt möglich ist, erklärt sich zum einen daraus, dass moralische Routinen und Identitäten eben nicht aus einer geschichtstheoretisch unhaltbaren ‚Geschichte an sich‘, sondern nur aus dem je individuellen Verständnis der Geschichte gewonnen werden können: Es kann nicht nur in der Sache, d.h. der Frage historischer Fakten Dissens bestehen – auch bei Einigkeit in der Sache ist Dissens über deren Bedeutung für uns möglich (der häufigere Fall). Zum anderen kann die Geschichte nur dann stabilisierend auf die moralische Orientierung des Einzelnen wirken, wenn der Einzelne sein individuelles Geschichtsverständnis zumindest bis zu einem gewissen Grad oder in gewissen Teilen für akkurat genug hält, um darauf zu vertrauen. Dieses Fürwahrhalten erfolgt aber nicht unter den Bedingungen der wissenschaftlichen, sondern unter denen der alltäglichen Orientierung und allen mit ihr verbundenen Nöten und Herausforderungen. Die Geschichte ist also nicht, wie in der Wissenschaft, der Zweck, sie ist das Mittel der Orientierung. Das aber bringt notwendig die Instrumentalisierung und Verkürzung der Geschichte mit sich.8 Anders gesagt: Ich muss zwar mein Geschichtsverständnis für richtig halten, damit es sich stabilisierend auf meine moralische Orientierung auswirken kann – aber es muss nicht richtig sein. Dies erklärt auch die Langlebigkeit geschichtswissenschaftlich erwiesenermaßen falscher Positionen wie der Leugnung der Shoa. Hier bleibt von der

8 Dabei ist klar, dass auch die wissenschaftliche Orientierung zwar als zweckfrei gedacht wird, letztlich aber von den individuellen Nöten der Wissenschaftlicher nicht getrennt werden kann. Das schließt diesen Aufsatz und seinen Autor ausdrücklich ein.



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Geschichte nichts übrig als die ihr zugeschriebene abstrakte Autorität. Die unter dieser inhaltsleeren Hülle dann als historisch behaupteten Gehalte bedürfen keines Beweises mehr als dieser Autorität selbst, von der aus alle Gegenevidenzen zurückgewiesen oder sogar umgedeutet und in die eigene Geschichtssicht inkorporiert werden, diese so noch stärkend, statt sie zu schwächen. Ein erstaunliches Beispiel für diesen Vorgang ist die Rechtsextreme Ursula Haverbeck, die in einem Vortrag, den sie 2015 vor NPD-Mitgliedern gehalten hat, gegen jede Evidenz behauptet, es habe keine Judenvernichtung gegeben, und dies sogar mit Quellen, die de facto das Gegenteil besagen, beweisen zu können überzeugt ist (dazu Hebel 2015 und Frei/Bongen 2015). Tatsächliche Inkohärenz schließt, auch dies wird hieraus deutlich, die subjektive Überzeugung von Kohärenz nicht aus. Die Leugnung der Shoa ist gewiss ein Extremfall, doch Instrumentalisierung und Verkürzung der Geschichte ist ein manifester Teil dieser Orientierungsfunktion von Geschichte und findet sich auch andernorts. Zwei prominente Beispiele sind: 1) die Ablehnung der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland unter Berufung auf eine rhetorisch als bruchlos, harmonisch und einheitlich präsentierte jüdisch-christliche Tradition und 2) die unkritische Verklärung der DDR durch Überzeichnung wirklicher oder vermeintlicher positiver Aspekte dieses Staats bei gleichzeitigem Herunterspielen oder Ignorieren des diktatorischen politischgesellschaftlichen Ganzen.9 In beiden Fällen haben wir es mit geschichtswissenschaftlich hochgradig problematischen Vereinfachungen und Glättungen zu tun, die aber dem jeweiligen Individuum oder der Gruppe, der es angehört, dabei helfen, (wirklich oder vermeintlich) zusammenbrechende moralische Routinen zu stabilisieren und gegen sich allmählich einspielende neue moralische Routinen zu verteidigen: Die als bedroht wahrgenommene gesellschaftliche Orientierungswelt wird durch Bestimmung der Gruppen, Religionen und Gebräuche, die ‚traditionell‘ ‚dazugehören‘, fixiert; der – für sich nicht zweifelhafte, aber in der Eigenwahrnehmung mancher Betroffener von der gesellschaftlichen Mehrheit angezweifelte – Wert der Lebensleistung der ehemaligen DDR-Bürger wird über die Rehabilitierung des Systems im Ganzen reetabliert.

9 Dass man von einer jüdisch-christlichen Tradition elementarer Gemeinsamkeiten und fruchtbaren Kulturaustauschs mit Recht sprechen kann und sollte, ist klar. Dies darf aber nicht, wie im geschilderten Fall, zu unzutreffenden Harmonisierungen führen, die verdecken, dass eine der ältesten Traditionen der jüdisch-christlichen Beziehungen der Antijudaismus oder Antisemitismus ist (die trennscharfe Unterscheidung beider Begriffe ist notorisch umstritten, dazu Kaufmann 2013, S.  132, Anm. 176, mit weiterführender Literatur). Von Beginn an war er fundamentaler Bestandteil der abendländisch-christlichen Tradition. Vgl. dazu jetzt Nirenberg 2015. – Zum psychologischen Hintergrund der DDR-Verklärung vgl. Wolle 2009, S. 15–17.

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Die bisherigen Beispiele repräsentieren bei aller deutlich zu betonenden Unterschiedlichkeit allesamt Positionen, die ihre eigene Moral durch Geschichtsbezug zu plausibilisieren und stabilisieren versuchen – auch wenn dies jeweils mit anderen, insbesondere im ersten Fall sehr gefährlichen Konsequenzen für den Rest der Gesellschaft verbunden ist. Umgekehrt kann die Geschichte aber auch zum Instrument werden, um andere Moralen zu kritisieren, etwa im Zusammenhang mit der Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung gegen ihre Verächter. Auch dabei wird die Verzerrung, Verfälschung und Zweckentfremdung historischer Termini und Sachverhalte mitunter in Kauf genommen. So werden heutige Verbrechen moralisch verurteilt unter Rekurs auf verbreitete Klischeebilder moralisch vermeintlich ‚primitiver‘ historischer Gesellschaften, wenn man beispielsweise vom ‚finsteren‘ Mittelalter redet oder die Terrormiliz IS mit der Steinzeit assoziiert („Steinzeitislamisten“).10

2.3. Zwei Strategien der Selbststabilisierung der moralischen Orientierung durch Geschichte: Selbstimmunisierung und Selbstreflexion Es ist bereits gesagt worden, dass die Selbststabilisierung der moralischen Orientierung durch Geschichte immer auch ihre Instrumentalisierung bedeutet, sofern sie dabei als Kapital der Orientierung und eben nicht als Erkenntnisgegenstand behandelt wird. Klar ist aber, dass es individuelle Unterschiede im Ausmaß und im Bewusstsein dieser Instrumentalisierung der Geschichte als Anhaltspunkt alltäglicher individueller Orientierung gibt. Es lassen sich dabei zwei Selbststabilisierungsstrategien der moralischen Orientierung unterscheiden, die meist graduell ineinander übergehend auftreten: Immer dann, wenn das notwendig individuelle Verständnis der Geschichte vom Einzelnen überhaupt nicht mehr bewusst als solches begriffen, sondern als objektiv wahres verabsolutiert wird, wird die Selbststabilisierung der moralischen Orientierung dogmatisch. Es lässt sich dann von einer Selbstimmunisierung der moralischen Orientierung qua Geschichte sprechen. Dieser Begriff scheint angemessen, um zu beschreiben, dass ein dogmatisches Geschichtsbild die moralische Orientierung durchaus

10  Unter vielen anderen bedient sich dieses Begriffs beispielsweise Volkert 2014. Der Begriff „Steinzeitislamisten“ dient ohne Frage der Klarheit des moralischen Urteils, nicht aber der Analyse der Hintergründe und Ursachen des religiösen Terrorismus. Sie haben mit der Steinzeit nichts, aber viel mit den gesellschaftlichen, sozialen und politischen Problemen der heutigen Weltgesellschaft zu tun.



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auch in einem sozialen Kontext funktional stabilisieren kann, in dem sie angefochten und mit Haltungen konfrontiert wird, die sie ausschließen: Ein neonazistisches Geschichtsbild kann dem, der es vertritt, gerade dann Halt geben, wenn er sich im Kreise derer bewegt, die dieses Geschichtsbild und die damit verbundene Moral ablehnen. Der Gegenentwurf auf der anderen Seite des Spektrums der Selbststabilisierungsstrategien der moralischen Orientierung qua Geschichte lässt sich auf den Begriff einer Selbstreflexion der moralischen Orientierung bringen. Dies wäre ein orientierender Umgang mit Geschichte, der sich der eigenen Subjektivität stets bewusst bleibt und sich angesichts dessen fortwährend hinterfragt. Diese moralische Orientierung zieht ihre Stabilität dann nicht aus einem dogmatischen Beharren, sondern aus einer fortwährenden ethischen Reflexion der historischen Legitimationsgehalte der eigenen Moral – eine moralische Orientierung qua Geschichte im Umgang mit moralischer Orientierung qua Geschichte (zur ethischen Orientierung als Reflexion der eigenen moralischen Orientierung an anderer moralischer Orientierung vgl. Stegmaier 2008, S.  597–604). Diese Reflexion ist nicht mit einer potentiellen Beliebigkeit zu verwechseln, die die moralischen Überzeugungen von Situation zu Situation opportunistisch durch situationspragmatische Neudeutung ihrer historischen Legitimationsgrundlage fortwährend anpasst, sondern führt im Gegenteil zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Problematik der unvermeidlichen Instrumentalisierung der Geschichte als Mittel der moralischen Orientierung. Obwohl das reflektierte Geschichtsbild aller Wahrscheinlichkeit nach das wissenschaftlich, d.h. objektiv gesehen angemessenere, kohärentere ist, folgt daraus noch nicht, dass es die moralische Orientierung des Einzelnen effektiver oder zuverlässiger stabilisiert als das dogmatische Geschichtsbild. Im Gegenteil deutet vieles darauf hin, dass der einzelne Mensch unter Umständen und mindestens kurz- und mittelfristig gut damit leben kann, es mit der historischen Wahrheit nicht oder jedenfalls nicht immer so genau zu nehmen. Dies muss keineswegs in jedem Fall für andere, die das jeweilige Geschichtsbild nicht teilen, gefährlich sein und ist bis zu einem gewissen Grad sogar eine unvermeidliche Folge davon, dass wir selbst als historische Wesen immer schon in Geschichte verstrickt sind. Aber in gewissen Fällen kann es eben doch zur Gefahr für andere oder sogar die Gesellschaft im Ganzen werden. Dieser Befund einer (mindestens kurz- und mittel-, gegebenenfalls auch langfristigen) Funktionalitätsäquivalenz für die individuelle Orientierung bei gleichzeitiger fundamentaler Funktionalitätsdifferenz für die Orientierung der Gesellschaft ist ohne Zweifel beunruhigend, zumal angesichts der ideologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Aber gerade sie bestätigen ihn. Dennoch ist es wenig zielführend, die Selbstimmunisierung der moralischen Orientierung durch Dogmatisierung des Geschichtsbil-

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des ihrerseits moralisch zu verurteilen, umso weniger, als sie nicht einfach verboten und dafür die Selbstreflexion des individuellen Geschichtsbilds verbindlich verordnet werden kann. Vielmehr scheint es angezeigt, zu fragen, wovon es abhängt, was wir (der Einzelne) historisch für wahr halten.

2.4. Die Bedingtheit des individuellen Geschichtsbildes Was als Lehre aus der Geschichte angesehen wird, das gilt gerade durch seine angenommene historische Wahrheit als Autorität, auf die man sich berufen kann. Gleichzeitig sind wir in sehr unterschiedlicher Weise geneigt, historische Gehalte, Erzählungen, Berichte, Geschichten in historisierendem Gewand auf ihre tatsächliche historische Faktizität zu hinterfragen oder aber sie einfach als wahr hinzunehmen, ohne sie kritisch zu prüfen. Abhängig ist dies 1) vom Grad an Verlässlichkeit, d.h. Autorität, den wir der Quelle, der wir sie entnehmen (sei sie mündlich oder schriftlich oder anderer Natur), zuschreiben, 2) von unserer Sozialisierung und 3) von unseren je aktuellen Orientierungsnöten und ‑bedürfnissen. Diese drei Faktoren beeinflussen sich teilweise wechselseitig und können von Situation zu Situation je unterschiedliches Gewicht haben: Eine unter anderen Umständen als unzuverlässig problematisierte Quelle mag in Momenten akuter Orientierungsnot dankbar aufgegriffen und als glaubwürdig hingenommen werden. Denn obwohl Orientierungsbedürfnisse immer eine Rolle spielen, sofern wir uns eben fortwährend orientieren, macht es für den Umgang mit historischen Gehalten, mit denen wir konfrontiert werden, durchaus einen Unterschied, wie akut bestimmte Bedürfnisse zurzeit sind bzw. welche Nöte gerade besonders auf uns lasten. Eine besonders exponierte Stellung kommt in diesem Wirkgefüge der individuellen Sozialisierung zu, da sie unsere Orientierungsstrategien und oft auch Orientierungsnöte grundlegend prägt. Hierbei hat es nicht sein Bewenden damit, dass eine bestimmte Sozialisierung das Vertrauen auf objektiv gesehen problematische Quellen befördern mag – oder aber auch deren kritische Reflexion. Vielmehr beruht die Stabilität unserer Orientierung im Ganzen auf Routinen und Strukturen, die ihrerseits auf Erfahrungen fußen (Stegmaier 2008, S. 302–309). So hängt auch unser Umgang mit Geschichte im Ganzen von unserer eigenen individuellen Geschichte, unserer Lebensgeschichte ab, ist untrennbar mit ihr verbunden. Moralische Vorstellungen über die Welt können dabei zwar ihrerseits von der Geschichte legitimiert werden, sind ihrer Entstehung nach aber nur begrenzt von der Geschichte im engeren Sinn beeinflusst und beeinflussen viel eher deren Wahrnehmung durch uns. Auf die Herausbildung unseres Weltbilds hat die



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‚große‘, allgemeine Geschichte direkt nur insofern Einfluss, als man sie selbst miterlebt, sie also Teil der eigenen Lebensgeschichte ist. Andernfalls hat sie nur einen indirekten Einfluss, vermittelt über die Schule, Bücher, andere Medien, die Familie usw. In beiden Fällen ist der Zugriff natürlich subjektiv, also seinerseits schon durch Nöte, Überzeugungen, Sozialisierung geprägt. Die von mir direkt erlebte Geschichte ist selbst manifester Teil dieser Sozialisierung und so höchst prägend für meine Moralvorstellungen. Der indirekte Einfluss der Geschichte auf die eigenen Moralvorstellungen, das eigene Weltbild ist demgegenüber insgesamt als eher gering anzunehmen. Umgekehrt prägen Nöte, Überzeugungen, Sozialisierung ganz entscheidend meinen Zugriff auf und Interpretation von nur indirekt auf mich gekommener Geschichte, lassen mich Informationen, die nicht in mein Weltbild passen, ausblenden, passende hingegen dankbar aufgreifen. Dabei ist klar, dass in der Orientierung des Einzelnen nicht alle Epochen der Geschichte die gleiche Bedeutung haben. Bedeutsam sind (meist) vor allem die Zeiten, die eine besonders prägende Wirkung auf die eigene Lebenswelt haben (nicht zwingend bloß diejenigen, die noch nicht weit zurückliegen). Das kann von Land zu Land, Region zu Region, Person zu Person abweichen. Die indirekt aufgenommene, also länger zurückliegende Geschichte hat ihre eigentliche Bedeutung nicht als prägender Faktor für das jeweilige Weltbild und seine moralischen Überzeugungen, sondern als dessen Sinnstiftung, als Legitimations- und Stabilisierungsinstanz für die durch die individuellen Erlebnisse geprägten moralischen Überzeugungen: Was der je Einzelne als historisch wahr glaubt, liefert Ideologien, Ideen, Abläufe, Ereignisse, Geschehnisse, Strukturen, die ihm sein Weltbild und seine Moral beweisen. Jeder hat so zuletzt das Geschichtsbild, das er nötig hat. Die politische Bildung hat in diesem Befund gewiss eine Grenze, aber auch einen Anhaltspunkt für ihre Möglichkeiten. Nicht die Vermittlung von Wissen um die Geschichte allein und ihre Bedeutung für uns kann falsche Überzeugungen über die Geschichte korrigieren, zumindest nicht, wenn sie zur Stabilisierung der moralischen Orientierung des Einzelnen dogmatisiert worden sind. Eine Auseinandersetzung und ein offener Umgang mit den Nöten, mit denen umzugehen sie dem Einzelnen helfen, ist notwendiger Bestandteil jeder erfolgreichen historisch-politischen Bildung.11

11 Man kann von den beiden hier entwickelten Orientierungsfunktionen noch eine dritte unterscheiden, die aber keine Orientierung an Geschichte, sondern an Geschichten und so auch an den Geschichten der Geschichte (oder der Geschichtswissenschaft) ist und daher im vorliegenden Beitrag nicht näher entwickelt wurde. Werner Stegmaier hat sie in seiner Philosophie der Orientierung beschrieben: Wie alle anderen Geschichten schaffen die „Geschichten der

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Literaturverzeichnis Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1967): „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Säkularisation und Utopie, Stuttgart, S. 75–94. Febvre, Lucien (1998): „Ein Historiker prüft sein Gewissen. Antrittsrede am Collège de France 1933“. In: Wie Geschichte geschrieben wird, Berlin, S. 15–29. Frei, Norbert/Bongen, Robert (2015): „‚Da kann man eigentlich nur den Kopf schütteln‘ [Interview von Robert Bongen mit Norbert Frei]“. http://daserste.ndr.de/panorama/ Da-kann-man-eigentlich-nur-Kopf-schuetteln,frei114.html, besucht am 1. Juni 2015. Hebel, Christina (2015): „Trotz Verbotsverfahren: Holocaust-Leugnerin sprach bei NPD-Veranstaltung“. Spiegel Online, 23. April. http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/npd-und-die-holocaust-leugnerin-ursula-haverbeck-a–1030072.html, besucht am 1. Juni 2015. Kaufmann, Thomas (2013): Luthers „Judenschriften“. 2., durchgesehene Auflage. Tübingen. Koselleck, Reinhart (2003a): „Zeitschichten“. In: Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main, S. 19–26. Koselleck, Reinhart (2003b): „Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose“. In: Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main, S. 203–221. Koselleck, Reinhart (2003c): „Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?“. In: Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main, S. 150–176. Koselleck, Reinhart (2013): „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“. In: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 8. Auflage, Frankfurt am Main, S. 38–66. Luhmann, Niklas (1971): „Komplexität und Demokratie“. In: Niklas Luhmann: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen, S. 35–45. Mommsen, Theodor (1861): Römische Geschichte, Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. 3. Auflage. Berlin. Nirenberg, David (2015): Anti-Judaismus: Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. Aus dem Englischen von Martin Richter. München.

Geschichtswissenschaft“ „ein Repertoire nicht-alltäglicher Orientierungsverläufe, die anderen als Modelle für nicht-alltägliche Orientierungsverläufe zur Verfügung stehen.“ „[O]b oder wie sehr sie [die Geschichten] ‚real‘ oder ‚fiktiv‘ sind“, ist für die Verwertbarkeit des von ihnen jeweils gelieferten Repertoires an „Orientierungsmodellen“ „gleichgültig“ (Stegmaier 2008, S.  451 f.). Zwar erhöben die „Geschichten der Geschichtswissenschaft“ einen anderen Wahrheitsanspruch als andere Geschichten mehr oder weniger fiktiver Art und müssten „an Quellen ausgewiesen werden“. An der Art und Weise, wie sie orientieren, ändere das jedoch nichts: Auch sie sind „aus mehr oder weniger dramatischen Situationen hervorgegangene Orientierungsmodelle für neu zu bewältigende Situationen. Man lernt aus ihnen für die eigene Orientierung.“ (Stegmaier 2008, S.  452) Man kann sie „auf seine Weise nachleben“, aus ihnen also Handlungsoptionen für die Gegenwart und die (Planung der) Zukunft generieren, muss diese aus der Geschichte gewonnenen Optionen jedoch, um sie passfähig zu machen für aktuelle Situationen, „abkürzen und erweitern, mischen und trennen“ (ebd.), als ein enthistorisiertes Repertoire von Handlungsoptionen oder Anschlüssen, die ebenso gut aus fiktiven Geschichten etwa der Literatur gewonnen werden können.



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Ranke, Leopold (1824): Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Bd. 1. Berlin/Leipzig. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Volkert, Lilith (2014): „Terror ohne Grenzen“. Süddeutsche Zeitung, 22. August. http:// www.sueddeutsche.de/politik/kampf-gegen-is-in-syrien-und-im-irak-terror-ohnegrenzen–1.2099253, besucht am 22.06.2015. White, Hayden (2008): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [1973]. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas. Frankfurt am Main. Wolle, Stefan (2009): Die heile Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR 1971–1989. Berlin.

Oswaldo Giacoia Junior

Staat, Demokratie und Rechtssubjekt. Eine Kritik zeitgenössischer Politik1 Giorgio Agambens Wiederaufnahme von Foucaults Begriff der Biopolitik gab Anlass zu heftiger Kritik und zur Überprüfung einer der grundlegenden Diskurse der Neuzeit: der Theorie des Gesellschaftsvertrags. Wie bekannt ist, bildet die theoretische Matrix des Gesellschaftsvertrags das Gerüst zum Verständnis moderner Politik, er fundamentiert und legitimiert die Herrschaftsverhältnisse und den Unterschied zwischen Befehl und Gehorsam, der die Basis der Souveränität, des Rechts und des Staates bildet. Der von Giorgio Agamben verwendete Begriff ‚Mythologem2 des Vertrags‘ bezieht sich auf die Kopplung der grundlegenden Kategorien politischen Denkens an die Figur des Staates, der als die juristische Organisation der civitas, als Bündnis und Unterwerfungspakt verstanden wird. Agambens Gegenvorschlag zu dieser Hypothese ist es, den Ur-Vertrag in der Entstehungsgeschichte der Gesellschaft und der Politik durch den Bann zu ersetzen. Er sieht im Konzept des Banns die originäre Form der Politik – und er bezieht dies nicht nur auf die politische Moderne. Eine radikale Umkehrung rechtsphilosophischer Tradition erlaubt es dem italienischen Philosophen paradoxerweise, wie bei der Figur des Banns anstelle des Vertrags, die Ausnahme als Struktur und Wahrheit der Norm, als die Grundlage anzunehmen, die Politik fundiert. Die Thesen bringen die Verflechtung von Recht, Gewalt und Macht aus der kognitiven Verzerrung der Souveränität ans Licht und destabilisieren die vorherrschende Interpretation der Soziabilität durch die Annahme, dass die Gewalt der ursprüngliche Tatbestand sei; im Licht der Verhältnisses erscheint die Ausnahme

1 Dieser Text wurde im November 2014 bei einer Nietzsche-Tagung an der Universität zu Brasilia, in Brasília, DF vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit wurde er von Werner Stegmaier debattiert, dem ich für seine treffenden und konstruktiven Beobachtungen danke, die der aktuellen Fassung des Texts sehr dienlich waren. 2 Nach Karl Kerényi ist ein Mythologem ein Komplex aus kontinuierlich überarbeitetem, neugeformtem und neuorganisiertem mythischem Material; ein archetypisches, mit autochthonen Elementen einer Kultur angereichertes Modell, das Mythen ihren Ursprung gibt. Ein Beispiel ist das Aussetzen eines Kindes, das überlebt, heranwächst und zum Grund tiefgreifender Veränderungen wird, wie dies bei Moses, Paris, Romulus und Ödipus der Fall ist. Die archetypischen Bilder Carl Gustav Jungs können, wie das auch Karl Kerényi tut, durch das Konzept des Mythologems erfasst werden. Vgl. Jung 1969.

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als „the originary structure in which law refers to life and includes it in itself by suspending it“ (Agamben 1998, S. 23). Für Agamben sei daher die Zeit gekommen, to reread from the beginning the myth of the foundation of the modern city from Hobbes to Rousseau ... according to which the originary juridico-political relation is the ban … since what the ban holds together is precisely bare life and sovereign power. All representations of the originary political act as a contract or convention marking the passage from nature to the State in a discrete and definite way must be left wholly behind. Here there is, instead, a much more complicated zone of indiscernibility between nomos and physis, in which the State tie, having the form of a ban, is always already also non-State and pseudo-nature, and in which nature always already appears as nomos and the state of exception. The understanding of the Hobbesian mythologeme in terms of contract instead of ban condemned democracy to impotence every time it had to confront the problem of sovereign power and has also rendered modern democracy constitutionally incapable of truly thinking a politics freed from the form of the State. (Agamben 1998, S. 65 f.)

Was hier vor allem in Frage gestellt wird, ist die transzendentale oder historische Rolle des Ur-Vertrags, der als Mythologem verstanden wird, also als eine Fiktion, der man fruchtbarere hermeneutische oder heuristische Hypothesen entgegensetzen kann. Zum Beispiel eben die Einsetzung des Banns und nicht des Vertrags als Vorlage für die Politik. Bann steht für Regierungsmacht, Souveränität, das Recht, Befehle und Verbote zu erlassen, Strafen aufzuerlegen und durchzusetzen, und das Recht zu verbannen. Als Begriff hat der Bann eine enge Korrelation zur Figur des Friedlosen und zum Rechtsbegriff der Friedlosigkeit im alten germanischen Recht. Er beschreibt die Kondition dessen, der verbannt und geächtet, aus der Schutzsphäre der Rechtsordnung, die den Bann erlassen hat, ausgeschlossen ist, und der daher das Privileg des Friedens, der durch diese Ordnung zugesichert wird, nicht genießen kann. In diesem Sinn ist der Friedlose der ohne Frieden, der den Kräften der Natur und der willkürlichen Gewalt der Menschen Ausgesetzte. Es handelt sich um die Figur des Ausgeschlossenen, des Paria, dessen Tötung keinen Mord darstellt, dem das Gesetz, das ihn straft, seine positive Auswirkung und das Vorrecht sich auf dieses zu berufen, vorenthält. Der Verbannte soll eine Art Vorfahre des homo sacer sein, der Figur des archaischen römischen Rechts, die Agamben zum Namen seines philosophischen und politischen Programms macht. Der homo sacer ist im römischen Recht der Verurteilte, dessen Tötung keine Opfergabe sein darf und kein Mord ist, er ist der Ausgeschlossene, ausgeschlossen sowohl aus der Sphäre des göttlichen, wie auch aus der des menschlichen Rechts. Die Struktur dieses Typs kann nur durch Bann und exceptio angemessen erklärt werden. Die strukturelle Homologie zwischen Bann und Ausnahme (exceptio, excapere, freilassen, wegjagen) ist ein Paradoxon, auf dem ein großer Teil der grundlegenden Argumentation Agambens aufbaut.



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Nehmen wir auf die strukturelle Beziehung zwischen Bann und Exceptio Rücksicht, müssen wir aufhören, die Grundrechtserklärungen als Proklamation der ewigen meta-juristischen Rechte zu sehen, und ihrer realen geschichtlichen Funktion gerecht werden, nämlich der des Mittels zur Einbindung des Lebens in den strategischen Handlungsraum der souveränen Entscheidung. Das Dogma der Heiligkeit des Lebens, das in der Form der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte republikanische Verfassungen inspiriert, wird dabei gleich miteinbezogen. “The relation of abandonment is so ambiguous that nothing could be harder than breaking from it. The ban is essentially the power of delivering something over to itself, which is to say, the power of maintaining itself in relation to something presupposed as nonrelational. What has been banned is delivered over to its own separateness and, at the same time, consigned to the mercy of the one who abandons it – at once excluded and included, removed and at the same time captured.” (Agamben 1998, S. 65 f.) Wenn wir also die Struktur und die Logik der Ausnahme vor Augen haben, um das Verhältnis von Leben, Recht und Politik zu begreifen, können wir vielleicht die Naivität vermeiden, das als Waffe des Widerstandes für den Fall der schärfsten uns befallenden Krisen zu benutzen, was zusehends älter wird, keine Zukunftsperspektiven hat, das nicht in der Lage ist, in der Geschichte den Weg für neue Möglichkeiten des Menschwerdens zu öffnen. Exceptio und Bann weisen eine strukturelle Analogie auf: ex capere bedeutet Ausnahme, außerhalb fangen; ein paradoxer einschließender Ausschluss, ähnlich dem Verbannen. Wenn die Souveränität tatsächlich durch das Vorrecht (normativ) definiert wird, die rechtsstaatliche Ordnung aufheben zu können, so ist der Souverän in einem ersten Moment der Analyse der, auf den das Gesetz durch die Aussetzung seiner Anwendung angewendet wird; souverän ist der, der durch verfassungsmäßige Vorrechte die Verfassung (oder Teile von ihr) und die in ihr verankerten Rechte und Garantien als aufgehoben deklarieren kann. Es handelt sich um das gleiche Verhältnis eines ausschließenden Einschlusses, das auch den Ausstoß bestimmt. In diesem finden wir nach Agamben die in der Souveränität zentrierte Proto-Struktur aller rechtspolitischen Verhältnisse: “The relation of abandonment is so ambiguous that nothing could be harder than breaking from it. The ban is essentially the power of delivering something over to itself, which is to say, the power of maintaining itself in relation to something presupposed as nonrelational. What has been banned is delivered over to its own separateness and, at the same time, consigned to the mercy of the one who abandons it – at once excluded and included, removed and at the same time captured.” (Agamben 2002, S. 116) Wenn der Bann gleichzeitig Exceptio und das Wahrzeichen der Souveränität ist, müssen auch die modernen Erklärungen der Grundrechte als ewige und meta-juristische Werte aufgegeben werden, um deren

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realer geschichtlichen Funktion gerecht zu werden, nämlich der des Mittels zur Geiselnahme des bloßen Lebens im strategischen Handlungsraum souveräner Entscheidungen. Im vorliegenden Text habe ich vor, diese Sammlung von Fragestellungen auf die Genealogie des Staates zu übertragen, wie diese von Nietzsche erdacht wurde. Dafür wende ich mich eingangs an eine seiner Quellen. Nietzsche schreitet, teilweise von Rudolf von Jherings Studien zum römischen Recht inspiriert, zu einer genealogischen Rekonstitution des Gerechtigkeitsgefühls. Dabei interpretiert er diese aus dem primitiven germanischen Recht kommende strafrechtliche Figur des Banns als eine Transposition der privatrechtlichen Obligation des Schuldners zu seinem Gläubiger auf die Ebene der Verhältnisse zwischen den vorstaatlichen gesellschaftlichen Organisationen (Geschlechtsgenossenschaft) und deren Mitgliedern. Für Nietzsche ist der germanische Bann der Ausschluss des Straftäters aus der durch die gewohnheitsrechtliche juristische und politische Ordnung garantierten Schutzsphäre. Die Verbannung sei dabei eine Abtrennung in Folge der Verletzung der Obligation, die die Mitglieder einer Gesellschaft an ihre Sitten und Gebräuche bindet; Sinn der Verbannung ist also der Ausschluss aus der Sphäre der Sitten, in der Ordnung und Frieden herrschen; der Bann entspricht der Friedlosigkeit, auf die der Straftäter reduziert wird. Er wird der willkürlichen Gewalt der Natur oder der Menschen ausgesetzt. „Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vortheile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat.“ (GM II 9) Im Fall der Rechtssubjekte bewehrt sich Nietzsche mit Ergebnissen aus der ethnologischen Jurisprudenz und der Kulturanthropologie, die er bei Rechtsphilosophen wie Albert Hermann Post (zur Figur der Rechtssubjekte) oder bei Josef Kohler (zum Verhältnis zwischen [rechtlicher] Schuld und Versprechen) findet, um sie mit metaphysischen Auffassungen wie Zweck oder Fortschritt aus dem Recht zu kontrapunktieren. Man muss sehen, dass die moderne Figur des Rechtssubjekts in den vorstaatlichen Gesellschaften unter den ethnologisch feststellbaren Formen der Rechtssubjektivität oder der Rechtsperson nichts Vergleichbares findet; was beweist, dass die universelle Verbreitung des Rechtssubjekts eine ideologische Funktion hat. In diesem Horizont der juristischen Kategorien siedelt Nietzsche auch die Herkunftsgeschichte der Religion an. Die ersten Spuren des religiösen Gefühls leiten sich seines Erachtens aus einer Umdeutung des Musters aus ökonomischer Schuld und Forderung ab, die für die Beziehung zwischen den existierenden Generationen und ihren Vorfahren, den Gründern der ersten Gesellschaften Sinn



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stiftet. Auf dieser Ebene wird die Existenz und das Wohl der Gruppe als Gabe der Vorfahren erlebt und interpretiert, und als Schuld ihnen gegenüber. Ihnen verdankt man das Leben im Schutz der Gesellschaft, den Frieden, das Gesetz, die Ordnung und den Wohlstand. Gestützt auf die fruchtbare Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes Schuld (das sowohl eine ökonomische wie eine moralische Bedeutung in sich trägt) postuliert Nietzsche, dass die wichtigsten wertmoralischen Konzepte, Gefühle und Schätzungen Verinnerlichungen und Sublimierungen der Inhalte des juristischen Universums der Schuld und der Forderungen sind. Das (moralische) Gefühl der Schuld, immer aus dem intimen Bereich kommend, ist eine qualitative Transformation des rechtlichen, wirtschaftlichen und religiösen Gefühls, Schulden zu haben, durch Internalisierung – eine Transfiguration des Gläubigers und des Schuldners aus dem Recht, ohne die internen Instanzen des Schuldbewusstseins. Schulden haben, Pflichten auf sich nehmen, die Festigung eines Gefühls der Pflicht und der Notwendigkeit der Kompensationen bedeutet jedoch keine ideologische Projektion der zeitgenössischen Auffassung des als moralische Person verstandenen Rechtssubjekts, d.h. des den ihm zustehenden Vorrechten beraubten Subjectums, mit den dazugehörenden Gegenstücken an Pflichten. Bei Nietzsche ist der Ursprung der gesellschaftlichen Institutionen immer mit Gewalt verbunden; dies gilt auch für den Staat: – dass der älteste „Staat“ demgemäß als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das Wort „Staat“: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt ja der „Staat“ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem „Vertrage“ beginnen ließ. (GM II 17)

Nach der genealogischen Hypothese Nietzsches war dieser Prozess nicht das Resultat einer allmählichen oder freiwilligen Transformation oder ein organisches Wachsen unter neuen Umweltbedingungen, sondern ein gewaltsamer Bruch, wie ein auferlegter Zwang, der mit gewaltsamen Schlägen durchgesetzt wurde. Nach Nietzsche erschuf die Ur-Grausamkeit im Laufe der Geschichte jedoch auch die Möglichkeit ihrer Umkehrung – im Fall der Genese des Staates die Umkehrung der Barbarei in Freiheit und Souveränität, nicht im Sinn der staatlichen Souveränität. Die höchste Realisation der Souveränität ist das souveräne Individuum, endlich befreit von den Maschen des Rechts, der Rache und der Grausamkeit im Entstehungsprozess der Sittlichkeit der Sitte.

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Das souveräne Individuum ist die späte Frucht des zivilisatorischen Prozesses, der Vorgeschichte der Menschwerdung – souverän ist derjenige, der sich von der Ur-Brutalität befreien kann. In diesem Sinn ist das autonome Individuum für Nietzsche unsittlich, denn es löste sich von der Sittlichkeit. Dieser Freigewordene, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverain – wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gut sagen darf,... (wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt – er verdient alles Dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwendig in die Hand gegeben ist?) Der „freie“ Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein Werthmass: von sich aus nach den Andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er (GM II 2).

Was sich hier abzeichnet, ist also ein Prozess der Sublimierung oder eher noch der Selbstaufhebung. Das souveräne Individuum befreit sich von der Sittlichkeit, kann dies aber nur bewerkstelligen, weil es seine Fähigkeit, sich auf die Regeln – die goldene Regel pacta sunt servanda an erster Stelle – zu beziehen, durch Introjektion zu seiner zweiten Natur gemacht hat. Die Eroberung der Freiheit führt daher notwendigerweise über die Unterdrückung des Rechts und der in der Heteronomie der Gesetzgebung gegründeten Gerechtigkeit. Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens, – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: „patere legem, quam ipse tulisti“. [Unterwerfe dich dem Gesetz, das du erlassen hast.] (GM III 27)

Im gleichen philosophischen Kontext kann die Selbstaufhebung der Gerechtigkeit und des Staates als effektive Vergeistigung der Gewalt, Sublimierung der Grausamkeit thematisiert werden: ein Erfolg der dem Menschen nur gelingt, wenn die Gesellschaft stark genug ist, um sich nicht mehr um Schuld und Sühne kümmern zu müssen, wenn sie sich von der Perspektive von Schuld und Buße lösen kann. Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. ‚Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!‘... Die Gerechtigkeit, welche damit anhob „Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden“, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – (GM II 10)

Trotz der Barbarei und des Idiotismus seiner Vorgeschichte kann die Genealogie des Gerechtigkeitsgefühls in der Geburt eines ‚Wohlwollens‘, eines ‚guten



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Geistes‘ gipfeln, in Prädikaten und Tugenden eines „gerechten Menschen“. Es sind diese Tugenden, die zu einer weiteren Strecke der Selbstüberwindung animieren, die in der Überwindung der Gerechtigkeit durch die Gnade gipfelt. Ich meine, diese Vorstellung ist mit der Auflösung und der Überwindung der vorväterlichen mythischen Verquickung von Recht, Gerechtigkeit und Gewalt vergleichbar, über eine Intensivierung des Machtgefühls, das diese grundlegend verändert, sie durch Sublimierung transfiguriert. Diese Neugestaltung fordert notwendigerweise nach der Abschaffung der Rechtsform, der Staatsform und der ihnen eigenen charakteristischen Methoden der Gefangennahme und Beherrschung. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder an’s Licht. Der ‚Gläubiger‘ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Mass seines Reichthums, wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. .... Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts. (GM II 10)

Diese (Selbst-)Überwindung der Gerechtigkeit des Gesetzes durch die Gnade findet in einer anderen Figur der Selbstüberwindung eine fruchtbare Parallele: der Verwandlung der Gewalt in Schönheit, die schon in Also sprach Zarathustra vorhanden ist, aber auch in der Sublimierung der Grausamkeit zur Kultur, die schon in den Schriften des jungen Nietzsche thematisiert wird – ein roter Faden, den er seit Menschliches, Allzumenschliches in das Netz seiner Philosophie webt. Es handelt sich sicherlich immer um den Willen zur Macht, aber vor allem auch um seine Verwandlung, um seine Erhebung in eine effektiv immer mächtigere und machtbewusstere Sphäre, was gleichzeitig bedeutet, dass diesem Bewusstsein entsprechend auf die rohe Kraft und die mythische Gewalt verzichtet wird. Das Kapitel Von den Erhabenen im zweiten Buch von Also sprach Zarathustra ist bezüglich dieser sublimierenden Verwandlung paradigmatisch. Erhabene sind Büßer und Helden der wunderbarsten Streiche des Geistes. Die Ernsthaftigkeit ihres Hochmuts zeigt jedoch eine noch vorhandene Bindung an einen noch primitiven Zustand der Macht, weil noch eifrig, neidisch, schwer, ohne Leichtigkeit, Großzügigkeit und Schönheit – d. h. überbordende Macht. Er bezwang Unthiere, er löste Räthsel: aber erlösen sollte er auch noch seine Unthiere und Räthsel, zu himmlischen Kindern sollte er sie noch verwandeln. Noch hat seine Erkenntnis nicht lächeln gelernt und ohne Eifersucht sein; noch ist seine strömende Leidenschaft nicht stille geworden in der Schönheit... Den Arm über das Haupt gelegt: so sollte der Held ausruhn, so sollte er auch noch sein Ausruhen überwinden. Aber gerade dem Helden ist

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das Schöne aller Dinge Schwerstes. Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen. Ein Wenig mehr, ein Wenig weniger: das gerade ist hier Viel, das ist hier das Meiste. Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen! Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in’s Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen. (Za II, Von den Erhabenen, KSA 4.151 f.)

In diesem Abschnitt entwickelt sich, in der Feststellung, dass die Schönheit die Aufhebung dessen ist, was im Helden noch Schwere, Eifer und Ernst ist, eine implizite und interessante Dialektik zwischen Oben und Unten, Erhöhung (erhaben) und Unterdrückung (heben, aufheben). Diese Selbstaufhebung der Schwere verwandelt oder erlöst sie (ästhetisch) in Schönheit. Die Helden des Geistes und des Körpers lassen ihren Arm noch nicht auf dem Kopf ruhen, sind noch nicht von der eigenen Müdigkeit und der Notwendigkeit des Ausruhens erlöst: ihre Wahrheiten sind schrecklich, sie sind reich nur an Jagdbeute, an zerfetzter Kleidung, verziert mit schrecklichen Stacheln, aber ohne jegliche Rosen. Er erhob sich noch nicht in den Äther, hat sich seines Heldenwillens noch nicht entledigt, kam noch nicht zu dem Punkt, an dem er sich vom Willen gelöst hat (ist noch kein Willenloser). Im Fall der Gerechtigkeit, des Gesetzes, des Rechts und des Staates, deren Ursprung die Gewalt und die Macht ist, erfolgt die Selbstaufhebung in Form einer Macht der zweiten Potenz, einer Kraft, die machtvoll genug ist, um gnädig, gütig und anmutig zu sein. Und dies bis zu einem Punkt, in dem sich der Rohstoff in eine sublimierte Figur der Macht verwandelt und erlöst, die fähig ist, sich ihrer primitiven Materialität zu entledigen und durch Gnade anmutig zu werden, d.h., sich im doppelten Sinne, im theologischen wie im ästhetischen, durch Anmut zu reinigen. Das ist das Gesetz der Selbstaufhebung, dem die großen Dinge unterworfen sind. Es handelt sich um die ständige Selbstüberwindung des Menschen, ermöglicht durch die absurde Gewalt der Sittlichkeit der Sitten, die aber eben durch die Selbstaufhebung in einem Prozess der Reinigung, der Sublimierung gipfeln kann. Sicher erinnern der Begriff und sein Geist an die spekulative Philosophie Hegels, aber mit eben genau diesem Begriff will Nietzsche, gemäß der von mir vorgeschlagenen Interpretation, Hegels Konzept des Absoluten in Frage stellen. Deshalb, schreibt Gerd-Günther Grau, „könnte man [umgekehrt] das mit Nietzsche gewonnene Geschichtsverständnis der Selbstaufhebung als negativen Hegelianismus verstehen, demzufolge die Vernunft am Ende ihre Unfähigkeit entdeckt, das Absolute als Wahrheit zu erfassen.“ (Grau 2000, S. 324 f.) Die paradoxe Natur dieses negativen Hegelianismus gerät exemplarisch durch die Figur des souveränen Individuums ans Licht: denn in dieser untersucht Nietzsche die Entstehung der Gerechtigkeit durch ihren Gegenpart, nämlich genealogisch, über Gewalt, Vergewaltigung, Zwang, Willkür, Grausamkeit. „Die



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Gerechtigkeit entspringt nach Nietzsche dem Austausch von Grausamkeiten, der mit der Zeit nach Regelung durch das Recht in einem Staat verlangt, der, wenn er dem Staat hinreichend Geltung verschafft hat, schließlich ganz auf Grausamkeit in Gestalt von Strafen verzichten kann und darin seine eigentliche Gerechtigkeit erblicken kann.“ (Stegmaier 1992, S. 126)3 In diesem Prozess rebelliert das souveräne Individuum gegen die Sittlichkeit der Sitte und befreit sich von ihr, kann dies aber nur deshalb bewerkstelligen, weil es die Regeln verinnerlicht und vergeistigt hat, um sich ihnen zu stellen, wobei es eine Selbstbeherrschung erreicht hat, die in ihm zur zweiten Natur wurde – zuerst also die grundlegende Regel: pacta sunt servanda. Anstatt die Figur des souveränen Individuums mit einer Verschiebung des modernen Ideals der subjektiven Autonomie zu assoziieren oder mit dem modernen Konstrukt der rationalen Moralität, wäre es angemessener, sich der Idee von Machtverhältnissen, von Kraftspielen, von Werkzeugen der Beherrschung und des Widerstandes zu bedienen, die einer zeitgemäßen Debatte über Recht und Politik einen fruchtbaren Boden bieten. Auf den Ausgangspunkt zurückkommend, denke ich, dass Agambens Idee, mit der er uns auffordert, die Möglichkeit einer Kritik des „Mythologems des Vertrages“ als Basis der politischen Moderne ernst zu nehmen, durch einen Dialog mit Nietzsche viel gewinnen könnte. Die Idee einer endlich vom Paradigma der Souveränität befreiten Politik könnte mit Nietzsches Selbstüberwindung des Gesetzes und der Gerechtigkeit einen ihrer fruchtbarsten Verfechter finden. Dass ein theoretischer Beitrag Nietzsches relevant, aktuell und fruchtbar wäre, kann man bejahen, weil er erlaubt, die Idee der Gerechtigkeit als eine grundlegende Kategorie zu erhalten, jedoch im Sinne der Überwindung mythischer Gewalttätigkeit, in der Sublimierung der Perspektiven von Schuld und Forderung, Schuld, Strafe und Buße. Beispielsweise ist es in diesem Sinne wohl zulässig, anzunehmen, dass wir in Nietzsche eine Art Vorgestalt der aktuellen These finden, die im marxistischen Feld durch den Rechtsphilosophen Michel Miaille verfochten wird. Mit dem Ziel, die Kategorien der Rechtsperson und des Rechtssubjekts durch ihre sozialgeschichtliche Verwurzelung zu entnaturalisieren, schreibt Miaille: Die juristische Kategorie des Rechtssubjekts ist keine an sich rationale Kategorie: sie entsteht in einem relativ präzisen Moment der Geschichte und entwickelt sich als eine der Bedingungen der Hegemonie einer neuen Produktionsweise. (…) Man muss verstehen, dass das neue Rechtssystem durch diese Handlung ex nihilo keine neue Person schöpft.

3 Für eine methodische Untersuchung der unterschiedlichen Figuren der Selbstaufhebung bei Nietzsche siehe Zittel 1995.

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Das Rechtssubjekt zeigt sich hier als Teil des globalen gesellschaftlichen Systems, das in diesem Moment triumphiert: des Kapitalismus. Man muss sich also allen idealistischen Perspektiven verweigern, die diese Kategorie angeblich repräsentiert (die wahre Freiheit der Individuen). Man muss sie als das betrachten, was sie ist: ein historischer Begriff. (Miaille 1994, S. 118 f., 121)

Aus der sozialgeschichtlichen Relativierung der Kategorien der Rechtsperson und des Rechtssubjekts lässt sich weiter schlussfolgern: Das mit dem Privatindividuum, dem Besitzer von Waren, identifizierte Rechtssubjekt findet sich in der Entstehungsgeschichte, der Einführung und der Hegemonie der Rechtsform, in dem Mechanismus, der den ungerechten Tausch, die Aufwertung des Kapitals durch die Produktion des Mehrwerts und die Fortführung der Beherrschung perpetuiert, d. h. den Erhalt der Vorgeschichte der Menschheit. Die Rechtsform ist sowohl institutionell-rechtlich wie ideologisch die Grundlage und die Garantie für die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und verhindert die Kon­ struktion einer freien Gesellschaft. Wenn in unseren Gesellschaften, selbst im Horizont des extremen Nihilismus, wie wir ihn heute durchlaufen, neue Wege der Politik gedacht werden können, so könnten sie durch die Umgestaltung ihrer Kategorientafeln gefunden werden, von der traditionellen Hegemonie der rechtlichen Form emanzipiert, speziell von der Figur des Staates und seiner Apparate, von der Gerechtigkeit, die von der staatlichen Souveränität ausgeht. Wenn es auch wahr ist, dass wir auf diesem Weg einen Marx als entscheidenden Denker haben, so ist es nicht weniger wahr, dass Nietzsches Genealogie der Gerechtigkeit ebenfalls einen Übergang zu dieser Befreiung ermöglicht und den Horizont für neue Figuren des Menschen in der Geschichte und neue Prozesse der Subjektivierung öffnet. Die Verwurzelung der Rechts und der Politik im Zwang, in der Gewalt und in den Machtverhältnissen bildet vielleicht ein weiteres grundlegendes Erbe aus dem, was wir als Nietzsches Rechtsphilosophie erkennen können. In der Gegenüberstellung von Thukydides’ Realismus und Platos Idealismus appelliert Nietzsche zu einer mutigen Haltung angesichts der Realität, zum Nachdenken über eine Naturgeschichte des Rechts. In Nietzsches Denken [...] wird den zwischenmenschlichen Beziehungen der Angst und der Gewalt eine zentrale Rolle zugewiesen. Auch das Recht lässt sich auf Angst- und Gewaltthemen zurückführen (oder Zwang oder Macht). Nach Nietzsche ist die Rechtsdimension wie die der Kultur im Ganzen menschlich, allzumenschlich; er nähert sich ihr also, nachdem er einen Großteil dieser Vorurteile aus dem Feld geworfen hat, die auch in diesem spezifischen Bereich dazu tendieren, die Realität durch ideologische Wunschprojektionen zu ersetzen. (Escobar 2003, S. 49 f.)



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Dazu passt auch der Aphorismus 93 des ersten Buchs von Menschliches, Allzumenschliches, mit einem suggestiven Auftakt: Vom Rechte des Schwächeren. – Wenn sich Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine große Einbuße machen kann. Deshalb entsteht hier eine Art Parität, auf deren Basis Rechte etabliert werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. – Insofern gibt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heißt genau in dem Maße, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das Recht geht ursprünglich soweit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur). (MA I 93)

So entstehen Rechte und Pflichten aus Verträgen; wo letztere nicht vorhanden sind, existieren auch erstere nicht. Wo andererseits Rechte und Pflichten ein­ gehalten werden und vorherrschen, geschieht dies auf Basis der Anerkennung des Erhalts der Machtgrade, welche das Verhältnis gründen. Wenn unsere Macht also abklingt, erlöschen unsere Rechte, und werden wir übermächtig, haben die anderen uns gegenüber keine Rechte mehr. Auf diese Weise beseitigt die normative Rechtssphäre weder den bestehenden oder latenten Konflikt noch die reale oder virtuelle Gewalt der Herrschaftsbeziehungen. Ganz im Gegenteil: die Rechtssphäre setzt diese voraus, markiert deren Grenzen wie ein Regulierungsplan. Existenz von Rechten hängt also von einem anerkannten Gleichgewicht mehrerer und vielgestaltiger Korrelationen zwischen Kräften ab. Das Gleichgewicht entsteht nicht in der oder durch die Repräsentation einer objektiven Gültigkeit des Gesetzes oder der zwingenden Natur der Rechtsbestimmungen und noch weniger durch einen angeblichen zwangsfreien Konsens – Pakte sind Rituale, die einem latenten Konflikt ein zeitweiliges Ende setzen. Dieser Realismus angesichts der unausweichlichen Beziehung zwischen Recht und Gewalt, Recht und Macht ist durch eine Opposition zum platonischen Wertidealismus gekennzeichnet, die von Thukydides, einem rechtschaffenen Historiker, inspiriert ist, den Nietzsche als Gegengift gegen jeglichen Platonismus sah. Diese Furchtlosigkeit attestiert der bekannte, schreckliche Dialog zwischen den Siegern und den Besiegten, zwischen den Abgesandten Athens und Melos’: […] da wir […] auch nicht zuerst ein solches Verfahren eingeführt haben, sondern es für alle Zeiten feststeht[,] daß der Schwächere von dem Mächtigern niedergehalten wird […]; und gelobt zu werden verdienen die[,] welche dem menschlichen Hange über Andere zu herrschen folgend sich gerechter gezeigt haben als nach ihrer vorhandenen Macht nöthig

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war. […] Und die Menschen […] sind von Natur so geartet[,] daß sie sich den freiwillig Nachgebenden auch ihrerseits gern fügen, gegen die trotzige Ueberhebung aber selbst wider bessere Einsicht einen Entscheidungskampf wagen. (Thukydides I 76, IV 19)

Aus diesem Grund, so Nietzsche, benötige der gerechte Mensch ständig das Feingefühl einer Waage: für die Machtgrade und Rechte, die, ob der vergänglichen Natur der menschlichen Dinge immer nur einen Moment das Gleichgewicht zu halten, normalerweise auf und abdriften: – deshalb ist es schwer gerecht zu sein, und es bedarf der Übung und des guten Willens und einen gehörigen guten Geist. – (M 112)

Angesichts der generellen Richtung dieser Rechtsphilosophie ist die bittere Kritik Nietzsches an der modernen Doktrin der Gleichheit der Rechte besser zu verstehen. Wenn das Verständnis von Recht selbst den Anspruch auf spezielle Handlungsvorrechte im sozialen Raum impliziert, wie den Anspruch, der in der Anerkennung der verschiedenen konsolidierten und gepflegten Machtgrade gegründet ist, dann muss – aus der Sicht Nietzsches – die Ungleichheit als eine der Bedingungen dafür gesehen werden, dass es Rechte gibt, da man vernunftgemäß nicht von einer Gesellschaft im Idealzustand des universalen und konstanten Gleichgewichts der Kräfte ausgehen kann. In einer Welt, die aus asymmetrischen Macht- und Gewaltverhältnissen besteht, ist die formale und abstrakte Gleichheit zwischen den angeblichen Rechtssubjekten auf der Suche nach einem idealen Konsens eine romantische Verschönerung, die unbewusst dem Zweck der Manipulierung der Ungleichheit dient. Man erkennt, in welchem Maß Nietzsches Rechtsverständnis sich im Gegenstrom des klassischen Rechtsnaturalismus, des angelsächsischen Utilitarismus und der Theorien der Verfahrensgerechtigkeit konstruiert. Der überaus kritische Charakter seiner Philosophie, das akute Verständnis der Relevanz und der enormen Komplexität der Problematik der Macht in der modernen Welt bringt Nietzsche einigen wichtigen zeitgenössischen rechtsphilosophischen Theorien nahe, die sich bemühen, die Verhältnisse von Recht zu Demokratie über das Paradigma des Konsens hinaus zu überdenken.4

4 In diesem Zusammenhang ist es gerechtfertigt, wieder das radikale Demokratieverständnis aufzugreifen, das Chantal Mouffe in ihren Werken The Return of the Political, The Dimensions of Radical Democracy, The Challenge of Carl Schmitt and The Democratic Paradox und Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics (zusammen mit Ernesto Laclau) entwickelt hat. Vgl. im analogen Sinn Schrift 2000.



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Wenn auch sein Werk im vergangenen Jahrhundert ideologisch durch Anarchisten, Nazifaschisten und Kommunisten vereinnahmt wurde, so ist Nietzsche im 21. Jahrhundert ein immer noch notwendiger Mediator für die unterschiedlichsten Theorien – sei es als Alliierter oder als respektabler intellektueller Gegner. In beiden Fällen ist er unzweifelhaft eine nicht wegzudenkende Referenz für alle Arten der Reflexion, ob nun über Recht, Gerechtigkeit, den Staat oder die Souveränität. Diese Beobachtung gilt für die „Philosophien der Differenz“ wie für die Verteidiger des juristischen Pluralismus – ohne dabei den unerschöpflichen theoretischen Fundus zu vergessen, den der Perspektivismus und die extreme Verfeinerung des Konzepts des Willens zur Macht für eine juristische Hermeneutik bedeuten können, die die philosophische Maxime ernst nimmt, nach der (im Gegensatz zu den Bestrebungen des Positivismus) keine Fakten existieren, sondern nur Interpretationen. Mit diesen Überlegungen kann meines Erachtens eine positive Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ob ein Rückgriff auf Nietzsche und seinen Beitrag zur heutigen Rechtsphilosophie und zur Philosophie der Politik angebracht sei, gegeben werden. Ich meine, dass die von ihm stammenden Provokationen und Herausforderungen nicht nur weiter aktuell sind, sondern dass seine intellektuelle Grundständigkeit vom Rechtsphilosophen weiterhin höchste Aufmerksamkeit verlangt. Mit Hilfe Nietzsches geben wir die Illusionen bezüglich der Verhältnisse zwischen Gewalt, Macht und Recht auf. Machtverhältnisse gibt es immer, auch und vor allem dort, wo Verträge abgeschlossen werden, die nicht mehr als ein provisorisches Mittel des Rechts sind, um das Gleichgewicht der Kräfte in Opposition und Allianz abzusichern. Grundrechte existieren bei Nietzsche nicht als übergeschichtliche Kategorien, sondern, wenn überhaupt, als Instrumente der Durchsetzung erkämpfter politischer, ständig von Gleichgewichtsverlust und Umkehrung bedrohter Freiheiten. Erst wenn die Vertreter der Zukunftsordnung, denen der alten Ordnung im Kampf gegenüberstehen und beide Mächte sich gleich oder ähnlich stark finden, dann sind Verträge möglich, und auf Grund der Verträge entsteht nachher eine Gerechtigkeit. – Menschenrechte gibt es nicht. (Nachlass 1877, 25[1], KSA 8.481)

In Nietzsches Universum spielen weder der Konsens noch der Vertrag eine trans­ zendentale Rolle. Dazu denke ich, dass sich die Positionen von Agamben zur Profanierung des Rechts und der Notwendigkeit der Abschaffung der Rechtsform deutlich oder implizit in der politischen Philosophie Nietzsches widerspiegeln – wobei man Agambens Verbindung zu Marx und Walter Benjamin jedoch nicht vernachlässigen darf. Der Messianismus Agambens ist hauptsächlich in der Notwendigkeit

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der Überwindung der Rechtsform begründet, der instrumentellen Relation von Mitteln und Zwecken und vor allen in dem für ihn kardinalen Konzept der reinen Gewalt – einem Konzept, das durch die Pleroma der Gnade die Souveränität des Gesetzes ächtet und in unserer heutigen Zeit neue Horizonte der Gerechtigkeit schafft. Für die Geschichtsphilosophie ist die reine Gewalt also ein Schlüsselbegriff der Interpretationen. Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte, schreibt Walter Benjamin: eine Geschichte, die jedoch mit dem Paradoxon des Ursprungs des „staatlichen Machtmonopols“ im Blick beschrieben werden kann, mit dem Blick auf die Dialektik zwischen einer das Recht einsetzenden Gewalt und einer das Recht sichernden und anwendenden Gewalt; zwischen der ursprünglichen schaffenden Macht und der abgeleiteten konstituierenden Macht, deren theoretische Matrix sich im naturrechtlichen Gesellschaftsvertrag gestaltet. Ein nur aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtsetzender und rechtserhaltender zu gewahren. Dessen Schwankungsgesetz beruht darauf, dass jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst schwächt. […] Dies währt so lange, bis entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtsetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen. Auf die Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen, auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter. Wenn die Herrschaft des Mythos hie und da im Gegenwärtigen schon gebrochen ist, so liegt jenes Neue nicht in so unvorstellbarer Fernflucht, dass ein Wort gegen das Recht sich von selbst erledige. Ist aber der Gewalt auch jenseits des Rechtes ihr Bestand als reine unmittelbare gesichert, so ist damit erwiesen, dass und wie auch die revolutionäre Gewalt möglich ist, mit welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch Menschen zu belegen ist. (Benjamin 1965, S. 63 f.)

In dieser Konstellation bilden Homo Sacer I und Ausnahmezustand den Versuch, für die heutige Politik neue Rahmenkonzepte zu schaffen, in dem sie Politik von der ewigen Verknüpfung zu Staat und Recht befreien. Agamben sorgt sich um die Auslieferung des nackten Lebens an die souveräne Macht und gleichzeitig um die Auflösung der mystischen und uralten Vernetzung von Recht und Gewalt. Aus diesem Grund nimmt der Aufsatz von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt – Die Kritik der Macht in dieser kritischen Reflexion eine wichtige Stellung ein. Die Bloßlegung der irreduziblen Verknüpfung von Gewalt und Recht macht Benjamins Kritik zur notwendigen Vorbedingung jeder Untersuchung über die Souveränität. In Benjamins Analyse taucht diese Verknüpfung als dialektisches Auf und Ab der rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt auf. Daher die Notwendigkeit einer dritten Figur, welche das zirkuläre Auf und Ab zwischen diesen beiden Formen der Gewalt sprengt (Agamben 1998, S. 41 f.).



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Die Einzigartigkeit der Kritik Benjamins und ihres Werts für die Überlegungen Agambens zeigen sich im Licht der dritten Figur, die der italienische Philosoph als notwendig erachtet, um die zirkuläre Dialektik zwischen den beiden Formen der Gewalt zu durchbrechen. Denn in diesem Aufsatz sondert Benjamin einen besonderen Typ der Gewalt ab, die göttliche Gewalt, die Recht weder setzt noch erhält, sondern ent-setzt, d.h. die Verknüpfung zwischen Recht und Gewalt löst. Nach Agambens Interpretation soll es im Aufsatz Zur Kritik der Gewalt – Die Kritik der Macht Benjamins Ziel sein, die Möglichkeit einer Gewalt außerhalb und jenseits allen Rechts zu garantieren, die als solche die Dialektik zwischen der Gewalt, die das Recht begründet, und der Gewalt, die diese erhält (rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt), brechen könnte. Benjamin nennt diese andere Figur der Gewalt die „reine“ oder „göttliche“ und in der menschlichen Sphäre „revolutionäre“ Gewalt. Dies kann das Recht auf keinen Fall tolerieren, dies fühlt es als Drohung, der man unmöglich nachgeben kann. Eine sublimierte Gewalt, die weder Grausamkeit noch Strafen benötigt und daher fähig ist, authentische Gerechtigkeit zu bieten, deren Geltungsbereich und deren Legitimation jenseits der Sphäre der Rache, des Rechts und des Gesetzes liegen: dies ist ebenfalls und hauptsächlich ein Resultat aus der Selbstüberwindung der Gerechtigkeit Nietzsches. In diesem Kontext muss man hinzufügen, dass die Begriffe Erlösung, erlösen, Erlöser auf die Wurzel lös zurückzuführen sind (im alten Griechisch luein, befreien oder entbinden von sexuellen und familiären Banden, wie dies Dionysos tut oder Lusus), und auf Auflösen, einen Ausweg, die Entscheidung oder die Lösung eines Problems hindeuten, wie zum Beispiel auf das willkommene Verschwinden eines Problems. (Gagnebin 1999, S. 198)

In diesem Sinne ist ein Satz Nietzsches vielleicht äußerst produktiv: Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die „Geburt der Tragödie“ war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft … (GD, Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6.160)

Am 16.11.2013 nahm Giorgio Agamben auf Einladung der Gesellschaft Nicos Poulantzas an einer Konferenz in Athen teil, wo er sich genötigt sah, das Ende der Demokratie genau an dem Ort zu überdenken, an dem sie geboren wurde, da das Paradigma des modernen Staates nicht nur nicht demokratisch ist, sondern sogar im ursprünglichen Sinn des griechischen Begriffs als nicht mehr politisch betrachtet werden darf. Aus der Konferenz möchte ich folgende Passage hervorheben:

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Meine Hypothese ist, dass der moderne Staat, der im Zeichen der Sicherheit steht, die Politik in ein Niemandsland abschiebt, dessen Geografie und Grenzen noch unbekannt sind. Der Sicherheitsstaat, dessen Name auf mangelnde Fürsorge verweist (securus kommt von sine cura), sollte uns dagegen besorgt machen um die Gefahren, die er für die Demokratie mit sich bringt. Ein politisches Leben ist darin unmöglich geworden, während Demokratie gerade die Möglichkeit eines politischen Lebens meint. Wenn der Staat, den wir vor uns haben, der beschriebene Sicherheitsstaat ist, müssen wir über die traditionellen Strategien politischer Konflikte neu nachdenken. Was sollen wir tun? Welchen Strategien sollen wir folgen? (Agamben 2015)

Wie ich in diesem Text vorzuschlagen versuchte, sind das Fragen, bei deren Formulierung und vielleicht sogar bei deren Beantwortung uns die Philosophie Nietzsches helfen kann. Eine von Nietzsche inspirierte Strategie wäre zum Beispiel, dem Weg über die Genealogie des Begriffs Demokratie zu folgen, durch den wir uns auf die Höhe der immens schwierigen Aufgabe begeben könnten, diesen Begriff zu definieren.

Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio (1998): Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life. Übers. von Daniel HellerRoazen. Stanford. Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. O Poder Soberano e a Vida Nua I [Souveräne Macht und das nackte Leben 1]. Übers. von Henrique Burigo. Belo Horizonte. Agamben, Giorgio (2015): „Por uma teoria do poder destituinte“. http://5dias.wordpress. com/2014/02/11/, besucht am 15.01.2015. Benjamin, Walter (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt am Main. Escobar, Roberto (2003): Nietzsche Politico. Mailand. Gagnebin, Jeanne-Marie (1999): „Teologia e Messianismo no Pensamento de W. Benjamin [Theologie und Messianismus im Denken Walter Benjamins]“. In: Estudos Avançados, 13.37. Grau, Gerd-Günter (2000): „Selbstaufhebung“. In: Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart/Weimar, S. 324 f. Jung, C. G./Kerényi, Karl (1969): Essays on a Science of Mythology. The Myth of the divine child and the mysteries of Eleusis. Übers. von R. C. Hull. London. Miaille, Michel (1994): Introdução Crítica ao Direito. Lissabon. Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York. Schrift, Alan D. (2000): „Nietzsche for Democracy“. In: Nietzsche-Studien, 29, S. 220–233. Stegmaier, Werner (1992): „Hegel, Nietzsche, Heraklit“. In: Mihailo Djurić/Josef Simon (Hrsg.): Nietzsche und Hegel. Würzburg. Thukydides (1852): Geschichte des peloponnesischen Krieges. Griechisch und Deutsch mit kritischen und erklärenden Anmerkungen. Leipzig. Zittel, Claus (1995): Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche. Würzburg.

IV. Übergänge und Perspektiven des Orientierungsbegriffs

Daniel Krochmalnik

Triskaidekalog Mit dem Jubilar verbindet mich die Erinnerung an einen gemeinsamen Aufbruch. Ich stand am Anfang meiner akademischen Karriere, er auf dem Höhepunkt, er entdeckte im Werk von E. Lévinas das Judentum als Philosophie (vgl. Freyer, Schenk 1996),1 ich suchte nach der Philosophie des Judentums. Aus diesem Zusammentreffen sind eine Reihe von Tagungen und Veröffentlichungen hervorgegangen (Krochmalnik 1998, 1999, 2000). Im Mittelpunkt unserer gemeinsamen Interessen stand der damals öffentlich geführte Streit um Nietzsche und das Judentum. Ein zu wenig beachtetes Moment und Argument in dieser Debatte schien uns das originelle und keineswegs marginale Phänomen des Jüdischen Nietzscheanismus der Generation der vorigen Jahrhundertwende. Was im Rückblick faschistischer Inanspruchnahmen Nietzsches beinahe wie eine Contradictio in adiecto anmutet, erwies sich im Vorblick als eine Perspektive von unabsehbarer philosophischer und literarischer Fruchtbarkeit. Wir waren mit unserem internationalen Symposium zum Jüdischen Nietzscheanismus in Greifswald und dem Band in den Monographien und Texten zur Nietzsche-Forschung (Krochmalnik, Stegmaier 1997) nicht die Ersten, die diesem Phänomen auf der Spur waren, aber wir wollten im Gegensatz zu den mehr literatur- und kulturgeschichtlich orientierten Tagungen und Veröffentlichungen religionsphilosophische Schlussfolgerungen ziehen. Zwingen diese unverhofften Verbindungen eines radikal antireligiösen und eines teilweise noch religiös geprägten Denkens nicht zu einer Revision unserer Vorstellung beider in diese Verbindung eingehenden Bestandteile? Was sich mir jedenfalls damals an der Analyse der hebräischen und jiddischen Adaptationen von Zarathustras Schlachtruf: „Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!“ (vgl. Krochmalnik, Stegmaier 1997, S.  53–81) und seither immer wieder zeigte (vgl. Krochmalnik 2011), ist die religiöse und religionsgeschichtliche Bedeutsamkeit dieses Phänomens. Ich nehme die Gelegenheit dieses Geburtstagsgrußes wahr, um meinem alten Freund den vorläufigen Stand meiner Überlegungen zu diesem Thema öffentlich mitzuteilen.

1 Wir haben uns auf einer Tagung über E. Lévinas kennen gelernt.

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Dekalog Nach einer alten jüdischen Tradition enthält der Pentateuch 613 Ge- und Verbote (MekhJ2 zu Ex 20, 2). Der Talmud versucht die Primzahl 613 zu rationalisieren: „Sechshundertdreizehn Vorschriften sind Moses überliefert worden, 365 Verbote, entsprechend den Tagen des Sonnenjahres, und 248 Gebote, entsprechend den Gliedern des Menschen (nach mOh 1,8)“ (bMak 23b). Man könnte auch sagen: Kein Tag des Jahres ohne Versuchung und kein Glied des Körpers ohne Sendung. Der ganze Mensch wird die ganze Zeit in Gottes Dienst genommen, für diese totale Inanspruchnahme ist die Zahl 613 das Symbol. Die Rabbinen vertraten in Bezug auf diese Zahl überwiegend eine integristische Flächentheorie. Demnach wiegen alle Gebote, die leichten wie die schweren, vor Gott gleich viel (mAw II, 1), die Tora besitzt kein Relief. In diese Richtung geht auch die Körperanalogie, denn das kleinste Organ kann für den Gesamtorganismus genauso unentbehrlich sein wie das größte. Die Tora selber nimmt aber eine Profilierung vor und stellt den Dekalog an die Spitze des Gesetzesberges. Er wird als direkte Gottesrede und -schrift ausgezeichnet und gleichsam als Grundgesetz den anderen Gesetzeskorpora vorangestellt (Ex 20, 20–23, 33, Deut 12–26). Auch die alte Tempelliturgie hob den Dekalog besonders hervor (mTam 5, 1). Philo von Alexandrien betrachtete den Dekalog als Summe und Gliederung des mosaischen Gesetzes (De Decalogo § 19) und teilte die Gesetze nach den 10 Geboten ein (De specialibus legibus IV, § 132). Die Auslegung des Dekalogs als Ordnungsprinzip des Gesetzes fand im Mittelalter auch namhafte Vertreter unter den rabbinischen Juden, wie etwa den Vater der Jüdischen Philosophie, R. Sa’adja Gaon (882 n. – 942 n.). Zu Beginn seines Hymnus Asharot zum Offenbarungsfest (Schawuot, Pfingsten), in dem er die 613 Gebote auflistet, lässt er Gott sprechen: „In meiner Weisheit habe ich in meinen zehn Worten sechshundertdreizehn Gebote zusammengefasst“ (BeChochmati Kallalti BaAsseret Dibrotai Schesch Meot USchlosch Essre Mizwot, Saadja 1979, 191). Ja, eine so überragende rabbinische Autorität wie Raschi (R. Schlomo ben Jizchak, 1040 n.–1105 n.) findet dafür sogar einen ausdrücklichen Schriftbeweis in der Aufforderung Gottes an Mose: „Komme herauf zu mir auf den Berg und bleibe dort; und ich werde dir geben die Tafeln von Stein, mit der Tora und dem Gebot, das ich geschrieben, um sie zu belehren“ (Ex 24, 12). Da Gott, soviel wir wissen, eigenhändig nur das „Gebot“ des Dekalogs schrieb, so folgert Raschi mit

2 Bei der Zitierung der biblischen Bücher und der rabbinischen Literatur folgen wir dem Abkürzungsverzeichnis des Lexikons für Theologie und Kirche (Herder Verlag), das in der Hauptsache dem in der deutschsprachigen Judaistik üblichen Abkürzungsverzeichnis der Frankfurter Judaistischen Beiträge, Heft 1, entspricht und danach ergänzt werden muss.



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Verweis auf Saadjas Asharot, dass die übrige Tora in den Zehn Geboten enthalten sein muss. Die Idee hat übrigens auch unter modernen Exegeten Anhänger (Zenger 2001, 134). Allerdings scheuten die Rabbinen in der Mehrzahl vor einer allzu deutlichen Auszeichnung des Dekalogs aus Angst vor Sektierern (Minim) zurück (bBer 12a). Dabei dachten sie wohl in erster Linie an die Christen (das hebräische Wort Sekte: MJN lasen sie als Abkürzung für Ma’amine Jeschu HaNozri, Gläubige von Jesus Nazarenus), deren Apologeten seit dem 2. Jh. den Dekalog mit dem natürlichen Vernunftgesetz gleich- und von den übrigen 613 Geboten der Tora absetzten. Luthers Kleiner Katechismus ist ein frappierendes Beispiel für diese selektive Aneignung. Er setzte die „heiligen zehn Gebote“ nach Tilgung des Volks- und Landbezuges an den Anfang seines Katechismus (Ex 20, 2 u. 12), den Rest der Gebote aber warf er als „der Juden Sachsenspiegel“ fort. Das widerspricht sicher der Absicht der Bibel, die den Dekalog und das nachfolgende Bundesbuch nicht umsonst mit einer Konjunktion verbindet (We-), um, wie die Rabbinen kommentieren, die Gleichursprünglichkeit und Gleichrangigkeit aller Gebote zu betonen (ebenso Crüsemann 2005, 407–413). Vor die Wahl gestellt: entweder 10 oder 613 Gebote, zogen die Juden die 613 Gebote vor und versuchten jeden Anschein einer Privilegierung der 10 Gebote im Gottesdienst zu vermeiden. Moses Maimonides bestätigt z. B. in einem Rechtsgutachten den Brauch einer babylonischen Gemeinde gegen die damals herrschende Sitte in Bagdad, beim Vortrag der Zehn Gebote am Offenbarungsfest sitzen zu bleiben, damit nicht der irrtümliche Eindruck entstehe, es gäbe Wertabstufungen in den Geboten (Maimonides 1988, Bd. 2, S. 210 f.). In seinem Buch der 613 Gebote und Verbote (Sefer HaMizwot) hebt er die Zehn Gebote folglich nicht aus den 613 Geboten hervor, ja, er verwirft sogar die Zehnernorm des „Zehnwortes“ (Asseret HaDibberot = Dekalog), da schon eine einfache Abzählung der Zehn Gebote mehr als zehn Gebote ergibt, nach Maimonides 16 Gebote, nach dem Verfasser des Buches der Erziehung (Sefer HaChinuch, 13. Jh.), der Maimonides folgt, der aber die 613 Gebote nach der Reihenfolge ihres Auftretens im Pentateuch auflistet, 14 Gebote:3 0. Eingottgebot (I: Anochi H‘ Elohecha, Ex 20, 2; + 1; 25) 1. Fremdgötterverbot (II: Lo-Jihje Lecha, Ex 20, 3; –1; 26) 2. Bilderverbot (II: Lo-Ta’asse Lecha, Ex 20, 4; –2; 27) 3. Verehrungsverbot (II: Lo-Tischtachawe LaHem, Ex 20, 5; –5; 28) 4. Götzendienstverbot (II: Lo Ta’awdem, Ex 20, 5; –6; 29)

3 In der Klammer hinter den Geboten notieren wir durch Semikola getrennt: 1. die lateinische Gebotsziffer und die hebräische Kurzformel der traditionellen jüdischen Gebotszählung, 2. die Nummern und das Vorzeichen des Gebotes im Buch der Gebote des Maimonides und 3. die Nummer des Gebotes im Buch der Erziehung.

296   5.  6.  7.  8.  9. 10. 11. 12. 13.

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Meineidverbot (III: Lo Tissa Et-Schem-H’, Ex 20, 7; –62; 30) Ruhetaggebot (IV: Sachor Et-Jom, Ex 20, 8; +155; 31) Arbeitsverbot (IV: Lo-Ta’asse, Ex 20, 10; –320, +154; 32) Elterngebot (V: Kabed Et-Awicha, Ex 20, 12; +210; 33) Mordverbot (VI: Lo Tirzach, Ex 20, 13; –289; 34) Ehebruchverbot (VII: Lo Tinaf, Ex 20, 13; –347; 35) Menschenraubverbot (VIII: Lo Tignow, Ex 20, 13; –243; 36) Falschzeugnisverbot (IX: Lo-Ta’ane, Ex 20, 13; –285; 37) Eigentumsschutz (X: Lo Tachmod Ex 20, 14; –265, –266; 38)

Blicken wir von hier aus noch einmal auf den exegetischen Befund zurück. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Schrift den Dekalog als Korpus auszeichnet: durch die runde Zahl 10, durch den Anfangsreim „Nicht – sollst Du“ (Lo –), durch die kompakten Steintafeln. Nicht zu Unrecht hat man den Dekalog als „Katechismus der Hebräer in mosaischer Zeit“ bezeichnet (H. Greßmann) – an den zehn Fingern abzählbar, aus den wie ein Buch geöffneten Händen ablesbar, in beiden Herzkammern einschreibbar. Nichtsdestotrotz ist der Text des Dekalogs alles andere als einheitlich: er wechselt vom Du- zum Er-Stil (2.), von negativen zu positiven Gebotsformulierungen (4. u. 5.), von arbiträren zu motivierten und kommentierten Geboten, von äußerster Prägnanz zur Redundanz (das 10. überschneidet sich mit dem 7., das 9. mit dem 3.). Sogar das weltberühmte Icon der Zehn Gebote, ein Doppelbogen mit zehn gleichmäßig verteilten lateinischen Ordnungszahlen, ist unhaltbar. Denn die gewöhnliche Aufteilung in fünf Gebote pro Tafel ergäbe ein extremes Ungleichgewicht zugunsten der ersten Tafel. Diese Uneinheitlichkeit ist auch den traditionellen Auslegern nicht völlig entgangen, auch sie merkten, dass hier bisweilen zusammengezählt wird, was gar nicht zusammengehört. Das gilt z. B. schon für das 1. Gebot und die übrigen Gebote. Der Vers: „Ich (bin) der Herr (JHWH), dein Gott, der ich dich herausgeführt aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20, 2), wird in der jüdischen Zählung im Sinn von: „Ich der Herr (JHWH) bin bzw. sei dein Gott…“ aufgefasst und als 1. Gebot gezählt. Doch der überlieferte Text der Dekalogeröffnung unterstützt diese Auffassung nicht. Die Masoreten fassen diesen Vers wie die Katholiken und Lutheraner mit dem folgenden Gebot („Du sollst keine Fremden Götter haben“) zu einem Abschnitt und in der hohen Kantillation der solemnen Rezitation der Synagoge (Ta’am Eljon) sogar zu einem einzigen Gebot zusammen, etwa in dem Sinne: „Außer mir, dem Herren (JHWH), deinem Gott, der dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat, sollst Du keine anderen Götter haben (…)“. Diese Akzentsetzung spiegelt die rabbinische Doktrin wieder, wonach die Annahme des „Jochs der Gebote“ (Ol Mizwot) notwendig die Annahme des „Jochs der Gottesherrschaft“ (Ol Malchut Schamajim) voraussetze



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(vgl. MekhJ z. St.). Auch in der neueren Bibelwissenschaft sprechen sich gewichtige Stimmen für eine Zusammenlegung der beiden ersten Gebote aus (Gese 1974, S. 73), oder besser gesagt, der Einleitungsformel (Ex 20, 2) und der Gebotsformel (Es 20, 3 ff). Schon die älteren Ausleger ahnen, dass Exodus 20, 2 kein Gebot sein kann, so Moses Nachmanides in seinen Einwänden gegen Maimonides’ Zählung von Exodus 20, 1–2 als 1. Gebot (Hassaga zur Mizwa +1). Moses Mendelssohn argumentiert, dass Glaube nicht befohlen werden könne (Mendelssohn 1983, JubA 8, S. 164–167 u. Biur zu Ex 20, 2, Mendelssohn 2009, JubA 9, 3, S. 208–211). Hier liegt augenscheinlich ein Kategorienfehler vor, Exodus 20, 2 ist wie bei den Anglikanern und Reformierten als Präambel zu den Geboten und nicht als Gebot anzusehen, weshalb es in unserer Liste die Nummer 0 bekommt. Blieben also in den 13 Versen des Dekalogs (Ex 20, 2–14 nach der jüdischen Zählung) genau 13 Gebote. Übrigens räumen auch die Verfechter der Flächentheorie Exodus 20, 2 eine Sonderstellung ein: Maimonides gibt dem 1. Gebot in seinem Buch der Gebote den Ehrenplatz (+1) und das Buch der Erziehung charakterisiert es als „Fundament der Religion“ (Jessod HaDat, Nr. 25).

Dekalogevangelium Die Erkenntnis der Andersartigkeit von Exodus 20, 2 und die Strukturzahl 13 sind für unsere Interpretation des Dekalogs ausschlaggebend. Der Vers Exodus 20, 2 enthält als Präambel den hermeneutischen Schlüssel zum gesamten Dekalog, er ist gewissermaßen das Evangelium zum Gesetz. Der ganzheitliche Auslegungsansatz kann sich wiederum auf den rabbinischen Kommentar zum Vers Ex 20, 1 stützen: „Da redete Gott alle diese Worte (Et Kol-HaDewarim HaEle,). Die Rabbinen verstehen die All-Aussage so, „dass Gott (alle zehn Worte) in einem Wort sagte, was für den Menschen unmöglich ist“ (MekhJ 4 in fine u. Raschi z. St.). Was Gott mit einem Wort gesagt hat, müssten die Menschen aber wenigstens mit einem Begriff denken können. Auch moderne Bibelwissenschaftler fordern, dass man den Dekalog als Text aus einem Stück betrachtet, so schreibt Gese in seinem Beitrag: „Die Komposition muss als Ganzheit verstanden werden; nur als Ganzheit hat ein solches Dokument seinen Sinn“ (Gese 1974, S. 68). Gese benutzt für seine Deutung zwar einen etwas anderen hermeneutischen Schlüssel, der holistische Ansatz hat sich aber auf breiter Front durchgesetzt (Dohmen 1996, 189 f.). Die frohe Botschaft deutet sich schon in der sogenannten „Selbstvorstellungsformel“ (SF) an: „Ich bin JHWH“, das wird häufig mit der Ankündigung der Befreiung oder der Erinnerung an sie ergänzt (Ex 6, 2. 6, W. Zimmerli 1963, 20ff.). Man könnte sagen, wo Gott sich im Alten Testament ein- und vorstellt, da folgt schon bald

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der Befreiungsruf: „Let my people go!“ (z. B. Ez 20, 5–6). Der Kontext bestätigt die befreiungstheologische Deutung des Dekalogs. Ihm folgt das sogenannte Bundesbuch auf dem Fuß, das mit einem Slavery Abolition Act beginnt: „So du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre dienen, und im siebenten soll er ausgehen zur Freiheit (LaChofschi) ohne Lösegeld“ (Ex 21,2). Eine kühne rabbinische Umlautung entdeckt noch in den steinernen Gesetzestafeln den Ruf der Freiheit; es heißt: „,Schrift Gottes, eingegraben (Charut) in die Tafeln‘ (Ex 32, 16): Lies nicht (Al-Tikre) ‚Charut‘, ‚eingegraben‘, sondern: ‚Cherut‘, ‚Freiheit‘“ (mAw6,2). Das Wort „Cherut“, Freiheit kommt allerdings im Dekalog selbst nicht vor, auch die Sache scheint zu fehlen. Anders als in modernen Verfassungen werden keine Freiheiten und Rechte deklariert. Ganz im Gegenteil, mit der massiven Einschüchterung bei der Verkündigung des Dekalogs scheint der Gesetzgeber es eher auf Furcht als auf Freiheit abzusehen (Ex 20, 17). Das Volk am Fuß des Gesetzesberges schlottert vor Angst vor dem neuen Pharao, dem „eifersüchtigen Orientalen im Himmel“ (Fr. Nietzsche). Eher schon gliche der Tanz der Gesetzesbrecher ums Goldene Kalb einem orgiastischen Freiheitsrausch. Andererseits erzählte die ganze Vorgeschichte zum Dekalog vom Ausgang aus der Sklavenhütte ins Freie und es liegt in dieser Perspektive nahe, den Dekalog als Manifest einer Befreiungsbewegung zu sehen. Kommt der Begriff der Freiheit nicht expressis verbis vor, so doch gleich eingangs sein Gegenbegriff: Sklaverei. Gewiss, von Grundfreiheiten im modernen Wortsinn, also von „meinen“ unveräußerlichen Grundrechten, ist im Dekalog nicht die Rede, dafür umso mehr aber von „meinen“ unabweisbaren Grundpflichten – und somit indirekt von „deinen“ Grundrechten. Das große göttliche „Ich“ (Anochi) – das erste Wort des Dekalogs – nimmt mich mit seinen „Du sollst!“ und „Du sollst nicht!“ in die Pflicht und schützt damit die Freiheit meines „Nächsten“ (Rea) – das letzte Wort des Dekalogs. Weil aber die Freiheit meines Nächsten nicht ohne Einschränkung meiner pharaonischen Willkür möglich ist, baut die Sinaiperikope eine spektakuläre Drohkulisse auf, so dass die zehn Gebote gar nicht so selten mit den zehn Plagen verwechselt werden. Meine Freiheit wird aber auch in dieser furchterregenden Inszenierung insofern vorausgesetzt, als der Dekalog zwar mit Nachdruck fordert, was ich tun und lassen soll, was ich aber ebenso gut auch lassen oder tun könnte. Die Einschüchterung, die in damaligen Lehnsund Vasallenverträgen üblich war, ändert nichts daran, dass die Freigelassenen als Freie in den Bund eintreten. Martin Buber hat gegen die übliche Verrechtlichung des Dekalogs auf den persönlich ansprechenden Du-Stil und auf die fehlenden Strafen aufmerksam gemacht (Was soll mit den zehn Geboten geschehen?, Buber 1964, S.  897–899). Auf seiner Linie müsste man die zehn Gebote als Belehrung, als Weisung, als chemins de la liberté verstehen und anstatt im Imperativ im Indikativ konjugieren: „Du wirst!“, „Du wirst nicht!“



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Dekaloginterpretation In unserer Interpretation des Dekalogs als Auszug aus der Sklaverei machen wir uns die in der jüdischen Tradition heilige Strukturzahl 13 zunutze. Die Gebote lassen sich drei Kategorien zuordnen: Pflichten gegen Gott, Pflichten gegen die anderen und Pflichten gegen mich selbst. Die ersten fünf Verbote betreffen das Verhältnis zu meinem Befreier, die letzten fünf zu den anderen Befreiten und die drei zentralen Gebote zu mir, bzw. zu den von mir Abhängigen, meine Eltern und Hausgenossen. 1. Gebote 1–5 gegen Gott (Bejn Adam LaMakom) 2. Gebote 6–8 gegen mich (BejnAdam UWejn Azmo) 3. Gebote 9–13 gegen den Nächsten (Bejn Adam LeChawero) Die ersten fünf Gebote verlangen, dass ich mich keiner anderen Macht der Welt außer meinem Befreier beuge (1 – 4). Sie schützen aber andererseits auch dessen Freiheit vor meinen Übergriffen (5). Die letzten fünf Gebote schützen die Freiheit des freien Genossen, indem sie mir die Güter verbieten, die er für ein Leben in Freiheit und Würde braucht: sein Leben (9), seine Familie (10), seine Bewegungsfreiheit (11), sein Recht (12) und sein Besitz (13). Dazu einige Ausführungen: Ehebruch (10) heißt in eine fremde Familie einbrechen, daher dient das Ehebruchverbot dem Schutz der Familie (Gese 1974, S. 76). Sowohl die jüdische Tradition, als auch die Bibelwissenschaft beziehen ferner den Diebstahl aus der Reihe der Kapitalverbrechen der zweiten Tafel (11) nicht auf Sachen, sondern auf Menschen, worauf auch sonst die Todesstrafe steht (Ex 21, 16; Deut 24, 7). Hier ist also von Menschenraub und von Versklavung die Rede (Gese 76 f. u Anm 47 u. 48). Da der Zeuge im biblischen Rechtsverfahren zugleich Ankläger und Henker war, bedeutet Falschzeugnisverbot (12) ferner nichts anderes als Rechtsschutz (Gese 1974, S. 75). Beim letzten Verbot geht es sicher nicht bloß um ein Wunsch- und Neidverbot, sondern um den vollendeten Vorsatz zum Übergriff auf fremdes Eigentum, wie der Sprachgebrauch in Micha 2, 2 beweist: „Und sie gelüsten (Chamdu) nach Äckern und rauben sie (Gaslu)“ (Gese 1974, S. 75). Die insgesamt sieben im letzten Gebot aufgezählten Güter bilden den Begriff „Haus des Nächsten“ (Bet Re’echa), das somit als Ganzes unter Schutz gestellt wird. Die drei zentralen Gebote (6–8) fordern die positive Verwirklichung meiner Freiheit bzw. der Freiheit der Meinen. Der Ruhetag und das Elterngebot sind Repliken zu den in der Dekalogeröffnung unter den Titeln „Sklavenhaus“ (Bet Awadim) und „Land Ägypten“ (Erez Mizrajim) zusammengefassten Erfahrungen der Unfreiheit. Das Ruhetaggebot (6) und das Arbeitsverbot (7) fordern, dass ich mir im Gegensatz zum ununterbrochenen Arbeitszwang im „Sklavenhaus“,

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regelmäßig jene Freizeit nehme und meinen Hausgenossen gönne, die bereits im Schöpfungsplan dafür vorgesehen ist (Gen 2, 1–3). So wird mein Haus mit meinen sieben freien Hausgenossen: Sohn und Tochter, Knecht und Magd, Vieh und Fremder und mir selbst (Ex. 20, 10), an jedem siebten Tag zu einem „Haus der Freiheit“, wo man dankbar des Auszugs aus der Knechtschaft gedenken (Deut 5, 15) und aufatmen kann (Ex 31, 17). Den Feiertag, das einzige Ritualgebot in der Mitte des Triskaidekalogs könnte man, wenn die Etymologie nicht falsch wäre, „Freitag“ nennen, eine echte Fiesta de la libertad. Auch beim Elterngebot (8) geht es um mein Haus und Land. Im Gegensatz zum Land Ägypten ist das Land Israel nicht Staatsland (Gen 47, 18–22), sondern Stammland (Jos 13, 7–19, 51), es wird nicht durch Sklaven (Gen 47, 23–25), sondern durch freie Familienverbände bewirtschaftet und vererbt. Die Solidarität zwischen den Generationen, namentlich die Altersversorgung der Eltern, in deren Genuss im Alter zu kommen auch ich rechnen darf, garantiert die Stabilität des Erbes. Darum steht auf solche substanzielle Ehrung der Eltern im Dekalog nicht zufällig die Verheißung, „damit deine Tage lang werden in dem Lande, das der Herr dir gibt“ (Ex 20, 12). Zusammenfassend: Der Dekalog ist eine Magna Charta der Freiheit, die die Freigelassenen zu einem freien Volk verbindet, sie stellt das utopische „Haus der Freiheit“ dem „Sklavenhaus“ entgegen. Die Gottesgebote und die Sozialgebote sind eng miteinander verknüpft:4 die Autorität des Befreiers schränkt meine Willkür ein und nimmt die anderen Freien vor meinen „pharaonischen“ Herrschaftsgelüsten in Schutz. Damit wird aber auch „meine“ Freiheit geschützt, weil mit dem „Du“ jeder angesprochen wird, auch derjenige, dem ich der Nächste bin. Der Dekalog ist gemäß seiner Präambel ein Auszugsprogramm, mit ihm soll der Auszug aus Ägypten auf Dauer gestellt und vor dem dauernd drohenden Rückfall in das ewige und allgegenwärtige „Ägypten“ schützen.

4 In der jüdischen Tradition werden die Pflichten gegen Gott (Bejn Adam LaMakom) und die letzten fünf als Pflichten gegen den Nächsten (Bejn Adam LeChawero) gegenübergestellt und verbunden: dem Eingottgebot das Mordverbot, dem Fremdgötterverbot, das Ehebruchverbot usw.. Den Zusammenhang des 1. und des 6. Gebotes begründen die Rabbinen z. B wie folgt. „Im (ersten Gebot)“, sagen sie, „steht geschrieben: ‚Ich bin der Herr, dein Gott‘ und ihm gegenüber steht geschrieben: ‚Du sollst nicht morden‘. Die Schrift zeigt hiermit an, daß jedem, der Blut vergießt, die Schrift es anrechnet, als ob er die Gestalt des Königs der Welt selbst herabgesetzt hätte. Dies ist mit einem König von Fleisch und Blut zu vergleichen, der in eine Stadt einzog und dem man Abbilder und Bildsäulen aufstellte und Münzen prägte. Nach einer Zeit stürzte man seine Abbilder um, zerbrach seine Bildsäulen, vernichtete seine Münzen und setzte so die Gestalt des Königs herab. Ebenso wer Blut vergießt. Die Schrift rechnet es ihm an, als verminderte er die Gestalt des Königs der Welt, denn es heißt doch (in der Genesis): ‚Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden, denn im Ebenbilde Gottes hat er den Menschen geschaffen‘ (Gen 9, 6)“ (MekhJ BaChodesch 8).



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Wählt man nicht das 1. sondern das 10. Gebot als hermeneutischen Schlüssel zum Dekalog, dann wird ein psychologischer Aspekt der Freiheit zum Hauptthema des Ganzen, während der politische Aspekt in den Hintergrund tritt. Diesen Schlüssel benutzt z. B. Moses Mendelssohn in seinem Torakommentar. Er führt aus, dass die Zehn Gebote nach abnehmendem Schweregrad, andererseits nach zunehmender Übertretungswahrscheinlichkeit angeordnet sind. Ebenso lässlich wie häufig ist die Übertretung des 10. Gebotes, des Wunsch- und Neidverbotes. Die Übertretung dieses Verbotes bringt uns aber auf eine schiefe Bahn, die bis zur Übertretung des 1. Gebotes führen kann. Mendelssohn schreibt: Wer nach etwas, das nicht sein ist, keine Begierde empfindet, wird seinen Nächsten niemals schädigen. Denn der Begierde wegen kommt der Mensch dahin zu verleugnen, zu lügen, zu stehlen, zu morden, die Ehe zu brechen, den Ruhetag und alle Feiertage zu entweihen und seine Eltern zu missachten, und er kommt dahin, die Geschöpfe zu hassen und ihnen missgünstig zu sein. Wer aber kein Begieriger ist, der liebt die Geschöpfe und ehrt sie. Er entfernt aus seinem Herzen die Sorgen und Kümmernisse und Seufzer und vertraut auf den Ewigen, seinen Gott, daß er ihn versorgen wird, und wirft auf ihn sein Begehr (Mendelssohn 2009, JubA 9, 3, S. 226, 20–27).

Das ist scheinbar auch die Meinung der Bibel, sie sah in der Übertretung des 10.  Gebotes den „Sündenfall“. Das teilt sie uns aber nicht als Dogma, sondern wie üblich zwischen den Zeilen mit. In der Wiederholung des Dekalogs ist gerade dieses Gebot leicht verändert. Heißt es im Exodus zweimal: „Du sollst nicht begehren (Lo Tachmod)“ (Ex 20, 14), so heißt es im Deuteronomium einmal: „Du sollst nicht begehren (Lo Tachmod)“ und einmal „Du sollst nicht lüstern sein (Lo Titawe)“, (Deut 5, 18). „Begehren“ (Chemda) und „Gelüsten“ (Ta’awa) sind aber genau jene Ausdrücke in der Paradies- und Fallgeschichte mit denen die Verführung beschrieben wird. Vom verbotenen Baum heißt es dort: Ta’awa Hu LaEnajim WeNechmad (eine Lust für die Augen und begehrenswert, Gen 3, 6). An diese scheinbar lässliche Übertretung knüpft die biblische Urgeschichte die Vertreibung aus dem Paradies und das ganze Verhängnis von Flüchen und Todsünden der Menschheit, die mit den paradigmatischen Namen Kain und Abel, Sintflut und Babelturm, Sodom und Gomorra bezeichnet werden. So gesehen ist der Dekalog eine Rückfahrkarte nach Eden und es ist ja bezeichnend, dass der Schabbat nach der ersten Version des Dekalogs nicht der Erinnerung der Befreiung aus der Sklaverei gewidmet ist (Secher LiZijat Mizrajim, Deut 5, 15), sondern der Ruhe nach der Schöpfung (Sikaron LeMa’asse Bereschit, Ex 20, 11).

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Dekalogversionen Gegen unsere einheitlichen Interpretationen des Dekalogs als Entfaltung der Freiheitsidee steht aber nun wieder der exegetische Befund. Abgesehen von seiner bereits angesprochenen inneren Uneinheitlichkeit enthält der Pentateuch mehrere, keineswegs deckungsgleiche Dekalogversionen. Neben der nahezu inhaltsgleichen Dekalogwiederholung (Deut 5, 6–18), gehören dazu ferner die Kopie des zertrümmerten Dekalogs (Ex 34, 1. 11–24 bzw. 26), die Zusammenfassung des Heiligkeitsgesetzes (Lev 19, 1–37), von dem die Rabbinen sagten, dass in ihr die zehn Gebote enthalten seien (Asseret HaDiberot Kulin Betocha, LevR 24, 5), sowie der Fluchdodekalog (Deut 27, 15–26). Da diese „Dekaloge“ auch erheblich voneinander abweichen, wird seit Goethes gescheiterter Straßburger Dissertation über die Zehn Gebote die Frage diskutiert: „Was stund auf den Tafeln des Bunds?“ Immerhin haben diese Dekalogversionen einige Gemeinsamkeiten: 1.  den Berg (Ex 19, 11: Sinai; Deut 5, 2: Chorew, Deut 27, 4: Ebal, Deut 27, 12: Garizim), 2. die Steintafeln (Ex 24, 12; Deut 27, 2 ff.), 3. eine Zehnernorm (Ex 20, 1 ff., Deut 5, 6–18; Ex 34, 28; auch der Fluchdodekalog hat zehn Abschnitte, Deut 27, 15–26), 4. die Selbstverpflichtungen des Volkes (Ex 20, 8; 24, 3; Deut 27, 15), 5.  die Bundesschlüsse (Ex 19, 5; 24, 8; 34, 7; Jos 24, 26) sowie 6. zahlreiche inhaltliche Überschneidungen. Wir haben es offensichtlich mit wiederholten Versuchen zu tun, das ganze Gesetz auf wenige Grundgesetze zurückzuführen, dabei erweist sich der felsenfeste Dekalog als plastische Form, die je nach Bedarf umgemodelt wird. Die Dekalogkopie nach dem Sündenfall des goldenen Kalbes kreist z. B. ausschließlich um das 2. Gebot. Im Zentrum steht jetzt der Situation entsprechend das Verbot: „Gegossene Götter(bilder) sollst Du dir nicht machen“ (Ex 34, 17). Davor warnt dieser Dekalog vor der verführerischen Macht fremder Kulte (Vers 11–16), danach entfaltet er folgerichtig den eigenen Kultkalender – mit Gott allein zustehenden Opfertarifen an Feldfrüchten und Tieren (Vers 18–24). So als ob das Scheitern des „ethischen“ Dekalogs und der vollzogene „Fremdkult“ (Awoda Sara) einen „kultischen“ Dekalog notwendig gemacht hätte, der einem Rückfall ins Heidentum vorbeugt. In der Summe des priesterlichen Heiligkeitsgesetzes (Lev 19, 1–37) werden die Ritual-, Moral- und Sozialimperative, die im Dekalog buchstäblich wie Blitze ins Gewissen einschlugen, aus der Heiligkeit Gottes begründet: Heilig sollt ihr sein, weil heilig bin ich, der Herr, euer Gott. Damit folgt diese Gebotsliste dem Modell des 4. Gebotes, wonach der Schabbat zu heiligen ist (Ex 20, 8), weil Gott ihn heiligt (Ex 20, 11). Insbesondere die Moral- und Sozialgebote, die im Dekalog ohne Gottesbezug dastehen (Ex 20, 13 – 14), werden hier stets mit der Selbstvorstellungsformel Gottes geboten: „Ich bin der Herr!“ (‫)אנכי ה׳‬. Die beiden Abschnitte (Petuchot) des 19. Kapitels sind abgesehen von der Über- und Unterschrift (Lev 19,



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2. 37) in je sieben „Gesetzesstrophen“ gegliedert, die jedes Mal mit dem nahezu gleichen Refrain: „Ich bin, der Herr“ schließen. Die erste Siebenerreihe, gipfelt nach vier Strophen gegen Betrug, Ausbeutung, Rechtsbeugung und Nächstenhass (19,  11–18) in der exakten Textmitte, in eine Art Summe der Summe des Gesetzes – das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19, 18b) (vgl. Krochmalnik 2014). Im Gegensatz zur recht uneinheitlichen Liste von Exodus 20, bietet Lev 19 eine einheitliche Konzeption, die alle Gebote aus der Selbstvorstellung Gottes im ersten Gebot ableitet (Lev 19, 36), wobei Auszug aus Ägypten hier Zug in die Abgeschiedenheit und Absonderung der Gottesnähe meint (Ex 3, 12). Der Fluchdekalog wird hingegen mit Blick auf den Eisodos ins Land Israel geboten (Deut 27). Nach der politischen Grenzüberschreitung soll sich das Volk feierlich zur Achtung der moralischen Grenzen verpflichten. Dabei liegt der Fokus der Flüche auf Handlungen, die außerhalb der sozialen Kontrolle im privaten und intimen Bereich des Hauses, des Grundstücks, der Familie, des Bettes geschehen (Deut 27, 15. 25). Man könnte auch sagen, die Essentials werden hier noch einmal nach dem 10. Gebot, dem Wunschverbot, durchdekliniert. Nach der jüdischen Tradition gibt es freilich nur einen Dekalog und die abweichenden Versionen müssen als verschiedene Formen desselben Inhalts erklärt werden. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Harmonisierung des 4.  Gebotes, das im Dekalog „Gedenke (Sachor) des Ruhetages“ (Ex 20, 8) und in der Dekalogwiederholung: „Hüte (Schamor) den Ruhetag“ (Deut 5, 12) lautet. Das sind scheinbar ganz verschiedene Imperative: „Gedenke!“ fordert zum Nachvollzug eines „Denkmals“ auf, „Hüte!“ zum Schutz vor Ruhestörung. Die Rabbinen meinen jedoch, dass beide Worte in der Gottessprache in einem einzigen Wort geäußert wurden, nur in der Sprache des Menschen, die nicht gleichzeitig ein Ge- und ein Verbot, ein Ja und ein Nein artikulieren könne, seien daraus zwei verschiedene Worte geworden, wie der Psalmvers sagt: „Eines hat Gott geredet, zweierlei habe ich vernommen“ (Achat Diber Elohim Schtajim Su Schamati, Ps 62,  12, MekhJ zu Ex 20, 8). Aber die Worte, die Gott gleichzeitig sprach, müssen vom Menschen, wie schon gesagt, wenigstens gleichzeitig gedacht werden können. „Gedenken“ und „Hüten“ sind in der Tat wie zwei Seiten der gleichen Medaille, besser noch wie Umfang und Flächeninhalt eines Kreises. Durch die Verbote wird der Ruhetag negativ von den Werktagen abgegrenzt und durch die Gebote positiv ausgefüllt. Nur beides zusammen – das zu Unterlassende und das zu Tuende – ergibt den ganzen Sabbat. Man könnte auch sagen, dass in diesem Fall die beiden Dekalogversionen, die beiden Seiten der Freiheit, die negative Freiheit von und die positive Freiheit zu, formulieren. Es ist freilich zweifelhaft, ob sich alle Widersprüche und Abweichungen zwischen den Dekalogversionen so elegant harmonisieren lassen. Immerhin kann man die Auflösung der Widersprüche als unendliche hermeneutische und exe-

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getische Aufgabe auffassen; der eine Gott kann nicht zwei verschiedene Dekaloge erlassen haben! Die Bibelkritik erklärt die Inflation der Dekalogversionen anders, für sie gibt es so viele verschiedene Deka- bzw. Heptaloge oder Dodekaloge wie es Quellen des Pentateuchs gibt, nämlich vier: „Elohist“ (E) – Ex 20, „Jahwist“ (J) – Ex 34, „Deuteronomist“ (D) – Deut 5, „Priesterschrift“ (P) – Lev 19. Die ursprünglich verschiedenen Versionen seien erst nachträglich in die biblische Erzählschiene eingehängt worden. Die Bibelkritik ist an einer Dekalog-Harmonie nicht interessiert. Aus den Unstimmigkeiten will sie vielmehr die Entwicklungsgeschichte des Dekalogs rekonstruieren. Der junge Goethe, der alte Wellhausen und der Antisemit Houston Stewart Chamberlain sahen z. B. in der ritualistischen Dekalogkopie (Ex 34) die gensiojüdische Urform des Dekalogs und im ethischen Dekalogoriginal (Ex 20, Deut 5) die protochristliche Endform des Dekalogs. Für die ältere Bibelkritik stellen die Dekalogversionen demnach Dekalogrevisionen dar, die den Fortschritt in der Freiheit vom Gesetz und vom Judentum markieren. Der zionistische Nietzscheaner Micha Josef Berdischewski suchte hingegen nach der chtonischen Urform des Dekalogs und fand sie in den Flüchen des Dodekalogs, die er als eine in die mosaische Wüstenzeit zurückprojizierte josuanische Gesetzgebung der Landnehmer und -besitzer durchschaute, „die wohl die Grundlage (…) der jüdischen Religion als solcher gebildet“ habe (Bin-Gorion 1926, S. 479). In dieser verfallsgeschichtlichen Perspektive wären die anderen Dekalogversionen Entfremdungen vom landgebundenen Leben, Produkte der Entwurzelung im Exil. An diesen Beispielen erkennt man, dass die Bibelkritik nicht weniger tendenziös ist als die Bibelharmonik.

Dekalogrevisionen Katechismen jedweder Richtung geben sich gerne die Form eines Dekalogs, auch dann, wenn sie gegen die ursprünglichen Adressaten, ja, gegen den ursprünglichen Dekalog gerichtet waren. Um hier nur zwei oder drei besonders krasse Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu erwähnen: 1926 veröffentlichte der Deutsche und Österreichische Alpenverein (DuÖAV), der gerade den Arierparagraphen verabschiedet hatte, 10 Bergsteigergebote gegen die Verschandelung der Bergwelt (Mitteilungen 1926, Nr. 13, S. 148 ff.). Sogar die Wehrmacht schrieb 1942 dem deutschen Soldaten 10 Gebote ins Soldbuch. Sie beginnen nicht, wie man in Anbetracht von Vernichtungskrieg und Völkermord erwarten würde, mit einem Mordgebot, vielmehr: „Kein Gegner darf getötet werden, der sich ergibt, auch

nicht der Freischärler (…). Kriegsgefangene dürfen nicht misshandelt oder



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beleidigt werden.“ Schließlich verkündete auch die SED auf ihrem 5. Partei-

tag (1958) 10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik, wovon das 10. besagt: „Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden (…) Völkern üben“ – es sei denn, so möchte man hinzufügen, es handelte sich um die „nationale Befreiung“ des eigenen oder des jüdischen Volkes – „Zionismus“ galt in der DDR als Häresie. Diese eher komischen modernen Imitate stehen am Ende einer langen Reihe von Dekalogrevisionen. Jesus überbietet Moses: „Ihr habt  gehört, dass zu den Alten gesagt wurde (Ekúsate óti erréthe tois archaíois): Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch (egò dé légo hymin): ein jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein.“ (Mat 5, 21. 22). Jesus predigt nach Matthäus eine Verschärfung und Verinnerlichung der zweiten Tafel des Dekalogs, eine elitäre Ethik für fromme Gipfelstürmer. Man könnte auch sagen, der Berg der Predigt ist ein Über-Sinai, Jesus ein Über-Moses und der Christ – ein Überjude. Eine noch höhere Überbietung des Dekalogs in punkto Wahrhaftigkeit und Redlichkeit fordert Zarathustra, Nietzsches „Zarathustra“. In der „entscheidenden Partie“ seiner neuen „Heilgen Schrift“ – Also sprach Zarathustra, die „Von alten und neuen Tafeln“ überschrieben ist, fordert dieser neue Prophet im Alpenhochland: „Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!“ (III, 7 u. 10). Seine neuen Tafeln kehren Punkt für Punkt die alten Tafeln um. Wir stellen Tafeln und Gegentafeln Punkt für Punkt gegenüber. I. Mose: „Ich bin der Herr dein Gott“ (Ex 20, 1) Zarathustra: „‚Dies eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott gibt!‘“. II. M: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (Ex 20, 3) – I Z: „ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersüchtiger, vergaß sich also: – Und alle Götter lachten damals und wackelten auf ihren Stühlen und riefen: ‚Ist das nicht eben Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott gibt?‘“ 5.

5 Za III, Von den Abtrünnigen 2, KSA 4.230.

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III. M: „Du sollst nicht aussprechen den Namen des Herren deines Gottes zum Falschen“ (Ex 20, 7). – Z: „Was hat er uns darob gezürnt, dieser Zornschnauber, dass wir ihn schlecht verstünden!“6. V. M: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ (Ex 20, 12) Z: „An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr eurer Väter Kinder seid“7. VI M: „Du sollt nicht morden“ (Ex 20, 13; Mat 5, 21 ff.) – Z: „Ist in allem Leben selber nicht (…) Totschlagen?“8. VII M: „Du sollst nicht die Ehe brechen“ (Ex 20, 14; Mat 5, 27 ff.) Z: „Besser noch Ehebrechen als Ehe-biegen, Ehe-lügen“9. VIII. M: „Du sollst nicht rauben“ (Ex 20, 15) Z: „Ist in allem Leben selber nicht rauben?“10. X. M: „Du sollst nicht begehren“ (Ex 20, 17) Z: „Ihr sollt nicht wollen! Das ist eine Predigt zur Knechtschaft“11. Diese Tabelle enthält die Umwertung der Werte. Mitten im 2. Weltkrieg veröffentlichte der Regisseur Armin Robinson das Buch Die zehn Gebote. Hitlers Krieg gegen die Moral in New York, mit zehn Erzählungen von emigrierten Autoren, die jeweils einen Gebotsverstoß in Nazideutschland schildern. Den Reigen eröffnete Thomas Mann mit seiner Novelle Der Mann Moses. Die Idee zum Buch stammte von dem ehemaligen Hitler-Vertrauten, Hermann Rauschning. Im

6 Za IV, Ausser Dienst, KSA 4.324. 7 Za, III Von alten und neuen Tafeln 12. 8 Za III, Von alten und neuen Tafeln 10. 9 Za III, Von alten und neuen Tafeln 24. 10 Za III, Von alten und neuen Tafeln 10. 11 Za III, Von alten und neuen Tafeln 16.



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Vorwort schildert er eine Szene, die sich kurz nach der Ermächtigung Hitlers in der Reichskanzlei abgespielt haben soll. Nach einer Filmvorführung habe sich der Führer im Kreis seiner Vertrauten in einen seiner gewohnten hysterischen Ausbrüche hineingesteigert: „Dieses teuflische ‚Du sollst, du sollst!‘ Und dann dieses törichte ‚Du sollst nicht!‘ Das muss endlich aus unserem Blut verschwinden, dieser Fluch vom Berg Sinai. (...) Was gegen die Natur ist, ist gegen das Leben selbst. (...). Du sollst nicht stehlen? Falsch! (...) Alles Leben ist Diebstahl. (...) Der Tag wird kommen, an dem ich den Geboten die neuen Gesetzestafeln entgegenhalten will“ (Robinson 1988, S. 12). Es gibt begründete Zweifel an der Glaubwürdigkeit Rauschnings, aber Hitler und seine Weltanschauungskrieger haben sich haargenau an diese Werttabelle gehalten. Im Warschauer Ghetto kannten schon kleine Kinder diese Neuen Tafeln. Von einem fast verhungerten Achtjährigen ist folgender Schrei überliefert: „Ich will rauben und stehlen. Ich will essen. Ich will ein Deutscher sein!“ (ebd., Donta, S.  12) Hitlers „neue Gesetzestafeln“ mit der Lizenz zum Töten und zum Rauben standen die alten Tafeln und ihre Träger im Weg. Gunnar Heinsohn geht in seinem Buch „Warum Auschwitz?“ nicht weniger als 42 Theorien zur Erklärung des Holocaust durch und kommt zu dem Schluss, dass die Juden vor allem als Verkörperung des Tötungsverbotes verfolgt wurden: „Hitler“, so Heinsohn, „hat versucht, mit der genozidalen Ausrottung der jüdischen Ethik aus dem deutschen Volk einen entscheidenden strategischen Vorsprung für das globale Völkerringen zu gewinnen“. Die deutschen Bischöfe brauchten lange, um angesichts von Hitlers „Nomoszerstörung“ (E. Jünger) die Worte vom Sinai zu bekräftigen. Zehn Jahre nachdem die Deutschen Christen 1933 im Berliner Sportpalast die Abschaffung des Alten Testamentes als „Judenbuch“ gefordert hatten, ließen die Deutschen Bischöfe endlich einen DekalogHirtenbrief von den Kanzeln verlesen: „Tötung ist in sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt würde: An schuld- und wehrlosen Geistesschwachen und -kranken, an unheilbar Siechen und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Strafgefangenen, an Menschen fremder Rassen und Abstammung (September 1943)“. Bezeichnenderweise kommt das Volk von Moses und Jesus auf dem Höhepunkt des Völkermordes nur unter dem Sammelbegriff „Menschen fremder Rassen und Abstammung“ vor. Thomas Mann hatte schon viel früher erkannt und gesagt, dass „der deutsche Judenhaß (…), den christlich-antiken Fundamenten der abendländischen Gesittung (gilt)“ und wurde deswegen auf Vorschlag von Ernst von Weizsäcker ausgebürgert (NZZ, 3.2.1936). Seine Erzählung: Das Gesetz beendet Thomas Mann 1943 mit einem Fluch gegen die Verächter der zehn Gebote: „Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ‚Sie (i. e. die Gebote) gelten nicht mehr.‘ Fluch ihm, der euch lehrt: ‚Auf, ihr seid ihrer ledig! Lügt, mordet, raubt. Hurt, schändet und liefert Vater und Mutter

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ans Messer, denn so steht’s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete‘“ (Br. an A. M. Frey, 14. 5. 45). Es geht uns nicht um eine reductio ad hitlerum, wenn man aber die Geschichte der Dekalogrevisionen Revue passieren lässt, dann stellt sich heraus, dass der angebliche Fortschritt in der Freiheit stets mit einem Rückschritt in der Humanität bezahlt wurde. Die Alten Tafeln sind unüberholbar!

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Dass einer des anderen Kleidung verstehe?

Hubertus Busche

Dass einer des anderen Kleidung verstehe? Zum Orientierungswert der vestimentären Zeichensprache Die folgenden Ausführungen wollen einen kleinen Beitrag zur Vervollständigung des Spektrums der Philosophie der Orientierung leisten. Sie beruhen auf der Einschätzung, dass es sich bei Werner Stegmaiers opus magnum um einen großen Wurf handelt, der es verdient hat, auch durch kleinteilige Ergänzungen gewürdigt zu werden. Unter Zugrundelegung eines sehr weit gefassten Begriffs von „Orientierung“ zeigt Stegmaiers Philosophie der Orientierung nach systematisch entwickelten Prinzipien die Allgegenwart von Orientierungsleistungen in Alltag, Kunst und Wissenschaft auf und staffelt sie nach 15 Typen von Orientierung. Diese reichen von der „Orientierung als Sich-Zurechtfinden“ und der „Orientierung als Übersicht“ über die „Orientierung in Zeichen“ und die „Orientierung in Routinen“ bis hin zu einer „Orientierung in der Orientierung“. Bei den folgenden Darlegungen handelt es sich um Untersuchungen zu einem Kreis von Phänomenen, die ganz offensichtlich zum Typus der „Orientierung in Zeichen“ gehören, in der Philosophie der Orientierung aber nicht eigens zur Sprache kommen. Während in Stegmaiers Kapitel „Orientierung in Zeichen“ Phänomene reflektiert werden, die sich unter arbiträre Sprach- oder Schriftzeichen subsumieren lassen, handelt es sich bei den im Folgenden zu diskutierenden Phänomenen um einen Fundus an Kennzeichen oder Anzeichen, der unmittelbar an der äußeren Erscheinung von Menschen hängt. Es geht um die Kleidung, und damit um ein Anthropinon. Auch wenn es Haus- und Nutztiere gibt, die von ihren Besitzern Textilien umgehängt bekommen, gibt es kein Tier, das „sich kleidet“. An der äußeren Erscheinung eines Menschen bildet seine Kleidung freilich nur eine von mehreren Komponenten. Zur äußeren Erscheinung gehört teils die Körpersprache, die außer der Haltung auch Gestik und Mimik umfasst, teils die Haartracht oder Frisur, teils die Sprechweise, aber eben auch teils die Kleidung. Im Folgenden soll sich der Gegenstand der Untersuchung auf die Kleidung beschränken, d.h. auf jene anziehbaren und wieder ausziehbaren Stoffe, mit denen sich die nackt auf die Welt kommenden Menschen gegenüber anderen Menschen einerseits verhüllen, andererseits darstellen. Die Aufgabe der anschließenden Beobachtungen und Überlegungen besteht darin, das Phänomen der Orientierung an Zeichen einmal am Beispiel der Bekleidung gleichsam durchzudeklinieren und die vielfältigen Formen von Orientierung plastisch vor Augen zu führen, die durch Kleidung als Zeichen ermöglicht werden. Kleidung (in ihren unterschiedlichen Arten,

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Formen und Stilen) bildet also im Folgenden die konstante Größe, die Art der Orientierung dagegen die Variable. Die leitenden Fragestellungen der Untersuchung sollen hierbei folgende sein: Was heißt es überhaupt, sich an Kleidung zu orientieren? Welche Typen von Orientierung durch Kleidung lassen sich unterscheiden? Welchen Orientierungswert und welchen Zuverlässigkeitsgrad hat die Kleidung anderer Menschen bei diesen Orientierungstypen? Und inwieweit lässt sich hier möglicherweise eine Art Sprache der Kleidung (zur affirmativen Verwendung dieses Terminus vgl. Hoffmann 1985; Petraschek-Heim 1988) annehmen, so dass die spezifischen Orientierungsleistungen jeweils in einem Verstehen dieser Sprache lägen?

1. Was heißt: sich an Kleidung orientieren? Zur Klärung der Fragestellung empfiehlt es sich, zunächst Stegmaiers weit gefassten Begriff der Orientierung ins Auge zu fassen. In Erweiterung des ursprünglichen Begriffs, demzufolge „Orientierung“ die räumliche Standortbestimmung mittels der Wahrnehmung des Sonnenaufgangsortes (d.h. der Himmelsrichtung „Orient“) bedeutet (zur Ausgangsbedeutung vgl. Stegmaier 2008, Kap. 2.4 „Menschliche Orientierung mit Karten und Kompassen“, S.  48–54), knüpft die Philosophie der Orientierung an ein inzwischen auch in der Umgangssprache etabliertes Verständnis an, demzufolge unter „Orientierung“ generell jede „Leistung“ verstanden wird, „sich in immer neuen Situationen immer neu zurechtzufinden“ (Stegmaier 2008, S.  XV). Entsprechend weit, ja das ganze menschliche Leben umspannend sind die Beispiele für ein solches Sichzurechtfinden in unvertrauten Zusammenhängen. Ein Zitat evoziert die ganze Spannbreite solcher Situationen: „Orientieren muss man sich nicht nur in jedem neuen Land und in jeder neuen Stadt, sondern auch in jedem neuen Büro und in jeder neuen Handund Hosentasche, und nicht nur in Örtlichkeiten, sondern auch in Interaktionen und Kommunikationen, und hier nicht nur in der Wirtschaft, der Politik, den Medien, dem Recht, der Wissenschaft, der Moral, der Pädagogik, der Religion und der Philosophie, sondern auch in jedem Gespräch, in jedem Text, in jeder web site und natürlich auch in umfangreichen Büchern […], und zurechtfinden muss man sich auch und vor allem andern in jedem neuen Menschen und – was meist ganz unauffällig verläuft – seinem Gesicht.“ (Stegmaier 2008, S. XV) Da Stegmaier Orientierung als „Leistung einer individuellen Fähigkeit“ von begrenzten Kapazitäten versteht, die sich stets auf zu beherrschende „Situationen“ bezieht, geht seine Untersuchung davon aus, dass in jeder Situation mit Orientierungsbedarf einerseits eine gewisse Voraborientierung gegeben ist, die



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in Informationen bezüglich der Situation besteht, andererseits aber eine Zusatzorientierung noch stattfinden muss, die das Unvertraute, Unbekannte der Situation beherrschbar machen soll. Daher gilt, dass man einerseits „immer schon orientiert ist“, andererseits „in unvermutete, überraschende Situationen geraten kann“, in denen eine neue Zusatzorientierung verlangt ist (Stegmaier 2008, S. 3). Woran man sich in derart herausfordernden Situationen orientiert, hängt zum einen vom Typ der Situation ab, zum anderen von unseren Interessen oder Zwecken. In einer neuen Stadt mögen es, neben der Voraborientierung durch eine Stadtkarte, gewisse markante Türme und Plätze sein, die als Anhaltspunkte dienen für die Frage, wo man sich befindet. Je nachdem, welche Interessen wir in der neuen Stadt verfolgen, sind uns diese oder jene Erkennungszeichen wichtig. Wer aber in der glücklichen Lage ist, sich ganz ohne vorgegebene Interessen müßiggängerisch durch eine Stadt treiben zu lassen, braucht hier gar keine zusätzliche Orientierung. In einem neuen Buch dagegen sind es v.a. das Inhaltsverzeichnis und das Suchwortverzeichnis, denen man entnehmen kann, wie man zu einzelnen Lektüreinhalten gelangt. Wer sich aber ohne Zeitdruck in das ganze Buch vertiefen kann, bedarf dieser Orientierungsmittel nicht. Ähnlich ist es auch in Situationen, in denen sich der zusätzliche Orientierungsbedarf auf unvertraute, fremde Individuen bezieht. Wenn es um Situationen geht, in denen wir Unbekannten nur flüchtig begegnen, wie z.B. im Fahrstuhl, aber auch in anderen Situationen, in denen wir nicht, wie z.B. bei einem Vorstellungsgespräch, eigene Interessen mit der unbekannten Person verknüpfen, in denen es also ‚um nichts geht‘, kann es uns relativ gleichgültig sein, mit wem wir es zu tun haben. Unser Bedürfnis, uns in der Situation mit den oder dem unbekannten Menschen zurechtzufinden, mag sich dann beschränken auf ein schnelles kognitives Abtasten der Person oder der Personen auf ihre Gruppenzugehörigkeit, aber auch auf Anzeichen von Gefährlichkeit, Bedrohlichkeit oder Unannehmlichkeit, die von ihren Gesichtszügen oder Bewegungen ausgehen. Wo dagegen von der Zuverlässigkeit eines solchen Gefährlichkeitschecks sehr viel abhängt, wie z.B. bei den Leibwachen eines Redners vor einer großen Menschenmenge, bedarf dieses kognitive Abtasten vermittelst von Anzeichen (außer konzentrierter Aufmerksamkeit) zusätzlich einer geschulten Beobachtung gefahrentypischer Kennzeichen, wie z.B. einer ungewöhnlichen Körperbewegung eines Menschen in der Nähe des Rednerpodiums oder eines Reflexes im Fenster eines benachbarten Hauses. Wenn es also speziell um Fälle der Orientierung in Situationen mit unvertrauten Menschen geht, darf man wohl ganz allgemein festhalten, dass, von welcher Art die orientierungsgebenden Zeichen jeweils sind, teils von den konkreten Zwecken und Bedürfnissen der orientierungsbedürftigen Person abhängt, teils vom Stand ihrer Voraborientierung, teils aber auch vom spezifischen Erkenntniswert, der den typischen Mustern bestimmter Anzeichen zukommt. Bei jener Kom-

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ponente der äußeren Erscheinung von Menschen, die wir unter „Kleidung“ subsumieren, scheinen die wichtigsten Arten von Orientierung sich nach folgenden systematischen Kriterien zu erschließen. Die Kleidung anderer Menschen hilft uns entweder bloß theoretisch, Individuen oder Gruppen anhand gewisser Merkmale ihrer Kleidung einzuordnen. Oder sie hilft uns auch praktisch, indem wir uns bei der Wahl unserer eigenen Kleidung an der Kleidung der anderen orientieren. Bei der theoretischen Orientierung (die freilich meist in praktisch relevante Situationen eingebunden ist) identifizieren wir andere Menschen anhand ihrer Kleidung, bei der praktischen Orientierung identifizieren wir uns durch unsere Kleidung mit anderen Menschen. Da alles Identifizieren eine Art Einordnen des Einzelnen unter allgemeine Typen ist, lassen sich die wichtigsten Arten von Orientierung an Kleidung durch die Frage staffeln, wofür wir Kleidung als typisch wahrnehmen. Hier zeigen sich insgesamt vier wesentliche Hinsichten, unter denen Kleidung für etwas steht oder repräsentativ ist. Kleidung ist erstens typisch für eine bestimmte Zeit, denn sie unterliegt zum einen einer historischen Entwicklung (von den archaischen Tierfellen zu den high tech-Textilien unserer Gegenwart), zum anderen immer neuen bzw. das Alte neu aufgreifenden Moden. Kleidung ist zweitens typisch für bestimmte Gruppen, seien es Berufsgruppen wie Geistliche, Polizist(inn)en, Bäcker(innen), Schornsteinfeger oder Müllwerker, die wir sofort an ihrem Habit erkennen, seien es Vereinsgruppen wie Schützen, Fußballer oder Mitglieder eines Wandervereins, seien es Ordensleute usw. Kleidung ist drittens typisch für die soziale Klasse oder Schicht ihrer Träger. Fast nebenbei und ohne große Aufmerksamkeit unterscheiden wir im Alltag z.B. gepflegt erscheinende, gut oder gar vornehm gekleidete Anzugträger und Kostümträgerinnen von Personen, die nachlässig oder gar noch in abgewetzten oder schmutzigen ‚Klamotten‘ herumlaufen – und wir deuten das als Indikatoren für einen hohen sozioökonomischen Status dort, für einen niederen hier. Und schließlich gilt uns Kleidung viertens auch als typisch für die Persönlichkeit eines Individuums. Wir merken z.B. an der Kleidung, ob eine Person Wert auf ihre äußere Erscheinung legt oder nicht, ob sie sich dem allgemeinen Geschmack anpasst oder dagegen rebelliert, ob sie overdressed oder underdressed ist usw. Natürlich gibt es über diese vier Grundarten der Orientierung an Kleidung hinaus noch zahlreiche weitere Orientierungstypen. So identifizieren wir z.B. manchmal auch ein und dasselbe Individuum anhand seiner charakteristischen Kleidung, z.B. auf dem von der Polizei veröffentlichten Einbruchsfoto der Bank den Nachbarjungen an der blauen Baseballkappe und den weißen Turnschuhen; wir erkennen aber auch z.B. die unbekannte Frau, der wir vor wenigen Minuten noch an einer anderen Stelle der Stadt begegneten, an ihrem schwarzen Kostüm mit rotem Trilby wieder. Und natürlich können wir auch das Geschlecht eines Menschen in den meisten Fällen an seiner wahrnehmbaren Kleidung unterschei-



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den (vgl. etwa Laqueur 1992) – obwohl es gerade in der jüngeren und jüngsten Geschichte gesellschaftlich signifikante Tendenzen (insbesondere unter Jugendlichen) gibt, diese Zuordnungen aufzubrechen.1 Doch diesen weiteren Fällen, wie den Identifizierungen von Individuum oder Geschlecht, soll im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden. Für die genannte vierfache Bedeutungstypik von Kleidung gilt einerseits, dass wir uns im Alltag stark von dem äußeren Anschein der Kleidung beeindrucken lassen: „Kleider machen Leute“, wie man nicht erst seit Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle weiß. Andererseits wissen wir, dass Kleidung nicht selten auch der kompensatorischen Selbstdarstellung, wenn nicht gar der Täuschung dient, so dass wir von der Kleidung eines Menschen nicht unmittelbar auf seine wahre Identität schließen dürfen (eine vergnügliche Lektüre zu diesem Thema bietet Hoffmann 1985). Wie Kellers Figur des Schneiderlehrlings Wenzel Strapinski ja bereits andeutet, kann die Orientierung an Kleidung bei allen vier Arten auch jämmerlich misslingen: Das Porträt der Dame im Stuartkragen erweist sich als Fake des malerisch talentierten Neffen, der seiner Tante Elisabeth einmal zum Geburtstag zeigen wollte, wie sie als Tudorkönigin aussähe. Die Brautleute, die wir vor dem Dom posieren sahen, entdecken wir später als Models in einem Werbekatalog für Hochzeitsmoden. Der Graf wird als Schneiderlein enttarnt. Den Clochard sehen wir in sein Luxusapartment hinken, wo er an seinem neuen Buch über soziale Vorurteile schreibt. Usw., usf. Es gibt also keine völlige Zuverlässigkeit bei der Orientierung durch Kleidung. Nach dieser abstrakten Klärung der Frage, in welchen hauptsächlichen Weisen man sich an der Kleidung anderer Menschen orientieren kann, sollen nun die vier Hauptarten von Zeichenverstehen bei Kleidung der Reihe nach an Beispielen erläutert werden. Hierbei soll nur die Vielfalt theoretischer Orientierungsleistungen durchgespielt werden, ohne dass die praktischen berücksichtigt werden können. Zugrunde gelegt wird Stegmaiers weiter Begriff von Orientierung als Sichzurechtfinden in unvertrauten Zusammenhängen. Diesem Begriff zufolge ist es für das Vorliegen einer Orientierungsleistung unerheblich, welche kognitiven Vermögen an jener Zusatzorientierung beteiligt sind, die gegenüber der jeweiligen Voraborientierung zu erbringen ist. So handelt es sich z.B. bei Identifizierungen, die über erfahrungsgestützte sinnliche Mustererkennungen verlaufen, wie etwa das ohne gedankliche Überlegung erfolgende Erkennen eines Rettungssanitäters an seiner Uniform, ebensogut um Orientierungsleistungen wie

1 Studien zur geschichtlichen Auseinandersetzung um das hierfür wohl einschlägigste Textil, nämlich die Hose, geben Wolter 1988; Wolter 1994; Metken 1996. Eine Analyse jüngster Entwicklungen bis zur HipHop- und Techno-Szene versucht Scheiper 2008.

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bei einer durch Nachdenken vermittelten Zuschreibung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale an ein Individuum, das einen bestimmten Kleidungsstil pflegt.

2. Die Moden von damals – zeitliche Orientierung an dargestellter Kleidung Wie Kleidung etwas spezifisch Menschliches ist, so finden wir Dokumente und Spuren von Bekleidungsstoffen auch schon in grauer Vorzeit. Bekannt ist etwa der in der ligurischen Höhle Arene Candide gefundene Pelzmantel aus rund 400 Eichhörnchenfellen, der vor etwa 23000 Jahren als Grabbeilage diente (Müller 2001, Sp.  239). Dass in der Geschichte der Menschheit sehr unterschiedliche Formen und Stile von Kleidung auftreten, erklärt sich erstens aus dem Fortschreiten des handwerklichen und technischen Entwicklungsstands bei der Herstellung von Kleidungsstoffen. Was man in früheren Epochen jeweils auf der Haut trug, hängt aber selbstverständlich zweitens auch von den primären Zwecken ab, denen Kleidung dient: Sie schützt insbesondere vor den Widrigkeiten des Wetters, kann aber auch zur Verschönerung der Erscheinung und zur Steigerung der erotischen Attraktivität beitragen, wie sie umgekehrt eine Verhüllung aus Scham sein kann. Was man wann und wo trägt, hängt also auch vom Klima sowie von den Einstellungen, den Sitten und der Religion ab. Zur temporalen Diversifizierung der Kleidungsstoffe, Kleidungsformen und Kleidungsstile trägt aber drittens auch bei, was man seit dem 17. Jahrhundert als „Mode“ bezeichnet. Mode lässt sich weder aus dem Stand der Kleidungsproduktion noch aus den genannten Kleidungszwecken noch aus den klimatischen Faktoren noch aus Moral und Religion erklären. Nach der ursprünglichen Bedeutung, die der Etymologie des französischen Lehnwortes „le/la mode“ zugrunde liegt, bezeichnet „Mode“ (von lat. „modus“) die „Art und Weise“ der äußeren Erscheinung, die zugleich „Regel“ oder „Maßstab“ ist (zur Etymologie vgl. Waidenschlager 2007, S.  17 ff.; Ebner 2007, S.  13 f.). Zu dieser sozial normativen Art der äußeren Erscheinung, durch die sich Menschen unterschiedlicher Gesellschaften und Zeiten voneinander unterscheiden, zählen ursprünglich nicht nur die Formen des Sichkleidens, sondern auch die des Wohnens, des Essens und Trinkens sowie andere Formen äußeren Sichbenehmens. Das Aufkommen des Vokabulars der „Mode“ im 17. Jahrhundert bezeugt aber nicht nur das Bewusstsein eines extrem weiten Radius dessen, was alles zur sozial normativen Erscheinung gehört, sondern zugleich auch das Bewusstsein der Vergänglichkeit, ja der Flüchtigkeit aller dieser Erscheinungsformen. „Alles wird von der Mode geregelt. (Tout se règle par la mode.)“, heißt es bei La Bruyère (La Bruyère 1992, S.  907 (XIII, 16)). „Die Dinge haben ihre Periode, und sogar



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die höchsten Eigenschaften sind der Mode unterworfen“, sekundiert Gracián (Gracián 1986, S.  18 f.). Nach diesem Begriff hat „Mode“ zwei Grundbedeutungen, erstens die zeittypische Art der äußeren Erscheinung, zweitens der periodische Wechsel dieser zeittypischen Erscheinungsweisen. Die Reichweite der normativen Kraft des Modischen wurde als extrem weit aufgefasst. „Die Mode zeigte an, welche Arzneien man einnehmen, welches Fleisch man kosten, welche Gefühle man empfinden und auf welche Art man diese zum Ausdruck bringen sollte; ob eine Perücke zu tragen sei und wie der Schnitt der Kleidung auszusehen habe; sie bestimmte sogar die Haltung, die man gegenüber der Religion einzunehmen hatte“ (Esposito 2004, S. 50). Im Gegensatz zu diesem weit bemessenen Radius des Modeunterworfenen ist zwar im heutigen Sprachgebrauch die Bedeutung unseres Substantivs „Mode“ inzwischen fast nur noch eng auf die Kleidungsmode begrenzt, wie die Formeln von der „Frühjahrsmode“, der „Herrenmode“ oder der „Modenschau“ belegen. Eine ähnlich weite Extension wie früher hat jedoch immer noch unser heutiges Adjektiv „modisch“. Man braucht nur ein paar Seiten in aktuellen Lifestyle-Magazinen zu blättern, um zu ermessen, was heute alles „modisch“ (auch „stylisch“ „trendy“ oder „in“) ist oder zumindest als solches angepriesen wird (vgl. Schnierer 1995). Es sind hauptsächlich diese drei Faktoren (Entwicklungsstand, Bekleidungszwecke, Mode), die zu einer ständigen Differenzierung der Bekleidungen nach Zeit und Ort führen und alle Kleidung hiermit repräsentativ für eine bestimmte Epoche machen. Der entsprechende Orientierungswert von Kleidung, nämlich Personen aufgrund ihrer Kleidung einer bestimmten Epoche zuordnen zu können, betrifft (1.) teils jene Zeitspanne, die in die eigene Biografie fällt, (2.) teils frühere Epochen und Zeitalter, von denen wir nur durch historische Belehrung wissen können. (1.) Was die persönlich erlebte Zeitspanne angeht, so ist uns die Möglichkeit, die von uns selbst oder unseren Zeitgenossen früher einmal getragene Kleidung als typisch für einen vergangenen Lebensabschnitt wiederzuerkennen, allenfalls durch Porträts, viel stärker aber durch Fotografien zugänglich. Fotos erlauben uns gleichsam einen Blick in die Vergangenheit, der, je nach Qualität des Fotos und technischem Entwicklungsstand der Fotografie, einer direkten sinnlichen Wahrnehmung sehr nahekommt. Deshalb erliegen wir beim Betrachten von Fotos aus unserer Vergangenheit leicht der Illusion, wir könnten uns und anderen aus einer Distanz von Jahren oder Jahrzehnten zuschauen. Erst recht gilt die Illusion bei Filmen oder Videoaufnahmen unserer Vergangenheit. In Zeitaltern vor Erfindung der Fotografie und des Films waren solche Repräsentationen der persönlich erlebten Vergangenheit nur möglich in der eigenen Erinnerung oder in der Erzählung von Zeitgenossen oder in Zeichnungen bzw. Gemälden, die besondere Augenblicke mit besonderer Kleidung festhielten.

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Der Orientierungswert, den visuelle Darstellungen unserer persönlich erlebten Zeit haben, hängt, wie im Eingangskapitel erwähnt, erheblich vom jeweiligen Orientierungsbedarf ab. Wer sich allein, zu zweit oder im Kreis der Familie alte Fotos oder Filme anschaut, hat in der Regel gar keinen Bedarf, die auf dem Medium zu erkennende Kleidung als Kennzeichen einer bestimmten Zeitspanne oder eines bestimmten Zeitpunktes aufzufassen. Das Fotoalbum bzw. die auf dem PC oder der CD abgelegten Foto- oder Filmreihen sind meist ohnehin chronologisch angeordnet, wenn nicht sogar auf dem Foto oder Film selbst schon das Datum eingeblendet ist. Ein Bedarf an zeitlicher Orientierung tritt für gewöhnlich vielmehr erst dann ein, wenn wir mit Fotos oder Filmen konfrontiert werden, die zwar uns oder Bekannte zeigen, die aber von anderen Personen und ge­gebenenfalls ohne unser Wissen aufgenommen wurden. So reicht vielleicht ein ehemaliger Klassenkamerad auf einem Klassentreffen unbekannte Fotos herum, auf denen wir uns wiedererkennen. Wenn sich der Fotograf einen Spaß daraus macht, nach dem möglichst genauen Zeitpunkt zu fragen, zu dem die Aufnahme entstand, schauen wir genauer hin. Unser Gesicht mit dem experimentellen Bart und den langen Haaren deuten vielleicht zunächst auf die späte Pubertät hin, in der wir unsere äußere Erscheinung in Kontrast zu den Erwartungen unserer Eltern ausrichteten. Und dann entdecken wir womöglich, dass wir auf dem Foto eine Cordhose mit weitem Schlag sowie ein bis zu den ersten drei obersten Knöpfen geöffnetes grellgrünes Hemd mit großem Kragen tragen. Und auf einmal finden wir unsere Orientierung durch die Erinnerung, dass wir derartige Textilien Ende der Siebziger trugen. Eine solche zeitliche Orientierung, die wir an der Mode unserer früheren Lebensepochen machen, ist jedoch eher selten und überdies sehr grobkörnig. Genauer und von größerem Orientierungswert ist jene Kleidung, die wir zu ganz besonderen Anlässen oder gar nur ein einziges Mal im Leben trugen, wie z.B. der Kommunionsanzug oder der Hochzeitsanzug. Anhand solcher auf bestimmte Bekleidungszwecke zugeschnittenen Textilien können wir den genauen Zeitpunkt der Aufnahme leicht bestimmen. Insgesamt hält sich jedoch der zeitliche Orientierungswert von Kleidung in unserer persönlich erlebten Vergangenheit in engen Grenzen. Auf Fotos oder in Filmen erkennen wir den Zeitraum oder Zeitpunkt, in dem wir aufgenommen wurden, viel eher an anderen Indikatoren als an der Kleidung. Das können z.B. die auf dem optischen Medium zu erkennenden Landschaften oder Orte sein, aber auch charakteristische Situationen sowie nicht zuletzt die mit uns zusammen abgelichteten Personen oder Personengruppen. Von ungleich höherem zeitlichen Orientierungswert ist die Kleidung vielmehr auf Filmen oder Fotos, wenn sie dort von unbekannten Personen getragen wird, die unsere eigene Lebensspanne und denselben kulturellen Raum teilen, so dass wir die Zeit der Aufnahme an der damaligen Mode einschätzen können.



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(2.) Wenn es dagegen um Darstellungen von Menschen geht, deren Lebenszeit vor unser persönliches Gedächtnis fällt, reicht die Voraborientierung durch unsere früheren Wahrnehmungen, die im biografischen Gedächtnis gespeichert und abgerufen werden, nicht mehr aus. Für die Voraborientierung werden dann zusätzlich historische Bildung und Belehrung durch andere erforderlich. Auch hier gilt, dass der Orientierungswert der dargestellten Kleidung umso größer wird, je unvertrauter die abgebildeten Individuen sind. Die eigenen Urgroßeltern identifizieren wir auf alten Fotos viel stärker anhand markanter Gesichtszüge. Und auch sofern uns Tizians berühmtes Porträt von Karl V. im Lehnstuhl bekannt ist, spielt für die Wiedererkennung gerade das Epochentypische seines schweren Mantels mit dem breiten Pelzkragen und seines schwarzen Barretts auf dem Kopf keine Rolle. Werden jedoch völlig fremde Individuen dargestellt und bieten keine epochentypischen Requisiten im Hintergrund Anhaltspunkte für die Datierung, wird der Zeitindex der dargestellten Kleidung zum ausschließlichen Kennzeichen der historischen Epoche. Schon Kinder lernen, dass sich unsere Vorfahren in prähistorischer Zeit mit Tierfellen kleideten, dass sich Ritter an ihren schweren eisernen Rüstungen erkennen lassen, oder an welchen textilen Signaturen sich Punker, Skinheads oder Gothics offenbaren. Später lernen sie dann, dass die Römerinnen für gewöhnlich eine Stola bzw. Palla und die Römer eine Toga bzw. Tunika trugen, dass man die Jakobiner der Französischen Revolution an der roten Mütze mit herabhängendem Zipfel erkennen kann, und wie ein Gehrock aus dem Rokoko, eine Krinoline aus dem Biedermeier, der Vollwichs eines Burschenschafters, eine Gestapo-Uniform, ein Petticoat der 1960er Jahre oder das trotz aller Diversität typische Raver-Outfit der 1990er Jahre aussehen. Es versteht sich, dass solche zeitlichen Einordnungen dargestellter Bekleidungstypen nicht nur für Besucher von Museen oder für Zuschauer von Historienfilmen von großem Orientierungswert sind, sondern erst recht für Historiker(innen) und insbesondere Kunstgeschichtler(innen). (Ein entsprechendes Forschungsprogramm umschreibt Hansen 1980; eine instruktive Fallstudie zur Datierung eines einzigen Bildes gibt Zitzlsperger 2008.)

3. Orientierung an gruppenspezifischer Kleidung Ganz andere Möglichkeiten von Orientierung bietet die Kleidung von Menschen, wenn sie nicht als Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche, sondern für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erkannt wird, mag diese Gruppe durch den Beruf oder die Mitgliedschaft in einem Verein definiert sein. (Einen Sonderfall bildet die vorgeschriebene Kleidung, die der Stigmatisie-

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rung bestimmter Gruppen der Gesellschaft dienen soll; vgl. etwa Jütte 1993). Die primäre Orientierung wird hier bereits durch die Zuordnung der Kleidung zu einer bestimmten Gruppe geleistet: Man erkennt Soldaten, Schornsteinfeger(innen), Briefträger(innen), Polizist(inn)en und kann im Restaurant Koch und Kellner unterscheiden – allein an ihren charakteristischen Berufstextilien. Da mit dieser Identifizierung auch bestimmte Erwartungen an die Funktionen und Handlungsmuster ihrer Träger assoziiert werden, schließen sich weitere Formen von Orientierung an. Unterscheiden lassen sich drei hauptsächliche Arten: (1.) Entweder ist die Kleidung für ihre Träger derart basal, dass sie eine notwendige Bedingung für die Aktivitäten innerhalb der Gruppe darstellt. (2.) Oder die Kleidung, die die Gruppenmitglieder uniformiert, verweist uns in unvertrauten Situationen, in denen wir uns nicht hinreichend zurechtfinden, auf Funktionsträger, von denen wir weitere hilfreiche Orientierung erwarten dürfen. (3.) Oder aber die Kleidung, anhand deren wir die Mitglieder einer Gruppe identifizieren, verändert unsere bisherige Orientierung dahingehend, dass sie uns zu einer Umorientierung führt oder sogar desorientiert. (1.) Die besten Beispiele, in denen Kleidung bereits eine konstitutive Bedeutung für die Gruppenaktivitäten hat, sind Mannschaftsspiele wie Fußball, Handball, Basketball, Rugby usw. Die Trikots der Spieler müssen farblich so gewählt sein, dass die der einen Mannschaft deutlich von der der anderen unterscheidbar sind. Andernfalls fehlte sowohl den Spielenden als auch den Zuschauern die für den Spielverlauf nötige Orientierung. Die Spieler müssten vor jeder Ballaktivität eine aufwendige Identifizierung der Mit- und Gegenspieler vornehmen, um zu erkennen, wem sie den Ball zuspielen oder abnehmen müssen. Und die Zuschauer könnten, beim Fußball von den Torwarten einmal abgesehen, allenfalls bei signifikanten Laufbewegungen auf ein Tor zu bzw. von einem Tor weg erkennen, welcher Spieler zu welcher Mannschaft gehört. Bei hinreichend unterschiedenen Trikotfarben besteht dagegen die nötige Voraborientierung allein in der Kenntnis der elementaren Spielregeln der Sportart und im Einprägen der Farben als Kennzeichen der Teams. Zwar könnte man sich vorstellen, dass die leichte optische Unterscheidbarkeit der konkurrierenden Teams auch auf andere Weise als durch die beiden kontrastierenden Kleidungsfarben (Trikots oder Helme) gewährleistet würde. Doch was immer diesen Ersatz leisten könnte, wäre sehr aufwendig (wie z.B. farbliche Bemalungen der Oberkörper) oder würde die Erkennung der Orientierung stiftenden Zeichen verlangsamen (wie z.B. unterschiedliche Frisuren der Spieler jeder Mannschaft). Natürlich gilt dieser hohe Orientierungswert von Kleidung auch für die Angehörigen von Trachtengruppen, Berufsverbänden usw. So ist es etwa für Feuerwehrleute, Rettungssanitäter oder Ärzte unverzichtbar, im Falle persönlichen Unbekanntseins einander an der Kleidung zu erkennen. Beim Militär oder bei



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einer Schiffsbesatzung kommt noch hinzu, dass auch der Rang durch eindeutige Zeichen an der Uniform identifiziert werden kann. Gegenüber dieser konstitutiven Bedeutung von Kleidung für die Orientierung der Gruppenaktivitäten haben die Textilien bei gewissen Spielen und Aufführungen einen nicht so hohen Orientierungswert. Auf der Opernbühne etwa kann auch, wer mit der Musik nicht sonderlich vertraut ist, die Figuren anhand ihrer Stimme und ihrer Arien unterscheiden – jedenfalls dann, wenn sie gerade singen. Allerdings kann man sich gut vorstellen, welche Orientierungsschwierigkeiten der Besucher beim Wer ist wer? auf der Bühne hätte, wenn die dramatis personae alle nackt wären. Das gilt erst recht bei Schauspielen ohne Gesang. (2.) Eine grundsätzlich andere Art der Orientierung bieten Fälle, in denen eine Person Schwierigkeiten hat, sich in einer Situation zurechtzufinden, in der sie aber anhand von markanter Berufskleidung Funktionsträger für zusätzliche Orientierung identifizieren kann. Man findet z.B. in einem großen Einkaufsmarkt nicht die Ware im Regal, die man sucht, und sucht daher nach einer Verkaufsberaterin oder einem Verkaufsberater. Glücklich, wenn es diese gibt und wenn sie noch dazu leicht zu erkennen sind! Üblicherweise zeigt uns die auffällige Farbe eines Kittels oder Oberkörpertextils, an wen wir uns wenden müssen; sie kann aber zufälligerweise auch von einem anderen Kunden getragen werden. Solche Fehlidentifizierungen können ausgeschlossen werden, wenn die Berufskleidung der Verkäuferin oder des Verkäufers zugleich auch den Firmennamen oder das Firmenlogo zeigt. Weitere Beispiele für Orientierung an gruppenspezifischer Kleidung, von deren Trägern wir wiederum zusätzliche Orientierung in Situationen mit Hilfebedarf erwarten dürfen, sind etwa Schaffner(innen) im Zug, Reiseführer am Zielflughafen, Lotsen für Schulkinder oder natürlich die Damen und Herren von der Polizei. (3.) Es gibt aber schließlich auch genügend Alltagsbeispiele, die zeigen, dass die ursprüngliche Orientierung, die wir an bestimmten Bekleidungsarten als Kennzeichen bestimmter Gruppenzugehörigkeit gewinnen, uns statt erhoffter Zusatzorientierung vielmehr umgekehrt unsere bisherige Orientierung durchkreuzt und zu einer Umorientierung drängt. So sieht etwa ein Cabriofahrer im Rückspiegel, dass ein Motorradfahrer, den er anhand seiner Uniform als Polizisten erkennt, immer näher auf ihn zukommt, so dass er ihn bald überholt haben wird. Blitzschnell fällt dem Cabriofahrer ein, dass er nicht angeschnallt ist, so dass der Polizist, wenn er nur halbwegs aufmerksam ist, die Ordnungswidrigkeit bemerken, den Cabriofahrer zur Seite winken und ihm das fällige Verwarngeld abnehmen wird – wenn es nicht noch einen Ausweg gibt. Da ein nachträgliches Angurten nicht mehr aussichtsreich erscheint, sondern die Aufmerksamkeit des Polizisten nur noch steigern würde, entschließt sich der Cabriofahrer, schnell an der bevorstehenden Kreuzung abzubiegen, in der Hoffnung, dass der Poli-

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zist geradeaus weiterfahren wird. Es war allein das Verstehen der Sprache der Uniform und der aus ihr ableitbaren Folgen, das den Cabriofahrer dazu veranlasste, seine Fahrt in eine Richtung fortzusetzen, in die er eigentlich gar nicht wollte. Und es führte ihn zu einer Umorientierung, ja – falls der Vorgang sich in einer fremden Stadt abspielte – zu einer Phase vorübergehender Desorientierung aufgrund von Ortsunkundigkeit. Ähnliche Beispiele, in denen ursprüngliche Orientierung anhand von gruppenspezifischer Kleidung zu Umorientierungen führt, verbinden sich mit allen Berufsbekleidungen, deren Träger nicht nur Freund und Helfer, sondern zugleich auch Hüter der Ordnung sind. Ein Autofahrer, der gerade dabei ist, sein Fahrzeug für kurze Zeit an einer riskanten Stelle zu parken, erkennt gerade noch rechtzeitig, dass eine Politesse die Straße abschreitet. Da ihm auf einmal bewusst wird, dass er ein Freund der Ordnung und des Ordnungsamtes ist, besinnt er sich um und fährt sein Auto auf einen Parkplatz. Auch dies ist einer von zahllosen Fällen, in denen die Kleidung anderer uns mittelbar zu einer Um­orientierung unserer eigenen Handlungsziele bringt.

4. Kleidung als Kennzeichen des sozioökonomischen Status In allen bisher betrachteten Fällen war zwar nicht immer der Orientierungswert, wohl aber die Zuverlässigkeit der Orientierung anhand von Kleidung recht hoch, denn hier kam der individuelle Faktor beim Sichbekleiden nicht zur Geltung. Bei der Deutung dokumentierter Kleidung als Zeichen für eine bestimmte Lebensphase oder Epoche wird von der Person, welche die Kleidung trägt, ganz abgesehen. Und wo Kleidung als Charakteristikum bestimmter Berufe oder Vereine erkannt wird, verweist schon der Ausdruck „Uniform“ darauf, dass hier gerade nicht das Individuum unterhalb des Allgemeinen in den Blick kommt. Deshalb zeigten sich bislang an der Sprache der Kleidung relativ feste Bedeutungen. Diese enge Kopplung von Zeichen und Bedeutung der Kleidung lockert sich aber, sobald Kleidung als Kennzeichen der Zugehörigkeit zur sozialen Schichtung aufgefasst wird. Der Grund für diese Schwächung der Zuverlässigkeit der Orientierung besteht darin, dass frei gewählte Garderobe niemals bloßer Indikator der tatsächlichen sozialen Verhältnisse ist, sondern ebenso der Ausdruck sozialer Selbstbilder, ja sogar kompensatorischer Sozialwünsche ihrer Trägerinnen und Träger. Die Kleidung zeigt daher das soziale Niveau ihres Trägers nicht objektiv an, wie das Quecksilber das Niveau der Temperatur anzeigt. Gleichwohl herrscht im Alltag die Praxis der Deutung bestimmter Bekleidungsweisen als Zeichen für die soziale Schichtzugehörigkeit mit oft gnadenloser Bedenkenlosigkeit. Wer vorhätte, im feinen Anzug oder im ele-



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ganten Kostüm durch die Straßen eines sog. sozialen Brennpunktes oder gar eines Elendsviertels zu flanieren, sollte sich das entweder noch einmal gut überlegen oder aber sich von Leibwächtern begleiten lassen. Umgekehrt dürfte eine Person, die, aus welchen Gründen auch immer, armselig gekleidet auftritt, vergeblich versuchen, sich in einem Luxushotel einzuquartieren, selbst wenn sie hierfür mehr als genügend Geld bei sich trüge. Allzu groß ist die Macht der vestimentären Zeichen und der mit ihnen verknüpften Vorurteile, denen zufolge die Niveauunterschiede der Kleidung auch die Niveauunterschiede der sozialen Schicht anzeigen: Wir machen einen Unterschied, ob Anzug oder Kostüm maßgeschneidert wirken oder von der Stange, ob sie teure Marken anzeigen oder nach dem Discounter aussehen, ob sie Stil verraten oder nicht, ob die Garderobe gewählt wirkt oder zusammengewürfelt, usw. Hinzu kommt, dass es geradezu gewisse Embleme des sozioökono­ mischen Prestiges und des beruf­lichen Erfolgs gibt, die, wie z.B. der feine Hosenanzug bei Frauen oder die Krawatte bei Männern, das soziale Gemustertwerden durch andere gleichsam fokussieren. Die Schlussfolgerung von der Kleidung auf den sozioökonomischen Status ist daher immer noch, auch empirisch nachweislich, eine wichtige Quelle unserer zwischenmenschlichen Orientierung durch Zeichen (vgl. Jungbauer-Gans/Berger/Kriwi 2005). Gerade wo es gilt, unbekannte Personen schnell zu taxieren, zeigt sich, dass die Kleidung einen eminenten Einfluss auf die Einschätzung des sozialen Niveaus von Menschen und folglich auch auf den Umgang mit ihnen hat. Trotz dieser alltäglichen Macht der Fixierung von sozialem Status nach dem Anschein der Kleidung macht natürlich jeder die Erfahrung, dass diese Zeichensprache trügerisch ist. Einerseits kennt man das Phänomen des Understatements oder der Tiefstapelei. Im Unterschied zum Parvenu, der dazu neigt, den neu gewonnenen Wohlstand oder Reichtum auch durch teure Markentextilien demonstrativ zur Schau zu stellen, findet man in Familien, die Kultur und Vermögen vereinen, nicht selten eine Scheu, ja einen Widerwillen, den sozialen Rang durch vornehme Garderobe zum Ausdruck zu bringen; diesen erkennt man dann eher an der gepflegten Sprechweise, am Wortschatz, an den Gesprächsstoffen oder an anderen Momenten des Habitus. Außerdem kommt bei den (heute so genannten) „Superreichen“ wohl eine Art von Mimikry und Tarnverhalten hinzu, das viele Milliardäre zwecks Vermeidung sozialer Konflikte Turnschuhe und Jeans tragen lässt (gute Einblicke, auch durch Interviews, gibt Freeland 2013). Andererseits kennt man auch umgekehrt das Phänomen der Hochstapelei durch Kleidung. Die vestimentäre Vortäuschung eines höheren sozialen Ranges geht dabei selten so weit wie bei dem oben erwähnten Schneiderlehrling Wenzel Strapinski aus Kellers „Kleider machen Leute“ oder wie bei Thomas Manns Romanfigur Felix Krull. Vielmehr belehren uns sowohl Fälle der Erfahrung als auch die bedeutenden Autoren einer Philosophie der Mode, dass grundsätzlich die erschei-

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nungsbewussten und erscheinungsbeflissenen Angehörigen der unteren Schichten dem Motiv erliegen, durch die Wahl ihrer Garderobe symbolisch an den höheren Schichten der Gesellschaft teilzuhaben, zumindest in Europa seit der frühen Neuzeit, entsprechend der sukzessiven Auflockerung der vorgegebenen Kleiderordnungen (einen immer noch lehrreichen Überblick gibt Eisenbart 1962; eine instruktive Einzelfallstudie gibt dagegen Reich 2005). Schon Christian Garve sucht 1792 die einzelnen Zyklen der Mode dadurch zu erklären, dass zunächst die höheren Klassen der Gesellschaft neue, erlesene Formen und Stile von Kleidung erfinden, um ihren sozialen Status gleichsam von oben nach unten zu kommunizieren und sich gegen die Angehörigen der unteren Stände abzugrenzen, und dass umgekehrt die unteren Klassen durch Nachahmung der jeweiligen Mode den höheren Schichten näherzukommen und die sozialen Differenzen symbolisch zu verringern streben.2 Eine ähnliche soziale Funktion der Mode, teils tatsächliche, teils erwünschte Schichtzugehörigkeit zu kommunizieren, behauptet 1877 auch Rudolf von Jhering.3 Mit ihren Kleidern wollen die Menschen also auch hinsichtlich ihres sozialen Ranges sich darstellen und verstellen, um einander zu gefallen; und „die Kunst zu gefallen“ ist nicht selten auch „die Kunst zu täuschen“.4 So erklärt es sich, dass beim zwischenmenschlichen Sichzurechtfinden im Umgang mit anderen die Orientierung an Kleidung als Indikator des sozialen Status einerseits von großer Wichtigkeit ist, andererseits aber immer unter dem Vorbehalt des strategischen Bekleidungsverhaltens in Form von Hoch- und Tiefstapelei steht. Wie steht es nun mit der Zuverlässigkeit der Orientierung, wenn wir von der Soziologie der Kleidung zur Psychologie der Kleidung übergehen?

2 Garve 1792. In dieser umfangreichen Monographie wird der „Kreislauf der Kleider-Moden“ als eine „Mittheilung“ der Erscheinungsmuster „von den höheren Ständen zu den niedrigern“ verstanden (S. 175 f., S. 179). 3 Jhering 1905. Hier heißt es, die Mode habe „ein soziales Motiv“, nämlich „das Bestreben der Abscheidung der höheren Gesellschaftsklassen von den niederen oder richtiger den mittleren“. „Die Mode ist die unausgesetzt von neuem ausgeführte, weil stets von neuem niedergerissene Schranke, durch welche sich die vornehme Welt von der mittleren Region der Gesellschaft abzusperren sucht, es ist die Hetzjagd der Standeseitelkeit“ (S. 186). 4 „L’art de plaire est l’art de tromper“ (Vauvenargues 1857, I, S. 422, Nr. 329).



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5. Kleidung als Ausdruck der Persönlichkeit? Die Berufs- und Vereinsuniformen von Menschen geben uns in der Regel bei unbekannten Personen Orientierung, so dass wir deren Tätigkeiten und Zuständigkeiten schnell einordnen können. Die Qualität und Gewähltheit der Garderobe, die uns Aufschluss über den sozioökonomischen Status ihrer Trägerin oder ihres Trägers geben können, verleihen uns ebenfalls primär Orientierung beim Kontakt mit fremden Menschen. Von diesen vorrangigen und meistens rasch erfolgenden Orientierungsleistungen sind solche höherstufigen zu unterscheiden, die sich auf bereits bekannte Personen beziehen. Auch wenn wir schon wissen, was jemand beruflich macht, welches Bildungsniveau er hat und wie vermögend er ungefähr ist, können wir ein weitergehendes Bedürfnis nach Orientierung haben. Was ist das für eine(r)? lautet etwa die Frage, wenn wir jemanden genauer kennenlernen wollen, z.B. wenn sich uns der neue Chef bzw. der neue Mitarbeiter vorstellt oder wenn wir uns bei einer Freizeitbekanntschaft mit einer sehr sympathisch wirkenden Person fragen, ob wir sie vielleicht zum Abendessen einladen und von der wir herausfinden wollen, ob sie in unseren Freundeskreis passt. Bei einem solchen fortgeschrittenen Orientierungsbedarf verstehen wir Kleidung als Ausdruck oder Spiegel der Persönlichkeit. Unleugbar hat dieser Aspekt von Kleidersprache ein Fundament in der Sache. Dass Kleidung auch etwas über die Psyche verrät, ist im Alltag ein so eindringlicher Eindruck, dass wir charakterliche Zuschreibungen wie „streng“ oder „locker“, „verstandesorientiert“ oder „emotional“, „durchsetzungsstark“ oder „durchsetzungsschwach“ usw. natürlich auch schon oft unwillkürlich treffen, wenn es sich um die Kleidung wildfremder Leute handelt. Entsprechend ist die Tatsache, dass Menschen die Persönlichkeit anderer anhand von deren Kleidung beurteilen, durch zahlreiche experimentelle Studien empirisch gut belegt. Eine ganz andere Frage ist dagegen, inwieweit diese Urteile nicht auch von der Persönlichkeit der beurteilenden Person (und, bei psychologischen Tests, auch vom Kriterienkatalog des vorgegebenen Fragebogens) abhängen. Es gibt m.E. derzeit keine empirischen Studien darüber, inwieweit die bei einem Test vom Typ Erkenne die Persönlichkeit an der Kleidung! abgegebenen Zuschreibungen auch wirklich zutreffen. Ganz abgesehen davon ist auch hier zu betonen, dass die Zuordnung aufgrund von Kleidung stets eingebettet ist in zahllose andere charakteristische Merkmale der äußeren Erscheinung, die zum sog. Gesamteindruck einer Person gehören. Eine Antwort auf die Frage, welche Persönlichkeitsmerkmale wir an der Bekleidung festmachen und an welchen Bekleidungsmerkmalen wir die Persönlichkeit festmachen, erweist sich als schwieriger denn vermutet. Wie andersartig dieses Verstehen von Zeichen ist, zeigt ein kurzer Vergleich mit den wichtigsten orientierungsdienlichen Zeichen der äußeren Erscheinung: Am Gesichtsausdruck

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oder der Mimik lesen wir überwiegend augenblicksgebundene, vorübergehende seelische Zustände ab, wie z.B. an den Zeichen des Weinens Trauer oder Verzweiflung, an einem strahlenden Lächeln Freude oder Fröhlichkeit, an einer bestimmten Form von gerümpfter Nase Ekel, an einer bestimmten Form von gerunzelter Stirn Misstrauen, an einer bestimmten Form hochgezogener Augenbrauen Überraschtsein oder an einer bestimmten Kombination von Stirnrunzeln, Naserümpfen und nach unten gezogenen Mundwinkeln Ärger, Wut oder Aggressivität; der Zuverlässigkeitsgrad dieser Anzeichen ist recht hoch, da es sich hier weitgehend um angeborene und somit kulturinvariante Korrelationen zwischen Emotion und Expression handelt.5 Wenn wir einen Menschen länger kennen und beobachten, können wir derartige Zeichen des Gesichts nicht bloß als Ausdruck vorübergehender Gemütsbewegungen verstehen, sondern bei möglicher Konstanz auch als Ausdruck dauerhafter Einstellungen oder Charaktereigenschaften deuten; es gibt Menschen, denen die Lebensfreude oder der Trübsinn, das Misstrauen oder der Ekel gleichsam ins Gesicht geschrieben ist. Noch stärker und zuverlässiger glauben wir charakterliche Konstanten an der Sprechweise eines Menschen festmachen zu können; so deuten wir etwa eine für die gelingende Kommunikation allzu leise Stimme mit zugleich undeutlicher Artikulation eher als Indikator eines geringen Selbstwertgefühls des Sprechenden, dagegen eine ruhige, deutlich artikulierende Stimme mit adressatengerechter Lautstärke eher als Anzeichen von Selbstbewusstsein. Und ähnlich entnehmen wir auch der Körperhaltung bestimmte charakterliche Dispositionen und Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen; schon am Gang einer Frau etwa zeichnet sich ab, ob sie ein hohes oder geringes Maß an Selbstbewusstsein hat und ob sie sich ggf. ihrer sexuellen Attraktivität bewusst ist oder nicht. Welcher Art aber sollte eine derartige Korrelation zwischen vestimentärer Erscheinung (Phänotyp) und (dauerhafter) seelischer Verfassung (Psychotyp) sein? Wir alle dürften zwar aufgrund von Erfahrung der Überzeugung sein, dass wir mit unserer Kleidung unser Inneres nach Außen tragen und dass Kleidung gleichsam unsere zweite Haut ist. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es hier eine ähnlich sichere Art des Ausdrucksverstehens überhaupt geben kann und ob ein

5 Die alte Streitfrage nach der Verwissenschaftlichungsfähigkeit der physiognomischen Kunst hatte neuen Auftrieb erhalten durch Darwin 1872. Auch wenn einige von Darwins Annahmen widerlegt, andere bis heute kontrovers beurteilt werden, bleibt doch die Kernthese der physiologischen Grundlagen der mimischen Ausdrucksbewegung bis heute verteidigungsfähig. Einen prägnanten Überblick über den neueren Forschungsstand gibt Ekman 1998 in seiner Einleitung und seinen Kommentaren.



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menschliches Individuum nicht zu komplex ist, um anhand seiner Kleidung auf seine Persönlichkeit hin typisiert werden zu können. Welche Persönlichkeitsmerkmale kämen überhaupt in Frage, die sich direkt durch Kleidung kundtun könnten? Schon ein kurzer Blick auf die bekanntesten Theorien bzw. Modelle der Persönlichkeit zeigt, dass zwischen den dort herauspräparierten Persönlichkeitsmerkmalen einerseits und den Stilen, Typen, Mustern und Farben von Kleidung andererseits zunächst keine erkennbare Verbindung besteht: Nach der ViererTypologie von Riemann-Thomann ist jedes Individuum eine Art Kreuzung aus den Folgeeigenschaften der vier polaren Grundausrichtungen Nähe vs. Distanz, Dauer vs. Wechsel. Das Fünf-mal-Zwei-Typen-Modell („Big Five“) nach ThurstoneAllport teilt ein in 1. selbstsicher vs. verletzlich, 2. introvertiert vs. extrovertiert, 3. offen für Neues vs. konservativ, 4. kooperativ vs. kompetitiv, 5. gewissenhaft vs. unzuverlässig. Das Sieben-Typen-Modell nach Humm-Wadsworth unterscheidet 1. den disziplinierten, loyalen und konventionsbewussten Normal, 2. den kommunikativen, gutgelaunten und von immer neuen Projekten begeisterten Mover, 3. den familienorientierten, problembewussten und zuverlässigen Doublechecker, 4. den kreativen, individualistischen und sensiblen Artist, 5. den zielstrebigen, durchsetzungsstarken und konfliktbereiten Politician, 6. den perfektionistischen und praktischen Engineer sowie 7. den nach materiellem Erfolg strebenden und ‚verkaufs‘orientierten Hustler. Das nicht gerade der empirischen Psychologie entstammende Enneagramm von Riso-Hudson unterscheidet die 9 Persönlichkeitstypen des Reformers, Helfers, Leistungsmenschen, Individualisten, Forschers, Loyalen, Enthusiasten, Herausfordernder und Friedliebenden. Und sogar 16 Typen unterscheiden sowohl der an C.G. Jung angelehnte Myers-Briggs-Indikator als auch das nach herrschenden Lebensmotiven einteilende Testprofil nach Steven Reiss. Alle diese Typologien sind einerseits anfechtbar, andererseits aber mehr oder weniger gut anschlussfähig an unsere alltäglichen Erfahrungen. Da sie jedoch keine direkte Verbindung zum Kleidungsverhalten erkennen lassen, empfiehlt es sich im Folgenden, statt der Übernahme eines bestimmten Persönlichkeitsmodells vielmehr jene Einteilung bewusst zu machen, die wir alle bei der alltäglichen Wahrnehmung anderer Menschen anhand der Kleidung mehr oder weniger spontan vollziehen. Die folgende Systematik geht also nicht von Typen der Persönlichkeit, sondern von Typen des Kleidungsverhaltens aus und zeigt die großen Spielräume auf, die bei der Zuordnung von Kleidung zu bestimmten Persönlichkeitstypen bestehen. Insofern leistet sie einen Beitrag gegen das ‚Schubladendenken‘, das unserer sozialen Wahrnehmung gemeinhin innewohnt. Erst ganz zum Schluss dieses Kapitels sollen jene wenigen Persönlichkeitsmerkmale zur Sprache kommen, die sich relativ eindeutig in manifesten „Kleiderbotschaften“ (diesen für die wenigen Persönlichkeitsmerkmale sehr glücklichen Aus-

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druck entnehmen wir Hoffmann 1985, S. 165 ff.) niederschlagen; sie drehen sich überwiegend um die sexuellen Selbstbilder von Menschen. Einer der ersten Unterschiede, die wir abgesehen von Gruppenzugehörigkeit und Sozialstatus an der Kleidung anderer vollziehen, beruht auf einer intuitiven Vorerwartung von Angemessenheit beim Sichbekleiden. Woran sich diese Angemessenheit bemessen lässt, unterliegt zwar starken kulturellen Wandlungen: Vor hundert Jahren galt es z.B. für sozial angemessen oder erwartet, dass in den bürgerlichen Schichten auch außerhalb des Berufslebens und festlicher Ereignisse die Männer Anzüge und Krawatte, die Frauen Kostüme tragen; heute dagegen, d.h. nach Erfindung der „Freizeit“ und des entsprechenden „Freizeitlooks“, würden uns derart gekleidete Personen oft bis ins Lächerliche „overdressed“ erscheinen. Ungeachtet dieser historischen Wandlungen der Maßstäbe unterscheiden wir zwischen Menschen, denen wir anmerken, dass sie aufmerksam auf ihre äußere Erscheinung sind und daher Wert auch auf angemessene Kleidung legen, und solchen, die in Bezug auf ihre Kleidung nachlässig sind bzw. denen sie unwichtig ist. Diesen basalen Unterschied, den wir oft schon beim ersten Eindruck, erst recht aber bei näherer Bekanntschaft machen, kann aber auf beiden Seiten die unterschiedlichsten Gründe (die nicht notwendig in der Persönlichkeit verwurzelt sind) haben, so dass der Orientierungswert dieses Aspekts von Kleidung nicht sehr hoch ist. Wer z.B. am Arbeitsplatz immer zu den Bestangezogenen gehört, kann das aus Ordnungsbewusstsein, aber auch aus Karrieregründen, aus ängstlicher Überanpassung oder aus Narzissmus tun; Aufschluss erhalten wir vielleicht, wenn wir erfahren, was diese Person in ihrer Freizeit trägt. Umgekehrt gibt es auch für den nachlässigen Phänotyp die unterschiedlichsten Motive; z.B. unterstellen wir schon am Arbeitsplatz Kollegen, die Hochwasserhosen oder unterschiedliche Socken oder verschmutzte Hemden tragen, eher mangelnde Aufmerksamkeit (für die wir wiederum unterschiedliche Gründe ausmachen, z.B. aufgrund einer regelmäßigen Alkoholfahne des Kollegen), Kollegen dagegen, die Textilien tragen, die in Farbe, Stoff oder Stil einfach nicht zusammenpassen, eher mangelnden Geschmack, und wiederum Kollegen, die bis über den Verschleiß hinaus immer denselben Anzug, dasselbe Hemd und dieselben Schuhe tragen, eher fehlende Zeit oder fehlendes Geld (erst recht, wenn wir wissen, dass sie sieben Kinder haben); es gibt aber natürlich auch den Typus des Konformitätsverweigerers, der sich vorsätzlich ‚gammelig‘ anzieht, um damit z.B. entweder gegen die Hochschätzung des bloß Äußerlichen oder gegen das Establishment, in dessen Umkreis er seinen Broterwerb zu finden das Pech hatte, zu protestieren. Unterschiedlichste Motive bzw. Ursachen lassen sich schließlich auch für die dritte Gruppe ausmachen, nämlich für Personen, die ständig „overdressed“ auftreten und womöglich noch am Badestrand einen eleganten Sommeranzug tragen. In allen diesen Fällen ist keine unmittelbare eindeutige Zuordnung der



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Kleidung zu bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen möglich; entsprechend sind es weniger die Kleidungsstücke als vielmehr Zusatzinformationen, die uns beim Zurechtfinden mit anderen Menschen wirklich Orientierung darüber geben, mit welchem Psychotyp wir es zu tun haben. Die Zeichen der Kleidung bilden hier gleichsam nur einige Steinchen im ganzen Mosaik. Eine andere Unterscheidung, die wir an der Kleidung anderer selbst festmachen, ist die zwischen modisch und unmodisch Gekleideten. Denn innerhalb der Gruppe der Erscheinungsbewussten, die im Beruf oder bei besonderen Ereignissen gepflegt und korrekt gekleidet sind, unterscheiden wir wiederum Personen, deren Kostüme oder Anzüge auch schon von ihrer Mutter oder ihrem Vater hätten getragen werden können. Auch hier sind die Gründe, weshalb die Kleidung des einen „in“, die des anderen „out“ (wenn nicht „megaout“) ist, sehr verschieden. Das beginnt bereits damit, dass wir einem Mann, der seine Kleidung stets nach der neuesten Mode ausrichtet, vielleicht andere Beweggründe zuzuschreiben geneigt sind als der entsprechend „à la mode“ gekleideten Frau. Georg Simmel hat in seiner Philosophie der Mode ein kurzes Psychogramm des „Modenarren“ versucht und ihn unter jene Menschen gesteckt, „welche innerlich unselbständig und anlehnungsbedürftig sind, deren Selbstgefühl aber doch zugleich einer gewissen Auszeichnung, Aufmerksamkeit, Besonderung bedarf“ (Simmel 1905, S.  18 f.). Dies mag sogar tatsächlich einen der hauptsächlichen Charakterzüge des Modizisten treffen, beruht aber auf zahlreichen Voraussetzungen, die nicht gegeben sein müssen; wer z.B. führend in der Modebranche oder unter sog. Kreativen tätig ist, verspricht sich von seiner Modizität weniger „Auszeichnung, Aufmerksamkeit, Besonderung“ als vielmehr Gruppenkonformität. Auch ist aus Erfahrung bekannt, dass einige der nach der neuesten Mode gekleideten Männer lediglich mit Frauen liiert sind, die modisch und zugleich ehrgeizig sind. Das Gegenextrem zum Neumodischen (Modenarren), also der unmodische Phänotyp, ist teils der Altmodische, der die neueren Stile der Bekleidung gar nicht registriert, teils der Gegenmodische (Modeverweigerer), der vorsätzlich Textilien aus einer Epoche trägt, die er entweder aufgrund einer konservativen Einstellung für die ‚gute alte‘ hält oder in die er sich aufgrund eines fehlenden Zuhauseseins in der Gegenwart seelisch hineinträumt. Auch hier gibt es nicht den einen und einzigen Charakterzug der Persönlichkeit, auf den sich aus der anachronistischen Kleidung folgern ließe, sondern mehrere mögliche Charakterzüge, die nur durch Zusatzinformationen erschlossen werden können. Eine dritte Unterscheidung, die wir im Alltag an der Kleidung der anderen treffen können, ist die zwischen Konformisten und Individualisten, anders gesagt Nachahmern und Selbstdarstellern. Simmels Philosophie der Mode belehrt uns darüber, dass diese Extreme in zwei gegenläufigen Sozialbedürfnissen wurzeln, die in unserer menschlichen Natur angelegt sind und ständig zwischen „Kampf“

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und „Kompromiß“ schwanken, nämlich der „Verschmelzung mit unserer sozialen Gruppe“ einerseits und unserer „individuellen Heraushebung aus ihr“ andererseits (Simmel 1905, S. 9). Diese antagonistischen Tendenzen bilden ein gewisses Analogon zu den physikalischen Grundkräften der Attraktion und Repulsion: Der Anziehungskraft durch die Gruppe entspricht unser „Bedürfnis nach sozialer Anlehnung“, unser „Bedürfnis des Zusammenschlusses“ mit anderen, unser Trieb zum „Untertauchen in die Kollektivität“, der Abstoßungskraft hingegen entspricht unser „Unterschiedsbedürfnis“, unser „Bedürfnis der Absonderung“, unser „Trieb [...] zur Individualisierung“ (Simmel 1905, S. 11, S. 15, S. 22). Die „psychologische Tendenz zur Nachahmung“ anderer, die als „sozialer“ Trieb oder Trieb zur „Egalisierung“ bezeichnet werden kann und bis hin zur „Einschmelzung des Einzelnen mit der Allgemeinheit“ reicht, führt zur „Bindung“ oder Identifikation mit der Gruppe (Simmel 1905, S. 10 f., S. 20, S. 22, S. 27). Umgekehrt entspricht das Bedürfnis nach „individuellem Sich-abheben“, das als „individualisierender Trieb“ oder „Individualisierungstrieb“ zu kennzeichnen ist, unserem Bedürfnis nach „Freiheit“ von der Gruppe (Simmel 1905, S. 20, S. 22, S. 27, S. 29). Im Alltag merken wir meistens schnell, wer von unseren Berufskolleginnen und -kollegen, von unseren Sport- und Eventpartnern usw. einerseits konformistisch darum bemüht ist, sich der Kleidung der anderen der Gruppe bis hin zur Uniformierung anzupassen, wer andererseits keine Gelegenheit versäumt, sich durch seine andersartige Kleidung forciert von der jeweiligen Gruppe abzugrenzen, und wer schließlich (als Mitte zwischen diesen Extremen) sich zwar grundsätzlich anpasst, aber individuelle Akzente setzt, die ihn davor bewahren, eine Kopie der Gruppenmitglieder zu sein. Doch selbst bei den Repräsentanten der beiden phänotypischen Extreme fehlt uns eine unmittelbare Orientierung im Hinblick auf den Persönlichkeitstyp. Der Kleidungskonformist kann die Nachahmung aus Ängstlichkeit vor sozialer Abweichung betreiben, aber auch aus Strategie zur Erhöhung der Sympathie- oder Karrierechancen, oder vielleicht nur aus Bequemlichkeit durch Entlastung von der allmorgendlichen Qual vor dem Kleiderschrank; umgekehrt können sich auch im Kleidungsindividualisten unterschiedlichste Persönlichkeitstypen artikulieren: der Protestler, der Geltungssüchtige, der Narzisst, der Spielerische usw. Von erheblich höherem Orientierungswert ist dagegen jene Variante von Nonkonformismus, bei der sich ein Individuum nicht qua Individuum gegen die Bezugsgruppe durch Kleidung abgrenzt, sondern z.B. als Zugehöriger einer Exklusivgruppe gegen die gesellschaftliche Majorität. Wer demonstrativ und möglichst überall seine Zugehörigkeit zu den Hippies, Rockern, Teds, Punkern, Skinheads, Gothics, Ravers oder ähnlichen Gruppen durch die szenetypischen Kleidungssignaturen kommuniziert, verrät hiermit immerhin Aufschlüsse über einen Großteil seiner Lebenseinstellung und seines Verhältnisses zur Gesellschaft (vgl. Grob 1985; Ferchhoff 2007).



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Im Unterschied zu dieser gleichsam horizontalen Differenz zwischen der durch Kleidung signalisierten sozialen Nachahmung und Abgrenzung besteht die vertikale Variante dieser Kommunikation durch Kleidung in der schon in Kap. 4 aufgezeigten Dynamik der Abgrenzung der höheren sozialen Schichten gegen die unteren durch prestigeträchtige Garderobe einerseits und durch die via Kleidung versuchte symbolische Annäherung der unteren Schichten an die höheren andererseits. Hier treten die unterschiedlichsten vestimentären Phänotypen auf, die wir als Spiegel entsprechender Psycho- und Soziotypen deuten: von der stilsicher und distinguiert gekleideten führenden Persönlichkeit über den aufstiegsbemühten Hustler, der teils durch teure Prestigesymbole wie Schmuck oder Uhren, teils durch billige Imitate von solchen zu beeindrucken sucht, bis hinab zum sozial Verwahrlosten. Die bisher in diesem Kapitel nachvollzogenen Unterschiede vestimentärer Phänotypen erwiesen sich als von begrenzter Zuverlässigkeit für die Orientierung auf Persönlichkeitsmuster hin, da sie es, isoliert von anderen Merkmalen der äußeren Erscheinung, nicht erlaubten, von der Kleidung relativ sicher auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zu schlussfolgern. Es gibt jedoch Aspekte von Kleidersprache, bei denen die Zuordnung zu bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen eher leichtfällt; dies ist die Signalisierung psychosexueller Charakteristika (ein früher Klassiker dieser Zusammmenhänge ist Kraus 1906; eine sehr intensiv diskutierte psychoanalytische Studie zur Sexualität in der Kleidung findet sich bei Flügel 1930). Es spricht einiges dafür, dass sowohl die politisch-sozialen Bedingungen als auch die volle Wahrnehmung der folgenden Aspekte von Kleidungssprache erst in den letzten Jahrzehnten und nur in liberalen modernen Gesellschaften möglich geworden sind (vgl. Gaugele/Reiss 2003). Es fällt uns erstens auf, wenn Frauen oder Männer ihren Körper in einem unüblichen Grad erotisieren, der vom Beobachter als Herausforderung wahrgenommen wird6; in diesen Fällen betont oder entblößt gar die Kleidung die sekundären Geschlechtsmerkmale, markiert erregende Körperzonen oder besteht aus durchsichtigen, glänzenden oder glatten Materialien. Über den Persönlichkeitstyp besagt eine solche stark sexualisierte Kleidung direkt, d.h. unabhängig vom Kontext, nicht viel, aber doch immerhin dies, dass die Trägerin oder der Träger mehr oder weniger bewusst ein Wahrgenommenwerden als optisches sexuelles Objekt sucht. Wer eine solche Kleidung nur selten trägt, z.B. im Karneval oder in entsprechenden Clubs, wird hier im Hinblick auf seine Persönlichkeit mit Grund anders beurteilt als eine Person, die sie ständig und vielleicht sogar im Berufsalltag trägt; wiederum anders, wer sie zu gewerblichen Zwecken trägt. Eine andere sexuelle Bedeutung von Kleidung

6 Sehr instruktiv für diesen und die folgenden Zusammenhänge ist der Versuch einer Dekodierungstabelle bei Hoffmann 1985, S. 174, der wir einige Anregungen entnehmen.

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bezieht sich auf die sexuelle Ausrichtung ihrer Trägerinnen und Träger. Während die Zuschreibung von Heterosexualität am wenigsten anhand von Kleidung möglich ist, wird die von Homosexualität durch kleinere Details oder auch durch einen als typisch geltenden Look begünstigt. Auch hier gilt wieder, dass diese Zeichensprache zumindest teilweise dem Wandel unterliegt, dass sie irrtumsanfällig ist und dass sie fast immer nur in Verbindung mit anderen Kennzeichen (wie Stimme, Schmuck oder Gestik) signifikant für bestimmte Bedeutungen ist. Einen sehr hohen Orientierungswert hat die Kleidung dagegen natürlich bei Transvestiten bis hin zur Drag Queen. Erwähnenswert ist schließlich auch die Signalisierung psychosexueller Rollen durch Kleidungszeichen. So kommuniziert z.B. eine Konstellation von Leder, Schnallen, Ketten, Metallteilen, Stiefeln oder hohen Absätzen die Haltung von Dominanz; umgekehrt verweisen etwa weiche und zarte Stoffe zusammen mit fesselartigem Schmuck, verschleiernden Elementen und bewegungseinschränkenden Textilien oder Schuhen auf Devotion. Soweit der vorliegende Versuch, an vier Grundtypen der Signifikanz von Kleidung die hauptsächlichen Möglichkeiten und Grenzen einer Orientierung bewusst zu machen, die wir in unvertrauten Zusammenhängen an der Kleidung anderer gewinnen können! Es zeigte sich, dass die Art, die Zuverlässigkeit, der Wert und die Vorbedingungen eines solchen Sichzurechtfindens sehr verschieden sind. Da diese vielfältige Orientierung an Kleidung eine „Orientierung in Zeichen“ (Stegmaier) ist, nicht jedoch in Schrift- oder Sprachzeichen, mag am Ende vielleicht deutlich geworden sein, dass sich im Rückblick auf alle genannten Zusammenhängen mit Fug und Recht von einer „Kleidersprache“ (Hoffmann) sprechen lässt – einer Sprache allerdings, die sich lediglich bei den ersten beiden Typen des Verstehens (Kleidung als Zeichen der Zeit und der Gruppe) ohne Verlust isolieren lässt von der ‚Körpersprache‘ der Mimik, Gestik und Stimme, deren Verstehen aber bei den übrigen Aspekten viel Erfahrung und Beobachtung voraussetzt und stets Missverständnissen ausgesetzt ist, da die Bedeutung der jeweiligen Zeichen erheblich stärker vom Kontext anderer Zeichen abhängen als bei jeder Schriftsprache.

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Psychologie und Psychotherapie

Günter Gödde

Brauchen die wissenschaftliche Psychologie und Psychotherapie philosophische Fluglotsen? Wenn heute verstärkt von der Krise der Hermeneutik, der Geisteswissenschaften und auch der Psychoanalyse die Rede ist, lassen sich unterschiedliche Einstellungen und Reaktionen beobachten. Sprecher aus dem naturwissenschaftlichen Lager melden sich selbstbewusst zu Wort, um geisteswissenschaftliches und insbesondere psychoanalytisches Verstehen und Interpretieren generell als unabgesichert, ja mehr oder weniger beliebig und letztlich unwissenschaftlich hinzustellen. Charakteristisch für diese Einstellung ist z.B. die Äußerung eines Psychologieprofessors gegenüber Studierenden, dass die Beschäftigung mit Freud heute „völlig obsolet“ sei. Derart in die Defensive gedrängt verweisen Geistes- und Kulturwissenschaftler häufig darauf, dass die Geisteswissenschaften nicht zu den „harten Wissenschaften“ gerechnet werden können; an das geisteswissenschaftliche Verstehen und auch an psychoanalytische Interpretationen müssten andere Maßstäbe angelegt werden. In der 2011 erschienenen Arbeit „Geist und Verstehen“ betrachtet Wolfgang Detel die wissenschaftspolitische Diskussion um die Hermeneutik „als Teil der umfassenderen internationalen Debatte um den Naturalismus“. Der Naturalismus sei „im Kern die Auffassung, dass sich alles, was sich im geistigen und sozialen Bereich beschreiben und erklären lässt, letztlich mithilfe der Sprachen, Theorien und Methoden der Naturwissenschaften wird beschreiben und erklären lassen. Das Geistige und Soziale […] lassen sich dem Naturalismus zufolge auf die Natur und ihre naturgesetzliche Organisation reduzieren“ (Detel 2011, S. 10). Der moderne Naturalismus verbinde sich seinerseits mit dem Szientismus, der Überzeugung, dass sich alle Disziplinen, die wissenschaftlichen Anforderungen genügen wollen, methodisch an den Naturwissenschaften ausrichten müssten. Detel betont, dass Naturalismus und Szientismus „weltweit auf dem Vormarsch“ sind und „eine enorme wissenschaftspolitische Wirkung“ entfalten. Sie stellten „eine ernsthafte Gefahr für den Bestand der Geisteswissenschaften und die Verteidigung eines humanen Menschenbildes dar“ (Detel 2011, S. 11). Auch in meinem Berufsfeld, der professionellen Psychotherapie tobt nach wie vor ein Kampf zwischen hermeneutisch und szientistisch orientierten Kolleg(inn)en. Im Rahmen der Hermeneutik lautet die Frage, ob ein Psychotherapeut wie ein Textausleger arbeitet, wenn er seinen Patienten zu verstehen und mit Hilfe von Interpretationen zu therapieren sucht. Wer eine szientistische Posi-

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tion vertritt, sucht im Seelischen nach empirisch erfassbaren Gesetzmäßigkeiten; der Psychotherapeut formuliert dann keine Deutung, sondern er wendet Gesetze des Seelischen an; was er sagt, verdiene eher den Namen einer Erklärung (vgl. Gödde/Buchholz 2012; Schöpf 1014; Warsitz/Küchenhoff 2015). Zur Klärung dieser wissenschaftlichen und beruflichen Orientierungsprobleme setze ich mich im ersten Teil meines Beitrags mit der Kontroverse zwischen Hermeneutik und Szientismus auseinander und komme am Ende zu einer ersten Schlussfolgerung. Im zweiten Teil widme ich mich der Frage, ob die Psychotherapie über die Wissenschaft hinaus „philosophischer Fluglotsen“ bedarf.

1. Orientierung am Komplementaritätsprinzip Der Gegensatz von Erklären und Verstehen bildete lange Zeit den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. Dilthey hat mit seinen Überlegungen zum Verstehen und zur Verstehenden Psychologie vor allem bei hermeneutisch und phänomenologisch orientierten Philosophen und Psychologen wie Husserl, Jaspers, Spranger, Bollnow, Heidegger, Sartre, Gadamer u.v.a. nachhaltige Wirkungen erzielt, die etwa bis in die Zeit der Studentenbewegung anhielten. Dann kam es bekanntlich zu einem großen Umbruch: „Die Kritik war im wesentlichen ideologiekritisch: Man ‚entlarvte‘ den bürgerlichen, patriarchalischen und westlichen Charakter der Geisteswissenschaften“ (Kjoerup 2001, S.  46). In den letzten Jahrzehnten war es dann die Definitionsmacht der empirisch-experimentellen Psychologie und der ihr zugrunde liegende Sog des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts, welche die Hermeneutik und die geisteswissenschaftliche Psychologie in den Hintergrund gedrängt haben. Das Basisproblem der Hermeneutik wird in der mangelnden wissenschaftlichen Überprüfbarkeit ihrer Interpretationen gesehen. Um dieses Basisproblem kreisen folgende Fragen: „Wie können Interpretationstiefe und hermeneutische Vielfalt mit den Forderungen nach innerer Konsistenz und intersubjektiver Überzeugungskraft vereint werden? Wie sind methodische Kompromisse zu erreichen, die auch für andere Personen als den Interpreten überzeugend und darüber hinaus für die praktische Anwendung nützlich sind? […] Wird die Überzeugungskraft der Interpretation im Kontext, im interaktiven Verfahren oder in einer Interpretationsgemeinschaft geprüft?“ (Fahrenberg 2008, S. 2) Umgekehrt hat die naturwissenschaftlich-szientistische Richtung ebenfalls mit einem Basisproblem zu tun gehabt, das als Dekontextualisierung des Forschungsgegenstandes bezeichnet wurde. Für ein experimentelles Vorgehen ist es notwendig, komplexe Sachverhalte in analytische Einheiten aufzuteilen und



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zu diesem Zweck auf die Berücksichtigung des (allzu) konkreten Kontextes zu verzichten. Aber nicht nur vom Kontext, sondern auch „in einer überaus einschneidenden Weise vom erlebenden Subjekt und sogar von der Tatsache der Veränderung des Menschen“ wurde abstrahiert und der Forschungsgegenstand entsprechend eingeengt (Jüttemann 2010, S. 14). Daher räumte man weithin der Forschungsmethode den Vorrang vor dem zu erforschenden Gegenstand ein. Mit der Engführung des Wissenschafts-Begriffs hat die empirische Psychologie sowohl wichtige Themenbereiche als auch wertvolle Erkenntniszugänge ausgegrenzt. Das gilt für kultur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Konzepte, für die qualitative Forschung sowie für Philosophie und Anthropologie. Eine solche Ausgrenzung hat in den letzten Jahren auch dazu geführt, dass die Psychoanalyse und die psychodynamische Psychotherapie in den psychologischen Fachbereichen der Universitäten zunehmend ein Schattendasein führen (Lebiger-Vogel 2011).

Die Frage nach dem Wissenschaftsstatus der Psychoanalyse Die Kluft, die sich zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Wissenschaft aufgetan hat, hat die Psychoanalyse seit ihren Anfängen tangiert. Auch ihr wurde Unwissenschaftlichkeit vorgehalten, weil sie keine Experimente oder sonstige kontrollierte Beobachtungen durchgeführt habe und daher den wissenschaftlichen Kriterien der Nachprüfbarkeit, Messbarkeit, Voraussagbarkeit, Falsifizierung u.a. nicht genüge. Auf der anderen Seite suchten namhafte Philosophen und Psychoanalytiker dem besonderen Wissenschaftsstatus der Psychoanalyse im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Hermeneutik gerecht zu werden: Habermas (Habermas 1973) attestierte ihr eine Metahermeneutik, die in ihren Grundannahmen deutlich über die bloße Hermeneutik hinausgehe. Demgegenüber verteidigte Ricoeur (Ricoeur 1969) den Naturalismus der Psychoanalyse und nahm eine Art Dialektik von Energetik und Hermeneutik an. Lorenzer (Lorenzer 1970) suchte mit seinem Schlüsselbegriff des „szenischen Verstehens“ eine besondere Methode „tiefenhermeneutischer“ Auslegung zu entwickeln; mit seinem Erkenntnismodell des „Begreifens“ blieb er aber auch den Naturwissenschaften verhaftet und sprach in einer späteren Arbeit konsequent von der „Hermeneutik des Leibes“ (1986). Gingen Habermas, Ricoeur und Lorenzer prinzipiell von einer „methodologischen Sonderstellung“ der Psychoanalyse aus, so war damit die Gefahr einer elitären Selbstabschottung, eines „methodologischen Ghettos“ verbunden (Mertens 2005, S.  26 f.). Eine empirische Detailprüfung dessen, was in therapeutischen

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Behandlungen an psychodynamischen Prozessen geschieht und Wirkungen entfaltet, ist aber aus Gründen der Qualitätssicherung unbedingt notwendig. Dem trägt die heutige Psychoanalyse seit längerem Rechnung, indem sie Brücken zu den Psychotherapie- und Säuglingsforschern geschlagen und einen interdisziplinären Dialog mit der „cognitive neuroscience“ in Gang gesetzt hat. Seitdem die Thematik unbewusster Prozesse in der Kognitiven Psychologie Einzug gehalten hat, findet von Seiten der Verhaltenstherapie „eine stillschweigende Annäherung an psychoanalytische Konzepte unter anderen Bezeichnungen in diversen Bereichen der kognitiven Psychologie statt“. Daher kann man sich vorstellen, dass „sich Psychoanalyse und Psychologie in den nächsten Jahren einander weiter annähern werden“ (Mertens, S. 15 f.). Tatsächlich gibt es in jüngster Zeit Anzeichen dafür, dass sich ein Gegentrend zur Ausgrenzung der Psychoanalyse bilden könnte. So hat sich z.B. Peter-André Alt als Präsident der Freien Universität Berlin für eine Ringvorlesung mit dem Titel „Who is afraid of Sigmund Freud? Perspektiven der Psychoanalyse heute“ eingesetzt, die im Wintersemesters 2013/14 im Audimax der FU stattfand und regelmäßig von etwa 500 Teilnehmern besucht wurde. Hermeneutiker wenden gegen die szientistische Position ein, sie vernachlässige, dass Menschen mit symbolischen Werkzeugen operieren. Die Bedeutung eines Symbols stehe nicht ein für allemal fest, sondern wandle sich mit dem Kontext, mit dem jeweiligen Sachverhalt oder mit dem Gesprächspartner. Deshalb müsse ein Psychotherapeut geradezu auf Schritt und Tritt interpretieren, weil er nur so der Vielschichtigkeit, aber auch der Variabilität eines Symbols gerecht werden könne. Außerdem seien Menschen kulturabhängige Wesen. Jede Kultur habe ein sehr unterschiedliches Verständnis vom Menschen, weswegen es allgemeine Gesetze vom Menschen nicht geben könne. In einer hochgradig vernetzten modernen Welt sei es immer schwerer vorstellbar, dass invariante Gesetzmäßigkeiten über weite Zeit- und Kulturräume hinweg Gültigkeit beanspruchen könnten. Menschen reagierten nicht immer auf die gleiche Weise auf Reize, sondern nutzten ihre Reflexionsmöglichkeiten, um ihre Selbstbestimmung zu erweitern. Das gilt auch und gerade im Rahmen der Depressionstherapie und -forschung. In diesem Kontext werden drei Fragen immer wieder aufgeworfen: „Wie einheitlich oder different sind depressive Phänomene? Wie pathologisch oder physiologisch bzw. sinnvoll sind sie? Inwieweit steht in der Behandlung die Krankheit oder der Mensch im Zentrum?“ (Hell 2012, S. 30) Einer Vereinheitlichung der vielfältig in Erscheinung tretenden Depressionen steht entgegen, dass unter der gleichen Diagnose bekanntlich ganz verschiedene Problemstellungen subsumiert werden. So können sich z.B. hinter der Symptomatik einer Major Depression „die Reaktion auf einen plötzlichen und



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dramatischen Verlust eines Liebespartners, auf Arbeitslosigkeit, eine körperliche Erkrankung oder aber auf jahrelange, ungelöste Beziehungskonflikte und anders mehr“ verbergen (Leuzinger-Bohleber 2005, S.  41). Hinzu kommt, dass Depressionen nie in Reinform, sondern immer in Komorbidität mit anderen Störungen auftreten. Pathologisierende Einschätzungen im Sinne von Melancholie, Schwermut, „endogener“ Psychose oder funktioneller Hirnstörung wurden historisch gesehen immer wieder von eher relativierenden und entpathologisierenden Sichtweisen abgelöst. Auch die Kluft zwischen objektivierender und subjektivierender Diagnostik durchzieht die Problemgeschichte der Depression. So wichtig die Erkenntnisse der empirischen Forschung sind, kommt es in der Therapie doch maßgeblich darauf an, sich in den subjektiven Erlebnisraum eines Menschen aus der Perspektive der ersten Person hineinzuversetzen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass in der Kontroverse zwischen Hermeneutik und Szientismus einiges in Bewegung geraten ist: Das Problem der Dekontextualisierung taugt heute nicht mehr als Generaleinwand gegen empirische Forschungsmethoden. Die Kritik an der RCT-Methodologie in der Psychotherapieforschung wird inzwischen von Empirikern selbst zugestanden und nicht mehr kritiklos vertreten. Die Psychologie kann sich dem Problem der Interpretation nicht entziehen und tut das auch nicht zur Gänze. Detel will die Position der Geisteswissenschaften stärken, indem er eine moderne Hermeneutik ausarbeitet, die auch für Psychologie und Psychotherapie von hoher Relevanz wäre: „Die Vertreter der Geisteswissenschaften haben den Naturalismus meinem Eindruck nach bisher nicht entschieden genug bekämpft. […] Das ist umso bedauerlicher, als in der Philosophie des Geistes, Semantik, Linguistik, kognitiven Psychologie und Primatologie seit einigen Jahrzehnten mit großem Erfolg an einer präzisen, reichhaltigen, attraktiven und empirisch testbaren Theorie des Geistes gearbeitet wird“ (Detel 2011, S. 11). Nach Detels Auffassung kann sich die Hermeneutik auf die experimentellen Forschungen der Entwicklungspsychologen ebenso wie auf die zur sozialen Kognition beziehen und sie kann weitere neue Themenfelder öffnen.

Perspektiven für eine komplementäre Psychologie Gibt es möglicherweise eine Hermeneutik und Szientismus übergreifende Sichtweise? Gemeinsam mit Michael Buchholz und etwa 30 Autoren habe ich in dem zweibändigen Werk „Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten“ (Gödde/Buchholz 2012) wieder die Denkfigur der Komplementarität ins Spiel gebracht. Sie ist aus dem Bereich der Quantenphysik entlehnt, als Niels Bohr im Kopenhagen der 1930er Jahre vorschlug, einige

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Probleme der Deutung entsprechender Befunde durch die Annahme zu lösen, dass Licht sowohl als Korpuskel wie auch als Welle betrachtet werden könne. Ein „Sowohl-als-auch“ trat hier an die Stelle des „Entweder-Oder“ (Walach 2012; Stegmaier 2012; Fahrenberg 2013). Komplementarität kann als eine Beschreibungsweise komplexer Gegenstände betrachtet werden, bei der zwei sich anscheinend gegenseitig ausschließende Beschreibungen auf den gleichen Gegenstand angewandt werden. Weil in der Psychologie sehr häufig solche komplexen Gegenstände vorkommen, erscheint Komplementarität als eine bessere Leitfigur als das Ausschlussverhältnis von Hermeneutik und Szientismus, das in ein unfruchtbares Kontrastprogramm eingemündet ist. Komplementarität kann man insbesondere auf das Leib-Seele Problem anwenden. Versteht man körperliches und geistiges Sein, Gehirn und Geist als zwei komplementäre Betrachtungsweisen, dann sind beide gleichzeitig notwendig, um den Gegenstand Mensch adäquat zu erfassen. Und nicht zuletzt kann man Komplementarität auch auf das lange Zeit als Antagonismus behandelte Verhältnis von Kognition und Emotion beziehen. Hermeneutik und Szientismus, Körper und Seele, Kognition und Emotion können als zwei Seiten einer Münze gesehen werden (vgl. Gödde/Buchholz 2012). Steht die Münze aufrecht, kann man beide Seiten entziffern. Liegt sie, kann man nur die obere Seite erkennen, während die untere verdeckt bleibt. Solange der heutige main stream in der Akademischen Psychologe am Naturalismus und Szientismus orientiert bleibt, ist die Münze nur auf einer Seite sichtbar. Die verdeckte Seite birgt die „weicheren“ Momente des Menschlichen in sich: alles, was mit Sinnfragen zu tun hat, mit der Fähigkeit zur Symbolik und der Entwicklung von Sprache, mit Träumen und Bangigkeit, mit den Problemen der Existenz, mit Themen wie kreativem Aufblitzen oder überhaupt dem Entstehen des Neuen in einem menschlichen Geist. Versteht man die Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität, so sucht sie den harten naturwissenschaftlich-empirischen und den weichen „Denkstil“, der Interpretation, Deutung und Intuition betont, als zwei Seiten einer Münze mit einander zu verbinden. An dieser Stelle lässt sich noch ein drittes Konzept ins Spiel bringen – die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen „Wissenskulturen“. Die Verhaltenstherapie hat sich lange Zeit als Kognitionspsychologie betrachtet und sich dabei auf die vermeintlich objektiven, empirischen und szientifisch orientierten Naturwissenschaften berufen, um eine Führungsanspruch im Psychotherapiebereich geltend zu machen. Der damit verbundene Anspruch auf Objektivität wird aber in der Wissenschaftstheorie immer stärker angezweifelt (Rheinberger 2007; Daston/ Galison 2007; Walach 2009). Danach kann es nur wahre Überzeugungen geben, die vom Kontext der jeweiligen Wissenskultur abhängig sind (Sandkühler 2009). Die Psychoanalyse, die sich vor allem mit der inneren Welt des Menschen, mit



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Vorstellungen, Wünschen, Phantasien und Begierden beschäftigt, kann als eine anders geartete Wissenskultur betrachtet werden, die aber – fatalerweise – nicht an dem Wissensbegriff ihrer eigenen Kultur, sondern an dem der Verhaltenstherapie (und dem der Akademischen Psychologie) gemessen und dann oft als empirisch unabgesichert und unwissenschaftlich hingestellt wird. Mit der Herausarbeitung dieser Differenz von Wissenskulturen verbindet sich die Hoffnung, dass sich die Hermeneutik und die Naturwissenschaften wieder auf Augenhöhe zum Dialog begegnen können (vgl. Sell 2012). Dass sich die neuere Verhaltenstherapie in einer sog. „dritten Welle“ nach dem Behaviorismus und der kognitiven Psychologie verstärkt den Emotionen, der Achtsamkeit und der Akzeptanz zugewandt hat, könnte dazu beitragen dass sie sich für den Relativismus der Wissenskulturen und die Idee der Komplementarität öffnet. Der Berliner Wissenschaftsphilosoph Holm Tetens hat darauf hingewiesen, dass auch in der Philosophie viele dem Naturalismus und Szientismus unverbrüchlich die Treue halten, weil sie „einfach keine Alternative zum Naturalismus [sehen]. Den Naturalismus aufzugeben, heißt, so glauben viele Philosophen, von der Orientierung an den empirischen Wissenschaften abzurücken und zu metaphysischen Positionen zurückzukehren, die ihre Mängel längst hinlänglich unter Beweis gestellt hätten“ (Tetens 2013, S. 12). Tetens nimmt an, dass die Fixierung auf den Naturalismus mit zwei Postulaten zu tun hat: einerseits mit dem angeblich exklusiven Zugang der Wissenschaften zur Wirklichkeit und andererseits mit dem vermeintlichen Fortschrittsmodell einer wissenschaftlich-technischen Weltperfektionierung.

2. Keine Wissenschaft und Therapeutik ohne philosophische Fluglotsen „Wissenschaft ist in unserer Gesellschaft als Wissensform so dominant geworden“, schreibt Gernot Böhme, dass „alle anderen Wissensformen danach trachten, Wissenschaft zu werden, oder in eine Abhängigkeitsbeziehung zur Wissenschaft zu geraten“ (Böhme 1997, S. 63). Das sei auch bei der Philosophie der Fall gewesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zum Durchbruch des Empirismus, der im 20. Jahrhundert in den Logischen Positivismus überging. Die Positivisten des „Wiener Kreises“ verwarfen die Sätze der Metaphysik als „sinnlose Scheinprobleme“. Moritz Schlick schrieb: „Philosophische Schriftsteller werden noch lange alte Scheinfragen diskutieren, aber schließlich wird man ihnen nicht mehr zuhören und sie werden Schauspielern gleichen, die noch eine Zeitlang

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fortspielen, bevor sie bemerken, daß die Zuschauer sich allmählich fortgeschlichen haben. Dann wird es nicht mehr nötig sein, über ‚philosophische Fragen‘ zu sprechen, weil man über alle Fragen philosophisch sprechen wird, das heißt: sinnvoll und klar“ (zit. nach Schlick 1938, S. 19). Denjenigen, die noch zu metaphysischen Gefühlen neigten, wurde freundlich aber bestimmt empfohlen, sich künstlerisch zu betätigen, sich jedoch von der empirischen Forschung und theoretischen Bearbeitung fern zu halten. Nur die strenge Orientierung an den empirischen Wissenschaften ermögliche unbedingte Einsichten. Diese lägen „allein in der Exaktheit und deren verschiedenen Charakteren: Nachprüfbarkeit, Wiederholbarkeit, Intersubjektivität und Ausschaltung des Qualitativen zugunsten des Quantitativen und Berechenbaren“. Die methodisch fundierte und zu einer Einheit zusammengeschlossene Wissenschaft sei „ihrer Idee nach, verglichen mit dem Leben und der Metaphysik, das Feste und Eindeutige und solchermaßen Unbedingte“ (Schulz 1993, S. 35). Aus der Überspitzung der Kritik an der Metaphysik resultiert ihr Ruf, „die umstrittenste Disziplin der Philosophie zu sein, die Disziplin nämlich, die wie keine andere anfällig für Krisen ist, ja geradezu die Disziplin in Dauerkrise“ (Morgenstern 2008, S. 11). In bestimmten Perioden wurde sogar ihr „Ende“ oder ihr „Tod“ prophezeit, und doch hat sie sich immer wieder erholt und erneuert, entsprechend dem ironischen Slogan „Totgesagte leben länger“. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es denn auch zu einer Rehabilitierung der Metaphysik gekommen. Selbst die analytischen Philosophen seien in ihrer überwiegenden Mehrheit heute bereit, die „Unverzichtbarkeit metaphysischer Ideen“ anzuerkennen, schreibt Hans Lenk (Lenk 2001, S. 328) und fügt hinzu: „Metaphysische Spekulationen haben sich auch als unentbehrliche ‚Motoren‘ des wissenschaftlichen Fortschritts erwiesen“. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass jede Metaphysik einer kritischen Auseinandersetzung unterzogen wird: „Das Durchleuchten der metaphysisch-philosophischen Grundvoraussetzungen“ sei „ein unerlässliches Korrektiv gegenüber den […] Langzeiteffekten philosophischer Überzeugungen und Strömungen“ (Lenk 2001, S.  328). Eine ernst zu nehmende Metaphysik „stützt sich auf Erfahrungsgründe und akzeptiert die Fehlbarkeit metaphysischer Thesen und Überlegungen“ (Morgenstern 2008, S. 287). Sie kann es sich heute nicht mehr erlauben, die zentralen Ergebnisse der empirischen Forschung unberücksichtigt zu lassen. Das heißt allerdings nicht, dass sie sich den Wissenschaften bedingungslos nachordnen oder kritiklos unterwerfen müsste.



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Philosophie als kritischer Gegenpart der Wissenschaften Einerseits haben sich die Einzelwissenschaften in einem Prozess der Empirisierung der jeweiligen Problemstellungen aus der Philosophie herausgelöst und ein jeweils eigenes abgegrenztes Forschungsprogramm entwickelt. Andererseits können die Ergebnisse empirischer Sozialforschung in bestimmten Fällen zu einer Rückbewegung in Richtung Philosophie führen. Eine solche Vermittlungsleistung ist z.B. erforderlich, wenn man naturwissenschaftliche Befunde über Neuronen, Aktionspotentiale, efferente und afferente Nervenbahnen u.ä. mit der Frage nach einem freien Willen, Handlungsgründen, Schuld, handelndem Subjekt und Moral in Verbindung bringen will. Da es hier einer vermittelnden Sprache bedarf, empfahl John Dewey, die Philosophie als „Verbindungsoffizierin“ zwischen den Wissenschaften zu betrachten. Aufgabe der Philosophie sei es, „durch neue Formen des Sprechens in Ansätzen neue Formen des Lebens denkbar zu machen“, ohne sich dabei als „Überwissenschaft“ im Sinne der alten Systeme zu gerieren (Hampe 2006, S. 19 f., S. 184). Man kann in diesem Kontext von einer „experimentellen“ Philosophie sprechen. Philosophen wie Peirce und Dewey haben uns klar gemacht, dass auch die modernen Wissenschaften nicht mehr ein objektivitätsorientiertes, sondern ein dem Irrtum unterliegendes – fallibilistisches – Erkenntnisverfahren praktizieren. Philosophie kann für die empirischen Einzelwissenschaften eine wichtige Funktion erfüllen, wenn sie zur „Kritik“ fähig ist – Kritik im Sinne einer „Distanzierung von kulturellen Mustern, sozialen Gewohnheiten und Gestalten des vermeintlich moralisch Relevanten und Irrelevanten“ (Hampe 2006, S. 190). Nicht, dass eine kritische Philosophie einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hätte, aber aufgrund ihrer Reflexionsfähigkeit kann sie dazu beitragen, dass „sich Gesellschaften eingestehen, welche Bewertungskonflikte in ihren Komplexitäten verborgen sind, sodass sie beginnen, sich über die Lage ihrer Motive ein ehrliches Bild zu machen“ (Hampe 2006, S. 192). In diesem Kontext lassen sich drei idealtypische Formen philosophischer Kritik unterscheiden: die Kritik des Narren im Sinne einer subversiv-ironischen Kritik, wie sie etwa von Sokrates, den Kynikern und Paul Feyerabend repräsentiert wird; die Kritik des Richters im Sinne einer abgrenzend-verurteilenden Kritik, wie sie etwa von Hume, Kant und Carnap vertreten wurde; und die Kritik des Propheten im Sinne einer utopischen Kritik, wie sie Marx am Kapitalismus oder Peirce am Utilitarismus und Ökonomismus geübt hat (Hampe 2006, S. 198 ff.). Da es bei philosophischer Kritik nicht nur um Reflexion geht, kann man ergänzend das Prinzip „kreativer Konstruktion“ heranziehen, denn Philosophie hat es „wie eh und je mit der Freiheit und dem Humanum ebenso zu tun wie mit Kunst, Lebenskunst, Stil, Kreativität und Poiesis, auch mit Antidogmatismus,

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Ironie, Humor und – last but not least – mit allen Weisen der bewussten und durchdachten Selbsterfahrung“ (Lenk 2001, S. 332). Einerseits brauchen wir die Wissenschaft und sind auf sie angewiesen. Andererseits ist sie – wie alle menschlichen Unternehmungen – in hohem Maße interpretationsabhängig. Eine vordringliche Aufgabe der Philosophie kann man sogar darin sehen, „mit der Wissenschaft fertig zu werden“, d.h. „sie als ein sehr wertvolles, auch zerbrechliches, aber auch sehr gefährliches Instrument zu behandeln“ (Böhme 1993, S. 64). Der empirische Forscher muss sich klar machen, dass er nicht völlig neutral bleiben kann, ja dass er oft „de facto bereits Partei ergriffen“ und sich für eine bestimmte philosophische Sicht entschieden hat, auch wenn er es selbst nicht so nennen würde (Strasser 1964, S. 215). Weiterhin müsste er sich klar machen, dass „Unterschiede der Sichtweisen echter Philosophen [oft] nicht auf mangelhafte Begriffsbildung, logische Denkfehler oder gar auf eine unvollkommene Syntax zurückzuführen sind“ (Strasser 1964, S.  215), sondern aus unterschiedlichen philosophischen Denkvoraussetzungen, sei es dem Naturalismus, dem Idealismus oder einer dualistischen Philosophie resultieren: „Jeder, der sich eine bestimmte Überzeugung zu eigen gemacht hat hinsichtlich des Wesens des Mythos, der Primitivität, der menschlichen Emotionalität, Geisteskrankheit, Gesellschaft, Geschichte usw. und diese seine Überzeugung motiviert, philosophiert bereits“ (Strasser 1964, S. 191). Wie soll sich aber der Empiriker angesichts der Vielfalt und Widersprüchlichkeit unterschiedlicher philosophischer Sichtweisen orientieren, da er doch nicht ohne weiteres über die erforderliche philosophische Kompetenz verfügt? Die Möglichkeit, bei der Philosophie selbst in die Schule zu gehen und ihre Sprache zu lernen, lässt sich wohl nur in seltenen Fällen realisieren. Denkbar wäre eine „Arbeitsteilung“ zwischen Einzelwissenschaften und Philosophie (Lenk 2001, S. 325). Im Rahmen einer solchen Arbeitsteilung bestünde die Aufgabe des Philosophen darin, „dem Empiriker eine sinnvolle ‚Sicht‘ auf die Gesamtheit seiner Erfahrungstatsachen zu bieten“ (Strasser 1964, S.  216). Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müsste der Philosoph seinerseits bereit sein, „sich in die Eigenart des Erfahrungsbereiches des Empirikers zu vertiefen“ und sich „dessen wichtigste Methoden und Grundbegriffe […] sowie auch die technische Bedeutung dieser Grundbegriffe“ anzueignen (Strasser 1964, S.  219). Umgekehrt müsste der Empiriker bereit sein, „die ‚Sprachen‘ der für eine Problematik wichtigen Philosophen, ihre Methoden, ihre Begriffssysteme kennenzulernen“ (Strasser 1964, S.  219). Bisher fehlte es aber zumeist „am lebendigen Kontakt zwischen den Philosophen und den Empirikern. Der spekulative Denker glaubte, die vielfältigen Gebiete der Erfahrung übersehen zu können, ohne wirkliche Erfahrungen gemacht zu haben. Der Empiriker meinte, eine Ontologie konstruieren zu können, ohne sich in Philosophie vertiefen zu



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müssen“ (Strasser 1964, S. 220). So liegt die Schlussfolgerung nahe: „Die Wissenschaften ohne Philosophie sind unvollständig; die Philosophie ohne Wissenschaften bleibt abstrakte Spekulation“ (Fellmann 2001, S. 123).

Zur Bedeutung impliziter philosophischer Konzepte für die Therapeutik Das Verhältnis von Psychotherapie als „Wissenschaft“ und als „Philosophie“ ist eine nach wie vor klärungsbedürftige Frage. Es erscheint mir wünschenswert, sich in der Psychotherapie nicht einseitig auf theoretisches Wissen oder in der Lebenspraxis erworbenes Erfahrungswissen auszurichten, sondern beides miteinander zu verbinden. Therapeuten fragen sich nicht nur beständig, was für einen Patienten in einer aktuellen Lebenssituation „gut“ oder „richtig“ sein könnte, sondern auch, was zu einem bestimmten Patienten „passt“. Zudem brauchen Therapeuten eine Vorstellung vom „wahren Selbst“ ihres Patienten, wobei diese Vorstellung hier als eine undogmatische Idee verstanden sein soll. Um dieses mehr oder weniger unbewusste Selbst „anzurufen“, bedarf es intensiver Gefühlserlebnisse. Michael Balint sprach in diesem Kontext von „flash“, Christopher Bollas von „cracking up“ und Daniel Stern von „moments of meeting“. Solche emotional-affektiven Momente sind high lights im kreativen und kooperativen Zusammenspiel von Therapeut und Patient (vgl. Buchholz 1999). Implizite Konzepte sowohl der Therapeuten als auch der Patienten und deren Konversation und Resonanz in der therapeutischen Beziehung geben Aufschluss über das, was in der therapeutischen Praxis wirklich geschieht. Dies gilt auch und gerade für implizite Konzepte aus der philosophischen Tradition der Lebenskunst (Schmid 1998). Sie wirken als Hintergrundannahmen, Wertungen, Weltbilder – oft unreflektiert oder sogar betont verleugnet – in die Beziehungsgestaltung zwischen Therapeut und Patient hinein (Gödde/Zirfas 2016). Joseph Sandler, ein britischer Psychoanalytiker, hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die vom einzelnen Therapeuten in der Praxis verwandten „privaten impliziten Konzepte“ von den in Lehre und Lehrbüchern vertretenen wissenschaftlichen Theorien mehr oder weniger abweichen. Mit zunehmender klinischer Erfahrung entwickle und verwende der Analytiker „eine ganze Reihe von theoretischen Teilaspekten“, die als „Produkte unbewußten Denkens, weitgehend Teiltheorien, Modelle oder Denkfiguren […] sozusagen in Reserve zur Verfügung stehen, um nach Bedarf abgerufen zu werden“ (Sandler 1983, S. 582 f.). Dem lag die Überzeugung zugrunde, dass die Erforschung der impliziten privaten Theorien „einen sehr wichtigen neuen Weg eröffnen“ kann, auch weil viele Therapeuten ihre privaten Konzepte für nicht „koscher“ halten und nur in aller

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Heimlichkeit damit operieren, um ja nicht von ihren Kollegen dabei ertappt zu werden (Sandler 1983, S. 584). Dieser Vorschlag blieb allerdings lange unbeachtet. Erst in den letzten Jahren ist das Anliegen, die impliziten Erfahrungen und philosophischen Konzepte von Therapeuten ernst zu nehmen und explizit zu machen, auf Resonanz gestoßen. Implizite Konzepte geben Aufschluss über das, was in der therapeutischen Praxis wirklich geschieht, und ermöglichen es, wichtige Teilelemente des inneren Theorie- und Arbeitsmodells des jeweiligen Therapeuten durch Rückschlüsse aus dem Verlauf konkreter analytischer Interaktionen zu erschließen (Bohleber 2007; Tuckett et al. 2008). Bisher ist jedoch viel zu wenig erforscht worden, wie sich die philosophischen und religiösen Überzeugungen der Psychotherapeuten auf die Behandlungen auswirken, ob es zu einem Prozess wechselseitiger Beeinflussung kommt und welche Konsequenzen sich daraus für die Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeuten und für die Berufspraxis ergeben. Es geht nicht darum, beliebige Anleihen bei der Lebenskunstphilosophie zu machen und der eigenen Subjektivität freien Lauf zu lassen; es wäre aber viel gewonnen, wenn die in der Therapie wirksamen Hintergrundannahmen reflektiert und transparent gemacht werden. Fazit: Die Psychologie und Psychotherapie sollte als Wissenschaft der Komplementarität neu konzipiert werden, um die Dichotomie von Hermeneutik und Szientismus, von Körper und Seele, von Kognition und Emotion zu überwinden, und dazu bedarf sie auch und in besonderem Maße philosophischer Fluglotsen, die als heimliche Begleiter – mit „blinden Passagieren“ vergleichbar – sowieso an Bord sind, aber zumeist nicht offiziell vorgestellt werden. „Orientierung ist der Anfang nicht nur aller Entscheidungen im Leben, sondern auch in der Wissenschaft, und so kommt philosophisch alles auf ihre Klärung an“ (Stegmaier 2008, S. XV).

Literatur Böhme, Gernot (1997): Einführung in die Philosophie. Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft. Frankfurt am Main. Bohleber, W. (2007): „Der Gebrauch von offiziellen und privaten impliziten Theorien in der klinischen Situation“. In: Psyche – Z Psychoanal, 61, H. 9/10, S. 995–1016. Buchholz, Michael B. (1999): Psychotherapie als Profession. Gießen. Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hrsg.) (2005/06): Das Unbewusste I–III. Gießen. Daston, Lorraine/Galison, Peter (2007): Objektivität. Frankfurt am Main. Detel, Wolfgang (2011): Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik. Frankfurt am Main.



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Fahrenberg, Jochen (2008): „Die Wissenschaftskonzeptionen der Psychologie bei Kant und Wundt als Hintergrund heutiger Kontroversen. Struktureller Pluralismus der Psychologie und Komplementaritätsprinzip. Defizite der Philosophischen und Psychologischen Anthropologie und ein Plädoyer für eine interdisziplinäre Anthropologie“. http://psydoc.sulb. uni-sarland.de/volltexte/2008/1557/. Fahrenberg, Jochen (2013): Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip, Perspektiven und Perspektivenwechsel. Lengerich. Fellmann, Ferdinand (2001): Orientierung Philosophie: Was sie kann, was sie will. 2. Auflage. Reinbek. Gödde, Günter (2012): „Warum es so wichtig ist, dass Freud eine eigene Philosophie entwickelt hat“. In: Günter Gödde/Michael B. Buchholz (Hrsg.): Der Besen mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Bd. 2, Gießen, S. 157–199. Gödde, Günter/Buchholz Michael B. (Hrsg.) (2012): Der Besen mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Gießen. Gödde, Günter/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2016): Therapeutik und Lebenskunst. Eine Einführung. Gießen. Habermas, Jürgen (1973): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main. Hampe, Michael (2006): Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt am Main. Hell, Daniel (2012): Depression als Störung des Gleichgewichts. Wie eine personbezogene Depressionstherapie gelingen kann. Stuttgart. Jüttemann, Gerd (2010): „Konkrete Psychologie als Anspruch und Programm“. In: Gerd Jüttemann/Wolfgang Mack (Hrsg.): Konkrete Psychologie. Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt, Lengerich, S. 13–39. Kjoerup, S. (2001): Humanities/Geisteswissenschaften/Sciences humaines. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar. Lebiger-Vogel, Judith (2011): „Gute Psychotherapie“. Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im soziokulturellen Kontext. Göttingen. Lenk, Hans (2001): „Perspektiven pragmatischen Philosophierens“. In: Kurt Salamun (Hrsg.): Was ist Philosophie? 4. Auflage. Tübingen, S. 313–334. Leuzinger-Bohleber, Marianne (2005): „Depression – Pluralität in Praxis und Forschung. Eine Einführung“. In: Marianne Leuzinger-Bohleber/Stephan Hau/Heinrich Deserno (Hrsg.): Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung, Göttingen, S. 13–61. Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main. Mertens, Wolfgang (2005): Psychoanalyse. Grundlagen, Behandlungstechnik und Anwendung. 6., vollständig überarbeitete Neuauflage. Stuttgart. Morgenstern, Martin (2008): Metaphysik in der Moderne. Von Schopenhauer bis zur Gegenwart. Stuttgart. Rheinberger, Hans-Jörg (2007): Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg. Ricoeur, Paul (1969): Die Interpretation. Versuch über Freud. Frankfurt am Main. Sandkühler, Hans Jörg (2009): Kritik der Repräsentationen: Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens. Frankfurt am Main. Sandler, Joseph (1983): „Die Beziehungen zwischen psychoanalytischen Konzepten und psychoanalytischer Praxis“. In: Psyche – Z Psychoanal, 37, S. 577–595. Schlick, Moritz (1938): „Die Wende der Philosophie“. In: Kurt Salamun (Hrsg.): Was ist Philosophie? 4. Auflage. Tübingen, S. 14–19. Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst. Frankfurt am Main.

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Schöpf, Alfred (2014): Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse. Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Analyse. Stuttgart. Schulz, Walter (1993): Philosophie in der veränderten Welt. 6. Auflage. Stuttgart. Sell, Christian (2012): „Die Wissenskultur der Psychoanalyse und ihre Differenz zur kognitiven Verhaltenstherapie“. In: Günter Gödde/Michael B. Buchholz (Hrsg.): Der Besen mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Bd. 1, Gießen, S. 271–299. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Stegmaier, Werner (2012): „Die Wissenschaft auf dem Boden des Lebens. Nietzsches Wissenschaftskritik im V. Buch seiner ‚Fröhlichen Wissenschaft‘“. In: Günter Gödde/Michael B. Buchholz (Hrsg.): Der Besen mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Bd. 1, Gießen, S. 387–408. Strasser, Stephan (1964): Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen. Berlin. Tetens, Holm (2013): „Der Naturalismus. Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit?“ In: Information Philosophie, 41, H.3/2013, S. 8–17. Tuckett, David et al. (2008): Psychoanalysis Comparable & Incomparable. The Evolution of a Method to Describe and Compare Psychoanalytic Approaches. London/New York. Walach, Helmut (2009): Psychologie: Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlage und Geschichte. 2. Auflage. Stuttgart. Walach, Helmut (2012): „Komplementärer Rahmen für eine Wissenschaftstheorie der Psychologie“. In: Günter Gödde/Michael B. Buchholz (Hrsg.): Der Besen mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Bd. 1, Gießen, S. 301–326. Warsitz, Rolf-Peter/Küchenhoff, Joachim (2015): Psychoanalyse als Erkenntnistheorie – psychoanalytische Erkenntnisverfahren. Stuttgart.

Kompetenz als Schlüsselbegriff der Bildungstheorie

Mathias Schlicht von Rabenau

Kompetenz als Schlüsselbegriff der Bildungstheorie. Vorschlag einer orientierungsphilosophischen Fundierung 1. Kompetenz statt Wissen Kompetenz ist zu einem die Bildungstheorie und mittlerweile auch die deutsche Schulpolitik beherrschenden Schlüsselbegriff geworden. Auf seiner Grundlage wurde eine umfassende Neuausrichtung der deutschen Schulpolitik ins Werk gesetzt, nachdem die Ergebnisse der PISA-Studie von 2000/2001 die deutsche Öffentlichkeit beunruhigt hatten. In dieser wurden statt abrufbarem Wissen Kompetenzen wie die Lesekompetenz der Schüler oder ihre Fähigkeit zu mathematischem oder naturwissenschaftlichem Problemlösen überprüft. Die vormalige Orientierung der Lehrpläne auf Fachinhalte wurde zugunsten einer Orientierung auf durch die Kultusministerkonferenz der Länder formulierte „nationale Bildungsstandards“ ersetzt, die sich an einem ausgearbeiteten Modell von Kompetenzen ausrichten. Grundlage dieser Bildungsstandards ist die damit zu großem Einfluss gelangte Definition des Psychologen Franz E. Weinert, u.a. Gründungsdirektor des Max-Plack-Instituts für psychologische Forschung und zeitweise Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Ihr zufolge sind Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2001, S. 27 f.)

Sofern Schüler für das Leben, nicht für die Schule lernen, scheint gegen diese Neuausrichtung der Schulpolitik zunächst wenig einzuwenden zu sein. Der Fokus verschiebt sich mit ihr von den Lehrinhalten, die klassischerweise mit dem Begriff des Wissens gefasst wurden, auf den Schüler, der sich bilden soll. Unter schulischer Bildung ist dann nicht mehr die Aneignung von Wissen zu verstehen, sondern die Aneignung „kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten“ sowie „Bereitschaften“, die benötigt werden, um die persönlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Weil diese zukünftigen Herausforderungen jedoch kontingent sind und weil angesichts der sich schnell wandelnden globalisierten Welt niemand vorhersagen kann, worin sie bestehen werden, treten kanonisierte Lehrinhalte umso stärker in den Hintergrund. Es komme

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stattdessen auf die Befähigung der Schüler an, sich in „variablen Situationen“ zurechtzufinden und mit ihnen einhergehende Problemstellungen „erfolgreich und verantwortungsvoll“ zu lösen. Das bloße Verfügen über Wissensbestände, die in Zeiten moderner Informationsmedien ohnehin jederzeit verfügbar zu sein und zum anderen immer schneller zu veralten scheinen, könne hierbei hingegen wenig helfen.

2. Kritik des Kompetenzdenkens Gleichwohl gerät das nunmehr etablierte Kompetenzdenken zunehmend in die Kritik. Immer wieder wird an der erstaunlich weiten Verbreitung und Ausdif­ ferenzierung des Begriffes Anstoß genommen, weil diese ihn unscharf werden lässt. In den Lehrplänen ist z.B. von Handlungs-, Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz die Rede.1 In der Kompetenz-Terminologie werden gar eine emotionale, moralische, kreative oder auch eine spirituelle Kompetenz unterschieden (Honolka 2003, S.  7, vgl. auch Gunia 2012, S.  1). Gelegentlich ziehen besonders auffällige Blüten, die die Kompetenz-Terminologie treibt, ihren Spott auf sich, so etwa, wenn Edmund Stoiber Ausführungen zum (eigentlich gar nicht unsinnigen) Begriff der Kompetenz-Kompetenz macht.2 Schwerer als diese Kritik wiegt, dass der Kompetenzansatz zunehmend unter einen Ideologie- und sogar Totalitarismus-Verdacht gerät. So macht Volker Ladenthin darauf aufmerksam, dass mit dem Kompetenzdenken die „motivationalen“ und „volitionalen“ „Bereitschaften und Fähigkeiten“ der Schüler in den Blick der Bildungsplaner geraten. Es solle so [d]as Wollen selbst […] beeinflusst werden und man soll das Wollen lernen. Eine solche Verhaltensmodifikation zielt massiv auf das, was zu schützen alle bisherigen Bildungstheorien angestrebt hatten, nämlich den freien Willen und damit das Wollen des Selbst, das uns selbst bestimmt. (Ladenthin 2012)

Hinter dem Kompetenzansatz verberge sich damit letztlich ein Versuch der „Fremdsteuerung“, der in demokratischen Gesellschaften abzulehnen sei (Ladenthin 2012). Ladenthins Argumentation leuchtet zwar ein, allerdings bleibt zu fragen, ob nicht jede Art von Erziehung – und die ist nicht nur Auftrag der

1 Vgl. z.B. die anschauliche graphische Darstellung in den Rahmenplänen des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2002a, S. 4; 2002b, S. 3). 2 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=du85qeZrAt4; Stand: 15.03.2015, 20:26 Uhr.



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Eltern, sondern, was man bedenklich finden kann, auch der Schule – zwangsläufig eine Art von Fremdsteuerung in diesem Sinne wäre. Erziehung deshalb schlechthin als illegitim anzusehen, käme jedoch kaum jemandem in den Sinn. Den Totalitarismus-Vorwurf expliziert und verschärft allerdings noch einmal Jürgen Gunia in seiner „genealogischen Ideologiekritik“ des Kompetenzbegriffes (vgl. Gunia 2012). In ihr geht es Gunia weniger darum, den Kompetenzbegriff gänzlich zu diskreditieren, als vielmehr darum, ihn zu entideologisieren bzw. zu „entdramatisieren“ (Gunia 2012, S. 2, S. 6). Seine Kritik zielt im Kern auf den dem Kompetenzansatz zugrundeliegenden Subjektbegriff. Dieser entstamme eigentlich ökonomischen und militärischen Theorien und habe von dort ausgehend Eingang in die Bildungstheorie und -politik gefunden. Gunia geht es nach eigenem Bekunden darum, die auch für die Geisteswissenschaften alltäglich gewordene Kompetenzrhetorik einem historisch fundierten Vorbehalt auszuliefern […]. Der Verdacht geht dabei aus von einer […] Erkenntnis, derzufolge dem kompetenten und sich gleichsam permanent selbst optimierenden Subjekt ein ökonomisches Modell zugrundeliegt. Als solches ist es unter der Bezeichnung „unternehmerisches Selbst“ bekannt geworden. Der hier artikulierte Verdacht lautet, dass diese Erkenntnis möglicherweise weiter gedacht werden kann bzw. dass neben dem ‚unternehmerischen Selbst‘ ein anderes Modell steht; eines, das unter Umständen sogar als ‚ursprünglicher‘ angenommen werden kann: das des immanent militärischen, wehrhaften Selbsts. (Gunia 2012, S. 2)

Auf die Erfahrung von Kontingenz werde, so Gunia, mit der Formung eines sich selbst gegen sie „immunisierenden“ (Gunia 2012, S.  6) Subjekts reagiert, das in der Lage ist, die „Unwägbarkeiten“ durch sein erworbenes Können, durch „fortwährende Übungen sowie durch fortwährende Erfolgskontrolle und Selbst­evaluation“ weitgehend zu „neutralisieren“ (Gunia 2012, S. 4). In solchen „selbst­optimierenden Feedbackschleifen“ (Gunia 2012, S. 5) befähige sich das Subjekt zugleich zum „offensiven“ Umgang (Gunia 2012, S. 6) mit der kontingenten Umwelt, dazu, die Situation zu gestalten. Damit hafte der dem Kompetenzdenken zugrundeliegenden Subjektkonzeption ein gewisser „Heroismus“ an, der das „unternehmerische Selbst“ ökonomisch zur „Führungskraft“ (Gunia 2012, S.  6)3 werden lässt. Nicht zufällig aber habe diese Subjektkonstruktion einen militärtheoretischen Hintergrund. Im Krieg hat man es mit einer Extremform der Kontingenz zu tun. Hier, daran erinnert Gunia, hat Carl von Clausewitz das handelnde Subjekt als „Feldherren“-Subjekt konzipiert, das „überall und mit jedem Pulsschlag die erforderliche Entscheidung aus sich selbst zu geben“

3 Gunia verweist in diesem Zusammenhang auf Böckling 2007, S. 46, Anm. 4.

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(Clauswitz 1832, S. 139 f.) in der Lage sei. Das gegen die Kontingenz der Umwelt immunisierte wird zu einem „gepanzerten“ Subjekt, welches nicht nur zur defensiven Verteidigung, sondern auch zum „Angriff“ befähigt werde, dazu, die Handlungssituationen und mit ihnen den Gegner zu beherrschen.4 In der Gegenwart finde der Schauplatz des Clausewitzʼschen Krieges nun seine Entsprechung in der „kriegsähnlichen Ausnahmesituation“ der Globalisierung, in der die Weltregionen nun in immer stärkere ökonomische Konkurrenz zueinander treten (Gunia 2012, S. 6). Systemtheoretisch gesprochen reagiert das Clausewitzʼsche Feldherrensub­ jekt, zum Zwecke seiner Selbsterhaltung, auf verstärkte Irritationen durch seine Umwelt und die mit ihr verbundene Kontingenzerfahrung mit verstärktem Selbstbezug und Reduktion des Fremdbezuges, wodurch es sich von der Umwelt zunächst abschließt, um dann dessen Komplexität reduzieren und sie teilweise in das eigene ‚Subjekt-System‘ einbeziehen zu können – nur dass die Systemtheorie eben kein einheitliches Subjekt vorsieht, sondern nur miteinander gekoppelte physische, psychische und soziale Systeme unterscheidet. Anders hingegen das Kompetenzdenken: Über den in den genannten ökonomischen und militärischen Zusammenhängen wurzelnden Begriff der Kompetenz werde, so Gunia, „ein Regime der Subjektivierungen generiert [und in den Bereich der Bildung und der Schule hineingetragen], das […] aufs Subjekt als Ganzes zielt und insofern totalitär genannt werden“ (Gunia 2012, S. 6) könne. Gunia scheint diesen dem Kompetenzansatz zugrundeliegenden Subjektbegriff allein schon durch seine militärischen und ökonomischen Bezüge diskreditiert zu sehen, die er nicht nur als „verblüffend“, sondern als „schlicht und ergreifend beunruhigend“ empfindet (Gunia 2012, S. 6). Es spricht sich hier eine unterschwellige Abneigung gegen ökonomische und militärische Zusammenhänge schlechthin aus. Doch ein Subjektbegriff ist nicht schon deswegen abzulehnen, weil er im militärischen Denken rezipiert wird oder geprägt wurde. Ebenso wenig kann dies für die Ökonomie gelten. Und wenn Gunia von Krieg oder auch von der „kriegsähnlichen Ausnahmesituation“ der „Globalisierung“ (Gunia 2012, S. 6) spricht, so wird die von ihm bemängelte „Dramatisierung“ (Gunia 2012, S. 2, S. 6) des Kompetenzbegriffes ein Stück weit von ihm selbst inszeniert. Er könnte ebenso gut von „Wettbewerb“ oder „Konkurrenz“ sprechen – die ja bekanntlich das Geschäft beleben. Vor allem aber ist diese Strategie zur Diskreditierung des Kompetenzdenkens völlig unnötig. Es tut dem Totalitarismus-Vorwurf keinen

4 Diese Kennzeichnung ist anschlussfähig an Ernst Jüngers „soldatischen Typ“. Im Essay „Der Arbeiter“ von 1932 wird dieser umfassend dargestellt. Welche Implikationen das hatte, beschreibt Klaus Theweleit in der zweibändigen Studie Männerphantasien von 1977/78.



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Abbruch, wenn man es dabei belässt, die totalitären Züge des zugrunde gelegten geschlossenen Subjektbegriffes herauszuarbeiten. Denn diese bedürfen tatsächlich einer kritischen Reflexion. Der spezifischen Subjektkonzeption im Kompetenzdenken entspringt ein besonderes Verständnis von dem, was Bildung sei. Denn dem selbstbezüglichen, „souverän handelnden, wehrhaft gepanzerten Subjekt“ (Gunia 2012, S. 8) kommt es nicht mehr auf fremdbezügliche Einsichten, nicht auf Wissen, sondern auf Erfolg im Handeln an. Daher bedarf es nach von Clausewitz keiner „Betrachtung“ und keines „Studiums“ mehr, mit denen man sich auf Umweltirritationen gerade einlässt. Das Feldherren-Subjekt verfüge stattdessen über ein „natürliches Talent“, das mittels Übung entfaltet werde (Clausewitz 1832, S. 140). Die damit einhergehende „Entwertung der Kategorie des Wissens“ (Gunia 2012, S. 4), also die zunehmende Abschottung gegen die Umwelt, wird Gunia zufolge in von Clausewitzʼ Ausspruch „Das Wissen muss ein Können werden“ (Clausewitz 1832, S. 139) auf den Punkt gebracht. Zusammengefasst lautet Gunias Kritik, dass die mit der „Kompetenzideologie“ angestrebte „Subjektformung“ eine „Übertreibung und totalisierende Vereinseitigung der menschlichen conditio humana“ (Gunia 2012, S.  6) darstelle, die im Bereich der Bildung zu einer einseitigen Vernachlässigung des Wissens zugunsten des Könnens und des Lernens zugunsten des Übens führe.

3. Vorschläge zur Entideologiesierung des Kompetenzdenkens Gunia will damit jedoch keinesfalls gegen das Kompetenzdenken überhaupt plädieren, sondern eine „Entdramatisierung“ und Entideologisierung desselben anmahnen, um es von seinen totalitären Implikationen zu reinigen. Dazu müsse der Kompetenzbegriff systematisch relativiert werden, indem man ihn nicht mehr gegen den Begriff des Wissens in Stellung bringt, sondern beide als „komplementär“ begreift (Gunia 2012, S. 7). Das liegt zunächst nahe, bedeutet Wissen doch eine Erweiterung der eigenen Urteils- und Handlungsmöglichkeiten. Der ideologische, totalitäre Begriff des auf sich selbst bezogenen, autonomen Subjektes soll also über den im Wissen gegebenen Fremdbezug gleichsam wieder geöffnet werden. Eine Möglichkeit dazu bietet Gunia zufolge der Begriff der Information, der nach einer Definition Rainer Kuhlens einen „Teilbereich“ aus „vorhandenen Wissensbeständen“ darstellt, „der in kritischen Handlungs- / Entscheidungssituationen benötigt wird“ (Kuhlen 1995, S.  82; vgl. hierzu Gunia 2012, S.  7). Davon

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ausgehend könnte Kompetenz begriffen werden „als Fähigkeit, in konkreten Situationen aus gegebenen Wissensbeständen diejenigen Informationen herauszufiltern, die Entscheidungen und Handlungen ermöglichen können.“ (Gunia 2012, S. 7) Durch den Begriff der Kompetenz würden so die Begriffe des Wissens und des Könnens vermittelt. Kompetenz wäre ein auf Wissen bezogenes Können. Das Subjekt wäre kein „souverän handelndes, wehrhaft gepanzertes“, sondern es wäre, und hier macht Gunia Anleihen bei Heidegger, Sartre, Sloterdijk und Luhmann, einem „Verwickelt-Sein“, einem „Mitten-Drin“ in der Situation „ausgesetzt“. Die Situation wird nicht kontrolliert und beherrscht, sondern zeichnet sich, womit an Levinas erinnert wird, durch „die Unmöglichkeit“ aus, „sich entziehen zu können“. Das dieser Situation ausgesetzte Subjekt ist dann kein totalitär-diktatorisches mehr, sondern „ein passiv, nackt und verletzlich den jeweiligen Umständen ausgeliefertes.“ (Gunia 2012, S. 8 f.)

4. Kompetenz von der Orientierung aus gedacht Damit unterbreitet Gunia interessante Vorschläge zur Entideologisierung des Kompetenzdenkens. Im Folgenden soll der Versuch einer Neufundierung desselben vorgeschlagen werden, der einige Gedanken Gunias weiterführt, jedoch aus meiner Sicht eine Reihe von Vorzügen bietet. Er findet in Werner Stegmaiers Philosophie der Orientierung eine systematisch entfaltete theoretische Grundlage. Stegmaier bestimmt die Orientierung als „Leistung, sich in einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich [eine] Situation beherrschen lässt.“ (Stegmaier 2008, S.  2) Eine Nähe der Orientierungsphilosophie zu dem kritisierten Kompetenzdenken ist in dieser Bestimmung offenkundig. Im Sich-Orientieren geht es wie im Kompetenzansatz darum, den Unwägbarkeiten einer „Situation“ (Stegmaier 2008, S. 151–158) erfolgreich zu begegnen. Wer sich orientiert, erwirbt nicht unbedingt theoretisches Wissen, sondern erschließt sich Handlungsmöglichkeiten, mittels derer es ihm gelingt, sich nicht nur „zurechtzufinden“, sondern die Situation im besten Falle zu „beherrschen“, womit die militärisch inspirierte Kompetenz-Terminologie anklingt. Dennoch können durch eine Neugründung des Kompetenzdenkens auf Stegmaiers Orientierungsphilosophie die oben vorgebrachten Kritikpunkte an demselben, insbesondere der Ideologie- bzw. der Totalitarismus-Vorwurf, gerade ausgeräumt werden. Zunächst einmal legt die Philosophie der Orientierung keinen geschlossenen Subjektbegriff zugrunde. Orientierung wird nicht als eine Leistung verstanden, die von einem autonomen Subjekt erbracht wird. Stattdes-



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sen wird die Orientierung selbst als „Letzt- und Grundbegriff“ (Stegmaier 2008, S. XV) verstanden, der seinerseits jedem Handeln und Denken vorausgeht und diese erst ermöglicht. Ihr Begriff werde, so Stegmaier, zwar laufend zur Definition anderer Begriffen herangezogen, ohne aber selbst definiert zu werden – aus gutem Grund: denn alle Definitionen, auch eine Definition des Begriffs der Orientierung, setzen, so Stegmaier, schon Orientierung voraus.5 Außerdem sei „Orientierung gerade dann erfolgreich, wenn sie nicht fraglich, nicht problematisch, nicht definitionsbedürftig, sondern selbstverständlich ist.“ (Stegmaier 2008, S. XV) Die vielfältigen Formen des Sich-Orientierens im Alltag, aber auch im Denken, werden von Stegmaier ausführlich untersucht. Ihr Grundproblem ist dabei stets die Ungewissheit, durch die sich jede Orientierungssituation auszeichnet. In ihr sucht sie nach Halt (siehe zum Begriff des Haltes Stegmaier 2008, S.  226–268) und kann dabei nichts weiter voraussetzen als diese Ungewissheit selbst sowie „Anhaltspunkte“, von denen sie (vortheoretischen und vorontologischen) Gebrauch macht (siehe dazu Stegmaier 2008, insbes. S. 237–266). Dabei beschäftigt sich die Orientierung nicht mit allem in einer Situation, sondern nur mit „Relevantem“, mit dem, was zur Auseinandersetzung mit ihm „nötigt“ (Stegmaier 2008, S.  153). Man könnte es auch das Problematische einer Situation nennen, was uns von der Orientierung direkt zur eingangs vorgestellten Kompetenz-Definition Weinerts führt, der diese als Fähigkeit dachte, „in variablen Situationen“ „Problemlösungen“ zu entwickeln und erfolgreich zu „nutzen“. Kompetent wäre dann, wer sich in der jeweiligen Situation erfolgreich zu orientieren und in der Folge erfolgreich mit ihr umzugehen vermag. Doch diese Kompetenz wäre nicht mehr die eines autonomen, stets souverän handelnden und letztlich totalitären Feldherren-Subjekts. Kompetent zu sein hieße einfach, sich in Situationen, deren Kontingenz mehr oder weniger beunruhigend (siehe zum Begriff der Beunruhigung Stegmaier 2008, S.  162–167 u.ö.) und bedrohlich ist, der man „ausgesetzt“ ist und die zur Auseinandersetzung mit ihr „nötigt“, orientieren zu können, sich in ihr zurechtzufinden, ohne dass dafür überhaupt ein geschlossener Subjekt-Begriff vorausgesetzt werden müsste. Ein solcher Kompetenzbegriff wäre kein ideologisch-übertriebener oder gar totalitärer, wie Gunia und Ladenthin ihn kritisieren, sondern letztlich vor dem Hintergrund unserer alltäglichen Orientierungserfahrungen schlicht plausibel.

5 Wichtige Quelle für Stegmaiers Orientierungsbegriff ist Kants Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren?, in der Kant im Bedürfnis der Vernunft nach Orientierung eine Bedingung ihrer Selbsterhaltung ausmacht.

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Doch wie verhält sich ein als Orientierungsleistung verstandener Kompetenzbegriff zu dem des Wissens? Durch die komplementäre Kopplung des Kompetenzbegriffes an den des Wissens wollte Gunia die Kompetenz vor einer tyrannischen Selbstherrlichkeit bewahren, die in einer bloßen Selbstbezüglichkeit gründet, welche es ermöglicht, die eigene Umwelt zu beherrschen und den eigenen Bedürfnissen gemäß umzuformen. Er wollte dies erreichen, indem er sie wieder verstärkt für einen Fremdbezug öffnet, den eben die Kopplung an den Begriff des Wissens gewährleisten soll. Feste Wissensbestände gewähren sicheren Halt innerhalb der ungewissen und daher beunruhigenden situativen Umstände, denen wir als Menschen „ausgeliefert“ sind und deren Ungewissheiten uns „nötigen“, nach beruhigend Beständigem zu suchen. Halt im Ungewissen findet die Orientierung Stegmaier zufolge in Anhaltspunkten. Sie können vielfältig sein, sich in sinnlichen Wahrnehmungen, Gelesenem, in einer Ideologie, oder auch in Behauptungen oder Verhaltensweisen anderer Menschen finden. Obwohl sie Halt bieten, hält sich die Orientierung ihnen gegenüber zunächst „auf Distanz“. Sie „hält sich zurück, sie sogleich ‚für‘ haltbar ‚zu halten‘“, denn ihr Halt kann trügerisch sein (Stegmaier 2008, S. 237). Informationen können sich als falsch herausstellen, unsere Wahrnehmung kann uns und in anderen Menschen können wir uns täuschen. So kann es dazu kommen, dass Anhaltspunkte ausgehend von anderen Anhaltspunkten in Frage gestellt und aufgegeben werden. Sie können sich jedoch auch ausgehend von anderen bestätigen. Dann „verdichten“ sie sich und werden auf diese Weise zu „Kenntnissen“. Der „Vorbehalt“ ihnen gegenüber wird dann nach und nach schwächer (Stegmaier 2008, S. 245 f.). So werden innerhalb der Grundsituation der Ungewissheit relativ sichere Wissensbestände und wissenschaftliche Theorien gestiftet (zu wissenschaftlicher Orientierung vgl. Stegmaier 2008, S. 506–523). Allgemein anerkannte und für unsere Orientierung als wichtig erachtete Wissensbestände gelangen dann in die Lehrpläne. In einigen Fällen kann auch heftig um sie gestritten werden. Ausgehend von der Orientierung ist Wissen also als Verdichtung von Anhaltspunkten zu verstehen, durch die es der Orientierung gelingt, sich zurechtzufinden. Kompetent wäre, wer sich in Problemlagen mittels ausreichender, belastbarer und vor allem relevanter Anhaltspunkte zurechtzufinden und sich erfolgreich Handlungsmöglichkeiten zu erschließen vermag. Die von Gunia geforderte Öffnung des Kompetenzdenkens durch Fremdbezüglichkeit wäre bei einem orientierungsphilosophischen Kompetenzverständnis also dadurch gewährleistet, dass die Orientierung stets auf ein Netz von sich zu Wissensbeständen verdichtenden Anhaltspunkten angewiesen bleibt. Über ein solches Orientierung ermöglichendes Netz von Wissensbeständen verfügen Schüler in weiten Bereichen der für sie relevanten Welt „noch“ nicht. Aufgabe der Schule ist es, ihnen dieses Wissen zu vermitteln. Die Vermittlung



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der Lehrinhalte ist dann kein Selbstzweck, sondern funktional legitimiert zum Zwecke der Orientierung z.B. in der belebten (Biologie) und (Physik, Chemie) unbelebten Umwelt oder auch innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhänge (Geschichte, Politik etc.). Das angebotene Wissen wäre als Zusammenstellung von Anhaltspunkten der Orientierung zu verstehen, die es Schülern ermöglichen sollen, sich in den ihnen bevorstehenden Situationen den Lebens, in seinen persönlichen, ökonomischen, politischen oder auch kulturellen Zusammenhängen zurechtzufinden, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, sich so letztlich Handlungsmöglichkeiten zu erschließen und sich damit als kompetent zu erweisen. So sehr es dann auf den rechten Umgang mit Wissen ankommen mag, ohne Wissensbestände, ohne Anhaltspunkte der Orientierung bliebe dieser haltlos.

5. Gebrauch In der Schulpraxis muss dann an die Stelle gegenwärtiger Handlungfixiertheit ein ständiges In-Beziehung-Setzen von beständigem Allgemeinem, dem Wissen, und situativem Konkretem zueinander treten. Mit diesem Vermittlungsprozess rückt eine didaktische Funktion in den Mittelpunkt des Unterrichtes, die gemeinhin als „Anwenden“ bezeichnet wird. In einer an die Stegmaierʼsche Orientierungsphilosophie anknüpfenden Untersuchung habe ich den in der ‚Anwendung‘ erfolgenden Vermittlungsprozess durch den Begriffs des Gebrauchs expliziert (vgl. Schlicht von Rabenau 2014)6. Wer das Allgemeine zur Orientierung im Situativen, Konkreten nutzt, macht Gebrauch von diesem. Die Untersuchung macht deutlich, wie auf Grundlage der Orientierungsphilosophie das Verhältnis zwischen Kom-

6 Hier habe ich im Rahmen einer philosophiehistorischen Untersuchung u. a. aufgezeigt, dass etwa Platon „nicht nur nach der Wahrheit des Wissens [fragte], sondern auch nach Formen des Wissens, von denen auf unterschiedliche Weise Gebrauch (χρῆσις) gemacht werde, und seine Ideen sollten in pragmatischen Lebenszusammenhängen vor allem brauchbar sein. […] Nach Kant hat in der „allgemeine[n] Menschenvernunft [...] „ein jeder seine Stimme“ (KrV, A 752 / B 780), die, wie jede Stimme, unverwechselbar individuell ist: Man kann von der Vernunft, was immer sie sei, nur individuellen Gebrauch machen. Zuvor entwickelte Leibniz in kritischer Aus­einandersetzung mit der repräsentationstheoretischen Sprachauffassung Lockes eine Gebrauchskonzeption der Sprache: Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke liege nicht in „Ideen“, welche durch sie repräsentiert würden, sondern im Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. […] Damit nahm Leibniz wichtige Elemente der späten Sprachphilosophie Wittgensteins vorweg, der die Bedeutung eines Wortes in dessen Gebrauch fand.“ (Schlicht von Rabenau 2014, S. 11 f.)

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petenz und Wissen im Sinne Gunias „komplementär“ gefasst werden könnte: So werden in den Philosophien Platons, Kants und Wittgensteins durch den Begriff des Gebrauchs […] die Grenzen von Theoretisierungen durch das Individuelle und nicht abschließend Bestimmbare gezogen. Das Feld möglicher Theorie wird erst vor dem Hintergrund ihres immer individuellen Gebrauchs fassbar und klar umgrenzbar. Die Theorie erfährt damit eine Einschränkung, zugleich erhält sie aber auch ihr Recht und ihren Sinn. Philosophen vom Rang Platons, Kants und Wittgensteins philosophieren weniger um der abschließenden Festlegung abstrakter Wahrheiten willen, sondern um Orientierungen auf Zeit zu ermöglichen, die brauchbar sind. (Schlicht von Rabenau 2014, S. 288 f.)

Wie Theoretisches „Orientierungen auf Zeit“ ermöglicht, veranschaulicht Platons Dialog Parmenides (vgl. zur hier vorgebrachten Interpretation des Dialogs Parmenides Schlicht von Rabenau 2014, insbes. S. 82–89). Hier lässt Platon Parmenides die durch den noch jungen Sokrates vorgebrachte Ideenlehre destruieren. Gerade Parmenides warnt Sokrates dann aber vor der vorschnellen Konsequenz, die Ideenlehre gänzlich aufzugeben, denn mit einer völligen Negation der Ideenannahme wäre „dem Verstand seine Ausrichtung“ genommen (Schlicht von Rabenau 2014, S.  86). Damit ist die Ideenannahme trotz aller Gegenargumente keine, die man überhaupt ernsthaft aufzugeben erwägen könnte, weil sie als Voraussetzung für vernünftiges Denken und Kommunikation überhaupt – und damit für unsere Orientierung – unverzichtbar ist. Stattdessen ermuntert Parmenides Sokrates, sich, obwohl diese als theoretische Lehre unhaltbar ist, im Gebrauch der Ideenannahme zu üben. Ideen und Gebrauch sind hier, wie wir es für Wissen und Kompetenz anstreben, komplementär gedacht. Beide werden durcheinander relativiert: Die Ideen erhalten ihren Sinn ausgehend von ihrem Gebrauch, der Gebrauch aber bleibt, soll er erfolgreich sein, auf die Voraussetzung der Ideen angewiesen. Die Orientierung schafft sich feste Bestände, einen Halt – wenn auch auf Zeit. Wissen wäre demnach in schulischen Zusammenhängen kein Selbstzweck, sondern diente der Orientierung. Zugleich ist diese aber auf ein Halt im Ungewissen stiftendes Wissen angewiesen.7 Während heutigem Kompetenzdenken zufolge ein Unterricht oft dann schon als gelungen gilt, wenn die Schüler aktiv sind, müsste der Akzent auf eben dieses

7 Stegmaier hat schon früh auf das komplementäre Verhältnis zwischen „Inhalten und Methoden des Unterrichts“ aufmerksam gemacht: „Das, was man als Inhalte und Methoden des Unterrichts auseinanderhält, bedingt einander sehr stark.“ Am Beispiel des Philosophieunterrichts zeigt er, dass die „berüchtigte Alternative ‚Philosophie oder Philosophieren lernen‘“ sich eigentlich gar nicht stellt (Stegmaier 1986, S. 332, 340).



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Wechselverhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Allgemeinem und Konkretem, eben auf den Gebrauch bzw. die Anwendung des Theoretischen zum Zwecke der Orientierung verschoben werden. Wissen, Theorien oder Erklärungsmodelle müssten zunächst vermittelt oder von den Schülern selbst recherchiert, dann aber angewendet und auf diese Weise auch überprüft werden. Prinzipien müssten auf andere Bereiche übertragen, Bezüge zwischen Geschichte und Gegenwart gezogen werden, etc. Das Wissen hätte seinen festen unverzichtbaren Platz. Sein Wert für die Orientierung und damit das Leben des Menschen müsste jedoch stets im Blick bleiben und den Schülern, wo möglich, verdeutlicht und am besten von diesen erfahren werden.

6. Grenzen des Lehrens von Kompetenzen Problematisch bleibt dann, dass Kompetenzen und Orientierung überhaupt nicht auf dieselbe Weise gelehrt werden können wie Wissen. Die Möglichkeiten, diese zu lehren, sind sogar sehr beschränkt. Denn wie etwas Allgemeines auf etwas Individuelles, nicht Standardisiertes angewendet werden muss, kann letztlich nicht auf allgemeine Regeln gebracht werden. Stegmaier zufolge arbeitet die Orientierung hier mit „Passungen“, für die es jedoch „kein Kriterium“ gibt, „außer dem, dass es eben passt“ (vgl. Stegmaier 2008, insbes. S. 256–263, hier S. 258 f.). Anwendungen bzw. ein Gebrauch können dann mehr oder weniger überzeugend sein. Lehrer können zwar das notwendige Wissen darbieten und verschiedene Lern-Arrangements schaffen, in denen eine Anwendung bzw. ein Gebrauch einfacher oder schwerer fällt, doch die Anwendung muss der Schüler letztlich selbst und sogar auf eine je eigene Weise vollziehen. Schon Kant beschreibt das Vermögen, ‚passende Ordnungen‘ zu finden, metaphorisch als eine „Kraft“ – als „Urteilskraft“ (vgl. zur folgenden Kant-Interpretation Schlicht von Rabenau 2014, S. 139–149). Sie ist das transzendentalphilosophische Vermögen der Vermittlung zwischen Allgemeinem und Konkretem, deren Prinzip nach Kant die „Zweckmäßigkeit“ (vgl. KU, B XXXVII) ist. Er beschreibt sie jedoch, wie von Clausewitz die Kompetenz des zu souveränem Urteil fähigen Feldherrn, mit dem Begriff des Talents: Sie sei ein „besonderes Talent in den Tiefen der menschlichen Seele“ (KrV, A 133 / B 172, Hervorhebung MSvR), das, weil es nicht auf Regeln zu bringen ist, etwas „Rätselhaftes“ (KU, B IX) sei. Sie könne somit auch nicht theoretisch erlernt oder gelehrt, sondern allenfalls mehr oder weniger erfolgreich „geübt“ (KrV,  A  133  /  B  172) werden, aber auch „sehr gelehrten Männern fehlen“ – Männern, die über reichhaltiges Wissen verfügen (KrV,  B  XIII). Der „Mangel an Urteilskraft“ sei daher „eigentlich das, was man

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Dummheit nennt.“ (KrV, A 133 / B 172, Anm. 1; vgl. auch Anth., AA VII 210) Als die Fähigkeit zum Gebrauch der Erkenntnisvermögen ist die Urteilskraft letztlich nicht vollständig theoretisierbar und auf Regeln zu bringen, die sie lehrbar und erlernbar machen. Man kann sich nur mehr oder eben, wenn man „dumm“ ist, weniger auf den Gebrauch verstehen, und diesem „Gebrechen“ auch nicht ohne weiteres in einem theoretischen Lernprozess „abhelfen“ (KrV, A 133 / B 172, Anm. 1). Ein umfangreiches Netz an Anhaltspunkten der Orientierung bzw. an Wissensbeständen kann er recht zuverlässig lehren. Auch kann er verschiedene Möglichkeiten bieten, mit diesem Wissen ‚zu arbeiten‘, es zu gebrauchen. Er wird sich dabei als mehr oder weniger geschickt erweisen, das Interesse der Schüler und ihren Ehrgeiz, ein Problem zu lösen, zu wecken. Doch wird er letztlich nur einen Raum zur Verfügung stellen können, der Schülern Möglichkeiten bietet, ihre Kompetenzen von sich aus zu entfalten. Ob und in welchem Maße der Schüler diese Möglichkeiten nutzt, hat er nicht in der Hand. Der Lehrer selbst erweist sich damit als keinesfalls totalitäres Feldherren-Subjekt. Auch er bleibt zuletzt den Situationen des Lehrerlebens ausgesetzt und muss sich in ihnen stets aufs Neue anhand von Anhaltspunkten orientieren und als mehr oder weniger kompetent erweisen.

Zitierweise der Werke Kants Kants Kritik der reinen Vernunft (KrV) wird nach der Seitenzählung der Originalausgaben zitiert: die erste Auflage von 1781 unter der Sigle A, die zweite, erheblich überarbeitete Auflage von 1787 unter der Sigle B. Die Kritik der Urteilskraft (KU) wird nach den Seitenzahlen der korrigierten und ergänzten 2. Auflage der Originalausgabe (B) von 1793 zitiert. Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Anth.) wird nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (AA) zitiert, die seit 1900 erarbeitet wird.

Literaturverzeichnis Böckling, Ulrich (2007): Das Unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main. Clausewitz, Carl von (1832): Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Zweiter Theil. Berlin. Gunia, Jürgen (2012): „Kompetenz. Versuch einer genealogischen Ideologiekritik“. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie, 4.1. http://www.uni-muenster.de/textpraxis/ juergen-gunia-kompetenz.



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Honolka, Harro (Hrsg.) (2003): Schlüsselqualifikationen. Das Plus eines universitären Studiums. Informationen für Lehrende, Studierende und Arbeitgeber. München. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. 29 Bde., Nachdruck 1972. Berlin. Kuhlen, Rainer (1995): Informationsmarkt. Chancen und Risiken der Kommerzialisierung von Wissen. Konstanz. Ladenthin, Volker (2012): „Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit“. http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/kompetenzorientierungals-indiz-padagogischer-orientierungslosigkeit.html. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (2002a): Rahmenplan Gymnasium, Integrierte Gesamtschule. Geschichte. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (2002b): Rahmenplan Gymnasium, Integrierte Gesamtschule. Philosophie. Schlicht von Rabenau, Mathias (2014): Der philosophische Begriff des Gebrauchs – Platon, Kant, Wittgenstein. Münster. Stegmaier, Werner (1986): „Gründe ohne Gründe. Inhalte des Philosophieunterrichts“. In: Wulff D. Rehfus/Horst Becker (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Düsseldorf, S. 332–341. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York. Weinert, Franz (2001): „Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit“. In: Franz Weinert (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen, Basel/ Weinheim, S. 17–31.

Silvio Pfeuffer

Der Humor in der Orientierung. Dittsche – Das wirklich wahre Leben Als Beispiel für eine Anwendung der „Philosophie der Orientierung“ soll im Folgenden eine im deutschsprachigen Fernsehen sehr bekannte und mehrfach ausgezeichnete Comedy-Reihe dienen. In ihr werden grundlegende Orientierungsleistungen durch Humor kontrastiert und einer separaten Reflexion zugänglich gemacht. An den Humor knüpft Stegmaier an mehreren Stellen der „Philosophie der Orientierung“ an, er nimmt dort verschiedene Funktionen ein: zur Entschärfung von Absichtsbekundungen (vgl. Stegmaier 2008, S.  392) bzw. Mittel zur Durchsetzung des eigenen Willens (den anderen ‚sprachlos‘ machen) (S.  424), als spielerisches Hilfsmittel bei der Konfrontation mit anderen moralischen und ethischen Orientierungen (S.  414, S.  571), zur Auflösung von einander widersprechenden Rollenerwartungen (S.  449), als „Weisheit der Perspektivierung schlechthin“ (S.  588) sowie als Ausdruck von Souveränität (S.  625). Im Glossar wird die Seite 588 hervorgehoben, d. h., dass diese Stelle für eine schnelle Orientierung über den Humor am aussagekräftigsten ist. Die „humoristische Perspektivierung“ drückt die Fähigkeit aus, sich von allen Standpunkten (wieder) zu lösen, um neue Anhaltspunkte zu fixieren und Perspektiven zu entwickeln. Diese Fähigkeit steht wiederum mit der Souveränität in engem Zusammenhang. Menschen, die sich gut orientieren können, sind auch diejenigen, die am besten und am meisten über sich lachen können, sie ahnen, dass jeder Grund auf einem Un-grund basiert, und das Lachen ist dann Ausdruck des souveränen Umgangs damit – und darin schon wieder Orientierung. Der Humor weist somit für die Kommunikation einen funktionellen Wert auf, er kennzeichnet aber auch die Orientierung an sich. Souveräne Menschen lachen über ihre eigene Unsouveränität, die sie in vielen Situationen zeigen – und sind eben darin souverän. Und weil sie bemerken, dass ihre Souveränität gerade darin besteht, mit der Unsouveränität umgehen zu können, kommen sie mitunter aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Unsouveränen Menschen bleibt hingegen ‚das Lachen im Halse stecken‘; schlimmstenfalls werden sie aggressiv. Das Gegensatzpaar souverän / unsouverän wird – in Stegmaiers Worten – paradoxiert: Die Souveränität ‚gelingt‘, weil die Menschen in der Lage sind, ihre alltäglichen Fehltritte in der Kommunikation an sich ‚heranzulassen‘. Die Souveränität stellt sich nachträglich ein; entscheidend für das humoristische Moment ist jedoch die Unsouveränität. Diese wird in der Situation, die auf eine neue Orientierung hinausläuft, nicht bewusst. Exemplarisch für diese Unsouveränität, die (dem Beobachter) Souveränität hervor- oder nahebringt,

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 Silvio Pfeuffer

ist die Figur des Dittsche, die von dem deutschen Schauspieler Olli Dittrich entworfen wurde. Seit über 10 Jahren begleitet der als „Alltagsphilosoph“, „philosophische Pommes-Schranke“ oder „Thekenphilosoph“ titulierte Langzeitarbeitslose Dittsche das deutsche Fernsehpublikum. Die Comedy erfreut sich einer großen Fangemeinde, im Web 2.0 gibt es ein Forum und den Deutschen Fernsehpreis hat die halbstündige Live-Show auch erhalten. Fakt ist, dass Olli Dittrich alias Dittsche den Besitzer eines Imbissstandes (Ingo) über eine halbe Stunde hinweg mit seinen – wie er es nennt – „reinen Weltideen“ zutextet. Dittsche erkennt in seiner nächsten Umwelt Probleme, für die er nach praktikablen Lösungen sucht. Mal entwirft er einen Landluftgenerator, um die Hautprobleme seiner Nachbarin Frau Karger zu beheben (Folge 188, 30.03.2014: https://www.youtube.com/ watch?v=XJ0cpDwP0wM), ein andermal setzt er sich mit ihrem Mann auseinander, der gerade dabei ist, ein „Feld“ im „Inderné“ zu bestellen (eine eigene Website einzurichten). In der Folge entdeckt Dittsche Anknüpfungspunkte an weit größere Probleme („Hypothenusen“), auf die er seine bereits nicht unbedingt alltagstauglichen Lösungen überträgt: Schulden werden zu „Antimaterie“, daneben gibt es „Komulatoren“, die in der Welt Verbindungen herstellen, sowie die metaphysische „Papstkraft“, aufgrund derer Klitschko gewinnt und Helmut Kohl eine neue Freundin bekommt (http://www1.wdr.de/fernsehen/ unterhaltung/dittsche/extra/dittschenaryA100.html). Alles bis ins Detail erklärt. Bei der Entwicklung der „reinen Weltideen“ stößt Dittsche auch auf „Paradoxonos“, die in seiner Vorstellungwelt wahrscheinlich den Status von widerspenstigen Elementarteilchen haben. In der Summe handelt es sich um völlig sinnfreies „Gelaber“, wie man im Deutschen sagt. Und dennoch liegen die Einschaltquoten stabil bei ca. 7,2 %, Millionen schauen sich das an. Warum eigentlich? „Dittsche – das wirklich wahre Leben“ – eine Floskel, die jedem ausgebildeten Philosophen Schweißperlen auf die Stirn treibt und ihn überstürzt in Hegel-, Kant- und Heidegger-Lektüren verfallen lässt, zaubert dem Zuschauer hier nur ein wissendes Lächeln auf das Gesicht. Die Rezipienten sind sich einig darin, dass das Leben, das sie führen, nicht das Leben ist, wofür man es (sie eingeschlossen) hält. Sondern es ist anders, weicht immer wieder von den Vorstellungen ab, die man sich von ihm macht, und in der Realität kommt es meistens (etwas) anders, als man es vorher erwartet oder gar geplant hat. Darüber besteht allgemein ein Konsens, weshalb die Floskel „das wirklich wahre Leben“ unmittelbar eingängig ist. Jeder versteht sie, ohne deshalb ein Philosoph zu sein. Dieses Wissen, das nicht beinhaltet, worum es genau geht, sondern darüber hinausschießt oder kurz davor zum Stehen kommt, bildet die alltägliche Orientierung der Menschen ab. In Dittsche wird den Zuschauern nun eine Figur geschenkt, die die alltägliche

Der Humor in der Orientierung. Dittsche – Das wirklich wahre Leben 

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Orientierung auf eine zugleich lustige wie tiefsinnige Art und Weise repräsentiert. Und vermutlich ist dies der Grund, warum sich die halbstündlichen Folgen einer solchen Beliebtheit erfreuen. Die Zuschauer lachen, wenn sie über Dittsche lachen, auch und vor allem über sich selbst. Über den Unsinn in ihrem Leben, der sich in bestehende, scheinbar unerschütterliche Sicherheiten / Routinen einrenkt und sie über kurz oder lang ein Stück weiterbringt.

Die Situation Dittsches Dittsche ist über 50, langzeitarbeitslos und lebt von Hartz IV. Seine sozialen Kontakte beschränken sich auf die Nachbarn (das Ehepaar Karger, Giovanni u. a.). Um seine Kontaktarmut zu überwinden, tut er das in dieser Situation Richtige: Er sucht die Kommunikation mit anderen, im Stadtbild gehört er so einfach dazu. Ein wichtiger Haltepunkt für seine Orientierung im öffentlichen Leben ist eine Imbissbude im Hamburger Stadtteil Eppendorf (https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/2/2a/Eppendorfer_Grill_Station.jpg), die Dittsche jeden Sonntagabend – im Bademantel, roter Schlapperhose, weißen Socken und Badelatschen – aufsucht. Dittsche gibt seine leeren Bierflaschen ab und bekommt von Ingo, dem Imbisswirt, erst einmal ein frisches Bier gereicht. Das erste, was Dittsche sagt, ist: „Das perlt ja wieder!“ Im Hintergrund, mit dem Rücken zur Theke, sitzt Schildkröte, der sein Feierabendbier trinkt, raucht und während der gesamten Sendung kein Wort sagt. Die Anfangshandlung ist routinisiert, ebenso das Ende: Dittsche wendet sich dann Schildkröte zu, der regelmäßig erwidert: „Halt die Klappe, Mann, ich hab Feierabend!“ Der Schauspieler Olli Dittrich erhöht die Authentizität seiner Figur dadurch, dass die Inhalte vor der Live-Sendung nur grob abgesprochen werden. Es gibt kein ausgearbeitetes Drehbuch, wobei die beiden anderen Schauspieler nicht in die Ideen Dittrichs eingeweiht werden. Für Dittsche ist die Situation jedes Mal relativ neu; er kann nicht wissen, auf wieviel Verständnis oder Unverständnis er diesmal treffen wird. Seine Selbstbezüglichkeit ist jedoch so stark, dass sie den Fremdbezug jedes Mal neu ermöglicht bzw. beim anderen geradezu einfordert. Hat man sich einmal auf ihn eingelassen, ist man verloren. Der Schauspieler Dittrich arbeitet häufig mit der Unterscheidung von Wahrnehmungen und Vorstellungen, um Ingo in ein Gespräch zu verwickeln. Der Selbstbezug ermöglicht somit die schnelle Herstellung eines Fremdbezugs (Stegmaier 2008, S. 12), da Ingo ja nicht die Wahrnehmungen Dittsches leugnen kann. Dittsche kann sehr wohl Wahrnehmungen und Vorstellungen unterscheiden, aber er tut dies zur Hälfte auf der Ebene des Wissens und zur Hälfte auf der Ebene des Unwissens. Man

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könnte auch sagen, dass Dittsche seine Selbst- und Fremdbezüge in der Imbissbude austestet, um seine Orientierung zu verbessern (vgl. Stegmaier 2008, S. 13). Somit ist auch für Ingo (Jon Flemming Olsen), den Imbisswirt, die Situation jedes Mal neu: Er kann sich nicht ausmalen, mit welchem Quatsch und verrückten Ideen ihm Dittsche wieder kommen wird. Trotz seines soliden Realschulwissens gelingt es ihm zumeist nicht, Dittsche von seinen aberwitzigen Ideen „herunterzuholen“. Er ist sozial engagiert und hört Dittsche in der Regel aufmerksam zu. Aber auch dann, wenn es ihm gelingt, Dittsche zu widerlegen, bleibt bei Ingo eine Rest-Irritation zurück, da durch die wilden Sinn-Konstruktionen Dittsches immer wieder tiefsinnige, philosophisch anmutende Momente durchscheinen: Es tritt nicht ein, was ein Satz Dittsches zu intendieren scheint (Kohärenzerwartung), wobei aber die Kohäsion des Satzes (seine formale Verständlichkeit) erhalten bleibt. Das heißt, dass die Zuschauer (und Ingo, der die Zuschauer gleichsam symbolisiert) für die Interpretation der Aussagen Dittsches Schlussfolgerungen ziehen müssen (bzw. für sie aufkommen müssen), die jenseits der Erschließung der formalen grammatikalischen Struktur liegen (vgl. Hansen 1998, S. 184). Was witzig ist, kippt unmittelbar in Ernst, und so liefert Dittsche immer wieder Anknüpfungspunkte für die Orientierung der Rezipienten. So wird im Forum über den Schimmel in der eigenen Wohnung diskutiert, wie oft man in der Woche saubermachen sollte u. a. (http://www.dittsche-forum.de/forum/ dittsches-wohnung-t2668.html) Die Orientierung der Zuschauer hebt sich gegen Ende der Sendung von der Situation (Unterhaltung durch eine Comedy-Serie) ab (vgl. Stegmaier 2008, S. 152), wodurch sie sich nun eigens über die Sendung orientieren, zum Tablet greifen und sich über die Sozialen Medien austauschen. Während der Ausstrahlung der Sendung harrt vor der Imbissbude der enge Kern der Fangemeinde aus und beobachtet das Geschehen in der Imbissbude auf einer Leinwand. Sie will durch diese Nähe zu einem Bestandteil der Sendung werden, über die sie sich gleichzeitig orientiert. Die Unterscheidung wird über die geschlossene Glastür aufrechterhalten.

Sinn bei Dittsche Dittsche ist ein sehr aufmerksamer Mensch, der seine Umwelt mit allen Sinnen aufnimmt. Es gibt nichts, das ihn nicht interessiert. Und ein versteckter Weltverbesserer ist er auch. Dittsche nimmt in seiner Orientierung die nötigen Selektionen vor, die aber in sich nicht stimmig sind. Er hat Probleme in der Gewichtung von Zentrum und Peripherie (vgl. Stegmaier 2008, S.  178). Oft ist er von einem

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Gegenstand, einer Vorstellung oder einer Idee derart fasziniert, dass alles andere an den Rand gedrängt wird. Dittsche konzentriert sich auf alles, was seine Vorstellungen Wirklichkeit werden lassen könnte, aber auf nichts, was dieser Verwirklichung entgegensteht. Wenn man so sagen kann, verfolgt Dittsche den richtigen Orientierungsansatz, jedoch in einer maßlosen Überdehnung. Durch diese Beharrlichkeit entstehen für Dittsche Sinnwelten, die offenbar Nonsens sind. Ab und zu kommt es vor, dass der Schauspieler Dittrich anfängt, über Dittsche zu lachen, wenn ihm in der Improvisation eine besonders außergewöhnliche Idee kommt. Allein der Staubsauger von Dittsche hat mindestens vier Umbauten erfahren: zum Grillen, zum Vogelfangen, zum Maradonnasack (Magenverkleinerung des Staubsaugers) und zur Espressomaschine (http:// www.dittsche-forum.de/forum/dittsches-staubsauger-t2250.html). Einen Grill oder eine Espressomaschine kann sich Dittsche offenbar nicht leisten; insofern erscheinen seine Orientierungsleistungen auf der anderen Seite wiederum als plausibel. In einer Mangelgesellschaft, wie sie bis in die 1950er Jahre hinein existierte und in der Dittsche noch geboren wurde, galt der improvisierende Umgang mit Technik als eine handwerkliche Tugend. Die halbstündliche Comedy steuert auf ihren Höhepunkt zu, je mehr sich ab­zeichnet, auf welche Art und Weise eine Erklärung, eine neue Theorie oder ein neu entwickeltes Gerät sich für Dittsche verplausibilisiert. So habe auf stern.tv gestanden, dass der Komet Tschuri auf der Erde wie ein Pferdeapfel riechen würde. Solche hatte er schon für den Bau seines Landluftgenerators gesammelt, die er jetzt zur Verdunstung zusätzlich mit Klosteinen versetzt, weil das dieselben ammoniakhaltigen Kristalle wie auf dem Kometen Tschuri seien. Der Geruch aus der Teekanne, in der die Pferdeäpfel liegen, würde sich wie ein „Beautyfluidi“ auf Frau Kargers Haut legen. Der Humor ergibt sich aus der plausiblen Anfangsorientierung (vgl. Stegmaier 2008, S.  182): Für Dittsche ergab diese Maschine Sinn, nachdem ihm Frau Karger über ihre Hautprobleme berichtete, die sie auf die schlechte Stadtluft zurückführte. Dittsche nimmt jedoch die falschen Selektierungen vor: Er liest Gerätebeschreibungen, alte Gebrauchsanweisungen und Marktstudien, um die Informationen mit logischen Operatoren im Sinn der Funktionalität eines Landluftgenerators zu verbinden. Währenddessen verliert er die völlige Übersicht darüber, was er eigentlich tut.

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Die Spielräume Dittsches Der Richtungswechsel erfolgt dann regelmäßig Sonntag abend in der Hamburger Imbissbude. Sie wird über die Jahre hinweg zum Horizont der Orientierung Dittsches. Wenn wieder mal etwas schief gelaufen ist, so trägt Dittsche dies die ganze Woche mit sich rum (dies ist die Vermutung der Teilnehmer im Forum, die sich dabei Sorgen machen). Aber sobald er die Imbissbude betritt und sein erstes Bier ausgehändigt bekommt, ist die Welt für ihn wieder in Ordnung. Stegmaier schreibt, dass das „,Richtige‘“ das ist, „was ,in Ordnung‘ ist“ (vgl. Stegmaier 2008, S. 193). Die Orientierung zeige im ‚Richtigen‘ seine Ordnung(en). Für Dittsche ist das Richtige die Flasche Bier in der Hand, was er zu einer kaskadenartigen Ordnung, zu absoluter Gewissheit, aufbaut: –– –– –– –– ––

„Das perlt.“ „Das perlt jetzt aber.“ „Das perlt jetzt aber richtig.“ „Das perlt jetzt aber richtig über.“ „Das perlt jetzt aber richtig über, ma’ sagn.“

Mit diesen vorangehenden Sprüchen gibt Dittsche die Richtung der darauffolgenden Kommunikation vor, die als asymmetrisch zu kennzeichnen ist. Dittsche redet, Ingo verharrt in einer passiven Stellung, auch dann, wenn er ihm gegenüber durchblicken lässt, im Recht zu sein. Schließlich ist Dittsche auch ein Kunde, den Ingo behalten möchte. Die Spielräume, die ihm zur Verfügung stehen, nutzt Dittsche konsequent aus. So bringt er – zum Unwillen Ingos – oft allerlei Geräte oder Materialien in die Imbissbude mit. Oder er verwickelt andere, unvorbereitete Gäste in seine Gedankentiraden. Diese Kommunikationsstruktur – mit der schweigenden Schildkröte im Hintergrund – ist die Grundordnung der Sendung, die seit über einem Jahrzehnt beibehalten wird. Sie bildet den Horizont ab, auf den Dittsche hin lebt. Diese Ausrichtung der Orientierung Dittsches wird in zehn Jahren nur einmal unterbrochen. Als er seine technischen Neuerungen eines Wagenhebers demonstriert, ausrutscht und dabei die Vitrine zertrümmert, schmeißt Ingo ihn raus (https://www.youtube.com/watch?v=uEueIQDcTKE). Dittsche muss vorübergehend zum Griechen gegenüber. Für Dittsche handelt es sich zugleich um eine lokale, kommunikative und existenzielle Desorientierung (vgl. Stegmaier 2008, S.  317 f.). Aus seinen tänzerischen Schritten wird ein hilfloses Sich-im-Kreisedrehen. Er versucht, sich an einen Tisch zu setzen, bemerkt aber sofort, dass er sich nicht wie die anderen orientieren kann; das lässige Sich-Auflehnen auf der Theke funktioniert im ersten Moment auch nicht, weil dies nicht den Orientie-

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rungen der anderen Besucher entspricht. Schließlich muss er aus einem Glas trinken; in dem das Bier nicht so perlt wie aus der Flasche. Das heißt, dass ihm die Ordnung der Orientierung fehlt (Folge 80, 13.05.2007: https://www.youtube. com/watch?v=LzZXtWtRIB8). Dittsche verfügt jedoch auch über Anhaltspunkte, um sich neu zu orientieren. Dazu zählt die Frau hinter dem Tresen, die er erst einmal mit „Mykologie“ beschwatzt.

Die Perspektiven Dittsches Dittsche kann keine neuen Horizonte gewinnen, da sich an seinem Leben nichts ändern wird. Er kommt nicht in die Situation, sich grundsätzlich neu orientieren zu müssen – es sei denn, die Jobagentur nimmt ihn in ein Ü50-Programm auf. Über seine sozialen Probleme redet er indes nie – als Verlierer der Gesellschaft will er an der Gesellschaft teilhaben und nutzt dazu das einzige, was er zu bieten hat: sein Halbwissen und sein unglaubliches Assoziationsvermögen. Als man ihm erklärt, was Hartz IV ist, brummelt Dittsche nur vor sich hin und sagt dann: „Ach nee, da warte ich lieber auf Hartz V.“ (Anspielung auf das i-phone). Die Zuschauer gewinnen damit eine Orientierung über individuelle Schicksale, deren Orientierungen in der Öffentlichkeit ansonsten verschwiegen werden. Natürlich kann Dittsche nicht seine eigene Orientierung und damit nicht seinen eigenen Standpunkt beobachten. Stegmaier zufolge hat der Standpunkt – obwohl ein körperhafter Ausdruck – keinen Ort im Körper, sondern scheint die „imaginäre Mitte im oder am Körper zu sein“ (Stegmaier 2008, S. 202). Diese imaginäre Mitte füllt Dittrichs Schauspielkunst wunderbar aus. Es handelt sich um die Art und Weise, wie er über eine halbe Stunde hinweg die Bierflasche hält, sie an die Lippen führt, schluckt, vor- und zurücktritt, mitunter tanzende Schritte macht oder sich auf der Vitrine auflehnt. Dittsches Standpunkt wird somit sichtbar und einer unbewussten ästhetischen Rezeption zugänglich. Dittsches Standpunkte bedrohen somit aber auch die Inneneinrichtung der Imbissbude – er verhält sich ja nicht so, wie das für einen „normalen“ Gast vorgesehen ist. Dittsches Standpunkte sprengen die Vorstellung dessen, was sich in einer Imbissbude an Konversation und sozialem Austausch abspielen kann. Dittsche bedroht somit die Grundordnung der Imbissbude, die ihm das Ausleben seiner Standpunkte erst ermöglicht. In diesem Spannungsverhältnis verschieben sich die Perspektiven Dittsches. An einem Abend, an dem er den „Herzverstand“ erklärt (das Bauchgefühl sendet in einem Aufzug Informationen an das Herz, das die Infos vorselektiert und an den obersten Entscheider im Kopf weiterleitet, der auf das Bauchgefühl oft genug nicht hört

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und seine eigenen Entscheidungen trifft, was zu Problemen führt; Folge 199, 08.03.2015: http://www1.wdr.de/fernsehen/unterhaltung/dittsche/sendungen/ dittschefolge144.html), kommt Dittsche auf die kaputt geschlagene Vitrine zu sprechen. Die Vitrine sei Ingos bessere Hälfte gewesen, seine Ersatzfrau, die auf das Bauchgefühl hört. Dittsches moralische Orientierung, die er mit dem „Herzverstand“ ethisch begründet, rechtfertigt im Nachhinein die Zerstörung der Vitrine, indem er Ingo eine richtige Frau wünscht. Während der Horizont Dittsches derselbe bleibt, verändern sich doch von Zeit zu Zeit seine Lebensumstände. In der Folge verändern sich auch Dittsches Standpunkte und Perspektiven. Nach der besagten Episode mit dem Landluftgenerator, die mit der Versiegelung seiner Wohnungstür endet, muss Dittsche vorübergehend in die Gartenlaube von Giovanni ziehen. Am darauffolgenden Sonntag (30.11.2014) kommt Dittsche auf Günter Grass zu sprechen, der in Notfällen die „Zwangseinquartierung“ für Flüchtlinge in Privaträumen forderte (http:// www.bild.de/politik/inland/schriftsteller/schriftsteller-wollen-festung-europaknacken–38744048.bild.html). Dittrich lässt geschickt in der Schwebe, ob Dittsche hier eine moralische Nötigung erfährt oder einfach nur befürchtet, dass die Stadt in seiner Wohnung Flüchtlinge einquartiert. Möglicherweise identifiziert er sich aber auch mit dem Schicksal der Flüchtlinge, weil er selber zu einem solchen geworden ist, seitdem er in einer Gartenlaube Unterschlupf gefunden hat. Es könnte aber auch sein, dass er inzwischen wieder in seiner Wohnung lebt und sich auf einen Flüchtling freut, dem er all seine Erfindungen vorführen kann. Die moralische Nötigung wäre dann nur eine vorgeschobene. Die virulente Darstellungskunst Dittrichs lässt jede dieser Interpretationen zu. Die verschiedenen moralischen Perspektiven (altruistisch, egoistisch, hedonistisch) überlagern und stören sich; letzteres wird aber nur vom Zuschauer bemerkt, der sich in Dittsche wiedererkennt und zu lachen beginnt.

Orientierung an Dittsche Dittsche gibt den Zuschauern eine Orientierung über ihre alltägliche Orientierung, und sein Darsteller möchte, dass sie darüber zu einer besseren Orientierung finden. In einem Interview sagte Olli Dittrich einmal in Bezug auf die Motivation, Dittsche zu spielen: „Man muss den Leuten die Wahrheit zurückgeben.“ Und fügt sogleich hinzu: „Man muss den Dingen Platz lassen.“ (http://www.sueddeutsche. de/panorama/live-aus-der-frittenbude-ernst-wie-pommes–1.681799) Das sind philosophisch tiefe Sätze. Fast ist es so, als hätte Dittrich gesagt: ‚man muss die Menschen sich neu orientieren lassen‘. Insofern zeigt er den Zuschauern jeden

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Sonntag, dass die Gespräche, die sie während der Arbeit, in der Familie oder in der Freizeit führen, alles andere als vernunftgemäß, zielführend oder auch nur als hilfreich zu kennzeichnen sind. Diese Gespräche bestehen zu einem großen Teil aus denselben Bausteinen, die Dittsche verwendet: Bild-Zeitung, Fernsehen, Google, Facebook, hier und da mal eine vertiefende Doku, Krimilektüre oder bei speziellen Interessen ein Sachbuch. Die Zuschauer bemerken, dass sie sich – wenn auch auf formal höherem Niveau – auf dieselbe Art und Weise orientieren wie Dittsche. Sie konsumieren die Massenmedien, die sie gleichzeitig als nicht sehr vertrauenswürdig einschätzen, greifen auf ihre selektiven Bildungsinhalte zurück (und ergänzen sie mit Google), entwerfen diverse Argumentationsketten und verbinden das alles mit ihren wechselhaften psychischen Befindlichkeiten. Sie geben im Gespräch Urteile über „Gott und die Welt“ ab, die einer näheren Überprüfung wahrscheinlich nicht standhalten würden. Und das betrifft gerade auch Philosophen, z. B. dann, wenn sie in einer Konferenzpause zusammenstehen und sich kurz über die jüngsten Entwicklungen in der Finanzkrise austauschen – es ist, unter dem Aspekt ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, hanebüchend. Und damit ist Dittsche sozusagen immer unter uns. Dittsche legt die alltäglichen Orientierungen der Menschen offen. Er zeigt, dass es sich bei dem, was in den Medien durch allgemeine soziokulturelle Normen und Werte legitimiert wird, im Grunde genommen um absolute Kontingenz handelt, in der die Dinge willkürlich (im individuellen psychischen System) miteinander verknüpft werden. In diesem Punkt ist Dittsche ein Phänomenologe seiner Umwelt. Dittsche zeigt, dass aus Orientierungen neue Orientierungen entstehen, diese aber keinesfalls besser sind, weil irgendwo etwas falsch gemacht wurde. Aber eben weil es sich um Orientierungen handelt, könnten sich die Menschen auch anders, besser orientieren, als sie es tun. Dies ist die Botschaft des Schauspielers Olli Dittrich. Loriot, von vielen als der größte deutsche Komiker bezeichnet, sagte über ihn, dass es niemandem besser gelingt, „den Wahnsinn bürgerlicher Monologe“ aufzubrechen und sichtbar zu machen. Und das Feuilleton ist sich einig, dass weder Richard David Precht noch Margot Käßmann, die wie der arbeitslose Dittsche um Einschaltquoten buhlen und im Unterschied zu diesem professionelle Orientierungsgeber sind, jene existentiellen Fragen stellen, die Dittsche beantwortet. Die Frage nach einem Leben nach dem Tod hat er einfach schlüssiger beantwortet (http://www.haz.de/Nachrichten/Medien/ Fernsehen/Kultserie-Dittsche-mit-Olli-Dittrich-im-WDR). „Dittsche – das wirklich wahre Leben“ steht exemplarisch für den Humor, der Orientierungen auf die eine oder andere Weise immer begleitet und dabei eine geradezu therapeutische Wirkung entfalten kann. Die Figur des Dittsche selber hat keinen Humor – er meint es ja durchaus ernst mit seinen Sachen, wodurch seine Unsouveränität deutlich wird. Der Humor in der Orientierung ist,

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dass sie Inkongruenzen zulassen muss und gleichzeitig den einzigen ‚Weg‘ darstellt, diese dauerhaft und zuverlässig zu vermeiden. Die Zuschauer wissen oder lernen das, wenn sie bei der nächsten Folge wieder einschalten.

Literaturverzeichnis Hansen, Maj-Britt Mosegaard (1998): The function of discourse particles. A study with special reference to spoken standard french. Amsterdam/Philadelphia. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/New York.

Nachwort

Werner Stegmaier

Zur Philosophie der Orientierung. Fragen und Antworten Die Philosophie der Orientierung [PO], als philosophischer Entwurf und als Buch, in dem er vorliegt, wird hier konzentriert diskutiert. Die meisten, die zu diesem Band beitragen, stellen Herzstücke ihres Denkens in ihren Horizont. Das bedeutet nicht schon, dass sie sich auf die PO verpflichtet hätten. Sie orientieren sich an ihr, und eben dazu, zu einer Orientierung an anderer Orientierung ohne Verpflichtung auf eine gemeinsame Wahrheit, lädt die PO ein. Nur indem man sich in die Nähe einer Philosophie begibt und sich zugleich Distanz zu ihr vorbehält, kann man sie in Frage stellen, ihr andere Seiten abgewinnen, ihr neue Felder eröffnen, sie weiterführen. Das ist hier, wenn ich als Autor der PO das in aller Befangenheit sagen darf, in erstaunlicher und beglückender Weise geschehen. Allen, die sich an diesem Austausch mit der PO beteiligt haben, sage ich herzlichen Dank, besonders aber den jungen Herausgeber(inne)n, die viele Jahre lang mit mir an der Universität Greifswald zusammengearbeitet haben, und Gertrud Grünkorn, die auch diesen Band, wie so viele andere Bände zuvor, die ich geschrieben oder herausgegeben habe, im Verlag De Gruyter verantwortet. Ich werde, weil sich die Zugänge – auch das ganz im Sinn der PO – stark unterscheiden, auf jeden Beitrag einzeln antworten, zugleich aber versuchen, sie im Horizont der PO zu verknüpfen. Ich folge dabei ohne Rücksicht auf Alter, Würde, Geschlecht und Nationalität der Autor(inn)en (das braucht man heute nicht mehr zu betonen) Gesichtspunkten der PO selbst und ordne die Beiträge nach der Art der Fragen an, die sie an die PO stellen: I. Grundfragen: Ist der Ansatz der PO haltbar (1.–3.)? II. Anwendungsfragen: Lassen sich von ihr aus andere Philosophien, auch und gerade ältere, neu erschließen (4.–5.)? III. Rückfragen: Sind ihre möglichen sachlichen und historischen Quellen hinreichend berücksichtigt (6.–7.)? IV. Anschlussfragen: Wird sie einer ihrer wichtigsten Quellen, der Philosophie Nietzsches, gerecht? Und umgekehrt: Entspricht Nietzsches Philosophie heute noch den Erwartungen an eine PO (8.–12.)?1

1 Dieselbe Frage könnte man im Blick auf Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie stellen. S. dazu mein gleichzeitig im Verlag De Gruyter erscheinendes Buch Luhmann meets Nietzsche. Orientierung im Nihilismus, das Nietzsches Philosophie und Luhmanns Systemtheorie im Horizont der Philosophie der Orientierung systematisch aufeinander bezieht.

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V. Nachfragen: Ließen sich zentrale Themen der PO nicht erheblich weiter verfolgen, als es bisher geschah, das Unverfügbare (13.), das Verstehen (14. u. 15.), das Wissen (16.), das Verhältnis von Moral und Ethik (17.) und von Ethik und Religion (18.) und hier wieder der Sinn der Gebote des Judentums auch für die moderne Orientierung (19.)? VI. Folgefragen: Könnte und müsste man von der PO aus nicht weitere Themenfelder erschließen, zu denen sie wenig oder gar nichts sagt, etwa die Orientierung durch Geschichte (20.), die Konzeption der Schulbildung (21.) und der Orientierungswert nicht nur des leiblichen Habitus einer Person und ihres Gesichts, sondern auch der Kleidung (22.)? Und da das Letztere nicht ohne Humor abgeht, wie steht es mit dem Humor in der PO, hält sie Lachen und Lächeln aus, hat sie auch dafür Spielräume, kann sie, mit einem Wort, noch einmal Nietzsches Wort, nicht nur heiter, sondern auch fröhlich sein (23.)? Bei den einleitenden Grundfragen, bei denen der ganze Ansatz der PO auf dem Spiel steht, muss ich etwas ausführlicher sein als bei den folgenden und bitte dafür um Nachsicht.

I. Grundfragen 1. Francesco Totaro stellt in seinem Beitrag Orientierung, Perspektive, Wahrheit: Versuch einer Verbindung seinen an Parmenides orientierten Ansatz systematisch dem der PO gegenüber, die eben die parmenideische Tradition zu überwinden versucht, und lädt ein, den „Weg zu einer gemeinsamen Wahrheit“ zu gehen. Parmenides wollte um der einen Wahrheit willen die Perspektivität der Orientierung ausschließen und riskierte dazu den Ausschluss der Zeit aus dem Denken. Seine Lehre von der Wahrheit als Einheit von Denken und Sein wurde plausibel in einer auf Dauer gestellten Welt, einem kósmos, in dem alles in schöner Ordnung einander zugehörte und auf Ewigkeit angelegt war. Die schöne Ordnung hat sich inzwischen aufgelöst, in der Neuzeit hat sich das philosophische Denken auf die Möglichkeit seines bloßen Selbstbezugs gestützt und ist zum Sein in Distanz getreten; die Wahrheit wurde von Grund auf fraglich. Seit dem 19. Jahrhundert hat es sich schließlich ganz auf eben das eingelassen, was Parmenides ausgeschlossen hatte, die Zeit. Inzwischen ist nichts mehr, auch das philosophische Denken selbst nicht, vor der Evolution sicher, dem fortlaufenden kontingenten Selektionsgeschehen ohne vorbestimmten Fortschritt. Mit dem Begriff der Orientierung kann sich die Philosophie eben darauf einstellen.



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Orientierung besteht unbestritten darin, sich in neuen Situationen welcher Art auch immer zurechtzufinden, mit ihnen zurechtzukommen und sie in diesem Sinn zu bewältigen. Dazu hat sie unter Ungewissheit Entscheidungen zu treffen, die hinreichende Gewissheit zum Handeln schaffen. Ihre Entscheidungen sind durch den Erfolg früherer Orientierungen, eigener und fremder, bestimmt; frühere Orientierungen schränken die aktuelle Orientierung ein und richten sie aus, bestimmen ihre jeweiligen Standpunkte und Horizonte, perspektivieren sie. So operiert die Orientierung reflexiv und rekursiv. Sie schließt einerseits laufend an sich selbst an und kann andererseits mit ihren Orientierungsentscheidungen die Situation so verändern, dass wieder neue Orientierung nötig wird. In ihrer Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität hat sie Halt und Flexibilität zugleich, hat sie ein zeitloses Sein weder vor sich noch in sich, sondern bleibt zeitlicher Prozess. Insofern ist das Orientierungsdenken ein Gegenentwurf zum parmenideischen Denken. Es geht auch nicht mehr von Einheit, sondern von Differenz aus, der Differenz von Orientierung und Situation, die sich abhängig voneinander laufend verändern: Orientierung ist jeweils eine Orientierung in dieser Situation, und Situation ist jeweils eine Situation dieser Orientierung. So ist auch die Differenz in sich zeitlich, und auch ihr ist nichts Zeitloses vorgegeben. Der „Überstand“ der Orientierung „gegenüber der Situation“, wie Francesco Totaro ihn nennt, ist nicht „transzendental“, wenn „transzendental“ im kantischen Sinn heißt, wechselnden Situationen gerade entzogen zu sein. Er ist aber auch nicht „empirisch“, sofern er selbst nicht beobachtbar, sondern Voraussetzung aller Beobachtungen ist. Die PO verzichtet darum auf die Unterscheidung von transzendental und empirisch überhaupt, ebenso auf die ältere von Verstand und Sinnlichkeit, die in der Orientierung nicht sinnvoll zu trennen sind. Schon Kant stellte zu seinem Erstaunen fest, das Rechts und Links weder wahrgenommen noch begrifflich erfasst werden können, und ebenfalls nach Kant sind Verstand und Sinnlichkeit im Erkennen ja gerade nicht getrennt, wenn das Erkennen nicht blind oder leer sein soll. Die PO setzt die Differenz von Orientierung und Situation dennoch als arché an, als Anfang oder Prinzip, mit dem alles Übrige beginnt und hinter das man nicht zurückgehen kann und das insofern zeitlos ist. Ein solcher Anfang ist daher paradox. Mit Paradoxien startete auch Parmenides; sein Schüler Zenon buchstabierte sie sorgfältig aus, er, um zu zeigen, dass Zeit nicht denkbar ist und als solche auch nicht sein kann. Das Denken selbst aber sollte zeitlos sein und war doch unleugbar ein zeitlicher Prozess, also ebenfalls zugleich zeitlos und zeitlich, also paradox. Der Ursprung der Paradoxie liegt demnach nicht in der Verneinung oder Bejahung der Zeit, sondern, wie Aristoteles dann gesehen hat, im Denken der Zeit überhaupt: Sie kann, sofern sie zugleich immer dieselbe und eine andere

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ist, nur widersprüchlich gedacht werden. Alles, was der Zeit angehört, nimmt an ihrer Paradoxie teil. Gerade Paradoxien bieten aber die Chance zu einer „gemeinsamen Wahrheit“: sofern sie zwingen, einander widersprechende Alternativen zugleich für wahr zu halten, wie im berühmten Fall Wahrheit und Lüge, wenn jemand sagt, ,ich lüge‘. Paradoxien schaffen so eine neue Freiheit im Denken: in Gestalt von Alternativität oder Entscheidbarkeit. Darin kommen parmenideisches und Orientierungsdenken tatsächlich zusammen. Denn so wie Parmenides ausdrücklich auf die Entscheidung drängte, die Zeit aus dem Denken auszuschließen, steht auch die durch und durch zeitliche Orientierung stets vor der Entscheidung, in der Zeit etwas festhalten, also aus ihr ausschließen zu wollen, um auf Zeit ,Halt‘ zu finden. Das parmenideische Denken bleibt insofern eine orientierungsnotwendige Option. Und Parmenides hat bekanntlich auch das, was wir Logik nennen, die von wechselnden Situationen unabhängige Regelhaftigkeit des Denkens, auf den Weg gebracht. Wenn die Logik, wie Aristoteles sie dann formuliert hat, verlangt, dass demselben in derselben Hinsicht nicht zugleich Gegensätzliches zukommen kann, schließt sie ebenfalls die Zeit aus, aber wiederum nur auf Zeit; denn nacheinander kann ja durchaus demselben in derselben Hinsicht Gegensätzliches zugeschrieben werden (jetzt lüge ich, gleich sage ich die Wahrheit). Soweit wir uns auf die Logik verlassen, und das müssen wir, wenn wir zuverlässig miteinander kommunizieren wollen, sind wir noch immer Parmenideer. Aber wir setzen in der Orientierung die Logik nicht immer schon voraus und zumal dann nicht, wenn wir neue Situationen zu erschließen und erst herauszufinden haben, ob wir uns hier an eine Logik halten können, und wenn ja, an welche unter der Vielzahl der jeweils möglichen. Erst im Rückblick, wenn wir ein Orientierungsgeschehen zu rechtfertigen haben, versuchen wir uns an eine Logik zu halten. Parmenideisches Denken ist dem Rechtfertigungskontext, Orientierungsdenken dem Erschließungskontext verpflichtet; beide greifen eng ineinander. So wäre durchaus eine „gemeinsame Wahrheit“ denkbar. Francesco Totaro schlägt für sie den Begriff einer „perspektivischen Wahrheit“ oder eines „Wahrheitsperspektivismus“ vor, und ich kann dem so weit folgen, wie Wahrheit in, nicht jenseits des Orientierungsgeschehens gedacht wird. Denn entzieht man die Wahrheit dem Orientierungsgeschehen und damit, in parmenideischer Tradition, aller Relativität, so stellt man bekanntlich noch immer eine Relation zu ihr her, ohne doch aus dieser Relation heraus entscheiden zu können, ob die Wahrheit unabhängig von ihr, also absolut besteht. Setzt man Wahrheit aber im Orientierungsgeschehen an, kann man fragen, was die Rede von ihr in ihm bewirkt. Auch sie wirkt paradox: Kommuniziert man etwas als Wahrheit, so zeigt man an, dass es nicht in Frage steht, also inkommunikabel ist. Es kann dann dennoch bestritten werden, aber vorerst auch so stehen bleiben. Im zweiten Fall hat der Diskurs auf



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Zeit etwas, woran sich die Beteiligten halten oder wodurch, mit Totaro, sie sich „gebunden“ sehen. Dass Wahrheiten dann doch ihre Zeit haben, weiß niemand besser als Philosophen. Sie haben sie darum ihrerseits als perspektivische (sub specie …) und schließlich, allen voran Hegel, rekursiv als Wahrheit der Wahrheit erörtert. In diesem Sinn kann man dann auch von Wahrheiten der Orientierung über die Orientierung sprechen und etwa die inzwischen schwer zu bezweifelnde und durch alle alltägliche und wissenschaftliche Erfahrung unablässig beglaubigte Tatsache, dass jeder sich von seinem Standpunkt aus und vor seinem Horizont in seiner Perspektive orientiert, eine Wahrheit nennen – solange sie nicht durch eine plausiblere Alternative in Frage gestellt wird. Die PO nennt darum Wahrheiten zurückhaltender Plausibilitäten. Plausibilitäten erfüllen dieselbe Funktion wie herkömmliche Wahrheiten: Diskurse gehen von ihnen aus und münden in sie; dazwischen stehen alternative Argumente zur Debatte. Der unpathetische Begriff der Plausibilität oder der bloßen Zustimmungsfähigkeit benennt diese Funktion ehrlicher als der der Wahrheit, und er impliziert auch nicht, dass das, woran man sich bis auf weiteres hält, explizit gemacht und schon damit möglichem neuem Streit ausgesetzt wird. Vor allem aber macht er kenntlich, dass auch über Wahrheiten entschieden wird, sei es, dass ihnen zugestimmt wird oder dass sie überhaupt herangezogen werden oder nicht – Ekaterina Poljakova hat das jüngst an deutsch-russischen Differenten Plausibilitäten gezeigt. Man kann, wie Francesco Totaro vorschlägt, in Kommunikationen unbestrittene Plausibilitäten als „Meta-Gesichtspunkte“, Gesichtspunkte über die alternativen Gesichtspunkte hinaus, und als „überpositionale Felder“, Positionen über die alternativen Positionen hinaus, ansetzen; sie machen, wie einstmals die platonischen Ideen in den sokratischen Dialogen, an Wahrheit orientierte Diskurse überhaupt erst möglich. Im Horizont der PO sind sie orientierende Vergleichsgesichtspunkte, die, wie schon die platonischen Ideen, die Option offen halten, sie jeweils heranzuziehen oder nicht, und nicht als etwas, dem ein eigenes, höheres, nach einem der platonischen Mythen „überhimmlisches“ Sein zukommt (Phaidr. 247 c). Sie sind Orientierungsangebote an andere, ohne die man nicht kommunizieren und kooperieren kann, die aber jeweils nur versuchsweise ins Spiel gebracht und angenommen werden oder nicht. Der Begriff der Orientierung hilft, das bewusst zu halten. 2. Konrad Ott liest in seinem Beitrag Zum Selbst der Orientierung die PO als bekennender Vertreter der Diskurs-Ethik. Das hindert ihn ebenfalls nicht, sie präzise zu würdigen. Er konzediert darüber hinaus, „dass inter-individuelle Orientierung phänomenologisch mehr und anderes ist als eine gemeinsame, kritisch prüfende Orientierung mit Gründen an Gründen in Diskursen“. Die PO arbeitet nicht mit kontrafaktischen Idealisierungen, sondern sucht ohne norma-

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tive Absichten das Orientierungsgeschehen möglichst umfassend und realistisch zu beobachten und zu beschreiben. Dafür kann das präsuppositionsanalytische Schema der Orientierungsleistung, das Konrad Ott entwirft, sehr hilfreich sein, auch wenn sich in seine Formulierung noch die diskurs-ethische Voraussetzung eines „präsumtiv selbstbewussten, freien und rationalen Individuums“ eingeschlichen hat. Die PO macht sie nicht, weil sich ja auch nicht-selbstbewusste, unfreie und irrationale Wesen, Tiere und bis zu einem gewissen Grad sogar Pflanzen und auf der anderen Seite auch Gruppen, Gesellschaften, Funktionssysteme, Organisationen usw. orientieren. Wenn sich mit dem Schema aber „Nietzscheaner, Aristoteliker, Utilitaristen, Ökonomen und Vertreter anderer philosophischer Strömungen anfreunden“ könnten, spricht das für den Ansatz der PO als einer prima philosophia. Darum geht es Konrad Ott, und die PO ist in der Tat auch so gemeint. Doch damit und mit dem schon genannten Begriff der arché erinnert sie, so Konrad Ott, unwillkürlich an eine „Ursprungsphilosophie“ wie die Plotins, die alles aus einem Ureinen in Kaskaden emanieren lässt, über deren „hierarchische Ebenen“ man aus dem Ureinen herab und zu ihm hinaufsteigen kann. Die Assoziation hat mich überrascht, doch die Differenzen sind deutlich: Orientierung ist, wie schon angedeutet, keine vorgegebene Einheit, deren Überfülle ausfließt, noch etwas ursprünglich Wahres, Gutes und Schönes; ihre sie differenzierenden und stabilisierenden Strukturen deteriorieren ihr gegenüber nicht, und schon gar nicht entwickelt sich da aus Geist Materie und aus Form Formloses. So spannend Konrad Ott die Schritte der Selbststrukturierung der Orientierung in der PO wiedergibt, sie sind nicht als kontinuierliches Geschehen, sondern als schrittweise analytische Rekonstruktion der Struktur der Orientierung zu verstehen, die bei dieser Rekonstruktion immer schon mitwirkt. Die Orientierung als „ein unbegreiflicher Ursprung oder Anfang allen Begreifens“ ist keine arché des Seins, sondern des bloßen Unterscheidens von Unterscheidungen, wobei das „ein“, anders als der Plotinismus, bewusst alternative Ursprünge oder Anfänge offen lässt. Und auch diese arché ist nur paradox zu fassen, durch einen Begriff, der nicht Begriff ist und doch seine Funktion übernimmt, die absolute Metapher ,Orientierung‘, an die weitere absolute Metaphern wie Standpunkt, Horizont, Per­spektive, Anhaltspunkt, Spielraum anschließen, auch sie, ohne aus der absoluten Metapher Orientierung hervorzuquellen. Solche absoluten Metaphern scheinen plausibler zu sein als reguläre Begriffe. Jedenfalls werden sie allenthalben, alltäglich wie wissenschaftlich und philosophisch gebraucht, und wiederum schon Kant hat, um daran zu erinnern, seine Abhandlung Was heißt: Sich im Denken orientieren? damit eingeleitet, dass auch und gerade „reine Verstandesbegriffe“ erst „zum Erfahrungsgebrauche tauglich“ werden, wenn ihnen „bildliche Vorstellungen“ anhängen, die ihnen „Sinn und Bedeutung verschaffen“. Orientierung ist arché,



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weil sie mit ihrem Selbstbezug, der nicht der cartesische des bloßen Denkens ist, gegenüber ihren offenkundigen physiologischen, psychologischen, sozialen, kulturellen, historischen Bedingungen usw. autonom wird, d.h. in ihren Abhängigkeiten einen beobachtbaren Spielraum gewinnt, in dem sie eigene Orientierungsentscheidungen trifft, die von Selektionen von Anhaltspunkten aus kurzfristigen Situationen bis zu Selektionen von Fixpunkten der Orientierung in langfristigen Situationen reichen.2 3. Hier, beim Spektrum des Begriffs Situation, schließt der Sache nach Paul van Tongerens Beitrag Über die Situation und die Tugenden der Orientierung an. Als bloßer Differenzbegriff zu Orientierung ist der Begriff der Situation in der PO möglichst offen gehalten. Denn vorab ist immer offen, womit es eine Orientierung zu tun haben kann. Heidegger dagegen nimmt im § 60 von Sein und Zeit schon die „Erschlossenheit“ in den Begriff der Situation auf und in den Begriff der Erschlossenheit wiederum die „Entschlossenheit“: Situation ist dann nicht „ein vorhandenes Gemisch der begegnenden Umstände und Zufälle“, sondern schon in ihrem „faktischen Bewandtnischarakter“ erschlossen, der dann zur Entschlossenheit „des im Gewissen bezeugten eigentlichen Seinkönnens“ aufruft. So ist sie die Situation des „eigentlichen“, aus sich selbst entschlossenen Daseins. Damit ist aber die Aufgabe der Orientierung, von der Heidegger zuvor, im § 17 des Kapitels zur „Weltlichkeit der Welt“, gehandelt hat, übersprungen, sie gerät um der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins willen aus dem Blick. Die Zeitlichkeit des Daseins, die Heidegger in ihrem Sich-vorweg-, Schon-gewesen- und Sein-bei existenzialanalytisch erschlossen hat, gilt aber auch für die alltägliche Orientierungssituation. Paul van Tongeren macht sie neu zum Problem, jedoch nicht im Blick auf Eigentlichkeit, sondern auf Glück. Er führt dazu einerseits Nietzsches einleitende Bemerkung zu seiner zweiten Unzeitgemässen Betrachtung an, Menschen beneideten Tiere um das Glück, „weder schwermüthig noch überdrüssig“ sein zu können, weil sie „an den Pflock des Augenblicks“, also an die unmittelbare Situation gebunden seien und nicht „die grosse und immer grössere Last des Vergangenen“ zu tragen hätten, und andererseits Kierkegaards verblüffend damit

2 Die Uneindeutigkeit der Pronomina „es“ und „sie“ im Satz „wenn die europäische Philosophie […] das Orientierungsgeschehen mit metaphysischen Konzepten untersetzte, um auf diese Weise zu letzten Gründen zu kommen, so schuf es dadurch Fixpunkte der Orientierung, die sie offenbar nötig hatte, jedenfalls auf Zeit“ (PO, S. 294), ist leicht aufzulösen: Mit „es“ ist tatsächlich das Orientierungsgeschehen gemeint, das „sie“ aber macht in Bezug auf beides Sinn, die Orientierung und die europäische Philosophie. Die langfristige Orientierung hat Fixpunkte nötig, und die europäische Philosophie hat, jedenfalls in ihren maßgeblichen Formierungen, diese Nötigung zu logischen Notwendigkeiten gemacht.

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korrespondierende „Peroration“ Der Unglücklichste in Entweder – Oder. Nach ihr ist am unglücklichsten, wer weder mit der von ihm erinnerten Vergangenheit noch mit der von ihm erwarteten Zukunft leben kann, zumal wenn die Vergangenheit so gar nicht stattgefunden habe und die Zukunft so nicht eintreten werde. In welcher Situation, fragt Paul van Tongeren, ist er dann und wie kann er sich unter Verlust einer angemessenen Zeitlichkeit in ihr orientieren? Kierkegaards existenzdialektische Antwort ist, dass jener Unglücklichste auch der Glücklichste wäre, weil er ja vom Glück nichts mehr zu erwarten und auch nicht für es zu fürchten hat. Ihm wäre jede Orientierungsangst genommen, seine Orientierung würde gleichgültig. Nietzsche fordert dagegen zunächst mehr Orientierung (auch wenn er den Begriff nicht gebraucht), seine lebenskluge Antwort ist, es gehöre zur Orientierung, „Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ glücklich auszubalancieren. Das Glück kann danach mit seiner zeitlichen Orientierung einerseits verlorengehen, andererseits komplexer und reizvoller wiedergewonnen werden bis hin, wie Nietzsche es dann im Abschnitt 9 des Kapitels „Warum ich so klug bin“ von Ecce homo darstellt, zum Glück des amor fati, in dem man nichts mehr anders haben will und auf „eine weite Zukunft“ wie „auf ein glattes Meer“ hinaussehen kann, die Sorge um sie erlischt. Auch hier schwindet dann jede Orientierungsangst. Das setzt, so Paul van Tongeren im Einklang mit der PO, Orientierungstugenden voraus, deren deutsche Namen häufig der Sprache des Sichtens, des Sichtens des Kommenden, folgen: Umsicht, Weitsicht, Rücksicht, Nachsicht, Vorsicht, Zuversicht usw. Sie alle helfen, die Zeit zu überbrücken, indem sie die zeitlichen Orientierungshorizonte erweitern und so etwas vom Zeitdruck aus den Orientierungssituationen nehmen. So stabilisieren sie das Verhalten des sich Orientierenden und machen es dadurch für andere erwartbarer, berechenbarer, zuverlässiger, ermöglichen mit Nietzsches Formel ,versprechen zu dürfen‘. Als Tugenden werden sie ethisch eigens ausgezeichnet und dadurch als Verdienste angerechnet. Und doch sind sie offensichtlich weniger eine Sache moralischer Entschlossenheit, wie Heidegger wollte, sondern schlichte Ergebnisse langer Orientierungserfahrungen, die denen, die sich durch sie auszeichnen, oft kaum bewusst und auf die sie darum auch nicht stolz sind, also mit Kierkegaard und Nietzsche mehr eine Sache des Glücks, das sich über das kontingente Sich-Einspielen von Orientierungsroutinen einstellt. Es sind aber beruhigende Orien­ tierungsroutinen, die die stärkste Zuversicht in die eigene Orientierung geben und Abwägungen von Glück und Unglück, wenn nicht vergessen lassen, so doch weniger dringlich machen.



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II. Anwendungsfragen 4. Das legt einen gewissen Epikureismus der PO frei. Benjamin Alberts stellt in seinem Beitrag Beruhigung und Beunruhigung: Über den Umgang mit Unsicherheit bei Epikur und in der Philosophie der Orientierung die PO explizit auf die Probe, ob und wieweit mit ihr andere Philosophien erschlossen und für die Gegenwart neu verständlich gemacht werden können; so könnte sie ihren Charakter als prima philosophia bekräftigen. Es geht, so Benjamin Alberts, schon einmal im Fall der Philosophie Epikurs. Ich freue mich zu lesen, dass „Strategien und Methoden im Umgang mit dem Ungewissen“, wie sie die PO herausarbeitet, auch schon epikureische waren. Epikur spielt im Buch jedoch erst am Ende mit seinem Diktum über den Tod eine stärkere Rolle. Benjamin Alberts geht mit der Sonde der epikureischen Philosophie an den Anfang der Explikation der Orientierung zurück, an dem, gleich nach dem Abschnitt über die Orientierungssituation, die Beunruhigung als Grundstimmung der Orientierung ausgewiesen und die Unterscheidung von Beruhigung und Beunruhigung der traditionell grundlegenden philosophischen Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit des Erkennens vorangestellt wird. Epikur hat wie die PO jedem Begriffsrealismus misstraut, schon in der alten Welt ungewöhnlich viel Kontingenz eingeräumt und gleichwohl Welt, Leben und Tod so zu verstehen versucht, dass sie so wenig wie möglich beunruhigen. Doch selbst Epikurs Konzept ist in unserer modernen Welt wohl zu einfach geworden. Auf dem Stand unserer Wissenschaften kann man sich die physikalische und ökumenische Welt weniger leicht beruhigend zurechtlegen, auf dem Stand unserer vielfältigen politischen Verflechtungen hat man kaum mehr Möglichkeiten, sich der Politik zu entziehen und verborgen in seinem Garten zu leben, auf dem gegenwärtigen Stand der Medizin ist selbst das ,wo ich bin, ist der Tod nicht, und wo der Tod ist, bin ich nicht‘ brüchig geworden. In einer immer komplexer werdenden Welt muss auch die Orientierung komplexer werden, und mit dem bloßen Streben nach Ruhe kommt sie dabei nicht mehr durch. Benjamin Alberts, einem der genauesten Kenner der PO, ist das klar. Die Beunruhigung der Orientierung muss in der Moderne wachsen, und es wird anspruchsvoller, Ruhe zu bewahren. Die coolness scheint dennoch auf gutem Weg zu sein. 5. Enrico Müller setzt in seinem Beitrag Raum und Rede: Zum Verhältnis von Topographie und Thema in Platons „Phaidros“ wie Paul van Tongeren bei der Situation, nun aber ebenfalls mit einer höchst beunruhigenden an. Er schildert den berühmten atopischen Topos, an den der platonische Sokrates vom schönen jungen Phaidros verlockt wird, die Natur vor den Mauern Athens, die Sokrates, der sich selbst einen atopóotatos nennt, so irritiert, dass er sich buchstäblich genötigt sieht, seine philosophische Orientierung neu zu orientieren. Auch dies

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scheint sich mit der Begrifflichkeit der PO gut erschließen zu lassen. Enrico Müller macht durch sie deutlicher sichtbar, was bisher wenig auffiel, dass hier „der sonst so souveräne Dialektiker Sokrates gezielt Fremdheits- und Irritationserfahrungen ausgesetzt [wird], die ihn sukzessive desorientieren und eben damit die Bedingungen der Orientierung als solche thematisch werden lassen“, dass es hier also um weit mehr geht als um die Tübinger Öffnung zu überhimmlischen Ideen hin. Er setzt damit seinerseits ein Seminargespräch an der Universität Greifswald fort, an dem er in noch sehr jungen Jahren intensiv teilgenommen hatte und dem er nun auf seinen eigenen Wegen vor die Greifswalder Mauern die reifsten und schönsten Früchte abgewonnen hat. Hier erübrigt sich jede Palinodie. Ich hebe nur einen Punkt hervor, dem Enrico Müller selbst eine Tagung gewidmet hat, die Macht der Persönlichkeit, die im Dialog Phaidros wie kaum sonst in der Philosophie hervortritt (ausgenommen dem Werk Nietzsches). Auf der einen Seite die Persönlichkeit des Sokrates: Enrico Müller schildert präzise, wie sie sich im atopischen Topos verwandelt oder entpuppt – das kommt hier auf dasselbe hinaus –, und bringt auf den Punkt, wie Platon, der bei der Abfassung des Phaidros die 60 schon überschritten und bereits alle Register der Desorientierung und Neuorientierung der Philosophie gezogen hatte, die Themen seiner Philosophie noch einmal neu „perspektiviert“: „Statt einer Kritik der Rhetorik und ihrer Abgrenzung von der Philosophie finden wir ihre vollständige Integration in die philosophische Dialektik, statt einer Ideen-Ontologie finden wir die Darstellung einer psychischen Ausnahmesituation, in der die Ideen in Erscheinung treten, statt einer anamnetischen Erkenntnistheorie eine mythische Zusammenschau, die das Verstehen als Wiedererinnerung von der konkreten sinnlichen Erfahrung abhängig macht, statt einer hierarchisch organisierten Psychologie finden wir eine kosmische Topographie der Seele in ihrer stetigen Bewegung und – was den Phaidros im Ganzen angeht – statt einer Lehre von der Dialektik einen Dialog, der in Form und Inhalt fortwährend seine eigene Dialogizität verhandelt.“ Solche Umund Neuorientierungen lassen sich am ehesten an Personen von herausragender Persönlichkeit vorführen (und Hegel wird am Ende seiner Wissenschaft der Logik dem Begriff seinerseits nach all seinen Wandlungen „Persönlichkeit“ zuschreiben). Dass der sonst so souveräne und nun haltlos gewordene Sokrates „das Spiel mit Grenzen, sowohl von der Seite ihrer Übertretung als auch von der Seite der Grenzziehung als das eigentliche Geschäft der Philosophie plausibel macht“, aber verdankt sich in Platons Dialog der Macht des nicht nur schönen, sondern auch kundigen, klugen und wissbegierigen Phaidros, der seine Macht auch bewusst und erfolgreich gegen Sokrates ausspielt. Die philosophische Vernunft vibriert im Eros, wird Manie und beruhigt sich erst wieder beim ernüchternden Ordnen der neu entdeckten Unterscheidungen. Für dieses produktive Außer-sich-Kommen und Neuordnen des Denkens reicht der Begriff der Vernunft sichtlich nicht aus,



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auch nicht der des Denkens und auch nicht der der Persönlichkeit, die alle in diesem Geschehen sich selbst nicht mehr in der Gewalt haben. Dafür haben wir seit Mendelssohn und Kant den Begriff der Orientierung, der bald ihrem Denken entwuchs und sich inzwischen fruchtbar in eine große Begriffsfamilie verzweigt hat und weiter verzweigt. Von ihm aus ist Vernunft als ein Orientierungsmittel unter anderen beobachtbar geworden – wie schon in Platons Phaidros.

III. Rückfragen 6. Passend dazu fragt Andreas Speer, der als der Fachmann unter den Philosophen für den Begriff der Weisheit den einschlägigen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie verfasst hat, in seinem Beitrag Weisheit und Orientierung, wie sich der Begriff der Orientierung zu dem der Weisheit verhält, den der platonische Sokrates in den Namen der Philosophie aufgenommen hat. Weisheit schließt, so Andreas Speer, die „Einsicht in das eigene Nichtwissen“ ein – wie die Orientierung, der an ihren Perspektiven stets ihre Grenzen deutlich sind; wenn „Philosophie“ als bloße Liebe zur Weisheit für Sokrates ein Name der Bescheidung war, so umso mehr für eine PO. Weisheit ist ein aus reichen Erfahrungen hervorgegangenes Wissen über lebensrelevantes Wissen, das sich so bewährt hat, dass auch andere ohne Nachfragen auf es vertrauen. Sie hat mit einem Wort Autorität. Sie gilt als gut, hat mit der Moral den Anspruch auf Selbstlosigkeit und den Selbstbezug gemein: Weise müssen ihre Weisheit auch selbst befolgen. Sie hat Dauer, während die Klugheit, ihre alte Antipodin, sich kurzfristig auf Kosten anderer Vorteile verschaffen kann und damit in die Nähe der Schlauheit rückt. Die Orientierung dagegen kann klug und weise, kurz- und langfristig angelegt sein. Gut und weise ist sie, wenn sie die genannten Orientierungstugenden in sich vereinigt und zuverlässig auch anderen zugute kommen lässt. Als solche aber ist sie ohne moralische Implikate und eben darum als Grundbegriff einer aktuellen prima philosophia geeignet. Die PO widmet der Weisheit ihren Ausklang. Dort wird (noch einmal) Nietzsche zitiert, der im Aphorismus 359 des V. Buchs seiner Fröhlichen Wissenschaft den „Philosophen-Anspruch auf Weisheit“ mit dem Verdacht in Frage stellte, Weisheit könne auch lediglich „ein Versteck des Philosophen“ sein, „hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere vor dem Tode haben, — sie gehen bei Seite, werden still, wählen die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, werden weise…“ Und Nietzsche schließt seinerseits: „Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor — dem Geiste? –“ und meint: vor immer neuen Umorien-

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tierungen seines Denkens wie den im Phaidros geschilderten. Der Anspruch auf abgerundete Weisheit könnte heute der Furcht und der Flucht gerade vor philosophischen Neuorientierungen entspringen, Ausdruck eines Verlangens nach dauerhafter Orientierungssicherheit sein, das wohl der alten Welt noch anstand, heute aber immer fragwürdiger geworden ist. Und dennoch inszenierte Nietzsche seinen Zarathustra noch einmal als erhabenen Weisen. Eine solche Figur ist heute kaum mehr denkbar. Das macht sehr scharf Luhmann deutlich. Im Kapitel Europäische Rationalität seiner 1992 erschienenen Beobachtungen der Moderne ordnet er die Weisheit Gesellschaften zu, die noch nach Gruppen und Ständen, in seiner Sprache segmentär und stratifikatorisch geordnet sind und sich in ihren überschaubaren Personenkreisen weitgehend auf die Autorität Einzelner verlassen können. Sie bleiben insofern bei einer „Beobachtung erster Ordnung“: „Weisheit ist genau das, was entsteht, wenn Wissen des Wissens, also selbstreferentielles Wissen, auf der Stufe der Beobachtung erster Ordnung entwickelt wird und diese Stufe nicht verläßt.“ (S.  80) Universalisiert sich das Wissen, wozu gerade Sokrates einen maßgeblichen Anstoß gab, werden die Weisheiten weiser Frauen und Männer vergleichbar, einer „Beobachtung zweiter Ordnung“ ausgesetzt und darin immer weniger haltbar. Sie werden dann durch ein Wissen ersetzt, das nach generell überprüfbaren Standards erworben wird, das wissenschaftliche Wissen von Experten, auf das die moderne, sich funktional differenzierende Gesellschaft sich fast ausschließlich verlässt. Mit seiner Umstellung von sophía auf philosophía hat Sokrates, darin weit seiner Zeit voraus, auch den Umbruch von Weisheit zu Orientierung eingeleitet. 7. Es war, wie gesagt, Kant, der in der Moderne den Umbruch von der Vernunft zur Orientierung eingeleitet hat, auch er, ohne die Folgen schon übersehen zu können. Viel deutlicher hatte sie, so Tilman Borsche in seinem Beitrag Wie kommen die Menschen zur Vernunft? Die Kant-Herder-Kontroverse im Licht der Philosophie der Orientierung, Herder im Auge. Auch das hat, moniert Tilman Borsche zu Recht, die PO zu wenig berücksichtigt. Das hatte sicherlich mit der begrenzten Herder-Kenntnis ihres Autors zu tun, aber schlicht auch damit, dass zu derselben Zeit unter seiner Betreuung Andrea Bertinos Dissertation zu den Ursprüngen von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder entstand, die dann 2011 erschien, nun aber wieder bei Tilman Borsche nicht vorkommt. Unter allen unbestritten ist, dass Herder nicht weniger, aber auf ganz andere Weise als Kant bahnbrechend für eine PO war – zugleich aber den Begriff der Orientierung zu begrenzen suchte, eben weil ihn Kant prominent gemacht hatte, mit dem der ehemalige Schüler in eine immer schärfere Konkurrenz geraten war. Die sich über Jahrzehnte hinzie-



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hende Kontroverse gibt aus heutiger Sicht, so wie Tilman Borsche sie nun detailliert nachzeichnet, geradezu das Modell einer auch in großer Nähe teils gelingenden, teils misslingenden Orientierung an anderer Orientierung ab, in der beide Seiten auf Vernunft pochen, nur jede unter anderen Voraussetzungen und auf andere Weise, und eben dadurch um der Wissenschaft willen einander persönlich verletzen können. Das macht die Grenzen des Konzepts einer reinen Vernunft deutlich und das umfassendere Konzept der Orientierung weiter plausibel. Aus dieser Sicht hat Herder mit seiner Entidealisierung der Vernunft in vielfältige individuelle Vernünftigkeiten ebenso wie mit seinem Mut zu starken Metaphern recht behalten. Wenn Tilman Borsche am Ende aber fragt, welcher Begriff von Vernunft heute und für uns vernünftig wäre, so hätte man nicht nur an Herder zu denken, der ihn gegenüber Kant neu zu fassen suchte, und auch nicht nur an Habermas, der ihn gegen Nietzsche rehabilitieren wollte, sondern auch (wiederum) an Nietzsche selbst, der neben seiner massiven Kritik der Vernunft der alteuropäischen Metaphysik unbefangen einen anderen und neuen Begriff der Vernunft pflegte, einer Art orientierender Vernunft, deren Tragweite in seinem Werk bisher noch nicht erforscht ist, auch von der PO nicht, und dies wiederum deshalb nicht, weil unter Betreuung ihres Autors auch dazu eine Dissertation im Entstehen begriffen ist.

IV. Anschlussfragen Auch bei Nietzsche könnte also für die PO noch einiges zu holen sein. Der vorliegende Band enthält dazu fünf Vorschläge. 8. Mit Hilfe von João Constâncios Beitrag Nietzsche on Nihilism lässt sich der Sinn des nietzscheschen Nihilismus für die PO, die sich kaum zu ihm äußert, deutlicher machen. João Constâncio geht die vielfältigen und oft nicht leicht in Einklang zu bringenden Bestimmungen des Nihilismus, die Nietzsche vor allem in seinen Notaten erprobt hat, noch einmal durch. In seine veröffentlichten Werke hat Nietzsche sie kaum aufgenommen und sie dort stattdessen zuweilen hoch verrätselt, z.B. in Die Fröhliche Wissenschaft Nr. 346 und 347 oder in Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 2, wo der Nihilismus gemeint, aber anders als im vorbereitenden Notat nicht mehr erwähnt ist. Die berühmteste und herausforderndste Formel für den Nihilismus „,Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘“ (GM III 24) hat Nietzsche selbst nicht auf diesen Begriff gebracht. Da, wie João Constâncio einräumt, auch der Nihilismus eine Perspektive ist, muss es jedoch keine univoke Bestimmung geben, auch nicht im Hintergrund von Nietzsches

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Schriften. João Constâncio ordnet darum die Vielfalt der Bestimmungen stattdessen in einer hilfreichen „historical typology“. Die PO geht implizit von jenem „grundsätzlichsten Nihilismus“ aus, zu dem Nietzsche zuletzt in einem mehrfach korrigierten Notat von 1888 fand, das, soweit ich sehe, João Constâncio nicht berücksichtigt: „Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe.“ (Nachlass 1888, 16[32], KSA 13.492 / KGW IX, W II 7, 9.144) Am grundsätzlichsten ist der Nihilismus, wenn eingesehen wird, dass es mit allem Halt der Orientierung jenseits ihrer selbst nichts ist, sondern sie ihn sich selbst aus von ihr selbst gewählten Anhaltspunkten schaffen muss. Wenn philosophisch einmal „der moralische Gott überwunden“ (Nachlass 1886/87, 5[71], KSA 12.213 / KGW IX, N VII 3, 3.17) ist, der, in welcher Gestalt auch immer, Werte durch seinen unbedingten Wert garantiert, wird eine nüchterne Beobachtung der „Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl“, möglich. Sie muss jedoch nicht, wie Nietzsche wollte, „bis zum Umgekehrten hindurch“ zu einem „dionysischen Jasagen“ kommen (Nachlass 1888, 16[32], KSA 13.492 / KGW IX, W II 7, 9.144). Die PO will zeigen, dass in diesem realistischen Nihilismus eine nüchterne Orientierung möglich ist, eine Überwindung des Nihilismus dagegen nicht; von ihr hat nicht Nietzsche, sondern Heidegger gesprochen. Denn: „Der Nihilism [ist] ein normaler Zustand.“ (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350 / KGW IX, W II 1, 6.115) So sieht es im Ganzen auch João Constâncio. Er spricht, hier näher bei Nietzsche, von „Ziellosigkeit“ (goallessness), wo ich „Haltlosigkeit“ vorziehe. Denn Ziellosigkeit kann man überwinden, indem man Ziele setzt, so wie die Entwertung von Werten, indem man, was Nietzsche für möglich hielt, neue Werte schafft. Haltlosigkeit dagegen ergreift auch die Kraft, Ziele zu setzen, lähmt sie, und mit dem Begriff des Halts, der bei Nietzsche ebenfalls gut belegt ist, kann man Halt an anderem, darunter absoluten Halt an absolut Anderem, und Halt an sich selbst unterscheiden, mit dem man, worauf Nietzsche stets hinauswollte, auskommen kann. 9. John Richardson, der sich in seinem Beitrag Orientation and Truth in Nietzsche auf die Thesen der PO mit gewohnter Genauigkeit und Gründlichkeit einlässt, stellt an sie die Wahrheitsfrage nicht von Parmenides’ göttlicher Rechtfertigung und auch nicht von Nietzsches „,Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘“, sondern, gemäßigter, vom Perspektivismus her. Er verzichtet mit Nietzsche auf eine absolute Wahrheit und räumt der Orientierung ihre Autonomie ein, nach der sie keiner scheinbar vorgegebenen äußeren Realität korrespondiert. Doch mag der Begriff der Orientierung auch „richly useful“ und „in many respects well



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suited to Nietzsche“ sein, „it needs to ‘make more room for truth’“, nun innerhalb der Orientierung. Auch das beherzige ich gerne. John Richardson schlägt eine „systematische Wahrheit“ vor, nicht in dem alten Sinn von ,System‘, den Nietzsche zurückgewiesen hat (GD, Sprüche und Pfeile 26), sondern „as a matter of (insisting on) thinking the connections between points“. So könne Nietzsches „viewpoint ‘as a whole’“ gesehen werden „in how it unites and draws together a great many separate ideas“, ohne dass sie „in first foundations“ begründet sein müssten. Passungen der „points“, „to adjust them to one another“, genügten, und solche Passungen könnten dann auch stets vorläufig sein. Das ist ganz im Sinn der PO, und ich kann nur bewundern, wie es John Richardson immer wieder gelingt, Nietzsches Philosophie in diesem Sinn nach unterschiedlichen Perspektiven zu systematisieren. Durch diese Art der Systematisierung wird in der Tat innerhalb der NietzscheForschung und über sie hinaus verbindliche Wahrheit auch unter Interpretationen bzw. Orientierungen möglich, die von unterschiedlichen Standpunkten ausgehen, und die Orientierungen übergreifende Wahrheit wird umso verbindlicher, je mehr die Systematisierung gelingt. Die PO spricht im Blick auf die Wissenschaft von kritischer Disziplinierung der Orientierungen und setzt wie John Richardson im Blick auf Nietzsche beim Gebrauch von Zeichen an: Zeichen kürzen ab, was sie bezeichnen, und lassen dabei Spielräume der Referenz offen. In einer thematisch limitierten und methodisch disziplinierten Kommunikation wie der wissenschaftlichen können sie in ihrer Bedeutung festgelegt, untereinander in strenge Relationen gesetzt und so unabhängig von Orientierungsperspektiven auf etwas ausgerichtet werden, was dann alternativlos als „fact“ erscheint, ohne dass es darum einer jenseitigen Realität entsprechen müsste. Nietzsche nannte das „Schematisir- u. Abkürzungskunst“ (Nachlass 1886, 5[16], KSA 12.190 / KGW IX, N VII 3, 3.174). In der Abkürzung von Zeichen in Zeichen, also in der Relation von Zeichen, wird dann auch Wahrheit als Korrespondenz, nämlich als Korrespondenz von Zeichen möglich. Auch Wahrheit dieser Art bleibt gleichwohl unter Bedingungen der Orientierung. Denn zum einen hat auch die Wissenschaft einen Standpunkt, nämlich ihre disziplinierte Theoretizität, und zum andern können ihre Ergebnisse für jede(n) Wissenschaftler(in) wieder unterschiedliche Bedeutung haben, sofern sie oder er unterschiedliche Schlüsse aus ihnen ziehen; auf diese Weise treiben sie die Wissenschaft weiter. Damit ist, auch hier stimme ich mit John Richardson ganz überein, ebenso der überholte metaphysische Absolutismus wie der gefürchtete postmoderne Relativismus vermieden. Soweit die Systematisierung Grade hat, wird dann „a scalar notion“ der Wahrheit denkbar, ein im Blick sowohl auf Nietzsche als auch auf die PO, meine ich, glücklicher Begriff. Mit ihm können mehr oder weniger haltbare Wahrheiten und bessere oder schlechtere Interpretationen unterschieden werden. Man wird

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wissenschaftlich eher der Interpretation folgen, die plausiblere Passungen herstellen kann, sei es in Nietzsches oder anderen Kontexten. Fraglich scheint mir lediglich, ob Nietzsches Begriff der Rangordnung, auf den sich John Richardson dabei beruft, dieses „ranking of perspectives“ stützt. Denn Rangordnungen in Nietzsches Sinn sind vor allem Rangordnungen von Persönlichkeiten mit ihren Werten, und sie sind wiederum stark standpunktgebunden: Jede(r) wird nach Nietzsche unvermeidlich seine oder ihre Rangordnungen an sich selbst ausrichten. Dazu schreibt gerade Benjamin Alberts seine Dissertation. So stellt Nietzsche ebenso wie seine Figur Zarathustra ganz unbefangen sich selbst an die Spitze seiner Rangordnung nach seinen Wert- und Wahrheitskriterien. Man hat es bei Rangordnungen dieser Art wohl mit einer Wahrheit zweiter Ordnung („secondorder truth“) zu tun. Sie sind aber ihrerseits kaum systematisch verbindlich zu machen. Ähnliches gilt für die Einschätzung von Wahrheiten als lebensdienlich oder lebensfeindlich. Leben und Gesundheit sind zu komplex, als dass sie nach übersichtlichen Anhaltspunkten hinreichend systematisiert werden könnten. 10. Diesen Punkt verfolgt Sigridur Thorgeirsdottir in ihrem Beitrag Die Philosophie im Leib. Sie zielt auf einen Pragmatismus der Wahrheit, der in die Leiblichkeit der kommunizierenden Individuen hineinreicht und dort seinen Ort hat. Leben, Leib, Gesundheit und Krankheit bergen und verbergen, das hat Nietzsche unermüdlich herausgearbeitet, oft ausschlaggebende Kriterien der Ausrichtung auf bestimmte Wahrheiten, und die Gender-Studies sind hier weit über Nietzsche hinaus fündig geworden. Von Foucault haben wir gelernt, von Formationsbedingungen der Wahrheit zu sprechen, die nicht mehr eindeutig lokalisierbar sind, jedenfalls nicht einfach im Subjekt, wie es die Philosophie der Neuzeit wollte. Umso mehr geht es um vielfach verzweigte und zirkuläre Austauschbeziehungen, zunächst des jeweiligen Leibes mit seiner jeweiligen Umgebung, dann des jeweiligen Individuums mit seiner jeweiligen Gesellschaft, schließlich des jeweiligen Systems mit seiner jeweiligen Umwelt, zusammen der jeweiligen Orientierung mit ihrer jeweiligen Situation. Nietzsche hat sie mehr noch als in seiner Philosophie selbst, wie Sigridur Thorgeirsdottir zu Recht betont, in der Relation zu seinen Leser(innen) wahrgenommen und hochdifferenziert gestaltet, wollte nicht nur durch Argumente überzeugen, sondern, weil er bald sah, an welch enge Grenzen das stößt, zugleich irritieren und faszinieren im Sinn seines (an Kant erinnernden) Spruchs „Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verführen.“ (JGB 128) Im weitesten Sinn will er die Leiblichkeit zum Sprechen bringen. Doch wie sie spricht, kann die Leiblichkeit, so Sigridur Thorgeirsdottir mit Judith Butler, selbst nicht sagen. Es wird ihr wieder von den gängigen Diskursen vorgesagt. Die berühmte große Vernunft des Leibes ist nur durch das Sprachrohr der kleinen Vernunft zu verstehen, die, wenn



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sie das weiß, der großen Vernunft nur so entgegenkommen kann, dass sie sich von ihr wiederum irritieren und faszinieren lässt. Die Wahrheitsfrage wird dadurch noch weit komplexer. Für die PO steht außer Frage, dass sich Körper prädiskursiv aneinander orientieren und dabei meist unmerklich auch die diskursive Kommunikation orientieren. Wenn die diskursive Kommunikation aber ihrerseits beeinflusst, wie und wie weit die Körper zum Sprechen kommen, und auch das wieder nur in schwer fassbaren Erlebnissen und Erfahrungen beobachtbar wird, wo kann man dann ansetzen? Man wird, auch hier ohne feste Anhaltspunkte, sich an die Unterscheidungen selbst halten müssen, die da im Spiel sind, um wiederum in einer Beobachtung zweiter Ordnung zu unterscheiden, wie und möglicherweise nach welchen Regeln sie sich in den Diskursen verschränken und vernetzen und sich dadurch Diskursformationen ergeben, die laut Foucault als Machtdispositive wirken. Man ist dann wieder allen Ungewissheiten der Orientierung ausgesetzt. 11. Carlo Gentili geht in seinem Beitrag eben dem Orientierungswert der Regeln bei Nietzsche nach und schickt sich an, die Regeln, die sich nach geläufigem Verständnis auf Vernunft zu begründen haben, auf zwei besonders dominierenden Feldern der Nietzsche-Forschung, der Moral und der Politik, neu zu interpretieren. Der Begriff der Orientierung, den Carlo Gentili entgegenkommend aufnimmt, eröffnet ein realistischeres Verhältnis auch zu den Regeln. Statt ihrer bloßen und blinden Befolgung, die nur begrenzt zu wünschen ist, weil sie gerade moralisch und politisch in Fanatismen und Totalitarismen gefährlich werden kann, macht er die laufende Reflexion ihrer sinnvollen Befolgung in der jeweiligen Situation plausibel. Eben das heißt ,Orientierung an …‘: sich Spielräume zu allen Anhaltspunkten der Orientierung, darunter auch zu Regeln und ihren Begründungen, vorzubehalten. Carlo Gentili holt so auch die Theorie wieder in die Spielräume der Orientierung herein, nach ihrem ursprünglichen Sinn als „eines ‚In-denBlick-Nehmens‘, das einen Ort im Raum impliziert: die Einnahme eines Standpunktes, der es gestattet, Ordnung in die Vielfalt zu bringen.“ Auch er führt dabei wieder zu Platons Phaidros zurück. Theorie in ihrem heute geläufigen Sinn steht dagegen für das kontrafaktische Ideal eines über alle Orientierungbedingungen erhabenen Wissens. Das gilt auch, so Carlo Gentili, für politische Ideologien, die ihre eigene Bedingtheit vergessen. Nietzsche hat beides gesehen, und das begründet auch nach meiner Meinung gut, warum er sich bei allem Engagement für ,große Politik‘ gegenüber ,kleiner Politik‘ als ,unpolitischer Denker‘ zurückhalten, wenn nicht gar, gemäß seiner Einschätzung Goethes, als „antipolitisch“ (GD, Was den Deutschen abgeht 4) und wie sein „Typus Jesus“ als „politischer Verbrecher“ (AC 27) gelten wollte. Im Blick auf Nietzsches problematisches Verhältnis zu den Deutschen hat Andreas Rupschus dazu seine Dissertation verfasst.

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Scharfe Grenzen zwischen Religion, Moral und Politik sind dann nicht mehr zu ziehen und sind es in der tatsächlichen Orientierung auch nicht. Nietzsche legte mehr Gewicht auf ihre, systemtheoretisch gesprochen, Interpenetration als auf ihre Autonomisierung und suchte sich gegenüber allen, insbesondere aber gegenüber der Moral, von der er die stärkste Beschränkung des philosophischen Denkens befürchtete, dessen Entscheidungsspielraum offen zu halten. 12. Oswaldo Giacoia Junior öffnet in seinem Beitrag Staat, Demokratie und Rechtssubjekt: Eine Kritik zeitgenössischer Politik diesen Entscheidungsspielraum möglichst weit, flicht in das Geflecht von Religion, Moral und Politik auch das Recht ein und schließt zugleich den Bogen zurück zum Nihilismus. So seien „neue Wege der Politik im Horizont des extremen Nihilismus, wie wir ihn heute durchlaufen“, zu erschließen, und so könnten auch Staat und Demokratie von den „Illusionen“ der Vertrags- und Konsenstheorien befreit und realitätsnäher verstanden werden. Oswaldo Giacoia nimmt dabei Anregungen einerseits von Giorgio Agamben, andererseits von Walter Benjamin auf, die beide, wie schon Nietzsche, von der moralisch unverblendeten Gewalt ausgehen, um so Nietzsches Theorem vom Ursprung des Staates in der Gewalt schärfer zu beleuchten. So spannend und fruchtbar diese Heuristik wird, so fraglich scheint es mir doch, ob man im Schluchtweg zwischen einem Anti-Messianismus einerseits und einem Messianismus andererseits zu haltbaren neuen Orientierungen in der Politik kommen kann. Nach der Monopolisierung und Zivilisierung der Gewalt als Staatsgewalt des Rechtsstaats in modernen Demokratien sind für mich jedenfalls (anti-)messianische Drohkulissen nicht aufschlussreicher und plausibler als moralistische Idealisierungen. Nietzsche hat nach meiner Lesart in Zur Genealogie der Moral die brutale Gewalt mehr ins Spiel gebracht, um die Selbstgerechtigkeit der Moral zu erschüttern, als um die Gerechtigkeit in Staat und Demokratie jenseits der Moral begreiflich zu machen. Er reflektierte in den vorausgehenden AphorismenBüchern, vor allem in den beiden Bänden von Menschliches, Allzumenschliches, die demokratische Neuformierung des Politischen im Blick auf die sich entwickelnde Weltgesellschaft. Sie stellte eine Funktionalisierung des Staates bis hin zum Verzicht auf hoheitsrechtliche Vorbehalte in Aussicht (Oswaldo Giacoia zitiert den einschlägigen Aphorismus Nr. 472 aus dem ersten Band). Im Ganzen ging es ihm, scheint mir, um die ,Umgründung der Politik auf Fluktuationen‘, wie Luhmann sie dann nannte. Die Demokratie im Sinn Agambens vom Staat und seinen Apparaten befreien zu wollen, halte ich dagegen für allzu realitätsfern. Denn gerade moderne Demokratien, die auf ihre Weise hohe Kontrollbedürfnisse entwickeln, Kontrolle weniger der Einzelnen als der Organisationen, die ihnen ihre Spielräume zu nehmen drohen, können auf Staatsapparate nicht verzichten. Sie können sie nun jedoch, jedenfalls ein gutes Stück weit, demo-



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kratisch kontrollieren. Meinen unmessianischen Gegenvorschlag habe ich in der Festschrift zu Oswaldo Giacoias 60. Geburtstag vorgetragen: den Ursprung der Macht unmittelbar in der Orientierung zu suchen. Weil Orientierung immer neue Situationen zu ,bewältigen‘ und zu ,beherrschen‘ hat, generiert sie laufend eine situative Macht, die, solange sie auf Orientierungsüberlegenheit beruht, nicht böse, sondern anderen, die auf fremde Orientierung angewiesen sind, hochwillkommen ist. Böse und zur Gewalt kann diese Macht erst werden, wenn sie sich in Organisationen und Apparaten unkontrolliert verfestigt, sich dabei von ihren Orientierungsursprüngen und -aufgaben entfernt und korrupt wird. Dagegen baut jedoch die in rechtsstaatlichen Demokratien institutionalisierte Partikularisierung und Temporalisierung der Macht, ihre möglichst breite und befristete Verteilung, nach Kräften vor. Sie ist im Zug der fortschreitenden Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse so komplex und fluktuant geworden, dass sie neue Orientierungsbedürfnisse in den Demokratien selbst erzeugt und damit wiederum situative Macht, die überlegenen Orientierungen entspringt. An der aktuellen Entwicklung des demokratischen Regierungsstils lässt sich das gut beobachten, und nicht nur Juristen, Politologen, Soziologen und Zeithistoriker, sondern auch Philosophen könnten daran ein fruchtbares Forschungsfeld haben.

V. Nachfragen 13. Wenn es die paradoxe Grundbedingung jeder Orientierung ist, unter Ungewissheit zu Gewissheiten zu kommen, mit denen sie operieren kann, so ist sie nach Ekaterina Poljakovas Beitrag Unsicherheit der Orientierung: Drei Versuche über das Unverfügbare wenn nicht „das Unverfügbare schlechthin“, so doch dem Unverfügbaren ausgesetzt: Die Orientierung geschieht mehr, als man über sie verfügen kann. Das gibt der PO ungewollt einen heideggerschen Ton, wie manche bemerkt haben, und das ist Anlass genug, nun von ihr aus nach dem Unverfügbaren zu fragen. Das Geschehen-Lassen gehört fraglos zur Orientierung: Man wird sich kaum ,einfach so‘ zu Umorientierungen entschließen; die Situation muss es in irgendeiner Weise erfordern. Insofern läuft die heideggersche Entschlossenheit zur Eigentlichkeit ins Leere, und Heidegger sah das ja dann auch selbst so. ,Verfügen‘ kann man in der Orientierung wörtlich nehmen: als Fügen der sich in einer Situation anbietenden Anhaltspunkte, was dann veranlasst, ,etwas mit ihnen anzufangen‘. Verfügt man nicht in dieser Weise über eine Situation, läuft man Gefahr, von ihr überwältigt, zu etwas verfügt zu werden. Das Sich-Orientieren ist, wie Platon im Phaidros ebenfalls vorführte, auch ein Machtspiel, über das keiner

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der Beteiligten ganz verfügt, so dass das Verfügen sich laufend umkehren kann. Man hat es, so Ekaterina Poljakova, mit „verfügbaren Unverfügbarkeiten“, also wieder mit dem paradoxierenden Selbstbezug einer Unterscheidung zu tun. In Verfügungen, heißt das, werden Unverfügbarkeiten erfahren, in Unverfügbarkeiten aber auch Verfügungen möglich. Luhmann hat das mit George Spencer Brown am Unterscheiden und Bezeichnen selbst plausibel gemacht: Unterscheidet man und bezeichnet etwas mit der einen Seite einer Unterscheidung (falsch, nicht wahr; gut, nicht böse), so bleibt immer die andere Seite offen und steht, um die Begrifflichkeit des Verfügens fortzuspinnen, später zu weiteren Verfügungen zur Verfügung. So verunsichert – in einer Beobachtung zweiter Ordnung – jede Unsicherheit absorbierende Verfügung durch Begriffe und Unterscheidungen sich zugleich wieder, schafft neues Unverfügbares. Wenn, in Ekaterina Poljakovas Beispielen, Carl Friedrich von Weizsäcker die Unverfügbarkeiten in der Quantenphysik philosophisch geltend gemacht und Wittgenstein im Übergang vom Tractatus logico-philosophicus zu den Philosophischen Untersuchungen die Unverfügbarkeit der Grenzen einer Sprache erkannte, die die Grenzen einer Welt sind, so war es der spätere Heidegger, der mit seiner Kehre von der Analytik des ,eigentlichen‘, sein Sein von sich aus aneignenden und so über es verfügenden Daseins zum an sich haltenden Andenken an das Sein als solches in der Philosophie wohl am entschiedensten die Unverfügbarkeit thematisiert hat. Verfügbarkeit wird als Machenschaft angeprangert. Doch es scheint bei der bloßen Entgegensetzung von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit zu bleiben: Heidegger beschwört die Unverfügbarkeit des Seins so konsequent, dass er es sich verbietet, über das, was sich da der Verfügung entzieht, mehr zu sagen als ein verfremdet geschriebenes Wort – „Seyn“ – und sich im Übrigen in eine quasi-religiöse Haltung des Wartens, der Demut, der Ehrfurcht ihm gegenüber begibt, das naturgemäß auf sich warten lässt wie ein zu Godot gewordener Gott. Das Denken soll sich, paradox formuliert, dem Unverfügbaren zur Verfügung stellen, und immunisiert sich dabei selbst: Denkende, die sich dagegen sträuben, sind keine eigentlich Denkenden. Auch Ekaterina Poljakova, die sicherlich zu den Wenigen gehört, die heute etwas darüber sagen könnten, sagt nichts darüber, was jenes Seyn als schlechthin Unverfügbares sein könnte. Umso mehr bekennt sie sich mit Nietzsche zur Freude am Überschreiten der Grenze vom Verfügbaren zum Unverfügbaren und an der Unverfügbarkeit als solcher, damit auch an der Unsicherheit der Orientierung und am immer neuen Einbrechen ihrer beruhigenden Routinen – weil nur so die Orientierung sich unter neuen Umständen neu orientieren und das Denken sich neu denken kann. 14. So wie ein nur begrenzt verfügbares Verfügen ist das Sich-Orientieren auch ein begrenzt verständliches Verstehen. Ingolf Dalferth, der seine theologi-



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schen Untersuchungen selbst orientierungsphilosophisch angelegt hat, sucht mit seinem Beitrag Verstehen als Orientierungspraxis. Eine hermeneutische Skizze das Verstehen selbst zu verstehen, indem er seine Formen und Stufen übersichtlich macht, also über sie orientiert. Als Theologe will er Raum auch für das NichtVerstehen gewinnen und begrenzt dazu das Verstehen eng. Verstehen, argumentiert er, wird erst am Nicht-Verstehen auffällig, und setzt darum Verstehen schon als reflektiertes an. So fallen Routinen, auf die die PO großen Wert legt, weil sie als das selbstverständlich Gewordene den Großteil der „Orientierungspraxis“ ausmachen, nicht darunter. Auf der Ebene der Reflexion und Kommunikation kann so „der Sinn einer Situation verschlossen“ bleiben, der „Lebensprozess ins Stocken kommen“ und hilfsbedürftig werden. Routinen enden, Passungen gelingen nicht mehr, Desorientierungen treten ein. Nicht-Verstehen wird freilich seinerseits nur im Kontext von Verstehen auffällig; wie Josef Simon gezeigt hat, kann man nur etwas nicht verstehen, wenn man schon anderes verstanden hat und versteht. Die Verschlossenheit, das Stocken, die Desorientierung ist darum diesseits des Todes nie total. Gelingendes Verstehen muss man im Rahmen einer PO, denke ich, auch nicht so verstehen, dass es schon Zeichenprozesse voraussetzt, mit denen dann Kommunikations- oder sprachliche Verständigungsprozesse verbunden sind; man versteht einander ja schon ein gutes Stück weit, wenn man, wie man sagt, einander ,gut riechen‘ kann. Und so muss Verstehen auch kein „Gemeinschaftsphänomen“ in dem Sinn sein, dass es allein auf das „Gemeinschaftsleben“ bezogen wäre und zum Begriff dafür würde, „sich in der Welt zu orientieren, in der Menschen gemeinsam mit anderen“ oder „menschlich miteinander leben“. Sicherlich hat es hier ausgezeichnete Möglichkeiten. Aber auch Ingolf Dalferth schließt natürlich nicht aus, dass Verstehen gerade dadurch interessant wird, dass andere anders und darum, jedenfalls in Spielräumen, für sich allein so verstehen, wie sie verstehen. Erst dadurch entstehen ja in der wechselseitigen Orientierung Verständigungsprobleme. 15. Verständigungsprobleme, ,ins Stocken kommende Lebensprozesse‘, in der Sprache der PO Probleme der Orientierung an anderer Orientierung werden in der psychotherapeutischen Praxis besonders akut und, da es sich hier um klar definierte Gesprächssituationen handelt (vorgegebener Ort, vorgegebene Termine, vorgegebene Rollen), besonders scharf beobachtbar. Günter Gödde geht zu ihrer Beschreibung in seinem Beitrag Brauchen die wissenschaftliche Psychologie und Psychotherapie philosophische Fluglotsen? auf die klassische Entgegensetzung von Verstehen und Erklären oder hermeneutischen und szientistischen Ansätzen zurück, um zu zeigen, welche philosophischen Orientierungen darin leitend waren und noch sind. Erweisen sich beide Ansätze als plausibel und bleibt man bei ihrer Entgegensetzung, wird die Lösung, so Günter Gödde, ihre Komplementa-

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rität sein. Doch der Streit der Schulen besteht dann fort, die Therapeuten bleiben gespalten, die Kämpfe um wechselseitige Anerkennung, die hier massive berufsspezifische und ökonomische Folgen haben, gehen weiter. Nimmt man, wie es Günter Gödde erwägt, die PO als philosophischen Lotsen, werden die Gegensätze zu Unterscheidun­gen, die in der betreffenden Situation, hier der psychotherapeutischen Gesprächssituation, zur Entscheidung stehen. Sie werden dann als Orientierungsunterscheidungen und -entscheidun­gen verstanden und danach getroffen, wie sie in der gegebenen Situation weiterhelfen. Einander scheinbar ausschließende Alternativen werden in einer Orientierungssituation wie dieser zu funktionsäquivalenten Alternativen, und die psychotherapeutische Praxis wird zu einem Labor der Orientierung an anderer Orientierung. So wie sie Günter Gödde in seinem an anderer Stelle publizierten Beitrag Das Konzept ,Lebenskunst‘ in der psychodynamischen Psychotherapie darstellt, stehen die Orientierungen des Patienten und der Therapeutin, die sich im „Dunkelbereich“ ihrer „komplexen, unsicheren, instabilen und einzigartigen“ Begegnung immer nur an unvermeidlich vieldeutige Anhaltspunkte der jeweils anderen halten können, „psychodynamisch“ stets füreinander zur Disposition, loten einander aus, werden voneinander (im Doppelsinn) mitgenommen, und die Therapie gelingt nur, wenn beide Seiten dem stattgeben, die Patientin unter Leidensdruck, der Therapeut professionell. Es handelt sich um ein geradezu modellhaftes Orientierungsgeschehen, in dem die Orientierungsüberlegenheit der einen Seite und die Macht, die ihr entspringt, durchaus erwünscht ist (dass sie kippen kann, hat Irvin Yalom in seinem Nietzsche-Breuer-Roman Und Nietzsche weinte schön illustriert). Die Über- und Unterlegenheit im Orientierungsgefälle scheint hier nicht entweder als Deutungskunst (Freud) oder als Beziehungskunst (Balint), sondern als Orientierungskunst ins Spiel zu kommen, die beide einschließt, als Kunst der Entscheidung für jeweils hilfreiche Unterscheidungen. So wird offensichtlich verfahren, und so könnte man das Verfahren möglicherweise ohne Theoriespaltungen und Lagerkämpfe beschreiben. Denn der Begriff der Orientierung überbrückt auch die hier besonders auffälligen Differenzen des Unbewussten und des Bewussten, des Impliziten und des Expliziten, des Privaten und des Öffentlichen, liegt solchen Unterscheidungen voraus und führt sie zusammen. 16. Günter Abel macht mit seinem Beitrag Quellen der Orientierung den Schritt vom Verstehen zum Wissen. Er trägt den Begriff der Orientierung in die von ihm zunächst entwickelte Zeichen- und Interpretationsphilosophie und nun in seine aktuelle Systematische Wissensforschung ein und zeigt, wie die Philosophie der Orientierung dadurch bestätigt und bereichert werden kann. Orientierung schließt in der Tat einerseits vielfältigste Interpretations- und Zeichenprozesse, andererseits Wissensformen ein. Günter Abel macht mit seinem Ansatz auf die



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Differenz und Dialektik von Prozess und Struktur auch in der Orientierung aufmerksam: Sie bildet durch sich annähernd wiederholende Prozesse Formen oder Stukturen aus, in denen die Prozesse dann im Weiteren verlaufen – nicht ohne in ihnen wiederum laufend Veränderungsprozesse anzustoßen. Auf diese Weise ist Orientierung, wie Günter Abel betont, stabil und flüssig zugleich oder kurz: stabil auf Zeit, und Orientierung kann so mit der Zeit gehen. Die PO ist mehr an Orientierungsprozessen, Günter Abel mehr an Orientierungsstrukturen interessiert. So fahndet er nach Quellen des „Orientiertseins“, wie er es nennt, das eben dann erfolgreich ist, wenn es in ungestörtem, selbstverständlichem Fluss bleibt. Auch Günter Abel kann dabei, wie er sagt, auf metaphysische oder naturalistische Vorgaben verzichten. Statt um Wahrheit geht es auch ihm um „pragmatische und problemlösende Plausibilitäten“. Die Quellen der Orientierung findet er vor allem in (a) „unseren Lebenswelten“, (b) „unseren Weltbildern“, (c) „dem Rationalitätsgebot“ und (d) „dem impliziten Wissen“. Der Begriff ,Quelle‘ könnte nahelegen, dass hier nun doch etwas vor der Orientierung vorausgesetzt wird; die genannten Quellen ergeben sich aber sichtlich selbst aus Prozessen der Orientierung, spielen sich in ihr ein und werden gleichsam zu ihren Sedimenten. Soweit (a) mit ,Lebenswelt‘ nach dem späten Husserl eine nicht schon von Wissenschaft und Technik durchdrungene oder, wie Habermas dann sagte, ,kolonisierte‘ gemeint ist, verzichtet die PO auf diesen Begriff. Denn Orientierung bezieht problemlos auch Wissenschaft und Technik ein, operiert schon als geographische mit Karten, Kompassen und Navigationsgeräten. Soweit die ,Lebenswelt‘ jedoch die selbstverständlich gewordene Welt ist, in der man sich ohne immer neue Orientierungsunterscheidungen und -entscheidungen routiniert bewegen kann, gibt sie in der Tat der Orientierung den unauffälligsten und gerade dadurch stärksten Halt. So auch Günter Abel: „Die Selbstverständlichkeiten verkörpern den höchsten Grad an Orientiertheit.“ Sie müssen jedoch nicht, wie der Begriff Lebenswelt suggeriert, eine überschaubare Einheit bilden – sie wäre dann schon nicht mehr selbstverständlich. Auch (b) der Begriff des Weltbildes, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle in der Philosophie gespielt hat, setzt noch die Einheit einer Welt voraus, von der man ein Bild hat. „Weltbilder sind“, so Günter Abel, „verkörperte Weltorientierung.“ Doch die festen Bestände, die der Begriff des Weltbilds nahelegt, setzt, meine ich, die Orientierung mit ihren stets beweglichen und unterschiedlich weiten, auch weltweiten Horizonten eher nicht voraus. Dagegen stimme ich mit Günter Abel überein, dass (c) auch Rationalität „eine unter anderen Orientierungsleistungen“ ist und nicht auf Logik begrenzt werden kann, die als solche, so Günter Abel mit einer glücklichen Begriffsprägung, „orientierungs-leer“ ist. Die Passungen und Formen der Kohärenz können, wie es John Richardson auch für Nietzsche geltend macht, sehr vielfältig sein. Günter Abel fasst (a), (b) und (c) zur

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„internen“ Orientierung zusammen und stellt ihr eine „externe“ gegenüber, zu der z.B. Verkehrszeichen, aber auch „normative Regelungen und Vorgaben“ jeder Art gehören. Sie sichern Stabilitäten „im menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben“, müssen jedoch, wie Günter Abel betont, stets an interne Orientierung „andocken“ können. Sofern die Orientierung an anderer Orientierung weitgehend über „externe“ Zeichen verläuft, gilt dasselbe auch umgekehrt. Die Orientierung ist ja nicht nur individuelle, sondern kann auch inter-individuelle und gesellschaftliche sein. Der Punkt (d) des impliziten Wissens eröffnet das Feld der Wissensformen – Günter Abel nennt theoretisches, alltägliches, praktisches, technisches, sprachlich-propositionales, psychisches, leibliches, emotionales, ästhetisches, moralisches, explizites und eben implizites Wissen. Er unterscheidet und rubriziert die Wissensformen wiederum daraufhin, wie sie in der Orientierung Bestände bilden. Soweit Orientierung in diesem Sinn Wissen ist, bleibt es zum größten Teil implizit, wird nur im Störungsfall thematisiert und reflektiert. Wissen ist aus dieser Sicht für die Wissensforschung also nicht auf explizites Wissen zu begrenzen. Zu ihm gehört dann auch das, was man Kultur nennt, ein Wissen, das der PO zufolge nach langen und oft anstrengten Einübungen selbstverständlich geworden ist. Skeptisch bleibt die PO jedoch gegenüber der Einteilung der Interpretationen und des Wissens in „Ebenen“, die in der Orientierung dann doch „zusammenspielen“ müssen. Ebenen sind analytische Unterscheidun­gen, um etwas auseinanderzuhalten, was in der Orientierung nicht auseinandergehalten wird, und die PO geht daher vorsichtig mit Ebenenunterscheidungen um, auch weil sie dazu dienten, Paradoxien unsichtbar zu machen. Doch sicherlich ist auch die luhmannsche Unterscheidung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, von der ich hier wiederholt Gebrauch gemacht habe, eine Ebenenunterscheidung; ganz ohne sie kommt man nicht aus. Sehr einleuchtend scheint mir dagegen Günter Abels Begriff der Orientierungskraft, die sich in der PO nicht nur auf Findigkeit beschränkt, sondern eben auch mit Unterscheidungsebenen sinnvoll umgehen kann und in ihren Weiterungen als Orientierungs-, Urteils-, Entscheidungs-, Überzeugungs- und Gestaltungskraft Persönlichkeiten über ihr Wissen hinaus Führungsqualitäten verleiht. 17. Die Orientierungskraft, fokussiert auf ihre ethische Dimension, hat Andrea Christian Bertino in seinem Beitrag Vom Zeichen Setzen: Moralische Integrität und ethische Souveränität im Auge. Er setzt bei den Kapiteln der PO zur moralischen und ethischen Orientierung ein und unterwirft sie einer ebenso strengen wie willkommenen Prüfung. Nach der PO tritt die moralische Orientierung dadurch ein, dass die Not anderer dazu nötigt, ihnen beizuspringen, und sich die Spielräume der Orientierung im Übrigen schließen. Man ,muss‘ dann alles



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andere zurücklassen und helfen (z.B. einem Kind, das zu ertrinken droht, auch wenn man sich dabei selbst in Lebensgefahr begibt, oder Menschenmassen auf der Flucht vor Bürgerkriegen, auch wenn es eng wird). Überall, wo Moral im Spiel ist, geht es, so die These, auch um Nöte, wie immer perspektivisch und wie immer dringlich sie eingeschätzt werden mögen. Und wie immer man diese moralische Nötigung auch erklären mag (soziobiologisch, soziologisch, psychologisch oder philosophisch), sie erspart das metaphysische Postulat einer absoluten ,Freiheit des Willens‘ zur Begründung der Moral, sollte andererseits aber auch nicht wie von Andrea Bertino auf das Reiz-Reaktions-Schema und damit auf bloße Instinkthaftigkeit reduziert werden. Denn die moralische Nötigung lässt durchaus Spielraum für Reflexion. Auch wenn sie die „Form vollständiger Inanspruchnahme“ hat, kann man ihr doch auch nicht folgen, bezahlt das dann aber, je nachdem wie sensibel man moralisch ist, mit schlechtem Gewissen. Die Orientierung verliert in ihrer moralischen Nötigung auch nicht ihre Autonomie, sondern schränkt sich selbst auf eine moralische Autonomie ein, in der sie wiederum alternative moralische Entscheidungen treffen kann. Eine Definition der Moral braucht sie dazu nicht; diese Definition müsste dann ja ebenso unumstritten wie allgemein bekannt sein. Die bloße Nötigung, bei Nöten anderer zu helfen, scheint mir zur Abgrenzung der moralischen Orientierung auszureichen; dagegen liefe ,selbstloses Handeln‘ ohne solche Nöte leer, es würde aufdringlich. So gesehen, wirkt die Unterscheidung der ethischen von der moralischen Orientierung auch nicht trennend, sondern steigernd. Wenn regelmäßig in manifesten Nöten geholfen wird, entsteht die generelle Erwartung auf Abhilfe. Die Erwartung wird zur Norm und damit zur Erwartung auch von Gegenseitigkeit. Nach der PO setzt hier die ethische Orientierung ein: mit dem Verzicht auf Gegenseitigkeit, mit der Kraft der Einzelnen, moralische Erwartungen anderer zu erfüllen, ohne sie selbst an andere zu richten. Ethische Orientierung in diesem Sinn setzt nicht schon die eigene Moral bei anderen voraus, sondern reflektiert sie an deren Moralen. Sie unterwirft nicht andere moralische Orientierungen den eigenen Normen und Werten, sondern ist eine Moral im Umgang mit Moralen, also, wenn man so will, eine Moral zweiter Ordnung. Moralische Orientierung hebt sich darin nicht auf, sondern erweitert ihren Horizont, freilich nur dann, darin hat Andrea Bertino sicher Recht, wenn ihr die Normen und Werte anderer nicht zu fremd sind und sie mit ihnen darum schlicht nichts anfangen kann. Umgekehrt kann eine fest normierte moralische Orientierung, auch hier stimme ich Andrea Bertino ohne weiteres zu, von einer reflektierten Moral so irritiert werden, dass sie ihr feindlich begegnet; wir (und gerade Philosoph(inn)en der Orientierung) erleben das ständig. Die ethische Orientierung setzt also nicht nur die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Moral, sondern auch die Schätzung dieser Reflexion voraus und damit schon komplexere gesellschaftliche Verhältnisse, in denen

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Tugenden wie Aufgeschlossenheit für und Unbefangenheit gegenüber anderen Moralen, Vornehmheit als Verzicht auf Gegenseitigkeit, Nachsicht als Bereitschaft zu Vergebung, Freigebigkeit oder die Bereitschaft zu unbegrenzter Gabe und Verantwortlichkeit über Verpflichtungen hinaus möglich und plausibel sind. Tugenden dieser Art, im aristotelischen Sinn ethische und dianoetische zugleich, gipfeln nach der PO in „ethischer Souveränität“, einer auch in schwierigsten, komplexesten, moralische Normierungen sichtlich überfordernden Handlungssituationen gelingender ethischer Orientierung. Sie kann für andere mit ihren anderen Orientierungen (nicht zur Norm, sondern) zum Zeichen werden, dass auch in überraschenden, nicht planbaren moralischen Situationen ethisch wiederum überraschend, aber plausibel gehandelt werden kann. Ich schicke dies alles voraus, um den Beitrag Andrea Bertinos zur ethischen Orientierung angemessen würdigen zu können. Er zeigt in ihrer Präsentation in der PO, so wie sie als Buch vorliegt, zu Recht eine Lücke, ein „Defizit“ auf – im Überspringen der moralischen Integrität als Voraussetzung der ethischen Souveränität. Denn ethisch souverän wirkt nur, wer als moralisch integer gilt. Wie ethische Souveränität wird auch moralische Integrität nur in Personen manifest, die dauerhaft, über viele wechselnde Situationen hinweg, die genannten ethischen und zugleich dianoetischen Tugenden zeigen, derart, dass (a) das, was sie sagen und was sie tun, in erkennbarer Übereinstimmung ist; Andrea Bertino nennt das praktische Kohärenz. Die Tugenden müssen (b) erkennbar authentisch, sie dürfen nicht mit Selbstdarstellungsabsichten verbunden sein (auch wenn latente Selbstdarstellungsabsichten in einer Selbstdarstellungsge­ sellschaft nie auszuschließen sind). Und Personen müssen (c), wenn ihnen Integrität zuerkannt werden soll, die Tugenden dem Wortsinn nach (c1) ,vollständig‘ vereinen und (c2) ,unbestech­lich‘ bei ihnen bleiben, durch nichts zu korrumpieren sein (auch wenn die Korruption sehr feine und kaum mehr erkennbare Formen annehmen kann). Integrität in diesem Sinn ist Sache der moralischen Orientierung, macht sie vollkommen. Andrea Bertino stellt, soweit das in der Kürze möglich ist, präzise dar, wie voraussetzungsreich sie gleichwohl im Einzelnen ist, weil sie erneut die Per­ spektivismus- und die Wahrheitsproblematik und zudem die Opferproblematik ins Spiel bringt. Für uns beide ist ausschlaggebend, dass ethische Souveränität nur aufgrund der moralischen Integrität der Person authentisch und damit plausibel wird und doch über sie hinausgeht. Denn moralische Integrität wirkt als moralische Autorität, sie leitet zur Nachfolge an, aber sie befreit nicht. Ethische Souveränität beweist, wie Andrea Bertino zeigt, Nietzsches Zarathustra, indem er, ohne seine moralische Integrität in Frage zu stellen, die Autoritätserwar­ tungen der ,höheren Menschen‘ gezielt enttäuscht, um dann seinen eigenen, auch für ihn noch offenen Weg zu gehen („Das Zeichen kommt“), auf dem sie ihm nicht folgen können.



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18. Claudia Welz will in ähnlichen Höhenzonen der ethischen Reflexion mit ihrem Beitrag Paradoxien ethischer und religiöser Orientierung als Neuanfänge des Denkens im Verbund mit dem philosophischen Denken Neuanfänge des christlichen theologischen Denkens wagen; beide waren in Europa ja immer schon eng miteinander verflochten. Auch sie bezieht sich dabei auf das Kapitel der PO zur ethischen Orientierung und thematisiert den Zusammenhang von Integrität und Identität, auch dies ein Begriff, demgegenüber die PO eher skeptisch geblieben ist. Nicht bürokratisch, sondern ethisch betrachtet steht die Identität einer Person nie fest, weder für sie selbst noch für andere; sie wird je nach der Kohärenz dessen, was sie sagt und tut, immer neu festgestellt. So ist etwa Reue nicht nur ein Phänomen der Re-Orientierung des eigenen Handelns, sondern auch eine Re-Identifikation der eigenen Person, und das gilt ebenso, wenn jemand für die Zukunft mutig einschneidend neue Aufgaben übernimmt. Auch Identität aber wird paradox, wenn sie auf wechselnden Identifikationen beruht, und Paradoxien haben in Kopenhagen mit dem Philosophen-Theologen Kierkegaard eine denkbar vertraute Heimstatt, an der man theologisch auch jüdische Zeugen wie Buber, Kafka und Elazar Benyoëtz nicht scheut und mit ihnen selbst in die Abgründe von Nietzsches grundsätzlichstem Nihilismus blicken kann. Und so traut sich Claudia Welz auch denkbar nah an die PO und an die Aussicht heran, gerade in Paradoxen des Denkens Halt zu finden. Das sind schöne Aussichten wiederum für die PO. 19. Der „Geburtstagsgruß“ Daniel Krochmalniks, für mich die wandelnde Kompetenz in Sachen Judentum, zum Triskaidekalog hat vordergründig nichts mit der PO zu tun, lässt sich aber sehr gut in sie übersetzen. Daniel Krochmalnik legt die Gebote des Judentums auf faszinierende Weise von der Freiheit der Orientierung her aus, auch wenn von Freiheit in ihnen nicht die Rede ist. Vor der Orientierung sind alle Religionen gleich. Sie alle geben Einzelnen, Gemeinschaften, Völkern und Reichen über die Zeiten hinweg gehaltvolle Orientierungen und explizit einen Halt an Unbegreiflichem. Im Judentum geschah das auf besonders klare und eindrucksvolle Weise. ,Tora‘ heißt nach manchen jüdischen Gelehrten – nie allen, darauf wird Wert gelegt – selbst ,Weisung‘, ,Orientierung‘, und Daniel Krochmalnik bestätigt das im Namen Martin Bubers. Nach der Tora ist die Tora im Kern von Gott selbst geschrieben, also von Grund auf selbstbezüglich (eine Escher-Figur). Sie hat darum auch keine Scheu vor Tautologien, Widersprüchen und Paradoxien. Gott nannte sich Gott (JHWH) laut der Tora auf Grund einer bestimmten Leistung für das von ihm auserwählte Volk: der Befreiung der Hebräer aus dem ,Sklavenhaus‘ Ägypten. Sie war mit einer Neuorientierung ihres gesamten Lebens verbunden, versetzte die Hebräer in eine völlig neue Situation, ließ sie über 40 Jahre, also eine ganze Generation, hinweg unter

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schwierigsten Bedingungen ein neues Leben in der Wüste lernen. Die explizite Orientierung dafür gab er ihnen in seinen von ihm selbst auf steinernen, aber zerbrechlichen Tafeln geschriebenen Geboten. Sie waren in Stein gehauen, aber nicht steinern. Sie haben der Übersichtlichkeit halber eine begrenzte Zahl, aber man kann sie unterschiedlich zählen, etwa als 13 (triskaídeka) statt als 10 (déka). Als Gebote waren sie ein ,Joch‘, aber das Volk nahm sie im freien Bund mit Gott als Selbstverpflichtung an; man kann sie, so Daniel Krochmalnik, als „Magna Charta der Freiheit“ lesen. Sie waren etwa zur Hälfte am Verhältnis der Menschen zu Gott, zur anderen Hälfte an typischen Situationen ihres persönlichen und ihres Gemeinschaftslebens orientiert und ließen durch die Prägnanz ihrer Formulierung weite Spielräume ihrer Auslegung, die nicht von Priestern durch eine systematische Dogmatik eingeengt, sondern durch das Studium der Tora, das jedermann offenstand, immer mehr erweitert und verfeinert wurden. Nach der jüdischen Tradition enthalten die von Gott geschriebenen Gebotstafeln zwischen den Zeilen die ganze Tora; er habe sie Mose und mit ihm den Hebräern mündlich mitgeteilt: Eine Lebensorientierung braucht unterschiedliche Pfade. Die Tora, so wie sie schließlich kanonisiert wurde, schließt vielfältigste Berichte, Geschichten, Sprüche, Gebete, Lieder ein, die nicht weniger orientieren als Gebote und Lehren. Sie wurden in mutigen und auch phantasievollen Auslegungen zu immer neuen Orientierungen genutzt, wobei sich jeder Gelehrte früheren verpflichtet, aber auch zu Neuerungen berechtigt sah. Dabei bezog man sich stets auf das Ganze der Tora und alles in ihr auf alles Übrige, ohne zu glauben, man könne dieses Ganze je völlig durchdringen und so, trotz aller Genauigkeit und Gründlichkeit der Auslegung, zu einer definitiven Auslegung zu kommen. Auch auf diesem Weg kam ein wiederum verbindliches Gesetz, die Halacha, mit einer wiederum begrenzten, nun aber stark erweiterten Zahl von Vorschriften, den 613 Mizwot, zustande, die das ganze alltägliche Leben durchdrangen und dadurch stets an seine angestammte Orientierung durch Gott erinnerten. Auch dabei blieb nichts unumstritten, und dennoch oder eben deshalb erhielt sich auf diese Weise eine Gesamtorientierung, die einem Volk über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg zu leben, oft unter bedrohlichsten und mörderischsten Umständen zu überleben half und ihm bis heute die Lebensfreude bewahrte.

VI. Folgefragen 20. Eine PO wird nie abgeschlossen sein, weitere Forschungsfelder tun sich auf. Der PO, so wie sie vorliegt, ging es zunächst um die bisher kaum beachtete Struktur der Orientierung in der Gegenwart und im Blick auf die Zukunft. Dabei hat sie den



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Umgang mit der Geschichte nur am Rande berücksichtigt. Andreas Rupschus geht ihn in seinem grundlegenden Beitrag Wie orientiert Geschichte? nun an. Er eröffnet ihn mit der lapidaren These „Die Geschichte besitzt Autorität“. Jede Orientierung stützt sich auch auf Geschichte, schon weil sie aus der Geschichte erwachsen ist. Andreas Rupschus zeigt, wie die Autorität der Geschichte für politische Prognostik, also die Zukunftsorientierung, und die Selbststabilisierung der moralischen Orientierung, also die Gegenwartsorientierung, genutzt wird. Mir scheint das überzeugend, und so bleibt mir nur, wie bei allen Beiträgen dieser Abteilung, meinerseits weiterführende Rückfragen zu stellen. Dass Geschichte Autorität besitzt, galt sicher für die alten Römer, die auf den mos maiorum und seine exempla maßgeblich die Selbstlegitimation ihres familiären und politischen Handelns bauten, und der Atem der Römer und ihres Umgangs mit der Geschichte reichte bis weit in die Neuzeit hinein. Aber gilt es noch für unser Verhältnis zu den Alten? Demokratie etwa hat sich in ihren Kontexten und Strukturen seit den alten Griechen so sehr verändert, dass man sich, auch wenn sie den Namen und das Modell für sie gegeben haben, heute kaum noch an ihnen orientieren kann und es darum auch weitgehend bei historischer Erinnerung belässt. Erfreulicherweise trifft das in vielen Fällen auch für unglückselige Handlungsmodelle wie Kriege unter Erbfeinden zu. Für mutige politische Führungskräfte scheint es nicht mehr allzu schwer zu sein, sich darüber hinwegzusetzen und ,politische Wenden‘ zu vollziehen. Die koselleckschen ,Wiederholungsstrukturen‘ sind in der modernen Fluktuanz der gesellschaftlichen Ordnungen offenbar immer brüchiger geworden und damit auch die Prognostik aus der Vergangenheit immer prekärer (,Wir haben immer so gehandelt, also …‘). Ähnliches gilt, wiewohl es da, wie Andreas Rupschus zeigt, erhebliche Differenzen geben kann, auch für die Routinen des individuellen und inter-individuellen Lebens; jüngere Generationen erleben in modernen Gesellschaften auch schon andere Welten. Erfahren wir Geschichte heute also nicht eher an ihrer Unwiederholbarkeit? Mögen die Zeithorizonte unserer wissenschaftlichen Orientierung immer weiter geworden sein, so wurden offenbar die Zeithorizonte unserer politischen und persönlichen Orientierung immer enger. Man muss heute, wie der Umgang mit den allgegenwärtigen ,Krisen‘ zeigt, politisch und persönlich offenbar viel mehr ,auf Sicht fahren‘. Hat Geschichte dann noch Autorität, wenn ,Autorität‘ heißt, dass sie unbefragt zum Maßstab der eigenen Orientierung genommen wird? Sicherlich muss man Geschichte als das, was geschehen ist, von Geschichte als dem, was erinnert und geschrieben wird, unterscheiden. Die erstere haben wir aber nur in der letzteren. Die geschehene Geschichte dürfte trotz ihres sich beschleunigenden Wandels tief prägen, im persönlichen sicher noch mehr als im politischen Bereich, wenn auch nicht mehr durch klar umrissene Modelle, eher

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schon durch einschneidende Erfahrungen, die in günstigen Fällen zu Wiederholungswünschen, in ungünstigen Fällen zu Wiederholungszwängen, in Extremfällen zu Illusionierungen hier, Traumatisierungen dort werden können. Geschichte orientiert dann nicht durch Autorität, sondern einfach durch ihr Geschehen-Sein. Andererseits hat die moderne Geschichtsschreibung fraglos hohe Autorität, man kann sich über alles Geschehene von Belang heute in schärferer Auflösung und höherer Zuverlässigkeit informieren denn je. In dem Zusatz ,von Belang‘ steckt freilich Selektion, und alle Geschichtsschreibung beruht bekanntlich auf hochgradiger Selektion, deren Perspektiven sich rasch ändern können, so dass sich nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichtsschreibung laufend überholt. Nimmt man sie dann noch unbefragt zum Maßstab der eigenen Orientierung, oder lässt man nicht auch hier immer eine Beobachtung zweiter Ordnung mitlaufen, der Beobachtung der Perspektive der jeweiligen Geschichtsstudie? Andreas Rupschus empfiehlt die Beobachtung zweiter Ordnung in ethischer Hinsicht, wenn moralische Orientierungen durch geschichtliche Orientierungen bestärkt werden; sie empfiehlt sich sicher auch für die geschichtliche Orientierung selbst, und für Historiker ist sie völlig geläufig. Der Autoritätsverlust, der in der Per­ spektivierung der Geschichtsschreibung liegen mag, ist für eine PO aber auch ein Gewinn. Er bestätigt, dass es, wie auch Andreas Rupschus bekräftigt, auch in der Geschichte keine unveränderlichen Anhaltspunkte gibt, sondern dass man sie mit „historischem Sinn“, wie Nietzsche ihn nannte, zu wählen und sich im Ganzen mehr denn je auf die Perspektivität, Situativität und Selektivität auch aller historischen Orientierung einzustellen hat. Die Geschichtsschreibung ist mit einem Wort offenkundig ebenfalls entscheidbar geworden. Nietzsche ließ seinen Zarathustra sich damit plagen, von der Vergangenheit erlöst zu werden, an der das Wollen ende, und dazu kommen, sie ihrerseits zu erlösen, indem er ihre Bruchstücke von sich aus zu einer Zukunft zusammenfügen und sich dadurch mit der Zeit versöhnen wollte. Ist das nicht, die Orientierung durch Geschichte philosophisch betrachtet, schon geschehen? 21. Mathias Schlicht von Rabenau widmet sich in seinem Beitrag Kompetenz als Schlüsselbegriff der Bildungstheorie – Vorschlag einer orientierungsphilosophischen Fundierung einem weiteren offenen Forschungsfeld der PO, der Konzeption von Bildung, insbesondere der schulischen Bildung. Er schlägt vor, den Begriff der Bildung zu entidealisieren und durch den Begriff des Erwerbs von Kompetenzen zu ersetzen, ohne ihn erneut zu ideologisieren. Kompetenz kann dann einerseits sehr weit, andererseits sehr differenziert etwa als Handlungs-, Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz, emotionale, moralische, kreative und auch, wenn man das will, spirituelle Kompetenz gefasst werden. Ihr Begriff steht zwischen dem des Wissens und der Tugend, streift aber die Bindung an feste



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Bestände (,Wissensbestände‘) und moralische Wertungen ab, zielt auf bloße Handlungsfähigkeit in Orientierungssituationen. Wird Kompetenz als Fähigkeit definiert, „in konkreten Situationen aus gegebenen Wissensbeständen diejenigen Informationen herauszufiltern, die Entscheidungen und Handlungen ermöglichen können“, so kommt sie der Orientierung überhaupt gleich, in der doch ihrerseits vielfältige Kompetenzen oder ,Kräfte‘ zu unterscheiden sind. Andererseits lässt sich in der Orientierung kein besonderes Subjekt isolieren, das über solche Kompetenzen umstandslos verfügen würde; ihre Grenzen sind eben die Kompetenzen, die sich in ihr ausgebildet haben. Stellt man in der Schulbildung vom Ziel der Mitteilung bloßer Wissensbestände auf das Ziel des Erwerbs von Orientierungskompetenzen um, wird die Unterscheidung von Lehren und Lernen fragwürdig; nicht nur die Schüler(innen), auch die Lehrer(innen) sind betroffen. In Lehrbüchern werden Wissensbestände nicht als Anhaltspunkte dargeboten, wie Mathias Schlicht vielleicht zu entgegenkommend annimmt, und auch nicht wie Ideen in Platons Dialog Parmenides – noch einmal Platon! –, über deren Sinn erst ihr rechter Gebrauch entscheidet, sondern eben als für jede und jeden gleich gültige Wissensbestände. Dass sie der Lebensorien­tierung dienen sollen, ist zwar ein alter pädagogischer Spruch; wie er eingelöst werden soll, bleibt aber den Schüler(innen) überlassen; die Lehrer(innen) haben in der Regel damit nicht mehr viel tun. Begründet ist das eben darin, dass Orientierung und ihre Kompetenzen nur sehr begrenzt gelehrt und auch nur begrenzt eingeübt werden können. Nach aller Erfahrung haben Orientierungsfähigkeiten echte persönliche Grenzen, die nur in Spielräumen zu erweitern sind. Wissenbestände kann man mit Fleiß vermehren, Orientierungsfähigkeiten weit weniger, was – Mathias Schlicht weist selbst darauf hin – Kant schon für die Urteilskraft geltend gemacht hat. Das gilt nun aber nicht nur für die Schüler(innen), sondern auch für die Lehrer(innen). Setzt man bei Orientierungskompetenzen an, wäre das Lehrer(innen)-Schüler(innen)-Verhältnis ebenfalls als Orientierung an anderer Orientierung zu begreifen, in dem auch die Lehrer(innen) laufend neue Orientierungskompetenzen erwerben müssen, nämlich sich jeweils auf eine Klasse, ihre einzelnen Schüler(innen) und deren jeweilige Lernsituationen so einzustellen, dass Schüler(innen) an Lehrer(innen) etwas über Orientierung an anderer Orientierung lernen können. Das klingt theoretisch trivial, ist in der Praxis bekanntlich aber schwierig und wird beim modernen InklusionsUnterricht noch weit schwieriger. Auch hier ist wieder vom Meister der Beobachtung zweiter Ordnung, Luhmann, zumindest theoretisch einiges zu lernen. In seinen Schriften über die Erziehung geht er von der Beobachtung aus, dass im Klassenunterricht notgedrungen die meisten Schüler(innen) die meiste Zeit ruhig zu warten haben, bis sie ,dran sind‘ – und eben in dieser Zeit beobachten können, wie die Lehrer(innen) sie beobachten und beachten oder nicht. Sie lernen also vor

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allem und über viele Jahre hinweg konzentriert Beobachtungsverhalten und im traditionellen Frontalunterricht, der sich zur Übermittlung von Wissensbeständen besonders anbietet, dass Lehrer(innen) immer ,dran sind‘, Schüler(innen) selten. Sie lernen unfreiwillig, dort abzuschweifen, abzuschalten, auszusteigen, wo ihnen der Unterricht nicht das bietet, was sie erwarten, sie erlernen die Kompetenz der Selektion von Wissensbeständen (,Was soll ich damit anfangen?‘), ohne die Wissensbestände jedoch schon überschauen zu können, also inkompetent. Auch Lehrer(innen) wissen das natürlich und versuchen mit abwechslungsreicheren Unterrichtsmethoden gegenzusteuern. Doch dabei sind sie dem Orientierungsgeschehen in Lernsituationen ihrerseits weit stärker ausgesetzt und können darin wie Schüler(innen) mehr oder weniger erfolgreich sein. Sie müssen ihrerseits oft mühsam lernen, so mit ihm umzugehen, dass sie darin nicht untergehen. Unter Orientierungsgesichtspunkten verlangt die moderne Schulbildung auf beiden Seiten mehr und höhere Kompetenzen, und Schüler(innen) und Lehrer(innen) rücken darin enger zusammen. 22. Schon mit einigem Humor erinnert Hubertus Busche die PO an den Orientierungswert der vestimentären Zeichensprache, den sie ebenfalls schmählich übergeht. Im ja sehr ausführlichen Sachregister müsste ,Kleidung‘ zwischen ,Kirche‘ und ,Koexistenz‘ erscheinen, erscheint aber nicht. Ihr Orientierungswert oszilliert tatsächlich, nach der systematischen Untersuchung, die Hubertus Busche vorlegt und der von meiner Seite schlechthin nichts hinzuzufügen ist, zwischen strengem Ritual und lockerem Nebeneinander, und in dieser Oszillation werden die Zeichen bezeichnend. Man sieht nicht einfach die Zeichen, sondern sieht sie in den Spielräumen des vestimentär zu einer bestimmten Zeit Möglichen und Unmöglichen und schließt von ihnen aus auf die Person, die sich willentlich in ihnen zeigt. Denn mag man für seinen Körper und sein Gesicht wenig können, für deren Drapierung schon, und umso aussagekräftiger sind die vestimentären Zeichen. Eben weil sie, sofern nicht Uniformität oder schlichter Mangel die Spielräume beschneidet, klar Sache der Entscheidung sind, sprechen sie für die oder den, die da entscheiden, aber wiederum in beträchtlichen Spielräumen, denn sie können stets anders wahrgenommen werden, als sie gedacht waren. Dass der Sinn der Entscheidung für sie niemals ganz klar ist, macht sie gerade interessant und umso mehr für die, die ein besonderes Interesse an eigener vestimentärer Zeichengebung haben. Da es aber auch Leute gibt, die auf Kleidung ,wenig Wert legen‘, wenn sie nur das zu Bedeckende bedeckt und gegebenenfalls das zu Wärmende wärmt, beschränkt sich der vestimentäre Orientierungswert wiederum, zumal es auf der anderen Seite auch Leute gibt, die alles Mögliche anziehen können und trotzdem gut aussehen. Man könnte von vestimentärer Souveränität sprechen. Die Zeiten, als



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Kleider wirklich noch Leute machten, scheinen vorbei zu sein, seit Topmanager auch im Pullover auftreten und Minister und Regierungsschefs sich ohne Krawatte vereidigen lassen können. Hubertus Busche führt hier eine hilfreiche Unterscheidung ein, die von Vorab- und Zusatzorientierung. Sie verweist nicht nur auf ein je unterschiedliches Maß an Orientierungsbedarf in unterschiedlichen Situationen, sondern expliziert auch gut die Rekursivität der Orientierung, ihre laufend neue Abgleichung beim laufenden Auftauchen neuer Anhaltspunkte. Ihre Beachtung macht die Orientierung um-, weit- und vorsichtiger oder kurz: sensibler gerade in der oft so heiklen Orientierung an vestimentärer Orientierung. Hubertus Busche nennt sie, auch dies scheint mir ein glücklicher Begriff zu sein, „Gefährlichkeitscheck“. Es geht, wie in aller Orientierung, darum, die Gefahr des bloßen Mitlaufens einerseits und des demonstrativen Auffallens andererseits zu minimieren und auf überschaubare Risiken des erwartbaren Gefallens zu reduzieren. Über die Orientierung im Allgemeinen lernt man ferner daraus, dass Anhaltspunkte erst orientieren, wenn sie mit anderen zusammen Muster ergeben, also wie Kleider passen und sitzen, und darum so lange gesichtet werden, bis sie passen und sitzen. Sie sind dann immer noch eigene Beobachtungsmuster, die beim Auftauchen neuer Anhaltspunkte – ein weiteres, nicht ganz so passendes Accessoire – rasch danebenliegen können. Aber dabei bleibt doch immer die Freude an den Zeichen und am Deuten der Zeichen, auf eigenes Risiko. 23. Halb humorvoll, halb ernsthaft analysiert schließlich Silvio Pfeuffer den Humor in der Orientierung, oder, wenn man noch einen Schritt weiter gehen will, den Humor der Orientierung, und dies am halbernsten Komiker Olli Dittrich und seiner, so die Wikipedia-Definition, televisionären „Improvisationskomiksendung“ Dittsche, in der Dittrich, stets im Bademantel über sehr lässigen Tagesklamotten, also nur halb angezogen, ganz eigene vestimentäre Zeichen sendet. Will, so Silvio Pfeuffers Vermutung, die PO mehr vom wahren Leben zeigen, so könne man hier das wirklich wahre Leben und damit auch die wahre Orientierung kennenlernen. Das könnte stimmen. Denn Improvisationskomik fordert allerhöchste Orientierungskunst, und wenn sie im Fernsehen gezeigt wird und dies live, steht sie unter allerschärfster Beobachtung, die, wenn rückgekoppelt, die Kunst zu weiteren Höhen antreibt. Dabei ist die Improvisation, wie bei einer Seriensendung kaum anders möglich, von peinlich genau eingehaltenen Ritualen durchsetzt, von Anfang also paradox, und die gesendete Komik lebt weiter von paradoxen Verdrehungen des Verständlichen ins Unverständliche und desorientierenden Orientierungen. Am ehesten muss man darüber lachen, dass man bei dieser angestrengt inszenierten Improvisationskomik gar nicht lachen muss; selbst das Lachen wird paradoxiert.

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Silvio Pfeuffer spielt Grundfiguren der PO auf Dittsches Klaviatur noch einmal durch. Es geht. Wenn Dittsches mit Halbwissen untersetztes halbphilosophisches Gelaber in der Imbissbude „die alltägliche Orientierung auf eine zugleich lustige wie tiefsinnige Art und Weise repräsentiert“ (oder halb lustige, halb tiefsinnige?), dann ist zumindest die Orientierung und dann auch eine Philosophie, die sich auf die Orientierung einlässt und sie zum Anfang aller Philosophie machen will, herzlich oder doch halb zum Lachen, das vollends stecken bleibt, wenn man darin wirklich das „wirklich wahre Leben“ mit seinem möglicherweise wirklichen philosophischen Tiefsinn wiedererkennt. Wenn Metaphysik von den Bedingungen der Orientierung absieht, um auf vermeintlich festen Boden parmenideisch runder Ganzheiten zu kommen, potenziert die Improvisationskomik die Bedingungen der Orientierung, um runde Ganzheiten als Seifenblasen einer Halbwelt durchsichtig zu machen, die irgendwann wieder platzen. Orientierung kann, erkennt man so, auch Seifenblasen erzeugen und wieder platzen lassen und sie kann sich andererseits selbst an Halbheiten und in Halbwelten orientieren. Sonst hätte sie nichts zu lachen. Sie hat die Spielräume, die Vielschichtigkeiten, die Komplexitäten dazu, und wir dürfen sie dafür bewundern. Und Lachen, worüber auch immer, ist seinerseits ein Modus der Orientierung: Alles allzu Ernste zerplatzt unter Lachen wie Seifenblasen oder Luftballons. Mit Humor pufft unsere Orientierung alle Orientierungsbeschwernis einfach aus und lässt die Situation, wie sie ist, pfff. Auch eine Philosophie der Orientierung sollte das können.

Siglenverzeichnis Sofern im vorliegenden Band Siglen Verwendung finden, werden sie in den jeweiligen Beiträgen ausdrücklich eingeführt. Eine Ausnahme bilden die Werke Friedrich Nietzsches, deren Siglen im Folgenden alphabetisch aufgelistet werden. In Klammern ist jeweils die entsprechende Abkürzung für die englischsprachigen Beiträge angegeben, falls die englischen Siglen von den deutschen abweichen. Grundlage aller deutschsprachigen Zitate ist dabei folgende Ausgabe, auf deren Paginierung sich auch die englischsprachigen Beiträge des Bandes beziehen: KSA

Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 1980.

AC Der Antichrist EH Ecce homo FW (GS) Die fröhliche Wissenschaft GD Götzen-Dämmerung GM Zur Genealogie der Moral GT Die Geburt der Tragödie HL UB II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben JGB Jenseits von Gut und Böse M Morgenröthe MA Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachlass Nachlass (generell) PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen UB Unzeitgemässe Betrachtungen WM (WP) Nachlass-Kompilation „Der Wille zur Macht“ Za (Z) Also sprach Zarathustra

Personenregister Abel, Günter VIII. 151 f. 158–162. 164 f. 168. 396–398 Adorno, Theodor W. 71 Agamben, Giorgio 275–277. 283. 287–290. 392 Ainesidemos 103 Aischylos 13 Alberts, Benjamin VII. 383. 390 Albrecht, Juerg 173 Alexander von Aphrodi­sias 7 Alt, Peter-André 338 Anakreon 24 Anaximander 121 Angehrn, Emil 121. 174 Antonius, Marcus 240 Arendt, Hannah VIII. 243 Aristoteles 6–10. 54. 104. 119. 186. 205. 219. 243. 251. 265. 377 f. 380. 400 Aubry von Reims 10 Audretsch, Jürgen 133 Augustinus 209. 236 f. 241–243 Bagger, Matthew 224 f. Bailey, Cyril 35 Balint, Michael 345. 396 Becker, Ralf 140 Benjamin, Walter 287–289. 392 Benyoëtz, Elazar 221. 225. 401 Berdischewski, Micha Josef 304 Berger, Roger 323 Bertino, Andrea Christian VIII. 36. 41. 386. 398–400 Betsch, Tilmann 172 Bin-Gorion, Micha Josef 304 Bismarck, Otto von 105 f. Bittner, Rüdiger 89 Blankenburg, Wolfgang 160 Blumenberg, Hans 172 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 264 Böckling, Ulrich 351 Boethius von Dacien 10 Bohleber, Werner 346 Böhme, Gernot 23. 341. 344 Bohr, Niels 133. 339

Bollas, Christopher 345 Bollnow, Otto Friedrich 336 Bongen, Robert 267 Borsche, Tilman VII. 42. 386 f. Breuer, Josef 396 Buber, Martin 226 f. 298. 401 Buchholz, Michael B. 336. 339 f. 345 Burckhardt, Jacob 98 Burnet, Johannes 17 Busche, Hubertus IX. 406 f. Butler, Judith VII. 75–80. 390 Cahn, Charles H. 16 Calhoun, Cheshire 254 Carnap, Rudolf 343 Chamberlain, Houston Stewart 304 Chamrad, Evelyn 173 Cicero, Marcus Tullius 40. 46. 261 f. Clausewitz, Carl von 351–353. 359 Conill, Jesús 160 Constâncio, João VII. 84. 387 f. Conway, Daniel 106 f. Cox, Damian 252 Crüsemann, Frank 295 Dalferth, Ingolf VIII. 173–175. 229. 394 f. Darwin, Charles 326 Daston, Lorraine 340 De Libera, Alain 10. 13 Deleuze, Gilles 123 Derrida, Jacques VI. 19 Descartes, René 53 f. 68 f. 130. 186. 381 Detel, Wolfgang 335. 339 Dewey, John 343 Diamond, Cora 252 Dilthey, Wilhelm V f. 122. 138. 336 Diogenes Laertius 103 Dirks, Ulrich 152. 156. 158. 160 Dittrich, Olli 364 f. 367. 369 f. 407 Dohmen, Christoph 297 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 96 Düsing, Edith 93 Ebert, Theodor 104

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 Personenregister

Ebner, Claudia C. 316 Eisenbart, Liselotte Constanze 324 Ekman, Paul 326 Emrich, Hinderk Meiners 160 Epikur VII. 33–48. 383 Erler, Michael 35 Escobar, Roberto 284 Esposito, Elena 317 Ewers, Michael 183 Fahrenberg, Jochen 336. 340 Febvre, Lucien 261 Fellmann, Ferdinand 179 f. 345 Ferchhoff, Wilfried 330 Feyerabend, Paul 343 Flügel, John Carl 331 Fohrmann, Jürgen 173 Förster-Nietzsche, Elisabeth 98 Foucault, Michel VII. 13. 15. 23. 75–77. 275. 390 f. Franz, Kurt 174 Freeland, Chrystia 323 Frei, Norbert 267 Freud, Sigmund 76. 335. 338. 396 Freyer, Thomas 293 Frischer, Bernard 36 Fuchs, Thomas 160 Gadamer, Hans-Georg 71. 176. 336 Gagnebin, Jeanne-Marie 289 Gaier, Ulrich 51. 55 Galilei, Galileo 54 Galison, Peter 340 Garve, Christian 324 Gaugele, Elke 331 Gemes, Ken 92. 96–98 Gentili, Carlo VII. 391 f. Gerhardt, Volker 228 f. Gese, Hartmut 297. 299 Geyer, Carl-Friedrich 33–35. 37. 44 f. Giacóia Junior, Oswaldo IX. 392 f. Gigon, Olof 104 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 51 Gödde, Günter IX. 336. 339 f. 345. 395 f. Goethe, Johann Wolfgang von 106. 302. 304. 391 Görgemanns, Herwig 25

Gracián, Baltasar 317 Graeser, Andreas 28. 174 Grass, Günter 370 Grau, Gerd-Günter 282 Gressmann, Hugo 296 Griswold, Charles L. 31 Grob, Marion 330 Grøn, Arne 224 f. Grünkorn, Gertrud 375 Gunia, Jürgen 350–356. 358 Habermas, Jürgen 337. 387. 397 Hadot, Pierre 5 f. 13. 37 f. 40. 44. 46 Hamann, Johann Georg 49 f. 52. 59 f. Hampe, Michael 343 Hansen, Maj-Britt Mosegaard 366 Hansen, Mogens Herman 34 Hansen, Wilhelm 319 Harcourt, Edward 255 Hartknoch, Johann Friedrich 51 Hartmann, Eduard von 98 Haverbeck, Ursula 267 Hebel, Christina 267 Hebel, Johann Peter 174 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich VI. 103. 106 f. 236. 282. 364. 379. 384 Heidegger, Martin VIII. 71. 83. 86. 122. 124 f. 130. 136–140. 145. 156. 176. 185 f. 207 f. 336. 354. 364. 381 f. 388. 393 f. Heinsohn, Gunnar 307 Heisenberg, Werner 130. 132 f. Heitsch, Ernst 18. 27 Held, Katharina 45 Hell, Daniel 338 Heraklit 13. 207 Herder, Johann Gottfried VII. 49–69. 386 f. Hesiod 22 Heym, Rudolf 51 Hitler, Adolf 306–308 Hobbes, Thomas 276 Hoffmann, Hans-Joachim 312. 315. 328. 331 f. Holley, David M. 255 Hölscher, Tonio 19 Homer 3. 6. 22 Honolka, Harro 350 Horster, Marietta 20 Hossenfelder, Malte 35 f.

Personenregister 

Huber, Jörg 173 Hume, David 54. 343 Husserl, Edmund 161. 336. 397 Imesch, Kornelia 173 Iselin, Isaak 50 Jacobi, Friedrich Heinrich 51–53 Jaspers, Karl 336 Jesus Christus 223. 295. 305. 307. 391 Jhering, Rudolf von 278. 324 Joest, Wilfried 223 Joseph, Betty 173 Jost, Karl 173 Jung, Carl Gustav 275. 327 Jungbauer-Gans, Monika 323 Jünger, Ernst 307. 352 Jürß, Fritz 44 Jütte, Robert 320 Jüttemann, Gerd 337 Kafka, Franz 220. 401 Kant, Immanuel V. VII f. 8. 10 f. 49–69. 85. 102 f. 107. 124. 127. 130–136. 144 f. 183. 186. 188. 224. 343. 355. 357–360. 364. 377. 380. 385–387. 390. 405 Karl V. 319 Käßmann, Margot 371 Kaufmann, Thomas 267 Keller, Gottfried 315. 323 Kepler, Johannes 60 Kerényi, Karl 275 Kierkegaard, Søren 124. 222–224. 235–241. 243. 381 f. 401 Kjoerup, Sören 336 Kleopatra VII. 240 Kogge, Werner 173. 175 Kohl, Helmut 364 Kohler, Josef 278 Kopernikus, Nikolaus 137 Köselitz, Heinrich 36. 98 Koselleck, Reinhart 262 f. 265. 403 Kraus, Karl 331 Krautz, Hans-Wolfgang 37. 47 Kries, Johannes von 204 Kriwi, Peter 323 Krochmalnik, Daniel IX. 293. 303. 401 f.

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Küchenhoff, Joachim 336 Kuhlen, Rainer 353 La Bruyère, Jean de 316 Lacan, Jacques 76 f. Laclau, Ernesto 286 Ladenthin, Volker 350. 355 Laqueur, Thomas 315 Law, David R. 222 f. Le Goff, Jacques 10 Lebiger-Vogel, Judith 337 Leibniz, Gottfried Wilhelm 54. 66. 68 f. 207. 357 Lenk, Hans 342. 344 Lessing, Gotthold Ephraim 50. 265 Leuzinger-Bohleber, Marianne 339 Levinas, Emmanuel VI. 293. 354 Lewis, Clive Staples 128 Lind, Hermann 19 Locke, John 357 Lonergan, Bernard 177 Lopes, Rogério António 160 Lorenzer, Alfred 337 Loriot 371 Lügner, Heinz-Helmut 172 Luhmann, Niklas VI. 44. 69. 83 f. 116. 218. 230. 264. 354. 375. 386. 392. 394. 398. 405 Lukrez 36. 44 Luther, Martin 223. 295 Lynch, Michael 253 Machiavelli, Niccolò 106 Maimonides, Moses 295. 297 Mann, Thomas 306 f. 323 Marx, Karl 283 f. 287. 343 McFall, Lynne 254 f. Mendelssohn, Moses 297. 301. 385 Mendes-Flohr, Paul 220 Mersch, Dieter 175 Mertens, Wolfgang 337 f. Metken, Sigrid 315 Miaille, Michel 283 f. Mommsen, Theodor 263 Montesquieu 50 Morgenstern, Martin 342 Moro, Andrea 208 Mouffe, Chantal 286

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 Personenregister

Müller, Dietram 21 Müller, Enrico VII. 383–385 Müller, Reimar 34 f. Newton, Isaac 60 Nietzsche, Elisabeth (siehe Förster-Nietzsche, Elisabeth) Nietzsche, Friedrich V–IX. 12 f. 15. 36. 49. 52. 67. 69. 71–112. 115. 119. 124. 126. 136–138. 185–195. 211 f. 233–236. 241. 243–245. 251. 256 f. 265. 275. 278–290. 293. 298. 304 f. 375 f. 380–382. 384–392. 394. 396 f. 400 f. 404 Nirenberg, David 267 Nussbaum, Martha 26 Olsen, Jon Flemming 366 Ott, Konrad VIII. 379–381 Overbeck, Franz 36 Parmenides 205. 208 f. 358. 376–378. 388. 408 Pauly, August Friedrich 6 Peirce, Charles Sanders 343 Petraschek-Heim, Ingeborg 312 Pfeuffer, Silvio IX. 407 f. Philon von Alexandrien 294 Pindar 6 Pippin, Robert B. 92. 97 Platon VII. 3–6. 13. 15–31. 75. 85–88. 90–92. 95. 97. 99. 101 f. 284 f. 357 f. 379. 383–385. 391. 393. 405 Plotin 121. 380 Plutarch 4 f. 240 f. Polja­kova, Ekaterina VIII. 379. 393 f. Pollmann, Arnd 252 Poser, Hans 162 Post, Albert Hermann 278 Pou­lantzas, Nicos 289 Precht, Richard David 371 Pyrrhon 103 Ranke, Leopold 261 Raschi 294 Rauschning, Hermann 306 f. Reginster, Bernard 96 Reich, Anne-Kathrin 324

Reinhardt, Karl 29 Reiss, Kristina 331 Reiss, Steven 327 Rheinberger, Hans-Jörg 340 Richardson, John VIII. 388–390. 397 Ricoeur, Paul 176. 337 Robinson, Armin L. 306 f. Rohde, Erwin 98 Rorty, Amélie 230 f. Rosa, Hartmut 263 Rousseau, Jean-Jacques 276 Rupschus, Andreas VIII. 391. 403 f. Saadia, Gaon 294 f. Sandkühler, Hans Jörg 340 Sandler, Joseph 345 f. Sappho 24 Sartre, Jean-Paul 336. 354 Scheffler, Samuel 252 Scheiper, Petra 315 Schenk, Richard 293 Scherkoske, Greg 253 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 15 Schlicht von Rabenau, Mathias IX. 357–359. 404–406 Schlick, Moritz 341 f. Schmid, Wilhelm 345 Schmitt, Carl 107 f. Schnierer, Thomas 317 Schopenhauer, Arthur 85. 95 f. 98. 121. 233 Schöpf, Alfred 336 Schrift, Alan D. 286 Schulz, Christian Gottfried 58 Schulz, Walter 342 Schurz, Robert 173. 175 Sell, Christian 341 Sellars, Wilfrid 165 Seneca 36 Shaw, Tamsin 101. 110 f. Shusterman, Richard 174 Sigridar-Magnusdottir, Elisabet 82 Simmel, Georg 329 f. Simon, Josef V. 134. 173. 395 Sloterdijk, Peter 354 Sokrates 3–5. 12 f. 15–31. 86. 90. 95. 250. 343. 358. 379. 383–386 Sommer, Andreas Urs 93

Personenregister 

Sophokles 13 Speer, Andreas VII. 3. 6. 9. 385 f. Spencer Brown, George 394 Spranger, Eduard 336 Stemberger, Günter 297 Stern, Daniel 345 Strasser, Stephan 344 f. Strawson, Galen 124 Stoellger, Philipp 173–175 Stoiber, Edmund 350 Suphan, Bernhard 52 Szlezak, Andreas 27 Taine, Hippolyte 98 Tetens, Holm 341 Thales von Milet 13 Theognis von Megara 108 Theweleit, Klaus 352 Thorgeirsdottir, Sigridur VII. 76. 390 f. Thukydides 284–286 Thulstrup, Niels 240 Tizian 319 Tocqueville, Alexis de 263 Tomasello, Michael 182 Tongeren, Paul van VIII. 107. 381–383 Totaro, Francesco VIII. 209. 213. 376–379 Tuckett, David 346 Usener, Hermann 38. 41. 46 Vauvenargues, Marquis de 324 Vidal-Naquet, Pierre 20 Volkert, Lilith 268 Voltaire 50

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Wagner, Astrid 152. 156. 158. 160 Waidenschlager, Christiane 316 Waismann, Friedrich 141 Walach, Helmut 340 Waldenfels, Bernhard 173. 219 f. Warsitz, Rolf-Peter 336 Wassermann, Jakob 221 Weinert, Franz E. 349. 355 Weizsäcker, Carl Friedrich von VIII. 130–137. 145. 394 Weizsäcker, Ernst von 307 Wellhausen, Julius 304 Welsch, Wolfgang 81 Welz, Claudia VIII. 218–220. 223. 230. 401 White, Hayden 261 Wieland, Wolfgang 15. 29 Williams, Bernard 101. 247. 252 Wiltschko, Johannes 81 Wissowa, Georg 6 Wittgenstein, Ludwig V. VIII. 130. 140–145. 148. 165 f. 357 f. 394 Wolfson, Elliot R. 226 f. Wolle, Stefan 267 Wolter, Gundula 315 Yalom, Irvin 396 Zenger, Erich 295 Zimmerli, Walther 297 Zirfas, Jörg 345 Zittel, Claus 283 Zitzlsperger, Philipp 319