Die Not der Fremdvölker unter dem russischen Joche: [Finnland, die Ostseeprovinzen, Litauen und Polen, die Ukraine und Weißrussland, Beßarabien, der Kaukasus] [Reprint 2021 ed.] 9783112426623, 9783112426616

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Die Not der Fremdvölker unter dem russischen Joche: [Finnland, die Ostseeprovinzen, Litauen und Polen, die Ukraine und Weißrussland, Beßarabien, der Kaukasus] [Reprint 2021 ed.]
 9783112426623, 9783112426616

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Die Not -er Fremdvölker unter -em russischen Joche von

H. v. Revelstein Finnland / Die Ostseeprovinzen

Litauen und Polen Oie Llkraine und Weißrußland

Beßarabien / Oer Kaukasus

Berlin 1916 Verlag von Georg Reimer

Die letzten Etappen zum Weltkrieg Deutschland und die große Politik anno 1914 von

Dr. Theodor Schiemann Professor an der Universität Berlin

Gebunden 7 Mark

Preis geheftet 6 Mark

Der Band bringt dem Leser die Etappen, durch welche die große, von England ge­ führte Verschwörung der Welt den Krieg aufzwang, unter dem jetzt alle, Kriegführende wie Neutrale, zu leiden haben und dessen Ziel es sein sollte, vor allem die zentrale Macht­ stellung Deutschlands zu brechen und nebenher die orientalische Frage in einem Sinne zu lösen, der den Untergang Österreich-Ungarns und die Teilung des türkischen Reiches nach sich zu ziehen bestimmt war.

Im Kriegszustand Die Umformung des öffentlichen Lebens in der ersten Kriegswoche von

Dr. I. Iastrow Profeffor an der Universität Berlin

Gebunden 4.60 Mark

Preis geheftet 3.60 Mark

Niemals vorher ist die Tätigkeit eines Volkes im Kriegszustand historisch ausgezeichnet worden; dies Buch, das eine Darstellung der Leistungen unseres Volkes im Kriegszustand gibt, ist das erste seiner Art. Wie gewaltig die Gröhe dieser Leistungen ist, wird dem Leser am leichtesten klar, wenn er erwägt, dah das, was hier beschrieben ist, nur den kurzen Zeit­ raum einer Woche umfaht.

Der Weltkrieg 1914-15 und der Zusammenbruch des Völkerrechts EineAbwehr- undAnklageschrifr gegen die Kriegführung deöDreiverbandeS von

Dr. Müller-Meiningen Oberlandesgerichtsrat, Mitglied des Reichstags u. der bayrischen Abgeordnetenkammer

Prciö geheftet 7 Mark

Dritte Auflage

Gebunden 8 Mark

Der Staat, der am öftesten vertragliche Gelöbnisse gebrochen und das Völkerrecht mit Fühen getreten hat, spielt sich als Vertreter des Völkerrechts auf! Der Verfasser zeigt, wie der Verlauf des Krieges die Unvollkommenheit des geltenden Völkerrechts dartut und die dringliche Notwendigkeit seiner Ausgestaltung und seiner Bürg­ schaften. Dies Buch ist nicht nur eine völkerrechtliche Anklage gegen die barbarische Krieg­ führung des Dreiverbandes, sondern auch eine Ehrenrettung der deutschen Kriegführung gegen die VerleumdiuHen unserer Gegner; es wendet sich an die weitestenKreise des deutschen Volkes, an jeden arpch im neutralen Auslande, dem an einer objektiven Berichterstattung und an dem Siege der Wahrheit über die Lüge und Heuchelei gelegen ist.

Die Not der Zremdvölker

unter dem russischen «Zoche von

H. v. Revelstein.

Berlin 1916.

Berlag von Georg Reimer.

Alle Rechte, insbesondere das der Über­ setzung in fremde Sprachen Vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis Seite

5ur Einführung.............................................................. 5 Zinnland........................................................................... 10 Die Ostfeeprovinzen....................................................... 23

Litauen........................................................................... 36 Polen........................................................................... 45

Die Ukraine undWeihruhland................................ 66 Betzarabien................................................................. 76

Der Kaukasus............................................................ 83 Verzeichnis der benutzten Literatur.........................95

Vie Zremdvölker Rußlands an den Präsidenten Wilson...................................................................... 96

«Zur Einführung. Unter den größeren Staaten der Alten und Neuen Welt gibt es keinen, der in nationaler Beziehung ganz einheitlich wäre, überall sehen wir eine herrschende Rasse, eine nationale Mehr­ heit, die im Lauf ihrer historischen Entwicklung auf dem Wege natürlicher Kraftentfaltung und durch die Schwäche ihrer Nach­ barn zur Herrschaft über fremdstämmige Volker oder Volks­ elemente gelangt ist. Fast überall hören wir die letzteren, nament­ lich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, feit der Entwicklung des Nationalitätsprinzips, über die Behinderung ihrer selbstän­ digen nationalen Entwicklung, über Druck, Willkür und Ver­ gewaltigung Klage führen. Inwieweit diese mehr oder minder beweglich vorgebrachten Klagen, die nur zu oft auf politischer Agitation und einer tendenziösen Entstellung der Tatsachen be­ ruhen, im Einzelfalle auch wirklich gerechtfertigt erscheinen, das entzieht sich meist einer gerechten und unparteiischen Beurteilung und gehört zu den schwierigsten Problemen der inneren Politik in den meisten europäischen Staaten. Im britischen Parlament stellte Lord Salisbury einmal den Grundsatz aus, daß die Herrschaft eines Staates über ein fremdes Volk nur dann eine innere, sittliche Berechtigung habe, wenn das beherrschte Volk auch wirklich kulturell und wirtschaftlich gefördert werde. Obschon dieser Ausspruch eine scharfe, wenn auch vielleicht im Augenblick unbeabsichtigte Verurteilung gerade der englischen Politik in Irland enthält, so können wir unter ge­ wissen Einschränkungen doch sagen, daß die westeuropäischen Kulturländer sich diesen Grundsatz im allgemeinen stets zur Richt­ schnur genommen haben. Namentlich Deutschland ist in seinen östlichen, nördlichen und westlichen Grenzgebieten, wenn wir von einzelnen bureaukratischen Mißgriffen absehen, dieser Forderung

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5ur Einführung.

der politischen Moral stets voll und ganz nachgekommen. Denn selbst die erbittertsten Feinde des Deutschen Reiches werden bei unparteiischer Prüfung zugeben müssen, daß nicht allein die Polen, Litauer und Masuren, sondern auch die Dänen in Nordschleswig und die Franzosen in Elsaß-Lothringen gerade unter der deutschen Herrschaft zu hoher wirtschaftlicher Blüte gelangt sind. Auch in rein politischer Be­ ziehung mußten die versöhnlichen Maßnahmen der neuesten Zeit, der Optanten-Vertrag mit Dänemark von 1907, die Aufhebung des Diktaturparagraphen für Elsaß-Lothringen von 1902 und die neue Verfastung von 1911, allen gerechten Ansprüchen der fremdstämmigen Partikularisten genügen. Völlig anders liegen die Verhältnisse in Rußland. Aus ganz kleinen Anfängen hat sich im Lauf der Jahrhunderte der moskowitische Staat zu seiner jetzigen unerhörten Ausdehnung entwickelt. Beseelt von einem Geist der Eroberung, dem wir in seiner Kühnheit und Großzügigkeit unsere Bewunderung nicht versagen können, drangen die Rusten in der Richtung des schwächsten Widerstandes unaufhaltsam immer weiter nach Osten vor, so daß sie bereits 1699 in den Besitz von Kamtschatka ge­ langten, während die Westgrenze des Zarenreiches zu jener Zeit kaum 400 Kilometer von Moskau entfernt war. In Europa hat Rußland seine gegenwärtigen Grenzen erst 1815 erreicht; dazu kamen dann in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch die Gebiete von Neu-Beßarabien und Datum nach dem letzten Türkenkriege und sehr bedeutende Landerwerbungen in Asien. In diesem ungeheuren Zarenreich, in dem nach Angabe der Ethnographen nicht weniger als 142 Völkerschaften und Völker­ splitter wohnen sollen, erscheint eine einigermaßen ersprießliche Verwaltung nur denkbar, wenn dem staatlichen Leben entweder der Cäsarismus oder der Föderalismus als Grundlage dient. Peter der Große, der Begründer der rustischen Großmacht, hat die stark mongolisch gefärbte Despotie des „moskowitischen Za­ renreiches" in den europäische Signatur tragenden Absolutismus des „russischen Kaisertums" gewandelt, indem er das Prinzip des Cäsaropapismus, die völlige Verschmelzung der weltlichen und geistlichen Macht, der russischen Staatsidee zugrunde legte. Gleichzeitig schuf er nach preußischem Vorbild die russische

our Einführung.

/

Bureaukratie, die auf dem halbasiatischen Boden Rußlands sich bald zu einer unheilvollen Zwischenmacht zwischen dem Zaren und dem eigentlichen Volke auswachsen sollte. Die russische Verfasiung als „Selbstherrschaft" oder „Allein­ herrschaft" des Zaren war auch bis 1905 nur eine Fiktion, die wirkliche Staatsform Rußlands war die Alleinherrschaft der Bureaukratie, die für die Untertanen — wenigstens die wohl­ habenderen — nur durch die sehr weitgehende Korruption der Beamten gemildert wurde. Diese Beamtenschaft hat das moderne Rußland in einen brutalen Pvlizeistaat verwandelt, in welchem die Tausende kleiner Despoten in ihrer Willkür und Gewissen­ losigkeit durch Herkommen und religiöse Tradition durchaus nicht so beengt waren, wie es in den despotischen Staaten des wirk­ lichen Asien der Fall zu sein pflegt. Das Wort „Tschinownik" (Staatsbeamter) ist im heutigen Rußland zu einem Schimpf­ wort geworden. Die national-rusiische Intelligenz bezeichnet ihre Beamtenschaft als „ein vaterlandsloses Geschmeiß, das gleich einer ins Land eingebrochenen Mongolenhorde die unglückliche Bevölkerung bestiehlt, ausplündert und aussaugt". Selbst rusiische Minister nannten sie „einen Krebsschaden, ein Eiter­ geschwür am rusiischen Staatskörper". Bei einer derartigen Stellungnahme der herrschenden Rasse zu der vorwiegend aus ihrer eigenen Mitte herangezvgenen Beamtenschaft kann sich jeder leicht ausmalen, was die mehr oder weniger brutal unter­ drückten Fremdvölker von ihr auszustehen hatten. Die Leidenszeit dieser Fremdvölker fällt ausschließlich in die neuere und neueste Zeit; in das 19. und 20. Jahrhundert. Be­ kanntlich waren im 18. Jahrhundert Polen, Litauen, Kurland und Finnland noch nicht mit dem russischen Reiche vereinigt, während Livland und Estland ihre eigenen deutschen Beamten hatten, die noch bis zur Regierung Alexanders III. zum Nutzen und Segen ihrer engeren Heimat wirken konnten. Auch gab es im 18. Jahrhundert noch kaum nationale Bestrebungen und des­ halb auch keine reaktionären Maßnahmen von feiten der Regie­ rung; die staatsrechtlichen und konfessionellen Vergewaltigungen durch die Kaiserin Katharina II. hatten eine vorübergehende Bedeutung. Freilich ist im russischen Staatsleben, mit ganz ge­ ringen Ausnahmen (Alexander II.), von politischer Moral kaum jemals die Rede gewesen. Selbst gegenüber den halbwilden

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jur Einführung.

Völkerschaften Sibiriens hat die Regierung die im Anfang dieses Abschnitts erwähnten, politisch-ethischen Grundsätze in gröblichster Weise vernachlässigt und die harmlosen Naturkinder der sibirischen Wildnis der schamlosesten Ausbeutung preisgegeben. Daß es sich hierbei nicht etwa nur um Unterlassungssünden handelte, zeigt unter anderem die geradezu verbrecherische Art, in der die Basch­ kiren im südlichen Ural durch den Staat ihrer ausgedehnten Län­ dereien beraubt wurden. Die schrankenlose Willkür und Gewissenlosigkeit der russi­ schen Verwaltung mutzte natürlich besonders schwer auf den west­ lichen Fremdvölkern lasten, deren ganze historische Entwicklung die westeuropäische Kultur zur Grundlage hat. Die treibenden Kräfte für die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich immer mehr verschärfenden Unterdrückungen und Verfolgungen dieser westlichen Völker sind zwiefacher Natur. Zu politischen Erwä­ gungen höherer Art, die sich in Finnland in dem Drange Nutz­ lands zum Atlantischen Ozean, in den Ostseeprvvinzen in einem tiefen Mißtrauen gegen den deutsch-protestantischen Charakter dieses kulturell scharfumgrenzten Gebiets, im ehemaligen König­ reich Polen in der Furcht vor den politischen Hoffnungen seiner Bewohner und der geistigen Macht der katholischen Kirche offen­ baren, kommen noch wichtige Momente völkerpsychologischer Art, Imponderabilien, die in der Tiefe der russischen Volksseele sich bergen, aber in der äußeren und inneren Politik Rußlands deut­ lich genug zutage treten. Es sind das die tiefe, instinktive Ab­ neigung gegen die abendländische, römisch-germanische Kultur, die nebelhaft verschwommenen, byzantinisch-slawischen Größen­ wahnideen, die jedem echten Russen tief im Blute stecken und selbst bei revolutionären Geistern, wie Michael Bakunin und Alexander Herzen, deutlich zutage treten, es ist das Phantastische, Uferlose, eigentümlich Triebhafte im politischen wie im ganzen öffentlichen Leben der Grotzrusien. Das Zusammenwirken dieser verschieden­ artigen Faktoren ist die Ursache, daß die auswärtige Politik Ruß­ lands durch das phantastische Irrlicht der panslawistischen Welt­ mission stets in ein falsches und gefährliches Fahrwasser gedrängt wird, während im Zusammenhänge damit in der inneren Politik ein brutales, fast fanatisches Niedertreten aller vermeintlichen Hin­ dernisse das Leitmotiv abgibt. Die auf die Revolution von 1905 gesetzten Hoffnungen der

5ur Einführung.

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niedergetretenen Völker haben sich bekanntlich nicht erfüllt. Der rusiischen Bureaukratie mußte natürlich alles, was nur entfernt an föderalistische Bestrebungen erinnerte, in tiesster Seele ver­ haßt sein. Aus schwächlichen Kompromissen zwischen den Grund­ sätzen des Absolutismus und des Föderalismus konnte zunächst als Verfassung nur ein politischer Wechselbalg hervorgehen, im besten Falle eine vorläufige Übergangsstufe zu einer politischen Kultur, die Rußland den westeuropäischen Ländern gleichstellen würde. Die Revolution 1905 war von der rusiischen Intelligenz ausgegangen und hatte sich gegen die Bureaukratie gerichtet, deren Stärke sowohl innerhalb wie außerhalb des Landes ebenso unter­ schätzt worden ist, wie die Apathie des rusiischen Volkscharakters. So sehen wir, daß die bereits mit dem Staatsstreich des Wahl­ gesetzes von 1907 mit aller Macht einsetzende Reaktion im Bunde mit dem rusiischen Chauvinismus, den Stolypin sehr geschickt auszunutzen verstand, die spärlichen Errungenschaften der Revo­ lution bis heute bereits fast völlig vernichtet hat. So sehen wir z. B., daß in Finnland die schlimmsten staatsrechtlichen Verge­ waltigungen erst in die Zeit nach 1910 fallen. Wie die Politik der Unterdrückungen im einzelnen gehand­ habt worden ist, das soll nachstehend in gesonderten Abschnitten dargestellt werden. Bei der ethnographischen Mannigfaltigkeit der westlichen, zum großen Teil von den deutschen Truppen be­ setzten Gebiete, vor allem bei der Größe des rusiischen Sünden­ registers, müssen wir auf eine wirklich erschöpfende Darstellung verzichten und uns hier darauf beschränken, das Wesentlichste und Wichtigste aus diesen düstern Blättern der russischen Geschichte in möglichst knapper Form hervorzuheben.

Zinnland. Unter allen Völkerschaften, über welche der Zar gebietet, nehmen die Finnländer bis in die neueste Zeit in staatsrechtlicher Beziehung eine bevorzugte Sonderstellung ein, da ihr Land als selbständiges „Grobfürstentum" nur durch Personalunion mit dem russischen Kaiserreiche verbunden ist. Die von der Petersburger Beamtenhierarchie in neuester Zeit wiederholt unternommenen, vom Zaren Nikolaus II. stets gebilligten, gewaltsamen Eingriffe in die finnländische Verfassung konnten in dem Volksempfinden und der Haltung der Finnländer an dieser rechtlichen Grundlage nichts ändern. Nach seiner historischen Entwicklung auf dem Boden der skandinavischen Kultur ist Finnland nicht nur ein durchaus west­ europäisches Land geworden, sondern gehört jetzt sogar zu den kultiviertesten und gebildetesten Ländern der Erde. Mit seiner großen Lebenskraft und einer Bevölkerungszunahme von 1,38 Prozent, welche diejenige von Schweden und Norwegen weit­ aus übertrifft, könnte das gegenwärtig von der russischen Faust halb erwürgte Land bei günstigen politischen Verhältnissen unter den skandinavischen Staaten zweifellos die erste Stelle einnehmen. In ethnographischer Beziehung ist Finnland, gleich Belgien und der Schweiz, kein einheitlicher Staat, da neben der nationalen Mehrheit der Finnen in den westlichen Küstenstrichen und in den Städten 390,000 Schweden leben, die in kultureller und sozialer Hinsicht von sehr ausschlaggebender Bedeutung sind. Es muß hier gleich vorausgeschickt werden, datz es an nationalen und politischen Zwistigkeiten zwischen diesen beiden Nationalitäten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zwar nicht gefehlt hat, daß aber gerade die unausgesetzten, seit den 80 er Jahren beginnenden Bemühungen der russischen Regierung, einen Keil zwischen beide Völker zu treiben und nach dem bewährten Grund-

Finnland.

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satz „Divide et impera" Zwist und Hader zu entfachen, Finnen und Schweden erst recht zu einer vom gleichen politischen Ver­ ständnis und dem gleichen Patriotismus beseelten Einheit zusammengeschweiht haben. Sechs Jahrhunderte hat Finnland zu Schweden gehört, dem es seine christliche Religion, seine ganze Kultur und bereits seit 1335 die Volksfreiheit verdankt. Erst 1809 wurde es gewaltsam vom Mutterlande getrennt und dem Zarenreich einverleibt, nach­ dem das von Schweden völlig im Stiche gelassene finnische Volk fast ein ganzes Jahr sich mit verzweifelter Tapferkeit gegen die gewaltige russische Übermacht verteidigt hatte. Die weitere Ent­ wicklung des Landes nahm unter russischer Herrschaft einen sehr vielversprechenden, ja glänzenden Verlauf, in erster Linie dank dem Entschlusie des Zaren Alexander I., Finnland „in die Reihe der Nationen zu erheben", indem er das Land mit seiner bisherigen schwedischen Verfasiung als autonomen Staat aner­ kannte. Auf dem im Frühjahr 1809 einberufenen Landtage zu Bargo verlas der Kaiser persönlich das Manifest vom 27. März, durch welches die für Schweden und Finnland feit 1772 geltenden Grundsätze als künftige Grundlage der Konstitution Finnlands sanktioniert wurden. Spätere Generationen Ruhlands haben diese politische Tat des Zaren als einen „groben Fehler" be­ mängelt, doch ist sie von einem höheren historischen Gesichtspunkt jedenfalls das Beste, was dieser in Deutschland sonst sehr über­ schätzte Monarch geschaffen hat. Die Verwaltung des Landes unterstand von jetzt an einer Zentralbehörde, die seit 1816 den Namen „Kaiserlicher Senat für Finnland" erhielt und ihren Sitz in Helsingfors hatte. Vor­ sitzender des Senats war der Generalgouverneur als Chef der Zivilverwaltung, während in Petersburg alle finnländischen An­ gelegenheiten von dem Minister-Staatssekretär für Finnland vor dem Monarchen vertreten wurden. Zu Beamten wurden mit ganz geringen Ausnahmen nur finnländische Bürger ernannt, die offizielle Sprache der Behörden war die schwedische, selbst das alte schwedische Militärwesen wurde zunächst beibehalten. Den Landtag hat Alexander I. während seiner Regierung nicht wieder einberufen, wozu er nach der alten schwedischen Verfasiung auch nicht direkt verpflichtet war. Unter seinem ultrareaktionären Nach­ folger Nikolaus L, dem jeder Gedanke an eine Volksvertretung

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Zinnland.

ein Greuel sein mußte, war an eine solche Einberufung natürlich erst recht nicht zu denken. So verharrte die finnländische Auto­ nomie bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem gewissermaßen latenten Zustande, der den neuerstandenen Staat — was für die gedeihliche Entwicklung des Landes in erster Linie in Betracht kam — jedenfalls gegen das Eindringen der russischen Beamtenhorde wirksam geschützt hat. Wie die Finn­ länder in früheren Zeiten unter den schwedischen Fahnen stets mit besonderer Tapferkeit gefochten hatten, so haben sie in dieser Periode auch mit den Truppen des Zaren an dem Kriege von 1812, dem Türkenkriege von 1829 und der Unterdrückung des polnischen Aufstandes von 1830—1831 mit Auszeichnung teil­ genommen. Die glücklichste Epoche in der Geschichte Finnlands begann mit der Regierung Alexanders II. Diesem humanen und liberal gesinnten Monarchen verdankt Finnland seine konstitutionelle Wiedergeburt, seine Erweckung zu einem wirklich selbständigen politischen Leben, das alle wirtschaftlichen, kulturellen und geisti­ gen Kräfte des Landes zur vollsten Entfaltung und einem staunens­ werten Aufschwung brachte. Während dieser Regierung wurde in der Verwaltung, der Gesetzgebung und Rechtsprechung die vollständige Autonomie Finnlands durchgeführt. Auch die finn­ ländische Volksvertretung, die länger als ein halbes Jahrhundert ausgeschaltet war, wurde von Alexander II. wieder einberufen. Es geschah dies — ohne Zweifel nicht ganz zufällig — im Jahre 1863, unmittelbar nach der blutigen Niederwerfung des zweiten polnischen Aufstandes, nach welcher der Zar das Bedürfnis fühlen mochte, sein Vertrauen zu den loyalen Finnländern in besonders augenfälliger Weise zu betätigen. Nach der 1869 Allerhöchst bestätigten Landtagsordnung sollte der Landtag fortan periodisch alle 5 Jahre einberufen werden; da sich in der Praxis diese Periode als zu lang erwies, wurde sie später auf 3 Jahre verkürzt. Das Land erhielt sein eigenes Münz-, Post- und Zoll­ wesen, sein eigenes Seerecht, und nach dem neuen Wehrpflicht­ gesetz von 1878 auch seine eigene nationale Armee von 100 000 Mann, die nach dem Wortlaut des Gesetzes „den Thron und das Vaterland schützen und dadurch auch zur Verteidigung des Kaiserreichs beizutragen" hatte. Diese unmittelbar nach dem tür­ kischen Kriege, in dem sich die finnländischen Dragoner und Ba-

Finnland.

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taillone sehr ausgezeichnet hatten, erfolgte Begründung einer nationalen Landesarmee mutz als ein sehr augenfälliges Zeichen des monarchischen Wohlwollens und Vertrauens aufgefatzt werden. — Der durch die politische und nationale Selbständigkeit bedingte wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief in einem beinahe fieberhaften Tempo. Die Bevölkerungszahl verdoppelte sich in dieser Zeit, der Han­ delsumsatz und die Zahl der Schisse vervielfältigten sich in wenigen Jahren, es entstand eine blühende Industrie, die durch die Aus­ nutzung der zahlreichen grotzen Wasierfälle sehr begünstigt wurde. Als Alexander II., dem die wichtigsten und einschneidendsten liberalen Reformen in Rutzland wie in Finnland zu danken sind, dem sinnlosen Wüten der rusiischen Anarchisten zum Opfer siel, herrschte in ganz Finnland, ebenso wie in den baltischen Provin­ zen, aufrichtige Trauer und Erbitterung. Seine Dankbarkeit und Verehrung hat das finnländische Volk diesem Herrscher, dem das nordische, von der Natur so stiefmütterlich behandelte Land seine höchste Blüte und Kraftentfaltung verdankt, in dem von Bild­ hauer Runeberg geschaffenen Denkmal in Helsingfors in schöner und sinniger Weise zum Ausdruck gebracht. Mit dem Tode Alexanders II. kam die ganze politische Ent­ wicklung Rutzlands zu einem Stillstand, der sehr bald in eine immer schärfer hervortretende retrograde Bewegung überging. Unter der reaktionären Regierung Alexanders III. begann be­ kanntlich ein mit der grötzten Rücksichtslosigkeit in Angriff ge­ nommenes System der Rusiifizierung kn fast allen Grenzgebieten des Reiches, unter denen in dieser Zeit die baltischen Provinzen am meisten zu leiden halten. Erst in den letzten Regierungs­ jahren dieses Zaren richtete der von panslawistischen Kreisen aus­ gehende und von der rusiischen Hetzpresie geschürte Geist der Unterdrückung seine Spitze auch gegen Finnland, wo seinen zer­ störenden Tendenzen versasiungsrechtlich die grötzten Hindernisse im Wege standen. Die in jene Zeit fallenden, mehr äutzerlichen und formellen Eingriffe in die finnländische Autonomie waren zwar von keiner einschneidenden Bedeutung, erregten aber trotz­ dem in allen Kreisen der Bevölkerung die lebhafteste Beunruhi­ gung. Zuletzt wandte sich eine aus zahlreichen, hervorragenden finnländischen Patrioten bestehende Deputation direkt an den Monarchen, der ihre Bitte um Aufilärung über die Tragweite

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Zinnland.

bei bisher erfolgten Schritte dahin beantwortete, er werde, ent­ sprechend seinem einmal gegebenen Wort, die sinnländischen Grundgesetze in keinem Falle antasten. Mit diesem Bescheid war die Hetze gegen Finnland vorläufig erledigt, denn solange dieser wirkliche Selbstherrscher regierte, durfte kein Minister oder Ver­ waltungsbeamter es wagen, an einem Kaiserwort zu drehen und zu deuteln. — Alexander III. hat während seiner Regierung die politische Entwicklung Rußlands um ein halbes Jahrhundert zurückgeschraubt, aber selbst seine größten Gegner können diesem festen Charakter nicht nachsagen, daß er in seinem Tun und Lassen jemals geschwankt hat. Nach seinem Tode trat in den Beziehungen des Zaren­ reiches zu Finnland ein völliger Umschwung ein. Nikolaus II., dieser seinem starken Vater so sehr unähnliche Sohn, bedachte sich keinen Augenblick, bei seinem Regierungsantritt dem nach Livadia gereisten finnländischen Staatssekretär die Unantastbarkeit der finnländischen Verfassung feierlich zu geloben, was ihn aber nicht davon abgehalten hat, schon einige Jahre später diese Ver­ süssung zu brechen. Die russischen Finnophoben bekamen jetzt wieder Oberwasser, der schamlosen Hetze gegen Finnland ließ man in der russischen nationalistischen Presse wieder die Zügel schießen. Während der Vorbereitungen zum Ansturm auf Finnland griffen die russischen Machthaber auch hier zu ihrem beliebtesten Mittel, bei vorhandenen völkischen und sozialen Gegensätzen, diese nach Möglichkeit zu verschärfen und gegeneinander auszuspielen. Hunderte von russischen Agenten durchzogen in der Verkleidung von Hausierern das Land, um die finnischen „Torpari", die land­ losen Häusler, gegen die besitzenden Klaffen aufzuwiegeln, indem sie ihnen vorspiegelten, der Zar wolle den Schweden allen Grundbesitz fortnehmen und unter das ländliche Proletariat ver­ teilen. Wenn diese von der Regierung ausgehende, niedrige demagogische Hetze in Finnland nicht den Erfolg gehabt hat, wie in den baltischen Provinzen, so ist das nur darauf zurückzuführen, daß die schwedischen und finnischen Bewohner des Landes den von Osten drohenden Wolken zu jener Zeit bereits fest und ge­ einigt gegenüberstanden. Das eigentliche Martyrium Finnlands beginnt erst nach dem Jahre 1898. In diesem Jahre wurde der General Bobrikvff, ein fanatischer Slawophile, der auch vor den brutalsten Maß-

Zinnlant».

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regeln nicht zurückschreckte, zum Generalgouverneur von Finnland ernannt. Den Ausgangspunkt der Russifizierung sollte die Mili­ tärfrage bilden. Nach dem 1898 in Petersburg von einer be­ sonderen Kommission ausgearbeiteten Gesetzentwurf wurde die finnländische Armee aufgehoben, und die Einreihung der wehr­ pflichtigen Finnländer in russische Truppen angeordnet. Zu Be­ ginn des folgenden Jahres wurde dieses Gesetzesprojekt dem Landtage zur „Begutachtung" und nicht, wie es die Verfassung vorschrieb, zur Annahme vorgelegt. Inzwischen wurde am 15. Februar 1899 ein kaiserliches Manifest mit Grundbestimmun­ gen für die Gesetzgebung Finnlands erlassen. Diese Grund­ bestimmungen bezogen sich nicht allein auf die Gesetze, die „den ganzen Umfang des Reiches, einschließlich Finnlands" betrafen, sondern auch auf die ganze finnländische Gesetzgebung, soweit diese mit „den allgemeinen Reichsinteressen oder der Gesetzgebung des Kaiserreiches" in Verbindung stand. Trotz der energischen Proteste des Landtags, der ein solches Verfahren natürlich nicht anerkennen konnte, wurde auf Grund dieser auf ganz ungesetzlichem Wege dekretierten Bestimmungen 1901 das neue Wehrpflichtgesetz für Finnland erlassen. Dabei kam diese neue, noch von einem Schein der Gerechtigkeit um­ gebene Ordnung nur dieses einzige Mal zur Anwendung, wäh­ rend man bei allen weiteren ungesetzlichen Maßnahmen zu der weit einfacheren Form administrativer Verordnung ohne jede Be­ gutachtung durch den Landtag griff. Auf diesem Wege wurde die russische Sprache in allen höheren Behörden eingeführt und alle Beamten, sogar die Richter, der administrativen Strafgewalt unterworfen. Die russische Gendarmerie, der bekanntlich aus­ schließlich die Verfolgung politischer Verbrechen obliegt, wurde über das ganze Land verbreitet und die finnländische Polizei voll­ ständig russifiziert. Als Kuriosum sei hier erwähnt, daß es in der Folgezeit auch zu den Obliegenheiten dieser Polizei gehörte, die Blumenspenden, die das finnische Volk in dankbarer Erinne­ rung an seinen Wohltäter, den Kaiser Alexander II., an seinem Denkmal niederzulegen pflegte, im Schutze der nächtlichen Dunkel­ heit immer wieder zu entfernen! Auch in der russischen und balti­ schen Presse wurden Mitteilungen über derartige Vorgänge von der Zensur stets unterdrückt. Im übrigen ist es für die Rechts­ begriffe und die politische Moral der slawischen Kreise sehr be-

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Finnland.

zeichnend, daß das größte russische Blatt, die „Nowoje Wremja", zu jener Zeit immer wieder daraus ausmerksam machte, daß es der Würde (!) des großen Rußland nicht entspräche, gegen das kleine Finnland gesetzlich vorzugehen. In den Kreisen des russischen Liberalismus herrschten freilich ganz andere, mehr europäische An­ schauungen. So führte 1900 eine Resolution der Moskauer juristischen Gesellschaft, nach welcher im finnisch-russischen Streit­ fälle Recht und Gesetz auf der Seite Finnlands seien, zur soforti­ gen Auflösung dieses wisienschaftlichen Vereins. Das System brutaler Russifizierung erreichte 1902 seinen Höhepunkt in der in diesem Jahre erlassenen Verordnung über die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung in Finnland, zu­ folge welcher der Generalgouverneur diktatorische Gewalt in fast allen Zweigen der Staatsverwaltung erhielt. Um einer solchen Maßregel wenigstens den Anschein der Berech­ tigung zu geben, hatte Bobrikosf jahrelang die größten, wenn auch vergeblichen Anstrengungen gemacht, das ruhige, friedfertige und stets in gesetzlichen Bahnen wandelnde finnische Volk zum Auf­ ruhr zu bringen. In dieser Beziehung ist ein Vorfall sehr be­ zeichnend, der sich bereits im Beginn seiner Amtstätigkeit, im Frühling 1899 abspielte. Man fand damals eines Morgens in Helsingfors eine große Menge anarchistischer Aufrufe in finnischer Sprache. Die Polizei, die sich sogleich daran machte, die Her­ kunft dieser aufrührerischen Proklamationen zu ermitteln, fand schon nach einigen Tagen, daß sie — in der Kanzlei des General­ gouvernements gedruckt waren! Dieser Vorfall ist deshalb von großem Interesse, weil er zeigt, mit welchen verbrecherischen Mitteln die russische Regierung arbeitet, und zugleich die damals noch bestehende Loyalität der Finnländer beweist, die mit solchen Mitteln untergraben werden sollte. In ihrer immer noch unerschütterten monarchischen Gesin­ nung glaubten die Finnländer, der von schlechten Ratgebern ver­ mutlich irregeführte Kaiser könne unmöglich die von ihm 1894 be­ schworene Verfassung verletzen. In diesem Glauben sandten sie eine aus 500 Mitgliedern bestehende Deputation zum Monarchen, die ihn über den wahren Sachverhalt aufklären sollte. Diese De­ putation wurde überhaupt nicht mehr empfangen, und nur zu bald wurde es den Finnländern klar, daß ihr Großfürst mit dem Programm der Russifizierung und des Verfassungsbruches in

Finnland.

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Finnland persönlich vollkommen einverstanden wär. Die Unzu­ friedenheit im ganzen Lande wuchs immer mehr, überall zeigte sich ein festentschlossener, zäher Widerstand, namentlich bei den Beamten, die sich weigerten, die ungesetzlichen Verordnungen zur Ausführung zu bringen. So konnte 1902 auch das neue Wehr­ pflichtgesetz praktisch nicht durchgeführt werden, da sich beim Auf­ gebot die Wehrpflichtigen nur in verschwindend geringer Anzahl stellten. Dieser passive Widerstand rief von russischer Seite immer neue Gewaltmatzregeln hervor. Die verfassungstreuen Beamten wurden abgesetzt, die hervorragendsten Patrioten des Landes ver­ wiesen, Haussuchungen und Verhaftungen gehörten zur Tages­ ordnung und die Presse wurde mit äutzerster Strenge verfolgt. So kam dieses sonst so loyale und ruhige Volk zu der Überzeugung, datz rohe Gewalt nur mit Gewalt be­ kämpft werden kann. Am 16. Juni 1904 wurde der General Bobrikoff, der brutale Vertreter der Gewaltpolitik, von Eugen Schaumann, einem jungen Mann aus der besten Gesellschaft, im Senatsgebäude zu Helsingfors erschaffen. Zwar schwor der Diftator Rußlands, der berüchtigte Minister des Innern, Plehwe, an Finnland blutige Rache für diese Tat zu nehmen, aber schon zwei Monate später fiel er selbst den Bomben russischer Anarchisten zum Opfer. Im Herbst dieses Jahres bildete sich die Partei des aftiven Widerstandes, die sich den russischen revolutionären Parteien eng anschlotz. Von dieser terroristischen Gruppe wurden dann in der Folgezeit mehrere Attentate gegen russische und einheimische Vertreter der Gewalt­ herrschaft verübt. Gerade in dieser Zeit lenkte die von dem japanischen Kriege in Anspruch genommene russische Regierung in ihrer finnländischen Politik wieder in etwas mildere Bahnen ein, ohne daß es jedoch zu einem wirklichen Systemwechsel gekom­ men wäre. Ebenso wie in dem geknechteten russischen Volke, so nahm auch in Finnland der revolutionäre Geist immer mehr überhand; wie bedenklich diese Stimmung bereits geworden war, das zeigte im September 1905 die im Bottnischen Meerbusen er­ folgte Strandung eines mit Waffen beladenen Dampfers, der den Ruffen in die Hände fiel. Als nun im Oktober dieses Jahres der große russische Gene­ ralstreik ausbrach und sich unmittelbar auch auf Finnland ausR e v e l st e i n, Not der Frer»Lv-Iker.

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5innlani>.

dehnte, da schlossen sich unter Führung der Sozialisten und AktiDiftcn alle Klassen der Bevölkerung dieser revolutionären Bewe­ gung an. Der Generalgouverneur und der von Bobrikoff mit seinen Kreaturen besetzte Senat wurden zur Abdankung gezwungen und ein grosser Teil der russischen Gendarmen und Beamten ver­ haftet. Selbst die russischen Militärbehörden wagten es nicht mehr, gegen die Finnländer einzuschreiten, so daß auf kurze Zeit die russische Herrschaft tatsächlich vollkommen ausgeschaltet war. Durch diesen einmütigen Widerstand völlig eingeschüchtert, mutzte die Regierung in Petersburg nachgeben, worauf durch ein kaiser­ liches Manifest vom 4. November fast alle bisher erlassenen ver­ fassungswidrigen Verordnungen wieder aufgehoben wurden, auch das Manifest vom 15. Februar 1899. Der jetzt neu ernannte Senat bestand ganz ausschlietzlich aus Anhängern oder sogar Führern des passiven Widerstandes. Diese ganze revolutionäre Aktion ist von den Finnländern mit Recht nur als die „Wiederherstellung der gesetzmätzigen Ord­ nung" bezeichnet worden. Nach dieser glücklichen Lösung des Konfliktes, von der nur die Sozialdemokraten und die Gruppe der Aktivisten nicht ganz befriedigt waren, folgte eine Zeit der Beruhi­ gung und Sammlung, die zur Wiederaufrichtung des von der russischen Faust Zerstörten und zu liberalen Reformen benutzt wurde. Sv wurde namentlich 1906 die alte ständische Landtags­ ordnung aufgehoben und eine neue Einkommen-Repräsentation auf Grund des allgemeinen und gleichen Stimmrechts eingeführt. Diese neue Landtagsordnung, nach welcher auch die Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten, wurde auch vom Mon­ archen am 20. Juli 1906 bestätigt und bereits im folgenden Jahre ins Leben gerufen. Alle weissichtigen Politiker in Finnland gaben sich darüber keiner Täuschung hin, datz diese Periode ruhiger Entwicklung nur von ganz kurzer Dauer sein konnte, datz nach der blutigen Unter­ drückung der Revolution die Reaktion um so schärfer einsetzen und versuchen würde, auch in Finnland die verlorene Position wieder zurückzuerobern. So wie früher, begann in der Tat bald wieder die übliche Finnlandhetze in der nationalistischen Presse Ruß­ lands, die nicht müde wurde, Finnland als den Hort und die Zu­ flucht aller russischen Anarchisten darzustellen. Namentlich suchte man den 1906 begründeten Turn- und Schützenverein „Voima"

Finnland.

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zu verdächtigen und durch gefälschte Schriftstücke nach­ zuweisen, daß das eigentliche Ziel dieses Sportvereins die Organi­ sation eines bewaffneten Aufstandes fei. So war der Vorwand zur Wiederaufnahme der alten Gewaltpolitik in Finnland leicht gefunden. Alle Versuche des Senatspräsidenten Leo Mechelin, durch weitgehendes Entgegenkommen den drohenden Sturm zu beschwören, waren ganz erfolglos. Der 1905 ernannte, sehr wohl­ wollende Generalgouverneur Gerhard und sein Nachfolger, der General Böckmann, erwiesen sich als Westeuropäer, die für die asiatischen Formen der in Petersburg gewünschten Gewaltpolitik zu wenig Verständnis zeigten. Beide wurden deshalb bald wieder entfernt und durch den General Seyn ersetzt, der gleich Bobrikoff allen Anforderungen nach dieser Richtung im vollsten Umfange entsprach. Der allergefürchtetste Feind Finnlands war aber der kluge und energische Ministerpräsident Stolypin, der in der Folgezeit, unter geschickter Hinzuziehung der von ihm völlig beherrschten Reichsduma und schlauer Ausnutzung der nationalistischen In­ stinkte der russischen Oppositionsparteien, der finnländischen Selb­ ständigkeit die schwersten Schläge versetzt hat. Noch am 28. Mai 1908 versicherte er bei der Entwicklung des Regierungspro­ gramms mit heuchlerisch schlauer Berechnung, daß man keines­ wegs beabsichtige, die autonomen Rechte Finnlands anzutasten, und schon am 2. Juni desselben Jahres wurde durch den vom Monarchen bestätigten Beschluß des Ministerrats dekretiert, daß alle finnländischen Angelegenheiten, die allgemeine Reichsinter­ essen angeblich berührten, vor ihrer Entscheidung vom Minister­ rate geprüft werden sollten. Die Folgen dieser Bestimmung waren unerträgliche Stockungen im ganzen Verwaltungsmechanismus und eine vollständige Verwirrung der finnländischen Staats­ finanzen, mit denen in der Folgezeit ein gewisienloser und scham­ loser Raubbau getrieben wurde, während alle Proteste und über­ haupt die ganze Tätigkeit des Landtages völlig ignoriert wurden. Noch mehr verschlimmerte sich die Lage durch das von der Duma und dem Reichsrat angenommene Gesetz vom 30. Juni 1910, nach welchem alle Finnland angehenden Gesetze und Ver­ ordnungen, die allgemeine Bedeutung für das Reich hatten, der Reichsduma und dem Reichsrat zur Behandlung übergeben werden sollten. Dem Landtage, der 4 Mitglieder in die Duma

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Knnland.

und 2 in den Reichsrat wählen sollte, verblieb dagegen nur das Recht der Begutachtung, während es keinem Zweifel unterliegt, daß nach der finnländischen Verfassung ihm das Recht der Be­ schlußfassung über alle die allgemeine Gesetzgebung betreffenden Angelegenheiten zusteht. So war durch dieses Gesetz die von allen früheren Kaisern bestätigte Konstitution Finnlands tatsächlich ganz illusorisch geworden. Auch nach der Ermordung Stolypins wurde an diesen von ihm gegebenen Richtlinien der russischen Politik nichts geändert. Als Kokowzow 1911 Ministerpräsident geworden war, erklärte er in der Duma, um der Opposition nach dem Munde zu reden, die russische Politik müsie sich vor allem gegen den schwedischen Adel Finnlands richten. Bald nachher hieß es wieder, gerade mit dem schwedischen Element müsie man eine Einigung zu erzielen suchen. So wechselten die Töne, die der politischen Ziehharmonika an der Newa entlockt wurden, nach den jeweiligen, in Petersburg herrschenden Strömungen. Auf dem von dem neuen Gesetz angewiesenen Wege würben nun vom Ministerrate verschiedene Gesetze für Finnland ausge­ arbeitet und zum Teil sogleich zur Ausführung gebracht. Eines der wichtigsten war das Gesetz vom 23. Januar 1912, nach welchem Finnland als Ersatz für die fortan aufgehobene persön­ liche Wehrpflicht eine jährlich wachsende Kontribution zu zahlen hat, die für das Jahr 1911 als Nachzahlung 12 Millionen finni­ sche Mark betragen sollte, um im Jahre 1919 die Summe von 20 Millionen zu erreichen. Von sehr einschneidender Bedeutung war auch das Gesetz vom 6. Februar 1912, nach welchem in Finn­ land sich aufhaltende russische Untertanen die Rechte von finn­ ländischen Staatsbürgern genießen sollten, sowie die Vorschrift vom Jahre 1914, die für das freihändlerische Finnland die Ge­ treidezölle einführte. Daneben kam es zu zahlreichen Maßregeln auf administrativem Wege, die alle den engeren Anschluß der „finnländischen Grenzmark" an das Kaiserreich zum Zweck hatten. Die Haltung der Finnländer in dieser schweren Zeit äußerte sich einerseits in strenger Loyalität gegen Kaiser und Reich auf dem Boden der Verfassung, andererseits in einem zähen, passiven Widerstande und seiner starren Unnachgiebigkeit in allen Rechtsfragen. Der Landtag weigerte sich standhaft, als beratende Be­ hörde an der Reichsgesetzgebung teilzunehmen, und protestierte energisch gegen jede neue Gewaltmaßregel; die wiederholten

Sinnlaitb.

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Landtagsauflösungen blieben stets ganz erfolglos. Sowohl der von Leo Mechelin wie auch der von seinem Nachfolger Edward Hjelt geleitete, ausschließlich aus finnländischen Patrioten zu­ sammengesetzte Senat mutzten in kurzer Zeit demissionieren und einer Behörde Platz machen, die nur aus Russen und gefügigen Werkzeugen der russischen Politik bestand. In eine besonders schlimme Lage gerieten bei den unzähligen, infolge der Russifizierung entstandenen Konflikten und Rechtsbrüchen die verfaflungstreuen Beamten und Richter, die in völlig verfaflungswidriger Weise von russischen Untergerichten abgeurteilt und in Peters­ burger Gefängniflen interniert wurden. Um hier nur ein Bei­ spiel anzuführen, wurden 23 von den 24 Mitgliedern des Hof­ gerichts in Wiborg verhaftet, weil sie fest und unentwegt die Rechte der finnländischen Verfassung verteidigten. Dieses feste Beharren auf dem Rechtsstandpunkt zeigte sich auch bei dem niederen Beamtenpersonal. So haben, als 1912 das ganze Lotsen- und Leuchtturmwesen in Finnland dem russischen Marine­ ministerium unterstellt wurde, fast sämtliche Lotsen ihren Dienst eingestellt, obschon sie damit ihre ganze Existenz in Frage stellten. Die in den letzten drei Jahren ungewöhnlich häufigen Schiff­ brüche an den finnländischen Küsten sind auf diesen törichten Ein­ griff der russischen Regierung zurückzusühren. Die in dem bis dahin mustergültig verwalteten Gebiet der finnländischen Finan­ zen entstehende Verwirrung, die das unglückliche Land in abseh­ barer Zeit dem völligen Ruin zuführen mutzte, wurde immer un­ erträglicher. Im Bau begriffene Schulen und Krankenhäuser konnten nicht vollendet werden, weil die dafür im finnländischen Staatsbudget angewiesenen Summen von der russischen Regie­ rung beschlagnahmt werden. Die überbürdung der Schulen mit russischem Lehrstpff führte zu einem bemerkbaren Sinken der Volks­ bildung, ohne die Kenntnis der russischen Sprache zu fördern. Es würde zu weit führen, alle in den letzten Jahren durch die russische Faust im finnländischen Staatsmechanismus hervorgerufenen Hemmungen und Störungen hier aufzuzählen. Dieses anscheinend ganz sinnlose Wüten gegen ein wohl­ geordnetes und bis in die letzte Zeit loyales Staatswesen ist inner­ halb Finnlands in seinen eigentlichen Motiven und Zielen von der breiten Öffentlichkeit völlig mißverstanden und nur für eine Äußerung des nationalen russischen Chauvinismus gehalten wor-

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Finnland.

den. Demgegenüber ist zunächst in Betracht zu ziehen, dasz bereits 1854 in Rußland die Furcht bestand, Schweden könne die günstige Gelegenheit benutzen, um die verlorene Provinz zurück­ zuerobern. Diese Furcht ist auch jetzt wieder um so begründeter, als alle politisch denkenden Schweden nicht mehr daran zweifeln, daß der russischen Finnlandspolitik imperialistische, auf den skandi­ navischen Norden gerichtete Tendenzen zugrunde liegen. Dieser russische, beständig nach Erweiterung seiner Grenzen strebende Imperialismus, der einen früher oder später sicher eintretenden Raubzug an den nur 25 km entfernten Atlantischen Ozean fest im Auge behält, muß natürlich darauf bedacht sein, das in seinem Machtbereich liegende Bollwerk skandinavischer Kultur zuvor niederzutreten. Nach dem Ausbruch des gegenwärtigen Krieges hat sich die Lage Finnlands noch wesentlich verschlimmert. Daß auf russische, in kritischen Momenten abgegebene, Versprechungen kein Verlaß ist, wissen die Finnländer natürlich ebensogut wie die Polen; schon die Erfahrungen nach der Revolution von 1905 haben sie zur Genüge darüber belehrt. Man hat es übrigens nicht einmal für nötig gehalten, das völlig geknechtete und entwaffnete Land durch solche Versprechungen an sich zu fesseln. Der vom General­ gouverneur Seym verhängte Kriegszustand wurde im Gegenteil zu verschärften Gewaltmaßregeln benutzt, die in einem Erlaß des Zaren vom 4. November 1914 ihre offizielle Billigung fanden. Und noch im Herbst 1915 soll Nikolaus II. sich persönlich dahin geäußert haben, man müsse noch weit schärfer gegen Finnland vorgehen! Unter diesen Umständen kann man sich leicht vorstellen, in welche entsetzliche Lage das unglückliche, seit 15 Jahren immer mehr niedergetretene Land gerade gegenwärtig geraten ist. Das Gefühl, daß die voraussichtlich durch den Weltkrieg zu erwarten­ den Umwälzungen auch für Finnland eine große Bedeutung haben könnten, muß sich bei den Bewohnern dieses Landes jetzt natürlich stark geltend machen. Wir sind nicht in der Lage, an dieser Stelle auf die Gefühle und Stimmungen dieses so brutal vergewaltigten Volkes näher einzugehen, aber der ganzen Sachlage nach kann auch der Fernstehende über sie kaum mehr im Zweifel sein. Das eigentlich Hoffnungslose der Lage wird vor allem durch die oben erwähnte russische Expansionspolitik bedingt, welche die Vernich-

Die Ostseeprovinreii.

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tung Finnlands als eine unabweisliche Forderung voraussetzt und selbst bei großen inneren Umwälzungen in Rußland auf die Dauer kaum eine Änderung erfahren dürfte. Und gerade aus diesem Grunde unterliegt es leider keinem Zweifel, daß für diesen hochentwickelten, ganz und gar auf fried­ liche Arbeit eingestellten Kulturstaat ein ferneres ersprießliches Zusammenleben mit dem Zarenreiche ganz ausgeschlosien erscheint.

Die Ostseeproviryen. Fast vier Jahrhunderte haben die Ostseeprovinzen, Kurland, Livland und Estland, als deutsches Ordensland zum Deutschen Reiche gehört. Nach dem Zusammenbruch des livländischen Ordensstaates haben die einzelnen Teile des Gebiets zu verschie­ denen Zeiten unter polnischer, dänischer und schwedischer Herrschaft gestanden, bis Peter der Große im Nordischen Kriege die damals schwedischen Provinzen Livland und Estland eroberte, während das Herzogtum Kurland erst 1795 mit dem Zarenreich vereinigt wurde. Im Nystädter Frieden von 1721 hat Peter der Große die mit seinem Feldmarschall, dem Grafen Scheremetjew, bereits 1710 abgeschlossenen Kapitulationen der baltischen Ritterschaften und Städte feierlich bestätigt. In diesen Kapitulationen hatten die eroberten Provinzen sich die Aufrechterhaltung des „Privilegium Sigismundi Augusti“ ausbedungen, in welchem der König von Polen 1561 den Livländern die alte Landesverfassung, die Frei­ heit des evangelischen Glaubens, deutsches Recht, deutsche Ver­ waltung und deutsches Schulwesen zugesichert hatte. Dieser Gnadenbrief des polnischen Königs, dessen Landesrechte später von Gustav Adolf auch auf die Magistrate von Riga und Reval ausgedehnt wurden, bildete fortan die bis zur Mitte des 19. Jahr-

Die Ostseeprovinreii.

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tung Finnlands als eine unabweisliche Forderung voraussetzt und selbst bei großen inneren Umwälzungen in Rußland auf die Dauer kaum eine Änderung erfahren dürfte. Und gerade aus diesem Grunde unterliegt es leider keinem Zweifel, daß für diesen hochentwickelten, ganz und gar auf fried­ liche Arbeit eingestellten Kulturstaat ein ferneres ersprießliches Zusammenleben mit dem Zarenreiche ganz ausgeschlosien erscheint.

Die Ostseeproviryen. Fast vier Jahrhunderte haben die Ostseeprovinzen, Kurland, Livland und Estland, als deutsches Ordensland zum Deutschen Reiche gehört. Nach dem Zusammenbruch des livländischen Ordensstaates haben die einzelnen Teile des Gebiets zu verschie­ denen Zeiten unter polnischer, dänischer und schwedischer Herrschaft gestanden, bis Peter der Große im Nordischen Kriege die damals schwedischen Provinzen Livland und Estland eroberte, während das Herzogtum Kurland erst 1795 mit dem Zarenreich vereinigt wurde. Im Nystädter Frieden von 1721 hat Peter der Große die mit seinem Feldmarschall, dem Grafen Scheremetjew, bereits 1710 abgeschlossenen Kapitulationen der baltischen Ritterschaften und Städte feierlich bestätigt. In diesen Kapitulationen hatten die eroberten Provinzen sich die Aufrechterhaltung des „Privilegium Sigismundi Augusti“ ausbedungen, in welchem der König von Polen 1561 den Livländern die alte Landesverfassung, die Frei­ heit des evangelischen Glaubens, deutsches Recht, deutsche Ver­ waltung und deutsches Schulwesen zugesichert hatte. Dieser Gnadenbrief des polnischen Königs, dessen Landesrechte später von Gustav Adolf auch auf die Magistrate von Riga und Reval ausgedehnt wurden, bildete fortan die bis zur Mitte des 19. Jahr-

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Die OstsWprovinM.

Hunderts kaum angetastete Magna Charta der baltischen Selbst­ verwaltung. Peter der Große und zunächst auch seine Nach­ folger haben ihr Wort ebenso gehalten, wie die früheren polni­ schen und schwedischen Herrscher des Landes. So war für das durch unaufhörliche Kriege furchtbar verwüstete und zerrüttete Land die russische Herrschaft im 18. Jahrhundert im allgemeinen eine Zeit ruhiger und friedlicher Entwicklung, die zum Wieder­ aufbau des Zerstörten benutzt werden konnte und durch das Ein­ greifen der russischen Staatsgewalt damals noch nicht gestört wurde. Erst die Kaiserin Katharina II. versuchte, im Widerspruch zu den verbrieften Rechten des Landes, einen engeren staats­ rechtlichen Anschluß der Provinzen an das Reich herbeizuführen. Durch einen einfachen Gewaltakt hob sie 1783 die Ritterschaften in Livland, Estland und auf der Insel Oesel auf und ersetzte sie durch zwei Statthalterschaften in Riga und Reval. Alle Vor­ stellungen und Proteste der balttschen Stände blieben während der Regierung dieser Monarchin ohne jeden Erfolg und sind zum größten Teil wohl gar nicht bis zu ihr gelangt. Erst von ihrem Sohne, dem Kaiser Paul I., wurde fast unmittelbar nach dem Tode seiner ungeliebten Mutter die alte Verfasiung wiederhergestellt, so daß bereits am 28. November 1796 diese Ritterschaften wieder ins Leben traten. Überhaupt hat dieser unglückliche Monarch während seiner kurzen und im übrigen recht unheilvollen Regie­ rung den baltischen Provinzen gegenüber eine recht wohlwollende Haltung eingenommen. Das gleiche gilt von seinem Sohn Alexander I., unter dessen Regierung im Jahre 1802 die frühere, bereits 1632 von Gustav Adolf gegründete, deutsch-protestantische Landesuniversität in Dorpat erneut ins Leben gerufen, seit 1804 aus eigener Initiative des baltischen Adels mit der Bauern­ befreiung begonnen und die Abschaffung der Leibeigenschaft bis 1819 in allen drei Provinzen durchgeführt wurde. Erst unter der reaktionären Regierung des rücksichtslosen Autokraten Nikolaus I. erfolgten die ersten ernstlichen Verstöße gegen die Grundlagen der baltischen Sonderrechte, die mit Aus­ nahme der erwähnten Episode unter Katharina II. bisher von allen russischen Herrschern streng respeftiert worden waren. Wäh­ rend in Finnland die lutherische Landesftrche unter der russischen Gewaltpolitik bis heute nicht gelitten hat, war in den baltischen

Die Ostseeprovinzen.

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Provinzen zunächst das kirchliche Gebiet diesen Eingriffen aus­ gesetzt, die sich gegen die evangelische Glaubensfreiheit und die selbständige Stellung der baltischen Landeskirche richteten. Die bisherige Organisation dieser Kirche gründete sich auf die unter der schwedischen Regierung erlassene Kirchenvrdnung von 1686. Durch das Gesetz für die evangelisch-lutherische Kirche in Ruß­ land vom 28. Dezember 1832 wurde nun eine Zentralbehörde in Petersburg, das evangelisch-lutherische Generalkonsistorium, ge­ schaffen, dem alle auf die evangelisch-lutherische Kirche im Reich bezüglichen Angelegenheiten, mithin auch das gesamte Kirchenwesen in den Ostseeprovinzen, übertragen wurden. Staatsrechtlich ist die griechisch-orthodoxe Kirche in Rußland die allein herrschende, neben der alle anderen christlichen Konfestionen nur die Bedeutung von geduldeten Religionsgemeinschaften haben. In die Stellung der letzteren wurde durch dieses Gesetz die evangelische Kirche der Ostfeeprovinzen herabgedrängt, sie hörte auf, Landeskirche zu sein. Die hierdurch bewirke Rechtsverletzung bezog sich auf den Punft 10 des Nystädter Friedensvertrages, nach welchem die rufsstche Staatskirche in baltischen Landen nur die Gleichberechti­ gung erhielt. Von nun ab galten alle reichsrechtlichen auf die griechisch-rechtgläubige Kirche sich beziehenden Gesetzesbestimmungen ohne weiteres auch für die Ostseeprovinzen. Damit war auf kirchlichem Gebiet der Rechtsboden zerstört und jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet. Mit Erstaunen und Bestürzung hörte man bald nachher, daß der Zar durch einen Erlaß vom Jahre 1836 die Errichtung eines griechisch-orthodoxen Bistums in Riga anbefohlen habe. Da die Rusten in den Provinzen in verschwindend geringer Zahl ver­ treten waren und zum größten Teil zu den Sektierern gehörten, so konnte dieses neue Bistum offenbar nur Propagandazwecken dienen. Dieser eigentliche Zweck sollte auch bald genug zutage treten, nachdem noch in Pleskau ein geistliches Seminar eröffnet war, in dem Rusten in der lettischen und estnischen Sprache Unterricht erhielten. Seit dem Jahre 1841 begann dann eine eifrige Propaganda unter dem baltischen Landvolk, die seit 1845 unter der fanatischen Beihilfe des berüchtigten Generalgouver­ neurs Golowin besonders scharfe Formen annahm. Jedes Mittel war den Leitern dieser Bewegung recht, um zum erwünschten Ziele zu gelangen. Gewalt, Drohung oder Überredung. Man

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Die Ostseeprovin-en.

versprach unentgeltliche Landzuteilung, Steuerfreiheit, Befreiung vom Militärdienst (!), Niederschlagung krimineller Untersuchun­ gen und weltliche Vorteile verschiedener Art. Besonders pflegte man damit zu drohen, daß die nicht „Bekehrten" vom Adel wie­ der zu Leibeigenen gemacht werden sollten! Der Erfolg dieser gewissenlosen Machenschaften war leider ein recht beachtenswerter — es find damals wohl 14 000 Bauern zur Staatskirche über­ getreten. Die erzielten Erfolge führten zu einem kaiserlichen Be­ fehl, der die Erbauung von 25 neuen russischen Kirchen zu den vorhandenen neun anordnete und der russischen Geistlichkeit das Recht erteilte, die Grundstücke sür die. neuen Kirchen von den baltischen Gutsbesitzern ohne Entschädigung zu ent­ eignen! Die moralische Wirkung auf die ganze Bevölkerung war eine sehr tiefgreifende. Überall zeigte sich eine tiefgehende Erregung, besonders auch, weil die den „Bekehrten" gemachten Versprechun­ gen natürlich nicht eingehalten wurden. Ein Zurück aus der Staatskirche war ja unmöglich; so gab es unter den Betrogenen nicht wenige, die von der Erbitterung und Gewissenspein erfüllt, zur Verzweiflung und zum Selbstmorde getrieben wurden. Die protestantischen Geistlichen, die durch diese Zustände in die schwer­ sten Gewissenskonflikte gerieten, wurden nun für alle zutage ge­ tretenen übelstände verantwortlich gemacht. Mit einem förmlichen System von Denunziationen und Untersuchungen, das in seiner Brutalität und Gemeinheit in unserem aufgeklärten Zeitalter wohl einzig dasteht, wurde namentlich vom fanatischen Bischof Philaret gegen die evangelischen Prediger vorgegangen. So wurde der livländische Pastor Körber z. B. wegen „Schmähung der Staatskirche" vor Gericht gestellt, weil er den Bauern seiner Gemeinde erklärt hatte, ein Christ dürfe seinen Glauben nicht ver­ schachern, auch sei bei einem Pferdetausch „dasjenige Pferd das wertlosere, das man nur mit einem Draufgeld umtauschen könne". Häufig wurden Gendarmerieoffiziere zu den Predigern beordert, um sie über die Bedeutung ihrer gehaltenen Predigten und „den Geist ihrer Lehre" auszuftagen. Fast immer fanden die gericht­ lichen Untersuchungen unter Umgehung des Konsistoriums und unter Verletzung des geltenden Rechts statt. Es erscheint erstaunlich, daß unter einem Zaren, dessen Bild in der Geschichte als ein zweifellos ehrenhafter Charakter von

Die Ol'tserprovmzen.

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harten aber geraden Linien dasteht, eine derartige Schandwirt­ schaft möglich war. Allerdings vollzogen sich die schlimmsten Machenschaften während einer längeren Auslandsreise des Monarchen, der die empörenden Einzelheiten dieser Kirchenpolitik kaum jemals erfahren hat. Eine vorübergehende Besserung dieser Verhältnisse trat erst nach der 1848 erfolgten Ernennung des Fürsten Suworoff zum Generalgouverneur der Ostseeprovinzen ein. Unter der Verwaltung dieses humanen und aufgeklärten Mannes, dessen Tätigkeit zu den wenigen Lichtpunkten in der Geschichte der russisch-baltischen Beziehungen gehört, wurden wenigstens den beständigen Denunziationen und brutalen Verfol­ gungen der evangelischen Prediger Schranken gesetzt. Immerhin wurden auch unter der nachfolgenden Re­ gierung durch die zunehmende Verwilderung des Landvolkes, durch die Mischehen und zahlreichen wilden Ehen, die geschlossen wurden, um den kirchlichen Bedrückungen zu entgehen, die Zu­ stände allmählich so himmelschreiend, daß Alexander II. 1864 den Flügeladjutanten Grafen Bobrinsky mit einer Inspektionsreise nach Livland betraute. In seinem Bericht an den Zaren sagt Graf Bobrinsky u. a. wörtlich: „Es ist mir als rechtgläubigem Russen peinlich gewesen, mit eigenen Augen die Erniedrigung der russischen Rechtgläubigkeit als Folge eines klar erwiese­ nen offiziellen Betruges sehen zu müssen." Dem russischen Erzbischof von Riga, Platon, gelang es jedoch, in einem zweiten, lügenhaften und verleumderischen Bericht die Enthüllun­ gen Bobrinskys so abzuschwächen und zu entstellen, daß zunächst alles beim alten blieb. Aber nicht allein in den Ostseeprovinzen, sondern auch in der preußischen Geistlichkeit wurde die Erregung über die Vergewaltigung der evangelischen Kirche im Baltikum schließlich so groß, daß sich Bismarck 1864 veranlaßt sah, in einer diplomatisch ungewöhnlich schlauen Weise, durch Vermittlung des russischen Botschafters v. Oubril, beim Zaren für die baltische Geistlichkeit einzutreten. Ihm ist es in erster Linie zu verdanken, daß das Hauptübel, der sogenannte Revers, in dem die Eltern bei Mischehen sich verpflichten mußten, ihre Kinder in der russi­ schen Staatskirche zu erziehen, durch einen zarischen Ukas von 1865 aufgehoben wurde. Die Bedrückungen der evangelischen Kirche sind zwar in einer späteren Zeit noch sehr viel schlimmer geworden, aber was der preußische Ministerpräsident 1865 er-

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Vie Ostfeeprovinzen.

reicht hatte, konnte unter völlig veränderten politischen Verhält­ nissen der Kanzler des Deutschen Reiches nicht mehr wagen. Obschon Stadt und Land in den baltischen Provinzen keinem russischen Herrscher so viel verdanken, wie dem humanen und liberal gesinnten Alexander II., so begann doch unter seiner Re­ gierung eine gegen das baltische Deutschtum gerichtete, an Maß­ losigkeit und Verlogenheit immer mehr zunehmende Hetze in der russischen Presse, in welcher der bekannte Slawophile Katkow und der berüchtigte demokratische Politiker Samarin sich besonders hervortaten. Diese Erscheinung ist auf zwei Ursachen zurückzu­ führen, auf die starke demokratische Strömung, die in Rußland zu jener Zeit immer mchr zur Herrschaft gelangte, und aus Erwägun­ gen der auswärtigen Politik. Schon 1864 und noch mehr 1866 wurde das erstarkende Preußen, das man unter Nikolaus I. fast als einen russischen Vasallenstaat angesehen hatte, mit wachsendem Mißtrauen betrachtet — einem Mißtrauen, das nach Begrün­ dung des Deutschen Reiches zur offenen Feindseligkeit wurde, und in der Furcht vor dem mächtigen Nachbar seine schlimmen Rück­ wirkungen auf das baltische Gebiet bis heute fortdauernd aus­ geübt hat. Trotzdem kam es unter dieser Regierung noch zu keinen ernstlichen Versuchen der Russifizierung, so daß auch nach der 1877 erfolgten Einführung der russischen Städteordnung in den baltischen Provinzen die amtliche Sprache in den städtischen Verwaltungen die deutsche blieb, während in die Organe der ländlichen Selbstverwaltung überhaupt keine Eingriffe erfolgten. Mit dem Regierungsantritt Alexanders III., der die balti­ schen Sonderrechte nicht mehr mit Hand und Siegel bestätigte, wie es sein Vater noch getan hatte, begann dann der mit brutaler Rücksichtslosigkeit geführte Vernichtungskampf gegen alles, was deuffcher Geist und deutsche Kraft in sieben Jahrhunderten in den Ostseeprvvinzen geschaffen hatten. Zunächst wurde der Toleranzbefehl von 1865, den der fanatische Oberprokurator des Heiligen Synods, Pobedonoszew, als „eine Kränkung für ganz Rußland" bezeichnet hatte, sofort aufgehoben. Im Jahre 1885 wurde der livländischen Ritterschaft die Weisung erteilt, keine Gesuche um Glaubensfreiheit mehr einzureichen, und am 13. Ok­ tober dieses Jahres erfolgte die Vorschrift des Ministers des Innern, daß zum Bau protestantischer Kirchen die Genehmigung der russischen Episkopalobrigkeit erforderlich sei.

Vie Ojtseeprooiryen.

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So mußte die unglückliche Bevölkerung alles, was sie in den vierziger Jahren auf kirchlichem Gebiet erduldet hatte, nun noch­ mals, und zwar in wesentlich verschärftem Grade, über sich ergehen lasten. Die Zustände waren jetzt um so schlimmer, als nun eine wilde Hetze hinter allen Seelen begann, die nach dem er­ wähnten Toleranzbefehl zur evangelischen Kirche zurückgekehrt waren. Spionage, Angeberei und fortwährende gerichtliche Untersuchungen feierten wahre Orgien; die Kinder aus Mischehen, die in den Lehren der evangelischen Kirche erzogen wurden, ent­ riß man gewaltsam den unglücklichen Eltern, die eingekerkert wur­ den, während jede seelsorgerische Tätigkeit der Prediger völlig unterbunden wurde. Gegen letztere, als die „Hauptschuldigen", ging man natürlich besonders scharf vor; so haben in den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts mehr als 200 der berüchtigten Pastorenprozeste stattgefunden, die meist mit Amts­ entsetzung und Verbannung der Angeklagten endeten. Es mutz hier besonders hervorgehoben werden, daß selbst die drei Jahr­ hunderte ftüher, während der katholischen Gegenreformation in Livland, von polnischen und italienischen Jesuiten eingeleitete Pro­ paganda sich doch in schr viel feineren und zivilisierteren Grenzen gchalten hatte. Auf ftrchlichem Gebiet hatte der Ansturm des MoskowiterIums begonnen, aber mit dem gleichen brutalen Fanatismus richtete er sich jetzt auch gegen alle Bollwerke, die der deutsche Geist des Landes an Kultur und Gesittung hier errichtet hatte. Die baltischen Venvaltungsbchörden, die bisher teils von den Landtagen, teils von den städtischen Magistraten gewählt worden waren, wurden endgültig beseitigt und durch russische Beamte er­ setzt, die sich mit dem größten Zynismus über jeden Begriff des Rechtes hinwegsetzten. Seit 1889 wurden diese Maßnahmen durchgeführt, und 1892 durch die neue reakttonäre Städteordnung der letzte Rest der Selbständigkeit in den baltischen Städten be­ seitigt, die damit völlig unter die Vormundschaft der Gouverneure gestellt wurden. Auf dem Lande wurde hier, wie in anderen westlichen Grenzgebieten, ein ganz neuer Beamtentypus ge­ schaffen, die „Bauernkommistare", welche angeblich die Interesten der bäuerlichen Gemeinden zu vertteten hatten. Diese anscheinend ganz zwecklose, sowohl im Innern des Reiches wie in Westeuropa fehlende Instttution hat in Wirklichkeit die Aufgabe, in allen ge-

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'Die Ostjeeprovinzen.

mischt-sprachlichen Bezirken die Verhetzung der einzelnen Natio­ nalitäten und sozialen Schichten nach Möglichkeit zu fördern. Die Tätigkeit dieser Bauernkvmmissare, die auch während der Revo­ lution von 1905 eine sehr unheilvolle Rolle gespielt haben, ist mithin aus ganz andere Ziele gerichtet, als die der früheren „Friedensvermittler", die nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Innern Rußlands zur Neuordnung der agraren Verhältnisse einige Jahre tätig waren und dann als unnötig aufgehoben wurden. Von einschneidender Bedeutung für das Land war die ebenfalls 1889 durchgeführte Umgestaltung und völlige Russifizierung der baltischen Justizbehörden. Die Klagen der Balten über diese Iustizreform sind in Deutschland auch in konservativen Kreisen im allgemeinen nicht als gerechtfertigt anerkannt worden, da — wie man meinte — ein deutsches, zwar historisch ehrwürdi­ ges aber ganz veraltetes und umständliches Gerichtsverfahren durch ein modernen Ansprüchen mehr genügendes ersetzt worden sei. Diese Auffassung ist theoretisch zwar ganz richtig, in der Praxis aber hat sich dieses „moderne", mit politischen Tendenzen eng verquickte Gerichtsverfahren so gestaltet, daß die Recht­ sprechung fortan in den Händen landfremder Richter lag, denen die Landessprachen ebenso unbekannt waren, wie das bis heute noch geltende baltische Provinzialrecht. Dazu kam noch, daß die Gerichtsverhandlungen allzusehr in oft recht unheilvoller Weise von vielfach unzuverlässigen und bestechlichen Dolmetschern be­ einflußt wurden. Die unausbleibliche Folge dieser Verhältnisse waren ost ganz schiefe, unklare und praktisch ganz undurchführ­ bare Gerichtsurteile und eine immer mehr zunehmende Rechts­ unsicherheit. Auch die bewußte Tendenz, den starken politischen und sozialen Einfluß des baltischen Deutschtums zu brechen, trat häufig klar genug zutage. Wenn einzelne der neuen Friedens­ richter, unter denen es manche Ukrainer und Polen gab, sich wirk­ lich gewissenhaft bemühten, unter Ausschluß jeder gouvernementalen Beeinflussung, völlig unparteiisch Recht und Gesetz hoch­ zuhalten, so lag das durchaus nicht in den Inten­ tionen der Regierung. Die baltischen Landtage, in denen sich vor allem die Selbst­ verwaltung des Landes verkörpert, wurden noch nicht angetastet. Man scheute sich in Petersburg offenbar, einen Faktor zu beseiti-

Die Oj'tseeprovinzen.

gen, dessen Verschwinden eine völlige Verwirrung im Lande hervor­ gerufen hätte, eine Verwirrung, der die russische Bureaukratie wohl kaum gewachsen gewesen wäre. Die Gouverneure mutzten sich deshalb darauf beschränken, gegen die einzelnen Beschlüste der Landtage — allerdings meist ohne Erfolg — zu protestieren, was meist in einer ganz sinn- und zwecklosen Weise geschah. So legte z. B. der Gouverneur von Estland gegen die Bewilligung einer Geldsumme zur Anschaffung von Feuerspritzen Protest (!) ein, vermutlich, weil nach seiner Ansicht die Sicherung baltischer Ge­ bäude gegen Feuersgefahr nicht im russischen Interesse lag. — Waren so die Grundlagen der baltischen Selbstverwaltung auch erhalten geblieben, so wurde doch die sozialpolitische Reformtätig­ keit des baltischen Adels jetzt völlig lahmgelegt und damit einer sozialen Arbeit ein Ende gemacht, die bis zur Regierung Alexan­ ders III. viel Mustergültiges, selbst in vielen westeuropäischen Ländern bisher noch Unerreichtes geschaffen hat. So wurde noch 1885 ein liberales Reformprvjekt des baltischen Adels, durch welches die Bauern im höheren Grade zur Selbstverwaltung her­ angezogen werden sollten, von der Regierung überhaupt gar nicht berücksichtigt. Trotzdem nahmen die unaufhörlichen Verleumdungen der „reaktionären Junker" in der russischen Presie kein Ende. Die baltischen Edelleute gewöhnten sich schlietzlich daran, diese Flut von Schmähungen mit demselben Gleichmut hinzunehmen, wie den gelegentlichen Hagelschlag auf ihren Feldern. Die Sachlage wird am treffendsten durch das Wort eines Livländers jener Zeit gekennzeichnet: „Wir Balten verbringen die eine Hälfte unseres Lebens damit, nichts Unrechtes zu tun, und die andere damit, nachzuweisen, datz wir nichts Unrechtes getan haben." Am schlimmsten aber offenbarten sich die verheerenden Wir­ kungen der Russifizierung auf dem Gebiet des baltischen Unter­ richtswesens, das dem deutschen Volke so viele hervorragende Männer der Wistenschaft geliefert hat. Zwar hatte der Slawophile Katkow bereits in den 60 er Jahren die Warnung ausge­ sprochen, von dem hochentwickelten Schulwesen in den Ostsee­ provinzen solle die Regierung ihre Finger lasten, aber der 1883 zum Kurator des Dorpater Lehrbezirks ernannte Professor Kapustin meinte, er wiste zwar recht gut, datz er hier eine hohe Kultur zerstöre, müsse aber den Ansprüchen der „russischen Staatsraison" genügen! So wurden bereits 1886 die Dorf- und

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Die OMeprovinren.

Parochialschulen der bisherigen Aufsicht der lutherischen Geist­ lichkeit und des Adels entzogen und dem Ministerium der Volks­ aufklärung unterstellt, das in Rußland im Volksmunde bekannt­ lich das „Ministerium der Volksverdummung" genannt wird. Es begann nun eine echt russische Wirtschaft. Die Aufficht über das baltische Volksschulwesen erhielten jetzt russische Beamte, ein Volksschuldireftor und zahlreiche Volksschulinspeftoren, die zunächst die alten, bewährten, in wissenschaftlichen Seminaren ausgebildeten Lehrer zum großen Teil entfernten und durch höchst anrüchige Elemente ersetzten, welche oft schon gegen eine Zahlung von 25 Rubeln den Befähigungsnachweis zum Lehramt erhielten. Der livländische Volksschuldirektor erklärte 1903 aus einer Sitzung in Riga: „Der Hauptzweck der Schule ist die Er­ lernung der russischen Sprache." Im gleichen Sinne äußerte sich ein Inspeftor in einer Ansprache in einer estnischen Mädchenschule: „Mädchen, lernt Russisch! Wer nicht russisch versteht, ist dumm! Religion ist nicht so wichtig wie das Russische! Wozu nützt auch die Religion?" Die zweifelhaften Elemente, in deren Händen jetzt die Erziehung der ländlichen Jugend lag, brachten es in wenigen Jahren fertig, eine unglaubliche sittliche und religiöse Verwilderung in der Heranwachsenden Jugend zu erzeugen. Schließlich gingen diese, von einer verbrecherischen Regierung dem Lande aufgedrängten Volksverderber so weit, die Kinder in Versammlungen zu führen, in denen sie über die „freie Liebe" aufgeklärt und zum Singen revolutio­ närer Lieder nach Choralmelodien angehalten wurden. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß alle ver­ ständigen Bauern ihre Kinder nach Möglichkeit vom Schulbesuch fernzuhalten suchten. Die traurigen Folgen zeigten sich sehr bald. Während 1881 die Zahl der Analphabeten nur 2 %> betrug, war sie 1892 schon auf 12 %, 1899 aber gar aus 20 % gestiegen! Die zum Teil schon seit vielen Jahrhunderten bestehenden deuffchen Mittelschulen wurden seit 1888 russiftziert und in ihrer Leistungs­ fähigkeit stark herabgedrückt. Die Verschandelung der altbewähr­ ten Universität Dorpat, die etwas längere Zeit in Anspruch nahm, ist so bekannt, daß wir hier nicht näher auf sie eingehen brauchen. Die Zahl der deutsch-baltischen Studenten sank durch die Russtfizierung von 1054 im Jahre 1890 auf 268 im Jahre 1900. Natürlich wurde das „heimliche" Unterrichten von Kindern

Die Ostseeprovinzen.

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mit strengen Strafen belegt. Beständig sah man deshalb Schutz­ leute auf der Jagd nach Kindern mit Schulmappen, die ihnen verdächtig erschienen. Sogar die Fröbelschen Kindergärten, welche die Gutsbesitzer für die kleinen Kinder ihrer Hofknechte eingerichtet hatten, wurden von den Gouverneuren zerstört. Über­ haupt erinnert die destruktive Tätigkeit der Regierung in dieser Periode an einen tollgewordenen Stier, der in einen wohlgepfleg­ ten Blumengarten einbricht und dort alles zerstampft und ver­ wüstet. Auch in der Auffasiung der lettisch-estnischen Landbevöl­ kerung erschien das brutale Verfahren der Regierung in keinem anderen Lichte. So äußerte damals ein alter baltischer Bauer: „Die Rusten wollen uns unsern sauberen und gut sitzenden, selbst­ gewebten Rock ausziehen, und ihren schäbigen, lausigen Schaf­ pelz anziehen." Die Regierung Nikolaus' II. brachte nicht allein keine Besterung, sondern zunächst eine stetig zunehmende Verschlimmerung der geschilderten Zustände. Selbst der Unterrichtsminister Deljanow, ein Armenier, bezeichnete gelegentlich eines Aufenthalts in Reval vor einem größeren Kreise die Überschwemmung der Ostseeprovinzen mit russischen Beamten und Lehrern als eine „Invasion des Tatares“. Erst unter dem Wetterleuchten der bereits heraufziehenden Revolution dämmerte in den mehr oder weniger hohlen Köpfen in Petersburg doch die Erkenntnis, daß man in bezug auf alle staatserhaltenden Kräfte in den Ostsee­ provinzen gewirtschaftet hatte wie ein Elefant im Porzellanladen. Diese Einsicht kam jedoch zu spät. Nachdem man in Petersburg noch im Mai 1905 ein liberales Reformprojekt der baltischen Ritterschaften wiederum kurzerhand zurückgewiesen hatte, brach schon im November desselben Jahres die Revolution aus. Über die baltische Revolution und ihre Ursachen herrschen in demoftatischen Kreisen Westeuropas immer noch völlig irrige Anschauungen. Man übersieht, daß die baltische Aufstands­ bewegung nur eine Teilerscheinung der russischen Revolution war, die von der gesamten rustischen Intelligenz ausging, gegen die Regierung gerichtet war und den Pöbel für ihre Zwecke zu fanatisieren suchte. So waren es vor allem russische, in Dorpat studie­ rende Seminaristen, zahlreiche Emistäre aus dem Innern des Reiches, viele Volksschullehrer (nach amtlicher Feststellung 184 — 30 %) und zum Teil noch russische Regierungsbeamte, von Revelstein, Not der FremdvVlker.

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Die OstsseprovinM.

denen der Aufruhr im Baltenlande angezettelt und der entstehende Brand weiter geschürt wurde. Was insbesondere das Verhalten dieser Beamten betrifft, so liegt für ihre Schuld an der Revolution ein klassisches Zeugnis in einer Äußerung des Generals Beso­ brasow vor, der im Winter 1905/06 die militärischen Operationen gegen die Aufrührer in Estland leitete. Der General meinte schon einige Wochen nach seiner Ankunft in Estland, in den Ostsee­ provinzen hatte es überhaupt keine Revolution gegeben, wenn nicht russische, sondern baltische Beamte das Land ver­ waltet hätten. Von anderen Nationalrussen, die die baltischen Verhältnisie genau kannten, wurde später die gleiche Ansicht in der Presse verlautbart. So schwer die Deutschbalten durch die Revolution auch ge­ schädigt wurden, so hat sie ihnen bekanntlich manchen Gewinn gebracht. Durch das von der Furcht diktierte Toleranzedikt Nikolaus' II. vom 17. April und das Manifest vom 17. Oktober 1905 waren noch unmittelbar vor der Revolution die Gewisiensfreiheit und die Grundlagen der bürgerlichen Freiheit überhaupt im Prinzip anerkannt worden. Damit war die evangelische Kirche des Landes zwar wieder rechtlich geschützt, was aber „rechtlicher Schutz" in Rußland bedeutet, das hat sie wahrlich genugsam er­ fahren. In der Tat hat die russische Hierarchie, diese schlimmste und erbittertste Feindin des baltischen Deutschtums, in der Folge­ zeit die größten, meist von Erfolg gekrönten Anstrengungen ge­ macht, den Geist wirklicher Toleranz aus dem erwähnten Edikt vom 17. April zu verbannen und in seinen praktischen Wirkungen abzuschwächen. Trotzdem sind in diesen Jahren mindestens 10 000 Personen aus der Staatskirche zum Luthertum zurückge­ kehrt. Nach der Niederwerfung des Aufstandes wurde durch ein am 19. April 1906 bestätigtes Gutachten des Reichsrates die Einführung der örtlichen Sprachen als Unterrichtssprache in den privaten Lehranstalten des baltischen Gebiets wieder gestattet. Die neuerstandenen deutschen Mittelschulen haben dann fast neun Jahre, bis zum 1. April 1915, bestehen können. Der im Mai 1905 von der Regierung zurückgewiesene liberale Reformentwurf der baltischen Ritterschaften wurde jetzt auch wieder hervvrgeholt und von den neugeschaffenen „Provinzialräten", in denen alle Stände vertreten waren, zwei Jahre lang begutachtet und durch­ gearbeitet, ohne jedoch bei der Regierung Gehör zu finden. Eine

sehr lebhafte Tätigkeit entfalteten jedoch die jetzt entstehenden „Deutschen Vereine", die ein so schönes Zeugnis von der Lebens­ kraft, Energie und kernig-deutschen Art der Balten ablegen, überhaupt ist es erstaunlich, wie schnell sich das baltische Deutsch­ tum von den schweren Schlägen erholte, mit denen man es end­ gültig vernichten wollte. Dieser kurzen Periode des kulturellen und wirtschaftlichen Wiederaufblühens hat der Ausbruch des gegenwärtigen Krieges ein Ende gemacht. Die verzweifelte Lage, in die alle Deutschen Rußlands durch den Krieg versetzt wurden, ist in der deutschen Presse so vielfach und so eingehend erörtert worden, daß wir ost Gesagtes hier nicht wiederholen wollen. Nur aus einen Um­ stand muß hier besonders aufmerksam gemacht werden, der bisher zu wenig beachtet worden ist. Cs ist das die Tatsache, daß die überwiegende Mehrzahl der wegen Deutschsprechens mit Ge­ fängnis bestraften Personen Letten und Esten waren, ferner daß die Esten in der russischen Presse wegen ihrer „deut­ schen Sympathien" heftig angegriffen werden, und daß in jüngster Zeit auch einige estnische Prediger mit ihren deutschen Amts­ brüdern nach Sibirien verbannt worden sind. Ebenso wie in Finnland, so hat auch hier die Regierung nicht den geringsten Versuch gemacht, durch ein wenn auch geringes Entgegenkommen diesen Landesteil an sich zu feffeln, sondern im Gegenteil die ge­ samte Bevölkerung brutal vor den Kopf gestoßen. Seit der Erklärung des Ministerpräsidenten Goremykin im August 1914 hat das baltische Deutschtum hier einen Kamps auf Tod und Leben zu bestehen. Schon ist die russische Axt an den siebenhundertjährigen Stamm gelegt, besten Wurzeln in die west­ fälische Erde reichen, und nur die Hilfe der deutschen Stammesbrüder kann den tödlichen Streich noch abwehren

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Litauen.

Litauen. Über Litauen herrschen in Deutschland selbst in gebildeten Kreisen auch jetzt noch recht unklare und verschwommene Vor­ stellungen. Ls muß hier deshalb zunächst festgestellt werden, daß die in Polen und Westeuropa nur auf historischer Grundlage meist zu Litauen gezählten Gouvernements Mohilew, Minsk und Witebsk von den Rusten richtiger als Weißrußland bezeichnet werden. Das ethnographische Litauen umfaßt das ganze Gou­ vernement Kowno, das Gouvernement Suwalki mit Ausnahme der südlichen, von Masuren bewohnten Kreise Suwalki, Augustowo, ferner Teile der Gouvernements Grvdno und Wilna und einige Bezirke im südlichen Kurland mit 23 000 litauischen Be­ wohnern. Die sogenannten eigentlichen Litauer 4m östlichen, und die Schmuden oder Schamaiten im westlichen Teil des Gebiets, die sich dialektisch nur wenig unterscheiden, waren nach der letzten Volkszählung von 1897 in einer Zahl von 1943080 vertreten, während außerdem mindestens eine Million zerstreut in zum Teil weit entfernten Gegenden lebt. Die Geschichte des ehemaligen mächtigen Großfürstentums Litauen, das seine Herrschaft im Mittelalter nach Osten und Süd­ osten weit über seine ethnographischen Grenzen ausdehnte, ge­ legentlich sogar den russischen Republiken Groß-Nowgorod und Pskow Schutz gewährte und 1501 mit dem Königreich Polen in Personalunion vereinigt wurde, gehört nicht in den Rahmen dieser Besprechung. Es ist jedoch von Wichtigkeit, sich die glän­ zende historische Vergangenheit dieses kleinen, aber tapferen und tüchtigen Volkes vor Augen zu halten, um die furchtbare Härte, mit der die russische Regierung jeden Versuch einer nationalen Entwicklung bei den Litauern niederzutreten pflegte, auch in ihren psychologischen Wirkungen richtig einzuschätzen. Denn dieses be­ dauernswerte Grenzgebiet hat unter allen Schrecken des russi­ schen Absolutismus und der rohesten Beamtenwillkür, ebenso wie das ganze unter polnischem Kultureinfluß stehende Westrußland, ganz besonders schwer leiden mästen. Länger als zwei Jahrhunderte, von der Union zu Lublin im Jahre 1569 bis zur dritten Teilung Polens im Jahre 1795, hat

Litauen.

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Litauen unter der unumschränkten Herrschaft Polens gestanden, die das Land im allgemeinen nicht sehr gefördert hat. Da bereits bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Adel und Geistlichkeit völlig polvnifiert waren, so hat namentlich die nationale Entwicklung des litauischen Volkstums während der polnischen Herrschaft völlig stillgestanden. Bei dem Zusammenbruch des polnischen Staates erhielt Rußland 1795 den größten Teil des heutigen Litauen, während der westlich vom Njemenfluste gelegene Teil Preußen zugesprochen wurde. Dieses letztere, auch „Neu-Ost­ preußen" genannte Gebiet wurde 1807 mit dem Herzogtum Warschau vereinigt und 1815 mit diesem nach dem Wiener Kon­ greß dem russischen Reiche einverleibt. Zu diesem Wechsel der Herrschaft verhielt sich das, seinem längst polonisierten Adel und der Geistlichkeit fremd gegenüber­ stehende, Volk zunächst ganz indisferent. Seine heimatliche Sprache, die namentlich in der schamaitischen Mundart von der Wissenschaft als die älteste aller indogermanischen Sprachen er­ kannt worden ist, war zu jener Zeit schon längst zu einem Bauerndialeft herabgedrückt worden, das ganze geistige Leben des Landes war polnisch. Während der Regierung Alexanders I. wurde dieser unumschränkt herrschende, polnische Kultureinfluß Nicht nur nicht gehemmt, sondern im Gegenteil sogar noch geför­ dert. So wurde die 1578 von den Jesuiten in Wilna gegründete philosophisch-theologische Akademie, nachdem sie 1796 von den Russen zur Hauptschule von Wilna umgewandelt worden war, 1803 zur Universität erhoben. Diese polnische, fast gleichzeitig mit der Universität Dorpat gegründete Hochschule wurde jedoch unter der folgenden Regierung in den Stürmen der Revolution von 1830 wieder völlig aufgehoben. Ebenso wie in den Ostseeprovinzen begannen unter der Regierung Nikolaus' I. auch hier die ersten Bedrückungen auf kirchlichem Gebiet. Sie trugen zunächst den Eharafter einer Ver­ geltung für den Aufstand von 1830, der ganz ausschließlich von den polnischen und polonisierten Kreisen der Bevölkerung aus­ gegangen war, und richteten sich vor allem gegen das mächtige, die Russtft'zierung in Polen und Litauen am meisten hindernde Boll­ werk, gegen die römisch-katholische Kirche. Es hatte bald nach der Reformatton eine Zeit gegeben, in der ganz Litauen nahe daran war, sich der protestanttschen Kirche anzuschließen. Nur

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Litauen.

der energischen, gegen Ende des 16. Jahrhunderts einsetzenden Gegenaktion der Jesuiten, die nur in Livland erfolglos blieb, war es damals gelungen, Polen und Litauen dem Katholizismus zu erhalten. So gibt es gegenwärtig nur etwa 37—38 000 Litauer im Kownoschen Gebiet, die der reformierten Kirche angehören, während die überwiegende Mehrheit des sehr religiösen Volkes mit großer Hingebung an der katholischen Kirche hängt. Bald nach der blutigen Unterdrückung der Revolution be­ gann der Kampf gegen diese Kirche, die trotz der brutalen Ver­ gewaltigungen in allen westlichen Grenzgebieten an ihrer inneren geistigen Kraft bis heute nichts eingebüßt hat. So wurden be­ reits 1832 die meisten der zahlreichen Klöster nebst den dazu ge­ hörigen Klosterschulen aufgehoben. Die letzteren wurden teils in russische Volksschulen umgewandelt, teils ganz geschloffen, während in den sehr spärlich vorhandenen litauischen Dorfschulen zu jener Zeit die litauische Unterrichtssprache noch erhalten blieb. Von den Nonnenklöstern wurden viele auf den Aussterbeetat ge­ setzt, d. h. sie sollten nach dem Tode der letzten Einwohnerin ganz geschloffen werden. Von einem Kloster der Ursulinerinnen er­ zählte mir vor einigen Jahren ein Litauer mit ironischem Lächeln, die ältesten Nonnen hätten infolge dieser Bestimmung dort ganz aufgehört älter zu werden; erst am Ende des Jahrhunderts hätten die russischen Behörden die anscheinende „Unsterblichkeit" dieser Klosterjungsrauen entdeckt. Unter der Regierung des humanen Zaren Alexander II. waren die Zustände in Litauen und Polen zunächst ganz erträg­ liche, namentlich seit der 1861 eingeleiteten „Versöhnungspolitik" des Marquis Wielopolski. Die zweite Revolution von 1863, die in Litauen wiederum ganz ausschließlich vom Adel und dem polonisierten städtischen Bürgertum ausging, hat aber leider alle Hoffnungen auf eine gesunde Entwicklung vernichtet. Das erst 1862 von der Leibeigenschaft befreite litauische Landvolk hatte jetzt schwer dafür zu büßen, daß es sich in völliger politischer Ver­ blendung in die polnische Revolution hatte hineinreißen laffen. Nachdem der berüchtigte „Henker von Wilna", Murawjeff, den Aufstand in Litauen in einem Meer von Blut ertränkt hatte, be­ gann er als Generalgouverneur von Wilna einen unerbittlichen und schonungslosen Kampf gegen die heiligsten Güter im Seelen­ leben dieses Volkes, gegen seine Religion und die Liebe zum eige-

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neu Volkstum. Er setzte einen Erlaß durch, in welchem jeder Buchdruck und jede Verbreitung von litauischer Schrift in Rußland streng verboten wurde. Zuwiderhandelnde wurden mit Ge­ fängnis oder administrativer Verbannung bestraft, im günstigsten Falle doch unter polizeiliche Aufsicht gestellt. Statt der litauischen, in lateinischen Lettern gedruckten Bücher, wurden dem Volke jetzt solche mit russischer (Cyrillischer) Schrift angeboten, die das Volk jedoch überall zurückwies. Man griff deshalb zu immer schärferen Maßregeln, man beorderte an die Türen aller katho­ lischen Kirchen Polizisten, die die Gesangbücher der Eintretenden zu besichtigen und die mit lateinischer Schrift gedruckten sofort zu konfiszieren hatten! Vierzig Jahre hindurch hat dieser furchtbare, jede geistige Entwicklung stark hemmende Druck auf dem litaui­ schen Volke gelastet. Während dieser Zeit waren die Litauer, die sich natürlich der höheren Kultur anschlosien, fast ausschließlich auf polnische Druckschriften angewiesen. So hat diese von un­ gewöhnlicher politischer Torheit zeugende Maßregel der Regie­ rung keinen anderen Erfolg gehabt, als den immer mehr wachsen­ den Haß der Litauer gegen alles Russische und die Erstarkung des polnischen Elements im Gebiet wesentlich zu fördern. Das erwachende Nationalgefühl und zunehmende Bildungs­ streben des in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts immer mehr aus dem Dunkel der Vergessenheit hervortretenden Volkes, dessen geistiges Leben erst seit 1852 vom Sprachforscher Schleicher aus Jena für Europa entdeckt wurde, konnte weder von russischer, noch von polnischer Seite auf die Dauer unter­ drückt werden. So richteten sich die Blicke des so brutal geknebel­ ten Volkes naturgemäß nach Ostpreußen, wo mehr als 100 000 Stammesgenossen alle Segnungen westeuropäischer Kultur frei und ungehindert genießen konnten. Schon damals begannen in Tilsit, in späterer Zeit auch in Amerika, einige Druckereien fast ausschließlich für die russischen Litauer zu arbeiten. Millionen von Büchern, Zeitschriften und Broschüren wurden dann heim­ lich über die russische Grenze geschmuggelt und meist unbemerkt von den russischen Schergen bis in die entlegensten Gegenden Litauens verbreitet. Obschon das Schulwesen im Gebiet arg darniederlag, war die Zahl der Analphabeten im Gegensatz zu den national­ russischen Gegenden doch eine verschwindend geringe. Diese er-

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Litauen.

freukiche Erscheinung war das Verdienst der litauischen Bäue­ rinnen, die aus den alten, seit 1864 streng verbotenen aber wie kostbare Schätze gehüteten Gebetsbüchern ihre Kinder im Lesen unterrichtet hatten. Aus den Schulen wurde die litauische Sprache seit 1863 völlig verbannt und durch die russische ersetzt, auch wurden als Volksschullehrer fast ausschließlich nur National­ russen angestellt. Die recht spärlich im Lande verteilten Schulen wurden, da sie nur Russifizierungszwecken dienen sollten, von der Bevölkerung nach Möglichkeit gemieden. Sie konnte das um so leichter tun, als hier, wie in vielen anderen Grenzgebieten, zwar viele russische Schulen gegründet, aber gleichzeitig kein Schul­ zwang eingeführt wurde. Dieser seltsamen Systemlosigkeit, die jedem Westeuropäer besonders befremdlich erscheinen muß, liegt augenscheinlich die tiefere Ursache zugrunde, daß der Regierung in den Grenzgebieten gar keine Bildung mindestens ebenso wünschenswert erscheine, als eine russische Bildung, die ja auch im inneren Rußland nach Möglichkeit gehemmt und gehindert wird. Für den Religionsunterricht wurde, für alle gottesdienst­ lichen Nebenhandlungen, seit 1877 die polnische Sprache obliga­ torisch. Demnach war in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts die Gefahr einer weiter fortschreitenden Polonisierung recht naheliegend, während man als sicher annehmen kann, daß kein einziger Litauer dort in die Gefahr geraten ist, zum Russen zu werden. Die liberale Iusttzresvrm Alexanders II. wurde in Litauen in derselben Weise durchgeführt wie im Innern des Reiches, während das litauische Privatrecht bereits 1842 durch das russi­ sche bürgerliche Recht ersetzt worden war. Dieses Privatrecht beruhte auf dem im wesentlichen aus Besttmmungen des römischen Rechts, des Magdeburger und Kulmer Stadtrechts hervor­ gegangenen „Litauischen Statut" aus dem 16. Jahrhundert. Sein plötzliches Verschwinden nach jahrhundertelangem Bestehen hatte natürlich in allen zivilrechtlichen Verhältnissen die größte Ver­ wirrung hervorgerufen. Waren unter der Regierung Alexanders II. die Verhältnisse nach russischen Begriffen noch erträgliche gewesen, so kam die schlimmste Zeit für Litauen erst, als unter Alexander III. die Flut des Panslawismus sich mit brutaler Wucht über alle Grenz­ gebiete ergoß. In erster Linie richteten sich die Verfolgungen

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wieder gegen die schon bisher arg genug geknebelte katholische Kirche. Unter den empörenden, allen Rechtsbegriffen und jedem menschlichen Gefühl hvhnsprechenden Vergewaltigungen ihres Glaubens hatten und haben noch heute die Litauer und Polen in den westlichen Landesteilen in gleicher Weife zu leiden. Eine große Zahl von katholischen Kirchen und Klöstern wurden in den achtziger und neunziger Jahren auf Befehl der russischen Regie­ rung zu russischen Kirchen oder Kasernen umgebaut, oder auch völlig niedergerisfen. So gibt es in dem überwiegend katholischen Wilna heute nicht weniger als 45 russische Kirchen, die früher fast alle katholisch gewesen sind. In Kowno, wo nur ein ganz ge­ ringer Teil der Bevölkerung der Staatskirche angehört, liegen die Verhältnisse ganz ähnlich. Die katholische Geistlichkeit wurde jetzt unter strengste Staatsaufsicht gestellt. So ist es den Priestern streng verboten, ohne besondere polizeiliche Erlaubnis eine Nach­ bargemeinde aufzusuchen oder Briefe ins Ausland zu schreiben. Die Verhältniste spitzten sich allmählich so zu, daß 1893 die katholische Klosterkirche in Krvzy (Gouvernement Kowno) erst geschloßen werden konnte, nachdem die Kosaken die fanatisch er­ regten Gemeindemitglieder, die ihr altgewohntes Gotteshaus verteidigten, zum Teil niedergestochen hatten! Besonders bemer­ kenswert ist die bis heute in Kraft gebliebene Verordnung, nach welcher alle in baufälligen Zustand geratenen katholischen Kirchen, Klöster, Kapellen, Grabstätten (!) und Kruzifixe nicht w i e d e r i n st an d gesetzt werden durften! Ganz abgesehen von der Brutalität dieser administrativen Verordnun­ gen, muß die ftndische Vorstellung, mit solchen Mitteln die Macht der stärksten Kirche der Welt brechen zu wollen, jedem politisch Denkenden besonders beftemdlich erscheinen. Das Schulwesen wurde durch die Russifizierung auf eine immer niedrigere Stufe herabgedrückt, wie aus folgenden Zahlen zu ersehen ist. So kam im Gouvernement Kowno 1895 nur eine Schule auf 5594, im Gouvernement Wilna eine auf 4601 Per­ sonen, während bis zur Russifizierung in Livland auf 720, in Estland sogar auf 560 Personen eine Schule entfiel. Die wohl­ habenderen Litauer schickten ihre Kinder deshalb mit Vorliebe nach Kmland und Riga, solange es dort ein deutsches Schulwesen gab. So waren z. B. noch 1890 unter den Schülern des deutschen Gymnasiums in Ltbau

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40 Prozent Litauer. Seit 1894 aber war es durch eine Verord­ nung des Ministeriums der „Volksaufklärung", das den allge­ meinen Bildungsstand noch mehr herabdrücken wollte, den Bauern im ganzen Reiche nicht mehr gestattet, ihre Söhne in Gymnasien fortbilden zu lasten. Bei dem stark entwickelten, von der Regierung aber immer mehr gehemmten Bildungsstreben war es natürlich, daß man einen Ausweg im Auslande suchte, so daß in dieser Zeit allrussi­ scher Verfinsterung dort eine Reihe periodischer Zeitschriften be­ gründet wurde, die ausschließlich für Rustisch-Litauen bestimmt waren. So erschien seit 1883 im Auslande die „Auszra" (Morgenröte), deren Hauptziel in der nationalen Wiedergeburt der Litauer bestand, ferner seit 1889 der „Varpas" (Glocke), eine Monatsschrift für Literatur und Politik, und andere, meist demo­ kratische Blätter. Da diese Zeitschriften, deren Redakteure unter Decknamen im Auslande lebende russische Litauer waren, ge­ legentlich auch die Einrichtungen der katholischen Kirche angriffen, so entstanden hier zur Abwehr dieser Angriffe auch die klerikalen Zeitschriften „Apzvalga" (Rundschau) und „Szviesa" (Licht). Daß auch der Kampf der christlich-konservativen Weltanschauung gegen radikal-demokratische Strömungen sich nur auf auslän­ dischem Boden abspielen konnte, obschon er sich auf das russische Litauen bezog, kennzeichnet besonders drastisch den Zarismus als die furchtbare Macht der Finsternis, die jede geistige Regung hier zu ersticken und niederzutreten suchte. Der wirtschaftliche Druck, unter dem die Bevölkerung Litauens seit Jahrzehnten zu leiden hat, ist ein ganz unerhörter. Während der Bauer nicht mehr als 60 Hektar besitzen darf, ist der Kauf von gröberen Grundstücken und Gütern, auch die Pacht von Domänen, jedem Katholiken streng untersagt. Dagegen wurde die russische Kolonisation mit großem Eifer, wenn auch mit wenig Geschick, in Angriff genommen; so wurden 1900 allein im Gouvernement Kowno für diesen Zweck sechs Millionen Rubel ausgeworfen. Die Beamtenschaft ist natürlich ausschließ­ lich russisch, so daß kein Litauer Aussicht hat, in seiner Heimat An­ stellung zu finden. Auch als Arbeiter in allen staatlichen Betrie­ ben wurden seit längerer Zeit nur Russen verwendet, so daß die 'itauischen Arbeiter meist zur Auswanderung gezwungen waren. Zum geringeren Teil zogen sie nach Libau, Riga und Petersburg,

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zum größten Teil aber nach Amerika, wo jetzt schon mehr als 900 000 Litauer leben. In dieser kaum glaublichen Weise ist das gutmütige und ge­ duldige, aber schließlich zur Verzweiflung gebrachte litauische Volk jahrelang geknechtet und vergewaltigt worden. Wenn man die nach dem Erwachen des litauischen Nationalgefühls ständig wachsende Abneigung gegen das Polentum erwägt, mit dem die Regierung in einem unaufhörlichen, erbitterten Kampf liegt, so steht die ungeheuerliche Torheit dieser gegen Litauen gerichteten Politik wohl beispiellos da. Mit einem ungeheuren Aufwand von Arbeit, Energie und Geld hat man an der Grenze Deutsch­ lands sich fast drei Millionen wütend erbitterter Feinde geschaffen! In seinem 1896 in Amerika in russischer Sprache erschienenen Buche „Die Lage des litauischen Volkes im russischen Reich" sagt Graf Leliwa, ein zukünftiger Historiker müsie auf den Ge­ danken kommen, daß die russische Politik in Litauen jahrzehntelang von deutschen, nur im Interesie Deutschlands arbeitenden, Spionen geleitet worden sei, jedenfalls gehörten die betreffenden Verwaltungsbeamten durchweg in ein Krankenhaus für politisch Tobsüchtige! — Die tiefe Abneigung des Litauers gegen die finstere Macht des Rusientums, eine Abneigung, deren Wurzeln wohl in die graue Vorzeit reichen, ist durch die unheilvolle Tätig­ keit der Regierung zu einem furchtbaren, glühenden Haste ge­ worden, der im einfachen Volke eine fast mystisch-religiöse Fär­ bung annimmt. So hört man im westlichen Litauen noch heute bei einem Gewitter mitunter alte Bauern murmeln: „Perkunas (der Donnergott der alten heidnischen Litauer), verschone den Schamotten, erschlage den Rusten!" Der fromme Wunsch, der in diesem Nachsatz enthalten ist, kennzeichnet zur Genüge die Stellung, die der litauische Bauer zu seinem Erbfeinde einnimmt. Unter der Regierung Nikolaus' II. brachten die ersten zehn Jahre zunächst keine Veränderung der geschilderten, unerträg­ lichen Verhältnisse. Die demokratische Bewegung in den Städten nahm unter der litauischen Arbeiterschaft, die mit der weiß­ russischen nationalen Bewegung und dem jüdischen Arbeiter­ verband enge Fühlung hatte, in den ersten Jahren unseres Jahr­ hunderts einen immer größeren Umfang an. Im Mai 1902 kam es auf den Straßen Wilnas sogar zu einer großen sozialistischen

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Demonstration, die auf echt russische Weise unterdrückt wurde. Auf Befehl des Gouverneurs stürzten sich die Polizisten auf die Volksmenge, ergriffen eine Anzahl von Demonstranten und harmlos Vorübergehenden und schleppten sie nach dem Polizei­ revier, wo sie sämtlich ohne weiteres Verhör ausgepeitscht wurden! Diese Vorgänge hatten ein von dem jüdischen Schuh­ macher Hirsch Leckert auf den Gouverneur verübtes Revolver­ attentat, zahlreiche Aufstände und schließlich die Entfernung des Gouverneurs zur Folge. Erst nach dem Ausbruch des japanischen Krieges und unter dem Drucke der herannahenden Revolution kam die Regierung zur späten Erkenntnis, daß ihre täppischen Methoden der Unter­ drückung der litauischen Sprache nur zu einer gewaltigen Über­ schwemmung des Gebiets mit sehr unerwünschtem Lesestoff aus Preußen und Amerika geführt hatten. So wurde 1904 das litauische Druckverbot aufgehoben, was einen ungewohnten Auf­ schwung der litauischen Literatur zur Folge hatte. Die auffällige Erscheinung, daß die litauische Landbevölkerung sich 1905 gar nicht an der Revolution beteiligt hat, ist in erster Linie auf den heilsamen Einstuß der katholischen Kirche zurückzuführen, die da­ mals schon, mit Einschluß der Bischöfe, national-litauisch war und den vorübergehenden Charakter dieser Aufstandsbewegung richtig erkannt hatte. Seit 1906 wurde endlich die litauische Sprache wieder in den Volksschulen zugelasien, während sie in den höheren Lehranstalten seitdem fakultativ ist. Außerdem ist seitdem eine ganze Anzahl von litauischen Privatschulen entstan­ den. Die 1907 erfolgte Aussöhnung zwischen der russischen Regierung und dem Vatikan brachte den Litauern endlich auch die Freigabe des muttersprachlichen Religionsunterrichts, der bis dahin nur in polnischer Sprache hatte stattfinden dürfen. So haben die Litauer sich vom polnischen Kultureinfluß immer mehr sreigemacht und deshalb auch den von den Polen angeregten Ge­ danken einer polnisch-litauischen „Union" recht schroff ab­ gelehnt. Diese Stellungnahme zeigte sich auch auf dem im Juli 1910 unter großem Andrange abgehaltenen litauischen wissenschastlichen Kongreß, der auf eine völlige Absage an das Polentum hinauslief und den Beweis lieferte, daß die Polen ihre Rolle in Litauen endgültig ausgespiell haben. Natürlich suchte die russische Regierung alle Reibungen zwischen polnischen und

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litauischen Nationalisten nach Möglichkeit zu verschärfen und für ihre Zwecke auszubeuten. Der alte Hatz gegen die Russen aber hat keine Veränderung erfahren — allzu schwer hat das furchtbare russische Joch aus dem unglücklichen Volke gelastet. Noch im Oktober 1915 haben die litauischen Sozialisten den deutschen Gewerkschaften dm Aus­ druck ihrer Sympathie übermitteln lassen, indem sie zugleich er­ klärten, sie müßten nach Deutschland fliehen, wenn Wilna noch­ mals in die Klauen der Kosaken geratm sollte. Der ungeheure Jubel, mit dem die in Wilna einziehenden deutschen Truppen begrüßt wurden, ist von den letzteren gar nicht recht verstanden worden, weil wohl nur den allerwenigsten das entsetzliche Martyrium dieser Stadt und dieses Landes bekannt war. Dem Kmner der Verhältnisse aber klang aus diesem Jubel dmtlich genug die Losung des gepeinigten Volkes: Los von Ruß­ land um jeden Preis! . . .

Polen. über das traurige Schicksal Polens unter der russischen Tyrannei ist man in Deutschland im allgemeinen bester unter­ richtet, als über die in den vorigen Abschnitten behandelten Vor­ gänge. Tragisch erscheint dieses Schicksal namentlich im Hinblick auf die große und glänzende Vergangenheit dieses Volkes, das einst mit der Kraft seines Schwertes Europa vor den Türken schützte und im 16. und 17. Jahrhundert seine höchste nationale und kulturelle Blüte erreichte. Wir mästen uns hier auf eine ge­ drängte Übersicht dieser nationalen Tragödie beschränken und können aus der schier endlosen Reihe der brutalen Übergriffe, groben Rechtsverletzungen und empörenden, zum Teil ganz sinn-

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litauischen Nationalisten nach Möglichkeit zu verschärfen und für ihre Zwecke auszubeuten. Der alte Hatz gegen die Russen aber hat keine Veränderung erfahren — allzu schwer hat das furchtbare russische Joch aus dem unglücklichen Volke gelastet. Noch im Oktober 1915 haben die litauischen Sozialisten den deutschen Gewerkschaften dm Aus­ druck ihrer Sympathie übermitteln lassen, indem sie zugleich er­ klärten, sie müßten nach Deutschland fliehen, wenn Wilna noch­ mals in die Klauen der Kosaken geratm sollte. Der ungeheure Jubel, mit dem die in Wilna einziehenden deutschen Truppen begrüßt wurden, ist von den letzteren gar nicht recht verstanden worden, weil wohl nur den allerwenigsten das entsetzliche Martyrium dieser Stadt und dieses Landes bekannt war. Dem Kmner der Verhältnisse aber klang aus diesem Jubel dmtlich genug die Losung des gepeinigten Volkes: Los von Ruß­ land um jeden Preis! . . .

Polen. über das traurige Schicksal Polens unter der russischen Tyrannei ist man in Deutschland im allgemeinen bester unter­ richtet, als über die in den vorigen Abschnitten behandelten Vor­ gänge. Tragisch erscheint dieses Schicksal namentlich im Hinblick auf die große und glänzende Vergangenheit dieses Volkes, das einst mit der Kraft seines Schwertes Europa vor den Türken schützte und im 16. und 17. Jahrhundert seine höchste nationale und kulturelle Blüte erreichte. Wir mästen uns hier auf eine ge­ drängte Übersicht dieser nationalen Tragödie beschränken und können aus der schier endlosen Reihe der brutalen Übergriffe, groben Rechtsverletzungen und empörenden, zum Teil ganz sinn-

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losen Vergewaltigungen nur die bemerkenswertesten Tatsachen hervorheben. Es war das besondere Unglück Polens, daß sein durch mangelnde politische Umsicht, innere Zwistigkeiten und Partei­ hader beginnender Verfall mit dem schnellen und gewaltigen Er­ starken des ungeheuren Zarenreiches zeitlich zusammenfiel. So geriet das innerlich geschwächte Land schon früh in fast völlige Abhängigkeit von seinem mächtigen slawischen Nachbar. So hatte bereits 1709 Peter der Große den nach dem Frieden von Altranstädt durch Karl XII. entthronten August II. auf den polnischen Königsthron zurückgeführt, so wurde auch 1733 August III. unter dem Druck der russischen Waffen zum König eingesetzt, und 1764 Stanislaus Poniatowski, der Günstling der Kaiserin Katharina II., gleichfalls auf russischen Befehl, zum König gewählt. — Die nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 mit Rußland vereinigten östlichen Provinzen des König­ reichs hatten eine zum größten Teil ukrainische und weißrussische Bevölkerung. Die unter der Regierung Katharinas II. be­ ginnenden Versuche, die katholischen und mit der katholischen Kirche seit der Brester Union von 1595 vereinigten „unierten" Weißrussen wieder zur griechisch-orthodoxen Staatskirche zurückzusühren, äußerten sich schon damals in den rohesten Gewaltmaßregeln einer in ihren Mitteln zu keiner Zeit sehr wählerischen Regierung. So brutal diese kirchlichen Verfolgungen auch er­ scheinen, so waren sie gewissermaßen doch nur das Vorspiel des furchtbaren Martyriums, das die katholische Kirche und mit ihr das gesamte, ganz oder halbpolnische Gebiet im folgenden Jahrhundert zu erdulden hatte. Die durch die zweite und dritte Teilung 1795 geschaffenen Zustände konnten in der unmittelbar folgenden Zeit großer politischer Umwälzungen zunächst nur von vorübergehender Dauer sein. Erst nach der vierten Teilung Polens durch den Wiener Kongreß wurde 1815 ganz Polen, mit Ausnahme von West­ preußen und Galizien, mit dem russischen Reich vereinigt. Rach der administrativen Einteilung in späterer Zeit umfaßte das ganze Gebiet des ehemaligen Königreichs das eigentliche oder „Zartum" Polen („Kongreßpolen"), ferner das „Nordwestgebiet" mit den 6 Gouvernements Wilna, Kowno, Grodno, Witebsk, Minsk und Mohilew, und das „Südwestgebiet" mit den 3 Gouvernements

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Wolhynien, Podvlien und Kiew. Die beiden letzteren Gebiete wurden auch offiziell unter dem Namen „Westgebiet" zusammen­ gefaßt und im allgemeinen auch in gleicher Weise verwaltet. Da­ gegen waren die Grundsätze und staatlichen Erwägungen, die bei der Verwaltung Kongreßpolens einerseits, und des Westgebiets andererseits, zur Geltung kamen, so sehr voneinander ab­ weichend, daß wir die Leidensgeschichte dieser beiden Gebiete dem­ gemäß nur gesondert besprechen können. Unter der ersten russischen Regierung hat Kongreßpolen, ebenso wie das ganze polnische Kulturgebiet im Osten, unter keinem besonderen Druck und keinerlei einschränkenden Aus­ nahmebestimmungen zu leiden gehabt. Der Zar Alexander I. hatte bereits 1811 einer Abordnung polnischer Magnaten mit der ihm eigenen geschmeidigen Liebenswürdigkeit erklärt, er wolle den Polen alles geben, was sie wünschten, hoffe jedoch, sie würden „ihr Los mit den Schicksalen des gesamten Slawentums verbin­ den". Den Umstand, daß sie 1812 unter den Fahnen Napoleons in den vordersten Reihen gegen Rußland kämpften, hat der Zar ihnen später anscheinend nicht nachgetragen, vor allem wohl, weil er gerade nach den Erfahrungen dieses Krieges die Polen bei feiner byzantinisch-imperialistischen Politik als „Avantgarde" gegen Europa benutzen wollte. Darin ist wohl die psychologische Erklärung dafür zu suchen, daß er ihnen nach dem Wiener Kongreß in der polnischen Konstitution vom 15. Dezember 1815 eine für russische Begriffe verblüffend freisinnige Verfassung gab, die der französischen „Charte" von 1814 nachgebildet war. Die frühere Akademie der Jesuiten in Wilna hatte der Zar bereits 1803 in eine polnische Universität umgewandelt und im Novem­ ber 1816 unterzeichnete er die Stiftungsurkunde der Warschauer Universität, die schon im Januar 1817 mit fünf Fakultäten ihre Tätigkeit beginnen konnte. Auch zur wirtschaftlichen Entwicklung Polens hat Alexander I. den Grund gelegt, indem er die Ein­ wanderung von Gewerbetreibenden aus Preußen, Sachsen und Schlesien mit allen Mitteln zu fördern suchte. — So war Polen unter seinem „König" Alexander und dem Großfürsten Konstan­ tin als Statthalter zu dieser Zeit ein autonomes, mit Rußland nur durch Personalunion verbundenes Land, in dem sich freilich noch gewisie störende Einflüße geltend machten, ohne welche eine russische Herrschaft nun einmal nicht denkbar ist.

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Seit 1825, unter der reaktionären Regierung Nikolaus' I. begann es in Polen unruhig zu werden. Die Zwistigkeiten zwischen den Parteien der „Weißen", die von den Magnaten des Landes gebildet wurde, und der „Roten", zu denen die Szlachta und das Bürgertum gehörten, verschärften sich immer mehr, während die Bemühungen der polnischen Emigranten darauf gerichtet waren, alle polnischen Elemente zum Kampfe gegen den russischen Unterdrücker zu einigen. Diese von glühen­ der Freiheitsliebe erfüllten Emigranten und die Iulirevolutivn in Frankreich brachten schließlich das polnische Pulverfaß zur Explosion. Der Aufstand vom 29. November 1830 brach be­ kanntlich so plötzlich und unerwartet aus, daß der Großfürst Kon­ stantin kaum dem Tode entging und alle russischen Truppen flüch­ ten mußten. Neun Monate hat dann das polnische Interregnum gedauert, nachdem die unter Führung der Fürsten Lübecks und Czartoryski und der Demokraten Ostrowski und Lelewel geeinig­ ten Parteien am 25. Januar 1831 das russische Kaiserhaus ab­ gesetzt und Adam Ezartoryski zum Präsidenten der National­ regierung gewählt hatten. Nachdem der Aufstand im Herbst unterdrückt worden war, ließ die Rache des tief empörten Auto­ kraten Nikolaus nicht lange auf sich warten. Am 26. Februar 1832 ersieß er das „Organische Statut", durch welches in Polen die russische Gouvernementsregierung eingeführt und jeder Schatten einer Autonomie getilgt wurde. Damit war das Schicksal Polens vorläufig besiegelt, das die ganze Schwere des starren Absolutismus jener Zeit besonders schmerzlich empfinden mußte. Die polnischen Beamten wurden nach Möglichkeit durch russische ersetzt, die Universität Warschau wurde aufgehoben, die unter russischer, sehr strenger Aufficht stehenden Schulen blieben jedoch vorläufig polnisch. Die eben­ falls unter strenger Aufficht stehende katholische Kirche war jetzt immerhin noch bester gestellt als in späterer Zeit, namentlich seit 1847 das Konkordat mit dem Vatikan zustande kam. Im allge­ meinen aber war jetzt jedes selbständige Leben völlig unterdrückt, nicht aber die Hoffnungen und die nationale Lebenskraft der Polen. Diese Hoffnungen, die beim Adel einen schwärmerisch­ romantischen, bei den Demokraten einen mehr realpolitischen Einschlag hatten, stimmten in ihrem Endziel, der völligen Los­ lösung von Rußland, durchaus überein. So sprach sich Lelewel

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in einer an den Kongreß in Hamboch (27. Mai 1832) gerichteten Adresse dahin aus, daß „Deutschland und Rußland durch ein demokratisches Polen getrennt sein sollten". — Unter diesen Um­ ständen erscheint es fast wunderbar, daß das Jahr 1848 vorüber­ ging, ohne zu einer Erhebung in Kongreßpolen zu führen, namentlich da der Aufstand in Pofen, der Polenprozetz von 1847 und die Befreiung Mieroslawskis und seiner Gefährten durch die Berliner Bevölkerung auch die Polen jenseits der Grenzpfähle stark erregen mutzte. Trotzdem wurde die allgemeine Friedhofs­ ruhe im Zarenreich auch in Polen durch keine politische Lebens­ bewegung gestört, selbst nicht während des Krimkrieges, als die Hoffnungen aller Polen bereits auf Westeuropa gerichtet waren. Unter der folgenden liberalen Regierung schien das Schicksal Polens sich weit hoffnungsvoller gestalten zu wollen. Infolge der unermüdlichen Tätigkeit des Chefs der polnischen Zivilverwal­ tung, des begabten Staatsmannes Marquis Wielopolski, aber auch im Hinblick auf die seit 1859 ganz neue Bahnen einschla­ gende innere Politik Österreichs, verlieh Alexander II. mit dem Reformgesetz vom 27. März 1861 dem Lande eine großzügige Autonomie und ein ausgezeichnetes polnisch-nationales Schul­ wesen. Auch die polnische Universität Warschau rief er 1862 wieder ins Leben und ernannte seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, im Juni dieses Jahres zum Statthalter in Polen. Es ist hier nicht der Ort, die Ursachen der unmittelbar darauf ausbrechenden Revolution von 1863 zu erörtern, — Ur­ sachen, die recht verwickelter Natur waren und auch unter ganz anderen Umständen vielleicht zum Bürgerkriege geführt hätten. Nur soviel sei hier erwähnt, daß eine Reihe ernster polnischer Patrioten im Hinblick auf die vielversprechende Versöhnungs­ politik dringend von jeder Aufstandsbewegung abrieten. Im Herbst 1863 war nach erbitterten Kämpfen der Aufstand end­ gültig unterdrückt, die geheime Nationalregierung aufgehoben, und am 31. Oktober der Graf Berg als Statthalter eingesetzt. Dieser ungewöhnlich energische Livländer, der zehn Jahre lang in Polen Ruhe und Ordnung aufrechterhalten hat, gehörte dort zwar zu den bestgehaßten Männern, hat aber tatsächlich das Land und namentlich den polnischen Adel vor der gewisienlosen Ausplünderung durch die russischen Beamten und dem völligen Revelstein, Not der Fremdvölker.

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Ruin wirksam zu schützen gewußt. So erzählt z. B. Koscheleff, ein Mitarbeiter des Grasen, datz man aus Petersburg, um die bösen Polen zu „züchtigen", ganz besonders zweifelhafte, zum Teil verbrecherische Subjekte in Massen als Beamte (!) nach Polen schickte und außerdem dort den Plan entwarf, allen Bauern in Polen das freie Hvlzungsrecht (!) in allen Waldungen der Groß­ grundbesitzer zu gewähren! Graf Berg schickte dieses Beamten­ gesindel in ganzen Waggvnladungen sofort wieder nach Osten zu­ rück, wo es hingehörte, während der blödsinnige Plan der Wald­ verwüstung im Papierkorb endete. Diese in Petersburg aus­ geheckten Pläne werfen ein trauriges Licht auf die Unkultur, Un­ fähigkeit und den völligen Mangel an Rechtsgefühl in den dortigen leitenden Kreisen, in denen Nikolai Miljutin und fein Mitarbeiter, der wütende Slawvphile Tscherkaßky, die Seele aller russifizierenden Bestrebungen bildeten. Schon das nächste Jahr 1864 brachte eine Reihe einschnei­ dender Reformen. Bereits im Februar wurde das gesamte katholische Kirchenvermögen eingezogen und das Königreich in zehn „Weichselgouvernements" umgewandelt, die dem General­ gouverneur und einer besonderen Abteilung des Reichsrats unter dem Vorsitz des Zaren unterstellt wurden. Durch einen Ukas vom 11. September wurde das Unterrichtswesen reorganisiert, wobei die polnische Sprache vorläufig noch beibehalten wurde, durch Ukas vom 8. November 1864 wurden die meisten Klöster im Lande aufgehoben. Noch schlimmer wurde die Lage der katholi­ schen Kirche, als am 22. Mai 1867 die russische Regierung das seit 20 Jahren bestehende Konkordat kündigte. Seitdem wurde die gesamte Geistlichkeit einer katholischen Oberbehörde in Peters­ burg unterstellt und ihr jeder Verkehr mit dem Papste und katho­ lischen Orden streng untersagt! Weitere bedeutsame Fortschritte machte die äußerliche Russifizierung mit dem Ukas vom 8. Juni 1869, der die polnische Sprache aus der Universität und allen höheren Schulen verbannte. Gleichzeitig wurde die gesamte Finanzverwaltung dem russischen Finanzministerium unterstellt, nachdem schon 1867 die polnische Postverwaltung mit der russi­ schen vereinigt worden war. Die seit 1870 eingesührte Justiz­ reform hat Polen, wie allen anderen Grenzgebieten, die Geschworenen-Gerichte vorenthalten, die bis heute ein Vorrecht der national-russischen Gebiete geblieben sind. — Während des sechs-

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jährigen, nicht sehr strengen Regiments des Grafen Kotzebue, der dem 1874 verstorbenen Grafen Berg gefolgt war, find keine be­ merkenswerten Veränderungen zu verzeichnen.

Wenn diefe beiden Männer deutsch-baltischer Abstammung, soweit es den Umständen nach möglich war, sich noch der streng­ sten Gesetzlichkeit befleißigt hatten, so wurde das unter der rück­ schrittlichen Regierung Alexanders III. wesentlich anders. Jetzt, als der russische Chauvinismus sich in allen Grenzgebieten unge­ hemmt betätigen konnte, verschärfte sich auch hier die Lage bis zur Unerträglichkeit. Die 1884 entdeckte Verschwörung in Warschau, bei deren Unterdrückung der Generalgouverneur Gurkv 4 Rädelsführer hinrichten ließ und 200 Teilnehmer nach Sibirien verbannte, rief natürlich neue Represialien hervor. So verschlimmerte sich die Lage namentlich nach dem neuen Sprachen-Ukas von 1885, der die Bestimmungen von 1869 wesentlich verschärfte und mit der größten Brutalität die polnische Sprache zu unterdrücken suchte. In allen Behörden und öffent­ lichen Institutionen war es von jetzt ab streng verboten, polnisch zu sprechen; auch in den ländlichen Volksschulen wurde jetzt das Russische als Unterrichtssprache obligatorisch. Auf dem Gebiet des Unterrichtswesens gestalteten sich die Verhältnisie ganz besonders schlimm, da der seit 1879 an der Spitze der Verwaltung des Warschauer Lehrbezirks stehende Kurator Apuchtin mit einer verblüffenden Nichtachtung aller ge­ setzlichen Bestimmungen seines Amtes waltete. Die gesamte Ver­ waltung des Lehrbezirks gebärdete sich tatsächlich wie ein Staat im Staate und ging in ihrer schrankenlosen Willkür schließlich so weit, daß selbst der General Gurko in Petersburg sehr energisch, wenn auch vergeblich, dagegen Protest einlegte. Nach dem Ukas vom 30. August 1864 mußte der katholische Unterricht von Priestern erteilt werden, deren Wahl, ebenso wie die Wahl der Volksschullehrer, den Gemeinden oblag. In völlig eigenmächtiger und ungesetzlicher Weise verdrängte der Kurator Apuchtin die Priester allmählich immer mehr vom Religionsunterricht und er­ setzte sie durch höchst zweifelhafte, zum Teil sogar nichtkatho­ lische (!) Kreaturen. So waren bis 1892 von 2709 Volksschulen nur noch 154 geblieben, in denen der Religionsunterricht von Priestern erteilt wurde! Außerdem erwirkte Apuchtin ein „Gut-



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achten" des Reichsrats vom 5. März 1885, nach welchem den Gemeinden das Recht der Lehrerwahl entzogen und den Volks­ schuldirektoren übertragen wurde. Nach der Durchführung dieser Verfügungen wurde das Schulwesen in Polen wohl das schlech­ teste in ganz Europa, was allerdings den Intentionen der Regie­ rung durchaus entsprach. Denn damals konnte schon kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß der herrschende russische Chauvinis­ mus darauf ausging, das polnische Volk physisch und moralisch zugrunde zu richten. So wurden auch alle von polnischen Kommunen geplanten sanitären Einrichtungen und Verbesserun­ gen verboten oder behindert, so erhielt z. B. der Stadthauptmann von Warschau die geheime Instruktion, die Verbreitung porno­ graphischer Literatur in keiner Weise einzuschränken! Überall herrschte die roheste Willkür der russischen Polizeibeamten, die nur durch ihre Bestechlichkeit bis zu einem gewissen Grade gemil­ dert wurde. Auch die Regierung Nikolaus' II. brachte zunächst keine Veränderung dieses brutalen Systems, wenn auch der nach dem Regierungsantritt des Zaren zum Generalgouverneur ernannte Graf Paul Schuwalow persönlich vielleicht gemäßigtere Anschau­ ungen vertrat. Obschon angesichts der haarsträubenden Zu­ stände die meisten Polen nur noch die „Liga Narodowa" in Österreich als einzig rechtmäßig funktionierende, oberste Ge­ walt anerkannten, so blieben sie äußerlich vorläufig doch ruhig. Erst 1904, nach dem Ausbruch des japanischen Krieges, kam es gelegentlich der Rekrutenaushebungen zu Krawallen, die bald nachher die Verhängung des Kriegszustandes durch den General­ gouverneur Skalon zur Folge hatten. Die russische Revolution von 1905 hat bekanntlich keine nationale polnische Erhebung her­ vorgerufen, nur ein Teil der national-radikalen Jugend, die polnischen Sozialisten und der nationale Arbeiterverband betei­ ligten sich an dem allgemeinen Kampf gegen den Zarismus im Namen ihrer sozialen Programme. Dagegen nahm der unter der Führung Dmowskis gebildete Polenklub, der aus Gründen der Opportunität zunächst Anlehnung an die russische Regierung suchte, schon 1906 in der ersten Duma eine recht gemäßigte Haltung ein. Diese rufiophile Strömung fand damals sogar in Österreich eine Stütze, wo der Statthalter von Galizien, Graf Pininski, einer „slawischen Verbrüderung" nicht abhold schien.

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aber vom Grafen Badeni und den Führern des österreichischen Polenklubs Jaworski allerdings scharf bekämpft wurde. Die Errungenschaften der Revolution waren gerade für Polen recht magere. Sie bestanden im wesentlichen darin, daß die polnische Sprache in Privatanstalten und die seit 1885 in Österreich bestehenden „Matica-Vereine", deren Aufgabe in der Pflege des polnischen Schulwesens besteht, auch hier gestattet wurden. Schon nach kurzer Zeit sielen auch diese rein kulturelle Zwecke verfolgenden Vereine der russischen Willkür zum Opfer. Die sobald schon wieder scharf einsetzende Reaktion hat jedenfalls mit dazu beigetragen, daß die 1908 auf dem Slawenkongreß in Prag anwesenden Polen — darunter auch Dmowski — sich von den trügerischen Perspektiven des Neoslawismus nicht blenden liehen. Auf dem nächsten Kongreß in Moskau blieb Dmowski schon ganz vereinsamt, während am letzten Slawenkongreß in Sofia überhaupt keine Polen mehr teilnahmen. Die dringenden Vorstellungen von sranzösischer Seite, die zuletzt noch 1913 in einer Denkschrift an den Zaren erfolgten, im Hinblick auf den be­ vorstehenden Angriff gegen Deutschland die Lage der Polen zu verbessern, fanden bei der russischen Regierung kein Gehör. Über die Bedeutungslosigkeit der polnischen Huldigungsadrefle an den Zaren vom August 1914, die nur 69 Unterschriften trug, über den Wert der verspäteten Versprechungen des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch und Gvremykins, brauchen wir hier keine Worte mehr zu verlieren. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß noch im November ein geplanter Kongreß der in Moskau lebenden Polen und polnischen Flüchtlinge von der Regierung nicht gestattet wurde.

Weit weniger bekannt, als die geschilderten Verhältnisse in Kongreßpolen, ist die Geschichte der rustischen Verwaltung im West gebiet. Sie ist jedoch von großem Intereffe, weil sie den Geist der russischen Verwaltung überhaupt besonders drastisch veranschaulicht. Obgleich im Nordwestgebiet die Mehr­ heit der Bevölkerung aus Litauern und Weißrusten, im Südwest­ gebiet aus Ukrainern besteht, so gehört die Besprechung dieser Teile des ehemaligen Königreichs Polen doch in den vorliegenden

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Abschnitt, da diese Provinzen bis heute vorwiegend polnisches Kulturgebiet geblieben sind, und alle Bedrückungen und Verfol­ gungen sich hier in erster Linie gegen das Polentum und den Katholizismus richteten. Unter der Regierung Alexanders I. hatte das Westgebiet, wie schon oben erwähnt wurde, noch in keiner Weise zu leiden gehabt. Auch die Repressalien nach dem Aufstande von 1830 wurden hier wohl nicht so schwer empfunden wie in Kongreßpolen, das bis dahin eine recht weitgehende Autonomie besessen hatte. Das Jahr 1840 aber brachte hier eine furchtbare brutale Wiederholung der Kirchenverfolgung, wie sie schon unter Katharina II. stattgefun­ den hatte. In diesem Jahre wurde durch einen zarischen Ukas die Brester Union von 1595 aufgehoben und den Unierten anbe­ sohlen, in die russische Staatskirche zurückzukehren. Da die Unierten trotzdem an der ihnen liebgewordenen katholischen Kirche festhielten, wurden einfach Kosaken aufgeboten, die an Sonn- und Feiertagen das „widerspenstige Volk" unter Knutenhieben in die russischen Kirchen zu treiben hatten! — Eine Verfügung, nach welcher kein Pole im Westgebiet Beamter werden durfte, wurde erst 1855 erlassen, aber unter der folgenden Regierung bereits 1857 wieder aufgehoben. Auch das oben erwähnte Reformgesetz vom 27. März 1861 brachte auch für das Westgebiet zunächst noch wesentliche Erleichterungen. Erst mit dem Jahre 1863 beginnt das eigentliche, dauernde Martyrium dieser unglücklichen Provinzen, die seit dieser Zeit von zwei Generalgouverneuren in Wilna und Kiew in einer Weise regiert wurden, die vielfach an den General Kantschukoff in der „Fatinitza" erinnerte. Einige Zeit, nachdem der General Murawjeff seine blutige Henkerarbeit in Wilna beendet hatte, bildete sich in Petersburg das „Westkomitee", eine aus den höchsten Regierungsvertretern bestehende Kommission zum Zweck „der völligen Russifizierung des Westgebietes". Von dieser Kommission wurde am 10. Dezember 1865 zunächst ein Gesetz erlassen, welches „allen Personen polnischer Herkunft" den Güter­ kauf im gesamten Westgebiet streng untersagte. Der juristisch recht unklare Begriff der „polnischen Herkunft" in diesem Gesetz hatte im Lauf der Jahrzehnte einen wahren Rattenkönig von höchst verworrenen, „gesetzlichen" und administrativen Verfügun­ gen, Verboten und Erläuterungen zur Folge, in denen sich schließ-

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lich selbst gewiegte Rechtsgelehrte nicht mehr zurecht finden tonnten. So entschied das Domänenministerium in einer Erläuterung dieses Gesetzes im Jahre 1869, daß für die Entscheidung der Frage „nur die Nationalität und nicht die Konfession" maß­ gebend sei. Zur gleichen Zeit wurde dem protestantischen Major Harting ein Gutskauf nicht gestattet, weil er mit einer Polin ver­ heiratet war, und seine Kinder wahrscheinlich katholisch sein würden. In zwei, auf diesen und ähnliche Fälle sich beziehenden Verfügungen von 1869 und 1870 entschied das Ministerium des Innern, daß Protestanten, die mit einer Katholikin verheiratet sind, unter allen Umständen-wie „Personen polnischer Herkunft" zu behandeln seien. Hier war also nur wieder die Konfession des einen Ehegatten maßgebend! — Nach einer Senatsentscheidung vom 10. November 1871 sollten, ebenso wie die Edelleute, auch alle katholischen Kleinbürger im Westgebiet als „Polen" ange­ sehen werden, während nach einer Verfügung des Ministerrats vom 14. Juni 1868 die katholischen Bauern nicht als Polen galten. Dagegen verfügte der Generalgouverneur von Wilna von sich aus in einem Rundschreiben vom Jahre 1885 an die Gouverneure, daß katholische Bauern „unzweifelhaft" als Polen anzusehen seien. (!) Der spätere Generalgouverneur von Wilna, Orschewfky, die Krone aller dieser Duodeztyrannen, brachte diese schwierigen Fragen, da er offenbar kein Freund lästigen Kopfzerbrechens war, aus die allereinfachste Formel, indem er überhaupt jeglichen Kauf oder Verkauf von Grund und Boden in seinem Herrschaftsbezirk untersagte, und damit die ganze wirtschaftliche Entwicklung des ausgedehnten Gebiets lahmlegte. Das Recht, Landgüter zu pachten, war den Polen schon früher, durch eine Verfügung des Ministerrats vom 27. Dezember 1884, genommen worden. Wie man sieht, wurde an dem Kautschukgesetz von 1865 so lange her­ umgezerrt und geknetet, bis tatsächlich nichts anderes mehr übrig blieb, als die roheste Willkür der Generalgouverneure. Von diesen Satrapen des Westgebiets sagte der alte Fürst Meschtschersky in seinem Blatte „Grashdanin", sie sähen ihren einzigen Lebenszweck in der Erregung von Unruhen und Revolten, denn wo es solche nicht gäbe, seien Generalgouverneure überhaupt ganz unnütz.

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Neben der wirtschaftlichen Knebelung der Polen kam es zu weiteren Beschränkungen ihrer staatsbürgerlichen Rechte, — Beschränkungen, wie sie nicht nur in Europa, sondern auch in den meisten asiatischen Ländern ganz undenkbar wären. So wurde vom „Westkomitee" zunächst am 27. Mai 1864 ein Gesetz er­ lassen, nach welchem alle höheren Beamtenposten, sowie alle Stellungen, in denen der Beamte mit der Bevölkerung häufiger in Berührung kommt, im Westgebiet nicht mehr mit Polen be­ setzt werden durften. Dieses „Gesetz", das an sich schon einen groben Rechtsbruch gegenüber den russischen Grundgesetzen dar­ stellte und außerdem sehr elastisch war, konnte den russischen Ge­ walthabern auf die Dauer noch lange nicht genügen. So wurde auf dem in Rußland so sehr beliebten Wege der geheimen In­ struktionen die Zahl der einschränkenden Bestimmungen ständig vermehrt, um die materielle Existenz der Polen im weitesten Um­ fange zu untergraben. Nicht allein aus allen staatlichen Stellun­ gen, sondern auch aus fiskalischen Betrieben, aus kommunalen und selbst privaten Verwaltungen im Westgebiet wurden die Polen verdrängt. Kein Pole konnte hier Schutzmann oder Ge­ meindeschreiber werden, von allen höheren Stellungen ganz zu schweigen! Und als die Agrarbank in Kiew begründet wurde, mußte die Direktion sich dem Generalgouverneur schriftlich ver­ pflichten, keine Polen als Bankbeamte (!) anzustellen. In späterer Zeit wurden die Polen durch eine Verordnung vom 20. Februar 1894 auch aus dem Dienst auf allen Eisenbahnen im Westgebiet entfernt. Nur auf einigen Bahnen konnte ein ge­ ringer Prozentsatz von Polen die niedersten Stellungen erhalten, während auf anderen selbst der Posten eines Weichenstellers oder Heizers, und auch die Pacht eines Bahnhofrestaurants, einem Polen unerreichbar blieben. Der Gebrauch der polnischen Sprache im schriftlichen und mündlichen Verkehr mit den Behörden war natürlich streng untersagt, der Generalgouverneur Potapoff erließ jedoch am 22. März 1868 eine Verfügung, nach welcher die polnische Sprache auch in allen öffentlichen Versammlungen, Theatern, Klubs und auf den Straßen verboten wurde, wenn sie in „demon­ strativer" Weise gebraucht wurde. Dieses Verbot wurde allmäh­ lich immer mehr verschärft, so durch ein Zirkular vom 29. April 1881 für alle Fälle, die „die Grenzen eines Privatgespräches

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überschritten", durch eine Verfügung vom 13. November 1885 für „jedes laute Gespräch", bis endlich durch ein Zirkular vom 24. Juni 1893 der famose Generalgouverneur Orschewski überhaupt jedes polnische Gespräch ohne Ausnahme verbot! So hatten Bauern, denen im Verkehr mit den Behörden unversehens ein polnisches Wort entschlüpfte, 3 Rubel Strafe zu zahlen, Gäste im Adelsklub in Wilna, die beim Kellner ein Glas Tee in polnischer Sprache bestellten, hatten dieses „Vergehen" mit 25 Rubel zu büßen, so wurde die berühmte österreichische Sängerin Marcella Sembrich, weil sie in einem Konzert in Wilna ein polnisches Lied gesungen hatte, mit 100 Rubel von der Polizei gepönt!

Daß bei derartigen Rechtsbeschränkungen von einer länd­ lichen Selbstverwaltung (Semstwo) im Westgebiet keine Rede sein konnte, und Adelsversammlungen überhaupt nicht gestattet waren, braucht hier wohl kaum noch vermerkt zu werden, ebenso, daß auch alle Rusten im Westgebiet, die mit einer Polin ver­ heiratet waren, denselben Beschränkungen unterworfen waren. Die entsetzlichsten Zustände entwickelten sich seit den sechziger Jahren aus dem kirchlichen Gebiet. Sind schon in manchen west­ europäischen Ländern die Beziehungen zwischen Staat und Kirche nichts weniger als normale, so erscheint das Verhalten der russi­ schen Regierung zur katholischen Kirche im Westgebiet als etwas ganz Ungeheuerliches, das an die finstersten Zeiten des Mittel­ alters erinnert. Wirkliche Gesetze, welche die katholische Kirche betreffen, gibt es in Rußland nicht, während die administrativen Verordnungen, die die staatlichen Beziehungen zu dieser Kirche regeln, meist in ein strenges Geheimnis gehüllt sind. Die allge­ meinen Bestimmungen über die christlichen Konfessionen, die in den russischen Grundgesetzen und im Statut des geistlichen Departements für ausländische Konfessionen enthalten sind, lauten wie folgt: „Die erste und herrschende Kirche im russischen Reiche ist die christlich rechtgläubige usw. . . . Aber auch alle nicht zu dieser Kirche gehörenden Untertanen des Reiches und die Ausländer ge­ nießen im Reich, im Zartum Polen und in Finnland die Freiheit ihres Glaubens und ihres Gottesdienstes."

Dieses Gesetz, das außerdem noch ausdrücklich den Juden, Mohammedanern und Heiden die Freiheit des Glaubens zu-

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sichert, mutz man im Auge behalten, um die endlose Reihe grober Rechtsbrüche gegenüber der katholischen Kirche richtig einzu­ schätzen. So erschien schon am 24. Januar 1866 eine Verord­ nung des Generalgouverneurs, welche eine Einrichtung, die dem katholischen Volke besonders teuer ist, die feierlichen Prozessionen, in den Städten vollkommen untersagte, in den Dörfern aber nur innerhalb der die Kirche umgebenden Umzäunung gestattete, und auch das nur, wenn die Kirche so klein war, daß eine Prozession im Innern des Gotteshauses unmöglich schien. Im Jahre 1878 wandte sich der Generalgouverneur Albedinsky, ein weißer Rabe in der Reihe der brutalen Satrapen von Wilna, mit einer Ein­ gabe an den Minister des Innern, in der er um Milderung dieser harten Bestimmungen bat, durch die eine furchtbare Erbitterung im Volke hervorgerufen wurde. Er erreichte nur einen Aller­ höchsten Befehl vom 1. Dezember 1878, nach welchem Prozessio­ nen nur in den Dörfern des Gouvernements Kowno an „von der Obrigkeit zu bestimmenden Tagen" gestattet wurden. Schon früher hatte Murawjeff, durch ein Zirkular vom 8. Juni 1864, den Kampf gegen einen anderen frommen Brauch der Katholiken ausgenommen. Diese Verfügung untersagte die Errichtung oder Ausbesserung von Kruzifixen an den Wegen, ohne besondere Erlaubnis der Behörden. Dieser russische Kreuz­ zug gegen die Kreuze artete schließlich so aus, daß die Polizisten sogar auf den katholischen Friedhöfen die Errichtung von Grab­ kreuzen (!) hinderten, und der brutale Gewaltmensch Murawjeff selbst den Übereifer seiner Schergen durch ein zweites Zirkular vom 13. September 1864 dämpfen mußte. In dieser Verfügung, welche die ungeheuerliche Tatsache von den Grabkreuzen fest­ ste l l t, befiehlt Murawjeff nur über die Errichtung solcher Kruzi­ fixe zu berichten, die anscheinend in „politischer Absicht" (?) auf­ gestellt würden! Durch den erwähnten Allerhöchsten Befehl vom 1. Dezember 1878, der auch Bestimmungen über die Kruzifixe enthielt, traten zwar gewiße Erleichterungen ein, die jedoch unter der Regierung Alexanders III. wieder verschwanden. Immer noch versetzt das geheiligte Symbol der Christenheit, wenn es irgendwo errichtet wird, die ganze russische Beamtenhorde, vom Landpolizisten bis zum Generalgouverneur, in eine Aufregung, wie sie das Kreuz auf Golgatha unter den Juden von Jerusalem kaum hervorgerufen hat, eine Aufregung, die das abergläubische

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Landvolk sonst wohl als eine Eigenheit des Teufels anzusehen pflegt!

In einer besonders heiklen Lage befinden sich in Rußland die katholischen Bischöfe, da sie mit ihrem geistlichen Oberhaupt in keinen direkten Verkehr treten dürfen. Alle päpstlichen Bullen und sonstigen Erlaße gelangen an die Erzbischöfe erst, nachdem sie die Zensur im russischen Ministerium des Innern passiert haben, wo sie erforderlichen Falles natürlich auch ganz unterschlagen werden können. Die Lage der Bischöfe gegenüber den Behörden veranschaulicht mit genügender Klarheit die nachstehende Be­ gebenheit aus dem Jahre 1884. Im Juli dieses Jahres hatte sich der Bischof Hryniewicki von Wilna eilig nach Grodno begeben, um eine von einem dortigen Priester verursachte Skandalaffäre persönlich zu untersuchen. Er erhielt darauf einen schriftlichen Verweis vom Generalgouver­ neur, daß er, ohne dessen Erlaubnis eingeholt zu haben, diese Fahrt unternommen habe. Der Bischof antwortete in einem längeren, sehr ausführlichen Schreiben, in dem er zum Schlüsse darauf hinwies, daß er vom Zaren als Bischof bestätigt sei und keine Behörde das mindeste Recht besitze, ihn an der Erfüllung feiner bischöflichen Pflichten zu behindern. Diesen Streit be­ endigte der Minister des Innern, Graf Tolstoi, durch ein Schreiben vom 17. August 1884, das zum Schluffe die charakte­ ristische Wendung enthält: „Nicht die administrativen Verord­ nungen stehen in Abhängigkeit von der Lehre und den Vorschrif­ ten der katholischen Kirche, wie der Bischof annimmt, sondern gerade umgekehrt usw."

Als dieser Bischof im Mai 1887 zur Kur in das Mineralbad Druskeniki kam, sprach der Gouverneur von Grodno in einem geheimen Schreiben an den Generalgouverneur vom 4. Juni die „Befürchtung" aus, der Bischof könne in Druskeniki am Fron­ leichnamsfest vielleicht einen feierlichen Gottesdienst abhalten, und bat deshalb um „Verhaltungsmaßregeln" (!). Diese Leuchte der Beamtenschaft erhielt darauf den Bescheid, man könne den Bischof an einem solchen Gottesdienst nicht hindern. Bald darauf wurde der Bischof Hryniewicki wegen seines fortgesetzten Wider­ standes gegen die groben Rechtsverletzungen der Gouverneure in die Verbannung in das östliche Rußland geschickt.

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Bei ihren Fahrten durch ihre Eparchie sind die Bischöfe von einer großen Eskorte von Polizisten umgeben, die ein naiver Europäer für ein Ehrengeleit halten könnte. Indesten ist es das­ selbe Ehrengeleit, das in Rußland gefährlichen politischen Ver­ brechern zuteil zu werden pflegt. Tatsächlich haben diese Poli­ zisten die Aufgabe, jedes Wort, jeden Schritt, jede Bewegung des Bischofs zu überwachen und über alles „Verdächtige" zu berich­ ten. So berichtet z. B. der Gouverneur von Grodno in einem amtlichen Schreiben vom 2. Oktober 1884, „der Bischof habe beim Besuch der Klosterkirche der Bernhardinerinnen in Slonim s o ge­ sprochen, daß die Gemeinde geweint habe", „höchst verdächtig sei der Umstand, daß die anwesenden Damen Trauerklei­ dung getragen hätten," „bei dem Eintritt des Bischofs in die Kirche hätten kleine Mädchen ihm Blumen gestreut, er habe je­ doch bereits dem Isprawnik (Polizeichef) den Befehl erteilt, ein solches Blumenstreuen in Zukunft zu verhindern. (!)" In einer noch weit traurigeren Lage befinden sich natürlich die katholischen Pfarrer, die nur mit Genehmigung der Gouver­ neure ernannt werden dürfen. Jeder ihrer Schritte wird von der Polizei überwacht und belauert, auf Schritt und Tritt drohen ihnen mehr oder minder empfindliche Geldstrafen von 10 bis 400 Rubel. In dem wüsten Knäuel von Verordnungen, Ver­ boten und Erläuterungen, die sich zum Teil widersprechen, können besonders junge, noch unerfahrene Geistliche sich unmöglich zurechtsinden, so daß sie nur selten einer Geldstrafe entgehen. Die Lage dieser unglücklichen Priester wird am besten durch die nach­ stehenden Fälle von Bestrafungen aus den neunziger Jahren ver­ anschaulicht, die aus der Überfülle des vorliegenden Materials herausgegriffen sind. Der Priester Josef Rauba hatte 1888 den Friedhof seiner Gemeinde mit einer steinernen Mauer umgeben und außerdem über eine Reihe von Gräbern auf Wunsch der Hinterbliebenen steinerne Grabdenkmäler errichten lassen. Fünf Jahre später „schien" es der Polizei, daß die ganze Anlage des Friedhofs an einen „Kalvarienberg" erinnere, wofür Rauba vom General­ gouverneur mit 100 Rubeln gestraft wurde. Der Priester llssel von der Gemeinde Orikszty wurde mit 25 Rubel gestraft, weil die Bauern seiner Gemeinde 1893 ge­ klagt hatten, daß die Polizei sie bei Leichenbegängnisien hindere.

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polnische Kirchenlieder zu singen. Da die polnische Sprache ver­ pönt war, wurde meist lateinisch gesungen, die Polizisten stürzten sich aber auch im letzteren Falle häufig auf das Leichengefolge und hinderten es am Singen. Der Priester Peter Borowski aus Telszy wurde mit 50 Rbl. gestraft, weil er während eines mehrwöchigen Urlaubs in Kurland dort eine Messe gelesen hatte.

Der Priester Sidorowicz wurde 1893 mit 100 Rbl. gestraft, weil er den Bretterzaun um seine Kirche durch eine Mauer er­ setzt hatte, mit weiteren 100 Rbl., weil bei dieser Gelegenheit in der Kirche ein Bild des Bischofs Hryniewicki gefunden wurde. Der Priester Albin Olseiko aus Radziwillisziki war im April 1893 lebensgefährlich erkrankt und mußte in einer Klinik in Riga operiert werden. Er wurde mit 25 Rbl. gestraft, weil er die Er­ ledigung seiner Bittschrift wegen der Fahrt nach Riga nicht ab­ gewartet (!!) hatte. Der Priester Adolf Moczulski wurde im August 1893 mit 20 Rbl. gestraft, weil er am Tage vor Weihnachten 1892 in seiner Gemeinde Abendmahlsvblaten verteilt hatte (?). Der Priester Krzizewicz wurde 1893 mit 100 Rbl. gestraft, weil er einen in einer Nachbargemeinde verstorbenen Gutsbesitzer beerdigt und dabei eine polnische Leichenrede gehalten hatte. Der Priester Buczynski wurde 1893 mit 100 Rbl. gestraft, weil er das Haus des katholischen Bauern Ignacy Bogucki, dessen Familie zum Teil der orthodoxen Kirche angehörte, eingeweiht hatte. Der Priester Viktor Rusteiko in Schaulen wurde 1893 mit 150 Rbl., sein Vikar mit 50 Rbl. gestraft, weil der erstere in der Kirche von dem nahe bevorstehenden Jubiläum des Papstes Leo XIII. Mitteilung gemacht, der letztere aber später freiwillige Spenden für den Peterspfennig entgegengenommen hatte. Der Priester Korn wurde 1893 mit 100 Rbl. gestraft, weil er das neugeborene Kind des Bauern Marcyn Matufsewicz katho­ lisch getauft hatte, das später jedoch von der orthodoxen Kirche „reklamiert" wurde.

Der Priester Pawlowski wurde 1893 mit 100 Rbl. gestraft, weil er eine von der Gemeinde geschenkte Kirchenglocke m i t G e -

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nehmigung der Polizei im Turm aufgehängt, dabei aber die morschen Tragbalken durch neue ersetzt hatte. Für den letzteren Akt hatte er keine besondere Erlaubnis erhalten. (!) Schon bei dieser kurzen Aufzählung von Bestrafungen ist die Mannigfaltigkeit der „Vergehen" ebenso auffallend, wie der Um­ stand, daß gerichtliche Verurteilungen überhaupt nicht statt­ fanden. Eine gerichtliche Behandlung vertrugen jedoch alle diese angeblichen Verfehlungen nicht, da auch nach russischen Gesetzen hier in keinem einzigen Falle tatsächlich ein Ver­ gehen vorgelegen hatte. Dagegen zeigten die Verwaltungsbeamten im Konstruieren immer neuer „Vergehen" eine bemerkenswerte Erfindungsgabe. So ließ der Wütrich Orschewsky im Sommer 1893, weil aus einem katholischen Leichenbegängnis ein Bläser­ chor einen Choral angestimmt hatte, den Priester mit 100 Rbl. strafen, die Hinterbliebenen und Musikanten aber kurzerhand ins Gefängnis (!) stecken (Amtliches Schreiben des Gouverneurs von Kowno vom 6. August 1893 unter Nr. 10148). In allen diesen Fällen handelte es sich um rohe, vollkommen ungesetzliche Will­ kürakte gemeiner und beschränkter Gouverneure. Das russische Strafgesetz weiß nichts von solchen Vergehen, wendet sich aber mit großer Schärfe gegen die religiöse Propaganda. Wenn diese von russischen Popen betrieben wird, so handelt es sich nach russi­ schen Rechtsbegriffen um ein hvchverdienstliches Werk, während katholische und protestantische Geistliche oder Laien im analogen Falle ein schweres Verbrechen begehen, das mit dem Verlust aller Rechte und Verbannung nach Sibirien bestraft werden kann. Die namentlich unter Alexander III. einen immer größeren Umfang nehmende Schließung katholischer Kirchen und Klöster wurde bereits im vorigen Abschnitt über Litauen erwähnt, ebenso die blutigen Vorgänge bei der gewaltsamen Schließung der Kloster­ kirche in Krozy am 10. November 1893. — Die seit 1869 in vielen Pfarrbezirken beginnende, gewaltsame Einführung der russischen Sprache in den katholischen Gottesdienst, wobei man mit großer Brutalität vorging, wurde durch einen Beschluß des Minister­ rats vom 1. November 1887 wieder völlig fallen gelaßen, da diese Maßregel vom Ministerrat als „höchst gefährlich" für die russische Staatskirche angesehen wurde. Das heißt, 18 Jahre lang hatte man Bischöfe und Priester des Amtes entsetzt, die ganze Bevöl­ kerung bis zum Äußersten erregt und erbittert, um dann plötzlich

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zu erkennen, daß diese gewaltigen Anstrengungen nur die eigene Staatskirche gefährden konnten!! — Die geringen Erleichterungen nach der Revolution von 1905 waren nur von kurzer Dauer, da die unentwegten Bemühungen des „Heiligen Synods", die Tole­ ranzedikte vom 17. April und 17. Oktober dieses Jahres wirkungs­ los zu gestalten, durchaus erfolgreiche waren. Auch auf dem Gebiet des Schulwesens waren die Verhältnisie im Westgebiet noch sehr viel traurigere, als in Kongretzpolen. Die Schulverwaltung betrachtete es hier als ihre vornehmste Aus­ gabe, die polnische Nation und den katholischen Glauben auszu­ rotten. In den bereits seit 1863 russifizierten Schulen war man seit 1869 bemüht, die russische Sprache auch in den Religions­ unterricht einzuführen, was die Entlasiung vieler Religionslehrer zur Folge hatte und in den weitesten Kreisen große Erbitterung hervvrrief. Den polnischen Schülern war der Gebrauch ihrer Muttersprache auch außerhalb der Schule streng untersagt; nicht selten wurden polnisch sprechende Schüler, die zufällig ihren rufsischen Lehrern auf der Stratze begegneten, von diesen mit Faust­ schlägen mitzhandelt. Seit 1880 begann die Schulverwaltung des Wilnaer Lehrbezirks (6 Gouvernements) die katholischen Schüler und Schülerinnen an hohen Feiertagen zum Besuch der russischen Kirchen zu nötigen, was im ganzen Gebiet eine furchtbare Er­ regung hervvrrief. Um die niederträchtige Gemeinheit dieser Matzregel richtig einzuschätzen, mutz man im Auge behalten, daß die Satzungen der katholischen Kirche die Teilnahme am Gottes­ dienst fremden Konfessionen streng verbieten. Der vom Bischof von Telszy gegen diese Maßregel geführte, jahrelange Kampf blieb erfolglos, auch der Minister der Volksaufklärung teilte dem Bischof in einem Schreiben vom 26. Oktober 1887 mit, „er halte diese Matznahme der Schulverwaltung für durchaus korrekt". Infolge des Widerstandes vieler Religionslehrer gegen diese Verfügung wurden 1889 auf Allerhöchsten Befehl die meisten von ihnen in Klöster oder entfernte Gegenden verbannt, der Bischof von Telszy aber der Hälfte seines Gehalts beraubt. Da auch viele protestantische Schüler in Litauen zum Besuch der rusiischen Kirche gezwungen worden waren, so richtete das kurländische evangelisch­ lutherische Konsistorium an die Verwaltung des Wilnaer Lehr­ bezirks im April 1889 einen scharfen Protest, der als Antwort aber nur die lügenhafte Angabe zur Folge hatte, solche Fälle seien

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überhaupt nicht vorgekommen. Im Sommer dieses Jahres richtete die Gräfin Subow, eine geborene Russin, als Vorsteherin eines Mädchenpensionats in Schaulen, an den Zaren ein längeres Schreiben, in dem sie ihn beschwor, die barbarische Maßregel auf­ zuheben, die in allen besseren Elementen unter der Schuljugend einen furchtbaren Hatz gegen die Regierung erzeuge, in den schlech­ teren aber jede Religion und Moral untergrabe. Auf dieses Schreiben einer wahrhaften russischen Patriotin fand Alexan­ der III. keine bessere Antwort, als die folgende Randbemerkung: „Ich denke, niemand hindert die Kinder, nach dem Gottes­ dienst in der russischen Kirche ihre katholischen Gotteshäuser auf­ zusuchen, wenn aber diese Maßregel wirklich so verderblich auf sie einwirkt, so muß man darüber nachdenken."

Dieses Nachdenken ist ausgeblieben. Auch durch das von der päpstlichen Kongregation am 28. Juni 1889 in Rom erlassene, verschärfte Gebot, die Kirchen Andersgläubiger zu besuchen, ist es nicht gefordert worden. Erst die Revolution 1905 hat den Denk­ prozeß in den leitenden Kreisen Petersburgs vorübergehend an­ regen können. Unter der Regierung Nikolaus' II. trat zunächst durchaus keine Änderung dieses Kurses ein, im Gegenteil — die Verhältnisse wurden noch sehr viel schlimmer. An verschiedenen Orten des Westgebiets kam es zu drohenden Zusammenrottungen des er­ regten Volkes, die mehr oder minder blutig unterdrückt wurden.

Die geringfügigen, zum Teil auch nur vorübergehenden Er­ leichterungen im letzten Jahrzehnt bezogen sich fast ausschließlich auf Kongretzpolen. Aber auch hier wurde, wie schon erwähnt, die Entwicklung des polnischen Schulwesens sehr bald wieder unter­ drückt, und auch die Fesseln, mit denen die zu fast völliger Ohn­ macht und Bedeutungslosigkeit herabgedrückte Warschauer Hoch­ schule geknebelt war, sind erst vom deutschen Schwerte durch­ schnitten worden. Im Westgebiet ist in neuerer Zeit in Ausnahme­ fällen, natürlich auch nur mit besonderer Genehmigung des Ge­ neralgouverneurs, Personen polnischer Herkunft der Güterkauf ge­ stattet, auch die sogenannte „Kontribution", die Jahrzehnte hin­ durch von den Gutsbesitzern erhobene, bis zu 15 Prozent des Durchschnittsertrages gesteigerte Strafzahlung für den Aufstand von 1863, wieder ermäßigt worden. Erst der Ministerpräsident

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Stolypin, der als Gutsbesitzer im Gouvernement Kvwno die Ver­ hältnisse im Westgebiet aus persönlicher Anschauung kannte, faßte den Plan, hier wie auch in Kongreßpolen, durch Einführung einer kommunalen Selbstverwaltung mit nationalen Kurien wieder men­ schenwürdige Zustände zu schaffen. Aber auch dieses Projekt mit seinen bescheidenen Zugeständnisten wurde im März 1911 von seinen Hauptgegnern, den verstockten Reaktionären Trepow und Durnowo, zu Fall gebracht. Sein Nachfolger Kokowzow trat noch 1913, vermutlich unter dem Drucke der oben erwähnten französi­ schen und englischen Mahnungen, im Reichsrat und der Duma warm für das Projekt ein, aber auch er scheiterte an dem Wider­ stand der nationalistischen Querköpfe.

Unter solchen Umständen konnten die rusiophilen Strömungen in Polen und im Westgebiet, soweit sie ernstlich gemeint sind, bei keinem wirklich patriotischen Polen Anklang finden und höchstens als Ausdruck einer hoffnungslosen Resignation gelten. Das mo­ derne Polen ist ein Land mit einer zwar noch jungen, aber starken und zielbewußten Demokratie, deren politische Bestrebungen wohl durch nationale, nicht aber durch slawische Ideale beeinflußt wer­ den. Wenn der beste Kenner der slawischen Volksseele, der Tscheche Thomas Masaryk, meinte, der Panslawismus werde stets an der polnischen Frage scheitern, und nicht der Panslawismus, sondern der Panasiatismus müsie die Richtlinie für eine große Politik Rußlands abgeben, so werden alle politisch Urteilsfähigen mit ihm übereinstimmen.

Darum denkt und fühlt die ungeheure Mehrheit des polni­ schen Volkes auch heute noch wie sein großer Dichter Mickiewicz, der Rußland und Polen als zwei sich unbedingt ausschließende Geisteswesen bezeichnete, darum bleibt der Gegensatz zwischen der polnisch-lateinischen und der moskowitisch-byzantinischen Kultur unüberbrückbar.

R e v e l ft e i n, Not der Fremdvölker.

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Die Ukraine und Weißrußland. 3n bezug auf diese Gebiete mutz zunächst die Frage klar­ gestellt werden, ob ihre Bewohner im russischen Staate auch wirk­ lich als eigentliche Fremdvölker anzusehen sind, ob sie demnach überhaupt in den Rahmen unserer Besprechungen miteinzube­ ziehen sind. Von den eigentlichen Russen oder Grotzrusten wird diese Frage ganz entschieden verneint. Von ihnen wird — sowohl offiziell wie in der landläufigen öffentlichen Meinung mit großem Eifer die These verfochten, daß diese slawischen Volksstämme ebenso als „Russen" zu gelten hätten, wie etwa die Schwaben, Franken, Alemannen und andere deutsche Stämme als Deutsche bezeichnet werden. Diese Anschauung ist von der wissenschaftlichen Kritik längst widerlegt worden. Was zunächst die Ukrainer betrifft, so haben ausländische und russische Gelehrte, wie Schleicher, Miklosich, Lawrowski, Dahl, Schachmatow u. a., ihnen den Charakter eines anthropologisch wie linguistisch vollkommen selbständigen Volkes zuerkannt. Mit ihren hochgewachsenen, hageren und sehnigen Ge­ stalten, ihrem langen Halse, der meist langen und spitzen Rase, dem dunkeln Haar und dem träumerischen Blick der braunen, schwermütigen Augen, gleichen die Ukrainer von reinem unver­ mischten Typus meist eher den Südslawen als den Großrussen. Wer die slawischen Völker aus eigener Anschauung genauer kennt, wird gewitz dem Historiker Kostomarow und dem Anthropologen Deniker beipslichten, nach welchen die Ukrainer mit den Balkan­ slawen zur adriatischen Rasse gehören, die der nordslawischen recht fern steht. Die Stellung ihrer Sprache könnte man allenfalls mit der der Niederdeutschen vergleichen, die ja auch, gerade wie das Ukrainische, nicht eine Mundart, sondern eine aus vielen verschie­ denen Dialekten bestehende, selbständige Sprache ist. Die von den Russen „Malorossy" oder Kleinrussen genannten Ukrainer, die gegenwärtig etwa 34 Millionen zählen, waren nach­ weislich schon im 5. Jahrhundert n. Chr. in ihren jetzigen Wohn­ sitzen ansässig. Vom 9. bis 14. Jahrhundert bildeten sie einen selb­ ständigen, starken Staat unter Fürstengeschlechtern skandinavischer Abstammung, von denen sich auch die in Ssterreich gebräuchliche

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Bezeichnung „Ruthenen" herleitet. Der großzügige Plan ihres germanischen Fürsten, Wladimir des Heiligen, dieses Volk mit allen anderen slawischen Stämmen in Rußland zu einer großen, einheitlichen Nation zusammenzuschweißen, ist schon damals, zu Ende des 10. Jahrhunderts, völlig mißlungen und konnte in ethno­ graphischer Hinsicht bis heute noch nicht verwirklicht werden. Im 14. Jahrhundert geriet das durch asiatische Horden wiederholt furchtbar verwüstete und geschwächte Land unter die Herrschaft des Grobfürstentums Litauen, wobei es sich eine gewisse Unab­ hängigkeit noch zu wahren wußte. Die Lubliner Union von 1569, die zu einer völligen Verschmelzung Litauens und Polens führte, brachte den größten Teil der Ukraine unter polnische Herrschaft, die in kultureller Beziehung nicht ohne günstige Einwirkung blieb, im allgemeinen dem Lande aber nicht zum Segen gereichte. Die schlechte Verwaltung hemmte die Entwicklung des reichen und fruchtbaren Landes, während auch die religiösen Gefühle der grie­ chisch-orthodoxen Ukrainer vielfach ganz unnötig verletzt wurden. Diese politischen Fehler haben sich in der späteren Geschichte Polens schwer genug gerächt. Durch die ziemlich gewaltsam vollzogene Brester Kirchenunion von 1595 verschärften sich noch die beständi­ gen Reibungen zwischen den Polen und den an ungebundene Freiheit gewöhnten ukrainischen Kosaken. Die osteuropäische Ge­ schichte jener Zeit und der folgenden Jahrhunderte kennzeichnet sich im wesentlichen als ein ununterbrochenes Ringen zwischen Polen, Schweden, Russen und Türken um die Herrschaft an der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Die in der Mitte der kämpfen­ den Mächte belegenen, demokratisch-militärischen Kosakenrepubliken konnten in ihren wiederholten Befreiungskämpfen gegen Polen und Russen ihre staatliche Selbständigkeit deshalb nur ganz vor­ übergehend behaupten. Im Jahre 1654 geriet die Ukraine zuerst in die Abhängigkeit vom moskowitischen Zarenreiche. In diesem Jahre war der Hetman Bvhdan Chmelnyzky, nach glänzenden Siegen über die Polen, trotzdem genötigt, mit denz Zaren von Moskau den Ver­ trag von Perejaslaw abzuschließen, durch welchen die Ukraine in Form einer Personalunion mit dem moskowitischen Reich ver­ einigt wurde. Zwar wurde dem Lande eine fast vollständige Auto­ nomie verbürgt, aber bereits 1667 wurde die ganze Ukraine zwischen Polen und Rußland geteilt, so daß der Dnjepr die Grenze

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bildete, und später 1686 auch Kiew an Moskau abgetreten. Auch der letzte Befreiungskampf, den der Hetman der russischen Ukraine, Mazeppa, im Bunde mit den Schweden unter Karl XII. unter­ nahm, um das verhaßte moskowitische Joch abzuschütteln, hatte keinen Erfolg und endete 1709 mit der unglücklichen Schlacht bei Poltawa. Die Erinnerung an diese Zeit, in der die Ukrainer im Bunde mit einer germanischen Macht gegen die Moskowiter kämpften, ist gerade gegenwärtig in allen nationalgesinnten Be­ wohnern des Landes besonders lebendig. Nach dieser entscheidenden Niederlage wurde die Selbständig­ keit der östlichen Ukraine mit allen ihren „verbürgten" Rechten fast völlig vernichtet. Die Hetmanschaft wurde zwar noch beibehalten, doch kam der Hetman fast ganz unter die Vormundschaft eines Kollegiums von russischen Beamten, die ihm beigegeben wurden, um diesen Rest des freien Kosakentums allmählich ganz zu besei­ tigen. 3m 3ahre 1774 wurde die Hetmanschaft denn auch gänz­ lich abgeschafft und der sich noch regende Widerstand von der Despotin Katharina II. mit gewohnter Grausamkeit unterdrückt. So wurde der Hetman Mnohohrischny nach Sibirien verbannt, der andere Hetman Samoilowitsch nebst anderen Kosaken hin­ gerichtet und Kalnyschewsky, der Befehlshaber der alten, 1775 zerstörten Burg der „Saporogen", mit lebenslänglichem Gefäng­ nis bestraft. — Nach der zweiten Teilung Polens wurde 1793 auch die ganze polnische Ukraine dem rusiischen Staate einverleibt. Wie in den meisten Grenzgebieten, so fällt auch in der Ukraine die Entwicklung einer nationalen Kultur natürlich fast ausschließlich in die Zeit vor der russischen Herrschaft. Um dem übermächtigen Einfluß der 3esuiten in der westlichen Ukraine zu steuern, gründete der Metropolit Peter Mohyla 1632 eine Hochschule in Kiew, die mit lateinischer Unterrichtssprache der Akademie in Krakau nach­ gebildet wurde. 3hm war es auch zu verdanken, daß das Ukrai­ nische seine Geltung als Schrift- und Literatursprache bis ins 18. 3ahrhundert zu wahren wußte. So haben die „gelehrten Ko­ saken". — damals gab es noch solche — Welitschko und Hrabjanka ihre wertvollen Kriegschroniken in ukrainischer Sprache verfaßt, übrigens sind auch im vorpetrinischen Moskau die ersten kulturellen Anregungen fast ausschließlich von Ukrainern ausgegangen, namentlich von den Gelehrten Slawinezky, Rostowski und Polozky. Mit dem Beginn des unumschränkten russischen Regiments

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änderte sich dieses Bild in sehr unerfreulicher Weise. Gleich die ersten negativen Leistungen der moskvwitischen Willkürherrschaft bestanden darin, daß alle Schulen geschlosten, die Druckereien ver­ nichtet oder nach Moskau übergeführt, und 1720 das Drucken von Büchern in ukrainischer Sprache streng verboten wurde. In der Folgezeit wurde das nationale Bewußtsein und die Erinnerung an eine glänzendere Vergangenheit im Volke fast nur noch durch die „Kobsary" aufrechterhalten, die mit der „Kobsa" oder „Ban­ dura" auf dem Rücken das Land durchwanderten. In den Ge­ sängen dieser ukrainischen Barden nahmen die sog. „Dump" den ersten Platz ein, die wunderbar schöne, durch Bodenstedt auch dem deutschen Publikum zugänglich gemachte Volkspoesie der Ukrainer. Die seit 1798 beginnenden Bestrebungen des Dichters Kotljarewski, die ukrainische Literatursprache wieder neu erstehen zu lassen, kann man als die ukrainische Renaissance bezeichnen, soweit eine solche unter der russischen Faust möglich schien. In der Folge­ zeit scharten sich ukrainische Schriftsteller und Gelehrte in immer größerer Zahl um die beiden südrussischen Universitäten Charkow und Kiew, um an der nationalen und geistigen Wiedergeburt ihres Volkes zu arbeiten, — Bestrebungen, die der Regierung natürlich ein Dorn im Auge waren. Die erste geheime, politische Organi­ sation entstand 1846 in Kiew, die sog. „Kyrilla-Methodsche Bruderschaft", die sich die Wiedererlangung der staatlichen Un­ abhängigkeit der Ukraine zum Ziele setzte. Infolge einer Denun­ ziation wurde diese geheime, aus den bedeutendsten Schriftstellern und Gelehrten jener Zeit bestehende Vereinigung jedoch sehr bald darauf aufgelöst und ihre Teilnehmer meist mit jahrelanger Ver­ bannung bestraft. Zu den Mitgliedern dieses Geheimbundes ge­ hörte auch der, allgemeine Verehrung genießende, hervorragende Dichter der Ukraine, Taras Schewtschenko, dessen tragischer Lebens­ lauf wie ein Symbol des traurigen Schicksals erscheint, das fein Volk unter der russischen Tyrannei erdulden mußte. Erst im Alter von 24 Jahren, nach seinem Eintritt in die Akademie der Künste in Petersburg, 1838 aus der Leibeigenschaft freigelassen, wurde er 1847 wegen seiner Teilnahme am Geheimbund und seiner regierungsfeindlichen Dichtung „Kawkas" nach Orenburg ver­ bannt und bald darauf in Einzelhaft in der Festung Nowo-Petrowfk interniert; erst 1857 durch die Bemühungen einflußreicher Freunde in Petersburg, namentlich der Gräfin Tolstoi, aus zehn-

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jähriger Kerkerhaft befreit, kehrte er an Leib und Seele gebrochen nach Petersburg zurück, wo er bereits 1861 starb. Seine in Galizien vielgelesenen Werke, die zu den größten geistigen Schätzen des ukrainischen Volkes gehören, waren zum größten Teil in Ruß­ land schon früher streng verboten. Die rücksichtslose Strenge, mit der alle separatistischen Be­ strebungen unterdrückt wurden, konnte den Strom nationalen Lebens zwar eindämmen, aber nicht zum Versiegen bringen. Um­ somehr beharrte die Regierung auf dem Standpunkt, offiziell das Vorhandensein eines ukrainischen Volkes überhaupt nicht anzu­ erkennen, es gleichzeitig aber durch geheime Verfügungen in jeder nur möglichen Weise einzuengen und zu bedrücken. So hielt es der Minister Walujew im gefährlichen Jahre 1863 für nötig, nochmals kategorisch zu erklären: „Es gibt kein ukrainisches Volk und darf seins geben!" Diese echt rustisch formulierte Entschei­ dung hat auch fernerhin die Richtlinie für die russische Politik in der Ukraine abgegeben. Der härteste Schlag für das Land erfolgte im Jahre 1876. In diesem Jahre, als Scharen russischer Freiwilliger in der serbi­ schen Armee gegen die Türken kämpften, als der slawische Paroxys­ mus in Rußland bereits bis zur Siedehitze gestiegen war, wurde die ukrainische Literatursprache wieder völlig verboten. Es ist sehr bezeichnend und für alle westlichen und südlichen Slawen ungemein lehrreich, daß diese Verfügung zu einem Zeitpunkt er­ laßen wurde, als die russische Presse unter Führung Katkows am lautesten über die Bedrückung der „slawischen Brüder" zeterte. Von jetzt an durften auch dramatische Aufführungen in ukraini­ scher Sprache nur stattfinden, wenn im Anschluß an die Vorstel­ lung wenigstens ein Stück in russischer Sprache zur Aufführung gebracht wurde. — Daß die Regierung Alexanders IIL keine Erleichterung, sondern im Gegenteil nur eine Verschärfung dieser Bestimmungen mit sich brachte, braucht wohl kaum noch erwähnt zu werden. Auch im ersten Jahrzehnt der Regierung Nikolaus' I l. änderte sich nichts an diesem System des Abwürgens der nationa­ len Sonderart. Es laßt sich nicht leugnen, daß durch das kon­ sequente und zielbewußte Vorgehen der Regierung in dieser Rich­ tung die Oberschicht des ukrainischen Volkes wenigstens äußerlich russifiziert und die ukrainische Sprache tatsächlich zu einem Bauern­ dialekt herabgedrückt wurde.

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Daß die Russifizierung nur eine äußerliche geblieben war, zeigte sich besonders deutlich seit der Revolution von 1905, an der die Ukrainer mit separatistischen Tendenzen stark beteiligt waren. Erst durch diese Revolution wurde die barbarische Ver­ fügung von 1876 außer Kraft gesetzt, wobei freilich alle Bücher und Schriften politischen Inhalts nach wie vor verboten blieben. In der ersten Duma bildete sich 1906 der aus 52 Mitgliedern bestehende „Ukrainerklub", in dessen politischem Programm die Autonomie der Ukraine die erste Stelle einnahm. Mit der be­ ginnenden Reaktion und der Stolypinschen „Wahlreform" ist dieser Ukrainerklub allerdings fast völlig beseitigt worden, aber die ständig fortschreitende nationale Bewegung, die immer breitere Massen ergriff, ließ sich nicht mehr unterdrücken. Bemerkenswert ist namentlich, daß in den Debatten über die Ukraine, die in den fol­ genden Jahren in der Duma stattfanden, durch den Führer der Kadettenpartei, den Historiker Miljakow, festgestellt wurde, daß die ukrainische Bewegung mit elementarer Kraft in alle Schichten der Bevölkerung eindringt und sich nicht mehr aushalten läßt. Unter solchen Umständen ist es begreiflich, daß die Erbitterung über alle Maßregeln zur Unterdrückung dieser Bewegung in Süd­ rußland bis heute ständig gewachsen ist. Vor fünf Jahren erschien in einer Versammlung der „Slawi­ schen Wohltätigkeitsgesellschaft" in Petersburg ein junger Mann, der sich als „Balkanslawe" vorstellte und darum bat, einige Worte über die unterdrückten slawischen Brüder reden zu dürfen. In schwungvoller Rede führte er dann aus, es gäbe noch e i n Land, in dem slawische Völker in furchtbarer Weise geknechtet, vergewal­ tigt und der rohesten polizeilichen Willkür ausgeliefert, vergebens nach Freiheit dürsteten. Als der Vorsitzende, der General Kirejew, den Redner tief erschüttert fragte, ob er die Türkei oder ÖsterreichUngarn meine, erwiderte er: „Rein, das Land, von dem ich sprach, ist — Rußland!!!! Die Versammlung, die unter dem Protektorat der Regierung steht, setzte den Störenfried so schnell an die Luft, daß seine Personalien nicht mehr festgestellt werden konnten, doch handelte es sich wahrscheinlich um einen Landsmann des großen Satirikers Gogol. Der tiefe Gegensatz zwischen Ukrainern und Russen, der in den unteren Volksschichten zu allen Zeiten stark hervortrat, hat sich im letzten Jahrzehnt in allen Ständen immer mehr verschärft.

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auch in der jüngeren Generation des ukrainischen Adels. Wie tiefgehend dieser Gegensatz ist, das zeigt schon der Umstand, daß an der russisch-ukrainischen Sprachgrenze in den Gouvernements Charkow und Tschernigow Mischehen außerordentlich selten sind, und daß die beiden Völker sich seit Jahrhunderten mit dem Schimpfnamen „Kazap" (entstanden aus „jaf zap" — wie ein Ziegenbock) und „Chochol" (Haarschopf) zu bezeichnen pflegen. Diese tiefe Abneigung gegen das Moskowitertum ist gerade in den letzten Jahren durch das tölpelhafte Vorgehen der Regierung wesentlich verschärft worden. So wurde 1912 ein allrussischer Kongreß der Volksschullehrer in Petersburg, auf dem die zahlreich anwesenden Ukrainer den programmatischen Beschluß durchgesetzt hatten, in den Dorfschulen die ukrainische Sprache einzuführen, aus diesem Grunde von der Polizei aufgelöst. Einen wisfenschastlichen Kongreß in Kiew mußten die Teilnehmer aus Galizien ver­ lassen, weil die Kiewer Polizei ihnen Vorträge in ukrainischer Sprache untersagte. Die größte Torheit beging aber die Regierung, als sie die Jahrhundertfeier des Geburtstages Schewtfchenkos am 9. März 1914 in Kiew verbot, also zu einer Zeit, als die Truppenverschie­ bungen an die österreichische Grenze bereits ihren Anfang nahmen. Ein trotz des polizeilichen Verbots in Kiew veranstalteter Festzug der Ukrainer wurde mit Kosakenknuten und Bajonetten ausein­ andergetrieben! Mit Reid und Sehnsucht blickten die so Miß­ handelten auf ihre glücklicheren Stammesbrüder in Galizien, die unter den Fittigen des österreichischen Doppeladlers ihr Volkstum frei entfalten dürfen und auch die Schewtfchenko-Feier mit prunk­ vollen Festen begehen dursten. Rach dem Ausbruch des Krieges, im Herbst 1914, konnte man in Ostgalizien wiederholt einen Vor­ gang beobachten, der für den Kenner der Verhältniste etwas Rüh­ rendes an sich hatte. Sobald nämlich die russischen Truppen eine galizische Stadt besetzt hatten, sah man die ukrainischen Soldaten sich scharenweise in die Buchhandlungen und Volkslesehallen drängen. Als der Korrespondent eines Blattes sie fragte, was sie dort suchten, erwiderten sie treuherzig: „Hier in Feindesland finden wir die herrlichen Lieder unseres großen Dichters Schewtschenko, die uns bei den Moskaly versagt sind!" Die wehmütige Klage einer furchtbar mißhandelten Volksseele klingt als Unterton aus diesen einfachen, schlichten Worten!

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Über die gegenwärtige Stimmung des Volkes in Südrußland ist, abgesehen von einigen Revolten gelegentlich der Rekrutenaus­ hebungen, kaum etwas in die Öffentlichkeit gedrungen. Daß der „Bund zur Befreiung der Ukraine" feine Entstehung nicht öster­ reichischen Ruthenen verdankt, ist freilich ein offenes Geheimnis, ebenso, daß in den Reihen der vom österreichischen Thronfolger und dem Erzherzog Friedrich besonders ausgezeichneten ukraini­ schen Legionen auch viele russische Ukrainer gegen den moskowitischen Erbfeind kämpfen. Unter diesen Umständen können wir den Berichten gefangener Ukrainer gewiß Glauben schenken, nach welchen aus Kiew ausrückenden Truppen im Frühling 1915 das Publikum mit den Rufen: „Es lebe Österreich! Es lebe Deutsch­ land!" das Geleit gab. Selbst bei einem flüchtigen Rückblick auf die letzten zwei Jahr­ hunderte der ukrainischen Geschichte ist es auch einleuchtend, daß die kulturellen Interessen der Ukrainer mit denen der Zentral­ mächte übereinstimmen, während sie in dem alles Slawische ver­ schlingenden Panrustismus des Moskowitertums dem sicheren Untergange geweiht erscheinen. über die Weißrussen, die in einer Zahl von etwa 6 Millionen das meist sumpfige Waldgebiet zwischen Großrußland, Polen und der westlichen Ukraine bewohnen, können wir uns kürzer fasten. Anthropologisch stehen sie, namentlich infolge ihrer nachweislich ziemlich starken finnischen Blutbeimischung, den Grohrusten näher, als die Ukrainer, sprachlich aber sind sie von ihnen noch weiter entfernt, da das weißrussische Idiom etwa in der Mitte zwischen dem Polnischen und Ukrainischen sicht. Eine politische Selbständigkeit hat dieses Volk in geschichtlicher Zeit niemals besessen, seine nationale Eigenart aber hat es unter der Herrschaft des litauischen Großfürstentums am besten wahren können. Daß in jenen längst vergangenen Jahrhunderten die Weitzrussen tatsächlich eine nationale Kultur aufzuweisen hatten und kulturell sogar den Litauern augenscheinlich überlegen waren, gcht schon daraus hervor, daß in Litauen die Amtssprache bis 1696 weißrussisch war. Auch das erste litauische Gesetzbuch von 1468 und das sog. Litauische Statut vom 16. Jahrhundert waren in weißrussischer Sprache verfaßt. Rach der polnisch-litaui­ schen Vereinigung durch die Lubliner Union von 1569 und der Brester Kirchenunion von 1595, schlossen sich die oberen Schichten

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Vie Ukraine und Weißrußland.

des weißrussischen Volkes zu einem großen Teil ganz dem Katholi­ zismus und dem Polentum an. So waren der polnische Frei­ heitsheld Kosciuszko, der Dichter Adam Mickiewicz, der Komponist Moniuszko, der Historiker Syrokomla und andere nachweislich weißrussischer Abkunft. Diese Polonisierung, die sich im Laufe von zwei Jahrhunderten in der Oberschicht des Volkes geltend machte, hat hier in noch höherem Grade, als bei den Ukrainern, den nationalen Bestand herabgesetzt. Im Jahre 1772 wurde der östliche Teil Weißrußlands mit dem russischen Reich vereinigt. Wie schwer aus den Bewohnern dieses Landstriches bereits unter Katharina II. die moskowitische Herr­ schaft lastete, wurde bereits in dem Abschnitt über Polen, bei den gegen die Unierten gerichteten Kirchenverfolgungen, erwähnt. Erst nach der dritten Teilung Polens wurde das ganze weißrussische Gebiet unter der russischen Herrschaft seit 1795 vereinigt, unter welchem es etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts seine völkische Eigenart noch bis zu einem gewissen Grade zu wahren wußte. So bezeichnet noch der deutsche Reisende Blasius, der diese Gebiete in den vierziger Jahren kennen lernte, die Weißrussen als ein Volk, das auf die Moskowiter wie auf eine tiefstehende Rasse herabsah. In der Folgezeit begann die rücksichtslose Verfolgung der unierten Geistlichkeit durch die russische Orthodoxie, während die weiß­ russische Sprache in den Kirchen, Behörden und Schulen streng verboten wurde. Literarische Veröffentlichungen in weißrussischer Sprache wurden ganz untersagt und Schüler wegen des Gebrauchs ihrer Muttersprache aus den Schulen ausgeschlossen. Seitdem haben sich die gebildeteren Volkselemente, soweit sie nicht im Katholizismus und Polentum aufgezogen waren, immer mehr den Grotzrussen angeschlossen. Eine so bemerkenswerte Rolle einzelne Weißrussen im staatlichen und wissenschaftlichen Leben Rußlands auch gespielt haben, so ist es der Regierung doch mühelos gelungen, dieses in Westeuropa unbekannte Volk ganz in Vergessenheit geraten zu lassen und seine Sprache zu einem Bauerndialekt herabzudrücken, der nur noch in der Einsamkeit der unermeßlichen Wälder und Einöden gesprochen wird. Der weiß­ russische Bauer ist in einem Jahrhundert moskowitischer Mißwirt­ schaft in kultureller und wirtschaftlicher Beziehung auf eine be­ jammernswerte Stufe herabgesunken, die bei dem Fehlen jeder Selbstverwaltung in diesem Gebiet keine Besserung erhoffen läßt.

Die Ukraine und Weihruhland.

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So ist auch sehr bezeichnend, daß Weißrußland unter der polni­ schen Herrschaft im 16. Jahrhundert mehr Volksschulen besessen hat als heute! Wahrlich eine furchtbare An­ klage gegen eine Regierung, deren höchste Staatsweisheit im Geiste eines Pobiedonofzew stets darin bestanden hat, nicht über aufge­ klärte Staatsbürger, sondern über unwissende Sklaven zu herr­ schen. Es must hier besonders betont werden, daß alles, was bis­ her für die Volksbildung in Rußland geschehen ist, nicht von der Regierung, sondern ausschließlich von der Selbstverwaltung aus­ gegangen ist, die bis jetzt allen Stiefkindern des „Mütterchens Rußland" vorenthalten wurde. In tiefster geistiger Finsternis, in beständiger abergläubischer Furcht vor Kobolden und Wald­ geistern, hausen diese Bauern noch heute wie Menschen aus der Steinzeit, in den sumpfigen Stromgebieten des Dnjepr, Pripet und Rjemen. Daß die russischen Truppen bei ihrem Rückzüge im Spätsommer 1915 diesen bettelhaft armen Leuten ihre letzte armselige Habe vernichteten, gehört mit zu den größten Roh­ heiten des Krieges. Der Widerstand der Weißrussen gegen die Entnationalisierung ist immer nur ein sehr schwacher gewesen. Man hat ein derartiges nationales Ertrinken in benachbarten Völkern in neuerer Zeit sonst wohl kaum irgendwo beobachten können; selbst viel kleinere Völkersplitter haben unter ähnlichen ungünstigen Bedingungen ihre Eigenart doch weit besser behaupten können. Durch den Um­ stand, daß in Rußland, wie in Osteuropa überhaupt, weniger die Abstammung als die Religion den Ausschlag gibt, sind noch im 19. Jahrhundert Tausende von römisch-katholischen Weißrussen für immer verloren gegangen. Gerade im Hinblick auf die Weißrussen hatte deshalb seinerzeit der Slawophile Katkow den Grundsatz aufgestellt, daß bei der Bestimmung der Nationalität nur die Muttersprache maßgebend sein dürse. Erst seit 1905 hat das nationale Bewußtsein wieder angefangen sich zu regen, freilich nur hauptsächlich in den demokratischen Arbeiterverbänden in Wilna, Minsk und Grodno. Aber selbst bei großen, durch äußere oder innere Umstände veranlaßten Umwälzungen dürfte dieser Volks­ stamm als politischer Faktor kaum in Betracht kommen.

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Beharabien.

Beßarabien. Beßarabien, das südwestlichste Gouvernement Rußlands, ge­ hört in bezug auf feine natürliche Beschaffenheit und die Mehr­ heit seiner Bevölkerung zur Moldau, mit der es fast viereinhalb Jahrhunderte, von 1367 bis 1812, auch politisch verbunden war. Das ganze Gebiet hat keine einheitliche Bevölkerung. In dem nordwestlichen, an die Bukowina grenzenden Teil, der vom Kreise Ehotim gebildet wird, überwiegen die Ukrainer, in deren Mitte auch viele Juden, einzelne Polen und römisch-katholische, aus Galizien eingewanderte Armenier leben. Der angrenzende nörd­ liche und der ganze mittlere Teil des Gebietes haben eine fast ge­ schloffene moldauische oder rumänische Bevölkerung, in der auch viele seßhafte und »agierende Zigeuner und in den Städten und Flecken, ebenso wie in der Moldau, die Juden stark vertreten sind, die einen korrumpierten deutsch-österreichischen Dialeft sprechen. Der südliche, an die Donau und das Schwarze Meer grenzende Teil, das sog. Neu-Betzarabien, wird von einem überaus bunten Völkergemisch bewohnt, in dem neben Rumänen, Griechen, Juden, Zigeunern, Ukrainern, Tataren und Armeniern auch Deutsche, bul­ garische und ftanzösisch-schweizerische Kolonisten nicht fehlen.

Durch die Geschicklichkeit der russischen Diplomatie gelang es dem Zaren Alexander I., nur wenige Wochen vor der Napoleoni­ schen Invasion, im Bukarester Frieden vom 28. Mai 1812 mehr als den dritten Teil des damaligen Fürstentums Moldau dem russischen Reich einzuverleiben. Das Schicksal der betzarabischen Moldauer war, soweit ihre nationale Entwicklung in Frage kam, mit dieser Einverleibung entschieden, denn sie haben in einem Jahr­ hundert russischer Herrschaft niemals die Kraft gezeigt, sich ein nationales geistiges Leben zu erhalten, wie unter ganz gleichen Verhältnissen die russischen Litauer in vierzig Jahren schwerster Bedrückungen durchzusühren vermochten. Gleich im Beginn der russischen Herrschaft wurde die nationale moldauische Kirche voll­ ständig slawisiert, in Kischinew ein russisches Priesterseminar ge­ gründet, später auch alle rumänischen Schulen geschloffen und zum Teil durch russische Schulen ersetzt. Ganz ebenso wie in anderen

Betzarabien.

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Grenzgebieten, vermied man es auch hier, den Schulzwang einzu­ führen, so daß die Volksbildung auf dem flachen Lande im Lauf der folgenden Jahrzehnte fast auf den Nullpunkt gesunken ist. Die russische Regierung begnügte sich übrigens schon im ersten Jahr­ zehnt nach der Einverleibung keineswegs damit, nur in Beßarabien jeden kulturellen Aufschwung zu unterdrücken, sondern verstand es auch, im benachbarten Fürstentum Moldau, in dem sie mit der größten Unverfrorenheit schaltete und waltete, alle fortschrittlichen Reformen zu unterbinden. Durch den Frieden von Adrianopel erfolgte im Jahre 1829 die zweite Beraubung der Moldau, indem die am linken Ufer der Donau und des unteren Pruth belegene Landschaft, ein Gebiet von mehr als 11000 qkm, mit Rußland vereinigt wurde. Daß in der Folgezeit, unter dem Autokraten Nikolaus I., der mit dem Fürstentum Moldau von 1832 bis zum Krimkriege umging, wie mit einer bereits eroberten russischen Provinz, die Lage der Beßarabier sich nicht bessern konnte, ist selbstverständlich. Als nach der Niederlage Rußlands durch den Pariser Frieden von 1856 die Donau-Fürstentümer endlich von der russischen Vormundschaft befreit wurden, mußte unter dem Druck der Westmächte auch das 1829 geraubte Gut wieder der Moldau zurückgegeben werden, für die Beßarabier war aber auch dieser Umstand keineswegs von günstiger Wirkung. Da erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts in Rumänien ein wirklich nationales Leben, eine schöne Literatur und eine periodische Presie sich zu entwickeln begann, so mußte die russische Verwaltung jetzt um so schärfer darauf achten, daß keine Funken von dieser geistigen Bewegung auf das beßarabische Dach fielen und die dortigen Moldauer aus ihrer natio­ nalen Lethargie erwachten. So wurde jetzt die Einfuhr von rumänischen Zeitungen und Druckschriften aller Art nach Beßarabien streng untersagt und damit dem Volke jede geistige Nah­ rung in seiner Muttersprache abgeschnitten. Der russisch-türkische Krieg führte 1878 zu der dritten Be­ raubung Rumäniens durch russische Habgier. Sie erfolgte be­ kanntlich unter besonders erschwerenden Umständen, indem der größte Teil des 1856 zurückgegebenen Gebiets, mehr als 9000 qkm, dem hilfreichen Bundesgenossen abgenommen wurde, den man dafür mit den schrecklichen Malariasümpfen der hauptsächlich von

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Boharabien.

Türken bewohnten Dobrudscha „entschädigte". In eine besonders schlimme Lage gerieten jetzt die Bewohner „Neu-Betzarabiens") die 12 Jahre lang bereits alle Segnungen der aufgeklärten Herr­ schaft des Hohenzollern genossen hatten und sich jetzt ganz unver­ mittelt der russischen Knute gegenübersahen. Einige Jahre später schilderte mir ein Rumäne aus der Gegend von Ismail, der bis 1878 in Rumänien einen Beamtenposten bekleidet hatte, seine bedauernswerte Lage als neugebackener „Russe". Ohne Stel­ lung, ohne Brot, ohne jede Kenntnis der russischen Sprache, jeder Möglichkeit der Lektüre beraubt, war er schließlich froh, auf dem Vorwerk eines beßarabischen Magnaten eine bescheidene Stellung als Inspektor zu finden. — Unter solchen Umständen erscheint es säst verwunderlich, daß die russischen Moldauer an der Revolution von 1905 sich nicht beteiligt haben, obschon gerade auch Betzarabien in der letzten Zeit vor dieser allgemeinen Volkserhebung unter der Willkür der Beamten, namentlich der neugeschaffenen Landhaupt­ leute, schwer genug zu leiden hatte. Die Bauernschaft verhielt sich hier überall ganz ruhig, während es in Rumänien 1887 und 1907 zu schweren Bauernaufständen kam, die übrigens zweifellos durch russische Agitatoren hervorgerufen waren. Im allgemeinen steht das von der Natur reich gesegnete Land mit seinen Rebenhügeln, überaus fruchtbaren Äckern, saftigen Weiden und herrlichen Waldungen, die vorwiegend aus edleren Nutzhölzern bestehen, bis heute auf einer sehr niedrigen Stufe kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung. Die allenthalben be­ merkbare Verwahrlosung, die nicht allein dem westeuropäischen, sondern auch dem von Osten kommenden Besucher des Landes auf­ fällt, ist nur zum Teil auf die Trägheit der Bauern und den Ab­ sentismus des seine Einkünfte in Paris verzehrenden Großgrund­ besitzers zurückzuführen, in erster Linie vielmehr auf die Mißwirt­ schaft der russischen Verwaltung und die gewaltsame Unterdrückung jeder Volksbildung. In letzterer Beziehung hat die Regierung in Betzarabien mit 85 % (!) Analphabeten wohl ihre Höchstleistung erreicht, da selbst im Innern Rutzlands 77 % nicht überschritten werden. Da zur Zeit des ersten kulturellen Aufschwungs in Rumä­ nien unter dem Fürsten Basil Lupu, schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Betzarabien viele Schulen gegründet wurden, so hat dort die Volksbildung ohne Zweifel schon damals auf einer höheren Stufe gestanden als heute! Und vor 20 Jahren versicherten

Behorabien.

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mir in Betzarabien Kenner des Landes, die von Jahr zu Jahr zu­ nehmende Zahl der Analphabeten habe zu Beginn der russischen Herrschaft kaum 40 % betragen!

Die schematische und doktrinäre Art, in der man in Rumänien durch das Agrargesetz des Fürsten Alexander Cusa 1864, in Ruß­ land zur gleichen Zeit durch den Gemeindebesitz, die Bauern­ frage zu lösen suchte, hat hier wie dort eine ziemlich allgemein verbreitete Armut zur Folge gehabt; immerhin sind die betzarabi­ schen Bauern mit ihren etwas grötzeren Landesteilen ein wenig besser gestellt, als ihre Stammesgenossen jenseits des Pruth. Am günstigsten liegen noch die sanitären Verhältnisse. So sind die Bezirke der Landschastsärzte in Betzarabien aus dem flachen Lande recht zahlreich vertreten, auch sieht man selbst in kleinen Nestern vielfach Krankenhäuser, die Palästen gleichen. Selbstverständlich hat das Gebiet diese erfreulichen Erfolge nicht seiner mehr als stiefmütterlichen Regierung, sondern einzig und allein der ört­ lichen Selbstverwaltung und der weitgehenden Freigebigkeit ein­ zelner betzarabischer Magnaten zu verdanken.

Der beharabische Bauer ist gerade infolge seiner völlig fehlenden Schulbildung ein unverfälschter Moldauer geblieben, dem alles Russische völlig fernliegt. Er ist sehr genügsam, heiter und sorglos, aber nicht sehr energisch und arbeitstüchtig. Er liebt, wie der türkische Schriftsteller Djenab Schahabeddin Bei vom ru­ mänischen Bauern im allgemeinen sagt, „die Sterne mehr als den Pflug". Wenn auch ein gewisser Bodensatz von uralter römischer Kultur in ihm immer noch unverkennbar ist, so bilden seine Dörfer und Felder doch einen traurigen Gegensatz zu den blühenden Kolo­ nien der Deutschen und Franzosen und auch denen der Bulgaren mit ihren wohlgepflegten Obst- und Gemüsegärten. Zwischen den deutschen und französischen Kolonisten kommen nicht selten Misch­ ehen vor, im übrigen aber haben sich alle diese Volksstämme auf dem flachen Lande in ihrer nationalen Eigenart vollkommen rein und unvermischt erhalten.

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei dem niederen Adel auf dem Lande und dem Mittelstände in den Städten. Hier haben die auf die völlige Russisizierung gerichteten Bestrebungen der Regierung schon einen recht weitgehenden Erfolg erzielt. Man hört diese Leute bei ihren Gelagen und geselligen Zusammenkünf-

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Betzarabien.

ten zwar häufig zur Gitarre die alten rumänischen Volkslieder und Romanzen singen, sie sind jedoch nicht mehr imstande, in dieser Sprache eine gebildete Unterhaltung über abstrakte Dinge zu führen, da ihnen, dank der vorsorglichen Tätigkeit der russischen Polizei, die moderne rumänische Literatursprache meist völlig unbe­ kannt ist. Unter den Häusern der hochgebildeten Magnaten gibt es allerdings manche, in denen nur französisch und rumänisch ge­ sprochen wird, während jedes russische Wort streng verpönt ist. Überhaupt habe ich während meines Aufenthalts in Beßarabien großrumänifche Tendenzen und eine ausgesprochen rustenfeindliche Haltung nur in der höheren Aristokratie und unter den Bewohnern des erst 1878 annektierten südlichen Landesteiles feststellen können. So ist in breiten Volksschichten die Russifizierung hier jedenfalls bester gelungen, als in allen anderen nichtslawischen Grenzgebie­ ten. — Außer den in neuerer Zeit hier eingewanderten Griechen gibt es hier auch viele moldauische Familien, die ursprünglich grie­ chischer Abstammung sind. Einige von griechischen Mönchen be­ wohnte, mit reichen Liegenschaften dotierte Klöster, die dem ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel gehören, sind von der russischen Regierung, mit gewohnter Rücksichtslosigkeit, ohne jede Entschädigung eingezogen worden. Die selbständige politische Entwicklung der Donau-Fürsten­ tümer zum modernen Rumänien hat bekanntlich erst nach dem Pariser Frieden 1856 beginnen können. Zum vollen Verständ­ nis der beßarabischen Frage muß man aber im Auge behalten, daß schon bis zu diesem Zeitpunkt das Fürstentum Moldau, länger als ein Jahrhundert, unter den brutalen Übergriffen Rußlands hat leiden müsten, wie es später auch Bulgarien unter dem Deck­ mantel der slawischen brüderlichen Liebe zur Genüge erfahren hat. Zur Zeit des politischen und geistigen Verfalls unter der Lotter­ wirtschaft der Fanarioten, begannen im 18. Jahrhundert die wiederholten militärischen Besetzungen, Einmischungen und Be­ vormundungen von feiten Rußlands, das die Donauländer nur als die erste Etappe auf dem Wege nach „Zargrad" betrachtete. 3m 19. 3ahrhundert, nach der Einverleibung Beßarabiens, nahm das russische Protektorat besonders unverschämte Formen an, bis schließlich der rustische General Kisteleff 1829 im Lande erschien und es einfach wie ein Diktator zu tyrannisieren begann. Schon vorher waren alle fortschrittlichen Bestrebungen des 1822 zur

Betzarabien.

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Herrschaft gelangten Fürsten Isan Sturdza durch Rußland ver­ eitelt worden, aber durch das „Organische Reglement" Kisseleffs vom Jahre 1832 wurde das Fürstentum Moldau tatsächlich zu einer russischen Provinz, zu einer Beute russischer Beamten und Günstlinge, die das unglückliche Land in schamloser Weise ausge­ plündert und ausgesogen haben. Auch die rumänische nationale Erhebung von 1848 wurde durch russische Waffengewalt unter­ drückt, bis schließlich die Niederlage Rußlands im Jahre 1854 der Leidensgeschichte des russischen Protektorats ein Ende machte. Das 1878 durch den russischen Bundesgenosien beraubte Rumänien hat dann freilich noch zehn Jahre später (1887/88) von dem ränke­ vollen Gesandten Chitrowo und seinem Sekretär Iswolsky, dem berüchtigten Mitanstifter des jetzigen Krieges, der schon damals seine Fähigkeiten im Wühlen und Hetzen in Bukarest betätigen konnte, noch manches erdulden muffen. Was nun die Auslandrumänen betrifft, so mögen hier einige Zahlen Platz finden, die den gewaltigen Unterschied zwischen dem Geist der russischen Verwaltung in Betzarabien und dem der ungarischen in Siebenbürgen, wo fast 3 Millionen Rumänen leben, zur Genüge veranschaulichen. So hatten die Rumänen in Ungarn im Jahre 1913 zwei nationale Metropolien mit fünf Bistümern, sieben Seminaren, fünf Lehrerbildungsanstalten, vier Lyzeen, ein Gymnasium, vier Mittelschulen sür Mädchen und eine große Zahl von Volksschulen, außerdem mehrere nationale Banken mit einem Kapital von Hunderten von Millionen. Es arbeiteten in diesem Jahre in Ungarn 17 rumänische Druckereien und erschienen 40 periodische Publikationen, von denen 13 politische waren. Auch in der Bukowina gab es 7 periodische Preßerzeugnisse in rumäni­ scher Sprache. Dagegen gibt es in Beßarabien bis heute keine einzige rumänische Druckerei, ein einziges, seit 1906 erscheinendes politisches Wochenblatt und eine Zeitschrift, die zwar in moldaui­ schem Bauerndialekt, aber nur mit russischen Lettern ge­ druckt werden dürfen.

Unter diesen Umständen erscheint es kaum verständlich, daß die rumänische Irredenta auch jetzt ihren ganzen Zorn gegen die Magyaren richtet, obschon diese die Entwicklung der nationalen rumänischen Kultur in Siebenbürgen — wenigstens in der letzten Zeit — gar nicht behindert haben, während sie das brutale VorR e v e l ft c i n, Not der Hrem^volker.

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Betzarabien.

gehen Rußlands gegen Rumänien und die russischen Barbareien in Beßarabien völlig zu vergeßen scheint. Wie ein hervorragen­ der rumänischer Politiker in einer anonym im August 1914 er­ schienenen Broschüre *) erklärt, ist diese auffallende Erscheinung im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die überwiegende Mehrheit der rumänischen Oberschicht aus Französlingen besteht, die mehr französisches als rumänisches Nationalgefühl besitzen und der Ansicht sind, daß man unter keinen Umständen gegen einen Bundesgenosien des heißgeliebten Frankreich vorgehen dürfe. Dazu kommt dann noch die tiefgehende Furcht vor dem gewaltigen östlichen Nachbar, den man meist nicht einmal in Worten anzu­ greifen wagt, sowie einige „gewichtige" Gründe, die auf recht un­ saubere Machenschaften zurückzuführen sind.

Die wenigen wahrhaften Patrioten und einsichtigen Politiker, die sich um Peter Earp und Alexander Marghiloman geschart haben, gründeten am 29. September 1915 den konservativen Klub und im November die unter Führung Marghilomans, Grigvre Cantacuzens und Konstantin Nenitzefcus stehende Liga, die sich ein aktives Eingreifen Rumäniens und die Zurückgewinnung Beßarabiens zum Ziele gesetzt hat. Soweit ich Beßarabien und seine Aristokratie aus eigener Anschauung kenne, glaube ich annehmen zu dürfen, daß die Bestrebungen dieser Politiker jenseits des Pruth nicht ganz ohne Widerhall bleiben werden. Denn ohne Zweifel könnte das schöne, aber arg vernachlässigte Land, nach der Los­ trennung von Rußland, auf dem Boden nationaler Entwicklung, zu hoher kultureller und wirtschaftlicher Blüte gelangen.

*) Was soll Rumänien tun? von Carl Lurtius, Berlin.

Lrnste fragen in großer Zeit.

Berlag

Der Kaukasus.

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Der Kaukasus. In der dreitausendjährigen, von fast ununterbrochenen Kämpfen erfüllten Geschichte des Kaukasus, einer Geschichte, die jeden Fußbreit des schönen Landes mit Blut und Tränen getränkt hat, erscheinen die im 7. Jahrhundert v. Chr. beginnende hellenische Kolonisation und die römische Herrschaft nach dem Siegeszuge des Pompejus fast als die einzigen Lichtseiten. Denn was im Laufe der Jahrhunderte an eigenartiger nationaler Kultur in bevorzugten Teilen des Landes zu erblühen vermochte, das wurde in älterer Zeit durch die wiederholten räuberischen Einfälle asiatischer Hor­ den, im letzten Jahrhundert aber in fortgesetzter und systematischer Weise durch den moskowitischen Despotismus in der Entwicklung gehemmt, unterdrückt oder ganz geknickt und vernichtet. Abgesehen von der vorübergehenden Eroberung der persi­ schen Städte Derbent und Baku durch Peter den Großen, der diese Gebiete nur 12 Jahre zu behaupten vermochte, hat die un­ ersättliche Ländergier des nordischen Zarenreiches sich erst seit 1770 gegen das gletschergekrönte Bergland im Süden gerichtet. Bon diesem Zeitpunkt bis 1815 hat Rußland durch kriegerische Eroberungen, militärische Besetzungen, listig erschlichene oder ge­ waltsam ausgezwungene Verträge, von dem größten Teil des Kaukasus und Transkaukasiens Besitz ergriffen. Die im Hoch­ gebirge der Kaukasuskette lebenden Bergvölker waren bis dahin von diesen Kämpfen ganz unberührt geblieben und hatten ihre Unabhängigkeit vollständig zu wahren gewußt. Mit ihrer Unter­ werfung konnte der General Jermolow erst seit 1816 beginnen, um zunächst wenigstens im östlichen Teil des Landes die Verbin­ dung zwischen den bereits russischen Gebieten im Norden und Süden der Bergkette herzustellen. Die Kämpfe mit diesen halb­ wilden, vom größten Fanatismus erfüllten Bergbewohnern, die sich auf ihren unzugänglichen Felskuppen heldenmütig verteidigten, haben bekanntlich nicht weniger als 44 Jahre gedauert und endeten erst mit der Übergabe der Bergveste Ghurib und der Gefangen­ nahme Schamyls am 6. September 1859. Erst mit diesem Jahre konnte die Unterwerfung des Kaukasus als vollständig gelten und eine geregelte Verwaltung des ganzen Gebiets beginnen. An seiner

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‘Der Kaukasus.

Südgrenze wurde es 1828 durch die Eroberung der persischen Chanate Eriwan und Nachitschewan, und 1878 durch die Er­ werbung der türkischen Gebiete von Datum, Kars und Ardahan noch vergrößert.

Die Tätigkeit der mit den örtlichen Verhältnisien vielfach un­ bekannten russischen Beamtendespolie in diesem Lande, ihre Be­ ziehungen zu der überaus buntscheckigen kaukasischen Bevölkerung, die angeblich nicht weniger als 99 Sprachen und Dialekte spricht, sind in den einzelnen Landesteilen naturgemäß von so verschiedener Art, daß wir sie wenigstens nach den vier ethnographischen Haupt­ gruppen gesondert betrachten müssen. Diese vier Gruppen sind die zum größten Teil christlichen Georgier, zu denen auch die Imeretiner, Mingrelier und Gurier gehören, die durchweg christlichen Armenier, die transkaukasischen, zum größten Teil schiitischen Muselmanen und die sogenannten Bergvölker, die sehr verschiede­ nen Volksstämmen angehören und durchweg sunnitische Moham­ medaner sind. Die Georgier oder Karthwelier, wie sie sich selbst nennen, nehmen in politischer und kultureller Beziehung unter den Kau­ kasusvölkern die erste Stelle ein. Seit undenklichen Zeiten im Kaukasus ansässig, hat dieses begabte und durch ungewöhnliche Körperschönheit sich auszeichnende Volk, desien kulturelle Blütezeit in das 12. Jahrhundert, in das Zeitalter der in Sage und Poesie verherrlichten Königin Tamara fällt, seine nationale und politische Selbständigkeit bis in das 19. Jahrhundert behaupten können. Das tragische Schicksal dieses alten Kulturvolkes wurde dadurch be­ siegelt, daß es, von drei mächtigen Feinden umgeben, dem von Norden kommenden gefährlichsten Feinde, der ihm als Glaubens­ genosse und falscher Freund heuchlerisch zu nahen wußte, allzusehr vertraut hat. Denn die russische Gewaltherrschaft in Georgien ist auf einem Friedhof gebrochener Versprechungen errichtet. Wir können deshalb die gegenwärtigen Gefühle und Stimmungen der Georgier nur bei einem wenigstens kurzen Rückblick auf ihre neuere Geschichte richtig einschätzen. Nachdem die Rüsten bereits 1770 Kutais, die Hauptstadt Imereliens, vorübergehend besetzt hatten, sah sich der von den Türken und Persern hartbedrängte König Heraklius II. von Ost­ georgien, der nach dem Urteil Friedrichs des Großen damals der

Dor Kaukasus.

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bedeutendste Herrscher Asiens war, im Jahre 1783 genötigt, mit der Kaiserin Katharina II. einen Vertrag abzuschlietzey, durch den Georgien unter russischen Schutz gestellt wurde; die Autono­ mie des Landes wurde dabei aufrechterhalten, selbst die georgische Gesandtschaft in Petersburg blieb bestehen. Die Georgier kann­ ten damals noch nicht die Rusten, die weit weniger politische Ehr­ lichkeit besitzen als die Orientalen. Darum brachten sie auch den recht weitgehenden Versprechungen der Türkei und Persiens, denen dieses russische Protektorat natürlich sehr ungelegen kam, kein Ver­ trauen entgegen. So kam es 1795 wieder zu einem persischen Feldzug gegen Georgien, und 1799 zu einem erneuten Schutz­ verträge mit Rußland, der zwischen dem Kaiser Paul I. und dem König Georg XII. abgeschlossen wurde und Georgien zu einem russischen Vasallenstaat machen sollte. Als die beiden Vertrag­ schließenden fast gleichzeitig starben, bevor noch der Vertrag end­ gültig ratifiziert worden war, wurde 1801 von Alexander I., unter völliger Nichtachtung der abgeschlostenen Verträge, die georgische Autonomie aufgehoben und in einem durch keinerlei äußere Um­ stände gerechtfertigten Manifest das Land einfach zum russischen Gouvernement gestempelt. Derselbe Zar, der Finnland und Polen mit einer für damalige Verhältnisse recht freisinnigen Verfastung beschenkte, verübte hier, wo die Augen Europas weniger auf ihn gerichtet waren, einen der brutalsten Gewaltakte, die je­ mals von einem russischen Herrscher begangen wurden. In staats­ rechtlicher Beziehung hat sich Rußland an Georgien noch weit schwerer versündigt, als an Livland oder Finnland. So sagt auch der belgische Völkerrechtslehrer Prof. Ernest Rys aus Brüste! in einem 1906 verfaßten Gutachten über die staatsrechtliche Stel­ lung Georgiens u. a.: „List, Täuschung, Verrat — das sind die Rechtsgrundlagen, auf denen die russische Herrschaft in Georgien beruht." Die Unterjochung der Georgier, eines Volkes, das sich in zwei Jahrtausenden stets durch heldenmütige Tapferkeit ausge­ zeichnet hat, war jedoch keine so leichte Sache — durch einen Feder­ strich des russischen Zaren ließ sie sich nicht erledigen. So nahmen die erbitterten Kämpfe der „aufständischen" Mingrelier, Imeretiner und Gurier, die unter dem tapferen König Salomon II. von Westgeorgien das verhaßte russische Joch abschütteln wollten, erst 1815 ein Ende. Als aller Widerstand gegen die russische Übermacht

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Der Kaukasus.

vergeblich war, floh der König Salomon nach der Türkei, wo er bei seinen ehemaligen Feinden bis zu seinem'Tode in Trapezunt gastliche Aufnahme fand. In Georgien aber hausten die Russen wie einst im Mittelalter die mongolischen Horden Tamerlans. Das ganze Land, dessen westlicher Teil mit Recht als der Frucht­ garten des Kaukasus bezeichnet wird, war einer russischen Beamten­ horde preisgegeben, welche die unglückliche Bevölkerung mißhan­ delte und in schonungsloser Weise ausplünderte. Am schlimmsten ging es in Mingrelien und Imeretien her, wo gegen die Einwoh­ ner die schrecklichsten Grausamkeiten verübt wurden, und selbst die Frauen vor der Brutalität der russischen Soldateska nirgends sicher waren. In Kutais wurden zwei georgische Erzbischöfe von den Russen erdrosselt, die Leichen in Säcken aus der Stadt geschasst und irgendwo im Gebirge verscharrt, so daß die Bevölkerung die Gräber nicht mehr finden konnte. Obschon die Georgier in der Folgezeit, in den wiederholten Kriegen gegen die Perser und Türken, im russischen Heeresdienst, namentlich als georgische Miliz, stets ihre Pflicht getan und Ruß­ land die größten Dienste geleistet haben, hat sich ihre Lage in den letzten hundert Jahren unter einer gewissenlosen Regierung immer mehr verschlechtert. Zu Häuptern der seit dem 11. Jahrhundert autokepholen georgischen Kirche, deren Selbständigkeit der Ver­ trag von 1783 ausdrücklich garantiert hatte, wurden als „Exar­ chen von ©rüsten" ausschließlich russische Würdenträger vom Synod ernannt, die sich in recht ungezwungener Weise an den georgischen Kirchengütern bereicherten und im übrigen die Russisizierung zu fördern suchten. Einer dieser Kirchenfürsten, der russische Exarch Paul, leistete sich einen vom Altar der Kathedrale in Tiflis ausgesprochenen „Bannfluch" über die ganze georgische Nation, weil ein junger Georgier den russischen Spitzel Tschudnowsky (im Nebenamt Seminardirektor) erschossen hatte. Als der greise Adelsmarschall Kipiani gegen das weitere Verbleiben dieses Exarchen im Lande offiziell protestierte, wurde nicht etwa der famose Seelenhirt, sondern Kipiani nach Stawropol verbannt, wo ein russischer Mönch den Greis im Schlafe ermordete! — Die geor­ gische Sprache ganz aus dem Gottesdienst zu entfernen, ist zwar bis heute nicht gelungen, doch wurde sie natürlich aus allen Schulen, Seminaren, Behörden und aus der Rechtspflege völlig verbannt. Besonders schwer lastete der russische Druck auf der

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georgischen Presse, deren Herausgeber und Schriftsteller für jede Kritik der russischen Mißwirtschaft zu hohen Geldstrafen, oft aber auch zur Verbannung nach Sibirien verurteilt wurden. Auch der wirtschaftliche Druck wurde allmählich ein immer härterer, da be­ deutende Teile der georgischen Ländereien vom Staate konfisziert wurden, um russische Kolonisten auf ihnen anzusiedeln. Es zeugt immer von der besonderen Lebenskraft und Zähig­ keit einer Rasse, wenn derartige Bedrückungen und Vergewalti­ gungen ihre nationale Widerstandskraft und kulturelle Entwick­ lung mehr fördern als hemmen. Das gilt auch von den Georgiern, bei denen gerade dieser Druck seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf wissenschaftlichem, literarischem und künstlerischem Gebiet eine nationale Wiedergeburt von beachtenswertem Umfange zur Folge hatte. Gegenwärtig ist in diesem Lande, das keine höheren Schulen mit georgischer Unterrichtssprache, ja sogar keine Hochschulen mit russischer Sprache besitzt, trotzdem der Stand der allgemeinen Volksbildung ein weit höherer als z. B. in Polen, und läßt sich nur mit dem der baltischen Provinzen vergleichen. So sind namentlich im westlichen Georgien Analphabeten heute kaum noch zu finden, während die bedeutende Zahl der Georgier mit akade­ mischer und klassisch-humanistischer Bildung für das kleine Land entschieden zu hoch ist. Unter diesen Umständen hat sich in Georgien eine sozialdemo­ kratische Bewegung schon relativ früh entwickeln können, nament­ lich auch, da der georgische Bauer bei drückenden Steuern sich in sehr bedrängter Lage befand und auch die Arbeiter in industriellen Betrieben rücksichtslos ausgebeutet werden. So fand die Revo­ lution 1905 hier einen recht empfänglichen Boden vor. Es ist sehr bemerkenswert und bisher in Europa nicht genügend beachtet worden, daß kein einziges der Fremdvölker Rußlands an der all­ gemeinen Volkserhebung in einer so wohlorganisierten und ziel­ bewußten Weise teilgenommen hat wie die Georgier. Im Gegen­ satz zu dem sinnlosen Wüten der russischen Pöbelmasten erinnerte während der anarchischen Zustände im Kaukasus das Verhalten der Georgier weit eher an dasjenige der Franzosen von 1789. Vor­ gänge, wie sie sich auch im lettischen Gebiet ereigneten, wie die Ermordung von Ärzten, Geistlichen und Frauen, wie die sinnlos­ brutale Zerstörung der lettischen wissenschaftlichen Bibliothek des Forschers Bielenstein, waren in Georgien damals ganz undenk-

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bar. Privates Eigentum wurde überhaupt nicht vernichtet, da der Aufstand fast ausschließlich gegen das Militär und die Be­ amten gerichtet war, während nur in vereinzelten Fällen Groß­ grundbesitzer erschoßen wurden, die als Leuteschinder allgemein bekannt waren. Da ich mich zu jener Zeit im Kaukasus befand, so kann ich aus eigener Anschauung bestätigen, daß während der fünf Monate dauernden „Anarchie" die Regierung des revolu­ tionären Komitees, das hauptsächlich aus Guriern und Mingreliern bestand, ganz überraschend gut sunktionierte, daß namentlich die Bestechlichkeit während dieser Zeit ganz a u f h ö r t e. Auch ist zu beachten, daß die georgischen Insurgen­ ten viel Blutvergießen verhindert haben, indem sie 1906 in Tiflis dem Gemetzel zwischen Mohammedanern und Armeniern ein Ende machten und so allein die Ruhe und Ordnung wiederherstellten, als dem Statthalter, dem Grafen Woronzow-Daschkow, die Zügel der Regierung vollständig entglitten waren. Trotzdem war die Vergeltung der russischen Regierung, die den Aufstand in Strömen von Blut ertränkte, eine wahrhaft furcht­ bare. Ganze Städte und Dörfer wurden durch die russische Ar­ tillerie in Ruinenhaufen verwandelt, Tausende von Georgiern ge­ hängt, erschossen oder nach Sibirien verbannt. Im Jahre 1907 wandte sich das halbzertretene georgische Volk auf der Haager Friedenskonferenz mit einer verzweifelten Petition an das ver­ sammelte Europa, das jedoch aus formellen Gründen in eine Be­ sprechung der russischen Scheußlichkeiten nicht eintreten wollte. Trotz der milden und humanen Gesinnung des Grafen Woron­ zow-Daschkow hat sich seitdem die Lage der Georgier, durch Ein­ flüsse aus Petersburg, immer mehr verschlimmert, so daß der Druck, unter dem dieses Volk gegenwärtig zu leiden hat, tatsächlich als eine Schreckensherrschaft bezeichnet werden muß. Ebenso wie die geknechteten Finnländer, haben deshalb auch die Georgier auf den gegenwärtigen Krieg große Hoffnungen gesetzt, aber schon vor der türkischen Kriegserklärung fanden die deutschen Zivil­ gefangenen im Kaukasus bei den mannhaften und ritterlichen Georgiern überall die lebhafteste Sympathie und Unterstützung. Es ist sehr bedauerlich, daß die türkischen Truppen bisher nicht in Georgien einrücken konnten, namentlich da die mohammedani­ schen Gurier aus dem Küstengebiet von Adshara an der Grenze zum Teil bereits an der Seite der Türken gekämpft haben. Es

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ist bedauerlich, weil ein ferneres Gedeihen für das alte Kultur­ volk der Georgier unter russischer Herrschaft ausgeschlossen ist. Das zweite christliche Volk des Kaukasus, die Armenier, ist insofern in einer noch ungünstigeren Lage als die Georgier, als es überall nur zerstreut zwischen anderen Völkerschaften lebt. Die Armenier befinden sich zum größten Teil noch nicht so lange unter der russischen Herrschaft, wie die Georgier, in den Gebieten von Eriwan und Nachitschewan, wo sie besonders stark vertreten sind, seit 1828, in den Bezirken von Datum und Kars erst seit 1878. Ihre Geschichte ist seit zweieinhalb Jahrtausenden ein so un­ unterbrochenes Martyrium, daß ihnen die russische Herrschaft zu­ nächst nicht als eine Verschlimmerung ihrer Lage erscheinen konnte. Allerdings ist dieses in der langen Schule des Leidens sehr hart gewordene Volk durch seine überlegene Intelligenz, seinen Fleiß, seine Sparsamkeit und zähe Energie, wie übrigens alle alten Kulturvölker, bei den Russen höchst unbeliebt. Dazu kommt noch ihre streng nationale, gregorianische Kirche, die zu den fremden, in Rußland nur geduldeten Konfessionen gehört. Dem Katholikos aller Armenier in Etschmiadsin sind auch die armenischen Patriar­ chen von Konstantinopel und Jerusalem zwar rechtlich untergeord­ net, in Wirklichkeit erstreckt sich aber sein hierarchischer Einfluß kaum über die Grenzen des Reiches, da er natürlich von der russi­ schen Regierung vollständig abhängig ist. — Die Russifizierung der Volksschulen ist von dem mit hervorragend praktischem Sinn be­ gabten Handelsvolk wohl nicht so schwer empfunden worden, wie von den Georgiern. So sagten mir häufig im Kaukasus lebende Russen, die Russifizierung der Armenier sei eine große Torheit, da sie erst dadurch zu so überaus gefährlichen Konkurrenten der russischen Handelswelt würden. Dieser durchaus russische Ein­ wand gegen die Russifizierung gilt ja wohl auch für alle übrigen, kulturell höherstehenden Fremdvölker. Im Jahre 1878 bildete sich unter den Armeniern der anarchi­ stische Geheimbund „Hintschack" und gleichzeitig die „Alliance anglo-armenienne“, zu der neben anderen hervorragenden tür­ kischen und russischen Armeniern auch der ehemalige Diktator Rußlands Loris-Melikofs gehörte. Als seitdem die von englischer Seite stets geschürte großarmenische Bewegung immer größere Kreise zog, begannen die auch gegen die russischen Armenier ge-

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richteten Bedrückungen und Verfolgungen, die um die Jahr­ hundertwende, unter der Statthalterschaft des Fürsten Golizyn einen besonders gehässigen und erbitterten Charakter annahmen. Obschon das Wetterleuchten der heraufziehenden Revolution im Jahre 1903 im Kaukasus schon recht deutlich wahrzunehmen war, faßte der Minister des Innern von Plehwe, veranlaßt durch eine Eingabe des Armenierfeindes Golizyn, dennoch im Oktober dieses Jahres den törichten Entschluß, das gesamte armenische Kirchen­ vermögen einzuziehen. Da den Armeniern ihre Kirche als ein nationales Heiligtum gilt, war ihre Erregung und Erbitterung natürlich eine ungeheure. Als bald darauf in Ielisawetpol eine nach Tausenden zählende armenische Volksmenge zum Hause ihres Bischofs zog, um von ihm näheres über diese Maßnahme zu er­ fahren, ließ der Vizegouverneur Militär ausbieten und in die er­ regte Volksmenge scharf schießen. Der Beamte hatte vergessen, daß er im klassischen Lande der Blutrache seines Amtes waltete, — schon einige Monate später wurde er selbst erschossen, während die ängstlich gewordene Regierung die geraubten Kirchengüter bereits 1904 wieder zurückerstattete. Als im folgenden Jahre die Revolution ausbrach, hat es die Regierung in sehr geschickter Weise verstanden, nach dem bewähr­ ten Rezept Machiavellis die Mohammedaner gegen die Armenier aufzuhetzen. Nur der Gouverneur von Baku, der die Sache etwas ungeschickt angefaßt hatte und diese Hetzarbeit öffentlich aus der Straße betrieb, wurde einige Wochen später durch eine Dynamit­ bombe getötet. Während der furchtbaren Metzeleien, die ich zürn Teil als Augenzeuge miterlebt habe, gerieten die fast überall in der Minderheit befindlichen Armenier in eine wahrhaft verzweifelte Lage. Tausende von ihnen wurden niedergemetzelt, ihre Ort­ schaften zum Teil völlig zerstört, zum Teil monatelang von den Muselmanen vergeblich belagert. Die Armenier wären wahr­ scheinlich vollständig ausgerottet worden, wenn die Engländer sie nicht reichlich mit Gewehren und Munition versehen hätten. Übri­ gens wurden damals alle revolutionären Elemente im Kaukasus in dieser Weise von den Engländern unterstützt, die zu jener Zeit noch alles taten, um Rußland nach Möglichkeit zu schädigen. Da­ gegen schien den Vertretern der russischen Regierung die Vor­ stellung, daß der Staat seine besten Steuerzahler zu schützen habe, vollständig sernzuliegen. In der Gegend, in der ich mich damals

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aushielt, erklärten staatliche und militärische Behörden den um Schutz stehenden Armeniern, die Regierung nehme in diesen Kämpfen eine vollkommen neutrales!) Haltung ein! Abgesehen von den georgischen Revolutionären, gab es nur zwei Personen, die meines Mistens damals den Armeniern tatkräftigen Schutz gewährt haben; es waren das der mannhafte Dorfschulze der deutschen Kolonie Katharinenseld, Emanuel All­ mendinger und der einflußreiche Mohammedaner Hassan Beg Schamchorski, ein ehemaliger Beamter, der bei Ausübung seiner menschenfreundlichen Tätigkeit erschossen wurde. Nachdem der Aufstand im Kaukasus endgültig unterdrückt war, mußte nach allen diesen Vorgängen bei den Armeniern na­ türlich eine tiefgehende Erbitterung gegen die russische Regierung zurückbleiben. Da jenseits der Grenze das jungtürkische Re­ gime die Armenier seit 1909 als vollberechtigte Staatsbürger an­ erkennt und mit Hilfe europäischer Kommissare bis 1914 die Lage der Armenier gegenüber den Kurden nach Kräften zu bessern suchte, so haben die Verantwortung für die Vorgänge, die sich während des jetzigen Krieges abgespielt haben, nicht die Türken, sondern die Armenier selbst und ihre falschen Freunde aus Eng­ land und Rußland zu tragen. Es ist deshalb bedauerlich, daß dieses intelligente und arbeitstüchtige Kulturvolk in seiner über­ wiegenden Mehrheit in diesem Kriege auf die falsche Karte gesetzt und dadurch in erster Linie die eigene Nation schwer geschädigt hat.

Die transkaukasischen Mohammedaner, die die östliche Hälfte des Gebiets bewohnen, sind zum größten Teil schiitische Osmanen, die von den Rusten als „Tataren", von den Armeniern richtiger als „Turki" bezeichnet werden. Die Völker iranischer Abstam­ mung, die Kurden, Taten und Talyschinen, kommen ihrer geringen Zahl wegen hier nicht in Betracht. Die sogenannten Tataren, deren Zahl mehr als 2 Millionen beträgt, befinden sich zum größten Teil seit 1813 bezw. 1828 unter russischer Herrschaft, die bisher ihren rein persisch-orientalischen Lebenszuschnitt in keiner Meise verändert hat, wenn auch einzelne Tataren der höheren Stände in rustischen Gymnasien und Hoch­ schulen sich eine gediegene Bildung angeeignet haben. In den tieferliegenden Landstrichen erzielen die Bauern durch den Anbau von Reis, Baumwolle und Tabak recht bedeutenden Gewinn, im allgemeinen ist aber die Lage des recht intelligenten und arbeit-

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Der Kaukasus.

samen Volkes eine sehr gedrückte. Die sogenannten „Friedens­ vermittler", die die Beziehungen der Bauern zu den Behörden und den wenigen Großgrundbesitzern zu regeln haben, fassen ihr Amt als eine reine Sinekure auf und kümmern sich nicht im ge­ ringsten um die unbefriedigende ökonomische Lage ihrer Pflege­ befohlenen. Eine wirkliche Hebung der wirtschaftlichen Lage der Tataren ist nur im Süden des Gouvernements Tiflis zu bemerken, wo in den 60er Jahren der preußische Freiherr von Kutschenbach als Kulturträger erschien. Als später der Landerwerb durch Aus­ länder ganz verboten wurde, ist dadurch die Entwicklung der transkaukasischen Landwirtschaft wohl am meisten gehemmt wor­ den, denn auch die fachmännischen Agenten der Reichsdomänen haben bisher sehr wenig geleistet. Da die Tataren eine tiefgehende Abneigung gegen die Russen hegen und eine Russifizierung der Muselmanen natürlich ganz ausgeschlossen erscheint, so hat man hier eine Entwicklung des Volksschulwesens überhaupt nicht versucht. Während bei den unter türkischem Kultureinflutz stehenden Tataren der Krim der Stand der Volksbildung ein recht hoher ist, besteht das Landvolk hier fast durchweg aus Analphabeten. Was das religiöse Leben der Tataren betrifft, so wird der Islam in Rußland bekanntlich weit weniger bedrückt und verfolgt, als die fremden christlichen Konfessionen. In wvhlbegründeter Furcht beobachtet die Regie­ rung auch hier gegenüber den Mohammedanern in allen religiösen Angelegenheiten die größte Zurückhaltung und Vorsicht. Selbst in die schauerliche und blutige Aschurafeier der Schiiten am 10. Tage des Monats Moharrem, bei der es nicht selten zu Todes­ opfern kommt, haben die Behörden niemals störend einzugreifen gewagt. — Die neue panislamitische Bewegung hat den Kaukasus schon seit längerer Zeit ergriffen. Auch bei den Schiiten waren die Sympathien für die Türkei immer sehr lebhafte, aber schon 1898 sprechen alle kaukasischen Tataren, mit denen ich damals zu­ sammentraf, nicht allein von der Türkei mit großer Begeisterung, sondern auch von Deutschland und seinem Kaiser, der damals als Freund des Padifchah Konstantinopel und Damaskus besucht hatte. Die Rolle, zu der sich die Tataren 1905 von der Regierung verleiten ließen, wurde bereits erörtert. „Zum zweiten Male be­ gehen wir nicht mehr eine solche Dummheit — dann geht es nur

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gegen den llruß!" sagte mir später ein intelligenter Tatar. Daß im gegenwärtigen Kriege die Herzen aller kaukasischen Mohamme­ daner bei den türkischen Fahnen sind, unter denen sie am liebsten mitkämpfen würden, bedarf nach dem Gesagten wohl kaum noch der Erwähnung. Die kaukasischen Bergvölker sind, wie schon oben bemerkt wurde, erst seit 1859 völlig der russischen Herrschaft unterworfen. Diese Bergvölker, die sogenannten Tscherkessen (Abchasier, Adighe), Karbardiner, Osseten, Inguschen, Tschetschenzen, Awaren, Lesghier, haben insgesamt kulturell und politisch weit weniger Be­ deutung als die Völkerschaften Transkaukasiens. Die Tscherkessenstämme, die besonders fanatische Muselmanen sind, haben sich bekanntlich nach den Türkenkriegen zum größten Teil zur Aus­ wanderung nach der Türkei bewegen lassen, so daß kaum der zehnte Teil in den heimatlichen Bergen zurückgeblieben ist. Eine Sonderstellung nehmen die Osseten ein, als dasjenige Bergvolk, das zum Teil zur russischen Staatskirche übergetreten ist, aber auch diese christlichen Osseten verhalten sich gerade in neuester Zeit zum Russentum sehr ablehnend, während sie sich umso enger an ihre mohammedanischen Stammesgenossen anschließen. Im Jahre 1877, während des Türkenkrieges, nahmen fast alle Berg­ völker eine sehr drohende Haltung gegen die Rusten ein. Wäh­ rend vom Osten 10 000 bewaffnete Lesghier und Tschetschenzen gegen die Russen zogen, schlossen sich an der Küste des Schwarzen Meeres nicht weniger als 30 000 Abchasier den in der Nähe von Suchum Kaleh gelandeten Türken an. Als diese geschlagen wur­ den, verließen diese Abchasier mit den Türken das Land, um sich dauernd in Anatolien anzusiedeln. Die zahlreichen Räuberbanden unter den Bergvölkern, deren Rassenhaß durch die panislamitische Bewegung im Wachsen ist, werden durch die seit dem 18. Jahr­ hundert am Kuban und Terek angesiedelten Kosaken bis in die neueste Zeit nur notdürftig im Zaume gehalten. So kam es noch im Winter 1913 zu größeren Gefechten zwischen Truppen und Räuberbanden. Die häufig vorgenommene Entwaffnung zahl­ reicher Dorfgemeinden hat die Erbitterung gegen die Regierung sehr gesteigert und die Räubereien nicht vermindert, sondern be­ greiflicherweise noch vermehrt. Das französische Wort über die russische Staatsform, nach welchem sie als eine durch den Meuchelmord gemilderte Despotie

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erscheint, trifft für den Kaukasus ganz besonders zu. So mancher russische Beamte, der sich dazu hinreifeen liefe, das stark entwickelte Ehrgefühl dieser stolzen Bergbewohner zu verletzen, hat das mit dem Leben bezahlen müssen, überhaupt ist der Kaukasus für die landfremden Vertreter der zarischen Gewalt ein recht heifeer Boden; im Gouvernement Ielisawetpol z. B. wurden allein im Jahre 1904, also noch vor der Revolution, nicht weniger als elf höhere Beamte von den Eingeborenen erschossen. — Was der russischen Verwaltung in allen Teilen des Landes durchaus ge­ meinsam ist, das ist die geradezu ungeheuerliche Korruption der Beamten, wie sie ähnlich vielleicht nur noch in Sibirien und Tur­ kestan zu finden ist. Die sprichwörtliche Redensart des russischen Beamten „der Himmel ist hoch und der Zar ist weit" mufe jeden­ falls in Sibirien oder im Kaukasus entstanden sein. Wenn irgendwo in den Bergen ein Mensch ermordet ist — ein im Kaukasus sehr alltägliches Ereignis — und die Polizei den Täter verhaftet hat, dann erscheinen sogleich die Verwandten und Freunde des Mörders und beginnen um den Preis der Frei­ lassung zu feilschen. Ist man Handelseins geworden und der Mör­ der befreit, dann kann keine Macht der Erde ihn mehr ermitteln, denn gegen gute Bezahlung nehmen es die russischen Beamten mit ihren übernommenen Verpflichtungen sehr genau. Bekanntlich haben die kaukasischen Briganten die unangenehme Gepflogenheit, in den Städten häufig Angehörige reicher Bürgerfamilien zu ent­ führen, ins Gebirge zu verschleppen und nur gegen hohes Lösegeld freizugeben. In diesen recht oft vorkommenden Fällen bilden die Räuber mit den Behörden gewissermafeen eine G. m. b. H., wobei die „beschränkte Haftpflicht" so zu verstehen ist, dafe die Pflicht der Polizeibeamten, die Räuber zu verhaften, gegen eine entsprechende Zahlung nicht nur beschränkt, sondern ganz aufgehoben wird. Der den Behörden „zukommende", recht namhafte Prozentsatz des Lösegeldes wird von den Räubern stets prompt und gewissenhaft entrichtet. Aber damit ist es noch nicht genug! Rach der Be­ freiung der geraubten Person unternehmen die Behörden eine „Strafexpedition", bei welcher nicht allein die in der fraglichen Gegend liegenden Dörfer gebrandschatzt werden, sondern auch ganz unschuldige Personen in die Gefahr geraten, gehängt oder erschossen zu werden. Natürlich beeilen sich die heimgesuchten Dorfgemeinden, sich durch Zahlung eines namhaften Geldbetrages

Verzeichnis der benutzten Literatur.

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von den ungebetenen Gästen möglichst schnell zu befreien. Der Polizeimeister von Tiflis nahm sich 1909 das Leben, als dem Gouverneur hinterbracht wurde, daß er schon seit Jahren solche Tantiemen aus Lösegeldern bezogen hatte. In Wladikawkas wurde der Gouverneur K selbst zur gerichtlichen Verant­ wortung gezogen, weil er 3000 Rubel persönlich von Räubern erhalten hatte. In Ielisawetpol mutzte die ganze Gouvernements­ regierung, vom Gouverneur N bis zum letzten Polizisten, entfernt werden, weil alle ihre Vertreter mit den Räuberbanden unter einer Decke gesteckt hatten! Der in dieser Weise verwaltete Kaukasus gehört — um uns recht milde auszudrücken — zu den von der Staatsregierung ganz besonders vernachläsiigten Gebieten. Für die wirtschaftliche Erschlietzung des Landes, über dessen Produktionssähigkeit man in Petersburg immer noch recht unklare Vorstellungen zu haben scheint, haben die seit 1818 angesiedelten deutschen Kolonisten und

ausländische Industrielle am meisten getan, während die Regie­ rung sie mehr gehemmt als gefördert hat. Rur unter einer besse­ ren Verwaltung und bei völliger Dezentralisation könnte dieses schöne, mit reichen Naturschätzen gesegnete Land wirklich gedeihen und vielleicht zu ungeahnter Blüte gelangen.

Verzeichnis der benutzten Literatur. Zu dem ersten Kapitel über Finnland wurde hauptsächlich bisher nicht veröffentlichtes Material benutzt.

1. „Das Baltentum und Rußland" von F. v. Haken. 2. „Die politische Bedeutung des baltischen Adels" von H. v. Revelstein. 3. „Das Bürgertum in den baltischen Provinzen" von Dr. Arendt Buchholtz. (1, 2 u. 3 aus der „Ostsee-Nummer" vom 23. November 1915 in „Das neue Deutschland" von Dr. A. Grabowsky.)

Verzeichnis der benutzten Literatur.

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von den ungebetenen Gästen möglichst schnell zu befreien. Der Polizeimeister von Tiflis nahm sich 1909 das Leben, als dem Gouverneur hinterbracht wurde, daß er schon seit Jahren solche Tantiemen aus Lösegeldern bezogen hatte. In Wladikawkas wurde der Gouverneur K selbst zur gerichtlichen Verant­ wortung gezogen, weil er 3000 Rubel persönlich von Räubern erhalten hatte. In Ielisawetpol mutzte die ganze Gouvernements­ regierung, vom Gouverneur N bis zum letzten Polizisten, entfernt werden, weil alle ihre Vertreter mit den Räuberbanden unter einer Decke gesteckt hatten! Der in dieser Weise verwaltete Kaukasus gehört — um uns recht milde auszudrücken — zu den von der Staatsregierung ganz besonders vernachläsiigten Gebieten. Für die wirtschaftliche Erschlietzung des Landes, über dessen Produktionssähigkeit man in Petersburg immer noch recht unklare Vorstellungen zu haben scheint, haben die seit 1818 angesiedelten deutschen Kolonisten und

ausländische Industrielle am meisten getan, während die Regie­ rung sie mehr gehemmt als gefördert hat. Rur unter einer besse­ ren Verwaltung und bei völliger Dezentralisation könnte dieses schöne, mit reichen Naturschätzen gesegnete Land wirklich gedeihen und vielleicht zu ungeahnter Blüte gelangen.

Verzeichnis der benutzten Literatur. Zu dem ersten Kapitel über Finnland wurde hauptsächlich bisher nicht veröffentlichtes Material benutzt.

1. „Das Baltentum und Rußland" von F. v. Haken. 2. „Die politische Bedeutung des baltischen Adels" von H. v. Revelstein. 3. „Das Bürgertum in den baltischen Provinzen" von Dr. Arendt Buchholtz. (1, 2 u. 3 aus der „Ostsee-Nummer" vom 23. November 1915 in „Das neue Deutschland" von Dr. A. Grabowsky.)

4. „Die litauisch-baltische Frage" von Dr. Gaigalat, Berlin 1915, Verlag der Grenzboten. 5. „Litauische Hoffnungen" von Dr. August Paulukat, Vaya-Verlag, Halle 1915. 6. „Die Lage des litauischen Volkes im russischen Reich" von Graf Leliwa, 1896 in russischer Sprache in Amerika er­ schienen, in Rußland verboten. 7. „Die russisch-polnischen Beziehungen" von Graf Leliwa, 1895 in Leipzig in russischer Sprache erschienen, in Rutz­ land verboten. 8. „Deutschland, Polen und die Russische Gefahr" von W. Feldmann, Verlag von Karl Curtius, Berlin 1915. 9. „Ukraine, Ukrainer und die Interessen Deutschlands" von Dr. Eugen Lewicky, Verlag von Karl Curtius, Berlin 1915. 10. „Was soll Rumänien tun?" Ernste Fragen in grotzer Zeit. Von einem bekannten rumänischen Politiker, Verlag von Karl Curtius, Berlin 1914 (anonym). 11. „Georgien und der Weltkrieg", Orient-Verlag in Zürich 1915 (anonym).

Die Zremdvölker Rußlands an den Präsidenten Wilson. Stockholm, 9. Mai. Die Liga der Fremd­ völker Rutzlands hat heute folgendes Telegramm an den Präsidenten Wilson gesandt:

An den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika Mr. Woodrow Wilson, Washington. Herr Präsident! In dringender Rot wenden wir uns an Sie, Herr Präsident, als an einen Vorkämpfer'für Humanität und Gerechtigkeit, und

4. „Die litauisch-baltische Frage" von Dr. Gaigalat, Berlin 1915, Verlag der Grenzboten. 5. „Litauische Hoffnungen" von Dr. August Paulukat, Vaya-Verlag, Halle 1915. 6. „Die Lage des litauischen Volkes im russischen Reich" von Graf Leliwa, 1896 in russischer Sprache in Amerika er­ schienen, in Rußland verboten. 7. „Die russisch-polnischen Beziehungen" von Graf Leliwa, 1895 in Leipzig in russischer Sprache erschienen, in Rutz­ land verboten. 8. „Deutschland, Polen und die Russische Gefahr" von W. Feldmann, Verlag von Karl Curtius, Berlin 1915. 9. „Ukraine, Ukrainer und die Interessen Deutschlands" von Dr. Eugen Lewicky, Verlag von Karl Curtius, Berlin 1915. 10. „Was soll Rumänien tun?" Ernste Fragen in grotzer Zeit. Von einem bekannten rumänischen Politiker, Verlag von Karl Curtius, Berlin 1914 (anonym). 11. „Georgien und der Weltkrieg", Orient-Verlag in Zürich 1915 (anonym).

Die Zremdvölker Rußlands an den Präsidenten Wilson. Stockholm, 9. Mai. Die Liga der Fremd­ völker Rutzlands hat heute folgendes Telegramm an den Präsidenten Wilson gesandt:

An den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika Mr. Woodrow Wilson, Washington. Herr Präsident! In dringender Rot wenden wir uns an Sie, Herr Präsident, als an einen Vorkämpfer'für Humanität und Gerechtigkeit, und

Vie Zremdv'olker Rußlands an den Präsidenten Wilson.

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durch Sie an alle Menschenfreunde, um Sie wissen zu lassen, welch schweres Schicksal unsere Volks- und Glaubensgenossen durch Rußlands Verschulden ertragen müssen. — Wir wenden uns durch Sie, Herr Präsident, auch an Rußlands Verbündete, denn wir wissen, daß auch sie in ihrer Freiheitsliebe und ihrem Rechts­ gefühl unsere Leiden unerträglich finden werden. Wir Angehörige der fremdstämmigen Nationen und Reli­ gionsgemeinschaften Rußlands klagen die russische Regierung vor ver gesamten zivilisierten Welt an und rufen um Hilfe, um Schutz vor Vernichtung! Wir Finnländer klagen die russische Regierung an, unsere feierlich bestätigte Verfassung mit Füßen getreten zu haben. Finnlands Recht ist durch russische Gesetze, die in Finnland keine Gültigkeit haben, verletzt worden. Unsere staatliche Autonomie wird vernichtet, unsere Rechtsordnung zerstört. Der Landtag soll aus dem öffentlichen Leben vollständig ausgeschaltet werden; die einheimischen Sprachen werden verdrängt, die Verwaltung des­ organisiert. Verfassungstreue Richter und Beamte werden in russische Gefängnisse gesperrt oder nach Sibirien verschickt.

Wir Balten waren jahrhundertelang des russischen Reiches zuverlässigste Untertanen. Als Dank wurden uns unsere Ver­ fassung, unsere verbrieften Rechte geraubt. Die Bewohner des Landes wurden systematisch gegeneinandergehetzt. Während des Krieges hat das russische Heer unsere Wohnsitze verwüstet, ge­ plündert und niedergebrannt. Viele von uns sind grundlos ver­ dächtigt, wie Feinde ohne Rechtsspruch eingekerkert und ins Elend verschleppt worden.

Wir Letten haben von jeher dem russischen Staate viele bewährte Beamte gestellt. Wir sahen, wie unser Schulwesen ver­ nichtet wurde. Die russische Regierung hat einen Geist des Hasses und der Feindschaft gegen Andersstämmige geschürt und dadurch Sittenlosigkeit gezüchtet. Obgleich wir freiwillig Legionen zur Verteidigung Rußlands stellten, ist ein großer Teil der lettischen Bevölkerung jetzt von Haus und Hof vertrieben, um im Innern des Reiches im Elend zu verkommen. Wir Litauer haben durch den Bruch der im „Litauischen Statut" gegebenen feierlichen Versprechungen unsere nationale Selbständigkeit verloren. Unser Glaube wurde verfolgt. KathoR e v e l st e i n, Nvr der Fremdvölker.

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‘Die Zremdvölker Ruhiands an den Präsidenten Wilson.

lische Kirchen wurden gewaltsam in orthodoxe umgewandelt. Der kirchliche Landbesitz wurde geraubt. — Bildung und Aufklärung wurden gewaltsam verhindert und die litauische Muttersprache sollte ausgerottet werden; wer ein litauisches Gebetbuch besaß, wurde mit Kerker oder sibirischer Verbannung bestraft. — Ein großer Teil des Landes wurde eingezogen und an russische Günst­ linge verteilt oder zu Kronsländern gemacht. Jetzt hat die russische Armee große Teile unserer Bevölkerung gewaltsam ins Elend verschleppt und das früher wohlhabende Land verwüstet. Wir Polen haben, seitdem wir unter russischer Herrschaft stehen, jahrhundertelang physische und moralische Qualen erlitten. Verfasiungsbrüche und Zerstörung unseres staatlichen und natio­ nalen Lebens kennzeichnen das Verhalten der „Schwesternation" Rußland! Um das von dem russischen Oberbefehlshaber in diesem Kriege gegebene Autonomieversprechen einzulösen, sind auch nicht die geringsten Schritte unternommen worden. Russische Truppen haben jetzt in sinnloser Weise unsere Gebiete verwüstet, geplündert und gebrandschatzt, die russische Regierung hat einen großen Teil unseres Volkes in die Fremde gejagt, und im Innern des Reiches leiden anderthalb Millionen Polen entsetzliche Not.

Wir Juden Rußlands sind geknechtet wie kein anderes Volk der Erde. Wir werden geistig und körperlich dem Siechtum über­ lasten. Wir werden am Besuch der Schulen und Universitäten gehindert. Zusammengepfercht in Ansiedlungsrayons, gab man uns steigender Verarmung und Verelendung preis. In barbari­ schen Progroms ließ man den Pöbel seine bestialischen Instinkte blutig an uns austoben. Durch den Krieg sind Hunderttausende von uns in die Fremde gehetzt worden und viele Tausende sind dabei elend umgekommen. Unsere Wohnstätten sind ausgeplün­ dert, und täglich verkommen unsere Volksgenossen im entsetzlichen Elend. Wir Ukrainer sind unserer feierlich zugesprochenen Auto­ nomie beraubt worden. Die Selbständigkeit unserer Kirche wurde vernichtet, unsere Sprache, die Sprache eines 30 Millionen zäh­ lenden Volkes, aus dem öffentlichen Leben und aus den Volks­ schulen verbannt. Kulturelle Vereine wurden mit Kriegsausbruch aufgehoben, die Presse verboten. In Galizien und der Bukowina kamen die Ausrottungsabsichten Rußlands unserem Volke gegen-

Die Zremdvölker Ruhlands an den Präsidenten Wilson.

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über offen zum Ausbruch. Alles Ukrainische wurde verfolgt, Massenverhaftungen vorgenommen und die gewaltsame Russisizierung eingeleitet. Dabei hatte die russische Regierung die Stirn, sich als Befreierin Galiziens aufzuspielen. Wir Muselmanen Rußlands, 25 Millionen, führen Klage über die an uns verübte Knechtung. Die Ausübung unserer Religion wird in ungesetzlicher Weise verhindert. Politisch werden wir verfolgt. Unser Landbesitz ist uns geraubt worden, um russi­ schen Günstlingen und Gewalthabern geschenkt zu werden. Die Entwicklung unserer Kultur wird behindert, überall unterliegen wir ungerechten Beschränkungen. Während des Krieges hat jede Ge­ rechtigkeit aufgehört. Wir werden verfolgt und mißhandelt.

Wir G e o r g i e r, das größte Volk Kaukasiens, schlossen einst freie Verträge mit Rußland, die alle gebrochen worden sind. Unsere Dynastie, die Selbständigkeit unserer Kirche, unsere natio­ nalen Einrichtungen wurden vernichtet. Unsere freien Bauern wurden enteignet, um russischen Bauern Platz zu machen. 1905/06 wurde unser Land verwüstet; russische Soldaten entehrten Frauen und Nonnen. Mit Kriegsausbruch wurden unsere Besten ver­ schickt, unsere Provinz Adschara vollständig verheert. Hungernd, nackt und elend wurden über 50 000 Menschen vertrieben und dem Untergang geweiht. So frevelt Rußland an uns, seinen eigenen Untertanen. Es hat jegliches nationale Leben unterdrückt, es hat unsere lebendigen Kulturen vergiftet. Sittenlosigkeit und Bestechlichkeit hat Ruß­ land an die Stelle von Zucht und Ehrlichkeit gesetzt, andersgläubige Religion verfolgt, Auftchwung und Bildungsdrang unterdrückt und die Verdummung seiner eigenen Untertanen angestrebt. Jetzt aber, während unsere Brüder für Rußlandbluten und st e r b e n (die Finnländer sind davon befreit), jetzt hat die russische Regierung ihrer Beamtenschaft völlige Freiheit gegeben, um ihre Zerstörungswut an unseren Wohnstätten auszulassen.

Wir beklagen uns nicht über die durch die Kriegsoperationen hervorgerufenen Schäden. Aber wir beklagen uns über die sinn­ losen Zerstörungen, die aus reiner Lust am Raub und Mord und auf direkten Befehl verübt worden sind. Wir beklagen uns über die gemeinen Verdächtigungen eigener Untertanen, über das Ein­ kerkern, Verschleppen, Verstoßen in Hunger, Elend und Rot. Wir

Die Zremdvölker Rußlands an den Präsidenten Wilson.

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beklagen uns über das Hinsiechen und Sterben Tausender von Unschuldigen, von Greisen, Frauen und Kindern.

Wir haben nicht vergessen, daß Millionen unserer Stammes­ genossen sich noch in russischen Händen befinden, daß ihnen der Mund verschlossen ist und sie die fürchterlichsten Qualen still dulden müssen. Wir kennen auch die Gewohnheit der russischen Regierung, an wehrlosen Verwandten und Stammesangehörigen Rache zu ltehmen, wenn sie ihren Haß an denen nicht kühlen kann, die die Wahrheit sagen. Wir können heute nichts für die Unseren tun. Gott schütze sie!

Aber wir wissen auch, daß niemand von den Unseren mehr den Versprechungen der russischen Regierung Glauben schenkt. Nie werden unsere Nachkommen das Martyrium vergessen, das Ruß­ land über uns gebracht hat. Rußland hat Völker, die ihm zur Pflege anvertraut waren, geknechtet und verwahrlost und seine Macht dazu mißbraucht, um seine eigenen Untertanen zu martern und unseren Wohlstand auf Generationen hinaus zu vernichten.

So hat stoßen!

selb st

Rußland

von

uns

sich

ge­

Und es wird auch später die Verfolgung unserer Stammes­ genossen fortsetzen und nicht ruhen, bis das Ziel: Ausrottung der Fremdvölker als Nationen erreicht ist.

Darum rufen wir: Helft uns! Vernichtung!

Schützt uns vor

Liga der Fremdvölker Rußlands. Zilliacus.

Konni

von

Friedrich

der

Samuli Ropp.

Sario.

Sylvio

Baron Brödrich.

Lettische Gruppe in der Schweiz. Litauisches Comite in Berlin. Dr. I. Saulys. A. Zmuidzinavicius.

S. Kairys.

glied

Duma.

der

L. Dawidsohn. Donzow. Kasy

Dr.

Michel Lempicki, Mit­

Waclaw

S.

Sieroszewski.

Zabludowski.

Dmytro

Ukrainische Gruppe in der Schweiz.

Abdul

Tseretheli.

Rachid

(Tel.-Adr.:

Ibrahim.

Stockholm

Druck von H. S. Hermann in Berlin.

Michel

de

N a t i o n l i g a.)

Wie England eine Verständigung mit Deutschland verhinderte Von

Dr. Theodor Schiemann Professor an der Universität Berlin

Preis geheftet 60 Pfennig Klarer und eindrucksvoller als in dieser von Wahrheits- und Talsachensinn verfaßten Schrift kann es nicht dargestellt werden, wie aus den: Erbe Bismarcks, seit den Tagen des Helgolandvertrages und trotz der Krügerdepesche die deutsche Politik sich ein Einvernehmen mit England zum nie aus dem Auge gelassenen Ziele gesetzt hatte; wie aber England nach anfänglichem Schwanken, das in der öffentlichen Meinung auch späterhin nicht völlig erstarb, mit anscheinend empfänglicher Miene bald ganz das große und versteckte Gegenspiel nach dem Plane des siebenten Eduard aufnahm.

Die Achillesferse Englands von Sir Roger Casement Aus b c in Englischen übersetzt und e i n g e l e i t e t von

Dr. Theodor Schiemann Professor an der Universität Berlin

Preis geheftet 80 Pfennig Über alle Fährlichkeiten der Zukunft hinaus glaubten die Engländer ihre alle Meere der Welt beherrschende Überlegenheit gesichert zu haben, und um sie zu behaupten, haben sie ein Bündnis mit den säkularen Feinden ihrer Weltstellung, Frankreich und Rußland, geschlossen und ihnen die gelbe Hyäne beigesellt, die sie schon einmal ins Feld riefen, und die nun im Begriff ist, das Erbe Englands im Stillen Ozean anzutreten... Eng verbunden mit diesem wiederaufgelebten Problem der Freiheit der Meere, die seit den Tagen der Navigationsakte nicht mehr bestand, ist nun dasjenige Problem, auf welches wir die Aufmerksamkeit unserer Leser lenken wollen. Trotz aller Versuche, dieses Problem zu lösen, und diese Versuche sind zeitweilig sehr ernst gewesen, ist es heute noch so ernst, wie es von jeher war: Die Achillesferse der englischen Großmacht, das irische Problem.

Das wirkliche England von

Dr. Edmund Freiherr» von Heyking Wirklichen Geheimen Rat

Preis geheftet 50 Pfennig Wer Interesse daran hat, auf welchen Grundlagen unser tiefer und bitterer Haß den Engländern gegenüber beruht, und was die Engländer nicht alles an groben Kränkungen und feinen Nadelstichen, an Hemmungen und Rücksichtslosigkeiten, an Verdächtigungen und Verdrehungen an uns getan haben, der lese diese Abhandlung. Sie zeigt ferner, daß England nicht als der Hort der politischen Freiheit und der Volkswohlfahrt zu gelten hat, daß England uns doch den Krieg erklärt haben würde, wenn nie ein deutscher Soldat Belgiens Grenze überschritten haben würde.

Nach Rußland verschleppt Bericht einer Augenzeugin mitgeteilt von

Dr. Theodor Schiemann Professor an der Universität Berlin

Preis geheftet 50 Pfennig Der Herausgeber sagt über diese Schrift: „Den nachstehenden erschütternden Bericht über das unbeschreibliche Elend der nach Rußland verschleppten Ostpreußen danke ich einer edlen Frau, die den unglücklichen Opfern russischer Ruchlosigkeit mit Rat und Tat beigestanden hat. Ich freue mich, mitteilen zu können, daß unsere Regierung nachdrücklich für die Be­ freiung der unglücklichen Verschleppten eingetreten ist und daß sich endlich gute Aussicht bietet, von der russischen Regierung die Genehmigung zur Heimkehr der noch am Leben gebliebenen Opfer zu erlangen."

Ein Verleumder Glossen zur Vorgeschichte des Weltkrieges von

Dr. Theodor Schiemann Professor an der Universität Berlin

Preis geheftet 1 Mark Mit dem französischen Titelwort „Jaccuse“ ist in deutscher Sprache auf dem Boden der französischen Schweiz „von einem Deutschen" ein Pamphlet veröffentlicht worden, das ohne Zweifel in Frankreich, England, Rußland und wo sonst die Feinde Deutschlands ihre Ränke schmieden, als hoch erfreuliches Ereignis begrüßt werden wird. Er nennt sein Buch ein Buch der Wahrheit. In Wirklichkeit ist es ein Buch elender Verleumdung, geschrieben aus der ruhelosen Eitelkeit einer der heimatlichen Scholle ent­ fremdeten Existenz; ein Akt der Rache für eine selbstverschuldete Vergangenheit, die sich unter dem Schleier der Anonymität verstecken muß. Professor Schiemann bleibt in seiner oben angezeigten Schrift dem Verleumder hart diif den Fersen.

Mitteleuropa Von

Friedrich Naumann Preis geheftet 3 Mark

In Pappband gebunden 3.50 Mark

In diesem Buche stellt Dr. Fr. Naumann den Staaten Mitteleuropas, die jetzt durch heldenhaften Kampf verbündet sind, eine gemeinsame Zukunft vor Augen. Er redet von der Menschheitsgruppe „Mitteleuropa" und vergleicht sie mit den größten Reichen der Gegen­ wart. Er will die Willenskräfte der Nationen und Staaten zwischen Ostsee und Adriatischem Meer auf das gemeinsame Ziel der Herstellung eines größeren dauernden Verbandes hin­ lenken: „Diese zur politischen Wirkung zusammenzufassen, zu einem Heer und einer Kraft und einem geschichtlichen, staatlichen Organismus —, es ist etwas fast Übermenschliches und dabei Herrliches, eine Arbeit für große Staatsgestalter, die Völkerseele in sich tragen, und denen der Geist der Geschichte die Gedanken lenkt. Wer sich an dieses Werk heran­ nahen will, darf nicht kleinlich sein, muß groß sein in Wille, Herrschaft, Güte und in Geduld. Für dieses Werk aber wollen wir aus allen Teilen Mitteleuropas unsere besten Männer und Frauen rufen oder besser gesagt, wir wollen ihnen den Ruf in Worte fassen, den die Vorsehung selbst in diesem Kriege an uns alle richtet: Werdet einig! Bleibt einig nach so viel Blut!" Ein Buch von äußerster Wichtigkeit für jeden Deutschen, jeden Österreicher und jeden Ungarn, wie auch für die Nachbarn dieser Länder!