Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts: unter besonderer Berücksichtigung der Notwehrprovokation [1 ed.] 9783428457106, 9783428057108

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Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts: unter besonderer Berücksichtigung der Notwehrprovokation [1 ed.]
 9783428457106, 9783428057108

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Schriften zum Strafrecht Band 58

Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts Unter besonderer Berücksichtigung der Notwehrprovokation

Von

Nikolaos Bitzilekis

Duncker & Humblot · Berlin

NIKOLAOS BITZILEKIS

Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts

Schriften zum Strafrecht Band 58

Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts unter besonderer Berücksichtigung der Notwehrprovokation

Von

Dr. Nikolaos Bitzilekis

DUNCKER & HUMBLOT

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bitzilekis, Nikolaos: Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts: unter bes. Berücks. d. Notwehrprovokation ! von Nikolaos Bitzilekis. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Schriften zum Strafrecht; Bd. 58) ISBN 3-428-05710-4 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei Bruno Luck, BerUn 65 Printed in Germany ISBN 3-428-05710-4

© 1984 Duncker

Nichts darf es geben, das nicht befragt würde, kein Geheimnis darf gegen Forschung geschützt sein, nichts sich abwehrend verschleiern. Durch Kritik aber werden die Reinheit, der Sinn und die Grenzen des Erkennens gewonnen. Karl Jaspers (Der philosophische Glaube, S. 13)

Vorwort Diese rechtsphilosophische und strafrechtsdogmatische Untersuchung hat im Wintersemester 1983/84 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde im Juni 1983 abgeschlossen. Spätere Literatur und Rechtsprechung sind in den Fußnoten berücksichtigt. Meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Hans Joachim Hirsch, möchte ich in erster Linie herzlich danken. Er stand mir - weit über das Übliche hinausgehend - in jeder Phase der Entstehung dieser Abhandlung mit wertvollen wissenschaftlichen Hinweisen, seiner fördernden Kritik und seiner menschlichen Ermutigung zur Seite. Mein Dank gebührt weiterhin meinem Lehrer aus den Thessaloniker Jahren, Herrn Professor Dr. Iohannis Manoledakis, der zu den ersten Schritten meines wissenschaftlichen Versuches durch Anregungen entscheidend beigetragen hat. Nicht zuletzt danke ich den im Kriminalwissenschaftlichen Institut (Lehrstuhl Professor Hirsch) der Kölner Universität tätigen Freunden und Kollegen für ihre entgegenkommende Hilfsbereitschaft, insbesondere hinsichtlich sprachlicher und stilistischer Fragen bei der Abfassung des Manuskripts. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der die Untersuchung durch ein Promotions stipendium ermöglicht hat, fühle ich mich sehr verpflichtet. Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Professor Dr. Dr. h. c. J. Broermann für die Aufnahme der Abhandlung in die Reihe "Schriften zum Strafrecht". Der Druck wurde durch großzügige Zuschüsse des DAAD sowie auch der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Kölner Universität gefördert. Auch dafür habe ich besonders zu danken. Thessaloniki / Köln, im April 1984

Nikolaos Bitzilekis

Inhaltsverzeichnis § 1 Einführung

.......................................................

15

1. Das Notwehrrecht und die Tendenzen zu seiner Einschränkung

15

1. Die heutige Diskussion im Notwehrbereich .................

15

2. Einführung in die Problematik der Notwehrrestriktion ...... 17 11. Zur Methode .................................................

20

Erster Teil Funktion und Wertstruktur der Notwehr im strafrechtlichen System § 2 Die ratio der Notwehrregelung ...................................

I. Allgemeines

23 23

II. Die alte Schule des "jus naturale" und ihre Bedeutung für die heutige Naturrechtslehre ..................................... 24 III. Der deutsche Idealismus in der Notwehrlehre 1. Der Begriff des Naturzustandes bei Kant ..................

28 28

2. Die Lehre Feuerbachs und der Begriff der "Rechtlosigkeit" bei Fichte ................................................. 31 3. Die HegeIsche Schule ...................................... 35 a) G. W. F. Hegel .......................................... 35 b) Die Neuhegelianer und der Satz "das Recht braucht dem 1Jnrecht nicht zu weichen" .............................. 39 IV. Die heute herrschende dualistische Ansicht .................... 1. Die Doppelfunktion der Notwehr: Selbstschutz, Rechtsbewäh-

45

rungsgedanke ..............................................

45

2. Kritische Würdigung ......................................

47

V. Notwehr als Verteidigung der Rechtsordnung .................

51

1. Der Begriff der Rechtsordnung ............................

51 51

a) Theorie von der "empirischen Geltung der Rechtsordnung" b) Die Rechtsordnung als soziale Wertordnung (normativer Rechtsordnungsbegrüf) .................................. 53

Inhaltsverzeichnis

10

2. Die "Verteidigung der Rechtsordnung" als ratio der Notwehrregelung ................................................... 3. Folgerungen aus dieser Betrachtung ........................ a) Notwehr und Strafe .................................... b) Die Notwehrfähigkeit aller geschützten Rechtsgüter ..... c) Die Frage nach der Subsidiarität der Notwehr .......... aa) Subsidiarität gegenüber privater Nothilfe ........... bb) Subsidiarität gegenüber obrigkeitlicher Hilfe ........ cc) Zulässigkeit der Notwehr bei vorhandener "Ausweichmöglichkeit" ........................................

57 62 62 66 71 72 74 77

Zweiter Teil Grenzen und Einschränkungen des Notwehrrechts § 3 Die Bedeutung und Notwendigkeit der Notwehreinschränkungen im

Rahmen der geltenden Notwehrdogmatik .........................

81

I. Begriff und Umfang der Restriktion ..........................

81

11. Notwehreinschränkungen und das Bestimmtheitsgebot des nullum-crimen-Prinzips ..........................................

84

§ 4 Die dogmatische Begründung ......................................

90

I. Allgemeines

90

11. Die allgemeine "Sozialethik" als Begründungsform ............

91

1. Die Berücksichtigung der "Sozialethik" in der Rechtsprechung

91

2. "Erforderlichkeit" und "Gebotensein" als gesetzliche Anhaltspunkte ....................................................

94

3. Die Wertausfüllung der "Sozialethik" ...................... 97 a) Das regulative Begriffspaar "Zumutbarkeit", "Unzumutbarkeit" ................................................ 97 b) Der Rechtsmißbrauchsgedanke .......................... 100 111. Die Notwehreinschränkungen als Aspekt des Notwehrgedankens 104 § 5 Die Einschränkungen im einzelnen ................................ 108 I. Einschränkungen im Hinblick auf Umstände in der Person .... 108 1. Unvorsätzliche Angriffe und Angriffe von Schuldunfähigen,

Irrenden oder sonst schuldlos Handelnden .................. 108 a) Allgemein zum Merkmal der "Rechtswidrigkeit" in § 32 StGB ................................................... 108 116 b) Die Notwehreinschränkung bei schuldlos Handelnden

2. Notwehr innerhalb besonders enger Lebensverhältnisse

120

11. Einschränkungen im Hinblick auf die beteiligten Rechtsinteressen ........................................................... 125

Inhaltsverzeichnis

11

111. Einschränkungen des Notwehrrechts durch die Menschenrechtskonvention? .................................................. 133

Dritter Teil Zur Problematik der Notwehrprovokation § 6 Einführung in die Problematik ................... . ................ 136

I. Terminus technicus

136

11. Die Problematik im Rahmen der Notwehrdogmatik .......... 138 § 7 Der Einfluß der Notwehrprovokation auf das Notwehrrecht ........ 139

I. Das angriffsauslösende Vorverhalten .......................... 139

1. Die rechtliche Qualität dieses Verhaltens ................... 139

2. Der Zusammenhang zwischen provokatorischem Vorverhalten und rechtswidrigem Angriff ................................ 146 11. Die Verteidigungshandlung ................................... 148 1. Die sogenannte Absichtsprovokation ....................... a) Begriff, Problemstellung und Streitstand in Judikatur und und im Schrifttum ...................................... b) Die dogmatische Begründungsart ........................ aa) Die Verteidigung als Rechtsmißbrauch ............... bb) Die Rechtsfigur der actio illicita in causa (a.i.i.c.) ... cc) Notwehrprovokation als Erscheinungsform mittelbarer Täterschaft ......................................... dd) Theorie der Garantenpflicht durch vorangegangenes Tun ................................................ ee) Weitere Theorien ................................... ff) Die ratio der Notwehr als einschränkendes Kriterium bei der Absichtsprovokation ........................

148 148 151 151 153 160 164 166 170

2. Die sonst vorsätzliche oder fahrlässige Herbeiführung einer Notwehrlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 176 a) Der Meinungsstand. Kritische Bemerkungen ............. 176 b) Der Einfluß auf das Notwehrrecht ...................... 182 § 8 Spezielle Fragen zur Notwehrprovokation ........................ 185

I. Die versuchte Notwehrprovokation ............................ 185

II. Der Dritte in der Notwehrprovokation ........................ 190

III. Der Notwehrexzeß bei provozierter Notwehrlage .............. 194 Literaturverzeichnis

201

Abkürzungsverzeichnis a.a.O. Abs. AE Anm. ArchCrimR ARSP Art. AT Aufl.

am angegebenen Ort Absatz Alternativ-Entwurf (siehe auch Literaturverzeichnis) Anmerkung Archiv des Criminalrechts Archiv für Rechts- und Sozial philosophie Artikel Allgemeiner Teil Auflage

BayObLG Bd. Bespr. BGB BGH BGHSt. BGHZ BT bzw.

Bayerisches Oberstes Landesgericht Band Besprechung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Besonderer Teil beziehungsweise

ders. d.h. Diss. DJZ DR DRZ

derselbe das heißt Dissertation Deutsche Juristenzeitung Deutsches Recht Deutsche Rechts-Zeitschrift

E

Entwurf eines Strafgesetzbuchs mit Begründung, Bonn 1962

f., ff. Festg. Festschr. Fußn.

folgende, fortfolgende Festgabe Festschrift Fußnote

GA Gedächtnisschr. GG GS

Goltdammers Archiv Gedächtnisschrift Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Der Gerichtssaal

HannRpfl. HESt.

Hannoversche Rechtspflege Höchstrichterliche Entscheidungen. Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Strafsachen herrschende Lehre herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung herausgegeben Herausgeber

h.L. h.M. HRR hrsg. Hrsg.

Abkürzungsverzeichnis

13

i. S.

insbes.

insbesondere im Sinne

JA JJ JR Jura JuS JW JZ

Juristische Arbeitsblätter Juristen -J ahrbuch Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung

LK

Leipziger Kommentar (siehe auch Literaturverzeichnis)

MDR MRK m.w.Nachw.

Monatschrift für deutsches Recht Konvention zum Schutz der Menschenrechte mit weiteren Nachweisen

NdsRpfl. Niederschr. NJW Nov.Dig.it. NStZ

Niedersächsische Rechtspflege Niederschriften über die Sitzungen der großen Strafrechtskommission, Bd. I-IV, 1956-1958; Bd. XI-XIV, 1959-1960 Neue Juristische Wochenschrift Novissimo Digesto Italiano Neue Zeitschrift für Strafrecht

ÖJZ

Österreichische J uristenzei tung

OLG

Oberlandesgericht

Rdn. RG Riv. it.pen Rspr.

Randnummer Reichsgericht Rivista italiana di diritto penale Rechtsprechung

S. s. SchlHA SchwZStR SK

Seite siehe Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Systematischer Kommentar (siehe auch Literaturverzeichnis) sogenannt Strafgesetzbuch

sog. StGB

u.

u.a. Urt.

VDA

und und andere, unter anderem Urteil

vgl.

Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Allgemeiner Teil vergleiche Verkehrsrechts-Sammlung. Entscheidungen aus allen Gebieten des Verkehrsrechts

z.B. ZStW

zum Beispiel Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

VRS

§ 1 Einführung I. Das Notwehrrecht und die Tendenzen zu seiner Einschränkung 1. Die heutige Diskussion im Notwehrbereich

"Kaum eine andere Institution des Allgemeinen Teils war bis in die jüngste Zeit in Bedeutung, Folgerungen und Einzelheiten so unbestritten und so geklärt wie die Notwehr." Dieser Befund Maurachs 1 ist von Wissenschaft und Praxis einer ganzen Epoche vielfach bestätigt worden. Lenckner 2 hat ihm beigepflichtet: "In der Tat scheinen grundsätzlich Bedeutung, Voraussetzungen und Tragweite im einzelnen bei der Notwehr völlig eindeutig und unbestritten zu sein." Das seit langem als geklärt geltende Notwehrrecht ist heute aber wieder in Bewegung geraten. Praxis und Lehre haben es inzwischen eingehend behandelt und zugleich in Zweifel gezogen. Die im Bereich des Rechts als einer Kulturerscheinung sich entwickelnden und wandelnden sozialpolitischen Anschauungen haben im Notwehrrecht eine Wende hervorgebracht und es so in eine "Krise" geführt 3 • Damit ist die alte Diskussion über das Notwehrrecht letztlich nie zum Stillstand gekommen. Sie durchläuft nur bestimmte Entwicklungsphasen, wenn sie nach dem Abschluß der Behandlung einer Problematik einen neuen Problemkreis um die Grenzen der Notwehrbestimmung erneut ins Blickfeld lebhafter, wechselseitiger Auseinandersetzungen rückt. Diese Tendenz, die nicht nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern auch die Rechtsprechung intensiv beschäftigt, hat die begrifflichen Grundlagen einer bislang unbestrittenen Notwehrdogmatik auf allen denkbaren Diskussionsebenen brüchig gemacht und insoweit in Frage 1 AT4, S.307; ebenso bereits AT2, S.245. Seit der 5. Auflage erfährt diese Feststellung ihre inzwischen notwendig gewordene Erläuterung; daß damit "aus heutiger Sicht der Endpunkt einer Entwicklungsphase markiert war" (Maurach/Zipf, AT I, S.374 und in der kürzlich erschienenen 6. Aufl., AT I, S.336)' 2 GA 1961, S.299. 3 Das hatte schon vor Jahren Schaffstein, MDR 1952, S. 133 erkannt, soweit er von einem "durch die soziale Zeitströmung gewandelten Rechtsgefühl" sprach. Ähnlich auch Bockelmann, Engisch-Festschr., S. 456 und Schmidhäuser, Honig-Festschr., S.185. Von einem zwangsläufigen Funktionswandel der Notwehr ist die Rede bei Maurach/Zipf, AT I, S. 336.

16

Einführung

gestellt. Damit ist das Institut der Notwehr wieder "in den Strudel der Kontroverse geraten"4. Soweit die Unrechtslehre und die Rechtfertigungsfragen in den letzten Jahren ausgiebig und auch leidenschaftlich erörtert worden sind, konnte die Notwehrregelung, die aufs engste mit diesen Grundelementen der Verbrechenslehre zusammenhängt, von dieser Entwicklung nicht unberührt bleiben. Von den verschiedenen Systemen und sich wandelnden Tendenzen her ergeben sich jeweils auch verschiedene Konsequenzen für das Notwehrrecht und dessen Anwendungsbereich. Die Meinungsverschiedenheiten in den Grundfragen des Verbrechenssystems finden notwendigerweise mehr oder weniger ihren Eingang in das Notwehrrecht und vermögen dessen Grenzen bei zahlreichen einzelnen Fallkonstellationen zu bestimmen. Hinzu kommt auch, daß die sozial- und krminalpolitischen Notwendigkeiten die Grenzen von Rechtfertigungsgründen, also insbesondere die der Notwehr, mitbestimmen. Alle diese Gründe haben die strafrechtliche Diskussion um das Notwehrrecht seit dem Beginn der 50er Jahre in eine neue Phase geführt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Lehre und Praxis dreht sich dabei nicht mehr so sehr um die eigentlichen Voraussetzungen der Notwehrregelung - obwohl auch diese praktisch nicht unberührt bleiben -, als vielmehr um die Frage nach deren Funktion im strafrechtlichen Rechtssystem und nach der Bestimmung der Grenzen bei zahlreichen Fallkonstellationen. Die alten Auffassungen, die ein schrankenloses Notwehrrecht zu begründen versuchten, finden heute keinen Rückhalt mehr. Das "scharfe" Notwehrrecht einer ganzen Epoche 5 , das sich im Satz von Berner: "ich brauche mir kein Haar krümmen zu lassen und kann bei der Vertheidigung gegen den geringsten Angriff auf das Heiligthum meiner Person bis zur völligen Vernichtung des Angreifers schreiten"6 mit aller Deutlichkeit abzeichnet, ist längst überholt. Stärkere Berücksichtigung der Gemeinschaftsbelange und soziale Rücksichtnahme zwingen heute dazu, das weitgehende, durch die extremliberalistischen Ansichten geprägte Notwehrrecht einzuschränken und in dieser Richtung die Diskussion von neuem zu beleben. Auch auf die Rolle und Funktion der Notwehr im strafrechtlichen System und den hinter ihr stehenden, tragenden Gedanken bezieht sich das "neu erwachte Interesse an der Notwehr". 4 Maurach, AT, S.307. Siehe dazu auch die Bemerkungen bei Maurach/ Zipf, AT I, S.336.

6 Es geht nämlich um die altbekannte "Totschlagsmoral", nach der ein rechtswidriger Angriff mit allen Mitteln zurückgeschlagen werden darf. Dazu u. a. Coenders, JW 1925, S. 891 und Geyer, Grundriß I, S.81. 6 Berner, ArchCrimR 1848, S.570.

§ 1 Einführung

17

2. Einführung in die Problematik der Notwehrrestriktion

Schon am Anfang dieses Jahrhunderts, insbesondere aber zu Beginn der 50er Jahre zeigt sich in Theorie und Rechtsprechung eine neue Tendenz, nämlich die weitführende Notwehrbefugnis in bestimmten Fallkonstellationen durch eine restriktive Interpretation einzuschränken. Damit wurde die Notwehrinstitution in eine neue Entwicklungsphase ihrer wechselhaften Geschichte geführt. Während die gesetzliche Regelung (seit 1871 inhaltlich unverändert als § 53 a. F., jetzt § 32 n. F.) bis dahin so verstanden worden war, daß das Recht dem Unrecht niemals zu weichen brauche und daher der Angegriffene alles zu seiner Verteidigung Notwendige tun dürfe, begann zu diesem Zeitpunkt in der Rechtsprechung eine schrittweise "Entschärfung" des Notwehrrechts. Theorie und Praxis warfen dem "scharfen und schneidigen" Notwehrrecht vor, es respektiere in seinem Umfang nicht mehr die sozialen Zeitströmungen und die kriminalpolitischen Notwendigkeiten. So war die Rede von zusätzlichen Einschränkungen des Notwehrrechts, d. h. Einschränkungen, die sich nicht an der Stärke des Angriffs und den zur Verfügung stehenden Verteidigungsmitteln ausrichteten, sondern als "sozialethische" Einschränkungen in die Strafrechtsdogmatik eingeführt wurden, wobei man darunter eine weitere Korrektur und Restriktion des Umfanges des "schneidigen" Notwehrrechts aus "sozialethischen Rücksichten" verstand7 • Jescheck bezeichnet die moderne Entwicklung des Notwehrrechts als die Geschichte seiner sozialethisch begründeten EinschränkungenB• Angenommen werden Einschränkungen bei Angriffen von Kindern, Geisteskranken, unvorsätzlich oder schuldlos oder sonst unmotiviert handelnden Personen; bei provozierten und sonst schuldhaft herbeigeführten Angriffen sowie Notwehr innerhalb beson7 So werden heute sowohl vom Schrifttum als auch von der Rechtsprechung Einschränkungen des Notwehrrechts angenommen und als "sozialethisch" bezeichnet. Statt vieler: Bockelmann, Honig-Festschr., S. 19; Courakis, Notwehr, S. 19 f.; Henkel, Mezger-Festschr., S. 272 f.; Jagusch in LK8, § 53 Anm. 2 d; Jescheck, AT, 276 f.; Kratzseh, JuS 1975, S.435; Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rdn. 43 ff. mit ausführlichen Nachweisen; Roxin, ZStW 93, S.68; Stree in: Roxin u. a., Einführung, S.35; ders., JuS 73, S. 461; weiter Schaffstein, MDR 1952, S. 132 ff. und H. Schröder, JuS 1973, S.158. Vgl. auch die Entwicklung in der Rspr. von RGSt. 55, 82; 71, 133 bis BGHSt. 5, 248; 24, 356; 26, 143 und BGH GA 1965, S.148; NJW 1969, S.802; NJW 1975, S.62. Eine ähnliche Entwicklung findet sich in den übrigen obergerichtIichen Entscheidungen. Vgl. OLG Stuttgart DRZ 1949, S.42; BayObLG NJW 1954, S. 1377 f. Für eine grundsätzliche Ablehnung dieser "sozialethischen" Einschränkung früher Eb. Schmidt, Niederschr. H, Anhang Nr.21, S. 56 f.; H. Mayer, AT 1953, S.202 und heute Spendel in LKlO, § 32 Rdn. 307 ff. m. w. Nachw.; kritisch zu dieser Entwicklung auch Hassemer, Bockelmann-Festschr., S. 228 ff. B Jescheck, AT, S. 276; ähnlich sagt Bockelmann, Honig-Festschr., S. 19, daß die Entwicklung des Notwehrrechts seit längerer Zeit im Zeichen seiner sozialethisch begründeten Einschränkungen stehe.

2 Bitzilekis

18

Einführung

ders engen Lebens- und Gemeinschaftsbeziehungen. Ferner wird auch das unerträgliche Mißverhältnis zwischen dem durch die Abwehr geschützten Rechtsgut und der drohenden Rechtsverletzung genannt. Es leuchtet ein, daß sich das Problem, ob und welche Einschränkungen das Notwehrrecht erfährt, überhaupt nur dann stellt, wenn zunächst festgestellt ist, daß die in § 32 geregelten Notwehrvoraussetzungen gegeben sind und die Verletzungshandlung insbesondere die an sich erforderliche Verteidigung darstellt. Deswegen treten diese Einschränkungen in der Notwehrproblematik als "zusätzliche Einschränkungen" hervor. Einigen Erwägungen für eine Restriktion der Notwehr über die bloßen gesetzlichen Merkmale hinaus begegnet man schon in den ersten Schriften9 dieser Periode, wobei fragmentarisch die Rede von Notwehr gegenüber Geisteskranken, Kindern, Irrenden oder von provoziertem Angriff die Rede war. Die erste Begründungsart bildet der Appell an den "gesunden Verstand", die "gesunde Volksanschauung" und das "allgemeine Rechtsgefühl"lO. In der Begründung kommt erst später das "Erforderlichkeits- oder Gebotenseinsmerkmal" der gesetzlichen Fixierung vor, außerdem die allgemeinen und abstrakten Prinzipien der "Zumutbarkeit" und des "Mißbrauchsverbots". Diese neue Tendenz wird also dadurch gekennzeichnet, einerseits das starre vom Extrem-Liberalismus geprägte Grundprinzip der Notwehr ("das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen") aufrechtzuerhalten, andererseits durch die Heranziehung allgemeiner, kaum auslegungsfähiger Prinzipien die weit gezogenen Grenzen der Notwehr zu beschränken. Das RG 11 hatte schon frühzeitig diese "sozialethischen" Schranken in das Notwehrrecht eingebracht und seitdem mit gelegentlichen Schwankungen daran festgehalten. Die jeweilige Argumentation blieb dennoch von Fall zu Fall außerordentlich variabel. So hat sich die Rechtsprechung in Wirklichkeit in eine Kasuistik verstrickt, soweit sie mit Hilfe allgemeiner "Prinzipien" wie "Rechtsmißbrauch", "Zumutbarkeit" oder "Sozialethik" und kaum auslegungsfähigen Begriffen wie "Gebotensein" versucht hat, bestimmte Konturen für das Notwehrrecht herauszubilden. Es blieb dann eigentlich nur das bloße Rechtsgefühl als Basis für die Entscheidung, ob und wieweit ein Verhalten gerade wegen Notwehr gerechtfertigt war. Alle diese literarischen Äußerungen und Gerichtsentscheidungen gehen trotz einer großen Übereinstimmung im 9 Vgl. dazu insbes. Geyer, Notwehr, S.25; ders., Grundriß I, S. 81; weiter auch Berner, ArchCrimR 1848, S.584; Oetker, VDA rr, S. 294 ff.; ebenso Graf zu Dohna, ZStW 33, S. 125 ff. 10 Dazu vor allem RGSt. 71, 133; OLG Stuttgart DRZ 1949, S.42 mit Anm.

Gallas.

11 RGSt. 16, 69. Hierzu siehe Jagusch in LK8, § 53 Anm. 3 e aa; weiter auch HenkeL, Mezger-Festschr., S. 272 und Mezger, JW 1937, S.1788.

§ 1 Einführung

19

Ergebnis weit auseinander. Hinter dieser äußerlichen Einmütigkeit verbirgt sich also eine solche Abweichung in den theoretischen Grundlagen, daß man fast sagen könnte: hier ist soviel wie alles bestritten und zweifelhaft. Nachdem sich diese Tendenz zu einer zusätzlichen Restriktion der Notwehrbefugnis allmählich durchgesetzt hatte, nahm sie eine hervorragende Stelle unter den Kontroversen der Strafrechtsdogmatik ein. Eine ständig zunehmende Zahl von Aufsätzen und Büchern und die immer häufiger erscheinenden Entscheidungen hierzu bestätigen, daß - wie Roxin 12 ausdrücklich sagt - diese Problematik zu einem zentralen Thema der Strafrechtsdogmatik geworden ist. Obwohl ihr weder im deutschen noch im griechischen oder italienischen StGB im gesetzlichen Wortlaut Rechnung getragen wurde - im Gegensatz zu den neuen österreichischen und schweizerischen Regelungen, in denen sie teilweise berücksichtigt wird -, ist die Diskussion in vollem Gange. Das ist derzeit sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung unverkennbar. Damit steht heute fest, daß von dem schneidigen Notwehrrecht im Sinne einer "Totschlagsmoral"13 nicht mehr viel übrig geblieben ist14 • Dennoch harren die wirklichen Gründe sowie die Tragweite dieser Einschränkungen und damit die in ihnen erkennbaren Tendenzen der Notwehrdogmatik noch immer der wissenschaftlichen Aufklärung und der dogmatischen Begründung. Denn wo die Grenzen des Notwehrrechts verlaufen, kann nicht anhand des bloßen Rechtsgefühls oder der allgemeinen Sozialethik entschieden werden. Es geht nämlich um nichts weniger als um die Frage nach den Grenzen von Recht und Unrecht, nach Strafbarkeit oder Straflosigkeit. Solange die äußersten Grenzen des Notwehrrechts aber noch unklar sind, kann auch nicht in jedem Einzelfall gesagt werden, was im Rahmen der erforderlichen Verteidigung gerechtfertigt wird oder nicht. Dort also, wo die Grenzen zu verwischen drohen, hat der Dogmatiker eine bestimmte Linie zu ziehen, dabei nebulöse Konstruktionen und vage, inhaltsleere Begriffe jedoch zu vermeiden. Daher steht die Diskussion um die "sozialethischen" Schranken der Notwehrbefugnis - wie Günther 15 neuerdings auch bemerkt - weniger vor ihrem Abschluß als vor ihrem Neubeginn. 12 ZStW 93, S. 68 f.; ähnlich sagt dazu Stratenwerth, AT I, S.133, daß es kaum ein anderes Thema der Strafrechtsdogmatik gebe, das in den letzten Jahren so häufig diskutiert worden sei. Und neuerdings auch Günther, Strafrechtswidrigkeit, S.341. 13 Siehe dazu Coenders, JW 1925, S. 891, der von "Kannibalenmoral" spricht; und Geyer, Grundriß I, S.81; ferner Fischer, Rechtswidrigkeit, S.203 und Tobter, Grenzgebiete, S.74. 14 So ausdrücklich Fetber, Rechtswidrigkeit, S.4, der meint, daß das starre Notwehrrecht der Vergangenheit angehöre. 15 Strafrechtswidrigkeit, S. 343. 2*

20

Einführung

Die vorliegende Untersuchung hat zum Ziel, von dem gesamten Prozeß der Meinungsentwicklung, der in der juristischen Literatur der letzten hundert Jahre abgelaufen ist, klare Ansichten für die Notwehrbestimmung herauszubilden, die sozialpolitische Notwendigkeit für eine zusätzliche Einschränkung der Notwehrgrenzen in das dogmatische System einzubeziehen, um damit den unklar gewordenen Konturen der Notwehr wieder feste und bestimmte Kriterien entgegenzusetzen. Da über eine Restriktion der Notwehr - abgesehen von einzelnen Abweichungen - im wesentlichen Einigkeit besteht, wird man fragen können, ob es sich lohnt, der Methode und den verschiedenen Begründungsarten Bedeutung beizumessen. Das aber, was eine Dogmatik charakterisiert, sind nicht die bloßen Ergebnisse, die sich von ihr ableiten lassen, sondern ist vielmehr die ganze Gedankenführung, von der sie ausgehen l6 • Denn fehlt die dogmatische Begründung, dann kann auch das Ergebnis nicht sicher und einheitlich sein17 • Diese Unsicherheit zeigt sich bei der Notwehrrestriktion, wenn z. B. der Verteidiger auf unterschiedliche Wege, auf Ausweichen oder Herbeiholen fremder Hilfe bis hin zum Inkaufnehmen leichter Verletzungen, verwiesen wird. Nur eine wissenschaftliche Arbeitsweise verbürgt also gesicherte Ergebnisse und kann deswegen Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben l8 • 11. Zur Methode Bevor weiter in der Untersuchung den Einschränkungen des Notwehrrechts nachgegangen wird, soU zunächst die Methode der folgenden Darstellung verdeutlicht werden. Es bedarf nämlich der Klärung, wie man durch die Erörterung gewisser Problemkreise zu bestimmten Ergebnissen gelangen kann und welchem methodischen Weg man zu folgen hat, um auf alle möglichen Fragen, die der theoretische Gegenstand dieser Untersuchung aufwirft, eine möglichst lückenlose, systematische Antwort zu geben. Es versteht sich von selbst, daß die Anerkennung zusätzlicher Einschränkungen des Notwehrrechts eine Reihe von schwierigen, einschlägigen Fragen nicht nur im Rahmen der Notwehr, sondern auch in der 16 Siehe hierzu Stratenwerth, JJ II, S. 195; ferner auch Hassemer, Bockelmann-Festschr., S.230. 17 Sobald die Dogmatik als folgenlos und überflüssig für die Lösung der Entscheidungsprobleme im Notwehrbereich angesehen wird, wird alles im Notwehrbereich so flüssig, daß dann von einer gesetzlichen Regelung kaum noch etwas zu spüren wäre. Darauf hat bereits Hassemer, Bockelmann-Festschr., S.232, 237 hingewiesen; vgl. weiter auch Stratenwerth, AT I, S.133. 18 Eine allgemein als richtig hingenommene These, bemerkt mit Recht Lenckner, GA 1961, S. 304, könne nur dann Anspruch auf letzte Glaubwürdigkeit erheben, wenn sie eine dogmatisch einwandfreie Erklärung finde.

§ 1 Einführung

21

gesamten Strafrechtsdogmatik aufwirft, deren Beantwortung bei der Erörterung dieses Themas hilfreich sein wird. Somit vermag das Notwehrrecht infolge der Neubelebung seiner Problematik hinsichtlich Tragweite und Grenze ebenfalls andere Bereiche zu neuem Leben zu erwecken. Deswegen kann man es bei der dogmatischen Bearbeitung dieses Themas kaum vermeiden, eine ganze Reihe von Einzelfragen, die mit vielen Teilgebieten der Strafrechtsdogmatik eng verbunden sind, nacheinander aufzurollen und systematisch zu besprechen. Dies ergibt sich daraus, daß die Materie eine Weitschichtigkeit und Tiefe aufweist, die das ganze Rechtsgebiet durchquert und deren Fundamente bis zu den philosophischen Grundanschauungen der geltenden Rechtswissenschaft zurückgreifen. Diese Aufgabe soll in drei Teilen erfüllt werden. Die Untersuchung der zusätzlichen Restriktion der Notwehrbefugnis gibt zunächst Anlaß, auf die dogmatische Grundlage, auf die ratio dieses Instituts und auf deren Funktion im strafrechtlichen System einzugehen. Erst dann ist nämlich der Boden für eine weitere Untersuchung der Notwehrrestriktion vorbereitet. So wird im ersten Teil dieser Arbeit die Wertstruktur, die ratio des Notwehrrechts dargelegt, wobei man kritisch die rechtsphilosophischen und strafrechtsdogmatischen Positionen des gesamten Prozesses der Gedankenentwicklung bis zur heutigen dualistischen Konzeption hintereinander aufzurollen hat, um daraus bestimmte Konsequenzen zu ziehen. Werden daher die philosophischen Hintergründe der Notwehrinstitution eingehend erforscht, lassen sich aus den Grundhaltungen einer ganzen Entwicklung heraus der heutige Standpunkt begreifen und die Einschränkungstendenzen im Notwehrbereich richtig interpretieren. Im zweiten Teil sollen die Einschränkungen des Notwehrrechts im Besonderen behandelt werden. Es soll dabei zunächst der Begriff dieser Restriktion und ihre übereinstimmung mit dem nullum-crimen-Satz dargestellt werden; danach folgt eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Begründungsarten der Lehre und der Judikatur; schließlich werden diejenigen Einschränkungen, die sich mehr oder weniger in Wissenschaft und Praxis durchgesetzt haben, im einzelnen erörtert. Die Problematik der Notwehrprovokation sowohl in ihrer meist erörterten Form der Absichtsprovokation als auch in der Form einer sonst vorsätzlichen oder fahrlässigen Herbeiführung einer Notwehrsituation wird wegen ihrer theoretischen und systematischen Besonderheit und aber auch wegen ihrer Bearbeitung durch die Wissenschaft eingehend im dritten Teil dieser Arbeit behandelt.

22

Einführung

Schließlich sei noch bemerkt, daß diese Arbeit nicht jeden Einfluß einer Notwehrrestriktion auf andere dogmatische Bereiche und strafrechtliche Topoi vollständig aufzeigen kann. Sie soll nicht eine geschlossene Darstellung der ganzen Notwehrdogmatik sein, sondern mehr eine Einführung in die neuen Tendenzen eines zu weitgehenden Notwehrrechts. In diesem Sinn will sie einen Beitrag zum ständigen weitreichenden Dialog über die seit jeher im Vordergrund der Auseinandersetzungen stehenden fundamentalen Probleme leisten.

Erster Teil

Wertstruktur und Funktion der Notwehr im strafrechtlichen System

§ 2 Die ratio der

Notwehrn~gelung

I. Allgemeines Um ein als richtig empfundenes Ergebnis rechtlich zu untermauern, muß man es rational begründen, und es muß sich nach einem logischsystematischen Verfahren jeweils seine Ergiebigkeit und Konsequenz ableiten und beweisen lassen. Daß jeder Einzelfall und jede Lösung im Rahmen des Notwehrrechts auf die Grundebene der ratio der Notwehr induzierbar sein und diesen Grundgedanken bis zu dessen äußersten grund anschaulichen Fundamenten widerspiegeln muß, scheint ersichtlich zu sein. Jede Diskussion über die ratio der Notwehrbestimmungen beeinflußt daher unmittelbar den Anwendungsbereich der Notwehrbefugnis. Beruht nämlich das Notwehrrecht auf diesem oder jenem Prinzip, so sind die Grenzen der Rechtfertigung bei der Notwehr jeweils anders zu ziehen. Die ratio des Notwehrrechts ist in einer funktional verstandenen Dogmatik zum Ausgangspunkt kettenweise abzuleitender Folgerungen und Interpretationen erhoben. Die Lösung einzelner Interpretationsprobleme kann also methodisch richtig erst angegangen werden, wenn zunächst die ratio der Notwehr aufgehellt wird, aus der allein sich feste Konturen für die Rechtfertigung der Tat ergeben. Im Laufe der Entwicklung des Rechtsdenkens sind immer wieder neue Ansichten und Theorien über die "eigentliche" Grundstruktur des Notwehrrechts aufgestellt worden. Freilich sind diese Auffassungen nicht immer bis in ihre äußersten Konsequenzen für den Notwehrumfang spezifiziert worden. Niemand wird heute unmittelbar anhand des HegeIschen Idealismus oder des Kantschen kategorischen Imperativs die Fragen zu beantworten versuchen, die heutzutage die theoretische Diskussion im Notwehrbereich beherrschen. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die Grundpositionen dieser philosophischen Richtungen

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1. Teil:

Wertstruktur und Funktion der Notwehr

benutzt werden, um Fragen nach der Wertstruktur eines derart bedeutsamen Rechtfertigungsgrundes zu klären. Die zeitgenössische Lehre nimmt nämlich eine imponierende Vielzahl von theoretischen Nuancierungen und philosophischen Auseinandersetzungen vor, die weiter mehr oder weniger an weltanschauliche Belege anknüpfen und hier beachtet werden müssen. Daher scheint es zunächst sinnvoll, die philosophischen Grundpositionen über das Notwehrrecht zu Rate zu ziehen und die von ihnen ausgehenden unterschiedlichen Wirkungen für den Notwehrumfang zu bestimmen. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird den Ausgangspunkt für die Erörterung der die Notwehrdogmatik interessierenden Einzelfragen bilden.

11. Die alte Schule des "ius naturale" und ihre Bedeutung für die heutige Naturrechtslehre Die Naturrechtslehre hat das Rechtsdenken über lange Zeit hin maßgeblich beeinflußt. Dabei gehört das Notwehrrecht zum klassischen Bestand naturrechtlicher Positionen. "Dürfte von angeborenen, von Urrechten des Menschen die Rede sein" -- heißt es bei Hälschner1 - , "so würde vor allem das Recht der Notwehr als solches zu bezeichnen sein." Im Rahmen unserer Untersuchung kann dennnoch die Naturrechtslehre nur soweit dargestellt werden, als ihre Konzeptionen in der Behandlung des Notwehrrechts - insbesondere der Frage nach dessen Grenzen - deutlich werden. Die alte Lehre vom Naturrecht, die auf die griechische Philosophie und vornehmlich auf Aristoteles2 und die Stoa zurückgeht, sieht als Grundlage für das Notwehrrecht den Selbsterhaltungstrieb, den instinctus naturalis se defendendi. Daher beruht die Notwehrbefugnis nicht auf positivem Recht, sie läßt sich vielmehr aus der Natur des Menschen selbst herleiten. Im mittelalterlich-scholastischen Denken war die Notwehr als ius naturale und ius divinum nicht nur ein Recht, sondern vielmehr eine Pflicht. So liest man bei Obrecht 3, daß wer seinen Leib und sein Leben gegen einen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen unterlasse, eine Sünde damit gegen Gott begehe. Ähnlich sieht auch Carpzov' die NotStrafrecht I, S.477. Nikomachische Ethik, V. Buch, 1134 b. Eingehend zur naturrechtlichen Konzeption der altgriechischen Rechtsanschauung und zur Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffs vgl. etwa Wetzet, Naturrecht, S.9 ff., 28 ff. a Practica de necessaria defensione, Kap. In. 24; dazu Haas, Notwehr, S.62. 4 Practica nova, I q. 28 n. 1 ff. Vgl. dazu Haas, Notwehr, S. 64 f.; Schaffstein, Lehren vom Verbrechen, S.70, 78. 1

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§ 2 Die ratio der Notwehrregelung

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wehr als eine Pflicht an, die dem einzelnen gegenüber Gott und der Gemeinschaft obliege. Als sich dann die Rechtsphilosophie während der Aufklärung von den Fesseln der Theologie befreite und ihre Erkenntnisse auf dem Boden kritischer Vernunft zu begründen suchte, brauchte auch die Naturrechtslehre für die Rechtsbegründung nicht mehr den Gedanken der Pflichtbindung: Für die Anerkennung des Notwehrrechts genügte als theoretisches Fundament die Natur des Menschen und der menschlichen Gesellschaft5 • Bestimmend für die Herausbildung einer solchen Konzeption des Notwehrrechts war insbesondere der von Grotius entwickelte Vertragsgedanke, der später von Rousseau und vornehmlich von Kant und den Neukantianern übernommen wurde und damit in die Philosophie des Idealismus eingegangen ist6 • Inhalt des Vertragsgedankens ist die Vorstellung eines vernunftmäßigen Zusammenschlusses der Menschen in einer Gesellschaft mit dem Ziel, das Wohl des einzelnen gemeinsam durch Ausschluß des bellum omnium contra omnes-Zustandes zu fördern und zu bewahren. Somit liegt die Legitimation des Staates darin, daß er allen Menschen die Möglichkeit eröffnet, ihre angeborenen natürlichen Bedürfnisse und Triebe befriedigen zu können7 • Von einer solchen Gesellschafts- und Staatslehre her ergibt sich dann als Konsequenz für Grotius das Notwehrrecht als das Recht der Selbstverteidigung, das jeder von Natur her hat. Gemäß eines vorstaatlichen Naturzustandes hat jeder das aus der Natur des Menschen schöpferisch gestaltete "Recht", alles zur Selbsterhaltung Erforderliche einzusetzen. Für die Weiterentwicklung dieses Notwehrgedankens kommt Samuel Pufendorr besondere Bedeutung zu. Er proklamiert das Notwehrrecht als ein Urrecht, das viel älter sei als die Idee des Staates. Bei ihm wird das Merkmal der Not (Fehlen oder Verweigerung staatlicher Hilfe) stärker betont, welches den dem Menschen angeborenen SelbsterhalSiehe bereits hierzu Coing, Rechtsphilosophie, S. 32. Mit seinem Werk "De jure belli ac pacis" (1625) beherrschte er die ganze naturrechtliche Periode der Aufklärung. Dazu eingehend Wetzet, Naturrecht, S. 123 ff. und Haas, Notwehr, S.71 ff.; weiter ebenso v. Bar, Gesetz und Schuld !II, S. 130 f. und Coing, Rechtsphilosophie, S. 32 f. 7 Grotius, a. a. 0., Prolegomena § 9, § 15. Ein solcher freiwilliger Vertragsabschluß setzt aber voraus, daß jeder die Möglichkeit für sich behält, freiwillig wieder von ihr abzutreten. überdies dient jede Theorie dazu, die von einem freiwilligen Zusammenschluß in einer Staatsordnung ausgeht, sowohl die Notwendigkeit der staatlichen Gewalt als auch die über- und Unterordnungsbeziehungen zu bewahren und zu rechtfertigen. 8 De iure naturae et gentium, Lib. !I cap. V; näher dazu v. Bar, Gesetz und Schuld I!I, S.131; Graf zu Dohna, Rechtswidrigkeit, S. 125; Haas, Notwehr, S. 82 ff. und Suppert, Studien, S.46 Fußn.15. Zur Notwehrlehre Pujendorjs vgl. insbesondere Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 88 f.; vgl. weiter ders., Naturrecht, S. 130. 5

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1. Teil: Wert struktur und Funktion der Notwehr

tungstrieb auslöst und so die Rechtsordnung zur Seite läßt. Es geht also bei Pufendorf nicht mehr nur um eine Herleitung des Notwehrrechts aus dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen und dessen Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates. Da aus dem ius naturae nur eine individualistische Betrachtung des Rechts der einzelnen Bürger hervorgeht, erlangt auch das Notwehrrecht in dieser Entwicklungsperiode einen rein individualistischen Charakter. Das Individuum in seinem natürlichen Dasein ist Ausgangspunkt aller rechtlichen Betrachtungen. Eine aus dem natürlichen Instinkt abzuleitende und daher allen Lebewesen nach Naturrecht in einem vorstaatlichen Naturzustand erlaubte Notwehr kann folgerichtig keinen Einschränkungen unterliegen oder zur sozialen Rücksichtnahme verpflichten, wie es eine vom Staat abgeleitete Befugnis voraussetzen würde. Wieweit ein solches uneingeschränktes, in einem Naturzustand ausgeübtes Notwehrrecht gehen kann, zeigt sich deutlich im folgenden Satz von John Locke. Jeder, der die Selbsterhaltung eines Menschen ernstlich gefährde, dürfe wie ein wildes Raubtier erschlagen werden 9 • Geht man von solchen Konzeptionen aus, lassen sich sowohl das erforderliche Maß der Notwehrausübung als auch die Voraussetzungen des Notwehrrechts überhaupt nur schwer bestimmen: Ein Selbstverteidigungsrecht kann als Ausdruck des Selbsterhaltungstriebs im Naturzustand nicht nach rechtlichen Maßstäben gemessen werden, denn diese entstehen nur im rechtssetzenden Staat. In einem status naturalis werden also die Grenzen der Notwehr sehr weit gesteckt, so daß bei jedem unrechtmäßigen Angriff sogar die Tötung des Angreifers konsequenterweise erlaubt ist. Diese Auffassung über die Notwehrhandlung als einer durch das natürliche Recht erlaubten Tat blieb während der Geltung des gemeinen Rechts übereinstimmend in Rechtsphilosophie und positiver Rechtswissenschaft herrschend. Die allmählich einsetzende Aufklärung und die ihr folgende Rationalisierung und Humanisierung des juristischen Denkens forderten die gesetzliche Fixierung jeder Institution im positiven Recht. Trotz dieses Einbruchs des positiven Rechts in die Naturrechtslehre mit der gesetzlichen Fixierung der Notwehrvoraussetzungen, ist die Auffassung vom natürlichen Charakter der Notwehr bis in die heutige Zeit hinein vielfach verfochten worden. So ist heute K rey 10 der Auffassung, das Notwehrrecht sei nicht aus der Staats9 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, H. 2. § 11. Im Naturzustand besitzt nach Locke jeder das natürliche Recht, selbst Richter zu sein, wenn er naturrechtswidrig angegriffen wird, sowie das Recht, das Gesetz der Natur, das zugleich das Gesetz der Vernunft ist, selbst zu vollstrecken (a.a.O., H. 2. § 7 f.). 10 JZ 1979, S.713; ferner Binding, Handb. I, S. 733 f.; Dreher/Tröndle, § 32 Rdn. 2; ähnlich sieht Jagusch in LK8 § 53 Anm. 1 die Notwehr im "natürlichen

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gewalt abgeleitet; vielmehr sei dieses Recht Ausdruck des überpositiven, unabhängig von "gnädiger staatlicher Gewalt" aus der Rechtsidee resultierenden Prinzips erlaubter Selbstverteidigung gegen rechtswidrige Angriffe. Ähnlich meint auch Klose ll , daß die Notwehr einen substantiell übergesetzlichen Charakter habe, den man in der Positivierung der unterschiedlichen Rechtsmaterie erfahre. Sie leite sich aus einem überpositiven allgemeinen Rechtsgrundsatz ab und überwinde auch die Wesensgehaltsperre des Art. 19 II GG. Klose will damit der Notwehrinstitution einen vorkonstitutionellen Sinn zuschreiben. Nach Klug 12 würde der Rechtfertigungsgrund der Notwehr kraft "höheren Ranges" selbst dann weitergelten, wenn § 32 StGB durch eine einfache Gesetzesänderung gestrichen würde. Für eine solche Meinung hat sich auch Sax13 eingesetzt. Er sieht den Grund der Notwehr darin, daß die Rechtsordnung, wenn sie sich als Rechtsordnung nicht selbst aufgeben will, es dem Angegriffenen "nicht verbieten darf, daß er sich zur Wahrung des eigenen Rechts gegen das Unrecht des Angreifers verteidigt". Notwehr sei "naturrechtlich" gegründet und bedürfte der gesetzlichen Normierung deswegen gar nicht. Sie ist nach Sax ein "vorrechtliches, allgemein-sittliches (naturrechtliches) Rechtfertigungsprinzip" . Die Annahme, daß ein Recht aus einem allgemeinen Prinzip - etwa der Natur des Menschen14 - abgeleitet wird und demzufolge allerorten die gleiche Bedeutung erlangt, nämlich eine überzeitliche universale Gültigkeit besitzt, scheint mit dem heutigen sozialpolitischen Rechtsdenken nicht vereinbar zu sein. Außer dem Geltungsproblem eines vorrechtlichen Rechts, ein Einwand der von der allgemeinen Naturrechtskritik öfters vorgebracht wird, sprechen gewichtige Bedenken gegen eine naturrechtliche Betrachtung des Notwehrrechts. Wird das Recht außerhalb einer bestimmten Rechtsordnung als aus der Natur des Trieb" der Selbstbehauptung und -bewahrung angelegt. Weitere Nachweise bei Suppert, Studien, S.43 Fußn. 3, 4, 5, 6. Früher auch Schütze, Lehrb., S. 108. Als ein "tipico diritto naturale", das das Gesetz nicht erst schafft, sondern es bloß anerkennt, bezeichnet Altavilla das Notwehrrecht (Nov.Dig.it. 1960, S.621). 11 ZStW 89, S. 87 f. "Aus der Vorbindlichkeit und Vorstaatlichkeit der Notwehr als dem elementarsten, durch kein Gesetz abänderbares Menschenrecht folgt, daß Notwehr obersten Verfassungsrang hat". 12 Peters-Gedächtnisschr., S. 440. 13 JZ 1977, S.329 Fußn. 18. Als eine "mit dem Recht als Recht sogleich mitgesetzte rechtliche Grundbefindlichkeit, die der gesetzlichen Normierung gar nicht bedürfte, sondern, wenn man so will, geradezu ,naturrechtlich' gegründet ist", bezeichnet Sax das Notwehrrecht. Ihm folgend Constadinidis, Die "actio illicita in causa", S. 107. 14 Ein solcher Gedanke der "Natur des Menschen", der auf die Sophisten zurückgeht, ist so unbestimmt und leer, daß man davon jeweils sehr unterschiedliche, ja einander geradezu widerstreitende Prinzipien "ableitet". Dazu näher Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 96 ff.

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1. Teil: Wertstruktur und Funktion der Notwehr

Menschen oder der Vernunft hergeleitetes Institut behandelt, ist es für alle Zeiten und Völker gleich, durch die gleichen Prinzipien zu begründen und im selben Maße anzuwenden. Es wäre also als ein in jeder Hinsicht zeitüberlegenes und in diesem Sinne absolutes Recht zu begreifen. In einem Rechtssystem aber, das als geschichtliches Produkt zu verstehen ist und die ontologischen Strukturen und sozialen Wertungen einer bestimmten, zeit- und ortbedingten Sozietät widerspiegelt, nimmt sich eine naturrechtliche "Erklärung" des Notwehrrechts als abwegige Begründung und zugleich als Widerspruch in sich selbst aus. Wenn also die Notwehrrechte die Funktion haben, eine konkret-historisch bestimmte Rechtsordnung zu bewahren und als deren Erhaltungsmittel zu dienen, gibt es keinen Raum für eine Auffassung, welche die Notwehr naturrechtlich, als ein originäres vor dem Staat, nicht als von dem Staat abgeleitetes Recht gelten läßt. Denn eine positive Rechtsordnung, die den Staat voraussetzt, kann nicht durch ein vor dem Staat geltendes, nach dem Naturrecht bedingtes Mittel bewahrt werden. Darüber hinaus läuft eine naturrechtliche Konzeption der Notwehr auf ein extrem-individualistisches Notwehrrecht hinaus und führt zugleich zu einem außerhalb der Rechtsordnung geltenden Naturzustand, in dem jeder Gedanke an Notwehrgrenzen und Notwehreinschränkungen und an den Schutz der Rechtsgüter der Allgemeinheit von vornherein ausscheidet. Soziale Rücksichtnahme und Mitberücksichtigung sozialrechtlicher Wertungen in einem Recht, das vor der Sozietät gilt und von einem bloßen Naturzustand bedingt ist, wäre ohnehin sinnlos. Denn in einem Recht, das nach abstrakt-absoluten, meist undefinierbaren Prinzipien, wie "Natur des Menschen" oder "Naturrecht" bedingt ist, kann eine sozialrechtliche Wertung einer bestimmten Rechtsordnung keinen Niederschlag finden. Werturteile wie etwa das "Mißverhältnis" zwischen bedrohtem und verletztem Rechtsgut, Schuldlosigkeit oder Unmotivierbarkeit des Angreifers usw. - passen mit dem Naturrechtsgedanken nicht zusammen; sie setzen das wertende Subjekt, den Staat und dessen Wertungen, das Recht voraus.

III. Der deutsche Idealismus in der Notwehrlehre 1. Der Begriff des Naturzustandes bei Kant

Auf die Weiterentwicklung der Notwehrlehre war von besonders nachhaltigem Einfluß die Philosophie von Immanuel Kant. Dieser leitete mit seiner Erneuerung der Platonischen Philosophie jene große

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philosophische Periode - den deutschen Idealismus - ein, die später im Hegeischen System vollendet wurde15 • In seinen rechtsphilosophischen Positionen, die stark an einer Transzendentalphilosophie und an den Idealismus gebunden sind, läßt sich ebenso der Einfluß der Lehre vom Naturrecht erkennen. Aus der Rechtsphilosophie Kants ergibt sich, daß das objektive Recht als ein Inbegriff der Bedingungen zu verstehen ist, unter denen die Willkür des einen (einzelnen) - als Möglichkeit des unendlichen Gegensatzes - mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann16 • Als Hauptpunkt der Kantschen Konzeption ist der Begriff der Freiheit anzusehen, der als reiner Vernunfts begriff transzendenter Natur und durch den obersten Grundsatz der Sittenlehre, den kategorischen Imperativ bedingt ist17• Dieses aus dem obersten Pflichtgesetz, das apriori gegeben ist, nämlich aus dem kategorischen Imperativ der Vernunft abgeleitete Postulat schreibt vor, daß die äußere Freiheit soweit zu beschränken ist, daß sie mit der äußeren Freiheit von jedermann zusammenbestehen kann18 • Da dieser kategorische Imperativ selbst aus Begriffen reiner Vernunft konzipiert ist, beruht das daraus abgeleitete Recht auch nur auf Prinzipien apriori; es ist in der menschlichen Vernunft von vornherein vorhanden und gilt deswegen allgemein und unabhängig von der Erfahrung19 • Unrecht ist nach Kant ein Hindernis oder Widerstand gegen die Handlung als Äußerung der Freiheit20 • Setzt man also diesem Hindernis der Freiheit - nämlich dem Unrecht - Zwang entgegen, gewährleistet man so nach Kant die Freiheit. Dieser Zwang diene ohnehin der Förderung der Freiheit und sei als solcher, da er die Hindernisse der Freiheit verhindert, nicht nur zulässig, sondern auch sittlich geboten, das sei recht21 • Um das zu verwirklichen, müsse man sich mit anderen vereinigen, d. h. in einen Zustand treten, der durch die Zuteilung der Macht die Durchführung des Rechtszwanges garantiere und sichere. Dieser Zustand ist der Staat, der nach Kantscher Meinung, wie schon Vgl. hierzu Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 36. n Kant, Metaphysik der Sitten, S. 34 f. 17 Kant, a.a.O., S. 23 f. 18 Kant, a.a.O., S. 35, vgl. dazu Sander, Begründung der Notwehr, S. 20. 19 So Kant, a.a.O., S. 43. 20 Kant, a.a.O., S. 35. "Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann". 21 Kant, a.a.O., S. 36. Das führt gerade zu den alten naturrechtlichen Konzeptionen, wonach mit dem Recht auch die Befugnis und Pflicht zur Durchsetzung des Rechts verbunden war. Dazu insbes. Haas, Notwehr, S.97 und Sander, Begründung der Notwehr, S. 21. Der Gedanke, daß die Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit nicht nur zulässig, sondern auch sittlich geboten sei, hat später die ganze idealistische Philosophie beeinflußt. 15

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1. Teil: Wertstruktur und Funktion der Notwehr

früher bei Rousseau, auf dem Gesellschaftsvertrag beruht und dabei nicht als bloßes Faktum oder historische Tatsache, sondern als ein Postulat der praktischen Vernunft angesehen wird. Das Recht hat seinen Grund in der Idee der Vernunft. Der kategorische Imperativ gebietet daher dem einzelnen, an der Verwirklichung des Rechts durch staatlichen Zusammenschluß mitzuarbeiten. Man müsse dann aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit den anderen dahingehend vereinigen, also in einen bürgerlichen Zustand treten22 • Seine Auffassung über das Notwehrrecht gewinnt Kant aus dieser Vorstellung über Recht und Staae3 • Notwehr ist also als ein Postulat der praktischen Vernunft zu betrachten, in dem Sinne, daß sie apriori aus der Vernunft abgeleitet wird. Sie ist danach kein aus der Gemeinschaft fließendes, sondern ein jedem Menschen kraft seines Menschseins ursprünglich zustehendes Recht, seine Individualsphäre zu verteidigen. Dieses Verteidigungsrecht des Individuums bleibt ihm dann erhalten, wenn der durch den Staatsvertrag zum Schutz der Rechtsgüter des einzelnen verpflichtete Staat nicht in der Lage ist, diese zu garantieren. Die Ausübung des Notwehrrechts hängt infolgedessen unmittelbar mit der Aufgabe des Staates zusammen, Unrecht zu bekämpfen 24 • Kant stützt sich also darauf, daß jeder sein natürliches Selbstverteidigungsrecht nur unter der Bedingung an den Staat übertragen hat, daß dieser den erforderlichen Schutz gewährleisten kann. Fällt diese Bedingung, etwa in einer Notsituation weg, lebt für den einzelnen jenes ursprüngliche, aus dem Naturzustand herrührende Recht wieder auf25 • In ihrem Verweis auf den Naturzustand ähnelt also die Notwehrlehre von Kant den älteren Auffassungen des "jus naturale".

Will man Kants Notwehrtheorie kritisieren, darf man sie nicht von ihren weiteren philosophischen Ausgangspunkten über Recht und Staat abspalten. Sie beruht auf einer Konstruktion, die aus einem außerhalb der Erfahrung geltenden, apriori gesetzten kategorischen Imperativ abgeleitet wird. Jeder hat den kategorischen Imperativ zu befolgen und die Hindernisse seiner Freiheit zu verhindern. Die Handlung des Verteidigers, soweit sie die Hindernisse der Freiheit verhindert, befolgt das

Kant, a.a.O., S. 134 f. Der Begriff Notwehr wird ausdrücklich weder bei Kant noch bei Hegel erwähnt. Seine Notwehrkonzeption läßt sich besonders von seiner These über Recht und Staat ableiten. Gelegentlich werden nur einige Bemerkungen zum Notstandsrecht gemacht (Metaphysik der Sitten, S. 40 f.). 24 Der Eintritt in den bürgerlichen Zustand ist nur provisorisch. So Kant, a.a.O., S. 135. 25 Diese Ergebnisse der Kantschen Staats- und Rechtsanschauung wurden weiter von Feuerbach und Fichte übernommen und sind gemeinsamer Topos der Kantianer und deren Schule geworden (dazu gleich unten S. 31 ff.). 22

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Vernunftsgebot. Notwehr ist also nicht bloß ein Recht, sondern vielmehr eine Pflicht, Gebot der apriori gesetzgebenden Vernunft. Die Vernunft gebietet den Rechtszwang, wenn die willkürliche Handlung eines anderen mir meine Freiheit nimmt, mich also daran hindert, das Gebot der Vernunft zu verwirklichen. Außer dem Charakter einer rechtlichen Pflicht gewinnt das Notwehrrecht nach Kant einen gänzlich individualistischen Charakter, der jeden Schutz der Rechtsgüter der Gesellschaft durch Notwehr unbegreiflich werden läßt26 • Während die Verwirklichung der Freiheit die Errichtung des Staates erfordert, ist Notwehr nur dann denkbar, wenn der Staat der auf ihn übertragenen Selbstverteidigung nicht entsprechen kann. Notwehr ist daher eine den Naturzustand wiederaufnehmende Selbstverteidigung. Infolgedessen ist sie ein Naturrecht. Dies ist allein durch das apriori gesetzte Gebot der Vernunft bedingt27 • Damit fehlt jedoch der Notwehr jede empirische Dimension. Kant hat keine besonderen Fragen der Notwehrproblematik behandelt. Die von ihm vertretene allgemeine Position läßt sich nur aus seinen rechtsphilosophischen Betrachtungen über Staat und Recht ableiten. Auf diese näher einzugehen, wäre hier nicht der richtige Ort. Es ging vielmehr darum, die philosophischen Wurzeln zu entdecken, die die Ausgestaltung des Notwehrrechts in der Folgezeit geprägt haben.

2. Die Lehre Feuerbachs und der Begriff der "Rechtlosigkeit" bei Fichte

Sowohl Feuerbach als auch Fichte operieren mit dem Begriff des Gesellschaftsvertrags, sehen jedoch in seiner positivistischen Funktion den alleinigen Geltungsgrund aller staatlichen Rechte und als Existenzgrund der Notwehrbefugnisse. Während Feuerbach das Notwehrrecht auf ein Wiederaufleben des Naturzustandes zurückführt und daher indivi26 Man darf aber nicht das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt individueller Interessen konstruieren. Vgl. dazu die damaligen Einwände von Levita, Notwehr, S.27; Tobler, Grenzgebiete, S.69 und im Anschluß an ihn Weimar, Die Grenzen der Notwehr, S.31. Heute noch Krause, Bruns-Festschr., S. 74. 27 Kant versteht den natürlichen Zustand nicht als Zustand der Ungerechtigkeit (iniustus), sondern als Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus): "Denn der Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, sofern dieser bloß nach reinen Vernunftsbegriffen gedacht wird" (Metaphysik der Sitten, S. 135). Wieweit aber die reinen Vernunftsbegriffe ein Notwehrrecht in seinem vollen Umfang modifizieren können, bleibt unklar. Siehe hierzu auch Krause, Bruns-Festschr., S. 74. Gegen die Geltung eines rechtlosen Naturzustandes weiterhin Lenckner, Notstand, S. 20.

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1. Teil: Wert struktur und Funktion der Notwehr

dualistisch argumentiert, ist Fichtes Theorie von der Rückübertragung des Verteidigungsrechts durch den Staat ein Schritt weiter in Richtung auf eine positivistische Argumentionsweise und eine überindividuelle Tendenz des Notwehrrechts 28 • Mit seinem Lehrbuch beherrschte Feuerbach die deutsche Strafrechtswissenschaft in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Obwohl er mit seiner generalpräventiven Straftheorie von derjenigen der Wiedervergeltung von Kant abwich, blieb trotzdem seine Begründung des Notwehrrechts stark von der Kantschen Philosophie beeinflußt. Wie bei Kant war auch für Feuerbach der Staat ein Vertragsstaat zum Zweck der Sicherung der Rechte seiner Bürger. Er bilde die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen, deren Zweck "die Errichtung des rechtlichen Zustandes, d. h. das Zusammenbestehen der Menschen nach dem Gesetze des Rechts" sei29 • Damit diene er der wechselseitigen Freiheit aller Bürger, wobei jeder seine Rechte voll ausüben könne und vor Beleidigungen sicher sei. "Rechtsverletzungen jeder Art widersprechen dem Staatszweck"; der Staat sei daher "berechtigt und verbunden", sie zu verhindern30 . Er verläßt jedoch den Kantschen Ansatz, wenn er selbst an die Handlung und deren äußerliche Erkennbarkeit für die Rechtsverletzung anknüpft, ohne sich auf die rein sittliche Gesinnung, den unklaren Begriff der transzendentalen Freiheit zu berufen31 • Die Notwehr findet also bei Feuerbach ihre Begründung in der verbliebenen Zwangsbefugnis des Bürgers, einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff durch physische Kraft abzuwehren, weil eben die Hilfe des Staates in diesem Moment zu spät käme. So ist nach Feuerbach die Verletzung des Angreifers die einzige notwendige Bedingung zur Erhaltung des eigenen Rechts des Angegriffenen. Weil aber der Staatsbürger beim Vertragsschluß seine Rechte dem Staat übertragen hat, ist diese Selbstverteidigung nur da erlaubt, "wo die öffentliche Macht ihn nicht schützen kann"32. Aus alledem ergibt sich dann, daß sich, obwohl Feuerbach den Staatsvertrag aus einer positivistischen Sicht zu begründen vermag, seine Thesen über Notwehr den naturrechtlichen Auffassungen nähern, soweit Siehe dazu Haas, Notwehr, S. 106 Fußn. 49. Feuerbach, Lehrb., § 8: "Die Vereinigung des Willens und der Kräfte Einzelner zur Garantie der wechselseitigen Freiheit Aller, begründet die bürgerliche Gesellschaft". Jede überschreitung der im Staatsvertrag verbürgten Freiheit ist nach Feucrbach eine Rechtsverletzung (Lehrb., § 21). 30 Feuerbach, Lehrb., § 9; ders., Revision I, S.39. 31 Feuerbach, Lehrb., § 32 und Revision H, S.147. Vgl. dazu Sander, Begründung der Notwehr, S.26. 32 Feuerbach, Lehrb., § 36. Als weitere Voraussetzung dieses Rechts nimmt Feuerbach an, daß der rechtswidrige Angriff nicht von dem Angegriffenen schuldhaft veranlaßt wurde (Lehrb., § 38). 28

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das Notwehrrecht als ein nicht durch den Staat und den Staatsvertrag abgeleitetes, sondern als ein zurückbehaltenes Recht angesehen wird, das beim Vertragsschluß dem Bürger von seinem natürlichen Zustand her verblieben ist 33 • Durch diesen Vertrag verzichtet der Bürger freiwillig auf eigene Gewalt, soweit der Staat ihn schützen kann. Beim Abschluß des Vertrages bleibt also Notwehr dem einzelnen vorbehalten. Sie ist deswegen als ein außerstaatliches natürliches Recht zu verstehen. Von diesem Ansatzpunkt des wiederauflebenden Naturzustandes hat sich Feuerbach nicht gelöst. Seine Thesen über Staat und Notwehr beruhen auf dem Postulat der Willensfreiheit von Kant und kennzeichnen ihn daher als Neukantianer. Genauso wie bei den anderen Verfechtern der Vertragstheorie wird die Notwehr bei Feuerbach individualistisch begründet. Sie dient bloß der Erhaltung der eigenen Rechte des Angegriffenen unter der unabdingbaren Voraussetzung, daß der Schutz durch den Staat in diesen Fällen unmöglich ist34 • Notwehr beruht also auf der ursprünglichen Privatgewalt des Bürgers, die nur dessen Selbstverteidigung dient, ohne daher andere gesellschaftliche Maßstäbe und Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen. Es wird also bei allen Vertretern dieser Richtung verkannt, daß das Notwehrrecht kein wiederauflebendes, grenzenlos der Freiheit und dem Interesse des einzelnen dienendes Privatrecht darstellt, sondern als rechtsbewahrendes Institut von der Rechtsordnung als deren Bestandteil anerkannt wird, welches keineswegs zur Aufhebung jedes Rechtszustandes führt. Während bei Feuerbach die Notwehr aus den Regelungen des Gesellschaftsvertrages ausgeklammert bleibt, ist für Fichte das Verteidigungsrecht als Bestandteil dieses Vertrages anzusehen. Damit lassen sich Rechte und Pflichten des Bürgers aus dem positiven Recht, dem Gesellschaftsvertrag ableiten und dort ihren Anhaltspunkt finden. Fichte hat einen großen Beitrag zur philosophischen Begründung der Notwehr in einer positivistischen Richtung geleistet. Der Gesellschaftsvertrag, der schon auf Kant und die Naturrechtslehrer vor ihm zurückgeht und den gemeinsamen Topos für die meisten Kantianer bildet, vermag bei Fichte seine vollkommene Gestalt und rechtliche Funktion zu gewinnen. Der gesetzlose Urzustand und die mit ihm verbundenen Urrechte der einzelnen Person enden im Staatsvertrag, der durch die freie Selbstbestimmung und den Willen jedes einzelnen entstehen soll. Der Zusammenschluß der Einzelwillen im Gesellschaftsvertrag zu einem gemein33 Ein angeblich "rechtloser Naturzustand" ist mit den heutigen Anschauungen über Staat und Recht unvereinbar. Hierzu vgl. in bezug auf die Notstandsproblematik Lenckner, Notstand, S. 20. 34 Ähnliche Bemerkungen auch bei Haas, Notwehr, S. 106; Sander, Begründung der Notwehr, S.32.

3 Bi tzilekis

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samen macht das Wesen des Vertrages und damit auch den materiellen Gehalt der Gesetzesverletzung aus: "Wer den Bürgervertrag in einem Stücke verletzt, sei es mit Willen oder aus Unbeachtsamkeit, ... verliert der Strenge nach dadurch alle seine Rechte als Bürger und als Mensch und wird völlig rechtslos"35. Er höre auf, Rechte zu haben36 . Gerade in diesem Entwicklungsstadium der Theorie vom "Staatsvertrag" läßt sich ihre Hauptschwäche deutlich machen. Der Bürger ist unter der Bedingung Mitglied des Staates, daß er nicht das Rechtsverhältnis briche7. Im Falle des Wegfallens dieser Bedingung führt dies zur "Rechtlosigkeit" des Rechtsbrechers. Selbst Fichte führt aus, daß der Vertrag, in dem der Staat als Staat für jeden einzelnen sei, für aufgehoben erklärt werde. Zwischen Staat und dem einzelnen gäbe es ohne diesen Vertrag kein Rechtsverhältnis; "sie sind für einander vernichtet"38. Aus einer solchen "Rechtlosigkeit" ergibt sich dann nach Meinung Fichtes folgender Zustand: "der Verurteilte wird erklärt für eine Sache, für ein Stück Vieh"39. Im Ergebnis muß unklar bleiben, wie Fichte diese "Rechtlosigkeit" in allen ihren Konsequenzen verstanden hat. Auf jeden Fall kann aber nicht ernsthaft vertreten werden, daß der Täter seine Eigenschaft als Rechtssubjekt (Rechtsfähigkeit) verliert und gleich einem Tier oder Sache angesehen wird oder das Rechtsverhältnis durch die Unrechtshandlung endet und der Täter daher vom Rechtsschutz ausgeschlossen bleibt 40 • Wenn nun Fichte das Notwehrrecht damit begründet, daß jeder ausnahmsweise das Recht zur Selbstverteidigung habe, wenn der Staat, der berechtigt sei, den Verbrecher aus der Rechtsgemeinschaft auszustoßen, 35 Fichte, Naturrecht, S. 260. Fichte, a.a.O. Er begründet es damit, daß alle positiven Rechte, die der Bürger habe, habe er nur unter der Bedingung, daß die Rechte aller übrigen Bürger von ihm sicher seien. Sobald dies nicht der Fall sei, sei der Vertrag vernichtet. Daher bestehe zwischen ihm und den übrigen Bürgern überhaupt gar kein rechtliches Verhältnis mehr. Unrecht hat für Fichte eine interpersonale Dimension. Näher dazu Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre .1. G. Fichtes, S. 101 ff. 37 Dazu Fußn. 36. 38 Fichte, Naturrecht, S. 278. 39 Fichte, Naturrecht, S. 278 f. Als Folge der Erklärung der "Rechtlosigkeit" sieht er die völlig willkürliche Behandlung des Verurteilten: "nicht, daß man ein Recht dazu habe, sondern daß auch kein Recht dagegen ist." 40 Ein Verlust der Eigenschaft des Rechtssubjekts für den Angreifer und dessen Wandel zur Sache kann wohl nicht ernsthaft diskutabel sein. Denn durch den rechtswidrigen Angriff verliert der Angreifer nie seine Rechte und seine Position in der Rechtsordnung. Ähnlich dazu Himmelreich, Notwehr, S.73 und Spendel in LK10, § 32 Rdn.14. Kritisch zu dieser These von Fichte weiter Zaczyk, a.a.O., S.97, 101; früher auch Oetker, VDA II, S.260 und Graf zu Dohna, Rechtswidrigkeit, S. 132. 36

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nicht in der Lage sei, den Angegriffenen zu schützen, eröffnet er die Möglichkeit für eine willkürliche Behandlung des "rechtlosen" Angreifers durch den Angegriffenen. Denn bei der Selbstverteidigung werfe der Angegriffene sich selbst als Richter auf, was er durch seinen Eintritt in den Staat aufgegeben habe 41 • Nach Fichte folgt weiter das Notwehrrecht nicht aus einem wiederauflebenden Naturzustand, wie die anderen Kantianer meinen, sondern es findet seine Begründung und Rechtfertigung im Staatsvertrag selbst42 • In diesem Vertrag wird auch die Befugnis für jedermann festgelegt, jeden anderen auch zu schützen und ihn gegen den Angreifer zu verteidigen. Jeder hat nicht nur das Recht, sondern auch die Bürgerpflicht dazu. Dies muß schon allein deshalb gelten, da der einzelne durch den Staatsvertrag rechtlich gebunden und verpflichtet ist, dem Angegriffenen bei einem Hilferuf Beistand zu leisten 43 • Obwohl die Theorie Fichtes das Notwehrrecht von der Auffassung, nach der es ein natürliches Recht eines gesetzlosen Urzustandes darstellt, entbinden will und es als positives Recht im Staatsvertrag zu begründen versucht, kann sie trotzdem die Schwäche der Kantschen Philosophie, aus der sie entstanden ist, nicht überwinden. Was den freien Willen und was die Rechtsnatur dieses Staatsvertrages und dessen individualistischen Charakter anbetrifft, greift sie wieder auf Kant zurück. Darüber hinaus scheint Fichte mit dem sehr fragwürdigen Begriff der "Rechtlosigkeit" des Angreifers jede schrankenlose Notwehrausübung zu rechtfertigen. 3. Die Hegeische Schule

a) G. W. F. Hegel Wenn man die philosophischen Hintergründe eines Rechtsbegriffs zu erforschen versucht, kommt man kaum daran vorbei, Hegels Konzeption und Beitrag zum Thema darzustellen. In seiner Philosophie erfuhr der deutsche Idealismus seine Vollendung. Hegel steht der Aufklärungsphilosophie und dem subjektiven Idealismus von Kant und Fichte gegenüber". Mit seiner dialektischen Methode hat er weitgehenden Einfluß auf Zeitgenossen und Nachfolger ausgeübt.

Fichte, Rechtslehre, S. 111. Als ausschließende Bedingung setzt dieses Recht zur Verteidigung nach Fichte voraus, daß der Staat den Angegriffenen nicht verteidigen kann und daß der einzelne alles getan hat, um diese Hilfe herbeizuholen (Rechtslehre, S.112). 43 Fichte, Rechtslehre, S.113: "Denn alle Einzelnen haben allen Einzelnen versprochen, sie zu schützen." 44 Seine Theorie ist eine Theorie des objektiven Idealismus, welche von der 41

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1. Teil: Wertstruktur und Funktion der Notwehr

Es scheint nun hier zweckmäßig zu sein, die Grundposition der HegeIschen Rechtsphilosophie skizzenhaft aufzuzeigen, aus denen sich seine Konzeption über Notwehr und der weitere Aufbau der Notwehrinstitution durch seine Nachfolger ableiten läßt. In seiner Rechtsphilosophie analysiert Regel den Rechtsbegriff, nämlich die Idee des Rechts sowie deren Verwirklichung zum Gegenstande, und setzt das Werden dieses Begriffs in der Bewegung des subjektiven zum objektiven Geist ein. Von dem Begriff der Freiheit gelangt Regel zu dem des objektiven Geistes und zu dem des Rechts, das "Dasein des freien Willens ist"45. Regel gliedert seine Darstellung der Rechtsphilosophie in drei Teile, die zugleich als Stufen im Entwicklungsprozeß des Rechtsbegriffs anzusehen sind: das "abstrakte Recht", die "Moralität" und die "Sittlichkeit", die weiter das Recht der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und den Staat enthäW6. Der Teil "das abstrakte Recht" enthält die Beschreibung des äußeren Daseins der Willensfreiheit, in stufenförmiger Schichtung. Dagegen umfaßt "Moralität" das innere Dasein des Willens, die innere Selbstbestimmung des Willens des einzelnen. Zur Sphäre der "Sittlichkeit" gehört schließlich die konkrete Einheit des inneren und äußeren Seins der Freiheit. Die dritte Stufe innerhalb der Entwicklung der "Sittlichkeit" bildet - als Vollendung der Freiheit - der Staat, der als Synthese Dasein und Wirklichkeit der "Sittlichkeit" bildet und zugleich die Vollendung des Rechts und weiter des objektiven Geistes in sich schließt. Im Staat sieht also Regel nicht bloß die Beschränkung der Freiheit des einzelnen, wie ihn die Kantsche Schule begründet, sondern deren Vollendung und Erweiterung. Während bei Kant das Privatrecht Selbstzweck und der Staat das Mittel zu dessen Sicherung darstellt, sieht Regel den Staat als Selbstzweck, in dem das Privatrecht enthalten ist, in welchem nämlich die Freiheit zu ihrem "höchsten Recht" kommt47 . Nichtigkeit des Unrechts ausgeht und die Person, im Gegensatz zum subjektiven Idealismus, als Träger und nicht als Quelle des Rechts ansieht. Damit wird der einzelne vom Staat in gewissen Fällen (Not) benötigt, um zur Wiederherstellung des Rechts beizutragen. Vgl. dazu Köstlin, Neue Revision, S. 708 ff. 45 In § 29 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts definiert Hegel das Recht als "Dasein des freien Willens" oder "Freiheit als Idee", wobei er unter "Idee" die "Einheit von Begriff und Objektivität" versteht. Siehe dazu insbes. Seelmann, JuS 1979, S. 688; ebenso auch Piontkowski, Hegels Lehre, S. 97 ff. 46 Diese Momente des Rechts sind Stufen der Entwicklung in der Verwirklichung der Idee der Freiheit, wobei sie in der Sittlichkeit und in deren dritter Stufe, nämlich im Staat, ihren vollkommensten und konkretesten Ausdruck findet. Dazu insbes. Piontkowski, Hegels Lehre, S. 101 f. 47 Hegel, Grundlinien, § 258. "Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit

§ 2 Die ratio der Notwehrregelung

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Hier läßt sich also der Unterschied des individuellen Charakters der Notwehr bei Kant und der Konzeption Hegels deutlich machen. Ein subjektives Recht, das dem einzelnen vor und unabhängig vom Staat zusteht und dessen Individualinteresse dient, paßt mit der HegeIschen Philosophie nicht zusammen48 • Um die HegeIsche Auffassung über Notwehr herauszuarbeiten, ist ein kurzer Blick auf seine Theorie über das Unrecht und dessen Wirkung in bezug auf das Recht notwendig. So ist nach Hegels Ansicht das Recht das Wirkliche und Vernünftige. "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig"49. Damit ist das Unrecht, das gegen das Dasein des Rechts tritt, unvernünftig und gleichzeitig unwirklich und in sich nichtig. Weil das nur Vernünftige existiert, hat das Unrecht keine Existenz. Seine Existenz besteht nur im besonderen Willen des Verbrechers, der sich dem allgemeinen Willen entgegenstellt, so daß jener besondere Wille verletzt werden muß, um das Recht wiederherzustellen50 . Die Verletzung des Rechts ist danach zwar eine positive äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. "Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung - die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit"51. Durch das Verschwinden des Unrechts erhält also das Recht die Bestimmung des Geltenden52 • Diese Untersuchung und Darstellung der wesentlichen Grundprinzipien des Rechts bei Hegel als dialektische Momente eines totalen Rechtssystems und seine idealistische These über den Staat können seine philosophische Betrachtung über das Wesen der Notwehr erkennen lassen. Eine implizite Vorstellung dazu verbirgt sich zuletzt in seiner Theorie der Strafe: "Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstellung des Rechts"53. Notwendige Folge der HegeIschen Auffassung vom Wesen der Freiheit, des Staates, des Rechts und der Strafe war auch eine Neuorientierung über das Wesen des Notwehrzu ihrem höchsten Recht kommt ... ". Damit will Heget den Staat als ein in sich Vernünftiges begreifen und nicht einen Staat, "wie er sein soll" konstruieren. Hierzu vgl. auch v. Hippet, Strafrecht I, S. 306; weiter auch Piontkowski, Hegels Lehre, S. 351 ff. 48 Hierzu Sander, Begründung der Notwehr, S.45. 49 Hegel, Grundlinien, Vorrede. 50 Heget, Grundlinien, § 99. 51 Heget, Grundlinien, § 97. Ob man das "Nichtige" des Unrechts als unmöglich, eine äußere Zufälligkeit oder als "widersprüchlich" interpretiert, ist hier unentscheidend. Vgl. hierzu Seelmann, JuS 1979, S. 689. 52 So Hegel, Grundlinien, § 82. 53 Hegel, Grundlinien, § 99.

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1. Teil:

Wert struktur und Funktion der Notwehr

rechts, das jetzt als ein überindividuelles, vom Staat verliehenes Recht angesehen wurde 5\ Zu dieser Folgerung kamen jedenfalls später seine Nachfolger, denn Hegel selbst hat sich nicht zum Notwehrrecht geäußert. So ist das Notwehrrecht nicht als ein ursprüngliches Recht des einzelnen anzusehen, sondern als ein vom Staat verliehenes Recht, das der Manifestation des Unrechts mittels (Gegen-)Gewalt dient. Damit beweist das Recht als Dasein des freien Willens seine Kraft und Wirklichkeit in der Vernichtung des Unrechts. Durch die Negation des Scheins wird die Einheit von Wesen und Erscheinung zur Wirklichkeit vollzogen. Weil die Ausübung des Rechtszwangs nur dem Staat und seinen Organen zusteht, ergibt sich daraus, daß der einzelne Notwehr ausüben darf, wenn der Staat die Manifestation dieses nichtigen Unrechts selbst nicht vornehmen kann. Das abstrakte Recht als Zwangsrecht setzt also den Staat und die Staatsgewalt voraus. Abgesehen von allgemeinen Einwänden gegen den Idealismus Hegels und seine Trennung zwischen dem Ideellen als das Seiende und Existierende und dem Objektiven als das Scheinende, sind heutzutage die Resultate solcher Betrachtungen für das Notwehrrecht abwegig. Müßte die Nichtigkeit des Unrechts durch seine Aufhebung manifestiert werden und wäre diese Vernichtung für die Behauptung des Rechts (des Wirklichen) notwendig, käme dann diese Auffassung zum Ergebnis, das Notwehrrecht sei nicht bloß ein schrankenloses Recht, sondern eine Pflicht jedes Bürgers, soweit dadurch das Recht in der Vernichtung dessen, was nichtig ist, sich bestätigt55. Faßt man die Notwehr nach der HegeIschen Lehre auf, gäbe es keinen Unterschied zwischen Notwehr und Strafe, denn beide dienen dazu, das Unrecht zu vernichten und das Recht wiederherzustellen. Damit verkennt sie den Sinn der Notwehr, die bloß der Verteidigung nicht aber der Durchsetzung des Rechts dient. Man könnte dann als Konsequenz kaum vermeiden, daß über den durch Notwehr verletzten Angreifer keine Strafe mehr verhängt werden dürfte. Die Abwehrhandlung, soweit sie Selbstzweck zur Vernichtung des Unrechts ist, kann daher bis zur rücksichtslosen Verletzung oder Tötung des Angreifers führen. In einem solch abstrakten Sinn gefaßt, muß das Recht sich gegen das Unrecht gnade- und grenzenlos durchsetzen. Auf diesen Konsequenzen der HegeIschen Philosophie baute später die Notwehrlehre des 19. Jahrhunderts ihre Schärfe auf. 54 Siehe dazu auch Sander, Begründung der Notwehr, S.38. 55 Als eine heilige Pflicht des Bürgers betrachtet später der Hegelianer Köstlin die Notwehr, weil der Bürger "durch die Nichtausübung seines Rechts dazu helfen würde, das absolut nichtige Unrecht zur Existenz kommen zu lassen" (Neue Revision, S.726). Ebenso auch Hälschner, Strafrecht I, S.477. Kritisch dazu Himmelreich, Notwehr, S. 73.

§ 2 Die ratio der Notwehrregelung

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Trotz aller dieser Einwände hat die Rechts- und Staatstheorie von Hegel dem alten extrem-liberalistischen Staatsprinzip, das seit Hobbes in der Rechtsphilosophie herrschte, eine entscheidende Wende gebracht. Anders als bei Kant und seinen Nachfolgern hat nach Hegel der Staat nicht die Aufgabe, für die Durchsetzung der Individualinteressen zu sorgen, sondern strafend Gerechtigkeit herzustellen. Der Mensch als Individuum übt hier nicht im Interesse der eigenen Willkür Rache, sondern macht die Durchsetzung allgemeiner Normen zum Zwecke seines HandeIns. Im Abbruch der individualistischen Auffassung des Notwehrrechts und in der Begründung eines staatsbedingten Notwehrrechts im Sinne der Durchsetzung staatlicher Interessen und der Herstellung von Gerechtigkeit liegt der große Beitrag der HegeIschen Philosophie in der Entwicklung des Notwehrgedankens. b) Die Neuhegelianer und der Satz "das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen"

Eine ganze Reihe von Strafrechtslehrern hat die Resultate der HegeIschen Philosophie übernommen, auf deren Grundposition gestützt und die ganze Notwehrlehre dem idealistischen HegeIschen Schema gemäß aufgebaut. Damit hat die Begründung der Notwehr aus der "Nichtigkeit" des Unrechts eine ganze Epoche geprägt und scheint noch bis heute unsere Disziplin in einer abstrakt-idealistischen Weise zu beeinflussen. Das überindividuelle Grundprinzip Hegels, nach dem das Notwehrrecht kein ursprüngliches und sogleich individuelles, sondern ein vom Staat abgeleitetes Recht ist, wurde beibehalten und mit dem Satz "das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" verknüpft. Unterscheiden sich auch die Auffassungen der Neuhegelianer in einzelnen Punkten, so ist ihnen trotzdem der Versuch gemeinsam, die Notwehr aufgrund der HegeIschen Philosophie zu begründen und ihren Rechtsgrund in deren idealistischen Grundpositionen über Recht und Staat zu entdecken. Das Recht der Notwehr liegt bei Abegg in der Not, "welche einen Kampf für das Wohl und die Existenz herbeiführt, wodurch der Schutz, den sonst der Staat leistet, hier aber nicht gewähren kann, als Berechtigung auf den Angegriffenen übergeht"56. Er stellt zwar die Notwehr nicht der Strafe im juristischen Sinn gleich, nimmt aber an, daß sie die Gerechtigkeit der Anwendung und des Maßes enthalte57. Die Notwehr als ein Akt der Gerechtigkeit anzusehen, fällt schwer, denn nur die Strafe kann eine solche Funktion für sich beanspruchen, soweit sie alle die Merkmale einer strafbaren Handlung (Schuld usw.) 56

Abegg, Untersuchungen, S. 112.

57 So Abegg, Untersuchungen, S. 113.

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1. Teil :

Wert struktur und Funktion der Notwehr

berücksichtigt. Abegg sieht ferner Notwehr und Notstand als einen Zustand der aufgehobenen Möglichkeit der Koexistenz von Interessen an. Damit scheint er Notwehr als einen Fall von Interessenkollision zu rechtfertigen, was jedoch unzutreffend ist. Im Staat sieht Köstlin die Ausschließlichkeit der rechtschützenden Tätigkeit. So ist die Notwehr das Recht, in dem die Lösung einer Antinomie liegt, nämlich in dem Fall, in dem das Existentwerden des Unrechts selbst durch den Staat als Organismus der Rechtsidee nicht gehindert werden kann 58 • Damit gewinnt man das Ergebnis, daß es völlig gleichgültig sein muß, welches Recht durch den rechtswidrigen Angriff bedroht wird. Notwehr ist also nach Köstlin das dem Individuum zu seinem eigenen und zum Schutz eines Dritten dann zustehende Verteidigungsrecht, wenn im konkreten Fall das Unrecht nicht durch den Staat abzuwenden istS9 • Obwohl nämlich Notwehr und Strafe im Ziel der Vernichtung des Unrechts übereinstimmten, unterscheide sich jene von dieser darin, daß die Notwehr das Individuum zum Organ habe und "als Verteidigung gegen ein erst drohendes mithin maßloses Unrecht nicht an das Prinzip des gleichen Wertes gebunden sein kann, sondern ihre Grenzen anderswoher gesteckt erhalten muß"80. Somit geht Köstlin, wie die meisten Hegelianer, von der Unmöglichkeit staatlicher Hilfe als Voraussetzung des Notwehrrechts aus. Dem steht es gleich, wenn staatliche Hilfe zwar möglich wäre, aber zu spät käme. Ebenso muß sich der Angegriffene auf ein ehrenvolles Ausweichen verweisen lassen81 . Auf eine andere Weise versucht Hälschner die Notwehr zu begründen. Obwohl er als Hegelianer von demselben Prinzip ausgeht, es bedürfe hier keiner vorgängigen Entscheidung darüber, lIes sei Rechtens, wenn das Recht gegen das Unrecht, dieses abwehrend, sich behauptet"82, betrachtet er die Notwehr als die Regel, in dem Sinne, daß die Privatperson in erster Linie berufen und berechtigt sei, ihre Rechte durch eigene Kraft zu schützen. Dem stehe als Ausnahme die staatliche Hilfe gegenüber, die in gewissen Fällen herbeizuholen sei8a • Darüber hinaus sieht er die Notwehr - im Gegensatz zu der HegeIschen Lehre - nicht als Verteidigung des Rechts allgemein gegen das Unrecht, sondern als 58 Anders würde der Staat durch eine solche Zumutung das Unrecht selbst als geltend, d. h. als Recht setzen. Köstlin, Neue Revision, S.708; ders., System I, S. 75. 59 So sei die Notwehr weder Rache, die das verletzte subjektive Rechtsgefühl in seiner Unendlichkeit zum Prinzip habe, noch Strafe, die mit dem Prinzip der Wiedervergeltung verbunden sei. Köstlin, Neue Revision, S.712. 80 So Köstlin, System I, S. 76 im Anschluß an Hegel. 81 Köstlin, Neue Revision, S. 728; ders., System I, S. 82, 86. 82 Hälschner, Strafrecht I, S. 475, 485. 83 Hälschner, Strafrecht I, S. 476.

§ 2 Die ratio der Notwehrregelung

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Verteidigung des dem Individuum zustehenden Rechts gegen das Unrecht, als die Form "in welcher das besondere im gegebenen Falle angegriffene Recht bestätigt ist"64. Eng mit dieser Darstellung verbunden ist eine andere These Hälschners. Das Notwehrrecht sei als eines der angeborenen Urrechte des Menschen zu bezeichnen. Dennoch sei der einzelne Bürger sittlich verpflichtet, dem Unrecht mit Gewalt zu begegnen65 . Als letzter soll Berner angeführt werden, dessen philosophischer Ausgangspunkt "das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" weiterhin bis heute in der zeitgenössischen Notwehrdogmatik herrschend erscheint. Berner führt folgendes aus: "Es ist in der Notwehr das angegriffene Recht, welches sich gegen das angreifende Unrecht behaupten will. Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Will dieses das Recht vernichten, so darf das Recht sich dagegen kämpfend behaupten"66. Damit sieht Berner den Grund der Notwehrinstitution im Kampf des Rechts gegen das Unrecht. Notwehr ist infolgedessen nicht Selbst-, sondern Rechtsverteidigung67 : Während im Notstand einem Recht ein anderes Recht gegenüberstehe, trete in der Notwehr dem Recht das Unrecht gegenüber68 . Diese Betrachtungsweise führt folgerichtig zu der Annahme, jedes Recht sei mit der Notwehrbefugnis ausgeriij;tet 69. Überdies könne die erlaubte Gewalt sich niemals nach dem Werte des verteidigenden Rechts richten. Berner verläßt in der Basis die HegeIsche Philosophie nicht. Die Nichtigkeit des Unrechts und der Charakter der Notwehr als Rechtsverteidigung bleiben auch bei ihm der Kernpunkt seiner philosophischen Betrachtung70 • Er ersetzt jedoch die abstrakten und vagen Begriffe der Idee, der Vernunft, des Begriffs durch besser greifbare juristische Begriffe: das Recht, das Unrecht. Trotzdem werden sie bei Berner gleichermaßen abstrakt und idealistisch interpretiert, so daß sie letztlich nicht wesentlich vom begrifflichen Instrumentarium der Hegelschen Philosophie entfernt sind. Hälschner, System I, S. 252; ders., Strafrecht I, S. 476. Ob und inwieweit man auf die Ubung der Notwehr verzichten dürfe und solle, "ist nicht Sache des Rechtes, sondern des Gewissens und eigenen sittlichen Urteils". Hälschner, Strafrecht I, S.477. 68 Berner, Lehrb., S. 107. 87 Berner, Lehrb., S. 109. 88 Berner, Lehrb., S. 107; ders., ArchCrimR 1848, S.554. 89 Berner, Lehrb., S. 110 ff.; ders., ArchCrimR 1848, S. 562 ff. Ein Revolutionsrecht, ein Recht des Widerstandes erkennt Berner gegen jede Verfassungsverletzung an. Das ist ein großer Fortschritt in der Notwehrlehre dieser Periode. 70 "Allerdings ist die Notwehr darin gegründet, daß das Unrecht das Nichtige, das Recht hingegen das Substantielle ist. Es wäre Unrecht, wenn das Recht dem Unrecht weichen müßte, es würde aber ohne die Befugnis des eigenmächtigen Schutzes in demjenigen Fall weichen müssen, wo der Staat nicht schützt." Berner, ArchCrimR 1848, S. 557 f. 84

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1. Teil:

Wertstruktur und Funktion der Notwehr

Alle diese Versuche, den Geltungsgrund der Notwehr und zugleich die hiermit jeweils verbundenen Konsequenzen richtig zu erfassen, bewegen sich offenbar in den Bahnen Hegels und damit in denen des objektiven Idealismus. Das Recht im absoluten Sinn als das Seiende und das Unrecht in seiner Manifestation als das Nichtige sind die beiden Anhaltspunkte mittels derer die Hegelianer die Legitimation der Notwehr betrachten wollen. Eine solche Konzeption führt zu dem Ergebnis, daß das Recht als das an sich Seiende durch die Vernichtung des Unrechts seine Wirklichkeit beweisen kann. Diese Betrachtung kann nicht vermeiden, jedes Recht als Seiendes und Vernünftiges durch jedes Mittel zu schützen, sogar durch die Tötung des Angreifers selbst, denn anders würde das Unrecht sich durchsetzen und als in sich Vernünftiges und Seiendes hervortun. Damit ist das Notwehrrecht bei den Hegelianern als ein scharfes, absolutes und sc.1.rankenloses Recht des einzelnen zu bezeichnen, welches andere Gesichtspunkte nicht zu berücksichtigen vermag. Das Provokationsproblem wird nur vereinzelt erwähnt, wobei die Zulässigkeit der Notwehr nicht ausgeschlossen bleibt71 • Die Neuorientierung der HegeIschen Philosophie, welche die Notwehr als ein vorn Staat abgeleitetes Recht sieht, läßt die Subsidiarität der Notwehr gegenüber dem Schutz durch den Staat als selbstverständliche Konsequenz erscheinen72 . Der Satz "Der Staat und der Einzelne sind nur verschiedene Werkzeuge, durch welche das Recht seine Anerkennung durchsetzt"73, ordnet der Notwehr eine strafähnliche Funktion zu, die das Maß des zur Verteidigung Erforderlichen nicht zu rechtfertigen vermag. Diese Gleichsetzung der abwehrenden Gewalt des einzelnen in der Notwehrlage mit der Gewalt des Staates, wie sie durch Polizeirecht und Strafrecht gerechtfertigt ist, führt allerdings zu unerträglichen Ergebnissen. Obwohl die philosophische Spekulation über den Rechtsgrund der Notwehr in der heutigen Zeit nicht so sehr angestellt wird und der Hegelianische Idealismus kein überzeugungskräftiges Argument für die Notwehr mehr anbieten kann, läßt sich heute der Satz "das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" immer noch als ratio der Notwehrbestimmungen in den Vordergrund stellen. Die Argumente der Neuhegelianischen Zeit, die von nicht mehr geläufigen rechtsphilosophischen Ausgangspunkten und sonstigen vergangenen weltanschaulichen Grundpositionen ausgehen, überzeugen nicht mehr. Ihr großer Beitrag erschöpft sich darin, daß sie den statisch-apriorischen Cha71 Dazu siehe Hälschner, Strafrecht I, S. 480 m. w. Nachw. zum Schrifttum :lieser Epoche; weiter hierzu auch Geyer, Notwehr, S.31 und Levita, Notwehr, S. 187. 72 Siehe bereits hier Haas, Notwehr, S. 115. 73 So ausdrücklich Levita, Notwehr, S. 18 Fußn. 20.

§ 2 Die ratio der Notwehrregelung

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rakter des Rechts und die reine individualistische Begründung der Notwehr überwunden haben und zugleich die dynamische, dialektische Natur des Rechts und des Staates in einem Entwicklungsprozeß gesehen haben, wobei sich als Konsequenz der überindividuelle Aspekt der Notwehr herausgestellt hat. Der von Berner formulierte Satz "das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" scheint heute seinem hegelianischen Gewand entkleidet zu sein und als generelle Formulierung die Bedeutung zu gewinnen, daß bei der Notwehr dem Recht das Unrecht gegenübertritt und um seine Aufrechterhaltung kämpfen muß. An diesem Grundsatz, daß die Notwehrhandlung deshalb gerechtfertigt wird, weil das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, will auch die heutige Interpretation des § 32 festhalten 74 • Ob man aber damit die ganze Notwehrproblematik zu begründen vermag, ist sehr fragwürdig. Denn diese Formel hat bloß einen deklaratorischen Charakter und besagt nicht mehr, als daß es bei der Notwehr um die Verteidigung des Rechts geht. Sie ist nicht erschöpfend genug, um die Notwehr in ihrem ganzen Umfang und Grenzen zu begründen. Es liegt auf der Hand, daß sich Notwehr nicht gegen jedes Unrecht schlechthin richtet, sondern nur gegen solches, das eine unmittelbare konkrete Gefahr für ein Rechtsgut darstellt, und es dient nicht der Durchsetzung des Rechts, sondern der bloßen Abwehr des unmittelbar bevorstehenden Unrechts 75 • Wieweit also Tragweite und Umfang des Notwehrrechts sich erstrecken, läßt sich nicht von absoluten Kategorien wie "Recht" und "Unrecht" ableiten. Diese Formel trägt also weiter mit sich die schrankenlose, absolute Geltung der Notwehr. Sie führt dazu, daß das Recht mit gänzlich 74 In zahlreichen Monographien und Aufsätzen hat sich dieser Satz als ratio der Notwehr niedergeschlagen. So etwa Köhler, AT, S.355; Löffler, ZStW 21, S. 567 ff., 580; H. Mayer, AT 1953, S. 199; ders., AT 1967, S. 96; Mezger, Lehrb., S.236; Oetker, Frank-Festg. I, S.375. Desgleichen bemerkt auch Graf von Dohna, ZStW 33, S.125; ähnlich führt Coenders, JW 1925, S.891 aus: "das Recht braucht vor dem Unrecht nicht zu fliegen". Vgl. auch RGSt. 21, 170; 55, 85. Im neueren Schrifttum gilt ebenso diese Formulierung als herrschende Notwehrbegründung. Darunter Bockelmann, AT, S.91; Geilen, Jura 1981, S.200; Haft, AT, S.59; Larenz, AT, S.241; MaurachlZipf, AT I, S. 335; Stratenwerth, AT I, S. 133; weiter auch Engisch, DJT-Festschr. I, S. 424 f.; H. Schröder, SchwZStR 76, S. 5; Spendet, in LK10, § 32 Rdn. 13; ähnlich auch Baldus in LK9, § 53 Rdn. 1; Hirsch, Dreher-Festschr., S. 216 ff., 223 mit Fußn.43; Jescheck, AT, S. 269 f.; dazu auch Lenckner, GA 1961, S.309; ders., GA 1968, S.3; ders. in Schönke/Schröder, § 32 Rdn.1 m. w. Nachw.; Roxin, NJW 1972, S. 1821; ders., ZStW 75, S.566; ders., ZStW 93, S.70. Vgl. auch BGHSt. 24, 356. In der schweizerischen Lehre vgl. insbes. Schuttz, AT I, S.157. 75 Sowohl die abstrakten Gefährdungsdelikte, wie auch der untaugliche Versuch oder weiter das durch eine Vertragsverletzung entstandene Unrecht, können eine Notwehrlage nicht auslösen. Ebenso hat Notwehr keinen Sinn bei zwar rechtswidrigen aber nicht gegenwärtigen Angriffen. Näher dazu unten S. 58 f.

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1. Teil: Wertstruktur und Funktion der Notwehr

maßlosen Mitteln verteidigt werden darf und sie kann andere Wertgesichtspunkte im Notwehrbereich nicht berücksichtigen. Wie starr und unbestimmt dieses Prinzip ist, um ein brauchbarer Anknüpfungspunkt zu sein, von dem aus sich auch Rückschlüsse zu weiteren Fragen des Notwehrbereichs ableiten ließen, beweist die heutige Notwendigkeit, den weitgehenden Anwendungsbereich der Notwehrbefugnis einzuschränken. Um solche Rücksicht zu nehmen und die Formel in ihrer Starrheit aufzulockern, werden hier "von außen" andere vage und inhaltsleere Begriffe an das Notwehrrecht herangetragen, die ausnahmsweise Einschränkungen gestatten sollten. Damit bleibt die Begründung der Notwehr den "sittlichen Anschauungen" und den allgemein-abstrakten Begriffen der Sozialethik überlassen. Zugleich wird auch verkannt, daß solche Einschränkungen nicht "zusätzlich" als Korrektur an das Notwehrrecht herangetragen werden sollen, sondern im Notwehrgedanken ihren Niederschlag finden und "das Notwehrrecht" selbst sein müssen. Auf all das wird später noch ausführlicher einzugehen sein. Aus alldem bleibt als Fazit zu ziehen, daß die Formel vom "Kampf des Rechts gegen das Unrecht" oder ähnliche sprachliche Nuancierungen7G niemals selbständige Aussagekraft gewinnen können, sondern weiterer Konkretisierung durch besser greifbare dogmatische Begriffe und Konstruktionen bedürfen77 • Will man also allein mit solchen deklaratorischen Prinzipien den Sinn und die Tragweite des Notwehrrechts erfassen, nähert man sich immer mehr einer moralischen Begründungsweise. Das zeigt sich deutlich bei Ihering 78 , sobald er formuliert: "Der Kampf ums Recht ist eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst denn er ist ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung, er ist Pflicht gegen das Gemeinwesen - denn er ist nötig, damit das Recht sich verwirkliche". Ähnlich heißt es auch bei Gallas79 , der angegriffene Täter besitze "als Wahrer des Rechts gegenüber dem Unrecht die überlegene rechtsethische Position, der sich der Angreifer ohne Rücksicht auf das 78 Vgl. auch die verschiedenen Formulierungen bei Gribbohm, SchlHA 1964, S.155; H. Mayer, Strafrecht 1936, S. 254 f.; weiter auch Binding, Handb. I, S. 732 ff.; Köstlin, Neue Revision, S. 711; Levita, Notwehr, S. 18. 77 Darauf weist mit Recht auch Klose, ZStW 89, S.86 Fußn.62 hin; ausdrücklich auch Felber, Rechtswidrigkeit, S. 94 f.; ebenso gilt nach Baumann, MDR 1962, S.349; ders., AT, S.316 dieser Satz längst nicht mehr. Kritisch dazu auch Henkel, Mezger-Festschr., S. 271 ff.: er erscheine in seiner Härte nicht mehr mit der stärker empfundenen sozialen Verpflichtung der Rechtsgenossen untereinander vereinbar. Weiter auch Baumgarten, Notstand und Notwehr, S.98, 101 f.; v. Buri, GS 30, S. 466; Fischer, Rechtswidrigkeit, S.20l. 7~ Der Kampf ums Recht, S. 17; ähnlich heißt es bei Oetker, Frank-Festg. I, S. 375: es sei in aller Regel auch ethisch gestattet, den Kampf ums Recht aufzunehmen. 79 Bockelmann-Festschr., S. 177.

§ 2 Die ratio der Notwehrregelung

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Wertverhältnis der beiderseits auf dem Spiel stehenden Interessen beugen muß".

IV. Die heute herrschende dualistische Ansicht 1. Die Doppelfunktion der Notwehr: Selbstschutz, Rechtsbewährungsgedanke

Die heutige Strafrechtslehre gründet das geltende Notwehrrecht auf zwei verschiedene voneinander getrennte Gesichtspunkte, aus denen Folgerungen für den gesamten Umfang und die Tragweite der Notwehrregelung gezogen werden. Man spricht hier von einer Doppelfunktion der Notwehr oder, wie es Marxen80 formuliert hat, von einer "Zwei-Elemente-Theorie" zur Notwehr. Selbstschutzbefugnis und Rechtsbewährungsprinzip bilden hier die Ausgangspunkte zweier verschiedener philosophischer und rechtspolitischer Richtungen, welche die Notwehrlehre durchziehen. Ein individualistischer und ein überindividualistischer (sozialrechtlicher) Aspekt setzen noch heute in den theoretischen Auseinandersetzungen die beiden diametral-entgegengesetzten Auffassungen der Kantschen und HegeIschen Philosophie des vorigen Jahrhunderts fort. So beruht das Notwehrrecht nach der h. A. darauf, daß derjenige, der durch seine Verteidigung den rechtswidrigen Angriff abwehrt, zunächst einmal seine eigenen Interessen schützt und zum anderen die Rechtsordnung selbst bewahrt81 . Damit wird das Notwehrrecht mit einer individualrechtlichen und mit einer sozialen Komponente begründet. Durch den Schutz des bedrohten Rechtsgutes diene der Verteidiger einerseits dem Schutz seiner eigenen individuellen Interessen, und durch die Verteidigung der Rechtsordnung leiste er weiter einen Beitrag zur Bekämp80 Notwehr, S.35. 81 Zu dieser Doppelfunktion der Notwehr die heutige h. L. So etwa: Amelung, GA 1982, S. 392 ff.; v. Bar, Gesetz und Schuld III, S. 143; Bertel, ZStW 84, S. 7 ff.; Blei, AT, S. 145, 150; Bockelmann, AT, S. 97; ders., Honig-Festschr. S.30; Courakis, Notwehr, S.74; Felber, Rechtswidrigkeit, S. 88 ff., 95 ff., 133; GaHas, Bockelmann-Festschr. S.l77; Geilen, Jura 1981, S.200; Haft, AT, S. 58 f.; Hassemer, Bockelmann-Festschr., S. 239 f.; Hirsch, Dreher-Festschr., S.217, 223; Jescheck, AT, S.270; Lackner, § 32 Anm.l; Larenz, AT, S.242; Lenckner, GA 1961, S.309; ders., GA 1968, S.3; ders., Notstand, S.24; ders. in Schönke/Schröder, § 32 Rdn.1; Maurach/Zipf, AT I, S.336; Otto, Würtenberger-Festschr., S. 138 f.; Roxin, ZStW 75, S. 566 f.; ders., Kriminalpolitik, S. 26; ders., ZStW 93, S. 70 ff.; Rudolphi, JuS 1969, S. 464; Samson in SK, § 32 Rdn.2; H. Schröder, JR 1962, S. 188; ders., JuS 1973, S.158; Schumann, JuS 1979, S. 560,564 f.; Suppert, Studien, S. 374 ff.; ferner auch Seelmann, Verhältnis, S.34 und Nowakowski, Das österr. Strafrecht, S.58; ebenso Zimmerl, Riv.it.pen. 1931, S. 361; neuerdings auch Spendel in LK10, § 32 Rdn. 11 ff. Vgl. auch BGHSt. 24, 356; OLG Kiel, HESt. 2, 207.

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1. Teil: Wertstruktur und Funktion der Notwehr

fung des Unrechts. Charakteristisch äußert dazu Krause, es liege der Notwehr ein Selbstschutzgedanke zugrunde und eine darüber hinausgehende Funktion: "Notwehr ist Selbstschutz plus Bewährung der Rechtsordnung"82. Liegt das individualistische Prinzip der Betroffenheit des einzelnen zugrunde83, ergibt sich dann, daß nur die Individualrechtsgüter des Angegriffenen verteidigungsfähig sind und diese nur unter dem Proportionalitätsprinzip hinsichtlich der in einer Konfliktlage beteiligten Rechtsgüter. Für Nothilfe ist nach diesem individualrechtlichen Aspekt, der auf den Gedanken des Selbstschutzes abstellt, kein Platz84 . Um solche Konsequenzen zu vermeiden, begründet die herrschende Meinung das weitgehende, scharfe Notwehrrecht zusätzlich durch den Gedanken des "Kampfes des Rechts gegen das Unrecht". Mit diesem Gesichtspunkt der hinzukommenden Bewährung des Rechts wird der Schritt über die individualistische Notwehrbegründung hinaus vollzogen. Nach dem Prinzip der Rechtsbewährung, das über die Selbstschutzbelange hinausgeht, darf auch dort Notwehr geübt werden, wo der Angegriffene sich dem Angriff entziehen könnte. Daß auch trotz bestehender Möglichkeit, auszuweichen oder polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, Notwehr zulässig sei, macht nur der sozialrechtliche Gesichtspunkt der Notwehrregelung verständlich. Vor allem zeigt sich dieser Rechtsbewährungsaspekt der Notwehr in der Schärfe und 82 Gerade in dieser Formulierung zeigt sich der dualistische Charakter der Notwehr deutlich. Krause, GA 1979, S. 332; ders., Bruns-Festschr., S.82. Ähnlich auch FeLber, Rechtswidrigkeit, S. 133. Die Notwehr habe zunächst einen Interessenskonflikt zwischen dem Angegriffenen und dem Angreifer zu lösen. Die Verteidigung der Rechtsordnung komme dann als zusätzlicher Aspekt neben den Rechtsgütern des Angegriffenen dazu. Vgl. dazu auch OLG Kiel HESt. 2, 206. 83 Einseitig auf die individualrechtliche Komponente abhebend: KLose, ZStW 89, S. 86 f.; Schaffstein, MDR 1951, S.200 und vom älteren Schrifttum Frank, § 53 Anm. I2; Jagusch in LK8, § 53 Anm.1. Wenn Constadinidis, Die "actio illicita in causa", S. 103 ff. im Anschluß an Sax, JZ 1977, S. 329 Fußn. 18 jeden Gedanken der Bewährung der Rechtsordnung ablehnt und den Sinn der Notwehr daher allein in der menschlichen Selbstbehauptung erblickt und dann Inhalt und Umfang des Notwehrrechts mit dem Maßstab der "sozialethischen Wertung" der Selbstverteidigung zu begründen versucht, läuft das auf die gleiche Richtung eines zweiten sozialethischen Aspekts bei der Notwehr hinaus. Denn eine "sozialethische Wertung" des Selbstschutzes ist außerhalb sozialpolitischer Erwägungen und der Berücksichtigung überindividueller Interessen schwer zu verstehen. Nach Montenbruck, Notwehr, S. 24 ff., 73 beruht die Notwehr auf der Gleichwertigkeit der miteinander kollidierenden Rechtsgüter, wobei dann den Ausschlag zugunsten des Abwehrenden der Gesichtspunkt der "Bewährung der Rechtsordnung" gibt. Nur auf dem Gesichtspunkt der Bewährung der Rechtsordnung beruht dagegen der Ansatz von Haas, Notwehr, S. 171, 216 ff., 223, 354 ff.; H. Mayer, AT 1953, S. 199; Oetker, VDA II, S. 259 f. und Schmidhäuser, Honig-Festschr., S. 193 ff.; ders., Lehrb. AT, S. 340 f.; ders., Studb. AT, S. 146 f. 84 Aus der altruistischen Motivation des Verteidigers will z. B. KLose, ZStW 39, S. 87 Nothilfe rechtfertigen.

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Härte der Notwehrausübung, in der Ablehnung jedes Güterabwägungsgedankens, indem nämlich dem Angreifer das gesamte Risiko aller abwehrerforderlichen Maßnahmen des Angegriffenen aufgebürdet wird. So wird die "Schneidigkeit" des Notwehrrechts begründet. Die Notwehrfähigkeit aller geschützten Rechtsgüter und die unbeschränkte Zulassung der Nothilfe gehören ebenso zu dieser Seite. Neben dem individualistischen Aspekt der Verteidigung des eigenen Interesses steht also der sozialrechtliche Gedanke, nach dem auch die Rechtsordnung selbst geschützt wird. Unter der Bezeichnung "sozialrechtlich" wird hier im Gegensatz zu dem individualrechtlichen Schutzaspekt der Rechtsbewährungsaspekt der Notwehr verstanden85 • Daher darf er nicht mit den "sozialethischen Einschränkungen" des Notwehrrechts verwechselt werden, die den weitreichenden Anwendungsbereich der Notwehr einzuschränken versuchen, während das Rechtsbewährungsprinzip im Gegenteil die weitreichende Eingriffsbefugnis der Notwehr begründet86 • Der von den Neuhegelianern übernommene Satz "Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" bietet hier den theoretischen Anhaltspunkt dieses überindividualistischen Rechtsbewährungsaspekts der Notwehr. Die Doppelfunktion der Notwehrregelung, den Angegriffenen einerseits vor Verlust oder Beeinträchtigung seiner geschützten Interessen zu bewahren und die Rechtsordnung andererseits vor Verletzung durch den Angreifer zu schützen, entspricht der heute vorherrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung. 2. Kritische Würdigung

Alle Auffassungen, die das Notwehrrecht nach zwei gegenläufigen Gesichtspunkten begründen wollen, bergen in sich mancherlei Schwierigkeiten, die bei vordergründiger Betrachtung kaum sichtbar werden. Selbstschutzgedanke und der Gedanke der Rechtsbewährung bilden hier die zwei verschiedenen Aspekte, den individual- und den sozialrechtlichen, auf denen die ganze Notwehrlehre aufgebaut wird. Beide Bezugspunkte wirken sich im Notwehrrecht insoweit aus, als das für die Begründung des Notwehrumfangs erforderlich erscheint. Man hat nämlich hier mit zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten zu operieren, welche die beiden gegensätzlichen, rechtsphilosophischen 85 Eine solche Interpretation ist dann möglich, wenn der Begriff "sozialrechtlich" im Sinne einer Befugnis zur Erhaltung der Rechtsordnung als einer sozialen Wertordnung betrachtet wird. Zur Erläuterung dieses Terminus vgl. Roxin, ZStW 93, S. 73. 86 Zu dieser Begriffsverwirrung vgl. einerseits Jescheck, AT, S.270, andererseits Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 Rdn. 1 und Haft, AT, S.59. Eine andere Bedeutung dagegen bei Spendet in LKlO, § 32 Rdn. 14.

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Richtungen in das Notwehrrecht hineinbringen. Läßt man der individualrechtlichen Seite der Notwehr gänzlich die Oberhand, ergibt sich keine ausreichende dogmatische Grundlage, um die weitreichende Befugnis der Notwehr in allen Fällen zu erklären. Deshalb greift hier der sozialrechtliche Aspekt ein, welcher die völlige Durchsetzung des individualrechtlichen verhindert und zu einer Kompromißlösung gelangt. Es kommt dann auf diese Weise ein gewisser Antagonismus in die Notwehr hinein, indem beide Gesichtspunkte in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und daher zu einem gewissen kom promißhaften Anwendungsbereich der Notwehr gelangenB7 • Selbstschutz und Rechtsbewährung bringen als gegensätzliche Zielsetzungen in das Notwehrrecht ihre unterschiedlichen Folgerungen und Besonderheiten hinein. Auf diese Weise werden die von einer individualistischen Seite der Notwehr gezogenen Konsequenzen - Proportionalitätsprinzip, Pflicht zum Ausweichen, Subsidiarität der Notwehr, Verteidigungsfähigkeit allein der Individualrechtsgüter - später durch den überindividualistischen, sozialrechtlichen Aspekt wieder aufgehoben. Damit verliert der Rechtsgedanke der Notwehr seine Einheitlichkeit. Will man nämlich aus diesen verschiedenen Aspekten deutliche Anweisungen für die Begründung des Notwehrrechts gewinnen, so muß man klarmachen, in welchem Maß jeder von ihnen die Notwehrgrenzen beeinflußt und in welchem Verhältnis er zu dem anderen stehtB8 • Jescheck legt die Betonung auf die individualistische Betrachtungsweise, "die der liberalen Tradition des StGB entspricht UB9 • Ähnlich meint dazu Roxin, der Individualschutz sei das FUndament der Notwehr. Zugleich reduziert er das Rechtsbewährungsprinzip auf eine bloß kriminalpolitisch-generalpräventive Funktion, die Art und Weise und das Ausmaß des Individualschutzes nach den Besonderheiten der jeweiligen Fallgruppe modifizieren soll (z. B. bei Geringfügigkeit des Angriffs). Er sieht ferner die Schärfe des Notwehrrechts allein durch überindividuelle Präventionsbefugnisse legitimiert und hält eine Einschränkung des Notwehrrechts dort für angebracht, wo ein weitgehendes Notwehrrecht kriminalpolitisch funktionslos und schädlich wäre 90• Während weiter Krause 91 beiden Gesichtspunkten eine gleich hohe Bedeutung beimißt, scheint dagegen Lenckner92 dem Gedanken der ErVgl. dazu GeHen, Jura 1981, S.200. "Ob man nun die individualrechtliche Seite oder die sozialrechtliche Seite der Notwehr betont" - heißt es bei Maurach/Zipf, AT I, S.336 - "hat erhebliche Auswirkungen auf ihre Ausgestaltung". B9 SO Jescheck, AT, S. 270; ähnlich auch Spender in LK10, § 32 Rdn. 14. 90 Roxin, ZStW 93, S. 76 f. 91 GA 1979, S. 331; ders., Bruns-Festschr., S. 82; wohl auch Blei, AT, S.149. 92 GA 1961, S.309; ders., GA 1968, S.3; ders., Notstand, S.24; vgl. weiter 87 BB

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haltung und Bewährung der Rechtsordnung im Ganzen die Priorität zu geben. Es ergibt sich daher, daß unter den verschiedenen Verfechtern dieser dualistischen Theorie über den Rechtsgrund der Notwehr keine Klarheit darüber herrscht, in welchem Verhältnis beide Gesichtspunkte zueinander stehen und in welchem Maß jeder von ihnen auf die Ausgestaltung des Notwehrrechts einwirkt93 • Gerade in der Begründung der zusätzlichen Einschränkungen der Notwehr zeigt sich deutlich, zu welchen Konsequenzen die Gegenläufigkeit der beiden Aspekte und der Streit über deren jeweilige Rolle in der Behandlung des Notwehrrechts führen kann. So argumentiert man hier 94 , das Rechtsbewährungsinteresse werde ausnahmsweise in den Fällen des eingeschränkten Notwehrrechts mehr oder weniger abgeschwächt oder entfalle völlig, so daß nur die bloße (individuelle) Selbstbehauptung übrigbleibt, um die - geringere - Notwehrbefugnis zu rechtfertigen. Gegenüber Kindern, Betrunkenen, Geisteskranken oder gegenüber provozierten und veranlaßten Angriffen sowie gegen geringfügige Rechtsbrüche sei ein "Kampf ums Recht" sinnlos 95 und eine Bewährung der Rechtsordnung überflüssig. Abgesehen von der Frage, ob in diesen Fallgruppen die Rechtsordnung gegenüber solchen Angreifern der Verteidigung überhaupt bedarf, kann beim Fehlen des Rechtsbewährungsgedankens mit dem Güterschutzprinzip allein ein Notwehrrecht - wenn auch ein eingeschränktes Notwehrrecht - nicht erklärbar sein96 • Der bloße Schutz der eigenen Rechtsgüter, der nach dem Wegfall des Gesichtspunkts der Bewährung der Rechtsordnung übrigbleibt, kann nicht eine Notwehrbefugnis begründen. Es bliebe unbegründbar, warum beim Fehlen einer Ausweichmöglichkeit dem Verteidiger trotzdem ein volles Notwehrrecht eingeräumt würde. Für eine konsequente Handhabung auch Felber, Rechtswidrigkeit, S.133 und Geilen, Jura 1981, S. 200; wohl auch EngelhardlRadbruch, Strafrecht, S. 13. 93 Während es nach Jescheck, AT, S.270 z. B. die individualrechtliche Auf-

fassung der Notwehr verständlich macht, daß das Wertverhältnis von geschütztem und verletztem Rechtsgut grundsätzlich keine Rolle spielt, geht dagegen die h. M. davon aus, daß der Gedanke der Bewährung der Rechtsordnung das Rangverhältnis der beteiligten Rechtsgüter hier grundsätzlich bedeutungslos macht (s. etwa Lenckner, Notstand, S.24; ders., GA 1968, S.3; ders. in Schönke/Schröder, § 32 Rdn. 1). 94 Dazu insbes. Bockelmann, Honig-Festschr., S.30; ders., AT, S.97; Blei, AT, S. 150 f.; Lenckner, GA 1968, S. 3; ders., Notstand, S. 24; ders. in Schönke} Schröder, § 32 Rdn.47; Samson in SK, § 52 Rdn.21; H. Schröder, JR 1962, S.188; ähnlich auch Roxin, ZStW 75, S.580; ders., ZStW 83, S.387; weiter auch Himmelreich, MDR 1967, S. 362 f.; Jescheck, AT, S. 277 ff.; Rudolphi, JuS 1969, S. 464. 95 So ausdrücklich Lenckner, Notstand, S. 24 und Baldus in LK9, § 53 Rdn. 32. 96 Vgl. hierzu Felber, Rechtswidrigkeit, S. 88. 4 Bitzilekis

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hätte man bei solchen Fällen mangels eines Rechtsbewährungsgedankens den Proportionalitätsgedanken heranziehen, die Individualrechtsgüter-Notwehr zulassen, dagegen Nothilfe untersagen müssen. Worin würde sich dann das eingeschränkte Notwehrrecht vom Notstand unterscheiden? Zusätzlich sei noch bemerkt, daß unter den Vertretern der dualistischen Ansicht auch darüber Uneinigkeit herrscht, aus welchem der beiden Gesichtspunkte die zusätzlichen Einschränkungen des Notwehrrechts herzuleiten sind. Während Haft 97 bei extremem Mißverhältnis z. B. zwischen angegriffenem und durch die Verteidigung verletztem Rechtsgut das Schutzbedürfnis des einzelnen verneinen will, begründen Bockelmann98 und Lenckner99 dieselbe Notwehrrestriktion damit, daß hier die Bewährung der Rechtsordnung nicht erforderlich sei. Geht man von einer dualistischen Ansicht des Notwehrgedankens aus, versucht aber die Fälle eines eingeschränkten Notwehrrechts mehr oder weniger mit dem Wegfall des Rechtsbewährungsprinzips zu begründen, verkennt man damit, daß man konsequenterweise zur Verneinung der Notwehrlage überhaupt gelangen müßte. Rechtswidriger Angriff und Bruch der Rechtsordnung gehen Hand in Hand, weil es keinen rechtswidrigen Angriff geben kann, der den Angegriffenen in seinem Interesse bedroht, ohne damit zugleich auch die Rechtsordnung zu bedrohen, die dieses Interesse rechtlich anerkennt und schützt. Jede Argumentation, die Einschränkungen des Notwehrrechts mit dem Fehlen des Rechtsbewährungsinteresses begründet, führt zu einer Entwertung des Notwehrrechts und läßt es damit seinen eigentlichen Sinn weitgehend verlieren. Denn allein mit dem Gedanken des Güterschutzes läßt sich freilich ein Notwehrrecht, wenn auch ein eingeschränktes, nicht erklären.

97 AT, S. 60 f. Mindestens inkonsequent erscheint es, wenn er die "Schneidigkeit" des Notwehrrechts und die dort geltende Unproportionalität der beteiligten Rechtsgüter mit dem sozialrechtlichen Aspekt der Rechtsbewährung einerseits begründet (S.59), die Notwehr andererseits bei einem extremen Mißverhältnis zwischen angegriffenem und durch die Verteidigung verletztem Gut wegen Fehlens der individualrechtlichen Begründung verneint. 98 AT, S. 97 f.; ähnlich auch Samson in SK, § 32 Rdn. 22. 99 In Schönke/Schröder, § 32 Rdn. 50.

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V. Notwehr als Verteidigung der Rechtsordnung 1. Der Begriff der Rechtsordnung

a) Theorie von der "empirischen Geltung der Rechtsordnung"

Aufgrund einer neuen Konzeption des Begriffs der Rechtsordnung versucht Schmidhäuser das Notwehrrecht zu begründen, indem er im Verstoß gegen die "empirische Geltung der Rechtsordnung" den Rechtsgrund der Verteidigungshandlung sieht. Obwohl diese Sicht des Rechtsordnungsbegriffs in der Notwehrdogmatik eine Neuerung darstellt, wirkt sie sich im Bereich der Notwehrlehre Schmidhäusers lediglich als Wiedergabe der subjektivistischen Theorien zum Rechtsordnungsbegriff und zur Rechts- und Unrechtslehre aus. Schmidhäuser betrachtet die Rechtsordnung nicht als staatlich gesetzte, sondern als eine in der Gesellschaft lebendige Ordnung, die nur dadurch bestehen kann, "daß jeder einzelne geistig die Werte mitträgt, die zur Grundordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehören"100. Die Rechtsordnung beruht also nicht auf einer bloß normativen, sondern auf einer Geltung "im Bewußtsein der Rechtsgenossen'