Die Natur der Sittlichkeit: Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel [1. Aufl.] 9783839426661

In this book, Filipe Campello works out a Hegelian concept of human nature for the delineation of a Theory of Institutio

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Die Natur der Sittlichkeit: Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel [1. Aufl.]
 9783839426661

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
ERSTER TEIL: NATUR UND GESETZ: DIE WURZELN VON HEGELS SITTLICHKEITSTHEORIE
1. Von der Liebe zur Sittlichkeit
1.2 Liebe zwischen Neigung und Pflicht
1.3 Vertiefung der Sittlichkeit: Jenseits des Liebesbegriffes
2. Zwei Stufen einer Theorie der Sittlichkeit
2.1 Zur Rolle der Neigungen in einer „Philosophie der Sittlichkeit“
2.2 Leidenschaften und Normativität
ZWEITER TEIL: NATUR UND SUBJEKTIVITÄT
3. Stufen der Willensdezentrierung nach Hegels Subjektivitätstheorie
3.1 Die Ambivalenz der Begierden
3.2 „Denkender Wille“ und sittliche Gefühle
3.3 Triebe, Leidenschaften und Interessen als konstitutive Individualisierungskräfte
4. Figuren der Radikalisierung des selbstzentrierten Willens
4.1 Selbstsüchtiges Pathos
4.2 Verrücktheit
4.3 Fanatismus
5. Die Gewohnheit des Willens
5.1 Grundaspekte der sittlichen Herausbildung des freien Willens
DRITTER TEIL: NATUR UND INSTITUTIONEN: ZUM AFFEKTIVEN GEHALT SOZIALER PRAKTIKEN
6. Willensbildung und Institutionen
7. Sittlichen Sphären und Affekte
7.1 Die Familie und die Liebe als affektive Grundformen sittlicher Verhältnisse
7.2 Leidenschaften und Interesse: Grundfiguren ökonomischer Verhältnisse
7.2.1 Zur Herausbildung kooperierender Interessen
7.2.2 Partizipationsgefühl, Kontingenz und institutionalisierte Solidarität
7.3 Leidenschaften und Staat: Die politische Dimension der Gefühle
7.3.1 Patriotismus als politische Gesinnung
7.3.2 Die Öffentlichkeit als Bildungssphäre und die Frage nach der Herausbildung eines kosmopolitischen Gefühls
8. Zur Erneuerung von Hegels Theorie der Institutionen: Ein Ausblick
Literatur

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Filipe Campello Die Natur der Sittlichkeit

Edition Moderne Postmoderne

2015-01-23 09-44-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ad388405761814|(S.

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4) TIT2666.p 388405761822

Filipe Campello ist Professor für Philosophie an der Bundesuniversität von Pernambuco (Recife, Brasilien). Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und politische Philosophie, Kritische Theorie, deutscher Idealismus und Ästhetik.

2015-01-23 09-44-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ad388405761814|(S.

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Filipe Campello

Die Natur der Sittlichkeit Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel

2015-01-23 09-44-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ad388405761814|(S.

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2015-01-23 09-44-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ad388405761814|(S.

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Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 11

E RSTER TEIL: NATUR UND GESETZ: DIE W URZELN VON HEGELS S ITTLICHKEITSTHEORIE 1. Von der Liebe zur Sittlichkeit | 31 1.2 Liebe zwischen Neigung und Pflicht | 42 1.3 Vertiefung der Sittlichkeit: Jenseits des Liebesbegriffes | 48 2. Zwei Stufen einer Theorie der Sittlichkeit | 55 2.1 Zur Rolle der Neigungen in einer „Philosophie der Sittlichkeit“ | 55 2.2 Leidenschaften und Normativität | 59

ZWEITER TEIL: NATUR UND S UBJEKTIVITÄT 3.

Stufen der Willensdezentrierung nach Hegels Subjektivitätstheorie | 67 3.1 Die Ambivalenz der Begierden | 70 3.2 „Denkender Wille“ und sittliche Gefühle | 80 3.3 Triebe, Leidenschaften und Interessen als konstitutive Individualisierungskräfte | 90 4.

Figuren der Radikalisierung des selbstzentrierten Willens | 101 4.1 Selbstsüchtiges Pathos | 103 4.2 Verrücktheit | 118 4.3 Fanatismus | 125 5. Die Gewohnheit des Willens | 129 5.1 Grundaspekte der sittlichen Herausbildung des freien Willens | 138

DRITTER TEIL: NATUR UND I NSTITUTIONEN: ZUM AFFEKTIVEN G EHALT SOZIALER P RAKTIKEN 6.

Willensbildung und Institutionen | 155

7. Sittlichen Sphären und Affekte | 163 7.1 Die Familie und die Liebe als affektive Grundformen sittlicher Verhältnisse | 163 7.2 Leidenschaften und Interesse: Grundfiguren ökonomischer Verhältnisse | 167 7.2.1 Zur Herausbildung kooperierender Interessen | 1671 7.2.2 Partizipationsgefühl, Kontingenz und institutionalisierte Solidarität | 178 7.3 Leidenschaften und Staat: Die politische Dimension der Gefühle | 184 7.3.1 Patriotismus als politische Gesinnung | 187 7.3.2 Die Öffentlichkeit als Bildungssphäre und die Frage nach der Herausbildung eines kosmopolitischen Gefühls | 197 8.

Zur Erneuerung von Hegels Theorie der Institutionen: Ein Ausblick | 203

Literatur | 221

Vorwort

In der vorliegenden Arbeit unternehme ich den Versuch, eine an Hegel anschließende Auffassung der menschlichen Natur für die Skizzierung einer Theorie der Institutionen herauszuarbeiten. Ich versuche zu zeigen, dass Triebe und Neigungen, Leidenschaften und Gefühle eine zentrale Rolle für Hegels sogenannte Sittlichkeitstheorie spielen. Die Untersuchung verfolgt daher ein doppeltes Ziel: Ein erstes – in Form einer Interpretation von Hegels politischphilosophischem Programm – besteht darin, Hegels Sittlichkeitstheorie als eine Antwort auf die Frage auszulegen, wie die menschliche Natur zu verstehen ist. Ein zweites Ziel der Arbeit ist es, Grundaspekte dieser an Hegel anschließenden Institutionentheorie für die aktuelle philosophische Debatte fruchtbar zu machen. Diese beiden Zielen – ein interpretatives und ein konstruktives – bilden die Struktur und die Grundmotive dieser Arbeit. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen besteht darin, dass die Rolle der Institutionen in Hinblick auf eine komplexe Verflechtung von individuellen Präferenzen und sozialen Erwartungen und Normen, die die subjektiven und objektiven Facetten von Hegels Begriff des Geistes darstellen, entscheidend ist. Während nach Hegels anthropologischen Prämissen der Subjektivierungsprozess stets von einer spannungsreichen Verflechtung zwischen Natur und Geist geprägt ist, enthält sein Ansatz auf einer zweiten Stufe ‒ der in Richtung einer Handlungstheorie geht – die Idee, dass das Individuum während der Teilnahme an der sozialen Sphäre nicht nur vernünftig handelt, sondern im Verhältnis zum Staat und zur Öffentlichkeit von Leidenschaften und von diffusen Gefühlen geprägt ist. Hier wird daher der Leitgedanke verfolgt, dass der Prozess politischer Integration für Hegel nicht nur mit dem Modell eines vernünftigen, selbstbestimmten Subjekt verbunden ist, sondern auch mit einer facettenreichen anthropologischen Gestalt welche sich nur unter Berücksichtigung von Hegels Darstellung der menschlichen Natur im Rahmen seiner Sittlichkeitstheorie verstehen lässt. Aus Sicht dieser Interpretation wird die Frage gestellt, wie Institu-

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tionen auch diese natürliche Dimension angemessen berücksichtigen können, wenn es für die politische Philosophie als verkürzt und defizitär gelten muss, nur die kognitiv-rationalen Kräfte bei der Sozialisation in Rechnung zu stellen. So ist das Verhältnis zwischen Natur und Institutionen auf zwei Weisen zu betrachten: Eine erste, deskriptive Weise bezieht sich auf die Rolle der Gefühle und Affekte innerhalb von Institutionen. Eine zweite, normative Perspektive besteht in der Frage, was diese Auffassung zu einer Theorie der Institutionen beitragen kann, wenn sie sich nicht nur auf vernünftige, kalkulierende Subjekte bezieht, sondern auch auf deren Natur – etwa auf Triebe, Neigungen und Leidenschaften. Als Antwort auf diese Frage wird versucht zu zeigen, dass Hegels Sittlichkeitstheorie nicht nur eine historische und immanente Sozialontologie darstellt, sondern auch ein Resultat seiner Kritik an verfälschten Formen sozial orientierter Gefühle ist. Diese Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Frühjahr 2013 im Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften am Institut für Philosophie von der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Ohne die Mitwirkung einiger Personen wäre sie nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt zuallererst Axel Honneth für die dreieinhalb Jahre bereichernder und herausfordernder Betreuung. Nicht nur habe ich in seinen Schriften den ursprünglichen Anstoß für diese Arbeit gefunden, sondern auch von seiner philosophischen Denkweise und von unseren Gespräche in Frankfurt viel gelernt. Mein herzlicher Dank gilt auch Christoph Menke, der als Zweitgutachter bei mehreren Treffen freundlich mit Ratschlägen und Einwänden zur Entwicklung der hier präsentierten Argumente beigetragen hat. Während der Abfassung dieser Arbeit erhielt ich hilfreiche Kommentare und Hinweise von Simon Laumann Jørgensen, Alessandro Pinzani, Pablo Holmes, Titus Stahl, Rainer Forst, Eduardo Luft, Nythamar de Oliveira, und Ulisses Vaccari. Für deren Diskussionsbereitschaft danke ich ihnen. Für die unschätzbare Hilfe bei der Textkorrektur bin ich Katja Reinecke und Frank Lachmann sehr dankbar. Ich durfte einige Teile dieses Buch zu mehreren Gelegenheiten vortragen, so zum Beispiel während der alljährlichen Konferenz „Philosophy & Social Science“ in Prag, bei der Konferenz „German Idealism Today“ in Aarhus und beim „IV Congreso Internacional Universidad de Salamanca“ und außerdem im Forschungskolloquium zur Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Von den Diskussionen und Gesprächen mit den TeilnehmerInnen habe ich viel gelernt. Die Abfassung dieser Arbeit wurde von der in Frankfurt entstehenden Freundschaft mit Arthur Grupillo, Julian Culp und Roger Lisardo begleitet, mit

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denen ich mich ständig auseinandergesetzt habe. Fiorina Mongiovi hat jeden Schritt der Entwicklung meiner Überlegungen mit liebvoller Unterstützung mitverfolgt und meinen Aufenthalt in Frankfurt noch angenehmer gemacht. Während der Niederschrift dieser Arbeit habe ich ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) erhalten, das meinen vierjährigen Aufenthalt in Frankfurt unter guten Umständen ermöglichte. Auch dafür möchte ich danken. Meine Mutter war für mich eine stetige affektive Inspirationsquelle. Ihr ist diese Arbeit posthum gewidmet.

Einleitung

Im Zentrum der Vielfalt von Traditionen der politischen Philosophie steht – insbesondere in der Moderne – die Frage, wie die menschliche Natur zu erfassen sei. Begriffe wie „Affekte“, „Leidenschaften“ und „Wille“ werden sofort mit Machiavelli, Bacon, Spinoza, Rousseau, Hobbes oder Hume assoziiert, deren Auffassungen von Staat, Macht und Regierung von jenen entscheidend geprägt worden sind. Umstritten ist in diesem Kontext, welche Rolle die als so konstituiert vorgestellte menschliche Natur für die Entwicklung der Moral- und politischen Philosophie spielt bzw. spielen sollte und inwiefern diese umgekehrt auf bestimmte Weise zur Diskussion anthropologischer Fragen beitragen können. Es lässt sich zeigen, dass seit der Moderne einer der grundlegenden entwicklungslogischen Leitfäden der Philosophie selbst in einer Pendelbewegung zwischen Rechtfertigung und Kritik verschiedener Modelle von Rationalität besteht.1 Dennoch, wenn man einige Tendenzen innerhalb der politischen Philosophie der letzten Jahrzehnte betrachtet, ist es nicht schwer zu bemerken, dass nicht die Untersuchung der Rolle der menschlichen Natur für unser Zusammenleben, sondern die vernünftige Begründung von moralischer Normen und Handlungstheorien den vorherrschenden Orientierungshorizont der Theoriebildung darstellte. Von der Kantischen Philosophie stark geprägt, haben viele Ansätze die Rolle von Affekten, Neigungen, Leidenschaften und Gefühlen eher marginalisiert. Im Gegenzug haben Begriffe wie Vernunft, rationale Begründung und Autonomie dabei eine argumentative zentrale Rolle eingenommen, wobei anthropologische Prämissen hier insofern unhinterfragt blieben, als dass man vernünftige „agency“ und Autonomie als Ausgangspunkt und nicht als eine permanent im Auge zu behaltende Zielkonzeption politischen Handelns betrachtet hat – ein Punkt, der für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung 1

Zur Diskussion dieses Themas – insbesondere im Anschluss an die Tradition der kritischen Theorie – vgl. Menke/Seel 1993, Habermas 1985 und Wellmer 2000.

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ist. Weiterhin zeichnet sich die Debatte dadurch aus, dass in ihr häufig zunächst erwogen wird, ob das eine oder andere vernünftige Argument oder Prinzip überzeugend ist, um sich dann erst in einem zweiten Schritt die Frage zu stellen, inwiefern rationale Überzeugungen tatsächlich die Kraft besitzen, Handlungen zu motivieren und moralische Prinzipien zu begründen. Diesen Prämissen zufolge müsste man darüber diskutieren, welche Handlungen bzw. Prinzipien als vernünftigerweise moralisch gerechtfertigt gelten können. Die Position von Hegels philosophischem Programm erscheint vor dem Hintergrund dieser Debatte als kontrovers; denn auch wenn Hegel in seiner so genannten Sittlichkeitstheorie einen wichtigen Zusammenhang zwischen anthropologischen Prämissen und politischer Philosophie artikuliert hat, liegt in einem großen Teil der Sekundärliteratur der Untersuchungsschwerpunkt auf den logischen und metaphysischen Prämissen seiner Sittlichkeitstheorie und dem sich aus ihnen ergebenden, eher kontroversen Begriff von Vernunft bzw. „vernünftig“. So wurde etwa der so genannte Doppelsatz in Hegels Vorwort zur Rechtsphilosophie – „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (VII, 24)2 – auf der Grundlage der systematischen Interpretationen seiner Philosophie in verschiedene Richtungen ausgelegt3 – und auch häufig als ein Motiv der Kritik an Hegel ins Feld geführt. Diese richtete sich etwa gegen seine vermeintliche Legitimierung des Status quo oder gegen seinen angeblich zu starken bzw. obskuren metaphysischen Begriff der Vernunft. Während gegenüber dem angeblichen Problem des Konservatismus von Hegels Philosophie die Möglichkeit eines „kritischen“ normativen Potenzials des Hegelschen Ansatz dargestellt wird – wie etwa bei dem sogenannten Linkshegelianismus - , bleibt Hegels Idee der Vernunft selbst immer wieder neu zu interpretieren. Hier ist die Frage nicht, was es erlaubt, die Wirklichkeit als „vernünftig“ zu beschreiben, sondern, auf einer vorherigen Stufe (sei es eine „subjektive“ oder eine „objektive“), was vernünftig nach Hegel überhaupt heißt. In der Tat wurde wohl kaum ein Satz aus Hegels Texten häufiger zitiert als die aus der Einleitung der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte stammende Behauptung, dass „nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist“ (XII, 38), ohne dass allerdings diese Passage in seiner gesamten Philosophie angemessen verortet worden wäre. Im gleichen Sinne wiederholt Hegel in seiner Enzyklopädie mit dieser Formulierung seine starke 2

Ich zitiere hier im Folgenden Hegels Werke, so nicht anders angegeben, im Haupttext nach Hegel 1970, unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl bzw. Angabe des betreffenden Paragraphen.

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Vgl. dazu u.a. Henrich 1983 und Stern 2006.

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Kritik an einer den Leidenschaften entgegengesetzten Moralität: „Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden. Es ist nur eine tote, ja zu oft heuchlerische Moralität, welche gegen die Form der Leidenschaft als solche loszieht” (X, §474). Diese Passage verweist auf Hegels oft eigenartige Auseinandersetzung mit an Vernunft orientierten Kriterien der Moralität, in welcher die praktische Wirksamkeit von Vernunftbestimmungen in Frage gestellt wird. Hegel behauptet damit, dass „Prinzip“, „Gesetz“, „Zwecke“ und „Grundsätze“ (XII, 36) nur durch zur Tätigkeit gehörende „Bedürfnis[se], Trieb[e], Neigung[e] und Leidenschaft[en]“ (XII, 36) verwirklicht werden. Die in dieser Arbeit aufgestellte zentrale These besteht darin, dass die von Hegel häufig diskutierten Konzepte der Begierden, Triebe, Gefühle und Leidenschaften eine grundlegende Rolle sowohl für sein Rationalitätsmodell als auch für die damit verbundene Beschreibung von „vernünftigen“ Institutionen spielt. Ich versuche damit zu zeigen, dass Hegel zufolge eine Theorie der Institutionen mit einer Theorie des sittlichen Bildungsprozesses der menschlichen Natur – als eine Herausbildung einer „zweiter Natur“ – zu verbinden ist. Hegel war grundsätzlich nicht in Hinblick auf den Inhalt der Kantischen Moralität skeptisch, sondern hielt dessen Formalismus für fragwürdig, weil er dazu führe, die Rolle der sozialen Normen zu unterschätzen, und damit zur Behauptung, dass die Moralität soziale Kontexte transzendieren könne.4 Hegel schlägt im Unterschied zu einem formellen Modell der Moralität eine „Realphilosophie“ vor, also die Annahme einer den sozialen Kontexten immanenten Normativität, die es erlauben würde, die Wirklichkeit als „vernünftig“ zu betrachten. Dadurch versucht er den Begriff der subjektiven Freiheit mit den sich innerhalb der Sittlichkeit vorfindlichen Rationalitätsstandards zusammenzubringen. Vor dem Hintergrund seines Begriffs der Wirklichkeit ergibt sich nach Hegel eine doppelte Bedeutung des „Abstrakten“, einerseits die einer mit der Sittlichkeit nicht zu vereinbarenden Subjektivität und andererseits die eines For4

In diese Richtung formuliert Axel Honneth die Idee von „Pathologien der moralischen Freiheit“, in der die Starrheit kalter moralischer Gesetze zur „Fiktion eines unverbundenen Subjekts“ und zu einer „selbst- und kontextvergessenen Anwendung“ von moralischen Normen führe. Dadurch würde sich eine affektive Insensibilität ergeben, in welcher das Subjekt gar nicht mehr fähig sei, zwischen verschiedenen Kontexten zu differenzieren und ihre Variationen und ihren affektiven Gehalt abzuwägen. Vgl. Honneth 2011:210 ff. Eine klassische Formulierung dieser Kritik an einseitigen moralischen Normen findet sich schon beispielsweise bei Williams 1984; vgl. dazu auch Honneth 2011:190 ff; Honneth/Rössler (Hrsg.) 2008.

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malismus, der für eine normative Sittlichkeitstheorie nicht ausreichend ist. Dabei legt Hegel die Überzeugung zu Grunde, dass eine „ideale Theorie“ nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit sozialer Praktiken zu erfassen, so dass die Unterscheidung zwischen rein normativer und „realer“ Theorie nicht nur ein deskriptives Defizit aufweist, sondern auch ein normatives: das Insistieren einer Theorie auf bloß dem „Sollen“ entstammende Kriterien führt gerade zu einer Verarmung ihres normativen Potenzials. Der Raum des Normativen soll also nicht nur auf das Sollen beschränkt werden, sondern die Gründe, Motivationen und Gefühle der subjektiven Aneignung moralischer bzw. „sittlicher“ Normen einschließen. Gewiss bleibt für beide, Kant und Hegel, das Erbe Rousseaus am einflussreichsten. Aus der bahnbrechenden Diskussion der menschlichen Natur, die der Genfer Philosoph vorgelegt hat, ergibt sich für die im Folgenden darzulegende Hegel-Interpretation besonders die Einsicht, dass, wie jüngst Frederick Neuhouser gezeigt hat, der Begriff der „amour-propre“ zu erklären vermag, was der „Triebkraft“ der menschlichen Natur als „drive for recognition“ zugrunde liegt. „Amour-propre“ hat insofern keine singuläre Bedeutung (eine „negative“ oder „positive“), sondern bildet die Quelle sowohl „zerstörerischer“ als auch „konstruktiver“ Expressionen von Individualität.5 Dennoch, auch wenn Hegels Begriffe der Leidenschaft und der Bildung dieser Auffassung ähneln, wessen Typologie unsere Arbeit darzustellen versucht, neigt Rousseau dazu – wie Hegel es formuliert –, die Rolle dieses Bildungsprozesses so zu verstehen, dass die Idee eines Naturzustands und des damit verbundenen negativistischen Freiheitsmodells nicht angetastet werden müssen. Demgegenüber ist Hegel der Auffassung, dass sich individuelle Freiheit nur innerhalb der Sittlichkeitssphären verwirklichen lässt. Insofern erfasst Hegel – hierbei eher in Richtung eines Hobbesschen Denkmodells tendierend – den Naturzustand als einen Raum der Unfreiheit, und kritisiert dementsprechend in den zeitgenössischen Staatstheorien die naturrechtlich geprägte These der mit dem Naturzustand verbundenen Freiheit: Gegenüber einem eher idyllischen Modell behauptet Hegel – wie er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte formuliert –, dass „[d]ie Freiheit als Idealität des Unmittelbaren und Natürlichen nicht als ein Unmittelbares und Natürliches [ist], sondern vielmehr erworben und erst gewonnen werden [muss], und zwar durch eine unendliche Vermittlung der Zucht des Wissens und des Wollens“ (XII, 58 f.). So finden sich auch in einer langen, zentralen Passage die Umrisse von Hegels eigener Freiheitstheorie in Zusammenhang mit der Rolle der Leidenschaften in Form einer solchen Kritik am Naturzustand als Modell der Freiheit, wobei er eine sich in der Sittlichkeit 5

Neuhouser 2008.

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selbst zu verortende „Beschränkung jener stumpfen Empfindungen und rohen Triebe [...], des reflektierten Beliebens der Willkür und Leidenschaft“ propagiert: „Daher ist der Naturzustand vielmehr der Zustand des Unrechts, der Gewalt, des ungebändigten Naturtriebs, unmenschlicher Taten und Empfindungen. Es findet allerdings Beschränkung durch die Gesellschaft und den Staat statt, aber eine Beschränkung jener stumpfen Empfindungen und rohen Triebe, wie weiterhin auch des reflektierten Beliebens der Willkür und Leidenschaft. Dieses Beschränken fällt in die Vermittlung, durch welche das Bewußtsein und das Wollen der Freiheit, wie sie wahrhaft, d. i. vernünftig und ihrem Begriffe nach ist, erst hervorgebracht wird. Nach ihrem Begriffe gehört ihr das Recht und die Sittlichkeit an, und diese sind an und für sich allgemeine Wesenheiten, Gegenstände und Zwecke, welche nur von der Tätigkeit des von der Sinnlichkeit sich unterscheidenden und ihr gegenüber sich entwickelnden Denkens gefunden und wieder dem zunächst sinnlichen Willen, und zwar gegen ihn selbst eingebildet und einverleibt werden müssen. Das ist der ewige Mißverstand der Freiheit, sie nur in formellem, subjektivem Sinne zu wissen, abstrahiert von ihren wesentlichen Gegenständen und Zwecken; so wird die Beschränkung des Triebes, der Begierde, der Leidenschaft, welche nur dem partikulären Individuum als solchem angehörig ist, der Willkür und des Beliebens für eine Beschränkung der Freiheit genommen. Vielmehr ist solche Beschränkung schlechthin die Bedingung, aus welcher die Befreiung hervorgeht, und Gesellschaft und Staat sind die Zustände, in welchen die Freiheit vielmehr verwirklicht wird.“ (XII, 59)

Anhand dieser aufschlussreichen Beschreibung lässt sich hinsichtlich der Grundaspekte von Hegels Theorie der Freiheit zweierlei festhalten. Zum einen stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer zwanglosen „Beschränkung des Triebes, der Begierde, der Leidenschaft“ als Bedingung der Freiheit und zum anderen ist zu klären, wie die Verortung der subjektiven Freiheit in „Gesellschaft und Staat“ stattfinden kann, wenn sich diese nicht nur in sittliche Institutionen integrieren lassen soll, sondern diese selbst die Bedingungen für ihre Verwirklichung darstellen. In Hegel-Interpretationen, die sich auf Motive stützen, die schon seit Hobbes und Rousseau bekannt sind, bildet das Streben nach Anerkennung sowie die Struktur des Strebens nach Selbsterhaltung die den sozialen Formen zugrunde liegende Triebkraft, deren Thematisierung eine politische Philosophie diesen Theoretikern zufolge vor Augen haben sollte. Dementsprechend schließt sich die vorliegende Arbeit der Interpretationstradition an, der zufolge Hegel eine Theorie der Institutionen in Hinblick auf eine facettenreiche Subjektivitätstheorie entwickelt, deren Freiheitsmodell, im Gegensatz zu dem des Naturzustands, innerhalb der Sphären der Sittlichkeit verortet wird.

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Und auch wenn Hegels Ausgangspunkt in Bezug auf den Naturzustand dem Hobbes’ ähnlich ist, unterscheidet er sich von letzterem nicht nur durch seine Kritik an einem atomistischen sozialontologischen Ansatz, sondern auch dadurch, dass Hegels Interpretation der menschlichen Natur jenseits eines vertragstheoretischen Denkhorizonts formuliert wird; es geht bei Hegel vielmehr um einen sich innerhalb der konstitutiven Bildungssphäre der Sittlichkeit vollziehenden Lernprozess, der die subjektive Freiheit durch soziale Formen sich verwirklichen lässt. Insofern lässt sich Hegels Beitrag zur Auffassung von Leidenschaften und Gefühlen nicht nur im Raum der Moralphilosophie – etwa auf den Spuren Humes – verorten, sondern auch in Hinblick auf Neigungen, Triebe und Leidenschaften innerhalb eines umfassenden institutionalisierten Modells; denn Hegel handelt die Betrachtung der menschlichen Natur innerhalb von Sittlichkeitssphären ab, die spezifische Formen der Ausbildung von Neigungen und Leidenschaften ermöglichen sollen. Insofern weist unsere Argumentation zwei Stoßrichtungen auf. Die erste – eine Interpretation von Hegels politisch-philosophischem Programm – besteht darin, seine Sittlichkeitstheorie als eine Antwort auf die Frage nach der Rolle der menschlichen Natur auszulegen, welche sich nur in Hinblick auf seine Subjektivitätstheorie erklären lässt. Auch wenn sich einige Interpretationen dieser Sichtweise bereits angenommen haben6, findet sich in der Literatur ein Mangel an systematischen Untersuchungen, die sich gleichzeitig über Hegels Ansatz hinaus erweitern lassen. Daher besteht die zweite, eher indirekte Stoßrichtung unseres Arguments darin, einen Anschluss von Hegels Beitrag an die aktuelle Debatte um soziale Praktiken und Institutionen vorzuschlagen. Diese beiden Stoßrichtungen – eine interpretative und eine propositive – bilden somit die Grundmotive der vorliegenden Arbeit. Im Begriff der „Dezentrierung“ – wie er bei Jürgen Habermas und Axel Honneth zu finden ist7 – sehe ich eine produktive Hilfsquelle dafür, den Leitfa6

Eine Ausnahme – allerdings mit anderem argumentativem Hintergrund und anderer Beweisabsicht – findet sich bei Won 2002, Malabou 2005.

7

Vgl. etwa Habermas 1999 und Honneth 1993. In letzterem Aufsatz geht Honneth von Albrecht Wellmers Auffassung aus, nach der die Kritik der Subjektivität in der Moderne durch zwei Denkbewegungen gekennzeichnet ist, nämlich die in der Tradition Freuds mit dem Schlagwort des Unbewussten einerseits und die, die mit dem späten Wittgenstein und mit Saussure auf den Zusammenhang von Subjektivität und Sprache verweist, andererseits. Nach Honneth bilden diese beiden kritisch gemeinten Denkrichtungen nun aber gerade keine Barriere, „sondern umgekehrt die Konstitutionsbedingungen der Entwicklungen von Ich-Identität“ (ebd., 157). Vgl. hierzu auch Wellmer 2000.

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den von Hegels Verflechtung von Subjektivitäts- und Sittlichkeitstheorie zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf den Begriff des dezentrierten Willens als ein Grundmotiv des hegelschen Denkens: die Stufen der Subjektivitätsbildung bestehen darin, die Bedingungen für eine dynamische soziale Ausbildung eines dezentrierten Willens einzurichten. Vor dem Hintergrund einer Phänomenologie der Gefühle hat die vorliegende Arbeit das Ziel, die Typologie der bildenden Funktion der Institutionen für die Herausbildung des dezentrierten Willens zu untersuchen. Ich schlage vor, dass Hegel eine Theorie der Institutionen als Sittlichkeitstheorie nicht nur als sittliche Sphäre der Freiheit entwickelt, sondern sich daran auch die Grundzüge dieser Bildungsfunktion für die Verwirklichung eines „freien“ Willens erklären lassen. Es soll gezeigt werden, dass eine an Hegel anschließende Theorie der Institutionen den normativen Gehalt der Förderung der Willensbildung erschließt, welche die subjektive Freiheit durch einen sittlichen Inhalt sich verwirklicht. Damit wird das Ziel verfolgt, von einem Modell der menschlichen Natur im Sinne einer allmählichen Dezentrierung des Willens ausgehend die Grundzüge einer an Hegel anschließenden normativen Theorie der Institutionen aufzuzeigen. Mit dieser Struktur lässt sich schon antizipieren, dass Hegels Auffassung des abstrakten Rechtes und der Moralität – als eine in seiner Rechtsphilosophie entwickelte, vorherige Stufe der Sittlichkeit – nicht nur ein einseitiges Freiheitsmodell darstellt, sondern auch ein begrenztes Mittel zur Ausbildung des freien Willens. Das Subjekt soll daher in der Sittlichkeit nicht nur seine Freiheit in einem sozialen Kontext verwirklichen können, sondern auch einen Bildungsprozess durchlaufen, in dem es den in der jeweiligen sozialen Sphäre vorfindlichen Inhalt als Horizont seiner eigenen Freiheit erfährt. In Hinblick auf die Grenzen des abstrakten Rechtes und der Moralität, die Hegels Frankfurter Schriften bis zu seiner Rechtsphilosophie prägt, lässt sich seine Sittlichkeitstheorie als eine Antwort auf die Frage verstehen, wie der Wille innerhalb von sozialen, institutionellen Sphären als „frei“ ausgebildet wird. Im diesem Sinne konstituiert die Formierung des Willens zur Freiheit das, was Hegel den „Boden“ (VII, §4) seiner Sittlichkeitstheorie nennt, wobei die subjektive Freiheit keinen Ausgangspunkt darstellt, sondern das normative Ziel eines Prozesses der Willensbildung. Die zwei hier vorfindlichen Grundideen bestehen darin, dass der Wille erstens in einem allmählichen Prozess von zunächst selbstsüchtigen und abstrakten Inhalten zu einem dezentrierten, sittlichen Inhalt übergeht, und zweitens, dass diese Erweiterung innerhalb sozialer Institutionen gefördert werden muss. Wie hier dargestellt werden soll, wird die erste Idee von Hegels so genannter Theorie des „subjektiven Geistes“ gestützt,

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die ihrerseits die Grundlage für die zweite Idee darstellt, welche die Stufen der Bildung des dezentrierten Willens aufzeigt. Diese zwei Aspekte, die in Hegels Sprachgebrauch gewöhnlich die Verflechtung von „subjektivem“ und „objektivem“ Geist bezeichnen, bilden die Grundstruktur der vorliegenden Arbeit. Hegels philosophisches Projekt entwickelt nicht nur das Argument der sozialen Eingebundenheit der Subjektivität, sondern verfolgt auch die Absicht, die für die soziale Freiheit zu realisierenden institutionellen Voraussetzungen darzustellen. So ist es, wie Hegel am Ende der Vorrede seiner Rechtsphilosophie formuliert, die Aufgabe einer Theorie der Institutionen, die subjektive Freiheit zu ermöglichen – die aber nicht nur mit zufälligen, sondern mit einem „allgemeinen“ Inhalt des Willens verbunden sein muss. So schreibt Hegel in einer wichtigen Passage: „Die wahre Freiheit ist als Sittlichkeit dies, daß der Wille nicht subjektive[n], d. i. eigensüchtige[n], sondern allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat“ (X, §469). Zur Rekonstruktion von Hegels Argument lassen sich die methodologischen Prämissen – soweit ich sehe – auf zumindest drei unterschiedlichen, aber komplementären Ebenen ausführen. Die erste, die wir als eine „ontologischmetaphysische“ Ebene bezeichnen können, bezieht sich auf Hegel-immanente Argumente, die seinem philosophischen Programm als Inspirationsquelle dienen. So geht Hegels metaphysische These davon aus, dass subjektiver, objektiver und absoluter Geist zwar denselben Entwicklungsprozess vollziehen, sich aber auf verschiedene Stufen beziehen. Diese zeigen sich insofern als eine analoge Struktur auf den drei Niveaus von Hegels Theorie des Geistes.8 Eine zwei8

Daher besteht nach Hegels immanenten Prämissen ein Zusammenhang von ontound phylogenetischen Ebenen der Geistesentwicklung, die demnach sowohl als Subjektivierungsprozess als auch als gattungsgeschichtlicher Vorgang zu verstehen ist. Zudem weist Hegel in seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte auf die christliche Vorstellung göttlicher Dreieinigkeit als „Im-anderen-bei-sich-Sein“ als Hintergrundmodell für diese beiden Ebenen hin, „wovon alles andere nur ein Beispiel ist“: „Das erhabenste Beispiel davon ist die Natur Gottes selbst. Diese kann aber kein Beispiel genannt werden, sondern [sie] ist das Allgemeine, das Wahre selbst, wovon alles andere nur ein Beispiel ist. [...] In der christlichen Religion ist Gott ausgesprochen zuerst als Vater: die Macht, das abstrakt Allgemeine, das noch eingehüllt ist. Zweitens ist er sich als Gegenstand ein sich Entzweiendes, ein anderes seiner selbst Setzendes. Dies ist der Sohn genannt worden. Dieses Zweite ist so bestimmt, daß in diesem anderen seiner selbst er aber ebenso unmittelbar er selbst sei, sich ebenso anschauend und sich selbst nur im anderen wissend, und dieses Sichhaben, Sichwissen, Einheit-Haben, Im-anderen-bei-sich-Sein ist der Geist; das heißt: Das Ganze ist der Geist; weder das eine noch das andere ist der Geist. Und Gott ist

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te, sich auf das „Logische“ beziehende Ebene stellt die Begründung dieser Entwicklung dar, wie Hegel in seinen Schriften mehrfach betont.9 Diese Ebene wird auch oft in Bezug auf die Deutung von Hegels praktischer Philosophie herangezogen, was aber ihre Fruchtbarkeit für die zeitgenössische Debatte erschwert hat.10 Die dritte, methodologische Ebene – die die vorliegende Arbeit in den Blick nimmt – besteht darin, in gewisser Weise eine „immanente“ naturalistische Interpretation von Hegels Theorie des Geistes durchzuführen, und zwar mit der Absicht, mithilfe der innerhalb von Hegels Philosophie vorhandenen naturalistischen Sichtweise auf das Verhältnis von subjektiver Freiheit und sozialer Sphären die Grundlagen seiner Sittlichkeitstheorie zu rekonstruieren. Die Strategie der vorliegenden Untersuchung besteht deswegen darin, die Anwendung von Hegels internem Argument zu betrachten – ein Vorgehen, das man auch als nachmetaphysische Aktualisierung seines Denkens bezeichnen könnte –, aber deren Maßstab dabei in Hegels Ansatz selbst ausfindig zu machen.11 Durch eine interne Kohärenz des Hegelschen System lässt sich also für die verschiedenen Ebenen von Hegels Theorie des Geistes – welche ich als verschiedene „Narrative“ bezeichnen möchte – eine immanente Begründung finden. Damit ist es für das Verständnis seiner Sittlichkeitstheorie wichtig, nicht nur als Geist bestimmt, er ist erst das Wahre, Vollkommene. Gott in der Form der Empfindung ausgesprochen, ist die ewige Liebe, der Sohn, sich in dem anderen selbst zu wissen, das andere als sein Eigenes zu haben. Diese Bestimmung ist in der Form des Gedankens das, was den Geist konstituiert“ (XII, 31 f.). Hegel schließt: „Wir gehen nun zu den konkreten Folgen des Begriffs des Geistes über, die für unseren Gegenstand Interesse haben“ (XII, 32), und überträgt danach seine Interpretation auf die Ebene sowohl der Weltgeschichte als auch auf die Idee der menschlichen Freiheit. Vgl. dazu auch Hegels Habilitationsschrift und das von Rosenkranz nachgedruckte Fragment vom göttlichen Dreieck (II, 534 ff.). 9

So etwa in V, 13 ff. und in X.

10 Vgl. Honneth 2001. 11 „Nachmetaphysisch” wird hier ziemlich grob gebraucht – im Anschluss an Jürgen Habermas’ und Axel Honneths Position einer nachmetaphysischen Aneignung von Hegels Denken. Vgl. u.a. Honneth 1994:107 ff.; 2001:11 ff. Wie ich hier allerdings vorschlagen möchte, kann Hegels Idee ohne seine systematischen (und das heißt hier auch: metaphysischen) Prämissen nicht gänzlich gerechtfertigt werden. Eine empirische Begründung kann dazu dienen, diese Prämissen für Hegels Theorie durch den Nachweis ihrer naturalistischen Anschlussfähigkeit plausibel zu machen, aber für eine interne kritische Rekonstruktion Hegels bleibt sein systematischer Ansatz immer noch primär in Betracht zu ziehen.

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die Prämissen seiner Logik, sondern auch die Stufen seiner Theorie des subjektiven Geistes zu berücksichtigen. Dieser methodologische Vorschlag soll aber nicht im Widerspruch zu den anderen Vorschlägen stehen, sondern als mit diesen komplementär verstanden werden und mit der spezifischen Charakterisierung der holistischen Struktur von Hegels systematischem Ansatz konsistent sein.12 Obwohl die strukturellen Stufen der Entwicklung des Geistes mit Hegels metaphysischen Prämissen untrennbar verbunden sind, bleibt Hegels Theorie des subjektiven Geistes besonders produktiv, um seine Sittlichkeitstheorie in Hinblick auf die Herausbildung einer „zweiten Natur“ zu rekonstruieren. Auch wenn für unsere Absicht eher die Aktualität des von Hegel vorgeschlagenen begrifflichen Gehalts seiner Theorie des Geistes interessiert, darf man nicht darüber hinwegsehen, dass Hegels gesamter Argumentation eine „relationale“ Ontologie zugrunde liegt, ohne die seine Argumente schwächer erscheinen würden. Denn Hegels Auffassung von Subjektivität folgt einem logisch-ontologischen Schema als übergreifendem Ausgangspunkt, dessen Rechtfertigung von einer komplexen und umfassenden Analyse der dialektischen hegelschen Logik und ihrer eigenen Terminologie abhängt. Hier soll deutlich gemacht werden, wie sich eine solche „Letztbegründung“ für die zeitgenössische Debatte der politischen Philosophie sinnvoll verstehen lässt, insbesondere mit Rücksicht auf Hegels bekannte logische Terminologie vom „Besonderen“ und „Allgemeinen“. Durch das ontogenetische Narrativ lässt sich auch auf Hegels spekulative Auffassungen, etwa von der dialektischen Bewegung zwischen Partikularem und Allgemeinem sowie von seinem Gebrauch von „Subjektivem“ und „Objektivem, ein neues Licht werfen. Hegels Darstellung lässt sich in stilistischer Hinsicht im Kontext der ontogenetischen Rekonstruktion als ein „philosophisches Narrativ“ begreifen, womit ein Bildungsprozess des Geistes beschrieben wird.13 Mit dieser Rekonstruktion verfolge ich vor allem die Absicht, ein internes Argument von Hegel zu finden, das die Natur des Willens und seine Entwicklung im Rahmen einer Theorie des objektiven Geistes erklären kann.14 Insofern enthält – nach Hegels systematischem Ansatz – jede Narrativform dieselbe konzeptuelle Struktur, wobei ein ontogenetisches Narrativ keinen starken Naturalismus impliziert, sondern einen sozial vermittelten Prozess bezeichnet, der sich durch den Be12 Ein ähnlicher Interpretationsvorschlag findet sich bei Patten 1999. 13 In diesem Sinne lässt sich Hegels Phänomenologie des Geistes als ein Bildungsroman begreifen, in dem ein Lernprozess (sei er subjektiv oder gattungsgeschichtlich) durch ein philosophisches Narrativ dargestellt wird. 14 Diese unterscheidet sich dadurch etwa von der in Habermas 1976. Kritisch zu Habermas‘ Auffassung vgl. Honneth/Joas 1980.

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griff der „zweiten Natur“ verstehen lässt. Insofern kann man den hier vorgestellten methodologischen Interpretationsansatz als „schwachen Naturalismus“ bezeichnen, welcher sich von einem starken, auch physikalistischen Modell unterscheidet. Daraus ergibt sich der Zusammenhang zwischen Natur und Geist – und somit der Begriff der zweiten Natur und des Lernprozesses - diejenige konzeptuelle Konstellation, die den Kerngegenstand unserer Untersuchung bildet.15 Die Entwicklung von Hegels System kann man also als ein prozessual strukturiertes Verhältnis von Natur und Geist charakterisieren, dem von Beginn an eine fruchtbare Spannung zwischen Natur und Vernunft innewohnt.16 Der Übergang von der ersten zur zweiten Natur weist nicht nur auf das hin, was im sozialen Kontext von der ersten Natur übrig bleibt, sondern auch auf das, was an der Natur sozial verändert werden kann. Wenn einerseits nach diesem Modell eines schwachen Naturalismus die Natur der Subjektivität für eine Sittlichkeitstheorie bedeutsam ist, beschreibt dieses Modell andererseits ein prozessuales Heraustreten aus der Natur, wobei Hegel die Sittlichkeit als eine schrittweise Entfaltung des „Geistes“ beschreibt: Die Auffassung bezieht sich also zwar auf eine erstnaturalistische Basis, berücksichtigt gleichzeitig aber das, was Hegel als „geistigen“ Prozess bezeichnet. So findet die Herausbildung von Neigungen und Willen grundsätzlich in der sittlichen Sphäre statt: Die Identitätsbildung wird als eine Formierung einer zweiten Natur, einer sprachlich und kulturell vermittelten Subjektivitätsbildung, vollzogen. Die enge Verbindung zwischen Natur und Sittlichkeit, unter deren Voraussetzung Hegel seine Theorie des Geistes artikuliert, bildet daher die Grundbestimmung der vorliegenden immanenten Rekonstruktion des hegelschen Arguments für den Zusammenhang zwischen Subjektivitäts- und Sittlichkeitstheorie. Es ist also an dem Punkt, wo Hegel den Übergang von Natur zum Geist artikuliert, dass er die Grundlagen für das Verständnis seiner Sittlichkeitstheorie offen legt. In der Literatur über das Verhältnis zwischen Natur und Geist bei Hegel wird oft die Idee eines umfassenden Zusammenhanges in der gesamten Struktur von Hegels System behauptet, wobei entweder eine metaphysische Lesart befolgt oder – wie in letzter Zeit zu sehen ist – der Versuch

15 In Bezug auf Interpretationen Hegels habe ich die bis John Dewey zurückreichende Tradition vor Augen, die sich jüngst bei McDowell wiederfindet. So nennt etwa Michael Quante McDowells Auffassung einen „Naturalismus der zweiten Natur“ (Quante 2009:55). In diese Richtung geht auch Habermas 2005. Zum Begriff der zweiten Natur vgl. auch Testa 2008 und Peperzak 1995. 16 So bezeichnet Allen Wood Hegels Ansatz als einen „historicized naturalism“ (Wood 1990, insb. Kap. 1).

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unternommen wird, Hegel in die Debatte des Naturalismus einzupassen,17 und das auch in Bezug auf die systematische Frage danach, wie Hegel den Übergang von Natur zum Geist oder die strukturelle bzw. konzeptionelle Rolle des Geistes als Voraussetzung der Natur auffasst. Im Unterschied dazu besteht die hier verfolgte Absicht darin, das Verhältnis zwischen Natur und Geist eher indirekt zu untersuchen, um spezifische Fragen von Hegels Sittlichkeitstheorie zu diskutieren. Dabei wird den Schritten von Hegels Argument gefolgt, um die Rolle der Natur für das an der Sittlichkeitssphäre partizipierende Subjekt zu explizieren. Auf dieser ersten Stufe bezieht sich die Rekonstruktion nicht auf den gesamten Zusammenhang zwischen Natur und Geist, sondern auf das, was Hegel als „subjektiven Geist“ bezeichnet. Auf einer ersten Stufe ist daher zu zeigen, wie die Natur durch die ontogenetische Entstehung der Subjektivität charakterisiert ist. Auch wenn ein ausführlicher Kommentar zur naturalistischen Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie wichtig wäre, ist die in den letzten Jahren steigende Tendenz zu einer solchen Interpretationsvariante zu umfassend, um hier einen befriedigenden Überblick geben zu können. So sind etwa die von John McDowell vorgelegten Arbeiten zu den Begriffen von Bildung und zweiter Natur und seine Unterscheidung zwischen „realm of law“ und „realm of nature“18 sehr erhellend. Als besonders fruchtbar erweist sich auch die Tendenz zu einer pragmatistischen Aneignung Hegels, die zuerst besonders im englischsprachigen Raum zu sehen war, so etwa das erst vor kurzem erschienene Philosophy of Spirit von John Dewey, dessen Vorlesungen über Hegel schon die Vorzeichen der folgenden naturalistischen Interpretation Hegels aufweisen.19 Die an diese Richtung anknüpfenden pragmatistischen Ansätze20 haben in den letzten Jahren auch besondere Beachtung im Rahmen von Hegel-Interpretationen gefunden; so beispielsweise von Brandom im Anschluss an Sellars’ „social space of reasons“, womit ein sprachlich und sozial vermittelter Raum der Gründe bezeichnet wird, der in Hegels Ideen immer wieder eine hilfreiche Inspirationsquelle gefunden hat.21 Für eine naturalistische Übersetzung von Hegels Sittlichkeitstheorie wäre die Auseinandersetzung mit empirischen Ressourcen zweifellos von großer Bedeutung. Besonders produktiv wären dafür etwa psychoanalytisch ausgerichtete Theorien über den Subjektivierungsprozess oder ein Beitrag neuerer Unter17 Vgl. etwa Pinkard 2012; Pippin 2005; McDowell 1994, 1998. 18 Vgl. McDowell 1994, 1998; zu Diskussionen vgl. Halbig 2006; Honneth 2000c. 19 Vgl. Shook/Good/James/Dewey 2010. 20 Zu einem Überblick hierzu vgl. Bernstein 2010. 21 Brandom 1994, 1995, 1999.

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suchungen aus den Neurowissenschaften, um Hegels spekulative Überlegungen in ihrer Relevanz auf eine aktuelle Debatte zu übertragen. Hegel selbst war wohl ein großer Anhänger empirischer Studien und hat immer wieder auf die zu seiner Zeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse verwiesen, was zum Beispiel in der enzyklopädischen Anthropologie häufiger der Fall ist. Eine breitere Auseinandersetzung mit solchen Resultaten empirischer Erhebungen ginge jedoch über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus. Statt also eine empirisch begründete Aktualisierung von Hegels ursprünglicher Auffassung vorzunehmen, besteht der hier ausgeführte Vorschlag darin, Hegels Intuitionen in Hinblick auf den aktuellen Stand der politisch-philosophischen Debatte erneut zu untersuchen. Wenn also unsere Strategie einerseits auf die Vorteile einer empirischen Begründung verzichten muss, könnte andererseits die begriffliche Intuitionen Hegels ein neues Licht auf die empirisch informierten Ansätze werfen; denn auch wenn ein Großteil des empirischen Erkenntnisstands Hegels inzwischen obsolet ist, bleibt sein theoretischer Rahmen immer noch produktiv. Daher erscheint eine begriffliche Auffassung von Hegels Anthropologie von erstaunlicher Aktualität zu sein, so dass die Interpretation des Hegelschen Ansatzes im Lichte neuer Ergebnisse der empirischen Forschung diesen nicht veralten lässt. Dass philosophische Intuitionen – wie die hier von Hegel verfolgten – immer noch von Aktualität sein können, stellt den Anstoß dafür dar, sein philosophisches Programm immer wieder zu interpretieren und neu zu entdecken. Als Hintergrund der hier diskutierten Aspekte lässt sich innerhalb der aktuellen Debatte eine steigende Tendenz zur Erörterung von Affekten und Institutionen erkennen. So wurden der Umgang mit Begriffen wie Liebe und Fürsorge etwa innerhalb feministischer Theorien zu einem Beispiel für den Revisionsbedarf der vorherrschenden Ausdeutung von Begriffen wie Vernunft und Rationalität in der politischen Philosophie.22 So hat jüngst zum Beispiel auch Martha Nussbaum die Richtung versucht, die affektive Dimension sozialer Verhältnissen –unter dem der Begriff der „Liebe“ - für eine Gerechtigkeitstheorie fruchtbar zu machen.23 Zudem finden sich in Hinblick auf phänomenologisch orientierte Theorien innerhalb der jüngsten Literatur die Ideen von emotionaler Intentionalität und Weltbezug, welche sich als Alternativen zum Rationalitätsbe-

22 Eine solche Tendenz kann man etwa in der Disziplin einer „Ethics of care“ sehen (Gilligan 1998; Tronto 1994; Slote 2007). Die an Hume anschließende Debatte um die Gefühlsethik scheint auch in eine mögliche Richtung zu deuten, wie es jüngst bei Prinz 2008 herausgestellt wurde. 23 So etwa Nussbaum 1990, 2001 und 2013.

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griff zeigen.24 Solche Ansätze bilden den Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen theoretischen Wiederaufnahme von Hegels Verflechtung zwischen menschlicher Natur und Sittlichkeitstheorie.25 Während aber diese Forschungsansätze nicht direkt an Hegel anschließen, hat Axel Honneth eine Position entwickelt, die nicht nur die kommunikative und rational-orientierte, sondern auch die affektive Dimension sozialer Verhältnisse hervorhebt: Mit den Elementen eines an Hegel anschließenden anerkennungstheoretischen Modells bilden Liebe, Ehre und soziale Wertschätzung eine in gewisser Weise auch affektive, von differenzierten Selbstgefühlen geprägte notwendige Stufe der Selbstkonstitution. So unternimmt Honneth jüngst den Versuch, eine an diesen anerkennungstheoretischen Ansatz anschließende Gerechtigkeitstheorie zu skizzieren.26 Diese von Axel Honneth entwickelte Typologie von intersubjektiven Anerkennungsverhältnissen und ihren sozialtheoretischen Konsequenzen macht insbesondere eine Inspirationsquelle für die in der vorliegenden Arbeit dargestellten Überlegungen aus, worauf an mehreren Stellen in Honneths Hegel-Interpretation hingewiesen wird. Während das Anerkennungsmodell jedoch die Stufen der Identitätsbildung beschreibt, werde ich in einer inversen Bewegung diskutieren, wie sich eine institutionell vermittelte subjektive Willensbildung rechtfertigen lässt: Es geht darum, die Stufen der Formierung eines dezentrierten Willens, die mit einem „sittlichen“ Inhalt ausgefüllten subjektiven Neigungen, Gefühle und Leidenschaften im Anschluss an Hegel zu rekonstruieren. Nun ist die von unserer Untersuchung verfolgte Grundfrage nicht die nach den Subjektivitätsbedingungen, sondern eher die, wie mit diesem konzeptuellen Schema vor Augen eine weitere Stufe hinaufzugehen ist, und zwar in Hinsicht darauf, die Auffassung eines mit der menschlichen Natur vermittelten Bildungsprozesses herauszudestillieren, der die Begierden, Neigungen und Leidenschaften zu einem sittlichen Inhalt herausbilden kann – die „Bildung“ als „Glättung der Besonderheit“ (VII, §187, Z.). Die Idee einer Natur der Sitt24 Zu dieser Position vgl. den Sammelband Andermann (Hg.) 2011. 25 Für eine deutschsprachige Diskussion vgl. etwa den Band Halbig/Quante/Siep (Hg.) 2004 sowie Quante 2011. 26 Honneth 2011. In dieser jüngsten systematischen Arbeit widmet sich Honneth der Aufgabe, ein umfassenderes institutionalisiertes Modell der Etablierung von Anerkennungsverhältnissen herauszuarbeiten. Anders als in seinem früheren Buch Kampf um Anerkennung geht es hier nicht um die Betonung der verschiedenen notwendigen Stufen der Identitätsbildung, sondern um die Erläuterung dessen, wie die modernen Institutionen diese Anerkennungsverhältnisse verkörpern und sicherstellen können.

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lichkeit lässt sich insofern vor allem als ein Prozess der Versittlichung der Natur verstehen bzw. als das, was Hegel „vergeistigte Naturverhältnisse“ (XIV, 183) nennt. Deshalb soll versucht werden, Grundzüge einer an Hegel anschließenden Formulierung der Rolle der Leidenschaften und Gefühle für eine Theorie der Institutionen darzulegen. Es ist daher zu untersuchen, wie jede Sittlichkeitssphäre als „Versittlichung“ der Triebe zu verstehen ist, ausgehend von der Grundidee, dass jede Dimension der Sittlichkeit Natur und Vernunft vermittelt. Ich will nun dem Denkweg folgen, dass Hegel einen deflationierten normativen Gehalt in derjenigen Vorstellung sieht, dass die Stufen der Willensbildung – wie auch bei Leidenschaften und Interessen – als „vernünftig“ und „frei“ verstanden werden können, wenn sie sich an einem sittlichen, dezentrierten (in Hegels Terminologie: einem „allgemeinen“) Inhalt orientieren. Und dieser Gedanke stellt auch den Schlüssel für eine „minimale“ moralische Evaluierung des Willensinhaltes dar, nämlich diejenigen Kriterien, die es dem Willen ermöglichen, sich einen „sittlichen“ Inhalt anzueignen. Insofern Triebe, Leidenschaften und Interessen einen dezentrierten, in sozialen Erfahrungen befindlichen „allgemeinen“ Inhalt verkörpern, lassen sie sich als „vernünftig“ bezeichnen. Mit derselben Idee lassen sich normative Kriterien für die Bildungsrolle der Institutionen erwägen. Es geht in dieser Arbeit darum, die Verflechtung von Gefühlen, Handlungen und Institutionen in der Rekonstruktion des von Hegel diagnostizierten Zusammenhangs zwischen subjektivem und objektivem Geist darzustellen. Innerhalb einer geteilten Semantik, von geteilten Werten, Gewohnheiten, geteilter Sprache und Gesten, intersubjektiven Verhältnissen, Institutionen, der Öffentlichkeit und der Medien werden zunächst Neigungen, Begierden, Gefühle und Affekte sowie später Interessen und Präferenzen herausgebildet. Hegel betrachtet diese Verflechtung eines immanenten Bildungsprozesses für die Entstehung einer subjektiven Struktur als von der Sphäre des „objektiven“ Geistes untrennbar. Damit ergibt sich ein Zusammenhang zwischen dem kognitiven Inhalt eines Gefühls und seinem sozialen Kontext, insofern letzterer sowohl von einer subjektiven als auch von einer objektiven, sozialen bzw. kulturellen Dimension geprägt ist. Mit dieser komplexen Verflechtung von individuellen Präferenzen und sozialen Erwartungen und Normen, worauf die subjektiven und objektiven Facetten von Hegels Begriff des Geistes hinweisen, wird die Rolle der Institutionen entscheidend: Wenn der freie und autonome Wille nicht als permanentes Ziel, sondern als Ausgangspunkt gesetzt wird, verliert man diese ausgeprägte wechselseitige Einwirkung von sozialen Sphären und individuellen Präferenzen aufeinander. Während nach Hegels anthropologischen Prämissen der Subjektivie-

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rungsprozess stets von der „ersten“ Natur geprägt ist, enthält die hier verfolgte Auffassung auf einer zweiten Stufe – die in Richtung einer Handlungstheorie weist – die Annahme, dass das Individuum in seiner Teilnahme an der sozialen Sphäre nicht nur vernünftig handelt; denn sowohl die affektiven Bindungen als auch die komplexen Interessen im Verhältnis zum Staat und bei der Teilnahme an der Öffentlichkeit sind leidenschaftlich und von diffusen Gefühlen geprägt. Diesen Überlegungen folgt die vorliegende Arbeit in drei Schritten. Im ersten Teil werden die in Hegels Frankfurter Schriften angelegten Wurzeln seines späteren Programms rekonstruiert. Dabei wird gezeigt, dass Hegel schon in diesen Schriften einerseits die grundlegende Rolle der menschlichen Natur mittels der noch etwas diffusen Begriffen der Neigung und des Triebs skizziert hat, und sich andererseits hier erkennen lässt, dass weder positive noch moralische Gebote in der Lage sind, einen nicht entfremdenden und nicht unterwerfenden Willensbildung zu ermöglichen. Es wird auch darauf hingedeutet, wie die Liebe in diesem Kontext die Grundfigur der Versöhnung zwischen Gesetz und Neigung nach Hegel darstellen soll. Auf Basis dieser vorbereitenden Interpretation der Grundmotive Hegels hinsichtlich der Verflechtung von menschlicher Natur und Sittlichkeit widmet sich der zweite Teil Hegels Philosophie des subjektiven Geistes – und hier vor allem seiner ontogenetischen und anthropologischen Darstellung. Dieser Teil strebt an, eine immanente Begründung für seine Sittlichkeitstheorie zu liefern, und zwar mit dem Versuch, Hegels logische Prämissen zu ergänzen und damit sein internes philosophisches Projekt einer „naturalistischen“ Auseinandersetzung zu verfolgen. Mit dieser argumentativen Strategie wird die Absicht verfolgt, die Struktur von Hegels Auffassung der menschlichen Natur darzustellen. Damit wird eine Interpretation verteidigt, der zufolge Hegels ontogenetische Narrative von der leitenden Annahme geprägt sind, dass sich der Subjektivierungsprozess einerseits durch die Formen der Triebe, der Begierden und der Neigungen als ein allmählicher Prozess der Aufhebung einer zuerst selbstzentrierten Willkür zu einem dezentrierten freien Willen verstehen lässt, worin andererseits die „sittlichen“ subjektiven Leidenschaften und Interessen erst verwirklicht werden. Es ist mit dieser Charakterisierung, wodurch die Perspektive auf das aufgezeigt werden soll, was Hegel als Verfehlungen in diesem Subjektivierungsprozess versteht. Um den Verlauf möglicher Fehlentwicklungen im Prozess der Willenskonstitution zu klären, werden drei von Hegel dargestellte, paradigmatische Beispiele für die Radikalisierung der selbstsüchtigen Perspektive vorgestellt. Sowohl das „Pathos“ der Selbstsüchtigkeit, bei dem ein Subjekt sein Streben nach Ehre an einen willkürlichen, rein zufälligen Inhalt bindet, der

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„Fanatismus“, besser verstanden als leidenschaftliche Entgegensetzung von Subjektivität gegen alle rational begründeten Einrichtungen, wie auch die „Verrücktheit“ als krankhaftes Verbleiben im eigenen Selbstgefühl werden nach demselben Muster der „Radikalisierung eines selbstzentrierten Willens" aufgefasst. In diesen drei Beispielen einer Distanzierung von den sittlichen Sphären scheitert die Subjektivitätsbildung, der Erfahrungsprozess von Perspektiverweiterung einerseits und Kraft selbstständiger Individualität andererseits misslingt. Im dritten, systematischen Teil wird versucht, diejenigen Konsequenzen für eine Theorie der Institutionen zu ziehen, die durch die Rekonstruktion der Hegelschen Theorie des subjektiven Geistes im vorigen Teil zum Vorschein kam. Als zentrale Einsicht von Hegels Theorie einer vernünftigen Staatsordnung wird in Fortführung der zu Beginn erläuterten Strategie einer Versöhnung von Natur und Vernunft dargelegt, dass alle sittlichen Sphären der Forderung zu genügen haben, grundlegende Affekte der Menschen durch interne Bildungsprozesse jeweils zu versittlichen bzw. zu dezentrieren und mit Hilfe von institutionell auf Dauer gestellten Praktiken der Wechselseitigkeit auf vernünftige Weise zu befriedigen. Die sittlichen Institutionen werden hier demnach als Handlungssphären aufgefasst, die gleichzeitig die Aufgabe einer Sozialisierung von zunächst nur egozentrischen Neigungen und der institutionellen Verstetigung der daraus entstehenden Einstellungen zu leisten haben. Zum Schluss wird auch auf drei indirekte Konsequenzen der hier dargestellten Aspekte des Hegelschen Ansatzes hingewiesen, und zwar in Hinblick auf die Ausdehnung demokratischer Partizipation, auf die Verteidigung emanzipatorischen Willensbildung gegenüber paternalistischen Vorstellungen vom Staat und die Forderung danach, den Raum der Kritisierbarkeit offen zu lassen. Mit den in dieser Arbeit dargestellten systematischen Schritten wird insgesamt der Leitgedanke verfolgt, dass der Prozess politischer Integration für Hegel nicht nur mit dem Modell eines vernünftigen Subjektes verbunden ist, sondern auch mit einer anthropologischen Gestalt, welche sich nur unter Berücksichtigung von Hegels Darstellung der menschlichen Natur im Rahmen seiner Sittlichkeitstheorie verstehen lässt. Insofern nur die kognitiv-rationalen Kräfte überhaupt in Rechnung zu stellen für die politische Philosophie als verkürzt und falsch verstanden wird, ist zugleich die Frage zu stellen, wie die Institutionen auch die Naturdimension angemessen berücksichtigen können. So ist in dieser Arbeit das Verhältnis zwischen Natur und Institutionen auf zwei Weisen zu betrachten: Eine erste, deskriptive Weise bezieht sich auf die Rolle der Gefühle und Affekte innerhalb der Institutionen. Eine zweite, normative Perspektive bezieht sich auf die Frage, was diese Verständnisweise für eine Theorie der

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Institutionen beitragen kann, wenn sie sich nicht nur auf vernünftige, kalkulierende Subjekte bezieht, sondern auch auf deren Natur – also auf Triebe, Neigungen und Leidenschaften. Insofern lässt sich zeigen, dass Hegels Sittlichkeitstheorie nicht nur eine historische und immanente Sozialontologie darstellt, sondern auch ein Resultat seiner Kritik an verfälschten Formen von sozial orientierten Gefühlen ist.

Erster Teil

Natur und Gesetz: Die Wurzeln von Hegels Sittlichkeitstheorie

1. Von der Liebe zur Sittlichkeit Zur Ergänzung des Gesetzes in Hegels Frankfurter Schriften

Die Frage danach, was „Autonomie“ bedeutet, war der zentrale Ausgangspunkt für den berühmten Freundeskreis am Tübinger Stift ‒ zu dem Hegel und seine Kommilitonen Hölderlin und Schelling gehörten ‒, der den Spuren der Kantischen Moralphilosophie gefolgt ist. Für die Formulierung seiner Kritik an dem im Tübinger Stift vorherrschenden religiösen Dogmatismus – der in diesem Kontext als „positive“ Religion bezeichnet wurde – ergab sich aus der Lektüre Kants eine faszinierende neue Orientierung: Gegenüber dem mit dem religiösen Dogmatismus assoziierten positiven Gebot wurde damit ein von dem Subjekt sich selbst gegebenes moralisches Gesetz verteidigt. Obwohl Hegels Interpretation der positiven Religion jedoch erst durch seine Rezeption von Kant in der Zeit in Tübingen und danach in Bern ermöglicht wurde – und schon hier stellte die Idee der Autonomie gegenüber der Heteronomie des positiven Gesetzes das Ziel dar ‒, formulierte Hegel erst während seines Aufenthalts in Frankfurt am Main seine Kritik an dem seiner Meinung nach noch nicht überzeugenden Autonomiebegriff Kants. Hegels Interpretation dieses Begriffs stellt also eine Antwort auf die Kritik der Grenzen der positiven Religion dar, die er in den vorangegangenen Jahren bereits mit Schelling und Hölderlin geteilt hatte. Wegen dieser kritischen Aneignung der von Kant inspirierten Verbindung von moralischem Gesetz und Autonomie markieren Hegels Frankfurter Schriften einen bahnbrechenden Schritt in der Entwicklung seines Denkweges: Einerseits handelt es sich um eine entscheidende Phase für Hegels Kritik an Kant und an-

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dererseits um die Entstehung seines eigenen philosophischen Programms, dessen Themen hier ihre Grundlinien erhalten.1 Insbesondere durch Schiller und Hölderlin beeinflusst,2 bestehen Hegels Reflexionen in der Frankfurter Zeit überwiegend in seiner Suche nach einem „lebendigen“ moralischen Begriff, der sich weder als ein positives Gesetz versteht noch sich auf eine Unterwerfung gegenüber einem innerlichen Imperativ reduzieren lässt. Der Kern dieser Kritik befindet sich – zusammen mit einer kleinen Skizze von 1797 und 1798 mit dem Namen „Entwürfe über Religion und Liebe“ – in einem langen Fragment des von dem Herausgeber so bezeichneten Textes Der Geist des Christentums und sein Schicksal.3 Darin gibt es zwei Grundthemen: Auch wenn Hegel – hier schon mit geschichtsphilosophischen Prämissen ausgestattet ‒ die paradigmatischen Fälle eines „heteronomen“ und eines „lebendigen“ Gesetzes jeweils mit dem Judentum und dem Christentum assoziierte, war es für seine späteren Überlegungen entscheidend, wie er mit dieser Rekonstruktion das Problem des Gesetzes und damit seine Kritik an der kantischen Moralphilosophie entwickelt hat. Insofern besteht eine 1

Häufig wird in der Literatur die Jenaer Zeit als eine entscheidende Phase für die Entwicklung (oder einen bestimmten Abbruch) von Hegels Denkweg dargestellt. So etwa bei Habermas 1968, Siep 1979, Honneth 1994. Als alternative Interpretation wird im Folgenden die schon in der Frankfurter Zeit etwas klarere Darstellung von Hegels grundlegenden Fragestellungen rekonstruiert, die er einige Jahre danach in Jena entwickelt hatte. Für diese Rekonstruktion sind die folgenden Kommentare besonders instruktiv, da sie einen Überblick und eine Verortung der Frankfurter Schriften im Kontext der Entwicklung des junges Hegel liefern: Bondeli 1997; Pöggeler 1982; Lukács 1973; Henrich 2010; Peperzak 1969.

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Verschiedene Aspekte von Hegels Kritik findet man schon bei Schiller, besonders in Anmut und Würde und in den „Briefen“ Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Zu der für Hegel einflussreichen Begegnung mit Hölderlin in Frankfurt vgl. Henrich 2010.

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I, 239-254;274-418. Zuerst von Nohl herausgegeben, in: Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907. Zur spezifischen Diskussion der hier ausgearbeiteten Aspekte vgl. Bernstein 2003; E. und K. Düsing 2004; Kotkavirta 2004. Während der Text von Bernstein eine interessante Charakterisierung von Hegels Kritik an Kant enthält, beinhaltet der Text von E. und K. Düsing eine klare Zusammenfassung von Hegels Text. Kotkavirtas Text widmet sich einer Annäherung der Hegelschen Perspektive und der Paul Ricœurs. Im Unterschied zu diesen Texten wird in diesem Kapitel die Artikulation von Natur und Normativität in den Frankfurter Schriften von Hegel rekonstruiert, um den grundbegrifflichen Rahmen einer sozialen Theorie zu gewinnen.

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erste, direkte Lektüre des Hegelschen Christentums-Aufsatzes in einer Entwicklung der Rolle des Gesetzes in einer geschichtlichen Rekonstruktion der christlich-jüdischen Tradition. Eine zweite, alternative Interpretation dieses Textes zeigt, welche Verbindung zwischen Gesetz und Moralität in dem eher konzeptuellen Rahmen besteht, mit dem Hegel seine Kritik an Kant skizziert. Nach dieser zweiten Lektüre lassen sich im Text auch die Spuren einer „dialektischen“ Spannung zwischen Natur und Naturbeherrschung finden, welcher die Wurzeln für seine spätere Sittlichkeitstheorie bildet.4 Den roten Faden von Hegels Überlegungen – so möchte ich vorschlagen ‒ bildet das gespannte Verhältnis zwischen Gesetz und Subjektivität: Das Gesetz soll individuell angeeignet werden, so dass das Subjekt seine Autonomie darin ausdrücken kann. Einerseits muss das Subjekt also als Autor des Gesetzes gelten und andererseits muss das Subjekt seine Autonomie schon voraussetzen, damit es sich sein eigenes Gesetz geben, es sich aneignen kann – was in der jüngsten Hegelforschung „Paradox der Autonomie“ genannt wird.5 Hegel muss in Auseinandersetzung mit Kant untersuchen, was für ein Gesetz zugleich von außen angeeignet werden (um den Preis eines nur heteronomen Verhältnisses zum Gesetz) und sich selbst gegeben werden kann. Was soll es also bedeuten, dass ein Gesetz angeeignet und gleichzeitig selbst gegeben, selbst gewählt wird? Um sich ein Gesetz nicht nur anzueignen, muss das Subjekt sich schon vorher als ein autonomer Gesetzgeber erwiesen haben, als legitimer Beherrscher seines eigenen Gesetzes. Es müsste also schon autonom sein, um autonom werden zu können. Eine solche ursprüngliche Autonomie jedoch ist Hegel zufolge fiktiv. Es geht zuerst nicht um die Frage, ob das Gesetz als heteronom oder autonom zu denken ist, sondern darum, wie sich das Subjekt den moralischen Standpunkt nicht nur durch ein Gesetz überhaupt assumiert. Hegels Kritik an den Grenzen des Kantischen Gesetzesbegriffs begründet sich insofern in zwei Grundmotiven seiner Philosophie: erstens anhand der Entfremdung vom Gesetz und zweitens anhand der Metapher von Herrschaft und Knechtschaft. Die Hauptidee Hegels besteht darin, dass das Gesetz nur auf Kosten eines entfremdenden und autoritären Verhältnisses zur Natur durchgesetzt werden kann. In seiner ersten Reflexion hierüber in Frankfurt erklärt Hegel: „[W]as man gewöhnlich positiv nennt, ist von der Beschaffenheit, daß es nicht eine reflektierte Tätigkeit unserer selbst ist, sondern etwas Objektives und 4

Zum Zusammenhang zwischen dieser besonders in der Dialektik der Aufklärung behandelten Frage und Hegels Ansatz vgl. Jamme 1990. Ein anderer Interpretationsvorschlag zum Gesetzesbegriff in Der Geist des Christentums findet sich bei Hamacher 1978.

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Vgl. Pinkard 2002, Pippin 2008, Khurana/Menke (Hg.) 2011, Menke 2010.

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diesen Charakter nie ablegen kann“ (I, 240). Während bei der positiven Religion der moralische Begriff also nicht durch Reflexion vermittelt ist und deswegen nur als äußerlicher und gegebener Begriff gilt, setzt die Moralität dagegen eine Ich-Tätigkeit voraus. Dennoch, im Unterschied zum entfremdenden Gesetz der positiven Religion, in der das Subjektive in „Objektives“ verkehrt wird und dadurch keine reflektierte Instanz darstellt, findet Hegel in Kants Moralphilosophie ein anderes Problem. Nach Hegels Auffassung – wie auch bei Schiller6 – enthält die Moralität eine Unterwerfung des Individuums unter ein allgemeines Prinzip und damit die Fortwirkung eines Fremden. Hegel spielt in diesem Zuge auf die Dialektik von Herr und Knecht an (in diesem Kontext auch als „Sklaven“ und „Tyrannen“7 bezeichnet), die einen moralischen Konflikt aufzeigt: Auch wenn die Moralität die Herrschaft der positiven Gebote beseitigt, stellt sie nur teilweise eine Aufhebung des Fremden dar. Die Herrschaft durch ein heteronomes Gesetz wird damit nicht aufgelöst, sondern durch das moralische Gebot nur in das Innere des Menschen verschoben; insofern wird jetzt die äußerliche Entfremdung als eine innerliche angesehen. Der Unterschied zwischen dem Gehorsam gegenüber einem Gebot und einer moralischen Pflicht besteht also darin, dass „jener den Herrn außer sich, dieser aber den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eigener Knecht ist“ (I, 323). Und insofern das Gesetz ein fremdes bleibt, scheitert die Versöhnung mit dem „Leben“: „Moralität“, schreibt Hegel, „[ist] Angemessenheit, Vereinigung mit dem Gesetz des Lebens; ist dieses Gesetz aber nicht Gesetz des Lebens, sondern selbst ein fremdes, so ist die höchste Trennung“ (I, 300). Es ist die Darstellung einer mit dem Leben versöhnten Moralität, die Hegel in diesen Schriften verfolgt: eine allgemeine, die nicht im Kontrast zu einer Besonderheit steht und deren Einheit miteinander sich als „Gesetz des Lebens“ verstehen lässt - worauf wir gleich noch zurückkommen werden. Hegel ist skeptisch bezüglich der kantischen Lösung für das Problem der positiven Gebote in Gestalt einer „Achtung für ein Gesetz“, insofern diese immer eine entfremdete Beziehung – wenn auch eine „innerliche“ – bleiben würde. Entfremdung heißt also jede Unterwerfung unter einen Gegensatz, sei es 6

Schon in Schillers Anmut und Würde und in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen wird die Opposition zwischen Vernunft und Empfindung kritisiert.

7

„In objektiven Menschen ist er [...] der Macht entgegengesetzt, die ihn beherrscht, und er insofern leidend; sofern er tätig ist, verhält er sich ebenso, es ist ihm ein Leidendes gegenüber; er ist immer Sklave gegen einen Tyrannen und zugleich Tyrann gegen Sklaven“ (I, 302).

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außerhalb oder innerhalb des Subjektes. „In der Kantischen Tugend“ – behauptet Hegel – „[bleibt] diese Entgegensetzung und [wird] das eine zum Herrschenden, das andere zum Beherrschten“ (I, 326). Moralität erscheint also als eine formelle Allgemeinheit, in der die Individuen sich nicht ausdrücken können und „wo einem Wesen von einem Dritten Gewalt geschieht“ (I, 303): „Die Allgemeinheit“, so Hegel weiter, „ist eine tote, denn sie ist dem Einzelnen entgegengesetzt, und Leben ist Vereinigung beider, - Moralität ist Abhängigkeit von mir selbst, Entzweiung in sich selbst“ (I, 303). Dass Hegel Moralität als „Entzweiung“ bezeichnet, ist Konsequenz der Grenzen des moralischen Gesetzes als ein mit dem Besonderen nicht zu versöhnendes Allgemeines; er schließt daher mit einem Vergleich zwischen „Moralgesetz“ und „rein positivem Gebot“: „Das Moralgesetz hebt zugleich die rein positiven Gebote auf, indem sie kein Gesetz anerkennt als ihr eigenes; aber inkonsequent darin, indem es doch nicht bloß ein Bestimmendes, sondern Bestimmbares ist; also immer noch unter einer fremden Macht steht“ (I, 304). Folglich fasst Hegel seine Kritik an der Kantischen Auffassung der „Achtung für ein moralisches Gesetz“ zusammen: „Kants praktische Vernunft ist das Vermögen der Allgemeinheit, d. h. das Vermögen auszuschließen; die Triebfeder Achtung; dies Ausgeschlossene in Furcht unterjocht eine Desorganisation, das Ausschließen eines noch Vereinigten; das Ausgeschlossene ist nicht ein Aufgehobenes, sondern ein Getrenntes noch Bestehendes. Das Gebot ist zwar subjektiv, ein Gesetz des Menschen, aber ein Gesetz, das anderen in ihm Vorhandenen widerspricht, ein Gesetz, das herrscht, es gebietet nur, die Achtung treibt zur Handlung, aber Achtung ist das Gegenteil des Prinzips, dem die Handlung gemäß ist; das Prinzip ist Allgemeinheit; Achtung ist dies nicht; die Gebote sind für die Achtung immer ein Gegebenes.“ (I, 301)

In Hegels Terminologie ist das von dem moralischen Gesetz ausgedrückte „Allgemeine“ gegenüber dem „Besonderen“ stets ein nicht zu versöhnendes Element, so dass die in den moralischen Geboten ausgedrückte Pflicht dem Subjekt fremd bleibt. Hegels Kritik an der „Achtung für ein Gesetz“ besteht darin, das ein Gesetz sich nur als Beherrschendes, Allgemeines zeigt. Achtung sollte sich aber nicht auf ein Allgemeines beziehen, sondern vielmehr auf eine mit dem Besonderen versöhnte Handlung. In Hegels Augen war nämlich die kantische Lösung dafür, was die Annahme eines moralischen Gehaltes vermitteln könnte, problematisch: Auch in den isolierten Fällen, in denen es entwickelten Formen der Moralität gelungen ist, eine Rechtfertigung für die Befolgung der Gesetze zu liefern, ist dieses Befolgen letztlich doch nur eine Unter-

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werfung gewesen, die damit den heteronomen Charakter des Gesetzes beibehalten hat. Aufgrund dieser ständigen Unterwerfung unter die „fremde Macht“ muss Hegel erklären, was ein „Gesetz des Lebens“ als Alternative hierzu bedeutet. In Frage steht zunächst, wie die Moralität nicht als ein innerliches Gesetz erscheinen, sondern einen mit dem Leben versöhnten Charakter annehmen kann. Weil das Verhältnis zu dem Gesetz nicht die Form der „Achtung“ annehmen sollte, muss das Allgemeine das Subjektive, das Besondere selbst verkörpern, was Hegel als die Natur der Subjektivität selbst ansieht. Im Rahmen dieser Fragestellung findet man die ersten, rudimentären Figuren des freien Willens, die unter dem in dem Christentum-Aufsatz genannten Gegensatz zwischen Gesetz und Neigungen vorkommen: Der Zusammenhang zwischen dem moralischen Gesetz und den Neigungen, wie Hegel ihn sieht, sei ein von der kantischen Moralphilosophie vernachlässigtes Problem, insofern eine „Achtung für ein moralisches Gesetz“ – und damit auch die Idee der Autonomie und der Freiheit – nur durch eine Vernichtung der Neigungen zu erreichen sei.8 Diese Vorstellung besteht darin, dass das Allgemeine nicht der in der Subjektivität erschlossenen Natur entgegensetzt ist, sondern in einem allmählichen Prozess innerhalb der Neigungen auszuführen ist. Diese zentrale Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem wird in einer wichtigen Passage so erklärt:

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So etwa findet sich bei Kant folgende Passage: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. [...] Nur das, was bloß als Grund, niemals aber als Wirkung mit meinem Willen verknüpft ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern sie überwiegt, wenigstens diese von deren Überschlage bei der Wahl ganz ausschließt, mithin das bloße Gesetz für sich, kann ein Gegenstand der Achtung und hiermit ein Gebot sein. Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede, Erster Abschnitt). Für unsere Absicht interessiert hier nicht, Kants Ansatz in seinen Einzelheiten zu diskutieren, sondern eher, die Kritik Hegels an Kants Auffassung, um den Zusammenhang von Moralgesetz und Neigungen näher zu betrachten. Freilich ist es sehr umstritten, inwiefern Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie stimmig ist oder nicht. Für unsere Absicht geht aber es vielmehr um die Frage, wie Hegel – durch die Entwicklung seiner Sittlichkeitstheorie – seine eigene Antwort gegenüber der Kantischen Auffassung der Moralität ausführt.

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„[F]ür das Besondere, Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt, ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch empörend wird, daß der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot erhält, eine bestimmte Pflicht, den Widerspruch eingeschränkt und allgemein zugleich zu sein enthält und um der Form der Allgemeinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätentionen macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriff der Pflicht sich finden, der, sowie er nicht bloß der leere Gedanke der Allgemeinheit ist, sondern in einer Handlung sich darstellen soll, alle anderen Beziehungen ausschließt oder beherrscht.“ (I, 323)

In diesem Abschnitt lässt sich bereits erkennen, dass die schon hier skizzierte logische Terminologie des Besonderen und Allgemeinen – die für Hegels spätere Schriften entscheidend wird – mit einem anderen Schema übersetzt wird. Es geht darum, wie dieses Allgemeine – welches bei Kant nur in der Pflicht zu finden ist – mit dem Besonderen („Triebe, Neigungen [...]“) „nicht als ein „Fremdes, ein Objektives“ verstehbar sein kann, womit auch die „menschlichen Beziehungen“ „wesentlich“ bleiben. Das moralische Gesetz besteht aus einer praktischen Einheit von Subjektivität und Objektivität, die aber in einer Entgegensetzung von Besonderem und Allgemeinem verweilt. Daher ist es, um ein dem Subjekt entfremdetes Verhältnis zum Gesetz vermeiden zu können, wesentlich, dass das „Allgemeine“ nicht nur die Form des „allgemeinen Pflichtgebots“ enthält, sondern auf der Ebene des „Besonderen“ selbst gebildet wird. Die logisch-ontologische Ebene, auf der sich Hegel bereits hier beginnt zu bewegen, weist das grundlegende Problem einer entzweiten Struktur von Neigungen und Gesetz auf. Es bleibt hier ein gewissermaßen „geometrisches“ Bild einer Nicht-Anpassung von Besonderem und Allgemeinem bestehen, die sich aber – wie wir noch im Weiteren sehen werden – gleichzeitig durch eine mit der menschlichen Natur zusammenhängenden Subjektivität übersetzen lässt. Im Frankfurter Kontext– wie anhand der oben zitierten Passage zu sehen ist – sieht Hegel die Aufhebung des Verhältnisses der Fremdheit in der Versöhnung zwischen Gesetz (als Allgemeinem) und subjektiven Trieben und Neigungen (dem Besonderen): Nur wenn das Allgemeine schon die Form des Lebens enthält, welche die „Triebe“, die „Neigungen“ oder etwa die „Sinnlichkeit“ mit einschließt, ist die Macht des Gesetzes nicht eine „beherrschende“ und wird der Bezug vom Subjekt zum Allgemeinen nicht als ein seine Natur entfremdender Prozess erschlossen. In diesem Sinn versucht Hegel, die Positivität des Gesetzes und der Moralität mit der menschlichen Natur zu ergänzen; denn nur durch die Einbeziehung

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von Neigungen ist Hegel zufolge die Knechtschaft durch ein fremdes, allgemeines Gesetz zu überwinden. Die damit vorgenommene konzeptuelle Reorientierung verfolgt also die Absicht, eine deontologische moralphilosophische Position im Sinne Kants durch den Nachweis einer intrinsischen Verbindung von Gesetz und Neigungen zu ersetzen, in der sich eine „praktische“ Subjektivität gerade durch ihre individuellen Neigungen – und eben nicht durch deren Verdrängung – entfalten kann. Nach seinem interpretativen Vorschlag unterscheidet Hegel zunächst „moralische“ und „bürgerliche“ Gebote: Auch wenn beide – im Unterschied zu den rein objektiven Geboten – subjektiv sind, also „in einer Tätigkeit des menschlichen Wesens, in einer seiner Kräfte“ begründet sind, beziehen sich die bürgerlichen Gebote auf eine äußere Grenze des legitimen Handelns. Die moralischen Gesetze dagegen haben die „Grenze der Entgegensetzung in einem Lebendigen“ (I, 321), so dass die Unterscheidung vom bürgerlichen zum moralischen Gesetz darin besteht, das Sollen des Gesetzes nicht wie das einer „fremde[n] Macht“ (I, 322) zu beachten, sondern als eine durch die Kraft der Vernunft internalisierte Pflicht.9 Hegel scheint hier erstmals zu spüren, was er später als die Unterscheidung zwischen abstraktem Recht und Moralität darstellen wird; denn hier geht es nicht mehr um die Kritik an den rein objektiven Geboten – nämlich denen der positiven Religion –, sondern an den rechtlichen Gesetzen.10 Nicht nur aber das positive, sondern auch das bürgerliche und moralische Gesetz sind begrenzt, weil sie sich nur durch Unterwerfung der subjektiven Triebe und Neigungen Geltung verschaffen. Sie sind also unfähig, natürliche Triebe und Neigungen einzuschließen. Stattdessen gewinnen sie ihre Kraft durch die Entfremdung des Subjekts, was die Beherrschung und die Knechtschaft der menschlichen Natur zur Folge hat. Und insofern das Gesetz - hier als das bür9

„Die Gesetze, wenn sie als bloß bürgerliche Gebote wirksam sind, sind positive, und weil sie ihrer Materie nach moralischen gleich sind, oder weil die Vereinigung Objektiver im Begriffe auch eine nichtobjektive voraussetzt oder eine solche werden kann, so wäre es die Aufhebung der Form bürgerlicher Gesetze, wenn sie zu moralischen gemacht [würden], wenn ihr Soll nicht der Befehl einer fremden Macht, sondern die Folge des eigenen Begriffs, Achtung für die Pflicht ist“ (I, 322).

10 Insofern wird Hegel später in seiner Rechtsphilosophie auf die Gefahr aufmerksam, von unvollständigen Freiheitsmodellen zu einer äußeren positiven Religion oder einer innerlichen zurückzukehren, da dabei die sittlichen Bedingungen der Freiheit nicht entfaltet werden: „Es kann daher die Sehnsucht nach einer Objektivität entstehen, in welcher der Mensch sich lieber zum Knechte und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt, um nur der Qual der Leerheit und der Negativität zu entgehen“ (VII, §141, Z.).

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gerlich Gebotene ‒ mit dem Subjekt vereinbar wird, verbindet sich das bürgerliche Gesetz mit dem durch die Vernunft ermöglichten „Vermögen [...] der Allgemeinheit“, wodurch sich seine „Objektivität, seine Positivität, Heteronomie verliert“ und in der „Autonomie des menschlichen Willens“ (I, 323) begründet wird. Diese „Autonomie des menschlichen Willens“ stellt das Thema der programmatischen Überlegungen Hegels dar. Er muss daher zeigen, wie eine volitive Struktur einen moralischen Gehalt annehmen kann, so dass diese nicht nur die Form eines zu unterwerfenden Allgemeinen behält, sondern einen Gehalt, welchen das Subjekt als autonom tatsächlich verkörpert. Es geht also nicht um ein äußeres moralisches Gesetz, welches sich das Ich entgegen seinen Neigungen und ausschließlich durch die Vernunft motiviert als eine Pflicht aneignen soll, sondern um einen mit der Besonderheit verbundenen moralischen Gehalt, welchen das Subjekt in seinen Neigungen verkörpert. Die Besonderheit des Willens, so will Hegel vor allem sagen, weist auf eine volitive Struktur hin, durch die das gesuchte „Gesetz des Lebens“ erschlossen wird. Die vorher zitierte Spannung zwischen „Pflichtgebot“ und „Sinnlichkeit“ – die auch Schiller kritisiert hatte – nimmt bei Hegel das Bild eines Zusammenhangs zwischen moralischem Gehalt und Willensbildung an, welches – wie wir sehen werden – den Kern der Verbindung zwischen Hegels Theorie des subjektiven und objektiven Geistes darstellt. Anhand dieser Überlegung lässt sich schon antizipieren, inwiefern seine Kritik am Gesetz auf einer weiteren Stufe auf die Spuren einer Theorie des „Geistes“ hindeuten wird: Während Hegel einerseits ein neues Verständnis von der Religion innerhalb einer Theorie des absoluten Geistes entwickelt – das sich nicht auf eine positive Religion reduzieren lässt, sondern von ihm im Gegenteil als Versöhnung mit der Subjektivität verstanden wird –, formuliert er andererseits die Grenzen des Gesetzes als Überwiegen des abstraktes Rechts um, als eine vereinseitigte Form der Freiheit. Diese semantische Prägung der von Hegel dargelegten Kategorien weist nicht nur auf den formellen Begriff von Gesetz und sozialen Verhältnissen hin, sondern auch auf einen organischen, an die Subjektivität gebundenen Sittlichkeitsbegriff. Gerade wegen des Umstandes, dass das Gesetz des Rechts sich mit einer autonomen Subjektivität nicht versöhnen lässt, wird Hegel nach anderen Schüsselkategorien für eine „geistige“, mit dem Leben zu vereinbarende Bedeutung von Freiheit suchen. Auf dieser Suche nach einer Idee von einem mit dem Leben versöhnten Gesetz und einer entsprechenden Konzeption von Autonomie diagnostiziert Hegel die Begrenztheit des objektiven Gebots, sei es als positives oder moralisches Gesetz. In Hinblick auf das Problem der von ihm selbst aufgezeigten Grenzen

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der kantischen Moralität, deren Vorzüge in Bezug auf das positive Gesetz er einige Jahre zuvor erkannt hatte, versucht Hegel in Frankfurt, seine eigene Antwort zu geben. Diese formuliert er, gemäß seiner damaligen Auffassung anhand einer Interpretation der Botschaft Jesu, in der dieselben Kritikpunkte an der Positivität des Gesetzes dargestellt werden. Auch hier lässt sich nach Hegels Auffassung eine „Verachtung gegen die Knechtschaft unter objektiven Geboten“ erkennen, wobei „mit der eigenen Knechtschaft [...] auch die Herrschaft [aufhört], die man durch die Idee der moralischen Gebote über andere ausübt“ (I, 309). Insofern setzt Jesus der Knechtschaft durch das Gebot einen neuen subjektiven Charakter des Gesetzes entgegen: „Dem Gebrauch des Händewaschens vor dem Brotessen setzt Jesus (Matth. 15, 2) die ganze Subjektivität des Menschen entgegen, und über die Knechtschaft gegen ein Gebotenes, [über die] Reinheit oder Unreinheit eines Objektes die Reinheit oder Unreinheit des Herzens. Er machte die unbestimmte Subjektivität, den Charakter zu einer ganz anderen Sphäre, die mit der pünktlichen Befolgung objektiver Gebote gar nichts gemein habe.“ (I, 320 f.)

Hier vertritt Hegel die Auffassung, dass die Gehorsamkeit gegenüber dem Gesetz durch die Neigungen zu „erfüllen“ ist, also als eine „Ausfüllung des Mangelhaften der Gesetze“ (I, 326) zu begreifen ist. In seiner Rekonstruktion der Botschaft Jesu bezieht sich Hegel auf diverse Stellen des Evangeliums ‒ so etwa die Bergpredigt ‒ und interpretiert sie derart, dass in diesen Beispielen eine Unterscheidung von objektivem Gebot und Pflicht hervorgehoben wird. So „setzt [Jesus] dem Gebote die Gesinnung gegenüber, d. h. die Geneigtheit, [...] moralisch zu handeln“ (I, 301), und „[m]an kann dies mehr in sich Enthaltende Geneigtheit, so zu handeln, nennen, wie die Gesetze gebieten würden, Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze, wodurch dieses seine Form als Gesetz verliert“ (I, 326). Hegel betont hier, es gehe nicht um „die Unterstützung der moralischen Gesinnung durch Neigung, sondern eine geneigte moralische Gesinnung, d. h. eine moralische Gesinnung ohne Kampf“ (I, 326, gestrichen), und schließt: „[D]iese Übereinstimmung der Neigung ist das Pleroma des Gesetzes“ (I, 326). Mit implizitem Hinweis auf Paulus sieht Hegel das „Pleroma“ (πλήρωµα) als eine Erfüllung bzw. Ergänzung des Gesetzes, welche durch das Subjekt nicht als ein abstraktes, allgemeines ‒ sei es äußeres oder innerliches Gebot – wahrgenommen werden muss, sondern auch eine subjektive Seite ausdrücken kann. Das paulinische Thema des Unterschieds zwischen Buchstabe und Geist kommt hier vor. Die Idee, dass der Buchstabe „tötet“, während der Geist „le-

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bendig macht“, findet auch in Hegels eigenem Begriff des Geistes eine Umformulierung, wie seine Suche nach einem lebendigen, befreienden Konzept von Gesetz zeigt.11 Gewiss ist es nicht unproblematisch, dass Hegel an einigen Stellen das Pleroma als „Erfüllung“ und an anderen als „Ergänzung“ des Gesetzes übersetzt. Es bleibt insofern auch unklar, ob hier bei Hegel eine erfüllende oder eher eine ergänzende Rolle des Geistes im Hinblick auf die äußeren und innerlichen Gebote vorgesehen ist. Weil hier noch keine Differenzierung zwischen objektivem und absolutem Geist vorgenommen worden ist, beinhaltet Hegels Formulierung eine Ambivalenz im Hinblick auf das Verhältnis von Gesetz und Natur. Die Frage ist also, ob dieses Verhältnis als eine ausreichende Erfüllung des Gesetzes durch die Natur oder als eine noch nicht erfüllte Dimension der Natur durch den Geist zu verstehen ist. In diesem Kontext bemüht sich Hegel nicht, dieses Problem näher zu betrachten: Genau darin, dass es noch keine artikulierte Unterscheidung zwischen objektivem und absolutem Geist aufweist, wird das Verhältnis zwischen Natur und Gesetz vor allem in Hinblick auf die Frage nach der Autonomie betrachtet. Freilich findet man schon hier eine Tendenz, in welcher der Geist – im Unterschied zum Gesetz – sich als Erfüllung zeigt, die Hegel aber noch nicht im Einzelnen ausführt. Auch wird bereits deutlich, dass nur mit einer Theorie des subjektiven Geistes, also einem erneuerten Naturverständnis, eine umfassende Theorie des Geistes – sowohl als sittliche, objektive Form als auch als „absolute“ – gewonnen werden kann. Hegel macht zudem nicht klar, um welche Neigungen es hier geht und inwiefern das Gesetz die Neigungen widerspiegelt; es scheint, dass, wie oben erwähnt, eine „Geneigtheit, so zu handeln, [...] wie die Gesetze gebieten würden“, auch Gefahr läuft, die „Übereinstimmung der Neigung“ nur als Prävalenz der Gesetze verstehen zu können, mit denen die Neigungen vereint werden sollen. Hier würde eben das Gesetz nicht als fremd wahrgenommen, dies ginge aber auf Kosten einer Vernichtung der erforderlichen Distanz von ihm, aus der es überhaupt zu kritisieren und gegebenenfalls zu reformulieren wäre. Die Gefahr einer solchen Art der Nicht-Entfremdung des Gesetzes besteht darin, es als „eigenes“ anzunehmen, auch wenn es in Wahrheit keine subjektiven Aspekte ausdrückt. Diese Auffassung würde eher eine Orientierung der Neigungen entlang der Vorgaben des Gesetzes bedeuten und nicht eine Erfüllung des Gesetzes durch die Neigungen. 11 „[D]er Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Korinther 3,6). Zur Wiederkehr dieses paulinischen Themas in der philosophischen Debatte – allerdings mit einem anderen begrifflichen Rahmen als dem von mir hier untersuchten ‒ vgl. die jüngste Diskussion in Badiou 2002.

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Wie wir noch diskutieren werden, präzisiert Hegel diese Problematisierung später in seiner Rechtsphilosophie durch ein Verständnis des freien Willens, das die Aufhebung von Neigungen und Trieben – so wie die Ausdifferenzierung von seinen Gehalten angesichts des Freiheitsbegriffes – beinhaltet. In seinen Frankfurter Überlegungen will Hegel die Einheit von Neigung und Gesetz stattdessen noch so verstehen, dass „die Übereinstimmung der Neigung mit dem Gesetze von der Art ist, daß Gesetz und Neigung nicht mehr verschieden sind“ (I, 326). Die Übereinstimmung beider würde daher bedeuten, dass der sittliche Inhalt des Gesetzes nicht verloren werden soll, sondern in den Neigungen allmählich verkörpert. 12 Zu diesem Punkt kommen wir im zweiten Teil zurück.

1.2 L IEBE

ZWISCHEN

N EIGUNG

UND

P FLICHT

In der Absicht, die Zustände einer mit der Subjektivität verbundenen Natur zu erfassen, versucht Hegel, mit einer neuen begrifflichen Konstellation eine Revision der Idee von Normativität außerhalb von positiven Gesetzen und Moralität vorzunehmen. Hegel findet zunächst in dem Begriff der „Gesinnung“ eine Auffassung, in welcher das Gesetz nicht als fremdes Gesetz, sondern als eine Dimension der Subjektivität wahrgenommen wird. Jedoch ist mit der Gesinnung „nur das objektive Gesetz aufgehoben, aber nicht die objektive Welt; der Mensch steht einzeln und die Welt“ (I, 303). Es liegt hierin nun eine neue Spaltung zwischen den Dimensionen von Subjektivität und Objektivität vor, in welcher ein bloß subjektives Gesetz ohne „objektive“ Wirklichkeit – gegen „die Welt“ gerichtet ‒ vorherrscht. Die durch das Subjekt konstituierte Gesinnung muss deshalb aufgehoben werden und damit einen moralischen Inhalt ‒ jetzt aber nicht als fremd, sondern als Versöhnung zwischen Natur und Subjektivität verstanden ‒ ausdrücken. Diese Versöhnung sieht Hegel durch seine Auffassung von Liebe ermöglicht. Von umfassenden Einflüssen ausgehend – insbesondere der Auseinander-

12 „Da aber hier in dem Komplement der Gesetze (und was damit zusammenhängt) Pflicht, moralische Gesinnung und dergleichen aufhört, Allgemeines, der Neigung [entgegengesetzt], und die Neigung aufhört, Besonderes, dem Gesetze entgegengesetzt zu sein, so ist jene Übereinstimmung Leben und, als Beziehung Verschiedener, Liebe, ein Sein, das als Begriff, Gesetz ausgedrückt notwendig dem Gesetze, d. h. sich selbst gleich, oder als Wirkliches, als Neigung, dem Begriffe entgegengesetzt, gleichfalls sich selbst, der Neigung, gleich ist“ (I, 327).

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setzung mit Hölderlin, der Begegnung mit der frühen Romantik und der Rekonstruktion der christlichen Tradition ‒ ergibt sich vor allem in den Frankfurter Schriften Hegels eine besondere Verquickung eines Modells der erotischen Liebe mit der aus der christlichen Tradition aufgenommenen Bedeutung von Liebe als Agape. Diese Vermischung zeigt sich an einigen Stellen besonders deutlich, wie etwa in einem Fragment vom November 1797,13 genannt „Die Liebe“, in welchem Hegel auf die Bedeutung des Gebens für die Liebe hinweist, so z. B. bei Romeo und Julia: “je mehr ich gebe, desto mehr habe ich” (I, 248). Und an einer anderen Stelle heißt es: „Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm; und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen“ (I, 244).14 Während im Kontext der Frankfurter Schriften einerseits eine erotisch geprägte Bedeutung von Liebe erneut vorkommen wird,15 stellt Hegel andererseits die Liebe als Aufhebung von positiven und moralischen Gesetzen dar.16 In diesem Sinn wird die Liebe nicht nur als ein Gefühl zwischen Liebenden aufgefasst, sondern auch als eine besondere Vermittlung zwischen moralischer Pflicht und freiem Willen, wodurch die Liebe zu einer Idee von Autonomie führen kann. Im Unterschied also zu der spezifischen Verortung innerhalb der Familie in seiner reifen Sittlichkeitstheorie entwickelt Hegel in Frankfurt eine erweiterte Auffassung der Liebe, wobei sich ihre historisch-genealogische Bedeutung der moralischen Bedeutung in der Figur von Jesus mit der Kritik der kantischen Moralphilosophie vermischen. Insofern lässt sich Hegels Begriff der Liebe in den Frankfurter Schriften in zwei Richtungen interpretieren. Erstens hat die Liebe eine grundlegende systematische Bedeutung, die Hegel in Frankfurt in seiner Auseinandersetzung mit Hölderlin, als eine Einheit zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Geist dar-

13 Zweite Fassung im Herbst bzw. Winter 1798. 14 So bezieht sich Hegel auch an einer anderen Stelle auf die Liebe als „Vereinigung“: „Diese Vereinigung der Liebe ist zwar vollständig, aber sie kann es nur soweit sein, als das Getrennte nur so entgegengesetzt ist, daß das Eine das Liebende, das Andere das Geliebte ist, daß also jedes Getrennte ein Organ eines Lebendigen ist“ (I, 249). 15 Ebenso erwähnt Hegel in den letzten Jahren in Frankfurt die „Ehe“ und „Verletzung der Liebe“ (ebd., 329) im Sinn der Liebe zwischen Geliebten. 16 Nach der Interpretation Axel Honneths enthält die erotische, romantisch geprägte Auffassung von Liebe, wie Hegel sie später in den Jenaer Schriften darstellt – etwa im System der Sittlichkeit und in der so genannten Realphilosophie ‒ eine bessere Grundstruktur für die sittlichen Formen. Vgl. Honneth 1994 : 153 ff.

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stellt.17 In diesem Sinn wird die Einseitigkeit der „theoretischen Synthese“ (als objektive Seite) und „praktischen Tätigkeit“ (als subjektive Seite) in der Liebe vereint. 18 So bezieht sich Hegel an vielen Stellen hinsichtlich der Liebe auf Analogien und Paraphrasen wie „lebendiges Ganzes“ (I, 246), „hebt sie Trennungen auf“ (I, 248) und „Aufhebung aller Unterscheidung“ (I, 242), die er in den folgenden Jahren eher als logisch-dialektische Kategorien ausarbeiten wird. Eine zweite, weniger systematische Bedeutung liegt in Hegels Verständnis der Liebe als einem alternativen moralischen Gehalt, und zwar als einer Kraft, die aus dem Zusammenhang von Pflicht, Neigungen und der subjektiven „Befreiung“ vom Gesetz heraus entsteht; denn anders als der Sinn des Gehorsams gegenüber einem objektiven Gesetz „[ist] Versöhnung in der Liebe“, so Hegel, „eine Befreiung statt der Wiederanerkennung der Herrschaft die Aufhebung derselben in der Wiederherstellung des lebendigen Bandes, eines Geistes der Liebe, des gegenseitigen Glaubens, eines Geistes, der in Rücksicht auf Herrschaft betrachtet die höchste Freiheit ist“ (I, 357).19 Eine solche „Befreiung“ ‒ in der die Pflicht sich nicht als „Herrschaft“, sondern als „lebendige[s] Band [...]“ ausdrückt ‒ wird durch eine Reformulierung des Zusammenhangs zwischen Neigungen und Pflicht ermöglicht; denn die Liebe lässt sich einerseits nicht auf eine objektiv gegebene moralische 17 Zu dieser eher spekulativen Bedeutung von Liebe im Vergleich zu Hölderlins Auffassung vgl. Henrich (2010). Henrich behauptet eine von Hegel absichtlich „verkürzte“ Aneignung von Hölderlins Liebestheorem: während Hölderlin auf die Unterscheidung zwischen „Unendlichkeit“ und „Hingabe“ hinweist, findet sich bei Hegel die Betonung der mit Hölderlin geteilten Berücksichtigung einer Vereinigungsphilosophie. Nach dieser eher spekulativen Bedeutung – zeigt Henrich – wird die Möglichkeit einer spekulativen Einigkeit unter Vervielfältigen hervorgehoben. (23 ff.). 18 „Die theoretischen Synthesen werden ganz objektiv, dem Subjekt ganz entgegensetzt. Die praktische Tätigkeit vernichtet das Objekt und ist ganz subjektiv – nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht“ (I, 242). 19 Anhand dieser doppelten Rolle des Begriffs der Liebe lassen sich schon Grundformen von Hegels späterer Theorie des Geistes erkennen, die er in den folgenden Jahren entfalten wird. In diesem Sinn sieht Dieter Henrich die Liebe als die Urform von Hegels Begriff des Geistes. Vgl. Henrich 2010. In der Tat hat Hegel bereits am Ende seines Aufenthalts in Frankfurt angefangen, den Zusammenhang von Gesetz und Natur durch den Begriff des „Geistes“ herauszuarbeiten, wobei schon hier die „lebendige Einigkeit des Mannigfaltigen“ (I, 421) als Geist bezeichnet wird: Statt eine „getrennte, tote, bloße Vielheit“ des Gesetzes „[ist] der Geist belebendes Gesetz in Vereinigung mit dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist“ (I, 421).

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Pflicht reduzieren, und andererseits bezieht sie sich auf einen mit der Natur verbundenen Charakter der Subjektivität. Die Liebe ist nicht der Moralität entgegengesetzt, sondern wird von Hegel als ein Begriff angesehen, der es ermöglicht, einen moralischen Gehalt als mit der subjektiven Natur verbunden zu verkörpern. Insofern aber die Moralität nach Hegels Auffassung ein gegebenes Allgemeines bezeichnet, enthält sie nur die Möglichkeit der Liebe, die aber eine besondere, eine konkrete und affektive Handlung fordert. „Bei Moralität ohne Liebe“, schreibt Hegel, „ist zwar in der Allgemeinheit die Entgegensetzung gegen das einzelne Objekt aufgehoben - eine Synthese Objektiver; aber das Einzelne ist als ein Ausgeschlossenes, Entgegengesetztes vorhanden“ (I, 308). Der Kern dieser Unterscheidung zwischen Moralität und Liebe besteht in den vorher genannten, nicht aufhebbaren Elementen des Fremden in der Moralität, in der eine moralische Pflicht deshalb stets auf einen von der Subjektivität getrennten Anteil hinweist. Wenn die moralische Bedeutung von Liebe als Pflicht angenommen wird, verschwindet ihre spezifische Dimension der Freiheit, und deswegen ist ihr Sollen anders als das Sollen des Pflichtgebots. An dieser Stelle kritisiert Hegel die kantische Annahme, die Forderung Jesu: „liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“ sei als ein Gebot anzusehen. Nach Kants Auffassung wäre dieser Ausdruck ansonsten widersprüchlich, insofern er eine Achtung für ein Gesetz fordern würde, und zwar, die Liebe als Pflicht zu betrachten ‒ was Kant zufolge aber unmöglich wäre.20 Während Hegel mit der kantischen Idee übereinstimmt, dass die Liebe nicht als Pflicht angenommen werden kann, behauptet er, anders als Kant, dass es hier nicht darum gehe, die Liebe in Verbindung mit der Achtung für ein Gesetz zu interpretieren, wie es bei Pflichtgeboten der Fall ist. Vielmehr argumentiert Hegel, dass „in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt“ (I, 325). Dadurch fundiert Hegel seine Kritik an der kantischen Interpretation in deren Verwechslung von Pflichtgebot und diesem nach Kant in der Liebe sich befindlichen Sollen, welches weder als Gebot noch als Achtung für ein Gesetz aufzufassen sei, sondern als eine moralisch grundierte freie Handlung.21 Da die Liebe kein Pflichtgebot ist, wird hier

20 Hegel bezieht sich hier auf Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. T., 1. B., III. 21 In der neuesten Literatur zur Moralphilosophie sieht man ähnliche Konzeptionen etwa bei der einflussreichen Diskussion über Harry Frankfurts Unterscheidung von „first-“ und „second-order volitions“ (Frankfurt 1998). Zu einer kritischen Darstellung vgl. Taylor 1985 und Honneth 2001:25 ff.; Pippin 2008, insb. Kap. 8. Thomas Scanlon (1998) vertritt ebenfalls eine bekannte Auffassung über die Rolle der Vernunft dabei, zwischen verschiedenen Gefühlen zu unterscheiden und die jeweiligen Präferenzen zu bestimmen. Zum Zusammenhang von Normativität und Liebe vgl.

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die vermeintliche Widersprüchlichkeit eines Zusammenhangs von Pflicht und Befreiung aufgehoben.22 Und wie es bei der Liebe der Fall ist, kann die Moralität nur als befreiend gelten – so scheint das Argument zu lauten –, insofern sie zudem außerhalb des Binoms von Pflicht und Schuld angesiedelt ist.23 Hegel beharrt in diesen Schriften darauf, dass Liebe jenseits des Pflichtgebotes existiert, als Auflösung fremder Macht, wobei die Liebe in gewisser Weise der Gerechtigkeit übergeordnet ist; so bezieht sich Hegel auf eine „Gesetz- und Pflichtlosigkeit in der Liebe“ (I, 336) und auf die Idee, die Liebe fordere „sogar Aufhebung des Rechts, das durch eine Trennung, eine Beleidigung erwachsen ist, sie fordert Versöhnung“ (I, 328, gestrichen). 24 Und es ist anhand dieser Verbindung zwischen moralischem Gehalt und Freiheit, hier durch die Figur der Liebe repräsentiert, dass Hegel seine erste Auffassung des Begriffs des „freien Willen“ entwickelt: „Geboten kann freilich nur das werden, was innerhalb des Willens liegt, und von einem, von dem dieser Wille abhängen kann; [...] nur dem freien Willen kann geboten werden; insb. auch Frankfurt 1999, 2004 und Honneth 2000. Eine sehr umfassende Monogra fie zu diesem Thema stellt Nussbaum 2001 dar. 22 Zu dem Zusammenhang von Pflicht und Befreiung im Anschluss an Hegel vgl. Menke 2010. 23 Im Unterschied zum Begriff der Strafe und der moralischen Auffassung von Schuldgefühlen entwirft Hegel in den Frankfurter Schriften die Idee des Schicksals. Unter Schicksal versteht Hegel eine Bestrafung, die anders als die von einem positiven Gesetz implizierte Strafe ist und eher einem Bruch mit der Natur und dem Leben entspricht. Schicksal heißt so eine Selbstgesetzgebung, eine Reaktion gegenüber der vom Menschen selber vollzogenen Handlung, und bezeichnet damit keine externe Bestrafung, sondern drückt die Einheit bzw. die Differenzierung des Subjektes mit bzw. von dem Leben aus. Auch wenn die Rolle des Schicksals im Kontext von Hegels Argumentation wichtig ist, muss diese Diskussion aufgrund des spezifischen Zieles unserer Rekonstruktion von Hegels Text – nämlich die Herausstellung der Rolle der menschlichen Natur für eine moralphilosophisch orientierte Kritik am Gesetz ‒ beiseite gelassen werden. 24 In Bezug auf Jesus schreibt Hegel: „Aug um Auge, Zahn um Zahn, sagen die Gesetze; die Wiedervergeltung und die Gleichheit derselben ist das heilige Prinzip aller Gerechtigkeit, das Prinzip, auf dem jede Staatsverfassung ruhen muß. Aber Jesus fordert im allgemeinen Aufgebung des Rechts, Erhebung über die ganze Sphäre der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit durch Liebe, in welcher, mit dem Rechte, auch dies Gefühl der Ungleichheit und das Soll dieses Gefühls, das Gleichheit fordert, d. i. der Haß gegen Feinde verschwindet“ (I, 331).

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das Soll drückt die Entgegensetzung des Gedankens gegen die Wirklichkeit aus, und so 25

kann Liebe gewiß nicht in diesem Sinne geboten werden.“ (I, 362, gestrichen)

Hiermit reformuliert Hegel selbst die Unterscheidung zwischen Sollen und Sein ‒ und auf diese Weise die Unwirksamkeit eines bloßen allgemeinen Sollens ‒,insofern der Charakter einer Sollensforderung sich nicht auf ein abstraktes Allgemeines beziehen kann, sondern stattdessen auf eine Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem abzielt. Gegen eine formelle Moralität richtet sich Hegels Vorschlag, „lebendige“ Aspekte der Moralität mit einzubeziehen, die nicht nur ein Sollen, sondern auch ein „Sein“ ausdrücken. Wenn der Mensch sich in der Entgegensetzung befindet, bleibt nur eine getrennte Besonderheit, deren Einheit mit der Gemeinschaft leer ist, und sich als eine „herrschende Allgemeine“ (I, 371) ausdrückt. So schreibt Hegel: „Diesem Unendlichen des Herrschens und Beherrschtwerdens kann nur das reine Gefühl des Lebens entgegengesetzt werden, es hat in sich selbst seine Rechtfertigung und seine Autorität“ (I, 371). Gerade wegen ihres nicht bloßen Sollens erscheint die Liebe „konkreter“ als die moralischen Gebote – und so fasst Hegel hier auch den Begriff des „Pleromas“: „Die Liebe“, so schließt Hegel, ist „die Ergänzung (das πλήρωµα) des Gesetzes“ (I, 329). Mit dieser Umformulierung des Zusammenhanges von Liebe und Gesetz hebt Hegel die Liebe nicht nur als eine moralische, sondern auch als eine sittliche hervor: Die Neigung, so und nicht anders zu handeln, ist kein Ausdruck des Sollens des moralischen Gebotes, sondern einer von Freiheit. Damit sieht Hegel die Einheit zwischen Moralität und Freiheit im Sinne einer Pflicht an, welche nicht als fremd angenommen wird, sondern als lebendigen und mit der Natur versöhnten Ausdruck der Moralität. Aus diesen interpretativen Überlegungen lässt sich nun die Konsequenz ziehen, dass sowohl Kant als auch Hegel versucht haben, die Ausfüllung des Pflichtgebotes als Befreiung zu betrachten, insofern diese eine autonome Handlung einschließt. Der Unterschied zwischen beiden besteht, wie Hegels Verständnis der Liebe zeigt, darin, Pflicht als mehr als eine bloße „Unterwerfung“ unter ein moralisches Gebot zu betrachten, insofern die Liebe auch die mensch25 Und noch weiter: „Freilich kann Liebe nicht geboten werden, freilich ist sie pathologisch, eine Neigung, - aber damit ist ihr von ihrer Größe nichts benommen, sie ist damit gar nicht herabgesetzt, daß ihr Wesen keine Herrschaft über ein ihr Fremdes ist; sie ist aber dadurch so wenig unter Pflicht und Recht, daß es vielmehr ihr Triumph ist, über nichts zu herrschen und ohne feindliche Macht gegen ein anderes zu sein; die Liebe hat gesiegt heißt nicht, wie die Pflicht hat gesiegt, sie hat die Feinde unterjocht, sondern sie hat die Feindschaft überwunden“ (I, 362-363).

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liche Natur – eine Triebe und Neigungen umfassende Instanz – einbezieht. Er folgt also Kant in der Suche nach einer Einheit von praktischem und theoretischem Domänen, aber sein Resultat besteht nicht in einem moralischen Formalismus, sondern vielmehr in einer neuen Konzeption eines mit den subjektiven Neigungen verbundenen moralischen Inhalts. Liebe und Leben sind die Figuren dieser praktisch-theoretischen Einheit, wobei nach Hegel das Subjekt sich mit dem Gesetz versöhnen lässt. Mit diesem Verständnis der Liebe als Versöhnung von Gesetz und Neigungen, Allgemeinem und Besonderem, Pflicht und Freiheit, Sollen und Sein beantwortet Hegel Kants Frage nach der Begründung der Moralität: Nicht durch eine formale moralische Pflicht lässt sich diese letztlich begründen, sondern sie kann nur unter Berücksichtigung der menschlichen Natur gerechtfertigt werden.

1.3 V ERTIEFUNG DER S ITTLICHKEIT : J ENSEITS DES L IEBESBEGRIFFES Wie zu sehen war, hat Hegel die Grundfigur einer „Ergänzung“ des Gesetzes durch subjektive Aspekte zuerst mit der Liebe identifiziert: Insofern sie einerseits Ausdruck einer freien, mit dem subjektiven Willen verbundenen Neigung ist und andererseits eine normative Begründung zum Handeln enthält, kann sie die entfremdende Unterwerfung unter das Gesetz – sei es ein äußeres, positives oder ein innerliches, moralisches ‒ aufheben. Mit dem Begriff der Liebe erfasst Hegel sowohl eine dezentrierte Perspektive als auch die Idee einer Handlung, die nicht nur an einer moralischen Pflicht orientiert ist, sondern affektive Maßstäbe mit einbezieht. Allerdings war Hegel sich schon in den Frankfurter Schriften der Begrenzung bewusst, die es bedeutete, ausschließlich aus dem Begriff der Liebe heraus eine umfassende Sittlichkeitstheorie erarbeiten zu wollen; denn obgleich Hegel einerseits die Liebe nicht nur auf Intimbeziehungen beschränkt, kritisiert er andererseits einen „abstrakten“ Begriff von Liebe, wie er in der Vorstellung einer „allgemeinen Menschenliebe“ steckt. Nach Hegels Auffassung setzt die Liebe konkrete affektive Verhältnisse voraus, wie er sie etwa in der Gemeinschaft der Jünger Jesu gesehen hat („Die Liebe zu dem Nächsten ist Liebe zu den Menschen, mit denen man, so wie jeder mit ihnen, in Beziehung kommt. Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein“ [(I, 362]).26 Mit dieser Unterschei-

26 Mit dieser Vorstellung kann man vermuten, dass sich die Liebe eher als Philia verstehen lässt. Denn in der Auffassung, die Hegel hier vor Augen hat, ist ein konkretes

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dung von „konkreter“ und „abstrakter“ Liebe lässt sie sich nicht auf einen idealen oder mitempfindenden Moment reduzieren, sondern ist eine von moralischem Inhalt erfüllte konkrete Handlung. Zudem unterscheidet Hegel zwischen Liebe und Wohltätigkeit, wo es nur um ein „Bedürfnis der Liebe (allgemeine Menschenliebe)“ geht. Anders als bei der Liebe hat der Wohltäter „schöne Momente des Genusses, aber auch nur Momente“ (I, 302), und „der Wohltäter“, schließt Hegel, „ist immer größer als der Empfangende“ (I, 302). Daher zeigt sich die allgemeine Menschenliebe als eine „Schale“ (I, 362),27 ein machtloses und leeres Ideal, dessen Wirklichkeit arm ist. Der Vorzug, den Hegel in der Auffassung der Liebe als „Pleroma“ des Gesetzes identifiziert, stellt jedoch gleichzeitig die Grenze der Liebe dar, insofern diese entweder vom Kreis affektiver Bindungen abhängig bleibt oder, um eine erweiterte bzw. universalistische Form zu erhalten, wieder die Form eines Gebotes annehmen muss. Im ersten Fall wird es schwierig, nicht nur auf die primären Verhältnisse beschränkt zu bleiben, sondern diese auf die sozialen Verhältnisse zu erweitern. Dies wäre nur möglich, wenn die affektiven Verhältnisse zwar durch eine noch abstraktere affektive Bindung – etwa an die Menschheit als solche – geprägt wären, was nach Hegels Auffassung aber unwirklich bleibt und nur ein ideales Ziel darstellt; so bei der christlich inspirierten Idee von Brüderlichkeit, die aber von der Vorstellung eines gemeinsamen Vaters abhängt und sich so mit dem zweiten Fall verbindet, in dem die Liebe auf eine kleine Gruppe beschränkt bleibt – wie im Christentum zuerst auf die Gemeinde der Jünger, welche die Vorstellung der Liebe Gottes teilen. Insofern lassen sich drei Schwierigkeiten im Zusammenhang von Liebe und Hegels erster Intuition hinsichtlich einer Sittlichkeitstheorie erkennen. Die erste besteht darin, Handlungen, „mit denen man in Beziehung kommt”, auf breitere soziale Verhältnisse hin zu erweitern. Zweitens, insofern „die Liebe [...] selbst kein Sollen aus[spricht]“ (I, 362), bleibt es unklar, ob in Verbindung mit dem Begriff der Liebe eine umfassende, mit einem moralischen Gehalt verbundene normative Theorie entwickelt werden kann. Darüber hinaus kann die Liebe

Gefühl als affektive Bindung zwar erforderlich (und insofern unterscheidet es sich von dem Sinn der Liebe als Agape), sie lässt sich aber nicht auf eine ausschließlich erotische Komponente reduzieren. Diese begrifflichen Unterscheidungen finden allerdings in der Literatur zahlreiche Varianten, die hier nicht betrachtet werden können. Hierzu nenne ich nur die jüngsten Arbeiten von Helm 2010. 27 In der zweiten Fassung gibt es eine Bemerkung Hegels über die Kantische Darstellung der Liebe in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, wo die Liebe als Pflicht wieder problematisiert wird.

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selbst als ideologisches Mittel benutzt werden, wodurch sie dann wieder die Form eines Gebots und damit einen entfremdenden Charakter annimmt. Auf einer ersten Stufe seiner Auffassung sieht Hegel eine um die „Liebe“ erweiterte Logik eines „Komplement[s] der Gesetze“ in einer Tugendlehre; denn durch die Liebe werden diejenigen Gesetze aufgehoben, die durch die Tugenden ersetzt werden können, so dass „die Entgegensetzung der Pflicht und der Neigung [...] in den Modifikationen der Liebe, in den Tugenden ihre Vereinigung gefunden“ haben kann (I, 338). Solche Neigungen werden so als Tugenden verstanden, als „Modifikationen der Liebe“, wodurch die Gesetze aufgehoben werden: Mit der Erfüllung der Gesetze durch Neigungen – wie der Grundgedanke Hegels hier besagt – wird das Gesetz nicht mehr als ein abstraktes, allgemeines Gebot angenommen, sondern mit subjektiven Neigungen vereint. Ein Gebot wie „du sollst nicht töten“, so Hegel, wird daher durch eine Tugend ersetzt, nämlich die Gesinnung der Menschenliebe. Während das Pflichtgebot nur aus einem allgemeinem Sollen besteht, sieht Hegel in der Tugend auch ein Sein in der Versöhnung mit einer Besonderheit, insofern „die Entgegensetzung desselben als eines Gebietenden gegen ein Widerstehendes aufhebt“ (I, 327, gestrichen). Und hier erscheint erneut die Kritik an Kant, die sich am Gedanken einer Beherrschung durch das Gesetz festmacht, nämlich insofern, dass, während die Tugend „von einer reicheren lebendigen Fülle als das kalte Gebot der Vernunft“ (I, 327) ist, „da[gegen] in der Kantischen Tugend diese Entgegensetzung [bleibt] [...] und das eine [wird] zum Herrschenden, das andere zum Beherrschten […]“ (I, 326). In Hinblick auf die Übereinstimmung von Pflicht und Handeln bemerkt Hegel, dass tugendhaftes Handeln nicht bedeutet, nur in einer bestimmten Weise zu handeln, um sich dadurch durch den Anderen bestätigt zu fühlen.28 Solche Gefühle einer erfüllten Pflicht zeigen keine Einheit, sondern eher eine Entgegensetzung von Einzelnen, die sich als Allgemeines setzen, und damit ist „dieses Selbstbewußtsein [...] der Handlung ebenso fremd als der Beifall der Menschen“ (I, 332). Hier interessieren eher die Objekte der Erfüllung: „nicht bloß das Komplement der Pflichten“, sondern auch „das Objekt dieser Prinzipien, das Wesen der Sphäre der Pflichten aufzeigen“, um das „der Liebe entgegengesetzte Gebiet zu zerstören“ (I, 334). In diese erste Vorstellung dessen, worin Hegel, wie erwähnt wurde, die Tugend als „Pleroma“ der Liebe sieht, fließt auch eine erste Idee der zweiten Natur mit aristotelischer Prägung ein, insofern mit einer Ausbildung der Tugen28 „Ob bei der Handlung nur ich, oder ob ich denke, daß auch andere mir zuschauen, ob ich nur mein Bewußtsein oder auch den Beifall anderer genieße, ist wohl kein großer Unterschied“ (I, 331).

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den und sittlichen Pflichten die menschliche Natur mit den sittlichen Verhältnissen vereinbar wird. Hegel will also vor allem zeigen, dass tugendhafte Handlungen nicht auf einen moralischen Befehl angewiesen sind, sondern einen selbst schon in den sittlichen Sphären verkörperten moralischen Inhalt darstellen. Daher besagt Hegels Argument, dass die Befreiung vom beherrschenden Charakter des Gesetzes nur durch eine in diesem Kontext noch diffuse Idee eines solchen sittlich verkörperten moralischen Gehalts zu erreichen ist. Jedoch erkennt Hegel auch an einer solchen Tugendlehre wieder diejenigen Grenzen, die er schon an der Moralität kritisierte. Wie bei dieser richtet sich Hegels Position nicht gegen die Tugend, sondern vielmehr dagegen, wie die Tugenden mit einem Sittlichkeitsmodell verschmolzen werden könnten. Diese Aspekte der Hegelschen Argumentation, in denen die Erfüllung des Gesetzes von einer Tugendlehre unterstützt wird, bedeuten insofern nicht die Verneinung des Gesetzes, sondern eine ergänzende Dimension durch eine Sittlichkeitstheorie. Der zunächst formulierte Begriff der Liebe wurde daher nur auf einer ersten Stufe in Form einer Tugendethik umgesetzt. Hegel wollte nun damit nicht den Begriff der Liebe weglassen, sondern vor allem einen für eine Sittlichkeitstheorie angemessenen begrifflichen Rahmen finden, um damit der zunächst durch die Liebe ermöglichten Versöhnung von Gesetz und Neigungen eine erweiterte Gestalt zu ermöglichen. Mit dieser Absicht hat Hegel nach der Frankfurter Zeit versucht, andere Formen sozialer Verhältnisse zu identifizieren, die in der Lage sein sollten, einen umfassenderen Begriff von Sittlichkeit zu verkörpern. In der späteren Entwicklung wird die zu jener Zeit vorgeschlagene Auffassung zu einer Sittlichkeitstheorie erweitert, aber dazu benötigt Hegel eine andere Begrifflichkeit, mit welcher die komplexeren sozialen Verhältnisse und Institutionen umfasst werden können. In Hegels Frankfurter Schriften lässt sich allerdings schon die Artikulation logischer Konzeptionen des Einzelnem und Allgemeinem, die Aufhebung der Entgegensetzung und die Vermeidung von fremden Aspekten erkennen, die in seiner späteren Sittlichkeitstheorie verbleiben. Die Entwicklung einer Sittlichkeitstheorie war also nur deshalb möglich, weil Hegel in der Liebe – „als ein Lebendiges, ein Geist“ (I, 363) – solche Formen sittlicher Verhältnisse gesehen hat. Am Ende seines Aufenthaltes in Frankfurt war Hegel sich der Schwierigkeiten bewusst, die sich daraus ergaben, lediglich aus dem Begriff der Liebe umfassend die sozialen Verhältnisse zu analysieren. Es blieb entscheidend, dass eine Sittlichkeitstheorie, im Unterschied zum moralischen und rechtlichen Gesetz, in der Lage sein sollte, die Herausbildung von Neigungen und Trieben zu umfassen. Während seiner ersten Anstellung als Philosophiedozent in Jena

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verfolgte Hegel daher die Absicht, die Verflechtung von Subjektivitäts- und Sittlichkeitstheorie zu präzisieren. Die Entstehung seiner Theorie des Geistes ist also von Anfang an durch die Entfaltung der in Frankfurt noch groben Vorstellung des „Pleromas“ des Gesetzes und der Aufhebung der Natur zum Geist hin motiviert und charakterisiert. Dabei stellt das „Pleroma“ des Gesetzes durch Triebe und Neigungen das Muster einer letztendlich umfassenden Versöhnung zwischen Natur und Geist dar. In dieser konzeptuellen Veränderung bleibt die „Logik“ der Liebe entscheidend: Nicht nur die Kritik an einem atomistischen Subjektivitätsmuster und der Zusammenhang von Affekten und moralischem Gehalt, sondern auch die Idee der Ergänzung des Gesetzes durch die Einbeziehung von Neigungen sollte immer noch den Leitfaden für eine Sittlichkeitstheorie bilden. Vor allem war Hegel davon überzeugt, dass dasselbe Modell, innerhalb welcher die Liebe paradigmatisch dargestellt wird, nämlich einerseits als eine affektive, von der Natur geprägten Dimension und andererseits als Erfahrung ungezwungener Verpflichtungen zu einer Logik des „ImAnderen-bei-sich-selbst-Seins“ als Grundform für eine Theorie der Sittlichkeit erweitert werden könnte.29 Während hier schon die Grundzüge von Hegels späterer Auffassung eines dezentrierten Willens zu finden sind, bleibt noch unklar, wie die Erfahrung der Liebe nicht nur auf primäre, affektive Verhältnisse beschränkt bleiben, sondern in einer ungezwungenen Weise – weder „ideologisch“ (in Form eines Gesetzes) noch durch die abstrakte Vorstellung der „allgemeinen Menschenliebe“ – auf erweiterte soziale Verhältnisse gerichtet werden könnte. Für das Ziel unserer Rekonstruktion bleibt wichtig festzuhalten, dass Hegel schon in den Frankfurter Schriften in die Kritik am Gesetz die menschliche Natur mit einbezieht. Statt einer Tugendlehre aber – und angesichts der nur begrenzten Rolle der Liebe bei der „Versöhnung“ von Geist und Natur – wird Hegel allmählich neue institutionalisierte Formen suchen, die die Einbeziehung der Neigungen als Ergänzung des Rechtes und der Moral ermöglichen. Die Ausarbeitung dieser Formen in den späteren Schriften Hegels unterscheidet sich grundsätzlich durch zwei Grundaspekte von den Frankfurter Schriften. Erstens dadurch, dass der konzeptuelle Rahmen, den Hegel später in eine subjektive, objektive und absolute Dimension unterteilen wird, hier noch nicht entsprechend untergliedert ist. Und zweitens, dass die später komplexer werdenden, als institutionalisiert gedachten Formen hier noch in Gestalt einer Auffas29 Diese Interpretation findet sich bei Axel Honneth, allerdings im Kontext von Hegels Jenaer Schriften. Nach meiner Auffassung lassen sich allerdings mittels der Rekonstruktion der Frankfurter Schriften die ursprünglichen Motive von Hegels Sittlichkeitstheorie besser verstehen.

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sung der menschlichen Natur und subjektiver Zustände dargestellt sind. Auch wenn Hegel seine Intuitionen aus den Frankfurter Schriften später ausgearbeitet und deutlich verändert hat, ist es für das mit unserer Rekonstruktion verfolgte Ziel entscheidend, wie er schon hier durch eine Auseinandersetzung mit den Grenzen des Gesetzes und den Neigungen eine primäre Skizze seiner späteren Idee entwirft, in welcher der Begriff des freien Willens die Grundlage für seine Sittlichkeitstheorie bilden wird. Sowohl die Berücksichtigung der menschlichen Natur als auch die Feststellung der Begrenztheit des Rechts und der Moral für eine autonome, nicht-entfremdende Willensbildung stellen zentrale Hegelsche Gedanken dar, die in seinen Frankfurter Schriften bereits ihre ursprünglichen Grundzüge erhalten. Anhand der Idee einer Ergänzungsbedürftigkeit des Gesetzes und der Moralität durch subjektive Neigungen lässt sich schon hier diejenige Struktur erkennen, die Hegel später in seiner Rechtsphilosophie entwickeln wird – hier allerdings noch ohne einen institutionalisierten Rahmen. Die Grundfiguren, die Hegels Überlegungen in Jena annehmen, gehen einerseits in die Richtung einer Entwicklung institutionalisierter Formen in Hinblick auf die in Frankfurt noch rudimentären Reflexionen und andererseits in Richtung der Präzisierung einer Theorie der Subjektivität.30 In dieser begrifflichen Entwicklung wird die Natur nicht nur nach ihrem systematischen Ort dargestellt, sondern auch eine spezifische Diskussion über die menschliche Natur. Die später thematisierten, institutionalisierten Formen erschließen die objektive Seite des hier noch ungeschiedenen, dynamischen Modells des „Geistes“. Für eine reformulierte Idee der Freiheit, die nur in den sittlichen Sphären realisiert werden kann und in denen subjektive Sichtweisen in Gesetze einfließen, wird ein neuer begrifflicher Rahmen umrissen, in welchem der Zusammenhang von Natur und Sittlichkeit nun präzisiert werden soll. In dieser Bewegung bringt Hegel objektive Gesetze und menschliche Natur zusammen und kann seine später entwickelte Sittlichkeitstheorie auf Basis dieser Verflechtung gründen.

30 Vgl. dazu Honneth 1992:48 ff.

2. Zwei Stufen einer Theorie der Sittlichkeit

2.1 Z UR R OLLE DER N EIGUNGEN IN EINER „P HILOSOPHIE DER S ITTLICHKEIT “ Die in Frankfurt skizzierte, negative Vorlage von Hegels Kritik an der kantischen Moralität erhält in Jena die Grundzüge einer Theorie der Sittlichkeit, wobei die in Frankfurt durchgeführte Auseinandersetzung mit dem Status der Natur der Subjektivität den Umriss einer Antwort auf die Frage nach der Versöhnung zwischen Natur und Moralität annimmt. Es ist entscheidend, wie Hegel in Jena seine Auffassung der eher konfliktreichen sittlichen Verhältnisse weiter entwickeln wird, welche von den Grundideen von „Kampf“ und „Tragödie im Sittlichen“ (II, 493) ausgehen: Hegels „realistische“ Wende war bis dahin von der Vorstellung geprägt, dass der versöhnende Charakter der Liebe von einer konfliktreichen Dimension untrennbar ist, in der Begriffe wie Verbrechen und Kampf – die schon in der Frankfurter Zeit in Verbindung mit dem Begriff des „Schicksals“ vorkamen – konstitutiv für die Sittlichkeitsverhältnisse werden1. Mit dieser der Liebe komplementären Dimension des Konflikts, in welche auch die Rolle des „Negativen“ in einer dialektischen Struktur angenommen wird, erhält die Darstellung der Sittlichkeitstheorie ihre Grundzüge. Zur Thematisierung der Rolle der menschlichen Natur tritt daher ein an das hobbesianische Denkmodell anschließender, konfliktreicher Charakter sozialer Verhältnisse 1

Im Naturrechtsaufsatz wird diese Konstellation eher als tragisch präsentiert. Im Hinblick auf eine tragische Bedeutung nennt Hegel die griechischen Figuren von Deukalion und Pyrrha in Der Geist des Christentums und die Orestes im Naturrechtsaufsatz (II, 493 ff.). Vgl. dazu Lukács 1973:618 ff. und Menke 1996, Honneth 1994, insb. Kap. 2. Zum Zusammenhang von Liebe und Kampf in der Jenaer Philosophie des Geistes vgl. Siep 1979.

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hinzu, den Hegel noch entwickeln wird. Entscheidend ist, wie er die Ergänzung des Gesetzes als konfliktreich erfasst, da mit der Figur einer rein harmonisch gedachten Liebe keine befriedigende Lösung zu finden ist. Insofern hat Hegel in Frankfurt zwar die Grenzen des Gesetzes und ihre mögliche Ergänzung durch die Neigungen bezeichnet, aber weder eine eigene deutliche Auffassung der menschlichen Natur vorgestellt noch die Beantwortung der damit verbundenen Frage vorgenommen, wie diese Neigungen auszubilden wären. Denn sicher ist es nicht Hegels Argument – wie wir noch darlegen werden –, dass die Neigungen schon in ihrer gegebenen Form in der Subjektivität überwiegen sollen, sondern dass sie erst in Verbindung mit einem moralischen Gehalt – der innerhalb der sittlichen Verhältnisse zu finden ist – ausgebildet werden sollen. Diese Präzisierung wird vor allem im Rahmen der Schriften ausgeführt, in denen Hegel seinen spekulativen begrifflichen Rahmen darstellt, wie etwa im System der Sittlichkeit und im sogenannten Naturrechtsaufsatz2. In dieser letzten Schrift erreicht Hegels Auffassung eine neue Stufe, jetzt durch seine prägnante spekulative Darstellung seiner Kritik am kantischen Formalismus.3 Hegels Beunruhigung bezüglich des moralischen Formalismus stammt jetzt nicht nur von dessen unzureichender Antwort auf das Problem der Autonomie – wie wir im Kontext der Frankfurter Schriften gesehen haben –, sondern auch daher, dass der moralische Formalismus ein prekäres theoretisches Modell für die Erfassung der Sittlichkeit bietet. Es geht Hegel daher nun um die Suche nach einem konzeptuellen Schema, womit die sittlichen Verhältnisse vor einem immanenten normativen Hintergrund interpretiert werden können. In seiner Darstellung des positiven Rechts behauptet Hegel, dass ein moralisches Prinzip, das nur partikular und endlich ist, nicht die Sittlichkeit erfassen kann.4 Die Fixierung auf die Vernunft hat nicht nur Konsequenzen auf der subjektiven Seite – die Spaltung zwischen Natur und Gesetz –, sondern ist auch auf der objektiven Seite unfähig, ein hinreichendes theoretisches Modell der Sittlichkeit darzustellen. Seine Kritik am Formalismus der kantischen Philoso2

„Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften“, in: II, 434-530.

3 4

II, 453 ff. „Es könnte auch das moralische Prinzip sich in das System der absoluten Sittlichkeit eindrängen und an die Spitze des öffentlichen sowohl als des Privatrechts wie auch des Völkerrechts stellen wollen, - welches ebensosehr die größte Schwäche als der tiefste Despotismus und der gänzliche Verlust der Idee einer sittlichen Organisation wäre, da das moralische Prinzip wie das des bürgerlichen Rechts nur im Endlichen und Einzelnen ist“ (II, 519).

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phie ist insofern vor allem eine Kritik an deren Verunmöglichung eines richtigen Verständnisses der Subjektivität, mit der auch das der Sittlichkeit verhindert wird. Mit einem umfassenderen begrifflichen Rahmen, als er in den Frankfurter Schriften zu sehen war, kritisiert Hegel anhand einer Unterscheidung zwischen dem „Reellen“ und dem „Ideellen“ die falsche Opposition zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, in der sinnliche Momente stets nur als im Gegensatz zur Vernunft stehend angenommen werden. Daher ergibt sich in dieser Vorstellung der Fehler, dass „das Reelle unter den Namen von Sinnlichkeit, Neigungen, unterem Begehrungsvermögen usw. (Moment der Vielheit des Verhältnisses) mit der Vernunft (Moment der reinen Einheit des Verhältnisses) nicht übereinstimme (Moment der Entgegensetzung der Einheit und Vielheit) und daß die Vernunft darin bestehe, aus eigener absoluter Selbsttätigkeit und Autonomie zu wollen und jene Sinnlichkeit einzuschränken und zu beherrschen“. (II, 458)

Das Problem besteht darin, den Gegensatz zwischen „Sinnlichkeit“, „Neigungen“, „Begehrungsvermögen“ einerseits und der Vernunft andererseits nicht als ein „Moment“ zu fassen, sondern ihn zu verabsolutieren. Aufgrund dieser Trennung kommt Hegel zu der Schlussfolgerung, dass ein solcher Ansatz „keine Sittlichkeit hat“ (II, 459) und es ein „Fehler [...] der Philosophie [ist], daß sie die Erscheinung des Unsittlichen gewählt [hat]“ (II, 459). Hegel zufolge führe dieser Ansatz zu einer verfälschten Vorstellung der „praktischen Vernunft“ und damit – insofern sie eine Abstraktion von ihrem Inhalt erfordere – zu einem ohnmächtigen und abstrakten Formalismus: „Nun ist es aber gerade das Interesse zu wissen, was denn Recht und Pflicht sei; es wird nach dem Inhalt des Sittengesetzes gefragt, und es ist allein um diesen Inhalt zu tun; aber das Wesen des reinen Willens und der reinen praktischen Vernunft ist, daß von allem Inhalt abstrahiert sei, und also ist es an sich widersprechend, eine Sittengesetzgebung, da sie einen Inhalt haben müßte, bei dieser absoluten praktischen Vernunft zu suchen, da ihr Wesen darin besteht, keinen Inhalt zu haben.“ (II, 461)

Es entsteht also ein Widerspruch der praktischen Vernunft, die von allem Inhalt abstrahieren will, wodurch sie nur als ein leerer Formalismus bleibt, ohne ein „Sittengesetz“ enthalten zu können. Mit dieser Abstraktion von den Inhalten des Willens entsteht das, was Hegel als „Heteronomie der Willkür“ (II, 461) bezeichnet, weil letztere ein rein formelles, von der Subjektivität getrenntes

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Moment des Willens darstellt. Hegels Argument gegen Kant ist von daher, dass die Normativität des Sollens bei der Moralität – als Entgegensetzung zwischen Bedingtem und Unbedingtem – die „Form“ als Unbedingtes privilegiert, in welcher der Inhalt auf die Zufälligkeit der Willkür reduziert wird. Weil zwei „Bestimmtheiten“ sich in einer leeren Einheit befinden, nimmt die Form das Unbedingte und der Inhalt das Bedingte an. Diese Spannung zwischen Form und Inhalt werden als Gesetze und Pflichten dargestellt – als ein Inhalt, der sich der Form nicht anpasst. „Wo aber“, geht Hegel weiter, „eine Bestimmtheit und Einzelheit zu einem Ansich erhoben wird, da ist Vernunftwidrigkeit und, in Beziehung aufs Sittliche, Unsittlichkeit gesetzt“ (II, 463). Der bedingte Inhalt wird dadurch verabsolutiert, als eine „Verwandlung des Bedingten, Unreellen in ein Unbedingtes und Absolutes“ (II 463). Die emblematische Schlussfolgerung Hegels ist die, dass, während es sich bei der Moralität stets um einen Inhalt handeln sollte, diese in der Verwirrung zwischen Form und Inhalt zu einem „unreellen“, abstrakten Formalismus wird: „[D]urch Vermischung der absoluten Form aber mit der bedingten Materie wird unversehens dem Unreellen, Bedingten des Inhalts die Absolutheit der Form untergeschoben, und in dieser Verkehrung und Taschenspielerei liegt der Nerv dieser praktischen Gesetzgebung der reinen Vernunft.“ (II, 464)

Eine Fixierung auf die Form distanziert sich von einem sittlichen Inhalt, welchen Hegel dagegen vielmehr als zentral für die Charakteristik des freien Willens darstellen will. Das Problem liegt also in der Vorherrschaft der Form, welche sich vor allem als rein normatives Prinzip ausdrückt. Hegel verteidigt, wie angedeutet wurde, dass das Gesetz nicht ein Sollen, sondern das „Wesentliche“, ein „Sein“ ausdrücken muss. Sowohl an Kant als auch an Fichte kritisiert er die Auffassung, einen externen Zwang in der Sittlichkeit zu begründen, die somit immer das Äußere bleibt und dadurch die subjektive Freiheit verhindert.5 Die von der praktischen Vernunft verabsolutierte Unilateralität führt zu dem, was Hegel als „Prinzip der Unsittlichkeit“ (II, 459, 463) bezeichnet. Dagegen soll eine „Philosophie der Sittlichkeit“ sich der Suche nach diesem wesentlichen Verhältnis von Subjektivität und Sittlichkeit jenseits der Zufälligkeit von Inhalten des Willens widmen. Dementsprechend entwirft er eine solche Philosophie, welche aber – schon im Kontext der Frankfurter Schriften ‒ etwas an5

„In dem Begriff des Zwangs selbst wird unmittelbar etwas Äußeres für die Freiheit gesetzt; aber eine Freiheit, für welche etwas wahrhaft Äußeres, Fremdes wäre, ist keine Freiheit; ihr Wesen und ihre formelle Definition ist gerade, daß nichts absolut Äußeres ist“ (II, 476).

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deres als einen nur substantialistischen Sittlichkeitsbegriff, nämlich, im Gegenteil, die Versöhnung mit der Subjektivität ermöglichen soll.

2.2 L EIDENSCHAFTEN

UND

N ORMATIVITÄT

Diese in Jena skizzierten Überlegungen finden sich auch in Hegels späteren Schriften. Unter dem Titel „Die Idee der menschlichen Freiheit“ widmet sich Hegel zu Anfang der Berliner Vorlesungen über die Weltgeschichte von 18211822 der sich in den Frankfurter Schriften anzutreffenden Kritik an der Begrenztheit des moralischen Formalismus, insofern letztere nur „allgemeine Pflichten und Rechte als objektive Gebote“ ‒ „ein bloß Negative[s]“ – umfasst: „Selbst die Moral, welche mit dem Freiheitsbewußtsein so nahe zusammenhängt, kann bei dem noch vorhandenen Mangel desselben sehr rein sein, insofern sie nämlich nur die allgemeinen Pflichten und Rechte als objektive Gebote ausspricht, oder auch insofern sie bei der formellen Erhebung, dem Aufgeben des Sinnlichen und aller sinnlichen Motive, 6

als einem bloß Negativen stehen bleibt.“ (VWG, 95)

Hier hat Hegel sowohl die Ebene der subjektiven Erfahrungen vor Augen als auch eine mit einer Sittlichkeitstheorie verbundenen objektive Dimension. In Bezug auf diese zweite, normativ-theoretische Ebene beharrt Hegel, im Gegensatz zu den unzulänglichen bloß moralischen Gesetzen, auf der Unterscheidung zwischen einem „reale[n] Dasein und ein[em] ideale[n]“ (VWG, 102): Während ein ideales Dasein der Aufgabe der Philosophie entspricht, reicht es im Falle einer normativen Theorie nicht, bei formellen Vorstellungen zu bleiben.

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Zur Veranschaulichung dieser Kritik nennt Hegel verschiedene Beispiele, wie etwa die chinesische, die stoische und die indische Lehre bezüglich des Freiheitsbegriffes. In diesen Fällen sieht Hegel „moralische [...] Gesetze wie Naturgesetze, äußerliche positive Gebote, Zwangsrechte und Zwangspflichten“. „Die Freiheit“ – so heißt es weiter – „durch welche die substantiellen Vernunftbestimmungen erst zu sittlicher Gesinnung werden, fehlt“ (VWG, 96). Im Fall der indischen Lehre ist das Aufgeben „der Sinnlichkeit, der Begierden und irdischen Interessen [...] nicht die affirmative, sittliche Freiheit, das Ziel und Ende, sondern das Nichts des Bewußtseins, die geistige und selbst physische Leblosigkeit“ (VWG, 95 f.). Diese werde ich weiter unten in Kapitel V I auch im Kontext der Diskussion über die Willkür und negativen Freiheit diskutieren, die in den Abschnitten §5-6 von Hegels Rechtsphilosophie dargestellt wird.

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Stattdessen muss diese in die Wirklichkeit gebracht werden ‒ zu einer „reellen Wirksamkeit“ (VWG, 102). Eine bloße Vorstellung führt zu einem Leben ohne Reflexion, das „Pflicht überhaupt als unbegründet wankend zu machen sucht“ (VWG, 102). Wenn die Pflicht nur als eine isolierte moralische Norm ausgedrückt wird, verliert die Sittlichkeit ihren Daseinsgrund. Die Folge ist der Abbruch von sozialen Bindungen, wo „Glauben, das Zutrauen, die Sitte“ (VWG, 102) sich auflösen. Hegels Argument hier ist nicht nur, dass dieses ideale Modell nicht plausibel oder ungerechtfertigt ist, sondern dass es zu einem atomistischen Modell führt, in dem das Individuum sich von der Sittlichkeit trennt: „Damit tritt zugleich die Isolierung der Individuen voneinander und vom Ganzen ein, die einbrechende Eigensucht derselben und Eitelkeit, das Suchen des eigenen Vorteils und Befriedigung desselben auf Kosten des Ganzen: nämlich jenes sich absondernde Innere ist auch in der Form der Subjektivität - die Eigensucht und das Verderben in den losgebundenen Leidenschaften und eigenen Interessen der Menschen.“ (VWG, 102)

Das normative Potenzial einer Sittlichkeitstheorie wird von Hegel durch Schlüsselbegriffe wie Leidenschaften und Neigungen ständig begleitet, ohne deren Berücksichtigung eine kritische Beurteilung der sittlichen Sphären versperrt wird. Das Problem eines „idealen“ Moments besteht also nicht nur in seiner Unwirksamkeit, die in der Wirklichkeit vorhandenen normativen Kriterien für die sozialen Verhältnisse geltend machen zu können, sondern auch darin, dass diese atomistische Position nicht mehr in der Lage ist, Individualität mit sozialen Bindungen zu verknüpfen. So scheint Hegels These zu sein, dass bloße Gedanken und Vorstellungen der Reflexion ausschließlich zur Berechnung von Vorzügen führen, von „losgebundenen Leidenschaften“ und „eigenen Interessen“, so dass das individuelle Dasein von den sozialen Verhältnissen getrennt bleibt und damit das Sittliche aus den Augen verloren wird. Eine solche isolierte Rationalisierung „verschlingt“ die Sittlichkeit, was Hegel mit Verweis auf Kronos und Zeus illustriert: Während Kronos ‒ nur als Zeit, ohne die „Sittlichkeit“ ‒ seine eigenen Kinder aufzehrt, hat Zeus ‒ als „politischer“ Gott ‒ „ein sittliches Werk, den Staat, hervorgebracht“ (VWG, 101), wobei sich das Individuum als Teil der sittlichen Verhältnisse erfassen lässt. Allerdings enthält dieses Moment die Einschränkung, nur als Ideal zu gelten; denn Im Gegensatz zu Kronos kann Zeus zwar für das Sittliche einen politischen Rahmen bilden, dies kann aber zu dem anderen Extrem führen, dass nur egoistische Interessen gelten und damit reale sittliche Formen – als wirkliche soziale Verhältnisse – nicht zum Ausdruck kommen. Die Verflechtung von Realem und Idealem soll insofern nicht in einem vereinseitigten reflexiven Moment ‒ durch ein „Gerede

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von der Tugend“ (VWG, 102) ‒ begründet, sondern als Möglichkeit gegeben sein, sittliche Formen als Begriff zu fassen. Die Bewegung einer immanenten Normativität zu beschreiben beinhaltet also auch die Möglichkeit, sittliche Verhältnisse jenseits formeller Kriterien darzulegen. In Bezug auf eine zweite, subjektive Ebene unterscheidet Hegel zwischen individualistischen und allgemeinen Formen von Idealen. Vor dem Hintergrund der Romantik kritisiert er die Ohnmacht eines utopischen Idealen, das sich über die Wirklichkeit hinwegsetzt: Insofern es sich als allmächtig setzt, kann ein einseitiges Ideal nicht der Welt entsprechen, weil es diese übertreffen will. Ein individuelles Ideal ist nicht nur von der Wirklichkeit unabhängig, sondern auch über ihr stehend, so dass Gesetze hier nur von einem einseitigen individuellen Standpunkt aus begründet werden können: „Nichts ist, wie gesagt, jetzt häufiger als die Klage, daß die Ideale, welche die Fantasie aufstellt, nicht realisiert, daß diese herrlichen Träume von der kalten Wirklichkeit zerstört werden. Diese Ideale, welche an der Klippe der harten Wirklichkeit, auf der Lebensfahrt, scheiternd zugrunde gehen, können zunächst nur subjektive sein und der sich für das Höchste und Klügste haltenden Individualität des Einzelnen angehören. Die gehören eigentlich nicht hierher. Denn was das Individuum für sich in seiner Einzelheit sich ausspinnt, kann für die allgemeine Wirklichkeit nicht Gesetz sein, ebenso wie das Weltgesetz nicht für die einzelnen Individuen allein ist, die dabei sehr zu kurz kommen können.“ (VWG, 52)

Mit dieser Idee verbunden ist ein „Ideal der Vernunft, des Guten, des Wahren“ (VWG, 52) ‒ wie Hegel es z. B. bei Schiller sieht ‒, das aber auch „sehr rührend und empfindungsvoll dargestellt“ wird, „im Gefühl tiefer Trauer“, so „daß solche Ideale ihre Verwirklichung nicht zu finden vermöchten“ (VWG, 52). Die Radikalisierung einseitiger, empfindender Subjektivität kann nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen, da diese für das Subjekt ein Hindernis für seine Verwirklichung zu sein scheint. Auf diese Weise formuliert Hegel die Spannung zwischen dem besonderen Willen und dem allgemeinen, wo der Standpunkt der abstrakten Willkür aus einem einseitigen Moment der Subjektivität gegenüber der Welt besteht.7 An diesem Punkt, wo die Befriedigung des selbst7

„Die Tätigen, wirksam auf diesem Standpunkt, wollen Wirkliches, Endliches, höhere Zwecke für sich und wollen den Genuß ihrer Besonderheit. Die andere Seite ist, daß in diesen besonderen Zwecken zugleich eine Allgemeinheit von Zwecken hereinscheint, was wir Gutes, Recht, Pflicht etc. nennen. Scheint dieses Allgemeine nicht herein, so befinden wir uns auf dem Standpunkt der abstrakten Willkür, der Rohheit, die nur die Befriedigung der Selbstsucht will“ (VWG, 66).

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süchtigen Willens ihre subjektive Seite zeigt, verortet Hegel die Leidenschaften. Als „Leidenschaft“ definiert Hegel in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte „überhaupt die Tätigkeit des Menschen aus partikulären Interessen, aus speziellen Zwecken oder, wenn man will, selbstsüchtigen Absichten, und zwar so, daß sie in diese Zwecke die ganze Energie ihres Wollens und Charakters legen, ihnen anderes, das auch Zweck sein kann, oder vielmehr alles andere aufopfern.“ (XII, 38)

Hegel behauptet, dass der Begriff der Leidenschaft die Bedeutung eines „InWirksamkeit-gesetzt-Seins“ besitze. In dem von Hegel verwendeten Vokabular hat die Leidenschaft aber keinen bestimmten Inhalt, sondern ist „zunächst die subjektive, insofern formelle Seite der Energie, des Willens und der Tätigkeit, wobei der Inhalt oder Zweck noch unbestimmt bleibt“ (XII, 39). Erst durch die Leidenschaft wird es die Bestimmung eines Inhalts, in die Wirklichkeit zu treten, ohne deren partikuläre Erfüllung auch die Überzeugungen leer sind. Sie sind daher nicht unbedingt „negativ“, sondern es „kommt […] immer darauf an“, so Hegel weiter, „welchen Inhalt meine Überzeugung hat, welchen Zweck meine Leidenschaft, ob der eine oder der andere wahrhafter Natur ist. Aber umgekehrt, wenn er dies ist, so gehört dazu, daß er in die Existenz trete, wirklich sei“ (XII, 38). Angesichts dieser Verflechtung von Natur und Sittlichkeit schließt Hegel emphatisch: „Die Leidenschaften [...], die Zwecke des partikulären Interesses, die Befriedigung der Selbstsucht, sind das Gewaltigste; sie haben ihre Macht darin, daß sie keine der Schranken achten, welche das Recht und die Moralität ihnen setzen wollen, und daß diese Naturgewalten dem Menschen unmittelbar näher liegen als die künstliche und langwierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung, zum Rechte und zur Moralität.“ (XII, 34)8

8

So auch in den Vorlesungen über die Weltgeschichte: „Die Leidenschaft will zwar immer ein Vorgestelltes; aber was sie tut, bestimmt sich in ihr und bestimmt sie selbst. Es ist diese Einheit der Bestimmung des Willens mit dem, was das Subjekt überhaupt ist. Leidenschaft ist die Bestimmung des ganzen Menschen, was ihn also von anderen trennt und unterscheidet, wodurch das Individuum dieses und nicht ein anderes ist. Jeder Mensch ist ein bestimmter, ein Besonderes; nur so ist er wirklich, denn ein bloß Abstraktes von Mensch hat keine Wahrheit. Der Zweck ist dann nicht ein Gewähltes, sondern eben das, was aus der Bestimmtheit der Leidenschaft hervorgeht. Leidenschaft heißt hier also Bestimmtheit des Menschen“ (VWG, 59 f.).

ZWEI S TUFEN

EINER

T HEORIE DER S ITTLICHKEIT

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Wie wir gesehen haben, fehlt es der Kantischen Moralität nach der Hegelschen Auslegung daran, die Neigungen und Leidenschaften behutsam genug zu berücksichtigen. Demgegenüber will Hegel die individuelle Freiheit so verstehen, dass eine Idee des Allgemeinen nicht mittels einer Vernichtung oder eines „Absonderns“ der Leidenschaften zu erreichen ist, sondern durch deren sittlich vermittelte Bildung. Die normativen Zustände der Freiheit hängen von einer im sozialen Kontext vermittelten Herausbildung von Begierden, Trieben, Gefühlen und Leidenschaften ab,9 die genau deshalb eine zentrale Rolle für Hegels Sittlichkeitstheorie spielen: Auf den verschiedenen Stufen seiner Argumentation haben sie ihren Ort in den sozialen Verhältnissen, als Ergänzungen von „Recht und […] Moralität“. Gemäß dieser Schwerpunktsetzung lautet Hegels Idee, dass bloß formelle vernünftige Prinzipien für eine rationale „agency“ unzureichend seien, so dass zum Zwecke der Formulierung einer Theorie der Freiheit die Rolle der Leidenschaft und der individuellen Neigungen berücksichtigt werden muss. Triebe und Leidenschaften – als „das Gewaltigste“ – nicht zu berücksichtigen heißt daher nicht nur, die subjektive Seite zu vernachlässigen, sondern auch, deren normative Bedeutung zu übersehen. Deshalb beschränkt sich für Hegel die Thematisierung der Leidenschaften nicht nur auf den subjektiven Geist, wie wir angesichts einer Untersuchung der einschlägigen Passagen in der Enzyklopädie noch sehen werden. Denn nur in sittlichen Kontexten – und gerade nicht auf den anderen vorherigen Stufen – findet eine angemessene Verortung der Leidenschaften statt. Die von Hegel später angestellten Überlegungen zur Rolle der Leidenschaften führten zu einer Präzisierung seiner Sittlichkeitstheorie, deren Grundzüge einer institutionell vermittelten Willensbildung wir im dritten Teil unserer Untersuchung betrachten werden. Während Hegel schon in den Frankfurter Schriften die grundlegende Idee einer Rolle der menschlichen Natur für die Begrenztheit des Gesetzes entworfen hat, hat er erst später einen Bildungsprozess für die Triebe und Neigungen – unter Hinzunahme des Begriffs des freien Willens ‒ im Rahmen seiner Sittlichkeitstheorie entwickelt Dass die Bedeutung von Freiheit nicht mehr in der Achtung für ein Gesetz liegt, sondern in einer Ergänzung des Gesetzes durch die Natur, zeigt die an der Willensbildung orientierte moralische Auffassung an, die in der sittlichen Sphäre verortet wird. In unserer Rekonstruktion soll zuerst dargelegt 9

Die Literatur zu diesen Begriffen ist umfangreich und die jeweiligen Unterscheidungen sind umstritten. Vgl. z. B. Hartmann 2010; Rorty (Hrsg.) 1980; Demmerling/Landweer 2007, Dominik 2011, Newmark 2008. Die in dieser Arbeit weiter unten angenommene Präferenz für den Begriff Affekt liegt in einer umfassenderen Idee begründet, sowohl intersubjektive als auch subjektive und epistemische Erfahrungen einzuschließen.

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werden, dass die grundlegende Struktur von Hegels Theorie der Subjektivität als eine allmähliche Willensdezentrierung zu verstehen ist, damit wir uns in einem zweiten Schritt der Frage widmen können, wie ein institutionalisierter Rahmen die objektiven Formen dieser Willensbildung vermitteln kann.

Zweiter Teil

Natur und Subjektivität

3. Stufen der Willensdezentrierung nach Hegels Subjektivitätstheorie

Im ersten Kapitel wurde Hegels Verständnis des Verhältnisses von Neigungen und Gesetzen in seinen Frankfurter Schriften dargestellt, und zwar unter besonderer Berücksichtigung seiner Kritik an der kantischen Moralität. Dabei interessierte uns insbesondere die Verbindung von Moralität und Natur in der Liebe, die in diesen Schriften als Aufhebung der Pflicht zu verstehen ist und gleichzeitig einen besonderen moralischen Inhalt umfasst. Insofern wird die Liebe von Hegel nicht als Achtung für ein moralisches Gesetz verstanden, sondern als ein mit dem Willen verbundener Inhalt, der Hegel zufolge Neigungen, Triebe und Gefühle mit einschließt. In Hinblick auf seine in Frankfurt skizzierten Überlegungen zur Rolle der menschlichen Natur innerhalb seiner Sittlichkeitstheorie nimmt sich Hegel der Aufgabe an, einen neuen begrifflichen Rahmen für seine Sittlichkeitstheorie zu entwickeln, der von dieser Grundidee der Liebe nicht ablassen würde, aber auch ihre Grenzen für die Bildung einer komplexen Theorie des Sozialen nicht ignoriert. Schon etwa die sogenannte Jenaer Realphilosophie und der Naturrechtaufsatz sowie das posthum veröffentlichte System der Sittlichkeit stellen nicht stets neue Begriffe, sondern vielmehr eine Verfeinerung von Hegels ursprünglicher Idee dar.1 1

Aufgrund der Vielfalt der Literatur zu Hegels Jenaer Schriften habe ich mich entschieden, den weniger diskutierten Schriften von Hegel Aufmerksamkeit zu schenken. Unter den Interpretationen von Hegels Jenaer Schriften, die meine Auffassung beeinflusst haben, sind als wichtigste zu nennen: Habermas 1968, 1985; Siep 1979; Honneth 1994; Wildt 1982. Ich habe diese Texte in einer früheren Arbeit bei dem Versuch betrachtet, um eine Interpretation von Axel Honneths Aneignung von Hegels Sittlichkeitstheorie im Vergleich zu in dieser Literatur kritisierten Aspekten nachzuverfolgen ‒ unter besonderer Berücksichtigung von drei Hegelschen Grund-

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Hegels Entscheidung aber, in diesen Schriften eine zunehmend spekulative Semantik zu vertreten – wie im damals besonders in Deutschland verbreiteten metaphysischen Denkmodell üblich –, ersetzt die stilistische und inhaltliche Klarheit der Frankfurter Schriften durch eine hermetischere Sprache. Mit dieser schon früh eintretenden „spekulativen Wende“ überwiegt der Stil, der Hegels spätere Schriften charakterisieren wird. Freilich ist diese Veränderung nicht nur semantisch ein entscheidender Wendepunkt für Hegels Ansatz, da die bisher noch diffusen Begrifflichkeiten einem robusteren systematischen Programm Platz machen und seine Logik sich zum grundlegenden Element seines gesamten philosophischen Projekts erhebt2. Erstaunlich ist aber, dass, zusammen mit dem hintergründigen Leitfaden seiner entstehenden Logik, Hegel die Aufgabe annimmt, mit seiner Theorie des Geistes eine Konzeption der menschlichen Natur und eine damit verbundene Theorie der Subjektivität zu entwickeln. So werden – mit unterschiedlichem methodologischem Aufbau – schon in Jena Entwürfe einer Philosophie des Geistes verfasst, die die Grundstruktur der später veröffentlichten Version der Enzyklopädie antizipieren. Mit diesem Interpretationsvorschlag lässt sich statt eines Bruchs in Hegels philosophischem Programm eher eine Kontinuität behaupten ‒ wenn auch mit gewissen Modifikationen. Aus unserem einleitend vorgestellten methodologischen Vorschlag ergibt sich, dass Hegels Philosophie des „subjektiven“ Geistes –grundsätzlich in ihrer ontogenetischen und anthropologischen Darstellung – eine immanente Erklärung für seine Sittlichkeitstheorie ermöglicht. Diese Interpretation – so wird gemeint - soll eine Alternative anbieten, seine logischen Prämissen zu ergänzen und damit etwas über Hegels internes philosophisches Projekt einer „naturalistischen“ Auseinandersetzung herauszufinden. Unter Berücksichtigung dieser argumentativen Strategie haben wir im Folgenden die Absicht, die Stufen von Hegels Theorie der menschlichen Natur zu rekonstruieren. Seine von ihm in Jena und danach in Nürnberg und Heidelberg3 skizzierte Auffassung der menschlichen Natur erhält eine endgültige und elaborierte Version in der Fassung seiner Enzyklopädie. In dieser Schrift wird Hegels Theorie des „subjektiven Geistes“ ausgearbeitet, die aber in der Sekundärliteratur bis-

konzepten, nämlich Geist, Teleologie und dem Verhältnis zwischen logischer und empirischer Begründung (vgl. Campello 2008). 2

Diese systematische Wende in Hegels Ansatz vollzieht sich in Jena, wo Hegel sich in den sogenannte Systementwürfen zuerst einer „Logik“-Abteilung widmet.

3

Vgl. IV.

S TUFEN

DER

W ILLENSDEZENTRIERUNG

NACH

H EGELS S UBJEKTIVITÄTSTHEORIE

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lang noch wenig Aufmerksamkeit erhalten hat.4 Wie kein anderer Text liefert die enzyklopädische „Anthropologie“ eine klare Darstellung von Hegels Auffassung der menschlichen Natur: Während in der Phänomenologie des Geistes das Bewusstsein in seiner „phänomenologischen“ Erfahrungsweise beschrieben wird, werden in der „Anthropologie“ viele einzelne Aspekte der Hegelschen Theorie der Subjektivität ausführlich dargestellt, so etwa die Begriffe von Trieb und Neigung, das Verhältnis von Leib und Seele, Gewohnheit und Verrücktheit. Wenn man einen Blick auf die gesamte Architektonik von Hegels enzyklopädischer Philosophie des Geistes wirft, wird deutlich, dass der der „Phänomenologie des Geistes“ gewidmete Teil auf einer Zwischenstufe verortet ist, und zwar nach der „Anthropologie“ und vor der „Psychologie“. Und in diesem Teil wird die Entstehung des Selbstbewusstseins - die Hegel auch im Verlauf seiner Phänomenologie des Geistes verfolgt - mit einer klaren Weise dargestellt: So wie in der Phänomenologie beschreibt Hegel in der enzyklopädischen „Anthropologie“ die Entwicklung des Bewusstseins, das sich durch immer komplexere Bestimmungsvermittlungen formiert.5 Dieses „Narrativ“

4

Häufig bieten Studien dazu entweder einen detaillierten Kommentar (wie Drüe et al. 2000) oder betonen einzelne Punkte von Hegels Darstellung. In dieser letzten Richtung sind – um sich nur auf die jüngste Literatur zu beschränken – zu nennen: Halbig 2006 und Malabou 2005. Im Unterschied dazu nehme ich den Versuch vor, Hegels Konzeption des subjektiven Geistes als Grundzug seiner Sittlichkeitstheorie zu rekonstruieren. Es ist nun auch ein jüngst erschienener Sammelband zum Thema (Stern 2013) zu nennen, die hier leider nicht berücksichtigt werden konnte.

5

Eine Rekonstruktion dieser Momente im Rahmen der Phänomenologie des Geistes bietet Axel Honneth im Anschluss an die psychoanalytisch orientierte Theorie der Objektbeziehung von Donald Winnicott (vgl. Honneth 2010). Honneth behauptet in seinem Aufsatz, dass die Ontogenese des Bewusstseins von einer graduellen Unterscheidung seitens des Kindes zwischen der Umwelt und seiner Bezugsperson geprägt ist: sie besteht mithin darin, von einer ursprünglichen, allmächtigen Entwicklungsstufe (von Winnicott als „omnipotente Phase“ bezeichnet) zu einer differenzierten Selbstbeschränkung überzugehen, in welcher der Säugling sich auf sich selbst als ein Bewusstsein zu beziehen beginnt. Am Schluss von Honneths Aufsatz wird diese Diagnose mit dem Begriff der Anerkennung zusammengebracht: „Anerkennung – die wechselseitige Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen“ (2010:32). In einem anderen Aufsatz jedoch identifiziert Honneth – besonders im Anschluss an die Arbeiten von Daniel Stern und Joachim Küchenhoff diese Phase nicht als einen „dauerhaften Zustand der Fu-

sion“, sondern als „Episoden“ (Honneth 2010: 294) – schrittweise, nicht-lineare Zu-

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besteht grundsätzlich aus dem Übergang einer ersten, unmittelbaren Natur zu einer zweiten, die zuletzt als „freier Geist“ gilt. Ich werde im Folgenden die Stufen der Formierung des freien Willens versuchen zu rekonstruieren, die durch die Grundmotive von Trieben, Begierden, Willkür und Willen geleitet wird. Meine Absicht ist dabei nicht, einen detaillierten oder systematischen Kommentar über Hegels Enzyklopädie anzubieten, sondern eine „naturalistische“ Deutung von Hegels Sittlichkeitstheorie vorzuschlagen. Unsere Rekonstruktion wird in drei Schritten ausgeführt: Zuerst wird die primäre Stufe der Begierde als ein Modell der Selbstbeschränkung einer allmächtigen Willkür dargestellt, die konstitutiv für die Formierung des Selbst ist (3.1). Danach wird die Rolle des Denkens als Universalisierungsvermögen betrachtet, durch das die Herausbildung „sittlicher Gefühle“ ermöglicht wird (3.2). Zuletzt muss gezeigt werden, wie Triebe, Leidenschaften und Interessen nach Hegel identitätskonstitutiv – als Affirmation der Individualität - und damit auch erforderlich für die Ausbildung eines sittlichen Willens sind (3.3). Wie am Ende dieser Darlegung sichtbar werden wird, besteht Hegels Darstellung der Stufen der ontogenetischen Entstehung des freien Willens aus einer schrittweisen Dezentrierung primär selbstbezogener, natürlicher Triebe hin zur Einbeziehung sittlicher Inhalte. Der Subjektivierungsprozess lässt sich einerseits durch die Figuren der Triebe, Begierden und Neigungen als ein allmählicher Prozess der Aufhebung einer zuerst selbstzentrierten Willkür zu einem dezentrierten freien Willen begreifen. Dabei sind andererseits aber die subjektiven Leidenschaften und Interessen zu verwirklichen und nicht zu übergehen, insofern diese nämlich die konstitutive Kraft der Individualität darstellen. Mit dieser Rekonstruktion soll unsere These entfaltet werden, dass Hegels Begriff des freien Willens sich nicht nur auf einer logischen, sondern auch auf einer ontogenetischen Ebene erklären lässt, und dass diese Ebene den Ausgangspunkt seiner Theorie der Sittlichkeit bildet.

3.1 D IE AMBIVALENZ

DER

B EGIERDEN

Bereits an den Untertiteln der einzelnen Sektionskapitel der Enzyklopädie lässt sich die auf der jeweiligen Stufe verfolgte Thematik erkennen: Während es bei der „Anthropologie“ um die Beschreibung der „Seele“ geht, bezieht sich die „Phänomenologie“ auf den Erfahrungsprozess des „Bewusstseins“; die „Psy-

stände von Verschmelzung und Trennung. Von daher zieht er „Verschmelzungszustand“ (2010:294) dem Begriff der „Omnipotenz“ vor.

S TUFEN

DER

W ILLENSDEZENTRIERUNG

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chologie“, als letzte, hat den „Geist“ zum Objekt ihrer Darstellung. Die erste der von Hegel dargestellten Stufen dieser Entfaltung („Die Seele“) besteht in einer zunächst undifferenzierten Einheit zwischen der noch von ihrer natürlichen Bestimmung geprägten Seele und der Welt (I, §§391-402). Diese unterscheidet sich danach durch die Vermittlung der Gewohnheit als „fühlende Seele“ allmählich von der Welt (I, §§403-410). Zuletzt entsteht sie als „wirkliche Seele“ ‒ eine durch die Gewohnheit ermöglichte Versöhnung zwischen Natur und Geist, Leib und Seele (I, §§411-412). Auf der ersten Ebene dieser Entwicklung zeigt sich, dass die Seele sich selbst als eins fühlt, sich auf ein Gefühl bezieht.6 Das Erscheinen von Gegenständen, die von der Seele unterschieden sind, heißt aber zugleich, dass sie sich selbst nicht „als Gesamtheit“ der Welt, sondern als beschränktes Einzelnes fühlt. Diese Entwicklung besteht also in einer Entzweiung, einer Unterscheidung zwischen Subjekt und Gegenstand – all dessen, was gegen die Seele steht. Immer noch als Gefühl ‒ und noch nicht als Wissen ‒ erfährt die Seele die Beschränkung, dass ein Gegenstand – eine Welt außer ihrer selbst – vorhanden ist, von dem sie sich unterscheidet.7 Im Übergang zur Stufe der „fühlenden“ Seele positioniert sich die Seele gegenüber der Substantialität und wird „zum Gefühl ihrer selbst oder zu dem noch nicht objektiven, sondern nur subjektiven Bewußtsein ihrer Totalität“ (X, §402). Zwischen der Unfreiheit von der natürlichen Bestimmung einerseits und dem freien Bewusstsein andererseits, in der ein zuerst empfundener Gegenstand als ein vorgestellter angenommen wird, besteht der Verlauf des Subjektivierungsprozesses aus Stufen steigender Bestimmtheiten. Durch den Entwicklungsprozess verschiedener Beziehungen zur Welt wird die Seele eine „wirkliche Individualität“, so schreibt Hegel in einer schönen Formulierung, „an sich noch eine Welt von konkretem Inhalt mit unendlicher Peripherie“ (X, §402, Z.). Dies ist die Seite der Seele jenseits der Empfindung von einer Welt, die nicht außerhalb der Seele ist, sondern eine Welt, die die Seele selbst zusammenbringt ‒ was Hegel „Weltseele” nennt (X, §402, Z.). Durch ihr Verhältnis zur Welt erfährt sich die Seele als beschränkt, aber nur dadurch weißt sie sich selbst als etwas Individuelles. Diese Beschränkung zeigt sich auch als Bedin6

„Zunächst wissen wir“, schreibt Hegel in den Vorlesungen über die Weltgeschichte, „daß wir fühlend sind; wir finden uns so oder so bestimmt. Hier ist noch keine Gegenständlichkeit vorhanden, sondern die Unbestimmtheit“ (VWG, 26 f.).

7

„Der Fortgang ist, sich zu bestimmen, sich zu entzweien, etwas mir als Gegenstand gegenüberzustellen. Diese Bestimmtheit suche ich nun von mir abzutrennen und zu einem Gegenstand zu machen, und so werden meine Gefühle eine äußere und [eine] innere Welt“ (VWG, 27).

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gung ihres Weltbezugs:8 Wenn einerseits die Seele selbst sich als eine Welt setzt, unterscheidet sie sich von der unmittelbaren Naturbestimmung und fängt damit an, sich als ein Selbst zu erfahren.9 Dieses besteht nun darin, sich selbst als Gegenstand zu erkennen, und das heißt, durch eine allmähliche Differenzierung von der Welt sich selbst zu bestimmen.10 Dass sich die Seele von einem äußeren Objekt unterscheiden muss, ist ein „Befreiungskampf“ darum, sie selbst zu werden, um „[die] im Ich existierende[n] sich auf sich beziehende einfache Subjektivität“ (X, §402, Z.) zu entwickeln. Wie damit zu sehen ist, existiert innerhalb der Seele eine Spannung zwischen einem unvermittelten Verhältnis von „individueller Welt“ und „substanzieller Wirklichkeit“ einerseits und andererseits der „vermittelte[n] Beziehung der Seele zu ihrer in objektivem Zusammenhange stehenden Welt“ (X, §406). Im Unterschied zur „wirklichen“ Seele enthält die fühlende Seele eine noch nicht ausdifferenzierte Welt in sich. Diese Spannung sieht Hegel als eine „Krankheit“ an (X, §406), welche, analog zu einer körperlichen Krankheit, in der Seele entsteht, wenn das Seelenleben nicht mehr dem geistigen Bewusstsein entspricht, sondern sich zwischen einer „fühlenden Naturlebendigkeit“ und einem „vermittelten, verständigen Bewußtsein“ (X, §406) befindet. Es entsteht 8

„Weil die Seele des Menschen eine einzelne, eine nach allen Seiten hin bestimmte und somit beschränkte ist, so verhält sich dieselbe auch zu einem nach ihrem individuellen Standpunkt bestimmten Universum. Dies der Seele Gegenüberstehende ist nicht ein derselben Äußerliches. Die Totalität der Verhältnisse, in welchen die individuelle menschliche Seele sich befindet, macht vielmehr deren wirkliche Lebendigkeit und Subjektivität aus und ist sonach mit derselben ebenso fest verwachsen wie - um ein Bild zu gebrauchen - mit dem Baume die Blätter, die, obgleich sie einerseits ein von demselben Unterschiedenes sind, dennoch so wesentlich zu ihm gehören, daß er abstirbt, wenn jene ihm wiederholt abgerissen werden“ (X, §402, Z.).

9

„Die Seele des Menschen hat aber nicht bloß Naturunterschiede, sondern sie unterscheidet sich in sich selber, trennt ihre substantielle Totalität, ihre individuelle Welt von sich ab, setzt dieselbe sich als dem Subjektiven gegenüber. Ihr Zweck ist dabei der, daß für sie oder für den Geist werde, was derselbe an sich ist, - daß der an sich im Geiste enthaltene Kosmos in das Bewußtsein desselben trete“ (X, §402, Z.).

10 „Ich habe Bewußtsein, insofern ich Selbstbewußtsein bin, d. i. ich weiß von einem Gegenstand, also einem Äußeren nur, insofern ich darin von mir weiß, das andere bestimme, das Mögliche zu sein, [so] daß ich also darin meine Bestimmung weiß, daß ich nicht nur dies oder jenes bin, sondern daß ich das bin, wovon ich weiß. D. h. ich weiß, daß das, was ich bin, auch für mich Gegenstand ist. Daß ich von mir weiß und von einem Gegenstand, ist unzertrennlich“ (VWG, 26).

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eine doppelte Bewegung, in der das Subjekt durch den Weltbezug die Bedingungen für seine Subjektivierung findet, es sich aber andererseits nur durch den Widerstand gegen und sogar Bruch mit einem undifferenzierten Allgemeinen als Selbst unterscheiden kann. Die Entwicklung dieser Erfahrung besteht darin, seine natürliche Bestimmung nicht als unmittelbar zu ergreifen, sondern als Objekt, „eine ihm äußere Welt“ (X, §412). So veranschaulicht Hegel die Entstehung des Ich als Seele als einen die „Natürlichkeit verzehrende[n] Blitz“, wodurch das Ich als „Idealität der Natürlichkeit“ gesetzt wird (X, §412, Z.). Bisher ist die Welt der Seele noch eine innerliche, die einen eigenen Gegensatz zwischen einem Selbst „an sich“ und „für sich“ in einem inneren Konflikt austrägt:11 Während das eine sich auf eine Welt bezieht, bezieht sich das andere auf sich selbst. Die Seele „selbst ist die gesetzte Totalität ihrer besonderen Welt so daß diese in sie eingeschlossen, ihre Erfüllung ist, gegen die sie sich nur zu sich selbst verhält“ (X, §403). Sie ist nur dann in der Lage, sich selbst als differenziert und allgemein zu fassen, wenn sie ein äußeres Allgemeines erfährt und sich diesem gegenüber „negativ“ setzt ‒ sich selbst also als ein undifferenziertes Allgemeines verneint; denn nur insofern die Seele einen allgemeinen Inhalt als „Allgemeines“ erfährt, kann sie sich selbst ebenso als allgemein fühlen, jetzt aber nicht mehr nur als ein isoliertes Allgemeines, sondern als ein von der Welt differenziertes Selbst. Darin besteht der Übergang vom „subjektivem Fühlen zum wahrhaft objektiven Bewußtsein“ (X, §402, Z.).12 Dieses Selbstgefühl soll aber zu einem Bewusstsein seiner Selbst führen und so vollzieht Hegel den Übergang zu einer weiteren Stufe, der der positiven Selbstbeziehung als spezifisch Menschliches. Es ist dieses Moment einer Spannung zwischen Natur und Geist, den Hegel Trieb nennt. Mit dem Grund11 „Auf dem Standpunkt der Seele, des noch nicht freien Geistes findet aber, wie gleichfalls schon bemerkt, kein objektives Bewußtsein, kein Wissen von der Welt als einer wirklich aus mir herausgesetzten statt. Die fühlende Seele verkehrt bloß mit ihren innerlichen Bestimmungen. Der Gegensatz ihrer selbst und desjenigen, was für sie ist, bleibt noch in sie eingeschlossen“ (X, §402, Z.). 12 Das komplette Zitat lautet: „Erst wenn die Seele den mannigfaltigen, unmittelbaren Inhalt ihrer individuellen Welt negativ gesetzt, ihn zu einem Einfachen, zu einem abstrakt Allgemeinen gemacht hat, wenn somit ein ganz Allgemeines für die Allgemeinheit der Seele ist und diese sich eben dadurch zu dem für sich selbst seienden, sich selbst gegenständlichen Ich, diesem sich auf sich beziehenden vollkommen Allgemeinen, entwickelt hat - eine Entwicklung, welche der Seele als solcher noch fehlt -, erst also nach Erreichung dieses Zieles kommt die Seele aus ihrem subjektiven Fühlen zum wahrhaft objektiven Bewußtsein“ (X, §402, Z.).

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begriff des Triebs erfasst Hegel eine ursprüngliche und rudimentäre Form des Selbstbezugs, die ein Selbstgefühl ermöglicht und damit auch den Willen, sich selbst als eine selbständige Einheit zu konstituieren: „Dies Gefühl seines Andersseins widerspricht seiner Gleichheit mit sich selbst. Die gefühlte Notwendigkeit, diesen Gegensatz aufzuheben, ist der Trieb“ (VII, §26). Im Kontext der Enzyklopädie wird der Trieb – im Unterschied zur Beschreibung in der Phänomenologie des Geistes ‒ in begrifflicher Hinsicht ausführlich entfaltet, woran sich Hegels Auffassung über das Verhältnis zwischen Natur und Geist klarer nachvollziehen lässt. Aus dem Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität setzt der Trieb die Objektivität als „[E]igenes“, wodurch ein allgemeiner Inhalt mit einer „formelle[n] Vernünftigkeit des Triebes und der Neigung“ bzw. seiner „wahrhafte[n] Vernünftigkeit“ (X, §474) verbunden wird. Die Objektivität ist dadurch nicht nur „in sich“, sondern für das Subjekt etwas Erfahrenes. Dass Hegel von einer „Vernünftigkeit des Triebes“ spricht, ist im Kontext unserer bisherigen Diskussion von grundlegender Bedeutung; denn insofern die Triebe ein „neutrales“ Konzept darstellen, hängt ihre „Vernünftigkeit“ davon ab, ihren Inhalt als allgemeinen verstehen zu können. Ein Trieb wird als „vernünftig“ begriffen, insofern er nicht einer primären, selbstreferenziellen Natur entspricht, sondern als zweite Natur, als herausgearbeiteter Trieb, einen sittlichen Inhalt besitzt. Auch hier sieht Hegel die Entwicklung dieses Prozesses nicht durch eine „äußere Reflexion“ angeleitet, sondern durch das vollzogen, was er die „immanente Reflexion des Geistes“ nennt: „Ihre wahrhafte Vernünftigkeit kann sich nicht in einer Betrachtung der äußeren Reflexion ergeben, welche selbständige Naturbestimmungen und unmittelbare Triebe voraussetzt und damit des einen Prinzips und Endzwecks für dieselbe ermangelt. Es ist aber die immanente Reflexion des Geistes selbst, über ihre Besonderheit wie über ihre natürliche Unmittelbarkeit hinauszugehen und ihrem Inhalte Vernünftigkeit und Objektivität zu geben, worin sie als notwendige Verhältnisse, Rechte und Pflichten sind.“ (X, §474)

Es wird noch näher betrachtet werden, wie etwa „Rechte und Pflichten“ die Objektivität des sittlichen Inhalts ausdrücken können. Hier ist es zunächst wichtig anzumerken, dass Hegels in dieser immanenten Entfaltung des Geistes zwar zwischen der „natürliche[n] Unmittelbarkeit“ und „Vernünftigkeit und Objektivität“ unterscheidet, diese aber nicht als reinen Gegensatz auffasst, sondern als ein praktisches Hinausgehen, als „immanente Reflexion“, wobei die Vernünftigkeit selbst mit einer Transformation der Natur verbunden wird. Weil

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Hegel das Verhältnis von Natur und Geist nicht als reinen Gegensatz erfasst, wird der Begriff der „Vernünftigkeit des Triebes“ ermöglicht. Auf dieser Stufe der Darstellung erreicht Hegel den Punkt in seiner Argumentation, wo das Grundmotiv der Begierden auftritt; denn der Gegenstand erscheint auf dieser neuen Stufe als lebendiger, was der Seele die Möglichkeit eröffnet, sich nicht nur als Gegenstand zu verhalten, sondern auch sich selbst als lebendig zu erleben. Die Begierde besteht in Form einer „Entäußerung“ des Bewusstseins, in der sich dieses auf eine äußere Wirklichkeit bezieht, die gleichzeitig als seine eigene Wahrheit erscheint. Diese Einheit von Entäußerung und Selbstbezug, die nicht mehr nur als Einheit für das Bewusstsein gilt, sondern auch in sich selbst eine solche darstellt, verlangt die Bezugnahme auf ein „Anderes“, erfordert also, aus sich selbst herauszugehen, was Hegel als Begehren beschreibt. Begierde bedeutet also, dass das Bewusstsein sich nicht nur als bloße Erscheinung erfährt, sondern seine „wahre“ Einheit als „wesentlich“ aneignet.13 Auch in der Phänomenologie des Geistes finden wir die schon häufig diskutierte Aspekte des Hegelschen Ansatzes, wobei dort die Beschreibung der Bewusstseinserfahrung nicht mehr den Umgang des Bewusstseins mit der Welt, sondern das Verhältnis zweier Bewusstseins zueinander thematisiert. Auf einer ersten Stufe kann die uns beschäftigende Frage so formuliert werden, wie das, was dem Bewusstsein bisher als Objekt erschienen ist, nicht mehr als Objekt wahrgenommen wird, sondern als ein anderes Selbstbewusstsein.14 Das

13 So schreibt Hegel in der Phänomenologie: „Dieser Gegensatz seiner Erscheinung und seiner Wahrheit hat aber nur die Wahrheit, nämlich die Einheit des Selbstbewußtseins mit sich selbst, zu seinem Wesen; diese muß ihm wesentlich werden, d. h. es ist Begierde überhaupt“ (III, 139). 14 Pippin (2010) bemerkt, dass die Dialektik von Begierde und Anerkennung in den gewöhnlichen Interpretationen der Phänomenologie eher isoliert betrachtet wird, also ohne einen klaren Zusammenhang mit dem ersten Kapitel des Werkes herzustellen. Daher schlägt Pippin eine Modifikation der in der Phänomenologie behandelten Fragestellung vor, nämlich in Richtung darauf, woraus das Selbst nach Hegel besteht. Eine alternative Auffassung vertritt John McDowell, der behauptet, dass Hegel hier nicht zuvörderst eine intersubjektivistische Erfahrung betont, sondern auf eine Spannung innerhalb des Bewusstseins aufmerksam machen will, insofern dieses sich selbst als „Selbst“ erkennen können soll. Soweit ich sehe, können diese Positionen komplementär sein, weil sich bei Hegel ein Zusammenhang zwischen der Selbsterfahrung und der Erfahrung eines Anderen feststellen lässt: Die Thematisierung des Selbst ist möglich, insofern dies auch eine Änderung im Objekt der Erfahrung mit

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Bewusstsein, das bisher auf eine Besonderheit fixiert war ‒ so wie im „jetzt“ und „hier“ der „sinnlichen Gewissheit“ (III, 82 ff.) ‒, wird mit einer weiteren Beschränkung konfrontiert, aber nicht mehr durch die Welt, sondern durch ein anderes Bewusstsein.15 So ist „der Gegenstand der unmittelbaren Begierde [...] ein Lebendiges“ (III, 139), das Leben „als Gegenstand der Begierde“ (III, 144) zu erfahren. Das leitende Motiv dieses Zustandes zwischen Natur und Selbstbewusstwerdung erfasst Hegel in Gestalt der Begierde. Wenn diese einerseits einen grundlegenden Charakter der Subjektivität ausdrückt, wird sie andererseits ‒ insofern noch von Natur geprägt ‒ aber auch als unfrei beschrieben: „Nach unserem Begriffe vom Geist“, schreibt Hegel, „ist der erste, unmittelbare, natürliche Zustand des Geistes ein Zustand der Unfreiheit, der Begierde, worin der Geist als solcher nicht wirklich ist“ (VWG, 33). Weil die Natur einen „Stand der Unfreiheit und der Sinnlichkeit“ (VWG, 33) darstellt, liegt in der Begierde zwar ein noch unfreies Moment, das aber gerade diesen Übergang zum geistigen Leben ermöglicht. Das Gefühl seiner selbst ‒ sich selbst als lebendig zu fühlen, als Begierde und sinnliches Wollen ‒ konstituiert somit die erste Stufe von Hegels Beschreibung des Übergangs von der Natur zum Geist. Nur insofern das andere selbst als ein lebendiges, ein begehrendes Wesen anzunehmen ist, erfährt das Bewusstsein sich selbst als begehrend. Die Begierde ist hier ambivalent, da sie das Wesen des Anderen für sich selbst haben will: Wie auch das ursprüngliche Selbstgefühl entsteht die Begierde durch die Erfahrung eines Mangels ‒ das Bewusstsein erfährt nun, dass es nicht mehr ein Allgemeines, eine „Totalität“ ist, sondern fühlt sich „mangelhaft“. Es erkennt sich gleichzeitig als ein differenziertes Bewusstsein, das aber nicht in sich selbst befriedigt ist. Diese Selbstbeschränkung besteht also nicht nur aus einem repressiven Moment, sondern ist eine Bedingung der Subjektivierung selbst. Nur als „Mangelhaftes“ wird das Bewusstsein begehrend und umgekehrt, nur insofern es begehrt, kann es sein Selbst erfahren.16 Diese „negative“ Bedeutung des Be-

sich bringt, welches jetzt nicht mehr nur als ein Objekt erscheint, sondern als ein anderes Selbstbewusstsein. 15 Es erscheint hier – allerdings noch unbestimmt ‒ „ei[n] mit der Objektivität verbundene[s] Subjekt[...]“ (IV, 119). 16 So liest man in einer anderer Stelle: „Sprechen wir so vom Gefühl, ist die Bestimmtheit überhaupt genommen. Es tritt aber eine eigene Weise der Bestimmtheit ein, nämlich daß ich mich als mangelhaft, als negativ fühle, daß ich einen Widerspruch in mir finde, der meine Einheit mit mir aufzulösen droht. Auf diese Weise ist also erst Bestimmtheit vorhanden, aber zugleich eine eigene Weise der Bestimmtheit: daß ich mich mangelhaft fühle. Ich bin aber; daran halte ich [fest]; dies weiß

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gehrens bleibt konstitutiv für den gesamten Subjektivierungsprozess.17 Und nicht nur durch dieses Mangelgefühl wird die Formierung des Selbst möglich, sondern auch dadurch – wie Hegel seine Auffassung in Nürnberg formuliert –, dass „[d]as Selbstbewußtsein [...] sich durch Negation des Andersseins setzt“ (IV, 117), wodurch es zuerst zu einer inneren Entzweiung kommt.18 Die Erfahrung des Anderen ist also paradox, weil sie zur Erfahrung des Selbst als beschränkt führt („Mangel“), was wie dessen Selbstnegation erscheint. Weil das Bewusstsein das „Gefühl eines Mangels“ (IV, 117) hat, will es in seiner Konstitution als „Einziges“ bestätigt werden. Diese Erfahrung beschreibt Hegel als „Bedürfnis“,19 als Konsequenz des Mangels, der im Bewusstsein den Wunsch nach Erfüllung hervorruft. Das Bedürfnis ist zuerst „das Gefühl eines Andersseins in ihm selbst“ (IV, 118); das Subjekt fühlt sich zuerst in sich selbst entzweit. Es besteht hier ein Widerspruch zwischen der Einheit des Subjekts und seinem In-sich-selbst-Anderssein. Die Tätigkeit der Begierde richtet sich Hegel zufolge auf diese Einheit mit dem Anderssein, wobei ein Bewusstsein für ein anderes Bewusstsein als Gegenstand erscheint und dadurch sich selbst erfährt. Damit, schließt Hegel, ist „die Begierde befriedigt“ (IV, 118). Diese Schlussfolgerung ist allerdings komplexer, als sie scheinen mag. Die Begierde zeigt sich stets unbefriedigt – und dies ist der Grund selbst für das Dasein des Begehrens. Dass Hegel hier vom „Widerspruch“ und dem „Gefühl eines Mangels“ spricht, zeigt einen entscheidenden Punkt des gesamten Arguments für die Entstehung des Bewusstseins auf. Das Verhältnis von Bewusstsein zum Anderen lässt sich durch den Begriff der Anerkennung erfassen. Dass aber dieses Verhältnis von einem Gefühl eines Mangels begleitet wird (und es ich und setze dies dem Negativen, dem Mangel entgegen, und gehe darauf, den Mangel aufzuheben und erhalte mich“ (VWG, 27). 17 Vgl. dazu Safatle 2006, 2012. Wir werden auch sehen, dass Hegel in der Sphäre der Familie die „Empfindung“ des Mangelhaften wieder aufnimmt, und zwar mit der Vorstellung, dass ich mich ohne die in der Familie geliebten Personen „mangelhaft und unvollständig fühlen“ würde (VII, §158, Z.). 18 So heißt es auch in der Phänomenologie: „Denn da das Wesen der individuellen Gestalt, das allgemeine Leben, und das Fürsichseiende an sich einfache Substanz ist, so hebt es, indem es das Andere in sich setzt, diese seine Einfachheit oder sein Wesen auf, d. h. es entzweit sie, und dies Entzweien der unterschiedslosen Flüssigkeit ist eben das Setzen der Individualität“ (III, 142). 19 „Im Begriff des Selbstbewußtseins liegt die Bestimmung des noch nicht realisierten Unterschiedes. Insofern dieser Unterschied überhaupt in ihm sich hervortut, hat es das Gefühl eines Andersseins in ihm selbst, einer Negation seiner selbst, oder das Gefühl eines Mangels, ein Bedürfnis“ (IV, 118).

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dieses Gefühl ist, das erst Selbsterfahrung ermöglicht), heißt, dass der Selbstbezug hier eine „ambivalente“ Anerkennung zeigt. Die Erfahrung eines anderen Selbstbewusstseins ist die, seinen angestammten Platz zu verlieren: Sie ist sowohl das Erfahren des Anderen als Nicht-Erfülltheit als auch eine Erfahrung von sich selbst als „mangelhaft“. Das ursprüngliche Verhältnis des Bewusstseins zum Anderen ist also ambivalent, weil dieser Andere nicht nur die Bedingung für die Bewusstseinsindividualisierung darstellt, die dafür nötig ist, sich selbst als ein differenziertes Selbst anzuerkennen, sondern auch zur Erkenntnis seines Mangels führt. Dieser negative, zerreißende Prozess ist aber gleichzeitig die Voraussetzung dafür, sich als selbständiges Selbst zu konstituieren. Sich als Mangel zu fühlen, ist der Ausgangspunkt der aktiven Kraft des Triebs, sich selbst zu bestimmen.20 Das Begehren ist daher „zerstörerisch“ („Die Begierde“ ‒ als Aufhebung eines Gegenstandes ‒ „ist überhaupt zerstörend“ [IV, §28 ]). Insofern das Bewusstsein sich aber auf etwas zu Zerstörendes bezieht, setzt es gleichzeitig diesen Anderen als seinen Gegenstand. Ein von dem Bewusstsein getrenntes Objekt muss daher in seiner Selbständigkeit gelten können.21 Nur durch Begierde 20 Diese konfliktreiche Erfahrung des Bewusstseins mit einem Anderen weist letztendlich auf die häufigen Interpretationen des Hegelschen Bildes eines Verhältnisses zwischen Herrn und Knecht hin. Der andere ist ein Herr, der mich beherrschen will, was aber nicht zur endgültigen Versöhnung führen kann, weil das Verhältnis des Bewusstseins zu einem zu beherrschenden Anderen gleichzeitig die Bestätigung dieses Anderen und die Anerkennung des von dem Anderen abhängigen eigenen Individualisierungsprozesses bedeutet. Darin besteht die Idee, dass die Aufhebung des bloßen Gehorsams, das der Knecht darstellt, den Übergang zur „positiven Freiheit“ darstellt: „[Die] Entäußerung der Einzelheit als Selbst ist das Moment, wodurch das Selbstbewußtsein den Übergang dazu macht, allgemeiner Wille zu sein, den Übergang zur positiven Freiheit“ (IV, §37). 21 „[D]as Selbstbewußtsein [ist] hiermit seiner selbst nur gewiß durch das Aufheben dieses Anderen, das sich ihm als selbständiges Leben darstellt; es ist Begierde. Der Nichtigkeit dieses Anderen gewiß, setzt es für sich dieselbe als seine Wahrheit, vernichtet den selbständigen Gegenstand und gibt sich dadurch die Gewißheit seiner selbst als wahre Gewißheit, als solche, welche ihm selbst auf gegenständliche Weise geworden ist. In dieser Befriedigung aber macht es die Erfahrung von der Selbständigkeit seines Gegenstandes. Die Begierde und die in ihrer Befriedigung erreichte Gewißheit seiner selbst ist bedingt durch ihn, denn sie ist durch Aufheben dieses Anderen; daß dies Aufheben sei, muß dies Andere sein. Das Selbstbewußtsein vermag also durch seine negative Beziehung ihn nicht aufzuheben; es erzeugt ihn darum vielmehr wieder, so wie die Begierde. Es ist in der Tat ein Anderes als das

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wird der Bezug des Bewusstseins auf ein „Äußeres“ ermöglicht; denn ohne die Begierde und die damit ermöglichte Äußerungsfähigkeit ist das Subjekt kein Subjekt im Verhältnis zur Welt, sondern eine abstrakte und isolierte Individualität. Es existiert aber nur eine Begierde, weil dem Subjekt etwas fehlt, weil ihm ein Anderes erscheint, durch welches das Bewusstsein sich als beschränkt wahrnimmt. Und gleichzeitig begehrt es allein aus diesem Grund, nämlich dass das Bewusstsein seinen eigenen Mangel erfährt, ein „Anderes“. Aus diesem ursprünglichen Verhältnis ergibt sich die Konstitution der Begierde als eine doppelte Erfahrung von Selbstbeschränkung und Bildung: Die Bildung der Bewusstseinsidentität wird nur durch eine allmähliche Selbstbeschränkung ermöglicht, die aber wiederum selbst die Bedingung seiner Differenzierung ist. Die Selbstbeschränkung stellt den Prozess einer Formierung der Begierde dar, die lernt, einen zunächst abstrakten – bloß auf sich zentrierten – und dann einen erweiterten Inhalt einzuschließen. Die Begegnung mit einem anderen Selbstbewusstsein stellt den Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein dar, der ein Gefühl der Unerfülltheit auslöst. So lassen sich hier zwei Interpretationsebenen unterscheiden: die, die Hegel als die Ebene des erfahrenden Bewusstseins beschreibt („das Bewusstsein für sich“), und eine zweite Ebene in Bezug auf die es begleitende Erfahrung („das Bewusstsein für uns“). Für uns ist es also möglich, einen ursprünglichen Mangel zu erkennen, eine Unerfüllbarkeit des Bewusstseins, die zum Begehren eines Anderen führt. Das Bewusstsein selbst dagegen fühlt sich im ersten Moment scheinbar erfüllt, und es geschieht nur durch die Begierde ‒ welche die Unmöglichkeit ihrer unmittelbaren Befriedigung aufzeigt ‒, dass das Bewusstsein sowohl das andere Bewusstsein als auch sich selbst als beschränkt wahrnimmt und sich in diesem Prozess von der Welt und dem Anderen als differenziert erfährt. Die Begierde entsteht nicht nur dort, wo das Bewusstsein den Anderen anerkennt, sondern auch in dem Prozess, sich selbst als mangelhaft zu erkennen. Weil sich das Bewusstsein selbst zuerst nur als allmächtig wahrnimmt, gibt es auf einer ersten Stufe der Begierde nicht nur einen „Trieb nach Anerkennung“, sondern auch eine Formierung des Willens, die dafür nötig ist, um nicht „zerstörerisch“ zu werden. Angesichts dieser konfliktreichen Erfahrung des Bewusstseins ist es nicht überraschend, dass Hegel die Begierde in ihrer primären Form nicht als einbeziehend, sondern als zerstörend darstellt. Das ist aber durch einen scheinbar widersprüchlichen Prozess der allmählichen Affirmation des Anderen zu begründen, durch welchen das Bewusstsein sich bildet; denn nur durch die BestäSelbstbewußtsein, das Wesen der Begierde; und durch diese Erfahrung ist ihm selbst diese Wahrheit geworden“ (III, §143).

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tigung eines Anderen ‒ den das Bewusstsein zuerst wegen seiner beschränkenden Rolle verneinen will ‒ entsteht das Gefühl von sich selbst. Zentral für Hegels gesamte Subjektivitätstheorie ist hier die Idee, dass das Bewusstsein nur durch ein Anderes das Gefühl seiner selbst erfahren kann, und dass es nur durch dieses Gefühl allmählich auch ein Selbstbewusstsein wird. Diese Erfahrung eines Anderen bleibt paradigmatisch für eine Individualisierung, die in einer permanenten (dialektischen) Spannung zwischen Differenzierung von und Affirmierung durch ein Anderes besteht. Diese Erfahrung ist daher nicht nur positiv, sondern „transzendental“ im kantischen Sinne, also eine Möglichkeitsbedingung der Subjektivierung. Wie sich nun erkennen lässt, bezieht sich das hier rekonstruierte Narrativ nicht nur auf die Subjektivitätsbedingungen (also auf eher „passive“ Erfahrungen), sondern auf einen handlungstheoretisch orientierten Ansatz: Es geht um die Frage nach einer proaktiven Position, in welcher das Bewusstsein nicht nur anerkannt wird, sondern auch durch die Anerkennung eines anderen Bewusstseins lernen muss, seine zunächst selbstreferenzielle Perspektive zu erweitern.22 Das Subjekt wird immer wieder durch dieses gespannte Verhältnis vermittelt; nicht nur auf dieser ontogenetischen Ebene, sondern auch später, während der Ausbildung seines Willens ‒ als elaborierte Form einer rudimentären Struktur der Begierde – wird das Bewusstsein weitere Stufen eines Lernprozesses seiner Dezentrierung erfahren. Wie wir sehen werden, bezeichnet die Einbeziehung eines Anderen auf dieser anderen Stufe nicht nur die Bedingung für die Konstitution seines individuellen Selbst – wie dieses ontogenetische Narrativ zeigt ‒, sondern auch die Erfahrung der Befriedigung und Freiheit des Willens.

3.2 „D ENKENDER W ILLE “

UND SITTLICHE

G EFÜHLE

Wie zuerst bei der Figur der Seele in der „Anthropologie“ und auf einer zweiten Stufe hinsichtlich der Begierde in der Erfahrung des Bewusstseins zu sehen ist, besteht der letzte Abschnitt von Hegels Theorie des subjektiven Geistes ‒ mit dem Titel „Psychologie“ – aus der Darstellung des Begriffs des „Geistes“, der den Übergang zu seiner Theorie des objektiven Geistes bezeichnet. Mit der in diesem Abschnitt vollzogenen Unterscheidung von „theoretischem“, „prakti-

22 Auch in diese Richtung gehend behauptet Axel Honneth in seiner Rekonstruktion der Hegelschen Rechtsphilosophie, dass die primären Anerkennungsverhältnisse nicht nur ein passives Verhältnis darstellen, sondern auch bereits eine Reaktion des Subjektes erfordern. Vgl. Honneth 2001, Kap. 5.

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schem“ und „freiem“ Geist will Hegel zeigen, dass nur, insofern sich der Geist sowohl in seinem Denken (theoretischer Geist) als auch in seinem Willen (praktischer Geist) von einem besonderen zu einem allgemeinen Inhalt erweitert, er sich als „frei“ bezeichnen lässt. Insofern lässt sich schon anhand dieser Übersicht antizipieren, was Hegel mit seiner Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Geist meint: Die drei von ihm genannten Stufen des theoretischen Geistes, nämlich „Anschauung“, „Vorstellung“ und „Denken“, bilden Facetten der Entwicklung des kognitiven Vermögens dafür, ein äußeres Allgemeines fassen zu können.23 Diese Stufen des theoretischen Geistes werden als Teil eines notwendigen Prozesses dargestellt, in welchem das Subjekt auf der praktischen Ebene seine eigenen Handlungen nicht nur auf ein beschränktes Ziel hin orientiert, sondern auch eine erweiterte Perspektive einbeziehen kann. Diese notwendigen Erweiterung durch einen kognitiven Entwicklungsprozess sieht Hegel als die grundlegende Rolle des Denkens an, das auf diese Weise erlaubt, dem Willen eine dezentrierte Gestalt zu ermöglichen. Es geht um eine Verflechtung zwischen kognitiven und praktischen Fähigkeiten, die die Voraussetzung für den „freien“ Geist bildet; denn nur insofern das Subjekt auf der Stufe des theoretischen Geistes die Fähigkeit besitzt, partikuläre Vorstellungen zu universalisieren, ist es in der Lage, seine Handlungen nicht nur auf etwas Besonderes, sondern auch auf ein „Allgemeines“ hin zu orientieren. In Hegels Darstellung des praktischen Geistes lässt sich so zeigen, wie das Subjekt nicht nur fähig ist, ein Allgemeines zu fassen, sondern auch durch diese Prämissen auf einer zweiten Stufe seine eigene Subjektivität durch eine Dezentrierung auszudrücken. Wie bei den vorher beschriebenen Stufen erfasst das Bewusstsein hier eine äußerliche Welt als allgemeines Verhältnis zwischen Einzelnen, und insofern es sich von diesen Einzelnen unterscheidet, erfährt es sich selbst als selbstständig. Der Prozess der Internalisierung eines Gegenstandes ist gleichzeitig die Internalisierung des Bewusstseins. Diesen grundlegenden Prozess ‒ der die Vorbereitung für den praktischen Geist darstellt – begreift Hegel mit dem Grundbegriff der Erinnerung, der in der deutschen Sprache auf die Idee eines Internalisierungsprozesses hinweist. Die Erinnerung zeigt zwar die Erfahrung eines Gefühls, die gleichzeitig aber die Anschauung eines noch nicht vorhan-

23 Wie Neuhouser zeigt, ist Rousseau emblematisch für diese Idee einer Einbeziehung der Perspektive des Anderen. So wie Kant in seiner Auffassung von „Verallgemeinerung“ nimmt auch Hegel hinsichtlich des theoretischen Geistes die Verallgemeinerungsfähigkeit als Bedingung für den freien Geist an.

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denden Objektes voraussetzt.24 Auch im Übergang von der „Anschauung“ zur „Erinnerung“ ist die Rolle der Bildung entscheidend, und insofern ‒ so wie bei der Bildung eines Kindes – besteht nach Hegel ein analoger Übergang auf dieser Ebene des theoretischen Geistes. Sowohl der theoretische als auch der praktische Geist besteht in einem durch Bildung ermöglichten Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen. Wie auch auf anderen Stufen des Hegelschen Narrativs, wird die Erinnerung so dargestellt, als Entfaltung einer subjektiven Fähigkeit dazu, besondere Erfahrungen zu verallgemeinern. Durch die Erinnerung wird ein zunächst vom Bewusstsein unterschiedener Gegenstand als Allgemeines allmählich angeeignet, und dadurch konstituiert sich die Fähigkeit des Denkens, vom Einzelnen zum Allgemeinen überzugehen, sich ein fremdes Objekt anzueignen. Das Gedächtnis stellt seinerseits eine Stufe der Verbindung zwischen der Erinnerung und dem Allgemeinen dar, welches im Denken angeeignet wird. Das Denken ist daher „diejenige Tätigkeit [...], durch welche das scheinbar fremde Objekt, statt der Gestalt eines Gegebenen, Vereinzelten und Zufälligen, die Form eines Erinnerten, Subjektiven, Allgemeinen, Notwendigen und Vernünftigen erhält“ (X, §443, Z.).25 Daher bringt die Erinnerung Vorstellungen zum Bewusstsein, die zuerst nur einfache Vorstellungen sind, nur ein „bestimmungsloser Schacht“ (X, §403) – „Erst wenn ich mich an eine Vorstellung erinnere, bringe ich sie aus jenem Innern heraus zur Existenz vor das Bewußtsein“ (X, §403).26 24 „Die Seele behält also den Inhalt der Empfindung, wenn auch nicht für sich, so doch in sich. Dies nur auf einen für sich innerlichen Inhalt, auf eine Affektion meiner, auf die bloße Empfindung sich beziehende Aufbewahren steht der eigentlichen Erinnerung noch fern, da diese von der Anschauung eines zu einem Innerlichen zu machenden äußerlich gesetzten Gegenstandes ausgeht, welcher, wie bereits bemerkt, hier für die Seele noch nicht existiert“ (X, §402, Z.). 25 Dem entspricht auch die Struktur der „Intelligenz“, die hier im theoretischen Geist ausführlicher diskutiert wird: Zuerst gilt die Anschauung als eine unmittelbare Einheit zwischen Subjekt und Objekt; ihr folgt die Einbildungskraft als ein Gegensatz zwischen beiden, die hier nur eine subjektive Einheit bilden. Zuletzt bildet das Denken eine vermittelte Einheit. Die Darstellung der Einzelheiten dieses Prozesses geht über das von uns verfolgte Ziel hinaus. Ich möchte mit diesen kurzen Hinweisen nur auf die Auffassung aufmerksam machen, wie Hegel das Denken als eine Stufe in der Entwicklung eines Verallgemeinerungsvermögens sieht, welche den Prozess der Dezentrierung des Willens im praktischen Geist voraussetzt. 26 Auch im Kontext der Vorlesungen über die Weltgeschichte verbindet Hegel die Erinnerung mit Freiheit und Allgemeinheit: „In der Erinnerung des Menschen liegt die Quelle seiner Freiheit und Allgemeinheit, seine Bestimmung nach Zwecken, die das

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Mit dieser Auffassung versteht Hegel die Erinnerung als die Vermittlung zwischen theoretischem und praktischem Geist, insofern sie es dem Geistermöglicht, die Beschränkung der Dinge auch als seine eigene Differenzierung zu erfahren. Das Denken zeigt seinerseits, durch diese erinnerten Momente, dass die externe Beschränkung gleichzeitig eine Beschränkung des Subjekts ist. Während diese Beschränkung zuerst nur gefühlt wurde, wird sie jetzt vermittelt, reflektiert, so dass sie von nun an als Handlungsmaßstab gelten kann. Weil aber das Bewusstsein noch stark von der Natur geprägt ist, erstarrt das „Besondere“ und das Bewusstsein hat keine Abstraktionsfähigkeit ‒ das heißt es hat keine Möglichkeit, vom Besonderen zum Allgemeinen überzugehen. So wird die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Selbstreferenz von der Fähigkeit begleitet, die Wirklichkeit zu abstrahieren, sie als Ideal zu fassen. In den Vorlesungen über die Weltgeschichte nennt Hegel dies einen „[u]nendliche[n] Trieb des Denken[s]“, nämlich, „das Reelle in uns [zu] setzen als ein Allgemeines und Ideelles“ (VWG, 28). Dieser prägt den Übergang vom Naturzustand zum Subjektivierungsprozess:27 Nachdem in diesen Vorlesungen ein natürlicher Zustand beschrieben wurde, besteht die Durchführung des Subjektivierungsprozesses darin, dass das Subjekt sich selbst als frei erkennt, sich als frei weiß. So wird die Darstellung der Einheit von Subjekt und Objekt einerseits und des Denkens als Innerstes andererseits zur Leitlinie dieser Beschreibung: Das Denken ermöglicht es, dass die Äußerlichkeit als Objektivität (und danach als Allgemeines) verstanden werden kann. So sind schon die ersten Spuren und Bedingungen der Subjektivität von der Fähigkeit abhängig, die „Welt von Einzelheiten“ als Allgemeine zu fassen und sie damit zu internalisieren.28 Allgemeinste wie das Einzelne sein können, so daß er seine Unmittelbarkeit und Natürlichkeit bricht. Diese Innerlichkeit ist es, welche den Menschen zum Selbständigen macht“ (VWG, 29). Die „Bestimmung nach Zwecken“ bricht mit der „Unmittelbarkeit und Natürlichkeit“ aufgrund der Fähigkeit, das Einzelne als Allgemeines zu internalisieren. Es ist bedeutsam, wie Hegel die „Erinnerung“ als eine „Quelle [der] Freiheit“ identifiziert: Ein Äußeres wird hier zum Eigenen gemacht und diese internalisierte Erfahrung wieder in veränderter Form nach außen gebracht. 27 „Indem der Mensch so ist“, schreibt Hegel, „von dem Realen wissend als dem Ideellen und sich als ideell wissend, so hört er auf, ein bloß Natürliches zu sein, bloß in seinen unmittelbaren Anschauungen, Trieben, deren Befriedigung, und Produktion zu sein“ (VWG, 28). 28 „Er [der Geist] als das Allgemeine will sich zu seinem Allgemeinen verhalten. Seine Objektivität ist zugleich eine Welt von Einzelheiten; sich nur zu diesen Einzelheiten verhaltend, ist er im Glauben, im sinnlichen Verhalten, im äußeren Anschauen usw.

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Wie sich hier schon erkennen lässt, versteht Hegel das Denken als eine Voraussetzung des Willens, insofern es die Erfahrung des Allgemeinen ermöglicht: Nur dadurch, dass ein Allgemeines erfahren wird, kann der Willen von einer bloßen Form selbstzentrierter Willkür auf die Erfahrung eines Allgemeinen hin aufgehoben werden. Denken und Wollen ‒ wie Hegel oft wiederholt ‒ bilden diese zwei Bedingungen (die theoretische und praktische) des „freien Geistes“. Mit dieser resümierenden Auffassung des „theoretischen Geistes“ ist ein Punkt der Argumentation Hegels erreicht, der uns die Grundlage für einen Überblick über Hegels Theorie des praktischen Geistes ermöglicht; denn Hegels Darstellung unterscheidet sich von seiner Auffassung über den „praktischen Geist“ in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Geist und seinem Gegenstand: Während beim „theoretischen Geist“ der Gegenstand als fremder angeeignet wird, erfährt der Geist eine allmähliche Internalisierung. Der praktische Geist führt es umgekehrt aus: Er beginnt mit seinen besonderen „Zwecke[n] und Interessen“ (X, §443) und bildet in der Fortsetzung die Besonderheit als „objektiv“ heraus. Hegel meint, dass sowohl die theoretische als auch die praktische Seite des Geistes seine „Objektivität“ auszudrücken beabsichtigt: Während diese beim theoretischen Geist von der Vernunft in Form der Vorstellung durchgeführt werden soll, bildet sich bei den Zwecken und dem Interesse, also auf Seiten des praktischen Geistes, ein ähnlicher Typus von Objektivität heraus. Um eine äußere Objektivität wahrzunehmen, ist es allerdings notwendig, vorher die Erfahrung einer inneren Objektivität zu machen. Nur insofern das Selbst sich selbst als objektiv (als für sich) wahrnimmt, kann es die Objektivität einer äußeren Welt erfahren; und auch umgekehrt, durch die Erfahrung einer äußeren Welt und deren allmählicher Differenzierung nimmt das Bewusstsein sich selbst als Selbstbewusstsein an. Diese Verflechtung schlägt sich in Hegels Insistieren auf einer Theorie der Subjektivität nieder, für welche die vom praktischen Geist erfahrene Objektivität grundlegend ist. So lässt sich an Hegels Darstellung besser erkennen, wie auch der praktische Geist aus Stufen der durch die Expressivität des Selbst ausgeführten Universalisierung eines Besonderen besteht. Darin sieht Hegel in Bezug auf die Vermittlung des Denkens als Universalisierungsvermögen den Unterschied Aber er soll denkend sein, Einheit seines Höchsten und Innersten mit dem Daseienden, und diese Einheit kann nur bestehen, wenn er das Allgemeine seines Werkes und seiner Welt weiß. Dies ist seine höchste Befriedigung, weil das Denken sein Innerstes ist“ (VWG, 49).

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zwischen Begierde und Willen: Anders als die Begierde setzt der Wille das Denken voraus und es ist Hegel zufolge nun besonders menschlich, nicht nur etwas zu begehren, sondern die Fähigkeit, sich das, was man begehrt, vorzustellen, und nur in diesem Zusammenhang wird der Wille ermöglicht. Mit diesem untrennbar zugleich epistemischen und kognitiven Inhalt des Willens bezieht sich Hegel auf eine Reformulierung von Handlungsmustern, die einerseits das Denken voraussetzen29 und andererseits von den in der Praxis etablierten Formen – wie wir bei der Idee der „Gewohnheit“ sehen werden – vermittelt werden. Diese Verflechtung des vom Denken ermöglichten Universalisierungsvermögens mit dem Willen ist es, die Hegel durch den Begriff des „denkenden Willen[s]“ (X, §469) des praktischen Geistes prägt: Mit der Idee einer praktischer Rationalität sieht Hegel im Willen selbst die Fähigkeit, nicht nur in einer selbstbezogenen Beharrung zu verbleiben und allein dadurch schon als vernünftig beschrieben werden zu können.30 Durch die Verbindung zwischen kognitivem Inhalt und Intentionalität lässt sich der Begriff des „denkenden Willens“ als etwas verstehen, woran deutlich wird, dass Hegel nicht das Denken, sondern den Willen als die Grundlage seiner Rechtsphilosophie annimmt, insofern mit einer Vermittlung des Willens nicht nur dessen „volitiver“, sondern auch sein genuin kognitiver Charakter erfahrbar wird. Sowohl das Denken als auch den Willen begreift Hegel als Formen einer allmählichen Reorientierung des Geistes von einem besonderen, zufälligen Inhalt hin zu einem allgemeinen. Die Vorstellung ist diejenige, dass das Subjekt nur durch sein Universalisierungsvermögen in der Lage ist, eine in sich zentrierte Reflexion einerseits und den Inhalt der Willkür andererseits bei einem allgemeinen Inhalt mit einzubeziehen. Die Prämissen eines solchen dezentrierten Selbsts weisen also Facetten sowohl des theoretischen als auch des praktischen Geistes auf, wobei das Subjekt durch die Aufgabe seiner zentrierten Vorstellungen und Willkür als frei gefasst wird. Mit diesen beiden Dezentrierungsstufen – im theoretischen und 29 Wenn das Denken einerseits eine grundlegende Rolle für das Begreifen eines Allgemeinen spielt, weicht Hegel andererseits von einer Theorie der „praktischen Vernunft“ in Sinne Kants ab, insofern Hegels Theorie des praktischen Geistes sich nicht auf moralische Urteile bezieht, sondern auf die Erfahrung des Willens und seine Gestalten und Vermittlungen. Hegels Auffassung lässt sich so ähnlich an dem aristotelischen Begriff der Phronesis erkennen, wenn auch nicht im Sinne einer an die Tugenden anschließenden Idee von praktischer Rationalität. 30 Und daher lässt sich zeigen, dass Denken und Wollen im Begriff des „freien Willens“ nicht entgegensetzt sind, sondern „der Wille eine besondere Weise des Denkens [ist]“ (VII, §4, Z.).

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praktischen Geist – lässt sich die Architektonik von Hegels Philosophie des Geistes als Übergang von diesen ersten beiden Momenten hin zum „freien Geist“ erläutern. Auf dieser Stufe seiner Argumentation lässt sich besser verstehen, wie Hegel in Bezug auf die erste Figur des praktischen Geists, nämlich das praktische Gefühl, schon von Anfang an auch zur Struktur des „Vernünftige[n]“ (X, §471) hinführt.31 Im Unterschied zum Verstand – so Hegel weiter – besteht dieser Begriff der „Vernunft“ aus mit dem Gefühl verbundenen, allgemeinen Ideen wie Recht und Sittlichkeit. Wenn Hegel auch hier die Radikalisierung des Gefühls gegenüber den allgemeinen Formen von Recht und Pflicht zwar kritisiert, lässt sich doch diese allgemeine Form nicht von dem Gefühl trennen, sondern weist eher auf die „Wahrheit“ des Gefühls hin: „Deswegen“, so Hegel, „ist es einerseits töricht zu meinen, als ob im Übergange vom Gefühl zum Recht und der Pflicht an Inhalt und Vortrefflichkeit verloren werde; dieser Übergang bringt erst das Gefühl zu seiner Wahrheit“ (X, §471). Andererseits geht diese Vorstellung aber auch nicht von einer Vortrefflichkeit des Gefühls gegenüber dem Denken aus, sondern von der Dynamisierung der mit dem Verstand verbundenen Struktur starrer Besonderheiten. Wesentlich ist hier also die Idee einer Überwindung der rigiden Trennung von Gefühl und Vernunft, bei der das Gefühl nicht der Vernunft entgegensetzt bleibt; denn vor allem will Hegel zeigen, dass der Inhalt der Gefühle – weil sie etwa „natürlich, zufällig und subjektiv“ (X, §471) sind – nicht a priori bestimmt ist: Gefühle können also sowohl „den Inhalt der Vernunft“ verkörpern als auch „einseitig, unwesentlich, schlecht“ (X, §471) bleiben. Zum Gefühl kann „jeder“ Inhalt in ihnen gegeben sein, sei es ein besonderer oder ein allgemeiner.32 Und es ist aufgrund dieser „neutralen Form“, dass nach Hegel diese Darstellung des Gefühls nicht ausgeführt werden kann, ohne seinen Inhalt – so wie „Recht, Pflicht, Gesetz“ (X, §471) - zu differenzieren. Es geht also darum, ein Unterscheidungskriterium anzugeben, um den Inhalt des Gefühls – und nicht nur seine „Form“ – bewerten zu können. Daher, so Hegels Schluss,

31 „Das Vernünftige, das in der Gestalt der Vernünftigkeit als Gedachtes ist, ist derselbe Inhalt, den das gute praktische Gefühl hat, aber in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit, in seiner Objektivität und Wahrheit“ (X, §471). 32 „Das Gefühl ist aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelheit des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann” (X, §471).

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„ist es ungeschickt, sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Gefühle auf mehr als auf ihre Form einzulassen und ihren Inhalt zu betrachten, da dieser als gedacht vielmehr die Selbstbestimmungen des Geistes in ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit, die Rechte und Pflichten, ausmacht.“ (X, §471)

Es geht also stets um die Frage, welchen Inhalt das Gefühl hat, ob dieser „allgemein“ ist, damit es als „vernünftig“ gelten kann. Dies führt uns zu der Frage, wie allgemeine Ideen – wie Recht und Sittlichkeit – auch „gefühlt“ werden können. Und hier behauptet Hegel, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem zuerst nur gefühlten Inhalt, der in einem zweiten Moment gedacht wird, so dass ein allgemeiner Inhalt auch schon auf der Ebene des Gefühls selbst gefunden werden kann. Während die Darstellung eines allgemeinen Inhaltes erst auf einer zweiten Stufe zu zeigen ist, lässt sich schon hier erkennen, dass das Gefühl eine primäre Form eines allgemeinen Inhalts repräsentiert. Während Hegel zwar die Gefühle in Bezug auf die Form als „neutral“ betrachtet, unterscheidet er aber – je nach ihrem Inhalt – drei Typen von Gefühlen. Ein erstes besteht in einem „subjektive[n] und oberflächliche[n] Gefühl“ (X, §472), das aus meiner Natur heraus entsteht. Zu diesem Typ gehört das Gefühl des „Angenehmen“ und „Unangenehmen“. Eine zweite Art bezieht sich auf den Inhalt der Anschauung oder Vorstellung, wie Freude, Hoffnung, Angst und Schmerz. Der letzte Typus ist das mit einem substanziellen Inhalt verbundene Gefühl, wie das von Recht und Sittlichkeit. Zu dieser Art gehört etwa die Scham oder die Reue. Auch wenn diese Gefühle eine sittliche Grundlage haben, können sie mit einem nichtsubstanziellen Inhalt verbunden sein (Hegel nennt als Beispiel, dass man trotz einer guten Tat Reue über sie empfinden kann). Er will auch klar machen, dass es hier – im Unterschied zur Empfindung – um ein Gefühl geht: Während die Empfindung ein noch passives Verhältnis darstellt, bezieht sich das Fühlen auf eine Individualitätserfahrung.33 Insofern wird die Absicht Hegels etwas deutlicher, weder die individuellen Gefühle noch die epistemische Rolle des Gefühls zu evaluieren; er ist vielmehr daran interessiert, wie die Gefühle einen allgemeinen, sittlichen Inhalt erhalten können. Er unterscheidet zwischen zwei inneren Empfindungen, einer, die sich 33 „Für Empfindung und Fühlen gibt der Sprachgebrauch eben nicht einen durchdringenden Unterschied an die Hand; doch sagt man etwa nicht wohl Empfindung des Rechts, Selbstempfindung u. dgl., sondern Gefühl des Rechts, Selbstgefühl; mit der Empfindung hängt die Empfindsamkeit zusammen; man kann daher dafür halten, daß die Empfindung mehr die Seite der Passivität des Findens, d. h. der Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die Selbstischkeit, die darin ist, geht“ (X, §402).

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auf die Einzelheit bezieht, wie „Zorn, Rache, Neid, Scham, Reue“, und einer zweiten, die sich auf einen „allgemeinen“ Inhalt wie „Recht, Sittlichkeit, Religion, auf das Schöne und Wahre“ (X, §401, Z.) bezieht.34 Mit dem „rechtlichen, sittlichen und religiöse[n] Gefühl“ macht das Subjekt die Erfahrung einer erweiterten Perspektive, in welcher sich das Gefühl „vergeistig[t]“ (X, §401, Z.). Insofern das Gefühl hier auch „unwesentlich“ oder „schlecht“ (X, §471, Z.) sein kann, ist der Verbleib des Inhalts in der Form des Gefühls allerdings einseitig. Auf diese Weise wird ein „vernünftiger“ Inhalt sowohl im Gefühl als auch im Denken sichtbar, aber im letzteren in geformter Struktur.35 Weil das 34 In Hinblick auf die in diesem Kontext dargestellten terminologischen Klärungen kann man auch bemerken, dass Hegel die Affekte in dem verortet, was er „psychische Physiologie“ (X, §401) nennt. Diese bestehen einerseits aus einem Gefühl der Angemessenheit der unmittelbaren Empfindung dem Inneren gegenüber (etwa als angenehme oder unangenehme) und andererseits aus den Affekten: „[E]s würde die interessanteste Seite einer psychischen Physiologie sein, nicht die bloße Sympathie, sondern bestimmter die Verleiblichung zu betrachten, welche sich geistige Bestimmungen insbesondere als Affekte geben“ (X, §401, Z.). Allerdings diskutiert Hegel hier nicht das Verhältnis zwischen Trieben und Affekten; dies erfolgt erst auf dem Gebiet des praktischen Geistes. In unserem Gebrauch des Begriffes der Affekte wollen wir darauf hindeuten, dass die Affekte zwar als eine grundlegende Charakterisierung der Subjektivität zu verstehen sind, aber auch einen kognitiven Gehalt erschließen. Für die gesamte Struktur der Untersuchung ist es daher wichtig, eine zweite Unterscheidung zwischen Affekten und Affektivität vorzunehmen. Während Affekte in der spinozistischen Tradition eine breitere Bedeutung haben, in der die Zustände sowohl passiv – affektiert werden – als auch aktiv inkorporiert werden, zeigt Affektivität grundsätzlich intersubjektive Verhältnisformen an, welche mit affektiven Komponenten verflochten sind – wie bei den in der Familie bestehenden Liebesverhältnissen und den ontogenetisch zu beschreibenden primären Formen von Subjektivierung. Im Unterschied zu diesen Formen von Affektivität werden die Affekte in der späteren Sozialisierung mit einer anderen Charakterisierung versehen. Diese Unterscheidung ist aber sehr umstritten, und deswegen ist unser Gebrauch keine Begriffsklärung, sondern eine Entscheidung für den konzeptionellen Rahmen, in dem sich diese Arbeit abspielt. Ein grundlegend emotionaler Gehalt wird insofern dargestellt, der schon am Anfang von Hegels Kritik der formalen Moralität eine leitende Rolle für die Struktur seiner Sittlichkeitstheorie spielt. 35 „Das Vernünftige, das in der Gestalt der Vernünftigkeit als Gedachtes ist, ist derselbe Inhalt, den das gute praktische Gefühl hat, aber in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit, in seiner Objektivität und Wahrheit“ (X, §471).

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„Vernünftige“ sowohl die Figur eines Gedachten als auch eines Gefühl bezeichnen kann, können beide von demselben Inhalt verkörpert werden. Das Vernünftige bezeichnet also den allgemeinen und notwendigen Inhalt des praktischen Gefühls. Die durch das Denken durchgeführte Vermittlung ermöglicht einen allgemeinen, „wahren“ Inhalt des Gefühls, der die „Einzelheit des Gefühles“ (X, §471) zur Allgemeinheit bringt. Insofern spielt das Gefühl in Verbindung mit dem Denken immer eine grundlegende Rolle, da dessen Inhalt die „wirkliche Vernünftigkeit des Herzens und des Willens“ (X, §471) bildet; wie auch später auf der objektiven Seite bedeutet nun die Idee des „Vernünftigen“ dasjenige Erheben des Gefühls zu einem allgemeinen Inhalt, in welchem das Denken für die Subjektivität die Vermittlung dessen ermöglicht, was im „objektiven Geist“ – wie wir es sehen werden – als ein allgemeiner Inhalt des Willens herausgearbeitet werden soll. Der Punkt ist der, dass, wenn einerseits zwar eine emotionale Erfahrung für den substanziellen Inhalt des Rechts oder der Sittlichkeit fundamental ist, diese andererseits nur durch das Denken vermittelt wird. Insofern der Gefühlsinhalt kontingent sein kann, sieht Hegel davon ab, zwischen verschiedenen Gefühlen ausführlich zu differenzieren, denn er ist vielmehr daran interessiert, wie es auf der Ebene des Gefühls selbst möglich ist, aus einem zufälligen einen allgemeinen Inhalt herauszubilden.36 In Form der subjektiven, primären emotionalen Erfahrungen gibt es Hegel zufolge keine Möglichkeit, ein Gefühl von einem „Allgemeinen“ – also von einem „substanziellen“ Inhalt wie des Rechtes und der Sitte – zu haben, sondern dazu wird die Vermittlung durch das Denken nötig. Es ist der Zusammenhang dieses Gefühls mit dem Denken, der Hegel mehr interessiert, da es, anders als die anderen Gefühle, einen sittlichen Inhalt besitzen kann. So liegt die Betonung auf der Ebene des objektiven Geists auf einem kognitiven, „begrifflich gefühlten“ substanziellen Inhalt, den wir als sittliches Gefühl bezeichnen können. Entscheidend ist hier daher das, was man als eine propositionale Struktur des Gefühls bezeichnen kann. Weil Hegel mit dem Gefühl keinen apriorischen Inhalt verbindet, ist es unerlässlich, nicht nur die Rolle der Gefühle zu betrachten, sondern vielmehr auch ihren Standpunkt zu bestimmen, wenn ihr Inhalt ein „sittlicher“ sein soll. Nur mit einer vorhergehenden spezifischen Unterscheidung zwischen diesen Inhalten lässt sich das an einem bestimmten Inhalt orientierte Gefühl bewerten. Und nur dadurch wird es auch möglich, zu zeigen, welche Gefühle im Rahmen einer Sittlichkeitstheorie auszuarbeiten und zu analy36 So nennt Hegel hier nur en passant etwa den Unterschied zwischen Freude und Zufriedenheit: Während erstere eine einzelne Erfahrung fixiert, stellt letztere ein andauerndes Gefühl dar.

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sieren sind. Wie hier schon zu erkennen ist, bleibt es zur kritischen Auffassung von sittlichen Handlungen unverzichtbar, die Gefühle und ihre propositionale Struktur zu berücksichtigen, wobei die Verflechtung zwischen Gefühl und kognitivem Inhalt einen grundlegenden Aspekt für die Thematisierung der Sittlichkeitstheorie bildet.

3.3 T RIEBE , L EIDENSCHAFTEN UND I NTERESSEN ALS KONSTITUTIVE I NDIVIDUALISIERUNGSKRÄFTE Im Kontext seiner Enzykopädie verdeutlicht Hegel in einer erhellenden Beschreibung auch den Unterschied zwischen Trieb und Begierde: Weil die Begierde in einem noch nicht aufgehobenen Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt liegt – wie er hier mit Verweis auf die Phänomenologie des Geistes sagt –, ist sie in einer gewissen Weise grundlegender als der Trieb.37 Dass Hegel die Begierde als dem Trieb vorgeordnet auffasst, lässt sich mit der grundsätzlichen konzeptuellen Unterscheidung verstehen, dass die Begierde eine nur unmittelbare Befriedigung sucht, eine „einzeln[e], augenblicklich[e] Befriedigung“ (X, §473, Z.), während der Trieb „eine Reihe von Befriedigungen, - somit etwas Ganzes, Allgemeines“ (X, §473, Z.) umfasst. Auf der Suche nach einer „augenblicklichen Befriedigung“ befindet sich die Begierde noch in einem Widerspruch zu ihrer Unmittelbarkeit: Als ein primärer Gegensatz zwischen zwei Einzelnen – eine partikuläre und ätherische Befriedigung einerseits und die unerfüllte Begierde andererseits – erkennt sich das Bewusstsein selbst in diesem Gegensatz. Die Triebe ihrerseits sind Teil eines widersprüchlichen Bewusstseins, das hier im praktischen Geist aus einem zu überwindenden Gegensatz

37 Wie an kaum einer anderen Stelle wird in der folgenden Passage der im Nürnberger Gymnasium verfassten Texte zur Philosophischen Propädeutik, die Hegel 1808 kurz nach der Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes in einer Vorbereitungsphase für die Abfassung seiner Enzyklopädie schrieb, der spezifische Gegenstand der Begierde (als „Dinge“) im Unterschied zum Gegenstand des Herr und KnechtVerhältnisses (ein anderes „Selbstbewusstsein“) verdeutlicht: „Das Selbstbewußtsein hat in seiner Bildung oder Bewegung die drei Stufen: 1. der Begierde, insofern es auf andere Dinge, 2. des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft, sofern es auf ein anderes, ihm ungleiches Selbstbewußtsein gerichtet ist, 3. des allgemeinen Selbstbewußtseins, das sich in anderen Selbstbewußtsein[en] und zwar ihnen gleich, so wie sie ihm selbst gleich, erkennt“ (IV, 117). Diese drei Stufen bezeichnet Hegel als „Bildung“ (IV, 117).

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besteht. So sieht Hegel den Trieb als eine „Form der wollenden Intelligenz“ (X, §473, Z.), einen konstanten Motor des Subjektivierungsprozesses an. Die Vielfältigkeit der Neigungen kann durch das Subjekt nicht befriedigt werden; daher müssen sich die Neigungen „gegeneinander wenigstens einschränken“ (X, §473, Z.). In diesem Sinn hängt die Befriedigung der Neigungen von der Fähigkeit ab, „gute“, „vernünftige“ Neigungen zu erkennen und zwischen ihnen zu wählen. Auch in diesem Kontext verbindet Hegel diese Entscheidungsfähigkeit mit einer jede Ebene – sei es die rechtliche, die moralische oder die sittliche – betreffenden Pflichtenlehre: „Welches also die guten, vernünftigen Neigungen und deren Unterordnung sei, verwandelt sich in die Darstellung, welche Verhältnisse der Geist hervorbringt, indem er als objektiver Geist sich entwickelt; - eine Entwicklung, in welcher der Inhalt der Selbstbestimmung die Zufälligkeit oder Willkür verliert. Die Abhandlung der Triebe, Neigungen und Leidenschaften nach ihrem wahrhaften Gehalte ist daher wesentlich die Lehre von den rechtlichen, moralischen und sittlichen Pflichten.“ (X, §474)

Wie wir im ersten Kapitel im Vergleich zu Kant gesehen haben, lässt sich auch hier wieder sehen, wie Hegel die Pflichten nicht als den „Triebe[n], Neigungen und Leidenschaften“ entgegengesetzt behandelt, sondern, im Gegenteil, diese – ihrem „wahrhaften Gehalte“ nach – als den „wesentlichen“ Inhalt der Pflichtenlehre betrachtet. Auf diesen Aspekt kommen wir im dritten Teil zurück. Eine für unsere Rekonstruktion grundlegende Idee ist die hier dargestellte Verflechtung zwischen Trieb und Interesse, die wir bei der Diskussion von Hegels Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft erneut betrachten werden. Im Hinblick auf den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem Inhalt und der Tätigkeit des Triebes besteht das Interesse nach Hegel darin, dass in ihm die Seite der Subjektivität in ihrem Objekt verbleibt. Das Subjekt will sich selbst in einem Objekt finden, so dass das Interesse konstitutiv dafür ist, die subjektive Seite im Prozess des Objektbezugs nicht zu verlieren oder zu entfremden; insofern seine Handlung stets an einem Gegenstand orientiert ist, will das Subjekt in dieser Entäußerung einen Ausdruck von sich selbst wiederfinden. Da das Objekt aber auf dieser Stufe noch nicht ausdifferenziert ist, ist der Trieb nicht an einem Objekt orientiert, sondern an der eigenen Handlung des Subjekts, um sich so an einem Gegenstand befriedigen zu können: In seiner „formellen Vernünftigkeit“ (X, §475) ist der Trieb eine Handlung, in welcher das Subjekt zwar die Befriedigung seiner Begierde sucht, worin seine Subjektivität aber als etwas Objektives positioniert wird. „Das Subjekt“, schließt Hegel, „ist die Tätigkeit der Befriedigung der Triebe“ (X, §475).

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Wenn aber das Subjekt ein Objekt von sich unterscheidet, wird der Trieb allmählich in ein Interesse umgeformt, so dass das Subjekt in einem von ihm getrennten Gegenstand wieder befriedigt wird. Das Interesse besteht also in der konstitutiven Beharrung der Subjektivität in Bezug auf das Objekt, so dass das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht als eine undifferenzierte Einheit gedacht werden kann. So schreibt Hegel: „Daß, insofern der Inhalt des Triebes als Sache von dieser seiner Tätigkeit unterschieden wird, die Sache, welche zustande gekommen ist, das Moment der subjektiven Einzelheit und deren Tätigkeit enthält, ist das Interesse. Es kommt daher nichts ohne Interesse zustande“ (X, §475).

Das Interesse bildet also eine Kraft einer Individualisierungsexpression, die in einer rudimentäre Form schon in dem Trieb zu sehen ist. Daher kommt später Hegels Betonung des Interesses als konstitutiv für die Fortdauer der Individualität und für die Selbstdarstellung. Nicht zufällig artikuliert Hegel in diesem Abschnitt der Enzyklopädie über den „praktischen Geist“ den Begriff des Interesses in Zusammenhang mit denen der Leidenschaft und des Triebes. Denn das Interesse stellt eine entwickelte Form derjenigen Tätigkeit dar, die schon in einer rudimentären Form im Trieb zu finden ist. Vor allem in seiner Enzyklopädie stellt Hegel ausführlich seine Auffassung über den Zusammenhang zwischen Willkür und Leidenschaft dar. Insofern das Individuum allmählich seine Totalität in Richtung einer Bestimmtheit orientiert, drückt es etwas mit „Leidenschaft“ aus: Diese besteht in dem Moment, in dem ein bestimmter Inhalt mit Intensität hervorgebracht wird.38 Sie stellt vor allem die subjektive Kraft dar, seinen eigenen Willen umzusetzen.39 Es ist hier zentral, dass Hegel die Leidenschaften - wie er schon in 38 So schreibt Hegel: „Der Wille ist der Form des Inhalts nach zunächst noch natürlicher Wille, unmittelbar identisch mit seiner Bestimmtheit, Trieb und Neigung; insofern die Totalität des praktischen Geistes sich in eine einzelne der mit dem Gegensatze überhaupt gesetzten vielen beschränkten Bestimmungen legt, [ist er] Leidenschaft“ (X, §473). 39 In einer von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte findet sich auch ein wichtiger Hinweis auf die Beharrung des Bewusstseins, nämlich dort, wo Hegel von einem Selbst, das sich „in allem wissen will“, in dem ein „Standpunkt des endlichen Seins, des endlichen Willens, der Willkür, des endlichen Wissens, der endlichen Zwecke“ nur ein „Standpunkt der Erscheinung“ (VWG, 63) ist. „Dieses sich Wissende will sich einerseits überhaupt und will sich in allem; in aller Objektivität soll diese seine Subjektivität sein, dies ist die Gewißheit seiner selbst. Indem

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Bezug auf die Gefühle ausgeführt hatte - als moralisch neutral bezeichnet: „[D]ie Leidenschaft [ist] weder gut noch böse“ (X, §473, Z.), sondern sie bedeutet nur, dass „ein Subjekt das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talentes, Charakters, Genusses in einen Inhalt gelegt habe“ (X, §473, Z.). Die Kriterien für die Evaluierung ihres Gehalts sind also nicht von ihrer Form als Leidenschaft abhängig, sondern davon, ob sie „substanziell“ ist – ob sie also einen „wahrhaften Gehalt“ verkörpert. In einem einzigen Absatz des Paragraphen 475 findet sich eins der bedeutsamsten Zitate für das Verständnis der Absicht, die unsere Rekonstruktion verfolgt. Hier stellt Hegel die begriffliche Konstellation von „Handlung“, „Trieben“, „Leidenschaft“, „Pflicht“, „Moralität“ und „Interesse“, „Subjektivität“, „Sittlichem“ sowie „Befriedigung“ umfassend dar. Die Handlung – heißt es hier – ist sowohl Zweck als auch die Tätigkeit selbst, den Zweck auszuführen. Sogar in der „uneigennützigsten Handlung“ gibt es stets ein „Interesse“, und zwar das, in dieser Handlung sich selbst zu verwirklichen. Es ist nur wegen dieses Interesses, sagt Hegel, dass es diese (und jede andere) Handlung überhaupt gibt. Im Gegensatz zum Trieb und den Leidenschaften stellt Hegel zwei Seiten dar: eine erste, die der natürlichen Befriedigung, bezieht sich auf Neigungen, wobei natürliche Bedürfnisse befriedigt werden – was Hegel als „Naturglück“ bezeichnet –, was aber nicht unbedingt eine Tätigkeit des Subjekts voraussetzt. Auf der anderen Seite liegt die „Moralität“, „die Pflicht um der Pflicht willen“. Triebe und Leidenschaften ergänzen ihrerseits diese beiden Momente, werden also in der Pflicht verwirklicht, aber nicht nur als rein formelle, sondern als lebendige: „Trieb und Leidenschaft“, schreibt Hegel, „[sind] nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjekts, nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist“ (X, §475).40 Die Idee ist wieder die diese Subjektivität rein, ganz inhaltslos gedacht wird, so ist dies der Trieb des Erkennens, die Vernunft, die in allem sich wissen will“ (VWG, 63). Nach diesem Moment der „Gewißheit seiner selbst“ will das Bewusstsein „sich selbst aber nicht zurück als Wissendes; sondern zuerst will es als Endliches sich nach seiner Unmittelbarkeit, in seiner Besonderheit“ (VWG, 64). Es ist dieses Beharren des Bewusstseins auf seiner Besonderheit, an welchem die Leidenschaft ansetzt: „Dies ist der Punkt, auf welchen die Leidenschaften fallen, wo die Individuen ihre Gewißheit in ihre Partikularität legen und diese verwirklichen wollen. Betrachten wir diesen Punkt, daß die Individuen das Dasein ihrer Endlichkeit wollen, so sehen wir, daß sie sich verdoppelt haben; denn sie sind endlich und verwirklichen diese Endlichkeit“ (VWG, 64). 40 Für unsere Rekonstruktion ist der Vorgang wichtig, durch den Hegel - ebenfalls wie in seiner „Anthropologie“ - diesen Prozess der Vermittlung der Triebe mit einer

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eines sittlichen Inhalts, der aber nur durch eine subjektive Handlung zu verwirklichen ist. Es ist daher nötig, dass sich das Subjekt zwar einerseits auf einen sittlichen Inhalt wie etwa die Pflicht bezieht, andererseits aber eine diesen „ergänzende“ Seite enthält, damit es nicht nur „um Pflicht um der Pflicht willen“ geht; dieser zweite Aspekt ist sowohl das Interesse, sich selbst auszudrücken, als auch eine leidenschaftliche Einstellung, einen sittlichen Inhalt zu realisieren: „Das Sittliche betrifft den Inhalt, der als solcher das Allgemeine, ein Untätiges, ist und an dem Subjekte sein Betätigendes hat; dies, daß er diesem immanent ist, ist das Interesse und, die ganze wirksame Subjektivität in Anspruch nehmend, die Leidenschaft“ (X, §475). Daher wird hier auch auf den Unterschied zwischen Interesse und Leidenschaft hingewiesen, obgleich beide dieselbe Grundstruktur aufweisen: Während das Interesse der Verwirklichung „immanent“ zur Individualität gehört, nimmt die Leidenschaft – wie eben zitiert – „die ganze wirksame Subjektivität in Anspruch“. An dieser umfassenden begrifflichen Verflechtung kann man die Auffassung erkennen, dass sich die Unterscheidung zwischen egoistischer und altruistischer Perspektive des Subjekts auflösen lässt. Denn wenn das Selbstinteresse und die Leidenschaft – die die notwendige subjektive Seite darstellen – einerseits stets die volitive Struktur jeder Handlung ausmachen, müssen sie andererseits nicht unbedingt so orientiert sein, dass sie, um unser gebräuchliches Vokabular zu verwenden, allein einen selbstreferentiellen bzw. selbstzentrierten Willen darstellen, sondern sie können sich auch auf einen „sittlichen“, dezentrierten Inhalt beziehen.41 Das ist der Grund, warum Hegel zufolge stets ein Selbstinteresse auch in der „uneigennützigsten Handlung“ zu finden ist. Die entscheidende Frage ist daher nicht die nach der Möglichkeit des „Altruismus“, also danach, ob eine Handlung bzw. der Wille an sich selbst interesselos sein kann oder nicht oder ob das Subjekt in seiner Handlung stets seine eigene Befriedigung sucht oder nicht, sondern vielmehr die nach dem „Inhalt“ der Handlung, ob sie also sittlich oder unsittlich ist. Eine „sittliche“ Handlung ist daher nicht gegen das Selbstinteresse gerichtet, sondern dies ist vielmehr deren volitiver Kern; dezentrierte, sittliche Handlungen sind nicht dem Selbstinteresse entgegensetzt, sondern müssen umgekehrt dieses ausdrücken und seine Realisierung ermöglichen. Es braucht jedoch bestimmte Vermittlungen – die sich unter die grobe Bezeichnung einer „sittlichen“ Willensbildung fassen lassen–, Pflichtenlehre verbindet, nämlich durch die Darstellung von sittlichen Verpflichtungen als „sittliche[s] Leben“ (X, §474). Diesen Zusammenhang werden wir später in Bezug auf Hegels Rechtsphilosophie näher betrachten. 41 Zur Ambivalenz altruistischer Perspektiven – allerdings innerhalb eines anderen konzeptuellen Rahmens - vgl. etwa Gosepath 1992 und Nagel 1970.

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damit durch uneigennützige Handlungen auch die eigene Befriedigung erreicht werden kann. Es geht darum, durch eine am sittlichen Inhalt orientierte Handlung Selbstinteresse und eigene Befriedigung erfüllt zu wissen. Die Frage ist nun wieder, aus welchem Inhalt diese Befriedigung bestehen kann – aus einem in sich geschlossenen, zentrierten oder einem sittlichen Inhalt. Die Idee eines sittlichen Inhalts wird daher mit der Befriedigung der Selbstinteressen und Leidenschaften verbunden: Eine dezentrierte Handlung ist nur legitim, wenn das Subjekt damit seine Befriedigung erlangt. Und aufgrund dieser Verortung der Leidenschaften und Interessen ist es möglich, das Gelingen einer subjektiven Handlung nicht nur an deren moralische Motiviertheit („die Pflicht um der Pflicht willen“ tun) knüpfen zu müssen, sondern auch an die ihr zugrunde liegende „volitive“ Struktur, also den Umstand, mit dieser Handlung ein eigenes Interesse befriedigen zu wollen, binden zu können. Es ist mithin gerade die Entgegensetzung von Selbstinteresse und Moral, die Hegel für falsch hält: Eine dezentrierte Handlung kann nicht allein durch eine formale Moral begründet werden, sondern muss auch durch die Suche nach einer damit einhergehenden Befriedigung von Selbstinteresse bestimmt sein. Erst dadurch fühlt man sich geneigt, das Selbstinteresse zu einer dezentrierten Perspektive zu erweitern, in der eigenen Handlung also einen sittlichen Inhalt zu verkörpern. Anders als bei einem Binom der Art „uneigennützige Handlung versus Befriedigung eigener Interessen“ bestehen die Stufen der Willensbildung nach Hegel genau darin, mit einer dezentrierten sittlichen Handlung sein Selbstinteresse erfüllt zu wissen und sich darin zu befriedigen. Kurz, es geht immer um die Frage nach der Befriedigung des Eigeninteresses; entscheidend ist also, ob die Realisierung individueller Interessen sich gleichzeitig auch als „sittlich“ verstehen lässt. Damit lässt sich deutlich erkennen, was Hegel mit dem Begriff des Interesses erklären will: mit derselben Charakterisierung, die Hegel für die Begriffe Begierde, Trieb und Willkür ausgeführt hatte, sieht er auch im Begriff des Interesses die grundlegende Rolle der Fortdauer der Subjektivität in dem Verhältnis zu den Gegenständen. Diese Selbsterhaltung bei der Verwirklichung von Interessen unterscheidet sich daher von der „Selbstsucht“ (X, §475, Z.) grundsätzlich durch den Bezug auf seinen Inhalt. Während bei der Selbstsucht vor allem ein partikulärer, nur an sich selbst orientierter Inhalt verfolgt wird, ist der Inhalt des Interesses ein „objektiver“, der sich auf Hegels Begriff der „Entäußerung“ des Subjektes im Objekt bezieht. Dagegen ist für die Selbstsucht die Objektivität gleichgültig, so dass das Subjekt im Ausdruck seiner selbst davon unberührt bleibt, welchen Gegenstand es vor sich hat. Daher insistiert Hegel auf

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der Kraft der Subjektivität, den „reinsten [...] Willen“ (X, §475) zu verwirklichen, wobei zugleich auch die subjektive Befriedigung als Ziel erfüllt wird.42 Anhand der bisherigen Darstellung lassen sich zwei Grundideen erkennen, und zwar zum einen, dass die unterschiedlichen Formen von Trieben, Leidenschaften und Interessen den konstitutiven Charakter der subjektiven Selbsterhaltung des freien Willens verkörpern, und zum anderen, dass diese sich als „vernünftig“ beschreiben lassen, insofern sie einen allgemeinen Inhalt einschließen. Wie auch beim Begriff der Leidenschaft gesehen, will Hegel hinsichtlich des Begriffs des Interesses deutlich machen, dass ein allgemeiner Inhalt dann nicht legitim ist, wenn das Subjekt sich in diesem nicht selbst erkennen und seine Individualität ausdrücken kann. Insofern sollte bereits deutlich geworden sein, warum das Interesse nicht nur mit Trieben, sondern auch mit Leidenschaften verbunden ist. Denn wie die subjektive Seite der Triebe stellt auch die Leidenschaft die Orientierung des Subjektes hinsichtlich eines bestimmten Gegenstands dar, in der das Subjekt die Absicht hat, sich in diesem selbst zu erkennen. Durch eine allmähliche Ausdifferenzierung eines von ihm getrennten Gegenstands – wie auch in Hegels ontogenetischem Narrativ als konstitutiver Ausdifferenzierung einer zuerst undifferenzierten Welt – zeigen sich Triebe, Leidenschaften und Interessen als Aspekte der mit der subjektiven Tätigkeit verbundenen Selbsterhaltung. Insofern zeigen die verschiedenen Gestalten von Trieben und Begierden bis zu den Leidenschaften und Interessen die gewichtige Rolle der Tätigkeiten des Individuums, das in deren „Entäußerung“ sich selbst finden will. Mit dieser Vorstellung will Hegel zeigen, dass der Bildungsprozess des freien Willens darin besteht, die Formen der Subjektivität, die für die Erfahrung des Zusammenhangs zwischen Selbst- und Weltbezug unerlässlich sind, mittels einer Reorientierung auf einen allgemeinen Inhalt auszurichten. Weil in diesem Prozess der Trieb durch das Denken vermittelt wird, handelt es sich immer noch um einen ungetrennten Zusammenhang von beidem. An diesem Punkt wird der Trieb von einer primären Form der Willkür zum „reflektierende[n] Wille[n]” (X, §476) hin ausgebildet. Auf dieser Stufe wird der Trieb nicht nur fähig, durch die Neigungen zu handeln, sondern – in der Form 42 „Selbst im reinsten rechtlichen, sittlichen und religiösen Willen, der nur seinen Begriff, die Freiheit, zu seinem Inhalte hat, liegt zugleich die Vereinzelung zu einem Diesen, zu einem Natürlichen. Dies Moment der Einzelheit muß in der Ausführung auch der objektivsten Zwecke seine Befriedigung erhalten, ich als dieses Individuum will und soll in der Ausführung des Zwecks nicht zugrunde gehen. Dies ist mein Interesse. Dasselbe darf mit der Selbstsucht nicht verwechselt werden; denn diese zieht ihren besonderen Inhalt dem objektiven Inhalte vor“ (X, §475, Z.).

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der Willkür – zwischen verschiedenen Neigungen abzuwägen.43 Es beginnt hier eine Art von reflektierter Wahl zwischen verschiedenen Neigungen – auch wenn diese Reflexion noch ohne Auswahlkriterien geschieht, die den freien Willen charakterisieren. Das Subjekt kann aber nicht durch diese Fixierung auf das „Besondere“ befriedigt werden, weil es sich dabei immer um eine limitierte und zufällige Befriedigung handelt.44 Weil der Wille sich aber nur im „Besonderen“ befriedigen will, wird er unfähig, eine ständige und stabile Befriedigung zu finden. Damit besteht das einzige, minimale Kriterium dafür, sich zwischen den zu befriedigenden Neigungen zu entscheiden, im Ziel einer allgemeinen Befriedigung, der von Hegel so genannten „Glückseligkeit“.45 Mit diesem Begriff verbindet er die Auffassung, dass besondere Triebe in Hinblick auf ein Allgemeines ausgerichtet werden. Als Ermöglichung des freien Geistes besteht die Glückseligkeit in einem vom Subjekt gesetzten Ziel und somit darin, von der Willkür zum Willen überzugehen. Der zuerst vom Trieb bestimmte Gehalt der Besonderheit macht einer zweiten Stufe Platz, jener der Glückseligkeit, auf welcher zwischen Neigungen mit dem Ziel gewählt wird, eine ständige allgemeine Befriedigung zu erreichen. Dass Hegel diese Stufe mit dem „denkende[n] Wille[n]“ verbindet, liegt an seiner Vorstellung, dass nur ein reflexives Denken, insofern es die Besonderheit der Triebe als „negativ“ erfährt, die Glückseligkeit ermöglicht. Jedoch hat die Glückseligkeit „den affirmativen Inhalt allein in den Trieben“ (§479, 300). Die Glückseligkeit nimmt keine Objektivität an, sondern „das subjektive Gefühl“, das bestimmt, woran sich die Glückseligkeit orientieren soll. Deswegen erhebt sich hier der Begriff der Glückseligkeit zwar als Vollendung des „praktischen Geistes“, dieser besteht so aber noch nicht als „freier“ Geist. Denn wegen der Schwierigkeit, objektive Maßstäbe für die Glückseligkeit zu finden, sieht Hegel sie nur als eine Zwischenstufe an: Auch wenn die Glückseligkeit gegenüber den Trieben den Vorteil hat, nicht nur eine augenblickliche Befriedigung zu suchen, sondern einen allgemeinen Inhalt in einem dauerhaften Zustand, so befindet sie sich immer noch innerhalb der Grenzen eines noch partiell subjektiven und willkürlichen Charakters. Mit die43 „Er [der Trieb] ist auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen, und ist Willkür“ (X, §477). 44 Wie wir sehen werden, beschreibt Hegel auch in der Einleitung seiner Rechtsphilosophie die Befriedigung als den Übergang von einem partikulären, zufälligen Inhalt zu einem „allgemeinen Zwecke, [dem] des Wohls oder der Glückseligkeit“ (VII, §123). 45 „[D]ie Wahrheit der besonderen Befriedigungen ist die allgemeine, die der denkende Wille als Glückseligkeit sich zum Zwecke macht“ (X, §478).

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sem begrifflichen Maßstab gewinnt man zwar das Kriterium der Dauer der Befriedigung und damit einen stabilen Horizont, aber es ist noch nicht klar, welcher Inhalt als ein freier – oder, wie Hegel es ausdrückt: „substantieller“ – gilt, also als ein Inhalt, der nicht nur ein an einem subjektiven Gefühl orientierten Zustand zum Kriterium nimmt, sondern der eine sowohl subjektive als auch objektive Gültigkeit besitzt.46 Somit wird der Übergang vom praktischen zum freien Geist nicht mehr durch den Begriff der Glückseligkeit geleitet, sondern durch den Begriff der Freiheit als konstitutivem Element des Willens: Die Freiheit als Inhalt zu haben, bildet daher den Übergang zu einem „wirklich freie[n] Wille[n]“ (X, §480). In dieser Auffassung besitzt die Einheit dieser beiden Momente – subjektive und objektive -als „freier Geist“ einen doppelten Charakter: Während sie einerseits in einem Aneignungsprozess eines dem Subjekt äußeren Gegenstand besteht, also in einer Internalisierung der bisher externen oder fremden Objektivität, liegt andererseits die Bedingung für den freien Geist in gerade in der, wie Hegel es gewöhnlich nennt, „Entäußerung“ seiner eigenen Zwecke und Interessen, die damit nicht mehr nur als subjektiv charakterisiert sind, sondern auch einen objektiven Charakter gewinnen. Es ist in diesem Externalisierungsprozess des Selbst, dass ein zunächst von der Welt getrenntes, selbstbezogenes Subjekt sich allmählich in seiner Individualität verwirklicht. Die Beschreibung Hegels bezieht sich hier also auf den Begriff der Freiheit: Nur insofern diese doppelte Bewegung von Internalisierung seiner Objektivität und Entäußerung seiner Subjektivität gelingt, kann der Geist als „frei“ bezeichnet werden. Es geht hier mithin um drei Grundbegriffe, nämlich Befriedigung, Glückseligkeit und Freiheit, wobei die drei sich auf die Umformung und Verwirklichung von Begierden und Trieben, Neigungen und Interessen beziehen. Hegel ist der Meinung, dass das Subjekt sich weder mit der bloßen Befriedigung seiner unmittelbaren natürlichen Triebe und Neigungen noch mit der Glückseligkeit erfüllt weiß, sondern nur, insofern seine Freiheit – durch den Maßstab des „freien Willen“ bestimmt – gesichert wird. Es sind die Triebe selbst, die eine ständige subjektive Tätigkeit derart ermöglichen, dass der Wille einen „freien“ Inhalt – und nicht nur einen äußeren, von dem Subjekt fremden Inhalt - an46 „Die Glückseligkeit ist die nur vorgestellte, abstrakte Allgemeinheit des Inhalts, welche nur sein soll. Die Wahrheit aber der besonderen Bestimmtheit, welche ebensosehr ist als aufgehoben ist, und der abstrakten Einzelheit, der Willkür, welche sich in der Glückseligkeit ebensosehr einen Zweck gibt als nicht gibt, ist die allgemeine Bestimmtheit des Willens an ihm selbst, d. i. sein Selbstbestimmen selbst, die Freiheit“ (X, §480).

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nehmen kann. Hegel scheint der Überzeugung zu sein, dass sich die Erfahrung einer „Mangelhaftigkeit“ der Subjektivität, soweit sie die soziale Ebene betrifft, sowohl durch die Befriedigung von natürlichen Bedürfnissen und geformten Interessen als auch dadurch, dass das Subjekt lernt, ein dezentriertes Denken, Wollen und Handeln auszubilden, in eine Erfahrung von „Erfülltheit“ und damit von Freiheit umwandeln lässt. Mit dem hier rekonstruierten ontogenetischen Narrativ – das Hegel im Rahmen seiner Subjektivitätstheorie entwickelt – lässt sich besser erklären, warum die Freiheit nicht als ein formales moralisches Prinzip, sondern vielmehr im Bezug auf den Willen zu betrachten ist. Daher wird Hegel in seiner Rechtsphilosophie die Entfaltung des Willens wieder aufnehmen und die sozialen Bedingungen seines Freiwerdens als Ziel einer Theorie der Institutionen bezeichnen. Somit – so schließt Hegel in seiner Theorie des subjektiven Geistes – ist weder die Befriedigung noch die Glückseligkeit, sondern die prozesshaft zu realisierende Freiheit der für seine Sittlichkeitstheorie grundlegende Begriff. „Sittlich“ bezeichnet sowohl den Inhalt des Willens als auch die Sphäre seines Bildungsprozesses, welcher innerhalb der „Sittlichkeit“ abläuft. Es geschieht in einem Sinn von Allgemeinheit als Gegensatz zur Besonderheit, hier der der Triebe, dass der Übergang von der Willkür zum freien Willen sich herausbildet; denn nur dadurch, dass der Wille seine Befriedigung weder in partikularen noch in unmittelbaren, natürlich geprägten Neigungen sucht, kann sein Inhalt mehr als ein willkürliches bzw. partielles Modell von Freiheit darstellen; und nur so kann dieses ein innerhalb einer sozialen Praxis vermitteltes sein. Dem Willen einen sittlichen Inhalt zu erschließen, damit er sich von seinem unmittelbaren, natürlichen Zustand der Willkür befreit, und die subjektiven Leidenschaften und Interessen von einem selbstsüchtigen in einen „allgemeinen“ Inhalt zu transformieren, sind Teile der Aufgabe, die Hegel mit seiner Sittlichkeitstheorie zu lösen beansprucht. Mit dieser Auffassung kann Hegel im Übergang zu seiner Theorie des objektiven Geistes den Willen als „Boden“ seiner Rechtsphilosophie betrachten. Weil, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, weder das positive Gesetz noch die Moralität in der Lage sind, den Willen selbst zu vermitteln, da sie nur eine durch Absonderung der Neigungen geprägte, formale Vernünftigkeit ermöglichen, setzt sich Hegels Sittlichkeitstheorie das anspruchsvolle Ziel, sowohl den Inhalt auszudrücken, mit welchem der Wille als „frei“ gilt, als auch den institutionellen Rahmen zu bestimmen, der zur Realisierung dieses Inhalts dienen soll. Denn in den sittlichen Sphären weiß das Subjekt nicht nur seine Bedürfnisse und Begierden durch soziale Verhältnisse erfüllt, sondern fühlt sich auch – auf der Ebene von Handlungsmustern – durch die Dezentrierung seines Willens frei.

4. Figuren der Radikalisierung des selbstzentrierten Willens

Die Frage danach, warum ein allgemeiner, sittlicher Inhalt sich als Verwirklichung des freien Willens zeigt, wollten wir ebenso wie die Rechtfertigung der zentralen Rolle der Ausarbeitung des Willens für eine Theorie der Institutionen durch eine nähere Betrachtung von Hegels Theorie des subjektiven Geistes erläutern. Wie unsere Rekonstruktion zu verdeutlichen versuchte, bietet die Entfaltung von Hegels Auffassung der menschlichen Natur eine grundlegende Erklärung für den freien Willen als Grundbegriff von Hegels Sittlichkeitstheorie; denn nur in Anbetracht der schrittweisen Verwirklichung des Willens lässt sich sein Vorschlag einer Herausbildung des Willens zu einem dezentrierten, sittlichen Gehalt genauer betrachten. Deshalb wollten wir mit der Rekonstruktion des von mir so genannten ontogenetischen Narrativs veranschaulichen, dass Hegel den Subjektivierungsvorgang als dialektischen Prozess der Differenzierung des Subjekts von seiner Umwelt bzw. dem Anderen darstellt, der eine Dynamik der schrittweisen Dezentrierung des Willens beinhaltet, durch die die verschiedenen Willensgestalten – sei es als naturgeprägte Formen von Trieben und Neigungen oder, auf einer höheren Stufe, als Leidenschaften und Interessen – von einem zunächst unmittelbar natürlichen und selbstsüchtigen Inhalt zur Einbeziehung von sittlichen Inhalten dezentriert werden. Das Subjekt lernt also, durch eine graduelle Differenzierung seines zunächst als allmächtig empfundenen Willens sich als ein selbständiges Selbst auf die Welt zu beziehen. Mit der konstitutiven Rolle der Leidenschaften und Interessen für die Individualitätssetzung lässt sich ein erneuerter Weltbezug des Subjekts erkennen, der jetzt aus dem Verhältnis zwischen individualisiertem Selbst und allgemeinem Inhalt besteht. Bevor wir auf die Frage eingehen, wie der sittliche Gehalt von Leidenschaften und Interessen mit einer sozial vermittelten Willensbildung verbunden ist,

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werden wir im Folgenden die Verfehlungen bei dem Prozess der „Subjektdezentrierung“ näher betrachten; denn mittels der bisher betrachteten Stufen des Hegelschen Ansatzes soll ex negativo die Perspektive auf das aufgezeigt werden, was Hegel als „Fehlentwicklung“1 in diesem Subjektivierungsprozess ansieht. Das Hegelsche Modell eines „unfreien“ Willens besteht grundsätzlich aus einem „abstrakten“ Willen, der von allen Beschränkungen absieht – wie wir bereits in den einleitenden Überlegungen zu Hegels Interpretation des Naturzustands gesehen haben. Dieser Prozess einer Vernichtung jeder Beschränkung verhindert die Subjektivitätsbildung, die stets aus dem Erfahrungsprozess von Perspektiverweiterung einerseits und Individualisierung andererseits besteht. Das Selbst verbleibt damit in einem rein partiellen Moment, wie bei den noch natürlich geprägten Stufen selbstsüchtiger Willkür, die nur den Eigensinn seiner selbstzentrierten Partikularität erfährt. Nach dem Modell einer einseitigen „negativen“ Freiheit, bleibt der Wille damit nur „abstrakt“ frei, ohne einen substantiellen Gehalt. Um den Verlauf der Fehlentwicklung im Prozess der Willenskonstitution zu klären, werden wir im Folgenden drei von Hegel dargestellte paradigmatische Beispiele für die Radikalisierung der selbstsüchtigen Perspektive analysieren. In Hegels Schriften findet sich diese Dimension exemplarisch dort, wo er diese Seite der negativen Freiheit deutlich darstellt, wie etwa in der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie. Eine weitere, für diesen Zweck fruchtbare Quelle findet sich bei Hegels kritischer Aneignung der Romantik; denn hier wird als Gegensatz zur sittlichen Freiheit eine mit dieser konfligierende Form in Gestalt einer leidenschaftlichen Zerstörung der Sittlichkeit angenommen. Dadurch wird die in dem vorliegenden Kapitel dargestellte Idee der Freiheit als Abbruch der Beziehung zwischen Subjektivität und Welt durch eine Radikalisierung der Gefühle dargestellt, als eine nur auf sich oder in sich selbst zentrierte Subjektivität, in der keine sittliche Freiheit existieren kann, sondern nur eine zwangsweise Beherrschung der selbstsüchtigen Willkür. Somit tritt eine erste für unsere Rekonstruktion besonders wichtige Figur, die in sich geschlossene Subjektivität, hervor, die Hegel anhand seiner Kritik an der radikalisierten Form romantischer Subjektivität veranschaulicht (4.1); eine zweite, allerdings weniger häufig diskutierte Figur bezeichnet Hegel mit seinem Begriff der Verrücktheit, die in seiner Anthropologie eine radikalisierte Form selbstzentrierter Subjektivität darstellt (4.2); die dritte, in der Literatur am häufigsten bespro1

Zum Gebrauch des Vokabulars von „Fehlentwicklung“ sowie von „Störung“ und „Pathologien“ vgl. insb. Honneth 1994, 2001, 2007, 2012 und Frederick Neuhouser 2000, 2008. Ich beziehe mich allerdings in diesen Kontext nicht auf eine historische Rekonstruktion, sondern vor allem auf eine Subjektivitätsebene.

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chene Figur besteht im Fanatismus, und das Beispiel, an dem dieser illustriert wird, ist das der jakobinischen Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution – das Hegel auch in seiner Darstellung der negativen Freiheit in der Einleitung seiner Rechtsphilosophie (§6) nennt (4.3). Diese „falschen“ Freiheitsmodelle werden wir unter die gemeinsame Bezeichnung des selbstzentrierten Willens zusammenbringen, welcher nach Hegel sowohl in den Grenzen der negativen Willkür als auch in der paradigmatischen Radikalisierung des romantischen Individualismus vorfindlich ist. Wenn auch in unterschiedlichen Graden und mit alternativen Charakterisierungen, so lässt sich bei diesen drei Figuren doch stets die gleiche Auffassung der defizitären und einseitigen Form negativer Freiheit erkennen, in der das Selbst sich selbst den sozialen Institutionen oder der Wirklichkeit überhaupt, die ihm nur als Einschränkung der Verwirklichung seiner Subjektivität erscheint, in Form einer von diesen abgetrennten Subjektivität entgegensetzt. Die Unzulänglichkeiten dieses Freiheitsmodells bestehen zunächst in der Fehlentwicklung einer isolierten Selbstbildung. Die Leidenschaften beharren nun auf einer isolierten Individualität, wodurch sich nur ein von anderen und der Umwelt abgetrenntes Selbst konstituieren lässt. Das Subjekt erreicht seine Befriedigung somit nur in einer negativen Freiheit, deren Radikalisierung bis zum Fanatismus und zur Verrücktheit als einer Entkopplung seiner von der Welt führt. So artikuliert Hegel eine negative, vereinseitigte Form von Freiheit, in welcher sich der Wille in seinem Bildungsprozess nicht als ein sittliches Pathos herausformt, sondern nur ein in sich selbst beschlossenes Gefühl bildet. Es wird zuletzt dargestellt, dass diese Auffassung nicht als eine bloße Anpassung an etablierte sittliche Sphären zu verstehen ist, sondern andererseits auch Kriterien ergeben wird, womit defizitäre Formen sozialer Verhältnisse kritisiert und revidiert werden können.

4.1 S ELBSTSÜCHTIGES P ATHOS Nicht nur in der Phänomenologie des Geistes, sondern auch in seinen Vorlesungen über die Ästhetik finden wir eine so klare Auffassung von Hegels Kritik an einer geschlossenen Subjektivität wie in kaum einer anderen seiner Schriften. 2 Im Abschnitt „Die romantische Kunstform“ (XIV, 127 ff.) legt He-

2

Es ist nicht zu übersehen, dass diese Vorlesungen sich auf eine Thematik beziehen, die Hegel systematisch „absoluten Geist“ nennt. Auch wenn diese Besonderheiten dieses Narrativs nicht vergessen werden dürfen, ist es für eine interne Rekonstruk-

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gel eine Darstellung dessen vor, was er das „Prinzip der inneren Subjektivität“ (XIV, 128) nennt. In Hinblick auf dieses Prinzip unterscheidet er zwischen der griechischen und der romantischen Kunst: Auch wenn die griechische Kunst Hegel zufolge die „Vollendung“ der Schönheit dargestellt hat,3 erschließt die romantische Kunst ein höheres Moment. Denn im Unterschied zur griechischen Repräsentation der „Vielgötterei“, in welcher den Göttern eine anthropomorphisierende Gestalt gegeben wurde, stellt die Romantik die Individualität selbst als eine „absolute Selbständigkeit“ (XIV, 130) dar, bei der „das Menschliche als wirkliche Subjektivität [...] zum Prinzip gemacht [werden muß]“ (XIV, 129). In dieser grundsätzlichen Veränderung wird nicht die „Leiblichkeit“ zur „Wahrheit“ des Geistes, sondern der Geist „wird sich seiner Wahrheit nur dadurch gewiss, daß er sich aus dem Äußeren in seine Innigkeit mit sich zurückführt und die äußere Realität als ein ihm nicht adäquates Dasein setzt“ (XIV, 129). Die Entfaltung einer von der Realität getrennten innerlichen Subjektivität wird durch die Unterscheidung von drei Momenten in der „absoluten Welt des Geistes“ (XIV, 136) durchgeführt. Während das erste, als „absolutes“ selbst, den unendlichen Charakter des Geistes darstellt, besteht das zweite aus einer „Zerreißung“ (XIV, 133): Hier fühlt das Subjekt die Entgegensetzung zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit; es hat ein Gefühl des Unendlichen, aber gleichzeitig weiß es sich als „endlich und natürlich“. Das bringt einen negativen, schmerzlichen Moment mit sich, wo eine „Nichtigkeit“, als eine Erfahrung von Begrenzung und Unerfülltheit eingesetzt wird. Dieses negative Moment ist aber für den Geist konstitutiv, und seine Überwindung führt zu dem, was Hegel als „Reich der Wahrheit und Befriedigung“ (XIV, 133) bezeichnet. Das dritte Moment zeigt letztlich eine Persistenz im „menschlichen Kreise“ (XIV, 136), in der der Inhalt sich im „Endlichen“ befindet, und zwar einerseits bei „geistigen Zwecken“ – „weltlichen Interessen, Leidenschaften, Kollisionen, Leiden und Freunden, Hoffnungen und Befriedigung“ (XIV, 136) – und andererseits bei „der Natur“ (XIV, 136). Diese letzte Stufe bildet die grundlegende Charaktion besonders bedeutsam, wie Hegel – mit seinen Prämissen einer Theorie des Geistes – in seiner Darstellung der Romantik die Repräsentation des Prinzips der inneren Subjektivität in der Kunst sieht. Diese Vorlesungen stellen somit eine produktive Verflechtung mit den vorherigen Auffassungen der von Hegel so genannten Formen des „subjektiven“ und „objektiven“ Geistes dar, und dadurch lässt sich auch die Einheit erkennen, die Hegel in seiner dreigeteilten Theorie des Geistes im Blick hatte. 3

„[D]ie klassische Kunst [war] die begriffsgemäße Darstellung des Ideals, die Vollendung des Reichs der Schönheit. Schöneres kann nicht sein und werden“ (XIV, 127 f.).

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terisierung der romantischen Kunst: Sie bezeichnet den zentralen Unterschied zwischen griechischer und romantischer Kunst in Bezug auf den Status der Innerlichkeit, der auf diesen drei Stufen den graduellen Prozess der Erhebung der Subjektivität als Prinzip bildet. Dieses grobe und vereinfachte Bild von Hegels Darstellung lässt allerdings schon erkennen, worin dieser die Spannung im Prinzip der inneren Subjektivität sieht: Während der Wendepunkt der Moderne darin besteht, die Subjektivität selbst zu einem Prinzip zu erheben, führt dessen radikalisierte Form andererseits zu einem in sich selbst geschlossenen Subjektivismus, bei dem sich nur ein innerliches Selbst, das sich von der Existenz einer „äußere[n] Realität“ (129) abgewandt hat, erhebt. Gewiss, Hegel bezeichnet mit dem Ausdruck „romantische Kunst“ nicht einfach nur seine zeitgenössische Kunstepoche – so wie den Begriff der „Romantik“ gewöhnlich verwendet wird –, sondern die Entfaltung eines allgemeinen geistigen Prozesses, dessen Wurzeln schon im Christentum angelegt waren. Nach seiner Auffassung deutet dessen Aufkommen eine steigende Affirmation der Individualität an, die in der Moderne zur Etablierung des Autonomiebegriffes geführt hat. „Romantische“ Kunst wird also als ein Ausdruck dieses Prozesses verstanden, dessen nach Hegels Auffassung Ambivalenz in Hinsicht auf die Spannung zwischen Subjektivität und sittlichen Verhältnissen wir im Folgenden näher betrachten wollen. Während einerseits die romantische Kunst mit der klassischen die Präponderanz der „Weltlichkeit“ gemeinsam hat, findet man Hegel zufolge in der klassischen Kunst die Vorherrschaft des Objektiven – eine „objektive“ Dimension der Weltlichkeit - gegenüber dem Subjektiven in der romantischen Kunst. Im Unterschied dazu steht die Romantik auf einer ersten, noch „abstrakten“ Stufe – dem „religiöse[n] Kreis der romantische[n] Kunst“ (XIV, 142 ff.) – der bloß religiösen Innerlichkeit gegenüber, die Hegel als Verleugnung der Menschlichkeit kritisiert.4 Auf dieser ersten Stufe geht es jedoch um eine noch nicht in sich reflektierte Subjektivität, die sich an der Empfindung eines Austretens aus ihrer „Abgeschlossenheit“, um „in Verhältnis zu Anderem“ (XIV, 145) zu treten, zeigt. Als Empfindung nimmt dieses Moment die Gestalt der Liebe an – hier allerdings noch in ihrem „religiösen“ Charakter dargestellt. Wie Hegel in diesem etwas längeren Zitat beschreibt, ist die Liebe in diesem Kontext ein „Leben in sich in einem Anderen“, in dem die „Innigkeit“ mit einem Anderen verbunden ist: 4

„Die Tugenden der christlichen Frömmigkeit ertöten in ihrer abstrakten Haltung das Weltliche und machen das Subjekt nur frei, wenn es sich selbst in seiner Menschlichkeit absolut verleugnet“ (XIV, 174).

106 | D IE N ATUR DER SITTLICHKEIT „In dieser Hingabe endlich liegt überhaupt die allgemeine Idee, daß in der romantischen Kunst die unendliche Subjektivität nicht einsam in sich sei wie der griechische Gott, der in sich ganz vollendet in der Seligkeit seiner Abgeschlossenheit lebt, sondern daß sie aus sich heraus in Verhältnis zu Anderem trete, das aber das ihrige ist, in welchem sie sich selber wiederfindet und bei sich selbst in Einheit bleibt. Dieses Einssein ihrer in ihrem Anderen ist der eigentlich schöne Gehalt der romantischen Kunst, das Ideal derselben, das zu seiner Form und Erscheinung wesentlich die Innerlichkeit und Subjektivität, das Gemüt, die Empfindung hat. Das romantische Ideal drückt daher die Beziehung zu anderem Geistigen aus, welches mit der Innigkeit so verbunden ist, daß nur eben in diesem Anderen die Seele in der Innigkeit mit sich selbst lebt. Dies Leben in sich in einem Anderen ist als Empfindung die Innigkeit der Liebe.“ (XIV, 146)

Nicht nur wegen der Rolle der Innerlichkeit, sondern auch, weil die Liebe, abgesehen von ihrem natürlichen und körperlichen Ausdruck, sich auf einen konkreten „Anderen“ richtet, ist die Bedeutung der Liebe als eine innere Expression anders als die, die in der klassischen Kunst anzutreffen ist. Und hier nennt Hegel gegenüber einer weltabgewandten Subjektivität den im religiösen Kreis verbundenen „Geist der Gemeinde“ (XIV, 170), wo das Subjekt, jenseits seiner isolierten Subjektivität, ein Gefühl von „Zugehörigkeit“, von Liebe und einem Verhältnis zum Anderen erfährt und darin seine eigene Subjektivität fühlt. Dieser Geist – den Hegel als einen „Dritte[n]“ (XIV, 170) bezeichnet – steht zwischen Subjekt und Welt und ermöglicht die Vermeidung der Dichotomie einer bloß isolierten Subjektivität einerseits und einem in der Welt verlorenen und radikalisierten Selbst andererseits. Dieser Dritte, repräsentiert „die klare Quelle, in der ihr Bild sich spiegelt, ohne daß der Mensch unmittelbar dem Menschen ins Auge schaut, mit anderen in ein direktes Verhältnis tritt und die Einheit der Liebe, des Zutrauens, der Zuversicht, der Zwecke und Handlungen in konkreter Lebendigkeit empfindet“ (XIV, 170).

Und mit dieser Vermittlung sieht Hegel die Möglichkeit sittlicher Verhältnisse gegeben, die sich in diesem Kontext stets in einer Spannung zwischen innerlicher Subjektivität und Weltlichkeit befinden. Insbesondere auf einer zweiten Stufe, die Hegel mit der Figur des „Ritters“ veranschaulicht, wird die romantische Kunst mit drei Empfindungen assoziiert, nämlich „Ehre“ (XIV, 176-182), „Liebe“ (XIV, 182-190) und „Treue“ (XIV, 190-194), wobei die Liebe in ihrer eigentlichen romantischen Bedeutung beschrieben wird. Weil diese Empfindungen aber der romantischen Innerlichkeit entsprechen, sind sie noch nicht spezifisch sittlicher Gehalt: Sie orientieren

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sich nicht an der Sittlichkeit, sondern noch am subjektiven Gehalt der „Selbstsucht und Selbständigkeit des eigenen besonderen Willens“ (XIV, 172). Mit dieser Vorstellung vor Augen unterscheidet Hegel auch in Bezug auf die Ehre deren Interpretation durch die Griechen und die Romantik: Während bei den Griechen die Ehre einen objektiven Inhalt hat – was Hegel mit der Rolle von Achill in der Ilias veranschaulicht, dessen Zorn gegen Agamemnon einen objektiven Inhalt besitzt –, liegt bei der Romantik ein zufälliger Inhalt der Ehre vor; das Subjekt fühlt sich nun entehrt, insofern „de[r] Wert, den das Subjekt sich für sich selber zuschreibt“ (XIV, 177), verletzt wird. Der Inhalt der Ehre wird dadurch mannigfaltig und „abstrakt“: Er ist immer davon abhängig, welchen Inhalt das Subjekt für sich selbst setzt und kann deswegen ein „formelle[r] und Gehaltlose[r]“, „schlechte[r] Inhalt“ (XIV, 179) sein. Ein Beispiel dafür ist der von Hegel erwähnte Alarcos von Friedrich von Schlegel, in dem der Held seine Frau ermordet, weil er die Königstochter heiraten will. In dieser Tat gibt es keine substantielle „objektive Leidenschaft“, sondern nur den Willen, ein „Tochtermann des Königs“ zu werden (X, 180). Auch wenn man hier an Ehre denken kann, geht es Hegel zufolge vielmehr um einen irregeleiteten, willkürlichen Inhalt, welcher ein „verächtliches Pathos“ (XIV, 180) darstellt. Es ist deswegen entscheidend, welcher Inhalt der Ehre verliehen wird, insofern jeder für sich selbst eine eigene Vorstellung von der „Verletzbarkeit der Ehre“ (X, 180) haben kann. Die Schwierigkeit ist hier also, nicht nur den Begriff der Ehre, sondern auch ihren Inhalt darzustellen, und damit diejenigen Kriterien dafür zu artikulieren, welcher Inhalt als ein „substanzieller“ gelten kann. Einerseits wäre es schon zu erwarten, dass Hegel diesen „substanziellen“ Inhalt als einen „sittlichen“ ansieht. Umgekehrt jedoch, insofern der Inhalt der Ehre nur an subjektiven Kriterien orientiert ist, bleibt diese substanzlos, nur mit einer zufälligen Willkür verbunden. Wie in den anderen Fällen ist daher nicht nur „die in sich reflektierte Selbständigkeit“ (XIV, 181) wesentlich für die Ehre, sondern auch, dass die Ehre mit „Anerkennung“ verbunden ist, insofern der substanzielle Inhalt der Ehre grundsätzlich darin besteht, die Anderen als von Ehre geprägte Subjekte anzuerkennen: „Bei solch einer Genugtuung, die gefordert ist, muß dann der Verletzende, ebenso wie ich selbst, als ein Ehrenmann anerkannt werden. Denn ich will die Anerkennung meiner Ehre von Seiten des anderen; um nun aber Ehre für ihn und durch ihn zu haben, muß er mir selbst als ein Mann von Ehre, d. h. er muß mir, der Verletzung, die er mir angetan, und meiner subjektiven Feindschaft gegen ihn unerachtet, in seiner Persönlichkeit als ein Unendliches gelten.“ (XIV, 181)

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In dieser Auffassung wird die Idee der Anerkennung mit dem „Bedürfnis der Ehre“ und der Liebe als der „Realisation“ dieser verbunden: Die Ehre erschließt eine treibende Kraft, anerkannt zu werden, die in der Liebe konkret realisiert wird: „Wir [können] die Liebe auch als die Realisation dessen ansehen, was schon in der Ehre liegt, insofern es das Bedürfnis der Ehre ist, sich anerkannt, die Unendlichkeit der Person aufgenommen zu sehen in einer anderen Person. Diese Anerkennung ist erst wahrhaft und total, wenn nicht nur meine Persönlichkeit in abstracto oder in einem konkreten vereinzelten und dadurch beschränkten Fall von anderen respektiert wird, sondern wenn ich meiner ganzen Subjektivität nach, mit allem, was dieselbe ist und in sich enthält, als dieses Individuum, wie es war und ist und sein wird, das Bewußtsein eines anderen durchdringe, sein eigentliches Wollen und Wissen, sein Streben und Besitzen ausmache. Dann lebt dies Andere nur in mir, wie ich mir nur in ihm da bin; beide sind in dieser erfüllten Einheit erst für sich selber und legen in diese Identität ihre ganze Seele und Welt hinein.“ (XIV, 182)

Während Hegel in der Liebe zwar die Verwirklichung der Anerkennung sieht, verweist er aber auch auf die Grenzen dieses nur kontingenten Gefühls. Hegel fasst es denn auch als Vereinseitigung der innerlichen Subjektivität auf dass die romantische Liebe – anders als in der klassischen Kunst – eine „subjektive [...] Innigkeit der Empfindung“ (XIV, 183) bedeutet. Weil die Liebe ihren Ursprung nicht im Verstand, sondern in der Empfindung hat, basiert sie auf „vergeistigten Naturverhältnissen“, wodurch „das Subjekt seinem Inneren, seiner Unendlichkeit-in-sich nach in dies Verhältnis aufgeht“ (XIV, 183). Und mit der Radikalisierung dieser empfindsamen Dimension zeigt sich an der romantischen Liebe „die Seite der Kälte, die bei aller Hitze der Leidenschaft in ihrer Darstellung uns durchdringt“ (XIV, 190). Die Liebe zeigt sich auch als vergänglich, weil sie zwar einen leidenschaftlichen Gehalt ausdrückt, der aber nicht unbedingt als sittlich gilt. Es liegt mit ihr „kein an sich selbst allgemeines Interesse“, sondern ein willkürlicher und zufälliger Inhalt vor. Demnach sieht Hegel in dieser „Zufälligkeit der Liebe“ die „Schranke“ ihrer Darstellung in der romantischen Kunstform, ,,insofern die romantische Liebe ihren Grund im „Zufall der Willkür“ (XIV, 188) hat. Diese Willkür hat nun zwei Seiten: Während einerseits die „unendliche Willkür der Notwendigkeit [...] die höhere Freiheit der Subjektivität“ darstellt (insofern als diese einem subjektiven Willen und „nicht [...] einer Gottheit unterworfen“ ist), erscheint andererseits der subjektive Wille „als ein Eigensinn und eine Halsstarrigkeit der Partikularität“ (XIV, 189). So liest man weiter:

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„Zugleich aber hat die romantische Liebe auch ihre Schranke. Was nämlich ihrem Inhalt abgeht, ist die an und für sich seiende Allgemeinheit. Sie ist nur die persönliche Empfindung des einzelnen Subjekts, die sich nicht mit den ewigen Interessen und dem objektiven Gehalt des menschlichen Daseins, mit Familie, politischen Zwecken, Vaterland, Pflichten des Berufs, des Standes, der Freiheit, der Religiosität, sondern nur mit dem eigenen Selbst erfüllt zeigt, das die Empfindung, widergespiegelt von einem anderen Selbst, zurückempfangen will.“ (XIV, 188)

Auch wenn die romantischen Liebe in Hegels Darstellung eine wichtige Rolle spielt,5 wobei man deren Dimension der Zufälligkeit und Partikularität nicht vernachlässigen sollte, findet sich bei seiner Auffassung besonders die Kritik an der Radikalisierung der Empfindung und damit die an einem isolierten, vereinseitigen Ausdruck der Subjektivität bei der romantischen Liebe. Es ist auch in Hinblick auf eine verfälschte Selbstexpression bei den Figuren der romantischen Ehre und Liebe, dass Hegel auch das Gefühl der „Treue“ problematisiert; denn wenn hier zwar auch derselbe Vorzug der romantischen Auffassung besteht, dass das Individuum sich nur als „freie [...] Selbständigkeit der Individualität“ (XIV, 192) treu bleibt, lässt sich aber trotzdem keine Objektivität mehr ins Spiel bringen, sondern nur die eigene Ehre, partikulare Vorteile und „äußere Zufälligkeiten“, wodurch die Subjektivität sich als „höchst Prekäres“ (XIV, 193) erweist. An diesem zufälligen Gehalt der Treue kritisiert Hegel die Abschaffung der Pflicht und des „vernünftig organisierten Staatsleben[s]” (XIV, 193) durch die Vorherrschaft des „zufälligen Willen[s] des Subjekts“, wovon „[j]edes Individuum ihr Bestehen [der Ritterlichkeit, F.C.] und damit das Bestehen der allgemeinen Ordnung von seiner Lust, Neigung und singulären Gesinnung abhängig [macht]“ (XIV, 193).6

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So schreibt Hegel z.B.: „Dies Verlorensein seines Bewußtseins in dem anderen, dieser Schein von Uneigennützigkeit und Selbstlosigkeit, durch welchen sich das Subjekt erst wiederfindet und zum Selbst wird, diese Vergessenheit seiner, so daß der Liebende nicht für sich existiert, nicht für sich lebt und besorgt ist, sondern die Wurzeln seines Daseins in einem anderen findet und doch in diesem anderen gerade ganz sich selbst genießt, macht die Unendlichkeit der Liebe aus“ (XIV, 183). Auf die erotische Bedeutung der Liebe haben wir auch im Kontext der Frankfurter Schriften Hegels bereits hingewiesen.

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Es ist bedeutsam, wie Hegel diese Vorstellung und den Begriff des Patriotismus einander entgegensetzt, wie wir es im dritten Teil diskutieren werden: „Der inhaltsvollere Zweck, der durch diese neue Einigung der Individuen zum Vorschein kommt, ist aber nicht etwa Patriotismus, als objektives, allgemeines Interesse, sondern nur

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An den eben kurz dargestellten drei Gefühlen lässt sich der Konflikt zwischen subjektivem und objektivem Inhalt des Willens erkennen, in welchem die subjektive Willkür und der objektive Gehalt sich in einem Spannungsverhältnis befinden – in einem Verhältnis, das Hegel häufig mit dem Begriff der „Kollision“ bezeichnet (XIV, 186, 193 ff.). Die romantische Kunst hat allerdings die entscheidende Fähigkeit, alle diese drei Gefühle als Ausdruck freier Subjektivität ans Licht zu bringen. Mit dieser grundlegenden Konstitution der Individualität bleibt noch darzulegen, wie die subjektive Selbständigkeit durch einen sittlichen Inhalt als „frei“ bezeichnet wird. In diesem Sinne beschließt Hegel seine Darstellung der in der Romantik beschriebenen drei Gefühle: „Auf allen diesen drei Stufen, der Ehre, Liebe und Treue, ist der Boden die Selbständigkeit des Subjekts in sich, das Gemüt, das sich jedoch immer zu weiteren und reicheren Interessen aufschließt und in denselben mit sich selbst versöhnt bleibt. Hierherein fällt in der romantischen Kunst die schönste Partie des Kreises, welcher außerhalb der Religion als solcher steht. Die Zwecke betreffen das Menschliche, mit dem wir von einer Seite her wenigstens, von der Seite nämlich der subjektiven Freiheit, sympathisieren können und nicht, wie es in dem religiösen Felde hin und wieder der Fall ist, den Stoff wie die Darstellungsweise mit unseren Begriffen in Kollision finden. [...] Was jedoch der jetzigen Stufe noch abgeht, ist die Erfüllung dieser Innerlichkeit mit dem konkreten Inhalt der menschlichen Verhältnisse, Charaktere, Leidenschaften und des wirklichen Daseins überhaupt. Dieser Mannigfaltigkeit gegenüber bleibt das in sich unendliche Gemüt noch abstrakt und formell und erhält deshalb die Aufgabe, diesen weiteren Stoff nun gleichfalls in sich aufzunehmen und in künstlerischer Weise verarbeitet darzustellen.“ (XIV, 194)

Freilich besitzen Gefühle wie die Liebe einen zufälligen Charakter, der dafür sorgt, dass sie nicht einfach auf eine substantialistische Auffassung ihrer selbst reduziert werden kann. Im Gegenteil erscheint die Figur der Liebe als genuiner Ausdruck eines individuellen, idiosynkratischen Gefühls. Hegel versucht aber mit der Liebe nicht nur einen empfindsamen und kontingenten Gehalt zu assoziieren, sondern auch einen „sittlichen“. Daher weisen die hier als „romantisch“ bezeichneten Gefühle wie Liebe, Treue und Ehre einerseits auf eine subjektive Dimension hin, die andererseits zu sittlichen Gefühlen hin herauszubilden ist. Wie wir im zweiten Teil noch sehen werden, muss die Gefahr einer tendenziösen Substantialisierung subjektiver Gefühle durch eine genauere Betrachtung

an ein Subjekt, den Herrn gebunden und darum auch wieder bedingt durch die eigene Ehre, den partikulären Vorteil, die subjektive Meinung. (XIV, 192).

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des Zusammenhangs zwischen subjektiven Gefühlen und sittlichem Inhalt abwehrt werden. Es bleibt jedoch einerseits zu zeigen, dass innerhalb der Sittlichkeit nicht nur individuelle Zwecke an dezentrierten, sittlichen Zwecken orientiert werden können, und andererseits, dass der verlangte substanzielle Inhalt nicht als ein äußerer bzw. entfremdeter Zweck für das Subjekt vorzustellen ist. Dies festzuhalten ist auch wichtig, um Hegels Begriff der Leidenschaft im Zusammenhang mit seiner Sittlichkeitstheorie zu verstehen: Wie bei der Tragödie orientiert sich das Pathos durch ein individuelles Interesse an einem substanziellen Inhalt, der deswegen als „sittlich“ anzusehen ist. Und insofern individuelle Interessen auch einen allgemeinen Inhalt repräsentieren können, bezieht sich Hegel im Kontext der Tragödie sowohl auf eine „Befriedigung“ des „Pathos“ (XIV, 189) als auch auf das „Unrecht“ (XIV, 190), wenn ein individueller Zweck nicht erfüllt wird. Anders als bei der romantischen Liebe, lässt sich bei den Tragödien die Verhinderung der Realisierung von individuellen Zwecken als „unrecht“ begreifen, weil sie sowohl eine subjektive als auch eine „objektive“, sittliche Dimension darstellt. 7 Es bedarf deshalb noch einer weiteren Stufe – die Hegel mit dem Titel „Die formelle Selbständigkeit der individuellen Besonderheiten“ bezeichnet –, auf der das einseitige Modell selbstzentrierter Subjektivität mit dem für unsere Diskussion wichtigen Begriff der Leidenschaften angemessen vermittelt werden kann. Auf dieser Stufe des Arguments beschreibt Hegel die „Abstraktion“ der Weltabgewandtheit, die Isolierung des Subjektes in sich selbst als in einem „reinen Himmel des Geistes“.8 Wenn Hegel das Prinzip der Individualität in der romantischen Darstellung betont, erfasst er den Übergang vom einseitigen subjektiven Inhalt der romantischen Liebe zu einem sittlichen Inhalt mit dem Begriff des Pathos in seinem griechischen Sinn. Es ist aufgrund seines „wesentlichen vernünftigen Gehalt[s]“, dass Hegel das „Pathos“ vom gewöhnlichen Gebrauch von Leidenschaften als einer „innere[n] Bewegung des Gemüts“ (XIII, 301) unterscheidet: Während in der Romantik das „Pathos“ intensiv subjektiv empfunden wird, 7

Im Kontext seiner Vorlesungen über die Ästhetik nimmt Hegel seine berühmte Diskussion der Antigone aus der Phänomenologie wieder auf, wo die Spannung von individueller Handlung, Moralität und sittlichen Gesetzen ausführlich dargestellt wird. Vgl. dazu Menke 1996, Kap. 4.

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„Die Abstraktion bestand hier darin, daß sich das Gemüt vom Weltlichen, Natürlichen und Menschlichen als solchem, auch wenn dasselbe sittlich und dadurch berechtigt war, aufopfernd in sich zurückzog, um sich nur in dem reinen Himmel des Geistes zu befriedigen“ (XIV, 195).

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stellt es bei den Griechen einen „objektiven“, sittlichen Inhalt dar, wodurch die Leidenschaften auch einen Ausdruck von „Vernünftigkeit“ und „freiem Willen“ – als eine „lebendige Selbständigkeit” (XIV, 175) – in sich tragen, wie Hegel es bei der Liebe Antigones für ihren Bruder sieht.9 Anders auch als die eher von „Leidenschaftslosigkeit“ (XIII, 302) geprägten Erzählungen von den Göttern ist das „Pathos“ spezifisch menschlich im Sinne eines durch leidenschaftliche individuelle Handlungen verkörperten allgemeinen Inhalts, der einen „wohlerwogen[en] und ganz besonnen[en]“ (XIII, 301) sowie „wesentlichen vernünftigen Gehalt“ zeige.10 Durch diese Vorstellung sieht Hegel einen Vorzug in der griechischen Darstellung des Pathos gegeben, insofern sein Inhalt nicht zufällig und subjektiv empfunden wird, sondern einen substanziellen, „vernünftigen“ Inhalt ausdrückt. Wenn in der griechischen Tragödie die Individuen einerseits ihre „individuellen Zweck[e]“ haben, ist andererseits „das Substantielle, das Pathos, das sie als Inhalt ihrer Handlung treibt, [...] von absoluter Berechtigung und ebendeshalb auch in sich selbst von allgemeinem Interesse“ (XIV, 189). Insofern ist auch hier die Idee, dass ein substanzieller Inhalt nicht unbedingt dem individuellen Zweck entgegensteht, sondern beide Seiten in der Figur des Pathos vereint werden. Weil das individuelle Pathos auch einen sittlichen Gehalt verkörpert, lässt sich also auch das Schicksal des Individuums selbst als ein „notwendige[r] Inhalt“ (XIV, 189) seiner Handlung erkennen. Aber genau deshalb, weil der Gehalt des Pathos nicht in einer weltabgewandten, in sich geschlossenen Individualität verbleibt, wie Hegel es in der radikalisierten Vorstellung des romantischen Individualismus sieht, kann der Eigensinn des Individuums, seine Handlungen zu verwirklichen, zur leidenschaftlichen Zerstörung des Sittlichen führen. Dabei stellt das Pathos ein tragisches Moment dar, so etwa bei den Gründen für Orestes’ Ermordung seiner Mutter (XIII, 301). Das beste Beispiel dieses einseitigen, das Sittliche zerstörenden Pathos sieht Hegel in Shakespeares Charakteren gegeben. In dieser Darstellungen bemerkt Hegel ein „für sich feste[s] Pathos“, in welchem sich die Subjektivität ausdrückt, die aber „ohne alle weitere Reflexion, aus ihrer eigenen bestimmten Natur“ (XIV, 200) fortbesteht, ohne also irgendeine Verbindung mit einem „allgemeine[n] Pathos“ (ebd.) darzustellen. Daher haben diese Individuen 9

„Das Pathos“, schreibt Hegel in Bezug auf das Beispiel Antigones, „ist eine in sich selbst berechtigte Macht des Gemüts, ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens“ (XIII, 301).

10 „Pathos müssen wir daher auf die Handlung des Menschen beschränken und darunter den wesentlichen vernünftigen Gehalt verstehen, der im menschlichen Selbst gegenwärtig ist und das ganze Gemüt erfüllt und durchdringt“ (XIII, 302).

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„Leidenschaft ohne Nebenreflexion und Allgemeinheit, nur zur eigenen Selbstbefriedigung“ (XIV, 200). So entsteht etwa bei Othello eine von einer fiktiven Vorstellung angetriebene, krankhafte Eifersucht, die nicht aus ihm selbst stammt, sondern durch Jago provoziert wird; Gleiches gilt für das Schicksal Macbeths, wobei die Voraussagungen der Hexen zu einem „selbstbereitete[n] Verderben“ (XIV, 202) nicht nur seiner Handlungen, sondern auch seines Charakters führen. Diese Arten des Pathos bei Shakespeare stellen eine „Verwilderung seines Gemüts“ (XIV, 212) dar, eine Leidenschaft, die den sittlichen Gehalt des subjektiven Willens herabsetzt: eine durch innere Leidenschaft angeleitetes Tun, die hier aber wie ein äußerlich gegebener Befehl erscheint. So besteht Hegels Interpretation des Pathos – auch bei Hamlet (oder auch bei Goethes Faust) – darin, dass es den Charakteren in diesen Beispielen nicht mehr möglich ist, ihre Subjektivität als Versöhnung mit der Welt auszudrücken. Shakespeares Figuren stellen damit eine starre Entwicklung des Willens dar, ein Beharren, das unterhalb der Reflexion angesiedelt und von den Umständen abhängig bleibt, in denen sie sich bewegen: „Was die Shakespeareschen Figuren durchführen, ihr besonderer Zweck, hat in ihrer eigenen Individualität seinen Ursprung und die Wurzel seiner Kraft. In ein und derselben Individualität aber bewahren sie zugleich die Hoheit, welche das, was sie als wirklich, d. i. nach ihren Zwecken, Interessen, Handlungen sind, wegwischt, sie erweitert und sie in sich selber erhöht.“ (XIV, 210)

Als Resultat dieses starren Wollens, das nicht gerechtfertigt wird, zeigen Shakespeares Charaktere „keine Reue“, sondern bleiben „sich und ihrer Leidenschaft treu“ (XIV, 202). Sie folgen damit nur ihrem Schicksal, das alle Verhältnisse und zuletzt sie selbst zerstört. Wie bei Othello, so Hegel weiter, sterben am Ende alle wegen dieser Erstarrung einer fiktiven Situation, die einen absoluten Zwangsmoment darstellt, in welchem das Individuum sich selbst leidenschaftlich sämtlichen Umständen und zuletzt der sittlichen Wirklichkeit als solcher entgegensetzt.11 Auch hier ist Hegels Kritik nicht auf die Leidenschaften an sich gerichtet, sondern darauf, dass diese weder durch Reflexion noch von einem sittlichen Inhalt – bzw. einem „allgemeinen Pathos“ – vermittelt sind. Mit der gleichen Vorstellung eines unreflektierten, individuellen Pathos führt Hegel seine Kritik 11 „Bei Shakespeare finden wir keine Rechtfertigung, keine Verdammnis, sondern nur Betrachtung über das allgemeine Schicksal, auf dessen Standpunkt der Notwendigkeit sich die Individuen ohne Klage und Reue stellen und von ihm aus alles und sich selber, gleichsam außerhalb ihrer selbst, versinken sehen“ (XIV, 210).

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an Charakteren wie etwa Othello, Macbeth und Hamlet durch, insofern diese Figuren sich aufgrund ihrer unreflektierten Leidenschaften gegen die sittlichen Verhältnisse stellen. Auch hier ist der Punkt der Kritik Hegels also nicht die Form der Leidenschaft als solcher, sondern dass sie in diesen Beispielen die Zerstörung sittlicher Verhältnisse mit sich bringt. Insofern betont er den Unterschied zwischen Shakespeare und dem in der griechischen Tragödie vorfindlichen „sittlich berechtigten Pathos“ (XIV, 213), welches, wie schon erwähnt wurde, einen „substantielle[n] Inhalt des Handelns“ (XIV, 202) verkörpern kann. Insofern sieht Hegel das Pathos bei Antigone als ein „wesentliches“ an, das nicht durch eine zufällige Willkür beherrscht wird, sondern durch das Schicksal selbst. Daran wird die für unsere Darstellung grundlegende Idee erkennbar, der zufolge es die Reflexion ermöglicht, den Leidenschaften einen sittlichen Inhalt zu geben – d.h. ein den sittlichen Verhältnissen gegenüber sensibles Pathos annehmen zu können. Nur aus dem Grund, dass dieses einen sittlichen Inhalt verkörpert, kann es als „substanziell“ oder, in dem hier angedeuteten Sinn, als „vernünftig“ gelten. Im Fall von Shakespeare Figuren sind es dagegen irregeleitete, oft auch pathologische Charaktere, die starrsinnig an eine eigene Fiktion ihrer selbst und der Welt glauben, die aber einen Widerspruch in sich selbst trägt. Die mit Shakespeares Charakteren dargestellten Subjektivitätstypen beziehen sich insofern nicht nur auf die von einem Pathos bestimmte Handlung – die leidenschaftliche Komponente des Handelns –, sondern vielmehr auf den in diesem Pathos dargestellten Inhalt, der auf nichtsittliche Weise zustande kommt. Mit dem Beispiel Shakespeares will Hegel erläutern, wie prekär und zerstörerisch die Radikalisierung leidenschaftlicher Handlungen sein kann, insofern sie nicht an einem sittlichen, substanziellen Charakter orientiert sind, sondern nur an einer eigensinnigen, selbstzentrierten Leidenschaft: „In diesen Charakteren unseres Kreises, bei der Zufälligkeit dessen, was sie als ihren Zweck

ergreifen,

und

der

Selbständigkeit

ihrer

Individualität,

ist

keine

objektive Versöhnung möglich. [...] [D]ie einzige Versöhnung ist für das Individuum sein unendliches Sein in sich, seine eigene Festigkeit, in der es über seiner Leidenschaft und deren Schicksal steht.“ (XIV, 203)

Auch wenn Hegel hier einen Abbruch des Sittlichen, „keine objektive Versöhnung“ sieht, gelten ihm diese Charaktere immer noch als „substanzieller“ als der in der Romantik repräsentierte empfindsame Charakter, wie etwa in den Werken von Heinrich von Kleist dargestellt. Denn während bei diesen Werken nur die Verneinung der Sittlichkeit durch ein von ihr distanziertes, eher zurückhaltendes Verhalten erfolgt, besteht das Beharren der Subjektivität gegen

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die sittlichen Verhältnisse bei Shakespeare nicht in einer Weltdistanzierung, sondern in einem permanent konflikthaften Verhältnis gegenüber dem Sittlichen, bis hin zu dessen Vernichtung, wodurch aber seine grundlegende Bedeutung gerade affirmiert wird. Dadurch, wie bereits erwähnt, dass „Shakespeares Charaktere in sich selbst konsequent [sind], sich und ihrer Leidenschaft treu [bleiben], und was sie sind und was ihnen begegnet, darin schlagen sie sich nur ihrer festen Bestimmtheit nach herum“ (XIV, 202). In diesen zwei Modellen – dem romantischen und dem Shakespeare´schen - kommen zwar unsittliche Formen vor, aber in zwei verschiedenen Varianten: Während der Wille in der radikalisierten romantischen Version in sich geschlossen bleibt und in der sittlichen Welt keine Versöhnung findet, gibt es bei Shakespeare eine eigensinnige Verwirklichung des Willens, die nur auf die leidenschaftliche Zerstörung der sittlichen Welt – und zuletzt von sich selbst – abzielen kann. Wille und Leidenschaften sind bei Shakespeare nicht nur unsittlich im Sinne einer radikalisierten Empfindsamkeit, einer in sich geschlossenen Subjektivität, sondern darin, dass sie nur durch die Vernichtung sittlicher Verhältnisse verwirklicht werden können. Es kommt daher zu einer Parallele zwischen dieser Vorstellung und dem, was Hegel „[d]en Charakter als innerliche, aber unausgebildete Totalität“ nennt (XIV, 203 ff.), in der eine „Verschlossenheit von Wert und Interesse“ (XIV, 204) zu finden ist, wie sie sich auch bei Shakespeares Romeo und Julia oder in Goethes König von Thule12 sowie, in einer radikalisierten Form, bei Jean Paul zeigt, dessen „Sentimentalität und Abgeschmacktheit“ (XIV, 209) Hegel immer wieder kritisiert.13 12 So schreibt Hegel etwa über Goethes König von Thule: „Solch ein tiefes, stilles Gemüt nun aber, das die Energie des Geistes wie den Funken im Kiesel verschlossen hält, sich nicht ausgestaltet, sein Dasein und seine Reflexion über dasselbe nicht ausbildet, hat sich denn auch nicht durch diese Bildung befreit. Es bleibt dem grausamen Widerspruch ausgesetzt, wenn der Mißton des Unglücks in sein Leben hereinklingt, keine Geschicklichkeit, keine Brücke zu haben, sein Herz und die Wirklichkeit zu vermitteln und ebenso die äußeren Verhältnisse von sich abzuwehren, gehalten dagegen zu sein und an sich zu halten. Gerät es in Kollision, so weiß es sich deshalb nicht zu helfen, geht rasch, besinnungslos zur Tätigkeit heraus oder läßt sich passiv verwickeln“ (XIV, 207). 13 In diesem Sinn lässt sich auch Hegels Kritik der Ironie verstehen, wenn diese nur eine Weltdistanzierung und daher die Prädominanz eines isolierten Selbst durch die Vermeidung von Objektivität darstellt. So schreibt Hegel auch in der Enzyklopädie: „Wird das Resultat, der für sich seiende Geist, in welchem alle Vermittlung sich aufgehoben hat, in nur formellem, inhaltslosem Sinne genommen, so daß der Geist nicht zugleich als an sich seiender und objektiv sich entfaltender gewußt wird, so ist

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Es ist nun in Bezug auf das die sittlichen Verhältnisse zerstörende Pathos einerseits und die innerlich verschlossene Subjektivität andererseits, dass Hegel die Rolle der Bildung als Versöhnung zwischen Subjektivität und Sittlichkeit betrachtet: Insofern alle sittlichen Verhältnisse nur ein Hindernis für die Realisierung der Individualität zu sein scheinen, macht Hegel auf die Bedeutung eines Bildungsprozesses aufmerksam, in dem sich das Subjekt in den sittlichen Verhältnissen selbst wiederfinden kann. Ich zitiere hierzu die gesamte Passage, in der Hegel die Rolle dieses Bildungsprozess anhand der Figur des Ritters darstellt und auf Goethes Wilhelm Meister verweist: „Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden. Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es jene unendliche Subjektivität das nur formelle, sich in sich als absolut wissende Selbstbewußtsein, die Ironie, welche allen objektiven Gehalt sich zunichte, zu einem eitlen zu machen weiß, somit selbst die Gehaltlosigkeit und Eitelkeit ist, die sich aus sich und damit einen zufälligen und beliebigen Inhalt zur Bestimmung gibt, Meister darüber bleibt, durch ihn nicht gebunden ist und, mit der Versicherung, auf der höchsten Spitze der Religion und der Philosophie zu stehen, vielmehr in die hohle Willkür zurückfällt“ (X, §471). Wie die Ironie hängt das, was als lächerlich gilt, vom Kontext ab und kann die Formen einer bloßen Weltabgewandtheit annehmen. Sowohl das Tragische als auch das Komische enthält Spuren der Romantik als eine Entgegensetzung zwischen Subjekt und Welt, weshalb Hegel die Charaktere Shakespeares wie auch Cervantes’ Don Quijote als Figuren des Weltabstands der Subjektivität und der Distanzierung von sittlichen Verhältnissen betrachtet (XIV, 216 ff.). Insofern lässt sich eine dünne und ambivalente Linie zwischen Individualität und Sittlichkeitsversöhnung annehmen, wobei eine vereinseitigte Form der Individualität einen von der Welt getrennten idiosynkratischen Charakter annehmen kann.

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überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.“ (XIV, 219-220)

An diesem Punkt lässt sich nun besser erklären, wie Hegel auf einer weiteren argumentativen Stufe den Bildungsprozess der mit der Sittlichkeit zu versöhnenden subjektiven Leidenschaften aufzufassen gedenkt. Zunächst sind in der symbolischen Figur des Ritters zwar sittliche Gefühle wie Liebe, Ehre und Treue zu finden, diese sind aber nur mit zufälligen und subjektiven Inhalten versehen. Auch wenn Hegel die mit der Romantik verbundenen Begriffe der Liebe, Treue und Ehre als für die Sittlichkeit konstitutive Gefühle versteht, bezeichnen sie in der romantischen Darstellung die Grenzen der Verkörperung eines vereinseitigten, subjektiven, willkürlichen Inhalts. Wenn Hegel an der Romantik einerseits das Prinzip der Subjektivität würdigt, so bleibt andererseits deren „Innerlichkeit“ doch noch mit der Sittlichkeit zu versöhnen. Wie am Fall der Ehre besonders deutlich wird, sieht Hegel den Inhalt des Gefühls als entscheidend an; denn nur mit der Heranbildung eines subjektiven, willkürlichen Inhalts zu einem sittlichen lässt sich dieses Gefühl nicht nur als vereinseitigtes verstehen. Es muss noch untersucht werden, wie in Bezug auf ein solches Gefühl ein mit der Sittlichkeit versöhnter Inhalt ausgebildet werden kann. Wie auch bei Shakespeares Charakteren zu sehen ist, ist der Inhalt seines Pathos nicht eine mit der Sittlichkeit versöhnte Subjektivität, sondern das Resultat einer eigensinnigen Leidenschaft. Das in der Moderne entwickelte Grundprinzip der Subjektivität nimmt in dieser Darstellung eine vereinseitige, radikalisierte Form innerlicher Subjektivismus an, die einen doppelt begrenzten Charakter darstellt: Von der objektiven Seite her gesehen besteht es aus einem zufälligen, unsittlichen Inhalt, während sich auf der subjektiven Seite die Individualität von der Wirklichkeit trennt. Hier entsteht also die Frage, wie das Selbst seine Gefühle und Leidenschaften seiner Individualität entsprechend ausdrü-

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cken kann, so dass diese als individuelle sowohl innerhalb des Sittlichen realisierbar sind als auch zum Inhalt sittlicher Gefühlen ausgebildet werden können.

4.2 V ERRÜCKTHEIT Ein zweiter Modus der Radikalisierung des Willens zu einem rein selbstzentrierten ergibt sich aus dem Kontext des zuvor anhand der Enzyklopädie diskutierten ontogenetischen Narrativs. Im Unterschied zur Figur des zerstörenden Pathos und der radikalisierten negativen Freiheit des Fanatismus - auf den im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird - besteht diese Form aus einer Vereinseitigung subjektiver Strukturen noch innerhalb des Subjektivierungsprozesses, in denen sich das Individuum als von der Wirklichkeit getrenntes Selbst konstituiert. Hegel hat dieses Modell der Entgegensetzung von Selbst und Wirklichkeit unter den Begriff der Verrücktheit gefasst:14 Weil nach seiner Beschreibung die Aufhebung der ursprünglichen Trennung zwischen Selbst und Welt konstitutiv für die Formierung der Subjektivität ist, zeigt die Figur der Verrücktheit die Fortdauer dieser Entgegensetzung, in welcher das Subjekt sich als getrennt von der Wirklichkeit setzt. Hegels Auffassung der Verrücktheit findet sich im Paragraph 408 der Enzyklopädie und dem langen Zusatz dazu. Als Resultat der bisher dargestellten Momente der Differenzierung des Selbst, in denen schon ein „verständiges Bewusstsein“ vorkommt, liegt in der Verrücktheit die Fehlentwicklung eines Beharrens auf einem „Selbstgefühl“, wobei das Subjekt „in einer Besonderheit seines Selbstgefühls beharren bleibt, welche es nicht zur Idealität zu verarbeiten und zu überwinden vermag“ (X, §408), was Hegel als „Krankheit“ (ebd.) bezeichnet. Konkret wird die Verrücktheit von ihm so definiert: „Das erfüllte Selbst des verständigen Bewußtseins ist das Subjekt als in sich konsequentes, nach seiner individuellen Stellung und dem Zusammenhange mit der äußeren, ebenso innerhalb ihrer geordneten Welt sich ordnendes und haltendes Bewußtsein. In einer besonderen Bestimmtheit aber befangen bleibend, weist es solchem Inhalte nicht die verständige Stelle und die Unterordnung an, die ihm in dem individuellen Weltsysteme,

14 Auch wenn die von Hegel angeführten Beispiele großenteils von veralteten empirischen Studien gestützt werden, sind einige Aspekte seiner Auffassung über die Verrücktheit immer noch von systematischem Wert, besonders für die von uns verfolgte Rekonstruktion seines Freiheitsbegriffs und der kritischen Gewichtung der damit verbundenen sittlichen Gefühle.

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welches ein Subjekt ist, zugehört. Das Subjekt befindet sich auf diese Weise im Widerspruche seiner in seinem Bewußtsein systematisierten Totalität und der besonderen in derselben nicht flüssigen und nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit, - die Verrücktheit.“ (X, §408)

In Bezug auf die Verrücktheit erwähnt Hegel eine Kette von Widersprüchen, so etwa den „Widerspruch eines leiblich, seiend gewordenen Gefühls gegen die Totalität der Vermittlungen, welche das konkrete Bewußtsein ist“ (ebd.). Aufgrund dieses Widerspruches zwischen einem natürlichen Gefühl (dem Beharren nur auf dem Gefühl der Leiblichkeit) und der Idealisierung der Wirklichkeit im Bewusstsein „[ist] [d]er Geist als nur seiend bestimmt, insofern ein solches Sein unaufgelöst in seinem Bewußtsein ist, [...] krank“, wodurch mithin „eine Krankheit des Psychischen, ungetrennt des Leiblichen und Geistigen“ (ebd.) konstituiert wird.15 Hier setzt sich das Subjekt in einen „direkten Gegensatz [...], in völligen Widerspruch mit dem Objektiven, [und] wird dadurch zur rein formellen, leeren, abstrakten Subjektivität“ (ebd., Z.). Es findet keine Einheit, sondern verbleibt in seiner abstrakten Subjektivität gefangen, in einer nur für das Subjekt selbst geltenden Einheit, während beim vernünftigen Bewusstsein seinerseits das Subjekt nicht nur in sich selbst eine Einheit von Subjektivem und Objektivem repräsentiert, sondern tatsächlich diese Einheit bildet. Das Selbst nimmt nicht nur sich als eine Einheit wahr, sondern ist auch in der Lage, sich als Einheit zu „entäußern“, was nur durch eine Aufhebung seiner unmittelbaren „Natürlichkeit“ und „Leiblichkeit“ (ebd., Z.) möglich ist; denn nur insofern, als diese Natur als „ideell“ gesetzt werden kann, kann sich das Subjekt als eine kohärente Einheit in sich selbst wahrnehmen. Der Widerspruch der Verrücktheit besteht also darin, dass sowohl das „vernünftige Bewusstsein“ als auch das „innere Empfinden“ sich als einander entgegengesetzte Totalitäten positionieren: Während das Bewusstsein sich auf eine objektive Welt bezieht, nehmen die inneren Empfindungen ihre eigene Innerlichkeit als das Objektive 15 Demgegenüber wird das Selbst als „gesund“ bezeichnet: „Als gesund und besonnen hat das Subjekt das präsente Bewußtsein der geordneten Totalität seiner individuellen Welt, in deren System es jeden vorkommenden besonderen Inhalt der Empfindung, Vorstellung, Begierde, Neigung usf. subsumiert und an der verständigen Stelle desselben einordnet“ (X, §408). Es ist für unsere Diskussion auch hilfreich zu sehen, wie Hegel in der Diskussion über die Verrücktheit auf die „Sphäre der Sittlichkeit“ als eine analoge methodische Struktur der Subjektivitätsentfaltung (X, §408, Z.) hinweist; so kann etwa die Moralität Hegel zufolge als eine gewisse „Krankheit“ (X, §408, Z.) des Sittlichen betrachtet werden. Zu diesem Punkt kommen wir im dritten Teil zurück.

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an, als eine innerliche Wirklichkeit, die der äußeren Wirklichkeit gleichgesetzt ist. Damit erfährt das Subjekt ein konfligierendes „Negatives“ („Das verrückte Subjekt ist daher in dem Negativen seiner selber bei sich“ [ebd., Z.]); „Dies Negative“, setzt Hegel fort, „wird vom Verrückten nicht überwunden, das Zwiefache, in welches er zerfällt, nicht zur Einheit gebracht“, und mit diesem nicht zu überwindenden Widerspruch bleibt das Subjekt in seiner „Zerrissenheit“ (ebd., Z.).16 Hegels Theorie der Verrücktheit bezeichnet also ein Beharren auf dieser Stufe, wo sich das Bewusstsein mit sich selbst und der Welt nicht wieder versöhnen kann, was letztlich zur Spaltung der Persönlichkeit führt. Der Begriff der Verrücktheit bezieht sich auf einen Fehler im Subjektivierungsprozess, in welchem „unverständige Menschen“ „leere, subjektive Vorstellungen, [und] unausführbare Wünsche“ ausdrücken. In diesen Fällen „bornieren [sie] sich auf ganz vereinzelte Zwecke und Interessen, halten an einseitigen Grundsätzen fest und kommen dadurch mit der Wirklichkeit in Zwiespalt“ (ebd., Z.). „Die verrückte Vorstellung“ wird von Hegel als „eine vom Verrückten für etwas Konkretes und Wirkliches angesehene leere Abstraktion und bloße Möglichkeit“ (ebd. Z.) definiert. Der Verrückte nimmt also eine bloße Möglichkeit als die Wirklichkeit selbst und erhebt darin seine subjektive Vorstellung zur objektiven Wirklichkeit. Als „ohnmächtige[s], passive[s], abstrakte[s] Ich“ verliert das Subjekt die Fähigkeit, „in jeder seiner Vorstellungen sich selber vollkommen gegenwärtig zu bleiben“ (X, §408). Das Subjekt nimmt eine subjektive, leere Vorstellung als Wirklichkeit an, die nur durch diese begrenzte Selbstgestalt erfahren wird, und beschränkt sich zwar gleichzeitig auf seine Partikularität, wodurch es sich aber von der Welt trennt und Bewusstsein und Wirklichkeit sich somit entzweien. Das Subjekt gilt als isolierter Maßstab der Wirklichkeit, ohne die Möglichkeit, zwischen subjektiven und objektiven Maßstäben abzuwägen und zu differenzieren. Es ist also die einzige Wirklichkeit, die nur als Resultat des Ganzen seiner innerlichen Vorstellungen gilt. Wenn das Selbst in dieser subjektiven Vorstellung verbleibt, verliert es auch sich selbst: Die Verneinung einer äußeren Welt ist gleichzeitig die Vernichtung seiner eigenen Kohärenz – hier allerdings als eine noch undifferenzierte Einheit mit der Welt verstanden.

16 So ist auch an derselben Stelle zu lesen, dass Verrücktheit als „bloß Subjektive als etwas Objektives anzusehen und zu fixieren“ sei (ebd. Z.), wodurch sie zur „inneren Zerrissenheit“ (ebd.) führe. Hegel bemerkt zudem, dass eine „zu große plötzliche Freude“ oder ein „übermächtiger Schmerz“ zur Verrücktheit führen kann, als eine „Entzweiung des Innern“ (ebd.). Der Schmerz ist dann „die durch ein Negatives bewirkte innerliche Zerrissenheit des Empfindenden“ (ebd.).

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Das Subjekt erfährt so einen Widerspruch, wenn es seine eigene innere Welt äußerlich durchsetzen will, dabei aber erkennen muss, dass es selbst nur ein Teil der Welt ist und von dieser eingeschränkt wird.17 Es findet zwar zu einer kohärenten Auffassung seiner selbst, die es aber nur durch die Verneinung bzw. Distanzierung von der Wirklichkeit erlangen kann. Das Selbst bleibt daher in einem negativen Moment der Subjektivierung, das aber partiell und polarisiert bleibt, so dass das Subjekt unabhängig von der Wirklichkeit in sich selbst geschlossen bleibt. Deswegen ist es ihm nicht möglich, sich einer es limitierenden Welt anzupassen und intersubjektive Verhältnisse herzustellen. Die Verrücktheit besteht also aus einem radikalisierten, extremen Ausdruck einer isolierten Subjektivität, die einen Platz in der ihr äußerlichen Wirklichkeit einnimmt. Es zeigt sich besonders deutlich, wie Hegel die Verrücktheit mit der Beharrlichkeit eines unbeschränkten Willens verbindet. In der Tat erhebt der Wille seine Wut gegen die Wirklichkeit, „eine Ergrimmtheit über ihr [der „Wahnsinnigen“, F.C.] Gehemmtsein durch die sie umgebende Wirklichkeit, über diejenigen, von welchen sie eine Beschränkung ihres Willens erfahren“ (ebd., Z.). So lässt sich erkennen, dass der Begriff der Verrücktheit als Defizit in der Herausbildung eines „vernünftigen“ Willens und „vernünftiger“ Leidenschaften anzusehen ist.18 Mit dieser Auffassung sollte schon deutlich geworden sein, inwiefern Hegel unter dem Begriff der Verrücktheit eine „Verschlossenheit des Geistes“ oder dessen „Insichversunkensein“ (ebd., Z.) versteht. Diese Auffassung deutet auch bereits auf Hegels allgemeineren Gebrauch dieses Begriffes hin, womit er die Verrücktheit nicht nur als spezifische Pathologie auffasst, sondern auf die umfassende Vorstellung einer radikalisierten Form von in sich geschlossener Sub17 In eine ähnliche Richtung argumentiert Slavoj Žižek in einem Aufsatz über Hegels Begriff der Verrücktheit. Seiner Meinung nach wird in der Verrücktheit der Unterschied zwischen Allgemeinem und Besonderem übergangen, so dass ein Besonderes durch die Verneinung jedes Spezifikums seiner selbst als Allgemeines gelten will: „The subject“, schreibt Žižek, „is the frame/form/horizon of his world and part of the enframed content (of the reality he observes), and the problem is that he cannot see/locate himself within his own frame“ (Žižék 2009:108). 18 So sieht Hegel auch die Möglichkeit zu einem Fehlgehen eines Bildungsprozesses, der der Willkür keine Grenzen setzt: Die „umgekehrt verzogene[n] Menschen, Individuen, die alles zu ertrotzen gewohnt sind, [geraten] aus ihrer faselnden Eigensinnigkeit leicht in Wahnsinn [...], wenn ihnen der das Allgemeine wollende[,] vernünftige Wille einen Damm entgegenstellt, den ihre sich bäumende Subjektivität nicht zu überspringen oder zu durchbrechen imstande ist“ (X, §408, Z.).

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jektivität hinweist. Mit dieser weiteren Auffassung vor Augen unterscheidet er je nach ihrer Intensität drei „Hauptformen“ von Verrücktheit: Nicht nur die „eigentliche Narrheit“ (ebd., Z.) oder der „Wahnsinn“ (ebd.,), sondern auch „Blödsinn“, „Zerstreutheit“ und „Faselei“ (ebd., Z.) werden hier unter diesen Begriff subsumiert. So wird zum Beispiel die Zerstreutheit als „ein Versinken in ganz abstraktes Selbstgefühl“ (ebd., Z.) oder als „ganz unbestimmte[s] Insichversunkensein“ (ebd., Z.) beschrieben. Es ist insofern auch für unser Argument bedeutsam, weshalb Hegel einen der Gründe für die „Narrheit“ im „Versinken“ in den „beschränkten Kreis von partikulären Interessen“ (ebd., Z.) sieht, wodurch – wie wir gesehen haben – „der Geist in einer einzelnen, bloß subjektiven Vorstellung steckenbleibt und dieselbe für ein Objektives hält“ und das Selbst sich „in seine Subjektivität verschließt“ (ebd., Z.). Es dürfte daher im Rahmen unserer Darstellung nicht mehr überraschend sein, dass Hegel die hier vorgestellten radikalisierten Formen verschlossener Subjektivität mit bestimmten Leidenschaften assoziiert. So ist etwa, wie er sagt, „[v]ornehmlich [...] die Leidenschaft der Eitelkeit und des Hochmuts die Ursache dieses Sich-in-sich-Einspinnens der Seele“ (ebd., Z.). Und mit dieser Auffassung wird die Verrücktheit als „eigentliche Narrheit“ mit zwei Extremen „geschlossener“ Leidenschaften verbunden: Die erste, der „Lebensüberdruß“, bedeutet einen Verlust des Interesses für das Leben, eine Distanzierung von der Welt, eine „Melancholie“ in einer „alle Lebendigkeit abtötenden unbestimmten Gestalt“, woraus sich „ein unbezwingbarer Trieb zum Selbstmord“ (ebd., Z.) entwickeln kann. Davon unterschieden ist eine zweite Gestalt, die von „lebendigen Interessen“ und „Leidenschaft“ (ebd., Z.) geprägt ist. Diese leidenschaftliche Form des Selbst verbleibt aber nur in sich selbst geschlossen, im Widerspruch zwischen „seiner fixen Vorstellung und der Objektivität“ (ebd., Z.) – was etwa heißt, sich als „Gott“ oder „König“ (ebd., Z.) zu imaginieren. Entweder als passive, eher melancholische Haltung oder als leidenschaftliche Haltung weist dieser Subjektivitätstypus ein egozentristisches Handlungsschema auf, das hier eine extreme pathologische Ausdrucksform annimmt. In diesen Fällen wird der Widerspruch zwischen subjektiver Vorstellung und Wirklichkeit allerdings durch das Subjekt nicht erfahren. Erst in der Hauptform der Verrücktheit, der „Tollheit“ oder dem „Wahnsinn“, ist sich das Subjekt selbst dieses Widerspruchs bewusst.19 Es ist allerdings wichtig zu bemerken, dass und wie Hegel die Verrücktheit als ein konstitutives Moment der Subjektivität ansieht, insofern sie eine notwendige Differenzierung von der Welt und der Anderen darstellt. Daher lässt 19 Hegel sagt, dass „der Geisteskranke selber den Widerspruch zwischen seiner nur subjektiven Vorstellung und der Objektivität lebhaft fühlt“ (ebd., Z.).

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sich in der Entwicklung der Subjektivität stets eine bestimmte Art von „Verrücktheit“ vorfinden, insofern das Subjekt nämlich einerseits seine Selbstbeschränkung vermeiden will, anderseits aber allmählich auf seinen Zustand seiner omnipotenten „Unbeschränktheit“ verzichten muss. Insofern sich dieser Prozess auf eine „allgemeine Natur“ bezieht, lässt sich an der Verrücktheit auch eine gewisse Kohärenz erkennen, wenn auch nur im Inneren des „verrückten“ Bewusstseins.20 Daher bildet sich nach Hegel ein notwendiges Moment des Subjektivierungsprozesses, und zwar als ein „mit sich selbst entzweites“ Subjekts – eine Entzweiungserfahrung, insofern es sich widersprüchlich allmächtig und ohnmächtig fühlt. Es befindet sich zudem in einer gewissermaßen „schizophrenen“ Situation, nämlich in der, sowohl ein „Ich“ als auch ein „Anderes“ zu sein. Daher begreift Hegel die Verrücktheit auch nicht etwa als Verlust der Vernunft, sondern als „Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft“ (X, §408, Z.) und insofern als eine Stufe der Entwicklung des Subjekts.21 Es ist dieser negative Rahmen, der eine affirmative Bedeutung für die Vernunft hat, insofern sich durch die Erkenntnis der Grenzen der Verrücktheit der Wert der Vernunft besser erfassen lässt. Mit dieser Konzeption schlägt Hegel auch mögliche Weisen der „Heilung der Verrücktheit“ (ebd., Z.) vor: Weil die Verrücktheit nicht in dem Schema von „vernünftig“ oder „unvernünftig“ zu begreifen ist, sondern als diejenige Fähigkeit angesehen wird, die Subjektivität durch ihre Dezentrierung für die Wirklichkeit zu erschließen, verteidigt Hegel die Behandlung von psychischen Krankheiten bzw. Störungen mittels der noch vorhandenen Rationalität, betrachtet also den „Rest von Vernunft als die Grundlage der Heilung“22 (ebd., 20 „Obgleich daher das Bewußtsein der Narren einerseits mit jenem Inhalt verwachsen ist, so transzendiert dasselbe doch andererseits, vermöge seiner allgemeinen Natur, den besonderen Inhalt der verrückten Vorstellung. Die Narren haben deshalb, neben ihrer Verdrehtheit in Beziehung auf einen Punkt, zugleich ein gutes, konsequentes Bewußtsein, eine richtige Auffassung der Dinge und die Fähigkeit eines verständigen Handelns“ (X, §408. Z.). 21 Hegel verweist zur Erläuterung dieses Doppelcharakters auf eine Analogie zum Verbrechen in Bezug auf die sittlichen Verhältnisse als „unvermeidliche [...] Notwendigkeit“.21 Verrücktheit und Verbrechen sind „Extreme, welche der Menschengeist überhaupt im Verlauf seiner Entwicklung zu überwinden hat“ (ebd., Z.). 22 Hegel stützt seine Annahmen – um ein Beispiel aus seinen empirischen Diskussionen zu nennen – auf die zeitgenössischen Studien von Philippe Pinel (Traité médicophilosophique sur l'aliénation mentale ou la manie, Paris 1801), auf die auch noch Michel Foucault hinweist. Pinel vertrat damals eine Behandlungsweise, deren Wert Hegel als „menschliche, d. i. ebenso wohlwollende als vernünftige Behandlung” (X,

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Z.). Aus diesem Grund verdienen die Verrückten „wegen ihrer noch nicht gänzlich zerstörten Vernünftigkeit eine rücksichtsvolle Behandlung [...]“ (ebd., Z.). Es gehe also darum, anstelle der bloß auf sich selbst zentrierten partikularen Vorstellungen vernünftige Vorstellungen zu stimulieren. Und daher finden sich in Hegels Ansatz oft die Hinweise auf die Rolle der sittlichen Gefühle für die Herausbildung einer radikalisierten Form geschlossener Subjektivität. Insofern „die Verrückten noch sittliche Wesen sind“, soll die Behandlung auf „Zutrauen“ und „Respekt“ begründet werden (ebd., Z.).23 So macht der Verrückte auch durch die „Arbeit“ die Erfahrung, etwas Konkretes, also etwas Wirkliches, außer sich selbst Befindliches herzustellen, so dass er auch einen Übergang aus der geschlossenen Subjektivität erfährt.24 „Dadurch“, so schließt Hegel, „erweitert man ihr besseres Selbst, und indem dies geschieht, gewinnen sie Zutrauen zu ihrer eigenen sittlichen Kraft“ (ebd., Z.). Im Gegensatz dazu, betont Hegel, „[kann] durch eine harte, hochmütige, verächtliche Behandlung [...] das moralische Selbstgefühl der Verrückten leicht so stark verletzt werden, daß sie in die höchste Wut und Tobsucht geraten“ (ebd., Z.). In dieser Idee der Verletzung des moralischen Selbstgefühls liegt die zentrale Bedeutung einer Verhinderung des das Selbst erschließenden Prozesses, dem gegenüber Hegel die Herausbildung eines sittlichen Gefühls als Alternative zur Entwicklung einer mit der Wirklichkeit versöhnten Subjektivität verteidigt. Denn durch die Gefühle von Zutrauen und Respekt oder etwa durch die sittliche Betätigung in der

§408, 163) hervorhebt. So ist etwa die Tatsache bekannt, dass Pinel die Ketten der Behandelten im Salpêtrière-Krankenhaus weggelassen hat – eine Szene, von der der französische Maler Robert-Fleury 1795 ein Gemälde angefertigt hat. Mit Blick auf die Spuren der Vernünftigkeit in der Verrücktheit schreibt Hegel: „Diesen in den Narren und in den Wahnsinnigen vorhandenen Rest von Vernunft als die Grundlage der Heilung aufgefaßt und nach dieser Auffassung die Behandlung jener Geisteskranken eingerichtet zu haben, ist besonders das Verdienst Pinels, dessen Schrift über den fraglichen Gegenstand für das Beste erklärt werden muß, das in diesem Fache existiert“ (X, §408, Z.). 23 Hegel behauptet auch, dass die Verrücktheit nicht unbedingt mit dem moralischen und sittlichen Gefühl bricht, sondern dass sie eher in einem Spannungsverhältnis dazu verbleibt: „[J]edoch [schließt] die Bösartigkeit der Wahnsinnigen moralische und sittliche Gefühle nicht aus; vielmehr können diese Gefühle, eben wegen des Unglücks der Wahnsinnigen, wegen des in diesen herrschenden unvermittelten Gegensatzes, eine erhöhte Spannung haben“ (ebd., Z.). 24 „[D]urch die Arbeit werden sie aus ihrer kranken Subjektivität herausgerissen und zu dem Wirklichen hingetrieben“ (ebd., Z.).

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Arbeit sieht Hegel die Herausbildung derjenigen „sittlichen Kraft“ ermöglicht, die sich als Voraussetzung für ein „gesundes“ (ebd., Z.) Selbst erweist. Und auch hier – wie wir später auch beim Begriff des Fanatismus sehen werden – erwähnt Hegel die Französische Revolution als Beispiel, allerdings mit einer entscheidend anderen Bedeutung: Hier sieht Hegel die Revolution nicht nur als paradigmatisches Beispiel der Radikalisierung negativer Freiheit, sondern auch umgekehrt als Beispiel für sozial verankerte Gründe subjektiver Pathologie, insofern sich beim durch die Revolution verursachten „Umsturz fast aller bürgerlichen Verhältnisse“ (ebd., Z.) eine kausale Verbindung mit subjektiven Pathologien nachweisen lässt. Es bleibt aber noch darzulegen, dass ein solcher institutioneller Rahmen nicht als eine absolute Determinante für die Entstehung oder Verhinderung von subjektiven Pathologien zu verstehen ist. Diese sind insofern keine prinzipiellen Symptome negativer Freiheit, sondern sie können Symptome von als pathologisch zu bezeichnenden sozialen Kontexten sein.25 Wenn Hegel auch im Zusammenhang seiner Diskussion zur Verrücktheit das Beispiel eines spezifischen sozialen Kontexts erwähnt, wird das aber nicht deterministisch dargestellt. Auch wenn die Institutionen– wie wir sehen werden –eine entscheidende Rolle in der Verwirklichung der subjektiven Freiheit spielen, sind die Entstehungskontexte subjektiver Pathologien kontingent. Soziale Kontexte sollen also sittliche Gehalte des Willens fördern und besser berücksichtigen, aber subjektive Pathologien können nicht durch diese oder andere institutionelle Modell kategorisch vermieden werden. Auf diese kontingente Bedeutung der normativen Theorie sozialer Institutionen werden wir anhand einer Betrachtung des Zusammenhangs zwischen sittlichen Institutionen und Willensbildung näher eingehen.

4.3 F ANATISMUS Nach Hegel stellt die eindeutigste Figur eines radikalisierten Modells negativer Freiheit, das in unserem Argument als eine Form des selbstzentrierten Willens fungiert, das Beispiel des Fanatismus dar, den Hegel – abgesehen von einigen Stellen seiner Vorlesungen – im Kontext der Dialektik des freien Willens in der Einleitung seiner Rechtsphilosophie (§§5-7) bespricht.26 Auch wenn wir uns in

25 Zu diesem Gebrauch von „sozialen Pathologie“ vgl. Neuhouser 2000 und Honneth 2011, 2004d. 26 Hegel bezieht sich auch im Kontext seiner Vorlesungen über die Philosophie der Religion und den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte auf den Fana-

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den nächsten Kapitel dieser Einleitung ausführlich widmen werden, interessiert uns hier zunächst nur, wie Hegel auch in der dortigen Betrachtung des freien Willens ein Moment der Realisierung einer vereinseitigen negativen Freiheit angenommen hat. In dieser dialektische Entwicklung des Willens gilt ein nur negativer Wille als absolut, unabhängig von irgendwelchen zu verwirklichenden Formen, der sich selbst nur durch die Trennung von der Wirklichkeit realisiert: „Nur indem er etwas zerstört“, liest man hier, „hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseins“ (VII, §5). Gegenüber dem negativen Willen in seiner radikalisierten Form stellt die soziale Wirklichkeit nur ein Hindernis für seine Verwirklichung dar, wodurch der Wille die Form des Fanatismus annimmt: eine gegenüber der Wirklichkeit unbeschränkte und abstrakte Freiheit auszuleben. Insofern entsteht aus der radikalisierten Vereinseitigung der Willkür der „Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und die Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen wie die Vernichtung jeder sich wieder hervortun wollenden Organisation“ (VII, §5).27 Diese scheinbare Freiheit führt als extreme Form zur Zerstörung jeder

tismus. Zu den jüngsten Arbeiten zum Verhältnis zwischen Hegels Begriff des Fanatismus und der Vereinseitigung der Freiheit vgl. Bouton 2007 und Toscano 2010. Toscano betont in seiner Monographie zum Fanatismus dessen politische Dimension und diskutiert den kausalen Zusammenhang zwischen dem Fanatismus und dem, was er in Anschluss an Hegel „politics of abstraction“ nennt (Toscano 2010:250). Auch wenn ich mit dieser Interpretation die Überzeugung teile, dass Hegels Fantatismusbegriff sich mit unbeschränkter negativer Freiheit einerseits und einer „Politik der Abstraktion“ andererseits verbinden lässt, interessiere ich mich hier auch für die indirekte „normative“ Dimension des Fanatismus, wie wir sie im dritten Teil betrachten werden. Für mich scheint nämlich auch die Frage wichtig zu sein, ob die Entstehungskontexte der radikalisierten leidenschaftlichen Aspekte der negativen Freiheit durch eine sittliche Willensbildung im institutionellen sozialen Rahmen eingeschränkt werden könnten. Auf eine ähnliche Weise führt Axel Honneth den Terrorismus als Beispiel für die von ihm so genannten „Pathologien der moralischen Freiheit“ (2011:214 ff.) an, während ich die drei hier genannten Beispiele eher unter ein generelles Modell eines radikalisierten selbstzentrierten Willens fasse. 27 Nicht nur in der Rechtsphilosophie, sondern auch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte nennt Hegel den Fanatismus die „Freiheit der Leere“ (XII, 431). Weiter fasst Hegel den Fanatismus als „eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält“ (ebd.).

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Partikularität und widersetzt sich ebenfalls jeder Form institutionalisierter Freiheit: „Fanatismus der Zertrümmerung“ (ebd.) oder eine „Furie des Zerstörens“: „Die Besonderung und objektive Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freiheit ihr Selbstbewußtsein hervorgeht. So kann das, was sie zu wollen meint, für sich schon nur eine abstrakte Vorstellung und die Verwirklichung derselben nur die Furie des Zerstörens sein.“ (VII, §5)

Dieses Modell zeigt nun die Idee einer Verselbständigung extremer leidenschaftlicher Handlungen, wodurch das Subjekt seine Unabhängigkeit von den sozialen Bindungen beibehält und sich der Wirklichkeit entgegensetzt. Für das Subjekt richten sich emotive Handlungen nicht auf die Kritik und Umformierung sittlicher Verhältnisse, sondern nur auf deren Zerstörung. In dieser Hinsicht bildet der Fanatismus ein radikalisiertes, negatives Verhältnis der Leidenschaften und Willkür gegenüber den bestehenden Gesetzen und Institutionen.28 Das für Hegel paradigmatische Beispiel für diesen Begriff des Fanatismus ist die Schreckenszeit der Französischen Revolution, die in seiner Rechtsphilosophie wie auch an verschiedenen Stellen seiner Phänomenologie des Geistes und den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte analog zum religiösen Fanatismus dargestellt wird. Dass die Revolution nach Hegel in ihrer ersten Phase die Möglichkeit der Realisierung der Freiheit darstellt, zeigt Hegels Verteidigung der Möglichkeit eines Bruchs mit zwar konsolidierten Institutionen, die aber noch keine feste Basis für die subjektive Freiheit ermöglichen. Jedoch 28 Hegel diagnostiziert in der Rechtsphilosophie die grundsätzlichen Probleme, die sich sowohl im religiösen als auch im politischen Fanatismus finden, wie folgt: „Das Objektive und Allgemeine, die Gesetze, anstatt als bestehend und gültig bestimmt zu sein, erhalten die Bestimmung eines Negativen gegen jene alles Bestimmte einhüllende und eben damit zum Subjektiven werdende Form, und für das Betragen der Menschen ergibt sich die Folge: dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben; seid fromm, so könnt ihr sonst treiben, was ihr wollt, - ihr könnt der eigenen Willkür und Leidenschaft euch überlassen und die anderen, die Unrecht dadurch erleiden, an den Trost und die Hoffnung der Religion verweisen oder, noch schlimmer, sie als irreligiös verwerfen und verdammen. Insofern aber dies negative Verhalten nicht bloß eine innere Gesinnung und Ansicht bleibt, sondern sich an die Wirklichkeit wendet und in ihr sich geltend macht, entsteht der religiöse Fanatismus, der, wie der politische, alle Staatseinrichtung und gesetzliche Ordnung als beengende, der inneren, der Unendlichkeit des Gemüts unangemessene Schranken und somit Privateigentum, Ehe, die Verhältnisse und Arbeiten der bürgerlichen Gesellschaft usf. als der Liebe und der Freiheit des Gefühls unwürdig verbannt“ (VII, §270).

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hat die Revolution durch eine gewisse Vereinseitigung der subjektiven Willkür – eine nur negativen Freiheit – mit der Möglichkeit gebrochen, die Freiheit durch eine Erneuerung der Institutionen zu realisieren. Dagegen „hat auch das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht hatte, wieder zerstört, weil jede Institution dem abstrakten Selbstbewußtsein der Gleichheit zuwider ist“ (VII, §5, Z.). Dieses Modell des Fanatismus wird in der weiter unten stattfindenden Diskussion zum Verhältnis von Leidenschaften und Staat wieder aufgenommen, und zwar in Gestalt einer verfälschten, zerstörerischen Form des massenhaften Patriotismus. Mit dem hier gegebenen kurzen Überblick konnte allerdings für unser Argument schon vorweggenommen werden, in welcher Weise sich der Fanatismus als eine radikalisierte Form eines vereinseitigen, selbstzentrierten Willens darstellt. Wiederum ist entscheidend, wie das Beispiel der Schreckenszeit der Französischen Revolution – die Hegel auch bei seiner Konzeption der Verrücktheit erwähnt – als ein Zusammenhang von sozialen Kontexten und defizitären Formen von Freiheit dargestellt wird. Hegel hat nämlich die Frage vor Augen, ob der Entstehungskontext von subjektiven Pathologien begrifflich erfasst werden könne; wenn auch nicht auf deterministische Weise, so scheinen hier die verschiedenen Figuren des zerstörerischen Pathos, der Verrücktheit und des Fanatismus dennoch mit sozial vermittelten Verhältnissen verknüpft zu sein. Aufgrund präexistierender prekärer sozialer Beziehungen sind die dadurch entstehenden affektiven Gehalte keine konstruktiven sittlichen Formen, sondern bleiben stets ablehnende bzw. sogar vernichtende Gefühle. Defizitäre Gestalten subjektiver Freiheit, die sich nicht in sozialen Sphären realisieren lassen, weisen eine kausale Beziehung mit der Entwicklung subjektiver Pathologien auf, die aber nicht als eigenständige zu verstehen sind, sondern selbst von der Kontingenz individueller Subjektivierungsprozesse abhängen. Es bleibt aber bedeutsam, wie Hegel die sozialen Arrangements in den Kontext defizitärer Formen individueller Freiheit als radikalisierte Trennung von Subjektivität und Sittlichkeit fasst – nämlich nicht nur als Partikularitäten subjektiver Erfahrungen, sondern in Hinblick auf die Entstehungskontexte defizitärer Formen des Ausdrucks von Subjektivität. Die Frage nach dem institutionellen Rahmen von Freiheit muss also auch die Bedingungen der Verwirklichung von Freiheit in Betracht ziehen, damit die von Gefühlen und Leidenschaften geprägte Realisierung subjektiver Freiheit sich nicht als eine in sich geschlossene, von sozialen Verhältnisse abweichenden Form entwickelt, sondern auch sittliche Gehalte verkörpern kann.

5. Die Gewohnheit des Willens

Es hat sich im Laufe der bislang durchgeführten Rekonstruktion von Hegels Ansatzes zunächst angedeutet, dass er seit seinen Frankfurter Schriften als Alternative zu dem entfremdenden Charakter des positiven Gesetzes und der Moralität einen Bildungsprozess des freien Willens auf der Ebene der menschlichen Triebe und Neigungen vorschlägt. Deshalb lässt sich mit dem ontogenetischen Narrativ erhellen, wie dieser Bildungsprozess als eine Erweiterung zunächst selbstbezogener Triebe hin zu einem dezentrierten Wille verständlich gemacht werden kann. Nach Hegel muss man also zeigen, wie sich einerseits in der Verwirklichung des Willens das Modell eines „freien Willens“ erkennen lässt, und andererseits auch derjenigen Figuren, die Fehlentwicklungen eines radikalisierten, selbstzentrierten Willens sind. Auf dieser Stufe der Argumentation sind Konsequenzen der bisherigen Überlegungen zu erkennen, nämlich dass Hegel grundsätzlich zwei Bildungsformen unterscheidet. Während eine erste eine institutionell vermittelte Willensbildung darstellt – die wir im folgenden Kapitel vorstellen werden –, verweist die zweite Bildungsform auf den Begriff der Gewohnheit, der als Grundstufe in der Herausbildung des sittlichen Willens erscheint. So wird im Folgenden diese primäre, zwischen Natur und „dem Geistigen“ verortete Bildungsform näher betrachtet werden (a). Danach wird gezeigt, dass die Gewohnheit eine Ambivalenz besitzt, weil sie einerseits einen mechanischen Prozess und andererseits eine Grundform der Willensbildung darstellt (b). a) In der durch die Gewohnheit vermittelten Willensbildung sieht Hegel ein notwendiges Medium, um denjenigen defizitären, verfälschten Entwicklungsprozess des Willens zu verhindern, den er in seiner „Anthropologie“ mit dem breiter gefassten Begriff der Verrücktheit bezeichnet. Insofern stellt Hegel die Gewohnheit in der Enzyklopädie als Ermöglichung des Heraustretens aus einer innerlich zerrissenen Subjektivität dar. Die Seele – wie sie in diesem Kontext genannt wird – ist noch von Natur geprägt und verbleibt daher als eine noch

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bloße Unbestimmtheit in sich. Es ist nur „durch Aufhebung der gänzlichen Zerrissenheit des Selbsts“ (X, §410), dass sich „das Bewusstsein als Beisichselbersein“ (ebd.) erhebt. „Dies Beisichselbersein“, so schließt Hegel, „nennen wir die Gewohnheit“ (ebd.). Durch die Gewohnheit hebt das Bewusstsein eine natürliche Einseitigkeit, einen Widerspruch, eine innerliche Zerrissenheit auf, um eine Einheit mit der Wirklichkeit zu formen. Es geht darum, eine allgemeine, bestehende Gewohnheit durch eine subjektive Handlung zu verkörpern. Diese Allgemeinheit der Gewohnheit zeigt sich aber noch nicht als „konkrete“, sondern als bloße abstrakte1 Dabei handelt es sich darum, die Seele aus ihrer Besonderheit herauszuziehen und zu einer Allgemeinheit zu führen: Das „Sicheinbilden“, der Übergang vom leiblichen Gefühl zum Bewusstsein, oder – wie Hegel es formuliert: das „Sein der Seele“ – wird durch eine „Wiederholung“, eine „Übung“ (ebd.) ermöglicht. Die Grundfigur der Vermittlung zwischen Natur und Willensbildung durch die Gewohnheit besteht aus der Erfahrung des Leibes. Es entsteht ein von der Seele „gesetzter“ Gegenstand in einem Flexionspunkt zwischen Seele und Leib. Der von Hegel später auch in seiner Rechtsphilosophie gebrauchte Begriff der zweiten Natur beschreibt im Kontext seiner „Anthropologie“ den Prozess der Formierung des Willens als eine zweigleisige Bewegung: einerseits als Setzung des Leibes als ein Objekt und andererseits als eine „Verleiblichung“ des Willens und der Vorstellungen. Die Gewohnheit ermöglicht es, durch allmähliche „Übung“ aus der ersten, unmittelbaren Natur eine zweite herauszubilden: „Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, - Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, - eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- [und] Willensbestimmtheiten als verleiblichten [...] zukommt.“ (ebd.)2 1

Vgl. dazu Menke 2012. Menke betont in dem Gewohnheitsbegriff nicht die Dimension der Allgemeinheit, sondern sieht diese als einen Mangel an Besonderheit. Nach meiner Interpretation, will Hegel in seiner Auffassung über die Gewohnheit die Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Allgemeinheit hervorheben, und zwar, dass - anders als im Denken (wie in „Wahrnehmung“) - das Allgemeine auf der Ebene des praktischen Geistes durch Gewohnheit nur „abstrakt“ vorhanden ist als eine mechanische „Wiederholung vieler Einzelheiten“.

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Christoph Menke hat die Theorie der zweiten Natur innerhalb der Verflechtung von endlichem und absolutem Geist verortet (Menke 2002). Damit nennt der Autor zwei

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Weil noch von der Natur bestimmt, ist das Subjekt teilweise unfrei, und daher darf es nicht nur von der Natur bestimmt werden, sondern muss „seine Natur“ setzen. Die Natur existiert hier nicht nur „in sich“, so dass die Seele nicht mehr bloß eine von der Natur geprägte ist, sondern die Natur erweist sich als eine, die für die Seele da ist. Die innerhalb der Sittlichkeit lokalisierte Gewohnheit, die hier zu erscheinen beginnt, ermöglicht einen Austritt aus dieser unmittelbaren Natur, wodurch das Subjekt seine „Befreiung“ durch die Gewohnheit fühlt. Damit ist gemeint, dass sich das Subjekt, insofern es sich als unmittelbare Besonderheit aufhebt, allmählich anfängt, an einem Allgemeinen zu orientieren. „Befreiung“ ist also auf dieser Stufe grundsätzlich eine Befreiung von unmittelbaren Formen von Empfindungen,3 wobei die „Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens usf.“ (ebd.) durch die Gewohnheit vermittelt wird. Durch das Heraustreten der unmittelbaren Formen bezieht sich Hegel auch im Kontext seiner Anthropologie auf die Vermittlung des Subjektivierungsprozesses durch „die Gewohnheit des Rechten überhaupt, des Sittlichen“, die „den Inhalt der Freiheit [hat]“ (ebd.). Die Befreiung von der ersten Natur wird von Hegel aber nicht als „Entsagung und Gewaltsamkeit“ gesehen, sondern als „vernünftige Befreiung“ – ein durch die „Vernünftigkeit des Willens“ (ebd.) durchgeführter Prozess. In einem ersten Schritt kommt die Seele aus ihrer Idealität heraus, wenn sie ihre Leiblichkeit als „Schranke“ (ebd.) empfindet. So sind sowohl leibliche Tätigkeiten – wie etwa das Stehen oder Sehen – von Gewohnheiten geprägt, in der „die natürliche Bestimmung zu einer Unmittelbarkeit der Seele“ (ebd.) übergeht. „Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich“ (ebd.). In der Gewohnheit kommt die Einheit zwischen Innerlichkeit und Wirklichkeit zur Geltung, indem die Wirklichkeit nicht nur an sich, sondern für die Seele ist. Mit dieser Verinnerlichung hat die Seele auch einen anderen Inhalt als ihre bisherige unmittelbare Einheit, die nur eine „abstrakte, von Tun und Wirklichkeit Aspekte der zweiten Natur: Ein erster, in Bezug auf den endlichen Geist, lässt sich als kritische Dimension auffassen, insofern die zweite Natur die Kluft zwischen dem Begriff des Geistes und seiner Wirklichkeit ausschließt. Ein zweiter Aspekt, in Hinblick auf den „absoluten Geist“, besteht in der Affirmation der Annahme, dass es ontologisch gesehen der Geist selber ist, der die Natur setzt – eine Einheit also von „Setzen“ und „Sein“. In diesem Sinn, so Menke, „[hat] die Selbstverwirklichung des Geistes [...] eine Doppelstruktur: Sie ist ‚Setzen (der Natur als) seiner Welt‘ und Voraussetzen (der Welt als) selbständiger Natur“ (ebd., S. 166). 3

„Die wesentliche Bestimmung“, schreibt Hegel, „ist die Befreiung, die der Mensch von den Empfindungen, indem er von ihnen affiziert ist, durch die Gewohnheit gewinnt“ (X, §410).

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abgeschiedene Innerlichkeit“ (ebd.) war, indem sich die Seele nicht mehr ihre unmittelbare Natur, sondern einen „wirklichen“ äußeren Inhalt aneignet. Es entsteht durch diesen Prozess die Möglichkeit, die Seele als eine „freie Individualität für sich selber“ (ebd., Z.) zu erfahren. Dadurch kommt es zu einer Trennung in zwei „Selbste“, nicht als intersubjektive, aber innerhalb des Bewusstseins, wobei Hegel das „Fürsichsein des Selbst“ als „Genius“ bezeichnet.4 Die Gewohnheit wird daher als eine Stufe der Herausbildung der Freiheit aufgefasst, insofern sich das Individuum in ihr nicht mehr auf die Zufälligkeit der Begierden bezieht, sondern auf eine Allgemeinheit. Dadurch besteht dieser Prozess in einem Übergang von bloß bestimmten Gefühlen hin zu einer als zweiten Natur erfahrenen Individualität, wobei „der Mensch nicht zu einer zufälligen einzelnen Empfindung, Vorstellung, Begierde usf. [sich verhält], sondern zu sich selber, zu einer seine Individualität ausmachenden, durch ihn selber gesetzten und ihm eigen gewordenen allgemeinen Weise des Tuns und erscheint eben deshalb als frei.“ (ebd., Z.).

Die in der gesamten Architektonik von Hegels Überlegungen auftretende Spannung zwischen Geist und Natur zeigt sich hier in der Form einer Spannung zwischen Seele und Leib, in der die Seele zuerst unfähig ist, ein weiterhin unmittelbares Verhältnis zum Leib zu haben. Die Durchführung dieser Differenzierung vom Leib besteht für die Seele darin, ihre Leiblichkeit als Objekt zu erfahren, wodurch die Seele sich selbst als ein „Ich“ betrachten kann;5 dadurch, dass die Seele ihren Leib als ein Anderes wahrnimmt, entsteht aber auch unmittelbar eine neue Begrenzung für die Seele:6 Insofern sie ihren Leib zuerst als

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„Dort hatte jedoch dies Fürsichsein noch die Form der Äußerlichkeit, der Trennung in zwei Individualitäten, in ein beherrschendes und ein beherrschtes Selbst, und zwischen diesen beiden Seiten fand noch kein entschiedener Gegensatz, kein Widerspruch statt, so daß der Genius, diese bestimmte Innerlichkeit, ungehindert sich in dem menschlichen Individuum zur Erscheinung brachte“ (X, §410, Z.).

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„[D]as Selbst in dem Dasein der Seele, in ihrer Leiblichkeit verwirklicht und umgekehrt in sich selber das Sein gesetzt, so daß jetzt das Selbst oder das Ich in seinem Anderen sich selber anschaut und dies Sichanschauen ist“ (X, §423).

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Für eine eher kritische Interpretation von Hegels Begriff des Körpers – allerdings im Rahmen der Phänomenologie – vgl. Malabou/Butler 2011. Ich halte dagegen daran fest, dass der Körper nicht so sehr in der Phänomenologie, sondern in der „Anthropologie“ eine entscheidende Rolle spielt. An einer anderen Stelle weist auch Malabou (2005) selbst auf den Begriff des Körpers im Kontext der „Anthropologie“ hin,

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etwas anderes wahrnimmt, um sich danach mit ihm wieder zu vereinen, entsteht ihre notwendige Differenzierung von sich selbst, durch die sie erst auf sich selbst als Bewusstsein referieren kann. So geht Hegel davon aus, dass der Leib eine Beschränkung der sich über ihm befindlichen Macht der Seele darstellt.7 Insofern die Einheit von Seele und Leib noch eine undifferenzierte ist, bleibt eine feine Grenze zwischen Subjektivität und Welt bestehen. Den Leib für sich selbst als ein Anderes anzunehmen stellt dadurch eine erste Stufe einer komplexeren Unterscheidung zwischen Subjektivität und Welt dar. Daher bleibt zwar ein Verhältnis mit dem Leib bestehen, aber nicht mehr als eines zu einem fremden Anderen, sondern als eine zwischen Seele und Leib vermittelte Einheit. Durch die Gewohnheit werden einerseits die idealen Bestimmungen der Seele nicht mehr als Unmittelbares, sondern als Äußerliches und andererseits der Leib nicht mehr als Äußerliches, sondern als Innerliches angeeignet, was der Seele eine vermittelnde Einheit mit der Natur durch eine Aneignung des Leibes ermöglicht. In diesem Kontext bezieht Hegel sich auf die Differenzierung zwischen Leib und Seele: Die Seele wird „für sich“, insofern sie ihren Leib als „in-sich“ erfährt; in einem solchen nicht mehr unmittelbaren Verhältnis mit dem Leib tritt die Seele durch einen Differenzierungsprozess aus einem inneren Widerspruch mit sich selbst heraus, wobei sie durch die Beherrschung ihres Leibes sich nicht nur auf ein unmittelbares Gefühl, sondern auf sich selbst bezieht.8 Auch hier betrachtet Hegel diese Ausdifferenzierung als einen mit der Gewohnheit verbundenen Bildungsvorgang: „Anfangs durchdringt die menschliche Seele ihren Körper nur auf ganz unbestimmt allgemeine Weise. Damit diese Durchdringung eine bestimmte werde, dazu ist Bildung erforderlich“ (X, §410, Z.). In dieser Auffassung findet man bereits die Rolle der Bildung so beschrieben, wie sie auch später von Hegel verstanden wird: eine durch die Aneignung eines Allgemeinen ermöglichte Selbstbestimmung. Wie bereits gezeigt, weist das Subjekt nach Hegels Narrativ auf der ersten Stufe seiner Entwicklung einen innerlichen Widerspruch zwischen sich selbst und der von ihm selbst gesetzten Wirklichkeit auf, so dass das Subjekt sich auf eine äußere und auch Žižek diskutiert die Frage nach der Selbstaneignung des Körpers durch die Gewohnheit (Žižek 2009:101 ff.). 7

„Indem die Seele zum Gefühl dieser Beschränktheit ihrer Macht gelangt, reflektiert sie sich in sich und wirft die Leiblichkeit als ein ihr Fremdes aus sich hinaus. Durch diese Reflexion-in-sich vollendet der Geist seine Befreiung von der Form des Seins, gibt er sich die Form des Wesens und wird zum Ich“ (X, §412, Z.).

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„Diese Bemächtigung der Leiblichkeit bildet die Bedingung des Freiwerdens der Seele, ihres Gelangens zum objektiven Bewußtsein“ (X, §410, Z.).“

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Wirklichkeit nur in diffuser Weise beziehen kann. Nur insofern die Seele diese Trennung nicht als innerlich, sondern äußerlich erfährt, nimmt die Seele ihren Leib als ein Anderes wahr. Und dieser Prozess, ihre Leiblichkeit als differenziert in sich zu erfahren, ist sogleich eine Stufe der Herausbildung einer selbständigen Individualität. Denn dadurch, dass die Seele in dieser internen Trennung ihren Leib allmählich als ein Anderes wahrnimmt, lernt sie, sich selbst als ein differenziertes Selbst wahrzunehmen.9 Das abstrakte „Ich“ hat jetzt seinen Leib als seine Wahrheit: Ein Selbst, das durch die „Erfahrung seiner Leiblichkeit sich als erfahrendes Bewusstsein weiß“. Die Idealisierung dieser ersten, unmittelbaren Natur – hier als Leiblichkeit – sieht Hegel als die „Grundlage des Bewußtseins“ an (X, §409). b) Jedoch bezieht sich die Gewohnheit noch nicht auf einen von dem Subjekt gesetzten Inhalt, sondern ist eine Wiederholung, eine „Wiederholung vieler Einzelheiten“ (X, §410, Z.). Dieses mimetische Resultat der Gewohnheit ist als „Mechanische[s]“ (X, §410) also in sich selbst begrenzt und mit einem „ganz zufällige[n] Inhalt“ (ebd.) versehen. Das Subjekt bezieht sich nicht auf ein „konkrete[s] Allgemeine[s]“, sondern „nur [auf] die aus der Wiederholung vieler Einzelheiten durch Reflexion hervorgebrachte abstrakte Allgemeinheit“ (ebd.). In diesem Sinne, so Hegel weiter, ist sie immer noch eine zweite Natur – also eine nicht durch die Unmittelbarkeit des Gefühls, sondern durch die Seele angeeignete Natur ‒, die noch nicht die ideelle Form eines konkreten freien Geistes erreicht hat, auch wenn die Gewohnheit eine zweite Natur darstellt.10 Die Gewohnheit symbolisiert vor allem eine Spannung zwischen Natur und Geist, Seele und Leib. Sie ist eine notwendige Stufe für die Befreiung des Subjekts, aber nicht als ein Zweck an sich, weil die Seele auf einer späteren Stufe auch von ihrer Abhängigkeit von der Gewohnheit befreit werden soll. Deswegen, schließt Hegel, „obgleich daher der Mensch durch die Gewohnheit einerseits frei wird, so macht ihn dieselbe doch andererseits zu ihrem Sklaven“ (ebd., Z.). Diese doppelte Bedeutung der Gewohnheit, als zweite Natur ver9

Dieser Prozess wird Hegel zufolge durch das bisher dargestellte Selbstgefühl als „die Besonderheit der Gefühle (einfacher Empfindungen, wie der Begierden, Triebe, Leidenschaften und deren Befriedigungen)“ (X, §409) vermittelt.

10 Durch die Gewohnheit, schreibt Hegel, ist der Mensch „eine zwar nicht unmittelbare, erste, von der Einzelheit der Empfindungen beherrschte, vielmehr von der Seele gesetzte, zweite Natur, - aber doch immer eine Natur, ein die Gestalt eines Unmittelbaren annehmendes Gesetztes, eine selber noch mit der Form des Seins behaftete Idealität des Seienden, folglich etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches“ (X, §410, Z.).

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standen, gerät in eine Spannung zu einer analogen Struktur, die wir auch in der Beschreibung der Begierde gesehen haben, nämlich der Herausbildung des Selbst durch Selbstbeschränkung und Differenzierung. In beiden Fällen ist die reflexive Tätigkeit der Horizont, den das Selbst für seine Konstitution durchläuft, wobei Hegels Gewohnheit eine von der Seele aufzuhebende Zwischenstufe auf dem Weg darstellt, ein autonomes Selbst werden zu können.11 Und dieser Prozess, die Natur als mittelbar zu erfassen, wird dadurch geleitet, dass die Seele nicht mehr eine Gemeinsamkeit verschiedener Partikularitäten wahrnimmt, sondern diese Partikularitäten als ein „Allgemeines“ erfährt – das innerhalb der Besonderheiten befindliche Substanzielle. Es kommt hier zu einer Spannung zwischen einem „gegenwärtig[en]“ und einem „abwesend[en]“ Gegenstand, für den man sich zwar „interessiert“, dem gegenüber man aber „gleichgültig“ ist, ihn „sich aneignet“ und „zurückzieht“ sowie in ihn „eindringt“ und ihn „verläßt“ (ebd., Z.). Mit seinen Beispielen des Stehens, der Sprache oder des Spiels will Hegel zeigen, dass dieser teilweise mechanische Prozess zu einem freien Handeln des Geistes führt, insofern dieser nicht mehr auf eine Nachahmung von Besonderheiten fixiert ist und allmählich anfängt, seinen eigenen Willen zu bestimmen.12 Entscheidend für unserer Rekonstruktion ist es, zu bemerken, wie sich auch bei der Gewohnheit zeigt, wie die Aneignung eines Allgemeinen zu erlangen ist – auch wenn dieses hier noch teilweise „mechanisch“ durch einen mimetischen Prozess erfolgt. So wie in der Sphäre des theoretischen Geistes das Denken die Universalisierungsfähigkeit ermöglicht, vermittelt die Gewohnheit die Aneignung gegebener Praktiken, die ihrerseits die Prämissen eines Individuali11 Diesen Aspekt betont Menke (2010). Er bekräftigt, dass, auch wenn Hegel ein überzeugenderes Modell der Autonomie entworfen habe als Rousseau und Kant, sich bei diesem selbst auch schon die Grenzen dieses Modells, eben etwa in Bezug auf den Begriff der zweiten Natur und der Gewohnheit, erkennen lassen. 12 Weil man stehen bleibt, nur insofern das Individuum es will, „[ist] das Stehen [...] die Gewohnheit des Willens zum Stehen“ (X, §396, Z.). So auch verhält es sich auch mit der Rolle der Sprache als Medium der Universalisierung – „Die Sprache aber befähigt den Menschen, die Dinge als allgemeine aufzufassen, zum Bewußtsein seiner eigenen Allgemeinheit, zum Aussprechen des Ich zu gelangen. Dies Erfassen seiner Ichheit ist ein höchst wichtiger Punkt in der geistigen Entwicklung des Kindes; mit diesem Punkt beginnt dasselbe, aus seinem Versenktsein in die Außenwelt sich in sich zu reflektieren“ (ebd., Z.) – und mit der Rolle des Spielens: „Zunächst äußert sich diese beginnende Selbständigkeit dadurch, daß das Kind mit den sinnlichen Dingen spielen lernt“ (ebd. Z.). Hegel sieht das Lernen in diesem Kontext durch die „Nachahmungssucht der Kinder“ auch als eine Mimesis an (ebd., Z.).

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sierungsprozesses erschließen. Die Gewohnheit besteht also nicht nur aus diesem Mechanismus, sondern auch aus den ersten sittlichen Medien der Formierung des Willens. Im Unterscheid zu einem institutionellen Modell hat Hegel diese eher flexiblen Vermittlungen auf der Ebene der Theorie des subjektiven Geistes verortet – also auf einer vorgeordneten Stufe seiner Sittlichkeitstheorie. Die mit sittlichem Gehalt erfüllten Erfahrungen spielen dabei eine Rolle in der Individualisierung, so dass Hegel sich im Anthropologieteil nicht nur auf das zunächst spannende Verhältnis zur Natur bezieht, sondern auch die später institutionell vermittelten Gewohnheitsprozesse antizipiert. Mit dem Hinweis auf die „Gewohnheiten des Sittlichen“ lässt sich schon erahnen, dass auch in den sittlichen Sphären eine gewisse Gewohnheitsvermittlung vorkommt, die die subjektive Aneignung sittlicher Inhalte ermöglichen soll. „Sitten“ verkörpert aber nur derjenige moralische Inhalt, der nicht als „Äußeres“ angenommen wird, sondern im Prozess der Entstehung einer zweiten Natur bei der Subjektivierung selbst entsteht. Dies zeigt sich im Doppelsinn des „Ethos“, der sowohl „Sitten“ als auch den Begriff der „Gewohnheiten“ zum Ausdruck bringt: Es geht um einen moralischen Gehalt, der nicht Fremdes bleibt, sondern ein Gefühl des bei sich selbst Seins, eine acquaintance der eigenen Individualität bedeutet. Eine Aneignung von Sitten, denen das Subjekt gleichzeitig innewohnt – ein „Beisichselbersein“. Es lässt sich daher auch erkennen, dass zwei verschiedene Gewohnheitsprozesse zu unterscheiden sind, nämlich ein erster hinsichtlich der hier genannten Vermittlung von Seele und Leib ‒ in seiner ambivalenten Bedeutung von Befreiung und mechanischer „Mimesis“ ‒ und ein zweiter, der innerhalb eines institutionellen Rahmens zu finden ist. In diesem letzten geht es um Spuren von Gewohnheitsprozessen, welche sich nicht nur auf einen organischen Spielraum einer Aneignung des Körpers und das ontogenetische Selbstwerden beziehen, wie es in Hegels Theorie des subjektiven Geistes dargestellt wird, sondern auch innerhalb der sittlichen Sphären zu finden sind: Es geht um die Rolle derjenigen Vermittlungen, die das Subjekt auch durch sittliche Verhältnisse als „gewohnheitsmäßig“ internalisiert ‒ eine sozial geteilte Semantik und Normen, deren sittlicher Inhalt das Subjekt durch diese Vermittlungen verkörpert13. Diese zweite Bedeutung wird im dritten Teil dieser Arbeit näher betrachtet. Es lässt sich aber jetzt schon darauf hindeuten, dass die Rolle, die Hegel der Gewohnheit hier zuspricht, in seiner Sittlichkeitstheorie in elaborierter und konsolidierter Struktur wieder erscheinen wird.

13 Eine interessante Diskussion von Gewohnheit und politischer Praxis – allerdings eher im Anschluss an John Dewey – bietet Hartmann 2003.

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Dennoch werden mit Hegels Unterscheidung von „subjektivem“ und „objektivem“ Geist Begriffe wie etwa der der Gewohnheit als Vorstufen des objektiven Geistes gesehen.14 Diese Unterscheidung, die noch in der Jenaer Realphilosophie unter der generellen Struktur der Philosophie des Geistes verortet wurde, hat sich allmählich zu einer Theorie der Institutionen weiterentwickelt15 Die umstrittene kritische Nachfrage – besonders nachdrücklich von Habermas vorgetragen –, ob in Hegels Jenaer Systementwürfen die Vorherrschaft eines monologischen Begriffes des Geistes zu finden sei, wird im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt.16 Entscheidend ist allerdings, dass Hegels Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Geist die Möglichkeit blockieren kann, dass neben einem institutionellen Rahmen auch die Vermittlung etwa der Gewohnheit oder der Sprache für Hegels politische Theorie eine wichtige Rolle spielen kann. Denn mit einer Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Geist könnten die für die Sittlichkeit konstitutiven Vermittlungen, welche sich aber nicht auf die sittlichen Institutionen reduzieren lassen, aus dem Blick verloren werden.17 Die Medien der Sprache und Gewohnheit spielen zwar eine wichtige Rolle in Hegels späteren Schriften, aber keine entscheidende mehr in seiner Sittlich14 In der Tat wird auf den Begriff der Gewohnheit in Hegels Rechtsphilosophie nur mit einem kurzen Hinweis verwiesen. Vgl. VII, §151. 15 Schon in seiner Realphilosophie hat Hegel in Arbeit, Sprache, Liebe und Gewohnheit Vorstufen eines Sittlichkeitsmodells gesehen, das später durch eine Spezifizierung sittlicher Institutionen ergänzt wurde. Vgl. Habermas 1968; Hösle 1987; Siep 1979. 16 Vgl. Habermas 1968. Hier wird als Hintergrund die interpretative Richtung verfolgt, dass weiterhin eine grundlegend intersubjektive Struktur des Geistes in Hegels späteren Schriften zu finden ist. 17 Honneth hat seine Kritik an Hegels Ansatz unter der Formulierung einer „Überinstitutionalisierung der Sittlichkeit“ zusammengefasst (Honneth 2001, Kap 7). Hierbei zeigt Honneth, dass, insofern Hegels Ansatz institutionelle Formen privilegiert hat, das Potenzial seiner Prämissen für die Konzeption anderer Formen „sozialer Freiheit“ ‒ wie etwa eine durch die Rolle der Freundschaft vermittelte – verloren geht. In seiner Aktualisierung von Hegels Rechtsphilosophie zeigt Honneth, dass auch nichtinstitutionelle Praktiken - wie etwa die Freundschaft - die normative Relevanz der etablierten sozialen Praxis verkörpern könnten (Honneth 2001:112 ff). In seinem jüngsten Buch hat er diese Kritik gewissermaßen umformuliert: Die institutionellen Formen haben zwar eine zentrale Rolle auch in Honneths eigenem Projekt angenommen, umfassen aber nichtrigide Formen, so etwa die Freundschaft oder eine verstärkte Öffentlichkeit.

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keitstheorie, sondern vielmehr in seiner Theorie des subjektiven Geistes. Eine richtige Verortung dieser verschiedenen Medien könnte also nur in Hinsicht auf das Ganze der Hegelschen Theorie des Geistes wirklich gelingen. Meinem Interpretationsvorschlag zufolge würden mit der Dynamisierung und weiteren Ausdifferenzierung von Sittlichkeitssphären Hegels Prämissen entweder einer ständige Revision von institutionellen Formen unterliegen oder eine gewisse inflationierte Theorie der Institutionen erfordern, damit Hegels ursprüngliches Projekt neuen Formen ausdifferenzierter Institutionen angepasst werden kann. Dagegen könnte die Betrachtung der einzelnen Aspekte von Hegels Theorie des subjektives Geistes eine „organischere“ und „offenere“ Perspektive eröffnen, sei es in Bezug auf die Rolle von Trieben, Sprache oder Gefühlen als auch auf eine dynamische Vermittlung etwa von Gewohnheiten, die sich nicht auf rigide und endgültige Formen reduzieren lassen.

5.1 G RUNDASPEKTE DER SITTLICHEN H ERAUSBILDUNG DES FREIEN W ILLENS Mit der Rekonstruktion von Hegels Theorie des subjektiven Geistes wollten wir einerseits auf die „naturalistischen“ Grundlagen seiner Sittlichkeitstheorie eingehen und andererseits auf die Möglichkeit hinweisen, den Raum für die Flexibilisierung einer sozialen Theorie in Anschluss an Hegel öffnen zu können. Es lassen sich hier die eher indirekten Konsequenzen einer Erweiterung von Hegels Sittlichkeitstheorie antizipieren, die nicht nur auf einem rigiden institutionalisierten Modell basiert, sondern auch Dimensionen wie Sprache, Gewohnheit und Körper einschließen könnte. Mit den im Rahmen des subjektiven Geistes angeführten Argumenten wollte Hegel erklären, warum die subjektive Befriedigung und die Erfüllung des Eigeninteresses nicht als selbstsüchtiger, willkürlicher Inhalt, sondern durch die Aneignung eines sittlichen Inhalts zu verwirklichen sind. Wie auch auf der primären Stufe die Formierung des immer freieren Willens in einer allmählichen Annahme eines dezentrierten Inhalts besteht, so vertritt Hegel auch die Idee, dass ein Interesse nicht nur auf die Befriedigung eines selbstsüchtigen Ziels gerichtet sein darf, sondern in seiner Befriedigung auch einen allgemeinen Inhalt einbeziehen muss. In der Entwicklung seines philosophischen Projekts hat Hegel nicht nur dem freien Willen – und seine primären, von der Natur geprägten Formen – einen grundsätzlichen Status beigemessen, sondern vertritt auch die Auffassung, dass nur eine Sittlichkeitstheorie in der Lage wäre, die Ausbildung des freien Willens zu ermöglichen: In der sozial vermittel-

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ten Formierung der Subjektivität liegt ihm zufolge die Voraussetzung für den Willen, sich in einer dezentrierten Form durch die Aneignung von sozialen Inhalten zu verwirklichen. Aber erst in Hinblick auf Hegels Rechtsphilosophie sind die in der Literatur oft diskutierten Grundzüge einer in Anschluss an Hegels Theorie der Institutionen zu präzisieren.18 Am Schluss der Darstellung von Hegels Theorie des subjektiven Geistes haben wir gesehen, dass der Subjektivierungsprozess durch eine Umformung der selbstzentrierten Willkür den freien Willen konstituiert. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wurde zudem gezeigt, dass Hegel schon in Frankfurt behauptet hatte, dass die Begrenztheit des rechtlichen und moralischen Gesetzes sich nicht nur in einem unvollständigen Freiheitsmodell manifestiert, sondern auch dessen Rolle für die Willensbildung verfälscht aufgefasst wird, insofern es der menschlichen Natur nur eine formelle, fremde Vermittlung mit sich selbst ermöglicht. Mit den in den hier in zwei Teilen rekonstruierten Überlegungen sind wir jetzt in der Lage, die Absicht zu erfassen, die Hegels spätere Sittlichkeitstheorie als einen institutionellen Rahmen für die Willensbildung darstellt. Wir werden sehen, dass Hegel diese doppelte Struktur ‒ den Begriff des freien Willens und eine institutionell vermittelte Willensbildung ‒ zum Leitfaden seiner Rechtsphilosophie macht: Während schon in der Einleitung der freie Wille zum Grundbegriff dieses Werkes erhoben wird, bilden abstraktes Recht und Moralität Vorstufen des Sittlichkeitsteils, auf welchen hin eine sittliche, sozial vermittelte Ausarbeitung von Neigungen stattfinden soll. Im Anschluss an die Differenzierung von subjektivem und objektivem Geist haben sich die meisten Interpretationen der politischen Philosophie Hegels nur auf den in seiner Rechtsphilosophie dargestellten institutionellen Rahmen bezogen. Daneben aber haben die in seiner Theorie des subjektiven Geistes dargelegten Begriffe von Gewohnheit, Sprache und kognitiver Prozesse sowie insbesondere die ausführliche Darstellung von Trieben, Interessen und Leidenschaften auch ein großes Gewicht für die daran anschließende politische und soziale Philosophie Hegels. Weil Hegel die Willensbildung einerseits nicht nur innerhalb der Öffentlichkeit und des Staates verortet hat, sondern in jeder sittlichen Sphäre, und andererseits nicht nur als institutionellen Rahmen, sondern auch als eine soziale Praxis etablierter Normen und Werte versteht, ergibt sich hieraus für die aktuelle Debatte eine besonders instruktive Auffassung über die Verflechtung von Willensbildung und Institutionen. Tatsächlich entwirft Hegel in seiner „Anthropologie“ andere, neben dem institutionellen Rahmen ebenfalls wichtige Stufen der Herausbildung des Wil18 Vgl. auch hierzu Neuhouser 2000; Honneth 2001, 2012; Pippin 2010.

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lens, die er auch in seiner Theorie der Institutionen untersucht hat; so etwa den hier betrachteten Begriff der Gewohnheit und der damit verbundenen Rolle von Leiblichkeit, Sprache und Gesten19 oder auch die Hinweise auf andere institutionelle Einrichtungen wie die Schule,20 die später in seiner Sittlichkeitstheorie nicht mehr erwähnt werden. Eine solche umfassende Inbezugsetzung der verschiedenen Aspekte von Hegels Theorie des Geistes zueinander könnte den Analysen von sozialen Sphären einen flexiblen Gehalt verleihen, womit sich eine gewisse Pluralität und Dynamisierung für eine Theorie der Institutionen erreichen ließe. In der Tat werden die bisher rekonstruierten Stufen des subjektiven Geistes in der Einleitung der Rechtsphilosophie in einer verkürzten Form von Hegel wieder aufgenommen. Und daher lässt sich mit Blick auf die Architektonik der Enzyklopädie erkennen, dass der dem „objektiven“ Geist gewidmete Teil der 19 Hegel stellt Gesten schon als Zeichen des freien Willens dar, insofern sie zwar ein natürliches Moment des Subjektivierungsprozesses sind, das aber geistig externalisiert wird. Insofern drücken die Gebärden, wie etwa das Lächeln, schon eine Stufe des Überganges von der Natürlichkeit zum freien Willen aus: in einer „Reihe vielfacher Abstufungen, in welchen es sich immer mehr von seiner Natürlichkeit befreit, bis es im Lächeln zu einer Gebärde, also zu etwas vom freien Willen Ausgehenden wird“ (X, §401, Z.). An einer anderen Stelle schlägt Hegel die Verflechtung von Äußerlichkeit und Innerlichkeit der Subjektivität vor: „Denn Gemüt, Herz, Empfindung, wie geistig und innerlich sie auch bleiben, haben dennoch immer einen Zusammenhang noch mit dem Sinnlichen und Leiblichen, so daß sie nun auch nach außen hin durch die Leiblichkeit selbst, durch Blick, Gesichtszüge oder, vergeistigter, durch Ton und Wort das innerste Leben und Dasein des Geistes kundzugeben vermögen“ (XIV, 156). 20 So behauptet Hegel, dass das Kind in der Schule, im Unterschied zur Familie, nicht nur lernt, „geliebt“ zu werden, sondern seine Willkür zu zügeln und seine Leistungen kritisch zu beurteilen. Es wird an einer erweiterten, intersubjektiven Bezugsgruppe orientiert und von daher „geachtet, als es Wert hat, als es etwas leistet“: „In der letzteren [die Familie, F.C.] gilt das Kind in seiner unmittelbaren Einzelheit, wird geliebt, sein Betragen mag gut oder schlecht sein. In der Schule dagegen verliert die Unmittelbarkeit des Kindes ihre Geltung; hier wird dasselbe nur insofern geachtet, als es Wert hat, als es etwas leistet; hier wird es nicht mehr bloß geliebt, sondern nach allgemeinen Bestimmungen kritisiert und gerichtet, nach festen Regeln durch die Unterrichtsgegenstände gebildet, überhaupt einer allgemeinen Ordnung unterworfen, welche vieles an sich Unschuldige verbietet, weil nicht gestattet werden kann, daß alle dies tun. So bildet die Schule den Übergang aus der Familie in die bürgerliche Gesellschaft“ (X, §396, Z.).

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Rechtsphilosophie bereits mit dem „Recht“ beginnt. Denn die Struktur der enzyklopädischen Abschnitte „Subjektiver Geist“ und „Objektiver Geist“ ist der der Rechtsphilosophie zwar ähnlich, doch beide besitzen seinen eigenen Schwerpunkt: Während Hegel in der Enzyklopädie eine ausführliche Darstellung des subjektiven Geistes vornimmt, hat seine Rechtsphilosophie die Aufgabe, eine detaillierte Darstellung des enzyklopädischen Abschnitts über den „objektiven Geist“ zu liefern. Gleichzeitig werden in der Einleitung der Rechtsphilosophie die in der Enzyklopädie entwickelten Stufen der Konstituierung der Triebe und Neigungen hin zum freien Willen als Grundlage seiner Theorie des objektiven Geistes in verkürzter Form rekonstruiert. Mit einer näheren Betrachtung von Hegels Theorie des subjektiven Geistes wollten wir diese Grundstruktur seiner Sittlichkeitstheorie in einer etwas detaillierteren Weise verstehen. Wie wir gezeigt haben, besteht die Schlussfolgerung von Hegels Anthropologie darin, dass der Subjektivierungsprozess zwar in einer allmählichen subjektiven Selbstdifferenzierung besteht, die aber von der Erfahrung eines allgemeinen Inhalts abhängt. Die von Hegel in seiner Theorie des subjektiven Geistes dargestellten Stufen der Subjektwerdung konstituieren aber nicht nur die grundlegende Struktur seiner Rechtsphilosophie, sondern weisen auch auf den Horizont hin, vor dem sich der innerhalb eines institutionellen Rahmens durchgeführte Herausbildungsprozess der Willensdezentrierung stets abspielt. Dieser Prozess – der im vorherigen Kapitel anhand von Hegels „Anthropologie“ rekonstruiert wurde soll jetzt durch ein institutionelles Gewebe vermittelt ablaufen, in welchem sowohl die subjektive als auch die objektive Verwirklichung der Freiheit dargestellt werden.21 Insofern ‒ wie sich wieder erkennen lässt ‒ verfolgt Hegel mit seiner Sittlichkeitstheorie die Absicht, die Willensbildung in erweiterten sozialen Formen zu verorten. Der argumentativen Aufbau der Einleitung von Hegels Rechtsphilosophie weist eine Analogie zu der in der Schrift Der Geist des Christentums beschriebenen Auffassung einer Ergänzung des Gesetzes durch Neigungen und Triebe auf. Während die Frankfurter Schriften von der Idee geprägt waren, dass die Erfüllung des Allgemeinen grundsätzlich durch das Besondere vorzunehmen ist, hat sich Hegel in seinen späteren Schriften immer wieder auch mit der Frage beschäftigt, welcher Inhalt überhaupt als ein „allgemeiner“ anzusehen ist und wie dieser Inhalt durch den Willen angeeignet werden kann. Diese Frage beantwortet Hegel so, dass einerseits ein allgemeines Gesetz durch die besonderen Neigungen, Triebe usw. erfüllt wird, und andererseits, dass ein „vernünftiger“ Inhalt des Willens aus einem sittlichen Inhalt bestehen kann. Wie Hegel 21 Zu den subjektiven und objektiven Dimensionen der Freiheit vgl. exemplarisch Neuhouser 2000 und Pippin 2010.

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in einer Anmerkung schreibt: „Ich will mein allgemeines Wesen – Vernünftiger Wille – Sittlichkeit“ (VII, §26). Hegel begreift den subjektiven und objektiven Willen als zwei dem freien Willen vorausgehende, noch defizitäre Stufen. Während im Anschluss an Fichte der subjektive Wille (VII, §25) aus dem „Ich=Ich“-Verhältnis, also einer „reinen“ und unbestimmten Form besteht, ergibt sich bei der objektiven Seite (VII, §26) ein vereinseitigter objektiver Inhalt und damit der Verlust der hier auszudrückenden Subjektivität; denn ohne die subjektive, konstitutive Seite zeigt sich nur der in das „Objekt oder den Zustand [...] versenkte Wille“, wie der „kindliche[n], der im Zutrauen, ohne subjektive Freiheit [besteht] [...], und de[r] sklavische, der sich noch nicht frei weiß und deswegen ein willenloser Wille ist“ (ebd.). „Objektiv“, schließt Hegel, „ist in diesem Sinne ein jeder Wille, der durch fremde Autorität geleitet handelt und noch nicht die unendliche Rückkehr in sich vollendet hat“ (ebd., Z.). Die Einheit dieser beiden Momente sieht Hegel auch als einen Trieb an, der jetzt aber die Freiheit als seinen Inhalt sucht; er ist „der freie Wille, der den freien Willen will“ (VII, §27): „[D]er wahrhafte Wille [ist], daß das, was er will, sein Inhalt, identisch mit ihm sei, daß also die Freiheit die Freiheit wolle“ (VII, §21, Z.). Auf dieser Grundlage entwirft Hegel eine „vernünftige“ Vorstellung des Rechts. Er kritisiert Kant und Rousseau dafür, nur einen negativen Willensbegriff, nämlich als Beschränkung der Willkür, zu präsentieren. Damit ergibt sich nur die Vorstellung eines freien Willens als ein permanentes Entfernen von Hindernissen, ohne aber diejenigen Inhalte anzuerkennen, mit welchen ausgestattet der Wille als „frei“ verstanden werden kann. Um über die Beschränkung der Willkür zu sprechen, braucht man Hegel zufolge einen positiven Begriff von Freiheit vor Augen. Der Wille beschränkt sich nur darauf, wie bereits gezeigt, zwischen den Neigungen die Freiheit selbst als Inhalt zu wählen, und daher besteht ein „vernünftiger“ Wille darin, einen allgemeinen und freien Inhalt anzunehmen. Dagegen erweist sich die Vernünftigkeit im Begriff der „Willkürfreiheit“ als bloß „Äußeres“ und „Formelles“, wie sich an Hegels folgender scharfer Kritik erkennen lässt: „Nach diesem einmal angenommenen Prinzip kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend für diese Freiheit sowie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskommen. Jene Ansicht ist ebenso ohne allen spekulativen Gedanken und von dem philosophischen Begriffe verworfen, als sie in den Köpfen und in der Wirklichkeit Erscheinungen hervorgebracht hat, deren Fürchterlichkeit nur an der Seichtigkeit der Gedanken, auf die sie sich gründeten, eine Parallele hat.“ (VII, §29)

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Das „Vernünftige“ heißt dagegen das durch den Trieb vermittelte Austreten aus der Besonderheit und die Aneignung des Allgemeinen: „Das an und für sich seiende Allgemeine ist [...] das Vernünftige“ (VII, §24). Mit derselben Struktur wie in seiner Enzyklopädie zeigt Hegels Argument in der Einleitung seiner Rechtsphilosophie einen schrittweisen Übergang von primären, von der Natur geprägten Figuren der Triebe und Neigungen bis zum freien Willen. In Bezug auf diesen Kontext wurde schon häufig in der Literatur diskutiert, wie diese begriffliche Entfaltung durch die logische „Genese“ des freien Willens (VII, §§5-7) argumentativ unterstützt werden kann, die wir uns im Folgenden kurz in Erinnerung rufen.22 Der erste Schritt dieses Interpretationsmodells ist dadurch besagt, dass der Wille sich nur „negativ“ in seiner Besonderheit gegenüber dem Allgemeinen fixiert; er besteht insofern nur aus einer „reine[n] [..] Unbestimmtheit” (VII, §5), welche die Grundstruktur „negativer Freiheit“ darstellt, deren Radikalisierungsfigur wir im vierten Kapitel als „Fanatismus“ beschrieben haben. In einem zweiten Schritt erhält der Wille die Form der „Willkür“, in welcher eine Besonderheit nur einer anderen Besonderheit starr entgegengesetzt ist. Im Unterschied zum ersten Moment gibt es nicht mehr nur das „negative“ Beharren des Willens gegenüber einem abstrakten Gegenstand, sondern er will „etwas“ („Ich will nicht bloß, sondern ich will etwas“ (VII, §6, Z.)). Um überhaupt einen Willen zu haben, so Hegels Argument, muss etwas Konkretes gewollt werden. Dadurch bezieht sich der Wille auf eine Besonderheit, mit der eine „Beschränkung” des Willens – als Wahl unter verschiedenen Besonderheiten - erfordert: „Daß der Wille etwas will, ist die Schranke, die Negation“ (ebd., Z.). Durch diese Vermittlung setzt die Willkür in einem dritten Schritt nicht mehr einen vielfältigen und zufälligen Inhalt, sondern das „Allgemeine“ unter die Besonderheiten. Nur insofern die Willkür weder einem abstrakten, formellen Allgemeinen (erste Stufe) entgegengesetzt wird, noch auf eine zufällige Besonderheit (zweite Stufe) fixiert ist, lässt sie sich von demjenigen allgemeinen Inhalt leiten, welchen Hegel noch als konstitutiv für die individuelle „Befreiung“ darstellen wird. Mit dem Begriff der Freiheit als „sittlicher“ bzw. „sozialer Freiheit“ ‒ wie ihn Frederick Neuhouser und jüngst Axel 22 Dieser Aufbau der Einleitung der Rechtsphilosophie zeigt sich als in der Literatur häufig diskutierte Interpretationen des Begriffes des freien Willens. Ich verfolge hier die Absicht, nicht nur die Argumente bezüglich einseitiger Modelle der Freiheit zu diskutieren, sondern auch die sich in dieser Einleitung befindlichen Aspekte von Hegels Theorie des subjektiven Geistes zu betrachten. Nach diesem Interpretationsvorschlag lässt sich mit der Rekonstruktion von Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie die gesamte Struktur der Einleitung seiner Rechtsphilosophie besser verstehen.

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Honneth in Anschluss an Hegel vorgeschlagen haben23 ‒ lässt sich bezogen auf das bisher dargestellte Hegelsche Vokabular zeigen, dass weder durch die Form der unbeschränkten Willkür noch durch seine Erfüllung mit einem „zufälligen“ Inhalt das Subjekt als frei anzusehen ist. Im Unterschied dazu hat Hegel eine ausführliche Darstellung des Inhalts des freien Willens vorgenommen, der sich als ein sittlicher, sozial vermittelter „allgemeiner“ Inhalt verstehen lässt. Hegel skizziert also in dieser Hinsicht einen modernen Begriff der Freiheit, und zwar als individuelle Freiheit, versteht ihn aber in einer besonderen Weise: „Die wahre Freiheit“, wie Hegel es in der Enzyklopädie zusammenfasst, „ist als Sittlichkeit dies, daß der Wille nicht [einen] subjektive[n], d. i. eigensüchtige[n], sondern allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat“ (X, §469). Nach Hegels Auffassung wird die Entgegensetzung zwischen Freiheit und Notwendigkeit falsch dargestellt, wenn sie als Opposition zwischen Notwendigkeit und Willkür erfasst wird.24 Die Prävalenz der Willkür innerhalb der Subjektivität versteht Hegel als ein dauerndes Vorherrschen eines einseitigen Umstandes der negativen Freiheit.25 Nach Hegels Auffassung besteht die Freiheit darin, jenseits der Befriedigung einer abstrakten Willkür eine durch sittliche Kontexte vermittelte Freiheit zu haben, die Hegel als „vernünftig“ ansieht: Man ist frei, wenn man von den „Naturbestimmungen“ und bloßer egozentrischer Willkür zu einem „vernünftigen“, einem sittlichen Willen übergeht.26 Der Wille ist also auch positiv frei, weil er in seiner Verwirklichung schon einen 23 Vgl. Neuhouser 2000 und von Axel Honneth vorzüglich Honneth 2012. Ich benutze den Begriff „sittliche Freiheit“ nur, um einerseits den moralischen vom sittlichen Inhalt individueller Freiheit zu unterscheiden und andererseits die Vermittlung der Sittlichkeitssphäre hervorzuheben ‒ auch wenn dieser Begriff der sittlichen Freiheit inhaltlich dem Begriff „sozialer Freiheit“ ähnelt. 24 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dritter Abschnitt. 25 In seinen Vorlesungen formuliert Hegel diesen Gedanken auch auf diese Weise: „Das Beschränken der Willkür, des zufälligen Willens ist die Freiheit selbst“ (VWG, 43). 26 „Gewöhnlich in der reflektierten Vorstellung nennt man die Willkür, den partikularen Willen die Freiheit, dem entgegen man das an und für sich Seiende, das Vernünftige, als etwas ihr Eigenes und [als] eiserne Notwendigkeit stellt. In der Tat ist nur das Verhältnis des Geistes zum an und für sich Seienden, als dem seinigen, die Freiheit. Die eigentliche Freiheit ist das Vernünftige. Die Willkür, die Partikularität der Interessen, ist nur eine Vermischung von Freiheit und Notwendigkeit, gehört nur der gemeinten Freiheit, der Erscheinung an, die unter dem Einfluß von Naturbestimmungen steht“ (VWG, 61).

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Inhalt hat. Das Ziel einer Sittlichkeitstheorie sollte sich deshalb darauf richten, der zunächst leeren Willkür einen Inhalt zu ermöglichen, der aber nicht nur ein zufälliger und abstrakter, sondern ein „wesentlicher“ Inhalt ist, dessen Bedeutung erst erläutert werden kann, insofern der Begriff der Freiheit als Zusammenhang von subjektiver und sittlicher Freiheit dargestellt wird. Der Begriff von Autonomie wird in diesem Zusammenhang von Natur und Geist so gefasst, dass das Subjekt weder durch die Selbstgesetzgebung noch durch die Achtung eines moralischen Gesetzes autonom ist, sondern nur, insofern es sich die Freiheit als Inhalt seines Willens aneignet. Nachdem Hegel argumentiert, dass der Naturzustand keine Freiheit enthält, kann er seinen Begriff der Freiheit weder als negative Freiheit noch als Form eines von Kant und Fichte inspirierten Modell autonomer Selbstgesetzgebung entwickeln, sondern nur als sittliche, „soziale“ Freiheit. Daher hat Hegel mit seiner Einleitung zur Rechtsphilosophie die Stufen der konzeptuellen Genese des freien Willens – welche ihm zufolge den „Boden“ und den „Ausgangspunkt“ (VII, §4) einer Wissenschaft des Rechts bildet – wieder aufgenommen: Freiheit soll nicht nur als Möglichkeit bzw. als negative Freiheit begriffen werden, sondern als eine in sozialen Kontexten „verwirklichte Freiheit“. So bestehen bei der Sittlichkeit die „verwirklichten Verhältnisse der Freiheit“ wie im „Verhältnis [...] der Eltern und Kinder, der Ehegatten, der Bürger der Stadt, des Staats in seiner realisierten Freiheit“ (XIV, 174), die einen objektiven Inhalt des Willens darstellt. Nur mit diesen beiden Vorstellungen lässt sich Hegels Argument besser explizieren: Weil das Subjekt nicht von Natur aus frei ist und weil die Freiheit als „soziale“ zu verstehen ist, widerspricht die Idee einer Bildung des freien Willens nicht dem Begriff der subjektiven Autonomie, sondern drückt im Gegenteil gerade deren Bedingung aus. Daher nimmt Hegel ‒ wie gesagt ‒ in den folgenden Schritten der Einleitung den Leitfaden der von uns vorher betrachteten Stufen der Willensbildung wieder auf. Wie wir bereits gesehen haben, besteht das erste Moment des Willens, wie Hegel in seinen Anmerkungen schreibt, aus einer primären Form von Trieben, zunächst nur „formell“, als „Naturtriebe ‒ Zorn“ (VII, §9, Anm.), einen äußerlichen bestimmten Inhalt setzen zu wollen. Insofern der Wille aber sich selbst will, und zwar sich selbst als einen Gegenstand erfassen will, ermöglicht dies, dass er nicht nur an sich, sondern für sich in seiner Individualität durch einen autonomisierenden Prozess resultiert. Diese Veränderung – für sich zu sein ‒ wird durch die doppelte Bewegung eines „Hinausgehen[s] aus

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sich“ und „Hineinbilden[s] in sich“ ermöglicht,27 welche ‒ wie bereits vorgeschlagen wurde ‒ so betrachtet werden sollte, dass sie die leitende Struktur der Ausbildung des freien Willens durch seine Dezentrierung konstituiert. Hegel wiederholt hier die Auffassung, dass natürlich geprägte „Triebe, Begierden, Neigungen“ und ihnen entsprechende „Bedürfnisse“ (VII, §11) als die ersten Bestimmungen des Willens zu gelten haben. Der Inhalt des Willens beginnt zwar durch die „Vernünftigkeit des Willens“ (VII, §11) zu erscheinen, aber noch nicht in der „Form der Vernünftigkeit“ (VII, §11): Der Wille nimmt seinen eigenen Trieb als seinen Gegenstand an ‒ und damit hängt die Setzung des „Ichs“ durch die Triebe nicht nur von der Natur ab, sondern von dem Subjekt selbst und seinem eigenen Willen.28 Diese Willenssetzung bildet eine erste Stufe der Bestimmung des Selbstbewusstseins. In dieser Tätigkeit der Vermittlung der Triebe durch meinen Willen sieht Hegel den Unterschied zwischen Mensch und Tier: „Triebe, Begierden, Neigungen hat auch das Tier, aber das Tier hat keinen Willen und muß dem Triebe gehorchen, wenn nichts Äußeres es abhält. Der Mensch steht aber als das ganz Unbestimmte über den Trieben und kann sie als die seinigen bestimmen und setzen. Der Trieb ist in der Natur, aber daß ich ihn in dieses Ich setze, hängt von meinem Willen ab, der sich also darauf, daß er in der Natur liegt, nicht berufen kann.“ (VII, §11, Z.)

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27 „Der Mensch, der an sich vernünftig ist, muß sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus sich, aber ebenso durch das Hineinbilden in sich, daß er es auch für sich werde“ (VII, §10, Z.). 28 Nur auf dieser Stufe scheint Harry Frankfurts Unterscheidung zwischen „first“ und „second order volitions“ hilfreich, insofern das Subjekt das „Ich“ als Objekt der Triebe setzt. Auf einer grundlegenden Stufe aber – wie Axel Honneth anmerkt (Honneth 2001:25 ff.) ‒ ist es nicht eine Reflexion über den Willen, sondern der Wille selbst, der einen freien Inhalt verkörpert. 29 Auch in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte bringt Hegel Denken und menschliche Freiheit einander nahe: „Wie nicht das Tier, sondern nur der Mensch denkt, so hat auch nur er und nur, weil er denkend ist, Freiheit“ (XII, 95). Daher unterscheidet die Menschen von den Tieren schon die Möglichkeit, vernünftig zu werden: „So ist die Möglichkeit des Kindes, vernünftig zu werden, ganz etwas anderes, viel höheres als das ausgebildete Tier. Das Tier hat nicht die Möglichkeit, seiner sich bewußt zu werden. Dem Kinde können wir keine Vernünftigkeit zuschreiben; aber der erste Schrei des Kindes ist schon anders als der tierhafte, es ist darin sogleich schon das menschliche Gepräge. Schon in der einfachen Bewegung des Kindes liegt etwas Menschliches“ (VWG, 35). Diesen Prozess

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Hegel begreift die Willkür als „Mitte der Reflexion zwischen dem Willen als bloß durch die natürlichen Triebe bestimmt und dem an und für sich freien Willen“ (VII, §15) oder „de[n] Wille[n] als de[n] Widerspruch“ (VII, §15). Die Begrenztheit des Begriffs vom Willen als Willkür liegt in der Idee begründet, dass er als solche „sich noch nicht selbst zum Inhalte und Zwecke“ (VII, §15) hat, sondern ihre eigenen Triebe und Neigungen als ihren primären Inhalt verkörpert. Für die Willkür ist insofern nur zwischen verschiedenen Inhalt zu wählen, ohne aber Einheit und Freiheit des Ichs darzustellen, welche von diesem Inhalt abhängig bleiben. Weil nicht durch die „Natur meines Willens“ (VII, §15) bestimmt, besteht die vereinseitigte Form der Willkür aus ihrer Abhängigkeit von einem zufälligen Inhalt. Um einem äußeren und zufälligen Inhalt nun aber nicht unterworfen zu bleiben, muss der Wille seine „Natur“ selbst durch eine ihm gemäße Inhaltsbestimmung herausbilden. Der Trieb – wie wir in Bezug auf die „Anthropologie“ bereits gesehen haben ‒ will zuerst in allen Hinsichten befriedigt werden. Das Wollen aber, Neigungen gegeneinander zu befriedigen, führt zu dem, was Hegel „zerstörende [...] Beschränktheit“ (VII, §17, Z.) nennt. Die Lösung für diese widersprüchliche, zerstörende Befriedigung liegt nicht in einem „bloße[n] [...] Unterordnen der Triebe“ unter den Verstand, da dies zu dem führt, was Hegel als „Langweiligkeit allgemeiner Redensart“ (VII, §17, Z.) kritisiert. Dagegen besteht das Allgemeine vielmehr in der Vermittlung verschiedener Triebe in Hinblick auf die „Glückseligkeit“ als dem „Ganzen der Befriedigung“ (VII, §20). Die Glückseligkeit besteht also darin, die Befriedigung in dieser Vermittlung von Neigungen zu finden: Es ist der Übergang der Triebe von ihrer „Rohheit“ (VII, §20) zur Allgemeinheit. Glückseligkeit heißt daher, nicht nur einzelne Triebe befriedigen zu können, sondern zwischen verschiedenen Trieben abzuwägen. In diesem Verhältnis zwischen unmittelbarer Befriedigung von Trieben und einer allgemeinen Befriedigung vor dem Horizont der Glückseligkeit sieht Hegel eine erste Stufe des freien Willens, insofern dieser von einem Besonderen zum einem Allgemeinen erweitert werden kann. Weil der Trieb primär diese allgemeine, aber auch abstrakte und inhaltslose Befriedigung sucht, besteht der Inhalt der Rechtswissenschaft aus der „Reinigung der Triebe“ (VII, §19). Dieser Prozess besteht darin, über „unmittelbare[r] Naturbestimmtheit“ hinauszugehen und den Inhalt des Willens vom „Zufällige[n]“ zu befreien (ebd.). In diesem Bildungsprozess sollen also die Grenzen der Naturform des Willens überschritten werden, der zu einem substantiel-

fasst Hegel als Entzweiung auf: Während „das Tier [sich nicht] entzweit“, „[tut] der Mensch dies; er denkt und hemmt die Triebe“ (VWG, 28).

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len Inhalt formiert werden müssen. Der freie Wille besteht insofern aus dem Resultat der Reinigung der Triebe zu einer geformten Natur, und diesen Reinigungsprozess setzt Hegel sich als Horizont seiner Rechtsphilosophie.30 Der „reflektierende Wille“ besteht einerseits aus Begierden und Trieben – was Hegel „das Sinnliche“ (VII, §21) nennt – und andererseits verbindet sich der Wille mit dem Gedanken der Allgemeinheit. Aufgrund dieser zweiten Seite bilden die durch Gedanken vermittelten Inhalte nicht etwas Äußeres, sondern werden nur in Verbindung mit Begierde und Trieb ausgebildet. Es ist also kein Gegensatz, keine den Trieben gegenüberstehende Vermittlung. Hegel muss daher ein Modell eines innerhalb der Sittlichkeit sich befindlichen moralischen Gehalts ausarbeiten. In der Rekonstruktion von Hegels Kritik an der Moralität haben wir gesehen, dass Hegel gegenüber einer an eine Tugendlehre anschließende Lösung eher skeptisch ist, insofern diese die Gefahr einer bloß „leere[n] Deklamation“ (VII, §150) birgt und damit wieder an die Grenzen der Willkür und „subjektive[n] Belieben“ (ebd.) geraten könnte. Dagegen schlägt Hegel das vor, was er als eine „immanente und konsequente Pflichtlehre“ (VII, §148) versteht, welche in den Verhältnissen der Sittlichkeit selbst verkörpert sein soll. Der Begriff der „Pflicht“ bildet die Vorbereitungsstufe für die Darstellung der sittlichen Verhältnisse, wobei Hegel in seiner Sittlichkeitstheorie die bisher aufgezeigte Auffassung der Ausarbeitung von Trieben und Willkür in engem Zusammenhang mit einer Pflichtlehre ausführt. Während für die Willkür, weil sie sich als „Trieb des Natürlichen“ zeigt, die Pflicht als ihre „Beschränkung“ (VII, §149) gilt, sieht Hegel die Pflicht als eine sich innerhalb sittlicher Verhältnisse abspielende Verkörperung des Inhalts des freien Willens. Als „sittliche“ wird die Pflicht mit „der individuellen Befreiung“ assoziiert: „Das Individuum hat aber in der Pflicht vielmehr seine Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit.“ (VII, §149)

Mit dieser Auffassung von Pflicht – wie hier zu sehen ist – sieht Hegel die individuelle Befreiung als von drei Begrenzungen beschränkt an, die den Leitfaden unserer bisherigen Darstellung ans Licht bringen will: Sie gilt zuerst als 30 „In der Forderung der Reinigung der Triebe“, schließt Hegel, „[sei] das Wahrhafte [...], daß die Triebe als das vernünftige System der Willensbestimmung seien; sie so aus dem Begriffe zu fassen, ist der Inhalt der Wissenschaft des Rechts“ (VII, §19).

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Befreiung vom „bloßen Naturtriebe“ – einem zunächst selbstzentrierten, allmächtigen Selbst; zweitens als eine Befreiung von der „Gedrücktheit“ des moralischen Sollens durch die Unterwerfung der „subjektiven Besonderheit“; und drittens als Befreiung von einer durch Willkür und vereinseitigte negative Modelle der Freiheit nicht zu verwirklichende „unbestimmte [...] Subjektivität“. Insofern wird die Pflicht als „das Gewinnen der affirmativen Freiheit“ (VII, §149, Z.) angesehen.31 Deshalb schließt Hegel: „Die Sittlichkeit [...] ist die Pflicht, das substantielle Recht, die zweite Natur, wie man sie mit Recht genannt hat, denn die erste Natur des Menschen ist sein unmittelbares, tierisches Sein“ (XII, 57). Daher entwickelt Hegel hier eine „ethische Pflichtenlehre“, die er in einer handschriftlichen Bemerkung betont als „[e]thisch – statt moralisch – sittlich“ (VII, §148) bezeichnet. Denn anders als das, was er schon im Kapitel zur Moralität in der Rechtsphilosophie darstellt – und was wir bereits im Kontext der Frankfurter Schriften diskutiert haben – geht es nun nicht mehr um eine „Pflicht um der Pflicht“ willen bzw. einen „leeren Formalismus“, wodurch nämlich „keine immanente Pflichtenlehre möglich [ist]“ (VII, §135). Auch wenn die Tugend den gleichen Inhalt wie die Pflicht enthalten kann, ist die „tugendhafte“ Pflicht nicht anders als diejenige, die in den sittlichen Verhältnissen selbst besteht und sich als soziale Dimension der Pflichten verstehen lässt.32 Dadurch spielt die Tugend in einem schon verwirklichten sittlichen Zustand keine privilegierte Rolle mehr und das Insistieren auf den Tugenden – so sieht es Hegel – ist eigentlich ein Signal noch nicht verwirklichter sittlicher Zustände. Anders als die Tugendlehre und die moralische Pflicht verfolgt Hegel mit einer „immanenten Pflichtenlehre“ die Absicht, die Pflicht vielmehr als eine durch soziale Praktiken und Institutionen verkörperte zu verstehen. Es geht also weder um die Achtung für die moralische Pflicht noch um tugendhafte Handlungen, sondern eher darum, dass dieser Inhalt schon in den Gewohnheiten, Gesetzen und sozialen Praktiken immanent enthalten sein soll. Eine moralische Semantik ist nicht in der Form einer Befolgung des Gesetzes zu sehen, sondern ist innerhalb der sittlichen Sphäre selbst verdünnt. 31 So betont Hegel auch in einer Anmerkung: „Pflichten sind bindende Beziehungen, Verhältnisse zur substantiellen Sittlichkeit – aber diese ist mein Wesen, hat durch mich selbst Dasein – ihr Dasein, d. i. ihr Recht, daß ich sie, ihr Dasein, respektiere, meine Pflicht, - ist auch mein Recht, es ist das Dasein meiner Freiheit“ (VII, §155, Anm). „In der Pflicht“, schreibt Hegel an einer anderen Stelle, „befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit“ (VRP, II, 558). 32 Einen in Anschluss an Hegel aktualisierten Ansatz bietet Honneth 2011, wo dieser normative Gehalt sozialer Erwartungen als „Rollenverpflichtung“ konzipiert wird.

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Auf den ersten Blick kann es überraschen, dass Hegel hier Trieb und Pflicht als mit demselben Inhalt ausgestattet auffasst. In der Tat werden mit dem Begriff der ethischen Pflicht Bildungsprozess, Triebe und Neigungen verbunden, weshalb man schon in der Einleitung liest, dass die Triebe und Pflichten „eine andere Form desselben Inhalts“ (VII, §19) sind. Die Pflicht ist nicht den Trieben entgegensetzt, sondern eine Modifizierung dieser33 – beide können also denselben Inhalt haben, der aber in unterschiedlichen Formen verkörpert wird.34 Pflichten deuten auf diejenigen Formen hin, welche sich zuerst rudimentär in den Trieben ausbilden und sich später als eine sittlich vermittelte Stufe der Verwirklichung des freien Willens darstellen. Im Unterschied zur Darstellung der Vereinseitigungen einerseits des Rechtes als des Grund des subjektiven Willens und andererseits der Moral als abstrakter Vorstellung des Guten sieht Hegel die Sittlichkeit als konkrete Identität zwischen dem subjektiven Willen und dem allgemeinen Guten an (VII, §141). Die Sittlichkeitssphären soll diejenigen Kriterien erfüllen, mit welcher die Verwirklichung des subjektiven Willens als Ausdruck eines allgemeinen Guten gilt. Innerhalb der sittlichen Sphären soll nicht eine äußerliche Übereinkunft des subjektiven Willens mit einem allgemeinen Guten ermöglicht werden, sondern eine sittliche, immanente Formierung von Trieben und Neigungen. Aufgrund dieser Vorstellung beginnt Hegel den in seiner Rechtsphilosophie der Sittlichkeit gewidmeten Teil mit der Behauptung, die Sittlichkeit sei „der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“ (VII, §142). Denn neben der „Verweltlichung“ der Freiheit begreift Hegel das Ziel der Sittlichkeit als einen Prozess der „Naturalisierung“ der Freiheit in der zu durchlaufenden Konstitution des Selbstbewusstseins. Dieser den Sittlichkeitsverhältnissen immanente Prozess lässt sich nach Hegels Modell als Herausbildung einer „zweiten Natur“ verstehen. Weil der freie Wille den Ausgangspunkt seiner Rechtsphilosophie darstellt („[Der] Aus33 „Die Pflichten und Triebe [...] sind verschiedene [...] Formen von de[m]selben Inhalt“ (VII, §150). 34 Dazu schreibt Hegel, dass „[e]ine andere Form desselben Inhalts, der hier in Gestalt von Trieben erscheint, nämlich die von Pflichten, eintreten [wird]“ (VII, §19). Und an einer anderen Stelle heißt es, auch in Bezug auf die Tugenden: „Derselbe Inhalt, welcher die Form von Pflichten und dann von Tugenden annimmt, ist es auch, der die Form von Trieben hat“ (VII, §19, Anm.). „Auch sie haben denselben Inhalt zu ihrer Grundlage; aber weil er in ihnen noch dem unmittelbaren Willen und der natürlichen Empfindung angehört und zur Bestimmung der Sittlichkeit nicht heraufgebildet ist, so haben sie mit dem Inhalte der Pflichten und Tugenden nur den abstrakten Gegenstand gemein [...]“ (VII, §150, Anm.).

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gangspunkt [des Rechtes ist] der Wille, welcher frei ist“ [VII, §4]), unterscheidet er sich etwas von der vorher beschriebenen Rolle der Gewohnheit für die Willensbildung, insofern diese noch eine teilweise „mechanisch“ geprägte erste Stufe des Überganges von der ersten zur zweiten Natur repräsentiert - „[D]ie Gewohnheit [...] als eine zweite Natur“ (VII, §151). Dagegen bezieht sich die in jeder der Sittlichkeitssphären vermittelte Willensbildung nicht auf von Natur geprägte „Willkür“ – wie noch auf der Ebene des „subjektiven Geistes“ –, sondern auf die Konsolidierung eines sittlichen Modells: auf die Sittlichkeit als „das Reich der verwirklichten Freiheit“ (VII, §4).

Dritter Teil

Natur und Institutionen: Zum affektiven Gehalt sozialer Praktiken

6. Willensbildung und Institutionen

Es wurde im Laufe der bislang durchgeführten Rekonstruktion bereits erwähnt, dass der in den Frankfurter Schriften Hegels bearbeitete Begriff der Liebe nach den Jenaer Schriften in Richtung einer umfassenden Sittlichkeitstheorie entwickelt wurde.1 Die in der Frankfurter Zeit skizzierten Begriffe von Begierden und Trieben, Leidenschaften und Gefühlen stellen ebenfalls eine wiederkehrende Grundidee in den späteren Schriften Hegels dar. In der gesamten Rekonstruktion von Hegels Argument wurde betont, dass weder das rechtliche, positive Gesetz noch die Moralität in der Lage sind, den Übergang von „Willkür“ zum „freien Willen“ zu ermöglichen. Diese positiven Gesetze drücken, auch wenn sie eine unerlässliche Rolle spielen, eine Entgegensetzung gegenüber dem Willen aus, insofern sie eher eine zensurierende Kraft darstellen, durch die Triebe und Neigungen verdrängt werden. Einerseits lässt sich am Beispiel des Rechtes eine Inflationierung erkennen: die Tendenz zu einer umfassenden Verrechtlichung der Sittlichkeit und von sozialen Rechten, indem streng prozedurale Mechanismen als die einzige Problemlösungsstrategie suggeriert werden und dadurch andere Formen von Bildungsprozessen verhindern.2 Andererseits ermöglicht die Moralität eine nur begrenzte Herausbildung des Willens. Denn in Hegels Augen war gerade die Kantische Lösung der Fra-

1

Eine exemplarische Interpretation dieses Zusammenhangs bietet Henrich 2010. Nach Henrich entwickelte Hegel das in den Frankfurter Schriften von Hölderlin beeinflusste Thema der Liebe später als eine umfassendere Theorie des Geistes. Auch nach meiner Ansicht lässt sich kein Bruch in der Entwicklung von Hegels System, sondern eher eine begriffliche Veränderung in Hegels späteren Schriften erkennen.

2

Unter den damit verbundenen Konsequenzen lässt sich eine Tendenz zu einer gewissen Strafinflationierung erkennen, ohne Verbesserungen von Bildungsformen in Betracht zu ziehen.

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ge, was die Annahme eines moralischen Gebots vermitteln könnte, problematisch: Auch in den isolierten Fällen, in denen es der Moralität gelungen ist, die Rechtfertigung für das Befolgen der Gesetze zu erzeugen, bildete sich diese nur durch eine Unterwerfung, die einerseits weiterhin einen heteronomen Charakter besitzt und andererseits nur eine begrenzte Willensveränderung ermöglicht. Der Fehler der formellen Moralität in Bezug auf den freien Willen liegt also darin begründet, dass es unter ihren Voraussetzungen keine interne Herausbildung des Willens geben kann, sondern nur eine Verdrängung der Leidenschaften, der Triebe und der Begierde gegenüber dem moralischen Gesetz. Hegel kritisiert die formelle Moralität deshalb auch, da es nicht darum gehe, den Anderen nicht verletzen zu sollen, sondern darum, den Anderen nicht verletzen zu wollen (VII, §187, Z.). Die Ausarbeitung des Willens auf der Ebene der Leidenschaften und Neigungen selbst ist also nicht nur wirksamer, sondern auch autonomisierender: Das Subjekt wird dadurch geneigt, in einer Art zu handeln, auf welche auch die Freiheit anderer geachtet und der Andere als Mensch behandelt wird. Dieser Handlungsgrund wird nicht nur durch die Achtung für ein moralisches Gesetz bereitgestellt, sondern auf der Ebene des Willens selbst hergestellt: Man will auf diese Weise handeln. Daher war Hegel nicht grundsätzlich skeptisch in Hinblick auf den Inhalt der Kantischen Moralität, sondern hielt vor allem deren Formalismus für fragwürdig, weil er dazu führe, die Rolle der sozialen Normen zu unterschätzen und bestimmte Kontexte zu vernachlässigen. Damit führe die Starrheit kalter moralischer Gesetze zu dem, was Axel Honneth eine „Fiktion eines unverbundenen Subjekts“ und eine „selbst- und kontextvergessene Anwendung“3 moralischer Normen nennt, und damit zu einer affektiven Insensibilität, in welcher das Subjekt gar nicht mehr fähig ist, zwischen verschiedenen Kontexten zu differenzieren und ihre partikulären Gehalte zu beurteilen.4 Angesichts der Vermeidung der bisher zusammengefassten einseitigen Momente einer Theorie der Freiheit – nämlich als formelles Recht und formelle Moralität oder als Radikalisierung eines in sich geschlossenen Willens – versucht Hegel, durch die Darlegung der Grundrisse einer Sittlichkeitstheorie die Frage nach dem Inhalt der subjektiven Triebe und Leidenschaften als „frei“ in einem sozialen Kontext zu klären: Eine freie Handlung lässt sich weder auf ein positives Gesetz (abstraktes Recht) noch auf eine moralische Vorschriften 3

Honneth 2011:210. In diesem Kontext bezieht sich Honneth auf das Konzept einer Pathologie der rechtlichen und moralischen Freiheit, die Konsequenzen derjenigen Begrenztheit sind, die Hegel hinsichtlich des Rechts und der Moralität ausmacht.

4

Zu solchen Konflikten zwischen moralischen Urteilen und Kontexten vgl. Williams 1984; Honneth 2011:190 ff.; Honneth/Rössler (Hg.) 2008.

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reduzieren, sondern besteht innerhalb von sittlichen Verhältnissen. Mit diesem Vorschlag betrachtet Hegel die Wirklichkeit des Politischen und die jeweils in der Sittlichkeit sich befindenden institutionalisierten Formen so, dass die Umformulierung der in den Frankfurter Schriften erörterte Rolle der Liebe in Hinblick auf komplexere Sphären sozialer Verhältnisse umfassen kann. Mit der Erklärung, dass Freiheit für Hegel als soziale, sittliche Freiheit zu verstehen ist, wird auf den verschiedenen Stufen der Subjektivitätsentstehung eine allmählich dezentrierte Perspektive entwickelt, welche aber nicht durch die Unterwerfung unter ein Gesetz, sondern auf der Ebene des Willens selbst erreicht wird. Auch wenn Hegels zurückhaltende Position gegenüber dem rechtlichen und moralischen Gesetz entscheidend für die Entfaltung einer Theorie der Sittlichkeit war, stellt er in seiner Rechtsphilosophie die unersetzliche Rolle des Rechts und der Moral für diesen Bildungsprozess heraus. Denn diese Sphären, wenn auch als limitierte Modelle der Freiheit, bestehen zwar aus den notwendigen Bedingungen für die Verwirklichung der Freiheit, die aber nur innerhalb der Sittlichkeit ihr Dasein haben (daher Hegels Darstellung des logischen und ontologischen Vorrangs der Sittlichkeit gegenüber dem „abstrakten Recht“ und der „Moralität“). Die Frage nach der Form der Affekte in Hinblick auf eine Sittlichkeitstheorie hängt davon ab, welche Inhalte sich als sittliche verstehen lassen. Die Idee vernünftiger Institutionen bezieht sich, wie schon erwähnt, nach Hegel auf solche, die in der Lage sind, individuelle Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen. Seitens der Subjekte wird vernünftige agency von ihm als ein nicht bloß willkürlicher, sondern mit einem „allgemeinen“ Inhalt verbundener Wille definiert. Vernünftig – so lässt sich behaupten – sind einerseits die Institutionen, die subjektive Wünsche erfüllen, und andererseits sind es die Subjekte, die aus einer sie beschränkenden Willkür heraustreten5. Hegels Argument hierfür besteht aus 5

Vgl. über die Verbindung von Institutionen und „Vernünftigkeit“ Pippin 2008, insb. Kap 9. Pippin betont hier die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Rationalität. Die in den Institutionen verwirklichte objektive Rationalität hängt von der Teilnahme der Subjekte an der sozialen Praxis ab. Die Institutionen ihrerseits sollen den subjektiven Wille ausdrücken und nur deshalb als „vernünftig“ beschrieben werden können: „An institution could be said to be objectively rational if it possesses a structure that hypothetically rational individuals would (‘subjectively’) will, where such wills are considered abstractly only in terms of their responsiveness to norms that bear on all equally“ (ebd., 248). Nach meinem Vorschlag wird auch den Affekten von Hegel eine ähnliche Rolle zugeschrieben wie die, auf die Pippins Interpretation verweist. Es wird nun in zwei Dimensionen jeweils unterschiedlich verstanden, was mit „vernünftig“ gemeint ist: Was den subjektiven Geist

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einer doppelten Charakterisierung der Verflechtung von Sittlichkeit und Freiheit: Seine Theorie des Sozialen soll zeigen, dass ein institutionalisierter Rahmen die Erfüllung subjektiver Wünsche und Bedürfnisse ermöglicht, die ihrerseits ihrem Gehalt von sittlicher Freiheit abhängen. Hegel wollte daher einerseits den institutionellen Rahmen als Raum der Realisierung der subjektiven Freiheit erfassen, diese aber untrennbar mit jener Präzisierung davon verbinden, wovon diese Vorstellung subjektiver Freiheit ihrerseits abhängt – nämlich von vernünftigen Institutionen. Es ist aber klar, dass Hegel schon die Anzeichen einer Theorie der individuellen Bedürfnisse vor Augen hat, die den Übergang von der Willkür zum freien Willen als Prämisse der vernünftigen Institutionen markiert. Diese Auffassung wird nicht „von oben“ durchgeführt – als eines bloß objektiven Vorrangs eines „Allgemeinen“ oder etwa einer substantialistischen Bedeutung von Sittlichkeit durch eine Verdrängung des subjektiven Willens -, sondern umgekehrt: Weil die individuellen Bedürfnisse nur in einem intersubjektiven Kontext zu befriedigen sind, lässt sich in einem zweiten Schritt der institutionelle Rahmen als Beförderung der sozialen Freiheit verstehen: „Das Recht des Subjekts“, wie Hegel es auffasst, ist es, „in der Handlung seine Befriedigung zu finden“ (VII, §121). Hegels Beharren auf den Begriffen des Triebs, der Leidenschaften und des Interesses zeigt das für seine Sittlichkeitstheorie konstitutive Moment der Individualität, die sich gleichzeitig nur vor dem Hintergrund sozial und institutionell vermittelter Freiheit verwirklicht. Ausgehend von dieser Verflechtung lässt sich der Zusammenhang zwischen subjektiven Leidenschaften und sittlicher Freiheit besser beschreiben: Nicht nur spielen Leidenschaften und Interessen für Hegels Sittlichkeitstheorie eine grundlegende Rolle, sondern sie sind für die Darstellung seines Modells der sittlichen Freiheit sogar unerlässlich, damit die Umformung der Leidenschaften als „Befreiung“ verstanden werden kann. betrifft, kann man den Willen als „vernünftig“ beschreiben, insofern er und sein affektiver Gehalt in einer expressiv dezentrierten Form bestehen; die Institutionen gelten ihrerseits als „vernünftig“, wenn sie die Bedingungen für diese Verwirklichung bereitstellen. An diesen zwei normativen Bedeutungen von „vernünftig“ lässt sich daher auch ein normativ-kritisches Potenzial erkennen: Während einerseits das Subjekt „unvernünftig“ handelt, wenn es sich nur an seinem eigenen in sich geschlossenen, unsittlichen Willen orientiert, sind die Institutionen ihrerseits defizitär, wenn sie noch nicht bzw. nicht mehr in der Lage sind, das Selbstinteresse der Subjekte mit sozialer Freiheit kompatibel zu machen. In diesem Fall darf man im negativen Sinne feststellen, dass die Subjekte berechtigt sind, gegen defizitäre Institutionen Einwände zu erheben.

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Die Vorstellung Hegels ist somit keine der Unterdrückung der Natur, sondern eine über ihren Bildungsprozess, wie sie der Begriff der „zweiten Natur“ gut ausdrückt; denn in diesem Begriff lässt sich ein kognitiver Gehalt aufweisen, mit dem er auf eine Verflechtung von anthropologischen Prämissen und sozialer Theorie abzielt, also auf eine stets institutionelle Verkörperung derjenigen sozialen Praktiken, die die Ausbildung von subjektiven Trieben, Neigungen und Begierden vermitteln. In der Enzyklopädie legt Hegel anhand des Begriffes der Sittlichkeit dar, dass die Aufhebung der Einseitigkeit des Freiheitsmodells in einem „allgemeine[n] vernünftige[n] Wille[n]” (X, §513) liegt, der sowohl in der subjektiven Freiheit als auch in den Sitten verwirklichter Freiheit zu finden ist. Daher schließt Hegel mit einer bedeutsamen umgekehrten Auffassung der Sitten als „die selbstbewußte Freiheit[, die] zur Natur geworden [ist]“ (X, §513). Die Sittlichkeit drückt also einen modifizierten Status der Natur aus, insofern die Sitten das „Ethos“ einer geteilten Rationalität verkörpern – also eine sittlich verwirklichte subjektive Freiheit. Rationalität lässt sich schon in derjenigen Handlungspraxis erkennen, die den normativen Gehalt der etablierten sozialen Praxis verkörpert. Insofern er sich an diesen Praktiken orientiert, neigt sich der Wille den mit den sozialen Sphären verschmolzenen Spuren der Rationalität zu, deren normativer Gehalt durch den Begriff der „Freiheit“ geprägt ist: „Das Recht der Individuen für ihre subjektive Bestimmung zur Freiheit hat darin, daß sie der sittlichen Wirklichkeit angehören, seine Erfüllung, indem die Gewißheit ihrer Freiheit in solcher Objektivität ihre Wahrheit hat und sie im Sittlichen ihr eigenes Wesen, ihre innere Allgemeinheit wirklich besitzen.“ (VII, §153)

Nur mit einer solchen Vorstellung des subjektiven Geistes vor Augen kann Hegel dann auch seine Theorie des objektiven Geists formulieren. Wie wir gesehen haben, verortet Hegel die verschiedenen Stufen der Willensdezentrierung innerhalb der sozialen Vermittlung sittlicher Institutionen, was wir als eine interne „normative Interdependenz“ betrachten können: Weil das Subjekt (der „subjektive“ Geist) nur innerhalb eines „objektiven“ Geistes – also geteilten Normen, Werten und Praktiken – wirklich ist, muss eine Theorie des objektiven Geistes stets auf den Horizont seiner subjektiven Konstitutiertheit hinweisen. In Hinblick auf den Zusammenhang von individuellen Leidenschaften und Interessen einerseits und sittlichen Sphären andererseits lässt sich diejenige

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Struktur aufzeigen, welche Hegel als „sittliche Identität“ (VII, §187) bezeichnet.6 Um Hegels Sittlichkeitstheorie der aktuellen Debatte anzupassen, wird in den folgenden Kapiteln die inhaltliche Bedeutung dieser Sphären genauer betrachtet: Während es bei der Familie um die grundsätzlichen affektiven Verhältnisse, die Rolle der Liebe und die Erziehung geht, werden wir in Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft den Blick auf die ökonomischen Verhältnisse werfen. Der dem Staat gewidmete Teil wird sich nicht nur mit dem Begriff des Patriotismus beschäftigt, sondern auch Hegels Theorie der Öffentlichkeit betrachten. In Hinblick auf die drei von Hegel beschriebenen sittlichen Sphären wollen wir diejenigen Gefühle des individuellen proaktiven Bezugs auf sittliche Verhältnisse anhand des Maßstabs der individuellen „Befreiung“ darstellen. Insofern soll in Bezug auf die Leidenschaften und Gefühle gefragt werden, woraus ihr sozial vermittelter „Raum der Gründe“7 besteht, der einen sittlichen Inhalt verkörpern kann. Wir werden uns im Folgenden der Frage zuwenden, welche Relevanz der von Hegel untersuchte Zusammenhang von menschlicher Natur und Sittlichkeitstheorie für die zeitgenössische politisch-philosophische Debatte hat. Eine häufig diskutierte Frage in der jüngsten Hegel-Forschung bezieht sich auf die schwierige Einpassung der drei von Hegel ausdifferenzierten Sphären der Sittlichkeit – nämlich Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – in den gewöhnlichen gegenwärtigen politisch-philosophischen Begriffsrahmen;8 denn im Laufe von fast 200 Jahren entwickelten sich in Bezug auf die drei von Hegel dargestellten Sphären – Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – nicht nur erheblich neuen Konfigurationen, sondern es fand auch eine inhaltliche Ausdifferenzierung dieser Sphären statt, wodurch der von Hegel in jeder Sphäre spezifizierte Gehalt sich inzwischen verändert hat. So verortet Hegel etwa seine Auslegung des Marktes noch innerhalb der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, obgleich dieser sich später in der politischen Ökonomie in einer selbständigen und facettenreichen Domäne ausdifferenziert hat. Ebenso werden von Hegel die Analysen von „Öffentlichkeit“, „öffentlicher Meinung“, „Frei6

So ähnlich wie diese Bedeutung der sittlichen Identität“ als Zusammenhang von subjektiven und objektiven Dimensionen der Freiheit weist Neuhouser (2000) im Anschluss an Hegel auf den Begriff „praktische Identität“ hin. So auch bezieht sich Erzsébet Rózsas’ Kommentar auf Hegels Begriff von „praktischer Individualität“ (Rózas 2007).

7

Vgl. die von Robert Brandom im Anschluss an Sellars durchgeführte Untersuchung über den „social space of reasons“, in: Brandom 1994, 1995.

8

Vgl. etwa Honneth 2001; Cohen/Arato 1997, insb. Kapitel 2.

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heit der öffentlichen Mitteilung“, „Presse“ und „Pressfreiheit“ nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft assoziiert, sondern von ihm innerhalb der Sphäre des Staates eingeordnet (VII, §270, §§314-319). Wie wir vorschlagen werden, besteht die Umformung des „Triebs nach Anerkennung“ zum freien Willen in einer erweiterten Einbeziehung der Perspektive anderer, in einem Interesse für einen „sittlichen“ Inhalt und in einem Engagement für das öffentliche Gute. Solche „sittlichen“ Gefühle müssen als „objektive“ Seite durch ein angemessenes institutionelles Gewebe geformt werden und sich als „subjektive“ Seite als individuelle Befreiung erfahren. Hierzu wird vorgeschlagen, dass die Gefühle, in der eigenen Individualität geliebt und geehrt zu werden sowie die eigenen Interessen verwirklichen zu können, Voraussetzungen dafür sind, durch die Sittlichkeit dezentrierte Handlungen auszuführen.

7. Sittliche Sphären und Affekte

7.1 D IE F AMILIE UND DIE L IEBE ALS AFFEKTIVE G RUNDFORMEN SITTLICHER V ERHÄLTNISSE Im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat liegt der primäre Ort affektiver intersubjektiver Verhältnisse und individueller Bedürfnisbefriedigung in der Familie, der Hegel sich – anders als die zu seiner Zeit vorherrschende philosophische Debatte – mit einem wichtigen Beitrag widmet. Während zwar im Vergleich zu Hegels Modell der bürgerlichen Familie inzwischen neue sittliche Formen des familiären Zusammenlebens entstanden sind, ist die Aktualität seiner Auffassungen über die in der Familie bestehenden affektiven Verhältnisse und deren spezifischen Beitrag zur Willensbildung für das von unserer Untersuchung verfolgte Ziel nach wie vor zentral;1 denn in der Familie verortet Hegel die ersten Erfahrungen von Willensdezentrierung, wofür die hier statthabenden affektiven Bindungen eine grundlegende Rolle spielen. Weil die familiären Verhältnisse noch grundsätzlich als Empfindungen bestehen, nennt Hegel sie den „natürliche[n] sittliche[n] Geist“ (§157, 306), der sich „als Einheit des Gefühls, der Liebe, dem Zutrauen, Glauben“ ausdrückt: „Die Familie ist nur eine Person; die Mitglieder derselben haben ihre Persönlichkeit (damit das Rechtsverhältnis, wie auch die ferneren partikulären Interessen und Selbstsüchtigkeiten) entweder gegeneinander aufgegeben (die Eltern) oder dieselbe noch nicht erreicht (die Kinder, die zunächst in dem vorhin angeführten Naturzustande sind). Sie sind damit in einer Einheit des Gefühls, der Liebe, dem Zutrauen, Glauben gegeneinander; in der Liebe hat ein Individuum das Bewußtsein seiner in dem Bewußtsein des an-

1

In Bezug auf die Sphären der Familie und affektiven Verhältnisse hat Axel Honneths Interpretation von Hegel einen besonders wichtigen Beitrag geleistet. Vgl. insb. Honneth 1994, Kap. 5; 2011, S. 277 ff.

164 | D IE N ATUR DER SITTLICHKEIT deren, ist sich entäußert, und in dieser gegenseitigen Entäußerung hat es sich (ebensosehr das andere wie sich selbst als mit dem anderen eins) gewonnen.“ (XII, 60)2

Anhand dieser affektiven Erfahrungen weist Hegel die „Erziehung der Kinder“ (VII, §173 ff.) als die der Familie spezifische Art der Willensbildung aus. Diese Erziehung bedeutet zwar die Einschränkung der Willkür und die Bildung des „freien“ Willens, die aber nur durch eine affektive Komponente als solche legitimiert ist; es geht daher bei ihr nicht nur um ein externes zwingenden Gesetz, sondern um eine auf Vertrauen und Respekt basierende Erziehung. Die hier primär beabsichtigte Herausbildung der Willkür hat insofern die Aufgabe, einer nur abstrakten, unmittelbaren Natur des Willens denjenigen Inhalt zu geben, der gleichzeitig die Möglichkeit seiner Befreiung sein soll. In Hinblick auf diese naturalistischen Prämissen nimmt die erste affektive Erfahrung mit dem Bedürfnis einen erweiterten Gehalt an: In dem affektiven Verhältnis und der Erziehung in der Familie lernt das Kind, seine zuerst auf sich selbst zentrierte Perspektive allmählich zu erweitern und die Perspektive anderer einzubeziehen. Wenn Hegel hier neben der „Erziehung“ auf „Zucht“ und „Bestrafungen“ hinweist, zeigt das ausschließlich seine Absicht, damit die „Abschreckung der noch in Natur befangenen Freiheit und Erhebung des Allgemeinen in ihr Bewußtsein und ihren Willen“ (VII, §174) zu ermöglichen. Weil nicht jeder willkürliche Inhalt des Willens befriedigt werden kann, zeigt sich in diesem Moment die erste Stufe der Selbstbeschränkung der Willkür, wobei diese ersten af2

In einer vorherigen Formulierung der Nürnberger Schriften liest man: „Das Familienverhältnis ist die Natureinigkeit von Individuen. Das Band dieser natürlichen Gesellschaft ist Liebe und Vertrauen, das Wissen dieser ursprünglichen Einigkeit und des Handelns im Sinne desselben. Nach ihrer besonderen Bestimmung kommen den Individuen, die diese Gesellschaft ausmachen, besondere Rechte zu; insofern diese aber in der Form von Rechten behauptet würden, so wäre das moralische Band dieser Gesellschaft zerrissen, worin jeder wesentlich aus der Gesinnung der Liebe das erhält, was ihm an sich zukommt“ (IV, §192). Hier weist Hegel auch auf die menschliche Natur als Grund moralischer Verhältnisse hin, welche – anders als die allgemeine Menschenliebe – ein konkretes soziales Verhältnis (wie etwa bei der Freundschaft) für die Begründung moralischer Pflichten voraussetzt: „Das moralische Verhältnis zu anderen überhaupt gründet sich auf die ursprüngliche Identität der menschlichen Natur. Die Pflichten der allgemeinen Menschenliebe bestehen in wohlwollender Gesinnung, in den allgemeinen, wesentlichen Dienstleistungen nach dem Zufall eines Verhältnisses. Moralische Pflichten zu näheren und dauernden Dienstleistungen entspringen aus dem in freiem Willen gegründeten Verhältnis von Bekanntschaft und Freundschaft“ (ebd.).

S ITTLICHE S PHÄREN

UND

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fektiven Erfahrungen entscheidend sind, um die Willkür mit ersten sittlichen Inhalten zu füllen. Das Kind kommt also zu der Erfahrung, dass diese zwanglose Selbstbeschränkung durch die Einbeziehung intersubjektiver Perspektiven die Möglichkeit eröffnet, einen ersten „allgemeinen“ Inhalt zu erfahren. Insofern lässt sich schon hier die Grundidee einer befreienden, emanzipatorischen Bildung erkennen: Während besonders in der Familie die Erziehung durch affektive Verhältnisse geprägt ist, besteht ihr Ziel nicht in sich selbst – also in der Abhängigkeit und bloßen Wiederholung der elterlichen Einwirkung - sondern im Gegenteil in der „Befreiung“ davon und daher im Erreichen einer neuen Stufe des Individualisierungsprozesses. Die Aufgabe der Erziehung ist in diesem Sinne gelungen, wenn die Kinder aus einem zunächst beschränkten Kreis primärer Affekte (ihrer „natürlichen Einheit“) heraustreten und durch diese affektiven Erfahrungen dazu vorbereitet werden, an einem erweiterten Kreis sittlicher Verhältnisse teilzunehmen: „Ihre Erziehung hat die in Rücksicht auf das Familienverhältnis positive Bestimmung, daß die Sittlichkeit in ihnen zur unmittelbaren, noch gegensatzlosen Empfindung gebracht [werde] und das Gemüt darin, als dem Grunde des sittlichen Lebens, in Liebe, Zutrauen und Gehorsam sein erstes Leben gelebt habe, - dann aber die in Rücksicht auf dasselbe Verhältnis negative Bestimmung, die Kinder aus der natürlichen Unmittelbarkeit, in der sie sich ursprünglich befinden, zur Selbständigkeit und freien Persönlichkeit und damit zur Fähigkeit, aus der natürlichen Einheit der Familie zu treten, zu erheben.“ (VII, §175)

Wenn die Familie also einerseits die Erziehung der Kinder ermöglicht, bildet dieser Bildungsprozess andererseits den Übergang von der Familie zur bürgerlichen Gesellschaft: Insofern das Kind lernt, in seine Willensbildung zuerst die anderen Familienangehörigen mit einzubeziehen, kommt es allmählich in die Lage, auch die anderen Mitglieder einer erweiterten sozialen Sphäre anzuerkennen und mit in seine Perspektive einzubeziehen. Daher ist das Gefühl der Teilhabe nicht nur auf den ersten affektiven Kreis begrenzt, sondern wird auf die soziale Sphäre ausgedehnt. Die Erziehung innerhalb der Familie spielt deshalb die Rolle eines Lernprozesses, der es ermöglicht, die Beschränkung der Affekte auf den Kreis der Familie aufzuheben,3 wodurch Hegel „die Erziehung

3

Wir haben vorher gesehen, dass Hegel die Schule als die Sphäre dieses Überganges charakterisiert: Weil diese eine Institution der Willensbildung und intersubjektiven Verhältnisse jenseits der Familie darstellt, ist sie ein wichtiger Ort der Vermittlung für eine erweiterte subjektive Gesinnung.

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der Kinder und die Auflösung der Familie“ (VII, §173 ff.) als zusammengehörig ansieht. Auch wenn die ausgedehnteren sittlichen Sphären vielschichtige Interaktionsformen enthalten, ermöglicht das hier aufkommende Gefühl von sozialer Teilnahme die ersten Erfahrungen von sittlichen Verhältnissen.4 Die späteren, in sozialen Sphären sich abspielenden Gefühle wie etwa Zutrauen und Achtung sind daher von den Grundformen der sich im affektiven Kreis der Familie befindlichen intersubjektiven Verhältnisse abhängig, die Hegel besonders in der Figur der Liebe ausdrückt. Es lässt sich an Hegels Auffassung erkennen, wie die Struktur der Liebe selbst – als proaktives intersubjektives Verhältnis und „einbeziehende“ Perspektive, als „sittliche Liebe“ (VII, §161) – zu anderen sittlichen Sphären erweitert werden kann, die eine von anderen Formen von Gefühlen geprägte soziale Teilnahme beinhaltet. Im Kapitel über die Familie vermischt Hegel seine Auffassung über die romantische Liebe zwischen Geliebten und zwischen Eltern und Kindern. Anders aber als in seinen Frankfurter Schriften, geht es vor allem um sittliche Pflichten, wobei die Eltern sich um ihre Kinder in einer liebevollen und zärtlichen Art kümmern und erziehen sollen. Schon das Format aber, das die primären affektiven Gehalte annehmen, ist nicht a priori gegeben, sondern von einer vorherigen sozialen Grammatik abhängig, wodurch in den von Liebe geprägten Beziehungen sich sozial legitimierte, etablierte sittliche Verhältnisse verkörpern: Die „Gewohnheiten“ der Liebe sind nicht ausschließlich von Natur geprägt, sondern hängen von sozial vermittelten Ausdrucksformen ab. Es geht also nicht um einen apriorischen, von „Natur“ geprägten Gehalt der Liebe; vielmehr sind deren affektive Formen immer schon durch eine soziale Dimension

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Vgl. Honneth 1994:153 ff. In seiner Auffassung formuliert Honneth diesen Übergang wie folgt: „Jedes Liebesverhältnis, ob nun das zwischen Eltern und Kind, der Freundschaft oder der Intimbeziehung, ist dadurch an die individuell unverfügbare Voraussetzung von Sympathie und Anziehung gebunden; über den sozialen Kreis von primären Sozialbeziehungen hinaus läßt es sich, weil positive Gefühle gegenüber anderen Menschen unwillkürliche Regungen sind, nicht beliebig auf eine größere Zahl von Interaktionspartern übertragen. Obwohl der Liebe deswegen stets ein notwendiges Element des moralischen Partikularismus innenwohnen wird, hat Hegel gleichwohl recht daran getan, in ihr den strukturellen Kern aller Sittlichkeit zu vermuten: denn erst jene symbiotisch gespeiste Bindung, die durch wechselseitig gewollte Abgrenzung entsteht, schafft das Maß an individuellem Selbstvertrauen, das für die autonome Teilnahme am öffentlichen Leben die unverzichtbare Basis ist“ (1994:174)

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vermittelt.5 Die anthropologische Prägung solcher zeigt sich also nicht als stark naturalistische – als ein gewisse metaphysische Auffassung über die Natur –, sondern auch Kontext-immanente. Damit wird aber nicht auf deterministische Weise behauptet, dass eine affektive, liebevolle Sorge von Eltern stets sichergestellt wäre, sondern nur, dass politische und juridische Bedingungen erfordert werden, damit sich ein sittlicher Gehalt von affektiven Verhältnissen entwickeln kann. Im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit wurde jeweils der in der Grundstruktur der Liebe ausgedrückte Zusammenhang von Pflichten und Affekten und dem ontogenetischen Prozess der Willensdezentrierung untersucht – die nach Hegels Darstellung der Familie in einer institutionalisierten Gestalt besteht. Es bleibt noch zu zeigen, wie Hegel die geformten Gefühle und Bildungsprozesse in diesem Übergang von der Familie zur Teilnahme an erweiterten sozialen Zusammenhängen betrachtet. Nur durch die Aufhebung der Familie, als „Kreis der Empfindung und natürlichen Liebe“ (XII, 81), wird der sittliche freie Wille ausgebildet, eine in ihrer Objektivität verwirklichte Freiheit. Auf dieser Stufe der Argumentation wird Hegels Unterscheidung zwischen Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat grundsätzlich mit den „subjektiven“ und „objektiven“ Seiten der Freiheit verknüpft, womit eine weitere Stufe des Übergangs von in der Familie vorfindlichen Gefühlen und Leidenschaften zu einem anderen sittlichen Kontext deutlich wird. Die Familie enthält so diese ersten Zustände sittlicher Verhältnisse, deren Gefühle später in den im Staat erweiterten und pluralen Formen herauszufinden sind.

7.2 L EIDENSCHAFTEN UND I NTERESSE : G RUNDFIGUREN ÖKONOMISCHER V ERHÄLTNISSE In seiner klassischen Studie Leidenschaften und Interessen rekonstruiert Albert Hirschman anhand einer materialreichen ideengeschichtlichen Untersuchung die im Diskurs der Moderne sich vollziehenden begrifflichen Veränderungen in der Sphäre der Ökononomie, wobei er belegt, dass „Interesse“ das Grundmotiv

5

Honneth hat bei seiner ersten „Aktualisierung“ des Hegelschen Ansatzes in Kampf um Anerkennung ebenfalls diese Vermittlungsbewegung mit vollzogen: Während in diesem Werk die Liebe noch auf einer quasi ontologischen Ebene verortet wurde, sieht Honneth später (1994, Nachwort) auch in der Liebe eine mit historischem, in der Moderne spezifisch verkörpertem – also wandelbaren – normativen Gehalt ausgestattete Sphäre.

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für die Legitimierung der Entstehung des Kapitalismus bildete.6 Hirschman zeigt, wie der Anfang des kapitalistischen Diskurses nicht durch die Unterdrückung von Leidenschaften charakterisiert war, sondern vielmehr durch das „Prinzip der wechselseitigen Neutralisierung der Leidenschaften“.7 Nach diesem Prinzip – welches die Denktradition von Machiavelli über Bacon und Spinoza bis Hume geprägt hat – kann Leidenschaften nur mit anderen Leidenschaften begegnet werden.8 Daher ist die Grundidee von Hirschmans Untersuchung, dass das Interesse nicht eine den Leidenschaften gegenüberstehende „vernünftige“, kalkulierende Dimension bezeichnet, sondern vielmehr selbst eine stets von Leidenschaften geprägte Bedeutung hat, wodurch die oft beschriebene Dichotomie zwischen Leidenschaften und Interesse in Frage gestellt wird. Hirschman will so zeigen, dass die Entstehung des Interesses als Grundprinzip der Ökonomie von einer Leidenschaftsdimension geprägt war, die in der Lage war, dem entstehenden Kapitalismus eine legitimierende, da motivational anschlussfähige Basis zu verschaffen. Die Idee im Hintergrund besteht darin, dass es legitim wäre, denjenigen Leidenschaften, die als negativ angesehen werden, die Leidenschaft der Geldgier als Strukturprinzip gegenüberzustellen. Das mit dem Gelderwerb verbundene „Interesse“ wurde daher als eine positive, „ruhige Leidenschaft“9 in den legitimierenden Diskurs des Kapitalismus eingebracht, insofern dieses gegenüber anderen Leidenschaften den Vorteil habe, voraussehbar und beständig zu sein, was für den entstehenden, durch den Markt vermittelten Warentausch wichtig sei10 und als eine motivierende und moralisch legitimierte Kraft für das Streben nach Kapitalakkumulation dienen könnte. Diese Auffassung Hirschmans sollte plausibel machen, dass die Idee individueller Befriedigung selbst in einer schwierigen Spannung zur Verfolgung „vernünftigen“ Zweck steht, insofern die zu befriedigenden Bedürfnisse von 6

Hirschman 1987.

7

Ebd., S. 28 ff.

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Ebd., S. 24 ff. Hirschman zitiert etwa Bacons Vorstellung „to set affection against affection and to master one by another“ (Bacon, The advancement of Learning), aus Spinozas Ethik: „An affect cannot be restrained nor removed unless by an opposed and stronger affect“ (Part IV, propos. 7), und: „No affect can be restrained by the true knowledge of good and evil insofar as it is true, but only insofar as it is considered as an affect“ (Part IV, propos. 14), sowie Hume: „Nothing can oppose or retard the impulse of passion but a contrary impulse“ (Treatise, book III, Part II, Section II).

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Ebd., 72 ff.

10 Ebd., 57 ff. Vgl. auch Gunn 1968.

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vielfältigen und auch gewiss „vorrationalen“ Aspekten geprägt sind. Zudem lässt sich die auf den Markt bezogene strategische Rationalität nicht von emotionalen und sozial vermittelten Aspekten trennen.11 Interessen besitzen insofern auch eine emotionale Kraft, die sich an Geldgier orientieren, wodurch die Rechtfertigung der Verfolgung des Eigeninteresses nicht nur rationale, sondern auch emotive Aspekte aufweist. Die Fragilität der mit dem rational-choiceAnsatz operierenden Ansätze besteht vor allem in ihrem begrenzten Erklärungspotenzial (etwa in Bezug auf reale Motivationen zum Profitstreben und deren Begründungen), in ihrer Unfähigkeit also, eine vorherige Grunddifferenzierung derjenigen Faktoren verständlich zu machen, die dahin führen, den Profit als Ziel zu setzen. In dieser konzeptuellen Veränderung im kapitalistischen Diskurs wird die Rolle der Leidenschaft am Gelderwerb nicht nur als ein Mittel, sondern auch ein Zweck an sich angesehen. Die falsche Opposition zwischen Vernunft und Gefühl ist sowohl eine vermeintliche Begründung dafür, das Interesse als einen vernünftigen Grund gegen die Leidenschaften zu setzen, als auch ein Hindernis dafür, die vernünftigen Gründe für das Streben nach Profit als nur begrenzte Erklärung zu erkennen, wodurch dessen grundlegende leidenschaftliche Komponente vernachlässigt wird. Dieses vereinfachte Bild eines viel komplexeren Problems soll vor allem zeigen, dass die ökonomische Bedeutung des Interesses sich nur in Hinblick auf wechselseitige soziale Verhältnisse (als ein „social space of reasons“) einerseits und andererseits in Hinblick auf ihre leidenschaftliche Dimension erklären lässt. Vor diesem Hintergrund wird ein zweites Problem offenkundig: Die interne begriffliche Verschiebung von Leidenschaften und Interesse betraf schon von vornherein nicht nur die Legitimierung des Gelderwerbs, sondern die Verwirklichung selbstsüchtiger Interessen wurde im Grunde genommen mit der Erfüllung wechselseitiger Bedürfnisse vereinbart. Während sich einerseits die Konzeption des Interesses als etwas mit den Leidenschaften untrennbar Verbundenes verteidigen lässt – so dass die Interessen selbst nicht nur als rationale kalkulierende Struktur von ökonomischer Praxis, sondern als eine Umformung der Leidenschaften gelten können –, bleibt nun andererseits unklar, wie ein auf den Markt bezogenes Interesse in Kriterien nicht nur als Realisierung selbstsüchtiger Interessen, sondern als wechselseitige Bedürfnisbefriedigung verstanden werden kann. Zusammen mit der Auffassung einer nicht bloß rationalen strategischen Handlung ist noch in einem zweiten Schritt darzustellen, was für eine Willensbildung bei ökonomischen „agency“ die Verflechtung zwischen Verwirklichung von individuellen Interessen und sozialer Umvertei11 Die strategische Rolle der Gefühle für ökonomische Handlungen diskutiert Frank 1998.

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lung ermöglicht; nicht nur zeigt das Interesse ein leidenschaftliches Motiv, das die Legitimierung des kapitalistischen Handelns zu rechtfertigen versucht, sondern es braucht in einem zweiten Schritt eine Ausbildung derjenigen Interessen, die in einem ersten Moment nur als Sucht nach Befriedigung individueller Bedürfnisse erschienen. Der Bildungsprozess von Interessen besteht – folgen wir Hirschmans Untersuchung – darin, die ökonomische Praxis und die auf den Markt bezogenen Interessen nicht nur als strategische Kalkulationen von Gründen und Zielen zu verstehen, sondern auch als grundlegende Bildung auf der Ebene der Bedürfnisse und Leidenschaften. Wenn die scheinbare Dichotomie zwischen Leidenschaften und Interessen also aufgelöst wird, ist noch zu erklären, wie die Leidenschaften auf Kooperationsverhältnisse hin ausgerichtet werden können. An keiner Stelle aber der kapitalistischen Diskurse ist nun überzeugend zu erklären, wie die Interessen als kooperierende bzw. einbeziehende Leidenschaften herausgebildet werden könnten. Auch wenn sich leidenschaftliche Motive als zentral für das ökonomische Handeln erweisen, bleiben sie zweideutig, wenn sie nicht durch eine vorherige Fragestellung über die Herausbildung von Interessen durch sittliche Praxis erklärt werden. Im Folgenden wird diese Frage so zu beantworten versucht, dass unter Voraussetzung von Hegels Rechtsphilosophie ein spezifischer Bildungsprozess innerhalb der Sphäre der Wirtschaftsverhältnisse nötig wäre, damit die dort relevanten Interessen auch einen Ausdruck des sittlich vermittelten „freien Willens“ bezeichnen könnten, der ja, wie gesehen, beinhaltet, dass die Interessen Anderer nicht erst bei der Befriedigung der eigenen Interessen, also auf rein strategische Weise, sondern schon im Zuge ihrer Entstehung berücksichtigt werden müssen. Die für uns grundlegende Bedeutung von Hegels Ansatz besteht darin, dass bei ihm subjektive Interessen zwar eine zentrale Rolle spielen, dies aber nicht in erster Linie in Gestalt der Befriedigung selbstzentrierter Interessen, sondern vielmehr als Gefühl der wechselseitigen Abhängigkeit meiner Befriedigung und der Befriedigung anderer. Weil das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft aber noch an einer selbstsüchtigen Perspektive orientiert ist, werden die Stufen eines Lernprozesses notwendig.12 Ohne diesen Prozess kann das Verfolgen individueller Zwecke nicht zugleich eine Förderung des Gemeinwohls mit sich bringen. Daher setzt das Verständnis ökonomischer Rationalität die Erläuterung des Gehalts

12 So sieht Hegel die hier schwierige Dialektik ablaufen: „Meinen Zweck befördernd, befördere ich das Allgemeine, und dieses befördert wiederum meinen Zweck“ (§184, Z.).

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von sittlichen Praxis voraus.13 Die Neigung zum Markthandeln besteht nach Hegel also nicht in einer Leidenschaft, die sich über eine andere erhoben hat, sondern in einer, die gerade auf und durch den Markt die Form eines Interesses angenommen hat, das heißt einen spezifischen Bildungsprozess durchlaufen hat. Wie die hier dargelegte Deutung der Rechtsphilosophie vorschlägt, erfolgt in jeder sittlichen Sphäre, so auch in der der ökonomischen Verhältnisse, eine spezifische Herausbildung des Willens, dessen jeweilige Art der Bedürftigkeit erst durch die Teilnahme an Sozialisationsprozessen zu erfüllen ist. „Interesse“ lässt sich unter dieser Perspektive deshalb nicht nur als ein anderer Begriff für „Bedürfnis“ verstehen, sondern als ein präfiguriertes Bedürfnis, nämlich ein auf den Markt bezogenes.14 Dies ergibt sich als Ergebnis eines nach Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft durchgeführten Lernprozesses, hinter dem genau die Idee steht, die Hirschman formuliert: Leidenschaften werden durch den Sozialisationsprozess in Interessen umgestaltet, die sich nüchtern auf dem Markt vertreten lassen. Insofern lässt sich Hegels Beitrag zur Auffassung vom Kampf der Leidenschaften gegen andere Leidenschaft in seiner Feststellung sehen, dass die Leidenschaften mit einem „bestimmten“ Gehalt verknüpft werden können, der sich erst durch seine Art der Entwicklung als vernünftiger begreifen lässt. Die Verfolgung von Eigeninteressen kann dann als vernünftig bezeichnet werden, wenn sie eine Verwirklichung sittlicher Freiheit darstellt. 7.2.1 Zur Herausbildung kooperierender Interessen Verschiedene Interpretationen der Verortung der Ökonomie in Hegels System sehen sich als erstes mit der Schwierigkeit konfrontiert, Hegels Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft zu kontextualisieren.15 Gewiss bezieht sich die aktu13 Vgl. Walton (1984). Der Autor behauptet, dass das Argument der Verwirklichung subjektiver Freiheit in der sittliche Sphäre „[has] important implications for Hegel´s theory of rational economic activity. The application of empirical and analytical criteria in respect of the determination of means to ends is rejected as sufficient condition of rationality. Economic rationality is, rather, dependent upon the clarification of the norms and values of ethical life. A coherent ethical life is thus condition of economic rationality“ (ebd., 250). Vgl. auch – allerdings innerhalb eines anderen konzeptuellen Rahmens - Sen 2002. 14 Honneth (2001) betrachtet „Interesse“ als einen besseren Begriff für das, was Hegel in der bürgerlichen Gesellschaft als „Bedürfnis“ bezeichnet. 15 Für hilfreiche Gesamtdarstellungen von Hegels Theorie der Ökonomie vgl. unter anderem Chamley 1963, 1965; Avineri 1972; Riedel 1970. Cohen/Arato (1992) ha-

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elle Debatte um die bürgerliche Gesellschaft nicht grundsätzlich auf Marktverhältnisse, die eine Anpassung an Hegels ursprüngliche Auffassung erfordern würde. Insofern entstehen in Hinblick auf Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zwei interpretatorische Grundlinien: Während Hegel einerseits seine Auffassung von Öffentlichkeit, demokratischer Willensbildung und den Raum von Konflikten und öffentlichen Debatten in der Sphäre des Staates verortet hat, finden die ökonomischen Verhältnisse ihm zufolge in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ihren Ort, die sich später aber durch neue Konfigurationen stärker als zu seiner Zeit ausdifferenziert hat.16 Es ist allerdings symptomatisch und besitzt aktuelle Relevanz, dass Hegel die bürgerliche Gesellschaft und den Markt nicht voneinander entkoppelt hat. Es war ihm wohl bewusst, dass der Markt nicht als eine autonome Sphäre zu verstehen ist, sondern innerhalb sittlicher Beziehungen steht und als neue Stufe des Individualisierungsprozesses begriffen werden kann; denn auch hinsichtlich der Marktverhältnisse sollen die Akteure lernen, wie sie von einem willkürlichen zu einem kooperativen Willen gelangen. Nur insofern der Markt im Sinne Hegels innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verortet wird, kann er seine spezifische Bildungsfunktion ausüben. Insbesondere durch die Lektüre von Adam Smith erfasst Hegel die bürgerliche Gesellschaft als eine notwendige Sphäre der Individualisierung, die neue Formen von Bedürfnisbefriedigungen ermöglicht: In der bürgerlichen Gesellschaft sind die Individuen durch „das Band des gegenseitigen Bedürfnisses“ (§33, Z.) verbunden, dessen Befriedigung nur sozial vermittelt möglich ist. Hegel war sich sicher – was der Hinweis auf „Smith, Say und Ricardo“ zeigt (§189) –, dass die Realisierung einer allgemeinen Bedürfnisbefriedigung durch das Selbstinteresse vermittelt sein sollte. Daher findet Hegel die Studien der früheren britischen „Staatsökonomie“ fruchtbar, insofern sie anstrebten, „zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze [zu] finde[n]“ (§189). Mit den briben Hegel als einen bahnbrechenden Denker der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt, insofern er diese nicht nur als Sphäre der Verwirklichung von Eigeninteressen angesehen hat, sondern auch als eine von moralischen Verhältnissen geprägte Sphäre der Solidarität und des sozialen Wohlstands. 16 In diesem Sinne entwickelt Honneth noch in Kampf um Anerkennung die Aktualisierung von Hegels Auffassung über die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, während in seiner jüngsten Monografie Das Recht der Freiheit diese Sphäre genuin als „Markt“ entwickelt wird. Unter der umfassenden Literatur zu Gesamtüberblicken über Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft sind für meine Auffassung besonders instruktiv: Pelczynski (Hg.) 1984, darin insb. Walton 1984; Horstmann 1997; Riedel (Hg.) 1975.

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tischen ökonomischen Theorien im Hintergrund kommt Hegel außerdem zu der Behauptung, dass ein „Allgemeines“ die Voraussetzung für die Verwirklichung von privaten Interessen und Zwecken ist, so dass in der bürgerlichen Gesellschaft zwar Verhältnisse zwischen privaten Zwecken bestehen, aber dabei „durch das Allgemeine vermittelt“ (§187) sind. Es ist allerdings umstritten, inwiefern Hegel mit Adam Smith einen eher optimistischen Glauben an den organischen, selbstregulierenden Charakter des Marktes teilt, durch welchen die Befriedigung von Eigeninteressen zu einer allgemeinen Befriedigung führt.17 Mit seiner Auffassung von der „Vernünftigkeit“ ökonomischer Verhältnisse war Hegel zwar überzeugt – und daher tendenziell mit dem freien Markt und der These von der „invisible hand“ übereinstimmend –, dass in der bürgerlichen Gesellschaft das Bestreben nach Erfüllung von Eigeninteressen zur Befriedigung der Allgemeinheit führt;18 andererseits aber lässt sich von Hegels Prämissen ausgehend auch behaupten, dass von der einzigen These der Realisierung des Eigeninteresses ausgehend es zur Destabilisierung wechselseitiger Befriedung führen könnte, wenn die Teilnahme an der sozial vermittelten Sphäre der Arbeit und des Marktes von dem Modell des „freien Willens“ abweicht. Hegel nimmt eine Interdependenz von subjektiven Pflichten gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und den durch sie ermöglichten individuellen Rechtsschutz an – „Die bürgerliche Gesellschaft muß ihr Mitglied schützen, seine Rechte verteidigen, so wie der Einzelne den Rechten der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet ist“ (§238, Z.). Mit dieser besonderen Art von sozialen Grundlagen und dem Schutz der Individualität verkörpert die bürgerliche Gesellschaft nun die primäre, zunächst nur durch die Familie übernommene Erziehungsrolle. Weil aber die Familie nicht in der Lage ist, Bedürfnisse jenseits der „natürlichen“ (wie die nach Liebe und affektiver Zuwendung) zu be17 Vgl. zu dieser Diskussion Herzog 2013, Honneth 2011, Riedel (Hg.) 1975. 18 Allerdings orientiert sich Hegel strukturell gesehen in Richtung einer stärker regulierenden Rolle des Staates. Zudem weist Hegel auf eine notwendige Regulierung nicht nur durch den Staat selbst hin, sondern betont die diesbezügliche Bedeutung der sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft befindenden regulierenden Mechanismen, wie etwa die der „Rechtspflege“ und der „Polizei“ in ihrer für ihn spezifischen Bedeutung. Die umfassende Diskussion zum Verhältnis zwischen Staat und Markt einerseits und den mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundenen, regulatorischen Institutionen andererseits werden wir hier nicht vertiefen, da unser hier verfolgtes Ziel ist, den innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft selbst ablaufenden Lernprozess zu betonen. Zum Anschluss an Hegels Debatte um das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat vgl. Riedel 1970, 1975.

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friedigen, sieht Hegel die bürgerliche Gesellschaft zwar auch als ein „System der Bedürfnisse“ an, jetzt aber nicht mehr als eines der natürlichen, sondern pluraler Bedürfnisse, die innerhalb der Gesellschaft wechselseitig zu befriedigen sind. Mit der Idee eines „Systems der Bedürfnisse“ zeigt Hegel, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft um einen besonderen Typus von individuellen Bedürfnissen geht, die nur durch Arbeitsteilung und Marktverhältnisse befriedigt werden können. Wenn die Familie die Befriedigung von „unmittelbaren“, von Natur geprägten Bedürfnissen ermöglicht, „[reißt] die bürgerliche Gesellschaft [...] das Individuum aus diesem Bande heraus, entfremdet dessen Glieder einander und anerkennt sie als selbständige Personen; sie substituiert ferner statt der äußeren unorganischen Natur und des väterlichen Bodens, in welchem der Einzelne seine Subsistenz hatte, den ihrigen und unterwirft das Bestehen der ganzen Familie selbst, der Abhängigkeit von ihr, der Zufälligkeit. So ist das Individuum Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden, die ebensosehr Ansprüche an ihn, als er Rechte auf sie hat.“ (§238)

Die Bürger können sich dadurch als autonome Personen betrachten, die eine Vielfalt von Bedürfnissen haben. Das Subjekt, das in der Familie einen noch teilweise natürlichen, selbstzentrierten Wille manifestiert, erfährt darum in der bürgerlichen Gesellschaft eine erweitere und notwendige Stufe für die Realisierung eines „freien Willens“, der sich nur innerhalb dieses erweiterten Verhältnisses als „frei“ realisieren lässt – also weder einen negativen noch einen „zufälligen“ und limitierten Inhalt hat. Nach Hegel lässt sich in der bürgerlichen Gesellschaft kein Abbruch der Konstitution des freien Willens sehen, sondern vielmehr eine zentrale Sphäre der Formierung praktischer Individualität, die mit einer aktiven Form von sozialer Partizipation verbunden ist, in der sich subjektive Interessen als permanenter Ausdruck der Individualität in einem sozial erweiterten Rahmen verwirklichen lassen.19 In diesem Sinne hat Hegel die bürgerliche Gesellschaft als den Platz begriffen, an dem „das Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit“ (§185) sich ausdrückt. Mit diesem Bild an der Hand lässt sich zu folgendem Modell fortschreiten: Das Subjekt erreicht seine Befriedigung in der bürgerlichen Gesellschaft, insofern es einerseits in seiner Tätigkeit sich selbst erkennen lässt und andererseits 19 Insofern findet in der bürgerlichen Gesellschaft der Prozess statt, „die Einzelheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürfnisse zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden“ (§187).

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seine Interessen verwirklichen kann, welche aber – im Unterschied zu einem utilitaristischen Ansatz – innerhalb der vorher dargestellten Struktur des „freien Willens“ und seinem Bildungsprozess auszudrücken sind. Wie wir bei der Rekonstruktion des Abschnitts über den „subjektiven Geist“ in der Enzyklopädie gesehen haben, wird der Begriff des „freien Willens“ nicht nur als ein altruistisches Modell verstanden, sondern eher als die Realisierbarkeit individueller Befriedigung durch das Muster sittlicher Freiheit.20 Es wird nun verstehbar, dass die Bürger im „gesellschaftlichen Bedürfnisse“ – im Unterschied zur „Naturnotwendigkeit des Bedürfnisses“ – vielmehr eine neue Stufe der „Befreiung“ (§194) erfahren. Es ist aber nur dadurch zu behaupten, dass das Subjekt eine legitime Expression einer einbeziehenden Perspektive verwirklicht, insofern der auf den Markt bezogene Wille als „frei“ verstanden wird.21 Insofern erfasst Hegel die „Sphäre“ der „Wechselbeziehung der Bedürfnisse und der Arbeit“ als einen Prozess der „Bildung“ (§209).22 Mit der durch Arbeit und Markt ermöglichten Bildung entsteht das, was Hegel „Hemmung der Begierde“ nennt, da in der bürgerlichen Gesellschaft nicht bloß die von Natur geprägte Begierde befriedigt wird, sondern der freie Wille.23 Dementsprechend erfasst Hegel den sich hier vollziehenden Bildungsprozess wie folgt: „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen 20 So betont Hegel an einer anderen Stelle die Wichtigkeit individueller Befriedigung: „Es geschieht daher nichts, wird nichts vollbracht, ohne daß die Individuen, die dabei tätig sind, auch sich befriedigen; sie sind partikulare Menschen, das heißt, sie haben besondere, ihnen eigentümliche Bedürfnisse, Triebe, Interessen überhaupt“ (XII, 37). 21 Zum Markt als Sphäre der Verwirklichung der „sozialen Freiheit“ vgl. Honneth 2001, Teil C, Kap. III.2. 22 „Das Relative der Wechselbeziehung der Bedürfnisse und der Arbeit für sie hat zunächst seine Reflexion in sich, überhaupt in der unendlichen Persönlichkeit, dem (abstrakten) Rechte. Es ist aber diese Sphäre des Relativen, als Bildung, selbst, welche dem Rechte das Dasein gibt, als allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes zu sein und, vermittelt durch dies Gewußt- und Gewolltsein, Gelten und objektive Wirklichkeit zu haben“ (§209). 23 „In der Vervielfältigung der Bedürfnisse liegt gerade eine Hemmung der Begierde, denn wenn die Menschen vieles gebrauchen, ist der Drang nach einem, dessen sie bedürftig wären, nicht so stark, und es ist ein Zeichen, daß die Not überhaupt nicht so gewaltig ist“ (§191, Z.).

176 | D IE N ATUR DER SITTLICHKEIT unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“ (§187)

Zur Rolle der Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft lassen sich bei Hegel grundsätzlich zwei Prinzipien hinsichtlich der Auffassung der „Person“ finden: Die Person besteht einerseits als „Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür“ und andererseits als „Beziehung auf andere“ (§182), insofern sich ihre Bedürfnisse nur durch andere befriedigen lassen. Die Bildungsfunktion besteht in diesem Kontext schon in der wechselseitigen Abhängigkeit bei der Befriedigung von individuellen Bedürfnissen.24 Und hier, so schreibt Hegel weiter, ist es, wo „die Wellen aller Leidenschaften ausströmen“ (§182, Z.). In dieser Vermittlung mit anderen wird jeder in seiner eigenen Befriedigung durch intersubjektive Verhältnisse geformt,25 in denen – wie nach Smiths Auffassung – sich selbstsüchtige Zwecke auf ein Allgemeines beziehen: „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist.“ (§183)26 24 „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen“ (§182, Z.). 25 In dieser Richtung schreibt Habermas: „Sittlich nennt Hegel einen gesellschaftlichen Zustand, in dem alle Glieder zu ihrem Recht kommen und ihre Bedürfnisse befriedigen” (1966: 355). 26 Und an einer anderen Stelle begreift Hegel die hierin liegende Bedeutung der subjektiven Erfahrung von „Allgemeinheit“ als den Prozess, „de[n] Anderen [zu] richten“ und „ihre Meinung an[zu]nehmen“: „Dadurch, daß ich mich nach dem anderen richten muß, kommt hier die Form der Allgemeinheit herein. Ich erwerbe von anderen die Mittel der Befriedigung und muß demnach ihre Meinung annehmen. Zugleich aber bin ich genötigt, Mittel für die Befriedigung anderer hervorzubringen. Das eine also spielt in das andere und hängt damit zusammen. Alles Partikulare wird insofern ein Gesellschaftliches“ (§192, Z.).

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Diesen Bildungsprozess sieht Hegel als Ort der Vermittlung zwischen individuellem Interesse und Einbeziehung des Interesses anderer besonders in den „Korporationen“ und „Ständen“ verkörpert. Auch wenn diese Begriffe sich inzwischen ihrem Gehalt nach verändert haben, bleiben Hegels Intuitionen hinsichtlich der Korporation und dem Gehalt eines Allgemeinen innerhalb der Pluralität und Zufälligkeit der besonderen Interessen, die konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft27 sind, relevant: Durch die soziale Dimension der Befriedigung subjektiver Bedürfnisse (§192), die Arbeitsteilung (§198) und die Aufteilung der ökonomischen Sphäre in Stände werden die Tätigkeiten von anderen zur Bedingung für die individuellen Befriedigungen (§201). In der „Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um, – in die Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine als dialektische Bewegung, so daß, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuß der Übrigen produziert und erwirbt.“ (§199)

Es ist in den Korporationen, wo die Individuen ihre Individualität und Fähigkeiten „anerkannt“ (§253) finden: „So ist auch anerkannt, daß es [das Mitglied einer Korporation, F.C.] einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gesellschaft ist, angehört und für den uneigennützigeren Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemühungen hat; – es hat so in seinem Stande seine Ehre“ (§253). Und nur in den Korporationen – insofern „gesetzlich konstituiert und anerkannt“- bildet einerseits die Arbeit einen „sittlichen Grund“ und andererseits werden Probleme der wirtschaftlichen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaften gemildert: „In der Korporation verliert die Hilfe, welche die Armut empfängt, ihr Zufälliges sowie ihr mit Unrecht Demütigendes und der Reichtum in seiner Pflicht gegen seine Genossenschaft den Hochmut und den Neid, den er, und zwar jenen in seinem Besitzer, diesen in den anderen erregen kann; – die Rechtschaffenheit erhält ihre wahrhafte Anerkennung und Ehre.“ (§253)

In der Verwicklung von „Rechtschaffenheit“, „Ehre“ und „Anerkennung“ lassen sich die Begriffe, die Hegel in der bürgerliche Gesellschaft als Vorausset27 „Indem nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine, das in ihren immanenten Interessen ist, zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tätigkeit macht, so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; dies macht die Bestimmung der Korporation aus“ (§249).

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zung für eine neue Stufe der Individualisierung ansieht, artikulieren. Die durch die Teilnahme an den Ständen und Korporationen durchgeführte Herausbildung des Selbstgefühls als anerkannt und geehrt ermöglicht eine Reorientierung der selbstsüchtigen Werte auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin. Dazu müssen die Individuen durch die Teilnahme an Ständen ihre „Standesehre“ gesichert haben und in dem Stand „anerkannt [...] sein“ (§207): Nur mit dem Gefühl, geehrt und anerkannt zu sein, sind die Individuen auch in der Lage, einerseits ihre besondere Arbeit – die Hegel „praktische Bildung“ (§197) nennt – als einen gesellschaftlichen Beitrag zu sehen und andererseits in diesem „verallgemeinerten“ Prozess ihre Individualität auszudrücken. Diese Artikulation ist also weder gegen die individuelle Befriedigung noch gegen die Interessen gerichtet, sondern besteht darin, in der Befriedigung, im Interesse selbst, dem Allgemeinen nicht zu widersprechen, und das ist nur durch die Bildung, durch den Übergang von der Willkür zum freien Willen möglich. Nur durch die hier durchgeführte Willensbildung lässt sich an der individuellen Befriedigung ein Ausdruck des Allgemeinen aufweisen. Mit der Ausdifferenzierung, die in den Sphären der Arbeit und Korporationen stattfindet, will Hegel die „Natur der Besonderheit“ als „wesentlichen Zweig der Gesellschaft“ (§252) erweisen. Insofern lässt sich in kooperativen Verhältnissen diejenige Logik finden, die Hegel als „Genossenschaft“ bezeichnet, in der sich der „selbstsüchtige Zweck zugleich [...] als allgemeine[r]“ (§251) zeigt. Die Individuen sind gleichzeitig auch in ihrem Interesse gesichert, so soll die Arbeitssphäre auch die „Sorge“ und „Bildung“ (§252) um die Mitgliedern tragen, wobei die Genossenschaft und die kooperativen Verhältnisse die Gestalt einer „zweiten Familie“ annehmen (ebd.), welche die selbstsüchtige Tätigkeit der Individuen zur Befriedigung eines allgemeinen Interesses hin ausbildet. 7.2.2 Partizipationsgefühl, Kontingenz und institutionalisierte Solidarität Freilich ist es – besonders in Hinblick auf den Konsum – die Möglichkeit der Erfüllung individueller Präferenzen, welche aber nicht als Befriedigung „gemeinsamer“ Interessen zu sehen ist, sondern vor allem als Ausdifferenzierung der Individualität.28 Hegel sieht solche Phänomen des Konsums als eine Spannung zwischen „Nachahmung“ und „Besonderheit“ (§193): Wenn einerseits das Allgemeine sich so manifestiert, dass es sich nach den anderen richtet, so etwa bei der „Art der Kleidung“ (§192, Z.), geht es andererseits, wie wir bei

28 Vgl. Honneth 2011:360 ff.

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der Rolle der Triebe und Leidenschaften gesehen haben, beim Streben nach Besonderheit darum, „sich durch eine Auszeichnung geltend zu machen“ (§193).29 Diese „Partikularitätstriebe“ sieht Hegel auch als „Quelle der Vervielfältigung der Bedürfnisse“ (§193). Es ist durch diese Vervielfältigung – insofern diese „keine Grenzen hat“ (§195) –, dass sie auch extreme Formen wie die des „Luxus“ (ebd.) annehmen kann. Wenn einerseits also das hier betrachtete Interesse nicht mehr natürliche, sondern „gesellschaftliche Bedürfnisse“ als Medium für die Realisierung der Besonderheit darstellt, können sie andererseits zur „unendliche[n] Vermehrung der Abhängigkeit und Not“ (ebd.) führen. Wie beim Luxuskonsum nimmt sie „abstrakte“ und radikalisierte Formen zum Zwecke der oben erwähnten individuellen „Auszeichnung“ (§193) an. So kann auf dem Markt ein verfälschtes, nicht vernünftig geformtes Interesse am Konsum entstehen: Mit der Verhinderung intersubjektiver Kooperationsgefühle und der Erfahrung wechselseitiger Befriedigung bilden sich bei den Akteuren verfälschte Vorstellungen davon, was für sie gut ist und was ihre Bedürfnisse sind, wie etwa beim Luxuskonsum, bis hin zu der Betrachtung des Gelderwerbs als Ziel in sich selbst durch eine gewisse „Fetischisierung“ des Kapitals. In dieser Weise lässt sich nicht nur die Veränderung des Begriffes der Leidenschaft hin zu dem des Interesses erklären, sondern auch die durch den Kapitalismus beeinflusste selektive Veränderung der Gefühle, wobei nicht nur Kriterien der Kapitalakkumulation, sondern auch die von den Akteuren auf dem Markt nachgefragten Konsumgüter, zu Gewohnheiten gewordene Präferenzen und Gefühle wie Liebe und die damit verbundenen Praktiken durch kapitalistisch etablierte Kriterien vermittelt werden.30 Weil in der bürgerlichen Gesellschaft die Individuen keine „natürlichen Erwerbsmittel“ haben (wie Hegel es bei der Familie sieht) und in der Moderne eine privilegierte Vorstellung der Ehre relativiert wurde, muss diese Gesellschaft selbst die Medien für die Subsistenz aller ihrer „Söhne“ (§238) bereithalten, was Hegel als Konsequenz aus der Notwendigkeit eines grundlegenden Schutzes der subjektiven Freiheit versteht, der sich auch auf die durch diese Gesellschaft hervorgebrachten Armen zu erstrecken hat; die bürgerliche Ge29 Zur Diskussion vgl. Frank 1999; Veblen 1949. Dem entspricht auch der von Pierre Bourdieu festgestellte Zusammenhang zwischen Konsum und Streben nach sozialem Status. In diesem Sinne erfasst schon Rousseau mit seinem Begriff von amour de soi einen grundlegenden Trieb der Selbsterhaltung, während der soziale Status eher die Struktur der amour-propre widerspiegelt. Vgl. dazu Neuhouser 2008. 30 Zu der umfassenden Diskussion des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Gefühlen vgl. jüngst die Studien von Eva Illouz (2003, 2007), die sich der Darstellung der Kommerzialisierung des Gefühls als kapitalistisches Konsumgut widmet.

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sellschaft, so Hegel, „übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen“ (§241). Beim in der bürgerlichen Gesellschaft entstehenden „Pöbel“ (§244) sind diejenigen Gefühle, die sich als konstitutiv für das Verhältnis zwischen Subjekt und Sittlichkeit zeigen, blockiert; daher spricht Hegel über die beim „Pöbel“ stattfindenden „Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“ (ebd.). In diesem Kontext werden einige für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Gefühle dargestellt, wie das „Gefühl [...] ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre“ (§245) und – in einem anderen Sinn – von „Scham und Ehre, der subjektiven Basen der Gesellschaft“ (ebd.).31 Hegel behauptet, dass die in diesen sozialen Kontexten assoziierten Gefühle wegen einer systematischen Exklusion der ökonomischen Gewinne auch blockiert werden können, wodurch die Individuen ihre Tätigkeit nicht mehr als ehrenvoll erleben können. So etwa nennt Hegel die mit der Not verbundene „Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten“ (§243). Mit diesen Hinweisen lässt sich diejenige Gefühlsdimension erkennen, deren normative Rolle Hegel für seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft in Anschlag bringt. Andererseits kann das Scheitern ihrer konstitutiven Rolle Gefühle wie „Empörung“ verursachen. So sieht man diese Dimension in einem Zusatz von Hegels Text, besonders in dem Grundbegriff der Gesinnung, der als Unterscheidungskriterium zwischen bloßer materieller Armut und „Pöbel“ fungiert.32 Diese interpretativen Überlegungen scheinen nahe zu legen, dass der jüngst in der Literatur wieder aufgenommene Begriff der Solidarität nach Hegels Prämissen einer auf den Markt und die Arbeit bezogene, dezentrierte Form von Interesse ähnelt; denn unter der Prämisse einer Verwirklichung des individuellen Willens als frei – durch sittliche Dezentrierung – ergibt sich die Vorstellung, dass die Tätigkeit dem anderen nicht nur objektive Voraussetzung für die Befriedigung seiner Bedürfnisse und Selbstinteressen ist, sondern die Akteure sich tatsächlich subjektiv motiviert und mitverantwortlich dafür fühlen, sich für die Befriedigung der Bedürftigkeit anderer zu engagieren.33 Dies veranschau31 Es ist bemerkenswert, dass Hegel nur hier auf die Scham hinweist, auch wenn eine ausführliche Diskussion über die Scham kohärent mit seiner Argumentation scheint. 32 „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ (§244) Vgl. zum Thema des „Pöbels“ bei Hegel Ruda 2011. 33 Der von Axel Honneth im Anschluss an Durkheim entwickelte Solidaritätsbegriff umfasst alternativ dazu ein nicht nur mit moralischen Gründen zu rechtfertigendes

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licht, dass das Solidaritätsgefühl nicht nur eine Wirkung auf die Umverteilung von Gütern haben könnte, sondern auch umgekehrt: Je größer die ökonomische Ungleichheit, desto weniger Empathie besteht zwischen den Bürgern, so dass die Umverteilungsbereitschaft (etwa bei der Erhöhung von Steuern) gemindert wird. Dieser Vorstellung zufolge würde eine geringere Ungleichheit auch ein höheres soziales Vertrauen ermöglichen, mit bedeutsamen Konsequenzen in Sachen Umverteilung.34 Hegel meint allerdings, dass die Armut sowohl durch subjektive Abhilfe als auch durch institutionalisierte Mechanismen vermieden werden sollte, wenn nämlich, einerseits, „subjektive Hilfe ebenso in Rücksicht der besonderen Umstände als des Gemüts und der Liebe [erforderlich ist], [...] [hängt] aber diese Hilfe für sich und in ihren Wirkungen von der Zufälligkeit ab, so geht das Streben der Gesellschaft dahin, in der Notdurft und ihrer

Prinzip (wie etwa bei Habermas), sondern weist tatsächliche Gefühle von Partizipation und geteilte Zwecke als wichtige Basis für Solidarität aus. Insofern sieht Honneth die Solidarität als eine „affektive Anteilnahme” (1994:210): „Beziehungen solcher Art sind ‚solidarisch‘ zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken“ (ebd.). Und weiter: „Unter ‚Solidarität‘ lässt sich in einem ersten Vorgriff eine Art von Interaktionsverhältnis verstehen, in dem die Subjekte wechselseitig an ihren unterschiedlichen Lebenswegen Anteil nehmen, weil sie sich untereinander auf symmetrische Weise wertschätzen“ (ebd., 208). Und im Anschluss an Hegels System der Sittlichkeit beschreibt Honneth Solidarität mit der Formulierung eines „emotional aufgeklärten Anerkennungsverhältnis[ses]“ (ebd., 45). Auch jüngst hat Honneth (2011) den Begriff der Solidarität weiterentwickelt, indem er das „Solidaritätsbewusstsein“ (ebd., 327) als ein System der von der Marktwirtschaft vorausgesetzten „nichtkontraktuellen moralischen Regeln“ bezeichnet hat, das zur „harmonischen Integration der wirtschaftlichen Einzelinteressen“ erforderlich ist (ebd., 329). Dieser Gedanke, fährt Honneth fort, „läßt sich in der von Hegel gewählten Sprache auch so ausdrücken, daß die vom Markt vorgenommene Koordinierung von bloß individuellen Nutzenerwägungen dann überhaupt nur gelingen kann, wenn die beteiligten Subjekte sich vorweg nicht nur rechtlich als Vertragspartner, sondern auch moralisch oder sittlich als Mitglieder eines kooperierenden Gemeinwesens anerkannt haben“ (ebd.). Zu Honneths Auffassung über den affektiven Gehalt der Solidarität in der bürgerlichen Gesellschaft im Vergleich zu demjenigen der Liebe vgl. Iorio/Campello 2013. 34 Vgl. dazu Jordahl 2007 und Rothstein/Uslaner 2005.

182 | D IE N ATUR DER SITTLICHKEIT Abhilfe das Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten und jene Hilfe entbehrlicher zu machen.“ (§242)

Hegel weist hiermit darauf hin, dass im Falle der Armut subjektive Gegenmaßnahmen zwar nicht auszuschließen sind, aber wegen deren Prekarität und Zufälligkeit, und um das individuelle „Gemüt“ und die „Mildtätigkeit“ mit Recht beschränken zu können, ein institutionelles Gewebe (eine „allgemeine Weise“) der Abhilfe erforderlich ist.35 Mit der realen Möglichkeit von Fehlern in diesem Prozess hat Hegel auch im Anschluss an die britischen Ökonomen die Notwendigkeit der Steuerung durch den Staat als notwendig hervorgehoben – eine in gewisser Weise „institutionalisierte Solidarität“ –, damit die Berücksichtigung komplexer besonderer Interessen und damit eine gerechte Umverteilung realisiert werden könnte. Weil innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ein nicht zu überwindender Konflikt von Interessen besteht, anerkennt Hegel also die Wichtigkeit von „Abgaben“ (§183, Z.), damit die Fehler dieser Verhältnisse zwischen „Besonderheit und Allgemeinheit“ (§184, Z.) korrigiert werden können. Hegels „Realismus“ besteht insofern darin, dass die Verhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ihm zufolge nicht nur in sich selbst organisch harmonisierend bleiben, sondern zugleich auch als immanent spannungsreich charakterisiert sind. In diesem Sinn wird die bürgerliche Gesellschaft von ihm als „das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“ (§185) gefasst. Neben der Regulierungsrolle des Staates, die oft betont wird, besonders im Zuge von Marx’ Kritik an Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft oder im keynesianischen Sinne einer kritischen Revision des Liberalismus, ist für Hegel besonders wichtig, dass die der bürgerlichen Gesellschaft immanenten Strukturen die Beibehaltung der Selbstinteressen fördern: Nicht nur die staatliche Regulierung des Marktes, sondern die dieser Sphäre immanenten Verhältnisse – 35 „Das Zufällige des Almosens, der Stiftungen, wie des Lampenbrennens bei Heiligenbildern usf., wird ergänzt durch öffentliche Armenanstalten, Krankenhäuser, Straßenbeleuchtung usw. Der Mildtätigkeit bleibt noch genug für sich zu tun übrig, und es ist eine falsche Ansicht, wenn sie der Besonderheit des Gemüts und der Zufälligkeit ihrer Gesinnung und Kenntnis diese Abhilfe der Not allein vorbehalten wissen will und sich durch die verpflichtenden allgemeinen Anordnungen und Gebote verletzt und gekränkt fühlt. Der öffentliche Zustand ist im Gegenteil für um so vollkommener zu achten, je weniger dem Individuum für sich nach seiner besonderen Meinung, in Vergleich mit dem, was auf allgemeine Weise veranstaltet ist, zu tun übrigbleibt“ (§242).

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wie Arbeit, Markt und dessen Institutionen wie die Korporationen – müssten diejenigen Bedingungen erfüllen, die die wechselseitige Befriedigung der teilnehmenden Individuen ermöglichen. Es bleibt nach Hegel immer entscheidend, dass es nun um ein stets konfliktreiches Verhältnis vielfältiger subjektiver Ansprüche auf Befriedigung geht. Die pluralistische Bedeutung individueller Präferenzen, die für die Rolle der subjektiven Autonomie zwar wichtig ist, sollte aber gerechte wechelseitige Befriedigung nicht verhindern. Insofern ist auch die Bildung individueller Interessen und Präferenzen – so Hegels Argument – stets von deren sozialen Kontexten untrennbar; denn nur innerhalb des sozialen und konfliktreichen Charakters der bürgerlichen Gesellschaft kann der Markt entweder die wechselseitigen Bedürfnisse befriedigen oder für seine begrenzte Reichweite bei deren individueller Befriedigung kritisiert werden. Hegel begreift aber das marktbezogene Interesse, die Arbeit und die Organisation der Stände und Korporationen als einen institutionellen Rahmen für die Durchführung des Lernprozesses im Wirtschaftsprozess selbst; wenn das Individuum in diesen sittlichen Sphären die Befriedigung seiner Bedürfnisse bzw. gebildeten Interessen sucht, muss es sich an einer dezentrierten Perspektive orientieren, die für die Erfüllung seines Selbstinteresses unerlässlich ist.36 In der Praxis sittlicher Handlungen lernt das Subjekt, dass nicht nur seine eigenen Interessen und Tätigkeiten, sondern die Tätigkeiten anderer und der durch den Markt ermöglichte Tausch die Realisierung seiner Interessen gewährleisten. Nach diesem Modell wird die Auffassung vom bereits vorgängigen Vorhandensein rationaler Akteure nach der „Prämisse der Autonomie“ für die Bildung individueller Interessen in Frage gestellt. Die Autonomie bildet vielmehr ein erst noch zu erreichendes Ziel, was wiederum – in Hinblick auf Hegels Begriff des freien Willens – vom Inhalt des Interesses abhängt. Da eine vernünftige, instrumentelle Kalkulation nicht immer fähig ist, zwischen diffusen Bedürfnissen abzuwägen, werden die Interessen nicht nur in einem rational kalkulierenden Prozess gebildet, sondern auch durch eine veränderte Form von Trieben und Begierden, deren konstitutive Kraft für die Individualität untrennbar von ihrem leidenschaftlichen, „irrationalen“ Charakter ist. Weil die Interessen stets von diesem Inhalt und von sozial vermittelten Erwartungen, Normen und Anerkennungsverhältnissen abhängen, können sie weder auf vernünftige noch auf einseitig individuelle Interessen reduziert werden; denn mit der individuellen Kalkulation des Interesses sind stets sozial vermittelte Bestätigung und 36 Eine analoge, allerdings primär, naturgeprägte Struktur haben wir bei der Formierung der Begierde gesehen, insofern die Beharrung des Bewusstseins auf seiner Partikularität und die Verneinung eines äußeren Allgemeinen „dialektisch“ zur Affirmierung und Anerkennung dieses Allgemeinen als konkreter Wirklichkeit führt.

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Abweichung von Präferenzen und „Bedürfnissen“ verbunden, wobei auch der mit dem Konsum verbundene „Trieb nach Anerkennung“37 die Unmöglichkeit einer rein vernünftigen Berechnung von Interessen zeigt. Hegel muss aber Kriterien angeben, mit denen defizitäre Modelle von Arbeit und Markt kritisiert werden können. Es lässt sich allerdings ex negativo erkennen, dass diese Sphären nur dann normativ legitimiert sind, wenn sie – nach dem vorher dargestellten Bild des freien Willens – die Selbst- und wechselseitige Anerkennung und individuelle Befriedigung einerseits und die an sittlichen Verhältnissen dezentrierten Interessen andererseits zum Ausdruck bringen können. Auch wenn Hegel in der bürgerlichen Gesellschaft ein gespanntes Verhältnis zur Vorherrschaft der Realisierung selbstsüchtiger Zwecke ausmacht, sieht er diese Sphäre– als „sittlich“– in Verbindung mit der Verwirklichung des freien Willens innerhalb sozialer Verhältnisse. Für diese neue Stufe des Selbstausdrucks von Präferenzen und der Erfüllung von Selbstinteressen – der sich nicht mehr innerhalb der Familie befindlichen primären Bedürfnisse – entwickelt Hegel eine durch vielschichtige institutionelle Gewebe vermittelte Willensbildung, die Handlungsmuster und individuelle Zwecke als sittliche Formen verständlich machen. Die institutionellen Rahmenbedingungen müssen zwar die Garantie einer wechselseitigen Befriedigung sicherstellen, die aber den am Markt und in der Arbeit handelnden Akteuren nicht extern bleibt, sondern sich auf ein begründetes Gefühl der Partizipation gründet.

7.3 L EIDENSCHAFTEN UND S TAAT : D IE POLITISCHE D IMENSION DER G EFÜHLE Das vorherige Kapitel untersuchte den Zusammenhang der innerhalb von Marktverhältnissen auf spezifische Weise geformten Gefühle von Leidenschaften und Interesse in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Es zeigte sich, dass eine Rückkehr zu Hegels Thematisierung des Marktes, welche nicht nur von rein rational kalkulierenden Akteuren ausgeht, sondern an einer Dynamisierung sozialer Verhältnisse durch eine institutionell vermittelte Herausbildung dezentrierter Interessen ausgerichtet ist, zu einer Revision von inzwischen häufig anzutreffenden, aber auch in gewisser Weise obsoleten Aspekten der politischen Ökonomie beitragen könnte. Im Folgenden wird die These vorgeschlagen, dass Hegel hierbei die leidenschaftlichen und vom Gefühl geprägten Motive, deren Bildungsprozesse innerhalb der Öffentlichkeit stattfinden, in

37 Vgl. dazu Neuhouser 2008.

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Bezug auf den Zusammenhang von Bürger und Staat mit dem Begriff des Patriotismus als politische Gesinnung einzufangen versuchte. Dass der umstrittene Begriff des Patriotismus in der Literatur großteils auf skeptische Vorbehalte trifft, kann aus einer Verwechslung zwischen einer deskriptiven Ebene und einer rein normativen Deutung folgen; denn bei vielen Auffassungen herrscht – wie in anderen Bereichen der politischen Philosophie auch – die Tendenz vor, eine Erneuerung des Patriotismus mit Rückgriff auf Kant zu vollziehen – sei es auf die derivativen oder die eher kritischen Varianten seiner Position –, dessen Ansatz einen normativen Begriff des Kosmopolitismus und ein daran anschließendes Modell des Patriotismus enthält. Eine eher zurückhaltende Position wird dadurch oft von diesen Interpretationen präferiert, als ob dem Begriff des Patriotismus schon ein rigider, gewissermaßen riskanter normativer Horizont implizit wäre. Auch hier, wie in anderen Fällen der bisher diskutierten Rolle der Leidenschaften innerhalb der politischen Philosophie, führt diese Reaktion dazu, konzeptuelle und mehr oder weniger „ideale“ Alternativen zu suchen, die aber zu einer Distanzierung von den faktischen – und sicher auch defizitären – sozialen Verhältnissen führen könnten. Überblickt man die jüngste Literatur über den Begriff des Patriotismus, so lassen sich in den letzten Jahrzehnten neue interpretative Varianten erkennen; denn nach einer zuerst zurückhaltenden Positionierung gegenüber diesem Begriff – besonders in der Nachkriegszeit in Westeuropa – wurde ein anderer begrifflicher Rahmen gesucht: Während in Deutschland der später von Habermas im Anschluss an Dolf Sternberger verwendete Begriff des Verfassungspatriotismus entwickelt wurde,38 wechselten sich in den letzten Jahren weitere alternative Interpretationen ab, deren begriffliche Variationen dazu motivieren, den Blick auf Hegels Ansatz zurückzuwenden.39 Der Vorschlag, dem hier nachgegangen werden soll, ist, dass grundsätzlich zwei Aspekte von Hegels Begriff des Patriotismus zu dieser Debatte beitragen können. Eine erster bezieht sich auf die Verwirklichung des subjektiven Willens durch eine jetzt erweiterte, dezentrierte Sphäre des Staates, wobei Hegel zwei Formen des Zusammenhangs von Leidenschaft und Staat unterscheidet: Während eine erste als eine radikalisierte Form, als Fanatismus definiert werden kann, wie im paradigmatischen 38 Einen Überblick dazu gibt Müller 2007; im Unterschied zu Müller hat Axel Honneth auch eine Vorgeschichte des Begriffes des Verfassungspatriotismus im Anschluss an Durkheim dargestellt (Honneth 2011:495 ff.). 39 Unter der umfassenden Literatur habe ich besonders Nussbaum 1996; Miller 1995; Viroli 1995; Macedo 2011 und Rosenfeld 2010 im Blick. Die vorherrschende Debatte über alternative Varianten des Begriffs des Patriotismus ist allerdings grundsätzlich eine nicht direkt an Hegel anschließende.

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Fall des Terreur der Französischen Revolution, besteht eine zweite, institutionalisierte Form des Patriotismus in der politischen Gesinnung: „die Politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt“, wie es bei Hegel heißt (VII, §268). Während das Motiv der Leidenschaften in Bezug auf den Staat zwar die Figur des Fanatismus annehmen kann, wird eine sittliche Variante des Patriotismus als politische Gesinnung verstanden. Mit dieser Deutung soll im Folgenden darauf hingewiesen werden, dass der Patriotismus einerseits affektive und kognitive Dimensionen enthält, die aber andererseits nur als plausible Formen von Fürsorge für das öffentliche Gut eine legitime Variante darstellen. Nach diesem Modell hängt die Legitimität des Patriotismus einerseits faktisch von geteilten Zwecken und andererseits normativ von dem Gefühl von subjektiver Ehre ab ( 7.3.1 ). Wie unser gesamtes Argument in Bezug auf die anderen Sittlichkeitssphären bisher verdeutlichen sollte, erfährt das Subjekt auch durch Partizipation an dieser spezifischen Form des Patriotismus eine weitere, komplexe Stufe der Willensdezentrierung: Während das Subjekt auf einer ersten Stufe primärer sozialer – nämlich familiarer – Verhältnisse seine Bedürfnisse in einer dezentrierten Weise zu erweitern lernt und auf einer zweiten Stufe durch Kooperation und Arbeit die Interessen der Mitbürger miteinbezieht, lernt es jetzt in einem wiederum erweiterten Verhältnis, sich als politischer Akteur zu engagieren. Ein zweiter Beitrag bezieht sich auf eine eher indirekte, in der HegelForschung unkonventionelle Interpretation, nämlich eine nicht nur nationalistische, sondern gewissermaßen staatsunabhängige Deutung des Patriotismusbegriffs).40 Nach diesem Vorschlag wird zuerst die Rolle der Öffentlichkeit für eine spezifische Willensbildung hervorgehoben, die dann zu der normativen Frage führt, ob Hegels Begriff von Patriotismus nicht nur auf das Nationale beschränkt sein, sondern auch in Richtung etwa eines kosmopolitischen Gefühls erweitert werden kann ( 7. 3.2). Mit diesem interpretativen Vorschlag soll im vorliegenden Kapitel Hegels Begriff des Patriotismus als politische Gesinnung herausgearbeitet werden, als ein Zusammenhang von kognitiven und affektiven Dimensionen (welcher sich als „agency“ verstehen lässt) und in dem das Individuum ein aktives Interesse am Politischen und an der Gesellschaft ausbildet. Anders als bei dem bloß kon40 Auch wenn einige Autoren Hegels Begriff des Patriotismus vom Nationalismus unterscheiden (wie es z.B. Avineri tut), argumentieren sie nicht weiter, wie diese indirekte Diskussion ein kosmopolitisches Konzept des nicht staatlich begrenzten politischen Raums mit sich bringen kann. Vgl. Avineri 1962, 1972. Zur Diskussion vgl. jüngst Brooks 2012.

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servativen Typus des Patriotismus steckt in dieser Vorstellung ein kritisches Potenzial, in dem immer ein korrektiver Charakter enthalten ist – insofern dieser Patriotismus nämlich nur zur Sicherstellung der subjektiven Freiheit innerhalb dieser Verhältnisse legitim ist. Wie unser bisher entwickeltes Argument nahelegt, wäre ein Veränderungsprozess in Richtung einer erweiterten, nicht nur nationalistischen Vorstellung von Patriotismus nur dann möglich, wenn dieser weder als formelle Theorie der Institutionen noch bloß als vom vernünftigen Subjekt zu verfolgende Norm konzipiert wäre, sondern mit Rücksicht auf Leidenschaften und die Herausbildung des Willens, die beide durch sittliche Institutionen verkörpert und unterstützt werden müssen. 7.3.1 Patriotismus als politische Gesinnung Hinsichtlich einer Realisierung des subjektiven Willens durch eine jetzt erweiterte, dezentrierte Sphäre des Staates unterscheidet Hegel zwei Formen des Zusammenhangs von Leidenschaft und Staat. Die erste definierte er als eine radikalisierte Figur dieser Leidenschaft, den Fanatismus – wir haben vorher bereits auf Hegels Begriff des Fanatismus als Modell der Radikalisierung des selbstzentrierten Willens hingewiesen. In diesem Zusammenhang erwähnt Hegel emblematisch das Beispiel der Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution nicht nur als Illustration einer Vereinseitigung negativer Freiheit, sondern auch als die einer defizitären Form des Patriotismus. In seinen Vorlesungen über die Rechtsphilosophie assoziiert er die Revolution mit dem Begriff des „massenhafte[n] Patriotismus“ (VRP, 152), der eine Entgegensetzung zur sittlichen, institutionalisierten Freiheit darstellt. „Der massenhafte Patriotismus“, kritisiert Hegel, „hat an sich keine Notwendigkeit, und in ihm sind keine Rechte“ (ebd.). Dadurch lassen sich zwei Seiten des Fanatismus erkennen: einerseits als Zerstörung der Wirklichkeit und andererseits als eine „unvernünftige“ Form des Patriotismus, die diejenigen Institutionen unterstützt, die „abstrakt“ beziehungsweise illegitim sind. Legitim ist also nicht jede Form von Patriotismus, sondern nur diejenigen, die sich auf „vernünftige“ Institutionen beziehen.41 Die Leidenschaften – so Hegels Vorstellung – können sowohl das kritische Potenzial als auch den zerstörerischen Charakter der sittlichen Ordnung verkörpern. Mit diesem doppelten Charakter ist dann aber noch nicht automatisch klar, welche Leidenschaften als „sittliche“ gelten, denn dafür ist ein vorgängiges Urteil über die Gültigkeit oder Rechtfertigung dieser nötig: auch wenn die Leidenschaften einen kognitiven Inhalt umfassen, der die Gefühle in eine be41 Vgl. Moland 2007:514.

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stimmte Richtung orientiert und dadurch auch zu begründeten Handlungen führt, sind sie allerdings noch kein Kriterium für die normative Bedeutung bestimmter sozialer Veränderungen.42 Die Schreckenszeit der Französischen Revolution führte nun zu einem Bruch mit der durch die sittlichen Verhältnisse veränderten Natur, da die damalige Polarisierung der Leidenschaften keinen erneuerten institutionellen Rahmen irgendeiner Art akzeptierte, sondern nur dessen Zerstörung. Dieselben Leidenschaften, die zuerst die Kritik und die Möglichkeit zur Veränderung von defizitären Sittlichkeitsformen eröffnet haben, gerieten so zur Zerstörung aller sittlichen Verhältnisse.43 In Hegels Interpretation der Französischen Revolution zeigt sich ein paradigmatisches Motiv der Veränderungsmöglichkeit sittlicher Institutionen, das aber zugleich die Gefahr einer Radikalisierung von Leidenschaften enthält. Hegels Kritik an dieser Umbruchszeit richtet sich nicht gegen ihren leidenschaftlichen bzw. enthusiastischen Inhalt, sondern gegen ihren von der Sittlichkeit getrennten, zerstörerischen Charakter; es ist also eine Kritik an der Unfähigkeit der Revolution, die sittlichen Institutionen als solche zu erneuern. Als Gegenentwurf zu einer radikalisierten, zerstörerischen bzw. illegitimen Form des leidenschaftlichen Verhältnisses des Individuums zum Staat stellt Hegel einen zweiten, engagierten Typus von Patriotismus als politische Gesinnung dar. Diesen Begriff von Patriotismus entwickelt Hegel nicht mit Rücksicht auf die französischen oder deutschen Erfahrungen, sondern mit Blick auf den englischen Patriotismus, in dem Hegel eine Form öffentlicher Teilhabe der Bürger innerhalb des institutionellen Rahmens sieht. Es gibt demnach eine gemeinsame Wurzel von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und der des Staates: für beide hat er das Modell Englands als eine institutionalisierte Form der Teilnahme des Individuum an sozialen Verhältnissen mit geteilten 42 Diese Auffassung gilt für Hegels Kritik an der Leerheit des kategorischen Imperativs auch: Um die moralische Richtigkeit seiner Handlungen nach dem kantischen Imperativ inhaltlich prüfen zu können, muss man schon im Voraus ein Gefühl dafür haben, ob ein bestimmter Inhalt moralisch gültig ist oder nicht. Denn ein formelles Kriterium kann kaum denjenigen Inhalt wirksam ergänzen, der schon in bestimmten geteilten sozialen Kontexten bestätigt bzw. gerechtfertigt ist. Auch wenn diese Kritik auch innerhalb des moralischen Konstruktivismus anzutreffen ist, sieht man auch in solchen Ansätzen eine gewisse Tendenz dazu, eine vorherige, innerhalb dieser Kontexte bereits gefühlte Gültigkeit moralischer Normen zu unterschätzten. Vgl. III, 292 ff. 43 In einem vorherigen Kapitel wurde gezeigt, wie Hegel diese Spannung, die sich nach ihm bei den von Shakespeare beschriebenen Charakteren paradigmatisch entwickelt, analysiert.

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Zwecken angenommen. Während für seine Theorie des Marktes der Einfluss der britischen Ökonomen James Steuart44 und Adam Smith in Bezug auf ein Modell der Vereinbarkeit der Befriedigung von Selbst- und sozialem Interesse bahnbrechend war, geht es in der Sphäre des Staates darum, die Interessen des Subjekts an einer stabilen Teilnahme an den public affairs – also eine erweiterte Dynamisierung wechselseitiger Befriedigung zwischen subjektiven und sozialen, öffentlichen Interessen – sicherzustellen. Der Begriff des Patriotismus hilft nun zu erklären, wie das Individuum auf einer weiteren Stufe, und zwar innerhalb des Staates, die öffentlich geteilten Zwecke in sein partikulares Interesse miteinbeziehen kann: „Die politische Gesinnung hat wesentlich das Moment, daß die Einzelnen wissen, daß ihr Bestehen wesentlich abhängt vom Allgemeinen. Diese patriotische Gesinnung hat näher die Bestimmung, daß das Individuum weiß, daß die Zwecke seiner Besonderheit nur sein können durch das Allgemeine. In diesem Sinne zeigt sich besonders oft der englische Patriotismus. Die politische Gesinnung ist insofern ein Vermittelndes. Sie hat zu ihrem Inhalt das Besondere, und das Allgemeine erscheint als das feste Band, wodurch die besonderen Sphären bestehen. Durch diese Vermittelung wird aber das Allgemeine selbst zum Zweck. - Der Patriotismus kann nun mehr die Form der Selbstsucht haben, oder es kann dabei mehr um das Allgemeine zu tun sein; überhaupt verschmilzt beides 45

ineinander.“ (VPRHN, 227-8)

An Hegels Präferenz für den Begriff der „Gesinnung“ lässt sich eine doppelte Bedeutung erkennen: Gesinnung bezieht sich einerseits auf ein Gefühl, andererseits aber auch auf eine proaktive Handlung – als Einstellung oder Haltung, die durch eine subjektive „agency“ repräsentiert wird.46 Schon dieser Facettenreichtum des Begriffes der Gesinnung zeigt den komplexen Zusammenhang 44 Vgl. Avineri (1972:4 ff.). Besonders einflussreich war für Hegel James Steuarts An Inquiry into the Principles of Political Economy. 45 An einer anderen Stelle betont Hegel diese Verflechtung zwischen Selbstinteressen und Allgemeinheit: „In dem allgemeinen Willen muß die Besonderheit des individuellen Willens erhalten werden. Dies ist diese reale Vereinigung der Allgemeinheit und [der] Besonderheit. Dies ist auf der einen Seite Patriotismus, und auf der anderen Seite kann man sagen, daß das Individuum seinem Egoismus folgt“ (VRP, 152). 46 Tatsächlich wird Hegels Begriff der politischen Gesinnung auf Englisch sowohl als „political sentiment“ (O´Malley 1987) als auch als „political disposition“ (Moland 2007) übersetzt. Allerdings hat O´Malley den Gebrauch des Begriffs der politischen Gesinnung gleichzeitig mit einer kognitiven Dimension verbunden, so dass sein „political sentiment“ auch als Wissensform verstanden werden kann.

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von subjektivem Gefühl und kognitivem Charakter, der eine engagierte Einstellung motiviert. Aus dieser Definition ergibt sich eine zweiseitige Bewegung: Die politische Gesinnung legitimiert die Institutionen, die aber nur zu legitimieren sind, insofern sie die Selbstinteressen der Individuen schützen. Das mit dem Patriotismus assoziierte Gefühl hat Hegel als eine Form von Vertrauen47 betrachtet: Die Bürger vertrauen auf die Institutionen, insofern sie der Realisierung ihrer Interessen dienen. Somit erscheint es ihnen auch als legitim, diese Institutionen zu unterstützen.48 Nur mit dem Gefühl, dass die Interessen in diesen Institutionen geschützt werden, können die Individuen ihnen vertrauen; es geht um „[…] das Zutrauen, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, womit eben dieser unmittelbar kein anderer für mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin.“ (VII, §268)

Während in der bürgerlichen Gesellschaft eher Selbstinteresse und der moderne Grundwert der Individualität gefördert werden, spielt das Vertrauen in der Sphäre der Familie eine affektive Rolle, die es erlaubt, auch in der späteren sozialen Teilhabe an der Gesellschaft eine Verbindung mit der eigenen Gemeinschaft zu erfahren: Die „atomistische, abstrakte Ansicht“, formuliert Hegel, „verschwindet schon in der Familie wie in der bürgerlichen Gesellschaft, wo der Einzelne nur als Mitglied eines Allgemeinen zur Erscheinung kommt“ (VII, §303). In Hinblick auf den Staat ist Hegel überzeugt, dass das subjektive Vertrauen ein geteiltes Ziel voraussetzt,49 und insofern ist im Staat eine weitere Form von Vertrauen gegeben, welche sich als Erweiterung der zuerst in der Familie vermittelten Erfahrung vom „gemeinsamen Zweck“ zeigt.50 47 Auch wenn Hegel sowohl von „Vertrauen“ als auch von „Zutrauen“ spricht, finde ich in seiner Interpretation keinen bedeutsamen Unterschied zwischen beiden Begriffen. In Hinblick auf den Alltagsgebrauch beziehe ich mich eher auf den Begriff des „Vertrauens“. Eine alternative Interpretation befindet sich in Won 2002. 48 Für eine aktuelle Diskussion des Begriffs des Vertrauens vgl. den Sammelband Hartmann/Offe (Hg.) 2001 und Hartmanns umfassende Untersuchung in Hartmann 2011. 49 „Die Gewißheit desselben, das Bewußtsein, daß die anderen für dieselbe Idee arbeiten, gibt dem einzelnen das Zutrauen. So ist seine Sphäre für ihn gerechtfertigt und erhält das wahre Interesse für ihn“ (VPRW, 270). 50 „Die weiteren Interessen der Bedürfnisse, der äußeren Angelegenheiten des Lebens, wie die Ausbildung innerhalb ihrer selbst, in Ansehung der Kinder, machen einen

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Die Unterscheidung zwischen Vertrauen und „subjektiver Gewissheit“ muss allerdings gewahrt bleiben: Während die subjektive Gewissheit nur eine eben subjektive Erfahrung darstellt, besitzt das Vertrauen andererseits eine „objektive“ Seite durch einen institutionellen Rahmen. Auch wenn die Gesinnung ein grundlegendes Verhältnis des Subjektes zum Staat bezeichnet, müssen die Institutionen ihrerseits den subjektiven und zufälligen Dimensionen der Gesinnung Objektivität verleihen. So sieht Hegel nicht nur das, was er den „Mechanismus des Staates“ nennt, sondern auch die Gesinnung als weitere Dimension des Staates an: „[d]ie lebendige Wirklichkeit des Staates“, schließt Hegel, „ist die Einheit beider“ (VPRW, 270).51 Im Anschluss an Hegels Rekonstruktion der Verbindung von Familie und den anderen Sphären der Sittlichkeit stellt sich hier die Frage danach, inwiefern die Institutionen die affektiven bzw. leidenschaftlichen Zustände adressieren können sollten. Während auf einer ersten Stufe die Affekte für die Rolle der Individualitätskonstitution diskutiert wurden, soll auf der Ebene des Politischen nun die Rolle der Leidenschaften und Gefühle in einer Weise zur Geltung kommen, dass die sittlichen Institutionen als „vernünftig“ beschrieben werden können. Wie die Thematisierung des Zusammenhangs von Leidenschaften und sittlicher Freiheit signalisiert, verdeutlicht Hegels Beharren auf der Bedeutung der Leidenschaften, dass der Staat seine „Wirklichkeit“ erwirbt, insofern er die Bedingungen für die sittliche Willensbildung fördert.52 Hegel zufolge erfahren die Mitglieder der Familie durch ihr affektives Verhältnis zueinander ein „Allgemeines“, das sie erst später – als „nachdenkend gemeinsamen Zweck aus. Der Geist der Familie, die Penaten sind ebenso ein substantielles Wesen als der Geist eines Volkes im Staate, und die Sittlichkeit besteht in beiden in dem Gefühle, dem Bewußtsein und dem Wollen nicht der individuellen Persönlichkeit und Interessen, sondern der allgemeinen aller Glieder derselben.“ (XII, 60) 51 Dieser Aspekt wird auch bei Moland betont: „Hegel clearly does not want to eradicate feeling from moral and political life. Citizens must have an attachment to the state in order to achieve Hegel’s ideal of modern ethical disposition. But that attachment cannot be purely based on sentiment: it must be a response to rational institutions“ (Moland: 2007:515). 52 In diesem Kontext beziehe ich mich indirekt auf die von Jürgen Habermas entworfene Verflechtung von Bildungsprozess und Institutionentheorie. Allerdings findet sich bei Habermas’ Ansatz kein klarer Zusammenhang zwischen Willensbildung und einer Theorie der Institutionen, der den Bildungsprozess der Triebe, Neigungen und Leidenschaften verbinden würde. Vgl. Habermas 1976 und dazu die kritische Darstellung bei Siep 1979 und Honneth/Joas 1980.

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gewordene[s] Bewusstsein“ (VWG, 82) – zum Machen erweiterter Erfahrung befähigt. Nachdem Hegel die Liebe als Grundform der Familie und die in diesen anzutreffenden Gefühlen von Zugehörigkeit und Bedürfnisbefriedigung thematisiert, geht es jetzt um eine Rückkehr zum sittlichen Inhalt der Leidenschaften. „Der subjektive Wille, die Leidenschaft“, so Hegel, „ist das Betätigende, Verwirklichende; die Idee ist das Innere; der Staat ist das vorhandene, wirklich sittliche Leben. Denn er ist die Einheit des allgemeinen, wesentlichen Wollens und des subjektiven, und das ist die Sittlichkeit“ (XII, 56). Im Zuge der Problematisierung des patriarchalischen Zustandes des Staates artikuliert Hegel eine grundlegende Unterscheidung von sittlichen Sphären – und nun vor allem zwischen Familien und Staat -, wobei ein angemessener Begriff des Staates und seiner jeweiligen Rolle als Ort sittlicher Freiheit dargestellt wird. 53 Auf diese Art verdeutlicht er, dass die Sphären der Sittlichkeit den familiären affektiven Kreis ergänzen. Auf dieser Stufe erscheint die Unterscheidung zwischen Willkür und Wille wieder bedeutsam. Wie die Beschreibung des Willens im ontogenetischen Argument und auf der ersten Stufe des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem zeigte, sieht Hegel im Staat eine weitere Verortung von Ausübung des subjektiven Willens als Dezentrierung von Einzelnem zum Allgemeinen: 53 Strukturell gesehen bezieht sich der Zusammenhang von Familie und Staat zudem auf Hegels Kritik am patriarchalischen Zustand des Staates: Weil diesem Modell des Staates ein „Übergang“ „der Liebe und des Zutrauens“ zu einem „Zusammenhang […] des Dienstes“ (XII, 60) zu Grunde liegt, sind die an primären Gefühlen orientierten Inhalte der Freiheit nicht richtig voneinander unterschieden. Dadurch ist eine Nicht-Differenzierung zwischen Familie und Staat problematisch: Insofern der Staat als eine Erweiterung des familiären Verhältnisses verstanden wird, könnte er sich gegen gesetzliche Formen erheben, was Hegel als „Form der Theokratie“ (ebd.) angesehen hat, deren Vermeidung eben von der gelingenden Ausdifferenzierung zwischen Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat abhängt. So schreibt Hegel in Bezug auf die theokratische Form des Staates: „Wenn die Familie noch überhaupt nicht von der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staate geschieden ist, so ist auch die Abtrennung der Religion von ihr noch nicht geschehen und um so weniger, als ihre Pietät selbst eine Innerlichkeit des Gefühls ist“ (ebd.). Andererseits, wenn Familie und Staat differenziert sind – so liest man in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte –, dann ist „die Pietät der Familie [...] von dem Staate aufs höchste zu respektieren; durch sie hat er zu seinen Angehörigen solche Individuen, die schon als solche für sich sittlich sind“ (ebd.). In der Familie, schließt Hegel, befindet sich „die für den Staat die gediegene Grundlage, sich als eins mit einem Ganzen zu empfinden“ (ebd.).

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„Aber der subjektive Wille hat auch ein substantielles Leben, eine Wirklichkeit, in der er sich im wesentlichen bewegt und das Wesentliche selbst zum Zwecke seines Daseins hat. Dieses Wesentliche ist selbst die Vereinigung des subjektiven und des vernünftigen Willens: es ist das sittliche Ganze - der Staat, welcher die Wirklichkeit ist, worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist. Doch ist dies nicht so zu nehmen, als ob der subjektive Wille des Einzelnen zu seiner Ausführung und seinem Genusse durch den allgemeinen Willen käme und dieser ein Mittel für ihn wäre, als ob das Subjekt neben den andern Subjekten seine Freiheit so beschränkte, daß diese gemeinsame Beschränkung, das Genieren aller gegeneinander, jedem einen kleinen Platz ließe, worin er sich ergehen könne; vielmehr sind Recht, Sittlichkeit, Staat, und nur sie, die positive Wirklichkeit und Befriedigung der Freiheit.“ (XII, 55 f.)

Dass Hegel in diesem Kontext wieder auf das Zutrauen und die Empfindung hinweist, ist dem institutionellen Rahmen geschuldet, worin subjektive Gesinnungen ausgebildet werden.54 Hegels Grundthese über den Staat als Ort der Freiheit ist nur legitim, insofern er die Verwirklichung von „Privatinteressen“ ermöglicht: „Der Staat“, so fasst es Hegel, „[ist] wohlbestellt und kraftvoll in sich selbst [...], wenn mit seinem allgemeinen Zwecke das Privatinteresse der Bürger vereinigt, eins in dem andern seine Befriedigung und Verwirklichung findet - ein für sich höchst wichtiger Satz“ (XII, 39). Hier wird also den Staat als Ort angesehen, wo „die Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt“ (XII, 57). Dennoch hat Hegel nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch den Staat als stets von konfliktreichen Verhältnissen geprägt verstanden, so dass der Staat als Schauplatz von „Kämpfen“ zur „Vereinigung“ partikularer Interessen dient:

54 Und insofern werden die in dem Staat ausgebildeten Leidenschaften so dargestellt: „Daß aber die Leidenschaftslosigkeit, Rechtlichkeit und Milde des Benehmens Sitte werde, hängt teils mit der direkten sittlichen und Gedankenbildung zusammen, welche dem, was die Erlernung der sogenannten Wissenschaften der Gegenstände dieser Sphären, die erforderliche Geschäftseinübung, die wirkliche Arbeit usf. von Mechanismus und dergleichen in sich hat, das geistige Gleichgewicht hält; teils ist die Größe des Staats ein Hauptmoment, wodurch sowohl das Gewicht von Familien- und anderen Privatverbindungen geschwächt als auch Rache, Haß und andere solche Leidenschaften ohnmächtiger und damit stumpfer werden; in der Beschäftigung mit den in dem großen Staate vorhandenen großen Interessen gehen für sich diese subjektiven Seiten unter und erzeugt sich die Gewohnheit allgemeiner Interessen, Ansichten und Geschäfte“ (VII, §296).

194 | D IE N ATUR DER SITTLICHKEIT „Aber im Staate bedarf es vieler Veranstaltungen, Erfindungen von zweckgemäßen Einrichtungen, und zwar von langen Kämpfen des Verstandes begleitet, bis er zum Bewußtsein bringt, was das Zweckgemäße sei, sowie Kämpfe mit dem partikulären Interesse und den Leidenschaften, einer schweren und langwierigen Zucht derselben, bis jene Vereinigung zustande gebracht wird.“ (XII, 39)

So bezeichnet Hegel „die Sittlichkeit“ als „die Lebendigkeit des Staats in den Individuen“ (XII, 72). „Der Staat“, so liest man an einer anderer Stelle, „ist ein Abstraktum, der seine selbst nur allgemeine Realität in den Bürgern hat“ (XII, 62). Wenn „der Staat die vernünftige und sich objektiv wissende und für sich seiende Freiheit“ ist, heißt dies nicht, dass dieser von den Individuen unabhängig sei, sondern im Gegenteil, er hat sein Ziel – seine „allgemeine Realität“ – in der individuellen Befriedigung. Hegel schreibt auch: „[d]er Staat ist die geistige Idee in der Äußerlichkeit des menschlichen Willens und seiner Freiheit“ (XII, 66). In der Charakterisierung der Individuen als „geistige Naturen“ (VII, §284) sieht Hegel einen „gedoppelte[n] Moment“, wobei sie einerseits als „Einzelheiten“ und anderseits als „Allgemeinheit“ existieren, die „sowohl als Privat- wie als substantielle Personen wirklich sind“ (VII, §264). Und deshalb kann es gelingen - so schließt Hegel in einer Formulierung der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen subjektiver und objektiver Seite, – „daß sie [die Individuen, F.C.] in den Institutionen, als dem an sich seienden Allgemeinen ihrer besonderen Interessen, ihr wesentliches Selbstbewußtsein haben, teils daß sie ihnen ein auf einen allgemeinen Zweck gerichtetes Geschäft und Tätigkeit in der Korporation gewähren.“ (VII, §284)

Die moderne Vorstellung subjektiver Freiheit bildet insofern die Voraussetzung der Legitimität des Staats, insofern dieser nur aufgrund seiner Schutzfunktion hinsichtlich subjektiver Freiheit gerechtfertigt ist. Nur durch ein subjektives positives Gefühl ist der Staat zu legitimieren, was auch das aktive, konkrete Engagement seiner Bürger beinhaltet – „Das Selbstgefühl der Individuen macht seine Wirklichkeit aus“ (VII, §265, Z.). Daher die Behauptung, „der Zweck des Staates sei das Glück der Bürger; [...] ist ihnen nicht wohl, ist ihr subjektiver Zweck nicht befriedigt, finden sie nicht, daß die Vermittlung dieser Befriedigung der Staat als solcher ist, so steht derselbe auf schwachen Füßen“ (VII, §265, Z.). Hegel artikuliert hier einen internen Zusammenhang zwischen politischer Gesinnung als subjektiver Einstellung, die aber in der Verfassung ihr objektives Komplement hat (VII, §267-269). Nur so lässt sich ein legitimer Patriotismus konzipieren; denn „das Geheimnis des Patriotismus

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der Bürger nach dieser Seite [ist], daß sie den Staat als ihre Substanz wissen, weil er ihre besonderen Sphären, deren Berechtigung und Autorität wie deren Wohlfahrt, erhält“ (VII, §289). Wie in der Familie die Möglichkeit der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse und auf dem Markt die des individuellen Interesses besteht, geschieht im Staat die grundlegende Befriedigung des Ehrbedürfnisses, das unter modernen Bedingungen sich zum Patriotismus als ein gemeinsam geteiltes Gefühl für einen als vernünftig begriffenen Staat herausbildet. Patriotismus zeigt sich in diesem Sinne als eine geformte Leidenschaft, die mit dem Ehrenbedürfnis assoziiert wird. So schreibt Hegel: „[D]er Mensch [will] in der modernen Welt in seiner Innerlichkeit geehrt sein“ (VII, §261, Z.). Im Unterschied zur feudal geprägten Vorstellung des Ehrbedürfnisses, das nur innerhalb der einzelnen Stände befriedigt werden konnte, fühlen die Individuen in der Moderne sich nicht mehr dadurch befriedigt, dass sie Mitglieder eines Standes sind, sondern dieses Bedürfnis wird generalisiert und nimmt dadurch die Form des Patriotismus an, dessen Grundgefühl die individuelle Ehre ist. Die Ehre wird also als ein Bedürfnis verstanden, das im Patriotismus eine „vernünftige“ Befriedigung findet. Im Staat ist die Ehre daher nicht mehr nur mit einem bestimmten Stand verknüpft, sondern transformiert sich zum Patriotismus. Auf dieser allgemeineren Stufe eines Dezentrierungsprozesses vollzieht sich das Verhältnis des Subjekts zum Staat durch die politische Partizipation, die ihrerseits nur gerechtfertigt ist, insofern das Subjekt sich als geehrt fühlt.55 Hegels Idee des Patriotismus ist damit einerseits (und eher indirekt) mit politischem Engagement verbunden, mit der Arbeit für das gesellschaftliche Gute, wie wir es auch im Falle der Korporationen gesehen haben,56 und zeigt andererseits die Bedeutung geteilter Interessen sowie der Erfüllungsmöglich55 Vgl. Honneth 1994, Kap 5. Auch hier möchte ich auf eine komplementäre Dimension eines anerkennungstheoretische Ansatzes hinweisen: Während im Staat in Bezug auf eine Typologie der Anerkennungsverhältnisse auf das Gefühl von Ehre hingewiesen wird, lässt sich in Richtung eines deskriptiven Handlungsmusters auf die Auffassung hindeuten, dass ein „vernünftiges“ Verhältnis zwischen Bürger und Staat durch den Patriotismusbegriff als politische Gesinnung übersetzt werden kann. 56 So sagt Hegel – worauf Moland (2007) in seinem Aufsatz verweist – in seiner „Rede zum Schuljahresabschluss“ im Nürnberger Gymnasium: „Patriotismus und das Interesse für gemeinsame Angelegenheiten sich in seiner ganzen Tätigkeit äußert, sowie er eine Veranlassung findet und eine Hoffnung hat, etwas Gutes zu bewirken. Was die neueren Zeitumwälzungen so häufig herbeigeführt haben, Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit und den Verlust des sonst so mächtigen Glaubens, daß der Bürger für das allgemeine Beste auch seines Orts wirksam sein könne“ (IV, 344).

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keit subjektiver Ehre: Nur darum, weil das Individuum in seiner Beteiligung an den Korporationen, durch seine Arbeit und danach durch seine Teilnahme am Staat als generalisierter sozialer Sphäre seine partikularen Interessen und Rechte als gewahrt weiß, ist ein patriotisches Verhältnis zu diesen Institutionen legitim. So schließt Hegel in einer seiner Vorlesungen über die Philosophie des Rechts: „[D]ie Individuen haben nur Pflichten, zu den Korporationen zu halten und sich für sie zu interessieren, insofern sie durch sie Rechte haben. Dies ist besonders in England der Fall, und der Patriotismus nimmt diese Wendung“ (VPRW, 168). Und dafür braucht man eine Interdependenz von Staat und Korporationen, die durch rechtliche Institutionen gesichert ist.57 Im Gegensatz zur Idee eines bloß „massenhafte[n]“ (VRP, 153) Patriotismus wird seine legitime Form von ihm nur in dem Ausdruck der „Besonderung“, durch die „Bildung“ der „besondere[n] Geschicklichkeit“ (ebd.) gesehen. „Diese Bildung ist ein unmittelbar Notwendiges. Wenn die Individuen in ein besonderes Geschäft ihre Geschicklichkeit legen, so müssen sie diesen Stand verteidigen, als den ihrigen ansehen. Der allgemeine Patriotismus wird gebildet dadurch, daß die allgemeine Freiheit durch die Besonderung wird. Der allgemeine Patriotismus muß vorhanden sein, aber durch den esprit de corps werden.“ (VRP, 153)

In diesem Kontext kann auch Hegel Äußerung in Bezug auf die Juden betrachtet werden, dass auch sie „zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist“ (VII, § 209, Anm.), sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen bürgerlichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Personen in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten [...]“ (VII, §270, Fußnote) entsteht; denn nur insofern der Staat individuelle Rechte schützt, haben die Individuen auch Pflichten gegenüber dem Staat. „Die Verbindung von Pflicht und Recht hat die gedoppelte Seite, daß das, was der Staat als Pflicht fordert, auch das Recht der Individualität unmittelbar sei, indem es nichts eben ist als Organisation des Begriffs der Freiheit“ (VII, §261, Z.). Und weiter: „Die Bestimmungen des individuellen Willens sind durch den Staat in ein objektives Dasein gebracht und kommen durch ihn erst zu ihrer Wahrheit und Verwirklichung. Der Staat ist die alleinige Bedingung der Erreichung des besonderen Zwecks und Wohls“ (ebd.). So entwickelt Hegel deutlich den Zu57 „Daß er [der Mittelstand, F.C.] nicht die isolierte Stellung einer Aristokratie nehme und Bildung und Geschicklichkeit nicht zu einem Mittel der Willkür und einer Herrenschaft werde, wird durch die Institutionen der Souveränität von oben herab und der Korporationsrechte von unten herauf bewirkt“ (VII, §297).

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sammenhang zwischen Pflichterfüllung und Realisierung subjektiver Interessen: „[D]as Individuum muß in seiner Pflichterfüllung auf irgendeine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden, und ihm [muß] aus seinem Verhältnis

im

Staat

ein

Recht

erwachsen,

wodurch

die

allgemeine

Sa-

che seine eigene besondere Sache wird. Das besondere Interesse soll wahrhaft nicht beiseite gesetzt oder gar unterdrückt, sondern mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gesetzt werden, wodurch es selbst und das Allgemeine erhalten wird. Das Individuum, nach seinen Pflichten Untertan, findet als Bürger in ihrer Erfüllung den Schutz seiner Person und Eigentums, die Berücksichtigung seines besonderen Wohls und die Befriedigung seines substantiellen Wesens, das Bewußtsein und das Selbstgefühl, Mitglied dieses Ganzen zu sein, und in dieser Vollbringung der Pflichten als Leistungen und Geschäfte für den Staat hat dieser seine Erhaltung und sein Bestehen.“ (VII, §261)

Der Patriotismus hat insofern seine Grundstruktur in dem Gefühl von „kollektiver“, sozial geteilter Ehre, im Selbstgefühl einer ehrenhaften Person, wenn die Bürger sich als Mitglieder eines guten Staates fühlen. Nicht nur in Hinblick auf den Verfassungspatriotismus, sondern auch bei republikanischen Interpretationen des Staatbegriffes lassen sich die Chancen für die Erfüllung von individueller Ehre im Staatswesen identifizieren, insofern die Individuen nach einem Selbstwertgefühl streben: dasjenige geteilte Gefühl, das nötig ist, um sich für politische Zwecke engagieren zu können. Es geht einerseits um einen institutionalisierten Schutz der Realisierung des Selbstinteresses und andererseits um die individuelle Neigung, sich dabei gerechtfertigt zu fühlen, sich für diese Institutionen zu interessieren und für diese proaktiv zu werden. Eine solche engagierte Haltung soll weder durch externe noch interne Imperative erzwungen, sondern durch einen innerhalb der Öffentlichkeit sich abspielenden Lernprozess erlangt werden. 7.3.2 Die Öffentlichkeit als Bildungssphäre und die Frage nach der Herausbildung eines kosmopolitischen Gefühls Im sechsten Kapitel haben wir eine den ökonomischen Sphären eigene, spezifische Willensbildung gesehen, innerhalb derer Neigungen und Leidenschaften – wie im ersten Teil dargestellt wurde – zu einem dezentrierten, für soziale Kontexte sensiblen Pathos herausgebildet werden konnten. Es wurde nun vorgeschlagen, dass in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft Marktverhältnisse, Arbeit und Korporationen diese Bildungsrolle zur Willensdezentrierung

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übernehmen. Wie zuerst in den affektiven Verhältnissen innerhalb der Familie und in einer zweiten Stufe in der bürgerlichen Gesellschaft die Herausbildung der Interessen durch Korporationen, lässt sich in Hegels Behandlung des Staates - und nun in einer aktualisierten Bedeutung von Öffentlichkeit - grundsätzlich die „öffentliche Meinung“ als ein spezifisches „Bildungsmittel“ (VII, §315)58 erfassen. Zuerst in den affektiven Erfahrungen in der Familie und danach in Korporationen können die Subjekte sich als an intersubjektiven Verhältnissen teilnehmende Mitglieder verstehen. Diese vorherigen Stufen ermöglichen ihnen jetzt eine erweiterte Perspektive, die durch deren Gesinnung zu ihrem verantwortlichen politischen Engagement für das öffentliche Gut führt.59 Der Gefühl des Patriotismus innerhalb des Staates folgt derselben Logik der Korporationen und Stände, die in dieser Stufe eine komplexe, intensive Verbindung zwischen Individuum und Staat darstellt. Sowie das Individuum am Markt lernt, seine Interesse mit den Interessen der Mitglieder innerhalb seines Standes zu vereinbaren, erweitert sich jetzt seine politischen Gesinnung: Indem sich das Interesse auch auf den Staat richtet, werden seine Mitbürger, mit denen es gemeinsame Ziele teilt, in seine eigenen Interessen miteinbezogen. Wie beim Begriff der politischen Gesinnung, ist es auch bei der Öffentlichkeit der Fall, dass das „Allgemeine“ wiederum den subjektiven Willen miteinbeziehen soll; denn nur dadurch, dass der subjektive Wille in diesem Allgemeinen, nämlich den sozialen und sich im Staat befindenden Verhältnissen, befriedigt wird, sind diese Institutionen legitim.60

58 „Die Öffentlichkeit der Ständeversammlungen ist ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel, und das Volk lernt daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen. Es herrscht in der Regel die Vorstellung, daß alle schon wissen, was dem Staate gut sei, und daß es in der Ständeversammlung nur zur Sprache komme, aber in der Tat findet gerade das Gegenteil statt: erst hier entwickeln sich Tugenden, Talente, Geschicklichkeiten, die zu Mustern zu dienen haben. Freilich sind solche Versammlungen beschwerlich für die Minister, die selbst mit Witz und Beredsamkeit angetan sein müssen, um den Angriffen zu begegnen, die hier gegen sie gerichtet werden; aber dennoch ist die Öffentlichkeit das größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt“ (VII, §315, Z.). 59 Dazu schreibt Hegel, dass im Staat „Verstandesreflexion und, wie zu Gesetzen, so für alles zu Formen der Allgemeinheit fortgeht“ (XII, 93). 60 Hegels Überzeugung, die öffentliche Meinung trage eher „zufälligen“ Charakter und bedürfe daher der Kontrolle durch ein substanzielles „Allgemeines“, ist jedoch mit Recht häufig kritisiert worden. Vgl. exemplarisch die Kritik von Habermas 1990; dazu auch Cohen/Arato 1999. Solche Kritiken finden sich, mit anderen Hintergrün-

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Mit dem bisher dargestellten Begriff des Patriotismus als ein proaktiv wirksames, politisches Gefühl ergeben sich schon einige provisorische Konsequenzen für seinen nicht auf das Nationale beschränkten Gebrauch, sondern einen, der diesen Begriff zu einem kosmopolitischen Gefühl politischer Gesinnung erweitert. Wie vorher erwähnt, war Patriotismus bereits bei Hegel nicht ausschließlich mit einer bestimmten Nation verbunden. Hegel hielt tatsächlich einen anderen Begriff des Patriotismus gegenüber der romantisch geprägten Vorstellung von Nationalismus für möglich. Schon in seiner Tübinger Zeit bildeten der mit den Kollegen Hölderlin und Schelling gepflanzte „Freiheitsbaum“ zur Feier der Französischen Revolution oder der Lobpreis von Napoleons Siegen in Jena61 nicht nur Anzeichen von Hegels Neigung zu einem nicht bloß national begrenzten Patriotismus, sondern auch Evidenz für das kritische Potenzial des Verhältnisses von subjektiver Gesinnung zum Staat, das auch Raum für die Erneuerung defizitärer stabiler Institutionen lässt. Wie in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in Hinblick auf das Solidaritätsgefühl, besteht auch hier die Frage, wie die normative Orientierung auch als Gefühl aufzufassen ist. Gleichzeitig – wie wir gesehen haben – ist eine durch das Denken vermittelte Universalisierungsfähigkeit für diesen Prozess der Erfassung der Allgemeinheit unerlässlich. Daher entwirft Hegel in einer häufig zitierten Passage eine klare Darstellung von zwei strukturellen Elementen für eine Perspektiverweiterung, nämlich eines normativen Ansatzes in Verbindung mit dem Denken und seinem Bildungsprozess einerseits und seiner Kritik an der Vernachlässigung von „konkreten“ Kontexten andererseits: „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, - nur dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen.“ (VII, §209)

Diese Auffassung führt zu einem ganz anderen Vorschlag als dem des Kosmopolitismus, dessen Leere Hegel kritisiert; denn wie sich mit der ersten Charakterisierung des Patriotismus als politische Gesinnung erkennen lässt, hängt jedes kosmopolitische Modell davon ab, inwiefern ein echtes Gefühl von Teilnahme an einer Gemeinschaft und von geteilten Zwecken zu finden ist, und den, auch bei Theunissen 1982. Auf dieses Problem wird weiter unten noch zurückzukommen sein. 61 Vgl. Pinkard 2000, Rosenkranz 1972.

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deshalb ist seine Erweiterung von einer erweiterten gemeinsamen Öffentlichkeit untrennbar.62 Diese ausgeweitete Bedeutung von Patriotismus ist also als Resultat nicht der Anwendung normativer Prinzipien zu verstehen, sondern von Kontexten immanenter Lernprozesse. Hegels Kritik am Kosmopolitismus richtet sich nun auf die Schwierigkeit, von spezifischen Kontexten und den damit verbundenen Gefühlen abstrahieren zu können. Hegels Kritik an einem solchen Formalismus findet sich schon im Naturrechtsaufsatz als „Gestaltlosigkeit des Kosmopolitismus”“ (II, 529) und „Leerheit eines Völkerstaats und der Weltrepublik, als welche Abstraktionen und Formalitäten das gerade Gegenteil der sittlichen Lebendigkeit enthalten“ (II, 530). Diese Kritik bezieht sich hier also nicht auf die Möglichkeit einer Art von Kooperation oder zwischenstaatlichen Beziehungen (oder sogar zwischen regionalen Blöcken), sondern eher auf die Ohnmacht einer Einheit, deren öffentliche Wahrnehmung zwangsläufig als künstlich bzw. gefühllos ausfallen würde. Gegen diesen Formalismus richtet sich eben die Rolle dessen, was Hegel schon hier als „Philosophie der Sittlichkeit“ (II, 529) bezeichnet. Diese Vorstellung des Patriotismus verweist auf eine positive Form des politischen Engagements, das nicht nur ein rein normatives, sondern auch ein tatsächliches Gefühl von Partizipation, sich als Mitbürger zu fühlen, adressiert: Damit die Bürger für politisches Engagement angemessen motiviert sein können, müssen sie ihre Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Öffentlichkeit spüren, sich als Akteure vielfältiger, geteilter Interessen verstehen und sich als beteiligt an der Konstruktion des öffentlichen Gutes wissen63. Auch wenn auf einer transnationalen Ebene die Versicherung von deliberativen Prozeduren für die Bürger eine wichtige Rolle spielt, kann das Gefühl einer tatsächlichen sozialen Partizipation gemeinsam mit den Teilnehmern trotzdem schwach bleiben. Sich als politische Akteure in einer geteilte Öffentlichkeit zu fühlen, stellt sich somit als Bedingung für eine legitime Anteilnahme an einem erweiterten, transnationalen politischen Raum dar. In Hinblick auf diese Kritik findet der Begriff des Verfassungspatriotismus nur Resonanz in Hegels Ansatz, insofern dieser Begriff eine plausible Antwort auf die Frage findet, inwiefern die soziale Sphäre (und grundsätzlich die Öffentlichkeit) eine Verfassung als Legitimierung geteilter Zwecke wahrnehmen kann. Diese Legitimierung wird durch eine Bewegung von unten in der Verfassung verkörpert:

62 Dieses Modell bezieht sich nicht nur auf die transnationale Ebene, sondern auch auf innerstaatliche Spannungen und Identitätsfragen. 63 Vgl. dazu Krause 2008.

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„Bei einer Verfassung kommt es auf die Ausbildung des vernünftigen, d. i. des politischen Zustandes in sich an, auf die Freiwerdung der Momente des Begriffs, daß die besonderen Gewalten sich unterscheiden, sich für sich vervollständigen, aber ebenso in ihrer Freiheit zu einem Zweck zusammenarbeiten und von ihm gehalten werden, d. i. ein organisches Ganzes bilden.“ (XII, 65 f.)

Wenn die Verfassung einerseits den gesetzlichen Schutz der subjektiven Freiheit absichern muss, darf sie andererseits kein heteronomes Verhältnis darstellen. So betont Hegel die Idee einer komplementären Dimension durch das „Gefühl“ des Rechtes.64 In der „Gesinnung des Staates“ wird die Verfassung als „die Allgemeine Gesinnung“ dargestellt (VRP, 269), und mit dem Begriff der „öffentlichen Freiheit“ will Hegel die Realisierung sowohl der subjektiven als auch der objektiven Seite der Freiheit durch die Verfassung einfangen: „Diese Institutionen machen die Verfassung, d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit, im Besonderen aus und sind darum die feste Basis des Staats sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert und vernünftig [ist].“ (VII, §265)65

Es ist eine Voraussetzung für dieses Verhältnis zur Verfassung, dass das Gefühl nicht nur von geteilten Zielen, sondern auch von einer gemeinsamen „Geschichte“ und „Erinnerung“ stammt, die ein Gefühl von „Vaterland“ bilden.66 64 „Das Volk muß zu seiner Verfassung das Gefühl seines Rechts und seines Zustandes haben, sonst kann sie zwar äußerlich vorhanden sein, aber sie hat keine Bedeutung und keinen Wert“ (VII, §274). 65 So spricht Hegel etwa hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Bürgern und Beamten davon, dass die „Zufriedenheit und das Zutrauen der Bürger zur Regierung sowie die Ausführung oder Schwächung und Vereitelung ihrer Absichten nach der Seite [derart] abhängt, daß die Art und Weise der Ausführung von der Empfindung und Gesinnung leicht so hoch angeschlagen wird als der Inhalt des Auszuführenden selbst, der schon für sich eine Last enthalten kann“ (VII, §295). 66 So schreibt Hegel etwa in einer langen Passage: „Der Staat, seine Gesetze, seine Einrichtungen sind der Staatsindividuen Rechte; seine Natur, sein Boden, seine Berge, Luft und Gewässer sind ihr Land, ihr Vaterland, ihr äußerliches Eigentum; die Geschichte dieses Staats, ihre Taten und das, was ihre Vorfahren hervorbrachten, gehört ihnen und lebt in ihrer Erinnerung. Alles ist ihr Besitz ebenso, wie sie von ihm besessen werden, denn es macht ihre Substanz, ihr Sein aus. Ihre Vorstellung ist damit erfüllt, und ihr Wille ist das Wollen dieser Gesetze und dieses Vaterlandes. Es

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Für das kosmopolitische Gefühl ist nicht nur eine prozedurale, rein normative Perspektive, sondern auch eine Erweiterung des Gefühls der Teilnahme an einer gemeinsamen Öffentlichkeit Voraussetzung. Hegel hat die öffentliche Meinung und die Institutionen des Staates als verpflichtet dazu angesehen, den Übergang von einem selbstzentrierten zu einem an den sozialen Belangen interessierten Willen zu ermöglichen. Auch wenn Hegels Vorstellung nicht demokratische und grundsätzlich kommunikative Formen enthält – wie wir es noch sehen werden –, verlangt sein Ansatz nach einem nicht nur rein vernünftigen, sondern auch leidenschaftlichen Engagement in der Öffentlichkeit, so dass dieses durch die Vermittlung von Bildungsprozessen die Gestalt einer effektiven politischen Partizipation annehmen kann. Dass für Hegel der Kosmopolitismus eine prekäre Alternative war, zeigt sich vor allem daran, dass er nicht entsprechend dem Modell des Nationalstaates in der Lage wäre, gemeinsame Zwecke zu konstituieren. Insofern besteht die Frage des Kosmopolitismus darin, ob die gegenwärtige Situation, anders als die zu Zeiten Hegels, als notwendiger Lernprozess aufgefasst werden kann, der eine erweiterte Vorstellung geteilter Zwecke ermöglicht; in Hinblick etwa auf die Institutionalisierung von Menschenrechten oder die demokratische Teilnahme werden gemeinsame Zwecke unter den Bürgern gefühlt, die es erlauben, Hegels Vorstellung des Patriotismus eine erweiterte Gestalt zu verleihen. Weder ein ideales noch bloß an der Vernunft orientiertes Modell könnte den institutionellen Rahmen sittlicher Verhältnisse bereitstellen, die die Form eines organischen Staates charakterisieren. Eine nicht nur national begrenzte politische Gesinnung ist aber nur möglich, wenn den Beteiligten nicht nur ein prozedurales bzw. ideal kosmopolitisches Ziel vor Augen steht, sondern sie auch ein tatsächliches Gefühl von gemeinsamen Zwecken teilen, von dem ein erweitertes Gefühl kosmopolitischer Zugehörigkeit abhängt.

ist diese geistige Gesamtheit, welche ein Wesen, der Geist eines Volkes ist. Ihm gehören die Individuen an; jeder Einzelne ist der Sohn seines Volkes und zugleich, insofern sein Staat in Entwicklung begriffen ist, der Sohn seiner Zeit; keiner bleibt hinter derselben zurück, noch weniger überspringt er Dieselbe. Dies geistige Wesen ist das seinige, er ist ein Repräsentant desselben; es ist das, woraus er hervorgeht und worin er steht“ (XII, 72).

8. Zur Erneuerung von Hegels Theorie der Institutionen: Ein Ausblick

Mit der hier dargelegten Untersuchung wurde die Absicht verfolgt, Hegels Modell sittlicher Freiheit durch seine Theorie der menschlichen Natur zu erleuchten, welches einerseits von einem dezentrierten Inhalt des Willens abhängt und andererseits eine Freiheit betrifft, die innerhalb sittlicher Sphären auszubilden ist. Da die individuelle Freiheit mit intersubjektiven Kontexten verknüpft ist, insistiert Hegel auf einer sittlich-institutionellen Willensbildung1 Insofern Zustände der Freiheit in der sozialen Ausübung des Wollens und der Triebe, Leidenschaften und Begierden begründet sind, lässt sich umgekehrt der Prozess der Willensbildung innerhalb des konzeptuellen Schemas von intersubjektiven Verhältnissen verorten, sei es als Gewohnheiten und affektiven Verhältnisse oder in erweiterten institutionalisierten Formen der Gesellschaft. Die normativen Maßstäbe von Hegels Theorie der Institutionen bestehen insofern darin, diese Bedingungen sittlicher Freiheit zu verwirklichen. Statt der Formen von Willensverdrängung, die Hegel sowohl im Recht als auch in der Moral am Werke gesehen hat, führen die sich in der Sittlichkeit abspielenden Bildungsprozesse eher eine Willensformierung durch, bei der die sozialen Verhältnisse die Bedingungen dafür bereitstellen sollen, dass der Wille sich an der „soziale Freiheit“ als seinen Inhalt orientieren kann. Im Gegensatz zu einem rein formalen Modell ist ein grundlegender moralischer Gehalt vorgesehen, der mit der in jeder Sphäre wachsenden Dezentrierung des Willens verbunden ist: So wie nach dem Muster der Liebe in der ersten affektiven Erfahrung, wo eine egozentrische Willkür durch die Einbeziehung der Perspekti1

Im Zusammenhang mit den sozial vermittelten Bedingungen der individueller Freiheit bezieht sich Honneth auf eine „therapeutische Bedeutung der Sittlichkeit“ (Honneth 2001:70).

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ve anderer allmählich in Richtung eines intersubjektiven Kontextes dezentriert wird, findet später bei der Befriedigung subjektiver Eigeninteressen und beim politischen Engagement des Subjekts eine komplexe Einbeziehung von sozialen, meistens auch miteinander in Konflikt stehenden Interessen und Anforderungen statt. So wurde im ersten Teil gezeigt, dass sowohl die von Hegel dargestellte anthropologische Kontur seiner Freiheitstheorie als auch die Grenzen der Moral und des Rechtes den Leitfaden für seine Sittlichkeitstheorie bilden: Da das Subjekt zuerst eine zerstörerische, egozentrische Willkür besitzt, wird innerhalb der Sphären der Sittlichkeit das Muster eines dezentrierten Willens ausgebildet; und es nur ist innerhalb dieser sittlichen Verhältnisse und ihrer institutionalisierten Formen, dass das Subjekt allmählich lernt, diesen inklusiven bzw. dezentrierten Willen herauszubilden. Mit einem dem Gesetz komplementären Rahmen vor Augen stellt Hegel die Grundmotive einer durch die sittlichen Sphären vermittelten Ausübung von Trieben und Neigungen dar. Innerhalb des Sozialen wird der von Natur geprägte Umriss der Subjektivität zuerst mit natürlichen Formen von Trieben und Begierden verbunden und später als elaborierte Willensformen zu kooperativen und fürsorglichen Handlungsgestalten, die sich innerhalb sozialer Kontexte integrieren lassen. Wenn die Subjekte ihre Interessen und Präferenzen in intersubjektiven Verhältnissen als berücksichtigt oder zensiert erfahren – sei es innerhalb der Familie, des Freundeskreises oder in erweiterten sozialen Kontexten –, müssen sie in den sozialen Verhältnissen dann diejenigen Wünsche erfüllt wissen, die umgekehrt Ausdruck eines dezentrierten Interesses am „Allgemeinen“ sind. Sittlichen Sphären sollen ihrerseits die Bedingungen dafür bereitstellen, die zur Befriedigung und Förderung dieser Wünsche nötig sind. Hegel stellt für den Inhalt des freien Willens die Freiheit selbst dar, ein Inhalt, der als sozial und für sittliche Verhältnisse sensibel verstanden wird; denn nur innerhalb der Kontexte der Sittlichkeitssphären ist eine Dezentrierung des Willens in einer autonomen Weise möglich. Auf diese Weise kann sich eine kontextsensible Lösung sozialer Spannungen innerhalb der Sittlichkeitsverhältnisse und den ihnen entsprechenden Institutionen artikulieren. Von der in dieser Arbeit dargestellten Auffassung ausgehend, lassen sich zwei Richtungen erkennen, die zu einer Theorie der Institutionen beitragen können. Eine erste Richtung bezieht sich auf die Diskussion um einen dynamischen und kontextualisierten institutionellen Rahmen, der die sozialen Bedingungen für die Verwirklichung des freien Willens fördert. Dieser weist der hier vertretenen Position zufolge keinen deterministischen Charakter auf, sondern bezieht sich auf die Umrisse der sozial vermittelten Herausbildung von Neigungen und Leidenschaften zu einem für sittliche Kontexte sensiblen subjekti-

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ven Willen. Denn auch wenn eine „demokratische Willensbildung“2 durch Institutionen gefördert wird, lässt sich mit dem hier entwickelten Argument kein endgültiger Gehalt bestimmen, den diese institutionellen Formen in jedem Fall verkörpern müssten. Eine zweite Charakterisierung, die unsere Überlegungen geprägt hat, lässt sich als eine partizipatorische Dimension eines institutionellen Rahmens verstehen: Wie auf den Stufen von Hegels Sittlichkeitstheorie, wurde die Bildungsrolle der Institutionen nicht nur in Bezug auf seinen spezifischen Inhalt artikuliert, sondern auch auf basilaren Formen intersubjektiver Kooperation und Anteilnahme. Aber mit Blick auf die gesamte Struktur von Hegels Argument wurde behauptet, dass man, sei es innerhalb der Familie, der „Stände“ oder der Öffentlichkeit, nicht nur die Selbstinteressen mit gemeinsam geteilten Zwecke zu verbinden lernt, sondern auch die eigene egozentrische Perspektive im laufenden Prozess selbst stets erweitert. Auf den Stufen von Gewohnheit, affektiven Verhältnissen, ökonomischen Handlungen sowie der politischen Praxis lernt das Individuum, in kooperativen Verhältnissen seine Wünsche und Präferenzen mit denen von anderen zu vereinbaren, die sie unter Zugrundelegung institutionalisierter Erfahrungen von Partizipation verfolgen. Diese Institutionen ermöglichen nicht nur eine dezentrierte Prozedur politischer Praxis, in der die Beteiligten sich in ihrer Deliberation als aktiv und damit als mitverantwortlich für das Erreichen von gemeinsamen Zwecken betrachten können, sondern ermöglichen auch eine dynamische Bildungsrolle der Institutionen, in welcher die Teilnehmer allmählich lernen, die Interessen anderer anzuerkennen und einzubeziehen und sie dadurch mit ihren eigenen Interessen abzugleichen. Mit unserer Betrachtung der menschlichen Natur und der Diskussion der Idee eines „geformten“ Gefühls lassen sich nun Themen bearbeiten , die in der Tradition des „rational choice“ oft übersehen werden. Eine Theorie der Institutionen sollte daher beachten, inwiefern dieser formende Prozess stattfindet: einerseits bezieht er sich auf von der Natur geprägte Subjekte und andererseits, negativ formuliert, sich immer gewahr sein, dass dieser Bildungsprozess scheitern kann und damit verfälschte Formen von Leidenschaften ins Spiel kommen können. Auf einer ersten, eher deskriptiven Stufe wird hier also behauptet, dass Affekte und Triebe immer eine grundlegende Rolle für die politische Philosophie spielen müssen, und auf einer zweiten Stufe, dass sich mit dem Begriff vom „dezentrierten Willen“ ein normativer Schüssel zeigt. Diese komplexe Verflechtung zwischen Politik, Natur und Bildung besteht aus der hier untersuchten Idee, dass Politik sich von politischer Anthropologie nicht trennen lässt und es dadurch immer schon mit einer vermittelten menschlichen Natur zu tun 2

Honneth 2011:470 ff.

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hat. Die Institutionen können in einer anthropologischen Weise die Willensbildung beeinflussen, insofern sie auch mitverantwortlich dafür sind, eine zweite Natur zu bilden. Eine stärkere Interpretation von Hegels Begriff der zweiten Natur wäre, dass es sich nicht nur um ein konstitutives, natürliches Moment der Sittlichkeit handelt, sondern umgekehrt, dass die Sittlichkeit die Entwicklung der menschlichen Natur überhaupt stets vermittelt: Innerhalb des Sozialen werden die zuerst natürlichen Formen von Trieben und Begierden zu kooperativen und fürsorglichen Handlungsgestalten formiert, die dann als elaborierte Willensformen in verschiedene soziale Kontexte integriert werden. Im Zusammenhang mit dem Begriff der zweiten Natur lässt sich auf Grundlage des hier Dargelegten auch eine epistemologische These skizzieren, nämlich die, dass subjektive Gefühle und Wahrnehmungen stets als ein Prozess der begrifflichen Erfahrung verstanden werden müssen. Die Erfahrung von Werten und Gefühlen erweist sich insofern als eine von immanenten Kontexten geprägte kognitive Sinngebung – welche sich auf eine intrinsische Verflochtenheit zwischen zweiter Natur und social space of reasons bezieht.3 In diesem Sinne lässt sich die Verwicklung von Gefühlen und begrifflicher, kognitiver Erfahrung verstehen, die für unsere Untersuchung zentral ist: Mit Gefühlen sind also nicht nur Empfindungen gemeint, sondern auch die propositionale Struktur des subjektiven Weltbezugs, die von vielfältigen epistemischen Wahrnehmungen untrennbar sind. Mit dem Begriff des Geistes – im Zusammenhang von subjektivem und objektivem Geist – werden die sozial vermittelten Erfahrungen bezeichnet, die dem Gefühl stets einen begrifflichen Gehalt verleihen und sich von subjektiven Präferenzen und Interessen nicht trennen lassen. Mit „Gefühlen“ sind also die veränderten Formen der „ersten“ Natur gemeint, die durch sozial vermittelte Erwartungen und Anerkennungsverhältnisse einen begrifflichen Gehalt erhalten und verkörpern. Daher wurde in dieser Arbeit die These vorgeschlagen, dass genuine individuelle Entscheidungen nicht nur rechtlich und moralisch orientiert, sondern auch von Leidenschaften und Gefühle geprägt sein können müssen, die ihrerseits – anders als unmittelbare Empfindungen – einen kognitiven Inhalt besitzen. In diesem Sinne wurde hier auch vertreten, dass dem Sozialen eine gewichtige Rolle bei der Vermittlung von Präferenzen zufällt, um die primäre Willkür mit einem „sittlichen“ Inhalt verbinden zu können: Auf verschiedenen Stufen und mit eigener Dynamik erwiesen sich Liebe, Solidarität und politische Gesinnung als Gefühle und Haltungen, die andere miteinbeziehende Handlungen ausdrücken.

3

Auch hier beziehe ich mich auf Brandom 1994, 1995; McDowell 1994, 2009.

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Da der Inhalt von Gefühlen nach Hegels Auffassung von der Sittlichkeitssphäre abhängig ist, stellen Gefühle keine isolierten Phänomene dar, sondern sind als Ausdruck einer sittlich vermittelten Erfahrung zu erfassen: Mit der These der Verflechtung von Gefühlen, Leidenschaften und ihrer sozial vermittelten kognitiven und inhaltlichen Bedeutung lässt sich kein apriorischer Inhalt des Gefühls bestimmen, so dass die normative Bedeutung des Gefühls erst durch eine soziale Theorie angemessen zu fassen ist. In Hinblick auf subjektive Erfahrungen sollte insofern behauptet werden, dass die Individuen spezifische Formen von Gefühlen ausbilden, deren normative Kriterien sich durch Hegels Begriff der sozial vermittelten Freiheit verstehen lassen. Aber auch dadurch liegt die Schwierigkeit in Bezug auf die Thematisierung des Zusammenhanges zwischen menschlicher Natur und politischer Philosophie nicht nur darin, dass eine normative Evaluierung von Gefühlen und Leidenschaften von vorgängigen sozialen Kriterien abhängig ist, sondern auch von einer alltäglichen Reihe komplexer Erfahrungen, welche nicht immer zur Sprache kommen. Zudem hängt die subjektive emotive Erfahrungen von einer zeitlichen bzw. kontextuell geprägten Begrenzung ab, so etwa das Gefühl von Empörung oder Missachtung, bei denen auf Seiten der Subjekte nicht immer die entsprechenden negativen Gefühle verspürt werden. Insofern verursachen Kontexte extrem verfälschter sozialer Räume eine systematische Entfremdung von kognitiven Erfahrungen, die jede Form kritischer Beurteilung blockiert. In solchen Fällen von verfälschten Formen sozial geteilter Normen – so etwa bei radikaler Exklusion, fanatischen sozialen bzw. politischen Bewegungen oder beim konfligierenden Übergang zwischen verschiedenen Verfassungsstrukturen (wie bei der Debatte zur sogenannten „transitional justice“) – ist die Rolle der Gefühle obskur, was nicht nur ein kritisches Abwägen verhindert, sondern die Erfahrung selbst für sozialen Defizite blind macht.4 Nicht nur haben die Subjekte bei einer solchen Gefühlsblockade keine Rechtfertigungsmöglichkeit, um ihre Ansprüche mitzuteilen und einzufordern, sondern selbst das Gefühl von Ungerechtigkeit lässt sich nicht mehr erfahren. Jenseits der Möglichkeit, um Anerkennung zu kämpfen oder über den Rechtfertigungsprozess5 hinaus seinen Ansprüchen eine Stimme zu verleihen, sind diese Gefühle nicht artikulierbar. Und auch in den Fällen, in denen die sozialen Akteure diese Gefühle erfahren, weiß man nicht unbedingt genau, wo die Ursachen von subjektiven 4

In diese Richtung argumentiert Honneth 2005. Hier wird eine strukturelle, gewissermaßen „ontologische“ bzw. „existenzielle“ Struktur aufgezeigt, insofern die Erfahrung der grundlegenden Anerkennung der Menschen qua Menschen die Voraussetzung für weitere Formen von Anerkennung bildet.

5

Vgl. Forst 2007, 2011.

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oder sozialen Störungen bzw. Defiziten von sittlicher Freiheit liegen. Unter einer Reihe von nicht-artikulierbaren Gefühlen muss die Möglichkeit einer sozial vermittelten Semantik schon im Voraus gegeben sein, nicht nur, um diese Gefühle mitzuteilen, sondern auch um sie – auf einer vorherigen Stufe – überhaupt haben zu können.6 Daher bildet die Struktur sowohl des dezentrierten Willens als auch der Sozialsphären durch die Förderung der Sensibilität gegenüber sozialer Gerechtigkeit den normativen Schlüssel für eine legitime, „vernünftige“ Herausbildung subjektiver und sozialer Freiheit. Die Vermeidung einer reduktionistischen bzw. psychologisierenden Auffassung kann gelingen, wenn ein minimaler normativer Grund für die Untrennbarkeit von subjektiven Gefühlen und sozialgeschichtlichen Kontexten artikuliert wird. Daher ist eine gewisse Phänomenologie des Gefühls im Zusammenhang sozialer Kontexte notwendig: Nicht nur bilden die Gefühle eine zentrale Form kognitiver Erfahrung, sondern auch ihr Gehalt, wie etwa Liebe, Achtung und Ehre sind von sozial vermittelten normativen Kontexten nicht zu trennen. Zudem braucht die Thematisierung des Zusammenhanges von Gefühlen und Politik eine kritische, normative Evaluierung, damit die grundsätzliche „neutrale“ Rolle der Gefühle und Leidenschaften von ihrem moralischen Gehalt abgewogen werden kann. Ob die Gefühle allerdings einen kognitiven Inhalt bzw. einen bestimmten „vernünftigen“ Inhalt der individuellen Praxis verkörpern können, hängt aber von der Evaluierung ihrer „Vernünftigkeit“ ab, und zwar mittels derjenigen normativen Kriterien, die es erlauben zu bestimmen, welche Gefühle als „vernünftig“ zu begreifen sind.7 Freilich sollen affektive Parameter nicht diejenige Rolle ersetzen, die der Fortschritt des modernen Rechts für den Schutz des Rechts aller Beteiligten – ohne Unterscheidung von hierarchischen oder affektiv beeinflussten Bindungen 6

Vgl. Honneth 1994. Soweit ich sehe, ist mit der Idee einer „moralischen Grammatik“ auch die Artikulierbarkeit selbst von Gefühlen etwa von Missachtung oder Unfreiheit gemeint, wobei die Subjekte nicht nur gegen Missachtungsverhältnisse kämpfen, sondern auch – auf einer vorherigen Stufe – durch eine sozial vermittelte Semantik überhaupt erst die Möglichkeit erhalten, das Gefühl von Missachtung zu erfahren.

7

Das Verhältnis von Gefühlen, Vernunft und Entscheidungsgründen kann in zwei Richtungen bestimmt werden: entweder so, dass ein emotionaler Charakter aufzeigt wird, der nicht mit vernünftigen Gründen zu vereinbaren ist (hier ist die Opposition zwischen Gefühlen und Vernunft stärker) oder – wie diese Arbeit annimmt – als eine bestimmte Rationalität des Gefühls als solchem, indem Gefühlen selbst ein kognitiver Inhalt zugesprochen wird, der als „vernünftig“ verstanden werden kann. Vgl. hierzu u. a. Sousa 1987; Hartmann 2010.

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– ermöglicht; denn statt einer nur am Gefühl orientierten normativen Theorie war das hier verfolgte Argument vielmehr dieses, dass die Affekte und Leidenschaften eine zentrale Rolle innerhalb sozialer Verhältnisse spielen. Es geht also nicht darum, auf einem riskanten Weg einer Psychologisierung oder Sentimentalisierung der politischen Theorie das Wort zu reden; denn der Wille erfüllt in seinen Gestalten als Trieb, Begierde und Neigung zwar eine grundlegende Rolle für eine Sittlichkeitstheorie, ist aber schon in Hegels Frankfurter Schriften nicht Ersatz, sondern „Pleroma“, „Erfüllung“ des Gesetzes. Schon dort geht es also nicht um eine Überwindung des Rechtes und der Moral, sondern darum, deren Grenzen zu erkennen. Diese schon beim jungen Hegel diskutierte Ergänzung des heteronomen Charakters des Gesetzes durch einen institutionalisierten Rahmen nimmt– wie gezeigt wurde – später in seiner Sittlichkeitstheorie als Theorie der Institutionen eine komplexe Gestalt an. Der sogenannte „naturalistische“ bzw. „genetische“ Fehlschluss ist ebenso zu vermeiden: Es ist nicht von Gefühlen, Wünschen und Wille per se zu einer moralischen Rechtfertigung ihres Gehalts überzugehen, sondern dieser Gehalt wird erst in Hinblick auf das Muster eines „sittlichen“ Gehaltes abgewogen. Weder durch die Beschreibung eines Subjektivierungsprozesses und die entsprechende Rolle von Triebe und Neigungen noch durch die Betrachtung von Leidenschaften und Interessen allein kann eine normative Theorie der Institutionen entwickelt werden. Es geht vielmehr darum, dass deren Wirklichkeit nur durch die Betrachtung der konstitutiven Rolle von Trieben und Neigungen, Leidenschaften und Interessen zu verstehen ist – und nicht allein durch die formaler Prinzipien. Es geht um eine ständige Spannung in der Aufgabe einer immanenten Kritik, die zwar gegenüber einem formellen Universalismus den spezifischen Kontext betrachtet, aber einen moralischen bzw. „sittlichen“ Inhalt nicht vernachlässigen soll.8 Mit einer Typologie von sittlichen Gefühlen ist gemeint, dass es das Subjekt nur durch die Befriedigung seiner Begierden, Interessen und Ehrbedürfnisse als gerechtfertigt empfindet, seinen Willen an den Normen dezentrierter sozialer Verhältnisse zu orientieren; denn die Möglichkeit für eine solche Handlungspraxis hängt davon ab, dass das Subjekt diejenigen Bedingungen erfüllt weiß, unter denen eine dezentrierte soziale Praxis sowohl eine ungezwungene als auch eine selbstbefriedigende Erfahrung ermöglicht. Wie Hegel mit seinen Begriffen von Leidenschaft und Interesse zeigen wollte, sind subjektive Praktiken legitim, nur insofern das Subjekt sie als Ausdruck seiner selbst erfährt. Die wechselseitige Gestalt des Gefühls zeigen zwei Seiten individueller Befriedigung des freien Willens: Einerseits lässt sich die Auffassung erkennen, 8

Zur Diskussion um den Begriff der immanenten Kritik vgl. Stahl 2013.

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dass die Gefühle der Realisierung subjektiver Interessen und Präferenzen stets als Bedingung für dezentrierte Praxis gelten. Andererseits bedeutet das, dass für die Selbstbefriedung nicht nur ein „passives“ Gefühl ausreicht, sondern dieses die Voraussetzung für eine eher „aktive“ zweite Stufe bildet, nämlich eine dezentrierte Handlungspraxis. Diese gewissermaßen propositionale Struktur des Gefühls veranschaulicht somit, dass die in den sittlichen Verhältnissen grundlegenden Gefühle – wie Liebe, Solidarität und politische Gesinnung – einen antreibenden Kern besitzen, und zwar das Streben nach der Befriedigung von Bedürfnissen, Interessen und Ehransprüchen. Das von Hegel diskutierte Vertrauen in Familie und Staat ist daher eine Folge davon, dass die Individuen diese Grundgefühle des Selbstausdruckes beachtet finden, und nur insofern das Individuum seine Bedürfnisse und Interesse erfüllen, sind sie auch gerechtfertigt, in einer dezentrierten Weise zu handeln. Und damit diese subjektive Erfahrung von Selbstbefriedigung nicht nur selbstsüchtig orientiert ist, sondern auf leidenschaftlich engagierte, dezentrierte Handlungen hinauslaufen kann, ist ein durch etablierte soziale Praktiken, Gewohnheiten und vor allem durch institutionalisierte soziale Formen vermittelter Bildungsprozess unerlässlich. In diesem Sinn spielen soziale Institutionen die grundlegende Rolle, eine Voraussetzung der Willensbildung zu erfüllen; sie ermöglichen einen ungezwungenen Prozess der Willensdezentrierung, insofern sie schon die Folge davon ist, dass das Individuum seine individuellen Präferenzen und sein unvertretbares Selbst anerkannt weiß.

D EMOKRATISCHE P ARTIZIPATION , E MANZIPATION UND K RITIK Jedoch ist es nicht unproblematisch, Hegels Ansatz für zeitgenössische Debatten zu aktualisieren. In Hinblick auf die hier rekonstruierte Vermittlung von Willensbildung und Institutionen wird im Folgenden auf drei Fragen hingewiesen, für die sich allerdings in unserer vorgeschlagenen Interpretation von Hegel auch schon indirekt Lösungsperspektiven finden lassen. Eine erste Frage bezieht auf ein gewisses demokratisches Defizit der Hegelschen Theorie des Staates, das sich auf die Partizipation der Bürger bezieht. Kontroversen in der Literatur zu Hegels logisch-metaphysischen Prämissen

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und deren nicht naiven politischen Konsequenzen sind wohlbekannt.9 Der Vorwurf ist wohlbekannt, dass Hegels Rechtsphilosophie um den Preis einer Vernachlässigung der Individualität einen tendenziell substantialisierten Staatsbegriff annimmt und zur unkritischen Legitimierung des Status quo neige, dessen Wirklichkeit das Subjekt sich unterwerfen sollte.10 Gewiss, Passagen wie die, dass „der freie Mensch nichtneidisch [ist], sondern anerkennt das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es ist“ (VWG, 47) oder die, dass „das besondere Interesse der Leidenschaft also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen [ist]“ (VWG, 49), sind nicht unproblematisch. Es ist nicht überraschend, dass diese Passagen an die in der Literatur häufig kritisierten Abschnitte über die angebliche Verdrängung der Rolle des Individuums in Hegels Ansatz erinnern, so etwa bei einigen kontroversen Formulierungen Hegels wie der von der „List der Vernunft, die Leidenschaften zu nutzen“, und: „Notwendig ist das Vernünftige als das Substantielle, und frei sind wir, indem wir es als Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz unseres eigenen Wesens folgen“ (XII, 57). Es ist für die hier verfolgte Absicht insbesondere zu bemerken, dass Hegel zusammen mit seiner Auffassung des Bildungsprozesses als einer „Erziehung des einzelnen zum allgemeinen Sittlichen“ (VWG, 65-66)11 die Forderung nach einer aktiven Teilnahme des Individuums auch in Bezug auf den Staat hätte entwickeln können, sich aber hinsichtlich des Staates nicht für eine politische Bildung der Bürger, sondern für eine auf monarchische Hierarchien zentrierte politische Struktur entschieden hat. Ein erster Grund dafür war seine skeptische Interpretation des auf den Staat bezogenen individuellen kognitiven Fähigkeit: Hegel verortet deliberative Prozesse eher innerhalb der „Stände“, insofern hier die Bürger durch die Realisierung ihrer Interessen direkt einbezogen und damit in der Lage waren, über die Entscheidungsprozesse – in seinen Augen somit 9

Von der vielfältigen Literatur – die sich unter anderem in die des sogenannten Links- und Rechtshegelianismus unterscheiden lässt – nenne ich hier nur Ritter 1965 und Habermas 1985.

10 Vgl. Habermas 1968, 1985; Theunissen 1982; Tugendhat 1993; Siep 1979; Hösle 1987. Von der vielfältigen Literatur – die sich unter anderem in die des sogenannten Links- und Rechtshegelianismus unterscheiden lässt – nenne ich hier nur Ritter 1965 und Habermas 1985. 11 „Dieser Unendliche Trieb der Einheit, der Zurückbringung, der Entzweiung überhaupt ist die zweite Seite zur Diremtion der Idee. Es ist also Zurückbringung, Verallgemeinerung des einzelnen. Fassen wir die einzelnen als einzelnes Selbstbewußtsein, so ist dies also Erziehung des einzelnen zum allgemeinen Sittlichen, und dadurch kommt eben die Sittlichkeit zum Gelten“ (VWG, 65-66).

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erst angemessen qualifiziert – zu beraten. Diese Skepsis gegenüber der individuellen Deliberation beruht auf der Sorge, dass diese nicht in einem „vernünftigen“ Willen münden würde, sondern in dem „Willen als Belieben, Meinung und Willkür der Vielen“ (VII, §251) welche die bürgerliche Gesellschaft, und nicht den Staat, charakterisieren sollte. Hegel hat damit eine innerhalb der Öffentlichkeit durchzuführende Willensbildung relativiert und daher die Vernünftigkeit der Deliberation nicht in einem „Wahlreich“ (VII, §281) gesehen.12 Hegel hatte zwar in seinem gesamten Projekt die Tendenz verfolgt, ein dezentriertes Modell individueller Anteilnahme zu entwickeln, distanziert sich aber im Staat davon. Insofern hat Hegel im Staat keine Form direkter demokratischer Partizipation gesehen. Das Prinzip eines erweiterten Engagements wurde also im Staat begrenzt, und insofern war Hegel auch eher skeptisch bezüglich der Frage, ob die Bürger fähig wären, über ihre Vertreter direkt zu entscheiden und sie zu wählen. Es lässt sich daher indirekt erkennen, dass nach Hegel aufklärende Medien und der Zugang zu Nachrichten unerlässlich für einen erfolgreichen demokratischen Prozess wären. Aber in Hinblick auf die zu seiner Zeit spezifische Rolle der Medien und der Räume der öffentlichen Meinung hat Hegel 12 So liest man: „Das Wahlreich scheint leicht die natürlichste Vorstellung zu sein, d. h. sie liegt der Seichtigkeit des Gedankens am nächsten; weil es die Angelegenheit und das Interesse des Volkes sei, das der Monarch zu besorgen habe, so müsse es auch der Wahl des Volkes überlassen bleiben, wen es mit der Besorgung seines Wohls beauftragen wolle, und nur aus dieser Beauftragung entstehe das Recht zur Regierung. Diese Ansicht, wie die Vorstellungen vom Monarchen als oberstem Staatsbeamten, von einem Vertragsverhältnisse zwischen demselben und dem Volke usf., geht von dem Willen als Belieben, Meinung und Willkür der Vielen aus - einer Bestimmung, die, wie längst betrachtet worden, in der bürgerlichen Gesellschaft als erste gilt oder vielmehr sich nur geltend machen will, aber weder das Prinzip der Familie, noch weniger des Staats ist, überhaupt der Idee der Sittlichkeit entgegensteht. - Daß das Wahlreich vielmehr die schlechteste der Institutionen ist, ergibt sich schon für das Räsonnement aus den Folgen, die für dasselbe übrigens nur als etwas Mögliches und Wahrscheinliches erscheinen, in der Tat aber wesentlich in dieser Institution liegen. Die Verfassung wird nämlich in einem Wahlreich durch die Natur des Verhältnisses, daß in ihm der partikulare Wille zum letzten Entscheidenden gemacht ist, zu einer Wahlkapitulation, d. h. zu einer Ergebung der Staatsgewalt auf die Diskretion des partikularen Willens, woraus die Verwandlung der besonderen Staatsgewalten in Privateigentum, die Schwächung und der Verlust der Souveränität des Staats und damit seine innere Auflösung und äußere Zertrümmerung hervorgeht“ (VII, §281).

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nicht ohne Grund behauptet, dass ein demokratisch-deliberativer Prozess das Bewusstsein von öffentlichen und politischen Angelegenheiten voraussetzt. Während in der bürgerlichen Gesellschaft die Korporationen durch die Teilnahme des Individuums am „Allgemeinen“ einen partizipatorischen Charakter verkörpern, gilt im Staat eine erweiterte Gesinnung – jedoch nach Hegel nicht direkt auf demokratische Weise, sondern vermittelt über Stände und Korporationen und durch die Rolle der Öffentlichkeit. Und daher kommt Hegel zur kontroversen Schlussfolgerung, dass die Figur der „Fürsten“ (VII, §275 ff.) eine geteilte „Vernünftigkeit“ verkörpern würde – auch wenn Hegel die Macht des Monarchen durch eine institutionelle Vermittlung einhegt (VII, §302-§304, §308). Er hat also zwischen einem politischen Engagement im engeren Kreise – so wie bei den Ständen – und der Figur des Fürsten als deliberativer Instanz geschwankt; die politische, etwa demokratische Teilnahme hat er also eher im Kreis der bürgerlichen Gesellschaft verortet, wo die Bürger durch ihre Leistungen eher in den Ständen aktiv seien. Damit ist weder ein politischen Raum für Kritik offen gelassen noch die Möglichkeit eines verstärkten demokratischen Prozesses, wobei die Vertreter durch eine deliberative Struktur legitimiert wären. Hegel hat also im Staat seine Logik der Dezentrierung teilweise zurückgenommen: Die aktive Teilnahme der Bürger, die in der bürgerliche Gesellschaft noch zentral war, wurde hier wieder passiv. Er hat also den aus der Familie geläufigen Begriff des Vertrauens hier wieder zentral gemacht: Statt einer aktiven Teilnahme und eines Engagement für das öffentliche Gut wurde die politische Gesinnung auf eine Vertrauenshaltung gegenüber dem Staat reduziert. Daher bleibt nach Hegels Auffassung im Staat eine zu der ersten Sphäre der Familie analoge Struktur mittels der Begriffe der Gesinnung und des Vertrauens bestehen, die auf ein Allgemeines bezogen sind, allerdings ohne dabei ein kritisches Potenzial und eine aktive Teilnahme – die seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft charakterisiert – zu gestatten. Den Raum für eine aktive und dezentrierte Perspektive, die Hegel im Bildungsprozess der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft noch eröffnet hatte, hätte er auch im Staat, nämlich durch die Gestattung eines aktiven Engagements der Bürger und durch die in der Öffentlichkeit vermittelte Willensbildung, zugestehen können. Hegels Ansatz hat zwar den Vorteil, zeigen zu können, dass nur insofern die Bürger durch den Staat geehrt werden und ihre subjektive Befriedigung erfüllt wissen, sie dem Staat vertrauen und damit eine legitime Form des Patriotismus an den Tag legen können. Dies müsste aber eigentlich zu einem Modell eines noch aktiveren Engagements führen, in dem eine kritische demokratische Teilnahme an den öffentlichen Willensbildungs-

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prozessen gefördert würde: eine politisch garantierte Prozedur, durch welche die Bürger sich geneigt fühlen könnten, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen und den Staat auch kritisieren dürften. Die „leidenschaftliche“ öffentliche Teilnahme der Bürger bildet eine an Hegel indirekt anschließende Auffassung, die es erlaubt, mit und gegen Hegel zu verlangen, dass eine aktive Partizipation der Bürger nicht nur in Bezug auf die Arbeits- und Marktsphäre zu finden ist, sondern dass auch grundlegend wäre, dass die Staatsmitglieder sich ermutigt fühlen sollten, an der Dynamik demokratischer politischer Deliberationen selbst teilzunehmen und sich mitverantwortlich zu wissen. Es geht also nicht nur um die Sicherung des prozeduralen Mechanismus, sondern auch um das Gefühl der Teilnahme an einer geteilten Öffentlichkeit, um damit auf den politischen Raum einzuwirken, wobei das institutionelle Design der Objektivität dieses subjektive Gefühl unterstützen und seine Legitimität fördern sollte. Eine nachmetaphysische Aktualisierung der Hegelschen Theorie der Sittlichkeit bedeutet deshalb die Entwicklung einer historisch immanenten und demokratischen Theorie der Institutionen. Eine zweite in unserer Untersuchung veranschaulichte Frage bezieht sich auf Hegels Tendenz zu einer mit der Idee einer institutionellen Willensbildung assoziierten paternalistischen Vorstellung; denn es hat sich im Laufe der bislang durchgeführten Rekonstruktion gezeigt, dass Hegels Sittlichkeitstheorie die Absicht hat, nicht nur das institutionelle Gewebe für die Verwirklichung des subjektiven Willens bereitzustellen, sondern auch die Bedingungen für die Willensbildung in einem sozialen Kontext zu ermöglichen. Durch eine sozial vermittelte Ausbildung des Willens soll der Inhalt entstehen, den Hegel als Bedingung für den „freien“ Willen bezeichnet. Dennoch, um die offensichtliche Gefahr zu vermeiden, von diesem Modell zu einem „paternalistischen“ oder übermächtigen Begriff des Staates überzugehen, sollte stets der Raum für eine ungezwungene Realisierung des subjektiven Willens offen gelassen werden. Insofern scheint es nun wichtig, zwischen einem paternalistischen und einem emanzipatorischen Konzept institutioneller Bildungsprozesse zu unterscheiden; denn die Idee der „Befreiung“ wird mit derjenigen sittlichen Institution, die Hegel mit dem Potenzial einer bildenden Funktion auszeichnet, assoziiert: Die Möglichkeit der Befreiung von inneren und äußeren Zwängen, die Hegel als Realisierung des dezentrierten Willens beschreibt, lässt sich als Kriterium für die Willensbildung erkennen, aus der sich eine emanzipatorische Rolle der Institutionen ergibt, insofern die individuelle Autonomie – mit Hegels Begriff der individuellen „Befreiung“ – als Ziel seines Bildungsprozesses gesetzt wird. Innerhalb der sittlichen Sphären der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und

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des Staates findet dieser emanzipatorische Prozess statt, durch den das Subjekt seine Freiheit als sittliche bzw. soziale Freiheit fühlt und sich aneignet. Diese Möglichkeit hängt aber Hegels Vorstellungen entsprechend davon ab, dass der freie oder autonome Wille nicht in Gestalt abstrakter, von allen sozialen Kontexten losgelöster Präferenzen und Wünschen auftritt; denn nur weil der Inhalt des subjektiven Willens von seinen sozialen Kontexten nicht trennbar ist, lässt sich seine Erfüllung als mit einem minimalen moralischen Gehalt ausgestattet erfassen. Um den Vorwurf des Paternalismus vor diesem Hintergrund zurückweisen zu können, sollte dieser moralische Gehalt der Dezentrierungserfahrung gleichzeitig den Raum für individuelle Entscheidungen über ein gutes Leben offen lassen.13 Dem Umstand, den dieser Raum als Realisierung von sittlicher Freiheit ausdrückt, soll sich eine Sittlichkeitstheorie widmen: Einerseits erschließt sich auf einer nichtinstitutionellen Ebene – wie wir es etwa bei der Gewohnheit gesehen haben – eine normative Semantik für die moralische Erfahrung dezentrierter Gehalte; und für eine Theorie der Institutionen ergibt sich daher andererseits die Frage, inwiefern die sozial vermittelten Gehalte des freien Willens realisierbar sind. Ein drittes Problem lässt sich als das des Kriteriums der Kritisierbarkeit bezeichnen. In der Tat hat Hegel – wie wir gesehen haben – eben nur einen partiell normativen Charakter der auf den Staat bezogenen subjektiven Gesinnung entwickelt, eben das „Vertrauen“ in den Staat. Das bleibt ein ständiges Problem seines Ansatzes, das aber nicht ausschließlich eine Konsequenz seiner Theorie des objektiven Geistes ist, sondern auch von seinen geschichtlichteleologischen und metaphysischen Prämissen herrührt. Systematisch gesehen wurde in der bisherigen Darstellung der Zusammenhang von – um in Hegels Terminologie zu bleiben – „subjektivem“ und „objektivem“ Geist rekonstruiert und vorgeschlagen, dass die Bildung des subjektiven Willens von einem sittlichen institutionellen Rahmen abhängt, der seinerseits die Realisierung individueller Interessen unter einer sozialen, inklusiven Perspektive fördern müsse. Mit Hegels internen Prämissen ist gewiss der Zusammenhang von subjektivem und objektivem Geist mit der metaphysischen These eines Lernprozesses innerhalb der Geschichte nicht zu trennen: Nicht nur das Subjekt, so hat Hegel es gesehen, sondern auch Gesellschaften lernen dazu.14 13 Zur Diskussion über den Zusammenhang zwischen Lebensformen und Kritik, vgl. jüngst Jaeggi 2013. 14 So erwähnt Hegel etwa – um nur auf die Rechtsphilosophie hinzuweisen – am Ende dieses Werkes „die Frage über die Perfektibilität und Erziehung des Menschengeschlechts“, die er mit der nach „der Natur des Geistes“ verbindet, nach „seiner Natur, Γνωϑι σεαυτόν zum Gesetze seines Seins zu haben und, indem er das erfaßt,

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Man muss dazu bemerken, dass Hegel in seiner Theorie des objektiven Geistes die „Wirklichkeit“ nicht nur einer bloß deskriptiven, sondern einer immanent normativen Analyse unterzieht; denn die Betrachtung der Wirklichkeit als vernünftig ist nur möglich, wenn „Wirklichkeit“ nicht eine bloß neutrale Beschreibung der Realität meint, sondern auch ein kritisches Potenzial umfasst. Wenn einerseits Hegels geschichtlich-philosophische Thesen seiner Theorie des objektiven Geists eine unkonventionelle normative Rolle verleihen, sollten sich auch umgekehrt die Kriterien erschließen, um verfälschte institutionelle Formen – diejenigen, die unter dieser normativen Perspektive nicht „vernünftig“ sind – kritisieren zu können. Denn nur in Hinblick auf in diesem Sinn als „vernünftig“ beschreibbare Institutionen ist das Subjekt legitimiert, sich auf ein „Allgemeines“ zu beziehen und an einer dezentrierten Perspektive teilzunehmen; umgekehrt lassen sich die Institutionen als defizitär kritisieren, von denen die Subjekte abweichen. Weil Hegel aber mit seiner metaphysischen Prämisse eine „teleologische“ Auffassung verfolgte, zeigt sich, wie wichtig die Betonung einer kritischen Darstellung ist, die nach Hegel eher negativ – wenn also die beschriebenen Prämissen „vernünftiger“ Institutionen nicht erfüllt sind – verstanden werden kann.15 Dass Triebe und Leidenschaften vor allem in der Moderne als grundlegender Ausdruck der Individualität in jedem sittlichen Prozess vorhanden sind, wollte die hier durchgeführte Rekonstruktion veranschaulichen. Es geht nicht um die bloße Anpassung an etablierte sittliche Normen, sondern darum, die vorher als „vernünftig“ legitimierten Räume der Selbstverwirklichung der subjektiven Freiheit zum Ausdruck bringen zu können. Die von uns untersuchten Formen der sich auf sittliche Sphären beziehenden, „gebildeten“ Gefühle müssen stets einen Raum der Kritisierbarkeit offen lassen, damit der Bildungsprozess legitim bleibt. Hegel war aber nicht konsequent genug, um aus dem Zusammenhang von subjektiven Gefühlen und sittlichen Sphären die Strukturen von subjektiver Kritik oder die von proaktiver Teilnahme an der politischen Sphäre herauszudestillieren. Denn die vorher diskutierte Bedeutung von „Vernünftigkeit“ wird nach Hegel nicht nur als normatives Kriterium der Doppelstruktur von subjektiver Verwirklichung einerseits und objektiven, institutionawas er ist, eine höhere Gestalt als diese, die sein Sein ausmachte, zu sein“ (VII, §343). In dieser Richtung wäre eine mögliche Betrachtung von Hegels Philosophie der Geschichte zu entwickeln – auch wenn nur indirekt und weniger mit Blick auf Hegels metaphysische Prämissen, sondern eher in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Leidenschaften und Geschichte. Dieser Punkt geht allerdings über die hier verfolgte Absicht hinaus. 15 Vgl. dazu VII, §138.

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lisierten Formen der Sittlichkeit andererseits gesehen, sondern als mit einem dritten Charakter der „Vernünftigkeit“ verbunden, nämlich einen, der sich in der Geschichte vollzieht. Somit wird sowohl die Signifikanz der subjektiven Beteiligung als auch die der Kritisierbarkeit institutionalisierter Formen obskur. Diese beiden Charakterisierungen des ursprünglichen Hegelschen Ansatzes – allerdings getrennt von der These einer unbestimmbaren Teleologie – lassen sich aus einer Rekonstruktion der immanenten normativen Kriterien für die Herausbildung des freien Willens und der Vernünftigkeit der Institutionen gewinnen. Es lässt sich insofern bei Hegel ex negativo eine komplementäre Auffassung derjenigen Gesinnung und Haltung gegenüber unlegitimierten institutionellen Formen unter dem Begriff der Kritik erkennen; denn mit dem gleichen begrifflichen Rahmen, in welchem Hegel eine positive Form etwa von Liebe, Vertrauen und politischer Gesinnung skizziert, lässt sich auch die subjektive Motivation verstehen, mit welcher sich Individuen auch leidenschaftlich und kritisch gegen illegitime soziale Praxisformen erheben. Insofern bezeichnen Gefühle von Ungerechtigkeit und Missachtung ein kritisches Motiv zur Auflehnung gegen illegitime Institutionen.16 Mit Hegel lässt sich von den Gefühlen gegenüber defizitären Institutionen aus auch zu einer „propositiven“ Verbesserung dieses institutionellen Rahmens hinausgehen. Daher ergibt sich als Kriterium der „Vernünftigkeit“ von Institutionen auch – wenn auch nach Hegel eher indirekt –, dass sie „kritisierbar“ sind: Nur insofern, als die Institutionen einerseits für Kritik offen bleiben und andererseits auch den Raum der Kritik ihrerseits sicherstellen, können sie als „vernünftig“ gelten. Nicht zu übersehen ist in der Tat, dass Hegel nicht nur mit dieser Verflechtung zwischen subjektivem und objektivem Geist operiert hat, sondern auch mit dem, was er als „absoluten Geist“ bezeichnet. Hier betrachtet Hegel die Grenzen seiner Sittlichkeitstheorie: Der Übergang von defizitären Formen der sittlichen Freiheit ist von einem „Absoluten“ untrennbar, einerseits verstanden als ein geschichtlich immanenter Lernprozess und andererseits als die innerhalb des Sozialen nicht reduzierbare Dimension der Subjektivität. Laut Hegel stellt dadurch eine geschichtlich „immanente Normativität“ gleichzeitig die Grenzen einer normativen Theorie17 dar, die anhand von zwei Grundaspekten beschrie16 Vgl. hierzu Honneth 1994. Kap. 8. 17 Soweit ich sehe, stellt sich Honneth diese Auffassung auch ähnlich vor. So etwa schließt Kampf um Anerkennung mit dem Hinweis, dass die Frage, in welche Richtung das von ihm entwickelte Sittlichkeitsmodell sich tatsächlich entwickeln wird, „keine Sache der Theorie mehr [ist], sondern eine der Zukunft von sozialen Kämpfen“ (Honneth 1994:287).

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ben werden kann. Eine erste ist mit der Vorstellung eines moralischen Fortschrittes verbunden und bezieht sich auf denjenigen Lernprozess, der außerhalb der Domäne einer normativen Theorie liegt. Eine zweite weist auf kontextuelle Problemlösungen hin, für welche eine normative Theorie nur einen groben Orientierungsrahmen bieten kann. Sie darf nicht selbst auf das Problem des bloßen Formalismus stoßen, welches der Ausgangspunkt von Hegels Kritik ist; denn die Form der Willensbildung muss mit bestimmten Kontexten verknüpft werden, deren Inhalt nur innerhalb sittlicher Verhältnisse selber zu finden ist, und dadurch wäre irgendein apriorischer Inhalt ihr stets inadäquat.18 Auch wenn kein spezifischer Inhalt von vornherein festgelegt wird, befindet sich unter sittlichen Formen die Möglichkeit einer normativen Kritik solcher Strukturen, in denen individuelle Leidenschaften, Begierden und Neigungen nicht als „sittliche“ (bzw. „vernünftige“) ausgebildet werden können. Mit der Beschränkung des Raums der normativen Theorie lässt sich ein deterministischer Ansatz vermeiden, wodurch die Kontingenz in der individuellen Biografie offen bleiben soll. Hier ist also nicht gemeint, dass eine normative Theorie über eine institutionell vermittelte Willensbildung eine rigide, endgültige Betrachtung individueller Narrative bieten könnte. Sie soll vielmehr zeigen, dass die subjektive Freiheit mit den hier genannten „sittlichen Gefühlen“ zusammenhängt, sie aber einen idiosynkratischen Gehalt trotzdem nicht ausschließt: In den Erfahrungen von Liebe, Solidarität und politischer Gesinnung bleibt immer eine Kontingenz von Gefühlen und Affekten bestehen, die sich nicht allein auf soziale Verhältnisse reduzieren lassen. Einerseits sind die Institutionen verantwortlich dafür – wie es vorgeschlagen wurde -, sittlichen Gehalt zu verkörpern und zu fördern. Andererseits, und insbesondere im ökonomischen und politischen Rahmen, sollen die Institutionen die Zufälligkeit subjektiver Gefühle ergänzen. Während bei der Liebe der subjektive Raum flexibler bleibt, bleibt bei der Solidarität und politischen Gesinnung die Rolle der Institutionen deutlich stärker. Diese sind aber nicht nur substantialistisch zu verste-

18 Dies ist die zentrale Idee der Bildung, die auch in der gesamten vorliegenden Argumentation diskutiert worden ist. Auch Raymond Geuss spricht von der Veränderung von Werten und Begriffen als ein „result of being‚ put into practice“ und „a kind of ‘learning’ experience“ (Geuss 2008:5). Geuss ist aber skeptisch in Hinblick auf eine Notwendigkeit der Bildung in und durch politische Erfahrungen. Hier sind auch McDowells Diskussionen der aristotelischen Konzeption der Phronesis und über den Zusammenhang von Bildung und zweiter Natur bedeutsam (vgl. z.B. McDowell 1994, 2009). Zum Verhältnis von substantiellem und formalen Sittlichkeitsbegriff vgl. Honneth 2004, insb. Kap. 9.

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hen, sondern auch durch subjektive Handlungen – insofern durch sie individuelle Bedürfnisse und Interessen befriedigt werden – zu verwirklichen. Insofern lässt sich zuletzt andeuten, dass nicht nur der subjektive Lernprozess von den objektiven, den in der Sittlichkeit sich befindlichen Institutionen abhängt, sondern auch die sozialen Formen von einem in der Geschichte ständig ablaufenden Lernprozess nicht abzutrennen sind. Auch wenn diese Auffassung von noch schwierig zu rechtfertigenden Hegelschen metaphysischen Prämissen abhängen, lässt sich von den hier dargestellten Argumenten zum Zusammenhang zwischen Bildungsprozess und Dezentrierung des Willens aus ein möglicher Beitrag zu einer an Hegel anschließenden Sittlichkeitstheorie entwickeln. Die Verwirklichung individueller Freiheit innerhalb von legitimen, „vernünftigen“ Institutionen bleibt die Aufgabe dieses Bildungsprozesses, und dieses Ziel bildet den Horizont eines innerhalb sozialer Kontexte situierten Lernprozesses; denn die normative Wirksamkeit einer sozialen Theorie wird durch diffuse und nichtlineare Bewegungen eines geschichtlich immanenten sozialen Lernprozesses herausgearbeitet, wobei Hegel wieder in dem Begriff der Freiheit den Motor dieses Prozesses gesehen hat. Hegels Theorie des objektiven Geistes beantwortet insofern eine bestimmte Frage, nämlich in Bezug auf die Verwirklichung der Freiheit in sittlichen Kontexten, wobei die Unterstützung des subjektiven Rechtes und die Ermöglichung des entsprechenden institutionellen Rahmens für die Verwirklichung dieses Modells sozialer Freiheit durchgeführt wird. Eine Theorie des Sozialen sollte sich also vor allem dem Verhältnis zwischen Freiheit und Institutionen sowie dem Bildungsprozess einer sozial verwirklichten individuellen Freiheit widmen. Die Thematisierung der subjektiven Freiheit und Selbstverwirklichung soll so beschränkt werden, was die Aufgaben einer Theorie des Sozialen umreißt. Die Präzisierung des institutionellen Rahmens und dessen Verkörperung auf den hier im Anschluss an Hegel dargestellten Stufen der Formierung eines dezentrierten Willens erschließt weitere mögliche Entwicklungen dieses Untersuchungsgegenstands. Idiosynkrasien und die nie endgültig erreichte Erfüllung des subjektiven Willens sind ihrerseits Themen, die jenseits des Zusammenhangs von menschlicher Natur und sozialer Theorie zu behandeln sind.

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Christian W. Denker Vom Geist des Bauches Für eine Philosophie der Verdauung August 2015, ca. 450 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3071-8

Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Ethik – wozu und wie weiter? April 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2916-3

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Edition Moderne Postmoderne Angelo Maiolino Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus Eine Hegemonieanalyse 2014, 448 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2760-2

Sandra Markewitz (Hg.) Grammatische Subjektivität Wittgenstein und die moderne Kultur September 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2991-0

Marc Rölli (Hg.) Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik März 2015, 234 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2956-9

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