Das Böse in der politischen Theorie: Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen [1. Aufl.] 9783839404652

Die Studie schließt eine Lücke in der Forschung zur Theorie des Bösen. Dieses ist bislang kaum in seiner Bedeutung für d

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German Pages 232 [229] Year 2015

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Das Böse in der politischen Theorie: Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen [1. Aufl.]
 9783839404652

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Gute als Norm der Freiheit bei Kant
Über Freiheiten ohne vernünftigen Widerspruch. Platons, Augustinus’ und Leibnizens ethischer Intellektualismus
Das absolut Böse und das Scheitern der moralischen Freiheit zum Guten bei Kant
Die anti-politische Aufhebung des Guten bei Nietzsche
Hegels Moralkritik – Vorsittliches Gutes
Machiavelli, Hobbes und Weber: Ethik der Macht
Das Recht als Ende der Versuchung bei Kant
Der Komplementärmythos vom edlen oder schlechten Wilden bei Hobbes und Rousseau
Politik des ewigen Friedens gegen das evil empire bei Kant
Die Macht der Negativa in der politischen Theorie Hegels
Das (un)lebendige Gute der Sittlichkeit bei Hegel
Abschluss
Literatur

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Das Böse in der politischen Theorie

Tobias Blanke (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arts and Humanities Data Service des King’s College, London. Er veröffentlicht zu Theorien der Politik und Moral sowie zu Überschneidungen von Informationstheorie und Ethik.

Tobias Blanke

Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen

Diese Arbeit basiert auf einer Dissertation eingereicht bei: Freie Universität Berlin, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften Tag der mündlichen Prüfung: 12. August 2004

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Tobias Blanke Korrektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-465-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inh alt Einleitung

7

Das Gute als Norm der Freiheit bei Kant

27

Über Freiheiten ohne vernünftigen Widerspruch. Platons, Augustinus’ und Leibnizens ethischer Intellektualismus

45

Das absolut Böse und das Scheitern der moralischen Freiheit zum Guten bei Kant

67

Die anti-politische Aufhebung des Guten bei Nietzsche

87

Hegels Moralkritik – Vorsittliches Gutes

97

Machiavelli, Hobbes und Weber: Ethik der Macht

119

Das Recht als Ende der Versuchung bei Kant

135

Der Komplementärmythos vom edlen oder schlechten Wilden bei Hobbes und Rousseau

147

Politik des ewigen Friedens gegen das evil empire bei Kant

163

Die Macht der Negativa in der politischen Theorie Hegels

175

Das (un)lebendige Gute der Sittlichkeit bei Hegel

187

Abschluss

205

Literatur

217

E in leitung

Man bemüht sich jahrelang um eine Arbeit über den Zusammenhang von Politik und dem Bösen – und kurz vor Ende derselben präsentiert kein geringerer als der aktuelle US-amerikanische Präsident seine Lösung für das „evil“ in der Welt und dessen empire. Unterstützt wird er dabei von einem englischen Premierminister und anderen Staatsmännern. Ausgelacht wird er von allen liberalen Intellektuellen, welche wissen, dass es kein Böses gibt und schon gar nicht in der Politik. Die Lösung des amerikanischen Präsidenten scheint einfach. Die Anderen sind Terroristen und böse, wir sind Demokraten und gut. Da haben die Intellektuellen gut lachen. Sie erklären die Politik zu einer Tatsache des menschlichen Zusammenseins jenseits des Bösen (und Guten). Diese Arbeit will beiden Auffassungen widersprechen. Zum einen hat das Böse eine Bedeutung für die Idee der Politik. Man muss nur sehen, wie sich deren Theoretiker die Zähne an ihm ausbeißen. Das schließt nicht nur die „dunklen“ Gestalten der politischen Theorie ein wie Hobbes und Machiavelli, sondern auch einen Kant, gern zitiert für dessen Friedenswillen. Zum Zweiten will die Arbeit darlegen, dass die einfache Formel „Wir die Guten, die anderen die Bösen“ nicht aufgeht. In der Theorie sind alle böse, gerade auch „wir“, weswegen „uns“ nur eine bestimmte Politik weiterzuhelfen vermag. In dieser Politik behandelt man sich selbst als böse. Am Anfang der politischen Wissenschaft der Neuzeit steht der Zweifel an der Menschennatur. In der Theorie werden Staaten gegründet, weil der Mensch seine Freiheit missbraucht. Der Politik ist es aufgegeben, die Menschen vor der Gewalt durch sie selbst zu schützen. Wo „man sich Mühe gibt, die eigensten Gefühle zu beobachten“,1 setzt für Hob-

1 Hobbes, Thomas: „Vom Bürger“, in: ders., Vom Menschen – Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, Hamburg: Meiner 1994, Vorwort an die Leser, S. 68.

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bes die Staatsphilosophie ein. „Nosce te ipsum, lies in Dir selbst“, stellt die Einleitung des Hobbesschen Leviathan fest und setzt damit das Prinzip seines politischen Systems. Zu Beginn der Wissenschaft von der Ordnung unter den Menschen steht die Selbstbeobachtung, die feststellt, dass „Ich“ keinem trauen kann, nicht einmal mir selbst. Der Name Dem Anderen ist nicht zu trauen, schon allein deswegen nicht, weil man sich selbst nicht trauen kann. Das Böse ist keine Sache der leisen Töne, schon gar nicht in der Politik. Politiker können, seit das Böse als Vorstellung existiert, die Finger nicht von ihm lassen. Meist wird es benutzt, um die Endgültigkeit des politischen Gegners zu betonen. Radikaler „verandert“ kann ein politisches Subjekt nicht mehr werden. Radikaler kann die Güte der eigenen Position nicht mehr unterstrichen werden, denn gegenüber dem Bösen kann es nur noch das Bessere geben. Kein Wunder also, dass es bei Politikern so beliebt erscheint, gerade wenn diese nichts mehr zu sagen wissen. Man müsste aufgrund der Beliebtheit des Bösen bei Politikern vermuten, dass dasselbe in der politischen Theorie intensiver diskutiert wird und dieser Beitrag Details hinzufügt. Diese Debatte existiert aber höchstens in Ansätzen. Insofern wird hier theoretisches Neuland betreten, das helfen soll, die Praxis der Politik aufzudecken. Moralische Ratgeber derselben empfehlen lieber, was gut ist. Politiker sagen, was zumindest irgendwie böse erscheint. Das Verhältnis von Ethik und Politik erscheint so von Anfang an von einem Missverständnis geprägt zu sein, zumindest wenn man die Kommunikation ihrer Subjekte betrachtet. Schön wäre es, könnte man seine Einleitung damit beginnen, dass man die Aktualität des eigenen theoretischen Themas für die Politik der Gegenwart festhält. Nach dem eben Gesagten scheint dies keine Schwierigkeit für das Böse im Zeitalter des globalen Kampfes gegen den „untergründigen“ Feind des Terrorismus. Das Böse ist in dieser Zeit in aller politischen Munde, sei es nun, um es im Ernst zu gebrauchen, sei es, um sich über den Ernst bei anderen lustig zu machen. Dies führt jedoch im Gegenteil nicht zum nahtlosen Anschluss einer politischen Theorie über das Böse an die Gegenwart, sondern zumindest für diese Arbeit zum Zwang, sich gegen diese abzugrenzen. Hier geht es nicht darum, kritiklos zu übernehmen, dass das Böse existiert und daher auch die politische Wehrhaftigkeit auf es eingestellt werden muss. Es geht auf der anderen Seite auch nicht darum, sich über die ideologischen Hintergründe der Verbösung der Anderen aufzuregen und auf diese oder jene evil empire-Rede eines Politikers mit dem erhobenen Zeigefinger zu reagieren. In der politisch-ethischen Theorie – und damit der Grundlage des erhobenen Zeigefingers – ist das Böse ganz und gar nicht unbekannt. Diese Arbeit will vielmehr zeigen, dass, weil sie das Böse gekannt haben, die Herren politischen Theoretiker Politik beschreiben wollten. Der politischen Philosophie scheint die Welt nicht in Ordnung zu sein angesichts dessen, dass in ihr überall gegen vernünftige Interessen verstoßen wird. Die Menschen handeln nicht so, wie sie sollen. Die Welt erscheint den politischen Philosophen als ungeheure Ansammlung von nicht nur guten bis hin zu

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bösen Menschen. Deswegen versuchen sie, Politik zu machen und einem Staat ein Gerüst zu geben, das auch den Gefahren aus dem Menschlichen zu begegnen vermag. Das Böse, so wird die Arbeit versuchen zu zeigen, ist kein Wissensfeld, das sich mit dem Niedergang des theologisierenden Denkens des Mittelalters erledigt hätte. Es ist Schwierigkeit der menschlichen Freiheit, Schwierigkeit menschlicher Verantwortung für das eigene Handeln. Welchem Begriff des Politischen auch immer man folgen mag, Grundkonstante ist, dass er sich aus den Aufgaben aus der Freiheit eines Plurals an Subjekten ergibt. Das Böse ist in der Theoriegeschichte der Grund dafür, dass sich aus der Freiheit von mehreren überhaupt Aufgaben an alle stellen und nicht einfach bloß Sonnenschein ist. Politikwissenschaft ist in dieser Hinsicht die Wissenschaft von der aufgrund des Bösen resignierten Freiheit. Kant und Hegel sollen für den Problemaufriss des Bösen in der politischen Theorie herhalten. Vielleicht hätte man eher vermutet, an dieser Stelle einen Hobbes oder Machiavelli zu finden. Von beiden geht das Gerücht, sie hätten ihre politische Theorie vor allem auf die Gewissheit gegründet, dass die Menschen nun einmal böse seien. Als nächstes könnte man noch Rousseau erwarten als eine Art Gegenspieler zu den Erstgenannten, wird diesem doch ein unbedingtes Vertrauen in die Menschennatur nachgesagt. Er habe das Gute im Menschen gesehen. Die Theoretiker des erhobenen Zeigefingers haben ihren Nietzsche bereit, der allen Theorien über Gut und Böse so richtig Bescheid gegeben und ein Jenseits davor gesetzt habe, den deutschen Idealismus beendend. Alle Genannten werden in der Arbeit behandelt. Jeder von ihnen und andere Philosophengeister werden vordringlich benutzt, um Probleme und Fragen genauer zu verstehen, die sich aus der Lektüre Kants und Hegels ergeben haben. Diese Ikonen dessen, was als deutscher Idealismus zusammengefasst wird, sind am ehesten in der Lage zu beantworten, wie das Böse in der Theorie die Politik „macht“. Kant, weil er die Theorie vom Bösen und der Politik revolutioniert hat. Was diese Revolutionen ausmacht und wie sie verbunden sind, wird die Arbeit zeigen. Hat Kant die Probleme der Theorie des Bösen vor ihm aufgedeckt und die radikale Wende vollzogen, tut Hegel dasselbe mit der Kantischen Theorie. Seine Wende ist vielleicht weniger radikal und nennt sich „Aufheben“, trotzdem hat er die Probleme der Kantischen Theorie gesehen, besser noch als Nietzsche, Liebling der über den Idealismus Erhabenen. Diese Kritik an Kant allein macht Hegels Ideen über das Böse und das Politische noch nicht entscheidend. Was vielmehr aufregt, ist, was er als Lösung für das Problem des Bösen aufbietet: Politik. Dieser Idee will die Arbeit folgen. Der Begriff des Bösen ist nicht einfach darzulegen. Zunächst liegt das an allen philosophisch-rationalen Versuchen, ihn zu definieren. Hier macht es Probleme, den ganzen Umfang der unterschiedlichen Dimensionen des Begriffes vom Bösen im philosophischen Diskurs auch nur annähernd zu überblicken, denn das Böse gehört zu den philosophischen Grundbegriffen. Neben der Philosophie streiten sich auf einer mehr oder weniger rationalen Basis Theologie, Esoterik

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und in neuerer Zeit auch wieder die Politik um eigene Begriffe vom Bösen. Zusammen bilden diese den alltagssprachlichen Überbau, der immer mitschwingt, wenn Böses in der einen oder anderen Form entdeckt wird. Der Streit um eine adäquate Definition des Bösen ist Jahrtausende alt.2 Schon Aristoteles merkte in den Kategorien an, dass es schwierig sei, die Begriffe der Opposition von Gut und Böse („kakon“) zu definieren, weil sie in keiner Gattung enthalten seien, sondern selbst die Gattung von Anderem bildeten.3 Bezüglich des Guten und des Bösen können bestimmte Gegenstände nur noch unter diese fallen, über ihnen steht keiner. Diese Sonderstellung des Guten und des Bösen an der Spitze der Hierarchie philosophischer Begriffe fördert, dass die Menschen auf der Suche nach dem Wesen des Bösen auf andere Mittel als das mit reiner Ratio Mögliche vertrauen. Für das Wissen um das Böse wird auch von Philosophen auf Strukturen des Nicht-Wissens zurückgegriffen, wie zu sehen sein wird. Die Philosophie ist – wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch – bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit in Hinsicht auf eine Bestimmung des Bösen eher auf dem Rückzug. So muss die Wiederentdeckung des Begriffs im politischen Diskurs der Gegenwart vielleicht noch nicht an sich Sorge erregen, bedenkt man, was philosophisch mit dem Bösen gemeint ist und wozu mit diesem motiviert werden sollte. Die Wiederentdeckung ist jedoch eher religiös motiviert, nicht einmal theologisch, und stammt wohl aus Weltbildern, welche selbst von der christlichen Dogmatik immer bekämpft worden sind, wie am Beispiel von Augustinus’ Beschäftigung mit dem Bösen zu erkennen sein wird. Einen Manichäismus konnte die Dogmatik um der Einheit Gottes willen nicht zulassen. Wegen ihres Ursprungs im Religiösen muss die Wiederentdeckung der radikalen Gegensätze in der Politik beunruhigen, denn diese suggerieren begriffliche Schärfe, wo keine vorhanden ist. Die Philosophien hingegen, welche sich dem Bösen widmen, sind sich ihrer Definitionsmacht über das „Böse“ nicht so sicher.4 Für Augustinus ist dem endlichen Verstand des Menschen das Böse notwendig verborgen. Nur durch „Nichtwissen“ kann man von ihm wissen, denn es ist lediglich in den Schatten der von Gott gut geschaffenen Welt zu finden. Kant ist das Böse „unerforschlich“, und Hegel beschreibt es als „Mysterium der Freiheit“. Nicht allein bei Augustinus, Kant und Hegel schillert der Begriff des Bösen durch verschiedene Dimensionen und ist meist lediglich abstrakt derselbe in den unterschiedlichen Zusammenhängen, in denen er auftaucht. Für die Betrachtung der unterschiedlichen Auffassungen vom Bösen ist es aufgrund des zuletzt Gesagten geboten, sich weniger auf die Definition des Bösen zu stürzen – welche die Philosophen durchaus bieten –, um zu überprüfen, ob 2 Eine detaillierte Diskussion des Begriffes des Bösen findet sich bei Schäfer, Christian: „Unde malum. Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius“, Würzburg: Königshausen und Neumann 2002, S. 11ff. 3 Vgl. Aristoteles: „Kategorien, Metaphysik“, in: Eugen Rolfes (Hg.), Aristoteles, Philosophische Schriften, Bd. 1, Hamburg: Meiner 1995, 14a. 4 Vgl. C. Schäfer: Unde malum, S. 12.

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sie durchgehalten wird und stichhaltig ist. Es erscheint besser zu sein, dem Begriff des Bösen in dessen unterschiedlichen Dimensionen und Rückbezügen auf die philosophische Tradition zu folgen. So erklärt sich der Gehalt des jeweiligen Bösen wenigstens aus dessen Funktion am jeweiligen Ort und darüber hinaus in der Argumentation des Philosophen überhaupt. Intensiv benutzt wird die Vorstellung des Bösen von allen Autoren, was der begrifflichen Unfasslichkeit des Bösen in gewisser Weise entgegensteht. Gerade in den politischen Philosophien steht die Unmöglichkeit, das Böse zu definieren, und die notwendige geltungstheoretische Leere, welche einen Begriff so weit oben in der Hierarchie der Gattungen und Arten kennzeichnet, einem extensiven Gebrauch desselben gegenüber. Philosophische Meister der Definition verlassen sich in ihren politischen Begründungen wieder auf die geheime Übereinstimmung mit ihren Lesern darin, dass das Böse ist und was als solches zu bezeichnen ist. Dieses „Böse“ hat das Privileg in der politischen Philosophie, unter vielen Negativa die produktivste Rolle beim Aufbau eines Systems spielen zu dürfen. Es findet sich zwar nirgendwo im Reich der Ideen festgelegt und kann von daher auch kaum in einer Wirklichkeit zu finden sein, die nur über Begriffe zugänglich ist, ist aber fast selbstverständlich im Gebrauch der politischen Philosophen. Die Arbeit wird dies darstellen. Am Anfang der neuen politischen Philosophie bei Machiavelli ist es die Gewissheit, dass die Menschen radikal verdorben sein sollen, die dazu führt, alte, antike Vorstellungen von menschlichen Gemeinschaften zu verwerfen. In der politischen Philosophie war es das Böse, das zu einem neuen Anfang führt. Es ist über die Jahrhunderte hinweg das, was gewiss ist und wogegen das neue Gute der Politik aufgestellt werden muss. Weber hat hunderte Jahre nach Machiavelli die Legitimation des Gewaltmonopols über das Böse im Menschen zu der ethischen Frage des Politischen schlechthin erklärt, wie beschrieben werden wird. Man könnte dementsprechend sagen, dass das politisch Gute am Sein des Bösen hängt. Das Unendliche, was die Politik anzuleiten hat, hat sich darin gewandelt. Es ist nicht mehr Gottes Gebot vom Berg, sondern genau dasjenige, was Gott nicht hat wollen können. Mit seiner Fundierung auf das Böse wird das Politische radikal menschlich. Es markiert den Unterschied des Menschen zu anderen höheren Wesen in und über der Welt, gut oder böse sein zu können. Wenn der Mensch bereitsteht, das Übel in der Welt zu erklären, macht es keinen Sinn mehr, dieses auf einen lange vergangenen kosmischen Konflikt zurückzuführen. Nicht der Fall eines Engels zum Teufel wie im christlichen Mythos erklärt die Abweichungen innerhalb einer allgemeinen guten Ordnung der aufgeklärten Welt, sondern diese Abweichungen gehören zu der Ordnung, weil der Mensch zu ihr gehört. Der Teufel stirbt demzufolge am Anfang der politischen Emanzipation in der Neuzeit und spielt bei keinem der betrachteten Autoren der neueren Geschichte mehr eine wesentliche Rolle, geht es um das Böse in der Welt. Der Mensch schafft das Böse ganz allein mit der gleichen Kraft, mit

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der er auch das Gute schafft. Das Böse folgt seinem Willen und seiner Freiheit, was gerade die Autoren der Neuzeit erschrecken muss, die wie keine vor ihnen ihre Hoffnungen in die Freiheit gelegt haben. Die Freiheit wirkt für Kant zerstörerisch. Er attestiert ihr in seinen Reflektionen, „Ursprung allen Übels und aller Unordnung“ (Refl. 7220) zu sein.5 Es ist das Nicht-Festgelegtsein des Menschen, das diesen aus dem reinen Befehlsempfänger einer göttlichen oder natürlichen Ordnung befreit und das ihn gleichzeitig in die höchste Verzweiflung stürzt. Hegel formuliert die ambivalente Einstellung zur menschlichen Freiheit zwischen Hoffen and Bangen bündig für eine ganze Generation von Aufklärern: „Hier [in dem trennenden Moment der Freiheit, d.V.] ist die Quelle des Übels, aber auch der Punkt, wo die Versöhnung ihre letzte Quelle hat. Es ist das Krankmachen und die Quelle der Gesundheit.“ (Rel5, 138f.)6 Die neuzeitliche Idee des Politischen folgt laut der Tradition aus den Möglichkeiten oder besser Unmöglichkeiten menschlicher Freiheit. Diese kann zum einen das Gute wollen, zum anderen jedoch auch das Böse. Das Politische ist Erfordernis aus der mangelhaften Freiheit, die nicht eins ist mit der Notwendigkeit, Gutes zu tun, und aus der Möglichkeit, dass sich die menschliche Freiheit gegen sich selbst wenden kann und der böse Wille die Unfreiheit begehrt. Politische Idealisten und Realisten unterscheiden sich zumeist nicht im Glauben an die Grundtatsache der Gespaltenheit menschlicher Freiheit, sie unterscheiden sich vor allem in der Hoffnung, die sie ins Gute des Menschen setzen. Erst aus den Erfordernissen menschlicher, endlich-unendlicher Freiheit gewinnt sich die moderne Institutionalisierung des Politischen: der Staat. Weil der Mensch mit dem Bösen droht, kann der Staat zugleich eine „civitas“, eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (Kant) und eine Zentralgewalt sein. Da sich die Freiheit gegen die Freiheit stellen kann, existiert das Politische in doppelter Gestalt. Es besteht als Vermittlung der besonderen Individuen und als eine Allgemeinheit der Macht, die nicht nur über den besonderen Individuen steht, sondern sich auch gegen diese stellen kann, ohne an Legitimität zu verlieren. In dieser doppelten Gestalt als Freiheit und als Freiheit über den Freiheiten existiert die Politik als Idee durch die Jahrhunderte hindurch. Die Freiheit und damit die Differenz von Gut und Böse sind dieser Form des Politischen genauso vorausgesetzt wie dieses Politische dem Staat.

5 Kants Schriften werden nach der Akademieausgabe zitiert (röm. Ziffern bezeichnen den Band, arabische die Seite), mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, die wie üblich nach A (1. Aufl.) und B (2. Aufl.) zitiert wird. Im Anhang sind die römischen Ziffern für die wichtigsten Kantischen Schriften aufgeschlüsselt. 6 Hegels Schriften werden nach der Ausgabe der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zitiert (die erste arabische Ziffer bezeichnet den Band, die zweite die Seite bzw. den Paragraphen), sofern der entsprechende Band vorliegt. Andernfalls werden die jeweils aktuelle Ausgabe bei Meiner oder Suhrkamp zitiert (in der Form Abkürzung und Seiten- bzw. Paragraphenangabe). Im Literaturanhang sind die Angaben aufgeschlüsselt.

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Der Versuch der Philosophen, das Böse in ihre Systeme der praktischen und politischen Philosophie einzugliedern, hat dieses von seinen religiösen Ursprüngen in Aber- und Teufelsglauben entfernt. Freigelegt worden ist der Kern des Bösen, dessen Verwurzelung in der Freiheit und dem spezifischen Dasein der Gattung Mensch in der Welt. In den philosophischen Diskursen hat sich im Laufe einer 2000 Jahre alten Debatte am ehesten eine Konstellation gebildet, innerhalb derer das Böse gerade in seiner Funktion für das Politische zumindest in Ansätzen verstehbar wird, d.h. in Begriffen zu fassen ist. Dementsprechend ist diese Abhandlung über unterschiedliche philosophische Positionen durchaus als am Phänomen orientiert zu verstehen, sucht nach dem Phänomen des Bösen und findet es ausgeformt in den begrifflichen Formationen seiner Denker. Die „Sache“ des Bösen findet sich hier, denn es ist eine Gedankenformation. Im Laufe der Geschichte des Denkens hat sich das Böse immer weiter von seiner ursprünglich religiösen Rolle verabschiedet und steht spätestens seit der Neuzeit für ein vorwiegend moralisches Problem. Der Teufel als Verursacher des Bösen tritt zurück, an seine Stelle tritt die „Unvollkommenheit der Kreaturen“ (Leibniz). Hegel hat diese Entwicklung in ein (falsches) Faust-Zitat zusammengefasst: „Den Bösen sind sie los, das Böse ist geblieben.“ (20, S. 7)7 Unterschied Leibniz noch „malum metaphysicum“ (menschliche Unvollkommenheit), „malum physicum“ (Leid) und „malum morale“,8 lässt die ihm nachfolgende Epoche der Aufklärung nur noch Letzteres in Geltung. Mit dieser Entwicklung einher geht eine Veränderung der Perspektive auf das Böse, das jetzt für das „Mysterium der Freiheit“ (Hegel) einsteht. Im übrigen ist Leibnizens Unterteilung nach wie vor eine der am besten geeigneten, geht es um die philosophische Analyse des Bösen, und wird auch von seinen Nachfolgern weitgehend übernommen. Mit Leibnizens Dreiteilung im Gedächtnis gelingt die Aufschlüsselung der verschiedenen philosophischen Positionen zum Bösen. Man versteht so den Hintergrund der totalen Moralisierung des Bösen. Für Kant ist der Mensch dann „radikal böse“, wenn er die Negation des moralischen Gesetzes zum Prinzip seiner Haltungen macht. Das radikal Böse ist die Perversion der sittlichen Ordnung durch das Gesetz der Freiheit. Nur der, der das moralische Gesetz will, ist für Kant frei. Wer hingegen die sittliche Ordnung verneint, wendet sich aus Freiheit gegen die Freiheit.

7 Richtig heißt es bei Goethe: „DIE HEXE (tanzend). Sinn und Verstand verlier ich schier Seh ich den Junker Satan wieder hier! MEPHISTOPHELES. Den Namen, Weib, verbitt ich mir! DIE HEXE. Warum? Was hat er Euch getan? MEPHISTOPHELES. Er ist schon lang ins Fabelbuch geschrieben; Allein die Menschen sind nichts besser dran, Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ (Goethe, Johann Wolfgang von: „Faust-Dichtungen“, Stuttgart: Reclam 1992, S. 2502ff.) 8 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“, in: Herbert Herring (Hg.), Leibniz Philosophische Schriften, Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, §21.

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Die menschliche Freiheit ist, weil der Mensch Moral hat, so stellt es die praktische Philosophie Kants fest. Im Bösen wird sich für das Unmoralische entschieden. Es ist mithin der Aufstand der Freiheit gegen ihren eigenen Grund, wobei die Freiheit verloren gehen muss. Böse zu sein heißt daher, die Unfreiheit zu wollen – nicht unbedingt die eigene, aber zumindest die von anderen. Das Böse besteht im Entscheiden der Freiheit gegen sich selbst und zerstört die Freiheit überhaupt. Es ist der Freitod der Freiheit, die Unfreiheit aus Freiheit. Durch das Böse wird die menschliche Freiheit in sich selbst gespalten. Sie ist nicht mehr automatisch auf der Seite, die zu noch mehr Freiheit führt und Gutes vollbringt. Vielmehr muss sie sich vor sich selbst bewahren und Misstrauen sich selbst gegenüber entwickeln. Dieses darf sie niemals verlassen. Wo auch immer Freiheit ist, ist auch das Böse. Das freiheitliche Subjekt gelangt so zu einer gewissen paranoischen Grundhaltung sich selbst gegenüber, denn hinter jeder seiner freiheitlichen Äußerungen steckt möglicherweise die absolute Katastrophe. Weil das Subjekt die Moral als Differenz von Gut und Böse in sich erfährt, muss es zu der Überzeugung gelangen, dass es der Freiheit nicht genügt, nicht genügen kann.9 Seine beste Eigenschaft, die Freiheit, verführt das Subjekt dazu, sich selbst zu verwerfen und sich im Innersten selbst zu hassen. Was der Mensch will, kann Verderben bringen. Das moralisch Böse steckt für Kant im Widerspruch der Freiheit mit sich selbst. Solcher Widerspruch ist immer möglich, wenn die endliche Freiheit wirkt, die nicht auf das Gute fixiert ist. Er ist laut Kant zu allen Erdenzeiten möglich. Der Mensch wird ihn nicht für immer auflösen können. Um das Böse aus der Welt schaffen zu können, müsste die Menschheit sich selbst negieren. Die Menschen müssten sich gegenseitig umbringen. Den Teufel hätten wenigstens einige Menschen durch die Gnade Gottes überleben können. Das Böse bleibt den modernen Menschen nicht als Erbsünde erhalten – den Glauben daran darf jeder von ihnen haben, wie er will – dafür umso stärker als Drama der eigenen Konstitutionsbedingung des freien Subjekts. Das Böse ist das Drama individueller Freiheit, das sich auf alle auswirkt. Das moralisch Böse steht somit in unvergleichlicher Weise für eine Problemstellung, die ein Einzelsubjekt niemals alleine bewältigen kann. Dem Dringen der Neuzeit auf freiheitliche Veränderung ihrer Wirklichkeit ist das moralisch Böse als Faktum vorausgesetzt. Für Kant und seine Nachfolger steht außer Frage: Das moralisch Böse ist, weil der Mensch ist. Es resultiert aus der differentia specifica irdischer Subjekte. Es begründet sich im Zwischenwesen Mensch, das nie unschuldig sein kann, weil es weder rein vernünftig-unendlich noch rein kreatürlich-endlich handelt. Die Schuld markiert geradezu dessen Freiheit. Das moralisch Böse ist Resultat der bloß subjektiven Freiheit des Menschen

9 Vgl. Copjec, Joan: „Introduction: Evil in the Time of the Finite World”, in: Joan Copjec (Hg.), Radical Evil, London; New York: Verso 1996, S. VII-XXVII, hier S. XV.

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und ist zugleich objektives Gattungsmerkmal. Als objektive Unberechenbarkeit motiviert es zur politischen Tat. Über den Begriff der Politik äußert sich die vorliegende Arbeit vorwiegend indirekt. Er wird lediglich immer wieder als Resultat der Unfreiheit (des Bösen u.a.) präsentiert. In der Arbeit wird nicht am Anfang ein Begriff der Politik entwickelt, der im Folgenden zur Basis der Analyse wird. Ihr Ziel ist nicht, aus den politischen Philosophien heraus einen „Begriff des Politischen“ zu entwickeln, sondern den Einfluss des Bösen auf die Ideen des Politischen vorzustellen. Diesen entsprechend, ist die Politik in mindestens zwei unterschiedlichen Extremen gefangen. Einerseits ist sie Prinzip des „wahren“ Lebens. Weil in dieser Arbeit jedoch vorwiegend das politische Bearbeiten des Faktums des Bösen betrachtet wird, ist bei den meisten hier dargestellten Autoren die Politik weniger Organisation des „wahren“ Lebens als vielmehr des Überlebens.10 Im letzteren Fall wird sie zumeist mit einem machtvollen Staatshandeln identifiziert, während im ersteren ihre Bedeutung über die historische Formation des Staates hinaus betont ist. Die Politik wird entsprechend je nach Situation auch in den politischen Philosophien im Allgemeinen mehrdeutig verwendet. Bei jedem Autor wird das Böse neu innerhalb seiner Gedankenwelt aufgearbeitet, wobei zum Verständnis nicht nur dessen moraltheoretischen Positionen herangezogen werden, sondern auch dessen rechts- und politikphilosophischen. Alle Besprechungen der unterschiedlichen Positionen zum Bösen enden darin, dessen Geltung in der politischen Theorie des Autors zumindest zu umreißen. Nicht gewollt ist allerdings eine Abhandlung über die einzelnen Autoren, eine Art philosophischer Forschung nach deren Begriffen vom Bösen. Versucht wird, mit den Autoren und nicht über diese zu denken. Dies bedeutet zugleich, dass verschiedene Zusammenhänge zugespitzt und vereinfacht dargestellt sind. So wird bei Hegels Theorie über die Moral vorwiegend auf dessen Moralkritik eingegangen, womit nicht ausgedrückt werden soll, er wolle das Moralische in ähnlicher Weise wie etwa Nietzsche in Gänze verwerfen. Ähnliches gilt für Hegels Kritik am Recht oder die Darstellung von Kants Idee der Autonomie und der moralischen Freiheit. Immer soll eine Tendenz in einem Denken dargestellt werden und nicht die gesamte Komplexität des Denkens selbst. So soll mit Kant die Idee einer moralischen Fundierung der Freiheit gedacht werden. Das ist ein vereinfachter Kant, aber ein Kant ist es allemal.11 In eine mehr an der philosophischen Forschung interessierten Arbeit gehörte ebenso eine striktere Trennung der einzelnen Phasen des Schaffens der angeführten Autoren. Wenn in den Kapiteln zu 10 Vgl. Safranski, Rüdiger: „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“, München; Wien: Hanser 1997, S. 74f. 11 Letztere methodische Maxime habe ich von Stefan Breuer, der dies in seinem produktiven Aufsatz über Rousseaus moralischen Fundamentalismus genau so bestimmt: „Das ist ein vereinfachter Rousseau, aber ein Rousseau ist es allemal.“ (Breuer, Stefan: „Moderner Fundamentalismus“, Berlin; Wien: Philo Verlag 2002, S. 51)

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Hegel Zitate aus verschiedenen von seinen Perioden zitiert werden, soll damit nicht ein „synthetischer Gesamthegel“ produziert werden, den es so nie gegeben hat.12 Es soll vielmehr auf eine einheitliche Fragestellung bei diesem verwiesen werden, die Hegel vielleicht in verschiedenen Epochen unterschiedlich beantwortet hat, aber die doch immer von einem einheitlichen roten Faden angeleitet gewesen ist. Das Böse, wie es als Begriff in dieser Arbeit verwendet wird, ist nicht eindeutig. Neben der innerbegrifflichen Unterscheidung zwischen einem körperlichen Übel und einem solchen aus Freiheit haben die meisten der hier verhandelten Autoren zwar ähnliche, aber eben doch unterschiedene Begriffe des Bösen. So kommt es bei allen darauf an, wie sie die Freiheit sehen, damit man verstehen kann, wie sie das Böse aus Freiheit, das moralische Übel, identifizieren. Der Arbeit könnte daher eine gewisse Inkonsistenz bezüglich der Begrifflichkeit des Bösen unterstellt werden. Solange ihr Ziel allerdings nicht ist, einen definitiven, operationsfähigen Begriff des Bösen zu ermitteln, lassen sich kleinere begriffliche Inkonsistenzen in Kauf nehmen, denn das Feindbild der praktischen Philosophen ist dasselbe. Allen ging es darum, ihre Praxis abzusichern gegen deren internsten Feind, gegen die Unfreiheit aus Freiheit. Die relative Position des Bösen als Unfreiheit aus Freiheit innerhalb der praktischen Philosophie herzuarbeiten, ist das Ziel und nicht, einen neuen Begriff des Bösen herauszuarbeiten. Außerdem folgt die Arbeit hiermit ihren Meistern. Deren Böses erscheint selbst wenig konsistent gebildet. Gerade dies macht das Böse noch einmal spannender. Wenn selbst Kant und Hegel vor ihm „versagen“, sich in Aporien verrennen, muss seine Sache wichtig sein. Der Aufbau der Arbeit ergibt sich aus den begrifflichen Gegebenheiten, was zu Brüchen in der zeitlichen Reihenfolge führen muss, die sich z.T. auch in solchen der Argumentation widerspiegeln. Die Darstellung der unterschiedlichen Philosophen bemüht sich um eine begriffliche und nicht um eine rein ideengeschichtliche Differenzierung. In letzterem Fall hätte man Nietzsche an das Ende der Arbeit stellen müssen. Er wird vielmehr nach dem Abschnitt zur moralischen Freiheit behandelt, um den Grund seiner Kritik in der Kritik an der idealistischen Moral zu verdeutlichen. Der Teil der Arbeit, der um die Grundlagen der Moraltheorien und deren Kritiken kreist, ist zunächst zentriert um Kants Bemühungen, die Freiheit gegen deren Feinde, die Freunde des Determinismus, zu retten. Dessen transzendental-idealistische Lösung und Bestimmung positiver Freiheit (Autonomie) durch das Moralische werden in ihren Ausgängen aus der theoretischen in die praktische Philosophie nachvollzogen. Es geht um den Versuch, die Frei-

12 Hegel nur noch nach seinen Perioden zu beurteilen und so zu tun, als ob Hegel in Bern oder Jena oder Berlin ein ganz anderer gewesen wäre, ist eine Tendenz heutiger Hegelforschung, die ebenso in die falsche Richtung weist. Solches Denken in Perioden trägt die Gefahr zu einem Regress in sich und zerreißt einen Autor. Wie es nicht den einen Hegel gibt, so gibt es noch weniger drei oder fünf Hegel.

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heit nicht allein eine mögliche, sondern eine wirkliche im sittlich Guten sein zu lassen. Wie sich das Gute als Übermacht über alles andere inklusive des Bösen erweist, wird anhand der christlich-monotheistischen Idee des Guten dargelegt, welche der Tradition der Platonischen Erfindung des Guten an sich folgt. Augustinus und Leibniz sind beide durch ihren Glauben davon überzeugt, dass der eine Gott lediglich Gutes geschaffen haben kann und dass das Böse vom Menschen stammen muss. Letzteres wird von Gott nur zugelassen zum Ruhme der höheren Ordnung im Kosmos. Im christlich-monotheistischen Denken werden die Freiheiten entwickelt, die dem Guten niemals mit Erfolg und auf Dauer zu widersprechen vermögen, weil dies Gottes Willen nicht entsprechen kann. Das Gute ist die Ordnung und die Harmonie und das Böse die Abweichung davon, hervorgerufen durch eine Störung der menschlichen Vernunft durch die Sinne oder den freien Willen. Unter dem Gedanken einer höheren Ordnung stehen auch die politischen Ideen von Platon, Augustinus und Leibniz. Deren Beiträge zu der Wirklichkeit des Bösen in der politischen Philosophie werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt. Für alle neben den argumentationsführenden Kant und Hegel betrachteten Autoren gilt, dass sie an verschiedenen Punkten die Argumentation aufklären sollen, indem durch einen Verweis auf die Tradition ein Zusammenhang verdeutlicht wird. Jeder hätte eine genauere Betrachtung verdient. Mit Kant werden die Überlegungen von Platon bis Leibniz eingeleitet, weil sein Begriff der Freiheit am dichtesten und ausgeprägtesten der Identität von moralischer Freiheit und Freiheit überhaupt folgt. Er bringt den Willen rein moralisch zur Geltung und lehnt eine spezifisch politische Freiheit ab. Die moralisch begründete Freiheit Kants erreicht ihr Ziel, ihre Übereinstimmung mit sich im Guten, nur in ihrem Scheitern, in dem sie erfährt, dass sie sich nicht selbst genügen kann. Nietzsche und auch Hegel destruieren die Idee einer moralisch gewonnenen Freiheit. Für beide existiert kein allein moralisch Wirkliches, wie Hegel über die „moralische Weltanschauung“ feststellt. Wenn die Moralität den Anspruch auf Vollendung stellt – und dies tut sie –, untergräbt sie ihre eigene Wirklichkeit (vgl. 9, 331) und muss durch andere Gebiete des Praktischen gestützt werden, die am Gegenstand mehr wahrnehmen als dessen reine Dinghaftigkeit. Hegel ersinnt ein „System der Sittlichkeit“, das sich auch der Unfreiheit aus Freiheit entgegenstellt, indem es die Verwirklichung der Freiheit und deren Durchsetzung in den Dingen anstrebt. Für Nietzsche ist die Politik auf der Suche einer Freiheit jenseits der Moral von keinem Interesse gewesen. Er überwindet Kants moralische Begründung der Freiheit, indem er fordert, dass die Subjekte sich nach dem Idealismus wieder auf die Bedingungen des menschlichen Lebens besinnen sollen. Das Moralische versteht sich nach Hegel nicht von selbst. Am Ende ihrer eigenen Theorie steht die Moral als unerfüllbar gedachter Wunsch an sich selbst da. Insofern kommt sie nicht über problematische Urteile über den Wirklichkeitsgehalt ihrer Freiheit hinaus, wie sich an der Bewegung des Begriffs bei Kant nachvollziehen lässt.

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Für Kant wird dem Selbst durch das Böse in ihm bewusst, dass es nie ganz um sich weiß, denn der Ursprung seiner bösen Natur ist ihm unerforschlich. Der Kampf gegen diese wird zur Chamäleonjagd, der deswegen umso rigoroser geführt sein will. Das Selbst wird durch diese Erfahrung des Nicht-Wissens um sich nicht wie bei Sokrates zur Philosophie getrieben, sondern zur „Pflicht“, sich gegen die anderen Freiheitlichen zu sichern. Im zweiten Teil der Arbeit, der detaillierter einzelne politische Philosophien darlegt, wird bei Kant die institutionelle Sicherung des Selbst in Recht und Politik gegen die Möglichkeiten menschlicher Freiheit untersucht. Vor Kant hat Machiavelli mit seiner Fundierung der Souveränität des Staates im bösen Wesen des Menschen die politische Philosophie revolutioniert. Er hat in der Politik die Kraft zum Management des Bösen gesehen. Max Weber schließt mehrere hundert Jahre später explizit an Machiavellis Ausführungen zum Politischen an, hat das „ethische Problem“ des Politischen im Gewaltmonopol des Staates gesehen und gegen den Moralismus, welcher Gewalt grundsätzlich zum Übel erklärt, das Politische von der Gesinnungsethik abgesondert. Nach Machiavelli und Weber heißt Politik vor allem, handeln zu können und Macht richtig einzusetzen, auch wenn die Zwecke des Handelns dem moralischen Gesetz widersprechen. Hobbes, möglicherweise der erste, der einem beim Thema der Arbeit einfällt, hat es als eine der ersten Aufgaben des Staates angesehen, sich jenseits des moralischen Urteils der Einzelnen eine Autorität zu verschaffen. Sein Ideal für das Politische liegt diesseits des Misstrauens der Menschen sich selbst gegenüber – und gut ist es bei ihm vor allem, zu überleben und nicht: wahr zu leben. Hobbes’ Staatszustand liegt jenseits von Gut und Böse. Kant wird die Sicherung des Menschen gegen sich selbst in seinen rechtsphilosophischen Überlegungen wieder aufnehmen. Die „Selbstherrschaft des Rechts“ bedarf auch bei Kant der Negation der Natur des Menschen, insbesondere der Natur seiner Freiheit. Warum ein Recht notwendig wird, erzählen die Komplementärmythen von guten und bösen Wilden. Beide scheitern sie an ihrer Natur, wie Rousseau und Hobbes erläutern. Hobbes setzt eher auf Misstrauen gegen die Menschen, um Recht geschehen zu lassen. Rousseau hingegen hat mit dem perfekten Staat die ursprüngliche moralische Ausstattung des Menschen wiederherstellen wollen. Einzel- und Allgemeinwillen sollen so weit zur Deckung gebracht werden, dass von Staats wegen niemand mehr niemanden beherrscht. Kant setzt das Scheitern der Natur für die Begründung seines Staates bereits voraus. Sein Staat ist für alle außer reinen Tieren überzeugende Sicherung ihrer selbst. In Kants Rechtsphilosophie wird die menschliche Freiheit so weit ermäßigt, dass sie im äußeren Verhältnis der Menschen untereinander wirken kann. Hegel ist das Wirksamwerden der Freiheit in der Welt keine Ermäßigung, sondern eher deren Bestätigung, ohne die sie nichts wäre. Sein Staat braucht sich nicht gegen die Natur der Menschen zu versichern, sondern ist deren Verwirklichung. Die reine Herrschaft durch und über das formelle Recht, um die Menschen voreinander zu schützen, scheitert nach Hegel ebenso wie der moralische Rückzug ins In-

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nerste, bei dem das Gewissen das höhere, zivilisierte Selbst entwickeln soll. Diese beiden Versuche fallen jeweils zurück in eine neue Form der Unmittelbarkeit, entweder die des reinen Rechts oder die des reinen Guten. Es ist laut Hegel die sittliche Politik, die dem Menschen aus seiner Natur endgültig befreit und individuelle und generative Emanzipation ermöglicht. Man ist nach ihm erst durch die Politik vor der eigenen Moral sicher, und allein Politik besiegt das Böse. Wie nötig diese Einsicht ist, zeigt sich circa 100 Jahre später angesichts des ersten Mals in der Geschichte der Menschheit, wo ein Phänomen ohne Übertreibung etwas zur Anschauung gebracht hat, was alle genannten Denker zum Bösen erklärt hätten. Die Moral hat die Täter von Auschwitz nicht abhalten können. Während seines Dienstes in Auschwitz bereitete sich ein Oberschüler auf das Abitur mit dem Thema „Der Humanismus bei Goethe“ vor. Das Unbehagen an sich selbst durch die Moral verführt dazu, sein Heil nicht darin zu suchen, sich an die Freiheit zu binden, sondern an deren moralisches Gesetz, weil es Gesetz ist. Man unterwirft sich dem eigenen Gesetz in ähnlicher Weise wie dem äußeren. Hegel und vor allem Nietzsche haben dieses der Moral nahe liegende interne Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis kritisiert. Diese Pflicht um der Gesetzesmäßigkeit willen hat wie kaum ein anderer Eichmann vorgeführt, wenn er sich für seine Organisationsarbeit bei der Vernichtung der europäischen Juden in seinem Prozess in Jerusalem gerechtfertigt hat. Glaubt man seinen Schilderungen während des Prozesses, hat er aus einem vermeintlichen Kantischem Pflichtgefühl heraus den Mord an Millionen Juden mitorganisiert.13 Das 20. Jahrhundert hat den mangelnden Schutz der Freiheit durch ihre Kantische Rettung gezeigt. Verschiedene geschichtliche Figuren offenbaren, dass es möglich gewesen sein muss, die Spontaneität aus der Freiheit auszulöschen oder zumindest zu einer derart vernachlässigbaren Größe zu reduzieren, dass sie in dieser Weise auch nichts mehr gilt. Das moralische Gesetz kann auch unter unmoralischen Bedingungen fortexistieren, wenn man es vor allem als Gesetz und nicht als Grund der Freiheit ansieht. Hannah Arendt hat anhand der Figur Eichmanns die Gegenwart des Bösen in der Moderne geschildert. Ihre Wahrnehmung demonstriert, dass das Böse selbst historischen Transformationen unterliegt. Was als Böses wahrgenommen wird und wie es sich äußert, ist geschichtlich unterschieden. Die ausgehende Moderne kennt nach Arendt das Böse in der Gestalt des Sozialtechnokraten wie Eichmann, dem das Einzelschicksal hinter die Ent-

13 „Eichmanns unbewusste Einstellung entspricht dem, was er selbst ‚den kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes‘ nannte. In diesem ‚Hausgebrauch‘ bleibt von Kants Geist nur noch die moralische Forderung übrig, nicht nur dem Buchstaben des Gesetzes zu gehorchen und sich so in den Grenzen der Legalität zu halten, sondern den eigenen Willen mit dem Geist des Gesetzes zu identifizieren – mit der Quelle, der das Gesetz entsprang. In Kants Philosophie war diese Quelle die praktische Vernunft; im Hausgebrauch, den Eichmann von ihr machte, war diese Quelle identisch geworden mit dem Willen des Führers.“ (Ebd., S. 233)

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wicklung des Ganzen der Nation zurücktreten muss, eine äußerst nüchterne, „profane“ Figur, vergleicht man deren Ausstrahlung mit den Reizen, die ein Teufel einsetzt, um zum Bösen zu verführen. Was den Philosophen unauslöschlich erschien, der freie Wille, ist für Hannah Arendt nicht nur möglich auslöschbar, sondern schon wirklich ausgelöscht worden. Das Gute ist laut der Moraltheorie im einzelnen Menschen anwesend über die Schuld, die es in diesem hervorruft. Eichmann empfand keine, bis sie ihm von höherer Seite befohlen wurde.14 Als er einem Richter gegenüber saß, hatte Eichmann zum ersten Mal das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.15 Wo aber das Gute fehlt, ist laut Moral auch keine Freiheit zu finden, mithin hat Eichmann für sich die Freiheit verabschiedet und da er ein Exemplar einer ganzen Gattung von Menschen gewesen ist, ist er Anzeichen dafür, dass die Freiheit tatsächlich enden kann. Für Arendt Grund genug, nach Hegel und Nietzsche den Ursprung der Freiheit von der Moral in die Politik zu verlegen. In verschiedenen Schriften fordert sie eine Freiheit, die nicht individuell, sondern im „Miteinanderhandeln“ der Menschen gegründet ist.16 Hannah Arendts Umorientierung der Freiheit von einer individuellen Erfahrung zu einer kollektiven kann man als einen ersten Versuch ansehen, die Basis der Freiheit weniger moralisch als vielmehr politischpraktisch zu fassen. Das Misstrauen Arendts gegenüber der Wirksamkeit der moralischen Freiheit scheint angebracht, betrachtet man ihr Scheitern vor der politischen Realität des Nazismus. Die Moral hat gegen die nationalsozialistische Wirklichkeit nicht viel ausrichten können, weil diese Schuld an keine allgemeingültige Norm binden wollte, sondern allein als die gegenüber seinem „Volk“ und seiner „Nation“ zulassen wollte. Was durch Menschen möglich ist, hat Auschwitz gezeigt. Es bedurfte keines tief verwurzelten Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur, wie Kant ihn festgestellt hatte (vgl. VI, 29), um Millionen Menschen industrieförmig zu vernichten. Nötig war lediglich die Normalität des Alltags, des Weitermachens, damit ein Unheil angestiftet werden konnte, dass alle „teuflischen“ Triebe im Menschen zusammen genommen nicht schlimmer hätten anrichten können. Nicht das radikal Böse in ihnen trieb die Nazis zur Vernichtung des europäischen Judentums, sondern ihr politisches Projekt. Es hieß „Volksgemeinschaft“ und bildete die Basis für die „Pflicht“, welche die Schergen für die Entwicklung ihrer „arischen Rasse“ empfanden.17 Eichmann hat sich selbst als „Idealisten“ bezeichnet

14 Vgl. J. Copjec: Evil, S. XIVf. 15 Entscheidend an Eichmanns Bösen ist, dass er auch später nie eine Form des Gewissens über seine Taten gezeigt hat. „Sein Gewissen hatte er an seine Staatsführung abgegeben.“ (Wojak, Irmtrud: „Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay“, Frankfurt/Main; New York: Campus 2001, S. 204) 16 Vgl. Arendt, Hannah: „Freiheit und Politik“, in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München: Piper 1994, S. 201-226. 17 Vgl. Žižek, Slavoj: „Das Unbehagen im Subjekt“, Wien: Passagen 1998, S. 119f.

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und darin wahrscheinlich sogar Recht gehabt.18 Er war ein Idealist, weil er sich voll für eine Sache eingesetzt hat, die er zwar nicht selbst erfunden hat, aber von der er voll überzeugt gewesen ist. Über weite Strecken vermittelt Hannah Arendt den Eindruck, dass für sie Eichmann lediglich ein Technokrat des Weberschen ehernen Gehäuses der Hörigkeit gewesen ist. So muss verborgen bleiben, dass Eichmann seine Überzeugung zum Weitermachen nicht nur aus Befehl und Ordnung bezogen hat. Er ist nicht allein ein mittlerer „Bürokrator“ gewesen. Er ist vor allem auch Antisemit gewesen und überzeugtester Deutscher, nach der Art, wie man es unter den Nazis verstanden hat.19 Diese idealistische, pflichtbewusste Ausschaltung des eigenen Denkens vor dem höheren politischen Projekt, dieser Willen zur eigenen Unfreiheit ist effektiver als jeder andere teuflische Trieb gewesen. Die Nationalsozialisten erwarteten nicht, dass ein natürlicher Hang die Menschen zum Bösen treibe. Das Böse musste niemanden mehr versuchen, wie einst Satan in der Wüste Jesus, damit getötet wurde. Es genügte der Führerbefehl und die Pflichterfüllung. Eichmann handelte um eines „höchsten Gutes“ willen, das ihm gegeben worden war und dem er brav folgte. Ohne seine extreme Referenz auf das „Wohl des deutschen Vaterlandes“ wären seine Handlungen lediglich noch mit bloßer Einfalt zu erklären.20 Die von Arendt festgestellte Banalität des Bösen ist die anthropologische Lehre von Auschwitz, welche das Scheitern der Moral insofern darlegt, als es dieser nicht gelungen ist, den Menschen den Grund für die Pflichterfüllung zu vermitteln. Das moralische Misstrauen gegenüber den Leistungen der menschlichen Freiheit hat zu der Einstellung geführt, nach der das moralische Gesetz vor allem als Einschränkung und nicht als Bestätigung der Freiheit zu verstehen ist. Als solche ist das moralische Gesetz so gut oder schlecht wie jedes andere, das vor der eigenen Freiheit sichert, und kann leicht durch den Befehl ersetzt werden. Es gab bei Eichmann für Arendt keine teuflischen Triebe, die ihn zu seinen Taten veranlassten. Diese wären ihm wahrscheinlich bei seiner Arbeit eher hinderlich gewesen. Der Mord an den europäischen Juden im Dritten Reich wurde vielleicht auch von vielen dämonischen Monstern verübt. Was allerdings im Anschluss an Arendt wirklich an ihm beunruhigen muss, ist, dass er von noch mehr 18 „Ich war kein normaler Befehlsempfänger gewesen, dann wäre ich ein Trottel gewesen, sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen.“ (Eichmann, zitiert nach I. Wojak: Eichmann, S. 195) 19 Vgl. I. Wojak: Eichmann, S. 200. Eichmann war auch radikaler Antisemit. Dies zeigt sich vor allem dort, wo er den Zweiten Weltkrieg als Instrument des „Weltjudentums“ sieht, sich einen eigenen Staat geben zu können. Daher habe es den Krieg verschuldet. Den deutschen Nazis sei wegen dieser zionistischen Bestrebungen auch nichts anderes übrig geblieben, als zur Gewalt gegen Juden zu greifen, um doch noch auf dem Schlachtfeld der Vernichtungslager siegreich zu sein (vgl. I. Wojak: Eichmann, S. 58). Zuerst sei alles bei der Behandlung der „Judenfrage“ deutsch ordentlich gewesen, erst dieser Krieg habe die Brutalität herauf beschworen. 20 Vgl. S. Žižek: Unbehagen, S. 120.

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Durchschnittstypen verübt wurde, vor denen schon Nietzsche gewarnt hatte: „Her [Arendt’s, d.V.] portrait revealed him to be human-all-too-human.“21 Eichmann war ein Karrierist, der, wenn es um die Zukunft ging, vor allem an die eigene dachte. Die Zukunft der großen Politik war schon lange ausgemacht durch das Schicksal der „arischen Rasse“. Banale Überlegungen wie Karrierefragen führten bei ihm zu Verbrechen, die die Frage vorführten, wie dies beim Stand der postaufgeklärten moralischen Vervollkommnung der Menschen noch möglich sein konnte. Eichmann war ein guter Beamter, Effizienz war nicht sein Problem. Auch als es an der Front nicht mehr gut für die Deutschen lief, schaffte er es weiterhin, die Deportationen aufrechtzuerhalten. Eichmann versagte darin, mehr zu sein als Teil eines Ganzen. Seine Stimme des Gewissens versagte, die Gutes in ihm hätten anwesend machen können. Das „neue Recht Hitlers“ verlangte, „dass die Stimme des Gewissens jedermann sage: ‚Du sollst töten‘, und zwar unter der ausdrücklichen Voraussetzung, dass des Menschen normale Neigungen ihn keineswegs unbedingt zum Mord treiben. Im Dritten Reich hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an die Menschen heran.“22 Das Böse war nicht Übertretung des Gesetzes, sondern das Gesetz selbst. Das allgemeine „Sittlichkeitsempfinden“ musste versagen, weil die normalen Sitten Unsitten waren.23 Seine Exzesse machen den Nationalsozialismus noch nicht allzu besonders, sondern vielmehr das, was bei ihm gesellschaftlicher Durchschnitt gewesen ist. Eichmann gehorchte einfach seinen gesellschaftlichen Werten, auch dann noch, wenn diese selbst Unwerte waren. Das Beunruhigende an seiner Person ist, dass er in einer anderen Epoche vielleicht ein einfacher Handelsvertreter gewesen wäre und dass es zu seiner Zeit Tausende andere gegeben hätte, die seine Arbeit in ähnlicher Weise vollbracht hätten. Der Satz „Befehl ist Befehl“ ist bei Eichmann nicht einfach eine Entschuldigung, sondern seine Art des Geistes. Es geht um mehr als blinden Befehlsgehorsam. Eichmann beteuerte laut Arendt, „sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt zu sein, und vor allem im Sinne des Kantischen Pflichtbegriffs gehandelt zu haben“.24 Aufgehört habe dies erst, als konkret die „Endlösung“ zu exekutieren war. Von da an habe der kategorische Imperativ des Führers gegolten und dessen Wort das moralische Gesetz ersetzt. Bevor das Wort des Führers galt, war das Gesetz als solches ohne jeden Bezug auf Inhaltliches zur unumstöß21 Bernstein, Richard J.: „Radical Evil. A Philosophical Interrogation“, Oxford: Polity Press 2002, S. 220. 22 Arendt, Hannah: „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, München: Piper 1999, S. 248f. 23 „Tatsache war ja, dass Eichmann ‚normal‘ und keine Ausnahme war und dass unter den Umständen des Dritten Reiches nur ‚Ausnahmen‘ sich noch so etwas wie ein ‚normales Empfinden‘ bewahrt hatten.“ (Ebd., S. 100) 24 Ebd., S. 232.

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lichen Macht aufgestiegen. Kants Gesetz der Moral ist eine Anleitung zur Freiheit, eine Grundlage, durch die jeder Mensch von seiner Spontaneität Gebrauch machen kann. Kants paradoxe Idee, per Gesetz Freiheit schaffen zu wollen, scheiterte mit dem, was Leute wie Eichmann daraus machten. Sie glaubten, dass das Gesetz an sich für sie Freiheit schaffte und sie sich nicht durch das Gesetz befreien sollten. Seither erscheint Freiheit aus dem Gesetz nicht mehr unmittelbar zu haben. „Gesetz war Gesetz: Ausnahmen durfte es nicht geben.“25 So verstanden kann kein Gesetz Freiheit hervorrufen, sondern nur vor dem eigenen Urteil bewahren, was den Nährboden für den unbedingten Befehlsgehorsam bereitet. Das Böse ist daher nach Auschwitz das Triviale, so hat es Adorno einmal formuliert, Arendt referierend.26 Nicht sei das Böse trivial wie Eichmann, sondern das Prinzip der Trägheit in Fragen der Freiheit sei an sich böse. Nichts Ähnliches wie Auschwitz dürfe wieder passieren, Menschen dürften ihren Anderen niemals wieder so etwas antun. Die nazistische (Un-)Politik hat geschafft, was die Theorie nicht erreicht hat. Laut Arendt ist das radikal Böse zwar nicht zu begreifen, aber doch aufgetreten.27 Kant hatte auf letztere Begierden noch seine Idee des radikal Bösen aufgebaut. Er hat kein wirkliches Böses für deren Verwirklichung angeben können. Was auch er als böse bezeichnet hätte – Auschwitz, ist im Gegenteil aus der radikalen Negation von allen Egoismen entstanden, als für die Teile der Menschen tatsächlich nur das wirklich geworden ist, was zu sehen gewesen ist, ohne dass ein eigenständiges Urteil sie angeleitet hat. Kants Theorie der Freiheit hat sich eine solche Unfreiheit nie vorstellen können. Die Unfreiheit aus Freiheit ist im 20. Jahrhundert nicht als Emphase der Egoismen aufgetreten, in der „unmoralische Sinnlichkeiten“ für das eigene Wollen bevorzugt worden sind. Sie ist „systemischer“ erschienen, als Versuch, das „Ego“ voll einzubinden in transsubjektive Zwecke. Derart verwirklichte Unfreiheit aus Freiheit setzt das Einverständnis der von ihr Betroffenen voraus. Niemand kann mit bloßem Zwang dazu gebracht werden, sein eigenständiges Ich und Urteilen als äußerste Bedrohung zu sehen. Auch die Bewegung des kurzen 20. Jahrhunderts, welche forderte, dass die „Partei alles sei“, verlangte von ihren Anhängern, über den Zustand ihres Ichs hinaus zu sein. 25 Ebd., S. 233. 26 Vgl. Adorno, Theodor W.: „Metaphysik. Begriffe und Probleme“, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Nachgelassene Schriften, Bd. 14, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 180. 27 „Aber in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Als das Unmögliche möglich wurde, stellte es sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit“ (Arendt, Hannah: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft“, München: Piper 1996, S. 941).

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Der „Aufrechte“ der Schauprozesse der 1930er Jahre in der Sowjetunion zeichnete sich dadurch aus, dass, obwohl er sich selbst unschuldig wusste, er sich dann, wenn es dem „Willen der Partei“ entsprach, mit seiner Schuld identifizierte. „Ich“ mag subjektiv unschuldig sein, objektiv bin ich im Zweifelsfall immer schuldig. Dies ist die Botschaft der Schauprozesse, und dies ist die Botschaft des Bösen an die Menschen, seit es durch die Erbsünde von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Hybris der Schuld erscheint so als das Erbe der Anthropologie, die das radikal Böse im Menschen ausmacht. Ohne die Angst vor der eigenen Freiheit und die der Anderen keine unbedingte Gesetzes-, Führeroder Parteitreue. Da das radikal Böse, das die Theoretiker ihrer Freiheit zugemutet haben, diese Furcht schürt, ist es Bedingung der Banalität des Bösen. Der menschliche Wille ist für viele Philosophen auch zu frei, denn er kann sich auch zu dem entscheiden, was mit keiner Freiheit zu vereinbaren wäre. Das gerade vorübergegangene Jahrhundert hat diesen Abgrund der Freiheit gezeigt. Hier hat sich der freie Wille von ganzen Kollektiven dazu entschieden, seine Freiheit zu missachten und sich irgendwelchen Führern anzuvertrauen. Diese waren nicht nur einzelne Personen, sondern gleich ganze Wertegebäude, denen gegenüber nicht die Freiheit entscheidend sein sollte, sondern die Pflicht um des Gesetzes willen. Hannah Arendt hat beschrieben, dass das System der Konzentrationslager jenseits aller theoretischen Bedenken bewiesen hat, dass es das radikal Böse geben muss. In seiner gesamten Art und Weise offenbart Eichmann für sie die „furchtbare Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und das Denken scheitert“.28 Kant und andere Philosophen wollten das Denken nicht vor dem Bösen scheitern lassen, aber sie waren auch nicht auf die Idee gekommen, dass sich das Böse das eine Mal, in dem es sich wirklich ihrer Anschauung gezeigt hätte, in so banaler und politischer Form auftreten würde. Kant wollte das Böse als Akt der Freiheit sichtbar machen, begegnet ist uns das Böse nicht als zu verwerfende Entscheidung, sondern als die Normalität des Weitermachens. Das Böse ist im System von Auschwitz so unbegreiflich, weil es nicht als das aufgetaucht ist, worauf die aufgeklärte Welt vorbereitet gewesen war. Es ist als Durchschnitt erschienen und nicht als Krise der Freiheit. Das Böse wurde erwartet als Diskontinuität im freiheitlichen Umgang zwischen den Menschen. Normal sollte es für die Freiheit sein, sich am Guten zu orientieren. Dies ergab sich aus deren Stellung als praktischer Vernunft, denn eine solche kann nicht ohne Selbstwiderspruch andere als vernünftige Zwecke wollen und die sind zugleich gut. So überliefert es vor allem die christliche Tradition, die vom heidnischen Platon über den katholischen Riesen Augustinus zu dem Gott rechtfertigenden Rationalisten Leibniz führt. Wenn sich die Freiheit nicht selbst widersprechen soll (und kann), muss sie sich am Guten orientieren. Für Kant war dies genauso selbstverständlich wie für Platon, Augustinus oder Leibniz vor ihm. Die Freiheit konnte bei ihm allein als moralische wirklich sein. Das 28 H. Arendt: Eichmann, S. 371.

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Gute ist nicht nur für Kant das Normale für die Freiheit. Frei zu wollen, heißt bei ihm, Gutes zu wollen. Da aber Wollen und Freiheit zusammengehören wie Schwere und Körper, gibt es für viele Philosophen kein Wollen, das dem Guten effektiv widersprechen könnte. Im Weiteren wird zunächst dargelegt, wie sich Kant darum bemüht, ausgehend von seiner moralischen Definition der Freiheit ein Wollen zu bestimmen, welches dem Guten effektiv zu widersprechen vermag. Das Böse wird bei ihm „radikal“, weil es ein Wollen aus Freiheit ist, das sich dem Guten effektiv widersetzt. Kant, wie zu sehen sein wird, scheitert mit diesem Versuch und offenbart so seine Kontinuität mit Philosophen vor ihm wie Platon, Augustinus und Leibniz.

Das Gu te als Norm der F reihe i t bei Kan t

Wie jeder Begriff hat auch der des Bösen seine eigene Geschichte. Philosophisch ausgereift ist er bis zum heutigen Tage nicht. Das Böse, das eine Betonung auf seinem „das“ verdiente, ist historisch spät entdeckt worden. Es ist Kants Idee für die Freiheit gewesen, die ihn zum ersten Mal ein selbständiges Böses hat annehmen lassen können. Will man das absolut Böse verstehen, muss man von Kant und dessen moralischer Freiheit ausgehen. Dann versteht man, was das absolut Böse sein kann, das nicht mehr der absolut Böse ist. Die Freiheit ist die entscheidende Größe im Kantischen System. Sie dient ihm nicht allein zum Aufbau einer menschenfähigen Metaphysik im Praktischen, sondern ist bereits unverzichtbarer Teil seiner Kritik der theoretischen Vernunft. Das Vermögen, „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“ (III, B562) und so spontan zu sein, ist Kants Grund, überhaupt beim Menschen Vernunft, Verstand und Urteilskraft annehmen zu können. Ohne das Absetzen der Spontaneität von der Welt der Dinge ist für Kant keine Erkenntnis möglich, denn andernfalls könnte diese immer nur wieder eine Identität von Denken und Sein aufdecken und abbilden. Mit Spontaneität kann der Mensch reflektieren und sich von der Welt distanzieren. Weil aber auf der anderen Seite nach dem transzendentalen Idealismus klar ist, dass durch den Menschen ständig geurteilt und geschlossen wird, muss es auch Spontaneität geben. Kants Reflexion auf die Reflexion versichert ihm, dass die Freiheit im Menschen ist. Dass für die menschliche Reflexion keine Identität zwischen Denken und Sein sein kann, macht, dass die Dinge bei Kant ein An-sich gegenüber der Reflexion besitzen. Kants „Dinge an sich“ bauen auf der einfachen Gewissheit auf, dass in jedem Erfahrungsakt das Subjekt seinen Teil zu diesem beisteuert, weshalb die Erfahrung selbst die Dinge in zwei teilt. Diese sind zugleich das, was dem Subjekt erscheint, und das, was diesem nicht erscheint und subjektunabhängiges „Ding an sich“ ist. Weil mithin ein unhintergehbarer Rest verharrt, muss man die Dinge als ein Mehr gegenüber dem bloß Erscheinenden erfassen können.

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Dasjenige „an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist“ (III, B567), nennt Kant intelligibel. Auch die Kausalität eines Subjekts teilt Kant in zwei Seiten, von denen die eine „sensibel“ ist und als „empirischer Charakter“ genommen wird, welcher nach den Gesetzen der Erscheinungen in der Erscheinungswelt wirkt. Die Kausalität eines Subjekts ist hingegen „intelligibel“, wird es als „intelligibeler Charakter“ genommen. Diese zweite ist der „Charakter eines Dinges an sich“ und ist selbst nicht erscheinende Ursache der Handlungen in der Welt der Erscheinungen (vgl. III, B567). Nach seiner Existenz in Raum und Zeit ist das Subjekt ergo Erscheinung und hat einen „empirischen Charakter“. Nach seinem Vermögen, „seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anzufangen“ (III, B569), hat es einen intelligibelen Charakter. Verteilt auf die sinnliche und die intelligibele Welt, kann folglich das Zugleich von Natur und Freiheit widerspruchsfrei gedacht werden. Im Menschen existiert die Gemeinschaft von causa phaenomenon und causa noumenon. Laut Kants Kritik der reinen Vernunft kann die Erscheinung nicht Erscheinung von nichts sein (vgl. III, BXXVIIf.). Dass es auch für den Begriff der Freiheit logisch widersprüchlich wäre, Erscheinung und Wesen in eins fallen zu lassen, ermöglicht sensiblen und intelligibelen Charakter zu scheiden. Es impliziert aber noch nicht den Einschluss der nicht-logischen Wirksamkeit des intelligibelen Charakters. Da die menschliche Kausalität auch Naturtatsache ist, hält sich der Verdacht, als ob es prinzipiell keine anderen Wirkungen als solche naturaler Art geben könne, d.h. Freiheit wäre für den Menschen unmöglich. Die Freiheit wird bei Kant noch einiges leisten müssen, um gesichert das Feld der theoretischen Spekulation verlassen zu können. Der Freiheitsbegriff im kosmologischen Verstande ist zunächst ein rein formaler, weil der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung noch die völlig unbestimmte Idee eines Kausalverhältnisses zugrunde liegt. Um aus der Freiheit eine bestimmte Art der Kausalität zu machen, ist ein Gesetz erforderlich, dass die Ursache mit der Wirkung verzahnt. Dann wäre der Begriff der Kausalität aus Freiheit geboren, wozu ausgemacht werden muss, unter welcher kausalen Determination ein menschliches Wollen rechtmäßig als frei gedacht werden kann. Kant bietet sich dafür als Kandidatin die „reine Vernunft“ an, weil deren Wesen durch Nichtnaturalität definiert ist und daher verbürgen kann, dass nichtnatural, also frei determiniert wird. Sie ist die „reine Zeitform“ (III, B579), die laut Kant den Gesetzen des Vorher und Nachher nicht unterworfen ist, welche die Determinismen der Welt festlegen. Durch das Vermögen Vernunft wird der Mensch mehr als ein Teil unter vielen in der Erscheinungswelt. Ganz offensichtlich für Kant hat diese Vernunft Kausalität, denn für den Menschen gibt es nicht allein das, was da ist, sondern dieser hat auch eine Vorstellung davon, was sein soll. Dieses „Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (III, B575). Die Vernunft „macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen“ (III, B576), die geschehen sollen. In praktischer Absicht findet sich eine „ganz andere Ordnung, als die Naturab-

DAS GUTE ALS NORM DER FREIHEIT BEI KANT | 29

sicht ist“ (III, B578), nämlich ein Reich der Zwecke, das sein soll und zugänglich macht, dass reine Vernunft Kausalität haben kann.1 Damit solche Ordnung sein kann, muss Vernunft für sich selbst praktisch werden, und die Gesetzlichkeit dieses Praktischwerdens ist zu ermitteln. So hat sich die Kantische Philosophie durch ihren theoretischen Teil in der Kritik der reinen Vernunft zu zwei Ausgangsbestimmungen von Freiheit gebracht: Zum einen stellt sie fest, dass Faktizität und Denken nicht aufeinander zurückzuführen sind. Kein Gegenstand des Denkens vermag dieses hervorzubringen. Diese Autonomie der Reflexion verbürgt, dass es unmöglich ist, dass allein Naturnotwendigkeit ist. Zweitens stellt Kant die von ihm so genannte Spontaneität des Denkens fest. Damit ist zunächst lediglich gemeint, dass das Denken durch sich selbst aktiviert werden kann. Ausgeschlossen ist, dass Denken allein durch Natur bewirkt wird. In diesem letztgenannten Sinn spricht nichts dagegen, Freiheit, gestützt durch die Vernunft, „auch positiv durch ein Vermögen zu bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“ (III, B581), und diese dem intelligibelen Menschenteil zuzuweisen. Kants Reflexion auf die Reflexion öffnet das Feld der Freiheit. Resultat der Abhandlung der transzendentalen Idee der Freiheit ist in der Kritik der reinen Vernunft, „dass Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite“ (III, B586). Damit ist die Denkmöglichkeit von Freiheit erwiesen, nicht die „Wirklichkeit der Freiheit, als eines der Vermögen, welche die Ursache von Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten“ (III, B585f.). Das Problem bleibt, wie naturale Wirkungen durch die Freiheit zu leisten sind. Hier muss die theoretische Philosophie versagen. Kants berühmte Wende zur Metaphysik des Praktischen setzt ein. Dass der Mensch frei ist, entfremdet ihn von der Welt der Dinge. Durch die Tatsache seiner Freiheit ist er kein Tier und laut Kant mehr als alles andere in der Welt. Für alle Zeiten ist er gespalten vom rein Weltlichen und kann dorthin nicht zurück. Die Freiheit offenbart dem Menschen seine Differenz zur Endlichkeit. Damit sich allerdings das nicht Endliche des Menschen weiterentwickeln kann, muss die menschliche Freiheit in ihrer Unabhängigkeit entwickelt werden. Darin sind sich alle praktischen Philosophen einig. Kant macht da keine Ausnahme. Die Freiheit des Menschen schult sich bei ihm an der Moral, ohne dass dies allen einzelnen Menschen unbedingt bewusst sein müsste. Mit Moral ist für Kant die Endlichkeit des Menschen weiter zur Unendlichkeit entwickelt. Der §1 der Kritik

1 Möglich wird die praktische Philosophie durch die in der Kritik der reinen Vernunft getroffene Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich (vgl. III, B564). Weil der freie Wille außerhalb des Kausalnexus der Erscheinungen steht, ist er der Kantischen Erkenntnistheorie nicht zugänglich, die auf Anschauung verwiesen ist. Es ist nicht nur möglich, den freien Willen zu denken, sondern notwendig. Eine andere Welt entsteht – neben der Welt der kausalbedingten Erscheinungen. In dieser intelligibelen Welt der Freiheit steht nicht, was ist, sondern was sein soll. Aber diese Ordnung des Sollens muss die Bedingung der Möglichkeit ihrer Realisierung geben können. Sonst ist sie im Kantischen Sinne „leer“ und bleibt Sache der Theorie.

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der praktischen Vernunft bestimmt die praktischen Gesetze als Ausdruck von Notwendigkeit und strenger Allgemeinheit im Hinblick auf Praxis (vgl. V, 19f.). Für die Kausalität aus Freiheit liefert das moralische Gesetz das Fundament, auf dem sie gegründet sein soll. Die Moral zivilisiert bei Kant die Freiheit des Freiheitstiers Mensch zwischen dessen sensiblen und intelligibelen Wesen und bringt die unentschlossene Freiheit zur Vernunft. Durch sie weiß der Kantische Mensch von der Freiheit in ihm und wie weit sie ihn mit der Welt der Zwecke über ihm verbindet. Durch das Prinzip der Moral kann die Vernunft für sich selbst praktisch werden und ist nicht auf Empirisches verwiesen, um zu wirken. Der Kantische kategorische Imperativ, sein Gesetz der Sitten, bildet das Prinzip der Moral. Der kategorische Imperativ ist „nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (IV, 421). Das Prinzip der Moral gilt unbedingt und allgemein gegenüber jeder empirischen Bedingung. Die praktische Vernunft Kants ist auf den Fels der Moral gebaut und kann daher rein sein und ihre Unendlichkeit nicht durch endliche Stürme verwirren lassen. Gegen die Unsicherheit „wilder Freiheit“ „würden reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, Producte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze; mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft und erlauben einen Kanon.“ (Ebd.) Die Kritik der praktischen Vernunft und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sind die Grundlegungsschriften dieses Kanons. Durch das in ihnen entwickelte moralische Gesetz soll Freiheit mehr sein als das Negativum, nicht durch Natur bestimmt zu sein. Es entsteht ein „positiver Begriff“ der Freiheit „mit einer Causalität nach unwandelbaren Gesetzen. […] Sonst wäre ein freier Wille ein Unding“ (IV, 446). Mit dem moralischen Gesetz widerspricht es sich nicht für den Menschen, sich gegen Fremdbestimmung durch die äußere Natur oder durch andere Menschen aufzulehnen. Die rationale Substanz für den eigenen Kampf um die Freiheit liefert Kant die Moral und die Anwesenheit von deren Gesetz in jedem Menschen. Der moralisch bestimmte Wille ist die reine praktische Vernunft, die sich nicht durch sinnliche Eindrücke auf sich verwirren lässt. „Der Wille“ ist „nichts anders als praktische Vernunft“ (IV, 412).2 Kant geht aufs Ganze, wenn er erklärt, dass mit der Gewalt des Sittengesetzes über das Subjekt für dieses eine Kausalität aus Freiheit anzunehmen ist. Wahrhaft praktisch ist bei ihm die reine

2 „Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objectiv nothwendig erkannt werden, auch subjectiv nothwendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch nothwendig, d.i. als gut, erkennt.“ (IV, 412)

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Vernunft. Als Selbstzwang schafft diese Gewalt für Kant keine Unfreiheit, sondern Freiheit, von der es für ihn keine Ausnahme geben kann. Das Sittengesetz verpflichtet ein Subjekt darauf, so und nicht anders zu handeln, und macht dessen Freiheit verbindlich. Die Imperative der Freiheit an den Menschen, ihr Sollen gegenüber dessen Sein, sind Kant kategorisch (vgl. IV, 414f.), nicht zuletzt deswegen, weil sie alle weiteren Imperative für die menschliche Selbstbestimmung ausschließen. Die Freiheit behauptet sich bei Kant, wenn sie sich der Moral übergibt, andernfalls muss sie untergehen. Das moralische Gesetz dringt sich den Menschen auf und ist, obwohl um es nur das Nicht-Wissen wissen kann, immer noch „Factum der reinen Vernunft“ (V, §7). Ist das Selbst ohne Einschränkung moralisch bestimmt, so ist es für Kant autonom. „Das Princip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“ (IV, 440) Autonomie heißt der Kampfbegriff der freiheitsbewussten deutschen Aufklärung.3 Mit ihr sollte zu schaffen sein, was vorher niemals den Menschen ganz allein zugetraut worden war. Sie sollte eine neue Welt bewirken, in der nicht die Notwendigkeiten des Lebens der Maßstab sind, sondern was aus Freiheit möglich ist. Das ist der optimistische Hintergrund der Feststellung Kants, dass man dort, wo man soll, auch kann.4 Angesichts einer moralischen Fundierung des menschlichen Selbst ist es für Kant nicht unsinnig, dem Menschen Freiheit zuzugestehen. Der Mensch ist als autonomes Wesen sich selbst Gesetz und niemanden sonst verpflichtet. Die Autonomie vereinigt bei Kant und anderen als Idee das Beste, was Theorie und Praxis für die Subjekte zu bieten haben. In ihr bringt die richtige Einsicht die unbedingte Freiheit. Moralisch gehandelt wird gemäß dieser Vereinigung von Freiheit und Vernunft dort, wo die Vernunft rein die Zwecke bestimmt, genau wie umgekehrt gilt, dass, wo die Moral bestimmend ist, die Vernunft wirklich ist. Kategorisch trennt die Autonomie die menschliche Existenz von der anderer vorkommender Arten in der Welt. Die menschliche Selbstbestimmung ist bei Kant rein moralisch fundiert,5 weswegen ihr auch kein Objekt dienen kann. Die

3 „Das Prinzip idealistischer Ethik wurde zuerst von Kant in der Formel von der Autonomie der Vernunft ausgesprochen.“ (Henrich, Dieter: „Ethik als Autonomie“, in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart: Reclam 1982, S. 8) Um diese neue Grundlegung der Ethik verstehen zu können, muss man sich „zu Kants Aufruf an die Vernunft der vernünftigen Wesen, sich auf sich selbst zu besinnen“, hinwenden. Es ist der theoretische Versuch, „die Phänomene des sittlichen Bewusstseins vollständig aus dem Wesen der Vernunft zu verstehen.“ (Ebd.) 4 Nur der theoretischen Idee der Freiheit ist objektive Realität zu verschaffen, „weil diese die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, dessen Realität ein Axiom ist“ (IX, 93). Der oft kritisierte Satz Kants: „Du kannst, denn du sollst“ (VI, 50), meint zunächst einmal nur, dass es angesichts des Sollensanspruchs des Sittengesetzes richtig vom Menschen ist, sich Freiheit zuzugestehen. 5 „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe […]“ (IV, 450).

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Moral durch ein Objekt bestimmt sein zu lassen, gestattete, dass das freiheitliche Selbstverhältnis des Menschen eine äußere Stütze benötigte, was nach Kant unmöglich wahr sein kann für die menschliche Kausalität aus Freiheit. Diese ist sich selbst genug. Immer wenn sich bei Kant der Wille irgendwelche Objekte als Bestimmungsgrund seiner Handlungen nimmt, ist die Handlung heteronom. Das gilt selbst für den Fall, dass „irgend ein Objekt unter dem Namen des Guten“ gewählt werde (V, 109). Kant wird zum Extremisten der reinen Vernunft. Kein Objekt, auch nicht unter dem Namen des „Guten“, soll das Selbstverhältnis des Subjekts verunreinigen. Allein wo in diesem die Tautologie des absoluten Selbstbezuges waltet, ist Autonomie. Nicht einmal das Gute darf die Bestimmung des Willens anführen. Ansonsten zerbricht die Autonomie. Im Subjekt, Träger dieser sich selbst genügenden Freiheit, sind der Kantischen Theorie nach das einzige Unendliche in der Welt, über das die Vernunft nicht bloß schweigen kann, und Endliches vereint, was die Existenz des Subjekts in der Welt extrem prekär macht. Keine Gesetzeslage, weder die der Natur noch die der Freiheit, wirkt rein in ihm. Das Subjekt existiert nur als Überschreiten der Gesetze, selbst der eigenen, denn nicht einmal dem vertrauten moralischen Gesetz kann es vollständig genügen. Sein Wille ist nie heilig. Das Subjekt ist der Exzess, die Gesetzlosigkeit in der Welt. Interessanterweise ist es gerade ein Gesetz, das die Gesetzlosigkeit bewirkt. Das Sittengesetz sagt bei Kant, dass die Freiheit existiert. Ohne es in ihm wäre das Subjekt dem naturgesetzlich geordneten Kosmos nicht so fremd und, weil es bloß in ihm ist, wird es ihm auch nie gelingen, die Gesetzlichkeit der Freiheit rein in ihm aufzubauen. Jeder moralischen Theorie und ganz besonders der Kantischen muss der Mensch als dieser Exzess begegnen. Es ist zwar der Mensch und nur dieser, der durch Freiheit in der Praxis zählt, aber, wie weit diese Praxis wirksam wird, ist nicht zu entscheiden. Was an einer Handlung aus Freiheit und was aus Naturnotwendigkeit ist, ist durch keine Analyse zu scheiden. Wie weit der rationale Zwang des Gesetzes der Freiheit gereicht und das Subjekt genötigt hat, ist dessen Taten nicht abzulesen.6 Nirgends im Menschen ist die Grenze zwischen freiheitlichem und nicht-freiheitlichem Anteil einer Handlung clare et distincte zu ziehen. Auch die Erscheinung einer Handlung mit besten Absichten kann als ihren Grund die absolute Unmoral haben. Weil der Mensch nicht wissen kann, wie das „Sein“ aufgebaut ist, ist die absolute Unmoral nicht auszuschließen. In Fragen seiner Freiheit ist der Mensch sich selbst genug. Einerseits rettet bei Kant die Freiheit, dass, auch wenn die Erscheinungen kausal sehr klar strukturiert zu sein scheinen, nie zu sagen ist, dass die Freiheit nicht ist. Andererseits muss das Exzessive jenseits der Erscheinungen der Freiheit Kants Theorie derselben in die Verzweiflung stürzen, denn deren Gegen-

6 „Warum aber der intelligibele Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschreitet so weit alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten […]“ (III, B585).

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stand entzieht sich permanent. Die Freiheit muss ihr eigenes Exzessives aufhalten und Selbstbestimmung werden, indem ihr Vermögen, der Wille, der Vernunft gehorcht und so gut ist. Mit dem Sittengesetz „dringt sich uns“ (V, 53) auf, die Unterscheidung von gut und böse zu suchen. Und die Geschichte dieses Aufdringens ist es, die uns zu unterscheiden lehrt. Um in Recht und Politik wirklich zu sein, also wirken zu können, muss die menschliche Freiheit nach Kant mehr sein als die eines „Bratenwenders“ (V, 97). Die wilde Freiheitsmaschine Mensch beruhigt sich am Gesetz der Freiheit, damit sie der Empirie Gesetz sein kann. Das Selbstbewusstsein des Willens liegt bei Kant in der Moral, der damit, wie Hegel anmerkt, einer europäischen Tendenz folgt (vgl. 20, §503). Der Ursprung des Gesetzes der Freiheit liegt für diese Europäer in der Moral und ist dort als Sittengesetz aufgestellt. Im Willen ist, weil er praktische Vernunft ist, durch die Freiheit anerkannt, dass sie nicht wild alles wollen darf, dass ihre Zwecke vielmehr ebenso auf die Freiheit gerichtet sein müssen. Andernfalls ist Freiheit für Kant wie für fast alle praktischen Philosophen nicht zu retten. Das Beste, was eine Moral in der Tradition in einem und durch ein empirisches Wesen bewirken kann, ist das uneingeschränkt Gute. Dessen Bedeutung ergibt sich für Kant nach dem Ausschluss des Guten als Bestimmungsgrund des Willens wie folgt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (IV, 393)7 Das Gute ist bei Kant mithin insofern absolut, als es, Hegelsch gesagt, Reflexion der Konstellation des Intelligibelen in sich selbst ist. Es bezieht sich rein auf sich selbst, nicht auf ein von ihm Unterschiedenes. Weil ihm keine Anschauung korrespondiert, ist es ens rationis (vgl. III, B347).8 Das entscheidende Prinzip der Gutheit ist kein Zweck, sondern der sittlich gute Wille. Das sittlich Gute ergibt sich mit Kants berühmter rein formaler Begründung der praktischen Vernunft nach dem Modus vollständiger Disjunktion als reines inneres Prinzip des Wollens. Alle empirischen Triebfedern sind schließlich ausgeschieden. Trotzdem soll sich die Güte einer Handlung durch das Gute bestimmen lassen. Wenn es kein weiteres Gutes gibt als den guten Willen, der laut Kant rein Gesinnungen regelt,9 kann die Güte nichts mit dem Guten zu tun haben. Die empirische Existenz ist sozusagen wertlos. Nur als solche Abstraktion kann das Gute absolut und rein für sich sein und anders als absolut ist das Gute nicht vorzustellen. Kant ist lediglich konsequent in

7 Mit den sonstigen „Talenten des Geistes“, wie Verstand und Urteilskraft, kann es „äußerst böse“ werden, wenn der Wille sich nicht als gut durchhält (ebd.). 8 Vgl. Deggau, Hans Georg: „Die Architektonik der praktischen Philosophie Kants: Moral, Religion, Recht, Geschichte“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71 (1985), S. 319-342, hier S. 322. 9 Das ist Kants Nicht-Weberische „Gesinnungsethik“: „Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab.“ (IV, 439)

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seinem Versuch, das Gute zu bestimmen. Wäre das Gute noch durch anderes bedingtes, es wäre nicht absolut und nicht das Gute. Hochachtung verdient nur der Wille, der das Gute um seiner selbst willen will. Dann ist er der gute Wille, der Gutes will. Und Gutes zu wollen, heißt für den Willen, sich selbst zu wollen. Dass der Wille sich selbst genügt, ist das Gute. Das Sichselbstgenügen ist aber Eigenschaft der Kontemplation, nicht der Praxis. Letztere basiert darauf, mehr zu verlangen als ist. Äußerer Erfolg ist für das absolut Gute bei Kant nicht allein belanglos, sondern in gewisser Hinsicht kontraproduktiv, denn er bemisst, was erreicht worden ist in der Welt der Erscheinungen. Die Kantische Freiheit existiert jedoch nicht aus ihrer Effektivität, sondern daraus, wie weit sie sich von solchen nicht absolut zu kontrollierenden Abhängigkeiten befreien kann. Moralisch wertvoll ist, was sich von der Wirklichkeit des Gegenstandes einer Handlung zu befreien vermag. Moralisch kann bei Kant von der Veränderung eines Zustands nicht die Rede sein (vgl. V, 45), denn es wird vom moralischen Gesetz verlangt, dass aus Pflicht von jedem „Erfolg“ (vgl. VI, 6FN) zu abstrahieren ist, mit dem aber allein eine Veränderung zu bemessen wäre. Der Endpunkt der praktischen Philosophie verlagert sich ins Theoretische. Nur dieses gewährleistet, dass keine causa efficiens ist und Wirkungen ausbleiben.10 Das absolut Gute ist allein in der Theorie. Es kann nicht gewollt werden, und es kann selbst nichts wollen, denn beide Male müsste das Gute erst noch werden. Das Absolute wird aber nicht, sonst wirkte in ihm die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit. Zugleich soll das Gute für die Moral werden und ist (noch) nicht. Es soll durch Freiheit möglich sein, es soll Praktisches sein und ist Theoretisches. Im Anspruch seiner Absolutheit über den Zwecken verfällt das Gute bei Kant der Dialektik, die es auf sein Gegenteil als seine Bedingung verweist. Sein Gegenteil ist das Böse. Auf diese Bedingung, die nicht aus ihm selbst kommt, ist das Gute um seiner selbst willen verwiesen. Gegen das Böse muss es sich stellen. In der Kantischen Theorie ist das Böse dasjenige, was zuerst sich selbst will, den rationalen Anspruch der prioritären Allgemeinheit durchs Sittengesetz verweigernd (vgl. VI, 36). In dieser Form kann es aber kein Gegensatz für das Gute sein, denn es fällt formal mit dem absolut Guten zusammen, welches ein Wollen des Selbst durch das Selbst ist. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bereitet daher Kant einige Schwierigkeiten, wie später vorgestellt werden wird. Für Kant ist es die menschliche Autonomie, die irgend die Unterscheidung von Gut und Böse zuließe, denn sie gibt den Maximen des Selbst dessen eigenes 10 „Aber Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewusstsein sich nicht Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft und qualitativ von ihr verschieden. […] Indem Kant einzig Vernunft als Movens von Praxis gelten ließ, verblieb er im Bann jenes verblaßt Theoretischen, gegen den er komplementär den Primat der praktischen Vernunft ersann.“ (Adorno, Theodor W.: „Negative Dialektik“, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 228)

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Gesetz. Allein in ihr ist das Selbst vollständig bei sich und in seiner Freiheit unabhängig von den Objekten. Jede der Handlungen eines Subjekts verfolgt einen Zweck, dessen Inhalt sich zunächst bestimmt aus den unmittelbaren Interessen des Subjekts, seinen Meinungen, Leidenschaften etc. Dieser letztlich partikulare Horizont der subjektiven Freiheit muss sich für die Moralphilosophie verallgemeinern, indem das Individuum ihn zur Idee des Guten erweitert. Diese Idee meint den Ausschluss alles nicht-moralischen Wirkens und muss für Kant zum Grund ihrer eigenen Wirklichkeit werden. Wenn dies geschafft ist, kann in rechter Weise von Autonomie gesprochen werden. Ausgeschlossen aus dem Feld der Autonomie ist dann aber alle Nicht-Moralität. Nach der Kantischen Theorie der Autonomie hatte sich ergeben, dass freies und moralisches Handeln in dieser übereinkommen und „Wechselbegriffe“ sind (vgl. IV, 450). Lediglich beim moralisch vollständig guten Handeln ist echt von Freiheit und Autonomie zu sprechen. So wird das Böse aus der Freiheit verbannt. Es kann seinen Grund nicht in der Autonomie haben, denn diese ist um ihrer selbst willen nur gut, d.h. aus reiner praktischer Vernunft. Allein das Axiom des Sittengesetzes bietet einem Freiheitlichen objektive Geltung. Das Böse hätte seine Anschauung in der Negation des Sittengesetzes und hat sie folglich nirgendwo. Ist eine Seite eines Gegensatzes negiert, fällt dieser ganz aus. Wenn nicht mehr zu sagen ist, was das Böse sein kann, entfällt auch die Lehre der Unterscheidung von Gut und Böse, die Moral. Sie wäre verleugnet zu einem „Automatismus“ (Schulte) des Guten. Für Kant sollte sich die Wirklichkeit der Freiheit aus dem moralischen Sollen ergeben, welches das Böse negiert. Ohne Böses wäre daher nicht zu fassen, was an der Freiheit wirklich wäre. Jede Praxis wäre negiert, weil nicht gewusst werden könnte, ob die Freiheit überhaupt etwas ermöglicht. Auch Politik wäre unmöglich, wenn das Böse nihil negativum wäre, d.h. „das, was gar nicht gedacht werden kann“ (Kant, PM, 21). Gut und Böse müssen distinkt sein, andernfalls unterbleibt Praxis. Das Einzige, was dem Kantischen Intelligibelen nicht Angst machen kann, sich selbst zu verlieren, ist ein anderes Intelligibeles. Dieses andere Intelligibele darf auch nicht in der Gestalt von Sensiblem auftreten, d.h. für es kommt nicht in Frage, dass es in einem anderen Selbst als dem eigenen ist. Solches anderes Selbst begegnet dem eigenen Selbst immer unter Weltbedingungen, mithin als res extensa. Für ein Kantisches moralisches Bewusstsein ist es ein mindestens ebenso hartes Ding an sich wie die nicht belebten Dinge. Der Dialog mit ihm ist deswegen immer gestört, nie rein. Intersubjektivität ist nach Kant lediglich der Versuch, sich über die Dinghaftigkeit der eigenen Subjektivität hinwegzusetzen, ohne dass dies gelingen könnte. Der Andere ängstigt das Kantische moralische Selbst dauerhaft. Ohne Furcht ist einzig und allein der Austausch mit sich selbst, weswegen Kantische moralische Handlungen bloß Gesinnungen bewegen. Bei Kant macht jeder seine Moral nur mit sich aus unter dem allgemeinen Gesetz der Freiheit.

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Der Rückzug der Moral ins Innere ihres Selbst liegt in ihrem Begriff. Ohne Gegensatz gegen eine unmoralische Wirklichkeit wäre sie nicht Moral, schließlich soll die Handlung aus Pflicht erst noch sein und aus der Abwesenheit zur Anwesenheit gebracht werden. Die Wirklichkeit soll noch zur Vernunft gebracht werden und bedarf der Veränderung. Voraussetzung jeder Moral ist nach Hegel die Unsittlichkeit der Wirklichkeit, deren Mangel an Vernunft. Das „Faktum“ des Sittengesetzes ist bei Kant das einzige Wirkliche, das aus sich heraus vernünftig ist. Alles andere Wirkliche affiziert den Willen irgendwie pathologisch, weil aus ihm nicht die Vernunft spricht. Wäre alle Wirklichkeit vernünftig, alle Affizierung des Willens durch Wirkliches wäre ebenso vernünftig. Es wäre alles so, wie es sein soll, und Moral wäre überflüssig. Dass Moral für nötig erachtet wird, spricht gegen die Wirklichkeit. Moral trägt folglich immer die schwere Last des Gegensatzes gegen das, was ist. Was ist, muss das Nicht-Moralische, d.h. das Nicht-Gute, enthalten. So auch bei Kant. Dessen Moral begründet ein Urteil über eine der Selbstgesetzgebung der Menschen fremde Wirklichkeit. Gleichzeitig ist solche Heteronomie Voraussetzung ihrer eigenen Existenz, denn sie muss sich unter ihr behaupten. Dass die Welt durchmischt ist von Gutem und Bösem, macht die Existenz des in stiller Harmonie bei sich verweilenden Willens prekär. Unter der weltlichen Herrschaft des Nicht-Guten gerät der freie Wille in den unhintergehbaren Widerspruch der Selbstaufgabe, egal ob als nicht gut oder nicht-gut gefasst. Entweder er handelt nicht nur gut, dann gibt sich der Wille als moralischer auf. Oder er gibt sich selbst auf, um wenigstens nichts mehr Böses zu tun. Dazu müsste der Wille seinen Träger durch Freitod physisch liquidieren. Die reine Moral differenziert nicht in ihrem Urteil über das, was für sie falsch ist. Die ganze Welt und deren Wirklichkeit ist für sie heteronom. Sucht anderes praktisches Handeln, für Kant von bloß hypothetischen Imperativen geleitet, den Anschluss an bestimmte Gegebenheiten in der Welt – weder die technische noch die politische Produktion will eine Welt ganz neu schaffen –, lehnt das moralische Handeln die Wirklichkeit als ganze ab. Sie findet überall in dieser Böses und sieht die Wirklichkeit überhaupt – nicht bloß einzelnes Wirkliches – als ihren Gegner an. Die Moral Kants interessiert nicht die einzelnen Pflichten und ist laut Hegel inhaltslos,11 genau vor dem versagend, was ihre Aufgabe wäre. Weil die Kantische Moral nicht an ihr vorgelegten Inhalten interessiert ist, ist sie allerdings auch für alle vernunftbegabten Wesen gleich gut zu haben. Wenn allein die 11 „Wenn Kant erkennt, daß ein allgemeines Criterium der Wahrheit dasjenige seyn würde, welches von allen Erkenntnissen ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre; […], so spricht er eben damit das Urtheil über das Prinzip der Pflicht und des Rechts, das durch die praktische Vernunft aufgestellt wird.“ Es wird dann von allem Inhalt des Sittlichen abstrahiert. „Nun ist es aber gerade das Interesse zu wissen, was denn Recht und Pflicht sey. […] Und also ist es an sich widersprechend, eine Sittengesetzgebung, da sie einen Inhalt haben müsste; bey dieser absoluten praktischen Vernunft zu suchen, da ihr Wesen darin besteht, keinen Inhalt zu haben.“ (4, 435f.)

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Form und die Gesetzmäßigkeit über den moralischen Gehalt entscheiden, hat kein „Pfaffe“ und kein „Edler“ mehr ein Privileg auf diesen. Kants Moral ist radikal egalitär und republikanisch, darin jedoch gleichzeitig den politischen Eingriff jenseits von traditionellen Herrschaftsmustern ermöglichend. Nach ihr ist jedes Handeln unmoralisch, das den Subjekten Werte, Objekte und andere Subjekte als unhinterfragbar gut vorsetzen möchte. Geht es gegen die Wirklichkeit überhaupt und um das Gute und Böse, ist Kant keine irdische Macht groß genug, diesen Kampf zu unterstützen. Er vertraut auf die unbestreitbare Allmacht Gottes, durch die dieser garantiert, was weise und gerecht ist. Gott ist bei Kant eine Moralexekutive, dafür Sorge tragend, dass das Gute kein Etappenwitz ist. „Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postulirt.“ (V, 125) Gott garantiert als allmächtiges, gütiges und allwissendes Wesen, dass das moralische Reich vereinbar ist mit der Welt (vgl. VI, 139). Die Abstraktion von der Welt, die am Anfang der praktischen Philosophie Kants die Autonomie begründet hatte, wendet sich nun gegen die reine praktische Philosophie und deren moralisches Gesetz. Die praktische Philosophie Kants wird über sich hinaus in das Gebiet der Religion getrieben und zeigt, dass sie nicht für sich selbst Bestand hat. Die Religionsphilosophie muss als Teil der Kantischen praktischen Philosophie gesehen werden. Seine Moral führt Kant nicht zu einer innerweltlichen Macht, welche diese garantieren kann, sondern zu einem recht gefassten Glauben, dass Gott es richten wird. Dessen Kompetenz ist gefragt, nicht, um zu beurteilen, was gut und was schlecht ist, sondern um dieses auch durchzusetzen. Die Moral benötigt objektiv vielleicht keinen Gott, um zu wissen, was Pflicht ist. Aber ein Kantisches Subjekt, welches ihren Plan in sein Handeln aufnimmt, benötigt das Vertrauen in die Weltkompetenz Gottes, denn, dass vernünftige Zwecke sein sollen, bindet an die Welt. Das moralische Handeln als Verwirklichung von Zwecken benötigt „subjektiv“ notwendig einen Gott.12 Das summum bonum wäre ein sinnloses Ziel bei Kant, gäbe es nicht die Potenz Gottes, die hinter den einzelnen moralischen Handlungen der Menschen steht. Damit die Tugendhaften im allgemeinen Fressen- und Gefressenwerden der menschlichen Sozialität nicht letztendlich die Dummen gewesen sind, führt Gott das moralische Handeln an eine geglückte Wirkung in der Welt heran. Die Religionsphilosophie Kants ist insofern nicht einfach Teil seiner praktischen Philosophie, sondern deren Abschlusswiderstand, der dafür sorgt, dass das Praktische nicht ins Leere läuft. Moral führt so „unumgänglich zur Religion“ (VI, 6).

12 „So ist das höchste Gut subjectiv nothwendig das Object eines guten (selbst menschlichen) Willens, und der Glaube an die Erreichbarkeit desselben wird dazu nothwendig vorausgesetzt.“ (IX, 68) Dieser Glaube basiert auf den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und Gottes.

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Sobald Gott im Spiel ist, ist Kant auch bereit, für sein Gutes mehr zu wollen als den rein guten Willen. Mit einer gerechten Allmacht im Rücken fordert er, dass neben der Tugend auch noch die Glückseligkeit für das höchste Gute zählt. Kants Antinomie im Praktischen befürchtet, dass den Tugendhaften die nichtmoralische Wirklichkeit ungerecht mitspielt und sich in dieser nicht alles nach den Wünschen und Willen der Moral richtet (vgl. V, 108ff.). Auch der Knecht soll Grund haben, sich moralisch zu verhalten, selbst wenn ihm seine Herrschaft unmoralisch begegnet und ihr Glück auf seiner Unfreiheit aufbaut. Gott sorgt für die nötige Gleichheit unter den Menschen, welche deren moralisches Streben erst sinnvoll macht. Im Streben nach Gleichheit ist er die wahre politische Macht im Kantischen System. Die Menschen zur Freiheit gleich gut ausstattend, ist Gott die erste politische Kraft im Kantischen System, denn entgegen eines pseudoliberal beliebten Vorurteils ist die Gleichheit genauso gut Vorraussetzung der Freiheit wie umgekehrt. Gerät bei Kant die geschichtlich-reale Befreiung ins Blickfeld, ist er genötigt, zur Politik überzugehen, auch wenn er dies hinter einem Gott versteckt. Das Bewundernswerte an Kants Theorien ist es, dass sie durch eine strenge Konsequenz im Denken immer wieder über die eigenen Voraussetzungen hinaus getrieben werden und nicht dogmatisch an diesen festhalten. Man gewinnt stets den Eindruck, es ginge wirklich um die Bewegung des Begriffs, und nicht darum, immer schon Gewusstes zu zementieren. Gott organisiert die Welt bei Kant. Dass dies menschengemachte Handlungen der Politik ohne Hilfe von oben erledigen könnten, erscheint Kant absurd, zu stark sind die Grenzen der menschlichen Urteilskraft, denn die erlaubt weder eine vollständige Aussage über das, was ist, noch über das, was sein wird. Beides ist für Kant aber notwendig, damit Tugend und Glückseligkeit synthetisierbar sind. Tugend wird vorerst als „die Würdigkeit glücklich zu sein“ (V, 110) genommen und ist „oberstes Gut“ (ebd.). „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht.“ (V, 124) Das Glückseligkeitsstreben ist laut Kant dem Mensch als Sinnenwesen selbstverständlich (vgl. V, 61). Im Begriff des höchsten Guts treten die intelligibele und die sinnliche Sphäre wieder zusammen. Damit die Wirklichkeit moralisch sein kann, muss neben das „oberste Gut“ der Tugend als „erste Bedingung der Sittlichkeit“ die Glückseligkeit hinzutreten (V, 119). In der Kritik der praktischen Vernunft ist das summum bonum der Endzweck, der die Formalität des Sittengesetzes abschließt. Dieses Unbedingte zu allem praktisch Bedingten vereinigt die endlichen Zwecksetzungen zu einem höchsten Ziel. Wenn das höchste Gut unmöglich wäre, gäbe es für Praxis keine Rettung. Sie wäre sinnlos. Der Mensch stünde vor der schlechten Alternative der Absurdität und des Abgrundes seiner Existenz. Entweder er handelte aus Tugend, abgeschnitten von jedem Grund der Hoffnung auf Glückseligkeit, oder er handelte um seiner Glückseligkeit willen, ohne daraus Tugend entwickeln zu können. Beide „absurda practica“ stürzen das moralische Subjekt: Das erste als „absurdum pragmaticum“ lässt aus dem Subjekt einen Tor werden, das zweite als „absurdum

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morale“ einen Kantischen Bösewicht.13 Beides kann von Kant unmöglich zugelassen werden. Die Bestimmung des höchsten Guts wandelt sich in den moralischen Grundlegungsschriften. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist das höchste Gut noch wesentlich mit dem guten Willen identisch gewesen und der gute Wille unbedingte Bedingung aller sonstigen Praxis (vgl. IV, 396). Das ändert sich in der Kritik der praktischen Vernunft. Zwar ist auch dort die Realisierung des bedingt Guten an die Realisierung des unbedingt Guten gebunden, aber die Tugend allein genügt nicht mehr. Das höchste Gut ist dort die synthetische Einheit von Tugend und Glückseligkeit. Kant gesteht dem Menschen seine Endlichkeit zu, ohne jedoch hinter seine Einsicht zurückzufallen, dass die Unbedingtheit des Sittengesetzes nicht aus der Bedingtheit empirischer Heteronomie folgen kann.14 „Die Modifikationen seiner [Kants, d.V.] Stellung zum Glück im Fortgang der Kritik der praktischen Vernunft sind keine nachlässigen Konzessionen an die Tradition der Güterlehre; vielmehr vor Hegel, Modell einer Bewegung des Begriffs. Moralische Allgemeinheit geht, gewollt oder nicht, zur Gesellschaft über.“15 Die Moral vermittelt die Gesinnungen und diese zeitigen Wirkungen des homo phaenomenon. Was dieser in der Welt bewirken will, sollen seine Maximen organisieren. Durch die Postulatenlehre der praktischen Vernunft wird die Möglichkeit solcher Realisierungen verbürgt. Damit sie wirklich werden können, ist ein äußerer Zusammenhang der Menschen nötig, welcher sich irgendwie nach dem Gesetz der Freiheit richtet. Die Moral geht bei Kant auf die Religion, wenn sie auf die an sich durch einen guten Gott organisierte Welt vertraut, aber auch auf Recht und „rechte“ Politik, wenn sie auch für den Menschen Handlungsbedarf sieht.16 Im höchsten Gut als synthetischer Einheit von Tugend und Glückseligkeit wird der zeitliche Mensch für die Praxis ernst genommen. Das Aussperren des natürlichen Selbst und des Lebens, wie Nietzsche sagen würde, von den Wohlta13 Vgl. Hoping, Helmut: „Freiheit im Widerspruch – Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant“, Innsbruck; Wien: Tyrolia-Verlag 1990, S. 173. 14 „Doch genau in dem Maße Kant auch den geschichtlich-realen […] Menschen für die Erfordernisse seiner praktischen Vernunft ernst nimmt, in dem Maße muss er die Natur als einen Zweckzusammenhang interpretieren.“ (Lutz-Bachmann, Mathias: „Geschichte und Subjekt: zum Begriff der Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant und Karl Marx“, Freiburg; München: Alber 1988, S. 42) Wenn sich in der Idee des höchsten Guts die reine praktische Vernunft der Welt zuwendet, wird Kant zur Erweiterung seines kategorischen Imperativs gebracht: „Das moralische Gesetz als formale Vernunftbedingung des Gebrauchs unserer Freiheit verbindet uns für sich allein, ohne von irgend einem Zwecke als materialer Bedingung abzuhängen; aber es bestimmt uns doch auch und zwar a priori einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt.“ (V, 450) 15 T.W. Adorno: Negative Dialektik, S. 256. 16 Vgl. H.G. Deggau: Architektonik, S. 335ff.

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ten Kantischer Moral erscheint inkonsistent. Gesetzt, es gäbe eine technisch praktische Lösung, wie die Probleme bei der Beförderung der Glückseligkeit bewältigt werden könnten, dann wäre nicht mehr einzusehen, warum Glückseligkeit der moralischen Bestimmung nicht entsprechen könnte. Das systematische Argument dafür ist bei Kant, dass die Glückseligkeit den Gegensatz der Interessen nicht ausschließen kann und dass der Antagonismus der Interessen die Beförderung der Glückseligkeit als eines kollektiven Interesses ausschließt. Moral hat zu ihrer Voraussetzung, dass kollektive und individuelle Interessen unvereinbar sind, dass der Mensch zumindest ungleich gegenüber seinem Ganzen ist.17 Nach Hegel ist es durchaus möglich, dass durch Arbeit und Kooperation (in der Produktion) der Zustand allgemeiner Glückseligkeit zu bewirken ist. Es könnte ja sein, dass die Geschichte der Menschheit langsam herausfindet, wie Glückseligkeit für alle am besten möglich ist. Genau so denkt sich die Moderne die Aufgabe ihrer Ökonomie und Produktion, denn diese dienen nicht mehr wenigen für ihre Kriege, sondern schaffen ein Geflecht allgemeiner Abhängigkeit, indem sie die Bedürfnisbefriedigung des einen auf der des anderen aufbauen. Kant, und das ist nicht sein geringstes Versäumnis, fehlt der Bezug auf den menschlichen Stoffwechselprozess mit der Natur. Für ihn ist letztere immer Antipode der Praxis der Menschen, weshalb ihm die „Ökonomie“ verborgen bleibt, wie auch die auf diese aufsetzende Politik. Dies muss als einer von Kants zentralen Fehler genommen werden, zumal wenn man bedenkt, dass Rousseau schon eine politische Ökonomie versucht hatte und Hobbes die politische Wissenschaft zur Grundlagenwissenschaft aller Praxis machen wollte. Kant setzt Freiheit gegen die Natur mit seiner reinen Moral, für die ein Prinzip der Glückseligkeit nie denselben Grad an notwendiger Allgemeinheit für die Willensbestimmung erreicht wie die praktische Vernunft (vgl. V, 36). Es hat stets nur generelle, nicht die geforderte universelle Allgemeinheit. Dieses Argument vermag nicht mehr zu überzeugen, wenn man bedenkt, dass auch das moralische Gesetz, wenn auch objektiv notwendig, lediglich Forderung ans Subjekt bleibt, aus der die moralische Handlung nicht notwendig folgt.18 Kant behauptet, dass die Glückseligkeit sich nicht in intensione recta erlangen lasse, dass Notwendigkeit und Freiheit nicht menschlich zusammen sein können. Aber sie komme der vernünftigen Bestimmung des Willens als intensio obliqua zu, so „dass das oberste Gut (als die erste Bedingung des höchsten Guts) Sittlichkeit, Glückseligkeit dagegen zwar das zweite Element desselben ausmache, doch so, dass diese nur die moralisch bedingte, aber doch nothwendige Folge der ersteren sei.“ (V, 119) Als Garant dafür postuliert er Gott. Dass der Wille sich überhaupt vernünftig verwirklichen kann, setzt voraus, die Strukturierung der Welt als vereinbar mit den vernünftigen Zwecken zu den-

17 Vgl. T.W. Adorno: Negative Dialektik, S. 278. 18 Dieses Argument verdanke ich einer Vorlesung Peter Bulthaups über Kants Kritik der praktischen Vernunft.

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ken und bei allen Menschen die gleiche Chance zu sehen, sich mit der Welt „recht“ einzurichten. Das zwingt Kant anzunehmen, dass eine absolute Macht sei, die das Geforderte so einrichtet. Mit der Idee göttlicher Allmacht wird der empirische Erfolg des nicht-empirischen Sittengesetzes garantiert. Über die Postulatenlehre kann die Abstraktion des moralischen Gesetzes den Weg zurück in die Empirie finden.19 Die Postulate der Unsterblichkeit und Gottes sind insofern für die Transzendentalphilosophie konstitutive Momente. Die Religionsphilosophie ist konstitutiv dafür, dass menschliche Praxis nicht sinnlos wird.20 Durch sie darf „gehofft“ werden. Die versöhnte Identität von Glückseligkeit und Tugend ist jedoch nur Hoffen an das ewige Leben, nicht an „dieses Leben“ (V, 115), also unwirkliche Wirklichkeit. Im Moment ihres Übergehens offenbart sich die heikle Grundkonstitution der Kantischen Moral. Sie ist unerfüllbar gedachter Wunsch an sich selbst. Sie will das Selbst ins rechte Selbstverhältnis versetzen, ohne es zu können. Ihr Spiel mit dem Selbst gleicht dem Wettlauf zwischen Hase und Igel. Das Nicht-Moralische (Begierden, Neigungen etc.) ist immer schon da gewesen, wohin auch immer das Moralische gelangt. Überholen kann es es nicht. Die verlangte Synthesis von Allgemeinen und Besonderen, von reiner praktischer Vernunft und vor-moralischem Wollen, ist für die Moral ein Jenseits, das nur unter Rekurs auf den Jenseitigen zu bewahren ist, welcher das wirksam werdende Handeln in Recht und Politik sichert. Die Kantische Moral ist die Behauptung, dass die reine Vernunft für sich selbst praktisch werden könne. Sie scheitert daran, weil sie an ihrem Ende doch mehr will. Sie will, dass das Ziel nicht einfach die Subsumption von Besonderem unter die formale Allgemeinheit der praktischen Vernunft sein soll. Das Materia-

19 Durch das Postulieren befreit sich Kant vom Verstummen vor der Welt. „Prima philosophia hätte, wenn sie konsequent wäre, auf Inhalt, der über die Definition des Ersten hinausweist, zu verzichten. Ihrem Beginnen müsste unmittelbar ein Verstummen folgen.“ (Haag, Karl Heinz: „Philosophischer Idealismus. Untersuchungen zur Hegelschen Dialektik mit Beispielen aus der Wissenschaft der Logik“, Frankfurt/Main: Europäische Verlags-Anstalt 1967, S. 22) 20 Die zeitliche Reihenfolge der praktischen Hauptschriften Kants ist erstes Indiz, dass die Religionslehre von Kant geschrieben worden ist, um die praktische Philosophie zu vervollständigen: 1785: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; 1788: Kritik der praktischen Vernunft; 1793: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; 1797: Metaphysik der Sitten. Auf diese Reihenfolge und Kants Reaktion auf Kritiken von Reinhold und Schmid stützt Prauss seine historische These, dass die Theorie vom Bösen eine gescheiterte Selbstkritik Kants an seiner ausschließlich moralisch fundierten Autonomie ist (vgl. Prauss, Gerold: „Kant über Freiheit als Autonomie“, Frankfurt/Main: Klostermann 1983, S. 83ff.). Auf jeden Fall ist die Religionslehre zwischen die Grundlegungsschriften und ihre Anwendung in der Metaphysik der Sitten geschaltet. Schon diese Tatsache bietet Anlass, Kants Rechts- und politische Philosophie unter der Perspektive seiner Auffassung von der Religion und vom Bösen zu betrachten.

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le des Menschen, seine Glückseligkeit, soll nicht zu kurz kommen und soll zur Synthesis mit der Tugend gebracht werden.21 Synthesis intendiert aber nicht die Reduktion des einen Moments auf ein anderes, sondern ein Ineinandergreifen zu konkreter Einheit. Dass der Kantische Gott Ersteres und nicht Letzteres für die Menschen will, lässt ihn als Geist erscheinen, der diese um ihr höchstes Gut betrügt, lässt ihn als „bösen Geist“ erscheinen, welcher den Zweifeln Descartes’ genügt.22 Die Moral Kants verweigert dem Menschen die Synthesis seines geistigen mit seinem körperlichen Wesen. Sie verschließt die Harmonie von Tugend und Glückseligkeit und kann lediglich sagen, dass beide sich zum summum bonum vereinigen sollen, nicht, wie das geschehen kann. Sie bleibt ein Problem, weil sie mehr sein will, als sie sein kann. Damit Erfüllung ist, postuliert Kant einen Gott als obersten Hüter des Moralischen. Die menschliche Freiheit kann bei ihm nicht bei sich selbst bleiben. Sie ist auf Anderes verwiesen, das ihr Sinn gibt. Nur weil dieses Andere ein Gott der Freiheit und Vernunft ist, besteht die Möglichkeit des Moralischen weiter. Dem biblischen Gott des „einfachen“ Köhlerglaubens wäre das nicht abzuringen. Hegel wirft Kant kleingeistige Weltanschauung in Fragen der Moral vor. Dessen „moralische Weltanschauung ist […] ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche“ (9, 332), weil sie ihr Heil außerhalb ihrer selbst suchen muss. Um den Menschen vor sich selbst und den Missbrauch seiner Freiheit zu bewahren, will sie ihm das Handeln versperren. Moralisch ist, wer rein ist. Handeln soll jemand anders für ihn; ein gutmeinender Gott. Aber der Mensch lässt sich das Handeln nicht ausreden, wie Hegel feststellt. „Das Bewußtseyn spricht es also durch die That aus, daß es mit dem Postulieren nicht ernst ist, weil der Sinn des Handelns vielmehr dieser ist, das zur Gegenwart zu machen, was nicht in der Gegenwart seyn sollte.“ (9, 333) Zunächst trotzt die Tat der Moral in der Religion, später in Recht gehandelter Politik. Im Hegelschen Konzept derselben Vereinigung, das ihm die Auflösung der Antinomie im Praktischen liefern soll, gelangt

21 Gerhard Schweppenhäuser zeigt, dass Kants Idee für die Moral ihn material werden lässt. Seine „Darstellung und Diskussion des Universalismusproblems im Rahmen des Begründungszusammenhangs in Kants Moralphilosophie“ versucht die „Dialektik“ zu entfalten, „die sich daraus ergibt, dass formale Begründungsstruktur und materiale Implikationen aufeinandertreffen. So sollte deutlich gemacht werden, dass Kants Zugriff aporetisch ist und zugleich über sich hinausweist. Zugespitzt formuliert: Die Aporetik legt davon Zeugnis ab, dass der Gehalt der Kantischen Ethik gleichsam von selbst verlangt, ihn von seiner formalen Beschränkung zu befreien.“ (Schweppenhäuser, Gerhard: „Die Antinomie des Universalismus. Zur kritischen Theorie der Moral“, Weimar: Manuskript 2003, II.26) 22 „So will ich denn annehmen, nicht der allgütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen […].“ (Descartes, René: „Meditationes de Prima Philosophia in quibus dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstantur“, in: ders., Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg: Meiner 1996, Erste Med., 12)

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dessen unbändiger Optimismus bezüglich der Fähigkeiten der menschlichen Tat zur Darstellung. Gott ist kein Dämon, da ist sich Hegel ganz sicher. Seine Vereinigungsphilosophie soll veranschaulichen, dass das Mögliche nicht nur ein sich nicht Widersprechendes ist, sondern darüber hinaus dem Menschen möglich sei, d.h. es kann wirklich werden. So weit kann man nur kommen, glaubt man, dass hinter der Ordnung der Dinge ein Gott steht, der kein Interesse daran hat, die Menschen zu täuschen.23 Kants Bemühungen an einem eigenständigen Phänomen des Bösen scheitern, weil eine Freiheit, die moralisch verwirklicht sein soll, nicht Unmoral wollen kann. Anerkannt ist in Kants Versuch jedoch, dass eine moralische Handlung nicht ohne ihr Gegenteil auskommen kann. Freiheit als moralische benötigt die offene Alternative. Um wollen zu können, müssen Alternativen offen stehen. Im Folgenden werden mit Platon, Augustinus und Leibniz Philosophen vorgestellt, die alle eine wichtige Rolle in der Debatte um die Alternative der Freiheit von Gut und Böse spielen. Platons Argumente machen über Jahrhunderte nach ihm plausibel, dass das Böse privatio boni sei. Augustinus beschreibt in seinem Bemühen, Gott im Angesicht des real existierenden Bösen zu rechtfertigen, zum ersten Mal so etwas wie ein freies Wollen, das der Grund des Bösen in der guten Schöpfung Gottes ist. Leibniz schließlich systematisiert die Verteidigung Gottes angesichts des Bösen und gibt ihr den Namen Theodizee. Allen Dreien ist das Böse privatio boni. Dieser Annahme widerspricht Kant mit seiner Theorie vom radikal Bösen und erklärt es für notwendig für den Menschen. Weil sein Böses aber als radikales nicht überzeugen kann, offenbart seine Theorie die Kontinuität mit dem ethischen Intellektualismus von Platon, Augustinus und Leibniz.

23 In ähnlichem Kontext stellt Jamme über Hegel fest: „Das ist der Glaube, dass Gott die Welt regiert und nicht ein Dämon.“ (Jamme, Christoph: „Ein ungelerntes Buch. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 17971800“, Bonn: Bouvier 1983, S. 118)

Über Freiheiten oh ne ve rnünftigen Widerspru ch Platons, Au gustinus’ und L eibn izens e thischer In tellektualismus

Vor Kant ist über Jahrhunderte hinweg gewiss gewesen, dass es ohne Gott keinen vernünftigen Schritt der Menschheit geben könne. Der ordo stand und fiel mit seinem Schöpfer. Später löst sich die Gewissheit in Misstrauen gegen die göttlich synthetisierende Kraft auf, bis Nietzsche auf dem frühen Höhepunkt des industriellen Zeitalters Gott sterben sieht, ohne dass er befürchtet, dass dadurch die Kraft zum glücklichen Leben schwindet. Gott stirbt, weil sein Leben für niemanden mehr zählt.1 In der langen Zeit, bevor Gott gestorben ist, wird in den christlichen Philosophien und deren antiken Vorläufern das Gute an ihren Gott gefesselt und an dessen Ordnung für die Welt. Die Negation des Guten läuft dann auf den Widerspruch zu Gott hinaus und dem Auflösen von dem durch diesen geordneten Sein. Dessen Hierarchie wird für die ordnungsgewissen christlichen Philosophen oben durch das Gute an sich abgeschlossen, mehr kann man nicht wollen und denken. Es ist wichtig, die Differenz desselben zum absolut Guten Kants zu vermerken. Das Gute an sich ist der menschlichen Aktivität nicht gänzlich zugängig. Keine Autonomie und keine Vernunft schaffen es. Es ist an sich über den Köpfen der Menschen und braucht auch nichts Böses zu fürchten. Für Philosophen ist Gott zumeist die vernünftige Macht, weswegen die christlichen Nachfolger Platons – Augustinus und Leibniz – den Dienst am göttlichen Guten mit dem an der Vernunft identifiziert haben. Man muss in den Ursprüngen des philosophischen Christentums forschen, um zu erfahren, wo für alle

1 Ich spreche hier selbstredend nicht von dem existentiellen Tod Gottes, sondern von seinem historischen, in dem er für das menschliche Zusammenleben ohne Bedeutung wird. Badiou beschreibt dies in seinem Buch Gott ist tot. Nach ihm kann der Gott der Metaphysik nicht sterben, weil er nie gelebt hat (vgl. Badiou, Alain: „Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs“, Jürgen Brankel (Hg.), Wien: Turia und Kant 2002, S. 9ff.).

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präsentierten Autoren entweder positiv oder negativ das Gute entspringt. Hier liegt der Bezug, der alle in ihren unterschiedlichen Begriffen vom Guten eint. Es ist die Platonische Erfindung des Guten an sich – ein Bild von Nietzsche –, die jede weitere Erwägung über die Moral bestimmt. Augustinus wird die Platonischen Ideen an das Christentum binden. Seit diesem die bestimmende Rolle über das Abendland zugekommen ist, wird das Gute an dessen Gott gebunden, weswegen die Diskussion über eine mögliche Rechtfertigung Gottes in Gegenwart des Bösen von Augustinus bis hin zu Leibniz das beherrschende Thema der Philosophien ist. Allen drei Autoren ist gemeinsam, dass sie ihr Gutes nur mit der Vernunft wollen. Daher widerspricht das Böse nicht allein ihren theoretischen Überlegungen über eine gut geschaffene Welt, sondern auch ihren praktischen über die bestmögliche Ordnung. Böse ist vor allem bei Platon und Augustinus das, was der theoretischen Einheit und der praktischen Geschlossenheit des Kosmos widerspricht. Ihr Gutes ist gereinigt von allem, was seine Ähnlichkeit zu Gottes Unendlichkeit beschmutzen könnte. Mit Platon wird eingeführt in die Welt des „ethischen Intellektualismus“. Er ist Vorbild für alle Hoffnungen und ganz besonders für die eines Augustinus in die Gestaltungsmöglichkeiten der Vernunft gerade in Bezug auf die menschliche Freiheit. Das Böse ist zwar schon vor Platon Thema der griechischen Philosophen gewesen,2 aber erst bei ihm wird das Phänomen des Bösen intensiver diskutiert.3 Der griechische Begriff des kakon umfasst nicht nur das moralisch verwerfliche Handeln des Menschen, sondern auch die physischen Übel, die mit ihm geschehen können und die es zu vermeiden gilt.4 Grundsätzlich taucht das kakon bei Platon als Störung der richtigen, vernünftigen Ordnung auf. Die amathia (der Irrtum) führt nach Platon in den Untergang und ins Böse. Ohne sie wären keine Übel in der Welt.5 Der Irrtum entspringt einer Disharmonie, einer Krise der menschlichen Seele, in der deren Gleichgewicht durch überhand nehmende untere Seelenteile gestört wird und die Begierden und das Wollen Vorherrschaft über die Vernunft gewinnen.6 Der Mensch lebt nicht von reiner Vernunft allein, er ist außerdem noch Leib. Daher wird seine Seele stetig angegriffen durch seine niederen Seelenteile der Begierden. Platon fordert die Menschen auf, sich selbst zu erkennen, die eigenen Krisen der Seele durch den Widerstreit der Seelenteile zu fassen, und alle politischen Philosophen, die hier betrachtet werden, folgen ihm darin. Apolls Spruch „Nosce te ipsum“7 steht für den Anfang der praktischen

2 Vgl. Schottlaender, R.: „Alterum“, in: Artikel „malum“, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, Sp. 652-706, hier Sp. 656ff. 3 Vgl. Hager, Fritz-Peter: „Gott und das Böse im antiken Platonismus“, Würzburg, Amsterdam: Königshausen und Neumann 1987, S. 13. 4 Vgl. ebd., S. 10. 5 Vgl. Platon: Protagoras, 352a ff., 355a ff. 6 Vgl. das 4. Buch der Politeia. 7 Platon: Charminedes, 64d.

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Philosophie. Die Selbsterkenntnis fördert laut Platon die menschliche Bescheidenheit (Sophrosyne), denn man sieht, wie weit das eigene Gute von dem Guten an sich entfernt ist. Diese Bescheidenheit ist die erste Zier des der Welt zugewandten Menschen, durch die er vernünftig seine Ziele und Grenzen bestimmen kann. Die Vernunft ist bei Platon im Menschen so stark, dass sie höchstens getäuscht werden kann. Aus solcher Täuschung kann das Böse entstehen. Niemand kann sich der Ratio so weit entziehen, dass er willentlich Nicht-Vernünftiges erstellt. Handelt eine Person böse, mangelt es ihr laut Platon an Einsicht, keinesfalls aber ist ihr böses Handeln selbst Resultat aus einer Einsicht, die sich dem Guten an sich widersetzt. Jeder wählt, was er unter gegebenen Umständen für das Bestmögliche hält. Wenn er sich schon nicht dem der Situation entsprechenden Guten zuwenden kann, weil ihn die Umstände davon abhalten, so wird er unter zwei möglichen Übeln dasjenige auswählen, das das geringere ist.8 Was gut ist in einer Situation, wird nach Platon die Vernunft mitteilen und wird, wenn sie nicht getäuscht wird durch sinnliche Einflüsse, getreu das Gute zum Ziel der Handlung ausbilden. Daher wird nach Platon „unfreiwillig“ Unrecht getan.9 Niemand kann sich bei vollem Verstand dem Guten widersetzen und Böses um des Bösen willen tun.10 Ein Böses ist für den ethischen Intellektualismus immer ein Fehler. Es bringt seinem Urheber keinen Nutzen, so zu handeln, denn dann müsste ein unvernünftiges Handeln Macht über die vernünftig eingerichtete Ordnung der Dinge haben, was für Platon undenkbar ist. Das Böse kann nicht an sich selbst sein, weil es sich als absolut Zerstörerisches selbst aufheben müsste. „Wären die Ungerechten von Grund auf ungerecht, dann würden sie einander selbst nicht schonen; vielmehr wohnte ihnen offenbar noch ein Rest an Gerechtigkeit inne […].“11 Das Böse ist laut Platon nicht vernünftig zu denken. Es ist, weil die Welt nicht allein Idee, sondern auch Materie ist. Der Schöpfer der Welt hat bloß Abbilder von den Ideen gebildet, Kopien, die das Original nicht einholen können. Im Besonderen ist es die Materie, aus der geformt wird, welche das Produzierte von seinen Prinzipien abfallen lässt.12 Ohne Materie hätte es zwar keinen sichtbaren Kosmos gegeben, nur verhindert sie zugleich, dass eine perfekte Welt geschaffen wird. Von der Materie und nicht den Ideen herkommend, kann das Böse kein wirkliches Sein formen. Dazu ist es auf die ewige Anwesenheit der höchsten aller Platonischen Ideen, des Guten, angewiesen. Demgegenüber ist das Böse lediglich ein Schatten, eine „Beraubung“ der Reinheit dieser Idee. Die Lehre vom Bösen als

8 9 10 11 12

Vgl. Platon: Protagoras, 359. Vgl. F.-P. Hager: Gott, S. 17. Vgl. Platon: Protagoras, 358a-e; Gorgias, 467c-468b. Vgl. Platon: Politeia, 352c. Vgl. Platon: Sophistes, 240a-b.

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privatio boni entsteht. Sie wird bestimmend bleiben für Jahrhunderte christlicher Auseinandersetzung mit dem Bösen. Über Jahrhunderte, so lange bis nach der Neuzeit die politische Theorie eine eigenständige Macht geworden ist, ist das Böse eine reine privatio boni. Dergestalt weicht es die Ordnung des Guten auf, nicht als eigenständige negative Macht. Das „Schlechte“ ist „dasjenige, was alles zerstört und vernichtet, das Gute dagegen das, was jegliches erhält und gedeihen lässt“.13 Um es zu bekämpfen, reicht die Bestätigung der Ordnung des Guten. In weltlichen Dingen genügt es, gerecht zu sein und daran mitzuarbeiten, dass jeder das Seine erhält. Stabil wird ein Gutes gegen eine privatio boni, wenn man keine Abweichung zulässt und jeder in seinem Sektor der Ordnung das tut, was er tun kann und soll. Die politische Krise entsteht dann auch bei Platon, wenn Menschen beginnen, ihren Raum zu verlassen. Sie droht von dem Inneren der Gesellschaft her, weniger von äußeren Angriffen, welche ein vernünftig gegliedertes Gemeinwesen leicht abzuwehren vermag. Dass das politisch Böse an den inneren Fremdlingen hängt, wird Platon stellvertretend für die meisten politischen Theoretiker nach ihm feststellen, wenn Aufrührer von innen Unordnung schaffen. Der gute Politiker hat zum Gegenbild den „Stasiastiker“14, übersetzt: die revolutionäre Gruppe. Diese ist so perfide, weil sie im Innen des Staates gegen diesen operiert. „Auf den Staat wende ich dies Wort [den Unverstand, d.V.] an, wenn die große Masse den Obrigkeiten und Gesetzen nicht folgt.“15 Die, die nicht folgen, sind als „Fremdlinge im Reich des Wissens zu brandmarken“ und werden Unheil über ihr Haus und ihren Staat bringen.16 Schon bei Platon steht die Gerechtigkeit der Unordnung durch ungewisse Veränderung entgegen, wenn „schlechte“ Teile gegen das Ganze arbeiten. Platons Ideen haben die Theorien des christlichen Mittelalters über das Böse wesentlich bestimmt. Besonders die Idee, dass die Materie und die Leiblichkeit des Menschen die Ausbildung der reinen göttlichen Gedanken in der Welt verhindert, passte sehr gut in das Weltbild einer monotheistischen Religion. Sie verhinderte über Jahrhunderte, dass man angesichts der Wirklichkeit des Bösen in der Welt entweder annehmen musste, dass Gott es nicht nur gut meinen konnte oder dass Gott nicht allmächtig sein konnte und es neben ihm noch eine zweite Macht geben musste, welche das Böse in die Welt gebracht hatte. Beide Annahmen hätten die christliche Ordnung zerstört. Augustinus wird auf die Platonische Idee der Unfähigkeit des Bösen gegenüber der Stabilität der guten Ordnung zurückgreifen, um den Menschen seiner Gegenwart die Macht Gottes zu verdeutlichen, auch wenn die Barbaren und Heiden die heilige Stadt Rom erobern konnten. Das Böse hat keine Chance auf finale Wirksamkeit im christlichen Kosmos.

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Platon: Politeia, 608. Vgl. Platon: Politikos, 303c. Platon: Nomoi, 689a-d. Ebd.

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Für das antike römische Gemeinwesen mussten die ersten Christen als Platons Stasiastiker erscheinen, denn als Religion ohne Nation waren sie nicht bereit, dem römischen Kaiser zu opfern, was damals eher eine politische Loyalitätsbekundung war als ein Kultakt.17 Als Religion ohne „Nation“, ohne „nationale“ Gottheiten destruierte das Christentum die Identifikation der Heiden mit ihren Gemeinschaften, indem die alten Bräuche und Sitten von ihm entehrt wurden. Konservativ hatte jeder in der antiken heidnischen Welt seinen Platz. Der Christ hingegen brach das Gleich um Gleich der ewigen Wiederkehr und das Schicksal, das in der antiken Welt Götter und Menschen in gleicher Weise beherrschte. Gegen eine solche höhere Macht wäre Jesu Sterben völlig sinnlos gewesen. Seit dem 17. Jahrhundert, zur Zeit der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa, wird die Pietäts- und Vaterlandslosigkeit des Christentums zum Problem, denn die staatliche Souveränität konnte keinen anderen Herren neben sich dulden. Die „republica christiana“ musste gebrochen werden, damit die Nation entstehen konnte. Man findet diesen Sieg über das Christentum als Aufgabe jeglicher bürgerlichen Befreiungsbewegung bei allen deren Autoren später wieder. Augustinus steht insofern am Anfang der politischen Theorie, als er nach dem Sturm und Drang des frühen Christentums hilft, wieder eine Ordnung zu institutionalisieren, als das Christentum als Staatreligion die Verantwortung für das Gelingen Roms mit übernommen hat. Im Jahr 529 nach Christus schloss der oströmische Kaiser Justinian die fast tausend Jahre alte Platonische Akademie in Athen, was den Schlusspunkt einer Christianisierung des ganzen Reichs von Rom bildete. 410, ungefähr hundert Jahre zuvor, hatten die Westgoten Rom erobert. Als Antwort auf die Inbesitznahme der heiligen Stadt durch die Heiden schrieb der Kirchenvater und Theologe Augustinus sein Werk De civitate dei. Darin erklärt der Bischof von Hippo, dass Gott in der Unerforschlichkeit seines Ratschlusses den Römern die Herrschaft gegeben habe und sie ihnen auch wieder nehmen könne. De civitate dei entfaltet den Begriff des Gottesstaats (civitas dei), dem die Engel, Heiligen und Erwählten Gottes angehören. Diesem steht der irdische oder teuflische Staat gegenüber (civitas terrena oder diaboli), dem alle dämonischen Wesen und die nicht zur Erlösung bestimmten Menschen beiwohnen. Die Weltgeschichte entwirrt diese unsichtbaren Reiche und bereitet das Wiederauferstehen Christi vor, die Apokalypse, die ewige Gerechtigkeit und Ordnung bringt. Mit der luziferischen Bosheit und dem Sturz der Engel beginnt die Trennung von civitas terrena und civitas dei, die an ihrem Ende dazu dient, die Güte Gottes unter Beweis zu stellen, wenn dieser die Gerechtigkeit bestätigt hat und im letzten Gericht die Gu17 Die frühen Christen brachen die alte Pietas der Römer. Ihr Glauben forderte, „alle Bindungen an Familie, Heimat, Volk und Vaterland aufzugeben, kurzum mit allem zu brechen, was für ethisch verantwortungsbewusste Menschen damaliger Zeit, gleichviel, ob Juden, Griechen, Asiaten, Afrikaner oder Römer – das Heiligste war.“ (Pagels, Elaine: „Adam, Eva und die Schlange. Die Theologie der Sünde“, Hamburg: Rowohlt 1991, S. 91)

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ten erlöst und die Bösen bestraft. Die Gesellschaft erhält so über die Trennung von Gut und Böse zum ersten Mal eine Geschichte und ist nicht ewige Wiederholung. Mit einem „moralischen Egalitarismus“ (Pagels) brachen die frühen Christen die konservative Welt der Antike und machten Sklaven zu einem Teil der vernünftigen Ordnung des Guten an sich Gottes. Der heilige Augustinus hat dem moralistischen Spuk seiner christlichen Vorgänger ein Ende bereitet, indem es ihm gelang, die Christen von neuem an das politische Gemeinwesen zu binden, obgleich ihr erstrebtes Reich nicht von dieser Welt sein sollte. Mit dem etablierten Christentum kommt eine neue Konstante ins Spiel unterschiedlicher politischer Interessen und Ausrichtungen, in dem das mächtige Rom untergehen konnte. Die Kirche existiert weiter, auch wenn das Gemeinwesen untergeht, in dem sie beheimatet ist. Von dem einen Gott der Christenheit müssen die Resultate politischer Konflikte gewollt sein für die Ordnung der von ihm geschaffenen Welt. Weil dieser Gott darüber hinaus gut und gerecht ist, ist es sein ordo auch. Kommt es zu Abweichungen von der Ordnung, wohl möglich durch Böses, wird die Ordnung also schlecht, schlägt das per modus tollens gleich auf Gott zurück. Dessen sich durchhaltendes Gutes ist von allen christlich motivierten Theoretikern im Hinblick auf das Böse in dessen Welt nachzuweisen. In Augustinus’ Welt ist das Gute durch Gott das Sein schlechthin.18 Das Böse ist dagegen der permanente Aufruhr gegen das Sein überhaupt.19 Eingesetzt hat es, so erklärt es zumindest die Bibel in dem Teil, den drei große Weltreligionen bejahen, mit dem menschlichen Sündenfall. Adam, Eva und die Schlange sind die tragenden Figuren in einem Mythos, der wie kein anderer die Geschichte der Freiheit bestimmt. Erzählt wird die Emanzipation des Menschen aus einem satten, aber vegetierenden Dasein, innerhalb derer dieser alles entdeckt, was ihn besonders macht im Reich Gottes. Der Mensch entwickelt die Erkenntnis des Guten und des Bösen und damit das Potential zur Freiheit, nicht auf die Alternativen Gottes festgelegt zu sein. Erreichen konnte der Mensch all dies lediglich als sündiger, der sich über die einfachsten Gebote Gottes hinwegsetzt. Er bezahlt dafür den hohen Preis des Ausgeliefertseins an die Empirie in dem Arbeiten, dem Gebähren und dem Sterben. Von diesem Moment an des Aufstandes gegen den eigenen Grund in Gott ist für den Menschen nichts mehr, wie es gewesen ist, und, was für ihn sein wird, ist offen. Mit dem Übertreten des Gebotes, mit dem Bösen, fängt für den Menschen seine Welt an, und er fängt an zu leben. Hier liegt der letzte philosophische Grund für die Faszination des Bösen.

18 Vgl. Augustinus, Aurelius: „De civitate dei (Vom Gottesstaat)“, München: DTV 1977-78, XII, 2. 19 „Sein [bei Augustinus, d.V.] ist also nicht nur ein bloßer Existenz- und Struktur-, sondern vor allem auch ein Wertbegriff.“ (Rommel, Herbert: „Zum Begriff des Bösen bei Augustinus und Kant: der Wandel von der ontologischen zur autonomen Perspektive“, Frankfurt: Lang 1997, S. 49)

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In sieben Tagen hat Gott dem christlichen Schöpfungsmythos entsprechend die Welt erschaffen und anschließend den Mann und später auch die Frau in ein Paradies gesetzt, das Adam und Eva bewohnten, bis sie fielen. Adam gilt in dem Genesismythos als pars pro toto. Er ist der Mensch überhaupt, dem von Gott die Herrschaft über die Natur gegeben wird. In die Mitte des Gartens Eden stellte Gott zwei Bäume: den des Lebens und den der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Er verbot Adam und Eva, von den Früchten beider Bäume zu essen. Nach bekannter Wendung entschloss sich Adam, verführt durch Eva und verleitet durch die Schlange, von der Frucht der Erkenntnis des moralischen Gegensatzpaares zu essen. Der Mensch wurde mit Hilfe der erlangten Erkenntnis der moralischen Differenz der Überlieferung entsprechend gottgleich. Adam und Eva sahen sich „nackt“, d.h. sie hatten ihr differenzloses Sein verloren, in dem sie mit dem glücklich waren, was sie hatten. Ihr Zustand war ihnen von nun an Aufgabe. Das postlapsarische Zeitalter ist das Zeitalter der menschengemachten Geschichte. Die Menschen beginnen, sich Kleider zu suchen. Nachdem die Erkenntnis des Guten und Bösen für den Menschen aufgegangen ist, sind die Fronten gezogen. Dort das Gute, Göttliche, hier das Böse, Teuflische. Der Mensch ist in diese Alternative gesteckt, welche ihm allerdings erst ermöglicht, das Gute zu sehen. Allein an der Spur des Bösen erscheint das Gute in der Welt, mit der der Mensch nach seinem Lapsus Bekanntschaft machen sollte. Nachdem Gott die Übertretung seines Gebotes entdeckt hatte, vertrieb er Adam und Eva und mit diesen die gesamte Menschheit aus dem Paradies, um zu verhindern, dass durch das Essen vom Baum des Lebens auch noch seine andere Eigenschaft, die Unsterblichkeit, übernommen wurde. Von nun an musste der männliche Teil der Menschheit im Schweiße seines Angesichts arbeiten und der andere, weibliche Teil gebären. Geschlechtlich geschieden, waren die Menschen darin vereint, endliche Wesen zu sein und sterben zu müssen. Als diese Verweltlichung der menschlichen Existenz werden die Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall in 1. Mose 1-3 im Alten Testament erzählt, wobei die Ursünde zu der Schöpfung hinzufügt, wie durch das Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen Bewusstheit und dieser gegenüberstehende Empirie entstehen. Adam und Eva wollten gottgleich werden und sind dies auch ihrer Eigenschaft der Erkenntnis des Guten und Bösen nach geworden. Doch diese Erkenntnis hat bei ihnen lediglich zur Scham über die eigene Unvollkommenheit geführt. Was die Menschen gottgleich machen sollte, hat sie nach Augustinus bloß noch weiter ins Verderben gestürzt, dem lediglich mit Gottes Gnade zu entkommen ist. Die Erbsündenlehre ist die „politische“ Botschaft an die christlichen Menschen, dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu führen. Seit dem ersten Menschen Adam werden für Augustinus durch den „Samen“ verdammte Nachkommen gezeugt. Jeder von diesen wird sündig geboren, denn er ist durch den Samen des Mannes ins Leben getreten.20 Bloß Adam ist noch von diesem 20 Vgl. Augustinus: Gottesstaat, XIII, 13f.

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Schicksal verschont gewesen, denn er ist aus keinem Samen entstanden. Er hat ohne Naturzugabe die Ursünde begangen. Als gläubiger Mann schämt sich Augustinus seines Vorfahrens Adam. Er empfindet es als lediglich gerecht, dass seit den Tagen des ersten Menschen das Böse von Generation zu Generation weiter vererbt wird durch den Samen des Mannes. Alle Menschen sind sündig vor ihrer Geburt und erwarten deswegen demütig die Gnade Gottes, sie aus ihrer eigenen Existenz zu befreien. Autonomie, welche die Sünde erst schafft, ist in einer an sich zum Guten orientierten Welt nicht zu finden. Mit einer solchen Abstammungstheorie wehrt sich Augustinus gegen einen nicht bloß theoretisch-theologischen Feind,21 der ihm in Form der Pelagianischen Lehren begegnet ist. Pelagius war ein wahrscheinlich aus Irland stammender Wanderprediger des 5. Jahrhunderts, der eine große Anhängerschaft gewann, auch nachdem er durch den Papst zum Ketzer erklärt worden war. Er lehrte, dass ein Christ durchaus die Freiheit habe, sittlich handeln zu können, und dass er, wie schon die frühen Christen glaubten, moralisch gesehen selbstbestimmt sei. Wenn sich der Mensch selbst befreien könnte, wäre das Sterben Jesu sinnlos und eines Gottessohnes nicht würdig. Der Mensch ist, solange er als gläubiger auftreten möchte, unfähig, sich sein eigenes Gutes zu schaffen. Gott ist in dem Moment abgeschafft, wenn es anders sein kann und seine Gnade bloß noch willkommene Unterstützung für das menschliche Potential ist. Diese Transformation der Bestimmung der göttlichen Gnade ist bei Kant zu beobachten, weswegen bei ihm auch entgegen dem eigenen Wollen der Todeskampf des alten christlichen Gottes einsetzt. Glaubt man hingegen fest an den christlichen Gott, ist das Bestmögliche, was man erreichen kann, die möglichst treue Abhängigkeit von dessen Sein, weil sich Gott in diesem selbst verwirklicht hat. Dieses Gute des Seins ist an sich, nicht absolut, weil es keine Folge einer Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit ist. Für den Gläubigen ist laut Augustinus der Sündenfall keine Befreiung gewesen, denn der Mensch hat in ihm das genaue Gegenteil der Freiheit gesucht. Adam und Eva wollten endlich sein und ihren „Geist fleischlich“ werden lassen. Der Geist ist schwach und das Nicht-Geistige stark. Die Verdammnis des Menschen bewirkt, dass dieser ein falsches Zwischenwesen wird: „Sie bewirkte, dass der Mensch, der nach Erfüllung des Gebotes auch seinem Fleische nach geistlich geworden wäre, nun statt dessen seinem Geiste nach fleischlich wurde und […] durch Gottes Gerechtigkeit sich selbst überlassen wurde.“22 Der Mensch hat durch den Sündenfall bewirkt, für sich selbst Fürsorge tragen zu müssen, und bezahlt den Preis mit dem Sein zum Tode: „Aus eigenen Willen geistlich tot, muss-

21 Elaine Pagels stellt ausführlich dar, wie sich der Bischof mit der politischen Macht in Rom verbündete, um Pelagius und seine Lehren den Christen auszutreiben. In Afrika schreckte man auch nicht vor der Bestechung des Kaisers zurück (vgl. E. Pagels: Sünde, 207ff.). 22 Augustinus: Gottesstaat, XIV, 15.

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te er nun wider Willen leiblich sterben und […], wenn die Gnade ihn nicht rettete, zum ewigen Tode verdammt werden.“23 Schmerz und körperliches Leid sind die gerechten Strafen Gottes für den schlimmsten aller Verstöße menschlicher Freiheit: Adams Sündenfall. Im Paradies gab es nur ein einfaches Gebot und nicht einmal dies hatte der Mensch halten können. Die höchste Strafe ist nach Augustinscher Lehre die Sterblichkeit der Menschen. „Nicht das vergängliche Fleisch hat die Seele sündig gemacht, sondern die sündige Seele machte das Fleisch vergänglich.“24 Der ideale Akt der Ursünde, der ersten Freiheit, produziert den seienden Menschen. Weil die ersten Menschen weder die Unendlichkeit der Vernunft noch der Freiheit wollten, sondern das genaue Gegenteil, hat sie ihre Sünde bloß noch tiefer in Abhängigkeiten verstrickt. Vielleicht sind sie jetzt an sich fähig, Gutes und Böses zu erkennen, ihre endliche Natur wird sie aber für immer davon abhalten, diesem An-sich zu entsprechen. Mit der gottgleichen Erkenntnis des Guten und des Bösen auf sich selbst verwiesen zu sein, bedeutet mithin zugleich, umso stärker auf die höhere Macht angewiesen zu sein. Das Ereignis der Spontaneität, in dem der Mensch durch Essen eines Apfels gezeigt hat, dass er in der Lage ist, über Gebote hinauszutreten, ist für Augustinus nicht ohne neue totale Abhängigkeit. Ihm zufolge zeigt sich, dass der Sündenfall nicht allein unverschämt gegen Gott gewesen ist, sondern auch und zuerst gegen den Menschen selbst. Dieser wird ins Elend gestürzt, weil ihm gezeigt worden ist, dass Wollen und Können nicht einfach zusammenfallen. Im Paradies konnte der Mensch zwar nicht alles, aber mehr wollte er auch nicht. Postlapsarisch will er nun alles bis hin zum Unmöglichen, kann aber nichts, außer Gott ist gnädig mit ihm. Aus der Endlichkeit des Menschen folgt, dass dieser nicht alles verwirklichen kann, was er verwirklichen will. Ich kann nach Augustinus nur das Wollen meines Willens verwirklichen, nicht auch das, was dieser will. Dazu fehlt mir die Macht, die Ich mir selbst genommen habe.25 „Denn Gott, der Urheber der Naturen, nicht der Gebrechen, hat den Menschen wohl gut erschaffen, doch der, durch eigene Schuld verderbt und dafür von Gott gerecht verdammt, hat verderbte und verdammte Nachkommen gezeugt.“26 Anstatt sein Fleisch geistig werden zu lassen, zieht der Mensch es vor, seinen Geist fleischlich, d.h. endlich, sein zu lassen. Die massa damnata ist entstanden.

23 Ebd. 24 Ebd., XIV, 3. 25 „Was in meiner Macht steht ist – einzig und allein – mein Wille; was nicht in meiner Macht steht, ist die Realisierung all dessen, was dieser Wille will. Ich bin also frei zu wollen, was ich will, aber nicht frei alles zu tun, was ich will. […] Ich kann nicht das Gute, das ich will.“ (Peetz, Siegbert: „Augustin über menschliche Freiheit (Buch V)“, in: Christoph Horn (Hg.): Augustinus. De civitate dei, Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 63-86, hier S. 64f.) 26 Augustinus: Gottesstaat, XIII, 14.

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Des Menschen Wille haftet laut Augustinus lediglich unvollkommen an rein guten Zwecken, er kann auch anderes wollen, schon allein deswegen, weil seine Vernunft nicht hinreicht, das Gute definitiv zu bestimmen. Da die endliche Vernunft als unvollkommene unvernünftig ist, gibt es für sie andere als rein gute Zwecke. Der böse Wille des Menschen will für Augustinus das Böse und schafft es. Gott hat nichts damit zu tun, es ist die menschliche Freiheit, welche das Böse schafft. In Gottes an sich guten Sein gibt es „nichts, das den bösen Willen bewirkt“.27 Bewirkt wird der böse Wille durch Nichts, denn Seiendes kann gegen Platon seine Ursache nicht gewesen sein, schließlich ist alles Sein als von Gott geschaffen gut. Der böse Wille ist die spezifisch menschliche Eigenschaft, welche er mit keiner Art teilt, und causa deficiens, auf die aufzupassen ist. Bezüglich des bösen Willens „gibt’s keine bewirkende, sondern nur eine versagende, weil keine Wirkung, sondern nur Versagen“.28 Die causa deficiens bewirkt bei Augustinus das Böse – oder besser: zerwirkt das Gute. Sie gestaltet einen Defekt, eine Ermüdung oder eine Schwächung eines Seins. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen führt den Christen auf den Menschen, der mit seiner mangelhaften Durchsetzungskraft eine Gefahr für jede Ordnung darstellt. Im Guten stärkt der menschliche Wille sich selbst, im Bösen schwächt er sich. Er lässt ab vom Guten und den Mühen tugendhafter Werke. Der böse Wille entsteht bei Augustinus aus nichts als seiner eigenen Unvollkommenheit. Er versagt. Er ist nicht effektiv und erfolgreich. Die causa deficiens bewirkt die Verantwortbarkeit des Bösen und schließt zugleich die Notwendigkeit des unbedingt Bösen wie des unbedingt Guten aus, denn zu sehr darf der freie Wille auch nicht verantwortlich sein, andernfalls droht der Pelagianismus. Die menschliche Freiheit, die als endliche Unendlichkeit so in einem widerspruchsfreien Kosmos theoretisch nicht existieren könnte, zerwirkt als versagende Ursache die gute Ordnung. Nicht der gute Wille versagt in einer wohlgeordneten Hierarchie der Gattungen und Arten, sondern der böse. Eine gute Welt bestätigt bei Augustinus das schlechthin gute Sein. Sie unterscheidet sich von einer schlechten darin, dass das Böse in ihr eine sinnlose Tat ist und dass die menschliche Freiheit in ihr nicht auf die Idee kommen kann, sich gegen das Gute zu entscheiden. Solange der ordo stabil ist, ist das selbstbestimmte Wollen des Menschen keine Gefahr. Der Wille muss lediglich der Vernunft folgen, damit alles in Ordnung ist. Tut er dies nicht und will Nicht-Vernünftiges, droht der Ausnahmezustand. Dass dem Willen Alternativen offen sind, welche nicht der allgemeinen Vernunft folgen, beunruhigt die Philosophen an ihm. Man ist dazu übergegangen, ihn kurzzuschließen, und allein die menschliche Freiheitsäußerung Wille zu nennen, die Gutes will. Der Augustinische Wille will um seiner selbst willen der ewigen Ordnung gehorchen und so Gerechtigkeit pflegen. „Was ist ein guter Wille? Der Wille, mit dem wir verlangen, recht und ehrbar zu 27 Ebd., XII, 6. 28 Ebd., XII, 7.

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leben und zur höchsten Weisheit zu gelangen.“29 Und nur ein guter Wille ist ein ganzer Wille. Ohne Vernunft ist so keine Freiheit wirklich. Die widervernünftige Entscheidung zum Bösen ist somit nicht nur eine schlechte Wahl der Freiheit, sondern ein selbstzerstörerisches Anliegen, das die Wirklichkeit der Freiheit vernichtet. Böses zu wollen, heißt für fast alle hier betrachteten philosophischen Positionen, die Freiheit nicht zu wollen. Im Bösen entscheidet sich die Freiheit gegen sich selbst, hat schon Augustinus festgestellt. Descartes betitelt mit seiner Feststellung, dass libertas est propensio in bonum, eine feste und lange philosophische Tradition, die aus der Idee der wechselseitigen Verwiesenheit von Vernunft und Freiheit entspringt. Das Böse ist keine Unfreiheit, der man gleichgültig gegenüberstehen könnte. Es ist nicht unschuldige Unfreiheit, weil es nicht natürliche Unfreiheit ist. Das Böse bedingt Schuld, denn es ist aus Freiheit gewünschte Unfreiheit. Diese ist nur dem Menschen möglich. Durch das Böse wird man Gott immer unähnlicher, das kostet die ursprüngliche Ähnlichkeit nach dem Essen des Apfels.30 Der Sündenfall ist der erste „spontane“ Akt eines Menschen gewesen, der alle weiteren möglich gemacht hat, indem er den Menschen in Differenz zu seiner Empirie gesetzt hat. „Es ist der böse Wille, der das böse Werk vollbringt“31, und den hat nur der Mensch und kein Gott. Das Böse beunruhigt, weil es etwas logisch Unmögliches ausspricht, einen Willen, der seinen eigenen Grund – die Freiheit – und damit sich selbst nicht mehr will. Im äußersten Versuch des Willens eines Selbst, allein sich selbst zum Maßstab zu nehmen, ohne auf Allgemeines zurückzugreifen, wird das genaue Gegenteil erreicht. Der Wille kann nicht existieren, ohne dass er allgemeine Zwecke in sich aufnimmt. Insofern begeht er als böser einen Freitod, der jeder Ratio völlig fremd sein muss. Das Böse ist absolut unverständlich, denn es ist direkter Ausdruck einer endlichen Freiheit, die, wie Anselm darlegt, offen zum Nichts ist. Anselm von Canterbury bestimmte den Unterschied zwischen dem einfachen Fehlen und dem Mangel des Guten. Seiner Auffassung nach ist ohne Gesolltsein des Guten auch kein Mangel zu denken. Daher bestimmte Anselm das Böse als absentia debiti boni, als Abwesenheit eines geschuldeten Guten ohne eigenständige Existenz. Die Idee der Inkarnation des Nichtguten war noch nicht aufgekommen, es gab noch keine Hexen und keinen Teufel. Das Böse ist so allenfalls Kritik an der Unvollkommenheit, nicht Gegenstand innerweltlicher Verfolgungen. Auf die Väter des christlichen Glaubens kann sich kein Krieger gegen das Böse berufen. Vor dieser Freiheit zum Nichts muss die Vernunft versagen. Das Böse kann nicht vernünftig bestimmt werden, für Augustinus ist dies deswegen kein Prob-

29 Augustinus, Aurelius: „Der freie Wille“, in: Carl Johann Perl (Hg.), Augustinus, Werke in deutscher Sprache, Erste Abteilung, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöning 1941, I, 25. 30 Vgl. Augustinus, Aurelius: „Bekenntnisse“, München: DTV 1982, VII, 16. 31 Augustinus: Gottesstaat, XII, 6.

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lem, weil sein starker Glaube ihm schon im Vorfeld der Vernunft genau sagt, was böse ist und was nicht. Aus solcher Gewissheit heraus legitimiert sich bei Augustinus auch die politische Weisung an die Untertanenmenschen. Politische Herrschaft ist gegenüber den Christenmenschen gerecht, denn sie alle sind von Natur aus verdorben und bedürfen der Weisung, um gegen die eigene Verderbtheit anzukämpfen. Die Kirche unterstützt mit ihren Männern (und Frauen) den Herrscher dabei, das Volk zu dessen Glück zu führen und hält die Untertanen zum Gehorsam gegenüber der politischen Gewalt an. Politische (und kirchliche) Zwangsgewalt legitimiert sich bei Augustinus durch ihre Teilhabe an der Heilsgeschichte. Recht geherrscht wird, wenn auf irdischen und ewigen Frieden hingearbeitet wird, indem man die Untertanen zur ehrfürchtigen Liebe von Gottes Ordnung anhält.32 Unter rechter Herrschaft überträgt sich der göttliche Gerechtigkeitsgedanke auf das irdische Leben: Suum cuique tribuere. Nach dem Neuen Testament ist jede staatliche Ordnung von Gott gesetzt.33 Die Untertanen hingegen sind gehalten, gehorsam zu sein gegen die Obrigkeit.34 Nichts ist für Augustinus ähnlicher dem Treiben der Dämonen als das Einreißen der Ordnungen durch „Umstürzler“.35 Politik ist kopf- und geistlos, wenn sie ordnungslos ist und zur Anarchie führt. Aus dem Wollen der Ordnung rührt Augustinus’ berühmte Definition eines „Reiches des Böses“: „Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? […] Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter dem Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zur Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt.“36 In unrechten Staatssystemen gilt die iustitia remota. Keiner erhält mehr, was er verdient, weder der Gute noch der Böse. Wo Gerechtigkeit fehlt, regiert die Selbstsucht. Rom musste untergehen, weil die römische virtus schon verloren und man nur noch eine bessere Räuberbande war. Ein gerechter Staat hingegen bereitet die Menschen auf die wahre Gerechtigkeit vor und hält die Untertanen davon ab, menschlich-allzumenschlich zu sein. Ohne Bezug auf den ewigen Frieden gilt kein irdischer irgendetwas. Religiös gesehen muss auf Babylon Jerusalem folgen. Eine Politik, die rein pragmatisch ohne weiteres Ziel agiert, ist keine. Die Endzeit bestimmt das Gegenwärtige. Augustinus will für den Staat keine zu hohen moralischen Ansprüche. Er muss mit irdischer Gerechtigkeit umgehen lernen und hat mit der Stadt Gottes nichts zu tun. Die Moral bleibt an Gott gebunden, weil bloß dieser deren Wirkungen und Ursachen miteinander verknüpft, den guten Willen gerecht behandelt und den bösen (mit dem immer wiederkehrenden Tod) straft. Auch der christliche Regent kann nicht vollkommene Gerech-

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Vgl. ebd., XIX, 16. Vgl. Röm. 13, 1-7 und Mt. 22, 21. Vgl. Augustinus: Bekenntnisse, III, 8. Ebd., III, 3. Augustinus: Gottesstaat, IV, 4.

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tigkeit schaffen. Diese ist erst in einem Reich möglich, das von Christus geleitet wird, im himmlischen Jerusalem. Der irdische Staat soll lediglich den Frieden sichern, ohne in das (christliche) Leben seiner Bürger einzugreifen. „Aller Gebrauch zeitlicher Dinge zielt also im irdischen Staate auf den Genuss irdischen Friedens ab, im himmlischen Staat aber auf den Genuss des ewigen Friedens.“37 Auch die Gottesstadt bedient sich, solange sie sich noch auf „Pilgerfahrt“ befindet, vorwiegend des irdischen Friedens als Mittel.38 Der ewige Friede ist höchstes Gut, denn er stabilisiert den ordo.39 Augustinus’ heute wieder entdeckte Lehre vom gerechten Krieg erklärt, dass ein bellum iustum nur sei, wenn er zum Frieden führe, wenn Feinde zurückgedrängt werden oder Unrecht beseitigt wird.40 Die Römer wurden indessen immer gieriger in ihrem Expansionsdrang und ihre Kriege nicht gerecht, weswegen sie auch vor Gott keinen Erfolg hatten.41 Weil die Seinsordnung Resultat göttlicher Schöpfung ist, braucht sie selbst keine irdischen Herrscher, die ihr den Weg bereiten. Der ewige Friede ist ebenso verheißen wie der automatische Erfolg, denn das gute Wesen der Dinge in Gott ist stabil gegen jede Erscheinung. Keiner kann sich seiner Güte entziehen. Auch der mythische Straßenräuber Cacus kann die göttliche Ordnung nicht ganz abstreifen.42 Jeder will Frieden, auch der, der Krieg führt, will vor allem seine Bestimmung dessen, was Frieden ist.43 Der Geist weiß: „Man sieht, nicht einmal Catilina liebte seine Schandtaten als solche, sondern das andere, um dessen willen, er sie beging.“44 Der Geist sieht mehr als jedes Auge. Wer mehr irdisches Glück erwartet von den Kaiser Konstantins seiner Zeit, irrt. Und wer verzweifelt angesichts des Glückes der teuflischen Menschen in der Welt, dem sei versichert, dass sie sich mit ihrem Treiben zuerst selbst schaden. Automatisch vernichtet sich für den seinsgewissen Augustinus das Böse selbst, weil es Negatives ist. Irgendwann wird es sich selbst auffressen und an der Ordnung zerschellen, der es nicht entkommen kann. „In dieser Weltzeit aber ist die Herrschaft der Guten nicht so sehr für diese selbst als für die menschlichen Verhältnisse von Wert. Die Herrschaft der Bösen jedoch schadet mehr den Machthabern selber, da sie durch die größere Freiheit Verbrechen zu begehen, ihre Seelen verwüsten […]“.45 Stalin ist diesen Weg allen Übels gegangen. Vielleicht hätte er nach seinem Schlaganfall noch gerettet werden können, wenn nicht 37 38 39 40

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Ebd., XIX, 14. Vgl. ebd., XIX, 17. Vgl. ebd., XIV, 11. Vgl. Adam, Armin: „Die Bekämpfung des Bösen. Eine Anmerkung zur Lehre vom gerechten Krieg“, in: Alexander Schuller/Wolfert von Rhaden (Hg.), Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 303-312, hier S. 303ff. Vgl. Augustinus: Gottesstaat, III, 10. Vgl. ebd., XIX, 12. Vgl. ebd., XIV, 12. Ebd. Ebd., IV, 3.

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alle, die bei ihm waren, gefürchtet hätten, sich ihm zu nähern. Keiner wollte den Stählernen sehen, wie er in seinen Fäkalien am Boden lag. Das wäre das sichere Todesurteil gewesen, wenn Stalin wieder genesen wäre. So hat ihn sein eigener Terror am Ende eingeholt. Des Sieges der Gerechten ist sich Augustinus ganz sicher. „Denn das Übel, das den Gerechten von gottlosen Herren zugefügt wird, ist […] Tugendprobe.“46 Wer oder was auf diesem Weg untergegangen ist, wird Gerechtigkeit woanders finden. Jede Probe (auch die der Tugend) kann schief gehen und verwüstete Seelen können für immer verloren sein. Das darf einen Christenmenschen allerdings nicht anfechten, denn ihm ist Bescheidenheit erstes Gebot, wenn es um die Verwirklichung irdischer Ziele geht. Weil er zu bescheiden sein wollte, war Augustinus noch weit davon entfernt, politischer Theoretiker zu sein. Sein Lauf der Dinge ist auch ohne menschlichen Eingriff. Politische Theorie findet sich bei Augustinus allein, rekonstruiert man von vorhandenen politischen Philosophien aus die Grundlagen derselben in Augustinus’ Gedanken. Dann findet man z.B. in dessen Idee des Wollens die Anlagen zu einer freien Subjektivität, gerade weil dieses Grund des Bösen sein soll. Bei Augustinus ist der Zerstörer der Ordnung noch nicht dieser ebenbürtig. Gestützt ist dieser Optimismus nicht allein auf den festen Glauben an Gott, sondern ebenso auf den an die Vernunft. Ihrem Urteil kann auch kein mythischer Straßenräuber Cacus entkommen. Sie wird sich gegen ihn durchsetzen, weil er für seine Taten auf sie angewiesen ist. Auch der Bösen Freiheit kann sich niemals endgültig gegen die Vernunft durchsetzen. Sie müssen immer auch Gutes wollen, um zu wirken und seinsmächtig zu sein. Dass die Vernunft die Gesetze der Welt bestimmt, hat wie kaum ein anderer zu Beginn der Neuzeit Leibniz unterschrieben. Er geht so weit, dass selbst dort, wo über die Welt hinaus vor allem der Glauben zählt, nichts ohne die Vernunft sein kann. Für Leibniz sind Vernunft und Glauben keine Gegner beim Durchsetzen der richtigen Einstellung im Menschen, sondern notwendige Partner. Das mächtige göttliche Fiat hat für Leibniz eine Welt derart erschaffen, dass in dieser diesseits der Vernunft bestmöglich die natürlichen Dinge prästabil harmonieren.47 Diese prästabile Harmonie bezieht sich für Leibniz nicht zuletzt auf eine praktische Seite, auf eine Eintracht zwischen freiheitlicher Äußerung und Effekt derselben in der Ordnung der Dinge. Die Bösen haben im rationalistischen System keine Chance, die Vernunft siegt immer über die Unvernunft. Noch Kants Identifikation von Autonomie mit moralischer Selbstbestimmung zeugt von dieser Gewissheit. 1695 wehrt sich der Enzyklopädist Pierre Bayle, bekannt durch sein dictionnaire historique et critique, gegen die leichte Legitimation des göttlichen Wirkens durch die Lehre von der privatio boni. Er fragt, warum eine moralisch böse

46 Ebd. 47 Die „natürliche Abfolge der Dinge“ enthält eine „Art der prästabilen Harmonie […]. Denn schließlich ist alles, was Gott tut, vollkommen harmonisch […]“ (G.W. Leibniz: Theodizee, §74).

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Handlung denn eine privatio boni sei, eine moralisch gute hingegen keine privatio mali. Bayles historisch-empirischer Blick auf die Welt kann nicht verraten, weswegen die eine Handlung mehr oder weniger privatio als die andere sein soll.48 Die auch damals bestehende Faktizität des Bösen provoziert eine neuzeitliche Wiederkehr des Manichäismus im Einklang mit der Wiederentdeckung des Empirismus. Dessen Erscheinen drängt die Gewissheiten über das Böse und dessen Unmöglichkeiten bei Platon und Augustinus zurück. Die Vernunft wird zur zweiten Macht gegenüber dem Faktischen, in dem man oft „Böses“ trifft. Keine menschliche Vernunft kann nach Bayle den Dualismus des Manichäismus widerlegen, denn sie ist notwendig beschränkt. Die Vernunft kann laut Bayle nicht das Sein der Welt erreichen, ansonsten wäre auch der Glaube völlig nutzlos. Dieser wäre nicht unentbehrlich an sich selbst. Nicht der Glaube ist fraglich angesichts des Bösen in der Welt, sondern die Vernunft. Bayle fordert die Hinnahme des Glaubens und denkt nicht, dass Glauben und Wissen zu vereinbaren seien. Zu stark widersprächen die Dogmen der Religion z.T. der Vernunft, denn keine religiös motivierte Erklärung sei widerspruchsfrei zu haben. Daher gebe es in religiösen Fragen allein den Glauben, was Bayle dazu brachte, unbedingte Toleranz gegenüber anderen religiösen Verhaltensweisen zu fordern. Kirche und Staat sollten getrennt werden. Dann ist letzterer nicht durch die religiösen Widersprüche gefährdet. Leibniz will an Bayle vor allem dessen Lehre von der doppelten Gestalt der Wahrheit in Glauben und Wissen kritisieren. Bayle hat versucht, die Vernunft radikal vom Glauben zu trennen, weil er den Glaubensinhalt nicht gegen den Ansturm der Vernunft gewappnet sah. Die Einwände der Vernunft seien zu stark für die Glaubenswahrheiten. Er erblickt nach Leibniz in der Vernunft eine vorwiegend destruktive Macht, die vor keiner Wahrheit Halt macht.49 Leibniz sieht gerade das ganz anders: Die Vernunft baut mit am Hause Gottes, auf sie kann dieser sich verlassen. Was wäre ein Gott, der ohne Vernunft gehandelt und die Welt nicht aus Wahrheit erschaffen hat? Nicht das verbum hat nach Leibniz die Welt erschaffen, sondern das logos, welches zwei Prinzipien folgt. Der Satz vom zu vermeinenden Widerspruch und der Satz vom zureichenden Grund, wonach nichts als recht konstituiert erkannt werden kann, von dem man nicht auch vernünftigerweise einen Grund anzugeben vermag, bestimmen zusammen, was vernünftig ist.50 Ohne diese beiden Sätze keine Wahrheit.

48 Vgl. Hügli, A.: „Neuzeit“, in: Artikel „malum“, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, Sp. 652706, hier Sp. 683. 49 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft“, in: Herbert Herring (Hg.), Leibniz Philosophische Schriften Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, §80. 50 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Monadologie“, Frankfurt/Main; Leipzig: Insel 1996, §§30f.

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Das Böse fragt nach der Beziehung von Vernunft und Glauben. Durch es wird letzteres menschliche Phänomen durch ersteres auf eine harte Probe gestellt. Nach Leibniz heilt die Vernunft ihre Wunden selbst. Mit ihrem „Licht“ hat Gott gegenüber denen, die ihn lieben, seine Schuldigkeit getan. Er hat ihnen die Möglichkeit gegeben, sich noch mit dem Bösen so auseinander zu setzen, dass sie Vertrauen behalten in die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes.51 Erst die Kombination aus Vernunft und freien Willen macht die Menschen gottebenbildlich. Diese werden laut Leibniz zu „kleinen Göttern“, wenn ratio und libertas richtig zusammenspielen. Dass Alternativen sind, ist nur notwendige, nicht hinreichende Bedingung eines verantwortlichen Wollens. Das rationale Abwägen der Gründe einer Entscheidung muss hinzutreten. Das setzt die Vergleichbarkeit der Alternativen ebenso voraus wie den vergleichenden Akt. Ein brutaler Pluralismus derselben, der sich gar über dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom zureichenden Grund glaubt, zerstört Vernunft wie Freiheit. „Wenn aber bei dem, der handelt, keine Urteilskraft vorhanden ist, ist auch keine Freiheit vorhanden.“52 Die dunkle Prophetie dieses Satzes hat in unserer Zeit laut Hannah Arendts Analyse der Banalität des Bösen Eichmann bewiesen. Leibniz denkt hier voraus. Die Freiheit erfordert bei Leibniz die Fähigkeit, widerspruchsfrei Zwecken zu folgen und Gründe zu erkennen. „Die Einsicht ist gleichsam die Seele der Freiheit, der Rest [Spontaneität und Zufälligkeit, d.V.] aber gleichsam der Körper und die Grundlage. Die freie Substanz entscheidet sich durch sich selbst, und zwar gemäß dem Motiv des vom Verstand erkannten Guten, das sie anreizt, ohne sie zu zwingen: In diesen wenigen Worten sind alle Bedingungen der Freiheit enthalten.“53 Die Vernunft ist die Grundlage, verantwortlich und sittlich zu sein.54 Durch die vernünftige Angabe von Gründen wird die Freiheit nicht eingeschränkt. Jene machen diese moralisch notwendig, bewahren ihr also die Offenheit, schließlich entstehen sie selbst in einem spontanen Akt.55 Die Ratio allein verbürgt noch keine Freiheit, denn sie kann auch befehlen, stets einer vorausgesetzten Ordnung zu folgen. Was ihr laut Leibniz fehlt, ist der Bezug auf eine sittlich notwendige Entscheidung. So wird ein Wille aufgebaut, denn der besteht in nichts anderem als darin, die richtige Entscheidung mit der eigenen Freiheit zu treffen. Bei Leibniz wiederholt sich der rationalistische Anspruch an den Willen, nicht einfach nur frei zu sein, sondern richtig frei zu sein. Folgt der Wille seinem eigenen Gesetz und sucht er die Freiheit, kommt er nicht daran vorbei, das Richtige zu wollen. Auch bei Leibniz ist die menschliche Freiheit erst dann ein Wille, erstrebt sie das Gute. Das Böse kann die Freiheit dementsprechend allein gegen ihren Willen wollen. Mit dem Hang zum vernünftigen Zweck erstrebt jeder Wille

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Vgl. G.W. Leibniz: Theodizee, §265. Ebd., §34. Ebd., §288. Vgl. ebd., §66. Vgl. ebd., §§288-291.

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im Allgemeinen das Gute.56 „Die Macht geht auf das Sein, die Weisheit oder der Verstand auf das Wahre und der Wille auf das Gute.“57 Für den Willen ist das Böse, nicht das Gute das erklärungsbedürftige. Lediglich „dunkle“ Gestalten der Philosophiegeschichte wie Machiavelli halten dagegen. Auch Gott muss sich nach Leibniz dem Gesetz der Vernunft unterwerfen und den Widerspruch vermeiden, nach dem alles zur gleichen Zeit möglich ist. Kompossibel ist bloß das Bestmögliche, auch wenn das Gute gewollt wird. Die Gesetze der Macht und des Sinns sowie des Verstandes und des Wahren sind nicht zu hintergehen. Gott verursacht zwar nicht die Übel im Kosmos, er lässt sie aber zu, weil es ohne sie nicht geht.58 „Vorausgehend“ will Gott nur Gutes, aber nicht alles Gute ist auch „compossible“. Daher trifft er in seiner Weisheit eine Auswahl. Dieser „nachfolgende“ Wille strebt lediglich das „Beste“ an.59 Die biblisch gesprochen „sehr gute“ Schöpfung ist zur „bestmöglichen aller Welten“ relativiert, wobei das malum Gradmesser dieses Optimums ist. Der Defekt des malum ergänzt das Gute zur größtmöglichen Ordnung des Kosmos. Darin ist die Grundformel des Leibnizen kosmologischen Optimismus ausgesprochen. Zur vernünftigen Untermauerung seines Optimismus schreibt Leibniz Essais de Théodicée, entstanden nach Gesprächen mit der Königin Sophie Charlotte über Allgütigkeit, Allmacht und Allwissenheit Gottes im Streit mit Bayle. Seither hat sich für die Rechtfertigung Gottes der Name Theodizee eingebürgert. Leibnizens Buch wird zum „Lesebuch des gebildeten Europas“ (Überweg). Wie kein anderer in der Philosophiegeschichte steht Leibniz im Anschluss an die Identität von Vernunft und Freiheit für die Frage, wie es diejenige Kraft im Universum, die keine Differenz in dieser Identität kennen kann, zum Bösen kommen lassen konnte. Jeder philosophische Christ muss sich fragen, wie Gott auch nur hat zulassen können, dass das Böse in der Welt ist. Diese Schwierigkeit ist letztlich mit vernünftigen Mitteln nicht zu lösen. Zu sehr widersprechen die absoluten Attribute Gottes, Allgüte, Allwissenheit und Allmacht, dass ohne Verantwortung Gottes dieser das Böse auch nur zulässt. Die Allmacht muss immer durchsetzen können, was Allwissenheit und Allgüte als notwendig und richtig erkennen. Die Theodizee muss scheitern, wobei ihr Mehrwert allerdings in der Analyse des Bösen besteht. Die Theodizee von Leibniz schlüsselt aufschlussreich den Status des Bösen im Irdischen auf, in dem Bemühen, den Durchlauchten das Vertrauen in ihre göttliche Machtbasis wiederzugeben. Leibniz teilt das Böse auf in drei mala: malum metaphysicum, malum physicum und malum morale. „Man kann das Übel metaphysisch, physisch und moralisch auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der bloßen Unvollkommen-

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Vgl. ebd., §33. Ebd., §7. Vgl. ebd., §21. Ebd., §22.

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heit, das physische Übel im Leiden und das moralische Übel in der Sünde.“60 Interessieren Leibniz noch alle drei in halbwegs gleicher Weise, bereitet er doch vor, dass nach ihm lediglich noch das moralische Böse für die Philosophie eines Kants von vordringlichem Interesse ist und das Böse absolut werden kann. Leibniz benutzt die mala, um die Differenz der Welt von der verwirklichten reinen Freiheit zu erklären, die eins ist mit der Notwendigkeit. Seine scheinbar Höheres ausschließende Bestimmung der weltlichen Ordnung als „bestmöglich“ erlaubt es, noch Besseres als dieses zu denken. Das Beste ist die Welt nicht, lediglich das Beste unter den Umständen des göttlichen Fiat. In das Beste dürfte und könnte der Mensch auch nicht eingreifen. Im Paradies wäre das Wollen einer Veränderung desselben durch den Menschen nicht nur unvernünftig, sondern illegitim. Es ist die „bestmögliche aller Welten“, durch das Böse vom Besten abgehalten, welche die menschliche Aktivität in ihr freisetzt. In ihr kann das Gute genauso wie das Böse existieren und nicht an sich sie selbst sein. Wird das Gute von einem An-sich zu einem Absoluten, ist die Welt für die Veränderung offen. In „der Region der ewigen Wahrheiten“ liegt laut Leibniz der „Quell aller Dinge“ und der „Idealgrund“ des Guten und des Bösen und des Vollkommenen und des Unvollkommenen.61 Unde malum wird von ihm nicht durch die Materie oder den Gegengott beantwortet, sondern durch die „ideale Natur“, denn bevor der Mensch an die Sünde gehen kann, ist er schon unvollkommen, weil Gott sich ihn so gedacht hat. Gott schafft ewig wahr die endliche und damit unvollkommene Welt, um sie in Differenz von sich als unendliches und vollkommenes Wesen zu setzen. Diese Auffassung wird für Leibniz durch das Neue Testament bestätigt. Nachdem Jesus von einem seinen Jünger gefragt worden ist, was für eine Sünde ein von Natur aus Blinder begangen habe, dass er so gestraft werde: „Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“62 Die Unvollkommenheit der Welt ist der Aussage Jesu zufolge nichts Positives, sondern Privation.63 Leibniz bleibt bei der Lehre des malum als privatio boni. Übel ist ihm „Privation des Seins“64, um Gott „schön“ sein zu lassen. Die Frage ist angebracht, wie eitel man sein muss, um für die Schönheit des eigenen Werkes das Böse in der Welt in Kauf zu nehmen. Auch bei Leibniz findet sich der Widerspruch zwischen einem allgütigen Gott und dessen in gewisser Weise perversen Drang, eine unvollkommene Welt zu schaffen, nur damit er besser dasteht. Die Theodizee ist nicht bloß Beweis eines unerschütterlichen Glaubens an den allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott. Sie zeigt zugleich das Selbstbewusstsein einer aufkommenden Subjektivität, die sich in der Lage sieht,

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Ebd., §21. Ebd., §20. Joh. 9, 2f. Vgl. G.W. Leibniz: Theodizee, §70. Ebd., §29.

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auch über ihre Grenzbereiche angemessen zu urteilen. Der Versuch der Theodizee stellt eine Zwischenlage des Subjekts dar zwischen absoluter Gotthörigkeit und dem Grundsatz (post-)moderner Subjektwissenschaften, dass „Gott tot ist“. Das Vertrauen zu Gott ist noch da, ansonsten lohnte sich die Mühe nicht. Aber die Distanz zu ihm ist auch schon da, andernfalls bestünde kein Rechtfertigungsbedarf. Die Behauptung, die Welt sei ohne Eingriff in sie gut, wird von solchem Denken ebenso wenig für selbstverständlich genommen wie die umgekehrte, welche die gesamte Natur zur Feindin der Menschheit verteufelt. Nach der Theodizee ist einerseits die Intervention des Menschen in eine unvollkommene, von Gott getrennte Welt gerechtfertigt, andererseits hat sich die menschliche Subjektivität als Machtfaktor ins Spiel gebracht. Jeder Mensch ist bei Leibniz ein Portrait Gottes und begrenzt fähig, als „kleine Gottheit“ in der Welt zu wirken.65 Die menschliche Vernunft ist in der Theodizee Richterin über die innerweltliche Bilanz der Übel. Sie ist es, die berechnet, dass das Übel zur Welt gehört, weil allein mit dem Unvollkommenen das Vollkommene der Schöpfung sein kann.66 Der Mensch hat durch seine höchsten Vermögen Einsicht in die kompensatorische Leistung Gottes und kann sich gedanklich hinwegsetzen über die Übel im Detail, deren Sinn er nicht unmittelbar sieht. Harmonie herrscht zwischen den scheinbar entgegengesetzten Kräften im Universum, solange sich der Mensch den Blick auf das Ganze bewahrt. Die Freiheit wird ihr Glück in der natürlichen Ordnung finden, und diese wiederum wird zur „Gnade“ und Befreiung führen. Die „prästabile Harmonie“ eines Leibniz verspricht, dass die endliche Freiheit der Menschen glückt. Dass das Ganze das Richtige ist, fördert die Identifikation mit diesem, nicht mit seinen Teilen, den Menschen. Die Menschen sind gemäß ihrer „Tauglichkeit“ brauchbar für den Bauplan Gottes.67 Sobald jemand in Gottes wohlgeordneten Universum „böse und unglücklich“ ist, getroffen wird von malum morale und malum physicum, gehört dies gleich zu seinem „Sein“ ohne jedes Werden.68 Man muss sich Gottes Ganzem liebend andienen und gewinnt so Vollkommenheit. Das System der prästabilen Harmonie in der Natur von Leibniz ist dort problematisch, wo das Ganze, womöglich selbst unüberblicklich, gegen seine Teile ausgespielt wird. Warum soll man noch Gutes tun, wo auch das Gutestun lediglich ein zur Minimalexistenz verurteilter Teil ist? Der freie Wille beweist sub specie aeterna, dass Gott ein Schelm und Spieler ist, der sich seine Späße mit den Menschen erlaubt und mit diesen kleinen Göttern scherzt, denen er gerade genug Freiraum in der Welt gibt, dass sie sich auch frei fühlen dürfen, weil Gottes Absichten ihnen verborgen und im Ganzen versteckt sind.69 Dieses hat sich in

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Ebd., §85. Vgl. ebd., §9. Vgl. ebd., §105. Vgl. ebd., §122. Vgl. ebd., §147.

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dieser Argumentation verselbständigt und wird zur tendenziell feindlichen, mindestens aber gleichgültigen Totalität für die eigenen Teile. Dagegen erinnern gerade moralische und physische Übel an Störungen in den Teilen, welche unüberwindlich scheinen. Sie betreffen den Menschen und nach Leibniz eigener Argumentation kann man von diesem endlichen Wesen alles Andere erwarten, als dass er über diese kleinen Krisen hinaus ist. Angemessen wird in solcher Harmonie keine Sünde unbestraft und keine gute Tat unbelohnt bleiben, woraus sich auch das beste politische Gemeinwesen bildet. Leibnizens „fatum christianum“ empfiehlt, bescheiden dasjenige Teil zu sein, das das Ganze gerade braucht. Der „allgütige und allweise Gott, der für alles sorgt und nicht ein Haar auf unserem Kopf vernachlässigt“ lehrt: „Tut eure Pflicht und seid zufrieden mit dem, was geschehen wird, […] weil ihr es mit einem guten Meister zu tun habt. Und das ist es, was man fatum christianum nennen kann.“70 In Bezug auf das harmonische Ganze sind Bettler und König gleich notwendig und gleich gut, wie auch immer ihr Schicksal als Teile zueinander bestimmt ist. Leibnizens Gott ist im Gegensatz zu dem von Kant um der Gerechtigkeit willen nicht an der Gleichheit interessiert, sondern um der Harmonie willen an der Ungleichheit. Er ist daher eine eher anti-politische Kraft, der es um „höhere Werte“ als die der freien und gleichen Assoziation geht. Zusammen kommen „die Geister“ bei Leibniz, um mit „Gott“ in der Sozietät zu leben. Wieder ist es eine „Stadt Gottes“. „Woraus man leichtlich schließen kann, dass aus der völligen Zusammensetzung aller Geister die Stadt Gottes, das ist der allervollkommenste und allerbündigste Staat, welcher nur unter dem allervollkommensten Monarchen möglich ist, bestehen und erwachsen müsse.“71 Auch Leibniz kennt mithin nach all den Jahren, die ihn von Augustinus trennen, eine Art der civitas aeterna. Diese Stadt Gottes ist „eine moralische Welt in der natürlichen Welt“72 zur höheren Ehre Gottes, in der Tugend und Glückseligkeit eins sind. Zur Gemeinschaft der Tugendhaften gehört, wer nach dem vorhergehenden Plan Gottes mit der Welt zu streben versucht, sich aber bescheiden auf das einlässt, was Gott ihm von seinen ursprünglichen Absichten lässt gemäß seiner voluntas consequens.73 Ein Leben unter Gott verspricht Harmonie und Ausgeglichenheit. Verlangt ist von Leibniz der moralisch-asketische Mensch, noch nicht der politische. Schließlich herrscht schon durch Gottes ewigen Ratschluss, was dieser erst herstellen will: eine Notwendigkeit, die der Freiheit dient und nicht umgekehrt. Gottes Bestätigung der Unvollkommenheit als notwendiges Glied in der Idee der Theodizee verbietet das geschichtlich-empirische Streben nach zuviel Gleichheit. Nicht trotz, sondern wegen der ungleichen Verteilung der physischen

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Ebd., S. 19. G.W. Leibniz: Monadologie, §87. Ebd., §88. Vgl. ebd., §92.

ÜBER FREIHEITEN OHNE VERNÜNFTIGEN WIDERSPRUCH | 65

Übel, die aus der Existenz als Teil eines Ganzen herrühren, weiß man nach Leibniz um die Harmonie im Ganzen. Die mala physica weisen auf eine Gerechtigkeit in Fragen der anderen mala hin. Leibnizens Bemühungen, Gott zu rechtfertigen, werden in Königsberg zunichte gemacht. Kant tritt an, alle Theodizeen „misslingen“ zu lassen. Ihm gelingt dafür eine überzeugende Argumentation, was nicht bedeutet, dass sich nicht nach ihm viele und ganz besonders diejenigen, die ihn überwinden wollten, wieder an der Theodizee versuchten. Hegel und vor allem Schelling sind hier Beispiele. „Konstitutiv“ ist es für Kant unmöglich, das Auftreten von Leid in der Welt in Zusammenhang zu bringen mit dem Wirken Gottes, zumal wenn dieses dann auch noch bestmöglich sein soll. Dementsprechend führt kein direkter Weg von dem Bösen, das jemand aus Freiheit geschaffen hat, zu den Übeln, die dieser erleiden muss. Kants Böses wird radikal, weil es in keiner Relation zur Position des Menschen in der Ordnung des Seins mehr steht. Einzig, dass der Mensch ein Freiheitswesen ist, macht, dass er böse sein kann. Des Menschen Freiheit ist jedoch nie perfekt, weil der Mensch im Gegensatz zu Gott ein Zwischenwesen ist. Solche Zwischenwesen neigen zu anderen Beweggründen als solchen, die rein vernünftig sind. Kant scheint daher den Menschen so weit zu misstrauen, dass er ihn als von Natur aus böse annimmt. In seiner Religionslehre bestimmt er den Menschen als natürlich böse. Damit schließt Kants Religionslehre radikal dessen Bemühungen ab, dem Bösen ein eigenständiges Sein zu geben, auch wenn das Gute alles für die Freiheit gewesen sein soll. Kants Argumentation für ein natürlich Böses im Menschen kann unter den Voraussetzungen des transzendentalen Idealismus nicht überzeugen. Wieder bezeugt Kants Scheitern dessen Konsequenz, die ihn über die eigene Voraussetzung der rein moralischen Freiheit hinausgehen lässt.

Das absolut Böse und d as Sc he i te rn der moralischen Freiheit zum Gu ten be i Kan t

Kant schreibt gegen den „Tod der gesunden Philosophie“ (III, B434). Aufgabe der praktischen Philosophie Kants ist es dafür zu sorgen, dass die mit Hume aufkommende empiristische Erklärung der Welt nicht die „Grundsteine der Moral und Religion“ (III, B494) untergräbt, wie sie in den Ideen der Freiheit, Unsterblichkeit und Gottes gelegt sind. Weil Kant gegen den Empirismus an der Idee festhält, dass die essentiae rei nicht in ihrer Erscheinung aufgehen und dass zwischen beiden Differenz und nicht reine Tautologie herrscht, ist seinem transzendentalen Idealismus die Freiheit zu retten. Mit der Freiheit rettet sich die Möglichkeit menschlicher Praxis, weil für Kant „praktisch alles ist, was durch Freiheit möglich ist“ (III, B828). Das menschliche Denken vermag sich in den Unterschied zum bloßen Sein zu versetzen, indem es an das, was ist, ein Sollen anträgt, damit aus ihm mehr wird, als es ist. Jede Theorie der Handlung basiert auf diesem Unterschied vom Sein und Sollen. Wenn von Handlung die Rede ist, beinhaltet dies zwei Momente. Zum einen behauptet sich in der Aussage, dass das handelnde Subjekt mehr ist als ein Bündel von Naturkausalitäten. Zum anderen, dass das Sein weniger ist, als es sein könnte, dass es nicht nur gut ist. Kants praktischer Philosophie geht es um das rechte Handeln in der endlichen Welt, die der unendlichen Freiheit fremd ist. Dessen Bedingungen und Möglichkeiten sind zu bestimmen. Dazu bedarf es eben nicht nur der sittlichen Handlung aus Pflicht, sondern auch noch der bloß legalen, pflichtgemäßen in Recht und Politik. Die nicht nur historischen Voraussetzungen jener beiden Grundlagen einer Handlungstheorie bilden die philosophischen und populären Reflexionen, die sich eine Epoche über ihr Böses gegeben hat, und der Reim, den sie sich auf die Übel ihrer Zeit gemacht hat. Dass dem Menschen als malum metaphysicum die Unvollkommenheit zukommt, hat es erlaubt, dass Wissenschaft und Technik

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entwickelt worden sind.1 Sie sind die Mittel, mit denen sich der Mensch seine Unvollkommenheit der Natur (und Kultur) gegenüber erträglicher gestalten will. Gegenüber dem wesenhaften Sein der Dinge dürfen ihre unwesentlichen Erscheinungen verändert werden, ohne dass Gottes Ordnung gestört würde, weshalb Wissenschaft und Technik auch anderes sein können als bloße Häresie. Hinter der Theodizee-Idee bei Leibniz steht, dass die Welt nicht in Ordnung ist und der Mensch sie zu ändern vermag. Dass der Mensch dem malum morale begegnet, macht aus diesem Dürfen ein Sollen. Die Dinge müssen verändert werden, weil nicht zugelassen werden darf, dass das Gute leer ausgeht und das Böse ungesühnt bleibt. Ist diese Idee der Gerechtigkeit erst profanisiert, entsteht Politik. All dies ist bei Kant bloß angedacht, er verlässt sich lieber auf göttliches Werk, um dem Sollen Seinsmacht zu geben und des Teufels Beitrag zu brechen. Moral führt laut Kant „unumgänglich“ zur Religion, wenn es der Vernunft nicht gleichgültig ist, was beim Rechthandeln herauskommt.2 Die Religionsphilosophie wird bei Kant Teil des praktischen Systems und beinhaltet Moralisches, die Übereinstimmung von Sinnlichem und Nicht-Sinnlichem und den Kampf zwischen Gut und Böse. Damit die Übereinstimmung rein moralisch und allein Folge der Autonomie sein kann, löst Kant sie radikal aus der physis und nimmt dafür sogar das Scheitern der Theodizee in Kauf, die nicht mehr ist, weil Kant die Welt strikt in zwei teilt. Alle neuplatonischen Theorien über die Materie als Ursprungsort des Bösen verabschiedend, sind malum morale und malum physicum bei ihm zusammenhangslos. Die Übel sind sinnlose Fakta jenseits der Freiheit und des Menschlichen. Gegen Leibniz und mit Bayle vertritt Kant 1763 in seiner Schrift Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, dass dem Bösen wie in der Elektrizität dem negativen Pol gegenüber dem positiven ein eigenständiges Reales zukomme. Zwischen Gut und Böse bestehe eine „Realpugnanz“, die nicht nur logisch, sondern manifest empirisch sei (vgl. II, 172). Gegen Leibniz erreicht das Böse (und im gleichen Text auch das Übel) eine eigenständige Entität jenseits der bloßen privatio boni. Kant steht am Ende des „Jahrhunderts der Theodizee“.3 Das Böse soll nun für sich selbst etwas gelten, nicht allein im vermeintlich größeren Zusammenhang.4 1 So scheinen alle drei oberen Fakultäten aus Kants Fakultätenschrift Fragen aus den drei mala des Leibniz zu beantworten. Die theologische Fakultät sucht Antworten auf das Verhältnis der unvollkommenen Menschen zu Gott, die juristische erklärt den Umgang mit dem malum morale und die medizinische hilft bei den mala physica. Kant zieht einen ähnlichen Vergleich (vgl. VI, 40). 2 Laut Kants Religionsphilosophie geht „aus der Moral […] doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme […].“ (VI, 5; Hervorhebung von mir, d.V.) 3 Vgl. Konhardt, Klaus: „Die Unbegreiflichkeit der Freiheit – Überlegungen zu Kants Lehre vom Bösen“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S. 397416, hier S. 401.

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Dass der Untergang der Theodizee so überzeugend wurde, dabei half die Natur. Ein Erdbeben erschütterte im Jahr 1755 die frommste Stadt Europas, Lissabon. Voltaires Spott im Candide zeigt an, wie sich die europäische Intelligenz in der Folge der Naturkatastrophe, die der ausgleichenden Gerechtigkeit scheinbar fremd sein müsste, vom kosmologischen Optimismus losgelöst hat. Das Erbeben erklärte nach dem Glauben an einen gerechten Gott, dass selbst die frommsten Irdischen schuldig waren. Auch Kant trat aus dem kosmologischen Optimismus aus und verbat sich jeden Zusammenhang zwischen den Übeln in der Welt und einer Strafe Gottes für das Böse. Ein Einwirken Gottes kann nach Kants Darlegung der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises vom Dasein Gottes den Dingen nicht abgelauscht werden, denn „der Schritt zur absoluten Totalität ist durch den empirischen Weg ganz und gar unmöglich“ (III, B656f.). In dieselbe Richtung der Negation des kosmologischen Optimismus geht die „glückliche“ Kantische Unterscheidung des lateinischen malum aus der Kritik der praktischen Vernunft in die beiden deutschen Begriffe Übel und Böses. Bonum ist zugleich das „Gute“ und das „Wohl“ und malum meint beides: das „Böse“ und das „Übel“ (vgl. V, 59). Die Übel sind als eigenständiges Wort und Phänomen ohne Zusammenhang mit dem Bösen und nicht von Gott als Strafe geschickt. Weil der empirisch-sinnliche Abdruck des Übels in der Welt nichts mit dem Intelligibelen des Bösen zu schaffen hat, stimmt Kant dem Stoiker zu, der sich angesichts körperlicher Beschwerden nicht aus der moralischen Ruhe bringen lässt (vgl. V, 60).5 Das malum morale wird zur unabhängigen Konstante gegenüber den physischen Zuständen. Es wird radikal ins Innere des Menschen verlegt, weil für es Äußeres nicht von Belang ist. Auch wenn jeder einzelne Teil des Ganzen der Menschheit ein Hans im Glück wäre, wäre doch jeder Teil und das Ganze der Menschheit verdorben. Kant konstatiert 1791 das Misslingen aller philosophischen Versuche der Theodizee, weil die Trennung zwischen malum morale und malum physicum strikt ist (vgl. VIII, 258ff.). Der Übergang vom körperlichen Übel zur gerechten Strafe ist für den Menschen nicht rational nachzuvollziehen. An dem Übel kann die moralische Vollkommenheit Gottes ganz bestimmt nicht abgelesen werden. Kant wird radikal, wenn es um Fragen von Gut und Böse geht. Nur ein Böses der drei von Leibniz zählt laut ihm noch für die Menschen. Dieses Privileg hat dasjenige, was aus ihrer Freiheit stammt. Die beiden anderen stehen nicht im Gegensatz von Gut und Böse, sondern höchstens von Gut und Schlecht, denn auf sie hat der Mensch keinerlei Einfluss. „Gut“ und „Böse“ sind laut Kritik der praktischen Vernunft „die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft“ (V, 58). Mit 4 Kant läutet das Ende der „Tendenz zur Funktionalisierung, d.h. aber zur Verharmlosung des Bösen“ ein (ebd., S. 401). 5 Billicsich unterscheidet im Abschnitt über Kant nicht klar zwischen dem Problem des Übels und dem des Bösen (Billicsich, Friedrich: „Das Problem des Übels in der Philosophie des Abendlandes II. Von Eckehart bis Hegel“, Wien; Köln 1952-59, S. 220ff.).

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diesen Objekten verfolgt Kant, ob „wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre, mithin muss die moralische Möglichkeit der Handlung vorangehen“ (ebd.). Mit dem Objekt ist der Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft gekennzeichnet, nach dem beurteilt wird, ob, wenn wir etwas könnten, wir es auch wollen dürften. Das Gute ist „notwendiger Gegenstand eines Begehrensvermögens“, das Böse „eines Verabscheuungsvermögens“ (ebd.) und negiert das Begehren (nach Begriffen). Gut und Böse machen zusammen den ganzen Umfang des Urteils über das mögliche Wollen einer durch sich selbst praktischen Vernunft aus. Das moralische Subjekt kann sich zu nicht mehr entscheiden, als entweder absolut Einzelnes oder absolut Allgemeines zu sein. Moralisch gesehen ist das Handeln entweder böse oder gut oder nichts. Moralische Freiheit, und das ist die Freiheit, wie Kant sie denkt, ist somit allein wirklich im Hinblick auf die Unterscheidung von Gut und Böse. Wer das Sittengesetz begehrt und das Böse verabscheut, ist frei und sonst niemand. Neutral kann der Wille auch nicht sein. Noch ein moralisch neutraler Wille verantwortete, weil auch er zur Freiheit verdammt ist, das Böse, was er bewirkte. Um Gut und Böse kämpfen zu müssen, ist der Preis des Willens für seine Freiheit, die aus sich heraus keinerlei Grund anbietet, sich nicht auch gegen sie zu wenden. Genau so, als Preis der Freiheit, nehmen die Philosophen das Böse wahr. Dass man gute und böse Objekte wollen kann, ergibt sich für Kant nicht aus diesen, sondern aus der reinen praktischen Vernunft. Wäre es anders herum, der Wille wäre bedingt durch ein Objekt und nicht mehr autonom im Kantischen Sinn. Lediglich die Form des Wollens des vernünftigen Sinnenwesens erlaubt es, eine mögliche Handlung dem Prinzip der Sittlichkeit zu subsumieren (vgl. V, 90). Kant entdeckt den „Fehler“ der „Alten“, genau anders herum verfahren zu sein (vgl. V, 64f.). Bei diesen leitete sich die richtige Handlung aus dem Guten ab. Augustinus ist hier das Extrembeispiel, denn als Kirchenmann ist für ihn unbedingte Voraussetzung seines Denkens, dass das Gute ist, was Gott gewollt hat. Menschen eifern diesem nach. Diese vorausgesetzte Bestimmung des Guten wird von Kants republikanischen Formalismus abgelehnt, was Dieter Henrich als Kants „kopernikanische Wende“ in der Moral bezeichnet hat. Anders wäre das Privileg auf die richtige moralische Gesinnung nicht zu ändern gewesen. Bei den „Alten“ lag das Privileg auf die Moral meist bei Gott (und dessen weltlichen Dienern), denn dieser gab die Werte, damit die Menschen ihnen gemäß wurden. Kant macht damit Schluss. Jetzt gibt sich das Subjekt sein Wollen selbst, damit anschließend rein formal beurteilt werden kann, ob diese „Causalität“ gut oder böse ist (vgl. V, 65). Kants „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ ist daher, „dass nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müsste), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (V, 62f.). Paradox

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ist die Methode für den damaligen Leser der Kritik der praktischen Vernunft, der gewohnt gewesen ist, dass die Ethik einen guten Zweck liefert, den zu befolgen den Menschen Sinn gibt. Ein Gutes hat die Güte der einzelnen Menschen bemessen. Wer wissen will, was das Gute oder sein Gott ist, muss es auch vom Bösen, seinem Gegenteil, unterscheiden lernen. Gut und Böse können nicht miteinander sein, aber auch nicht ohne einander. Sie sind Reflexionsbegriffe,6 nicht im Kantischen Sinne, denn dort sind Reflexionsbegriffe nur solche, die der vergleichenden Betrachtung dienen (vgl. III, B316ff.). Das Verhältnis von Gut und Böse ist näher an dem, was Hegel Reflexionsbestimmungen nennt. Eigentümlichkeit der Reflexionsbestimmtheit bei Hegel ist es, „Beziehung auf ihr Andersseyn an ihr selbst“ (11, 257) zu haben. Allerdings sind Gut und Böse bei Kant nicht Reflexionen der Sache in sich, sondern werden an diese äußerlich vom moralisch urteilenden Subjekt herangetragen. Daher sind Gut und Böse bei ihm keine Reflexionsbestimmtheiten, sondern Reflexionsbegriffe des Subjekts. Die Tugend ist nicht ohne Kampf, stellt die Anmerkung 1 zum „Widerspruch“ in der Hegelschen „Wesenslogik“ fest. Tugend bedarf der Laster, um sich zu vergleichen. Daher kann, um der Tugend willen, das Laster nicht einfach ein Mangel der Tugend sein oder eine Frage des Blickwinkels, von dem aus man die Tugend betrachtet. Es muss dieser vielmehr laut Hegel absolut entgegengesetzt sein. „Es ist böse. Das Böse besteht im Beruhen auf sich, gegen das Gute; es ist die positive Negativität.“ (11, 284) Im Gegensatz von Gut und Böse kommt für Hegel die „wichtigste Erkenntnis“ über die „Natur der betrachteten Reflexionsbestimmungen“ zum Ausdruck, dass beide „ihre Wahrheit nur in ihrer Beziehung aufeinander haben“ (11, 285). „Ohne diese Erkenntnis lässt sich eigentlich kein Schritt in der Philosophie tun.“ (Ebd.) Unter umgekehrten Vorzeichen definieren sich das Gute und das Böse gegenseitig. Bestimmt ist das Gute allein gegen seine Negation: das Böse, wie der Tag gegen die Nacht. Die Umkehrung gilt ebenso, denn ohne das Gute ist auch das Böse nichts. Die Dichotomie zwischen Gut und Böse ist laut Kant Fundament der logischen Definition jedes Urteils des moralischen Verstandes (vgl. XXIV, 661). Will ein Subjekt Gutes, muss es dies gegen das Böse tun. Da jede Moral aufs Gute geht, ist sie prinzipiell ein „Verfahren“ gegen dessen Negation, das Böse. Nimmt man die Leibnizsche Einteilung auf, muss man genauer sagen: gegen das malum morale. „Die Begreiflichkeit des einen [sittlich-Guten, d.V.] ist ohne die des andern [sittlich-Bösen, d.V.] gar nicht denkbar.“ (VI, 59) Diese Dichotomie gehört zu den Konstitutionsbedingungen einer Moral. Die vollständige Alternative zwischen Gut und Böse ergibt sich nach der Logik von (moralischen) Urteilen überhaupt. Der formale Charakter der Kantischen Moralphilosophie basiert darauf. Soll die Moralität einer Handlung darin liegen, ob sich deren Maxime verallgemeinern ließe, so schließen sich rein „gedoppelte“ Handlungsmotive aus. 6 Vgl. H. Rommel: Böse.

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Moralische Beurteilung erlaubt kein Zugleichsein von Gut und Böse in der Maxime, denn nach dem Satz vom Widerspruch können zwei sich ausschließende Maximen nicht gleichzeitig verallgemeinert werden und dieselbe Handlung leiten. Das „Innen“ der Möglichkeit zum Bösen und zum Sittlichen überhaupt ist immer eindeutig. Böse sind nach Kant solche Maximen, die sich nicht widerspruchsfrei verallgemeinern lassen. Das ergibt sich aus der Umkehrung der Bestimmung des schlechterdings guten Willens in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten. „Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann.“ (IV, 437) Die böse Maxime lässt dementsprechend keinen Widerstreit aus und muss zu einer großen Konfusion im Subjekt führen. Nach den moralischen Grundlegungsschriften Kants hat das Böse seinen Ursprung nicht nur in der Vernunft, sondern ist gleichzeitig der Verallgemeinerbarkeit entgegengesetzt. Wie das sich zu einer Kausalität aus Freiheit zum Bösen vereinigen lässt, sagt Kant dort nicht, denn ganz ohne Verallgemeinerbarkeit wäre diese gesetzlos, mithin unmöglich. Ein Missbrauch der Willensfreiheit ist nach Kants eigenen Worten akausal und deswegen nicht zu erklären. „Die Möglichkeit von dieser [der inneren Gesetzgebung der Vernunft, d.V.] abzuweichen, [ist] ein Unvermögen.“ (VI, 227) Als solches entzieht sich das Böse jeder menschlichen Erklärung oder Forschung. Das Böse muss sein, andernfalls wäre kein Gutes. Will ein Wille lediglich das Eine (Gute), ist er kein freier, denn er hat keine Alternative. Müsste das Böse nicht negiert werden, wäre das Tun des Guten automatisch und nicht mehr Segnung durch die menschliche Autonomie und keinem Subjekt zuzurechnen. Dass das Böse gegen das Gute behauptet wird, komplettiert erst das moralische Urteil. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Für den rigorosen Moraltheoretiker ist es deswegen selbstverständlich, dass das Böse nicht bloß privatio boni sein kann, denn es wäre ansonsten verharmlost. „Die bloße Idee des Äußerst-Bösen ist in einem System der Moral nicht zu übergehen.“ (VI, 322). Virtus est fortitudo moralis. Gerade im Kampf gegen das Böse beweist sich die virtus, die Tapferkeit und Tugend, wie sie sich für den moralisch Handelnden ziemt, welche ihr Maß im Grad der Abwehr von Nicht-Moralischem hat. Moral ist nach Kant, wo Autonomie gegen Heteronomie behauptet wird und sich ein Subjekt auch unter nicht-freiheitlichen Bedingungen als freies behaupten muss. Die Dichotomie der Moral ist die von Gut und Böse, welche gilt, solange unter heteronomen Bedingungen, wie dargestellt, mit moralischen Mitteln ein Urteil über die Heteronomie gefällt wird.7 Unter solchen Bedingungen muss sich

7 „Wer das Böse in der Ethik nicht bloß verdrängen, sondern philosophisch verabschieden will, braucht einen grundlegend neuen Begriff des Guten, einen Begriff, dessen Negation nicht mehr das Böse heißt.“ (Höffe, Otfried: „Ein Thema wiedergewinnen: Kant über das Böse“, in: Annemarie Pieper (Hg.), Klassiker Auslegen:

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das Gute ins Selbst zurückziehen, damit es überhaupt noch behauptet werden kann. Es wird zur reinen Willensangelegenheit. Für seinen Reflexionsbegriff, das Böse, wird es eng. Es fehlt ihm an der Möglichkeit, aus der menschlichen Autonomie zu sein, denn die gibt es bei Kant lediglich, wenn die eigenen Zwecke vollständig vernünftig sind. Damit ist jedoch allein dort, wo Gutes gewollt wird, auch Freiheit. Für das Böse scheint es keinen Platz mehr an der Sonne der Freiheit zu geben. Moral fällt aus, wenn das Böse entfällt. Sie ist die Durchsetzung des Guten gegen das Böse und ein Verfahren zur Annäherung eines Seins an ein Sollen, nicht bloß ein anderer Name für das Sein des Guten. Moral kann nicht nur das automatische Tun des Guten sein, andernfalls wäre sie nicht ein Ereignis der Freiheit, sondern der Notwendigkeit. Ohne Böses gäbe es keine Normen, welchen Handlungen widersprechen könnten. Ohne die Möglichkeit zu ihrer Negation existiert keine Norm. Ergäbe sich das Nicht-Gute aus dem gleichwertigen Spannungsverhältnis zwischen der menschlichen Vernunft und deren Nötigung durch sinnliche Antriebe, fiele es nach Kant mit der Lehre der privatio boni zusammen. Ein solches Denken, das im Bösen lediglich den durch Sinnlichkeit bewirkten Mangel des Guten sieht, verharmlost nach Kants Glauben das Böse, weil es nicht zur vollständigen Wahrnehmung der Negativität desselben kommt. Eine Vorstellung, die das Böse lediglich aus der heteronomen Neigung bestimmen will, neutralisiert und entschuldigt es zugleich. Das Böse muss der bewussten Maximenbildung entspringen (vgl. VI, 20). Es muss für Kant gewollte Bösartigkeit sein. Das Böse wird zur Sache des Einzelnen. Kein Kollektiv, keine Kultur und keine Natur zeichnen mehr dafür verantwortlich. Aber auch kein Gott schickt den Menschen mehr die mala, um sie für die Sünde der ersten beiden Menschen zu strafen. Kant will auf eine Theodizee verzichten, deren Projekt ist zu Ende gegangen. Das Ende der Theodizee bedeutet den Anfang der radikalen Verantwortung des Menschen für sein Tun. Verbindlichkeit folgt nicht mehr aus der Zugehörigkeit zu einer Kultur oder Religion, sondern liegt „a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft“ (IV, 389). Auch das Annehmen einer moralisch bösen Maxime muss bewusst erfolgen. Der moralische Unwert einer Handlung liegt bei Kant nicht in der Wirkung oder der prinzipiellen Sündhaftigkeit, sondern in der Negation der Aufnahme des Sittlichen, wenn Maximen gebildet werden. Der Konflikt zwischen Gut und Böse ist von ihm nach innen verlegt. Im Bewusstsein, in der Form, wie sich ein Subjekt vernünftig selbst bestimmt, entscheidet sich, ob die Handlung als gut oder böse eingestuft werden muss. Der Konflikt zwischen Gut und Böse verschwindet mit der Geburt der Autonomie bei Kant aus dem Verhältnis des Innen (des Geistes) zum Außen (der Sinne) wie bei Platon und wird zu einem Konflikt innerhalb der Vernunft, der Natur des Geistes. Der Mensch hat laut Kant die Wahl zwischen Schelling – Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Berlin: Akademie-Verlag 1995, S. 11-34, hier S. 15)

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Gut und Böse, weil dies der Natur seiner Freiheit entspricht. Lediglich das Moralische hat nach Kant Freiheit. Was nicht moralisch ist, ist gleich unfrei. Solche Einseitigkeit der Freiheit ist mit dem Bösen nicht zu machen, denn es braucht die Alternative, die einem Subjekt freigestellt ist, damit es diesem zuzurechnen ist. Dem Guten schadete die Unmöglichkeit seines Gegenteils ebenso, weil es ohne seine Negation unbestimmt wäre und ein Nichts. Die moralische Überlegung Kants hat keine Furt mehr. Entweder sie stößt das Gute von dem Sockel, das einzige aus Freiheit zu sein oder sie gibt sich selbst auf. Wenn alles, was ist, automatisch gut oder nicht-praktisch ist, wird Moral überflüssig. Diesen Weg sind Hegel und später Nietzsche weiter gegangen. Wo letzterer die Moral entwertet hat, weil sie über die „eigentliche“ Freiheit, in der sich ein Selbst selbst erschafft, nichts zu sagen hätte, will ersterer die Moral über ihren Mangel hinausführen, ohne ihre Prinzipien von Selbstbestimmung und menschlicher Potenz zu unterlaufen. Weil Kant sein moralisch Gutes radikal will, muss er ein radikal Böses bereitstellen. Das Gute an sich kann sein ohne gleichwertiges Gegenüber. Es ist Ordnungsbegriff für den gesamten Kosmos. Das moralisch Gute hingegen benötigt ein gleichwertiges Böses, weil es Entscheidung aus Freiheit eines Einsubjekts ist. Dieses dem Guten ebenbürtige Böse wird Kant in seiner Religionsphilosophie Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794) entwickeln. Er geht so weit, den Menschen von Natur aus böse sein zu lassen. Das erste Buch von Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft heißt Über das radikal Böse in der menschlichen Natur. Auch in den weiteren drei Büchern geht es moralisch kämpferisch weiter: Vom Kampf des guten Prinzips mit dem bösen, um die Herrschaft über den Menschen, Von dem Sieg des guten Prinzip über das böse, und die Stiftung eines Reiches Gottes auf Erden und Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Princips oder Von Religion und Pfaffentum. Besonders das erste Stück musste und verwirrte Kants aufklärerische Zeitgenossen. Berühmt ist Goethes Empörung. Am 7. Juni 1793 schrieb er in einem Brief an das Ehepaar Herder unter anderem: „Dagegen hat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit auch die Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.“8 In seinen moralisch gemeinten religionsphilosophischen Schriften kommt Kant zu einer Auffassung, die nicht nur Goethe verwirren muss bei jemanden, der die Freiheit, ist diese auch die falsche, verunmöglicht sieht, wird sie an die Natur gebunden: „Der Mensch ist von Natur böse. Vitiis nemo sine nascitur. Horat.“ (VI, 32) Daran besteht für Kant kein Zweifel. Am Anfang der Kantischen Theorie vom Bösen steht nicht die Deduktion, welche beweist, dass das Böse ist, sondern die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Bösen, weil es existiert. „Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum weil er 8 Goethes Briefe II (Hamburger Ausgabe), S. 166.

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Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen.“ (VI, 20) Der Ausgangspunkt dieser Definition ist die Erfahrung des Bösen, die für Kant wie für die gesamte „neue Zeit“ feststeht. Kants Theorie des Bösen beginnt mit dessen Existenz. Von dort aus stellt sich die transzendentalphilosophische Reflexion auf die nicht-empirischen Gründe im menschlichen Inneren. Diese genuin philosophische Frage sichert für Kant eine allgemeine Ursache des Bösen, die zweierlei bestätigt. Erstens kommt das Böse aus der Spontaneität des Menschen, ist diesem zuzurechnen und zweitens geht es einer jeden konkreten Handlung als subjektiver Bestimmungsgrund voraus, ist in jeder Handlung „immerdar“. Beide Punkte benötigen das Böse als ein dem Guten gleichwertiges Phänomen, wie es die Moralphilosophie benötigt. Kant will mit seiner Untersuchung die Frage beantworten, was ein böser Mensch, eine böse Gesinnung ist. Der Weg dorthin führt über die exakte Analyse, in welcher Konstellation die Maximen der Handlungen im Menschen stehen müssen, damit das Prädikat böse dem Menschen überhaupt zukommt. Dass diese böse Maxime bei Kant a priori allen anderen zugrunde liegt, macht das Böse zum Universal des menschlichen Lebens auf der Erde. Dieser erste „subjektive Grund“ der Annahme einer bösen Haltung muss gleichzeitig aus Freiheit sein (vgl. VI, 21). Er ist frei, weil er auch Nicht-Natur ist, Reflexion des Intelligibelen in sich. Bewirkt wird allein die Bildung von Maximen, nicht die Ausführung derselben in Handlungen. Neben seiner freiheitlichen Dimension ist das Böse bei Kant Gemeinsames aller Menschen, liegt in deren Natur. Dies meint nicht, dass der Mensch physei böse ist. Die Natur trägt keine Schuld daran. Aber: Radikal böse zu sein ist Gattungsmerkmal der Menschen, das ihnen nicht durch Geburt mitgegeben ist, denn es ist zeitlos erworben. Das Böse zu erwerben war nach Kant die zeitlose Bewegung, die jedes Individuum der Gattung Mensch teilt. Es ist diejenige Entscheidung, die keine Zeit gekostet hat. „Die eine oder die andere Gesinnung als angeborne Beschaffenheit von Natur haben, bedeutet hier auch nicht, dass sie von dem Menschen, der sie hegt, gar nicht erworben, d.i. er nicht Urheber sei; sondern dass sie nur nicht in der Zeit erworben sei (dass er eines oder das andere von Jugend auf sei immerdar)“ (VI, 25), wobei der Wille die Rolle der radikalen Entscheidung spielt. Der Reflexion auf die formale Möglichkeit des Bösen liegt offensichtlich eine Äquivokation im Begriff der Natur zugrunde. Natur wird hier von Kant nicht mehr nur in der Differenz formal oder material betrachtet (vgl. IV, 294f.).9 Natur erreicht jetzt zusätzlich einen moralischen Grad, denn in ihr wohnt das böse (und

9 Material wird der Begriff der Natur von Kant als „Inbegriff der Erscheinungen“ benutzt. Sie ist infiniter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Es gibt in ihr keine Ursache, die nicht wiederum Wirkung, und keine Wirkung, die nicht wieder Ursache einer anderen Wirkung wäre. Formal ist die Natur „Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit“ (IV, 318).

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gute) Prinzip. Der moralische böse Mensch wird bei Kant geboren aus der Gleichzeitigkeit von Natur und Freiheit in seiner Natur. Dass deren Chorismos überwunden wird, bleibt für den Menschen „unerforschlich“ (ebd.). So ist bei Kant das Böse in des Menschen Natur geheimnisumwittert, mit dem Argument, dass an der Kette der subjektiven Bestimmungsgründe bis ins Unendliche zurückgegangen werden kann, ohne jemals auf den ersten zu stoßen. Der ist „unerforschlich“, so dass er auch Grund des moralisch Bösen sein kann. Außerhalb des menschlichen Begreifens kann der Widerspruch vom Zugleich des Subjektiven und Objektiven, d.h. allgemein Gültigen, sein. Das Böse muss nach Kant dieser existierende Widerspruch sein. Sonst wäre nicht einzusehen, wie es notwendig allen Menschen aus Freiheit zukommt, denn Freiheit ist Wahl, die Kontingenz bedeutet, wie Leibniz festgestellt hat. Die böse Gesinnung, welche der Natur des Menschen zukommen soll, ist die Einzelentscheidung, die im selben Moment allgemein und unhintergehbar geworden ist (vgl. VI, 25). Schon allein dies macht sie für jede politische Theorie äußerst interessant, die immer um eine Harmonie von Einzel- und Allgemeinwillen bemüht ist. Das Böse folgt bei Kant einer Notwendigkeit in der moralischen Argumentation. Alles moralische Handeln steht bei ihm unter der vollständigen Disjunktion aller Handlungen unter dem moralischen Urteil. Sittliches Handeln ist entweder gut oder böse, niemals indifferent. Moralisch indifferent wären höchstens Handlungen, die ihren Grund in einem naturalen Kausalzusammenhang haben. Moralisch gibt es keine Adiaphora, weder bei Handlungen noch bei Charakteren (vgl. VI, 22f.). Das „radical Böse“ (VI, 37) im Menschen klärt im Rückschluss auch das Kantische Gute als radikales auf. Dieses ließ für heteronome Handlungen, die nicht der reinen praktischen Vernunft folgten, kein Gesetz für deren Kausalität aus Freiheit übrig. Unerklärlich und „unerforschlich“ ist das Akausale des Bösen. Dieses trotzdem beim Namen zu nennen, ist bei Kant der Versuch, über dasjenige etwas zu sagen, über das seine eigene Theorie eigentlich nur schweigen könnte. Obgleich die reine praktische Vernunft schon das Ganze der verantwortbaren Freiheit sein soll, soll auch das Böse aus derselben Quelle stammen. Aus diesem Mangel vor der menschlichen Vernunft lässt sich die Tugend machen, dass sich die freiheitliche Notwendigkeit des Bösen zwar für uns widerspricht, aber deswegen noch lange nicht nicht ist. Wir verstehen sie laut Kant bloß nicht, weil wir das Besondere eben nie ganz zu entschlüsseln vermögen. Als Einheit von Verschiedenem wie Natur und Freiheit sperrt es sich gegen unseren diskursiven Verstand. Das Verwurzeln des Bösen in der menschlichen Natur erscheint so gesehen Folge daraus zu sein, dass das Gute schon alles der Praxis sein soll. Die letztlich unerforschliche besondere Natur bietet sich als gute Bewahrerin dessen an, was nicht sein kann, aber trotzdem sein muss. Im Abschnitt Von dem Hange zum Bösen in der Menschlichen Natur ergänzt Kant seine in der Abfolge der Religionsphilosophie bis dahin formal gebliebene Analyse des Phänomens des menschlichen Bösen um eine materiale Seite, die al-

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len Menschen zugleich zukommt. Bis zu diesem Abschnitt ist auf dem Boden der Kantischen praktischen Philosophie festgezogen worden, dass formal gegen eine angeborene Anlage zum Guten im Menschen ein erster Grund zur Annahme der verschiedenen realexistierenden Maximen zum Bösen sein müsse. In seiner Theorie zum menschlichen „Hang zum Bösen“ wird Kant jetzt material und entspricht dem Drang zur Natur seiner Vorstellungen zum Bösen.10 Eine „anthropologische Nachforschung“ führt ihn auf einen „Hang zum Bösen in der menschlichen Natur“ (VI, 29). Mit ihr meint er, „befugt“ zu sein, die „ganze Gattung“ Mensch als radikal verdorben anzunehmen, weil sie zeigt, dass kein Grund besteht, „einen Menschen davon auszunehmen“ (VI, 25). Solcher Hang bei Kant ist am besten unpräzise bezeichnet. Er ist „schillernd“ und der „subjective Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia)“. Er kann „zwar angeboren sein“, darf „aber doch nicht als solcher vorgestellt werden: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen […]“ (VI, 28f.). Der Hang zum Bösen drückt gleichzeitig die Prädetermination aus wie die NichtNotwendigkeit, diese auszuführen. Er ist angeboren und frei, ist subjektiv und objektiv und und und. Er „schillert“ zwischen den zwei Welten der Freiheit und der Notwendigkeit. Mit dem Hang ist bei Kant ein Status des Gemeinsamen zwischen intelligibeler und empirischer Welt erreicht, der es erlaubt, dass die praktische Grundfrage nach dem, was wir tun sollen, die Dimension dessen erreicht, was wir tun können. Daher wird Kant jetzt anthropologisch.11 Das Problem, den Hang, diesen nach Kantischen Begriffen vom bloß Zufälligen der Natur affizierten, zu einem Allgemeingut der Gattung aufzuschwingen, spiegelt sich wider in den terminologischen Schwierigkeiten, mit denen Kant die Sache ausdrücken will. Das Changieren zwischen Hang, Neigung, propensio, Prädisposition etc. wird auch nicht von obiger Anmerkung ausgeräumt, die den Hang als subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung definiert (vgl. VI, 28). Wie aus dem subjektiven Grund von etwas Subjektiven Objektives, d.h. allgemein Gültiges, entstehen soll, bleibt Kants Geheimnis und wäre würdiges Thema einer idealistischen Dialektik. Ein dem Menschen innewohnender Hang zum radikal Bösen scheint die Rede von der Freiheit obsolet zu machen. Kant scheint sich auf seiner Suche nach den Schlüsseln zur menschlichen Freiheit im Bösen verirrt zu haben. Aber seine Theorie vom „radikal Bösen“ steht zumindest dem Anspruch nach nicht im Widerspruch zu den in den moralischen Grundlegungsschriften entwickelten Begriffen von Freiheit, Autonomie

10 Als Hang hat das Böse endgültig ein Sein für sich selbst, ist mehr als privatio boni. 11 Die Anthropologie hat als Wissenschaft einen sinnlich-übersinnlichen Gegenstand, den Menschen. Weil sie somit einen vielförmigen Gegenstand bearbeitet, muss sie sich als Wissenschaft selbst zum Problem werden.

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und Wille, sondern soll diese weiter ausarbeiten.12 Das Böse folgt nicht aus irgendeiner Denkinkonsequenz von Kant, sondern aus seiner eigenen moralischen Forderung. Wenn das Gute sein soll, muss es neben ihm ein Böses geben, gegen das es sich reflektieren kann. Gegen dieses muss der Wille frei das Gute wollen können und nicht wie bei Leibniz immer schon auf das Gute festgelegt sein. Das kann er, wenn das Böse aus derselben Quelle stammt, die nach Kant stets das Gute will. Es muss aus der Vernunft stammen. Die Frage, unde malum, wird von Kant mit der zurechenbaren Freiheit beantwortet. Schwierigkeiten, die Freiheit zum (damit subjektiv) und die Allgemeinheit (Objektivität) des Bösen, auch nur zu definieren, geschweige denn begreifen zu können, treiben Kant im Weiteren der Argumentation für ein selbständiges Böses in der Religionsschrift zur folgenden paradoxen Formulierung: „So werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und da er doch immer selbstverschuldet sein muss, ihn selbst ein radicales, angebornes, (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.“ (VI, 32) Gleich im nächsten Satz der Argumentation wird dem transzendentalen Idealisten Kant durch den empirischen Realisten Kant geholfen. „Dass nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.“ (VI, 32f.) Die a priori Ableitung des „gewurzelten“ (= radikalen) Bösen aus der intelligibelen Sphäre der Freiheit gelingt Kant nicht. Er muss der Erfahrung des Bösen trauen, was ihn geltungstheoretisch sonst immer misstrauisch werden ließ. Die Erfahrung des radikal Bösen steht vor Kants Theorie. Eine Ableitung kann ihm nicht gelingen, weil aus der Allgemeinheit und Notwendigkeit der Vernunft Partikulares und Empirisches (wie der Hang) sich nur synthetisch, durch Erweiterung der ursprünglichen Erkenntnis ergibt. Dass Kant die Erfahrung zur Hilfe nehmen muss, widerspricht jedoch seiner Maximentheorie. Der Erfahrungsbeweis erreicht lediglich „comparative Allgemeinheit“ (III, B3). Damit ist das Urteil vom natürlichen Hang zum Bösen nicht streng genug. In der christlichen Tradition hatte die Erbsündenerzählung noch verbürgt, dass das Böse sich in der Gattung Mensch fortsetzte. Gegenüber dieser Fundierung fällt die Allgemeinheit der Erfahrungsbehauptung des Bösen bei Kant ab.

12 „Vielmehr verdankt sich die Konzeption des radikal Bösen in der Religionsschrift der Einsicht Kants, dass die Freiheit des Menschen, wenn auch nicht Ursache, so doch Bedingung des Bösen ist. Es ist die Freiheit eines endlichen Vernunftwesens, die selbst ambivalente Züge trägt.“ (K. Konhardt: Unbegreiflichkeit der Freiheit, S. 400) Der „Hang“ passiert scheinbar, wenn aus der erkenntniskritischen Unterscheidung zwischen Ding an-sich-selbst und Erscheinung plötzlich eine die wilde Spekulation fördernde wird, für das Andere zur Erscheinungswelt etwas bestimmt Anderes annehmen zu wollen. So herum gedacht wird mit dem Schwinden der ontologischen Differenz tatsächlich Freiheit im „Hange zum Bösen“ liquidiert.

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Das Böse ist laut Kant unbegreiflich in seinem ersten Ursprung. Wie der Vernunftursprung des Bösen beschaffen ist, ist für den menschlichen Geist jenseits der Grenzen seiner Vernunft. Zu bestimmen ist allein, dass dieses Böse aus der Vernunft und nicht aus der Zeit stammen muss, andernfalls kämen die Menschen von ihm los. Alles andere ist schlechte Spekulation. Gerade bei seinen Beschreibungen, wie das Böse im Menschen „einwohnen“ kann (vgl. VI, 39), bricht Kant seine Überlegungen am entscheidenden Ort ab. Wo ein Grund für die erste Annahme einer guten oder bösen Gesinnung zu benennen wäre, steht als ein X der „unerforschlich“ erste Willkürakt, der durch seine „Ansehung“ des Gesetzes die weiteren Willkürakte des Menschen bedingt.13 Dieser erste Willkürakt konstituiert die Haltung eines Menschen zur Totalität seiner Moralität, was ihn für das Kantische System prinzipiell unergründlich macht. Deren erstes Argument für die Denkmöglichkeit von Freiheit ist, dass dem endlich-vernünftigen Bewusstsein die Totalität von Bedingungen niemals einzusehen ist. Im Ganzen kann sich Freiheit verbergen. Die Annahme des bösen Charakters kann Kant formal als ersten Willkürakt bestimmen, die Nennung eines materialen Grunds (z.B. Klugheitsregeln oder Neigungen) kann er nicht zulassen. Die Sinnlichkeit bietet zu wenig für ein Böses, das ein malum morale ist (vgl. VI, 34f.), denn ihr fehlt die mögliche Verantwortung. Deswegen hat Kant mit dem „Hang“ ein Zwischenstadium der Verstandes- und Sinnenwelt „entdeckt“ und mit ihm eine Grenze gezogen, welche den Widerspruch des freiheitlichen „Angeborensein“ (vgl. VI, 32) per definitionem bereinigt. Kant zieht fest, dass der Mensch von Natur aus böse ist, weil er in eine nach aller Erfahrung böse Gattung hineingeboren ist. Mit den Erfahrungen, die er in Königsberg gemacht hat, kann er es sich nur so vorstellen. Kant kann in der Frage von Gut und Böse auf die Zuordenbarkeit eines Bösen zu einem Subjekt nicht verzichten und ist somit verwiesen auf einen positiven Grund des Bösen in der menschlichen Freiheit. Man muss das Böse gewollt haben können. Deshalb muss Kant die reine Lehre der Freiheit aus den praktischen Grundlegungsschriften, wie sie sich aus seinen Überlegungen zum Guten ergeben hatte, noch einmal überdenken. Man kann sicherlich nicht von einer totalen Revision dieser Freiheitslehre in der Religionsschrift sprechen, aber doch von einer Transformation, die entscheidet, dass Freiheit nicht bloß im Jenseits der Naturkausalität liegen soll. „Die absolute Spontaneität der Willkür (der Freiheit)“

13 „Dass der erste subjective Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: dass, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z.B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muss; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muss, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.“ (VI, 21)

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(VI, 24) kann jetzt mit einer sittengesetzwidrigen Triebfeder zusammenbestehen, welche sie auch sei. Das steht im offenen Widerspruch zu der Identifikation von moralisch gutem Willen und freien Willen überhaupt aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft. Der „Cirkel“ dieser Wechselbegriffe weist sich als Problem der Freiheit als Autonomie aus. Der Schluss, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ sei (IV, 450f.), der Resultat der Überlegungen der Möglichkeit von positiver Freiheit in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten ist, ist zwingend für eine aus Naturgesetzen befreite Kausalität aus Freiheit. Allerdings bleibt in diesem praktischen System der Ort der bösen Maxime ausgeschlossen, daher muss Kant sich jetzt revidieren und entdeckt in der Natur auch anderes als bloße Fremdbestimmung. Das Böse führt ihn zu der Überzeugung, dass die Freiheit des Willens aus praktischer Vernunft durch Natur bestimmbar ist. Der Mensch muss sich zu dieser Bestimmbarkeit durch Natur selbst bestimmen, und aus seiner Freiheit heraus kann Natur ihm „Triebfeder“ werden.14 Erst hierin wird eine Philosophie des Rechts und der rechten Politik systematisch möglich, denn ohne Zweifel beschäftigen sich beide mit der „unreinen“ Freiheit des Menschen, die in die äußere Objektwelt hineinregiert. Es ist u.a. die Zurechenbarkeitsproblematik nicht-moralischer Handlungen, die Kant veranlasst, gegen seine Auffassung aus den Grundlegungsschriften für seine Religionslehre und anschließend auch in der Metaphysik der Sitten zur schon in der Kritik der reinen Vernunft behaupteten Willkürfreiheit überhaupt zurückzukehren (vgl. III, B562).15 Dass das Böse existiert, liegt laut Kant nicht in einer kosmologischen Veranlagung. Wenn es keinen Ursprung im Inbegriff der Erscheinungen hat, liegt es auch jenseits des inneren Sinns, es hat schließlich keinen zeitlichen, sondern einen reinen Vernunftursprung. Die Frage der Verantwortlichkeit für das Böse radikalisiert sich zu einer Dauerfrage: „Eine jede böse Handlung muss, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre […]“ (VI, 41). Der Mensch ist frei und soll das Böse „unterlassen haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein“ (VI, 41). Der Mensch ist zur Freiheit verdammt und muss deswegen das Böse radikal bekämpfen. Die moralische Freiheit macht, dass das Böse notwendig ist und dass es notwendig nicht ist. Der zitierte „Stande der Unschuld“ ist der Stand der Ver14 Vgl. G. Prauss: Autonomie. 15 Man kann mit Fug und Recht behaupten: „Die Zurechenbarkeit auch des moralisch Bösen wird zum Leitmotiv der ganzen Abhandlung Über das radikal Böse in der menschlichen Natur.“ Ziel der Argumentation ist es folglich, dass man „auch vom unmoralischen Handeln behaupten kann, es sei Handeln aus Freiheit […]“ (Schulte, Christoph: „Radikal böse: Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche“, München: Fink 1991, S. 30).

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nunft, welcher als Tabula rasa fiktioniert wird.16 Was vor der Tat gewesen ist, entscheidet nicht darüber, dass man nach der Tat böse ist. Das moralisch Böse hat bei Kant kein Werden und hat sich nicht gebildet. Woher es gekommen ist, weiß man nicht. Sicher ist lediglich, dass es aus der Vernunft und deren Freiheit, der Autonomie, gekommen sein muss. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen ist letztlich irrelevant, die Hauptsache ist, dass es ist. Der Hang zum Bösen passiert Kant – so scheint es –, wenn Freiheit und Natur im Bösen zusammenkommen. Er klingt nicht so determiniert wie die Leidenschaft und nicht so frei wie das Wollen. Als materialer Beitrag zur Theorie vom Bösen lässt er offen, dass dieses formal aus der Vernunft stammt. In ihrer Funktion als Ursprung des Bösen ist die Vernunft jenseits des menschlichen Geistes.17 Der Hang ist die einfache Tatsache einer objektiven Subjektivität ohne weiteren Verlauf, was es unmöglich macht, ihm mit den Mitteln menschlicher und am Satz des Widerspruchs orientierter Vernunft zu begreifen. Kant muss seiner Erfahrung trauen, die ihm sagt, dass der Mensch von Natur aus böse sei. Zumindest bis zu dem Tag, an dem er einen guten trifft. Allein das malum morale bleibt bei Kant ein Böses, und die Übel scheiden aus. Das Natürliche liegt insgesamt jenseits der Alternative von Gut und Böse, weil in ihm keine Freiheit zur Gefahr werden kann. Es kommt Kant beim Bösen nicht auf eine kosmologische Untersuchung nach Augustinus’ Art an, die die „Schönheit des Universums“ auch in den Übeln entdeckt. Vielmehr will er die Untersuchung der Freiheit beenden, die er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten angefangen hat. Das Ende der Erfahrung der Freiheit liegt bei Kant in dem Bewusstsein, dass diese sich gegen sich selbst wenden kann und sich in der Wahl der Unfreiheit verabschiedet. Jeder Mensch trägt die Wurzel des Bösen in sich und ist daher eine Gefahr für die Freiheit. Kant erweist sich im Folgenden als strenger Kämpfer gegen das Böse, der rigoros keine Entschuldigung von den „Bösewichtern“ akzeptiert. Gegen die böse Natur im Menschen sieht er physischen Zwang gerechtfertigt. In der Hang-Definition wird sowohl die objektive Notwendigkeit zu einer bestimmten Neigung ausgeschlossen als auch die reine praktische Vernunft als Verursacherin. Ein „böses Herz“ verhindert, dass das Sittengesetz in die Maxime aufgenommen wird (vgl. VI, 29). Das moralisch Böse liegt bei Kant in einem Triebfederkonflikt, in dem die Achtung vor dem Gesetz versucht, sich gegen alle anderen durchzusetzen. Das „menschliche Herz“ bestreitet ihn zwischen Vernünftigem und Unvernünftigem.18 Im Bösen rächt sich die Welt der Sinnlichkeit 16 Aber diese Fiktion ist kein einfacher Irrtum irgendeines Denkens, sondern hat ihren Grund in der Sache der Unbedingtheit der Freiheit. 17 Man kann dies auch positiv bewerten und sagen, dass sich hier „Kant als strenger Philosoph der Freiheit zeigt, der um die Kategorie des Sittlichen rein denken zu können, alles Handeln des Menschen an einen Vernunftursprung bindet“ (H. Rommel: Böse, S. 165). 18 Das Urteil in moralischer Absicht zeigt sich davon unbeeindruckt: „allein die Pravität oder Bösartigkeit der Handlung besteht nicht in der Dijudikation, liegt also nicht

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an ihrem übermächtigen Bruder der Verstandeswelt und zeigt an, dass es ohne sie nicht geht. Allein unter Einbezug der Sinnlichkeit lässt sich sinnvoll von menschlicher Freiheit reden. Das hat Kant in seiner Theorie des Bösen mitbedacht. Er ist nicht pessimistischer als andere, sondern sieht die ambivalente Selbsterfahrung eines zwischen den Welten gespannten Wesens. Er reflektiert in seiner Theorie des Bösen, dass der Mensch nicht deswegen, weil er soll, auch kann.19 Der natürliche Hang zum Bösen holt die Anlage zum Guten immer wieder ein. In ihm widersetzt sich das Sollen zum Guten dagegen, in ein Sein des Guten überzugehen. Aber das Böse kann das Gute nie ganz hinter sich lassen, denn das bedeutete das bewusste Herbeiführen der Abwesenheit des moralischen Gesetzes, wenn „nach dem subjectiven Princip der Selbstliebe“ die „Triebfedern der Sinnlichkeit […] für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür“ würden (VI, 36). Ohne die Kausalität aus Freiheit, die das Sittengesetz bereitstellt, geht es auch für das Böse nicht. Allerdings steht es dem Bösen frei, das Gute zu (be-) meistern. Die „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ besteht laut Kant darin, dass sie „die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt“. „Nur dadurch“ ist der Mensch „böse“. Der böse Mensch macht „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes […]“ (ebd.). Die verkehrte Reihenfolge der Ordnung der Triebfedern ist die letzte Kantische Bestimmung des Bösen. Als Verkehrung getrieben vom Hang wird bei Kant das Böse eigenständig. Indem die Selbstliebe als oberste Maxime aufgenommen wird, werden bedingte Zwecke zur Bedingung des unbedingten Zweckes des Guten gemacht. Das Sittliche wird pervertiert, nicht negiert. Das unbegleitete Böse kann keinen Menschen erfüllen. „Das Böse als Böses in sein Maxime aufzunehmen“ wäre die „teuflische Gesinnung“ (VI, 37) und ist als „Verbrechen der förmlichen (ganz nutzlosen) Bosheit“, „so viel wir einsehen“, „dem Menschen unmöglich“. „Und doch“ ist es „(obzwar bloße Idee des Äußerst-Bösen) in einem System der Moral nicht zu übergehen“ (VI, 322).20 Die von Kant gezogene Grenze der moralischen Leistungsfähigkeit ist selbst begrenzt. Ihr Negativismus ist nicht absolut, der schlechthin böse Wille erklärte zu viel. Diese „boshafte Vernunft“, die „sich den Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder macht“, ließe aus dem menschlichen Subjekt den „Teufel“

im Verstande, sondern besteht in der Triebfeder des Willens. […] Die Unsittlichkeit der Handlung besteht also nicht in dem Mangel des Verstandes, sondern in der Pravität des Willens oder des Herzens.“ (Ethikvorlesung, 54) 19 Vgl. Ricoeur, Paul: „Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld“, Freiburg, München: Alber 1971, S. 172. Aber es gibt keinen Zustand der Urunschuld vor allem Menschlichen, wie Ricoeur annimmt. 20 Dieses Zitat stammt aus der Metaphysik der Sitten. Kant war sich wohl seiner „äußeren“ Dimension bewusst. Heute ist diese bloße Idee des Äußerst-Bösen schon „eingesehen“. Auch der Nutzen seiner Arbeit schützte den Juden nicht vor der Vernichtung. Auschwitz war so die „ganz nutzlose Bosheit“.

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werden (vgl. VI, 35). Dem widerspricht, dass der Mensch ein zweckbestimmtes Wesen ist. Sich lediglich negative Zwecke zu setzen, ist solchen schlechterdings unmöglich. Das Faktum des Hangs zum Bösen als „Abweichung von der Ordnung der Triebfedern“ ist nicht von gleichem Gewicht wie die Ordnung der Triebfedern selbst. Denn diese Abweichung ist lediglich unter der Vorgabe der Ordnung der Triebfedern möglich, weswegen die freie Willkür nicht „libertas indifferentiae“ (VI, 226) ist. Die Wahl des Bösen steht der absoluten Freiheit zweckbestimmter Wesen nicht zu, ansonsten müsste die Freiheit ihr eigenes Fundament in der Ordnung der Triebfedern vollständig negieren können. Dagegen ist das gegen die Freiheit nicht indifferente Böse bloße „Gegengesetzlichkeit“, damit Aberration der Selbstgesetzlichkeit des Menschen.21 „Sich als ein frei handelndes Wesen […] [und doch ungebunden durchs Sittengesetz zu sehen, d.V.], wäre so viel als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache vorzustellen, was sich widerspricht“ (VI, 35). Tatsächlich ist das Unwesen des Teufels für den Menschen reines Ideal im negativen Sinn. Verlöre der Mensch wirklich jeden Bezug auf das moralische Gesetz, verlöre seine Freiheit laut Kant jede Kausalität. Die gute Gesinnung ist Bedingung auch der Freiheit zum Bösen. Drei Stufen durchläuft die verderbte Gesinnung auf ihrem Niedergang bei Kant (vgl. VI, 29f.). Zunächst einmal die bloße Willensschwäche, die Gebrechlichkeit des menschlichen Herzens, die zur „Durchmischung“ der Triebfedern führt. Als nächstes die „Unlauterkeit“, die neben die moralische Triebfeder noch eine andere setzt, um das Pflichtgemäße zu erreichen. Beide sind lediglich „culpa“. Erst die dritte Stufe führt zur dolus, denn hier spricht die „Bösartigkeit“ und die „Verderbtheit der menschlichen Gesinnung“, welche durch ihre „Tat“ die Perversion des Sittlichen vollzieht. Diese Willkür verdient das Prädikat „böse“ (VI, 30). Der Ausdruck „Tat“ mag für eine Einstellungssache überraschen, sein Inhalt ist für Kant jedoch nötig, um den vollzogenen Hang zur Perversion des Sittlichen nicht gegen die Freiheit abzuschließen. Der Hang ist „intelligibele That“. Er drückt diejenige Art der Tat aus, „wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen“ (VI, 31) wird, und nicht die Tat im Sinne der Ausübung von Handlungen. Die Figur der intelligibelen Tat macht das Böse zwar denkbar, verunmöglicht aber gleichzeitig jede Erklärung des Phänomens. Ausgeschlossen ist endgültig die Sinnlichkeit als Ursprung des Bösen, eingeschlossen jedoch noch lange nicht der Vernunftursprung des Bösen. Paradox erscheint, dass die Tat ein Schaffen und ein Werden ist, die Vernunft sich aber bei Kant jede zeitliche Folge verbietet. Damit die Tat Reflexion des Intelligibelen in sich selbst sein kann, muss sie als zeitlos vergangenes Werden begriffen werden (vgl. ebd.). Schließlich stützt

21 In diesem Sinne unterstreicht Konhardt, dass mit der Ordnung durch Böses bei Kant noch keine Freiheit gemeint sein kann, die gerade darin besteht, zwischen Gut und Böse entscheiden zu können, denn „die Umkehrung einer Ordnung ist nicht schon selbst eine Ordnung.“ (K. Konhardt: Unbegreiflichkeit der Freiheit, S. 406)

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sich der Beweis der Freiheit im kosmologischen Verstand darauf, dass die Vernunft selbst nicht der Zeit unterworfen ist.22 Eine Tat, die nicht anhebt, etwas zu tun, ist jedoch keine. Dieser Widerspruch ist als solcher nicht zu begreifen, denn begriffen werden kann allein das, dem eine feste Identität zugrunde liegt. Dem Widerspruch kann sich der Begriff nie vollständig annähern, er weiß unter solchen Bedingungen nicht wohin mit seiner Adäquanz und muss seine Aufgabe der adaequatio rei verpassen. Das Böse wird bei Kant desto „unerforschlicher“ für den menschlichen Verstand, je tiefer es nach innen in die Gesinnung wandert. Der Hang ist Tat, die nichts tut, und die Verkehrung der Ordnung immer noch Ordnung. Dafür sind Hang und Verkehrung umso wirkungsmächtiger, schließlich ist der Hang zum Bösen bei Kant als peccatum originarium der formale Grund aller Laster (peccata derivativa) und bestimmt ein Wesen sein Menschenleben lang. Am Ausklang der Perversion des Sittlichen bei Kant steht das Böse als radikal verinnerlichtes dar. Übrig geblieben ist nur noch das malum morale in Gestalt einer intelligibelen Tat. Kant steht am Ausgang einer kulturellen Entwicklung der Abschaffung des Teufels.23 Der Böse ist toter, als es Gott sein könnte, umso vitaler ist jedoch das Böse, das die menschliche Psyche besetzt. Final steht es im tiefsten Inneren der intelligibelen Tat als eine starre Grundkonstante, die noch vor allen möglichen Prozessen der Gesinnung steht. Es ist fest verschlossen vor aller Erforschung durch einen äußeren Verstand, wie der Mensch ihn pflegt. Uns Menschen bleibt „die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) […], selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen.“ (III, B579) Offen steht es uns hingegen laut Kant, eine eigentliche Unmoralität unserer Gesinnung zu behaupten, welche zu einer Anzahl „schreiender Beispiele“ in der Erfahrung führt. Diese begründen das „Faktum“ der Perversion des Sittlichen. Wieder scheitert die Deduktion in die Faktumsbehauptung. Jedes Nicht-Moralische verlangt den sofortigen Ausstieg. Dagegen ist bei Kant der Hang zum Bösen in den Tiefen der menschlichen Seele verwurzelt. Der Ausstieg aus dem Bösen wird zum Tretmühlenlauf. Das Ziel vor Augen, ist es dennoch nicht zu erreichen. Man bewegt sich von der Stelle, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Das Kantische menschliche Böse erweist sich als prästabil gegenüber dem Austritt aus der Unmündigkeit, der Ziel der Anstrengungen des

22 „Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibeles Vermögen, ist der Zeitform und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen. Die Causalität der Vernunft im intelligibelen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen.“ (III, B579) 23 Kittsteiner hat diesen Verlauf nachgezeichnet und beschreibt ihn so: „Aus dem personalen Teufel wird ‚das Böse‘, ein psychologisch-philosophisches Prinzip nicht außerhalb, sondern innerhalb des Menschen.“ (Kittsteiner, Heinz Dieter: „Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert – Ein kulturhistorisches Ereignis und seine Folgen“, in: Alexander Schuller/Wolfert von Rhaden (Hg.), Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 55-94, hier S. 73)

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„aufgeklärten“ Subjekts ist. Es ist die „intelligibele Tat“, der stets entschiedene Scheideweg aller späteren Taten, und Gattungseigenschaft des Menschen, genau wie die angeborene Erbsünde. Es ist immerdar, zu allen Erdenzeiten, weil es möglich ist, solange der Mensch ist. Doch auch bei Kant gibt es Hoffnung. Um die sittliche Ordnung wieder zu errichten, muss der Mensch für Kant zunächst sein Verhalten durch „allmähliche Reformen“ seines Selbst aufbessern (vgl. VI, 47). Er „befestigt“ sich wieder, pflichtgemäß zu handeln. „Wiedergeboren“ im Guten wird der Mensch aber nicht durch Reform, sondern durch „Revolution“ seiner Gesinnung, welche die Moralität überhaupt wieder ins Spiel bringt. Dann wird das bloß pflichtgemäße Handeln zum Handeln aus Pflicht und damit „Gott wohlgefällig“ (vgl. ebd.). Der Mensch handelt entweder aus reiner praktischer Vernunft oder nicht moralisch. Es ergibt sich die radikale Antithese von Gut und Böse des Kantischen Rigorismus. Überschritten werden kann die Welt des Bösen lediglich im „Sprung“, indem das „Herz“ revolutioniert wird und die Achtung vor dem Gesetz wieder ganz von neuem aufgerichtet wird. Die unbedingte Geltung des Sittlichen lässt sich allein so zurückbringen. Wie es zu einer solchen Zwangslage kommen kann, dass eine Revolution nötig wird, darüber schweigt Kant weitergehend. Auf die Frage nach dem Grund einer solchen Revolution der Gesinnungsart wiederholt er nur, dass sie in jedem Fall möglich sei, was eine modal unbefriedigende Antwort ist. Entscheidungen aus dem Nichts der Wirklichkeiten sind nicht minder reine Willkür. Kant verlässt sich hier zu leicht auf die Überzeugungskraft der reinen Moralität. „Denn wenn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich: wir müssen es auch können.“ (VI, 50) Am Ende seiner Theorie des „radikal Bösen“ ist das angeborene Böse nach Kant in der „moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch“ (ebd.). Deren Pflichtgesetze haben auch ohne es dieselbe Überzeugungsgewalt. Gebraucht wird es in einer „moralischen Asketik“, welche feststellt, dass der Mensch nicht als von Natur aus unschuldig gelten kann, damit Moral möglich ist. Gegen die „Bösartigkeit“ etabliert die Asketik die Gegenwirkung zum Guten. „Die Cultur der Tugend, d.i. die moralische Ascetik, hat in Ansehung des Princips der rüstigen, muthigen und wackeren Tugendübung den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren.“ (VI, 484) Der Schein entsteht, dass das Wirken des moralischen Gesetzes im Menschen lediglich dann erreicht ist, wenn dieser zum Stoiker wird. Das Böse diszipliniert ihn, so dass er sich nicht von „Äußerlichkeiten“ stören lässt. Durch es wird Kant verleitet, die Autonomie zu verlassen und sich wieder dem Freiheitsbegriff der Alten zu überantworten, nach dem man so weit frei ist, wie man es vermag, sich von der Sinnlichkeit zu lösen. Mit der Fähigkeit, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, ist die Freiheit, die ihr Heil in der Flucht sucht, nur entfernt verwandt.

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Bei Kant sollte die Freiheit durch nichts außer sich selbst motiviert sein. Radikaler als als praktische Vernunft, die bloß rein die Freiheit schafft, ist menschliche Selbstbestimmung kaum vorstellbar. Ursprünglich gibt es für Kant auch keine Wahl zu dieser Selbstbestimmung. Er klammert explizit gesellschaftliche Hintergründe aus, geht es darum zu entscheiden, ob reine praktische Vernunft überhaupt vernünftig sein kann. Es gibt keine Situation für das Freiheitswesen, in welcher es vernünftig wäre zu lügen – nicht einmal als Gefangener im KZ. Die Reinheit der praktischen Vernunft verführt Kant zur moralischen Asketik und zum Stoizismus. Am Anfang der praktischen Vernunft steht die Mobilmachung des kategorischen Imperativs gegen jede Form der Unfreiheit. Das Sittengesetz steht ohne Ausnahme gegen praktische Zwecke. Am Ende der praktischen Vernunft steht die Reduktion des Menschen, wenn das moralisch Gute nicht mehr Grund der Selbstbestimmung bei Kant ist, sondern Grund, sich anzupassen. Hier wird Kants Pflichtenlehre zu dem, als was sie verschrien ist. Sie wird Unterwerfungslehre, bloß besagend, dass man sich höheren Gesetzen zu unterwerfen habe. Hegel wird später Kant dafür kritisieren. Bekannter ist Nietzsches Polemik und Destruktion Kantischer Freiheitskonstruktionen. Selbstbestimmung ist bei Nietzsche Selbsterschaffung, die nicht moralisch ist. Nietzsche leitet nun ein in Freiheitslehren, die nicht rein moralisch fundiert sind und daher das Böse anders sehen.

Di e an ti-po litis che Aufh e bung des Gu ten be i Nie tz sche

Da die Freiheit zumindest mit Kant moralisch scheinbar nicht zu halten ist, sind dessen mehr oder weniger philosophischen Nachfolger auf die Idee verfallen, es mit anderen Basen für die Freiheit zu versuchen. Nietzsche ist der radikalste unter ihnen, denn Freiheit soll bei ihm nicht nur nicht moralisch verstanden werden, sondern durch den Gegensatz zur moralisch verstandenen aufgebaut werden. Nietzsche beendet die Epoche der Aufklärung in der praktischen Philosophie, weil ihm deren Versuch, die Freiheit durch die höchstmögliche Ratio zu begründen, nicht ausreichend erschienen ist. Für seine Kritik ist klar, dass das Ende der Moral kein Ende der Freiheit bedeutet, und wie kein anderer vor ihm geht er daran, die Fundamente des Einverständnisses in der Moral abzutragen. Für Nietzsche ist die seine Zeit beherrschende Moral unmoralisch. Nietzsche räumt auf. Das bedingt, dass es Spaß bereitet, ihn zu lesen, wenn man sich einmal an seine Übertreibungen gewöhnt hat. Der Anfang Nietzsches liegt im Ende der praktischen Philosophie. Nietzsche beendet die alte Aufklärung, diese in deren Versöhnungsvorstellungen ernst nehmend. Er befragt ihre praktischen Momente auf deren Grundlagen im lebendigen Menschen und findet keine. Ein selbstbestimmtes Leben ist nach Nietzsche nicht nur ohne idealistische Moral möglich, sondern nur gegen diese. Er setzt über in die Negation der praktischen Philosophie überhaupt, mindestens aber ihrer alten Gestalt, wie sie der deutsche Idealismus paradigmatisch aufgestellt hat. Daher zählt man Nietzsche zu den Immoralisten. Amoralist ist er jedoch nicht.1 Er hat umgewertete Werte gewollt, d.h. eine andere Moralität. Der Moral wird bei Nietzsche „aus Moralität“ 1 Vgl. Ottmann, Henning: „Philosophie und Politik bei Nietzsche“, Berlin, New York: de Gruyter 1987, S. 213ff.

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das „Vertrauen gekündigt“.2 Für ihn ist die Freiheit keine ausgemacht moralische Angelegenheit. Das Subjekt sollte frei auch von der Moral sein, um frei zu ganz anderem zu werden. Keine innere Einheit zwischen Absicht, Imputabiltität und Handlung sollte sein, wie es eine moralische Begründung der Freiheit des Einzelnen will. Keine Absicht begründet mehr den Wert einer Handlung, sondern diese ist selbst lediglich Symptom grundlegenderer psychischer Prozesse. Sie zeichnet nicht die Handlung als Besonderes aus, sondern ist eine von deren Eigenschaft unter vielen und beweist nicht Freiheit, sondern das Wirken des „Lebens“ in den Handlungen. Wird die Absicht depraviert und ihr Alleinvertretungsanspruch der menschlichen Freiheit desavouiert, stirbt die Moral. Dass Nietzsche das „Problem der Moral selbst“3 und nicht irgendwelcher bestimmter Moralansichten aufspürt, darin liegt sein Immoralismus. Weil eine inhumane Moral überwunden werden soll, wird die Argumentation in Nietzsches moralkritischen Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral nicht amoralisch. Nietzsches Angriff erschüttert die Kantische Burg der Moral, deren Selbstgewissheit, mit ihr müsse auch die Freiheit sterben. Sein kategorischer Imperativ jenseits von Gut und Böse formuliert die Selbstermächtigung des Subjekts auch über seine moralischen Tugenden: „Du sollst Herr über Dich werden, Herr auch über deine Tugenden.“4 Eine solche Aufgabe kann der praktischen Philosophie nur als Rätsel erscheinen. Ihr liegt die Bestimmung des Menschen gerade in dessen Eigenschaft, moralisches Wesen zu sein. Nietzsche wird mit einer Konzeption überzeugen müssen, welche für das Individuum Selbstbestimmung etabliert, ohne hinter die Einsichten der kritischen Philosophie zurückzufallen. Er sieht sich an der Zeit, der in den letzten Zügen liegenden moralischen Dogmatik den Todesstoß zu versetzen und kämpft gegen die vorherrschende contradictio in adiecto, gegen die unmittelbare Gewissheit, dass eine Moral für freie Menschen Not tue. Moral ist nach Nietzsche das, was nicht selbstverständlich ist. Vielmehr ist sie selbst zu bewerten und die Frage nach ihrem Wert für das „Leben“ zu stellen. Nietzsche versucht die andere Perspektive zu allen Moralwissenschaftlern vor ihm und schreibt von daher eine Wissenschaft der Moral, die sich dem Problem der Moral selbst stellt. Hier wird das moralische Selbstverständnis einer Epoche namens (deutsche) Aufklärung mit dem Wirklichen der Moral kritisiert und so deren Brutalität in den Augen Nietzsches aufgedeckt. Mit der Destruktion der Moral will Nietzsche nicht einfach auf einen Mangel an gedanklicher Durchdringung bei den Aufklärern hinweisen, sondern deren 2 Nietzsche, Friedrich: „Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile“, Stuttgart: Kröner, 1964, Aph. 4. 3 Nietzsche, Friedrich: „Jenseits von Gut und Böse“, in: ders., Werke, München, Wien: Zweitausendeins 1981, Aph. 186. 4 Nietzsche, Friedrich: „Menschliches, Allzumenschliches“, in: ders., Werke, München, Wien: Zweitausendeins 1981, Vorrede, Aph. 6.

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Fundamente abbauen. Für ihn musste die Aufklärung scheitern, was sie dementsprechend auch immer dann tat, wenn die Frage nötig wird, wie grausames Leid beim heutigen Stand des menschlichen Geistes noch möglich ist. Um die Leerstelle der Moral für das Leben zu schließen, setzt Nietzsche in diese die „wirkliche Historie der Moral“5 ein, die Genealogie. Deren Gegenstand ist, wie Menschen wirklich handeln und leben, und sie selbst behandelt die „Sittlichkeit der Sitte“.6 Nietzsche demontiert das allzu idealisierte Selbstverhältnis der Moral in Wissenschaft und Alltag, indem er es mit seiner (geschichtlichen) Wirklichkeit konfrontierte, deren Beispiele sich der idealistischen Typik entzogen. Die Behauptung universeller Geltung wird von ihm am partikularen Ereignis relativiert und historisch lokalisiert. Durch die Kulturen der Welt zeigt sich für Nietzsche, wie relativ das Absolute der Moralen ist. An jedem Ort wird es entsprechend der sozialen und geographischen Situation anders genommen. Die Kultur des Abendlandes sei charakterisiert durch „jüdisch-christliche Moral“ und „MoralTaranteln“ wie Rousseau. Dem Genealogen enthüllt sich die zu seiner Gegenwart herrschende Moral als modus vivendi der Schwachen. Es hat einen Sklavenaufstand gegeben gegen die Tugenden der Starken und Herren, der Christentum heißt. Dieses ist in der Geschichte Aufstand der Moral gegen deren eigenen Grund im „Edlen“ und „Starken“ traditioneller Tugenden. Seither soll der Starke die Wahl haben, auch nicht stark zu sein. Nietzsche zufolge ist die intelligibele Freiheit eine „Fabel“.7 Es gibt für ihn weder ein christliches Mitleid noch eine vollständige Zurechenbarkeit der Handlungen zu einem Subjekt.8 Lediglich ein Moralismus, der die „Tatsachen des Lebens“ entwerten will, übersieht laut Nietzsche, dass der Mensch in seinen Handlungen durch anderes bestimmt ist als durch die Form der Unabhängigkeit der eigenen Gesetzgebung, wie es die Moral will. Grundlegend ist das menschliche Leben, das durch einen Willen zur Macht bestimmt ist. Moralische Eigenheiten wie das Mitleid zeigt der Mensch bei Nietzsche einzig und allein, um Macht über den Bemitleideten zu gewinnen. Hinter jeder Moral steckt die Negation des Wollens des Anderen und nicht, wie das Mitleid glauben machen will, die Affirmation desselben. Die Nietzschianische Wirklichkeit ist bestimmt nicht durch den Gegensatz von freien und unfreien Willen, sondern durch den Gegensatz von „starken“ und „schwachen“ Willen. Die Natur muss nicht durch den freien Willen überwunden werden. Die Autonomie des Einzelnen steht nicht im Gegensatz zu seiner Abhängigkeit von seiner eigenen Natur und der Natur außerhalb seiner selbst. Im Gegenteil verbindet die Natur den Menschen erst mit seinem Willen, der das Le-

5 Nietzsche, Friedrich: „Genealogie der Moral“, in: ders., Werke, München, Wien: Zweitausendeins 1981, S. 215. 6 F. Nietzsche: Morgenröte, Aph. 9. 7 F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Aph. 37. 8 Vgl. ebd., Aph. 18.

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ben leiten soll. Nicht die Intelligibilität bewegt für Nietzsche den Willen, sondern die Macht, die jeder für sich erreichen will. „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts außerdem.“9 Moral soll in der praktischen Philosophie das Leben verneinen und ist für Nietzsche in Wahrheit doch nur Ausdruck von dessen Grundlegendem, dem Willen zur Macht. Das Leben kennzeichnet ein Wille zur Macht und die Durchsetzung des Starken, nach denen der Starke keine Wahl hat, auch nicht stark zu sein. Nietzsche hat Mitleid mit den Bemitleideten, wenn sie zu bloßen Objekten von Moraltaranteln werden. Sein Gegenmittel ist das „Pathos der Distanz“.10 Immerhin das habe der Extremist der intelligibelen Freiheit Kant ähnlich gesehen. Nietzsche respektiert an diesem, dass er sich stets gegen das Mitleiden als Triebfeder des Moralischen zur Wehr gesetzt habe und eine Moral des allgemeinen Respekts habe, nicht unbedingt der gegenseitigen Rücksicht. Der Andere soll nach Nietzsche als Anderer überhaupt respektiert werden. Nietzsche amüsiert sich hingegen über den „Moralismus“ Kants.11 Moralismus heißt für Nietzsche, dass ein der Natur entgegengesetztes „moralisches Reich“ erfunden wird, wo die intelligibelen Welten der Vernunft mit sich allein sein können und in dem die Werte entgegengesetzt werden.12 Das Gute wird in solcher Denkform als Abwesenheit des Bösen definiert, und rigoros wird die Moral entweltlicht. „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werte.“13 Nach Nietzsche darf man daran zweifeln, denn für ihn gibt es kein Reich der unbedingten Zwecke, entgegengesetzt dem irdischen Reich der bedingten Zwecke. Nietzsche verweigert sich der praktischen Philosophie überhaupt, denn sie sei lebensfeindlich. Ist der Blick auf das Leben der Menschen gerichtet, gibt es das Gute oder die Vernunft nicht im Singular, weil beide Gewordenes sind. Eine a priori auf Vernunft gegründete Republik der Moral hingegen ist geschichtslos. Wird diese mit einer werdenden Welt kontaminiert, muss sie zerfallen. Nietzsche legt dar, wie unbestimmt gegen das Böse dasjenige Gute ist, das sich allein aus der verabsolutierten Selbstbeziehung des Willens ergibt, um Nicht-Bedingtheit zu erreichen. Nietzsche beendet die Kantische Aufklärung. Kants Moraltheorie wird die höchste Unmoralität in ihrem höchsten Begriff, dem Guten, vorgeworfen, da es kein moralisches Kriterium geben könne, welches ein absolut Gutes von einem absolut Bösen unterscheiden hilft. Erst wenn man die Identifizierung der Freiheit mit der moralischen Freiheit verlassen hat und sich einem Relativismus in Fragen der menschlichen Werte geöffnet hat, wird man nach Nietzsche das Leben schätzen können. Gegen die Mo9 F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 36. 10 F. Nietzsche: Genealogie, S. 312. 11 Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: „Nietzsches Moralistik“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 875. 12 Vgl. F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Aph. 1. 13 F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 2.

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ral ist das Schlechte in der Welt nicht zu verteufeln und eine unbarmherzige Front gegen es aufzubauen, sondern durch die Übel ist die Welt zu bejahen. Andernfalls ist das Leben als Wille zur Macht nicht zu bejahen. Gut und Böse sind rein relative Begriffe und existieren nicht an sich. „Zwischen guten und bösen Handlungen gibt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades.“14 Dies beweist das simpelste Ergebnis der Moralgeschichtswissenschaft, nach dem aus dem Guten Böses gedeihen kann und umgekehrt. Sonst, so sagt Nietzsche, hätte es wohl niemals Gutes geben können. Er verspottet den „moralischen Fanatiker“, „welcher meint, dass das Gute nur aus dem Guten wachsen könne“.15 Die generalisierende Perspektive der Moral ist zu verlassen. Jeder soll and kann für sich selbst entscheiden, was gut und was schlecht für ihn ist. Der Mensch bemisst die Dinge zu ihren Werten für seine Macht. Daher heißt er bei Nietzsche der „Schätzende“. „Werte legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich ‚Mensch‘, das ist: der Schätzende.“16 Schätzend, nicht autonom geht der Mensch seine Moral an, von denen es nie bloß eine reine gibt, sondern so viele, wie es Menschen gibt. Weil sich jedes Gut und Böse für jeden Menschen anders ergibt, existiert für Nietzsche kein radikal Böses. Dies ist mit Kants Autonomie untergegangen.17 Die Dogmatik liegt Nietzsche gemäß in den letzten Zügen durch die menschlich-allzumenschlichen Tatsachen des Lebens. Der dogmatischste aller Irrtümer ist für ihn Platons Erfindung vom Guten an sich und vom reinen Geist. Radikal wird von Nietzsche mit der Gemeinschaft von Gutem und Wahrem in der praktischen Philosophie aufgeräumt. Sein Gutes erhöht den Willen, das Gefühl zur Macht im Menschen, also die Macht selbst. Schlecht ist, was der Schwäche folgt.18 Der Stärke schließen sich die Individuen an, denn sie sind stark, nicht ihre Werte. Dass den Wert einer Handlung bei Nietzsche ausmacht, wie ausgeprägt individuell sie ist, macht seine „Personalethik“ (Reininger) aus.19 Nicht die Erhabenheit der Handlung ist zu schätzen, sondern die Stärke der Individuen, die tatkräftig sind. „Eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut.“20 Die Stärke einer Tat lässt sich durch kein objektives Gesetz bemessen, sondern ist radikaler Ausdruck der Qualitäten des Selbst, das 14 15 16 17 18

F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Aph. 2. F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, Aph. 70. Ebd. Vgl. C. Schulte: Böse, 316. Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Der Antichrist. Fluch auf das Christentum“, in: ders., Werke, München, Wien: Zweitausendeins 1981, Aph. 2. 19 Bedenkt man Nietzsches Hang zum Individuum, muss es absurd erscheinen, in ihm den Vordenker des Nationalsozialismus sehen zu wollen. Gemeinschaft gleich welcher Art, die nicht aus der Selbsterschaffung der Individuen folgt, war ihm ein Graus. In Nietzsches Individualismus ist kein Platz für Nation oder Rasse der Nazis. 20 F. Nietzsche: N10[47].

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hinter ihr steht. Nicht alle zusammen sind stark, sondern jeder Einzelne je für sich. Schafft man es, sich über sein moralisches Gefängnis hinwegzusetzen, wird man sich selbst neu erschaffen können und wissen, dass die eigene endliche Existenz das ist, was im Leben zählt. Als Zwang gegen die menschliche Natur, gegen die Äußerlichkeit des Menschseins, ist für Nietzsche die Kantische Moral falsch.21 Nicht, weil sie überhaupt mit Zwang wirkt, sondern weil dieser das falsche unterstützt. Es wird durch sie die Selbsterschaffung der Vernunft gestützt, nicht die des menschlichen Lebens und dessen Willens zu Macht. Die Starken stehen bei Nietzsche über den Dingen und Menschen. Kants Moral gründete zumindest in Vernunft, welche allen Menschen zukommt. Daher rührt der „Republikanismus“ seiner Moral, der Voraussetzung einer gerechten politischen Ausrichtung ist. Er stellt die Menschen insoweit als gleich aus, als dass sie alle dieselbe Freiheit haben und keiner über dem anderen steht. Nietzsche will gerade bezüglich der Spontaneität die Menschen besondern. Die Authentizität kann nicht allen Menschen in gleicher Weise anhängen und soll es auch gar nicht. Sie ist besondere Eigenart weniger. Bei Nietzsche bildet sich daher eine Elite des Praktischen. Die Idee der Gleichheit noch der Chancen ist für Nietzsches Freiheit undenkbar. Diese ist deswegen nicht nur unpolitisch, sondern anti-politisch, weil sie ein Recht der Stärkeren ist. Schon Platons Sokrates hat Thrasymachos nachgewiesen, dass Politik nicht im Vorteil des Stärkeren bestehen kann. Schließlich kann jeder Starke auch irren über das, was für ihn von Vorteil wäre. Ist er unkontrolliert, kann sein Regieren im Widerspruch zur Voraussetzung von Thrasymachos auch zu seinem Nachteil und zur Auflösung des politischen Gemeinwesens führen, das allein auf dem Vorteil der Stärkeren aufbaut.22 In der Kritik der unmöglichen Position des moralisch Guten trifft Nietzsche Kants praktische Philosophie ins Herz ihrer eigenen Unvernunft. Er missversteht aber die Grundkonzeption der Freiheit, die diese zu einer Notwendigkeit und Tatsache des menschlichen Lebens macht. Die Freiheit ist gerade Zeichen der Spaltung des Menschen von der Natur und Anzeige des „Übermenschlichen“ im Subjekt. Selbst wenn dieses wollte, es könnte gar nicht in seinem Leben aufgehen, außer er braucht brachiale Gewalt. Um dies festzustellen, braucht es keinen Dualismus von freiheitlicher und natürlicher Kausalität, sondern lediglich das Faktum, dass Freiheit ist. Nietzsche greift allein Kants Autonomievorstellung an, übersieht aber, inwieweit Spontaneität überhaupt gültig ist. Denn diese ist vor der Moral, Bedingung der Möglichkeit des Denkens überhaupt, indem durch sie die Differenz von Denken und Sein bedingt ist. Weil die freie Selbsterschaffung Nietzsches weder Denken noch Wollen zulässt, ist sie apagogisch gesehen ein ästhetisches Konzept. Als Ausschluss der Anderen aus dem eigenen Selbst ist sie in einem schlechten Sinne anti-politisch. Nicht jeder Individualismus zeugt von liberaler Gesinnung. 21 Vgl. F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 188. 22 Vgl. Platon: Politeia, 338a ff.

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Nietzsche will das Selbst frei machen von allen Zwängen der theoretischen und praktischen Vernunft, welche es für ihn gefangen halten. Wenn man diese Tabula rasa des Geistes schon nicht um des Guten und Wahren willen von einem Selbst fordern kann, so doch um der „Ästhetik der eigenen Existenz“ zur Ehre zu gereichen, wie es der späte Nietzsche getan hat. Den Begriff Ästhetik verwendet dieser nicht im Sinne der Lehren vom Schönen, sondern der „Selbstgestaltung“ (Schmid). Moral und Ästhetik verknüpfen sich in Nietzsches Werk in der Lebensgestaltung. Die Ästhetik belebt das Leben, und die Moral stellt es richtig.23 Bei Nietzsche wird sich auf das hehre Ideal der Schönheit berufen, das ganz unsozial und individuell genommen wird, um jeden Menschen zu vereinzeln und von seinen Anderen zu separieren. Nietzsches politischer Zorn richtet sich gegen „arbeitsame Demokraten“ und „Bruderschafts-Schwärmer“ namens Sozialisten, welche die „autonome Herde“ wollen und nicht die „Begriffe ‚Herr‘ und ‚Knecht‘“ affirmieren.24 Politische Kultur ist für ihn dort, wo eine Elite (mit Gewalt) herrscht und die Herde zurückhält. Demokraten sind für Nietzsche nicht allein „Verfalls-Formen“ des politischen Menschen, sondern des Menschen überhaupt.25 Mit Gott, dem großen Gleichmacher, stirbt bei ihm die Gleichheit unter den Menschen, die Bedingung des demokratischen Tuns ist. Mit dem „Übermenschen“ stirbt das Herdentier, der Mensch, der in erster Linie gleich mit anderen ist und der es zur lohnenden Aufgabe macht, über Politik nachzudenken. Der „Sozialindividualismus“ eines Nietzsches erscheint als einer, der immer da und an sich fertig ist und nicht mit anderen zusammen geschaffen werden muss. Deswegen ist der Raum des Politischen für Nietzsche kein Problem über die Kritik seiner Gegenwart hinaus, denn die Menschen leben an sich zusammen. Allein wenn man die „Herde“ „zusammen-addieren“ will, kommt man zu Gedanken über „Verfassungen“ und Verträge, die solche konstituieren.26 Nietzsche schließt die Aristotelische Poesis des Politischen aus. Erlöst aus solchen Zuständen wird die Geschichte bei Nietzsche durch das Wirken großer Männer wie Napoleon oder Cäsar zum „schönsten Ausdruck“ derselben.27 Diese bringen Bewegung in die Trägheit der „Schwachen“, und durch „Gegensatz und Krieg“ reizen sie zu „Selbst-Beherrschung, SelbstÜberlistung“.28 Nietzsches größte Furcht für die Zukunft ist, dass sich die Herde mit ihrem „ewigen Frieden“ durchsetzen könnte. Darin sieht er die Geschichte 23 „Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivität ruht alle Ästhetik, sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als der entartete Mensch […]. Sein Gefühl der Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz – das fällt mit dem Hässlichen, das steigt mit dem Schönen […]“ (Nietzsche, Friedrich: „Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert“, in: ders., Werke, München, Wien: Zweitausendeins 1981, §20). 24 Vgl. F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 202. 25 Vgl. ebd., Aph. 203. 26 Vgl. ebd., Aph. 199. 27 Vgl. ebd., Aph. 199f. 28 Vgl. ebd., Aph. 200.

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stillgestellt, denn ihr fehlt der Beweger. Dass der Mensch auch ohne Übel zu Besserem geführt werden könnte, erscheint ihm mindestens unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen. Zu einer Überforderung wie der ästhetischen Selbsterschaffung nach dem Rezept von Nietzsche muss der Mensch gezwungen werden. Die Macht bestimmt das Leben. Nietzsche betont immer wieder die Bewegung der Subjekte und die Geschichte derselben und entdeckt doch in diesen stets nur den Willen zur Macht wieder. Sein stetes Werden ist „ewige Wiederkehr des Gleichen“29, weshalb auch die Übel nie verschwinden und das „Böse“ selbst den Menschen zu immer Neuem antreibt. Erlösung verbietet Nietzsches Philosophie selbst dem Übermenschen. Leiden wird so sinnlos, denn es muss sein und kennt kein Ende.30 Politik ist mithin nicht allein jeder allgemeine Träger bei Nietzsche verstellt, sondern auch jedes Ziel, denn gemeinsame Freiheit der Menschen ist ihr untersagt. Was in dem Politischen als frei gelten kann, erklärt sich gegen Nietzsche aus der Unfreiheit, die sie zu überwinden und nicht zu bestätigen sucht. Zumindest ihrem Anspruch nach ist Politik ein aktiver Prozess und befreit die Menschen. Nietzsche sieht dafür keinen Bedarf, weil er keine Unfreiheit sieht, sondern nur Willen, die sich gegen andere durchsetzen können oder auch nicht. „Der ‚unfreie Wille‘ ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich um einen starken und schwachen Willen.“31 Mit solchen Aussagen erscheint der „Gegensatz der Werte“ der Moralisten, die zumindest die Negation der Freiheit kannten, humaner als die Zuwendung zum Leben, die alles in einen allgemeinen Fluss der Starken und Schwachen verschwinden lässt. Herrschaft wird bei Nietzsche allein insofern aufgelöst, weil sie radikal alles sein soll und es nichts mehr außerhalb von ihr gibt.32 Sie ist damit zynische Tatsache und Notwendigkeit für die Freiheit. Nietzsche will keine Politik; seine eigene Systematik der Kriegsführung gegen die praktische Philosophie der Aufklärung verbietet ihm dies. Der unfreie Wille ist für ihn Mythos, weil er auch keinen freien Willen in der Welt anerkennt.33 Nietzsche negiert den Willen, indem er ihn verallgemeinert. Alles ist Wille zur Macht, auch jeder Einzelwille. Herrschaft wird zementiert, weil alles andere am Leben vorbeiginge. Wenn die Macht lediglich Leistung des Selbst sein und in dessen Authentizität gründen soll, gerät die Macht als über den Subjekten wirkendes 29 Nietzsche, Friedrich: „Also sprach Zarathustra – Ein Buch für alle und keinen“, in: ders., Werke, München, Wien: Zweitausendeins 1981, S. 698f. 30 Vgl. C. Schulte: Böse, 317f. 31 F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 21. 32 Nietzsche muss man daher kritisieren, „wenn sich die Entlarvung des Zusammenhangs von Moral und Herrschaft letztlich – mit innerer Notwendigkeit – auch als Instrument der Verherrlichung eines Zustandes herausstellt, der nur noch Herrschaft und keine Moral mehr kennt.“ (Schweppenhäuser, Gerhard: „Nietzsches Überwindung der Moral. Zur Dialektik der Moralkritik in ‚Jenseits von Gut und Böse‘ und in der ‚Genealogie der Moral‘“, Würzburg: Königshausen und Neumann 1988, S. 12f.) 33 „Wenn alles Wille ist, dann gibt es keinen im emphatischen Sinne freien Willen – aber auch keinen unfreien Willen.“ (G. Schweppenhäuser: Nietzsche, S. 45)

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Phänomen aus dem Blick. Man ist nicht von ihr betroffen, sondern schafft sie selbst und nimmt gleichmäßig verteilt an ihr teil. Davor wird man auch nicht durch eine schönere Existenz gerettet. Wer Herrschaft nicht will, für den hat Nietzsche bloß Hohn und Spott übrig, was so weit geht, dass jeder Abbau derselben von ihm abgelehnt wird. Der Mensch muss einer ständigen Spannung unterstellt werden, um sich selbst zum „Übermenschen“ zu überwinden. Politik bleibt so als reines Zwangssystem übrig, für das Herrschaft nicht nur kein Problem darstellt, sondern gerechtfertigtes höchstes Ziel ist, um den Menschen zu seinem wahren Selbst zu bringen. Politik und Emanzipation sind dem Authentizitätswahn verstellt, denn niemand ist gleich authentisch, auch Zarathrustras Gefolgsleute nicht. Gemeinschaft unter diesen ist allein der Gewalt ihres Führers zu verdanken. Politisch gesehen hat Nietzsche wohl kaum die Aufklärung beendet, denn er hat seine Kritik an der praktischen Philosophie eines Kants nicht zur Politik erweitern wollen, sondern gegen diese. Zu Recht polemisiert er gegen die moralistische Weltanschauung: „Moralisch ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch.“34 Das Gute, das sich in einer heteronomen Welt behaupten muss, kann nicht richtig sein. Es schlägt, wie an Kant dargelegt, ins Böse um. Nach Nietzsches Ausführungen über die Herrschaft muss man allerdings sagen, dass er die eine falsche Welt mit einer anderen substituiert hat. Er hat seine richtige Kritik daran, dass die praktische Vernunft eines Kant sich die Welt verbietet, nicht dahingehend ausgedehnt, zu fordern, dass auch die Objektivität der Vernunft gemäß zu gestalten ist. Sein Faktum für die Welt und die Vernunft sind die Zwänge des Lebens der Starken und Schwachen. Das Leben im Allgemeinen ist sicherlich Bedingung der Freiheit, aber warum es gerade durch Stärke und Schwäche durch die Geschichte hindurch bestimmt sein soll, ist eine unzulässige Verallgemeinerung, die als solche ideologisch gefährlich erscheint, wenn sie den Menschen Vorgaben über die eigene Daseinsgestaltung geben soll. Mit Nietzsche ist keine Politik zu machen, Hegel scheint sich hier eher anzubieten, denn sein Credo ist es, dass die menschliche Welt zu produzieren und nicht hinzunehmen ist, was man auch verändern kann. Hegel sieht in der Moral den Versuch der Menschen, sich aus der äußeren Welt in eine bessere, innere Welt zurückzuziehen. Er zeigt, dass dieser Rückzug keine bessere Welt hervorgebracht hat, sondern nur eine noch gefährlichere. Der absolute Idealismus dehnt aber im Gegensatz zu Nietzsche seine Kritik und Genealogie der Moral nicht über, indem deren Grundlagen komplett ausgetauscht werden sollen. Freiheit wird von ihm weiter in ihrem Zusammenhang mit der Vernunft begriffen, und in der reinen Selbsterschaffung sieht Hegel vor allem den Abgrund des Menschseins verborgen. Er will mit seiner Kritik an der Moral Politik vorbereiten, ohne letztere abzuschaffen. Vorzüge seiner Kritik der Moral 34 Nietzsche, Friedrich: Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, in: ders., Werke in 3 Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 3, München: Hanser 1981, S. 541.

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sind, dass er erstens nicht weniger radikal als Nietzsche auf deren Missstände aufmerksam macht, dass er zweitens nicht weniger phänomenal vorgeht und vor allem, dass er drittens die Vorzüge des Republikanismus in Fragen der Freiheit durch die Moral retten will. Hegel will mit seiner Morallehre den Grund der menschlichen Autonomie in Spontaneität und Vernunft stärken und nicht durch eine Lebensphilosophie überholen. Sein oft als lebensfeindlich gehandelter Idealismus ist deswegen viel lebensfreundlicher als der Elitismus eines Nietzsche.

Hege ls Moralkritik – Vorsi ttli ches Gu tes

Hegels eigene Morallehre ist lediglich eine, versteht man sie als Lehre über die Moral. So werden in den Kapiteln zur Moralität in der Rechtsphilosophie dem Menschen keine positiven Anleitungen gegeben, wie er zu leben habe, sondern es wird die Reduktion der Freiheit auf einen Teil der Moraltheorie kritisiert.1 Hegels Moraltheorie ist vorwiegend Kritik der rigoristischen Moral. Ihm geht es nicht darum, Moral abzuschaffen, was man selbst seinem Nachfolger Nietzsche nicht unterstellen kann. Hegel will vielmehr die Moral in ihren eigenen Ideen ernst nehmen und ihr sodann zeigen, dass sie um dieser eigenen Ideale willen nicht bei ihren Voraussetzungen stehen bleiben darf. Er will nicht die Freiheitsidee hinter der moralischen Einstellung von Kant unterlaufen, sondern deren Momente von Unfreiheit. Moral hat bei Hegel wie das Recht ihren Platz in seinem umfassenden Befreiungsprogramm für die Menschen. Seit seinen frühen Tagen ist es jedoch um dieser umfassenden Befreiung willen sein Ziel, den Moralismus zu vermeiden, welcher die Sinnlichkeit der freiheitlichen und vernünftigen Verwirklichung des Menschen absolut entgegensetzt. Das moralische Gesetz soll nach Hegel keine Herr-Knecht-Beziehung im Inneren des Subjekts aufbauen. Klar muss sein, dass es eins ist mit der freien Selbstbestimmung des Menschen. Deren „Geist“ ist unteilbar, die Sinnlichkeit des Menschen ist auch nicht vom Modus der vollständigen Disjunktion von diesem zu trennen. Der „sittliche“ Mensch als höchstes Ziel der subjektiven Emanzipation bei Hegel vereinigt wieder Sinne und Intellekt und kritisiert den moralischen Menschen, der Knecht bleibt, welcher seinem Herrn

1 Später in der Sittlichkeit wird auch eine Pflichtenlehre entwickelt. Hegels Ethik findet sich also nicht unter dem Stichwort Moralität.

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bloß nicht mehr außerhalb seiner selbst dienen, sondern „in sich“ tragen soll (vgl. N, 266).2 Moralische Einheit sollte nach Hegel kein Unterordnen bedeuten, keine legalistische Beziehung auf ein wie immer geartetes Gesetz. Im §135 der Rechtsphilosophie kritisiert Hegel den Formalismus Kants, da dieser unfähig sei, einen Inhalt selbst zu bestimmen, sich selbst zu besondern. Es sei zwar wichtig, die reine, unbedingte Selbstbestimmung des Willens als Wurzel der Pflichten anzusehen, aber zugleich halte Kant fest an dem „bloß moralischen Standpunkt, der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht“ [Hervorhebung von mir, d.V.]. So kommt „die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen herunter“ (GR, §135). Solcher „leere Formalismus“ wird von Hegel angegriffen, um die Unmoral abzuwehren. De Sade, „Kants finsterer Doppelgänger“ (Safranski), ist Triumphator über die Freiheit des moralischen Standpunktes, indem er auslegt, dass gerade die Abstraktion von aller Interessenlage bestens zu nutzen ist für eigenste Interessen.3 Er ist letzte Konsequenz des moralischen Wollens, wenn dieses so weit innerlich geworden ist, dass allein die Selbstidentität des Willens mit sich zum Prinzip der Moral geworden ist. Die „Mordlust um der Mordlust willen“ objektiviert den Selbstzweck formal genauso gut wie die „Pflicht um der Pflicht willen“. Die Moral erklärt es so zu ihrem einzigen Prinzip, dass der Mensch in seinen Handlungen bei sich selbst ist, sich selbst Zweck ist und nicht bloß Mittel zu anderen Zwecken. Negiert ist das andere Moment des moralischen Willens, der affirmative Bezug auf Andere unter Referenz auf den allgemeinen Willen. Es ist gerade das „unbedingte pflichtgemäße“ Wollen, das die Unterscheidung in sich nicht mehr zulässt und nur noch sich selbst kennt. Soll eine Moral aber rational und widerspruchfrei sein, muss sie sich überprüfen lassen am Interesse Anderer, und das allgemeine Wollen muss sich bestimmen am Interesse des individuellen Wollens eines jeden.

2 So spricht der frühe Hegel, der ansonsten Kant so weit gefolgt ist wie kein Hegel mehr nach ihm und der die Lebendigkeit eines Subjekts unter dem Maß von dessen Fähigkeiten zu Vernunft und Moral bemisst (vgl. Kondylis, Panajotis: „Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802“, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 239). 3 De Sade erschafft in seiner Literatur ein Konträres zum Guten, das bis zu einem gewissen Grad im Einklang ist mit den Kantischen Mitteln, wie ein Gutes zu schaffen ist. Beide, Kant und de Sade, wollen die Herrschaft des Rationalen über die Sinnlichkeit. Wo bei Kant die Vernunft regieren soll, damit es moralisch zugeht, soll bei de Sade das rationale Kalkül eine Ökonomie der Ausschweifung schaffen. Letzterer setzt die Vernunft rationell ein, um Unvernunft zu schaffen. Er ist Konsequenz einer Dialektik der Kantischen Aufklärung, in der dieser mit der eigenen Waffe geschlagen wird, die allerdings bis zur Unkenntlichkeit verfremdet ist. „Juliette […] verkörpert […] amor intellectualis diaboli, die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen“ (Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: „Dialektik der Aufklärung“, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 114).

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Für Hegel ist nicht mehr der reine Wille autonom, sondern der, der nach anderem als sich selbst gestrebt hat. Erst dieser kann von sich ernsthaft behaupten, in sich selbst bestimmt zu sein und selbstbestimmt zu wollen. Im Wissen um das Wollen der Anderen kann er laut Hegel von seiner eigenen Autonomie wissen und ist dieser nicht als Schicksal der Freiheit ausgeliefert, wie sie bei Kant erscheint. Der Grund der Freiheit ist bei Hegel die Freiheit von Anderen. Freiheit ist für ihn die Wahrheit der Beziehung des Subjekts auf seine Welt unter der Vermittlung aller Anderen. Nur als allgemeiner ist der Wille auch frei, und aus seiner Allgemeinheit folgt seine Freiheit. Also muss, damit Freiheit systematisch gesichert ist, nicht allein angegeben werden, dass ein Allgemeinwille ist, sondern dieser muss darüber hinaus als Grund des Einzelwillens demonstriert werden. Andernfalls scheitert die Überlegung im Ansatz. Hegel hat dies erkannt und hat deswegen, weil er Freiheit wollte, den moralischen Standpunkt zur Freiheit verlassen, auf dem Einzel- und Allgemeinwillen für alle Zeiten getrennt erscheinen. Die selbstbestimmte Freiheit, die Autonomie muss nach Hegel wissendes Wollen der Anderen sein. „Nur dadurch, daß der Wille sich zum Denken wieder erhebt und seinen Zwecken die immanente Allgemeinheit gibt, hebt er den Unterschied der Form und des Inhalts auf und macht sich zum objektiven, unendlichen Willen.“ (GR, §13) Hegel führt den moralischen Standpunktgeist über sich selbst hinaus, indem er ihn beim Wort nimmt. Er stellt fest, dass dessen Moral selbst unmoralisch ist. Was das Gute bringen will, ist selbst als Prinzip nicht gut. Wer im Inneren seiner selbst nach dem Guten sucht, muss dieses zu einer Sache der Kontemplation erklären, wie bei Kant dargelegt. Das höchste Prinzip der Praxis wird unpraktisch. Erkennen und Verändern sind dagegen bei Hegel dem wahrhaft freien Subjekt eins. Im Innern der Gegenstände der Welt muss es seine eigene Aktivität des Denkens wieder erkennen. In der Reflexion auf dieses Erkennen wird erfasst, dass Ich ein Erzeugen ist. Das ist die reale Subjektivität, welche die Vernunft ist, wie Hegel sie denkt.4 Dieser fiele niemals ein, sich damit zufrieden zu geben, das Gute in der Kontemplation ihrer selbst zu suchen, weswegen es für Hegel auch kein Zurück mehr zu einer den Menschen vorgesetzten guten Ordnung gibt. Die Subjektivität ist bei Hegel die sich bewusst werdende Tätigkeit und keine Kontemplation. Sein Idealismus der Vernunft kennt zwar zunächst noch eine ihm gegenüber getrennte Welt (vgl. 9, 132f.), gewinnt jedoch gegenüber dem Bewusstsein eine positiv-produktive Beziehung zu dieser. Die Hegelsche Vernunft sieht in ihrer Umwelt keinen Feind an sich mehr, sondern erkennt sich selbst darin. Es liegt ihr nahe, zu fordern, dass sie auch Wirklichkeit werde (vgl. 9, 138). Dazu muss die Vernunft vor allem ihre Tendenz zum Solipsismus überwinden und das

4 Vgl. Düsing, Klaus: „Hegels Begriff der Subjektivität in der Logik und in der Philosophie des subjektiven Geistes“, in: Dieter Henrich (Hg.), Hegels Philosophische Psychologie, Bonn: Bouvier 1979, S. 201-214, hier S. 205.

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„geistige Tierreich“ durch den Bezug auf anderes Vernünftiges hinter sich lassen (vgl. ebd.). Damit ein sittlicher Staat gemacht werden kann, will Hegel den Moralismus und nicht die gesamte Moral vermeiden, denn der Reinlichkeitswahn, dem dieser folgt, kann nur in die Katastrophe führen. Freiheit muss um ihrer selbst willen etwas gelten und nicht als Bestätigung eines moralischen Gesetzes. Hegels Kritik an Kants Moralentwurf ist an einigen Stellen verkürzt, wo er sich auf einen starren Formalismusvorwurf an Kant versteift, denn auch Kant hat eine synthetische Einstellung zur Freiheit.5 Dies darf allerdings nicht dazu verleiten, Hegels Moralkritik zu verwerfen und ihm einen Rückfall hinter Kantische Einsichten vorzuwerfen. Hegel will nicht das Prinzip der Autonomie aufgeben, er will es retten, indem er es über dessen Solipsismus hinaus erweitert. Die reine Moral kann laut Hegel keine Freiheit liefern. Man muss sich mit der Empirie beschmutzen wollen. Er greift mit seiner Kritik der Moral die Gattung der Theoretiker der reinen Moral an, welche für ihn die Menschen in unhintergehbare Selbstwidersprüche stürzen. Verlegt man die Freiheit rein in die moralische Selbstverwirklichung, wird man den Menschen nicht bloß von seinem Glück abschneiden, sondern es ihm für immer verweigern. Moralistisch wird die Unmöglichkeit vorausgesetzt, ein guter Mensch zu werden. Das Sittengesetz ist eine Sollensgesetz für die nicht-heiligen menschlichen Willen. Da aber nur den rein Guten das Glück garantiert ist, wird somit jedem Menschen das Glück verweigert. Hegel setzt dagegen den radikalen Bezug auf den Anderen, der nicht nur die Moral ihrer Unwahrheit überführt, sondern auch offenbart, dass allein mit der Moral kein stabiles System der Freiheit aufgebaut werden kann. Dieser radikale Bezug auf den Anderen ist es, der mich von einer politischen Aufhebung der Moral bei Hegel sprechen lässt. Es weht bei ihm der Geist der Assoziation, die nicht die des Reichs der Zwecke ist. Hegels Freiheitslehre fragt unter dem Eindruck des seine Zeit beherrschenden Transzendentalismus nach den Grenzen der Moraltheorie. Sie findet sie in der Beschränkung der Freiheit, ein Zustand des einzelnen Subjekts zu sein. Die Morallehre lässt die Freiheit vor den Objekten flie-

5 Kants Konsequenz im Denken treibt ihn über seinen Formalismus in der Moral hinaus, weswegen schlechte Kritik an ihm schon in der Mitte seiner praktischen Grundlegungsschriften zu lesen aufgehört haben muss. Die formalen Forderungen von Widerspruchslosigkeit und Verallgemeinerbarkeit werden von ihm bemessen am Wollen aller anderen Menschen. Widersprüchlich und falsch ist eine Maxime, wenn man mit ihr nicht das Prinzip der Person im Menschen wollen kann. Die dritte Formel des moralischen Gesetzes aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (IV, 429) Hier wird die Person als ein Dasein dargestellt, das selbst absoluten Wert hat. Der Mensch ist Zweck an sich selbst, weil er das einzige Weltwesen ist, das Zwecke setzen kann. Er ist Grund der Zweck-Mittel-Relationen und nicht bloß Relatum in ihnen.

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hen, dafür kritisiert Hegel sie und setzt dagegen, dass die Freiheit in der rechten Beziehung des Subjekts auf seine Welt und andere besteht. Das Erstaunliche an Hegels Idealismus ist, dass dieser in einer gewissen Hinsicht Feind des Urhebers der idealen Welt ist, Feind des Subjekts. Ihm ist das Subjekt selbst Schein und nichts Grundlegendes, auch kein absoluter Halt, von dem aus sich eine Welt konstituieren ließe, sondern selbst Konstitutum. Es muss einstudieren, dass es in seiner unmittelbaren Gestalt ohne Bedeutung ist. Die Subjekte leben sich bei Hegel dahingehend aus, dass sie versuchen, einen konkreten Inhalt ihrer Zwecke aufzubauen, der die Freiheit unterstützt. So testen sie aus, wie sie sich als freiheitliche Wesen selbst erhalten können. Die wichtigste Phase dieses Prozesses ist der Aufbau eines „moralischen Standpunktes“, in dem sich das Subjekt, bedroht durch äußerliche Gefahren, in die eigene moralische Gewissheit zurückzieht. Diese moralische Selbsterhaltung bleibt für die Subjekte allerdings so lange ein Problem, wie sie sich lediglich selbst als Subjekte erhalten wollen. Einsam und abgeschlossen von der Welt ist eine allgemeine Sicherheit für die Freiheit nicht zu haben, stellt Hegel fest. Man muss sich schon den Anderen aussetzen, um frei sein zu können. Ist man mit seiner Freiheit nicht offen für die der Anderen, droht gar, dass die Freiheit selbst zur größten Gefahr für die Freiheit wird. Sie zerstört sich selbst, weil sie in sich das Vermögen trägt, nur das Einzelne und nicht das Allgemeine zu wollen, d.h. Böses zu bewirken. Das Subjekt ist Hegel noch nicht geistig genug. Um vollends Geist zu werden, benötigt das „Subjektive“ seinen Gegensatz: eine „Objektivität“. Fehler der Subjektivitätstheorien vor ihm (wie der von Kant) ist nach Hegel der Versuch gewesen, das Subjekt über dessen Einschluss in sich zu retten. Vielmehr müsse ihm beigebracht werden, mit dem ihm scheinbar Fremden umzugehen. Andernfalls drohe nicht allein der Untergang des Subjekts, sondern gleich der ganzen Welt, denn diese hat noch keine größere Gefahr gesehen als ein Subjekt, das sich allein in sich selbst gestützt glaubt. Es wird dann einem Standpunkt gefolgt, der schon über die Vernunft hinweg zu sein glaubt. Das moralisch Böse droht als Konsequenz des Ausschlusses der Welt. Es ist die Subjektivität falsch auf die Spitze getrieben, ohne allerdings den Weg zu verlassen, den die Subjektivität sich selbst vorgenommen hat, um zu ihrem Guten zu gelangen. Das Böse ist Folge der Moral, die sich die Subjektivität gegeben hat. Die drei Gestalten der „Idee“ in der Hegelschen Logik demonstrieren den Ausschluss der Welt, den ein solcher Vorrang des Subjekts impliziert. Zuerst tritt das Leben auf (vgl. 12, 173ff.). Dieses könnte verwundern, steht doch die Logik oftmals für das Kalte, Lebensfeindliche. Nicht jedoch für Hegel. Schon seit seinen frühen Tagen, in denen Leben und Liebe eine analoge Rolle zum späteren Geist spielten, sieht Hegel im Lebendigen sich die Freiheit des Individuums verwirklichen.6 Im „Leben“, wie er es versteht, sind die Subjekte (und die Objekte) 6 Hier ist die „Lebensphilosophie“ Hegels wesentlich gegen das Kantische Sollen gestellt. „Hegel setzt nun der Kantischen Ethik, deren objektivistischen Begrifflichkeit

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an sich frei verbunden, aber der Mangel des Lebens besteht in der Illusion, es könnte etwas geben, mit dem Ich nichts zu tun hätte. Auf das Leben folgt dialektisch-logisch die Idee der Erkenntnis, die von Hegel zweigeteilt präsentiert wird als Idee des Wahren und des Guten. Die absolute Idee, die die ganze Entwicklung krönt, vereinigt beide Paare, zum einen die Ideen Leben und Erkenntnis, zum anderen die Ideen Wahres und Gutes. Im Wahren bereitet das theoretische Erkennen mit seinen Mitteln der Analyse und Synthese auf den Willen vor und auf die Idee des Guten, welche die höchste Gestalt der Idee der Erkenntnis ist. Hier wird noch vor der absoluten Idee das Wahre verhandelt, wie es unter den Bedingungen der Endlichkeit erscheint und daher in seinen Mitteln geteilt ist. Die Idee des Guten ist für Hegel besser und wahrer als die Idee des Wahren, da mit ihr das Subjekt freigesetzt wird. In der gesamten beschriebenen Dialektik wird der Vorrang des Subjekts etabliert, und der Gegenstand wird zu einem durch seinen Begriff bestimmten (vgl. 20, §§233ff.). Im Guten wird die Teleologie endgültig stark, und die Zwecke setzen sich auch gegen äußerliche Inhalte durch. Mit ihr werden die Zufälligkeit der Welt, deren Schein und „nichtige Gestalten“ beendet (vgl. 20, §225). Hegels Gutes wirft alle Angst vor der Welt ab, die in Kants Gutem zur Innerlichkeit und zum Drang nach Pflicht und Zucht des Selbst geführt hat, weil es sich vor der Natur nicht zu fürchten braucht. In Fragen der Erkenntnis kann man frei sein, wenn man allein bleibt. Erkenntnis erlaubt Kontemplation und die Freiheit des reinen Identisch-mit-sich-Seins. Handelnd kann kein Subjekt frei sein, bleibt es bei sich. Will man beim Handeln ohne den Anderen mit sich identisch sein, will man rein für sich sein, bleibt man böse.7 Im Bezug auf den Anderen zerfällt die menschliche Spontaneität in die zwei Teile der theoretischen und praktischen Vernunft, während bei Kant diese Unterscheidung schon im reinen Bezug auf sich möglich gewesen ist. Hegel kritisiert diesen solipsistischen Standpunkt in der praktischen Philosophie. Offensichtlich zitiert Hegel mit seiner Idee des Guten die Tradition des Platonischen Guten an sich und den Gedanken, dass das Gute die höchste unter den Ideen sei.8 Hier sollte eigentlich die Einheit von Subjektivem und Objektivem und die wahre absolute Idee erreicht sein. Problem bleibt allerdings laut Hegel, dass dieses Gute noch Zweifel haben muss ob der Beschaffenheit der Wirklichdes Gesetzes die Ganzheit der Gesinnung verfehlt, die neutestamentliche Ethik der Liebe, der ‚Vereinigung‘, des ‚Seins‘, des ‚Lebens‘ entgegen.“ (Busche, Hubertus: „Das Leben der Lebendigen. Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten“, Bonn: Bouvier 1987, S. 245) Das „Sollen“ offenbart die Kriegsführung des „spekulativen Moralisten“ (Kant) gegen das Lebendige. 7 Vgl. Horstmann, Rolf Peter: „Subjektiver Geist und Moralität“, in: Dieter Henrich (Hg.), Hegels Philosophische Psychologie, Bonn: Bouvier 1979, S. 191-200, hier S. 198. 8 Vgl. Hösle, Vittorio: „Hegels System: der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität“, Hamburg: Meiner 1987, S. 251.

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keit. Es steht sich selbst im Weg, weil es sich vom Erkennen abgetrennt hat, was genau um das vernünftige Sein weiß. Einerseits ist ihm die Objektivität nichts, andererseits verharrt sie auf dem Standpunkt, dass diese das wahrhaft Seiende sei. Begriff und Objektivität sind noch nicht in ihr vereinigt. Letztere erscheint noch eigenen Wesens zu sein, was sie allerdings nicht ist. Sie muss nicht erst durch den Begriff verändert werden, sondern der Begriff ist ihr Wesen. Im Gegensatz zur Welt bestehend, ist das Gute vor der absoluten Idee noch endlich (vgl. 12, 232). Ohne Wahres und Wirkliches ist es deswegen nicht geschützt vor dem Bösen und dessen Angriffen. Ein absolutes, d.h. wirkliches Gutes liefert die wünschenswerte Sicherheit. Endlich, unvollkommen und vor allem unwissend steht ein einzelnes Gutes im Konflikt mit anderen Guten, weil aufgrund des beschränkten Inhalts noch nicht herausgearbeitet ist, welches das wahre Gute ist (vgl. ebd.). Die praktische Idee bedarf noch, was die theoretische schon hat, eine Welt, die ihr angemessen ist. Wenn das Gute die Wahrheit vergisst, ist die Kenntnis von der Bewältigbarkeit aller Welt verloren. Verbinden sich richtige Theorie und rechte Praxis, entspringt die absolute Idee, die Hegelsche Einheit der Ideen der Wahrheit und des Guten, welche ebenso gut wahrnimmt wie die Idee der Wahrheit und ebenso stark gestaltet wie die Idee des Guten. Zur vollen Blüte bringt die absolute Idee das Primat des Subjekts, das nicht allein das moralische Subjekt ist. Man missversteht Hegels Idee des Idealismus, hält man diesen für eine reine Hypostasis des subjektiven Faktors. Gegen diesen baut Hegel eine mindestens so scharfe Front auf wie gegen die Objekte, die sich widerspenstig zeigen. Vielleicht ist Hegels Kritik der Subjektivität sogar noch schärfer, denn hier entdeckt er den Hauptmangel seiner philosophischen Zeitgenossen. Deren Prinzip des Ich sei nicht korrekt aufgebaut. Um dies zu zeigen, lässt Hegel das Prinzip der Subjektivität sich voll ausleben, folgt ihm bis in dessen tiefsten Abgründe hinein. Die rein subjektive Freiheit führt laut Hegel nicht zur Emanzipation, sondern in den höchsten Grad von Unfreiheit. In einer Paraphrasierung eines Ausspruchs von Goethes Mephistopheles könnte man mit Hegel die reine Freiheit des Subjekts als die Kraft beschreiben, die das Gute will, aber das Böse schafft. Und mehr noch: Es hat keine andere Wahl. Das Gute an sich hat sich das Böse noch gleichgültig sein lassen. Die Freiheit, die das absolut Gute will, schafft hingegen das Böse. Das moralische Selbst scheint nach Hegel misszuverstehen, dass Freiheit keine einsame Sache ist, sondern allein mit anderen zusammen zu bewirken ist. Im Gegensatz zu anderen und der Welt bestehend, ist die Freiheit noch nicht. Dies reflektiert sich in der der Moralität eigenen Idee des Guten, die nicht die Unendlichkeit der Freiheit bestätigt, sondern diese wieder in die Endlichkeit zurückbannt. Sie sperrt die Subjekte von der Teilnahme an ihr aus, davon ausgehend, dass diese als weltliche niemals genug Heiligkeit erlangen werden, um mit ihr mitzuhalten. Das absolute Gute der Moral ist Hegel nicht lebendig genug, denn statt die Praxis zu bestätigen, verweigert es sie. Es kann weder selbst wollen noch

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gewollt werden und muss deswegen höchstens eine theoretisch-spekulative Idee sein, kann aber auf keinen Fall Ziel von einer Praxis der Freiheit sein. Im Hegelschen Denken umschließt die Sphäre der Moralität den Bereich, der die Unterscheidung im Subjekt zwischen moralisch Guten und Bösen ermöglicht, genau wie das abstrakte Recht für die „Person“ Recht gegen Unrecht ausspielen konnte. Hegel kann es auf der Ebene der Moralität keinen wahren, „lebendigen“ Begriff vom Guten geben, weil dessen Prinzip bloß abstrakt-allgemein ist. Immer wieder wiederholt er diesen „Formalismus-Einwand“ gegen die Kantische Ethik. Er reflektiert damit die unmögliche Position des Guten und des Bösen innerhalb des transzendental-idealistischen Denkens. Das Gute als oberste Idee ist das Absolute selbst, es ist kein Gutes, das sein soll, sondern das Gute schlechthin. Andernfalls wäre die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit in es gesetzt, d.h. es wäre Gutes, das auch nicht sein kann. Es wäre nur Attribut und hätte als solches seinen Grund nicht in sich selbst, sondern in anderem. Das Absolute eines Kants kann für Hegel nicht gewollt werden, es hinge dann vom Willen ab. Ebenso kann es nichts wollen, das setzte die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit in ihm voraus. Das absolut Gute, das weder wollen noch gewollt werden kann, ist leer, ist reine Selbstgenügsamkeit. Als diese verbleibt es wirkungslos, unwirklich. Es schweigt noch nicht einmal zur Untat, sondern stellt die Untat des Willens aus, welche stets nur sich selbst will. Um der „Verletzung willen“ Böses zu tun – dieses bezeichnet Kant als das „teuflische“ Böse9 –, ist in formaler Hinsicht nicht zu unterscheiden von jenem absolut Guten, das die Pflicht um der Pflicht willen bewirkt. Das hat Hegel in der Kritik an Kant erkannt: „Aber die analytische Einheit und Tautologie der praktischen Vernunft ist nicht nur etwas überflüssiges, sondern in der Wendung, welche sie erhält, etwas falsches, und sie muss als das Princip der Unsittlichkeit erkannt werden.“ (4, 437) Das Subjekt scheitert ohne Hilfe von außen vor dieser analytischen Einheit. Bei Hegel gibt es verschiedene Genealogien der Moral, die den Bereich von Gut und Böse nicht abstecken kann. In der Phänomenologie des Geistes ist die Moralität Resultat des terreur, der Schreckensherrschaft in der Nachfolge der französischen Revolution, in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist die Moral Resultat der Bekämpfung des Verbrechens. Beide Male ist sie Grund der Selbstbehauptung des Individualwillens gegen dessen Auflösung. Gegen den Schrecken des abstrakten volonté générale, der aus den Bedingungen der Französischen Revolution entstanden ist, entsteht in der Moralität der seiner selbst gewisse Geist, der das Primat des Subjekts tragend macht. Die Moralität ist jeweils bei Hegel der Widerstand gegen den abstrakt-allgemeinen Willen, der als „Furie des Verschwindens“ alle Einzelinteressen und mit diesen ihre Träger negiert. Das

9 Die „boshafte Vernunft“, die „sich den Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder macht“, ließe aus dem menschlichen Subjekt den „Teufel“ werden (VI, 35). Dem widerspricht bei Kant, dass der Mensch ein zweckbestimmtes Wesen ist. Sich lediglich negative Zwecke zu setzen, ist solchen schlechterdings unmöglich.

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abstrakte Sein, das dahin schwindet, ist die physische Existenz der Individuen. An diesen hat der allgemeine Wille sein Bestehen und richtet sich in seinem reflexionslosen Wahn gleich selbst mit zugrunde. Der allgemeine Wille negiert den besonderen, der Einzelne wird Funktion der Verhältnisse, in denen er lebt. Der absolute Schrecken erhebt die Einzelheit zur Nichtigkeit. Das einzig Positive ist das Negative: die Selbstaffirmation der Macht (vgl. 9, 319f.). Das einzige Werk dieser Macht ist der Tod, ihre gegenständliche Wahrheit hat sie in der Guillotine. Die Moral ist bei Hegel dagegen wieder die Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit, die aber für sich bleibt. Sie ist lediglich negative Einheit des Allgemeinen und Besonderen, ihre Wahrheit die Innerlichkeit der reinen Beziehung des Ich auf sich. Als nur negative Einheit trägt die Moral auch den Gegensatz von Allgemein- und Einzelwillen in sich und hat die Entzweiung der beiden zur Voraussetzung. Sünde und Verbrechen erscheinen als notwendige Bedingungen der Moral. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist diese daher Resultat der abstrakten Entgegensetzung von Einzel- und Allgemeinwillen. Das Verbrechen erscheint als perennierende Bedingung der Moral mit der Dignität der Erbsünde. Diese ist die Gestalt des Aufstands gegen den eigenen Grund. Für Hegel ist die Moral die unzureichende Antwort des Subjekts auf ihm widerfahrenes Unrecht. Ihr Gutes bleibt abstrakt. Insofern bleibt für Hegel auch das Kantische Moralitätskonzept mangelhaft, damit der Einheit des Ganzen widersprechend. Hinreichend gestaltet sich die Antwort auf widerfahrenes Unrecht erst in der Sittlichkeit. In dieser vereinigt sich die Moral des Subjekts mit der Praxis der Subjekte. In dieser verbünden sich unhegelsch gesprochen Moral und Politik. Hegel ist Vorreiter der bis in die Gegenwart reichenden Vergesellschaftung des richtigen Handelns. Systematische Grundbestimmung der moralischen Handlung und Schranke ihres eigenen Könnens ist laut Hegel die „Entgegensetzung der Subjektivität und Objektivität“ (GR, §109), welche jedes Subjekt zu einem einzelnen, für sich existierenden macht. Die Geschichte der Moralität ist ihrem Grundlegenden nach die Geschichte der aufzuhebenden Einzelheit. An seiner moralischen Geschichte lernt das Subjekt nach Hegel, dass es einzeln nicht sein kann. Moral verwirklicht sich darin, anzuerkennen, dass ein allgemeines Selbst vorhanden ist, an dem auch das Ich teilhat. Um das allgemeine Selbst zu sehen, bedarf es in der Rechtsphilosophie der Entäußerung des Willens und der Verobjektivierung des allgemeinen Selbst (vgl. GR, §113). Man könnte auch formulieren, dem rechten Selbstverhältnis ist nach den Prinzipien des objektiven Geistes die Politik der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates vorausgesetzt. Die Moral bereitet auch bei Hegel das Subjekt für den objektiven Geist auf. Aber sie ist nicht der ganze objektive Geist, denn sie ist nach Hegel „Objektflucht“ (Bondeli). Moralität ist

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nicht das Höchste und nicht der Ort der Vereinigung, der die Partikularität menschlicher Beziehungen auflöst, sondern subjektivistisch verkürzt.10 Hegel fordert das Subjekt auf, sich über seinen moralischen Standpunkt hinaus zu einem politischen weiterzuentwickeln, denn es muss erkennen, dass das Aufbauen der Moralität von ihm auch Flucht vor einer feindlichen Umwelt gewesen ist. Die Gleichheit unter den Subjekten muss mehr als die unter moralischen Personen sein. Das Gute, das die Moral produziert, soll zwar die Stärke des Subjekts betonen, leistet jedoch laut Hegel das genaue Gegenteil, wenn es die Freiheit gegen äußerliche Einflüsse im Innern des Subjekts sichert. Die dargestellten zwei Genealogien der Moral bei Hegel zeigen, dass Moral lediglich die negative Einheit von Einzel- und Allgemeinwillen ist, somit deren Gegensatz weiter in sich trägt. In der Phänomenologie des Geistes reagiert diese negative Einheit auf den terreur, auf dessen Auslöschen des Selbst, in den Grundlinien der Philosophie des Rechts resultiert die Moral aus der Überwindung des Rechts durch das Verbrechen. Beide Male reagiert das Subjekt nicht hinlänglich auf die Gefahren, die ihm gegenüberstehen. Es sucht die Antwort tief in sich, anstatt zur Vereinigung mit Anderen überzugehen. So muss ihm sein Gutes misslingen und in Böses umschlagen. Mit dem Scheitern des moralisch Guten und dessen Umschlagen ins Böse versucht Hegel, den Mangel einer Freiheit aufzudecken, welche bloß moralisch gesichert ist. Aufgabe der Moral ist es bei Hegel, das Selbst von seinem Zustand als Charaktermaske des abstrakten Rechts fortzuentwickeln zum Subjekt (vgl. GR, §35). Im Gegensatz zur Charaktermaske will das Subjekt das Allgemeine als solches, letztlich sucht es das für es seiende Gute, wenn dieses auch bei ihm unvollständig sein muss. Das Gute verspricht dem Subjekt die Freiheit, die das abstrakte Recht nicht einlösen konnte. Mit Moral allein ist Freiheit jedoch unmöglich zu erreichen, bleibt unwirklich. Deren Negation des abstrakten Rechts hat laut Hegel das gemeinsame Ziel der beiden verdrängt, das in der Einheit von Recht und Moral bestehende Sittliche. Die Moral sucht lieber die reine Gewissheit ihrer selbst und baut im Selbst ihre Macht als Gewissen auf. Diesem ist nur noch das eigene Urteil gut genug, denn nach Hegel ist sein allgemeines Prinzip des moralischen Gesetzes bequem so zu interpretieren, dass jede Bestimmtheit vor ihm nichts gilt. Das Gewissen kennt keinen absoluten Inhalt, der vor ihm ohne Rechtfertigung bestehen könnte. Jeden bestimmten Inhalt kann das Hegelsche Gewissen, das mit allgemeiner Widerspruchsfreiheit die moralische Handlung bestimmen möchte, ablehnen, denn das Wesen der Hegelschen Bestimmtheit liegt darin, im Widerspruch mit sich selbst zu sein.11 Im Gewissen ist das moralische Subjekt in 10 Die Moralität ist ihrem systematischen Ort bei Hegel nach Teil der Philosophie des objektiven Geistes. Damit ist sie vor allem Theorie der Grenzen der Moralität in sittlichen und rechtlichen Institutionen (vgl. R.P. Horstmann: Moralität, S. 192f.). 11 Gegen diesen Abweis bei Hegel ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ein moralisch motiviertes Gewissen (zumindest bei Kant) nicht jeden Inhalt verträgt, sondern nur einen solchen, der sich mit der Idee der Menschheit vereinbaren lässt.

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der Lage, Allgemeines zu wollen, denn es weiß sich als Macht über die Bestimmtheiten, und seine Endlichkeit schlägt in Unendlichkeit um. Das Gewissen ist selbst das Eins, weil es absolute Negativität ist, darin alles von sich ausschließend. Es ist als „Kreuzweg des Geistes“ (Severino) absolute Negativität alles Bestimmten und bestimmt sich allein selbst. Das Gewissen ist reine Negativität, bestimmt aus sich und stellt erst einen Kausalzusammenhang zwischen begangener Tat und Folgen fürs Subjekt her (vgl. 9, 347). Es entscheidet, ob gelitten wird, und steht bei Hegel für das Höchste im Subjekt.12 Eine Verletzung des subjektiven Prinzips bedeutet bei ihm im Prinzip immer eine Verletzung des Gewissens. Das Gewissen hat einerseits die Macht des Subjekts gezeigt, andererseits aber auch dessen Ohnmacht, denn an seiner selbstgestellten Aufgabe, zu entscheiden, was gut ist, scheitert es. Daher wird es auch allein niemals Böses verhindern können, schlimmer noch, es macht den Weg für dieses frei. Das Gewissen und das moralisch Böse bilden zusammen die „höchste Spitze des Phänomens des Willens“ (20, §512). Beide sind absolute Nichtigkeit des Wollens und haben keinen Bestand vor der Macht des Allgemeinen und sinken Hegel zufolge unmittelbar in sich zusammen. Das gute Gewissen in der Rechtsphilosophie will Subjekt sein auch gegenüber der Macht des Allgemeinen, und das Böse baut dieses Wollen aus, auf dem Fürsichsein der Subjektivität gegen das Gute bestehend. Ihrem Begriff nach sind beide als Nichts, das sich auf Nichts bezieht, Affirmation und so schon das wirkliche Gute. Die Subjektivität hat in ihren Spitzen den „Standpunkt des Sollens“ (vgl. ebd.) verlassen und betätigt sich von nun an nur noch ganz im Sinne der Allgemeinheit des Willens, welche das Gute beschreibt. Sittlichkeit entsteht auf den Ruinen, welche die Subjektivität übrig gelassen hat. Die Subjektivität hat sich selbst ins Verderben geführt und damit den Grund gelegt für die Vollendung des objektiven Geistes in der Sittlichkeit. Diese liegt jenseits vom moralischen Gut und Böse. Das Gewissen ist die moralische Macht der Subjekte, das Böse die unmoralische. Dass das Gute der Moral und der unbedingten Macht der Subjekte nicht gut ist, demonstrieren drei Formen, in denen das Böse Hegel in seiner Zeit belästigt: Heuchelei, Probalismus und Ironie. Die Heuchelei als geringstes Übel der unheiligen Dreifaltigkeit weiß irgendwie vom Rechten und will trotzdem diesem Widersprechendes. Der Heuchelnde behauptet das Böse für andere als gut und stellt sich selbst als Engel der Gerechtigkeit dar (vgl. GR, §140). Der Probalismus versucht die Verkehrung von Guten und Bösen anders. Ihm hat das Böse das höchste Recht zu sein, indem er es für sich als Gutes proklamiert. Er bezeichnet alle Handlungen als rechtens, für die es überhaupt einen Grund gibt, sie auszuführen. Weil aber vom Probalismus immerhin anerkannt ist, dass Gründe für Handlungen mindestens probabel sein müssen, verbleibt auch in ihm eine Spur von Objektivi-

12 So ist noch das Böse erst durch die Selbstgewissheit des Gewissens zu erklären. Es ist nach der Spaltung der Handlung, in ein an sich Gesolltes und einzeln Verwirklichtes.

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tät. Was probabel, d.h. in diesem Sinne objektiv ist, entscheidet jedoch die Subjektivität (vgl. ebd.). Die Wahrheit aller dieser Formen des Bösen ist, dass sie die falsche Form der Subjektivität zum Maßstab der Objektivität rechten Handelns machen. Sie verkünden die „subjektive Meinung“ als die „Regel des Rechts“. Das Subjekt soll ohne Wahrheit und rein okkasionell entscheiden, ob eine Handlung mit Recht gut genannt werden kann. Ihm soll dies „zustehen“. So gibt es kein Gutes noch Böses mehr, denn das „gute Herz“, das die Handlungen mit Wert bestücken soll, gibt es den Seinigen im Schlaf und setzt die Reflexion aus. Das Gute verharrt in der Opposition zur Wahrheit und zur Anstrengung des Begriffs. Das Gesetz selbst wird zu einem „äußeren Buchstaben“ (ebd.), wenn allein die Meinung es bindend macht. Politik ist abgeschafft, denn jeder affirmative Bezug auf Andere ist so verwehrt. Die höchste Form solcher Subjektivität, die sich zum Meister über das Gute erhebt, ist nach Hegel die des romantischen Ironikers.13 Als solcher tut man unterlegen, hält sich aber für überlegen. Man weiß dann zwar um das sittlich Objektive, hält sein Ich aber für besser und vertieft sich nicht in den Ernst der Sittlichkeit. Man leistet keinen Verzicht auf sich selbst und hält sich für das Höchste, obgleich man weiß, dass das eigene Wollen allein auf subjektiven Bestimmungsgründen lastet. Der ironische Mensch weiß, dass er in allen Inhalt die Eitelkeit hineingetragen hat und sich als das „Absolute“ darin (vgl. ebd.). Die drei genannten Gestalten des Bösen präsentieren die Macht der Subjektivität, die im Guten schon das Gewissen meinte. Der Dezisionismus, dem es die Hauptsache ist, dass es Ich ist, und der über alle Bestimmtheiten hinweg entscheidet, geht über in ein beliebig zu wählendes Gutes. Die Ironie demonstriert schließlich, dass „Ich“ es bin, der Meister über das Gute und Böse ist, solange das Gute noch nicht über sich selbst zur Wirklichkeit hinausgewachsen ist und man im „moralischen Standpunkte“ (ebd.) verharrt.14 Rein gut gewollt ist auf jeden Fall schlecht gemacht, so lautet Hegels Fundamentalvorwurf an den moralischen Standpunktgeist, denn so muss man Angst vor der Wirklichkeit verbreiten. Das moralische Gesetz eines Kants verlangt nach Hegel allein die Widerspruchsfreiheit, dieser aber kann keine Hegelsche Bestimmtheit genügen, denn jede von ihnen ist im Widerspruch mit sich selbst. Dementsprechend baut das 13 Vgl. C. Schulte: Böse, S. 256. 14 Hegel summiert: Die „letzte abstruseste Form des Bösen, wodurch das Böse in Gutes und das Gute in Böses verkehrt wird, das Bewußtsein sich als diese Macht und deswegen sich als absolut weiß, ist die höchste Spitze der Subjectivität im moralischen Standpunkte, die Form, zu welcher das Böse in unserer Zeit und zwar durch die Philosophie, d.h. eine Seichtigkeit des Gedankens, welche einen tiefen Begriff in diese Gestalt verrückt hat und sich den Namen der Philosophie, ebenso wie sie dem Bösen den Namen des Guten anmaßt, gediehen ist.“ (GR, §140) Zur herrschenden intellektuellen Weltanschauung zu Hegels Zeiten ist das Beharren im Sollen durch Kant und Fichte geworden. Deren Auffassungen verleiten nach Hegel dazu, das rechte Selbstverhältnis nur im Inneren des Subjekts aufsetzen zu wollen.

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Subjekt als Gewissen nach Hegel die absolute Macht über die Bestimmtheiten auf, d.h. über alles, was in der Welt ist. So kann es wirklich Allgemeines wollen und seine Endlichkeit überwinden, die an den Bestimmtheiten der Welt hängt. Alles ist laut Hegel dem Gewissen allein relativ zu sich gut oder schlecht. Doch dabei geht es zu weit, denn es nimmt auch andere Subjekte mit deren Gewissen nur im allgemeinen Medium der Bestimmtheiten wahr und geht bei Hegel dazu über, deren Existenz als genauso nichtig zu betrachten wie die der anderen Bestimmtheiten. Die Freiheit des Anderen wird nach Hegel dem Ich total fremd, was so weit geht, dass Ich sie als schlecht für mein eigenes Selbst wahrnehmen muss. Die Anderen mit ihrem selbstermächtigten Gewissen müssen dem eigenen gewissenhaften Subjekt als böse erscheinen. Allen in dieser Arbeit betrachteten Autoren ist klar gewesen: Weil das Gute ist, ist das Böse. Hegel hat lediglich deutlich wie kein anderer ausgesprochen, dass das Böse sogar die vordringlichste Produktion ist, die das Gute leistet, seit es moralisch geworden ist. Das Gewissen scheitert somit bei Hegel an einer rechten Entwicklung des Guten. Anstatt die Freiheit aller in es aufzunehmen, gilt ihm lediglich die eigene Freiheit als Bedingung des Guten. So eröffnet es das Feld für das moralisch Böse, Komplement des moralisch Guten und entscheidender Punkt bei Hegel, an dem die Moral ihr eigenes Ungenügen lernt. Resultat der Entwicklung der Moralität ist es laut Hegel, dass Gut und Böse innerhalb von dieser nicht unterschieden werden können, weswegen eine Sittlichkeit, die Hegel als lebendiges Gutes bestimmt, aufgebaut werden muss. Diese entsteht auf dem Grund der zugrunde gegangenen Subjektivität, welche ihr Heil in der moralischen Flucht vor der Welt gesucht hat. Die Sittlichkeit baut bei Hegel die Welt wieder für das Subjekt auf und will diesem sein ganzes Ich zurückgeben, dessen Endlichkeit als Existenzial akzeptierend. Die Moral verweigert für Hegel dem Menschen die Synthesis seines geistigen mit seinem körperlichen Wesen, weil sie nicht unterstützt, dass der Mensch ein ens a se ist. Sie verschließt wie bei Kant die Harmonie von Tugend und Glückseligkeit und kann lediglich sagen, dass sich beide zum summum bonum vereinigen sollen, nicht, wie das geschehen kann. Das Gute des Gewissens produziert sich für Hegel seinen absoluten Feind selbst. Das absolut Böse ist der phänomenale Spiegel seiner eigenen Bemühungen. Moralische Freiheit setzt voraus, dass hinreichend Gleichheit zwischen den von Handlungen Betroffenen herrscht. Auch dies besagt die Hegelsche Moralkritik und fordert daher Sittlichkeit, in der keiner betrogen wird. In der Forderung nach Gleichheit ist sie politisch.15 Der moralische Standpunktgeist hingegen setzt die Gleichheit der Menschen abstrakt voraus, weil er nicht eingesteht, dass die unbedingte Geltung des Rechten auf die bedingte Geltung des Subjekts verwiesen ist. Seine Möglichkeit ist explizit nicht an die natürliche und gesellschaftliche

15 „Die Politik […] ist die Aktivität, die als Prinzip die Gleichheit hat […]“ (Rancière, Jaques: „Das Unvernehmen. Politik und Philosophie“, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 9).

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Existenz des Menschen gebunden. So kann mit dem moralischen Standpunkt keine Situation gebannt werden, in der moralisches Handeln den Untergang des Selbst nach sich zieht. Die Gefahr, welche das eigene Ich und das von anderen aufs Spiel setzt, ist von einer sich an die Form klammernden Moral nicht zu bannen. Lediglich unter sittlichen Lebensumständen kann es überhaupt vernünftig sein, dem Sollen zu folgen. Weil die Sittlichkeit für die moralisch Handelnden die Gemeinschaft der Gleichen herstellt, ist keine Moral für Hegel denkbar ohne sittliche Institutionalisierung.16 Das Gute möge konkret werden und nicht mehr im Gewissen vegetieren. Dazu muss nach Hegel objektiver Geist werden. Dieser ist eine Form der Wirklichkeit, in der Begriff und Realität des freien und allgemeinen Wollens in eins fallen. „Die Idee erscheint so nur im Willen, der ein endlicher, aber die Thätigkeit ist, sie zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Daseyn, welches als Daseyn der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen, objektiver Geist […]“ (20, §482). Erst in der Wirklichkeit des objektiven Geistes sind die Menschen so weit gleich, dass Moral als Prinzip keine Überdehnung des subjektiven Standpunkts ist. In der Realisierung des Guten wird das Verhältnis der Moralität aufgehoben. Deren leere Vorstellungen von Gut und Böse setzen sich zu Momenten herab und integrieren sich zu der eine Totalität ausbildenden Idee, „die, somit konkrete, Identität des Guten und des subjektiven Willens, die Wahrheit derselben ist die Sittlichkeit, […]“ (GR, §141). Das Subjekt erledigt seine Aufgabe in der sittlichen Gesinnung, die Hegel beschreibt „als die einfache Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört“ (GR, §150). Das Gute ist zur sittlichen Substanz erweitert, wenn es über die Gesinnung mächtig wird, und erwacht zum Leben. Wie dieses ist es durch und durch harmonisch und wird nicht weiter gequält durch Fremdheit zum Wahren. In der Sittlichkeit sind Rechtes und Richtiges vereinigt als „lebendiges Gutes“ (GR, §142). Schaut man moralisch die Welt an, will man Freiheit und sehnt sich daher nolens volens nach der Sittlichkeit des Staates. Dies muss der moralischen Weltanschauung zu Bewusstsein kommen, während die objektive Zweckbestimmung zum eigenen subjektiven Zweck gemacht wird. So löst sie sich selbst ein, indem garantiert wird, dass das Gute sich in der Wirklichkeit durchsetzt. Das moralisch Gute hat keinen weiteren Grund, mit sich selbst unzufrieden zu sein, außer die ihm unangemessene Leere. Für den Übergang zur Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie von 1821 nutzt Hegel die public benefits des leeren Guten des moralischen Standpunktgeistes, nach dem das Gute als Absolutes durch die reine Pflicht um der Pflicht willen ist. Hier ist dem moralisch Guten auch mit

16 Vgl. Wildt, Andreas: „Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption“, Stuttgart: Fromann-Holzboog 1982. Trotzdem bleibt die Moral für Hegel auch bei etablierter Sittlichkeit notwendig, um das Subjekt zu stärken. Die Wirklichkeit der Moral ist notwendig für die Wirklichkeit sittlicher Institutionen. Für Hegel ist die Sittlichkeit nicht hinreichend, damit Moral ist.

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Genuss von Seiten Hegels jeder Bezug auf Inhalt getilgt, der es über das Wahre seines Wollens verwirren könnte. So kann dieses mit dem Bösen zusammen gleich leer erscheinen und den Übergang zur Sittlichkeit motivieren.17 Beide sind wesentlich negative Bestimmung, die dem Endlichen sagen, was nicht zu verlangen ist. In der Sittlichkeit soll das Gute mit sich selbst versöhnt sein, indem dessen Einheit mit seinem Gegenteil expliziert wird. Was Gut und Böse in der Rechtsphilosophie zusammenbringt, ist ihr gemeinsames Verfehlen ihrer eigenen Eigenschaften (vgl. GR, §§139f.). Ihr Mangel lässt sie eine Einheit bilden. Dass Gut und Böse zu neuer „lebendiger“ Synthese kommen, funktioniert in der Rechtsphilosophie nicht, indem sie sich als eigenständige und gegengesetzliche Extreme behaupten und sie von dort aus ihre gemeinsame Basis entdecken. Sie bilden das Neue der Sittlichkeit vielmehr dadurch, dass ihre Differenz zum Letzten und zu ihrem Schicksal erklärt wird. Was hier verbindet, ist die Differenz als solche, nicht ihre über ihre Gemeinsamkeit bestimmte. Im Resultat wird jene von ihren Polen befreit, und sie geht über zur Sittlichkeit. Der Differenz als solcher ist die bestimmte von Gut und Böse nichtig, deren Identität erscheint bloß als ihr Effekt ohne Bestand an sich selbst. Ohne Gutes kein Böses und ohne Böses kein Gutes, das sagt das Prinzip der Differenz, das deswegen den höheren Standpunkt einnimmt. Hier wird die phänomenale Ebene verlassen, um auf der Basis wesenslogischer Kategorien den Fortschritt zur nächsten Stufe zu erreichen. Die Frage muss bleiben, wie sich in der Rechtsphilosophie die Idee der Sittlichkeit als „konkrete Identität des Guten und des subjektiven Willens“ (GR, §141) bilden kann aus einer Leerheit. Die von Hegel heraufbeschworene Identität erscheint im Übergang zur Sittlichkeit wenig konkret. Wo soll die Differenz ihrer beiden Pole herkommen, die verbürgte, dass beide auch gegeneinander festgehalten werden und ein eigenständiges Bestehen haben? Können sie aber nicht gegeneinander festgehalten werden, wäre der Rückfall ins Nichts die spekulative Konsequenz.18 Dass Begriffe ohne Anschauung leer sind, legt Hegel sonst auch nicht zu deren Gunsten aus. Hilfe bietet hier die Phänomenologie des Bösen an, wie er sie in seiner Phänomenologie des Geistes geleistet hat. Die „Phänomenologie des Bösen“ (Severino) ist nicht von der des Guten zu trennen. Hegel sieht beide moralischen Objekte nicht im besten Licht. Er belastet sogar die Idee des Guten mit dem Bösen und deckt eine intensionale Identität

17 „Gut und Böse gehen hier unmittelbar ineinander über. Jener gute, ehrliche Wille, der bei dieser Abstraktion stehen bleibt, ist ganz formell, subjektiv und somit ebenso unmittelbar böse.“ (RV, 109) 18 Tugendhats scharfe Kritik an Hegel erscheint von hier aus plausibel: „[…] das eigene Gewissen des Einzelnen hat zu verschwinden, und an die Stelle der Reflexion tritt das Vertrauen; das ist es, was Hegel mit der Aufhebung der Moralität in die Sittlichkeit meint“ (Tugendhat, Ernst: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 349). Sie vergisst aber, dass Hegel keinen Gegensatz zwischen Autonomie und Vertrauen sieht, dass er vielmehr davon ausgeht, dass beide nicht ohne einander sein können.

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zwischen beiden auf. Der Kern des Bösen, wie es die Phänomenologie entwickelt, liegt im Guten verborgen, das um sich herum bloß Feinde entdeckt. Der Blick, der alles, was nicht man selbst ist, als böse betrachtet, birgt das wahrhafte Böse. Dies ist Resultat der Phänomenologie des Bösen. Das Gute ist das Böse, denn es kann um sich herum lediglich Böses entdecken. Die intensionale Identität zwischen Gut und Böse führt ein Selbstbewusstsein, welches mit dem moralischen Paar konfrontiert wird, zu mit Logik allein nicht auflösbaren Widersprüchen.19 Hegels Phänomenologie des Geistes ist dessen Geschichte des Selbstbewusstseins, hier ist die Heimat dieser Konfrontation. Gegen die Idiotie des auf sich gestellten Guten und des Bösen hilft es nicht, allein zu bleiben, muss das Selbstbewusstsein erkennen. Es gilt sich zu vergemeinschaften mit anderen seiner Art. Alle vorsittlichen Versuche, das Gute zu schaffen, werden von ihrem Schatten verfolgt, dem der Realisierungsstufe des Guten entsprechenden Bösen. Die in der Phänomenologie des Geistes präsentierte Phänomenologie des Schlechten entlarvt, dass das Böse lediglich im verengten Blick dessen steckt, was sich vor der Sittlichkeit als Gutes aufspielt. Eines von diesen vorsittlichen Phänomenen, ein ganz eigenes Gutes aufzubauen, ist die Moral mit ihrem Versuch, ein Gewissen im Menschen aufzusetzen. Hegel sieht im Gewissen eine positive Entwicklung verwirklicht, denn es erlaubt nur noch, was für das Ich richtig ist und stellt somit die absolute Macht des Ich aus. Andererseits will Hegel keine absolute Macht des Ich. Gerade seine Dialektik des Gewissens zeigt, dass Hegel der Macht des einzelnen Selbst nicht traut und dieser gar die Potenz zur höchsten Ungerechtigkeit unterstellt. Hegel stellt dies dar, indem er die intensionale Identität aufdeckt zwischen dem moralisch Guten und demjenigen, was dieses unbedingt ausschließen wollte. Das moralisch Gute und Böse sind gleich leer für Hegel, denn sie nehmen beide die Wirklichkeit nicht ernst genug. Das Gute treibt es am Ende der Phänomenologie des Schlechten gar schlimmer. Im Gegensatz zum Bösen, das seinen Mangel einsieht, beharrt es darauf, von sich aus und ohne Hilfe und Bezug auf Andere die Welt richtig zu sehen. Am Ende der Phänomenolo-

19 Selbstverständlich will ich mit dieser Aussage nicht dem prinzipiellen Hegelschen Programm der notwendigen Herleitung eines Selbstbewusstseins widersprechen, sondern nur die geschichtliche Dimension, die Tathandlung betonen. Hegels Anspruch ist, das oberste Problem einer Geschichte des Selbstbewusstseins gelöst zu haben. Diese muss ihr Resultat als notwendig erweisen, ansonsten wäre sie selbst logisch unmöglich, denn sie muss ein der Notwendigkeit mächtiges Selbstbewusstsein voraussetzen. Hegel löst dieses Problem nicht durch den Abbruch der Geschichtlichkeit in intellektuelle Anschauung, sondern, indem er diese Geschichte selbst als Logik konzipiert. „Die Subjektivitätstheorie ist also als solche Logik und geht ihr nicht voraus.“ (Düsing, Klaus: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Bonn: Bouvier, 1976, S. 21) Die Logik ist das Sich-selbst-Denken des Denkens, darin zugleich bewegt und notwendig. „Die Logik als Metaphysik oder die spekulative Logik wird damit zur Theorie der unendlichen Subjektivität, die das Absolute selbst, nämlich die absolute, sich denkende Idee ist.“ (Ebd., S. 22)

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gie des Schlechten ist es für Hegel der „reine“ Allgemeinwille des moralisch Guten, der um sich herum nur Böses wahrnimmt, der wahrhaft böse ist. Weil das Gute in Gestalt des Gewissens die Wirklichkeit spaltet und es mit dem Rechten nur um seiner selbst willen ernst meint, ist es um nichts besser als das Böse, das nie etwas anderes gewollt hat als den Eigennutz. Gut und Böse sind schließlich bei Hegel intensional identisch im Widerspruch von Pflicht und Wirklichkeit: Das Böse steht ein für deren Abspalten voneinander, genau wie das Gute. Beide unterscheiden die Wirklichkeit von ihrer Rede und heucheln notwendig. Und sie scheiden die Wirklichkeit ohne Recht in eine wesentliche und eine unwesentliche. Gut und Böse können nichts wollen außer sich selbst und vergehen sich damit an der Freiheit ihres Willens. Beide sind die Untat, denn die ist dasjenige Wollen, das nur sich selber will. Das Gute ist aber der wahre Verbrecher, denn es sollte es besser wissen. Seine Untat und Arroganz hat das Böse erst provoziert. Das Böse entsteht in der Phänomenologie aus dem Widerstreit zweier guter Ansprüche. Die „schöne Seele“, zu der das Gewissen wird, nimmt letztlich die Gewissheit ihrer selbst für wichtiger als das An-sich des Rechten. Das Allgemeine gilt ihr bloß als Moment, für es gelten nur seine Pflichten. Das muss das „allgemeine Bewusstsein“ reizen, dem allein die Pflicht gilt. Dieses hält ersteres für das Böse, denn es wollte nur es selbst sein. Weil die schöne Seele aber mit dem Anspruch auf ein rechtes Selbstverhältnis in ihm selbst auftritt, erscheint ihr Reden für das dem Allgemeinen verpflichteten Bewusstsein als pure Heuchelei, welche entlarvt werden will. Dem „Festhalten an der Pflicht“ wird sein ehemaliger Partner im Guten, das Gewissen, zum Bösen schlechthin, weil dessen Anspruch auf selbständige Entscheidungsgewalt ihm als „Hinkehr zu sich“ und „Abkehr von dem, was zuhöchst ist“, erscheinen muss.20 Dieser „eitle“ Selbstbezug ist dem rein Allgemeinen das Böse, weil es ungleich mit ihm ist. Das Böse ist mithin das Gute, das zur Entscheidungsgewalt gefunden hat, der das An-sich lediglich noch für es selbst ist. Die Sprache des Bösen soll für das allgemeine Bewusstsein ausdrücken, was es in Wahrheit ist, und seine Heuchelei soll der Welt offenbar werden (vgl. 9, 356f.). Die Sprache überlistet die schöne Seele. Lässt man sich bei Hegel auf sie ein, wird das eigene Wesen unbarmherzig ausgedrückt. In ihr wird das reine Ich ausgesprochen und Besonderes und Allgemeines versöhnt. So erscheint auch die „schöne Seele“ als das, was sie ist, als zynisch gegenüber der Welt und der Wirklichkeit, in sich ruhend gegen das lebendige Gute. Ihr Gutes hat sich im Beharren auf das eigene Urteil als genauso eigensinnig gezeigt wie das Böse (vgl. 9, 357). Daher muss es dem allgemeinen Bewusstsein als solches erscheinen. Das Böse will, dass sein Gesetz gelte und verwirklicht werde. Die „reine Pflicht“ glaubt, dem enthoben zu sein. Während das Böse, das einmal das gute Gewissen war, schon die eigene Schuld bekennt und die eigene Gleichheit zum Guten zum Aus20 So hat, wie dargestellt, Augustinus das Böse beschrieben.

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druck bringt, beharrt die „reine Pflicht“ auf ihrer Gewissheit, eins mit dem moralischen Gesetz zu sein, und auf ihre heile Welt im Innern, sich der Versöhnung verweigernd. Sie wird „willenlos“, denn unschuldig sind allein die, die ohne Willen sind. Sich real durchzusetzen, heißt bei Hegel, eine effektive Tat zu begehen, die Schuld hinterlässt. Das Gute stellt sich damit in die Reihe derer, die jenseits von Gut und Böse stehen (vgl. Rel5, 135). Das Böse, das das Gewissen für das allgemeine Bewusstsein ist, hat dem Guten voraus, Ursache zu sein.21 Das böse Bewusstsein ist das handelnde, das gute urteilt nicht wirklich, wenn es auf dem Allgemeinen insistiert und verweigert dem bösen Bewusstsein die angebrachte Anerkennung. Weil das Bewusstsein der reinen Pflicht nicht handeln und seinen Worten Taten folgen lassen will, ist es für Hegel nicht besser als das böse. „In beyden ist die Seite der Wirklichkeit gleich unterschieden von der Rede, in dem einen durch den eigennützigen Zweck der Handlung, in dem andern durch das Fehlen des Handelns überhaupt, dessen Nothwendigkeit in dem Sprechen von der Pflicht selbst liegt, denn diese hat ohne That gar keine Bedeutung.“ (9, 357) Im Schauder vor dem moralisch Guten symphatisiert Hegels mit dem Teufel, denn dieser hat noch einiges mehr zu bieten als die trägen, nicht gefallenen Engel. Der Teufel personifiziert das Böse. Seine Energie schöpft er aus der Kraft der Negation. Er ist das sich selbst wollende Negative und als solches besteht er nach der Reflexion in Identität mit sich selbst und glaubt nicht dieser voraus zu sein (vgl. Rel5, 136FA).22 Reine Negation zu sein ist immer noch besser, als gar keine Negation zu sein. Das ist Hegels antipositivistischer Zug. Deswegen ist die Kraft, die stets vereint, auch nicht hoffnungslos verloren, sondern bringt die Rettung. Goethes Mephistopheles reklamiert die segensreiche Kraft der Negation für sich: „MEPHISTOPHELES. Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. FAUST. Was ist mit diesem Rätselwort gemeint? MEPHISTOPHELES. Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht, denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wär’s, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, Mein eigentliches Element.“23 Das Böse offenbart die Macht des Geistes über seine Wirklichkeit (vgl. 9, 361). Das böse Bewusstsein ist das handelnde in der Phänomenologie und drückt deren materialistische Weisheit aus, dass im wahren Anfang das Handeln und nicht das Wort ist. Die Geschichte der Freiheit fängt wie bei Kant so auch bei Hegel als „Menschenwerk“24 mit dem Bösen an, das mit der Idee des Guten spielt und diese so auflöst. Es zeigt dieser, dass sie zwar gut gemeint ge21 „Böse Jungen“ genießen nach Hegel ihre „Ohrfeige, die sie erhalten“, „nämlich als Ursache derselben“ (9, 224). 22 Mit der Ergänzung FA ist auf die Freundeskreisausgabe verwiesen, die in der Ausgabe von Jaeschke u.a. ebenso angegeben ist. 23 J.W. Goethe: Faust, S. 1335ff. 24 „Die Geschichte der Freiheit fängt vom Bösen“ an, „denn sie ist Menschenwerk“ (VIII, 116), sagt Kant.

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wesen sein mag, aber, solange die Welt noch nicht bereit für sie gemacht worden ist, ihr Untergang notwendig ist. In Gestalt des allgemeinen Bewusstseins mag das Subjekt schon weit fortgeschritten sein, seine Wirklichkeit entspricht ihm jedoch nicht. Daher sein Kampf mit dem Bösen, der in Wahrheit ein Kampf gegen sein realitätsloses Selbst ist. Das Böse fordert dazu auf, die Wirklichkeit zu verändern, was bei Hegel synonym damit ist, diese zu verwirklichen. Trifft das allgemeine Bewusstsein auf sein Gegenteil, den hässlichen Leib des Bösen, hat es kein Recht mehr diesem voraus (vgl. 9, 357). Das ist die dialektische Inversion. Das Allgemeine muss an seinem Besonderen erkennen, dass es so allgemein nun auch wieder nicht ist, dass es selbst besonders ist. Der reine Allgemeinwille ist auch nur ein Einzelwille, so lautet Hegels Vorwurf an das absolut Gute der Moral. Dieses trifft bildlich gesprochen im Feld des Besonderen sich selbst wieder, dessen radikal Böses ist die einzige Produktion, zu der das absolut Gute des reinen Allgemeinwillens und der reinen Pflicht fähig erscheint. Indem das allgemeine Bewusstsein gegen das Böse auf seinem Recht beharrt, verliert es den Vorsprung vor diesem, den es im Anspruch auf Allgemeingültigkeit besessen hatte. In dem Moment, in dem das Allgemeine sich selbst wieder begegnet, stellt sich heraus, dass es zumindest sich selbst gegenüber auch bloß ein Besonderes ist. Das Böse ist das Partikulare, dem das Ganze, das das Gute ist, auf dem eigenen Weg begegnet. Daher ist es vernünftig, weil es notwendig wirklich ist für das Gute. Aber das gutmeinende Böse trifft zunächst auf eine Härte, welche die Gleichheit mit seinem Anderen abweist. Durch das Ablehnen des Eingeständnisses des Bösen, dass es böse sei, wird aus dem „steifen Nacken“ der abstrakten Gutheit das „harte Herz“ (9, 359). Dadurch zeigt sich der, der sich selbst für gut befunden hat, lediglich absolut geistverlassen. Hart ist der Geist, der über jede noch so abgründige Tat Meister ist (vgl. 9, 360). Das harte Herz der reinen Pflicht erkennt in der eingestehenden Rede des Bösen nicht dessen Wesenheit und fällt von der Stufe des Geistes zurück auf die des Sinnlichen, dessen Zentrum das Herz ist. Hegels Fortgang des Begriffes ist mithin zugleich Rückfall aus einer schon erreichten Stufe und nicht ewiges, lineares Fortschreiten. Der Rückfall ist vielmehr notwendig, wenn mit den gleichen Voraussetzungen nicht mehr weitergemacht werden kann und ermöglicht erst dialektischen Fortschritt. Weil das Gute für die Phänomenologie so unfreundlich bleibt, ist es von allen guten „Geistern“ verlassen. Es ist das wahrhaft Böse in der Szenerie, in der es um sich herum nur Böses zu entdecken vermag. Die Anderen, die noch 150 Jahre später Sartres Hölle des Selbst bevölkern, sind als Andere des moralisch absolut Guten wirklich einmal die reinen Bösen. Versöhnung gibt es laut Hegel erst, wenn das Böse verziehen wird und das Gute um seiner selbst willen seine eigenen Grenzen unterläuft. Das Faktum der bösen Tat kann nicht ausgelöscht werden, aber es kann für Hegel auf andere Weise ungeschehen gemacht werden, indem das Gute dessen Notwendigkeit anerkennt. In der Anerkennung wird die Charakterisierung als Sünde negiert. Man sieht jetzt nach Hegel die negative Tat

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vielmehr als positiv und der Wahrheit zugehörig an. Die Verzeihung erklärt das Gute als in der Wirklichkeit geltend, macht es also zu einem Faktum, einem „daseienden“ Geist, wie Kant es vorausgesetzt haben wollte (vgl. 9, 361). Das Böse ist dasjenige, was der moralischen Handlung nach Hegel gelingen will. Es ist deren Resultat, damit deren Wahrheit, solange sie sich der sittlichen Institutionalisierung verweigert. Mit dieser Folgerung aus der Moral entmächtigt Hegel weiter reichend als Nietzsche die moralische Aufklärung, ohne Freiheit und Moral in einen Authentizismus des Lebens aufzulösen. Das moralisch Böse ist der Schatten des moralisch Guten, den dieses niemals loswerden kann, sondern stetig produziert. Gutes entwickelt sich durch die Moral nach Hegel in zwei Richtungen. Einerseits existiert es als allgemeines Bewusstsein der reinen Pflicht, andererseits als Gewissen, das eine absolute Macht des Selbst aufbaut. Letzterem zählt allein noch dasjenige, was es mit seiner eigenen Gewissheit vereinbart. Dem allgemeinen Bewusstsein muss es daher als „selbstisch“ erscheinen, was für es gleichbedeutend damit ist, es als böse wahrzunehmen. In dieser dialektischen Operation zeigt also Hegel, wie die zwei Seiten des Moralischen, die im Widerspruch der totalen Emphase des Subjekts im Gewissen und der völligen Negation desselben in der reinen Pflicht bestehen, in Gegensatz miteinander geraten. Aus diesem heraus entsteht das radikal Böse, denn die Moral weiß jetzt nicht mehr weiter. Resultat der Untersuchungen zu den Positionen des Guten in der Phänomenologie des Geistes ist, dass das Subjekt um seiner selbst willen die Freiheit nie nur in sich selbst finden wird. Es ist die Überzeugung Hegels, dass, rein moralisch gesehen, das menschliche Selbst unfähig zur Veränderung der Wirklichkeit und so wirkungslos ist. Wird die Freiheit allein in ihrer Rechts- bzw. moralischen Form gesehen, wird sie laut Hegel immer bloß als Freiheit gegen etwas aufgebaut. Das Nicht-Subjektive der Welt erscheint dann entweder als inhaltlich nicht transformierbar und der äußerlichen rechtlichen Regelung bedürfend oder als reiner Feind der Freiheit. Das radikal Böse sollte bei Kant ein rein moralisches sein. Dargestellt worden ist, wie Kants Versuch, das Böse mehr als eine privatio boni sein zu lassen, ihn über eigene Voraussetzungen einer rein moralischen Freiheit hinausführt. Hegel ist noch weiter gegangen. Er stellt die kritische Frage nach den Voraussetzungen der Kantischen Schwierigkeiten, das Böse zu bestimmen. Nach Hegel ist die moralische Freiheit unwirklich. Sie vermag das Böse nicht zu verabschieden. Dazu braucht es Sittlichkeit, in der das Böse versöhnt und kein Grund mehr vorhanden ist, es zu wollen. Politik, nicht Moral bekämpft und beendet das Böse. Das ist immer die Idee der politischen Theorie gewesen, wie im Weiteren dargelegt werden wird. Für manche politische Theoretiker bedarf es vor allem der Macht, um das Böse effektiv zu unterbinden. Machiavelli und Hobbes sind hier zu nennen. Anderen wie Kant und Hegel ist die Realisation des Rechts das beste Mittel, die Chancenlosigkeit gegen das Böse auszuschließen. Mit Machiavelli, Hobbes und

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Weber werden nun drei zeitlich weit auseinander liegende Theorien präsentiert, die sich jedoch inhaltlich darin einig sind, dass es durchsetzungsfähige Mächte braucht, um das Böse zu bekämpfen. Für Machiavelli benötigt Politik nicht Moral, sondern Durchsetzungsvermögen. Hobbes’ Spitze des Staates unterbindet machtvoll jede Unruhe unter ihr – auch diejenige, die aus einem eigenständigen Urteil der Untertanen über Gut und Böse erwachsen könnte. Webers „ethisches Problem“ des Gewaltmonopols schließlich wird gelöst, indem die monopolisierte Gewalt des politischen Souveräns zu dem Bösen erklärt wird, das das Gute schafft.

M achiavelli, Hobbes und Weber: E thik d er Mac ht

Niemand seiner Zeit hat so viel für die moderne Politik getan wie Machiavelli. Nicht wenige würden vielleicht eher sagen: vertan. An ihm schieden und scheiden sich die politischen Geister. Die einen feiern ihn als Begründer einer neuen Form der staatlichen Einheit, anderen ist er der Abgrund jeder politischen Bemühung. Unzweifelhaft ist allerdings, dass mit dem Renaissancemenschen Machiavelli Moderne und Neuzeit in die politische Theorie Einzug halten, wie man gerade an dessen Standpunkt zu den mala sieht. Für Machiavelli ist die Frage des radikal Bösen eine radikal politische. Die Heilsgeschichte einer Augustinischen Gottesstadt interessiert nur noch am Rande seiner Überlegungen zum innerweltlich geschaffenen Politischen. Geschichte ist menschengemacht, und Antworten auf die Fragen der täglichen Faktizität des Politischen findet Machiavelli nicht in der Bibel, sondern in Livius’ Erzählung der Geschichte Roms. Die eigene Menschheitsgeschichte gibt Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit. Der Trost der Worte Gottes reicht dazu nicht hin. Bei Machiavelli „autonomisiert“ sich die Politik über die Religion und die Ethik.1 Diese Autonomie wird von allen seinen Nachfolgern beibehalten, bei Hobbes sowieso und auch Kants Scheidung von Moralität und Legalität bleibt hier Machiavelli verpflichtet. Der Autor des Fürsten will seinen Herrscher zur Politik anleiten, auf dass er ein uomo virtuoso werde, der mit den Gefahren durch die menschliche Freiheit umzugehen weiß. Politik ist bei Machiavelli zu einem Gutteil Management des Bösen, und die Konfrontation mit diesem führt dazu, dass man mit bester Tugend allein nicht weiter kommt. Machiavelli ist der erste, der den Mangel der Moral in der Konfrontation mit dem Bösen dahingehend auflöst, dass er politisches Han1 Vgl. Mittelstraß, Jürgen: „Politik und praktische Vernunft bei Machiavelli“, in: Ottfried Höffe (Hg.), Der Mensch ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart: Reclam 1992, S. 43-67, hier S. 44.

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deln fordert. Seine Souveränität der Politik und nicht die guten Menschen sind dem Bösen gewappnet, denn in ihr wird gehandelt und nicht aus der Welt geflohen. Die Ethik kümmert sich zu sehr um die höheren Zwecke und vergisst dabei, dass die Menschen die Mittel haben müssen, mit dem Bösen umzugehen. Der Politiker ist bereit, sich in seinem Kampf gegen die nihilistische Tendenz der Freiheit angemessene Mittel anzueignen und sich dabei nicht von moralischen Bedenken aufhalten zu lassen. Über die Freiheit kann man laut Machiavelli nicht herrschen, zieht man sich auf gute Zwecke zurück. Der Freistaat ist ein Widerspruch in sich. Ein Staat ohne Zwang existiert nicht, auch nicht als Metapher. Für Machiavelli war die Frage nach dem in den Menschen existierenden Bösen die Frage der Politik überhaupt. Für ihn existierte das malum zweifelsohne. Seine Überlegungen bemühten sich nicht um dessen theoretische Ausdeutung, sondern waren dicht an den Problemen der Bekämpfung des Übels. Das Böse ist für Machiavelli keine verbreitete Eigenschaft, sondern allgemein vorhanden und deswegen in der Erfahrung nicht als Ausnahme zu finden. Dass die Bekämpfung der Übel ebenso bloß funktionierte, würde auf gleichem Niveau dagegen gehalten, stand für ihn fest. Das Faktum des Bösen lässt sich nur mit einem anderen Faktum bezwingen, allein Faktisches kann auf Faktisches Einfluss nehmen. Machiavelli will das „Wahre und Wirkliche“ darstellen, nach dem nicht entscheidend für die Politik ist, was sein soll, sondern, was ist. Danach ist es „unvermeidlich, dass ein Mann, der überall rein moralisch handeln will, unter so vielen anderen, die nicht so handeln, früher oder später zugrunde gehen muss. Es ist also notwendig, dass ein Fürst, der sich behaupten will, auch lernen müsse, nicht gut handeln zu können […].“2 Das Böse soll nicht zu seiner Überwindung anstacheln, was sowieso unmöglich ist, sondern dazu, endlich zu handeln und politische Fakta zu schaffen. Politische Menschen flüchten bei Machiavelli nicht vor Realitäten, sondern ergreifen die Notwendigkeiten ihrer Zeit und wandeln diese um, so dass sie dem politisch Angesagten dienen. Dabei darf man auf keinen Fall zimperlich sein in der Wahl seiner Mittel. Der Politiker unterscheidet sich vom Normalsterblichen darin, bereit und fähig zum Bösen als Mittel zu sein. „Wer ein Mensch ist, soll sie [die grausamen und unchristlichen Mittel der Politik, d.V.] fliehen und lieber im Dunkel des Bürgerstandes leben, als die Krone tragen zum Verderben so vieler ihm gleich geschaffener Wesen.“3 Entscheidend ist für einen die Krone tragenden Fürst, dass er bereit ist zu jeder notwendigen Maßnahme gleichgültig, ob es sich um Gutes oder Böses handelt. „Um sich auf dem Throne zu behaupten“, kann kein Fürst bloß Gutes tun.4 Im Erheben über den Willen der Bürger zeigt

2 Machiavelli, Niccolò: „Vom Fürsten“, in: Alexander Ulfig (Hg.), Machiavelli Hauptwerke in einem Band, Köln: Parkland 2000, S. 15. 3 Ebd., I, 26. 4 Ebd., I, S. 19.

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sich Souveränität. Webers Idee des Gewaltmonopols ist später eine Wiederaufnahme dieses Gedanken, wie dargestellt werden wird. Oberstes Gebot für einen Staat ist es laut Machiavelli, sich selbst zu erhalten. Seine Souveränität ist sich selbst genug, weil sie aufgestellt ist gegen die Abgründe menschlicher Freiheit. Die Staatsraison muss erfüllt sein. Hegel schreibt diesen Gedanken in seiner Verfassungsschrift Machiavelli zugute.5 Dessen Fürst sorgt dafür, dass kein Einzelzweck dauerhaft gegen den allgemeinen Zweck steht, die Herrschaft zu erhalten. Machiavellis Hauptinteresse ist es, die geeigneten Mittel dafür auszumachen.6 Der Staat darf nicht bedroht werden von der Freiheit, die ihn gegründet hat. Er muss über dieser stehen und Mittel und Wege finden, den Einzelwillen in geordneten Grenzen zu halten. Dies ist seine wesentliche Funktion nach innen, so bestimmt es Machiavelli und nach ihm fast die gesamte Philosophie des Staates. Vor den eigenen Mitteln darf für Machiavelli die staatliche Autorität nicht zurückschrecken. Weil der Fürst überall auf Übel trifft, muss er sich selbst des radikal Bösen zu bedienen wissen, damit das Böse in Schach gehalten wird und das Gemeinwesen funktioniert. Keine Bedenken dürfen einen Staatslenker nach Machiavelli davon abhalten, etwas für das Gemeinwohl Gutes auch mit bösen Mitteln durchzusetzen. Damit die römische Republik ihre Freiheit hätte bewahren können, hätte man nicht zögern dürfen, auch die gesamte „Saat des Brutus“ auszulöschen.7 Andernfalls ist die Herrschaft gegen Usurpatoren nicht auf Dauer gesichert. Die Herrschaft ist für Machiavelli nicht böse, sondern jenseits der Unterscheidung von Gut und Böse. Für moralische Fragen hat ihre Wirklichkeit nichts übrig, ist keine Zeit. Was Machiavellis Ruf als Revolutionär wirklich begründet, ist seine neue Sicht auf das, was für einen Politiker geboten ist. Was „virtù“ ist, wird neu bestimmt. Es kann nicht immer vernünftig sein, sich tugendhaft zu verhalten. Theoretische Einsicht und praktische Vernunft müssen nicht immer an einem Strang ziehen. Die Antinomie im praktischen Wesen und dessen Erscheinung wird im Zweifelsfall mit dem Verweis auf die Macht Gottes gelöst. Mit dieser bewahrt sich auch der Humanismus der Renaissance vor dem Angriff des moralischen Nihilismus. Die humanistische Moral wird von Machiavelli hingegen als nicht tauglich für die Praxis eines Fürsten negiert. Andere mögen ihr folgen, der Fürst hat Höheres zu tun. In Kapitel 15 des Fürsten wendet Machiavelli daher die überkommenen Tugenden, indem er sie relativiert an Zeit und Notwendigkeit. Er stellt sich vor, der Fürst mache ernst mit den Kardinaltugenden. Kaum ein Herrscher genügte diesen wirklich, und das Prinzip der Herrschaft wäre nie sicher vor moralistischen Angriffen. Die Herrschaft bekämpft bei Machiavelli das Böse und muss sich daher jenseits der moralischen Potenz begeben, jenseits

5 „Der Staat hat keine höhere Pflicht, als sich selbst zu erhalten.“ (VD, 556) 6 Vgl. Münkler, Herfried: „Machiavelli: die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz“, Frankfurt/Main: Fischer 1995, S. 284. 7 Vgl. N. Machiavelli: Staate, III, 3.

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von Gut und Böse. Humanistisch wird kein Staat gemacht, sondern indem man den Notwendigkeiten folgt. Wenn der Fürst sich stellt, wird ihm auch „fortuna“ hold sein.8 Für Machiavelli muss dem Menschen misstraut werden, damit seine politische Form der Republik entstehen kann. Seine neue Göttin Geschichte lehrt, „dass, wer einer Republik Verfassung und Gesetze gibt, alle Menschen als böse voraussetzen muss, und dass sie so oft die Verkehrtheit ihres Gemüts zeigen werden, als ihnen Gelegenheit dazu wird.“9 In Frage steht für Machiavelli nicht die prinzipielle Boshaftigkeit der Menschen, sondern wie es überhaupt gelingen kann, diese wenigstens über eine gewisse Zeit zu verbergen. Der Schein des Guten kann lediglich eine unverständliche und „verborgene“ Ursache haben und ist das wahre Mysterium einer endlichen Freiheit, welche eher zum Bösen und Selbstsüchtigen neigt. Irgendwann wird letzteres dementsprechend auch von der „Zeit“ zur Erscheinung gebracht, „welche man die Mutter der Wahrheit nennt“.10 Für Machiavelli ist das Gute eher ein Mysterium als das Böse, das den Menschen seiner Ansicht nach viel näher liegt. Diese werden „niemals etwas Gutes tun, wenn sie nicht dazu gezwungen sind; sondern dass alles in Verwirrung und Unordnung gerät, sobald ihnen freie Wahl bleibt und sie sich gehen lassen. Man sagt daher, Hunger und Armut machen die Menschen betriebsam, die Gesetze machen sie gut.“11 Das Böse ist Folge der menschlichen Freiheit, das Gute gründet im Zwang gegen die „freie Wahl“. Gesetze moralisieren laut Machiavelli den Menschen, der durch die Übel in seiner Geschichte bewegt wird, und sind dazu da, die ihnen Unterworfenen auf die richtigen Bahnen zu zwingen. Sie veranlassen, dass nicht mehr der Selbstsucht gefolgt wird, sondern dem allgemeinen Wollen und dem Gemeinwohl. Der Geist der Gesetze zivilisiert die Bürger, indem in ihm der Geist großer Gesetzgeber fortwirkt. Wie durch die Gesetze Lykurgs muss durch staatliche Gebote den Menschen virtù beigebracht werden. Unterliefe für alle Zeiten niemand mehr die einmal aufgestellten Gesetze, kein Staat müsste auf die Freiheit aufpassen. Dies ist Politik, um gegen das Böse zu überleben. Diese Dimension der Politik tritt jetzt neben die ursprünglich antike Idee des guten, gemeinsamen Lebens. Wie die Ökonomie für die Menschen auf die Natur aufpasst, passen die Politik und ihre Rechtsmittel auf die Freiheit auf. Von nun an ist die Politik in eine Spannung zu sich selbst versetzt. Einerseits soll sie weiterhin die Freiheit verwirklichen, andererseits auch aufhalten. Genau diese Ambivalenz spiegelt sich in allen Politikbegriffen der neueren Zeit wider. Der Staatslenker muss bei Machiavelli voraussetzen, dass der Mensch böse ist. Andernfalls muss der Fürst untergehen, denn er ist nicht zum letzten Mit-

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Vgl. ebd., I, 25. Ebd., I, 3. Ebd. Ebd.

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teleinsatz bereit. Ihn muss das Wollen seiner Untertanen misstrauisch machen, denn das ist nicht eins mit der Notwendigkeit der Freiheit, sondern beruht auf einem reinen Wollen, das sich auch über die Freiheit hinwegsetzen kann. Losgelassen droht die widersprüchliche endlich-unendliche Freiheit mit Anarchie. Weil der Mensch das reine Wollen hat, ist das Böse von ihm viel eher zu erwarten, als das Gute. Wie letzteres möglich ist, ist weit mehr ein Geheimnis. Bereit zum Machiavellischen Mittel zu sein, heißt politisch, bereit zum Zwang und zur Gewalt zu sein. Indem der Fürst diese souverän an sich bindet, weist er das Böse in seine Schranken. Lernen muss der Herrscher nicht mehr aus der christlichen Ethik, sondern aus der Geschichte, die ihm die Verfehlungen der Menschen offen legt. So steht die Herrschaft über dem Bösen. Alle Mittel von der Gewalt über List und Erziehung bis zur Religion werden von Machiavelli aufgeboten, um den Menschen vor sich selber zu schützen und in ein Management des eigenen Bösen einzubinden. „Alle Menschen sind undankbar, unbeständig, heuchlerisch, furchtsam und eigennützig.“12 Diese Gewissheit ist systematische Voraussetzung der Machiavellischen Art, einen Staat und Politik zu machen. Machiavelli braucht keine Erbsünde mehr, um festzustellen, dass der Mensch von Natur aus eher dem Bösen zugeneigt ist. Es genügt ihm die Beobachtung so vieler „schreiender Beispiele“ in der Geschichte. Machiavelli will eine neue Politik formen, die sich auf staatliche Souveränität konzentriert. Diese soll sich selbst genug sein. Ihr Erfolg gibt ihr Recht und nicht ihre Tugend. Durch das Böse im Menschen werden auch radikal böse Maßnahmen des Staates legitimiert. Wo das Böse ist, ist der Zwang und das Tiersein des Fürsten gerechtfertigt.13 Seine „realistische“ Anthropologie dient Machiavelli dazu, eine bestimmte Form der Herrschaft zu begründen. Böse Menschen machen die Republiken und deren Souveränitätsmonopol gut. Aber es gibt nicht nur böse Menschen, sondern eben auch solche, die durch ihre virtù alle anderen überragen.14 Wäre das radikal Böse der menschlichen Natur hinreichend handlungsbestimmend, so wäre auch keine Machiavellische Republik möglich. Gegen Engel, die sich nichts zu schul-

12 N. Machiavelli: Fürst, S. 17. 13 „Diese doppelte strategische Funktion seines Menschenbildes, logische Voraussetzung und legitimatorische Absicherung des modernen Staates zugleich zu sein, kann als eine der wichtigsten Innovationen in der politischen Theorie Machiavellis gesehen werden. Indem Machiavelli den Menschen als ein böses, weil ehrgeiziges, ruhm- und herrschsüchtiges, von dem Verlangen nach Macht und Besitz beherrschtes Lebewesen zeichnet, vermag er die staatliche Repression und die dazu erforderlichen Apparate in vollem Umfang zu legitimieren.“ (H. Münkler: Machiavelli, S. 266) 14 Machiavelli hat die Problematik der Einteilung der Menschen in Gut und Böse gesehen: „Die Menschen verstehen äußerst selten ganz gut oder ganz böse zu sein.“ (N. Machiavelli: Staate, I, 27) Aber aus der menschlichen moralischen Ambivalenz spricht für ihn allein der Mangel. Menschen müssen Kompromisse schließen und in Verhandlungen treten, sind keine starken politischen Geister.

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den kommen lassen haben, bleibt Gewalt ein Unrecht, denn sie kann nicht als Strafe für vorher begangenes Unrecht auftreten und als Negation einer Negation der Ordnung rechtens sein. Engel sind jedoch genauso wenig auszuschließen wie Teufel. Machiavelli hat diese einfache Überlegung nicht beachtet und deswegen seine Politiker zur organisierten Kriminalität angestachelt, indem er diesen das Misstrauen in die menschliche Natur verordnet hat, bevor sich überhaupt in schlechten Taten äußert, dass der Mensch verdorben ist. Mit einer starken Souveränität an der Spitze erreicht die Herrschaft bei Machiavelli das, was sie soll: Erfolg im „Management des Bösen“.15 Wer gegen die Härte der staatlichen Gewalt protestiert, weil er im Menschen Gutes vorhanden sieht, dem wird von der politischen Philosophie empfohlen, im eigenen Inneren nachzuforschen. Besonders Hobbes tut sich darin hervor, die Gewalt in der Politik mit der Skepsis gegenüber der eigenen Motivation zu begründen. „Nosce te ipsum, lies in Dir selbst“, stellt die Einleitung des Leviathan fest und stellt damit das Prinzip des Hobbesschen politischen Systems auf. „Wer eine ganze Nation zu regieren hat, muss in sich selbst lesen.“16 Am Anfang der Wissenschaft von der Ordnung unter den Menschen steht die Selbstbeobachtung, die feststellt, dass Ich keinem trauen kann, nicht einmal mir selbst. Hobbes beendet die optimistische Anthropologie, die Sammelpunkt der französisch bestimmten Aufklärung gewesen ist.17 Seine Staatsphilosophie setzt dort ein, wo „man sich Mühe gibt, die eigensten Gefühle zu beobachten“. Diese republikanische Anthropologie, die keine wissenschaftliche Ausbildung verlangt, stellt an die erste Stelle „den allen durch Erfahrung und von jedermann anerkannten Grundsatz, dass der Sinn der Menschen von Natur so beschaffen ist, dass, wenn die Furcht vor einer über alle bestehenden Macht sie nicht zurückhielte, sie einander misstrauen und einander fürchten würden […]“.18 Die soziale Natur der Menschen ist bei Hobbes von Misstrauen geprägt. Der Andere erzeugt Furcht. Hobbes geht von der antiken Voraussetzung des zoon politikon ab. Der Mensch sucht keine Gesellschaft um der Gesellschaft willen, sondern er will sich dadurch Vorteile verschaffen. Seine Gesellschaftlichkeit ist daher Zufall. Hobbes’ Anti-Aristotelismus erklärt den Staat zu dem menschlichen Artefakt überhaupt, denn das „Öffentliche“ muss den Menschen „heilig“ sein.19 Physei ist der Mensch laut Hobbes apolitisch, als Naturwesen ist es ihm um die eigene Macht zur Selbsterhaltung zu tun. Die Selbsterhaltung ist für Hobbes das primum

15 Nach Sfez ist Politik für Machiavelli „management of the proportion between good and evil and its regulation in time“ (Sfez, Gérald: „Deciding on Evil”, in: Joan Copjec (Hg.), Radical Evil, London; New York: Verso 1996, S. 126-149, hier S. 132). 16 Hobbes, Thomas: „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates“, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, Einleitung, S. 7. 17 Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: „Die Philosophie und die Wilden: Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte“, Hamburg: Junius 1994, S. 7ff. 18 T. Hobbes: Bürger, Vorwort an die Leser, S. 68. 19 Vgl. T. Hobbes: Leviathan, 3.35.

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bonum, was sich für ihn aus der Umkehrung dessen ergibt, was es politisch zu verhindern gilt: den gewaltsamen Tod.20 Sie leistet, was bei Aristoteles Vernunft ermöglicht hat, denn bewegt wird eine Handlung nicht mehr durch ihren Zweck, aus der Vernunft leitend entsprungen. Vielmehr sucht diese nur noch die Mittel zur Realisation von dem, was die conservatio sui befiehlt. Die Vernunft ist nicht mehr notwendige Bedingung der Bewegung, der Mensch ist an sich bewegt durch seine Physiologie. Die Hobbessche Freiheit gründet in der notwendigen Unbestimmtheit menschlicher Begierden. Die sich rastlos bewegenden Körper erstreben begehrend die Freiheit. Weil die Physik des Subjekts hinreichend ist, damit gehandelt wird, ist die Moralphilosophie bei Hobbes nunmehr nur noch eine „Klugheitslehre“ im Kantischen Sinne. Sie gibt dem Subjekt die Mittel an die Hand, damit dieses sein Verlangen stillen und matter in motion sein kann. Als gutes, weil kluges Leben wird bei Hobbes die conservatio sui verstanden: sibi bene esse.21 Aber mit diesem guten Leben ist es nicht getan. Ist Gott allmächtig, ist seine Selbsterhaltung ungefährdet. Anders die endlichen Wesen, deren Selbsterhaltung ist andauernden Gefahren ausgesetzt. Ohne stetiges Überwinden von Grenzen keine Selbsterhaltung beim Menschen. Die Macht, die dazu dient, ist folglich allein als eine sich ständig ausdehnende. Der letzte Kampf ist bloß die Vorbereitung für den nächsten. Den entscheidende Hinweis liefert Hobbes’ These, dass „jeder […] mit Naturnotwendigkeit seinen Körper und das zu seinem Schutz Notwendige zu verteidigen sucht.“22 Das primum bonum der Selbsterhaltung zu erreichen und das maximum malum, unser Objekt sozusagen, der Negation der Selbsterhaltung durch (gewaltsamen) Tod zu vermeiden, beides zwingt das Ich zur Machtakkumulation, dem Hobbesschen maximum bonum.23 Weil die Macht von Hobbes nicht rückgebunden wird an soziale Verhältnisse wie Ökonomie oder Kultur, ist er zuerst Anthropologe und anschließend Gesellschaftstheoretiker.24 Der Mensch ist Kern des politischen Systems, so lautet die 20 Vgl. Hobbes, Thomas: „Vom Menschen“, in: ders., Vom Menschen – Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, Hamburg: Meiner 1994, 11.6. 21 Vgl. ebd. 22 T. Hobbes: Bürger, 2.3. 23 „Erhaltung impliziert Sicherung. […] Vielmehr besteht die neue Identität in der puren Funktion: Ich bin dann bei mir selbst, wenn ich mich fortlaufend steigere, wenn ich unterwegs bin beim Sammeln von Macht.“ (Weiß, Ulrich: „Das philosophische System von Thomas Hobbes“, Stuttgart, 1980, S. 150f.) 24 Man muss aber mit MacPhersons Theorie des Besitzindividualismus festhalten, dass Hobbes trotzdem von vergesellschafteten Individuen ausgeht, denn „ein natürlicher Mensch ist ein zivilisierter Mensch, nur ohne die Beschränkung durch Gesetze“ (MacPherson, C.B.: „Die politische Theorie des Besitzindividualismus“, Frankfurt: Suhrkamp 1990, S. 43). MacPhersons vorwiegende Feststellung ist, dass Macht aus physiologischen Prämissen allein nicht abzuleiten ist. Wie jedes menschliche Verhalten suspendiert auch das im Naturzustand die Ordnung der Dinge. Dass sich Menschen überhaupt zueinander verhalten, sei es auch bloß im Kampf um knappe Güter, setzt bereits die reine Kausalität nach Naturgesetzen außer Kraft und erklärt, dass diese nicht als einzige in der Welt ist. „Und weil Hobbes seine Darstellung (im

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Überlieferung von Hobbes und seine „anthropologische Wende".25 Dies macht ihn selbstredend ungemein interessant für eine Theorie über die bösen Menschen in der Theorie der Politik. Die neue Ambivalenz der Politik, die Machiavelli angestoßen hat, bekommt bei Hobbes ein Fundament in der menschlichen Freiheit. Die Macht ist nichts anderes als die Fähigkeit, Übel von sich abzuwenden und Gutes für sich zu erreichen.26 Ohne das bewegte Ich wäre bei Hobbes keine Macht. Um den eigenen Interessen dienen zu können, muss man stetig danach streben, die eigene Macht zu erhalten und zu vergrößern, so bleibt man am Leben und verhindert den eigenen gewaltsamen Tod. Politik treibt Hobbes an, nicht weil es ihm um ein über praktische Vernunft definierbares Endziel geht, sondern weil er von Unhintergehbarem getrieben wird. Was man bereits ist, ist entscheidend, nicht, was sein soll.27 Und soviel steht fest: Jeder kann jeden töten, darin sind alle „gleich“.28 Da aber der Tod für Hobbes nichts Unveränderliches repräsentiert, ist mit dieser Gleichheit nicht nur eine abstrakte Möglichkeit ausgesagt, sondern vielmehr die Chancengleichheit aller. Auch geringster physischer Kraft wird durch die Technik die Chance gegeben, andere zu töten. Dass Kain Abel erschlagen hat, symbolisiert so die Notwendigkeit der Veränderung, weniger das Versprechen eines wieder zu erlangenden Paradieses.29 Hobbes erklärt die conservatio sui zur Konstante von jedem politischen System. Weil es ihm hauptsächlich um die Erhaltung jedes Mitgliedes aller Gesellschaften zu schaffen ist, ist Hobbes ein Metaphysiker der Politik. Nicht die Lehren aus Rom eines Machiavelli sind sein Argument, sondern die Prinzipien des Zusammenlebens physischer Wesen, die mit Klugheit ihre „motions“ aufeinander abstimmen können. Autarkie kann dabei nicht die Erhaltung garantieren, denn diese ist unmöglich in systematisch-arbeitsteiligen Gesellschaften. Jeder muss Teil eines genügend starken Ganzen der Macht sein, damit ihn seine Anderen nichts anhaben können. Hat aber Teil A genügend große Macht gesammelt, um die eigene Erhaltung zu garantieren, bedroht er auf diese Weise vielleicht Teil B. Die Furcht vor einem einsetzenden Machtkampf bewegt sowohl A als auch B. Im Hobbesschen Zustand ohne Staat findet solche Bewegung keinen Abnehmer. Dort beherrschen die tobenden Selbsterhaltungen den Krieg aller gegen alle,

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Leviathan und in den Elements) mit der physiologischen und psychologischen Analyse des Menschen als eines Systems bewegter Materie beginnt, vergisst der Leser leicht, dass die ganze Konstruktion auf Hobbes’ Vorstellung von der zivilisierten Gesellschaft gründet.“ (Ebd., S. 44) „Der Mensch ist das neue archimedische Prinzip." (U. Weiß: System, S. 132) „Macht ist im Ich beheimatet und kommt aus ihm hervor.“ (Ebd., S. 124; vgl. T. Hobbes: Leviathan, 1.6; 1.10; 1.11) Vgl. Chwaszcza, Christine: „Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil. des Leviathan“, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Thomas Hobbes: Leviathan, Berlin: Akademie-Verlag 1996, S. 96. Vgl. T. Hobbes: Bürger, 1.3. Die exakte praktische Vernunft, die die Veränderung definiert, erlöst von der Erbsünde (vgl. T. Hobbes: Bürger, Vorwort an die Leser, S. 61).

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worauf im zweiten Teil dieses Abschnitts über Hobbes noch näher eingegangen werden wird. Der Zustand ohne Zentralmacht über den Einzelmachten ist negativ bestimmt als bellum omnium contra omnes, in dem niemand seines Besitzes und seines Lebens sicher sein kann.30 List der Selbsterhaltung ist es, dass dieser Krieg auch Aufstand ist gegen seinen eigenen Grund, mithin „Erbsünde“ des Politischen ist, denn er verhindert, was er zu erreichen versprach, weil gesicherte Selbsterhaltung in weite Ferne rückt. Daran bildet sich laut Hobbes die menschliche politische Vernunft und formt, die allgemeinen Folgen eines allgemeinen Krieges einsehend, den Leviathan, dessen Allmacht künftige Auseinandersetzungen zu verhindern weiß, weil er Macht ist über den verteilten Einzelmächten der Individuen. Dass homo homini lupus est, ist Konstante der politischen Metaphysik von Hobbes.31 Der Wolf sucht beständig nach mehr Macht, die ihm die eigene Erhaltung noch besser garantiert, und versetzt daher die Welt in einen allgemeinen Kriegszustand. Deswegen ist er aber noch lange kein böses Tier. Hobbes wehrt sich gegen einen Einwurf gegen ihn. Er behaupte nicht, dass die Natur die Menschen auf das Bösesein festlege. Misstrauen gegen den Nächsten sei aber immer angebracht, schließlich zeige die Anschauung nicht unmittelbar an, ob jemand gut oder böse sei.32 Mit den Wölfen im Schafsfell, aber auch den Schafen im Wolfsfell ist für Hobbes stets zu rechnen, weil ihre Bewegtheit nicht festgelegt ist, ohne dass man diese als unmoralisch voraussetzen muss. Die Aussage, die Menschen seien von Natur aus böse, widerspricht sich selbst. Die Natur, auch die menschliche, sei an sich schuldlos, ihr Verhalten notwendig und nicht aus Freiheit, damit von niemanden zu verantworten. Die Erhaltung des Selbst ist bei Hobbes zuerst, noch bevor überhaupt von Zurechnung eines Guten oder Bösen zu einem Subjekt zu reden ist. „Deshalb gleicht ein böser Mann so ziemlich einem kräftigen Knaben oder einem Manne mit kindischem Sinn, und die Bosheit ist nur der Mangel an Vernunft in dem Alter, […]“.33 Bosheit ist folglich bei Hobbes bloß „Mangel an Vernunft im Alter“ und eine privatio boni. Dieser Mangel ist zu beheben, ohne dass die Bosheit und deren Träger mit Stumpf und Stil ausgerottet werden müsste. Kein Mensch ist von „Natur aus böse“.34 Die Natur ist moralisch neutral. Es gibt bei Hobbes noch eine politische Lösung für das Problem des Bösen, denn dies ist nicht absolut. Die vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit, soweit sie unter den Bedingungen einer nach Kant rein „technischen“ Vernunft möglich ist, bindet die Bürger an ihr Gemeinwesen, andernfalls könnte Hobbes auch kaum Metaphysiker des Politischen genannt werden. Damit das Böse nicht mehr ist, ist Einsicht in die Not30 Vgl. T. Hobbes: Leviathan, 1.13. 31 Hobbes selbst lässt diese Beobachtung nur für den zwischenstaatlichen Verkehr gelten. Vgl. T. Hobbes: Bürger, Vorwort an die Leser, S. 59. 32 Vgl. ebd., S. 68ff. 33 Ebd., Vorwort an die Leser, S. 69. 34 Ebd.

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wendigkeiten des Irdischen verlangt. Man muss sich seinem Staat unterwerfen wollen, damit man sich mit Anderen verträgt und züchtigt so seine Leidenschaften. Mit Vernunft und Gewalt, die die Vernunft als Technik des Überlebens wollen kann, ist dem natürlichen Nichtfestgelegtsein der Menschen beizukommen. Die Aufgabe des Leviathans ist es, die Menschen vom wechselseitigen Abschlachten abzuhalten. Summum malum des politischen Systems von Hobbes ist der gewaltsame Tod durch andere, summum bonum das Vermeiden desselben. Im Tötenkönnen sind alle Menschen bei Hobbes gleich und können sich von hier aus ihr Politisches aufbauen. Die Politik ist derart bestimmt von einem Vermeidenwollen und nicht von einem Aufbauenwollen. Sicherheit für alle gegen alle anderen ist das Versprechen des Leviathans. Freiheit mit Anderen gibt es nur über die Gewalt eines Dritten. Jeder hier betrachtete politische Theoretiker wird das unterschreiben. Politisch führt das Drama der individuellen Freiheit zum Generalverdacht über jede Assoziation. Das Böse ist zu spüren nur im Kontakt mit Anderen. Ohne Wirkung auf andere Freiheiten wäre es auch moralisch von bloß theoretischer Bedeutung. Böse denken sich Hobbes und dessen Nachfolger den Anderen für die politische Praxis, auch wenn es so deutlich vielleicht nicht aussprechen und Bosheit nur ein „Mangel an Vernunft“ sein soll. Wenn sie auch ihre Ideen der Politik radikal von der Moral getrennt sehen wollen, das Böse wirkt fort. Schon die zweifelnde Aussage, dass man zumindest nicht auszuschließen vermag, dass es ist, macht für die Herrschaft jede Assoziation behandlungsbedürftig. Wie der Staat selbst sind die Menschen mit ihrer Machterweiterung beschäftigt, dessen Machtallgemeinheit ist direkter Spiegel von den unkontrollierbaren Begierden der Untertanenmenschen. Ein Hobbesscher Staat muss daher eine total positive Einstellung zum Gebrauch der Machtmittel auf Seiten der zentralen Gewalt haben. Umstürzler müssen aufgehalten werden und so die Ursünde des Politischen vermieden werden. Für diese Aufgabe geht Hobbes so weit, allen Untertanen ein eigenes Urteil über ihr Gutes und Böses zu entziehen.35 Von den „inneren Anlagen“, die eine staatsumstürzlerische Bewegung hervorrufen, ist die erste, dass das Urteil über Gut und Böse jedem Einzelnen zustehe.36 Dies stimme zum Aufruhr. Gelöst wird die Gefahr bei Hobbes, indem der Widerspruch durch die Einzelnen eliminiert wird und dessen Entscheidungsvermögen auf den Staat übertragen wird. Was der Gesetzgeber gebietet, ist gut, was er verbietet, ist böse.37 Die Regel über das Gute und das Böse macht der Repräsentant. Beide dür35 „Es gibt keine allgemeine Regel für Gut und Böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst entnommen werden kann. Sie entstammt vielmehr dort, wo es keinen Staat gibt, der Person des Menschen, oder im Staat der Person, die ihn vertritt, oder aber einem Schiedsrichter oder Richter, den uneinige Menschen durch Übereinstimmung einsetzen und dessen Urteil sie zur Richtschnur machen.“ (T. Hobbes: Leviathan, 1.6.) 36 Vgl. T. Hobbes: Bürger, 12.1. 37 Vgl. ebd.

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fen keine rein privaten Begriffe sein. Hobbes kritisiert diese Auffassung im Gegenteil als ersten Grund der Dissoziation eines Staates. Mit dem moralischen Gut und Böse eines Kants wäre dies nicht zu machen gewesen. Es ist über dem Urteil auch des politischen Souveräns. Bei anderen Autoren hätte der Entzug des Urteils über Gut und Böse zur vollständigen Negation der Persönlichkeit eines Menschen geführt. In einem politischen System, dem es vorwiegend um die Gemeinschaft der Bedürfnisse geht, ist der Entzug des Resultats der Ursünde nicht so dramatisch. Begehren kann der Mensch immer noch, auch wenn er geistig ohne eigenes moralisches Urteil ausgeschaltet ist. Seine Freiheit ist nicht die über Gut und Böse. An der Unterscheidung von Recht und Unrecht für sich selbst soll das neuzeitliche Subjekt seine Substanz haben. Hobbes nimmt ihm dies und übergibt das Rechte vollständig der Staatsgewalt. Diese ist es nun, von der es einzig keine Unverschämtheit mehr ist, dass sie Ich sagt. Vernunft und Moral, alles gibt der Staat seinen Menschen, diese gewinnen dafür mehr Macht zur Selbsterhaltung. Hobbes erzählt die Geschichte vom Sieg des Interesses an Sicherheit über die Freiheit. Preis der Sicherheit ist das Ende des Individuums, welches durch keinen eigenen Gehalt mehr davon abgehalten wird, Teil des Sicherheitsganzen zu sein.38 Will man sein eigenes Gutes und Böses bestimmen, ist man bei Hobbes ein Thronräuber, denn lediglich einem König ist dies erlaubt. Die Souveränität muss verhindern, dass sich unter den von ihr Bedachten ein anderes Maß für das Gute und Schlechte als das ihrige ausbreitet.39 Auch moralisch sollen die Subjekte ganz und gar an ihren Staat gebunden sein.40 In dem Sichern der moralischen Einstellung der Individuen gewinnt die Machtallgemeinheit die Sicherheit über ihre Voraussetzung in der Freiheit der einzelnen Subjekte. Hat diese sich einst zum Staat entschieden, kann sie sich jederzeit auch wieder gegen diesen wenden. Der Freiheit ist nicht zu trauen, die Politik muss dies ganz realistisch sehen. Immer können sich die Gesinnungen der Menschen gegen sie wenden, wenn sie

38 „Einen substantiellen Halt gibt es für das Individuum nicht, seine eigene ‚Substanz‘ ist, cum grano salis, das Produkt permanenter Propaganda, und diese kann den bürgerlichen Staat entweder stützen oder stürzen helfen. Hier gerät Hobbes in das Dilemma jeder Ideologiekritik, die die Wahrheit als selbständiges Kriterium eliminiert und nur noch Interessen werten kann. Übrig bleibt ein Wettbewerb der Zwecke, in dem jede Partei ihren Zweck als den besseren betrachtet, so wie Hobbes Frieden und Stabilität in Gesellschaft und Staat.“ (Grossheim, Michael: „Religion und Politik. Die Bücher III und IV des ‚Leviathan‘“, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Thomas Hobbes: Leviathan, Berlin: Akademie-Verlag 1996, S. 283-316, hier S. 309) 39 Vgl. T. Hobbes: Bürger, 3.31. 40 „Wenn dagegen die einzelnen Bürger das Urteil über das Gute und Böse für sich beanspruchen, so wollen sie soviel wie der König sein, was mit der Wohlfahrt des Staates sich nicht verträgt. Das älteste Gebot Gottes lautet, 1. Moses 2,17: ‚Von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen‘, und die älteste Versuchung des Teufels lautet, Kap. 3,5: ‚Ihr werdet sein wie die Götter und die Erkenntnis des Guten und Bösen haben.‘“ (Ebd., 12.1)

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sich zu viel Macht einräumen. Wie ein religiös fundierter, so muss auch ein moralisch gegründeter Aufstand gegen die Souveränität vermieden werden. Weber wird stellvertretend für die gesamte moderne politische Philosophie feststellen, dass die christliche Liebesethik von den Spitzen des Staates vertrieben werden muss. Andernfalls droht laut ihm mit einem religiösen Anarchismus das Schlimmste, was man sich in der Staatstheorie vorstellen kann. Wie bei Machiavelli kann auch bei Weber nicht „dieselbe“ Ethik für politisches Handeln gelten wie für anderes Handeln. Politisch ist eine Ethik der Macht gefragt. Jede Ethik, insbesondere aber die christliche der Bergpredigt, kann nicht gleichgültig den Mitteln gegenüberstehen, die die Politik einzusetzen bereit sein muss. Gewalt wird gerade von der christlichen „akosmistischen“ Liebesethik apodiktisch abgelehnt.41 Politik darf es laut Weber nicht allzu ernst sein mit christlichen Überzeugungen. Diese halten vom Notwendigen ab, indem sie Gewalt um jeden Preis verdammen. So müssen die allzu christlichen Wege an der Politik vorbeigehen. Auch muss der Politiker von seinem Menschenrecht zu lügen Gebrauch machen können, wenn es die Sachlage erforderlich macht. Immer Christ zu sein hindert ihn daran. Es ist nicht zu verantworten, denn in der Politik ist Wirksamkeit das entscheidende Kriterium, und nach Folgen fragt die „absolute Ethik“ nicht.42 Das Aussperren der Folgen in der Wirklichkeit macht bei Weber eine Ethik zu einer Technik der „Gesinnung“. Das Motto „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim“ verstellt sich der politischen Aufgabe. Das Interesse daran, was beim Rechthandeln herauskomme, muss über Religionsphilosophie hinaus in der Politik und deren Wissenschaft verankert sein. Letztlich beruht nach Weber der Erfolg der „Verantwortungsethik“ darauf, dass die empirischen Umstände des Handelns beherrschbar sind. Er verlässt sich auf die wissenschaftlichtechnische Vernunft, jedem Zweck die geeigneten Mittel bereitzustellen. Man muss die Folgen schon abschätzen können, sonst wäre die Verantwortungsethik verantwortungslos. Die christliche Liebesreligion verdammt Weber als „apolitisch“, denn sie ist auf „religiösen Anarchismus“ ausgerichtet, indem sie Gewalt verweigert.43 Fundamentalchristliche Gesinnung will die andere Wange hinhalten und nicht mit Gewalt widerstehen, was seine „Antipolitik“ ausmacht.44 Verantwortungsethik meint, dass man für das aufkommt, was aus dem eigenen Handeln folgt. Gesinnungsethik fehlt es an Folgen, die es anerkennt. Daher ist sie nicht einfach nur fern – in „heiliger“ Distanz – von dem schmutzigen Geschäft der Politik, sondern verhindert dieses sogar. Denn sie verweigert sich dem messbaren Erfolg in Raum

41 Vgl. Weber, Max: „Politik als Beruf“, Stuttgart: Reclam 1992, S. 69. 42 Ebd., S. 62. 43 Vgl. Weber, Max: „Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß d. verstehenden Soziologie“, Tübingen: Mohr 1980, S. 357. 44 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 357.

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und Zeit, welcher vielmehr in die Zeit hinter der Zeit verschoben wird. Nach dem Tod soll Gott den Erfolg bringen, den die Welt im Leben versagt hat. So ist auch die Gesinnungsethik auf Erfolg und Nutzen ausgerichtet, aber auf einen, der unberechenbar bleibt, weil er sich der Einsicht entzieht. Gesinnungsethiker, so sieht es Weber, machen allein die Welt und die metaphysisch unausrottbare Dummheit der Menschheit für üble Folgen verantwortlich. „Der Verantwortungsethiker hingegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen […]“.45 Ohne die Menschen als mindestens schlecht zu sehen, hat auch bei Weber die Politik keinen Rechtsgrund. Allein das kühle Kalkül der Übel lässt die Kalkulation über mögliche Folgen der eigenen Handlungen aufgehen. Die Ethik der guten Menschen verbietet geradezu Politik, denn sie will keine schmutzigen Hände, die bereit und in der Lage sind, auch mal Gewalt anzuwenden und ethisch bedenkliche Seiteneffekte hinzunehmen. Menschlich kommt die Politik nicht weit genug. Die Gesinnungsethik muss laut Weber politisch scheitern, denn sie kann sich nicht darauf einlassen, dass ein Zweck die Mittel heiligt. Verzweifelnd an der Irrationalität der Welt, droht bei ihr, dass sie letzte Schlachten schlagen will und „letzte Gewalt“ zur „Vernichtung aller Gewaltsamkeit“ anwenden will. Weber attestiert der „chiliastischen Prophetie“46 den Hang zum terreur und wählt Dostojewskis Figur des Großinquisitors als Exempel. In dieser Geschichte wendet sich die Moral gegen ihren eigenen Grund. Sie erzählt, wie Jesus im 16. Jahrhundert in Spanien erscheint und vom Großinquisitor zum Tode verurteilt wird – mit vollem Bewusstsein, wer da verurteilt wird. Die Argumente sind erstaunlich und doch irgendwie zwingend. Jesus wird verantwortlich dafür gemacht, dass die Göttlichkeit den Menschen die Freiheit zum Guten und zum Bösen mitgegeben habe. Die Freiheit ist letztlich Grund für alle Sünden und muss daher vom aufrechten Krieger für das Gute nicht sicher sein. Ihre Wahl muss eingeschränkt werden, damit das verfluchte Jammertal Welt in Schach gehalten wird. Die Bürde der Freiheit kann selbst bloß von einigen wirklich Heiligen getragen werden, und Jesu Schuld ist es, diese breit gestreut zu haben. Seine Bergpredigt habe in unverantwortlicher Weise der massa damnata Freiheit und Erkenntnis des Guten und Bösen überantwortet. Man sieht, die Figur ist von Weber gut gewählt. Sie stellt dar, wie nahe den politischen Moralisten der Aufstand gegen den eigenen Grund liegt. Die moralistische Wirklichkeit ist eine durch und durch moralische und damit nach Nietzsche und Weber unwirklich. Das führt zunächst in den Aufstand gegen die Wirklichkeit, die jedoch dem an sie herangetragenen Ansinnen nie genügen kann. Jetzt drohen der Gesinnung nicht mehr Teile der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit an sich. Kants Rückfall in den Stoizismus in seiner moralischen Asketik 45 Ebd., S. 71. 46 M. Weber: Politik, S. 73.

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zeugt davon. Alle ihre Gesinnungswerte beanspruchen absolute Geltung, auch wenn sie sich zueinander wie Katz und Hund verhalten. Dass z.B. Ordnung und Freiheit sein muss, lässt sich nicht immer vereinen. Hier liegt die Sprengkraft der Ethik und ihre Verantwortungslosigkeit. Sie ist in ihrem Kern irrational, weil widersprüchlich, was sich zu einem nie gekannten Furor gegen die Welt entwickeln kann, der in jeder Situation das eine oder andere seiner widersprüchlichen Rechte auf seiner Seite sieht. Wie Hegel schon gegen Kant festgestellt hat, gibt es für die Ethik viele Pflichten, welche alle für sich absolut sein wollen. Weber sieht als das starke Argument der Gesinnungsethiker, dass aus Gutem nichts Böses und aus Bösem nichts Gutes folgen kann, wogegen er den „ganzen Verlauf der Weltgeschichte“ anführt.47 Auch für ihn ist die Geschichte die wahre Rechtfertigung der Durchsetzungsfähigkeit des guten Prinzips. Dem Politischen stellt sich laut Weber die Misere, ob aus Bösen nur Böses folgen könne oder auch Gutes. Er nimmt explizit Bezug auf das „uralte Problem der Theodizee“, um Antworten auf die Misere zu finden. Die Erfahrung der Irrationalität der Welt legt Weber als treibendes Motiv der Entwicklung der Religionen dar und stellt fest, dass die Religionen schon lange Gewalt in ihre Ethiken eingebunden haben.48 Am Ende dieser religiösen Versöhnung von Gewalt und Ethik der Liebe steht für Weber die Moderne des Protestantismus und Islams, die beide Gewalt als Mittel der (Glaubens-)politik anerkannt haben. Der Katholizismus hat sich weniger modern im Zweifel auf die Erbsünde berufen können, um mit dem Schwert die kosmische Ordnung gegen Ketzer und Dämonen zu verteidigen. Die Theodizee ist Weber gemäß für solche Entwicklungen treibendes Motiv, denn sie beschäftigt das Problem in der Frage, ob Gott recht gehandelt hat, als er dem Mensch die Möglichkeit zum Bösen gegeben hat. Leibnizens Idee mag zwar an Kant gescheitert sein, hat sich jedoch auf dem Feld der Politik als sehr produktiv herausgestellt. Dem hat sich auch Kant nicht verschlossen, wie zu sehen sein wird. So kann man mit Weber sagen, dass Augustinus nach dem frühen Christentum den Menschen die Fähigkeit zur politischen Ordnung wiedergegeben hat, gerade weil er deren Böses angenommen hat. „Auch die alten Christen wussten sehr genau, dass die Welt von Dämonen regiert sei, und dass, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einlässt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt, und dass für sein Handeln es nicht wahr ist: dass aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil.“49 Wer letzteres nicht einsieht, der ist nach Weber „politisch ein Kind“50 und muss erzogen werden. Weber sieht sich durch die Revolutionen sei-

47 48 49 50

Ebd. Vgl. ebd., S. 73f. Ebd., S. 74. Ebd.

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ner Zeit des Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg voll bestätigt. Seine „Gegenwart als Beispiel“, die Zeit des politischen Chaos in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, zeige deutlich, wohin es führe, wenn „Glaubenskämpfer, der religiöse wie der revolutionäre“, ihre Gesinnung zur tragenden Macht der Wirklichkeit erklärten.51 Politik wird so unmöglich und blanke Gewalt regiert. Der Politiker muss für Weber wie bei Machiavelli seinen Pakt mit dem Teufel schließen, ja die Fähigkeit, über seinen guten Schatten zu springen, ist seine herausstechende Qualität. Nur so ist man in der Lage, ein Reich zu schaffen, das von dieser Welt ist. „Wer das Heil seiner Seele und die Rettung anderer Seelen sucht, der sucht nicht auf dem Wege der Politik, die ganz andere Aufgaben hat: solche die nur mit Gewalt zu lösen sind.“52 Weber stimmt explizit Machiavelli zu, dass politische Helden solche sind, denen „die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele“.53 Für die Politik macht es nach Machiavelli und Weber keinen Sinn, an das Gute im Menschen zu glauben. Das hält sie bloß von ihren fundamentalen Aufgaben ab, was auch Max Weber unterstreicht. Das Gute mag es geben; die Politik hat das Böse zu verhindern, das aus der Gefahr der Freiheit droht. Der Staat besteht bei Weber dann, wenn er ein Gewaltmonopol über den Interessen der Einzelnen aufgebaut hat. Seine Ausführenden müssen lernen, wie diese Gewalt richtig einzusetzen ist und wie sie legitim sein kann. Maßstab des richtigen Handelns in der Politik sind dabei weniger moralische Grundsätze als die Verpflichtung darauf, den Untergang des Menschen durch sich selbst zu verhindern. Der Politiker muss nach Weber bereit sein, sich über seine Moral hinwegzusetzen, um dem politischen Wohl des Volkes zu dienen. Er muss lernen, Macht zu gebrauchen, hierin sieht Weber die Aktualität der Machiavellischen Gedanken zur Basis der Republik. Kinder und politische Moralisten haben keinen praktischen Verstand, so Webers Vorwurf. Man müsse es mit der Feststellung halten, dass aus Bösem auch Gutes werden könne, andernfalls wäre die Politik verloren. Sie wäre allein wieder „dämonische“ Gewalt und ihr eigener Anspruch, mehr zu sein als das Recht des Stärkeren, wäre gebrochen. Es ist laut Weber das spezifische „Mittel der legitimen Gewaltsamkeit […], was die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt.“54 Ein politisches System mit zentraler Gewalt kommt, diesen Ideen Webers gemäß, nicht ohne die eigene Geschichte aus, die es zum Guten aus dem Bösen erklärt. Wer auch immer mit diesem Mittel „paktiert“, hat seinen Vertrag mit dem Teufel schon gemacht. Er hat sich dem Bösen ausgeliefert, was Politiker notwendig tun, um Herrschaft zu gründen. Mit reiner Vernunft ist laut Weber Herrschaft ausgeschlossen und damit Politik, denn sie beruht nicht auf einer endgültigen Einsicht der von ihr Betroffenen, sondern lediglich darauf, dass

51 52 53 54

Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd., S. 77.

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sie als legitim erachtet wird. Anderes wäre ihr auch nicht möglich, denn objektiv kann sie nie sein. Wie auch immer die Position des Rechts in den politischen Theorien dieses Kapitels gewesen ist, vor allem mit Macht wird das Böse ausgeschlossen. Kant und später Hegel sehen das anders. Ihnen ist die Realisation des Rechts bestes Mittel, Unfreiheit im Umgang der Menschen miteinander auszuschließen. Das Recht ist bei Kant nicht allein Mittel, das eine Freiheitstier vor den anderen zu schützen, sondern Grund überhaupt, mit Vernunft von Freiheit in den äußeren Beziehungen der Menschen reden zu können. Das Rechtsgesetz ist für ihn nicht Konvention, um zu überleben, sondern a priori Basis des Zusammenlebens von Freiheitswesen in der Welt. Weil jedoch, wo Recht ist, auch immer Unrecht ist, gehören laut Kant Recht und Zwang analytisch zusammen. Auch für Kants Recht sind Zwang und Macht keine Externa. Sie negieren Unrecht. So findet sich auch in Kants Recht eine „böse“ Kraft, die Gutes schafft.

Das Rech t als Ende der Versuchung bei Kant

Für Kant hat es keinen Zweifel daran gegeben, dass die Vernunft selbst Gewalt genug besitzt, Staaten zu stabilisieren, denn sie ist Basis der Grundlage des Politischen, Basis der Kantischen Idee der Freiheit. Ohne Vernunft keine Freiheit auch in weltlichen Dingen. Zugleich ist es für Kant auch mit der Vernunft kein Problem, die nicht weiter rationalisierbaren Elemente äußerer Herrschaft zu akzeptieren, denn das menschliche Böse, gegen das diese gestellt sind, hat seinen Ursprung in derselben Vernunft wie das Gute. Die menschliche Autonomie ist bei Kant als Freiheit aus Vernunft die nicht weiter begründbare Antwort auf die Frage: unde malum. Gegen eine Freiheit, die wie das Böse auch noch objektiv ist, muss die Tat, die sie ändern will, politisch motiviert sein. Sie kann ihren Grund nicht mehr in der Theorie haben, die das Wesen menschlicher Unvollkommenheit erkennt und die das Böse lediglich als Modus defizienten Seins wahrnimmt. Das Böse ist Faktum des Menschen für den Menschen. Als Faktum, das dem Menschen unabhängig von seinem gesellschaftlichen Zustand zukommt, ist es dasjenige, was die Menschen auffordert, ihre Äußerlichkeit umzugestalten, damit „das gute Prinzip“ ist, „welches den Sieg über das Böse behauptet“ und darin auch irdisch wird, indem „unter seiner Herrschaft der Welt ein ewiger Friede“ zugesichert ist (VI, 124). Der beste Kantianer aller Zeiten Fichte hat in seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen das politische Prinzip klar auf den Kampf gegen das Böse eingestimmt: „In dem einzig wahren Staate wird überhaupt alle Versuchung zum Bösen, ja sogar die Möglichkeit, vernünftigerweise eine böse Handlung zu beschließen, rein abgeschnitten seyn, und es wird dem Menschen so nahe gelegt werden, als es ihm gelegt werden kann, seinen Willen auf das Gute

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zu richten.“1 Der Staat darf nichts übrig lassen vom Wirken des Bösen auf Erden und muss sich mit aller Kraft gegen es stemmen. Sein Erfolg wird an dessen Misserfolg gemessen. Das Böse als Tatsache durch den Menschen vorausgesetzt, fragt die politische Moderne mehr, was dagegen zu geschehen habe. Die religiöse Betrachtung wird ersetzt durch die Frage, wie das Böse und mit ihm seine natürliche (Un-) Ordnung des Menschen zu domestizieren ist. Auf welche Art und Weise aus dem Chaos natürlicher menschlicher Freiheit mit ihrem Hang zum Bösen Ordnung folgen kann, wird in der politischen Aufklärung durch eine politische Ordnung beantwortet. Diese kann als Vereinigung der vom Bösen Kontaminierten nicht mehr auf den natürlichen Trieb der Mensch zur Gesellschaft hoffen, wie er Basis griechischer „Politik“ gewesen ist, sondern muss den subjektivistischen Abfall von diesem kontrollieren, den das Böse immer wieder hervorrufen soll. Der moderne Staat ist, wie Fichte gesagt hat, einzig wahr dort, wo es ihm gelingt, das Böse in die Schranken zu verweisen. Daher ist ihm, wie dargestellt, eine ambivalente Grundhaltung gegenüber der menschlichen Freiheit zu eigen. Das Böse zu verhindern, geht nach Kant allein, indem man die Vernunft bejaht. Politik gehört zum Tun gegen das Böse, das nach den Erkenntnissen der Kantischen praktischen Philosophie und Religionslehre als Faktum durch die menschliche Freiheit für die menschliche Freiheit vorauszusetzen ist. Sie wirkt bei Kant recht, wenn sie dem Recht folgt, in dem die auf äußere Zustände ermäßigte Freiheit wirkt. Das Recht verspricht bei Kant, äußere Wirkungen zu ermöglichen. In ihm wirkt die Freiheit in die äußere Welt hinein und lässt sie nicht links liegen. Das Recht bestätigt, dass Kants Freiheit nicht so weit aus der Welt entfernt worden sein kann, dass sie deren rechte Entwicklung nichts mehr anginge. Die praktische Vernunft erscheint in Fragen des Rechts lediglich als oberste Gesetzgeberin, die dafür sorgt, dass es überhaupt „Prinzipien des Verfahrens“ gibt (vgl. VIII, 275). Für das Verfahren selbst ist sie ausgeschlossen. Das besorgt die rechtliche Vernunft und mit ihr die rechte Politik. Wirksam werden diese, während die praktische Vernunft in ihrer durch Abstraktion des Äußeren gewonnenen Selbstbestimmung verharrt. Kant bestimmt das Recht als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (VI, 230). Danach ist eine jede Handlung recht, „die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (vgl. ebd.). Letzteres ist allgemeines Prinzip des Rechts, in dem formuliert ist, wie eine äußere Handlung „recht“ werden kann. Es ist ferner Maßstab a priori, wie auch Politik „recht“ werden kann. Anders als durchs Rechte bestimmt, wäre Politik lediglich „Machtstreben“ (vgl. VIII, 370ff.). Deswegen fällt 1 Fichte, Johann Gottlieb: „Die Bestimmung des Menschen“, in: Immanuel Hermann Fichter (Hg.), Fichtes Werke, Bd. II, Berlin: de Gruyter 1971, S. 276.

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Kants politische Theorie, die einen Anspruch an die Wirklichkeit formuliert, unter sein System der äußeren Freiheit – die Rechtslehre. Eine Politik, bei der aus der Macht die Freiheit folgt, erscheint dem keine Kosten und Mühen der Vernunft sparenden Kant ausgeschlossen. Sie ist vielmehr in einer berühmten Formulierung von Kant „ausübende Rechtslehre“ (VIII, 370). Dies darf nicht so verstanden werden, als ob die Politik bei Kant lediglich das exekutiert, was ihr vom Recht befohlen ist.2 Sie muss sich gleichwohl an diesem orientieren und von ihm

2 Dieser Arbeit ist kein eindeutiger Begriff des Politischen vorausgesetzt. Am Schluss soll lediglich klar werden, warum Politik notwendig für die Realisation der Freiheit und nicht nur notwendiges Übel ist, weil die Menschen nicht ausreichend moralisch sind. Wenn sich diese Arbeit überhaupt auf einen positiven Hintergrund für die Idee des Politischen stützt, dann auf diejenige Kants. Bei diesem ist Politik als „ausübende Rechtslehre“ (VIII, 370) bestimmt. Von vielen wird daher angenommen, Kant habe gar keinen eigenständigen Begriff für die Politik, Politik sei bei ihm vielmehr Rechts- und Staatshandeln und nicht mehr (vgl. Vollrath, Ernst: „Kants Kritik der Urteilskraft als Grundlegung einer Theorie des Politischen“, in: G. Funke (Hg.), Akten des 4. Internationalen Kantkongresses, Kant-Studien-Sonderheft, 1974, S. 692f.). Diese Auffassung ist in neuerer Zeit verschiedentlich kritisiert worden (vgl. Sassenbach, Ulrich: „Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant“, Würzburg: Königshausen und Neumann 1992.). Als reines Staatshandeln kann Politik keine freiheitliche Praxis sein, weil ihr (frei nach Kant) Selbstbestimmung versagt wäre und sie sich nicht ihr eigenes Gutes geben könnte. Das Gute wäre ihr in den Formen des Staates vorausgesetzt, wobei die Politik bloß hoffen kann, dass diese Formen durch irgendeine andere menschliche Praxis wohlgeformt sind. Das hat Kant für die Politik nicht gewollt. Sein Terminus der ausübenden Rechtslehre bezieht sich vielmehr auf seine Idee eines Rechtsgesetzes, welches seinem Rechtssystem a priori zugrunde liegt und macht, dass es frei genannt werden kann. In der äußerlichen Wirklichkeit ist eine Handlung laut Kant recht, „die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“ (VI, 230) In der Forderung, dass die Freiheit als Freiheit wirken können muss und dass dafür die Freiheit der Anderen zu achten ist, ist Kants Idee der ausübenden Rechtslehre Grundlage für den Begriff des Politischen dieser Arbeit. Betont ist nachgerade von Kants Idee für das Politische, dass die Freiheit die Menschen nicht bloß vereint, sondern auch trennt. Für die Politik existiert nichts, was ihre Subjekte automatisch in ihrer Freiheitsäußerung aufeinander bezöge, wie es der Anspruch auf Objektivität des Sittengesetzes für die Moral leistet. Insoweit ist Politik Verhandlungssache, die sich ihre Regeln selber geben kann. Das Rechtsgesetz Kants drückt nur die Grenzen dieser Regeln aus und sagt, was in der Politik nicht geht, wenn sie an der Freiheit orientiert sein will. Adorno sieht in der Negativen Dialektik etwas überschwänglich in Kants Rechtsgesetz einen „versöhnten Zustand“ chiffriert, gerade weil er die politische Freiheit so weit frei sein lässt, wie sie nicht „die Freiheit eines anderen beeinträchtigt“ (vgl. T.W. Adorno: Negative Dialektik, S. 279). In Kants Idee des Politischen als ausübender Rechtslehre steht somit an erster Stelle die Freiheitsäußerung und verwirklichung, bevor zur Ordnung derselben übergegangen wird. Zuerst kommt die Politik, dann ihr System als Staat. Diese Arbeit hat einen positiven Bezug auf die Politik, wo mit dieser die Kraft gemeint ist, die Voraussetzungen und Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens zu kritisieren und zu verändern. Den Kampf gegen das Böse hingegen führt die Politik meist unter umgekehrten Vorzeichen.

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„belehren“ lassen, d.h. vor allem darf sie nicht den Prinzipien des Rechts als Inbegriff einer wechselseitigen Freiheit unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit widersprechen.3 Politik ist mithin bei Kant eine Praxis des Rechts, die nicht von Richtern und Anwälten ausgeführt wird. Ist das Recht einmal konstituiert, liegt es für Kant als Allgemeines den besonderen Handlungen der personalen Subjekte zugrunde und gibt deren Willkür die Form. Dieses System der Verbindlichkeit ist folglich a priori, nicht induktivgeneralisierend, sondern konstitutiv für die Definition eines besonderen Verhältnisses als rechtens und entsteht bei Kant nicht aus dem vereinigten Willen der Subjekte. Sein Rechtsbegriff ist nicht Generalisierung des Verhältnisses, wo zwei oder drei versammelt sind. Es ist als synthetisch-allgemeine Struktur diesen Beziehungen bereits vorausgesetzt. „Alle Rechtssätze sind Sätze a priori, denn sie sind Vernunftgesetze (dictamina rationis)“ (VI, 249), und können niemals aus der Verallgemeinerung entstanden sein, da sie dann von höchstens „komparativer Allgemeinheit (durch Induktion)“ (III, B3) sind. Kant ist gegen gängige Vorteile kein Vertragstheoretiker. Die Kantische Rechtsphilosophie ist der Versuch den äußeren Freiheitsgebrauch mit Vernunft zu unterlegen, damit was recht ist, nicht dem Gutdünken Einzelner unterliegt. In der Rechtslehre zeigt sich die republikanische Gestalt des Kantischen Formalismus. Grund genug, die Kantische Rechtslehre nicht als bloß formal abzutun, sondern ihrer Entfaltung zu folgen.4 Im Rechtsgesetz ist das moralische Gesetz auf die Bedingungen äußerer Wirklichkeit ermäßigt worden, denn es ist das praktische Gesetz, das nicht mehr nur für einen Einzelnen gilt, sondern für einen Plural freier Willkürsubjekte. Dieses äußere Prinzip der Freiheit ist nicht wie in der Ethik beschränkt, das Prinzip meines Willens zu sein, sondern ist das des Willens eines jeden. Die Rechtslehre will lösen, wie auch antagonistische Zwecke, die dem allgemeinen Zweck gänzlich widersprechen, miteinander in Freiheit überleben können. Damit die Situation eines solchen Antagonismus überhaupt der Regelung durch ein praktisches Prinzip zugänglich ist, muss dieses abstrahieren von allen ethisch-inneren Verhältnissen der Subjekte zu sich selbst. Das Rechtsprinzip muss unabhängig werden vom Gut und Böse eines Einzelnen. Auch bei Kant liegt das Politische systematisch jenseits der moralischen Differenz von Gut und Böse, wenn es dem Rechtsgesetz folgt. Kant unterscheidet Recht und Moral entlang des äußeren Zwangs. Letzterer ist für die reine praktische Vernunft äußerlich, weswegen auch kein direkter Weg bei Kant von Recht zu Moral führt.5 Hegel wird nach ihm diesen Übergang dem 3 Dies entwickelt: Gerhardt, Volker: „Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik“, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 464-488, hier S. 478f. 4 Vgl. Deggau, Hans Georg: „Die Aporien der Rechtslehre Kants“, Stuttgart; Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1983, S. 55. 5 Vgl. Kersting, Wolfgang: „Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie“, Berlin; New York: de Gruyter 1984, S. 127.

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Verbrechen zuschreiben, das einerseits eine Rechtstatsache ist und andererseits erste Elemente einer selbstbestimmten Subjektivität in sich vereinigt (vgl. GR, §99). Verstöße gegen das Recht, also Verbrechen, dürfen bei Kant legitim mit Zwang gegen den Verbrecher beantwortet werden. Beim Strafen wird auf die Waffen der Leiblichkeit gesetzt. „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.“ (VI, 331) Die Moral billigt diesen körperlichen Angriff auf die Freiheit. Sie ist zwar Begründerin der Möglichkeit der Freiheitsausübung auch des Rechts, weil sie die Pflichten begründet, muss hier jedoch zurücktreten. Die Rechtspflichten gelten ohne eine ethische Ausnahme und versagen auch dort nicht, wo die Moral selbst in ihren kühnsten Ideen nicht mehr hinreicht. Wahrlich aufgestellt ist nach Kant ein Recht erst, wenn es selbst wirksam gegen ein Volk von Teufeln wäre, das sich die Moral gar nicht ausmalen will (vgl. VIII, 366). Radikaler, als es in dieser Aussage Kants anklingt, kann man das Recht kaum gegenüber der Moral verselbständigen. Das Recht darf erzwungen werden. Das folgt laut Kant analytisch, d.h. bei ihm immer nach dem Satz des Widerspruchs aus dem Begriff des Rechts und der Definition des Zwangs als Einschränkung der Willkürfreiheit. Dieser ist bei Kant allein dann legitim, wenn er Mittel ist, um verlorene Gesetzeskonformität wiederherzustellen. Der Zwang ist Recht als Negation einer Negation, so will es die postfeudale Welt des Rechts. Zumindest ein Böses ist daher nicht nur nicht-gut. „So ist der Zwang, der diesem [dem Hindernis der Freiheit, d.V.] entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend […]“ (VI, 231). Für den Zwang ist das Physische Gesetz seines Handelns. Das Metaphysische des Menschen, dessen Freiheit, kann nicht gezwungen werden. Das widerspräche dem Dualismus von Freiheit und Determinismus bei Kant. Es muss phänomenal reagiert werden. Gegen den freien Selbstzwang der Ethik wäre jeder äußere Zwang Unrecht. Im Recht ist bereits von jeder Triebfeder abstrahiert, weil es nicht vom Willen, sondern von der Willkür beherrscht wird. Dem „stricten Recht ist nichts Ethisches beigemischt“ (VI, 232), daher sind das Recht und dessen Anwendung äußerer Mittel des Zwanges angemessen. Physisch muss erzwungen werden, dass wieder Recht ist. Diese Zwangsbefugnis ist laut Kant allgemein und alle sind ihr gemäß gleich, weswegen die Zwangsbefugnis im Recht wechselseitig ist, weil „Recht und Befugniß zu zwingen einerlei bedeuten“ (vgl. ebd.). Wo Ich ein Recht habe, dort kann Ich die Anderen zwingen. Damit der Zwang Wirkkraft sein kann, muss nach Kant „die berüchtigte Frage, wegen der Gemeinschaft der Denkenden und Ausgedehnten“ (III, A392) beantwortet werden. Wenn schon nicht der Geist direkt zu beeinflussen ist, so doch zumindest dessen Träger in der Welt. Das Gemeinschaftliche von Denken und Ausgedehnten liegt im Bereich des Subjekts als dem gemeinsamen Dritten zwischen Denken und Körper, denn hier sind Körper und Nicht-Körper vereint. Das Recht interessieren die Körper und die äußeren Begrenzungen der Subjekte, de-

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ren Zusammenhang es regeln will. Das Gedachte der Zwangsbefugnis muss auf das Ausgedehnte des Körpers wirksam werden können. Kants Folgerung der Befugnis zu zwingen aus dem Rechtsgesetz ergibt sich allein dann analytisch, sind die Kausalitäten aus Natur und Freiheit doch irgendwie „gemeinschaftlich“, was aber nach der Freiheitsantinomie und dem Scheitern der Deduktion des Sittengesetzes nicht vorauszusetzen ist.6 Es muss sich eine neue Bedingung des Rechtlichen ergeben, die beides miteinander auf höherer Stufenleiter vereinigt: Eigene Freiheit und Zwangsbefugnis über andere gehören nicht zusammen wie Schwere und Körper, sondern erst durch ein gemeinsames Drittes der „rechtmäßigen Zwangsgewalt“, welche mit Recht auf und über die Körpersubjekte wirkt.7 An dieser Stelle des Gewaltmonopols stellen sich laut Weber die ethischen Probleme des Politischen. Wie Kant diese auflöst, entspricht dem Verlust seiner (politischen) Kindheit. Seine Rechtslehre behauptet die Rechtmäßigkeit des leiblichen Zwangs, damit die Idee der Freiheit wirklich werden kann. Gegen Hobbes setzt er, dass das Zwangssystem nicht nur Beschränkung natürlicher menschlicher Freiheit ist, sondern wesentlich Erweiterung derselben, indem deren Bestand gesichert wird (vgl. VI, 315f.). Ein Argument, das nötig wird, damit aus dem bösen Zwang das Gute der Freiheit folgt. Zwang erfordert immer eine weitere höhere Stufe des Zwangs, auf der das Unrecht der niedrigeren Stufe ausgeglichen werden kann. Am Ende der Ordnung des rechtlichen Zwangs steht ein zentrales Monopol der Zwangsbefugnis. Hier beginnt der Staat zu sein, nicht bloß in der Kantischen Rechtsphilosophie. In der Auffassung vom Staat als Zentrale der Gewalt unterscheiden sich weder Hobbes noch Kant noch Weber, wenn sie auch auf unterschiedlichen Wegen zum Aufbau der zentralen Gewalt kommen wollen. Freiheit, sofern sie aus Recht politisch ist,

6 Damit die Zwangsbefugnis, die sich analytisch aus dem Recht ergeben soll, wirken kann, ist die Anwesenheit des Leibes vorausgesetzt. „Das moralische System ist also das System der Regelung einer Abwesenheit: des Leibes. Das Recht ist das System der Regelung einer Anwesenheit: des Leibes. […] Der Leib ist immer als real vorausgesetzt, sonst ist die Identität von Recht und Zwang, der stets physischer Zwang ist, nicht sinnvoll und undurchführbar.“ (H.G. Deggau: Rechtslehre, S. 39). Dies ist nur eingeschränkt richtig. Das System praktischer Vernunft, „die Abwesenheit des Leibes“, ist der Metaphysik der Sitten als Philosophie der Pflicht überhaupt vorausgesetzt Zur Metaphysik der Sitten gehört neben der Rechtslehre noch die Tugendlehre. Diese ist als Vollkommenheits- und Glückseligkeitsethik material gemeint, kann von sich durchaus behaupten, dass der Leib in ihr anwesend ist (vgl. Kersting, Wolfgang: „Ist Kants Rechtsphilosophie aporetisch?“, in: Kant-Studien 77 (1986), S. 244). 7 „Herrschaft und Vereinbarung auf der einen, Freiheit und Zwang auf der anderen Seite, sind bei Kant nicht mehr einander entgegengesetzt, sondern im Begriff einer rechtmäßigen (die Freiheit eines jeden ermöglichenden) Zwangsgewalt vereinigt.“ (Riedel, Manfred: „Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie“. In: Z. Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 125-148, hier S. 266)

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benötigt den Zwang, was auch Kant unterschreibt. Zwang, nicht Tugend ist die adäquate Antwort auf das sich kollektiv auswirkende Böse. Er setzt die Rechtssicherheit, die das Gute ist, das nach Weber aus den dämonischen Mitteln der Gewalt folgen muss, damit Politik legitim sein kann. Ohne Zwang aus Recht herrscht nur der Zwang der bloßen Gewalt und die Anarchie, welche nicht durch die Natur ausgeschlossen werden kann, weil diese zu mehr als bloß dem Guten neigt. Der status civilis ist bei Kant auch dann bürgerliche Zivilisation, wenn er Resultat von Gewalt im status naturalis gewesen ist (vgl. VI, 256). Dass der status civilis entsteht, ist bei Kant nicht allein Recht jedes Einzelnen oder eines Kollektivs, sondern Pflicht in äußerer Hinsicht. Seine Errichtung wäre ansonsten nicht rechtmäßig. Für das „natürliche“ Subjekt wird in jedem Moment seines Lebens der Sprung in den status civilis zur höchsten Berufung, welche auch mit Gewalt erwirkt werden darf.8 Vom verwirklichten Recht her gesehen, setzt die Legitimation zu zwingen eine wirksam gewordene rechtswidrige Tat voraus.9 Beim Erschaffen des Rechts reicht für Kant die Möglichkeit der Rechtsverletzung, um die Legitimation zum Zwang zu begründen. Die Natur des Menschen hat die zu negierende Tat offensichtlich immer schon in sich selbst vollbracht. Vor dem Recht ist lediglich die Unmoral falsch verwirklichte Freiheit gewesen. Kants Argument gegen den status naturalis und für die Pflicht in den Rechtszustand ist die „natürliche Schlechtigkeit“ des Menschen, welche die dauernde Gewalttätigkeit gegeneinander nicht ausschließen kann. Kants Beweisgrund ist, dass die Freiheit immer falsch sein kann.10 Deswegen soll das Subjekt „vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten“ (VI, 312). Vor dem Recht ist mithin keine Basis einer Gemeinsamkeit zwischen den Menschen gewesen. Vielmehr hat jeder getan, was ihm „recht und gut dünkt“, was nichts anderes bedeutet als, dass man sein Selbst über den Bezug zu Anderen gestellt hat und dem Schrecken des reinen Wollens gefolgt ist. Die Erfahrung solcher „Bösartigkeit“ braucht nicht mehr abgewartet zu werden, damit andere in den Rechtszustand gezwungen werden können. Auf die wirkliche Feindseligkeit

8 Aus dieser bloßen Möglichkeit zur Läsion wird das zentrale Argument Kants für die Errichtung eines status naturalis (vgl. VI, 307). 9 Taten können einem Subjekt erst als verwirklichte zugerechnet werden, andernfalls wäre jedes Subjekt tendenziell vorverurteilt. Aber mit intelligibeler Tat und radikal böser Anlage in ihm ist es das auch. 10 „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, dass, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen.“ (VI, §44)

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ist nicht zu warten, diese muss nicht „Factum“ geworden sein (vgl. VI, 307). Es reicht das Bewusstsein davon, dass der Andere mich mit dem malum seiner menschlichen Natur ständig bedroht.11 Recht wird nach Kant nicht aus schlechten Erfahrungen geschaffen, sondern weil man die Gefahr der Freiheit begriffen hat, nach der niemand vor dieser sicher sein kann. Der Übergang ins Recht scheint bei ihm geschichtliche Fakta nicht nötig zu haben. Für die Begründung eines natürlichen malum morale hingegen hat die Erfahrung eine konstitutive Rolle gespielt (vgl. VI, 32f.) und begründet, dass vom Menschen überhaupt gesagt werden kann, dass er von Natur aus als mit einem verderbten Hang ausgestattet ist. An der entsprechenden Stelle in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft fehlt es nicht an entsprechenden Ausführungen, wie verderbt und feindselig der Naturzustand ist. Es werden aus Kants Gegenwart verschiedene Stämme der „Wilden“ zitiert, deren Anschauung „Auftritte von ungereizter Grausamkeit“ und „immerwährenden Krieges“ (VI, 33) darbieten.12 Die Einbildungskraft zeichnet in Kants Religionslehre das Bild eines Zustands, in dem jeder „tut, was ihm recht und gut dünkt“ und wild ist. Verwirklichte Zustände des A-Rechtlichen werden so veranschaulicht, die eine Befriedung durch das Recht als drängende Aufgabe darstellen. Dass sich Kant zum Bild genötigt sieht, führt vor, dass der reine Begriff des Naturzustands den Übergang nicht hinreichend begründet und wirklich gewesene Zustände des absoluten Unrechts das Recht begründen müssen, die aber unter reinen „Rechtlosen“ und „Wilden“ kaum zu finden sein werden. Kant meint, dass solch ein Übergang von Natur in Recht analytisch zu haben ist, weswegen er bei ihm auch jenseits von Zeit und geschichtlicher Tat ist. Das „Vor“ bei dem „vor der bürgerlichen Verfassung“ ist bei ihm keine zeitliche, sondern eine begriffliche Bestimmung.13 Für Kants gewaltsamen Schritt ins Rechtliche braucht es keine Erfahrung mehr, es genügt zu wissen, dass das malum morale trotz des schönsten Scheins immer und überall ist. Aus dem Ursprungsrätsel, der Unerforschlichkeit des Bösen, wie sie die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft präsentiert, folgt seine Unberechenbarkeit, ganz „natürlich“ aus der Freiheit entstehend, die es zur Bedingung und nicht zum Grund hat. Es entspringt dem „Mysterium der Freiheit“ (GR, §139), wie Hegel es später formuliert. Für die Rechtfertigung des Übergangs ins Rechtliche wird diese kritische Wendung positiviert. Die unkontrollierte Freiheit wird zum Grund,

11 „Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.“ (VI, 307) 12 Überhaupt wird Kant nicht müde, Rousseau die Verderbtheit des natürlichen Zusammenseins der Menschen darzustellen. Damit befindet er sich jenseits seiner systematischen Funktion des Naturzustandes für die Begründung des Rechtlichen. 13 „Die apriorische Methode ersetzt die erzählerischen Momente der Vertragstheorie durch die rein begrifflichen Ableitungen; auf den souveränitätsbegründenden Mythos wird verzichtet zugunsten der reinen Idee der Vernunft.“ (Adam, Armin, „Despotie der Vernunft? Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel“, Freiburg, München: Alber, 1999, S. 18)

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dass Böses geschieht und aus dem Mysterium die nie getane Tatsache. Hier bedarf es nicht mehr der Erfahrung, die das Subjekt vielleicht zu Recht nach Recht verlangen lässt. Auch wo „engelhafte“ Naturstämme erfahren werden, wird ins Rechtliche übergegangen. Es bleibt der Mensch, und der neigt zur unbedingten Ich-Bezogenheit, die das vernünftige Allgemeine und die Achtung gegenüber den Bedürfnissen anderer den eigenen Bedürfnissen opfert. Durch sein Böses wird das Recht zur Naturnotwendigkeit des Menschen. In seiner bereits in der Einleitung zitierten Bemerkung zur Freiheit erregt sich Kant über die schlimmste Form der Unfreiheit. Die (rechtlose) Herrschaft von Menschen über Menschen ist das „erschrecklichste Joch“ (XX, 91f.), denn ihr regelloser Eigensinn kennt kein Maß der Herrschaft. Diesem Joch müssen sich die Menschen im Übergang zum Rechtlichen aussetzen, weil ihre ungehemmte Freiheit mit dem Bösen droht.14 Die Staatserrichtung ist nicht nur für ein „Volk von Teufeln“ lösbar (vgl. VIII, 366), sondern Kants eigene Lösung erscheint als die für ein Volk von Teufeln, weil die Gewalt im Übergang allein gegen diese unmoralischen Wesen gerechtfertigt ist. Menschen können diesem negativen Ideal einer Gemeinschaft des Bösen zwar nicht entsprechen, sie können nicht nur Negatives wollen, sie verdienen sich aber trotzdem denselben Staat wie die Teufel.15 Das macht, dass die Kantische Staatserrichtung „so hart klingt“ (vgl. ebd.). Sie hat ihren Grund im Drama menschlicher Freiheit, die das Gute bringen soll und die Gefahr des Bösen bereitet. Das Böse ist Schandmal des animal librum, nach dem jeder Schritt, der mehr an Freiheit bringen soll, gleichzeitig auch einer ist, der diese einschränken muss. Dem Muster des Schritts vorwärts bei gleichzeitig zwei Schritten rückwärts entspricht genau die Kantische Idee der Politik, die

14 Im Zusammenhang des Verhältnisses von Recht und Zwang, also der Weberschen ethischen Frage des Politischen, argumentiert Kersting ähnlich. Er stellt fest, dass Freiheit und Zwang zugleich als allgemeines Gesetz gewollt werden können, wenn „die durch den Zwang bewirkte Nötigung als Verhinderung eines Freiheitsgebrauchs dient, der selbst nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden kann.“ (W. Kersting: Wohlgeordnete Freiheit, S. 128) Er bezieht den Freiheitsgebrauch, der nicht gewollt werden kann, allerdings nicht auf das Böse nach Kantischer Definition, weil es ihm darum geht, vom verwirklichten Rechtszustand aus das Recht des Zwanges zu begründen. Aufschlussreich auch Kerstings weitere Feststellung: „Nur dann ist eine Zwangshandlung legitim, wenn sie auf eine Handlung gerichtet ist, deren Ausführung bzw. Unterlassung moralisch notwendig ist.“ (Ebd.) Letzteres ist jedoch genau die Kantische Idee des Bösen als Objekt eines Verabscheuungsvermögens. Die Pflicht gegen das Böse kann so mit Kersting als „zwangsermöglichende Pflicht“ (ebd.) bezeichnet werden. 15 Nietzsche hat das Verhältnis der „Zivilisierten“ zu ihrer eigenen Naturvergangenheit sehr schön gefasst: In „fremder Wildnis“ wird aus dem Zivilisierten ein „frohlockendes Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermute und seelischem Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben.“ (F. Nietzsche: Genealogie, S. 231f.)

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sich den Erfordernissen der und durch die menschliche Freiheit stellt. Der Zwang ist die Antwort des Rechts auf die Gefahren aus dem eigenen Grund der Freiheit. Die Zwangsbefugnis ist das ethische Problem des Politischen. Sie muss sich rechtfertigen lassen und den Schluss erlauben, dass sie als Böses das Gute bedinge. Der reine Begriff des Naturzustandes reicht bei Kant nicht hin, den Übergang ins Rechtliche zu begründen. Er wird ergänzt durch die Voraussetzung, dass die Natürlichen natürlich schlecht seien. Ihren Grund hat diese in der Kantischen Verwurzelung des Bösen im Menschlichen. Kant ist sich der verdorbenen Natur der Freiheit so sicher, dass er ihre eigenständige Entfaltung nicht abwarten will. Dass auf jeden Fall das Rechtliche sein muss, lässt einen Zwang zur Kultur entstehen. Kant empfiehlt, nicht zu lange zu warten, bis man andere in das Licht des status civilis zwingt, weil jedem zumindest die abgründigen Hölle des eigenen Selbst gewiss sein muss. Man kann „die Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen […], in sich selbst hinreichend wahrnehmen.“ (VI, 307) Eine hinreichende Wahrnehmung meint in diesem Fall: Wenn die Neigung besteht, über Andere zu herrschen, ist es ein Mensch. Die „Natürlichen“ haben sich ihre Strafe verdient, die Negation ihrer eigenen Existenz durch das System des Rechtlichen. Wie bei Machiavelli muss auch bei Kant das von der Kultur des Rechts zu fressende Lebewesen böse sein. Dann braucht über die Gewalt gegen es im Übergang auch nicht mehr räsoniert werden. Dass die Menschen, denen dieser Übergang widerfahren ist, vielleicht nicht gefragt worden sind, verschwindet bei Kant im unbedingten Glauben an die gute Sache des Rechtszustandes. Das Böse meint auch im transzendentalen Idealismus die Legitimation des Politischen dort, wo es noch nicht ist. Wenn Kant auch wenig über Naturzustände gesagt hat, bleiben diese doch in seiner Theorie notwendig, weil sich rein „transzendental“ kein materiales Recht gründen lässt. Gegen das Böse der Natur weiß sich auch bei Kant das Gute des Rechts und des Politischen abzusetzen. Es spricht nichts dagegen, wenn sich eine Gesellschaft Recht gibt, um erlittenes Übel abzuwenden und sich in Zukunft davor zu schützen. Auch der eifrigste Staatskritiker oder Anarchist sollte es der jüdischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verübeln, sich zum Staat Israel zusammengeschlossen zu haben, nachdem sie durch die „Hölle“ maschinenförmiger Vernichtung gegangen waren. Reaktionärer Machiavellist wird Kant allerdings, wo er das geschichtliche Ereignis des Bösen nicht abwarten will, um notfalls auch einem „Volk von Engeln“ den Staat für Teufel zu geben. Hier spricht sich das Misstrauen des Aufklärers gegen seinen eigenen Grund aus, gegen die menschliche Vernunft. „Kultur“ wird zum Zwang, was sich selbst widerspricht, und jeden Menschen, der mit dieser konfrontiert wird, in einen Selbstwiderspruch treibt. Reales Unrecht setzt Recht, nicht irreales. Letzteres muss im Gegenteil Unrecht schaffen. Ein Staatswesen entsteht und zieht seine Legitimation daraus, dass es die Natur und ihre Ordnung aus Bösem überwunden hat. Deswegen sind Moral und Politik nie zu trennen und kommen stärker noch als im Guten im moralisch Bösen

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überein. Immer muss die Politik für ihren eigenen Anfang einen Zustand voraussetzen, in dem sie noch nicht geherrscht hat. Dessen Negation durch die Politik muss gerechtfertigt erscheinen, will die Politik nicht selbst als Irrtum der Geschichte dastehen, denn sie muss das „Rechte“ gesichert haben. Das kann sie allein gegen einen Zustand, in dem eine Freiheit geherrscht hat, die zu negieren gerecht gewesen ist und kein Recht dieses festgelegt hat. Es muss eine Ordnung des Bösen gewesen sein.16 Diese liefert das Gewünschte. Zum einen bietet eine solche Ordnung die „schreienden Beispiele“, die die Gerechtigkeit des Übergangs zum Rechtlichen fordern. Zum zweiten ist durch das System der Teufel garantiert, dass die „Natürlichen“ verantwortlich gewesen sind für das, was sie getan haben. Für seine reine Natur ist der Mensch nicht zu verantworten, für seine Natur der intelligibelen Tat schon. Hätte das Böse bei Kant nicht Natur und Freiheit zusammengefügt, hätte es kein Recht und keine Politik geben können. Naturzustand und rechtlicher Zustand unterscheiden sich nicht inhaltlich, denn provisorische und peremtorische Rechte sind begrifflich identisch und differieren einzig in der Form. Die Form des Naturzustandes ist bei Kant Unsicherheit, die Form des rechtlichen die Sicherheit. In diesem herrscht die iustitia distributiva, die die Institutionen der Gerichte garantieren (vgl. VI, 305). Die Sicherheit, zentrales Versprechen der Kantischen äußeren Freiheitslehre, ist nicht Versprechen aus gesellschaftlichen Verhältnissen heraus, die freiheitlich konstituiert in der Zwangsgewalt ihren Abschluss zur Totalität erfahren. Sie zeigt sich vielmehr trotz der Kantischen Versuche der rein analytischen Begründung als Versprechen gegen die menschliche Natur, in welcher die Gefahr des Bösen verborgen liegt. Folgt man Kants Bestimmung der Natur aus dessen theoretischen Schriften, so müssen seine Annahmen über die Konfliktpotentiale im Naturzustand verwundern. Die reine Mannigfaltigkeit der Natur liefert keinen Grund, in ihr irgendeine Gefahr lauern zu sehen. Kants Idee des Naturzustandes und die von anderen machen allein Sinn, nimmt man sie als argumentum e contrario. Befindet sich das Subjekt einmal im Staat, erklärt sich ihm leicht dessen Mangel, der Naturzustand. Die Realität des Staates ist etwas, dessen nihil privativum ist Nichts, wie die Kälte die Abwesenheit von etwas. Insofern erwartet der Naturzustand den Staat und ist in Nichts außer in seiner Begründungsfunktion für den Staat. Dieses Nichts hat sich als sehr produktiv für die Phantasie der Menschen über ihre Vorgänger in der Wildnis erwiesen. Entweder veredelte oder verteufelte der zivilisierte Mensch sich und seine logische Vergangenheit als Wilden. Rousseau bzw. Hobbes übernehmen in der Wahrnehmung der Philosophiegeschichte die Vorreiterrolle in den Erzählungen von dem edlen bzw. teuflischen Wilden. Beide begründen die Notwendigkeit des Rechtszustandes aus den Mängeln der mensch-

16 Genauer: Das Natürliche muss eine Ordnung des vollständig Bösen gewesen sein. Eine Privation des Guten ist durch Reform nicht durch Umwälzung der Verhältnisse zu ändern.

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lichen Natur an sich selbst, sei sie nun gut oder böse. Sie schaffen als Erzähler die Mythen, welche die Souveränität des Rechts dringend benötigt. Kant folgt, wie dargestellt, den beiden durchaus nach, wenn auch seine Rede von dem rein analytischen Übergang von Nicht-Recht in Recht etwas anderes suggeriert. Mit seiner Einstellung zur Anthropologie scheint er tendenziell eher Hobbes Recht zu geben, dass der Mensch im Staat vor sich selbst und der eigenen dunklen Seite geschützt werden muss.

Der Komplemen tärm yth os vom ed len o der s chlech te n Wild en be i Hobbes und Rous seau

Rousseau und Hobbes haben vor Kant die möglichen Richtungen der Zivilisation gegenüber ihren Wilden abgesteckt, zumindest wenn man ihrer Wahrnehmung in der Philosophiegeschichte folgt. In ihren Komplementärmythen von dem edlen bzw. dem schlechten Naturmenschen wird jeweils begründet, warum der Mensch als Wesen ohne Staat nicht weiterkommt. Bei beiden ist die dritte Gewalt Ziel der Natur. Bei Hobbes benötigt der Mensch ein Recht für seine Selbstbewahrung. Das Nichtsein desselben erlaubt jene nicht, denn in ihm kann niemand des Erfolges seiner selbsterhaltenden Handlungen so weit sicher sein, weil nicht ausgeschlossen ist, dass jeder jeden bekämpft. Am Ende profitiert im System des Nicht-Rechts allein der, der die Macht gehabt hat, die größer als die aller anderen gewesen ist. Und selbst dieser muss in dem Naturzustand verzweifeln, denn seine Macht ist lediglich so lange die größte, bis ein anderer mit noch größerer auftaucht. Im status naturalis ist nichts geregelt, jeder nimmt sich das Recht heraus, alles in seinem Besitz haben zu wollen. Für Hobbes muss das in die Katastrophe führen, denn das Recht eines jeden auf ein jedes Objekt ist schon logisch eine Unmöglichkeit. Diese Katastrophe wiederholt sich entsprechend bei Hobbes immer wieder bei seinen mehr oder weniger bösen Wilden, die allein ihre eigene Selbsterhaltung lieben und sie nicht an die von anderen binden. Hobbes gibt Naturvölkern keine Anleitung, wie ein Staat zu machen ist, sondern leitet an, dass unbedingt Recht zu geschehen hat, um das summum malum der Politik verhindern zu können. Verhindert wird der Bürgerkrieg, bezahlt wird mit dem wechselseitigen Verzicht auf das ius in omnia et omnes. „Die Natur hat jedem ein Recht auf alles gegeben […]. Und das ist der Sinn des bekannten Satzes: Die Natur hat allen alles gegeben.“1 Im reinen Naturzustand gilt nach Hob-

1 T. Hobbes: Bürger, 1.10.

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bes, dass jeder ein Recht auf alles hat. Dies und eine natürliche Neigung der Menschen, anderen aus eitler Selbstüberschätzung Schaden zuzufügen, lässt den Naturzustand bei Hobbes eins sein mit dem ewigen Krieg aller gegen alle. Ewig bedeutet, dass er eine unendliche Kettung von Auseinandersetzungen produziert.2 Jede Stabilisierung von Gesellschaftlichkeit und Ordnung der Freiheit wäre so auf Dauer unmöglich, denn kein Selbst könnte in diesem ständigen Überlebenskampf des Fressen und Gefressenwerden und im Fegefeuer der Eitelkeiten dauerhaft existieren.3 Die Selbsterhaltung, von Hobbes zum natürlichen Gesetz erklärt, ist dem Leviathan logisch vorgeordnet, nicht historisch.4 Eine Gesellschaft, in der sich alle schadlos selbst erhalten, ohne dass ein Dritter Konflikte ausräumt, kann es für Hobbes nicht geben, denn im Überlebenskampf habe man jedes Recht, zumal dann, wenn knappe Ressourcen ein ausschweifendes Überleben ausschließen. Der Naturzustand ist bei Hobbes ein allseitiges Konkurrenzverhältnis um das Essen desselben Apfels. Eine solche Form kann nicht funktionieren. Solch ein Zustand des Rechtes von allen auf alles kann Hobbes’ eigener Theorie nach nie geherrscht haben, weil die Logik verbietet, dass alle über alles Macht besitzen, denn das Alles umfasst das Alle. Der Naturzustand bei Hobbes ist theoretisch gesehen nicht bloß das, was keine Anschauung hat, sondern zudem das, was gar nicht gedacht werden kann. Er ist nihil negativum. Der monopolisierte Zwang des Leviathans ist ein Fortschritt gegen den nach Hobbes’ Bestimmungen unmöglichen Stand der Menschheit, wo jeder tut, was „ihm recht und gut dünkt“. Dazu wäre ein Bewusstsein des Rechten vorausgesetzt und die bewusste Umkehrung dieses Bewusstseins, also ein „teuflisches“ Werk, wie Kant festgestellt hat. Ein solches ist den Menschen jedoch unmöglich, aus der theoretischen Unmöglichkeit eines rechtlosen Zustandes stammt das „ethische Problem“ der Zentralgewalt nach Weber und der Anspruch, dass lediglich dort Recht ist, wo schon ein Staat ist. Das Böse, gegen das das Böse der Zentralgewalt legitim sein kann, kann kein reines Nichts sein. Man braucht kein „moralischer Fanatiker“ nach Nietzsches Missachten zu sein, um dies zu erkennen. Betrachtet man über die Theorie hinaus die Praxis der Staatengründung, darf der Naturzustand gegen Hobbes bei Gefahr des Unterganges des Rechtszustandes nicht pure Abstraktion sein. Die Zentralgewalt besitzt das Schwert und ist insofern materielle Gewalt. Sie benötigt einen materiellen Grund, denn Materie aus dem Nichts zu erschaffen, ist allein Gott vorbehalten. Die Geltung des Rechts 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. ebd., 1.2. 4 Das natürliche Gesetz ist „eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel seiner Erhaltung behaupten kann, und das zu unterlassen, wodurch er seiner Meinung nach am besten unterhalten werden kann.“ (T. Hobbes: Leviathan, 1.14.)

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wäre unvollständig, wenn sie Folge einer Abstraktion wäre und der Sinn des Naturzustandes nicht auch das reale Chaos einer Staatenlosigkeit beinhaltete. Man macht es sich zu leicht, geht man nicht auch auf den materiellen und gesellschaftlichen Ernst des Naturzustandes ein. Die Forschung hat sich zu sehr mit dem Gedanken angefreundet, dass der Naturzustand bei Hobbes (und anderen) reine Abstraktion ohne materielle Grundlage ist. Befriedigt man sich mit dieser Antwort und glaubt, es beim status naturalis mit einem bloß analytischen Bild zu tun zu haben, greift man zu kurz. Schließlich setzt jede Abstraktion einen Zustand voraus, von dem abstrahiert wird. Ein Schnellschuss ist es ebenso, jetzt im Anschluss an MacPherson u.a. anzunehmen, Hobbes abstrahiere eben von der Gesellschaft, die er vor seinen Augen habe, was die aufkommende Marktgesellschaft in der frühen, englischen Neuzeit wäre. Hobbes beansprucht mit seinem Naturzustandsargument universelle Geltung, die eine konkrete historische Situation kaum einzulösen vermag. Einen Leviathan zu gründen heißt, die Natur des Menschen schlechthin zu bändigen, weswegen hier auch eine Zivilisation und nicht nur eine bestimmte Gesellschaft geschaffen wird.5 Hobbes, wie alle nach ihm, die den status naturalis zur Zentralgewaltsbegründung ausschlachten wollen, wird konkrete Naturen anbieten müssen, damit seine Art des Rechts sein kann. Dazu braucht er nicht in die Vergangenheit zu schreiten, wenn das Schlechte nah ist. Schließlich beginnt die Neuzeit mit der Entdeckung der „Indianer“ durch Kolumbus. Dort findet der Ethnograph Hobbes Gebiete, wo das Unmögliche wenigstens teilweise getan wird. „Vielleicht kann man die Ansicht vertreten, dass es eine solche Zeit und einen Kriegszustand nie wie den beschriebenen niemals gab, und ich glaube, dass er so niemals allgemein auf der ganzen Welt bestand. Aber es gibt viele Gebiete, wo man jetzt noch so lebt. Denn die wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas besitzen überhaupt keine Regierung über kleine Familien, deren Eintracht von der natürlichen Lust abhängt und die bis zum heutigen Tag auf jene tierische Weise leben, die ich oben beschrieben habe.“6

Im ersten Kapitel von De cive bestätigen amerikanische Indianer die Wildheit staatenloser Menschen.7 Dieser Naturzustand der „Bösen Wilden“ ist laut Hinrich Fink-Eitel „Ethnologie der eigenen Kultur, deren praktische Kehrseite die innere

5 Dies entwickelt Hinrich Fink-Eitel in seinem Buch über Die Philosophie und die Wilden: „Kaum einmal wird in der Hauptströmung der Hobbes-Forschung die Frage wirklich ernst genommen, in welchem Sinne Hobbes vom natürlichen Zustand des Menschen spricht, und zwar so, dass er sich dabei auf historisch-ethnographische Beispiele bezieht. Man kann diese Frage auch wie folgt stellen: Wenn es zutrifft, dass Hobbes’ Theorie des Naturzustandes eine modellhafte logisch-analytische Abstraktion ist, wovon abstrahiert sie dann?“ (H. Fink-Eitel: Wilde, S. 165) 6 T. Hobbes: Leviathan, 1.13. 7 Vgl. T. Hobbes: Bürger, 1.13.

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Kolonialisierung ist“.8 Die Terminologie der Kolonialisierung erscheint mir zwar unangebracht, jedoch ist es sicherlich zutreffend, dass der Naturzustand die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs des Leviathans begründet, wo noch kein Staat bisher gewesen ist. Ähnlich wie bei der Kolonialisierung wird dabei auch niemand gefragt, denn schließlich ist Einverständnis überall dort vorauszusetzen, wo der Zwang zur Vernunft der Sache wird. Dass Zwang niemals eine allgemeine Geltung besitzen kann – objektives Gezwungenwerden durch andere Subjekte ist ein Widerspruch in sich –, wird gerne in Zeiten radikaler Umbrüche vergessen, denn man befindet sich doch auf dem Weg zum „Besten“ für alle. Post factum sind die Opfer auf dem Weg bedauerlich oder gerecht. Im letzteren Fall hat man das mehr oder weniger „Böse“ „abgeschafft“. Hobbes hat den Menschen nur nicht böse nennen wollen, weil er geglaubt hat, ein solches moralisches Urteil nicht nötig zu haben. Sein Mensch ist den anderen Menschen schon durch seine Natur von Machtdrang und Selbsterhaltung Bedrohung genug. Dies reicht allerdings nicht hin. Die Natur ist nie an sich eine Bedrohung, die Selbsterhaltung Anderer genauso gut Bedingung meiner Erhaltung wie Grenze derselben. Die Natur ist niemals an sich eine Katastrophe, sondern wird manchmal eine. Besser als Hobbes hat es zur gleichen Zeit der Moralist Burton ausgesprochen. Er wendet die tierisch fundierte Anthropologie ins Geistige: Der Mensch sei ein „Satan“ gegen sich und andere. Weder anderen noch sich selbst gegenüber ist man fähig, anderes zu sein, als Negator allen Gutens. Weil man sich selbst nicht trauen kann, entsteht Politik und nicht, weil man längst vergangene Wilde nicht sich selbst überlassen will. Der Naturzustand scheint den Kampf gegen das Böse zeitlich weit entfernt von dem Rechtszustand zu halten. Historisch gesehen ist er allerdings lediglich gleichzeitig zum Recht materiell geworden. Staatenlos ist man historisch nur in Gemeinschaft mit den Nicht-Staatenlosen gewesen, wenn von letzteren ein Feldzug geführt wird, der sich gerade gegen den Feind im Inneren der eigenen Gemeinschaft richtet, gegen diejenigen, die nicht glauben wollen, dass ihr Heil von der Machtfülle ihres Staates abhängt. Auf deren Skalp wird von Staats wegen ein Kopfgeld ausgeschrieben. Der Naturzustandsbewohner ohne Staat folgt bloß den Gesetzen der Natur, vorwerfen kann man ihm das nicht. Die „Staatenlosen im Geiste“ im Inneren hingegen sollten es besser wissen und sind verantwortlich für ihre Untaten. Ihr Handeln ist pflichtvergessen und böse. Der Teufel selbst ist ein Engel gewesen, der die wahre Ordnung Gottes nicht akzeptieren wollte. Der Naturzustand hat objektive Realität, da die Subjekte unter Bedingungen eines Staates ihn in sich selbst anschauen können. Die Bedrohung für die Zivilisation liegt nicht bei fernen Wilden, wie man meinen mag. Der Naturzustand ist in der Theorie der Staaten stetige Bedrohung vom Kern des politischen Systems her, vom Menschen.

8 H. Fink-Eitel: Wilde, S. 167.

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Der Zustand ohne Staat soll den mit Staat zur Geltung bringen. In solcher Funktion ist der Naturzustand ens rationis. Das funktioniert, weil es sich nicht widerspricht, staatenlos zu sein. Ein Begriff ist davon möglich, aber es ist nicht festzustellen, ob die Sache existiert. Man weiß aus der Anschauung lediglich, dass dieser Zustand nicht nicht ist. Das europäische Judentum hat erfahren müssen, was es bedeutet, Verkörperung dieser doppelten Negation zu sein. Hannah Arendt beschreibt ausführlich, dass es gerade die staatenlosen Juden gewesen waren, welche zuerst aus den europäischen Ländern in die Vernichtung deportiert worden sind. Für diese fühlte sich kaum eines ihrer Aufenthaltsländer verantwortlich, so dass sie ohne größeres Aufsehen vernichtet werden konnten.9 Frühzeitig hatte das deutsche Reich damals den deutschen Juden die Staatsbürgerschaft aberkannt, um sie aus seinem „arischen Guten“ auszuschließen. Entscheidend an diesem Exempel ist, dass eine Negation allein dort wirklich werden kann, wo sie Existierendes negiert. Weil England und Europa schon staatlich organisiert waren, konnte die Kultur der „amerikanischen Wilden“ als Natur erscheinen. Sowohl Indianer als Juden mussten aber in der Folge erfahren, wie viel zerstörerische Kraft die Mächte der Position entfalten konnten. Als „staatenlose Naturzustandsbewohner“ hatten sie für die Theoretiker sogar die Pflicht, sich der Allmacht des Staates zu unterwerfen, der sie auslöschen wollte. Damit die Autonomie des Leviathans sein kann, darf keinerlei Heteronomie mehr auf der Welt anwesend sein und ist diese nicht willig, so braucht man Gewalt. Unverschämt ist Hobbes dort, wo er es den hilflosen „natürlichen Menschen“ antut, den anderen ein Wolf zu sein. Der Leviathan verspricht als sein oberstes Ziel, Sicherheit durchzusetzen, die noch gewappnet ist gegen den widerspenstigsten Feind, die menschliche Freiheit zur Unfreiheit. Hobbes ist entgegen anders lautender Gerüchte niemals ein Theoretiker der historischen Erscheinungen des Absolutismus gewesen. Ein Monopol auf die Staatsgewalt zu haben, nennt Hobbes absolute Herrschaft, die er so jedem bürgerlichen Zustand einräumt.10 Hobbes theoretisiert nicht den Sonnenkönig, sondern den Absolutismus in bürgerlicher Form. Er sichert absolut gegen die Gefahren der Freiheit, welche er mit dem Bild des Naturzustands symbolisiert. Die Macht hält die Übel ab und erreicht Gutes.11 Die „eines Menschen besteht, allgemein genommen, in seinen gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung eines zukünftigen anscheinenden Guts und ist entweder ursprünglich oder zweckdienlich.“12 Macht ist bei Hobbes ein relativer Begriff und bemisst sich an der der Anderen. So kann man sagen, dieser Mensch sei der Mächtigste unter vielen Mächtigen. Dann weiß man aber immer noch nicht, wie mächtig dieser Mensch ist. Unter

9 10 11 12

Vgl. H. Arendt: Eichmann. Vgl. T. Hobbes: Bürger, 6.13. Vgl. T. Hobbes: Leviathan, 1.6; 1.10; 1.11. Ebd., 1.10.

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anderen kann er wieder der Ohnmächtigste sein, ohne Chance auf Selbsterhaltung. Vollständig gesichert ist die Erhaltung erst, wenn es den Anderen nicht mehr gibt oder dieser zumindest vernachlässigbar ist, und die Macht absolut und omnitudo geworden ist. Das Begehren der Anderen muss überwunden werden, um das eigene Selbst zu erhalten. Diese Konkurrenzsituation treibt zur Akkumulation. Macht kann sich für Hobbes lediglich erhalten, indem sie sich vermehrt, und droht ansonsten zu zerfallen unter dem Druck der wachsenden Macht anderer. Die Macht ist bei Hobbes die Ursache der Macht. Die Anderen müssen ausgeschaltet werden und dürfen keine begehrenden Subjekte mehr sein. Da die eigene Macht nicht hinreicht, alle Anderen zu unterwerfen, bleibt Hobbes zufolge als einzige Alternative, das Versprechen einzugehen, sich selbst als Subjekt mit Recht auf alles, was ich verlange, durchzustreichen, wenn alle anderen dies auch tun. Die Individuen geben sich auf, und der Herrscher gewinnt. Der Träger des ius in omnia contra omnes wechselt bei Hobbes. Es selbst ändert sich weder formal noch material. Von einer allgemeinen Eigenschaft aller lebendigen Menschen wird es zum Monopol einer Instanz. Diese stiftet durch Machtkonzentration Frieden und fordert dafür ein, dass sich das Subjekt mit seiner gesamten Sphäre ihm hingibt. Nichts soll diesem gehören, was nicht auch ihn selbst gehört. „Dagegen hat niemand ein Eigentum, auf das der Inhaber der höchsten Gewalt nicht ein Recht hätte; denn die Gesetze sind seine Gebote, in seinem Willen ist auch der Wille der einzelnen Bürger enthalten, und er ist von den einzelnen zum höchsten Richter bestellt worden.“13 Hobbes negiert damit den bürgerlichen Raum der Grundrechte, die institutionalisierte Privatheit des Mein und Dein, und sein bürgerlicher Absolutismus schlägt um in einen antibürgerlichen. Auch die Geometrie des Dreiecks hat sich ihm zufolge im Zweifelsfall den Interessen des Staates zu beugen, weil bei den Menschen zuerst das Interesse kommt, die Dinge ihrer Glückseligkeit zu sichern.14 Allein mit emanzipierter Macht läuft eine politische Vereinigung, wenn von den Teilen kein Drang mehr zur Gemeinschaft zu erwarten ist und vielmehr umgekehrt davon ausgegangen werden muss, dass die Bürgerteile negativ alle anderen Teile von sich ausschließen wollen. Wenn Hobbes seine Bürger auch nicht so nennt, so hält doch auch sein Staat ein „Volk von Teufeln“ aus, weil er Totalität über deren negativistische Zwecke ist. Staatspraktisch werden die Bürger zu bösen Menschen. Nur muss bei Hobbes der Staat nicht einmal mehr voraussetzen, dass die Teufel auch Verstand haben, um seine Legitimität zu erhalten. Der Leviathan hat so viel Macht, dass er sich nicht mehr zu rechtfertigen braucht. Er gleicht in einer gefährlichen, bösen Welt für alle ihre Selbsterhaltung aus, das ist Legitimität genug. Seine Macht ist nicht vernünftig, weil man sie rational nach-

13 Vgl. ebd., 6.15. 14 Vgl. ebd., 1.11. Trotzdem ist Hobbes nicht totalitär: Privat mag jeder denken, was er will. Der totalitäre Staat hingegen ist nur der eine Gedanke, den jeder denkt.

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vollziehen kann. Zumindest die Vernunft, die Hobbes den Menschen zugesteht, kann keine absolute Macht begreifen, weil eine solche sich der reinen Mechanik der Mächte und Gegenmächte entziehen muss. Die absolute Macht ist lediglich in einer zweiten Reflexion rational, weil sie den Grund der Rationalität erhält, das physische existierende Subjekt. Was dieses mit seiner Physis anstellt, ist dann seine Sache, solange nicht das Dassein der Ordnung dadurch gefährdet ist. Das macht, dass Hobbes’ Staatsidee so hart klingt und Vernunft nicht zulässt. Hegel schreibt zur Hobbesschen Konstitution des Politischen: „So geht aus der ganz richtigen Ansicht – indem der allgemeine Wille verlegt wird in den Willen des Einen, des Monarchen – der Zustand des vollkommenen Despotismus hervor; der gesetzliche Zustand ist etwas anderes als dass die Willkür des Einen schlechthin Gesetz sein soll.“ (GP9, 126) An die Vernunft, welche die Veränderung der Natur kennt, muss der allgemeine Wille nach Hegel gebunden werden, um nicht selbst zur Gefahr für die Einzelnen zu werden. Die Allmacht des Leviathans birgt die Gefahr der Tyrannei, denn die von ihm eingesetzte asymmetrische Ordnung beruht im letzten Argument auf Zwang, dem kein „Mein und Dein“ und kein mathematisches Gesetz Einhalt gebieten können. Die Differenz des Leviathans zu dessen Untertanen ist illusorisch, wenn diese nicht mehr über ihr Gutes und Böses zu bestimmen haben. Wenn der Leviathan allmächtig genug ist, droht er die andere Basis der Herrschaft, die Zustimmung durch die Untertanen, zu verdrängen. Seine Herrschaft tendiert dazu, einzige Autonomie zu sein in einem Meer der Heteronomie. Der Satz „Caius ist sterblich“ unterscheidet sich der Form nach nicht von dem Satz „Menschen sind sterblich“. Beide gelten sie, ohne eine Ausnahme zuzulassen, denn es gibt nur einen Caius und nur eine Menschheit. Hobbes gründet seinen politischen Körper darauf, dass wirklich allein einer herrscht. Rousseau versucht sich später an dem vollendeten Widerspruch der Herrschaft eines jeden über einen jeden. Hobbes genügt es, dass wirklich lediglich der eine Souverän ist, damit die Sphäre des Politischen abgedeckt und umschlossen werden kann. Dazu müssen andere bloß anerkennen, dass, was sie wollen, von dem einen gewollt wird. Somit etabliert sich bei Rousseau ein allgemeiner Wille, der nicht ein rein generativer ist, sondern als universeller Konflikte auszuschließen vermag. Rousseau wird oft als großer Gegenspieler von Hobbes gesehen, der an die Güte und an das Gute im Menschen geglaubt und deswegen die Souveränität auch weniger machtvoll über die Interessen der Individuen gestellt habe. Er habe das Edle der Natur hochgehalten und wolle im Gegensatz zu Hobbes die demokratische Integration der Menschen zu einem Staat. Aber auch bei Rousseau ist es unbedingtes Gesetz, dass aus dem Naturzustand auszubrechen ist, weil dieser der menschlichen Freiheit auf die Dauer nicht genügen kann. Ein Gesellschaftsvertrag muss her, damit die Menschen in Frieden, Gleichheit und Freiheit zusammen leben können. Dieses Zusammen ist nach Rousseau so weit zu verdichten, dass jede Form der Herrschaft aus ihm verschwindet. In den goldenen Zeiten des Naturzustandes haben bei Rousseau alle gleich und frei gemeinsam an der Welt gearbei-

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tet, durch den Gesellschaftsvertrag soll diese ursprüngliche Einheit auf höherer Stufe wieder hergestellt werden. Das Gute der menschlichen Natur soll zurückkehren. Betrachtet werden soll nun also die scheinbare Alternative zu Hobbes, die in vielem gar keine ist, da sie dieselben Voraussetzungen teilt. Politische Theorie beginnt, wo die Frage nach der bestmöglichen Herrschaft ersetzt wird durch die Frage nach der Legitimität von Herrschaft überhaupt. Rousseau und Hobbes sind insofern politische Theoretiker der Neuzeit. Sie untersuchen, wie Gerechtigkeit möglich sein kann. Sie fragen beide nach einer möglichen Identität von Freiheit und Herrschaft und finden dafür den Vertrag.15 Dieser soll den Widerspruch zwischen beiden schlichten, indem er ihm einen Verlauf gibt. Zugleich sollen Freiheit und Herrschaft, Autonomie und Heteronomie sein, was der Vertrag vermittelt und so allseitiges Vertragen bewirkt. Er verschafft beiden Seiten objektive Geltung, indem er ihren Widerspruch ausgleicht. Einmal auf die Basis eines Vertrages gestellt, kann die Gesellschaft ihre naturgenetische Begründung vergessen. Die Vertragstheorie erklärt und rechtfertigt Herrschaft zugleich. Darin überwindet sie die klassische Theorie der Politik, welche nicht danach gefragt hat, inwiefern überhaupt von Herrschaft legitim gesprochen werden kann, sondern nach der Ökonomie der Herrschaft. Klassisch stand die Schwierigkeit im Vordergrund, den Gebrauch der Herrschaft abzumessen. Unter solchen Denkformen macht es wenig Sinn, nach der Legitimation eines Politischen durch ein Böses zu fragen, denn es ist noch nicht für und gegen die Freiheit zugleich. Gesellschaftlichkeit ist mit Rousseau für die Neuzeit gegen das alte Denken nicht aus Natur, sondern beruht auf Vereinbarungen.16 Der Mangel des historischen Zustandes, in dem vollständig die Natur das Sagen hat, ist seine Ahistorizität. Er sperrt sich der Tradition, dem Tradieren, weil der natürliche Mensch allein als das vollständig Unterschiedene des geschichtlichen Menschen durchkommt.17 Der Naturzustand ist vor dem Vertrag und ver15 Vgl. Kersting, Wolfgang: „Die Vertragsidee des contrat social und die Tradition des neuzeitlichen Kontraktualismus“, in: Reinhard Brandt/Karlfriedrich Herb (Hg.), Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 45-66, hier S. 46. 16 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: „Vom Gesellschaftsvertrag (Du contrat social)“, in: Ludwig Schmidt (Hg.), „Rousseau. Politische Schriften“, München u.a.O.: UTB 1995, 1.1. 17 Als der absolute Unterschied hätte sich der Naturmensch allerdings niemals zum Geschichtsmenschen entwickeln können, es hätte zu keinem Übergang kommen können. Nimmt man das Wort vom Menschen ohne Gesellschaften zu ernst, verhindert man das, was man meist dadurch versucht. Statt die objektive Geltung der Wirklichkeit des Rechtszustandes zu setzen, erklärt man dessen Unmöglichkeit, von der aus die Wirklichkeit schon gar nicht zu haben ist. Man zerstört so den Kulturkritiker Rousseau, dem der Maßstab entzogen wird, denn dieser wollte den Menschen seiner Zeit den Spiegel vorhalten, indem er sie mit ihrer Natur konfrontierte. Wie könnte der Naturzustand Kritik des gesellschaftlichen sein, wäre jener das absolut Andere zu diesem oder führte im Gegensatz zu diesem eine rein mentale Existenz. Es fehlte die Grundlage des Vergleiches: die Gemeinsamkeit des Verglichenen.

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gangen, zugänglich allein über die historische Konstruktion und unmittelbar nicht zu haben. Er kann nichts überliefert haben, denn dem Naturmenschen bereitete es als geschichts-, da zeitloses Wesen Mühe, morgens an die Bedürfnisse des Abends zu denken. Wenn man jeden Abend bedauern muss, nicht das Bett der letzten Nacht aufbewahrt zu haben, bleibt keine Zeit für eine eigene Chronik. Die Geschichte des Rousseauschen Naturzustandes ist Erfindung des Autors Rousseau, jener selbst kann sich keine Erinnerung geben. Hans Blumenberg sagt, es gebe keine Weltgeschichte der Steinzeit.18 Deren Bewohner wissen sich nicht in ihm und nehmen nicht wahr, wie es ist, im Naturzustand zu sein.19 Ohne Kultur kein Wissen über die Natur. Der Naturzustand ist nicht geschichtslos zu mustern und hat keine Geschichte, weswegen er nicht ohne den rekonstruierenden Autor auskommt. Weil er Vorgeschichte ist, ist er zugleich eine Geschichte. Geschichte wirkt als Denkmodell über ihre Grenzen hinaus, ist schon da gewesen, will man ihr gegenüber ein geschichtsloses Ding an sich konstruieren. Der homme naturel weiß erst nach seiner Erziehung zum homme um sich selbst, also wenn er schon nicht mehr ist. Der Rousseausche Émile erzieht zu einem Leben, das die menschliche Natur bewahrt, indem sie diese in Kultur verwandelt. Der Erzieher kann in diesem Prozess nicht als natürliches Wesen gelten. Er muss das Wissen für die Bildung des Erzogenen bereitstellen und um die Differenz von Natur und Kultur wissen. In ihm muss das Nicht-mehr-Natur-Sein vorhanden sein, zu dem sich das Kind erst entfalten soll. Bei der Erkenntnis des Naturmenschen steht sich der Zivilisierte immer selbst im Weg. Lediglich die vollständige Abstraktion von sich selbst ermöglichte ihm Einsicht in sein natürliches Selbst. Bei vollständiger Abstraktion wäre jedoch mit dem Subjekt der Erkenntnis diese selbst verloren. Rousseau zweifelt daher am Anfang seiner Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen, ob es überhaupt möglich ist, „im Innern der Gesellschaft“ zur „Erkenntnis des Naturmenschen [zu] gelangen“.20 Trotzdem hat er die Abhandlung geschrieben. Rousseau changiert in den Bedeutungen des Naturzustandes und hält sich so alle Möglichkeiten offen. Er hat in seinen Schriften mehrere Formen des Naturzustandes vorgestellt. Zum einen als Stadium der menschlichen Entwicklung wie in der Abhandlung, zum anderen wie im contrat social als der Zustand, der einfach dem Gesellschaftsvertrag vorausliegt. Für diesen ist der Naturzustand pauschal der Zustand, in dem dieser noch nicht gewesen ist. Rousseaus Anspruch,

Rousseau muss sich bei seinem Bemühen um eine Archäologie des status naturae purae mehr gedacht haben. 18 Vgl. Blumenberg, Hans: „Lebenszeit und Weltzeit“, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 66. 19 Vgl. Figal, Günter: „Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des Naturzustandes in Rousseaus ‚Zweiten Discours‘“, in: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), S. 24-38, hier S. 26. 20 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, Stuttgart: Reclam 1998, S. 23.

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den Mensch durch den Gesellschaftsvertrag zur vollständigen Kultur seiner selbst zu bringen, verfehlt man jedoch, zählt man lediglich die letztere Form zur Geltungsgrundlage des bürgerlichen Staates. Der Notwendigkeit, den Naturzustand als Vorgeschichte zu veranschaulichen, widerspricht nicht, dass der Naturzustand eine hypothetische Konstruktion ist, ex negativo begründet durch die Gegenwart. Die Vorgeschichte ist keiner Geschichtsschreibung zugänglich. Die Lehre vom Naturzustand ist selbstreflexiv. Der Naturzustand ist nicht, noch war er jemals gewesen, er ist mithin nichts. Rousseau weiß das und stellt ihn trotzdem seinen Lesern vor. Der Naturzustand wird – paradox genug – zur realitätsmächtigen Fiktion. Er leistet Überzeugungsarbeit, damit die Erziehung zur wahren, weil kulturellen Natur bei den Menschen gelingen kann. Rousseau will seinen Lesern das Staunen über ihre eigene Zivilisation lehren oder jenes Staunen vertiefen, das die Welteroberer aus Europa seit dem 15. Jahrhundert beim Anblick der „Wilden“ in der Welt befallen hat. Rousseau mag eine Geschichte geschrieben haben, wie eine Zivilisation geworden ist. Seine Anschauungen lieferte ihm wie Hobbes und Kant seine Gegenwart in den fremden Ländern, deren sich die europäischen Entdecker bemächtigten. Seit den Tagen der großen Entdecker war den Theoretikern wieder offen, was sie für die Zeit weit vor den alten Griechen hielten. Nach Europa zurückgekehrt, lieferten die Geschichten über die Naturvölker am Ende der Entdeckungen den Anlass, die eigene Zivilisation fortschreiten lassen zu wollen, sei es, um diese möglichst weit entfernt zu halten von ihren natürlichen Ursprüngen, sei es, um die verloren geglaubte bonté naturelle wieder zu errichten. Rousseau ist so einfach, wie es sich Teile der Forschung vorstellen, weder der einen noch der anderen Seite der Alternative des guten oder bösen „Wilden“ zuzuschlagen. Er kannte zwar das l’Age d’or des Naturzustandes, wusste es aber durch die Zivilisation unwiederbringlich verloren. Er wollte nicht zurück zu den Ursprüngen, sondern mit den Mitteln einer vollständigen Kultur diese wieder zur natürlichen Glückseligkeit zurückbringen. Das „gesellschaftliche Vertragen“ sollte die goldenen Weltalter in neuer Form zurückbringen. Dazu dienten die ethnographischen Forschungen, welche die Wechselbeziehung vom System des vergesellschafteten Wesen und dessen Umwelt, dem natürlichen Menschen, offenbaren sollten.21 Der homme naturel ist für Rousseau glücklich gewesen, weil er gar keine Chance dazu gehabt hat, unglücklich zu sein. Seine Rekonstruktion offenbart ihn als sprach- und gesellschaftsloses Wesen. Unglück hat er lediglich gespürt, um es gleich wieder zu vergessen. Es hat bei ihm nicht den Versuch evoziert, die Dinge verändern zu wollen. „Wer sieht nicht, dass alles vom Wilden die Versuchung

21 „Solche natürlichen Lebensverhältnisse sind für Rousseau einerseits durch naturwissenschaftliche Forschung zugänglich, […] andererseits durch Berichte von Reisen zu sogenannten wilden Völkern. […] Mit einem Wort gesagt, ist das Bild des Naturzustandes, wie Rousseau es im ‚Zweiten Diskurs‘ entwickelt, Ergebnis einer naturwissenschaftlich-ethnographischen Rekonstruktion.“ (G. Figal: Rousseau, S. 31)

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und die Mittel fernzuhalten scheint, seine Wildheit aufzugeben“, denn „seine Einbildungskraft malt ihm nichts aus; sein Herz verlangt nichts von ihm“.22 Der Wilde hat für Rousseau keine Erwartung an die Zukunft und lebt allein in der Gegenwart. So verkauft er morgens sein Bett, um es „weinend“ abends zurückzuverlangen, weil er es für die Nacht braucht. Ein Wilder in Freiheit beklagt sich nach Rousseau weder über Tod noch Leben, denn sein Leben im Moment kennt die Endlichkeit und Vergänglichkeit nicht. Er ist ein Tier, denn das weiß nicht um seinen Tod. Eine der ersten Erkenntnisse, die für Rousseau den Menschen von seinem tierischen Dasein trennen, ist das Wissen um den eigenen Tod.23 Die bonté naturelle Rousseaus, die natürliche Güte der Menschen, ist entsprechend eine prämoralische Güte, weil sie den Anderen nicht kennt. Dieses ist aber der Standpunkt der Moral (und der Politik). Es gibt kein Bewusstsein von Recht und Unrecht, was aber zugleich die Abwesenheit von Unrecht bedeutet. „Hobbes hat nicht gesehen, dass dieselbe Ursache, welche die Wilden hindert, ihre Vernunft zu gebrauchen, wie es unsere Rechtsgelehrten behaupten, sie zugleich daran hindert, ihre Fähigkeit zu missbrauchen, wie er selbst behauptet. Somit könnte man sagen, dass die Wilden nicht böse sind, gerade weil sie nicht wissen, was gut sein heißt; denn weder die Entwicklung des Denkvermögens noch der Zügel des Gesetzes, sondern vielmehr der Schlummer der Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters hindern sie, Böses zu tun.“24

Natur bedeutet Rousseau Unschuld, da sie es versäumt, schuldig zu werden. Auch für den Menschen kommt seiner Natur nach die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht in Frage, weil sie untereinander noch keinerlei Art moralischgesellschaftlicher Beziehungen oder bewusste Pflichten haben. Das Leben im Naturzustand ist für Rousseau unreflektiert. Es ist nicht amoralisch, sondern jenseits von Gut und Böse. Rousseaus Naturmensch ist zuerst eine Eigenschaft nicht, er ist nicht böse. „Ziehen wir vor allem nicht mit Hobbes den Schluss, dass der Mensch von Natur aus böse sei, weil er keine Vorstellungen von Güte hat.“25 Daraus mag sich entwickeln, dass er gut genannt werden kann, eine solche Zuschreibung ergäbe jedoch erst die historische Konstruktion, die das Gutsein der Natürlichen kritisch gegen den Verfall der Zivilisierten wendet. Rousseau empört sich über den Hobbes, den die philosophische Tradition überliefert hat.26 Hobbes wird vorgeworfe22 23 24 25 26

J.J. Rousseau: Ungleichheit, S. 48. Vgl. ebd., S. 47. Ebd., S. 61. Ebd., S. 59f. „Beim Nachdenken über die Prinzipien, die er festlegt, hätte dieser Autor [Hobbes, d.V.] sagen müssen, dass der Naturzustand, insofern er derjenige Zustand ist, in dem die Sorge um unsere Erhaltung am wenigsten die anderen beeinträchtigt, folglich dem Frieden am zuträglichsten ist und dem Menschengeschlecht am angemessensten ist. Er aber sagt genau das Gegenteil, weil er in die Sorge des wilden Menschen

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nen, er habe den eigenen „Probierstein“ seiner Überlegungen nicht aus dessen eigener Beschaffenheit, sondern aus der Beschaffenheit dessen begründet, wofür er Probe sein sollte. Nicht das Kind ist dementsprechend schuldig an den Untaten der Erwachsenen und das Böse des Naturmenschen falscher Schluss aus dem Bösen in der Gesellschaft. „Es ist unmöglich, das Gesetz der Natur zu verstehen und ihm zu gehorchen, wenn man nicht ein großer Besserwisser und ein tiefer Metaphysiker ist.“27 Es ist die Einsamkeit des Urmenschen, die diesen aus der Sprache fallen lässt und ihn davor bewahrt, Böses zu tun. Das Problem einer Geschichte vor dem begrifflichen Denken kommt in Rousseaus Konstruktion eines Naturmenschens klar zum Ausdruck. Vom Naturmenschen bleibt bei ihm nicht viel mehr übrig, als die reine Abstraktion des Kulturmenschen zu sein. Als reine Abstraktion kann er je nach Einstellung zu der Kultur gleichermaßen als gut oder schlecht fixiert werden. Die Willkür hat hier ihr Feld, da hilft es auch nicht, wenn Rousseau zu Recht darauf hinweist, dass, wenn beim Naturmenschen nicht von Freiheit zu sprechen sein könnte, dieser auch unmöglich schuldig geworden sein könnte. Das Wilde steht als Subjekt der Abwesenheit der Reflexion und der Freiheit jenseits von Gut und Böse. Der gute und der böse Wilde sind Komplementärmythen, um die Zivilisation (des Rechts) zu rechtfertigen, weil sie von derselben Abstraktion ausgehen. Beide können ihren Gegenstand nicht fassen und sind so Gewalt. Der status naturae purae dient bei Rousseau im Wesentlichen als Argument, die politische Gegenwart so einzurichten, dass sie menschenwürdig ist. Der Mensch soll seinem freien Wesen entsprechend vergesellschaftet werden. Rousseau hat als erster festgestellt, was seit der Neuzeit für die gesamte politische Philosophie gilt. Was einen Menschen zu einem Menschen macht, liegt innerhalb der Mauern der praktischen Philosophie. Der Mensch ist nach Rousseau animal librum. Lediglich in Freiheit ist das Wohl des Menschen zu verwirklichen. Ohne solche ist das Gute unmöglich. Seitdem ist die Anthropologie kritisch eingestellt gegen jede Form der Herrschaft, und das Gute ergibt sich aus dem eigenen Wollen, solange dieses den durch das Selbst bestimmten Gesetzen folgt. „Gehorsam dem Gesetz gegenüber, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit.“28 Jetzt gilt: Mit sich selbst in Widerspruch zu stehen, ist nicht bloß eine theoretische Schwieum seine Erhaltung unpassenderweise das Bedürfnis hineingelegt hat, eine Menge von Leidenschaften zu befriedigen, die das Werk der Gesellschaft sind und die die Gesetze nötig gemacht haben. Der Böse, sagt er, ist ein kräftiges Kind.“ (Ebd., S. 60) 27 Ebd., S. 69f. Dass Rousseau selbst von synkretistischen Problemen nicht frei ist, zeigt Fink-Eitel. Für ihn offenbart sich die Idee der Selbsterhaltung allein vor dem Hintergrund von schon Bestehendem. Weil für Rousseau die erste Sorge des Menschen die um seine Erhaltung ist (vgl. ebd., S. 74), erklärt auch dieser für Fink-Eitel Zweites zum Ersten. „Was den angeblichen Urmenschen also vor allem anderen auszeichnet, ist jener Grundsatz moderner Philosophie: solitäre Selbsterhaltung.“ (H. Fink-Eitel: Wilde, S. 175) 28 J.J. Rousseau: contrat social, 1.8.

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rigkeit, sondern Verbrechen gegen die eigene Freiheit und Untat. „Alle Einrichtungen, die den Menschen mit sich selber in Widerspruch bringen, taugen nichts.“29 Zur Sacherklärung des Bösen reicht nun die Darlegung der inneren Merkmale des Menschen hin, es muss nicht erst noch gegen Gottes Kosmos verstoßen worden sein. Der erste Grund der Möglichkeit des Bösen ist das gestörte Selbstverhältnis, das Nein des Selbst gegen das Selbst. Die Realisation des Wohls, die eigene Freiheit scheitern an der unfreien Tat und nicht an der eigenen (Un-)Angemessenheit zur Umwelt.30 Rousseau entwickelt insofern Hobbes’ Inhalt weiter, warum die Menschen den Menschen Katastrophen sind. Die unfreie Tat vernichtet die Freiheit und fordert das Politische. Die politische Philosophie der Neuzeit gründet insofern auf dem Bösen. Sie orientiert sich am Aufstand der Freiheit gegen sich selbst und baut das politische System auf diesem auf. Es ist die überschießende Freiheit des Menschen, die diesen bis zur unfreien Tat bringt, welche den Staat veranlasst. Rousseau hat dies verdeutlicht und seine politische Philosophie an der Unfreiheit orientiert. Weil die Unfreiheit wirklich geworden ist, ist die Freiheit zum ersten Thema geworden. Den Anfang des contrat social bildet bei Rousseau die Kritik der Gegenwart. Ansonsten bestünde keine Notwendigkeit zu ihm. „Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist doch ein größerer Sklave als sie.“31 In dieser Aussage Rousseaus wird zum einen das Sein der Herrschaft kritisiert – ohne diese Kritik keine Freiheit – und zum anderen der Schein der Herrschaft herausgestellt. Weil nicht alle frei sind, kann auch kein Einzelner frei sein. Die individuelle Freiheit setzt die kollektive Emanzipation voraus und diese wiederum, dass der allgemeine Wille dem Gemeinwohl folgt. Wird dieser hingegen vom besonderen Interesse besetzt, wird mithin Herrschaft ausgeübt, ist Freiheit noch für den, der die Herrschaft ausübt, nicht zu haben. Er wird gequält durch die Konkurrenz unter den Herrschenden und durch die „Vorurteile“ derer, die er durch „Vorurteile“ beherrscht, wie der Émile im zweiten Buch aufweist. Der Begriff der Herrschenden ist dem der Negation der Negation ähnlich, denn diese verhalten sich zu sich selbst, indem sie sich auf andere beziehen, die nicht von ihrem Schlag sind. Dass sie andere von der Freiheit abhalten, muss die Autonomie der Herrscher zerbrechen. Deren Macht ist nicht von Dauer und ihrer „Gewalt zu weichen ein Akt der

29 Ebd., 4.8. 30 „Damit erhält der Begriff des Scheiterns der Freiheit und der Begriff des Bösen eine neue metaphysische Dimension. Während in der klassischen Zeit des Gemeinwesens, der polis und der res publica, die Freiheit mit dem Bürgerrecht verloren ging, ist es nunmehr die unfreie Tat, die die Freiheit vernichtet.“ (Oberparleitner-Lorke, Elke: „Der Freiheitsbegriff bei Rousseau“, Würzburg: Königshausen und Neumann 1996, S. 16) 31 J.J. Rousseau: contrat social, 1.1.

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Notwendigkeit“.32 Wird diese Notwendigkeit nicht mehr vernommen, verschwindet ihre Gewalt. Herrscher gibt es nur solange, wie es Knechte gibt. Rousseau widersetzt sich dem gouvernement des modernes. Er lehnt jegliche Repräsentation des Gemeinwillens ab. Andernfalls könne nicht von einer echten Selbstbestimmung des Bürgers gesprochen werden. Wo der Repräsentant ist, ist der Repräsentierte nicht anwesend.33 Sein contrat social fasst alle zusammen in einem Staat, dessen Ziel es ist, die Vielen zu einem Staatsvolk zusammenzuschweißen.34 Rousseau will die Freiheit der Einzelnen in diesem allgemeinen Willen verwirklichen. Um dies vollständig zu erreichen, darf der allgemeine Wille nicht einfach die Verallgemeinerung der Einzelwillen sein. Rousseau stellt die Identität von Herr und Knecht, wie sie im Begriff des Volkssouveräns begründet ist, im Begriff der volonté générale heraus. Bei Rousseau wird dieser Gemeinwille dadurch mehr als die Summe der Einzelwillen, dass ihm eine eigene moralische Identität verpasst wird. „Der politische Körper ist also auch ein moralisches Wesen, das einen Willen hat. Und dieser Gemeinwille, der immer auf die Erhaltung und auf das Wohlbefinden des Ganzen und eines jeden Teiles zielt […], ist für alle Mitglieder des Staates in bezug auf sie und auf ihn die Regel des Gerechten und des Ungerechten.“35 Das Gemeinwesen ist ein Subjekt, das nicht falsch entscheiden kann. Es ist das ideal-moralische Subjekt, in dem die isolierte Einzelheit der Individuen ihre Wahrheit hat. Deren eigenes Wollen des Guten hat seine Regel an dem, was dem Gemeinwillen recht gilt. Die Allgemeinheit des Gemeinwillens ist bei Rousseau die „Seele des Konkreten“ (Hegel) und die freie Macht über dieses. Insofern ist sie wieder souverän über die einzelnen Freiheiten wie bei Hobbes’ Machtallgemeinheit. Der Souverän hat bei Rousseau keine eigenen Interessen und „ist allein dadurch, dass er ist, immer schon das, was er sein soll“.36 Er muss ein Tugendknecht sein. „Da die Tugend nur diese Übereinstimmung der Einzelwillen mit dem Allgemeinwillen ist, kann man dasselbe mit einem Wort zusammenfassen: Macht, dass die Tugend regiert.“37 Überall im Rousseauschen Gemeinwesen wird auf die Kraft der reinsten Tugend vertraut, damit keine Herrscher und Teufel mehr sind. Es ist die Wahrheit gegen die Summe der Individuen. Tugendhaft wird in Rousseaus Gemeinwesen frei und gleich zusammengelebt, und nicht die höchste Macht entscheidet über die Souveränität, sondern die über die Tugend

32 Ebd., 1.3. 33 Vgl. ebd., 3.14. 34 Vgl. ebd., 1.6. Begrenzt ist der Staat durch die Aufnahmefähigkeit des Einen. Die Frage ist, wie groß eine Gemeinschaft werden kann, so dass überhaupt noch von einem allgemeinen Willen die Rede sein kann (vgl. J.J. Rousseau: contrat social, 3.2). 35 Rousseau, Jean-Jacques: „Abhandlung über die Politische Ökonomie (Discours sur l’économie politique)“, in: Ludwig Schmidt (Hg.), „Rousseau. Politische Schriften“, München, Paderborn, Wien, Zürich: UTB 1995, S. 15. 36 J.J. Rousseau: contrat social, 1.7. 37 J.J. Rousseau: Politische Ökonomie, S. 24.

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vermittelte Kraft, „jeden Teil zu bewegen und einzuordnen“.38 Hat bei Hobbes der Dritte die äußerste Macht, hat er bei Rousseau die äußerste, da reinste Tugend. In ihrer kontrollierenden Wirkung auf die Assoziation der Anderen unterscheiden sich beide nicht. Auf so viel Tugend beim Souverän will sonst keiner der hier betrachteten Autoren vertrauen. Kant und Hegel wollen ihr Gemeinwesen lieber gegen das Böse von dessen Untergebenen totalisieren, indem sie es gliedern in ein institutionelles Gitter. Der tendenziell selbst böse Souverän soll durch ein System des Rechts und der Moral kontrolliert werden. Nach Kant und Hegel wird die Idee der neuzeitlichen Demokratie das Misstrauen gegenüber der Souveränität perfektionieren, indem sie jedes Mitglied der Gesellschaft in die wechselseitige Kontrolle einbindet. Das findet seinen perfekten Ausdruck im System der checks and balances, welches die Demokratie prägt, seit es in Rom zwei Konsuln gegeben hat. So fängt die Geschichte der politischen Freiheit bei Kant mit dem Bösen an, denn weder dem Souverän der reinsten Freiheit noch der vollkommensten Macht ist ganz und gar zu trauen. Auch er ist Mensch und potenziell böse. Dass alle natürlich böse sind, erlaubt nicht, dass die Autorität eines einzigen aus der gemeinsamen Kontrolle der Anderen entfernt wird. Die logische Abstraktion von allen besonderen Willen ist dann the rule of law. Hier regiert das formale Wollen. Nur im Geist der Gesetze kann der Staat bei Kant so weit über seinen Bürgern stehen, dass er deren Willen im Zweifels-, d.h. Unrechtsfalle brechen kann. Diese Souveränität darf allerdings niemals gegen das moralische Gesetz auftreten. Andernfalls droht für Kant ein evil empire.

38 J.J. Rousseau: contrat social, 2.4.

Pol itik des „ew igen Fr iedens“ gegen das evil empire be i Kan t

„Die Geschichte der Freiheit fängt vom Bösen“ an, „denn sie ist Menschenwerk“, sagt Kant (VIII, 116). Die Errichtung des Staatswesens gegen die naturwüchsige menschliche Freiheit zum Bösen erscheint bei Kant als ewige Wahrheit der Geschichte. Seine Geschichte äußerer Freiheit fängt geschichtslos an. Der Übergang vom status naturalis in den status civilis soll sich grundsätzlich analytisch ergeben, nicht aus der Synthesis der geschichtlichen Tat. Man könnte es Hegelsch formulieren: Die Idee des Staates ist immer schon, ihre Realisation nur Beheben des Mangels menschlicher Geschichte mit dem „Makel der Bestimmtheit“ (Hegel) gegen diese Idee. So ist der status civilis Wahrheit und Ende alles menschlichen Zuvor. In seiner Theorie des Ursprung des Staates beweist sich Kant als echter Idealist. Seine Staatsgründungstheorie ist selbst idealistische Umkehrung. Als a priori festliegender Prozess, der vom ewigen Staat zu dessen zeitlicher Realisation führt, ist er idealistische Umkehrung des realen vorgeschichtlichen Prozesses, in dem sich die Menschen über das Hier und Jetzt erhoben haben.1 Sie hat es mit Resultaten zu tun, ohne es wahrhaben zu wollen. Hätte sich Kant als „empirischen Realisten“ bei seiner Staatstheorie ein wenig ernster genommen, hätte er die mala physica, die die Etablierung des Staates hinterlassen hat, nicht so einfach übergehen können. Gegen Kant und Hegel lässt sich sagen: Die Wunden des Geistes heilen nicht, ohne dass Narben bleiben (vgl. 9, 360). Gegen das Böse setzt sich die Wirklichkeit der Freiheit in ein äußeres System ab. Hier ist sie gesichert noch gegen die radikal verdorbene menschliche Natur. Für Kant ist das äußere System der Freiheit durch ein stabiles Recht gesichert, dem sich jedes Wollen, auch das des Souveräns, unterwerfen muss. Das Recht garantiert, dass sich die menschlichen Freiheitskonflikte nicht gegenseitig aufrei-

1 Vgl. K.-H. Haag: Idealismus, S. 19.

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ben, indem es eine Gerichtsinstanz über diesen aufbaut. Hier wird über das Wollen der Subjekte entschieden. Kants Rechtsformalismus garantiert, dass entschieden wird, nicht was. Ist die Ordnung genug in sich strukturiert unter dem allgemeinen Gesetz der Freiheit, ist ein Staat errichtet. Die staatliche Institution ist ein System von Menschen, die keine Engel sind, für Menschen, die noch weniger welche sind. „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.“ (VI, 313) Der Staat ist nach Kant eine Gemeinschaft der Bürger und steht zugleich über diesen, um deren reines Wollen zu kontrollieren. Er ist Vereinigung unter Rechtsgesetzen. Als Einheit der Affirmation und der Negation des Willens der Bürger reagiert er adäquat auf die Drohungen des menschlichen Bösen. Dass der Staat auch im Widerspruch zur Freiheit der Menschen ist und diese mit Gewalt zwingt, ficht seine Legitimität so lange nicht an, wie diese Freiheit offen zum Nichts ist. Kant bestimmt den Staat als ausgleichendes Drittes des Gegensatzes der endlich-unendlichen menschlichen Freiheit, in dem die Drohung durch die menschliche Freiheit verbunden wird mit der Hoffnung durch dieselbe. Ausgleichend wirkt der Staat bei Kant nur nach innen. Die einzelstaatliche Souveränität kann nicht das letzte Wort in Sachen äußerer Freiheit sein. Wenn sie auch im Inneren des Staates Recht ist, so existieren international viele andere Staaten mit dem gleichen Recht. Die Systematik des Rechts ist bei Kant auf die Historie angewiesen, insofern das Verhältnis eines Volkes zu sich selbst in bürgerlicher Gesellschaft und Staat durch seine Beziehung zu anderen Völkern in Völkerstaatsrecht (ius gentium) und Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum) ergänzt wird. Alle Völker treten gegeneinander als Mächte auf, die sich den Erdball teilen. „Wenn unter diesen […] möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Princip fehlt, muss das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden und endlich einstürzen.“ (VI, 311) Der Befriedung im Inneren, indem ein status civilis eingerichtet wird, entspricht die Forderung eines „ewigen Friedens“ als Ziel des Verhältnisses der Staaten untereinander, dem der einzelne Staat tendenziell entgegensteht. International entsteht eine historische Bewegung zum Verzicht auf einzelstaatliche Gewalt. Der „ewige Friede“ vollstreckt die Bewegung zum Rechten noch gegen den Träger legitimer Zentralgewalt (vgl. VIII, 348). Das summum bonum der Politik ist bei Kant der „ewige Frieden“ (ebd.), der nicht für irdische Gerechtigkeit sorgt, sondern für irdische Sicherheit, damit andernorts Gerechtigkeit möglich wird. Der Kantische Staat ist nicht die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Bösen, sondern die Abwesenheit der Chancenlosigkeit gegen das Böse. Das ist die Formel der Politik im Angesicht des Bösen. Mehr kann man vom Prinzip des Zwangs und der Freiheit nicht erwarten. International begegnen sich die äußeren Systeme des Rechts wieder mit der rechtlosen Willkür von Einzelpersonen. Hobbes hat wegen dieser durch kein Recht zu bindenden Konkurrenz der Staaten seine berühmte Definition, dass der Mensch dem Mensch ein Wolf sei, auch nur international verwirklicht gefunden.

POLITIK DES „EWIGEN FRIEDENS“ GEGEN DAS EVIL EMPIRE BEI KANT | 165

Zwischen den Staaten herrscht auch im globalen Rechtszustand weiter der Naturzustand des gegenseitigen Fressens und Gefressenwerdens, in dem keine höhere Instanz den bösesten Staat in die Schranken verweist. Hier braucht es ganz besonders ein System des Zwangs, denn die Gewalt einzelner Menschen ist nichts gegen die einzelner Staaten. Aber wie soll man ein Recht über dem bereits verwirklichten Recht aufbauen? Gegen legitim strukturierte Ordnungen kann keine noch legitimere, mit Gewalt gegen erstere errichtet werden. Legitimation in Fragen der Freiheit erlaubt keine Steigerung. Kant hat das Problem gesehen und daher gegen die Staaten auf eine Kraft vertraut, die seine Freiheitslehre theoretisch schon ganz am Anfang verabschiedet hat. Die „große Künstlerin Natur“ schafft Zivilisation zwischen den wilden Staaten. In seinem Bemühen, über die Politik nicht reden zu wollen, verfällt Kant ganz auf die Natur, um das Recht zur Geltung zu bringen.2 „Die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum), aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet,“ bringt „durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen […]“ (VIII, 360). Diese Natur ist nicht die materielle des „Inbegriffs der Erscheinungen“, sondern eine nicht erscheinende mit prinzipieller Zweckmäßigkeit. Erst durch die Naturteleologie wird laut Kant der peremtorische Rechtszustand sicher, denn sie trägt der Differenz zwischen Politik und Moral Rechnung und der zwischen dem auch seiner begrifflichen Konstruktion nach irdischen „ewigen Frieden“ und dem „Reich der Zwecke“.3 Wie sich eine planvolle Absicht der Natur in der Geschichte vollziehen soll, ist für den Menschen nicht unbedingt nachzuvollziehen und unüberwindliche Schwierigkeit seines Philosophierens in den Grenzen der bloßen Vernunft. Kant löst diese Aporie, indem er die zweckmäßig leitende Natur zur regulativen Idee macht (vgl. V, 360). Die Natur „will“, „plant“, „zwingt“, aber Kant hütet sich davor, sie als reale Macht über die Geschichte zu behaupten. Sie verfolgt nicht konstitutiv, sondern als regulative Idee die Vollkommenheit des Rechtlichen. Die regulative Annahme einer Naturteleologie in Richtung einer „vollkommenen gerechten bürgerlichen Verfassung“ (VIII, 22) erweist sich als produktiv, um die Herstellung des umfassenden Rechtszustands über die Willkür der Einzelsubjekte hinweg abzusichern (vgl. VIII, 29f.). Nur mit ihr schließt sich das System des Rechts im „ewigen Frieden“, dem Postulat der öffentlichen Vernunft. Der „ewige Friede“ hat sich bei Kant als causa finalis der geschichtlichen Bewegung mit den Menschen durch die Natur ergeben. Es stellt sich jetzt die Frage nach der causa formalis, die beantwortet, warum der Inhalt der Welt jene vernünftige Form annimmt. Hier spielt das Böse bei Kant wiederum eine ent-

2 Vgl. U. Sassenbach: Kant, S. 40. 3 „Die Reflexion auf die Bedingungen dieses Prozesses erweist die Interdependenz von Moral, Religion, Recht und Geschichte. Die religiöse Bewegung ist ebenso historisch, wie die des Rechts. Beide streben demselben Ziel entgegen.“ (H.G. Deggau: Architektonik, S. 336)

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scheidende Rolle. Benannt ist die causa formalis im „vierten Satz“ in Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784. Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, um Kultur über die Menschen zu bringen, ist der „Antagonismus“ der menschlichen Anlagen. Der Widerspruch im Menschen der „ungeselligen Geselligkeit“ treibt die Geschichte an (vgl. VIII, 20). Das Prinzip der Verwirklichung des Telos des „ewigen Friedens“ und des höchsten Guts auf Erden trägt der Mensch natürlich in sich selbst. Seine Naturanlagen sind an sich teleologisch, gespannt zwischen Gutem und Bösen und harren ihrer Entfaltung.4 Gerade durch die Entfaltung der Einzelheit der Individuen wird die Gattung zum Fortschreiten ihrer selbst veranlasst (vgl. ebd.). Der Einzelne wird zur Entwicklung seiner Naturanlagen und die Gattung zum „ewigen Frieden“ gebracht. Kant dankt der Natur, dass sie sich über das Individuum hinwegsetzt. „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“ (VIII, 21) Die „ungesellige Geselligkeit“ bringt die Menschen in den Gegensatz zueinander, der sie in Bewegung hält. Die Entfaltung dieser Naturanlage heißt Entfaltung der menschlichen Kultur. Ohne Kultur gibt es weder Moral noch Kunst noch Religion, genau wie es umgekehrt keine Kultur ohne die zivilisierenden Leistung der Moral (und historisch gesehen auch der Religion) geben kann. Der Entfaltung der Naturanlagen ist die Unabhängigkeit von der rohen Natur bereits vorausgesetzt.5 Die Natur „weiß“ um das, was sein wird. Die Natur (der menschlichen Anlagen) erledigt den Zweifel des Politikers, den die Erfahrung des Bösen hervorruft. Da „wir es mit freihandelnden Wesen zu thun haben, denen sich zwar vorher dictiren lässt, was sie thun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie thun werden“ (VII, 83), ist Erfahrung kein Kriterium, um politischen Fortschritt zu beurteilen. Weil die menschliche Freiheit jederzeit in sich die Möglichkeit trägt, die Dinge zum Besseren oder Schlechteren zu gestalten, ist „durch Erfahrung unmittelbar […] die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen“ (VII, 83). Die menschliche Freiheit ist zu gefährlich unbestimmt, als dass sie erlaubte, Gewissheiten über die Zukunft zu geben. Kants Theorie der Geschichte rechnet mit den nagenden Rückfällen der Freiheit, welche die Erfahrung, die den Fortgang verzeichnen will, immer wieder scheitern lassen können.6 Die Erfahrung muss erst teleolo-

4 Die Pädagogik hat als zivilisierendes Element hier ihre systematische Stelle. 5 Das wusste schon Aristoteles: „Als daher schon alles Derartige (Lebensnotwendige) erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich […] [nicht] auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen.“ (Aristoteles: „Metaphysik“, in: Horst Seidl (Hg.), Aristoteles, Philosophische Schriften, Bd. 5, Hamburg: Meiner 1995, Sp. 981b) 6 „Gerade in den geschichtsphilosophischen Schriften Kants figuriert das moralisch Böse als der herausragende ‚Störfaktor‘ für den Fortschritt zum Besseren, denn wegen der Freiheit zum Bösen bleiben Rückfälle stets möglich.“ (C. Schulte: Böse, S. 41)

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gisch sortiert werden. Die Annahme des Bösen führt für die politische Geschichtsphilosophie zur Rücknahme des Vertrauens in die menschliche Autonomie und zur Aufnahme der Natur als „gesichertem Subjekt“, das den Fortschritt zum Besseren garantiert. Dieser Gedanke Kants ist durchaus aktuell: Viele – wenn nicht gar die meisten – sozialistischen Utopien folgten Kant in die Natur, wenn sie die „Gattung Mensch“ durch vernünftigen Plan und Maß in der Geschichte verwirklichen wollten. Auch hier bedarf es des Widerspruchs eines objektiven Subjekts, welches über die Einzelsubjekte hinweg realisiert, was an der Zeit ist. Allein emanzipiert von den Einzelsubjekten, wäre es kein Individuum mehr, sondern die Gattung, ohne Zusammenhang zu den Einzelindividuen. Das Subjekt Menschheit wäre ein Subjekt ohne Subjekte. Vernünftiger Plan bedürfte zudem des Überblicks über die Totalität der Folgen aller Handlungen. Dazu ist Einsicht in das Unbedingte erforderlich, was den Menschen verwehrt ist. Für Kant wäre eine vernünftige Planung von Geschichte und Gesellschaft schon deswegen unmöglich, weil sie der ungesellig-geselligen Natur der Menschen widerspräche, die alle Geschichte bei ihm antreibt. Das Recht ist bei Kant die politische Form des Fortschritts des Menschengeschlechts, während die materielle Substanz die Entwicklung menschlicher Anlagen bildet (vgl. VII, 78). Im angesprochenen vierten Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht spricht Kant von „Herrschsucht, Ehrsucht oder Habsucht“, die den „Hang zur Faulheit“ im Menschen überwinden und damit Aufklärung anstoßen (vgl. VIII, 21). Diese Laster hat Kant in seiner Religionsphilosophie Laster der Kultur genannt, welche sonst auch teuflische Laster genannt werden (vgl. VI, 27). Sie entwickeln die Anlagen der Menschheit in uns, weswegen im Mittel vor nichts haltgemacht wird. Die Übel veranlassen auch bei Kant den Menschen, ihre Glückseligkeit tugendhafter zu gestalten. Selbst der Krieg, der Negator alles Guten, wird von Kant mit Sinn geschlagen, wo das Telos entscheidet. Er ist ein „Maschinenwesen der Vorsehung“, das die Subjekte veranlasst, aus dem Naturzustand in den Rechtszustand überzugehen (vgl. VII, 330). Der Krieg negiert nur, kann keine eigene Ordnung schaffen.7 Nur die Ordnung des „ewigen Friedens“ hat einen Bestand an sich selbst. Der Krieg will nur Negatives und muss sich damit irgendwann selbst mit negieren. Er ist wie der „Geist, der stets verneint“8, wie das Böse. Wie alles Ungerechte geht auch der Krieg an der Ungerechtigkeit gegen sich selbst zugrunde. Das Beispiel des Krieges verdeutlicht, in welche Widersprüche noch der Anspruch gerät, der die Geschichte bloß regulativ nach ihrem Endzweck systematisieren will. Selbst ange-

7 Die Negation einer Ordnung ist selbst noch keine neue. 8 Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: „Über die unfassliche Existenz des Bösen“, in: W. Schmidt-Biggemann/C. Colpe (Hg.), Das Böse: eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 7-13, hier S. 8.

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nommen, es könnte nach langen empirischen Untersuchungen mit Grund angenommen werden, dass die Menschheit stets von Neuem ihre Freiheit missbraucht, so bedarf es noch ganz anderer Überlegungen und Ableitungen, diese Vorstellung der Natur als Zweck zu unterstellen. Die Folgerung aus einer Erkenntnis der Anthropologie wird in den Grund dieser Anthropologie verwandelt.9 Die Frage nach der causa formalis der Entwicklung ist lediglich durch die Tautologie von Grund und Begründeten beantwortet. Originär ist der Mensch Subjekt bei Kant als moralisches Wesen, nach dem er Einheit von Verschiedenem ist, und zwar negative Einheit der Differenz von Gut und Böse. Sein Streben geht demzufolge nicht allein auf die Vereinigung mit der Menschheit, sondern auch auf die Negation derselben. Den letzteren Fall beherrschen die „teuflischen“ Laster im Menschen, „Herrschsucht, Ehrsucht oder Habsucht“ (VIII, 21). Alle drei sind Negationen der Tugenden, die an sich Pflicht sind: die eigene Vollkommenheit der Kultur des Selbst und die Glückseligkeit anderer zu suchen.10 Und dieses Teuflische im Menschen nutzt die Kantische Natur aus, um die Menschen gegen ihre Leidenschaft dahin zu bewegen, wo noch kein Gutes ist. Feuer wird mit Feuer bekämpft, Natur wird gegen sich selbst gewandt. Darin siegt die Vernunft „listig“, wie Hegel sagen würde.11 Die Geschichte wird bei Kant durch die Differenz von Gut und Böse in den natürlichen Anlagen des Menschen bewegt, betrachtet man den Hintergrund der ungeselligen Geselligkeit. Dadurch setzt sie sich hinweg über ihren „störenden“ Grund, die freiheitlichen Menschen. Die Eigenschaften des Bösen lassen Kant optimistisch in die Zukunft schauen, denn auf lange Sicht muss es sich als reine negatio selbst vernichten. Das Böse ist in seinem Urteil Garant, dass die Wirklichkeit besser wird. Das Böse stört zwar als unkalkulierbare Freiheit die Gewissheit, dass die Menschheit zum Bes-

9 „Die Setzung der Naturanlagen und die anthropologische Bestimmung der Menschennatur sind selbst der Beobachtung von der Natur und Gesellschaft in ihren empirischen Verhältnissen entnommen, dann erst der Natur als zweckmäßig handelnder imputiert. Der Krieg soll die Zwietracht befördern, um zur Eintracht zu kommen und sich selbst auszulöschen. […] Das Recht, dessen Form für den Fortschritt unabdingbar ist, muss in dessen Namen den Rechtsbruch hinnehmen – zu seiner eigenen Beförderung.“ (H.G. Deggau: Rechtslehre, S. 301f.) 10 Das Kantische Ethos vereinigt die „eigene Vollkommenheit“ mit der „fremden Glückseligkeit“ (VI, 385) und will, dass andere glücklich sind und dass man selbst sein theoretisches und praktisches Vermögen zivilisiert, damit die „Cultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung“ (VI, 387) und zur Vollkommenheit aufsteigt. 11 Hirschmann zeigt auf, dass der Ursprung des Prinzips, die verschiedenen Leidenschaften gegeneinander auszuspielen, nicht bei Kant liegt. Schon einer der Urväter der modernen Wissenschaft und Kultur des Experiments, der Autor des Neuen Organon Francis Bacon, sah darin die Antwort auf die von den alten Moralphilosophen nicht beantwortete Frage nach dem Bewirkungsprinzip des Guten (vgl. Hirschmann, Albert O.: „Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg“, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 28ff.).

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seren fortschreitet, aber es ist nicht nur Teil des Problems, sondern bietet gleich die Lösung mit an. Das Böse ist zugleich Funktion für die bessere Zukunft des Menschen durch das „Wollen“ seiner eigenen Natur. In der Negation ihrer selbst bewegt die Natur den Menschen zum Fortschritt seiner selbst. Aus Natur wird Kultur, indem der Mensch durch die Ambivalenz seiner eigenen Anlagen über sich hinausgetrieben wird. Wie die Theodizee die Übel durch ihren Sinn für das Heil erklärt, legt Kant eine der drei Plagen der Menschheit zum Mittel aus, um Gutes zu erreichen. Der Krieg ist „Maschinenwesen der Vorsehung“ (VII, 330) und trägt seinen Anteil daran, die Menschen zum ewigen Frieden zu veranlassen. Im selben Moment des Zweifels durch das Böse kann sich der Fortschrittsgläubige genauso auf es verlassen. Auch Kant glaubt daran, dass es sich als reine Negation irgendwann selbst aufheben muss und keine Chance hat gegen das beharrliche Sein des Guten. Wenn das Böse sich nicht selbst wollen kann, ohne sich zu vernichten, kann es mit seiner Herkunft aus der Autonomie des Subjekts nicht allzu weit her sein. Es kann im Anderen nie bei sich sein, wie es nach Hegel aber für die Freiheit notwendig ist. Der Aufklärer darf sich allerdings vom politischen Fortschritt zum Besseren nicht allzu viel versprechen. Er würde sonst dem „Spott des Politikers mit Grunde verfallen, der die Hoffnung des ersteren gerne für Träumerei eines überspannten Kopfs halten möchte“ (ebd.). Zwischen aufklärerischer Moral und mancher Politik herrscht „Mißhelligkeit in Absicht auf den ewigen Frieden“ (VIII, 370). Prinzipiell müsste es laut Kant keinen Streit zwischen der Politik, die „ausübende Rechtslehre“ (ebd.) ist, und der Moral geben, schließlich sind beide auf dieselben praktischen Grundsätze gegründet. Aber es gibt (oder es gab zu Kants Zeiten) diesen Streit eben doch, weil unter Politik häufig lediglich eine „allgemeine Klugheitslehre, d.i. eine Theorie der Maximen [verstanden wird, d.V.], zu seinen auf Vortheil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen, d.i. läugnen, dass es überhaupt eine Moral gebe“ (ebd.). Die so verstandene Politik, die nur zum Machthandeln bereit, jedoch nicht willens ist, dieses an dem Rechten einzuschränken, und Moral stehen sich unversöhnlich in dem Vorwurf gegenüber, die letztere sei vielleicht sehr richtig in der Theorie, tauge aber nicht für die Praxis. Politiker der allgemeinen Klugheitslehre, also solche, die Machiavellis und Hobbes’ Ideen für das Politische folgen, sind voller Hochmut für die Ziele der Moral, wollen mehr sein als die Menschen, die das Recht erlaubt, und lediglich eigene Interessen verfolgen. Mit der subjektiven Freiheit droht für Kant sofort wieder das Böse, wenn die Forderung der Politik, klug wie die biblischen „Schlangen“ zu sein, nicht mehr von der Moral auf das „rechte“ Maß eingeschränkt wird. Derartiger Machtpolitik ist die Moral lediglich Ableitung aus der Staatsklugheit, weil sie sich ihre Moral allein für ihr Machtbegehren zuschmiedet (vgl. VIII, 372). Gegen diese politischen Moralisten setzt Kant das Ideal eines moralischen Politikers, „d.i. einen, der die Principien der Staatsklugheit so nimmt, dass sie mit der Moral zusammen bestehen können.“ (Ebd.) Dessen Politik macht es

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sich nach Kant zur Grundlage, dass das Recht heilig gehalten wird, auch wenn es in Widerstreit mit Machtinteressen kommt. Sie „beugt die Knie“ vor den festen praktischen Grundsätzen der Moral und schafft so Recht und Gerechtigkeit (vgl. VIII, 380). Der politische Moralist bringt diese sittliche Ordnung durcheinander, „indem er die Grundsätze dem Zweck unterordnet (d.i. die Pferde hinter den Wagen spannt)“ (VIII, 376). Er macht sich zum falschen Vertreter der Macht, welcher der Gewalt und nicht dem Recht huldigt, indem er das „rechte“ Verhältnis von Politik und Moral umkehrt. In seinen Aktionen werden die unbedingten Grundsätze der Moral zu durch Politik bedingten. Recht hat, wer sich jetzt erinnert sieht an die Kantische Perversion des Sittlichen, das das malum morale ausmacht. Die Verkehrung des Moralischen durch die Politik steht in strenger Analogie zur Verkehrung des Guten durch das Böse.12 Beide Verhältnisse sind sich vollkommen ähnlich nach Kants eigener Vorstellung. Analogien sind für ihn Schlüsse der Urteilskraft, die die Erfahrung strukturieren (vgl. IX, 132). Wenn die Erfahrung sagt, dass in einem bestimmten Zustand des Gemeinwesens die politischen Moralisten dieses beherrschen, hat eine Perversion des Sittlichen stattgefunden. Hat sich die Macht von der Moral entkoppelt, ist alle Grundlage zerstört, nach der ein „rechter“ Zustand sein kann. Das wäre laut Kant das negative Ideal eines politischen Zustandes des Bösen, in dem die Staatsklugheit einzige praktische Weisheit und Freiheit wäre, weil das Bewusstsein des Sittengesetzes verloren gegangen wäre (vgl. VIII, 372). Mit dieser Argumentation unterstützt Kant den preußischen König Friedrich in dessen Bemühen, einen Anti-Machiavellismus zu gründen. Politik hat gemäß Kant die Fähigkeit, in die durch die Selbstherrschaft des Gesetzes sichergestellte Freiheit wieder die Gefahr der Freiheit zu bringen. Sie tendiert als „Machtstreben“ zur Auflösung der rechten Gemeinschaft. Politiker neigen dazu, die Pferde hinter den Wagen der Freiheit zu spannen. Spätestens seit Machiavellis Emanzipation des Politischen von der Moral relativieren sie letztere zugunsten der Macht und pervertieren so das Sittliche. Kommt die Macht zuerst und ist das Rechte lediglich Folge, entsteht politisch Böses bei Kant, da müssen die Politiker gar nicht wie bei Augustinus als Räuberbanden auftreten. Hat der politische Moralist überhaupt einen Grund, sich gegen den moralischen Politiker durchzusetzen, ist es seine Überheblichkeit, überall um das gut verborgene, aber einzig wahrhaft seiende Böse zu wissen. Das Vorurteil ist, „die Menschen zu kennen“ (VII, 374). Diese politischen Moralisten kennen jedoch laut Kant nicht „den Menschen“ (ebd.). Ihnen entgeht in ihrem Streben, ihre eigene Interessen durchzusetzen, dass jeder Mensch als freies Wesen eine Person ist, die in jeder Handlung zu achten ist und die nicht einfach als ein Mittel für andere

12 „Eine solche Erkenntniß ist die nach der Analogie, welche nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen bedeutet.“ (IV, 357)

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Zwecke eingesetzt werden darf. „Freilich, wenn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz giebt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist Politik (als Kunst, diesen zur Regierung der Menschen zu benutzen) die ganze praktische Weisheit und der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke“ (VIII, 372). Die „despotierenden Moralisten“ (VIII, 373) schließen aus, dass die menschliche Natur zum Guten fähig ist und verunmöglichen so das „Besserwerden“. Die „Rechtsverletzung“ wird „verewigt“ (ebd.) und es setzt sich der „Geist der Chicane“ (VII, 374) durch. So radikal, dass es Besserung ausschließt, kann Kants intelligibele Tat des Bösen mithin nicht gewesen sein entgegen dem Schein, den Kant mancherorts selbst produziert. Wegen seines Vorurteils gegenüber dem Menschseins wird der politische Moralist zum Stasiastiker, der noch in der besten iustitia distributiva das Ungute wittert und diese eigenmächtig verändern will. Ermöglicht wird ihm das durch die Unberechenbarkeit des Bösen, die in dessen Unbegreifbarkeit liegt, nach der es überall sein kann. Aufgabe des Staates der Macht wird es, das Böse in immer neuen Verwinklungen aufzuspüren. Nichts darf vor der staatlichen Sicherheit mehr sicher sein. Der politische Moralist ist der Kasuistiker. Seine Kasuistik ist Konsequenz eines Feindes, der nicht zu riechen, zu schmecken oder zu sehen ist, denn noch im höchsten Glückszustand der Menschen verbirgt sich Böses. Mit der Kasuistik wird die Ordnung des Rechts nach Prinzipien unterhöhlt. Ist die Kasuistik zur ganzen Ordnung erklärt, weil dem radikal Bösen Menschen nicht mehr zu trauen sei, bedeutet dies das Auflösen der Vernunft selbst. Der Staat wird vom Ermöglicher menschlicher Freiheit zum Misanthropen. Neben seiner Funktion bei der legitimen Gründung eines Rechtszustandes meint das Böse auch die Legitimation für die Macht des Politischen, sich dorthin auszudehnen, wo sie (noch) nicht hinreicht. Es ist nicht nur Initialzündung des Politischen, sondern auch Schmiermittel seines Verlaufs. Das Böse erscheint so als causa prima et constituta der Politik der Macht. Die Negation der Freiheit steht am Ende der Auflösung der Moral durch die praktisch-politischen Skeptiker. Dass diese die wirkliche Welt auf ihrer Seite wähnen könnten, verneint Kant. Ihre Antinomie im Praktischen, die die Empirie nicht mit der Vernunft versöhnt sieht, beantwortet er nach dem bekannten Muster. Die „recht Handelnden“ werden ihren „Tugendlohn“ erhalten. Er behauptet an dieser Stelle sogar das Extrem, „je weniger sie [die Moral, d.V.] das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem, Vortheil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im Allgemeinen zusammenstimmt.“ (VIII, 378) Das die Wirklichkeit kontaminierende Böse, das solcher harmonischen Verwirklichung widerspricht, räumt Kant mit einem alten, schon von Platon verzeichneten Argument beiseite. „Das moralisch Böse hat die von seiner Natur unabtrennliche Eigenschaft, dass es in seinen Absichten (vornehmlich in Verhältniß gegen andere Gleichgesinnte) sich selbst zuwider und zerstörend ist und so dem (moralischen) Princip des Guten, wenn

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gleich durch langsame Fortschritte, Platz macht.“ (VIII, 379) Das Böse ist auch bei Kant lediglich das schlechthin Negative, hat keine Existenz an sich selbst und muss folglich zugrunde gehen. Der Mensch kann sich höchstens der Geschwindigkeit dieses Vorgangs unsicher sein. So siegt die Geschichte immer und auf jeden Fall über das Böse. Weil „die Entgegenwirkung der Neigungen, aus welchen das Böse entspringt, unter einander […] der Vernunft ein freies Spiel [verschaffen, d.V.], sie insgesammt zu unterjochen und statt des Bösen, was sich selbst zerstört, das Gute, welches, wenn es einmal da ist, sich fernerhin von selbst erhält, herrschend zu machen“ (VIII, 312),13 kann Kant überlegen feststellen: „Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis.“ (VIII, 313) Das Böse ist auch bei Kant causa instrumentalis activa, denn es richtet sich selbst, damit anderes sein kann. Dieses andere ist ein Gutes, das sich selbst erhält, in das der Mensch keine Anstrengung stecken muss. Als absolutum ist es für die Menschheit ein Jenseits und es wäre absurd, sich darum noch zu bemühen. Hat die Kantische Politik diesen Lauf der Dinge erkannt, kann sie beruhigt zu ihrem „reinen Begriff der Rechtspflicht“ übergehen und damit ganz von selbst das wahre Telos des „ewigen Friedens“ bereiten. Die Geschichte ist das sich selbst richtende Böse, also auch ein Freiheits- und Friedensautomat. Beim Nachdenken über die Theodizee kommen Kant die stärksten Zweifel über die Gerechtigkeit der Vorsehung, die menschliches Leiden sinnvoll werden ließe (vgl. VIII, 262). Schließlich hat Kant schon in den praktischen Grundlegungsschriften das lateinische mala in die deutschen Wörter Übel und Böses geteilt, um den brückenlosen Graben zwischen ihnen darzustellen, was Naturteleologie für alle Fälle ausschließt. Der Natur (oder Vorsehung) eine Absicht zu unterstellen und daraus menschliche Freiheit zu gewinnen, bedeutete den möglichen Übergang vom malum physicum zum malum morale. Freiheit würde zum Mittel der Natur, Mittel zur Erreichung des Endzwecks der Natur.14 Dass gegen den brückenlosen Graben im Abweis der Theodizee das Böse heute lediglich Übles angerichtet hat, morgen aber bewiesen hat, dass es dadurch Gutes bewirkt hat, enthüllt, dass sich seine Bewertung durch den Blick auf es ändern kann. Was schlecht ist für einen einzelnen Menschen, muss noch lange nicht schlecht für alle sein. An dieser Möglichkeit zur Wechsel der Perspektive zwischen einem Teil und dessen Ganzen hält Kant fest und dokumentiert somit (wider Willen), dass das Böse nicht allein ewige Wahrheit, sondern auch historisch-gesellschaftlich bedingt ist. Wenn in der Nachfolge des kosmologischen Optimismus das Böse aus seiner bloß relativen theoretischen Existenz gegenüber dem Guten befreit

13 Die Neigungen öffnen das Feld für die Vernunft. Man erkennt die spätere Konstruktion Hegels der sich selbst überlistenden Natur wieder – die so genannte „List der Vernunft“. 14 Vgl. Büchsel, Martin: „Die Kategorie Substanz in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘“, Frankfurt/Main: Dissertation 1977, S. 138.

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worden ist und selbst zum vollständigen Sein an sich wird, hat sich dies Bewusstsein der Gesellschaftlichkeit des Bösen suspendiert. Das Absolute hat keine gesellschaftliche Dimension, sonst wäre es wieder in die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit zurückversetzt. Die Philosophie nach dem Scheitern der Theodizee hat das übrig gebliebene zynische Faktum des Bösen so ernst genommen, dass für seine Bekämpfung kein Mittel ungerechtfertigt erschien. Sobald eine politische Macht der Moderne in der Folge dieser Entwicklung des Zeitgeistes als Kämpferin gegen das Böse auftrat, wurde ihr jedes Mittel recht. Die Juden sollten Inkarnation des Bösen sein. Nicht zuletzt deswegen konnten die Nationalsozialisten sich auf weitgehendes Einverständnis bei vielen verlassen, wenn sie ihren Kampf für die „arische Rasse“ mit Mitteln führten, von denen so mancher nicht glauben mochte, dass sie auf dem erreichten Stand menschlicher Zivilisation, menschlichen Fortschritt zum Besseren, noch möglich wären. Im Mittelalter war das Böse der Juden noch Teil der guten Schöpfung. Ihrer Verfolgung konnten diese durch Taufe entgehen. Als das Böse ohne Gutes konnten sich die Juden durch nichts mehr vor der eigenen Vernichtung bewahren.15 Das „absolut“ Böse ist bestimmungslos, kann sich nicht bestimmen und kann sich schon gar nicht verändern. Was selbst keine Geschichte hat, ist auch nicht geschichtlich zu verändern. Entgegen der Durchführung der Argumentation bei Kant, die mancherorts der Natur selbst ein Wollen unterstellt, bleibt deren Differenz zu einer objektiven Teleologie der Geschichte festzuhalten. Die Vernunft ist der Natur nicht subordiniert, sondern Subjekt der Zuordnung eines Telos zur Natur. Die Verbindung der beiden ist Resultat der reflektierenden Urteilskraft, die Idee eines objektiven Fortschritts bloß Regulativ, um die historischen Ereignisse zur Geschichte zu ordnen.16 Mit der Kantischen Theorie der regulativen Geschichtsphilosophie ist viel gewonnen, weil sie historische Dogmatik und Relativismus gleichermaßen abweist.17 Weder setzt sich eine transsubjektive Vernunft durch noch wird vor

15 Von Kant wird die jüdische Religion nicht ernst genommen. Sie ist für ihn die Negation einer Vernunftreligion, weil sie vor allem äußerliche Handlungen (wie die Bedingungen der Sabbatruhe) regelt und nicht um die moralische Gesinnung bekümmert ist, weil sie Politik will, wo Moral gefordert ist. Für Kant ist klar, dass der Gott der Juden „nur ein politisches, nicht ein ethisches gemeines Wesen habe gründen wollen“ (VI, 126). Die Juden werden bei Kant zur Personifikation des Willens, Moral durch Politik zu ersetzen. Das ist die Bestimmung des negativen Ideals eines politischen Zustands des Bösen, in dem die kasuistische Klugheit die Treue zu den Prinzipien der Moral abgelöst hat. Schon bei Kant sind die Juden mehr als die mittelalterlichen Mörder Jesu. Sie stehen mit ihrer Existenz für die innere Auflösung des gesamten politischen Gemeinwesens ein und sind moderne „Brunnenvergifter“, die gleich aufs Ganze des Staates und des Freiheitlichen überhaupt gehen. 16 Vgl. M. Lutz-Bachmann: Subjekt, S. 45. 17 „Das Modell, das Kants Geschichtsphilosophie vorstellt, gleicht der schwierigen Fahrt zwischen der Skylla des historischen Dogmatismus und der Charybris des historischen Relativismus.“ (Ebd., S. 102)

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dem Lauf der Dinge kapituliert. Der Gewinn zeigt sich gerade für das 20. Jahrhundert, auf dessen Spielplan die immergleiche Abwechslung derselben kontrahierenden Fehler stand. Zum einen wäre die Idee der prinzipiellen Regellosigkeit der Geschichte im historischen Relativismus zu nennen, durch die sich alles Leiden der Gegenwart leicht abmindern lässt, weil es ohne menschlichen Eingriff morgen auch anders sein kann. Wird dieses Prinzip hypostasiert, ist der menschliche Eingriff selbst regellos und somit überflüssig. Zum anderen hat sich im 20. Jahrhundert hartnäckig der Glaube gehalten, dass der hehre Endzweck alle Leiden der Vergangenheit und Gegenwart rechtfertige. Ich glaube, noch kein politisches Regime ist ohne diesen ausgekommen. Das Wie dieser Idee hat sich an der Rechtfertigung Gottes gelehrt, und die Politik hat es (spätestens) seit dem 20. Jahrhundert so verkauft. Hegel will mit seiner Politik über den regulativen Charakter der Bemühungen Kants hinaus. Seine Idee der Emanzipation will konkret werden lassen, was Kant den Menschen nur unter Zuhilfenahme höherer Mächte wie Gott und Natur zuspricht. Die Menschen sollen sich bei Hegel ihr Absolutes zumindest im Praktischen selbst schaffen können, wenn sie sich zur Sittlichkeit zusammenfinden. Niemals vorher in der Philosophiegeschichte ist den Menschen eine so umfassende Befreiung versprochen worden wie bei Hegel. Alle Gefahren sollen für den Menschen stillgestellt sein, wenn die Sittlichkeit alle Negativa aus Natur und Freiheit überwindet. Kein Böses soll mehr Macht über die Menschen haben, nicht weil eine höhere Macht dies bewirkt, sondern weil die Menschen selbst dazu die Macht haben. Von allen Seiten her arbeiten die Teile der Hegelschen Philosophie daran mit, für den Menschen allgemeine Freiheit zu erreichen. Hegels Versprechen ist, dass mit dem absoluten Idealismus die Freiheit wirklich werden kann. Wenn nun Hegels Idee des Politischen verfolgt wird, soll nicht einfach dessen Staatstheorie abgebildet werden. Die Frage ist wie bei Kant, ob Hegels Staatstheorie überhaupt eine Reflektion des Politischen zulässt. Man kann mit gutem Recht argumentieren, dass Hegel politisches Handeln nicht zugelassen hat, wenn man die Autorität des Begriffes auch in den Realphilosophien betrachtet. Es soll vielmehr mit Hegels Ideen (vor allem auch mit dessen phänomenologisch geprägten) eine Verortung des Politischen in der Negation von anderen menschlichen Beziehungen wie dem formellen Recht und der Moral versucht werden. Hegels Theorie des Politischen soll aus dessen Wissenschaften von den menschlichen Phänomenen gewonnen werden. Hier wird deutlich, wie stark Hegel an den negativen Phänomenen wie Verbrechen und dem Bösen interessiert ist, um seine Idee der individuellen und generativen Emanzipation zu begründen. Sie helfen unvollständige Formen der politischen Emanzipation zu überwinden. Das Böse zeigt bei Hegel, dass die Moral nicht das letzte Wort in Sachen Freiheit gewesen sein kann. Dass es existiert, macht nicht wie bei Kant, dass die Menschen nie ohne Fehler sein können, sondern dass sie politisches Handeln suchen.

Di e Mach t der Nega tiva in der pol itischen Theor ie Hege ls

Hegels Realphilosophien sehen vor allem die Einwirkungsfähigkeit der Vernunft auf die Empirie nicht so weit beschränkt, dass sie sich auf Natur oder Vorsehung verlassen müsste, um das praktisch Absolute der Sittlichkeit zu verwirklichen. Die Menschen können, weil sie vernünftig sind, ihre Wirklichkeit selbst schaffen. Hegels Überzeugung ist es dabei, dass die Vernunft allein durch die Menschen gemeinsam durchzusetzen ist. Die allgemeine Freiheit muss sich nicht fürchten vor der endlich-unendlichen der Menschen, sondern kann auf dieser aufbauen. Auch Hegels Politik setzt sich gegen das Böse und die Gefahren der Freiheit durch, nicht jedoch, indem sie versucht, das Böse mit Macht auszuschließen, sondern indem sie es mit Vernunft einschließt in das allgemeine Wollen. Die „Tübinger Axiomatik“ (Kondylis) der drei jungen Stiftler Hegel, Hölderlin und Schelling ist das Programm einer Kritik der formalistischen Tendenz der Kantischen Aufklärungstradition gewesen. Durch vernünftig-lebendige Freiheit sollte die Sinnlichkeit wieder etwas gelten und der Formalismus zurückgedrängt werden.1 Gerichtet waren ihre Schlagworte von „Hen kai pan“ und eines (politischen) „Reichs Gottes“ gegen den „Supranaturalismus“, der die Situation im Tübinger Stift beherrschte. Das angestrebte Reich Gottes ist von den Dreien revolutionär weltlich gemeint und verlangt nach einer allumfassenden Einheit im Sein. Es wird von ihnen eine Vereinigung zwischen den Menschen entfaltet, welche mehr ist als ein „Vertragen“. Stark fundiert in diesen religiösen Bezügen, ist die Vereinigungsidee Hegels fast schon keine „Staatstheorie“ im engeren Sinn mehr. 1 Taylor erklärt die deutsche Aufklärungstradition im Hegelschen Umfeld daher zur Kontraposition zum nominalistisch-naturwissenschaftlich geprägten Denken. Radikale Autonomie und Moralität des Subjekts sollten in Einklang gebracht werden mit einer Reetablierung der Natursubjektivität (vgl. Taylor, Charles: Hegel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 13ff.).

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Was er später in Berlin unter dem sittlichen Staat versteht, ist jenseits aller traditionellen und sonstigen Auffassungen. Der Staat, wie er existiert, ist nur Teil eines viel umfassenderen Befreiungskonzeptes, denn schon früh ging er dem späteren absoluten Idealismus nicht weit genug. Um den Menschen als Besonderes wollen zu können, müssen die politischen Voraussetzungen geschaffen werden, die dies ermöglichen. Hegel hat auch einmal in Bern gelebt, um sich vor seinem großen Auftritt auf der philosophischen Weltbühne als Privatlehrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aus dieser Zeit sind einige Untersuchungen über die Struktur und die Prinzipien des Staatswesens des Berner Stadtstaates erhalten, die zeigen, was Hegel durch alle seine Phasen hindurch politisch bewegt hat.2 Hegel kritisiert den Berner Staat als unwirksam. Dort herrschte eine Aristokratie, und die Verallgemeinerung der Beziehungen alter Familien konstituierte im Prinzip die zentrale Verwaltung, welche selbst nicht über das Nötigste hinauskam. Was diesem Staat nach Hegel fehlte, war die positive Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verändern. Er kam nicht darüber hinaus, einen vorgefundenen Inhalt in ein System der Gesetze und Gebote zu pressen. Das politische Prinzip selbst war in ihm nicht in der Lage, die Wirklichkeit selbst zu gebieten. Unfähig zur Wirklichkeit ist das politische Ganze für Hegels Verfassungsschrift ein „Gedankenstaat“. Wo ein solcher aktiv in Erscheinung tritt wie in Bern und die politischen Muskeln spielen lässt, müssen dessen Aktionen den uneingebundenen Bürgern als Willkür einer Staatsgewalt erscheinen.3 Unterstützt wird dieses Willkürsystem von eben der Religion, die nicht zum Volk gefunden hat, weil sie nicht von dieser Welt sein will. Von Hegel wird in Bern dem historischen Christentum eine unheilige Gemeinschaft mit politischem Despotismus vorgeworfen, und als Gegenmittel werden die Philosophie und die Aufklärung bereitgelegt.4 Aus der Abscheu vor der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit entsteht beim Berner Hegel die Idee eines gegliederten gesellschaftlichen Ganzen, das sich aus den Prinzipien einer Vernunft in freiheitlicher Absicht herleiten soll. Diese Idee wird Hegel für jedes seiner Systeme des Politischen auch später aufrechterhalten. In einem Staat sollte die Freiheit nicht bloß durch Gesetze gesi2 Hier drückt sich in besonderem Maße die Aufnahme von (Kantischen) Moralvorstellung in das Politische aus, die der frühe Hegel betrieben hat. Hegel lehnt in Bern nicht die praktische Philosophie Kants ab, wie Peperzak glaubt (vgl. Peperzak A., „Le jeune Hegel et la vision morale du monde“, La Haye: M. Nijhoff 1969, S. 251). 3 Diese Kritik des Gedankenstaates hat Martin Bondeli in seiner aufschlussreichen Studie zu Hegel in Bern anhand der vertraulichen Briefe Hegels herausgearbeitet (vgl. Bondeli, Martin: „Hegel in Bern“, Bonn: Bouvier 1990, S. 27ff.). Bondeli zieht zur Charakterisierung der Hegelschen Berner Staatskritik den Terminus „Gedankenstaat“ aus der Verfassungsschrift heran: Ein solcher „Gedankenstaat“ kann den Staat „lediglich als negative Macht konstituieren […], d.h. als Abstraktum, das sich positiv als formalisierte, willkürliche Staatsaktion manifestiert“ (ebd., S. 31). 4 Vgl. P. Kondylis: Entstehung, S. 236f.

DIE MACHT DER NEGATIVA IN DER POLITISCHEN THEORIE HEGELS | 177

chert sein, sondern verwirklicht. Die Anwendung des Praktischen der Vernunft und die positive Freiheit der Menschen sollten durch den Staat getragen sein. Gegen die Herrschaft der Einzelinteressen in „Gedankenstaaten“ fordert die Vernunft das sittliche Absolute, in dem sich die Menschen mit all ihren Momenten wieder finden können. Die Philosophie Kants hat für Hegel zu Recht ihr Absolutes allein in die praktische Philosophie verlegt, denn das Absolute geht auf die Wirklichkeit. Das Programm der praktischen Vernunft Kants, sich aus sich selbst heraus zu setzen, bleibt allerdings Schein, solange sie sich in Absetzung gegen die Welt zu setzen versucht. Das Absolute Hegels „legt sich aus“, worin zum Ausdruck kommt, dass es ihm Fremdes nicht gibt, auch wenn der Schein noch so hartnäckig sein sollte. Die Wirklichkeit ist Hegelsch die Manifestation des Absoluten.5 Alles, von der religiösen Kulthandlung bis zur politischen Ökonomie, nimmt bei Hegel an der Sittlichkeit teil. Die alten politischen Formationen, die da nicht mithalten können, müssen untergehen. Ein gegliedertes gesellschaftliches Ganzes muss entstehen, in dem jeder seinen Platz aus Freiheit finden kann. Stabil gegenüber der zum Nichts offenen Freiheit ist dieses politische Ganze bei Hegel, weil in ihm der Freiheit kein Grund mehr gegeben wird, das Nichts auch zu wollen. Sie hat noch vor dem Ganzen am eigenen Leib erfahren müssen, dass das für sie zu nichts führen kann. Für Hegel ist so das freie Wollen der Unfreiheit vor allem von diesem selbst nicht zu wollen. Es wollte frei noch zur Unfreiheit sein und hat doch bloß reine Unfreiheit gefunden. Böses kann man bei Hegel nicht wollen, weil dieses keine Aussicht auf Erfolg und Wirksamkeit des eigenen Wollens haben kann. Das gegliederte politische System ist zumindest der Hegelschen Idee nach nicht feindlich gegen seine Einzelglieder eingestellt. Das geht sogar so weit, dass es einsieht, dass diese teilweise absolut Widersinniges anstellen, das lediglich in ihrem eigenen Untergang resultieren kann. Das Hegelsche Absolute sieht in den menschlichen Negativa wie dem Bösen viel Wert für die eigene Potenz vorhanden und versucht, diese nicht weit von sich zu halten, sondern durch ihren „Schmerz“ hindurch zu gehen. Gerade an den weltlichen Negativa zeigt sich, wie stark Hegels gesamte Philosophie phänomenbestimmt ist, denn deren Vorstellung von Versöhnung schult sich an deren absoluten Gegenteil. Das Bedürfnis nach der Beendigung der Entzweiung der Menschen verlangt sein eigenes Gegenteil. Konstitutiv für das Gewinnen der Versöhnung ist nach Hegel das Verweigern derselben. Die summa negativa der Spaltungen der Vorstufen des Sittlichen abstraktes Recht und Moral, Verbrechen bzw. Böses, müssen, um nicht bloß den Mangel zu reproduzieren, das Bedürfnis zu mehr treiben, als es selbst ist. Dann kann sich aus den Vorstufen das Sittliche realisieren.

5 „Das Absolute als diese sich selbst tragende Bewegung der Auslegung, der Art und Weise, welche seine absolute Identität mit sich selbst ist, ist Aeusserung, nicht eines Innern, nicht gegen ein Anderes, sondern ist nur als absolutes für sich selbst Manifestieren; es ist so Wirklichkeit.“ (11, 375)

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Nach ihrer formalen Struktur sind Negativa vor der Positivität nicht zu retten. Ihre Hegelsche „Logik“ hat sie schon zur Affirmation verabschiedet, bevor sie überhaupt geworden sind. In der Geschichte der Philosophie führte dies oft zur Relativierungen der Übel und des Bösen. Hegel liegen solche an sich fern, und sein Absolutes in Sachen Freiheit benötigt sie auch nicht. Hartnäckig hält er sich gerade in seinen Realphilosophien an negativ-realen Phänomenen auf, wohlwissend, dass gerade diese es sind, an deren Überwindung der Erfolg einer universellen und absoluten Emanzipation bemessen wird. Die Formbestimmungen der Logik gelten der Realphilosophie nur so viel, wie die Phänomenalität der Gegenstände diese freisetzt. Schlechte Kritik an Hegels Realphilosophien fängt demnach zunächst mit der Unzulänglichkeit von deren Formbestimmungen an. Seit seinen frühen Tagen bekämpft Hegel zwei real existierende praktische Negativa, die zu einem „Gedankenstaat“ führen. Zum einen könnte der Geist der Gesetze missbraucht werden und zuviel Legalismus einen Despotismus nach sich ziehen, wenn er unachtsam umgeht mit all den ihm unterworfenen Einzelnen. Die absolute Herrschaft ist eine Erscheinung, wie sie nur im reinen Rechtszustand auftreten kann, dann nämlich, wenn das Subjekt als Einzelwesen in ihm übergangen wird, wie es seiner Tendenz entspricht. Das Subjekt verteidigt sich mit Moral, um in dieser seiner Freiheit einen vom allgemeinen Recht unabhängigen Grund zu geben. So tritt die Pflicht nicht „in Form eines Fremden“ an das Subjekt heran, sondern gilt ihm als das „Wesen“ (9, 324f.). Auf ein Schlechtes zu reagieren, bedeutet aber nicht unbedingt, ein Gutes zu haben. Der Moralismus des Subjekts ist reine Reaktion, ohne exaktes Wissen um die eigenen Umstände. Der zweite Feind Hegelscher Emanzipationsbemühungen ist das Verrennen des Subjekts in dessen Innerlichkeit und „absolute Freiheit“. Die Moralität ist nicht vor dem Subjektivismus gefeit. Legalismus und Moralismus, also die Übertreibung des Standpunkts des formellen Rechts und der Moral, zerstören das Politische.6 Für die an den Phänomenen orientierte politische Theorie Hegels sind sie das Material, wie und woraus ein Staat zu machen ist. Hier wird die Sittlichkeit nicht als Selbstläufer dargestellt, sondern bestimmt durch Erscheinungen, ohne die sie nie hätte sein können. Hegel will den Legalismus mit Anerkennung und der Einsicht in die Unmöglichkeit des Phänomens des Verbrechens besiegen. Der Moralismus schafft sogar einen noch gefährlicheren Feind. Das moralisch Böse, das sein Gutes nicht verhindern kann, lässt jede Aussicht auf vollständige Selbstbestimmung unmöglich erscheinen. Sein Auftauchen ist Zeichen dafür, dass moralische Standpunkte keine Antwort auf das Verbrechen sind, sondern lediglich zu noch größeren führen. Zwei Auslegungen der Freiheit dürfen für Hegel nicht sein, damit das Politische nicht zugrunde geht. Seine Abhandlung des Rechtes erzählt, wohin es mit

6 Die Opposition gegen Legalismus und Moralismus offenbart Hegels Drang zum Transsubjektivismus. Sein Ausgangspunkt mag zwar das Einzelindividuum sein, dies aber ist weder als Person noch als Subjekt das Wahre.

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einem politischen Gemeinwesen kommen kann, wenn dieses nur auf der Ebene des Verstandes und der Interessen, nicht der der Vernunft zusammengehalten wird. Das Los des abstrakten Rechtszustandes ist das der absoluten Herrschaft, in dem die „Heiligkeit“ unterlaufen wird, welche das Recht an sich als Dasein der selbstbewussten Freiheit darstellt. Die Freiheit muss den Formalismus des Rechts verlassen, um ihrer eigenen Fortexistenz willen und der des Rechts.7 Hegels Bemühen um das Phänomen des Bösen zeigt, was aus der Freiheit wird, wird diese zu innerlich, geradezu zu idealistisch. Herrschaft auf der einen Seite entsteht aus abstraktem Verstand und lässt diesen an ihrem Material über sich hinaus wachsen. Im wortwörtlichen Sinn „arbeitet“ man sich nach Hegel aus ihr heraus, wenn die Herren ihre Knechte für sich arbeiten lassen. Das Böse hingegen ist das Objekt, an dem sich die abstrakte Vernunft schult. Gegen diese hilft kein Zwang, wie das Recht es gegen die absolute Herrschaft aufbaut. Es muss sich selbst zwingen lernen, wozu es aber erst einmal Zweifel an seiner Überlegenheit entwickeln muss. Mit dem Bösen, das dem Moralismus das Fürchten lehrt, und der absoluten Herrschaft, die dem Legalismus seine Grenzen aufzeigt, ist die Hegelsche Sittlichkeit nicht ein abstraktes Gedankenspiel und kein „Gedankenstaat“, sondern als Absolutes freigesetzt. Politische Philosophie im Anschluss an Hegel kann es lediglich dann geben, wenn sie über die rein philosophischen Bemühungen um logisch-spekulative Übergänge und Inkonsequenzen hinausgeht. Was politisch interessiert, sind der „Phänomenologe“ Hegel und die Bruchstellen in dem Phänomenbestand, den Hegel analysiert.8 Zwei Stränge führen phänomenal bei Hegel weg vom „Gedankenstaat“ – hin zur Sittlichkeit. Auf der einen Seite negiert sich der Versuch absoluter Herrscher, durch und über das Recht zu sein daran, dass die äußeren Verhältnisse so nicht stabil geregelt werden können. Auf der anderen Seite wartet der Versuch der absoluten Freiheit über das Versenken des Selbst in seine moralischen Pflichten mit dem absoluten Niedergang auf. Das Böse exekutiert das Fehlverhalten des moralisch Guten und bringt die Innerlichkeitsfanatiker wieder auf die sittliche Bahn. Das Scheitern des Bemühens um rein äußerliche Freiheit in den Phänomenen der absoluten Herrschaft und des Verbrechens und das des Bemühens um rein innerliche Freiheit in den Phänomenen des moralischen Zerwürfnisses zeigen für Hegel an, dass diese beiden Freiheitskräfte nicht gegenein7 „Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt, allein weil es das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewußten Freiheit ist. – Der Formalismus des Rechts aber (und weiterhin der Pflicht) entsteht aus dem Unterschiede der Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Gegen formelleres, d.i. abstrakteres und darum beschränkteres Recht hat die Sphäre und Stufe des Geistes, in welcher er die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die konkretere, in sich reichere und wahrhafter allgemeine, eben damit auch ein höheres Recht.“ (GR, §30) 8 Vgl. Vollrath, Ernst: „Wie kann Hegels Philosophie des Rechts als Politische Philosophie gelesen werden?“, in: Philosophische Rundschau 37 (1990), S. 27-43, hier S. 36.

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ander ausgespielt werden dürfen. Der Staat darf ihm zufolge weder auf einer moralischen Kontrolle des Rechts gegründet sein, noch darf das Recht über dem Prinzip der moralischen Eigenmächtigkeit des Selbst stehen. Damit Freiheit ist, muss nach Hegel nicht die Politik von der Ethik beschränkt werden, sondern durch diese über ihre rechtliche Form hinaus geführt werden. Behoben wird mit der Phänomenologie der Herrschaft und des Bösen die Bestimmung des allgemeinen Willens, die diesen „leer“ zurücklässt, weil er sich nicht auf das Andere seiner selbst bezieht, die Einzelwillen. Diese bleiben dann auf ihre partikularen Zwecke zurückgedrängt, seien es die aus ihrer natürlichen Selbstbehauptung oder die aus ihrem moralischen Eigensinn. Hegels ganzes Schaffen will einen Beitrag zur Etablierung der Freiheit liefern, die diejenige Allgemeinheit des Willens sichert, die sich im Einklang mit dem Einzelwillen befindet. Seine gesamte Geistphilosophie nimmt teil am System der Sittlichkeit, auch der „theoretische Geist“, wie er bei ihm im Unterscheiden von Intelligenz und Willen erscheint. Der Wille ist Intelligenz, wie sie sein soll, nämlich „freie Intelligenz“ (20, §443). Zu Hegels Jenaer Zeiten gehört gar, was wie Kunst, Religion und Philosophie den absoluten Geist ausmacht, zur allgemeinen sittlichen Praxis. Zielvorstellung Hegels ist es, alles in die Vermittlung von besonderem und allgemeinem Wollen mit hineinzuziehen. Dazu gehören Trieb, Arbeit und die Entwicklung geronnener sozialer Formen wie Familie und „politische Ökonomie“, damit sich der sittliche Staat als geglücktes Erreichen des Gegensatzes von Besonderem und Allgemeinem offenbart. Die absolute Sittlichkeit wird aus der Negation ihres Andersseins entwickelt. Seitdem Hegel das System der Sittlichkeit zum Programm seiner politischen Theorie gemacht hat, kann aus der Sittlichkeit für ihn nur ein System werden, wenn diese begriffen wird nach dem Modus doppelter Negation. Zunächst muss ihr negativer „Reflex“, ihre Erscheinung als „Natur“, negiert werden. Diese muss der Darstellung der absoluten Sittlichkeit vorangehen. Nach der Natur entsteht das Sittliche aus der Selbstnegation seiner geistigen Wegbereiter, welche von dem „zweitnatürlichen“ Ballast befreien, der auftritt, wenn die Freiheit sich zwar schon von ihrer Natur abgesetzt hat, aber immer wieder in diese zurückfällt. Die „Herrenschaft“ und deren formales Recht, welche die Erscheinung einer politischen Negativität auf Basis einer objektivistischen Unfreiheit sind, werden als erste geistige Wegbereiter der Sittlichkeit untergehen. Das Böse, das auf die abstrakte Moral antwortet, ist der Abgrund aller subjektivistischen Wegbereiter des Sittlichen, denn in ihm ist die höchste Form einer Unfreiheit affirmiert, wenn mit vollem Bewusstsein der Freiheit trotzdem die Unfreiheit gesucht wird. Damit eine Hegelsche Einheit von Freiheit und Notwendigkeit stattfinden kann, darf es nicht nur keine Herrschaft über die Herren der Welt geben, sondern es darf auch keine Herren mehr geben. Daher „verträgt“ sich auch keiner bei Hegel, eine Gewalt über sich selbst als entscheidende Macht in Streitfragen anerkennend. Für Herrschaft gibt es keine rein politisch-konventionelle Lösung bei Hegel, hinzu tritt die ökonomische Emanzipation des Menschen von der Natur.

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Dies für ihre Herren leistend, zeigen die Knechte und Sklaven bei Hegel, dass sie es wert sind, anerkannt zu werden, und dass das Recht der Herren nicht das letzte Wort in Sachen Befreiung gewesen sein kann. Die Herrenschaft bricht bei Hegel den Zwang der Natur, jedoch nur, um nicht über einen neuerlichen naturförmigen Zwang hinaus zu kommen. Sie begründet das formelle Recht. Freiheit ist für Hegel weit mehr als Rechtsfreiheit, denn Freiheit ist nicht durch positive Gesetze zu befehlen. Hegel würde argumentieren, dass eine Freiheit, die rein auf der Autorität von positiven Rechten aufgebaut ist, nicht einmal dazu fähig ist, in diesen positiven Gesetzen Vernunft walten zu lassen. Dass das Subjekt als Grundlage der Synthesis der Gegenstandswelten unendlich und bereits über bloßes bewusstes Sein hinausgegangen ist, zugleich aber noch nicht vollständige selbstbewusste Grundlage der Geheimnisse der eigenen Existenz ist, macht sich Hegel in der Phänomenologie zunutze, um den historischen Prozess zu erklären, der zur rechtsfähigen Person geführt hat. Causa formalis dieser Entwicklung ist eben die Ungewissheit, mit der sich der Mensch selbst begegnet. Obwohl er nach der Hegelschen Phänomenologie durchaus selbstbewusst feststellen darf, dass er im Schaffen seines Denkens Grundlage der Existenz ist, scheitert er noch daran, Grundlage auch der eigenen Existenz zu sein. Als kontingente und abhängige Wesen scheitern die Menschen daran, sich selbst zu erhalten, und suchen daher eine anerkennende Gemeinschaft mit anderen. Die Dialektik der Anerkennung, wie Hegel sie in Jena betitelt, mit den handelnden Akteuren Herr, Knecht, Tod und Arbeit taucht so nicht mehr in System des objektiven Geistes der Rechtsphilosophie auf. Das System des objektiven Geistes unterschlägt die Kosten des Werdens seiner Freiheit, weil für es kontingente Geschichte schon kein Maß mehr seiner Wirklichkeit ist. Mit Recht beurteilt werden kann nur, was an sich selbst schon rechtens aufgebaut ist. Das Rechte ist als Faktum (des Verstandes) bereits vorausgesetzt; wie es geworden ist, ist eine Frage, die anderswo zu stellen ist. Das System des objektiven Geistes kann nicht beantworten, ob es rechtens entstanden ist. Weil das, woraus Recht geworden ist, selbst nicht Recht sein kann, kann es nicht mit dessen Maßgaben bewertet werden. Ansonsten wäre das, was Nicht-Recht gewesen ist, selbst wieder ein Recht gewesen. Hegel versucht mit seiner Theorie der Anerkennung zu klären, woher es gekommen ist, dass mit Recht Recht ist.9 Hegel stellt das Werden des formellen Rechts nicht mit einer ausgeführten Theorie des Naturzustandes da, sondern als eine Geschichte wechselseitiger Anerkennung als Personen. Das Recht wird Recht bei Hegel, indem 9 Siep argumentiert überzeugend, dass Hegel mit seiner Theorie der Anerkennung nicht auf an der griechischen Tragödie orientierte Auffassungen zurückgreift, wie Habermas vermutet, sondern er hat – das sagt er in der Geistphilosophie von 1805/06 ausdrücklich – die Theorie eines Naturzustandes als eines Kampfes „ungeselliger Individuen“ auf Leben und Tod Hobbesscher Provenienz im Auge (vgl. Siep, Ludwig: „Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften“, Hegel-Studien 9 (1974), S. 388-395).

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im Kampf um Anerkennung, der in einer Herrschafts-Knechtschafts-Beziehung endet, die wechselseitige Existenz als Personen geschaffen wird. Als Person ist das Selbst bereit, Recht geschehen zu lassen. Zu dessen Etablierung dient die Unterwerfung der Knechte durch die Herren (vgl. 9, 112f.). Bei Hegel sorgen die Bestrafungen Gottes für den menschlichen Sündenfall, der Tod und die Arbeit, dafür, dass ein Recht jenseits des Faustrechtes konstituiert wird. Weil die Anerkennung Ausgang aus der menschlichen Naturverfallenheit sein sollte, ist ihr erstes Resultat, dass Herrschaft entsteht. Für Hegel ist nicht jede Ordnung an sich gut, besonders wenn sie im Wesentlichen als Gewaltzusammenhang entwickelt worden ist. Es ist in diesem Sinn eine unpolitische Macht. Die Ungleichheit der wirklichen Freiheit zwischen Herren und Knechten interessiert das formelle Recht nicht. Für dieses reicht es, dass Herr und Knecht vor ihm gleich sind. Das abstrakte Recht bleibt zu sehr seinen Grundlagen verhaftet, nach denen der Stärkere das Recht festlegt. Der Souverän ist in dieser Realisationsstufe der Freiheit lediglich der Stärkste unter den Starken. Seine Macht garantiert seinen Status. Die Ohnmächtigen können von solch einem „sterblichen Gott“, der lediglich Allmacht und nicht Allgüte ist, nicht wirkliche Freiheit erwarten und beginnen sie daher in der Moral zu suchen. Deren negative Überspitzung, das Böse, kommt bei Hegel nach dem Recht über die Herren und gehört zur Abwehr von dessen Unrecht, das darin besteht, dass das Recht sein Versprechen, die Herrschaft aufzulösen, allein einhält, indem es Herrschaft auf einer höheren Stufe etabliert. Für Hegels Sittlichkeit darf es keine Herren mehr geben, sondern lediglich institutionell abgesicherte Herrschaft. Mit der Anerkennung als Rechtspersonen wird nicht die Freiheit objektiviert, sondern nur die Herrschaft der Natur durch die Organisation der Arbeit durch die Knechte und Herren gebrochen. Mit seiner Idee des Zustands der Herr-KnechtBeziehung zeigt Hegel, was für ein Unglück es ist, Herr zu sein, denn man wird so keine geistige Anerkennung finden können. Er leistet eine radikale Kritik der Legitimität der Herrschaft und ist als Anerkennungstheoretiker nachhaltig politischer Theoretiker im Sinne seit Rousseau. Die Herren, nachdem sie die Knechte besiegt haben, geraten in Streit untereinander, weil sie immer noch mehr haben wollen, und bauen deswegen ein Recht über sich auf, das sie mit Gewalt vom gegenseitigen Morden und Bekämpfen abhalten soll. Die Knechte fordern einen solchen Rechtszustand ebenso. Sie haben schon bei ihrer „ehrlosen Unterwerfung“ die Sicherung des eigenen Selbst über die Freiheit gestellt. Wie es unmöglich ist, als Herr zu existieren, so darf es ebenso keine Knechte und Sklaven auf Dauer geben. Beherrscht zu werden, ist nach Hegel seit seinen frühen Tagen aus Freiheit gewählt und ist, wie zu herrschen, ein unmöglicher Zustand für die Freiheit.10 Hegel rechtfertigt die Knechtschaft ledig-

10 „Die Umstände haben nur so viel Herrschaft über den Menschen, als er selbst ihnen einräumt.“ (NP, 147)

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lich als zivilisatorische „Rute“,11 mit der aus der Natur ausgebrochen wird. An sich ist sie für ihn nach seiner Phänomenologie eine Unverschämtheit, die auch die Herren ins Unglück stürzen muss. Die unfreie, willenlose Existenz ihrer Sklaven macht diese ihnen fremd, und unter ihresgleichen finden sie allein die brutale Konkurrenz. Die Herrenschaft, vertikal und horizontal bedrängt, kann sich nicht halten. Nach der Herr- und Knechtschaft ist der Mensch bei Hegel darauf eingestellt, regiert zu werden – und zwar alle Menschen, nicht bloß die, die sich als Knechte schon unterworfen haben. Die Herren haben in ihrer Hybris bewiesen, dass ihre Art der Freiheit lediglich zurück in die Unfreiheit führt. Die Freiheit muss über ihre „Natur“ hinausgehen, die sich ganz dem Bösen von Einzelpersonen ausliefert. Dazu muss die Herrschaft der Herren gebrochen werden und ein Recht gemacht werden, dass auch diese einschränkt. Der dazu fähige Rechtsstaat konstituiert sich durch den Geist großer, weltgeschichtlicher Individuen. Deren „reine, entsetzliche Herrschaft“ (8, 258) ist laut Hegel gerecht, denn sie schafft aus den vielen Herren den einen, der Recht hat. Der Staat konstituiert und erhält sich als „wirkliches Individuum“ (ebd.). Als wirkliches Individuum meistert der Staat das Kollektiv der Herren mit Recht. In dieser Gestalt ist er seiner selbst so gewiss, dass das reale Gute oder auch das reale Böse (wie das der Sklaverei), das vor ihm gewesen ist, für ihn keine Wirklichkeit mehr haben. Er ist über diese moralischen Einwände erhaben, denn „das Böse ist in ihm mit sich selbst versöhnt“ (ebd.). Auch Hegel will die Bürger nicht räsonieren sehen über die ersten Motive zum Staat. Machiavelli hatte nach ihm recht, dass im Falle der Konstituierung eines Staates unschöne Dinge wie Meuchelmord oder Hinterlist nicht in ihrer alten Bedeutung des Bösen stehen. Im großen Menschen Theseus, der den Anfang von Sittlichkeiten gründet, sieht Hegel das Böse mit sich versöhnt (vgl. ebd.). Andere Staatsterroristen haben bei ihm weniger historischen Wind im Rücken. Robespierre ist das Böse, das gestürzt worden ist, weil es die Notwendigkeit verlassen hat und sich damit wider die Freiheit gestellt hat (vgl. 8, 260). Nach §93f. der Hegelschen Rechtsphilosophie ist Gewalt gegen den staatenlosen Willen gerechtfertigt durch das Recht großer Männer auf große Veränderungen und von der Idee begründet. Eine rechtlose Gewalt hat das formelle Recht und dessen Zustand geschaffen, und eine Gewalt gegen das Recht beendet es auch wieder in Hegels Rechtsphilosophie. Bringt der (verbrecherische) Heros den Mitmenschen den wahren Staat näher, so erklärt ihnen der, der das Recht im Staat bricht, dass das Gewonnene noch nicht alles gewesen sein kann. Es muss zum sittlichen Staat weitergegangen werden, um das Recht einzulösen. Im sittlichen Staat ist das Recht nicht über Herren und Knechten, sondern deren gemeinsame geistige Realisation. Der He-

11 „Es ist der Mensch nicht sowohl aus der Knechtschaft befreit worden, als vielmehr durch die Knechtschaft. Denn die Rohheit, die Begierde, das Unrecht sind das Böse.“ (PWG, 875)

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ros bricht Recht, das allein das der Herren gewesen ist, weil es sich noch nicht konkretisiert hat und bloß in der falschen Abstraktion des Rechts von allen auf alles gewesen ist. In solcher Form unterstützt das Recht bloß die, die schon mächtig sind. Der Verbrecher hingegen zwingt das real existierende formelle Recht. Er zeigt, dass Freiheit nicht allseitige Unterwerfung unter Gebote sein kann. Er verletzt das „Recht als Recht“ und leistet ein „negativ-unendliches Urteil in einem vollständigen Sinn“ (GR, §95), damit das abstrakte Recht, mit dem die besitzenden Herren in Schach gehalten werden müssen, überwunden wird. Als negativ-unendliches Urteil bezeugt das Verbrechen, wessen Geistes es zuletzt ist. Das Böse kommt in ihm durch, um die Freiheit auf die Probe ihrer Realisierungsstufe zu stellen. Für die von Hegel an der entsprechenden Stelle der Rechtsphilosophie zitierte Logik ist die „böse Handlung“ ein Urteil, das gar keines mehr ist. Sie ist ein reelles Beispiel für ein negativ-unendliches Urteil (vgl. 11, 283ff.). So ist das Verbrechen bestrebt, nicht ein besonderes Recht zu verletzen, sondern die allgemeine Struktur selbst, das Recht als Recht. Aber im unendlichen Urteil liegt auch Positives, da es das Einzelne als einzeln erklärt. Hegels Begriff hat Verständnis für den Verbrecher, denn seine Tat entspringt seiner Umwelt. Zu Recht erklärt der Verbrecher das abstrakte Recht zum Schein, denn es ist formell und existiert nicht im Hegelschen Sinne wirklich (vgl. GR, §83). Es bemeistert lediglich die Herren und schafft sie nicht ab, weil das ursprüngliche Unrecht der Unterwerfung der Knechte nicht versöhnt wird. Das Verbrechen ist die Behauptung, dass auch Ich etwas gelten muss und nicht bloß das System der Gesetze. Die Einzelheit kann nicht aus einer abstrakten Vielheit geprägt sein, die ihm als Herrschaft begegnen muss. Dies macht es und dessen begangenes Unrecht zu Recht gegen das Recht geltend. Der Verbrecher ist das erste echte Ich in der Sphäre des abstrakten Rechts und keine „Charaktermaske“ des Rechts mehr. Er weiß um das Recht als solches genau wie der böse Mensch um die Moralität als solche weiß. Der Verbrecher „will Etwas seyn (wie Herostrat), nicht gerade berühmt, sondern dass er seinen Willen zum Trotz zum allgemeinen Willen ausgeführt hat“ (8, 235). Daher legt er Feuer an den Artemistempel von Ephesos. Das Unrecht deutet dem abstrakten Recht, dass es ohne die eigene Fortentwicklung selbst Unrecht ist. Böse Verbrechermenschen rufen den Plan zur Sittlichkeit hervor, denn der böse Wille will den Schein des Rechts gegen das Recht an sich und sagt damit doch bloß die Wahrheit über das Recht an sich. Äußerlich tritt der Verbrecher wohlmöglich anerkennend dem Recht gegenüber auf, aber er trennt dessen „Wert“ (20, §498) ab, wodurch laut Hegel der Rechtsbestand des Betruges entsteht. Dieser offenbart den Schein der Gerechtigkeit des Rechtes in dem strikten Sinn, dass hier das Sein einer vernünftigen Allgemeinheit behauptet wird, die nicht ist. Wird aus diesem unendlichen Urteil, das den Schein offen legt, noch ein negativ unendliches, wird also nicht nur der Wert, sondern zudem noch jeder Schein von Anerkennung des Rechts aufgegeben, wird aus dem Betrug ein Verbrechen (vgl. 20, §499). Der Wille wird in die-

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sem „gewalttätig-böse“ (ebd.). Das Verbrechen provoziert das gleiche Recht des Opfers desselben, das die „Rache“ einlöst und mit Verbrechen Verbrechen negiert. So wechselt die Verletzung und Beleidigung von partikularer Person zu partikularer Person ins Unendliche fort, bis die Rache ohne Interesse wohlgefällig auftaucht, die die „Strafe“ ist (vgl. 20, §500). Der Richter und die Macht, das Recht auszuführen, rächen dem Recht angemessen und machen dieses an sich geltend (vgl. 20, §501). Strafend wird das reale Böse vernichtet (vgl. 8, 254f.). Das Recht realisiert sich. Das formelle Recht mag durch den Zwang über die Herren die physische Selbsterhaltung aller Menschen als organische Einheiten von Gehirn, Muskeln und Nerven garantieren und Hobbes’ Recht zufrieden stellen. Dies kostet allerdings, solange das Recht des Einzelnen nicht anerkannt wird, die Freiheit. Der vom formellen Recht Betroffene wird daher laut Hegel in die Moral flüchten, um sich selbst als Freiheitswesen erhalten zu können. Er flieht sozusagen von Hobbes zu Kant. Zunächst mag ihm diese Flucht gelingen, er wird die Freiheit finden und sogar das Gute als Endzweck seiner Absichten aufbauen. Aber Moral und ihre Erscheinungen in der Welt sind für Hegel auch keine Lösung für die Freiheit, denn sie können das Umschlagen ihrer besten Absichten in das Böse nicht aufhalten, geschweige denn ein standfestes Kriterium entwickeln, Gut und Böse voneinander zu scheiden. Was angetreten war, das Recht des Einzelnen gegen das abstrakte Recht aufzubauen, muss feststellen, dass es für seinen Schützling eine viel größere Gefahr aufgestellt hat. Das Böse droht mit der Kraft der Freiheit die Freiheit selbst zu vernichten und alle Bemühungen um absolute Emanzipation zunichte zu machen. Es verhindert die Freiheit, indem es sie in ihrem momentanen Zustand beim Wort nimmt, und ihr zeigt, dass sie als rein moralische nicht genügt. Offenbar wird an seiner destruktiven Kraft, wie wichtig es ist, die Objektivität bei der Emanzipation des Subjekts mitzuziehen. Ohne Veränderung der Wirklichkeit gibt es nach Hegel keinen Geist, sondern nur die Verweigerung des Sittlichen. Das Verbrechen bereitet in der Rechtsphilosophie die Moral auf, indem es die Rechtsgewalt bricht, die Resultat der Herr-Knecht-Beziehung ist. Es erscheint als dauerhafte Bedingung von Moral, dass das formelle Recht nicht ist. Dessen Abstraktheit zeigt Hegel, dass Freiheit nicht auf individueller Willkür aufgebaut werden kann. Das formelle Recht ist destruiert, und das negativ-unendliche Urteil des Verbrechens bürgt dafür, dass daraus nicht bloß Gewalt entsteht, indem es das formelle Recht anstößt, sich selbst zu verlassen. Moral wird nach dem Verlauf der Rechtsphilosophie aufgenommen. Der Konflikt zwischen der Gewalt des Verbrechers und der der Strafe wird verinnerlicht.12 Hegels Dialektik der

12 An dieser Aufnahme kommt auch der Verbrecher nicht vorbei, denn er hat einen Willen. Hegel zitiert in seiner von Henrich herausgegebenen Vorlesung zur Rechtsphilosophie die Unmöglichkeit eines Unvermögens eines Willens: „Allerdings will jeder Verbrecher immer noch etwas Positives, und keiner will das Böse als solches

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Voraussetzung wendet sich in die Voraussetzungslosigkeit durch Einsicht in die Sache selbst (vgl. 12, 213). In ihr erweist sich die Voraussetzung selbst als vorausgesetzt. Voraussetzung des formellen Rechts ist, dass es nicht ist. Das abstrakte Recht ist als solches als Moment der Totalität der Sittlichkeit des Staates, als dessen notwendige Nichtidentität mit sich, wie es Hegel ausdrückt. Die Sittlichkeit des Staates lebt durch die Vermittlung von Recht und später auch Moral, denn die Totalität hat bei Hegel einen antagonistischen Charakter, hat Nichtidentität mit sich selbst. Gewalt und Zwang stehen dafür ein, dass rechtliche Anerkennung und dessen Vorgänger allein nicht ausreichen, einen Hegelschen Staat zu machen. Die Totalität des Bewusstseins macht es notwendig, auch jenes mit einzubeziehen, mit dem kein Anerkennungsverhältnis bestehen kann, da es niemals dem möglichen Tod ausgesetzt ist. Als Geist ist es nach Hegel unsterblich und kann nicht gezwungen werden. Dies verletzte den Begriff, was ein freier Wille ist. Aus der Kraft der Anerkennung entsprießt noch keine Sittlichkeit. Es fehlt an dem moralischen Innenverhältnis und dessen Wahrheit, dem Bösen. Dieses führt in die Abgründe der Freiheit und deren Hang zum Negativismus hinein, denn Ich zu sein ist durch mehr bedroht als durch die physische Auslöschung des Selbst, gegen die sich die Gewalt des Rechts sperrt. Auf dieser simplen physischen Machtbasis fußt die Herrschaft mit ihrem Schwert. Deren Gewalt ist noch gar nichts, kann man sie doch fassen. Das Böse ist nicht zu fassen und auch nicht mit dem Schwert zu besiegen. Hier wird das Selbst „logisch“ in seinen Fundamenten ausgelöscht, denn sein freiheitliches Wesen wird angegriffen. Das Böse ist die Auslöschung des Willens, die nicht von „außen“ über den Körper auf diesen eindringt, sondern durch ihn selbst kommt. Er kann ihr daher nicht entkommen. Solange der Wille ist, ist auch das Böse. Die Sittlichkeit ist das Versprechen Hegels, das Böse negieren zu können, ohne gleich den ganzen freien Willen zu negieren. Die Verwicklung ins Böse zeigt der Moral, dass Sittlichkeit die „selbstische“ Besonderheit, welche in jedem Ich steckt, überwunden haben muss, um zu sein. Die Freiheit will nach Hegel, dass sie vor sich selbst geschützt wird, damit sie mit dem Menschen sein kann. Der Staat ist bei Hegel umfassendes Befreiungsprogramm, weil er das Böse zugelassen hat. Daher kann er lebendiges Gutes werden. Als solches finden sich die politischen Subjekte im Staat verwirklicht. Das Böse, das nicht zum Politischwerden reizt, wird bei Hegel nicht als natürlich Böses entwickelt, sondern als Insichsein, das das Sein mit Anderen ausschließt. Systematisch ist das Böse bei ihm verabsolutiertes Fürsichsein. Der Moralität mangelt es an einer Wirklichkeit, die ihr angemessen sein kann. Die Politik wird von Hegel als Antwort auf die Grenzen der Moralität präsentiert.

schlechthin. […] Ein Wille, der will, will immer etwas, und nach dieser positiven Seite wird immer ein Gutes gewollt.“ (RV, 108)

Das (un )lebendige Gu te der Sittlic hke it be i Hegel

Die Systematik des moralisch Bösen, das sich politisch auswirkt, folgt für Hegel dem „auschließenden Eins“. Dieses kommt zur Geltung „als abstracte Freyheit, als reines Ich und dann weiter als das Böse erscheinend“ (21, 160f.), gegen das lebendige Gute des Staates, gegen die Ordnung aus Vernunft. Jeweils will das Eins, das das Subjekt ist, lediglich sich selbst sehen und nicht das Allgemeine. Wenn die „Subjektivität“ bei ihrem Selbstsein „stehen bleibt“, „d.i. böse ist, so ist sie somit für sich, hält sich als einzelne und ist selbst diese Willkür. Das einzelne Subjekt als solches hat deswegen schlechthin die Schuld des Bösen.“ (GR, §139) Das Subjekt ist als solches nicht fertig mit sich selbst. Ohne Objektivität, die seine eigene wäre, ist seine physische und geistige Selbstbehauptung durch es selbst bedroht.1 Die Paragraphen über das Böse in Hegels Rechtsphilosophie sollen darlegen, was droht, wenn die Entwicklung des Subjekts weiter vorangeschritten ist als die Entwicklung der Wirklichkeit. Sie sind als Einspruch gegen diese gemeint. Dem Bewusstsein, dass die äußere Welt keine Sittlichkeit darstellt, steht in der Zerstörung des Selbst im Bösen gegenüber, dass das Subjekt sich schon zum konkret Allgemeinen ausgebildet hat. Das Weiterleben des Bösen artikuliert, dass eine 1 „Die Botschaft, zu der das ‚Erkenne dich selbst‘ führt, ist also: Subjektivität ist nichts, was einfach vorhanden wäre; Subjektivität ist ein Problem: sc. Aufgabe, in einem Prozess und Kampf ständiger Selbstbehauptung gegenüber einer Objektivität, die nicht die eigene ist, aber die eigene werden soll, jene ruhige Identität und Selbstgewissheit zu gewinnen, die erfordert wird, um alle Antagonismen, mit denen das Individuum zu kämpfen hat, in das Selbst aufzunehmen und zu bewältigen.“ (Tuschling, Burkhard: „Die Idee in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes“, in: Frank Hespe/Burkhard Tuschling, Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1991, S. 574f.)

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Übereinstimmung zwischen allgemeinem und besonderem Interesse auch für die Moral fehlt. Das Subjekt ist schon fertig mit sich, die Wirklichkeit benötigt noch Veränderung. Für Hegel stellt sich angesichts des Bösen die Frage, wie es weitergehen kann, nachdem das Insichsein des Subjekts erreicht ist. Was wird, nachdem der Wille identisch geworden ist mit dem Vernünftigen seiner selbst? Seine Antwort ist, dass seine Vernunft auf die Welt ausgedehnt werden muss.2 Das Böse ist in der Begriffslogik mit einem merkwürdigen quantitativen Begriff ausgezeichnet, der in diesen spekulativen Kontext nicht so recht passen will. Der Unterschied durch es ist „zu groß“ (12, 70), als dass irgendeine Trennung noch vorhanden bleiben könnte. Die Bewegung der Dialektik muss das Subjekt (des Urteils) verlassen und es im Prädikat weiter probieren. Das Böse demonstriert für Hegel, dass das Subjekt allein nicht weiter gelangt. Durch es wird das Rechte angestoßen und die Freiheit aufgefordert, ihren angestammten und durch die Moral zugewiesenen Ort im Innern des Subjekts zu verlassen. Die Freiheit drängt zur Objektivität der Institution, seit sie das Böse hat erfahren müssen. Die soziale Form der Freiheit ist Voraussetzung ihres Wirkens, das hat Hegel deutlich unterstrichen. Die Hegelsche Phänomenologie wartet zu dieser symbolischen Erfahrung des Begriffs mit Phänomenen auf. Die moralische Weltanschauung versucht auf politischen Terror mit der Befreiung des Selbst zu sich selbst zu reagieren und löst so das Böse aus. Gut gemeinte, aber mit unzureichender begrifflicher und vor allem phänomenaler Basis ausgestattete Emanzipationsbemühungen scheitern fatal. Sie können nicht aufs Sittliche gerichtet sein, wenn ihre Ideen das Subjekt nur immer tiefer in sich selbst führen sollen. Dort soll das intelligibele Wesen einen ruhigen Diskurs mit sich selbst führen können, nicht gestört von unreinen Gedanken der Sinnlichkeit. Weil aber das Intelligibele des weltlichen Subjekts sich sein Empirisches auch als Subjekt nicht austreiben lassen will, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Das erreichte Insichsein führt zur Verirrung in sich selbst, die sich in brutaler Skepsis gegenüber den Fähigkeiten der Vernunft und der Freiheit äußert. Der Weg des Moralisten führt zur Misanthropie. Der Hegelsche Gedanke lässt sich nach den Erfahrungen der Geschichte politischer Bewegung verallgemeinern. Bleibt die mal fortschrittlich gesinnte Bewegung stehen, wird aus ihr die höchste Grausamkeit. Der Mensch entdeckt die Skepsis gegenüber sich selbst und fängt an, tief in sich hinein zu grübeln, um dort seine böse Natur zu finden. Er folgt den „geheimsten Regungen seines Herzens“ voller Furcht, weil er vergessen hat, dass dort auch das Gute in ihm wohnt (vgl. PWG, 890). So verläuft der Gang des Wissens um das Böse. Er führt zum qualvollen nosce te ipsum. Weil aber darin die Assoziation Subjekt gleich Böses

2 Bernstein macht diesen Punkt stark: „We can read Hegel, […], as setting us the task (Aufgabe) of confronting the evil we encounter and seeking to overcome in ways that are not merely abstract, but concrete, in the ethical and political institutions we develop.“ (R. Bernstein: Evil, S. 74)

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vollständig wird und weil die Innerlichkeit mit ungeheurer Macht ausgestattet zu sein scheint, entsteht der Glaube an die unüberwindliche Macht des Bösen in der Welt. Faust folgt nach Hegel diesem Glauben und meint im Bund mit dem Teufel, sich die Welt und die Macht zu erkaufen (vgl. PWG, 891). Im Rechtlichen führt der Glaube an die weltliche Macht des Bösen zum Schlimmsten, er führt zur Strafbegierde von Gesinnungen. Nicht bloß Robespierres Schreckensherrschaft ist für Hegel ein Beispiel dafür (vgl. PWG, 892), sondern schon die Hexenverfolgung. Der Teufelsglauben und seine Idee einer unfassbaren bösen Macht über der Welt führen nach Hegel zur Negation des Schuldprinzips, das Sühne kennt, denn diesem ist immer auch ein Gutes mitgegeben. Das schlechthin Böse ohne jede Spur von Rechtem war in der Inquisition auszurotten, und dies war nur zu finden in dem Verdacht einer Gesinnung. Es wurde „abstrakt die Macht des Bösen“ (PWG, 891) verfolgt. Für die Strafe zählt dann nicht mehr die weltliche Dimension, was und wie etwas getan worden ist. Es zählt allein noch die „intelligibele Tat“, die die Gesinnungen zu vollendeten Charakteren ausprägt. Das Böse ist nach Hegel der Untergang in sich eines sich perfekt wissenden Subjekts, die andere Art der Höllenfahrt. Es demonstriert, dass das Subjekt allein nicht weiter gelangt. Durch es wird das Rechte angestoßen, und die Freiheit wird aufgefordert, ihren angestammten und durch die Moral zugewiesenen Ort im Innern des Subjekts zu verlassen. Andernfalls droht der nie gekannte Untergang, von dem terreur und Hexenverbrennungen erzählen. Was nach dem Bösen zählt, ist jedoch nicht die Feindschaft gegen dessen Grund, das sich selbst bestimmen wollende Subjekt. Vielmehr muss nach Hegel dasjenige, in dem sich dieses Subjekt bestimmen will, besser ausgearbeitet werden. Das Allgemeine muss konkret und vernünftig werden, damit das Subjekt seine Chance bekommt und nicht böse werden muss. Im Bösen kommt zur vollen Geltung, was der Etablierung der Sittlichkeit noch entgegensteht. „Der Ursprung des Bösen überhaupt liegt in dem Mysterium, d.i. in dem Spekulativen der Freiheit, ihrer Notwendigkeit, aus der Natürlichkeit des Willens herauszugehen, und gegen sie innerlich zu werden.“ (GR, §139) Dieses Innerlichwerden produziert für Hegel bloß den Schein der Emanzipation. Als Fluchtbewegung vor den Kreuzen der Wirklichkeit geht es noch von der nicht zu brechenden Macht des Natürlichen aus. Es nimmt sich vor, solche Kraft auch in sich aufzubauen und in sich seine Natur anzubeten. Seine Triebe und Begierden werden ihm Gesetz und verdrängen seinen Bezug auf die Freiheit. Hier wird aus Freiheit und damit nach der Natur die Natur zurückgewünscht. Bei Hegel kann ein Mensch nicht einfach ein gutes Tier gewesen sein. Verdammt zur Freiheit, ist die Form des natürlichen Menschen, dass er Wille ist. Ist, was der Wille will, der Natur entsprungen, so bildet dies den „höheren Standpunkt“, den es ausmacht, dass der Mensch von Natur aus böse sein (vgl. Rel5, 135). Auch Hegel spricht mithin mit seinem Rekurs auf das natürlich Böse des Menschen das Dilemma des Zwischenwesens Mensch an, von Natur aus nicht

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auf die Freiheit programmiert zu sein. Seine Natur wollend, verweigert sich der Mensch sich selbst und will ein besonderes Naturwesen sein. Böse zu sein heißt, die Besonderheit der eigenen Natur über die vernünftige Allgemeinheit zu stellen. So erklärt die Rechtsphilosophie Hegels das „Mysterium der Freiheit“, dass diese das Böse nicht nur zulässt, sondern selbst schafft (vgl. GR, §139). Steigert sich der Wille bis zum Gegensatz seiner Innerlichkeit gegen seine Natürlichkeit, wird es ihm nicht gelingen, sein Fürsichsein weiterzuentwickeln. Dieses verharrt nach Hegel verstümmelt, relativ und formell, weil seinen Inhalt allein natürliche Zwecke bestimmen. Begierde und Triebe zu wollen, ist jedoch bei Hegel noch nicht an sich böse. Dieses Wollen wird erst böse, wenn man seine Natürlichkeit und Unmittelbarkeit dem Guten entgegenstellt, wenn man die Zufälligkeit und die Besonderheit der Allgemeinheit eines Objektiven vorzieht. Macht der Subjektivität ist es immer „das Allgemeine selbst zu einem Besondern und damit zu einem Scheine zu machen.“ Aber nur die Subjektivität, die nicht um die Vernunft in der Welt weiß, kann das auch wollen. „Das Gute ist so als ein Zufälliges für das Subject gesetzt, welches sich hienach zu einem dem Gute Entgegengesetzten entschließen, böse seyn kann.“ (20, §509) Das Subjekt ist bei Hegel nicht bloß als endliches fähig zur Besonderheit, sondern auch als „abstracte Reflexion der Freiheit in sich“ (vgl. ebd.), die nicht weiter will. Im Wollen des Bösen begegnet das Allgemeine des Guten, das durch die praktische Reflexion ist, sich selbst als Besonderem, Zufälligem und erklärt sein eigenes Sein zum Nicht-Sein. Es wird Schein und wird dem Subjekt zufällig, d.h. es könnte auch nicht sein, ohne dass das Subjekt aufhörte. Im Bösen befreit sich dieses aus seiner Freiheit, die gebunden ist an das Moralische. Die im obigen Zitat angesprochene „Zufälligkeit des Guten“ meint, dass es bloß die mögliche Wirklichkeit ist, d.h. es muss in die wirkliche Wirklichkeit der Sittlichkeit gesetzt werden, damit Böses vertrieben wird. Das Böse erwischt das Sollen der Moral und deckt dessen Nichtsein auf, die ihm als Objektflucht zukommt. Im allgemeinen Gegensatz, im Beharren auf sich trägt die endliche Freiheit das Böse. Sie will sich dann selbst widersprechen (vgl. Rel3, 259FA). In der Religionsphilosophie Hegels entzweit sich der Mensch von dem Absoluten namens Gott in Richtung Egoität und ist deswegen böse,3 in der Rechtsphilosophie sperrt sich der Mensch gegen die absolute Sittlichkeit und ist deswegen böse. „Der Mensch ist daher zugleich sowohl an sich oder von Natur als durch seine Reflexion in sich böse“ (GR, §139). Die Natur allein kann nicht das Böse sein, denn es fehlt ihr an Freiheit. Auch das Insichsein kann nicht ohne weiteres böse genannt werden. Es muss sich dem verweigern, was ihm möglich wäre. Es muss nicht gut sein wollen, d.h. nicht frei in dem ihm bekannten Sinn. Hegel entwickelt so den Kantischen Begriff vom Bösen weiter und führt ihn als Unfreiheit aus Freiheit aus. Zu zeigen, dass solche Verweigerung der moralischen Reflexion überhaupt 3 Vgl. Hatta, T.: Das Problem des Bösen in Hegels Religionsphilosophie, in: HegelJahrbuch 1 (1999), Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 275-280, hier S. 278.

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möglich ist, dies macht das Böse aus. Es zeigt, dass nicht dort, wo Freiheit ist, auch Gutes ist. Das Böse der in sich gehenden Reflexion unterliegt nicht der Willkür, ansonsten wäre es zufällig und für den (begrifflichen) Übergang zur Sittlichkeit nicht zu verwenden. Zu leicht machte es sich der Mensch, schöbe er es auf die Anwesenheit archaischer Reste in ihm. Es ist vielmehr Triumph seines Willens, der sich gegen sich selbst entscheiden kann und diese Entscheidung auch aufrecht erhält gegen alles moralisch Gute, was ihm entgegentreten mag. Das Unterscheiden von Gut und Böse gehört zum Hegelschen Lebensweg des Willens (vgl. Rel5, 136). Das Insichgehen der Reflexion ist zweitnatürlicher Gang des Menschen, welcher ebenso unausweichlich ist wie das, was die erste Natur befiehlt. In sich zu gehen, führt für den Menschen zum Unrecht, wird es um seiner selbst betrieben. Nicht die Orientierung an sich selbst besiegt nach Hegel das Böse, sondern das Wollen der Welt. Hegels Dialektik-Modell hängt an der Notwendigkeit des Negativen. Wird ein Negatives gegen ein anderes Positives aufgestellt, vermittelt deren Gegensatz den Gegensatz des Positiven in sich. Das Negative, das das Böse ist, spielt mit der Idee des Guten und löst diese darin auf. Es zeigt dieser, dass sie zwar gut gemeint gewesen sein mag, aber, solange die Welt noch nicht bereit für sie gemacht worden ist, ihr Untergang notwendig ist. Das Gute hat sich im Versuch, sich mit dem vermeintlich höheren moralischen Geist gegen die Welt abzuschotten, lediglich in Gegensatz zu sich selbst gebracht. Den Fortgang zur Welt hat dementsprechend nicht das Böse zu erledigen, sondern das Gute, das von ihm angestoßen wird. Das Böse fordert dazu auf, die Wirklichkeit zu verändern, was bei Hegel synonym ist damit, diese zu verwirklichen. Moral als negative Einheit von Einzel- und Allgemeinwillen hat die Nichtigkeit des reinen allgemeinen Willens des moralisch Guten und des reinen Einzelwillen des moralisch Bösen entschieden. Ihr Resultat ist die Aufforderung, ihr Sollen material werden zu lassen und nicht nur dem Ich zu überlassen. Das moralisch Gute ist das moralisch Böse und das Böse ist das Gute, weil beiden die Objektivität mangelt. Sie sind nicht zu bestimmen, darin gehen sie unmittelbar ineinander über.4 So lautet die Lehre aus Hegels Kritik des absoluten Bösen, weshalb dieses sich auch verabschieden muss. Hegel beantwortet die Frage, wie im Insichsein des Willens, wenn dieser bloß von Vernünftigem durchdrungen ist, weiterhin die Differenz von Gut und Böse aufgefunden werden kann, mit einem klaren Gar-Nicht. Die Kriterien, nach denen Objekte der Moral geschieden werden können, liegen außerhalb von dieser im Bereich des lebendigen

4 Vgl. Tuschling, Burkhard: „Objektiver Geist: Kapital. Dialektik bei Hegel, Dialektik bei Marx“, in: Peter Koslowski (Hg.), Die Folgen des Hegelianismus, München: Fink 1998, S. 193-222, hier S. 208.

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Guten.5 Lebendig ist diesem Moral wie Recht zugetan: „Das Sittliche ist subjektive Gesinnung, aber des ansichseienden Rechts.“ (GR, §141) Das Ende des Moralitätskapitels der Rechtsphilosophie analysiert die Gründe, welche für die Moderne Sittlichkeit und Politik zerstört haben.6 Es beschäftigt sich mit dem Aufgeben des Politischen durch die Handlungen einzelner Subjekte, wenn sich die Subjektivität als das Absolute behauptet und sich das Böse darin verwirklicht, die Unendlichlichkeit der versöhnlichen Sittlichkeit zu erzwingen. Michael Theunissen hat beschrieben, was das moralisch Böse im Hegelschen System ist. Im Anschluss an seine Untersuchungen zur verdrängten Intersubjektivität in der Hegelschen Realphilosophie lässt sich das Böse beschreiben als Verirrung des Moralischen in sich selbst, bis dieses nicht mehr anschlussfähig ist.7 Das eigene Wohl, die eigene Absicht muss an die von anderen gebunden werden, damit die Freiheit konkret und versöhnt mit sich selbst werden kann. Das schließt ein, die umgebende Welt gemeinsam zum Besten zu formen. Andernfalls wäre das Böse Wahrheit der Moral, denn es erfüllt das Programm der Moralität in der Rechtsphilosophie.8 In ihm entspricht das subjektive Wollen tatsächlich seinem Begriff des Sich-selbst-Bestimmen. Das Böse vollstreckt an der Moral, was bei Hegel entscheidendes Argument für das Binden des Politischen an die Sitten eines lokalen Gemeinwesens ist. Ohne die Freiheit anzubinden an konkrete Umstände, kann es diese nicht geben. Die Moralität kann das Gute nicht leisten, es nicht verlebendigen. Die Phänomenologie des Bösen bei Hegel, die dieses als Kern des moralisch Guten offenbart, das sich als einzig gerechte Instanz und vom Bösen umzingelt sieht, wiederholt sich in der Rechtsphilosophie in der Form einer moralisch-begrifflichen Steigerung. Das Böse als Resultat von dieser offenbart, dass die Moral zu keiner Verbindlichkeit fähig ist.9 Politik wird

5 Vgl. Görland, Ingtraud: „Die Kantkritik des jungen Hegel“, Frankfurt/Main: Klostermann 1966, S. 221. 6 Vgl. Severino, Giulio: „Subjekt und Freiheit in Hegels Denken: Die Einsamkeit des Gewissens und der Schwindel des Bösen“, in: Frank Hespe/Burkhard Tuschling (Hg.), Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1991, S. 396. 7 „Indem das abstrakte Recht sich am Ende ins Unrecht verkehrt und Moralität ins Böse umschlägt, verirren sich beide gleichsam in sich selbst. Beide untergeordneten Sphären sind nicht aus sich selbst heraus anschlussfähig.“ (Theunissen, Michael: „Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts“, in: Dieter Henrich/Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts, Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 317-381, hier S. 339) 8 Nach Gerhard Schweppenhäuser ist „die Alternative zur Aufhebung in Sittlichkeit“ für Hegel „die Hypostasierung der Moralphilosophie, das Bei-sich-selbst-Bleiben der moralischen Subjektivität, die damit zwar selbstherrlich, aber zugleich unwirklich, folgenlos, unvernünftig wird. Ist sie das, dann werde sie zum Gegenteil ihrer selbst, letztlich zum Bösen“ (G. Schweppenhäuser: Universalismus, IV.4). 9 Gerhard Schweppenhäuser scheint einem ähnlichen Gedanken zu folgen. Für ihn ist wesentlicher Punkt der Kritik Hegels an Kants Moralvorstellungen: „Nach Kant ist Widerspruchsfreiheit notwendige Bedingung von Moralität. Nach Hegel ist bloß

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nötig, damit die Menschen zusammenleben können. Sie ist die „höchste konkrete Allgemeinheit“ (GR, §303). Für die Konstruktion der Notwendigkeit der Politik reicht es bei Hegel allerdings nicht hin, die Natur des Menschen mit einem Hang zum Bösen zu belasten, denn die Natur leistet für Hegel auf keinen Fall Verbindlichkeit. Sittlichkeit, die nicht einfach nur Überkommenes und Vorgefundenes reproduziert, sondern sich selbst schaffen will, ist unmöglich auf dem Fundament eines natürlich Bösen zu errichten. Sie ist eben nicht allein Entscheidung gegen die eigene Natur, sondern auch gegen die mögliche Tendenz der eigenen Freiheit. Ein einzelner Bösewicht reicht nicht hin, um die Notwendigkeit darzulegen, die Subjektivität in der Bindung an die Substanz des Geistes einzulösen. Das Prinzip der Subjektivität selbst muss zur Gefahr erklärt werden, was bei Hegel meint, dass es sich selbst zur Gefahr erklären muss. Mit seiner Verirrung ins Moralische hat es dies getan und offen gelegt, dass das Prinzip Subjektivität seine Ursprünge nicht im Griff hat. Es reicht nicht hin, beste Absichten gehabt zu haben. Diese müssen sich außerdem in der Wirklichkeit wiederfinden und müssen verwirklicht werden. Hegel reinigt das Kantische Böse von dem Moment, das dieses in die Sackgasse der dualistischen Tendenzen des transzendentalen Idealismus laufen lässt. Er kennt ein Unmittelbares und Ewiges, das nicht die Natur ist. Das ist die Abgeschlossenheit des Geistes in sich und der Ausschluss der Welt. Es ist seine Idee der „Reflexion in sich“, die Hegel vereinigen lässt, was einem Begriff der Freiheit unmöglich ist, welcher gegen die Natur aufgestellt ist. Bei Hegel wird, was sonst als Auszeichnung des Subjekts gemeint ist, die Reflexion, gegen dieses formale Widerspruchsfreiheit selbst widersprüchlich, wenn sie mehr sein will als nur Tautologie – und sie ist aufgrund dieser Selbstwidersprüchlichkeit unmoralisch, gemessen am eigenen Maßstab.“ (G. Schweppenhäuser: Universalismus, IV.10) Schweppenhäuser scheint mir jedoch zu verfehlen, wie Hegel diese Unmoralität „aufzuheben“ gedenkt. Er hält an einer moralischen Fortführung des Arguments fest: „Darüber hinaus steckt in Hegels Argument aber auch ein impliziter Ansatz zu einer Kritik des moralphilosophischen Universalismus, die nicht nur immanent verfährt. Moralität, die bei sich selbst bleibt und auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Verwirklichung ihres normativen Geltungsanspruchs nicht reflektiert, ist dazu verurteilt, ins eigene Gegenteil umzuschlagen.“ (Ebd.) Ich argumentiere hingegen, dass mit der Reflexion auf die Verwirklichung der Standpunkt der Moral verlassen und Politik begründet wird. Schweppenhäuser scheint später eine ähnliche Auffassung zu vertreten, geht jedoch nicht näher darauf ein: „Hegels Universalismus ist praktisch, historisch, politisch, aber nicht moralphilosophisch.“ (Ebd., IV.16) Die Betonung liegt dabei auf moralphilosophisch, denn auch Schweppenhäuser geht nicht davon aus, dass Hegel die Moral einfach abschaffen und in Sittlichkeit übersetzen wollte. Und weiter bei Schweppenhäuser: „Hegel wollte […] Freiheit und Autonomie des Subjekts mit dem metasubjektiv gedachten Ganzen der Sittlichkeit verbinden. Dieser Versuch kann als Transformation des moralphilosophischen Universalismus in einen rechtsphilosophischen Universalismus bezeichnet werden.“ (Ebd., IV.20) Dem ist zuzustimmen, wobei „rechtsphilosophischer Universalismus“ meiner Ansicht nach zu kurz geht, da Hegel mit seiner Rechtsphilosophie den objektiven Geist im Allgemeinen fassen wollte.

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gewendet. Das Böse ist für Hegel ein notwendiger Gang der Reflexion der Freiheit. Deren „spekulativer“ Weg führt ihn da durch. Das moralisch Böse ist von Hegel nicht bloß als Metapher, sondern ernst gemeint ein solches, das der Natur der menschlichen Freiheit folgt. Diese hat die Tendenz nur in ihrem Ursprung, im Subjekt, ihre Wahrheit zu suchen und nicht ihre Anstrengungen auf die Welt zu übertragen. Die Hegelsche „Reflexion in sich“ ist nicht auf Erfahrung aufgebaut. Das Böse der Reflexion ist nicht kontingent, sondern immerdar. Keine „schreienden Beispiele“ wie bei Kant veranlassen die Reflexion, über die Bedingungen der Möglichkeit des Bösen nachzudenken. Um etwas über das Böse zu lernen, muss man nach Hegel vielmehr tiefer im Inneren des Menschen nachforschen. Gefunden wird dort die Freiheit der Moral als Ursprung des malum. Weil diese für sich frei sein will von der Unfreiheit, schafft sie nur noch größere Unfreiheit. Sie tut damit nichts Unrechtes, denn sie ist im Recht, sich gegen die Natur eine eigene aufzubauen. Solange sie sich aber nur im Recht sieht und nicht auch erkennt, dass dieses, weil es aus Unrecht entsprungen ist, selbst nicht alles gewesen sein kann, wird sie das größte Verbrechen schaffen. Wahrhaft böse ist der, der sich und seine Handlungen aus deren Allgemeinheit herauslöst, so lautet die Hegelsche Lehre des Bösen. Dazu bedarf es nicht der Veranlassung durch den Teufel in jedem, sondern lediglich des Bemühens, das Beste zu tun und dem Allgemeinen zu folgen, ohne auf dessen Anbindung an die Wirklichkeit zu schauen. Dieses Beste wird ohne Bezug und Hinterfragen von dessen allgemeinen Grundlagen im Selbst und in der Welt wahrgenommen und so ist es also gerade das bewusste Bemühen, das Besondere zu tun, welches das Böse schafft. Es ist nach Hegel nicht an sich falsch, Besonderes zu wollen. Falsch ist es, dieses von seinem notwendigen Bezug auf das Allgemeine abzuschneiden. Hegel beschreibt mit seiner Theorie des moralisch Bösen die Unfähigkeit der Moral, mit ihren eigenen „unpolitischen“ Voraussetzungen zu brechen. Das Böse befreit bei ihm von der rein moralischen Freiheit. Deswegen ist sie gerade heute wieder von großem Interesse, denn in den meisten Debatten von heute wird die Moral als Meisterin über das menschliche Schicksal verhandelt, wenn nicht sogar die Religion wieder als autoritäre Macht über den Meinungen reetabliert wird. Es ist hoffentlich in dieser Arbeit klar geworden, an wie enge Grenzen der Versuch stößt, die Moral zur oberen Instanz gegenüber der Politik zu erhöhen. Mit Hegel sind es die Fehler der Moral selbst, welche es dringend erforderlich machen, politisch zu werden. Die Politik ist die Antwort auf die Grenzen der Moral bei Hegel und nicht umgekehrt, und meiner Ansicht nach ist diese Argumentation überzeugend. Von Hegel ist zu lernen, dass eine Krise in der Politik nicht mit einer Anrufung der Moral zu beheben ist, denn die Politik ist bereits die Antwort auf die Krise der Moral. Das universelle Emanzipationsprojekt eines Hegels hat eines ihrer Fundamente in der Negation der partikularen Emanzipation durch die Moral. Politische Freiheit, die das Unmögliche möglich werden lässt, kämpft nicht

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gegen das radikal Böse und gehorcht nicht Gesetzen, sondern schafft sich eigene unter dem allgemeinen Gesetz der Freiheit. Allgemein anerkannt unter den Theoretikern ist, dass sich das Böse oft als das Gute präsentiert. Aber nur wenn es ihm gelingt, das Gute nicht nur zu repräsentieren, sondern vollständig zu ersetzen, ist es radikal Böses. Das Böse ist mithin das Ersetzen des Guten, nicht durch den Aufbau eines mehr oder weniger schönen Scheins, sondern durch den Abbau von dem Sein des Guten. Die schöne Seele eines Hegels kann allein für sich nicht böse sein, weil sie zu sehr mit sich beschäftigt ist. Erst das „allgemeine Bewusstsein“, das immer und überall seine Tugend verbreiten will, kann nach Hegel zum radikal Bösen werden, denn es hat aus sich jeden Zweifel über seine Erhabenheit verbannt. Böse kann auch Gutes werden, das wirklich bloß die besten Absichten gehabt hat, dem es allerdings an Einsicht in die Welt gefehlt hat. Irrealistische Emanzipationsbemühungen scheitern fatal, weil sie nie die Macht besessen haben, die Momente ihres Befreiungsprozesses unter sich zu sammeln. Sie schlagen deswegen in unmittelbare Gewalt gegen diese Momente um, wie es der terreur vorgemacht hat, wenn er seinen Bürgern die Guillotine verordnet hat, weil keiner von diesen seiner Tugendvorstellung genügen konnte. Realismus ist kein Konservativismus, solange mit ihm nicht die Freiheit der Menschen an vermeintlich unüberwindliche Hindernisse gebunden wird. Wirklichkeitssinn im Anschluss an Hegels Kritik des Moralismus heißt, dass die Freiheit der Menschen diese weder zu Tieren noch zu Göttern macht. Mit der Heiligkeit des menschlichen Willens ist nicht zu rechnen, ohne dass dies die menschliche Freiheit diskreditierte. Hegel hat sehr zu Unrecht keinen guten Stand in der gegenwärtigen philosophischen und außerphilosophischen Debatte. Meist gilt er als jemand, der einen dogmatischen Standpunkt des Geistes einnimmt. Man kann jedoch gerade an seiner Theorie der Moral sehen, dass dem nicht so ist. Die Moral wird von Hegel nicht in einen höheren Weltgeiststandpunkt aufgelöst, sondern wird bis zu ihrem Ende ernst genommen. An diesem Punkt kann sie sich aber laut Hegel selbst nicht mehr ernst nehmen und muss ihr eigenes Scheitern erkennen. Nicht nur kann sie das Gute nicht verwirklichen, sie muss es gar zerstören. Ihre Weisheit versagt vor dem Bösen. Für Hegel kann die Moral nicht das letzte Wort über die menschliche Freiheit gewesen sein, sondern ist Teil einer Strategie, die frei macht. Am Ende dieser Strategie muss die Wirksamkeit der Maßnahmen der Freiheit in der Politik und der Geschichte liegen. Die politische Sittlichkeit, welche die Differenz von Gut und Böse aufhebt, ist zu erkämpfen und zu erarbeiten. Unmittelbar erlebbar ist sie für Hegel zunächst im Patriarchat der Familie, bevor dieses durch die bürgerliche Gesellschaft gebrochen wird. Hier wird gegen das unmittelbar allgemeine Wollen der Familie das besondere Wollen zum Maß der bürgerlichen Dinge. Das Einzelne und Eigene zählt rein für sich. Hegel sieht, dass die bürgerliche Gesellschaft unter diesen Voraussetzungen nach alten, vormodernen Maßstäben die Unsittlichkeit verwirklicht. Er wirft ihr einen Bruch mit der Sittlichkeit vor, der zwar not-

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wendig ist, um deren mangelhafte unmittelbare Form zu verlassen, aber doch äußerste Gefahren in sich birgt. Vor allem muss laut Hegel für die allgemeine Freiheit die bürgerliche Borniertheit überwunden werden, die in allen Mitbürgern bloß Konkurrenten sieht. Die Sittlichkeit Hegels entsteht auf den Scherben der bürgerlichen Gesellschaft als „System der Bedürfnisse“ (GR, §189). Über deren allseitiger Konkurrenz baut sie eine neue Form des menschlichen Miteinanders auf. Sie ist die Vereinigung der freien Personen und Garantie von deren Wirklichkeit. Der Hegelsche Staat leitet sich nicht von den Bedürfnissen des Systems der Bedürfnisse her, ist nicht aus der Not geboren, die Konkurrenz zu stabilisieren, sondern logisch in sich abschließende Totalität (vgl. GR, §273). Im Staat ist man „identisch zusammen“ und „ungestört insich“ (20, §198). Das Böse kann nicht mehr aus der insichgehenden Freiheit werden, denn diese ist nur frei und nicht mehr gegen das Allgemeine widerwillig. In der staatlichen Regierung und der allgemeinen Rechtsordnung haben die Individuen für Hegel ihr fundiertes Bestehen und erhalten die Sicherheit ihrer Befriedigung (vgl. 20, §198). Nachdem all dies durchgemacht worden ist und ständig durchgemacht wird, steht der Staat fest als Schluss der Notwendigkeit und die Not eines Staates ist gewendet. In der Totalität des Politischen kämpft nicht mehr jeder für sich allein, sondern in einem gegliederten politischen Ganzen wird zusammen am allgemeinen Wohl und Guten gearbeitet. Allein im Staat ist die Freiheit für Hegel sicher und wirklich, wenn sie in einem dichten, total vermaschten Institutionennetz vor den Gefahren geschützt ist, die ihr durch herrschaftliche Gewalt von außen oder durch sich selbst von innen drohen. Abgewendet ist von Hegel eine Idee der Politik, nach der ein partikularer Wille herrschen muss, der sich zum allgemeinen Willen erklärt. Dieser Gedankenstaat ist nicht nötig, um Ordnung zu schaffen, sondern man kann sich auf die Durchsetzungsfähigkeit des allgemeinen Wollens verlassen. Hegel schützt jedoch die Untertanensubjekte lediglich unzureichend vor der Allmacht des allgemeinen Wollens, wenn er sie in Kooperationen zusammenfasst. Die Hegelsche Kooperation mit anderen Subjekten bildet für diese die Chance, sich der Allmacht des Staates zu entziehen um den Preis der Sesshaftigkeit des Geistes. In der Hegelschen Korporation wird die Allheit gebrochen, welche eines geistigen Wesens würdig wäre. Keine Kantische Weltgesellschaft soll aus der bürgerlichen Gesellschaft entstehen, sondern das Subjekt soll zurück zur „Familie“, zu Staat und Nation. Die Kooperation ist nach Hegel die „zweite Familie“ (GR, §252). Rückfallend in Formen der „unmittelbaren Sittlichkeit“, spricht hier wirklich mal der reaktionäre Hegel. In der Lehre der Korporationen liefert Hegel nicht etwa eine moderne Institutionentheorie, sondern schließt das Subjekt von Staats wegen aus. Dass die Moralität das einzige Mal im Verlauf des Begreifens des Staates an diesem Ort nochmals eine Chance bekommt, sagt alles. Sie taucht wieder auf als die „Pflicht eines Standes“ der Hegelschen Geschichtsphilosophie (vgl. PWG, 72), befreit von

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ihrer Befreiung durch die praktische Vernunft nach Kant und ist ganz im Sinne der Tugendlehren der Alten (vgl. GR, §§303ff). Hier realisiert sich endgültig die „einfache Angemessenheit […] an die Pflichten der Verhältnisse“ (GR, §150), die Hegel am Anfang des Kapitels über die Sittlichkeit von den sittlichen Individuen gefordert hat. In Hegels Staat ist der Rechtschaffene wieder einfach angemessen und tugendhaft, nicht reflektiert moralisch, beschränkt die eigenen Bedürfnisse und wagt nicht die Entscheidung zur Freiheit. Allein Freunde der politischen Planwirtschaft können in den Hegelschen Kooperationen, in dem die politische Subjektivität doch eigentlich zu ihrem Recht kommen sollte, Vorbilder für die Gestaltung der Gegenwart entdecken. Denn hier „im Versöhnenden“ wird der allgemeine Zweck von den Subjekten entfernt, welche die Bildung, also das Vermögen, sich zu einem solchen hinaufzuarbeiten, schon im abstrakten Recht hinter sich lassen mussten.10 Der allgemeine Zweck, dem tugendhaft gefolgt wird, heißt Sittlichkeit als lebendiges Gutes im Gegensatz zum abstrakt Guten der Moral. Das Leben der Sittlichkeit lebt, weil diese verwirklicht ist im Verhältnis der Menschen untereinander. Aber wie lebendig kann diese Formation schon sein, wenn die einzige Form der Moral, die in der Sphäre des Staates noch auftaucht, die Gestalt einer Tugendlehre im Sinne der Alten hat.11 Entfernt worden ist aus dieser Tugendlehre die Dynamik von Gut und Böse, weil das Böse bereits überwunden worden ist. Hegel stimmt Hobbes zu, dass im Staat niemand mehr an dem eigenen Gut und Böse arbeiten darf, was die Staatsräson erfordert. Man kooperiert am besten ohne Moral und als Tugendtaranteln. Der Staat scheint, nachdem er Schuss der Notwendigkeit geworden ist, der individuellen Existenz überdrüssig geworden zu sein. Hegels Philosophie des objektiven Geistes ist insofern „Metaphysik der Sitten“, als sie Recht, Moralität und Gesetz durch eine Vernunft begründet, gegenüber der die menschliche lediglich als Besonderung auftritt. Dies äußert sich in der Unfähigkeit der Menschen, mit ihren Kooperationen fertig zu werden. Die Sittlichkeit, die sich am liebsten auf die Tugend verlässt, läutet das andere Ende der Moral ein, das zugleich das eines des reflektierenden Selbstbewusstsein sein muss. Sie bietet, emanzipiert vom subjektiven Wollen, den Menschen wieder den mechanischen Halt, den Hegels gesamte Anstrengung einer Vereinigungsphilosophie vermeiden wollte. Seine Kritik des „abstrakten Staates“ lässt sich gegen ihn selbst wenden, denn ein allgemeiner Zweck ohne besondere Zwecke macht den Staat genauso gut zur Privatmacht, der es an der Vermittlung durch die Extreme hindurch fehlt. Es ist immer Hegels Argument gewesen, dass das Allgemeine, das gegen das Besondere 10 Vgl. M. Theunissen: Intersubjektivität, S. 380f. 11 Auch Theunissen beklagt den Rückfall Hegels: „Aus dem Ansatz der Sittlichkeit, der Hegelschen Alternative zum Ausgang von der individuellen Freiheit des Einzelnen, wird die zunächst angezielte Intersubjektivität rasch entfernt, so dass der Substanzialismus der Sittlichkeitslehre tatsächlich zur Restauration antiken Ordnungsdenkens gerät.“ (M. Theunissen: Intersubjektivität, S. 336)

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auftritt, selbst nicht besser als dieses ist. Das Hegelsche Schreckengespenst des „Gedankenstaates“ in der Verfassungsschrift ist Folge der Partikularinteressen und muss als negative Macht gegenüber seinen Untertanen agieren. Wenn Schreckensherrschaft bei Hegel heißt, dass sich der allgemeine Wille nicht mehr durchsetzen kann gegen den partikularen, muss hier der Schrecken umso brutaler sein, denn er ist universell. In einem solchen Zusammenhang ist der partikulare Wille, der das Ganze bedroht, selbst der allgemeine Wille, welcher sich zu jenem zurückgebildet hat – und dies mit dem höheren Argument der Notwendigkeit der Totalität. Die „Kooperationen“ sind dementsprechend kaum Schutz des Subjekts vor der Allmacht des Staates, sondern schalten dieses endgültig aus. Ihnen wird die inhaltliche Kompetenz ihrer praktischen Vernunft genommen, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Sie werden wieder bereitgemacht, an ein Gutes zu glauben, dass nicht unbedingt das Ihrige sein muss. Es tritt als Vernunft einer Allgemeinheit an sie heran, die sich bereits von ihnen abgesondert hat und in sich abgeschlossen geworden ist. Der Hegelsche Staat in der Rechtsphilosophie existiert in diesem Sinn als Totalität im Bestehen gegen das Gute (und Böse) seines Volkes. Den Subjekten ein ordentliches Selbstverhältnis zu ermöglichen, ist dieser Allgemeinheit nicht selbstverständlich, eher Überschuss und Abfall aus den Zwecken, die ihr bestimmt sind. Die Untertanenmenschen werden ihres An-SichSeins beraubt und zu bloßen Momenten der Erscheinung des Staates. Dieser leidet selbst unter den von ihm gesetzten Zuständen. Als Einheit von nicht selbständig Existierenden ist er Abstraktion. Zum Ganzen derselben verhalten sich die Individuen als Akzidenzien, deren Sein gegenüber der Macht der Sittlichkeit gleichgültig ist (vgl. GR, §145Z). Wenn sich die Abstraktion vom subjektiven Wollen vollendet hat, ist der Staat „präsenter Gott“. Der politische Wandel zu ihm ist kein Neues mehr, sondern das recht begriffene Gesetz der alten Ordnung. Was im Übergang zur Sittlichkeit den Staat machen sollte, waren die von allem Bestimmten gereinigten, leeren Prinzipien des Guten und Bösen (vgl. GR, §§139f.).12 In solcher Form mussten diese zugrunde gehen. Die Überprüfung des Guten an dessen Gegenteil, dem Bösen, die das rekursive Negationsverfahren namens Dialektik vorantreiben könnte, ließe sich bloß daraus gewinnen, deren Inhalte entgegenzusetzen. In der Form, wie die Dialektik der moralischen Extreme in der Hegelschen Rechtsphilosophie vorliegt, muss der Übergang dazu dienen, den Begriff zu bestätigen und diesem zu demonstrieren, dass sein Gegenteil keinen Bestand hat. Statt auf die Souveränität des Volkes verlässt sich Hegel lieber auf die des Begriffes. Wenn Vermittlung ein Ereignis der Extreme ist, diese aber zu leer sind, um irgendetwas zu sein, muss die Vermittlung scheitern. Die Sittlichkeit ist so kein Resultat mehr von Aufklärung, sondern Mythos, denn,

12 „Gut und Böse gehen hier unmittelbar ineinander über. Jener gute, ehrliche Wille, der bei dieser Abstraktion stehen bleibt, ist ganz formell, subjektiv und somit ebenso unmittelbar böse.“ (RV, 109)

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woraus sie entsteht, ist inkonsistent gebildet. Dass das moralisch Böse das Gute und das Gewissen der Leerheit überführt, führt dazu, dass eben diese Leerheit und Unmittelbarkeit zur Basis dessen gemacht wird, wie sich Menschen sittlich vereinigen. Es ist die Unmittelbarkeit der beiden Kontrahenten, die Hegel zuversichtlich macht, dass Gut und Böse noch nicht die letzten Worte über die Freiheit des Menschen sind. Sobald die Menschen im Guten wie im Bösen unmittelbar existieren, existieren sie nicht besser als die Natur, die zugrunde gehen muss. Hier existieren die Subjekte als ihr reiner Begriff. Hegel kennt einen zweiten Naturzustand, der das wahre Rechte vorbereitet, weil er nach bereits begonnener Verwirklichung der Freiheit ist. In ihm herrschen die Gesetze der Moral rein und bewirken absolute Unfreiheit. Hegel sieht den Verfall einer Gesellschaft überall dort angelegt, wo sich eine natürliche Gemeinschaft der Unmittelbarkeit institutionalisiert. Die Unmittelbarkeit der Natürlichkeit bietet den Vorteil, dass in ihr einzelner Wille und allgemeiner Wille keine Differenz kennen können. Die Natur der Moral hat das Gute unmittelbar haben wollen. „Vermitteln“ sich die Dinge und Menschen, ist diese Einheit dahin, einzelner und allgemeiner Wille fallen auseinander. Warum gerade am Übergang von der moralischen Natürlichkeit zur Sittlichkeit nicht Zerfall, sondern höhere Einheit Resultat sein soll, bleibt Hegels Geheimnis, solange er nicht die Phänomenalität des Bösen ausnutzt. Gegen das Potential, das in der menschlichen Freiheit steckt, werden die Subjekte von ihm auf ihre Unmittelbarkeit zurückgestuft, damit die Sittlichkeit beginnen kann. So muss diese scheitern. Die Hegelsche „logische“ Operation wäre auf ihren Erfahrungskern zu bringen. Wird die Bewegung durch Extreme durchgeführt, die diesen Namen auch verdienen, offenbart sie ihre Diskontinuität. Es enthüllt sich, dass eine vernünftige Allgemeinheit keine Selbstverständlichkeit ist, sondern gegen Krisen durchgesetzt werden muss. Hegel hat doch selbst das Beispiel des terreur vor Augen gehabt. Nicht allein das Böse zersetzt die Chance auf das Politische. Hegel selbst arbeitet daran mit in seiner Begierde des Rettens, die gegen die Tendenzen der Freiheit die Notwendigkeit der Entwicklung zur Freiheit sichern will. Der Einebnung des Bösen in der Perspektive aufs Ganze in der Rechtsphilosophie stehen die frühen Entwürfe Hegels in gewisser Hinsicht kritisch gegenüber. Dort erweist sich das Böse noch mehr als das „real Negative“.13 Das Jenaer

13 Diesen Begriff habe ich von Rolf-Peter Horstmann übernommen. „Gegenüber der organischen Lebendigkeit der reinen Sittlichkeit hat nämlich alles das die Bestimmung des Negativen, das seiner Struktur nach durch ein Prinzip ausgezeichnet ist, welches sich als unauflösliches, starres und damit schlechthin unlebendiges erweist. Ein solches Prinzip, das den Bereich, für den es konstitutiv ist, als einen, der ‚in der Negativität‘ ist, festhält, macht aber erst dann diesen Bereich zu einem der realen Negativität, wenn es sich als ein solches erweist, das seinen Mangel, eben nicht Ausdruck der lebendigen Einheit der Sittlichkeit zu sein, gleichsam als ein Positivum erscheinen lässt, sich also, wie Hegel es nennen könnte, als Negatives fixiert oder als Gegensatz besteht.“ (Horstmann, Rolf Peter: „Hegels Theorie der bürgerli-

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Böse hat die Würde der eigenen Existenz. Es verlangt der absoluten Macht des Staates die äußerste Anstrengung ab, um es in der peinlichen Rechtspflege einschränken zu können. Das Böse in der Realphilosophie ist deswegen realer als in späteren Ausführungen, weil es eine eigene (negative) Einheit (die absolute Einzelheit) gegenüber der lebendigen Sittlichkeit (der absoluten Allgemeinheit) darstellt. Diesen würdigsten aller ihrer Gegner muss die lebendige Sittlichkeit erst mit der Macht des Schwertes überwinden, was ihren Respekt zeigt. Später in der Rechtsphilosophie ist das Böse lediglich eine mögliche Tendenz des Gewissens. Es ist ein Moment eines Ganzen, das an sich schon zur Bestimmung der Sittlichkeit gehört. Damit hat Hegel zwar einen „positiven“ Weg zur Etablierung der Sittlichkeit gewonnen, denn das gute Gewissen triumphiert immer über das böse, da letzteres als contradictio in adjecto keinen begrifflichen Bestand haben kann. Verloren hingegen hat er die Einsicht in die eigene stärkere Realität des Bösen, die noch in seinen Jenaer Entwürfen Grund für die machtvolle Konstituierung des Sittlichen gewesen sind. In der Phänomenologie ist das Ziel der Dialektik von Gut und Böse die religiöse Erleuchtung gewesen. Hier kommen die beiden Kontrahenten sogar ohne Schwert aus, um ihre Auseinandersetzung zu schlichten, und sind trotzdem gleichberechtigte Partner im Übergang. Der §141 der Rechtsphilosophie hält dagegen, was er verspricht, den Übergang in die Sittlichkeit, lediglich zu einem inakzeptablen Preis. Fortgeschritten wird auf Kosten des Guten, das er sich zu verwirklichen anschickt. Es muss gewollt sein von Hegel, dass dieses absolut nichts wollen kann, geschweige denn gewollt werden kann. Ansonsten stünde es schlecht um dessen unmittelbare Vermittlung mit der leeren Subjektivität. Das absolut Gute koinzidiert mit dem Verbrecherischen in dem notwendigen NichtWollen-Können eines Gegenstands, was schon den Herren zum Verhängnis geworden ist und weswegen die Kraft der Geschichte bei den Sklaven liegt. Im Übergang zur Sittlichkeit wird mithin von Hegel das Gute zum Verbrechen erklärt und so in einem vernünftigen Kosmos entwirklicht. Das abstrakte Gute verlebendigt sich in der Rechtsphilosophie daran, dass die Subjekte aufhören, mit individuellen Neigungen und Hinwendungen zu sich zu existieren und ganz besessen sind vom Geist. Um überhaupt fortzuexistieren, müssen sie sich anpassen und ganz und gar in der Form des Begriffs weiter machen.14 Sie werden tugendhaft gemacht. Frei sind sie wie der Begriff, weil sie vollständige Erkenntnis des Allgemeinen und Notwendigen sind. In den Kooperationen ist noch einmal die Wahrheit des Jenseits von Gut und Böse der Hegelschen Sittlichkeit ausgesprochen. Das Subjekt, das nur noch in der tugendhaften Ehre besteht, ist am Ende, und die Ordnung ist selbst subjektlos. Die Vereinigung wird zum Monismus, wo die Einzelheit nicht geachtet ist. Die Hegelsche Logik,

chen Gesellschaft“, in: Ludwig Siep (Hg.), Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin: Akademie-Verlag 1997, hier S. 197f.) 14 Vgl. K.-H. Haag: Idealismus, S. 38f.

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aus der die Souveränität des Begriffs stammt, wird mehr als seine Metaphysik, sie wird dessen Politik. Dies ist im Hegelschen System nicht immer so. Dessen dialektische Logik in den Realphilosophien schlägt um in Kritik, sobald Bedingungen aufgezeigt werden, die der dauernd wiederholten Selbstbestätigung des Begriffs inkompatibel sind. Das Böse, bevor es als Leichtigkeit der Leere existierte, ist eine solche Bedingung gewesen, welche die affirmative Bedeutung des Begriffs der Sittlichkeit zersetzt hat. Es demonstriert, wie wenig selbstverständlich die Vereinigung von Einzel- und Allgemeinwillen ist und dass diese die Fortexistenz des Einzelwillen braucht, um selbst zu sein. Wie lebendig das Gute gewesen ist, hat sich an seinem Umgang mit dem Bösen demonstriert. In der Phänomenologie ist es gar das Böse gewesen, das sich der Verzeihung des verstockten Guten angeboten hat. Das Gute muss lernen mit seinem Bösen zu leben und sehen, dass es nicht an Wert verliert, ist es an „das Schlechte geknüpft“ (9, 284). Das Böse bleibt weiter bestehen und löst sich nicht auf, das Gute muss mit ihm leben lernen. Das ist seine Lebendigkeit, die aus dem Bösen dessen schlechten Eigenschaften bannt, ohne das Prinzip des Fürsichseins dafür zu verdammen und das Subjekt in zweite Familien einzuschließen. Das moralisch Böse hat an die Politik die Herausforderung der radikalen Selbstheit der Subjekte gestellt, die bis zur Wahl der Unfreiheit aus Freiheit gesteigert werden kann. Anstatt diese anzunehmen, erledigt Hegel sie lieber begrifflich, wenn es um den objektiven Geist geht. Auch Hegels Rechtsphilosophie „entwirklicht“ das Böse. Dies gelingt ihr nicht dadurch, dass dieses so weit an das Gute gebunden wird, dass es bloß dessen Schatten sein kann. Hegel erreicht es, indem er es zum absoluten eigenständigen Gegenteil des Guten entwickelt, eines Guten jedoch, das selbst nicht sein kann, und von dem gewiss ist, dass es untergehen muss und mit ihm auch der Partner seiner begrifflichen Reflexion in sich. Was nützt es dem Bösen, zwar ein eigenes Prinzip zu haben, aber ein solches, das ihm bloß demonstriert, wie leer doch das eigene nichtige Sein ist. Das „lebendige Gute“ der Rechtsphilosophie besitzt kein Böses mehr, weil es die Subjekte unterschlägt, denen allein die Tugend bleibt. Daher ist es auch so versöhnlerisch. Es gibt niemanden mehr, der einen Gegensatz zu ihm sehen kann. Es ist nie schade um das Böse, aber der Preis des Subjekts scheint zu hoch. Mit dem moralischen Bösen ist laut Hegel das Politische durch das absolute Fürsichsein herausgefordert. Am Ende seiner Sittlichkeitsbemühungen erscheint der Sieg über das Böse durch das lebendige Gute „karg“, weil er entgegen dem Anspruch der praktischen Philosophie Hegels die Moral durch das Ausschalten und nicht das Vorführen der Autonomie des Selbst geschlagen hat. Der Preis der Sittlichkeit scheint das Subjekt zu sein, von dem von Staats wegen Auflösung in die Gemeinschaft der Kooperierenden verlangt ist. Der Hegelsche Allgemeinwille scheint am Ende doch lieber wieder auf den Ausschluss des Besonderen zurückzugreifen, um vor der Freiheit zum Nichts sicher zu sein. Auch das Staatssubjekt selbst bleibt vor diesem Misstrauen nicht verschont. Seine Partikularität

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als Volksgeist wird gebrochen durch die Geschichte, in der die großen Weltreiche kommen und gehen. Um das zu erreichen, scheint Hegel einen neuen Naturzustand zwischen den Staaten in Kauf zu nehmen. Schon früh lobt er den Krieg und dessen aufwühlende Wirkung, die kräftig mitarbeitet am gerechten Ausgang des Weltgerichts namens Weltgeschichte (vgl. VD, 462ff.). Der „echte Frieden“ ist keine Friedhofsruhe für Hegel, sondern dauernde Bewegung. Wen Zweifel ob der vielen Übel in der Geschichte plagen, dem empfiehlt Hegel ein wenig Vertrauen in das Wirken der Vorsehung und Gottes, um die Rosen im Kreuz der Gegenwart auszumachen. Der geschichtliche Fortschritt löscht bei Hegel das Böse aus, vordringlich nicht, indem er dessen Wirkung bekämpft, sondern indem er einen anderen Blick auf dieses bei den Menschen hervorruft. „Begreifen“ diese die Geschichte, wird der Blick über die Einzeltatsachen hinaus geführt. Das Leiden des Subjekts am Bösen schließlich wird durch die Geschichte ausgelöscht. Die Theodizee wird bei Hegel so weit universalisiert, dass sie Thema der gesamten Weltgeschichte wird. Die Philosophen, die „begriffene Geschichte“ betreiben, wissen um die göttliche Macht und lassen diese nicht einfach mit sich geschehen. So gefallen sie Gott und ermöglichen diesem dessen Rechtfertigung, indem sie auf dem Gerichtshof der Vernunft zu einem positiven Urteil über dessen Vorhaben mit und in der Welt gelangen müssen. Hegel beruft sich am Anfang seiner Geschichtsphilosophie explizit auf die Tradition der Theodizee und deren Vater Leibniz.15 Die Weltgeschichte macht mithin das Übel erst wahrnehmbar. Was Leibniz noch nicht vollbracht hat, weil er den Begriff nicht begriffen hat, leistet jetzt der Hegelsche Philosoph, der keine Angst vor der Wirklichkeit haben muss, denn er weiß um deren Durchsatz mit Vernünftigkeit. Immer auf der Höhe ihrer jeweiligen Geschichtsepoche ist „Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfasst“ (GR, S. 16). Fortschritt bedeutet in der Hegelschen Philosophie den geschichtlichen Widerspruch zwischen Zerstörung und Erneuerung, impliziert die Negation, den Tod der alten politischen Gebilde, und unzertrennlich davon die Geburt einer neuen sittlichen Form, welche einige Opfer nach sich ziehen mag. Den Widerstreit zwischen individuellem Verhalten und fortschreitenden Wohlergehen erklärt Hegel für irrelevant. Was zählt, ist die Perspektive auf das Ganze und vom Ganzen aus. Sub specie aeterna wird alles individuell Böse zum „Untergeordneten und Überwundenem“. Individuelle Zweckwidrigkeiten können den Gang des Ganzen nicht beeindrucken, den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Die Schwierigkeit, welche Begriffe wie Gut und Böse für den geschichtlichen Opti15 „Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz auf seine Weise in noch abstrakten, unbestimmten Kategorien versucht hat: das Übel in der Welt überhaupt, das Böse mit inbegriffen, sollte begriffen, der denkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden; und es ist in der Weltgeschichte, dass die ganze Masse des konkreten Übels uns vor die Augen gelegt wird […]“ (PWG, 24f.).

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mismus ausmachen, liegt laut Hegel allein darin, am „Ist“ festzuhalten und zu vergessen, was sie im Denken bedeuten, „worin die Momente ebenso sind, als nicht sind, – nur die Bewegung sind, die der Geist ist“ (9, 416f.). Es gehört zum Hegelschen Gesetz der Erscheinung und deren Auflösung, dass, „was im erscheinenden Dasein, böse, Unglück usf. ist, an und für sich gut und ein Glück“ (11, 351) ist. Auch der Charakter der Weltgeschichte als „Schlachtbank“ kann deshalb Hegel im Vertrauen auf den Progress der freiheitlichen Vernunft im Staat und in der Sittlichkeit als Endzweck der Weltgeschichte nicht beirren. Der Staat mag die Hegelsche Realisation der Freiheit sein, ist aber nicht in deren positiver Gestalt. Seine Institutionen begründen nicht die Freiheit, sondern er selbst setzt voraus, dass diese anderswo in reiner Form entwickelt ist. Der objektive Geist des Staates gründet im absoluten und geht in diesen als seinen Grund zugrunde. Mit dieser Hierarchie des Geistes unterstreicht Hegel, dass das Staatsleben nicht in Macht gründet, sondern in Kunst, Religion und Philosophie. Diese drei Bereiche sind die Formen der Reflexion, die den Geist aus seinem subjektiven und objektiven Dasein befreien. Damit unterscheidet Hegel die drei radikal vom Bereich der Institutionen. Es gibt für ihn weder einen Philosophenkönig noch eine in der Kirche aufgehende Gemeinschaft der Christen. In der Philosophie, die den Staat aus der Perspektive der Weltgeschichte begreift, gewinnt der Einzelne Distanz zum „Dasein“ des „Volksgeistes“. Im selbständig bemühten Gedanken löst sich die Idee der Autonomie aus deren „Verschmelzung“ mit der Selbstüberwindung, die alles Einzelne über sich ergehen lassen muss. Freiheit wird positiv, nicht als Kampf im Innern des Subjekts, sondern als dessen Kreativität. Der Philosoph hat die Freiheit des Gewissens gegenüber dem Wirken des Staates, die weit über die liberale Vorstellung von der Sicherheitsfreiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat hinausgeht. Dass die Vernunft auch über die eigene Gegenwart hinaus entscheiden kann, macht aus dem Hegel des Systems den „Hegel der Einsprüche“, wie es Marquard genannt hat,16 der die Vernunft nicht zur Wirklichkeit auflösen will, sondern diese zu jener. Weil Hegel am Ende der menschlichen Freiheit nicht trauen kann, erlaubt er den Menschen nicht einmal mehr, Philosoph und Künstler zu sein. Er hat sich damit nicht wirklich emanzipiert von der endlich-unendlichen Freiheit. Er nennt sein Drittes nur nicht Drittes. Emanzipiert von dem einzelnen Wollen ist es ebenso wie bei Kant und Hobbes. Die Gesetze der Geschichte wiederholen bei ihm die Struktur der Herrschafts-Knechtschafts-Beziehung. Das Gesetz zählt wieder an sich und nicht als Grund der Freiheit. Was Hegel Kants Moralismus vorwirft, gilt in gleicher Weise für seine Art, Geschichte zu bereinigen. Wie man moralistisch frei ist, unterwirft man sich den moralischen Gesetzen, ist man bei Hegel mit dem freiheitlichen Fortschritt in der Geschichte, unterwirft man sich ihren

16 Vgl. Marquard, Odo: „Hegels Einspruch gegen das Identitätssystem“, in: Dieter Henrich (Hg.), Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Tage 1975, Bonn: Bouvier 1977, S. 103-112, hier S. 112.

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Gesetzen. Im absoluten Idealismus hält die Geschichte die endlich-unendliche Freiheit der Menschen auf und setzt die Vernunft in der Wirklichkeit durch gegen die Offenheit der Freiheit zum Nichts. Diese Art, sich geschichtlich zu orientieren, macht aus der Freiheit eine zu vernachlässigende Größe. Wiederholt wird der Spaß Gottes mit den kleinen Göttern bei Leibniz innerhalb der prästabilen Harmonie des Kosmos. Wie hier glauben die geschichtlichen Menschen Hegels im Kleinen Freiheit zu exekutieren, während sie im Großen lediglich der Prädetermination dienen. Die gehandelte Zeit der Geschichte emanzipiert sich so von der Handlung in ihr.

Ab s c h luss

Es sind gerade die Erfahrungen des kurzen 20. Jahrhunderts, die das zerstörerische Potential dieser positiven Einstellung zu einer Metaphysik des Fortschritts offen legen. Eichmann und andere pflichtversessene Gestalten der Postaufklärung (die neuen „Teufel“) haben sich ganz und gar an über ihnen waltende Gesetze aufgegeben. Nicht nur ihr moralischer Sinn, sondern vor allem auch ihr Geschichtssinn sagte ihnen, wie gerecht ihr Handeln war, weil sie über ihnen Stehendem dienen wollten. Das Ausschalten der eigenen Freiheit und Urteilsfähigkeit, in dem Eichmann und die anderen Meister waren, hat auch für die Aufklärung über die Geschichte allein deren Gesetze übrig gelassen und nicht, dass sie dem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit dienen sollten. Was das Böse über seine banale Erscheinungsform im 20. Jahrhundert hinaushebt, ist seine Nähe zum Guten, zum Fortschritt der Aufklärung.1 Wie stets ergibt sich eine andere Theorie über das Böse aus einer anderen über das Gute. Das Böse Eichmanns ist entgegen allen Einwänden am besten als banal zu beschreiben. Seine Differenzen zu anderen Bösen werden so deutlich. Radikal böse ist das banale Böse eines Eichmanns, weil es den Widersinn des Guten aufdeckt, das nicht in der Wirklichkeit geschaffen werden soll. Das banal Böse zeigt, was auch unter der moralischen Zivilisierung der Menschen weiterhin möglich und wahrscheinlich ist, weil den Menschen von den moralischen Zivilisierern letztlich das Handeln verboten worden ist. Diese wollten ihr Gutes lieber anderswo

1 Vgl. Badiou, Alain: „Ethics. An Essay on the Understanding of Evil“, Peter Hallward (Hg.), London, New York: Verso 2001, S. 67. Badiou ist in Ethics – An Essay on the Understanding of Evil (im französischen Original: „L’ Ethique. Essais sur la conscience du mal“, Paris, 1993) einer der wenigen, die sich an einen neuen Begriff des Bösen nach Auschwitz heranwagen, wobei mir seine starke Positionierung des Ereignisses des Wahrheitsprozesses zu einem Vermittlungsproblem zu führen scheint.

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sichern als in der ungewissen Freiheit der Menschen und haben so das Misstrauen gegen diese auf eine ganz neue Stufe gestellt. Dass die Moral keine Waffe gegen es ist, hat bei Hegel das Böse zu einem radikalen gemacht. Nach Hegel hatte es jedes Recht, von der Moral mehr zu verlangen, als sie zu geben bereit war. Die Wirklichkeit der Welt sollte wieder etwas gelten vor der Freiheit der Menschen, deren Kausalität nicht allein die von Gesinnungen sein. Die begründete relativistische Position des Bösen gegenüber der Moral hat sich mit seiner banalisierten Erscheinungsform verändert, ist politischer geworden, wenn das Böse die „politische Leere“ des moralisch Guten anklagt und nicht mehr dessen sinnliche Leere. Politisch ist seine Anklage, insofern es demonstriert, dass zur menschlichen Freiheit mehr als eine moralische Positionierung gehört. Eichmann hat gezeigt, wie politisch leer die moderne, allein moralisch gesinnte Freiheit geworden ist, weil sie die Angst vor sich selbst schüren muss. Sie lebt im Widerspruch der Angst vor der und des Anspruchs über die Wirklichkeit. Eichmanns Böse ist banal gegenüber den negativen Erscheinungen des Wollens, die das moralisch Böse ausmalt. Die moralisch gesinnte Freiheit flieht vor dem Wirklichen, weil es für sie die Harmonie im Intelligibelen zerstört. Über das Wirkliche hinaus ist sie, da sie ein Sollen über das Sein legt. Die Moral des Guten bringt mit ihrem Sollensstandpunkt dem Menschen bei, dass das, was zu sehen ist, nicht alles gewesen ist. Allein unter dieser Voraussetzung ist der Mensch überhaupt, denn als freies Wesen ist er immer über die Tatsachen hinaus. Die Moral macht das Über-dieTatsachen-Hinaussein jedoch zu einem Selbstzweck, der wiederum die spezifisch menschliche Freiheit bricht, die an Zwecken und Handlungen orientiert ist. Ihre Gesetze müssen so dem menschlichen Wollen fremd werden, und sie selbst muss zum Inbegriff der kategorischen Gesetzesförmigkeit werden. Diese weiß schon vor der Tat genau, was den Menschen möglich sein soll und was nicht. Übrig bleibt von der moralischen Freiheit bei Eichmann dementsprechend, was sie als Gesetz den einzelnen Individuen abverlangt und dass sie von den Individuen fordert, über ihre eigene Wirklichkeit hinaus zu sein. Eichmann beweist, dass die Unfreiheit sehr gut auskommen kann mit Pflichterfüllung und der Negation des eigenen Wollens. Arendts Charakterisierung des Eichmannschen Bösen als banal und nicht radikal sollte keine Relativierung von dessen Taten sein, sondern eine politische Radikalisierung.2 Auf seine politische Wirksamkeit, gerade weil es so „leer“ war im Verhältnis zu dem Wirken des Teufels, sollte aufmerksam gemacht werden. Banal war es in seiner Erscheinung, radikal in seinem Wirken. Die Banalität des

2 Arendt ist mit ihrer Charakterisierung Eichmanns bei ihren wissenschaftlichen Zeitgenossen auf wenig Verständnis gestoßen. Für eine Kritik aus neuerer Zeit: Vgl. Diner, Dan: „Hannah Arendt – Jüdisches Selbstverständnis im Schatten der EichmannKontroverse“, in: B. Baule (Hg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik, Berlin: Aufbau Verlag 1996.

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Bösen bei Eichmann ist banal, weil ihr Entschluss zum Bösen nicht auszumachen ist, wie es einer der vielen radikalen Bösewichter Shakespeares Richard III vorgemacht hat, als er sich entschieden hat, „ein Bösewicht zu werden“.3 Für den „totalitären Charakter“, den Eichmann darstellt, gilt weder Interesse noch Vernunft, sondern nur noch die Unterwerfung unter Höheres, als er selbst ist. Er verwirklicht in der Negation der eigenen Neigungen bei seinem Terror die Kantische Hölle, ohne sich selbst einzugestehen, dass er Böses wollen darf: „Die Bosheit [der Hölle, d.V.] denken wir uns, wenn wir den höchsten Grad derselben denken, als eine unmittelbare Neigung, die ohne alle Reue und Lockungen am Bösen Gefallen hat, und es ohne alle Rücksicht auf Gewinn und Vortheil […] ausübet.“ (PR, 2) Dieses Zitat von Kant beschreibt, was Arendt an Eichmann hat zeigen wollen. Der „totalitäre Charakter“, den das 20. Jahrhundert vorgestellt hat, sieht sich an der Spitze einer geschichtlichen Bewegung hinter seinem Rücken und erwartet von den Gesetzen der Geschichte nicht einmal Mitleid mit dem Zustand des eigenen Selbst. Das Interesse (an der eigenen Selbsterhaltung) bindet ihn so wenig an den eigenen Staat wie die Vernunft. Während letztere bei Untertanenmenschen sowieso selten gefragt ist, zeigt die Auflösung der Interessenbindung, dass die totalitären Systeme einen echt postbürgerlichen Zustand verwirklicht haben. Hobbes und die bürgerliche Aufklärung nach ihm hätten wenig Verständnis dafür gehabt, dass von dem politischen Ganzen nicht einmal die Verwirklichung des Interesses an der eigenen Freiheit erwartet werden kann. Hatte sich Kant noch über das Paradox des Fortschritts gewundert, dass die früheren Generationen für die Freiheit der späteren zu leben scheinen, ersetzen totalitäre Charaktere diesen scheinbaren Zusammenhang durch ein unbedingtes Sein. Sie erwarten von dem eigenen Zustand ihrer Gesellschaft nicht einmal mehr die eigene Selbsterhaltung geschweige denn Selbstbefriedigung, weil sie selbst von sich glauben, allein für den Zustand überübermorgen zu sein. Die politische Gemeinschaft der „totalitären Charaktere“ ist die „Volksgemeinschaft“. Diese ist selbst das Ende der Politik. Sie gilt es für jede Politik zu verhindern, wobei hier nicht ihre geschichtliche Formation, sondern ihre Form gemeint ist. Ersetzt wird der Glauben an die Vernunft und die Freiheit, an das Ereignis und die Unabgeschlossenheit der Zukunft, durch den unbedingten Gehorsam, der selbst nicht mit dem Glauben zu verwechseln ist, gegenüber höheren und übermenschlichen Kräften in der Geschichte. Als Volksgenosse will man nicht mehr frei sein und hält Politik für einen Fehler der Oberfläche der menschlichen Beziehungen, hinter denen andere als Gesetze der Freiheit stehen. Für bürgerliche Fragen wie die nach dem Interesse oder nach der Vernunft des Zusammenschlusses hat die Volksgemeinschaft als moderner Abgrund des Politischen nichts übrig.

3 Vgl. H. Arendt: Eichmann, S. 56.

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Der Nationalsozialismus war „terror directed at everyone“,4 am Ende noch gegen die, die andere vernichtet haben. Eichmann hat nicht vorwiegend seinem persönlichen Interesse entsprochen, als er die Vernichtung des europäischen Judentums mitorganisierte. Das bisschen Karriere hätte er genauso gut woanders machen können. Eichmann selbst war der Auffassung, dass ihm aus Pflicht nichts anderes übrig blieb, als den Abtransport in die Vernichtungslager zu planen. Ihm schien es dazu keine Alternative zu geben. Nicht, weil er allzu sehr um sein Leben fürchten musste, er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie die Politik sonst funktionieren sollte. Der Traum der wüsten Volksgemeinschaft ist nach Adorno „die Unterdrückung aller durch alle“.5 Wüst wird er nicht vordringlich deswegen, weil er die Unfreiheit wollen würde, sondern weil er versucht, das Wollen überhaupt auszuschließen. In einem „normalen“ Terrorregime, in dem brutale Gewalt die Menschen bei der Stange hält, zerbricht die Herrschaft, sobald die Gewalt nicht mehr effektiv ist oder der Gewinn der Machtclique in keinem Verhältnis mehr zum Aufwand steht. In Deutschland wurde bis zum Ende im Zweiten Weltkrieg total weitergekämpft, weswegen es auch keines simplen „regime change“ bedurfte, um den Nazismus zu besiegen. Was diesen von den vielen anderen Totalitarismen und Autoritarismen in der politischen Welt unterscheidet, ist seine Art des Zusammenseins. In ihm wollten die Volksgenossen selbst, dass ihr Wille gebrochen war. Sie glaubten nicht, eine andere Art der Freiheit im Politischen als die der Aufklärung zu haben, sondern sie wollten, dass ihre Freiheit zumindest öffentlich nicht ist. Die Volksgenossen wollten, dass ihre Gemeinschaft über der Politik war. Vollendet hatten sie so praktiziert, wie Freiheit Unfreiheit schaffen kann. Insofern hat Hannah Arendt recht gehabt, dass der Nazismus die theoretische Unmöglichkeit des Bösen praktisch widerlegt hat. Aktiv unsittlich, böse ist Eichmann als „Idealist“ der Idealität der Volksgemeinschaft gewesen. Banal ist dies Böse lediglich in seiner Erscheinung des etwas einfältigen Bürokraten, dem der Sinn für Recht und vor allem für Unrecht gefehlt hat. In seinem Wesen der Durchdringung der Welt ist es extremer, radikaler kaum vorstellbar. Das Eichmannsche Muster von Idealismus für das Innen seiner politischen Welt und absolutem Unverständnis für die Grenzen derselben ist auch im Zeitalter des unbedingten Pragmatismus in der Politik weiter aktuell. Wenn gute Ideen solche sind, die funktionieren, ist die Verantwortung schon abgegeben und zwar an das System, das dafür sorgt, dass die Ideen funktionieren. Was formal Anderes hat Eichmann auch nicht gemacht. Dass er zudem noch Idealist gewesen sein will, macht ihn gar zum Vorbild für vieles, was heute als Pragmatismus in der Politik daher kommt. Man kann allein erziehenden Mütter auch den Lebensunterhalt durch Sozialhilfe streichen und später behaupten, es sei jenseits des Fi-

4 A. Badiou: Ethics, S. 77. 5 Adorno, Theodor W.: „Minima Moralia“, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, Aph. 123.

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nanziellen auch noch zum Wohle des Ganzen und der Mütter selbst. Man muss nur eine „Kultur der Abhängigkeit“ erfinden. Auf anderen Gebieten wie dem Kampf gegen den Terror, wo auch immer er sich verstecken mag, kann man als Politiker dann seinem Moralismus freien Lauf lassen. Pragmatiker ist man im Reich des Guten, was die westlichen Demokratien sind. Moralist ist man im Kampf gegen das Böse, was alles das ist, was das erste nicht ist. Eichmann war auch Pragmatiker und Systematiker, wenn es um sein Gutes ging: die Organisation der „Endlösung“. Arendts Fehler ist es vielleicht gewesen, dass sie zu wenig auf die conditio sine qua non dieser Art des Pragmatismus aufmerksam gemacht hat. Man muss sein Böses schon kennen, um so handeln zu können. So ist der Moralist und eine abgeschlossene Welt des Guten und Bösen notwendige Bedingung des unbedingten Pragmatikers. Das allgemeine Bewusstsein Hegels will tugendhaft sein und Freiheit für alle auf seine falsche Art. Es bleibt daher, auch als es in der Phänomenologie schon böse geworden ist, der Freiheit verpflichtet, die sich weiterhin hinter seiner Ideologie der Tugend verbirgt. Der Nazismus wollte nicht einmal mehr Ideologie sein, weil für ihn kein Wahrheitskriterium und kein Anspruch genügen sollte. Sein Böses entkommt dem Guten auf dem einzig möglichen Weg. Wenn Wahrheit nicht länger ist, dann gibt es auch keinen vernünftig bestimmten Willen mehr, der Gutes vollbringen könnte. In Arendts Blick auf das Handeln der Nationalsozialisten mag dieses das radikal Böse verwirklichen, für die Nazis selbst kann es nicht böse gewesen sein, weil sie kein Gutes mehr kannten. Der mythische Straßenräuber Cacus ist von Augustinus ins Reich der Guten geholt worden, weil auch dessen Wille zumindest für ihn selbst Gutes wollen muss. Sich selbst und seine Bedürfnisse zu wollen, ist der Vernunft nicht fremd. Man will dann Besonderes, das ein solches allein gegenüber dem vernünftigen Allgemeinen sein kann. Die Ungerechtigkeit des Cacus wird ausgeglichen, wenn er den partikularen Hintergrund seines Wollens erkennt und ihn universalisiert. Cacus selbst muss dies nicht unbedingt leisten, vielleicht ist er einfach zu stur. Trotzdem führt ein Weg des Bewusstwerdens von seinem bösen Wollen zum Guten. Wie Cacus werden sich auch die Machtpolitiker Kants dem Moralischen nicht auf Dauer verweigern, zumindest wenn sie ihren eigenen Gesetzen der Macht folgen wollen. Sie können einsehen, dass mit der Vernunft und der Moral es auch um die Macht besser bestellt ist als ohne. Das Sittengesetz stabilisiert die eigene Macht, wenn es verhindert, dass andere mir zu sehr ans Leder wollen. Hinter ihm steht die Selbsterhaltung, die durch seine Universalität verbürgt wird. Die Volksweisheit über das Sittengesetz: „Was Du nicht willst, das man dir zufügt, das füge auch keinem anderen zu“, muss jedem mit Interesse an Macht einsichtig sein. Insofern entkommen auch die Machtpolitiker Kants der moralischen Aufklärung nicht. Der Nazismus bricht diese, weil er ein Gegner ist, auf den die Moral und deren Freiheit nicht eingestellt ist. Er anerkennt die Pflicht und nimmt deren Zwang gegen das besondere Individuum auf, aber er lässt das Allgemeine der Vernunft nicht in Ruhe.

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Nationalsozialistisch wird nicht um des eigenen Wohls willen gehandelt und damit in der für die Vernunft einzig vorstellbaren teuflischen Art. Man ersetzt einfach, was die Universalität gewesen ist und schafft es so, sich abzusetzen von dem zwanglosen Zwang der Vernunft. Dass eine solche Entthronung der Vernunft allein mit brutalem Terror zu erreichen ist, versteht sich von selbst.6 Vom Wohl führt noch ein direkter Weg der Reflexion zum Guten, wenn es verallgemeinert wird. Das Böse des gescheiterten Zusammenseins der Menschen im Nazismus ist nicht die selbstische Negation des Anderen, sondern das Schaffen eines allgemeinen Willens, einer Intersubjektivität, wenn man so will, aber besonders. Danach ist keiner mehr für sich schlecht, sondern man ist es zusammen. Das Allgemeine besonders zu machen, ohne es einem besonderen Interesse zu unterwerfen, so ist ein operationsfähiges Böse aufzubauen, das hat der Nationalsozialismus gelehrt. Dies ist nicht radikal, weil es von Freiheit nichts mehr wissen will, aber extrem. Der Nazismus widerlegt die Instabilität der Herrschaft, die Hegel veranlasst hat, über dem Recht eine Sittlichkeit aufzubauen. Diese Instabilität gilt lediglich so lange, wie sich die Herrscher von ihrer Herrschaft einen Gewinn erwarten. Dann muss sie die mangelhafte Anerkennung durch ihre Untergegebenen und die mörderische Konkurrenz mit Anderen stören. Volksgenossen ficht das nicht an. Das eigene Besondere zum Allgemeinen zu erklären, das eigene Interesse zu dem von allen zu machen und Herrschaft aufzubauen, darauf kann die politische Freiheit der Aufklärung reagieren. Sie zeigt, dass die Herrscher nicht ohne Beherrschte auskommen, dass die Knechte immer das Wollen haben, ihre Herrschaft zu brechen, und dass das System der Herrschaft auch für die Herrschenden eine Gefahr bedeutet. Für die politische Aufklärung ist klar gewesen, dass für die Freiheit lediglich die Herrschaft abgeschafft gehört. Wie allerdings auf eine Herrschaft zu reagieren ist, in die die Beherrschten eintreten, weil sie sich genau diese von ihrer Freiheit erwarten, darauf geben die Prinzipien der politischen Aufklärung keine Antwort. Den rein „totalitären Charakter“ mag es nie gegeben haben. Seine Theorie hat aber zumindest mit der Möglichkeit bekannt gemacht, Böses ganz anders zu schaffen, als es die Welt der Politik erwartet hat, wenn sie Freiheit von der Moral her denkt. Erwartet worden ist, dass aus der eigenen unvollkommenen Freiheit heraus Unfreiheit bewirkt werden werde. Richtig böse ist es geworden, als den politischen Bürgern ihre Freiheit so weit unheimlich geworden ist, dass sie nicht einmal mehr die Unfreiheit gewollt haben. Und dieses Böse muss der Moral 6 „Die Mittel mit denen dies geschieht, sind der von außen losgelassene Zwang des Terrors und der von innen losgelassene Zwang ideologisch-stimmigen Denkens. Zweifellos ist diese totalitäre Entpolitisierung der entscheidende Schritt auf dem Weg der Entpolitisierung des Menschen und der Abschaffung der Freiheit; theoretisch aber ist der Begriff der Freiheit überall im Verschwinden, wo entweder der Begriff der Gesellschaft oder der Begriff der Geschichte an die Stelle eines Begriffes von Politik getreten sind.“ (H. Arendt: Politik, S. 210)

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fremd sein und daher aus einer anderen menschlichen Praxis stammen, aus der Politik. Moralisch gesehen kann kein Böses geschaffen werden, politisch zumindest etwas, das diese Bezeichnung verdient hätte. Nach Volksgemeinschaft und Auschwitz ist ein neuer Begriff des Bösen wieder aus dessen Kraft zur Negation des Guten zu entwickeln, aus der Idee, wie in der Gegenwart der Mensch auf seine Wirklichkeit eingeschränkt wird, entgegen dem Versprechen auf unendliche Möglichkeiten in ihm, das die Idee des Guten leistet.7 Diese Einschränkung geschieht politisch, wo Menschen zu Volksgenossen werden. Der Nationalsozialismus hat zur Voraussetzung seiner Formation eines systemischen, da nicht moralisch-individuellen Bösen gehabt, dass die Menschen Feinde ihrer eigenen Möglichkeiten geworden sind, Feinde ihrer selbst als selbstbestimmte Subjekte. Wenn Ich mir ganz und gar nicht traue und mein eigener Hauptfeind geworden bin, kann Ich mich selbst auch nicht mehr überwinden. Das Böse der alten Moderne hat zwar auch Misstrauen gegenüber der eigenen Freiheit hervorgerufen, dies jedoch immer als Aufforderung an die eigene Freiheit verstanden, wieder Vertrauen in sich zu gewinnen. Die Gewissheit, dass dieses Vertrauen Erfolg haben muss, weil die Vernunft und deren Freiheit nicht zu beseitigen sind, hat der Nationalsozialismus erledigt. Er hat gezeigt, dass die Vernunft und die Freiheit, die etwas zählen, abzuschaffen sind, indem er das Allgemeine ausgelöscht hat, auf das sich beide beziehen müssen. Er hat gelehrt, dass das Böse seinem Guten entkommen kann, wenn es aufhört, das Besondere allgemein machen zu wollen und das Allgemeine besonders macht. Darin hat der Nazismus eine Tendenz radikalisiert, die in allen aufgeklärten Gesellschaften vor ihm schon vorhanden gewesen ist. Wie dargelegt, meinen alle Aufklärer, ihre Untertanen nicht allein über die Reflexion binden zu können, sondern über eine neue Form des unmittelbaren Zusammenseins. Die „Nation“ sollte das Denken und die Freiheit konkret binden und den inhärenten Universalismus der Menschen bremsen. Die nazistische „Nation“ oder ein anderes partikular Allgemeines ersetzt völlig die Vernunft, und die Freiheit ist gebannt in der Pflicht an die Nation. Die Angst vor der Freiheit, die zum Aufbau eines nicht-allgemeinen Allgemeinen geführt hat, hat mehr Böses vollbracht, als man es sich je hat für die Freiheit vorstellen können. Die Partikularisierung des politischen Allgemeinen haben die Nazis lediglich perfektioniert, es findet sich auch in den „normalen“ politischen Systemen der Neuzeit. Ihre Freiheit auszuschließen haben die Menschen seit der Volksgemeinschaft nicht verlernt. Niemals sind sie in größerer Anzahl bereit gewesen, mit der Ungewissheit umzugehen, welche die Freiheit bedeutet und von der gerade die Obskurität des Bösen erzählt. Ohne Ungewissheit aber keine Freiheit. Ohne diese lässt sich keine Politik machen, weswegen es gerade die Aufgabe der politischen Theorie wäre, sie als Tatsache der Menschlichkeit zu entwickeln. Die politische Philosophie hat sich allerdings bis heute 7 Vgl. A. Badiou: Ethics, S. 16.

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eher darauf versteift, politische Systeme aufzusetzen, welche die Ungewissheit der Freiheit kontrollieren sollen. Nie ist es ihr gelungen, mit der Freiheit und ihrem Bösen umzugehen, ohne an der Freiheit selbst zu zweifeln, sieht man einmal von der Ausnahme Hegel ab. Innerhalb dieser Bewegung hat sich das Politische von der individuellen Freiheit abgesetzt und als Totalität gegen diese aufgebaut. Dort wohnt es noch heute und droht immer wieder in Terror gegen jeden und alles umzuschlagen. Diese Einsicht scheint aktueller denn je zu sein, in einer Zeit, in der in der Weltpolitik das Böse wieder im Ernst gebraucht wird. Allein so ist man, ohne rot zu werden, in der Lage, in Auschwitz Reden zu halten, die den Kampf gegen die Vernichtungslager als Urgrund des Kampfes gegen Saddam Husseins Regime verstehen. Überall wird dem Bösen schlechthin begegnet. Durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die bekannt gemacht haben mit einem politischen Bösen, scheint heutzutage der Gebrauch der moralischen Extreme in der Politik ohne Frage. Es wiederholt sich, was bis in die Gegenwart im Kampf gegen das Böse selbstverständlich gewesen ist. Man unterläuft, was man angibt, an Gutem zu schützen. Seit Platon ist unter den politischen Philosophen gewiss gewesen, dass man Gerechtigkeit nicht dadurch schaffen kann, dass man ungerecht wird. Genauso wenig lässt sich heute Demokratie schaffen, indem man undemokratisch wird. Als Demokrat diskutiert man noch nicht einmal über das Recht des Staates zu foltern, wie in Deutschland und den USA geschehen. Dabei hat der aktuelle politische Kampf gegen das Böse in gewisser Hinsicht sogar Recht. Man kann durchaus sagen, dass der Kampf gegen die Politik des Terrorismus inhaltlich konvergiert mit dem Kampf gegen eine absolute Unfreiheit der bedingungslosen Aufgabe der Freiheit. Schließlich geht die Politik des Terrorismus auf die Abschaffung jeder Art von Politik. Dass dies das Böse sein soll und sonst nichts, ist jedoch Erfindung der „wehrhaften Demokraten“, welche den Terroristen eine „evil ideology“ unterstellen. Das Böse entsteht erst im Blick dessen, der das Gute zu sein beansprucht, wie Hegels Phänomenologie lehrt. Die politische Theorie hat zu ihrem Ausgangspunkt, dass alle böse sind und nicht nur die Anderen. Politisch gesehen ist nach aller geschichtlichen Erfahrung gewiss, dass das wirklich Böse der Glauben an das Böse der Anderen ist, weil man sich als derart Glaubender bequem im eigenen Guten einrichten kann und als „allgemeines Bewusstsein“ Hegels über den Rest der Welt richtet. Deutschland hat seinen Krieg im Kosovo als Fortsetzung des Kampfes gegen Hitler gesehen. Die USA haben im Irak einen neuen Hitler aufgehalten. Seit dem Zweiten Weltkrieg funktioniert Hitler als eine Art universeller Signifikant, der Zweifel an der Legitimität der eigenen politischen Aktion ausschließt. Nasser ist böse wie Hitler gewesen, Milosevic auch und Saddam Hussein sowieso. Hitler lebt in der Politik weiter im Ausschluss des Nachdenkens über die ideologischen Grundlagen des eigenen Handelns. Über diese klärt heute in der weltweiten demokratischen Wertegemeinschaft keiner mehr auf. Weil sie keine Urteile mehr fördert über sich selbst, sondern allein noch über andere, deformiert die demokra-

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tische Politik am Anfang des 21. Jahrhunderts immer mehr zur Unpolitik. Diese zeigt sich darin, dass die Grenzen dessen, was der allgemeine, demokratische Wille nicht wollen kann, immer poröser werden und das Wiederaufleben Hitlers immer schnellere Zyklen durchläuft. Untersucht man allgemein verbreitete Auffassungen wie die, dass die Geschichte die Demokratie als einzig menschenwürdige Staatsform bewiesen hat, stellt man fest, dass mit einer doppelten Negation argumentiert wird. Die Demokratie sei die einzige nicht menschenverachtende Staatsform. Jede andere, vor allem aber die modernen Formen Stalinismus und Faschismus, seien sich in ihrer Affirmation des Terrors und in vielen anderen Eigenschaften gleich. Sie seien deswegen das Böse, das es zu bekämpfen gilt. Je nach politischer Couleur ist vor dem Irakkrieg Saddam Husseins Herrschaft mal stalinistisch, mal faschistisch gewesen. Die Meinung ist: Die Demokratie sei immerhin nicht Totalitarismus und daher ganz gut. So weit heruntergekommen ist die Rechtfertigung für ein politisches Projekt, das mit Rousseau u.a. angetreten ist, jede Herrschaft zu beenden. Es ist lediglich noch gut, weil es nicht so böse wie der Totalitarismus ist.8 Problematisch wird die beschriebene Legitimationsfigur endgültig, weil mit ihr so getan wird, als ob die Demokratie das einfach Entgegengesetzte zu den modernen Unpolitiken der Volksgemeinschaft und Klassenherrschaft sei. Weil Böses nur Böses schaffen kann, kann die gute Demokratie nicht den Totalitarismus geschaffen haben. Dies ist historisch und systematisch falsch. Ohne die moderne Position des „Volkes“ in der Aufklärung wäre der Nationalsozialismus nicht vorstellbar. Eine Volksgemeinschaft kann nicht feudal mit König existieren. Sie ist „Macht von unten“.9 Man übersieht die Modernität der Volksgemeinschaft, glaubt man hier einfachen Autoritarismus von oben am Werk. Gegen die Volksgemeinschaft hilft es nicht, auf der Politik als Machtausübung des Volkes zu bestehen. Demokratie als Volksherrschaft ist nicht vor dem Umschlag in die Volksgemeinschaft geschützt. Was vor diesem bewahrt, ist die Betonung der radikalen Machtkritik in der Idee der Demokratie, wie bei Rousseau ausgeführt. Copjec zitiert Brunos Leforts Definition, dass in der Demokratie die Macht sich als solche beweisen muss, die niemanden gehört.10 Dass die Macht zu niemanden gehört, zeigt sich gerade darin, dass sie keine Sicherheiten über das bietet, was möglich ist und was nicht. Das Subjekt wird keine Instanz finden, welche ihm sagt, was politisch legitim ist und was nicht. Ein solches ist fähig zum politischen Urteil und schließt sich selbst als „totalitärer Charakter“ aus.

8 Rousseau und seine Kollegen haben gehofft, die Herrschaft wenn schon nicht abschaffen zu können, so doch zu minimieren. Von dieser Idee merkt man bei den heutigen politischen Denkern fast nichts mehr. 9 Vgl. Copjec, Joan: „Read my Desire. Lacan against Historicists”, Cambridge (Mass.); London: MIT Press 1994, S. 158f. 10 Vgl. Lefort, Claude: „Democracy and Political Theory“, Cambridge: University of Minnesota Press 1988, S. 15.

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Weil die gegenwärtige Legitimation der Demokratie die Welt schon an sich in Gut und Böse einteilt, wirkt sie unpolitisch. Sie setzt das Subjekt und dessen Möglichkeiten voraus. Dieses hingegen in der politischen Tat zu erschaffen, ist die ursprünglich Idee der politischen Aktion, seit Aristoteles die poesis der Verfassung gefeiert hat. Aber diese Freiheit, das Subjekt zu schaffen, hat die Politik an die Moral abgeben müssen. Diese hat das Böse entdeckt, an dem der Mensch ganz allein Schuld ist. Sie warnt vor dem malum morale und in diesem Warnen besteht fast ihr gesamtes Wirken. Das Böse ist die selbstgesetzte Bescheidenheit der Moral und wird von ihr in Fragen der Freiheit benutzt, um die Menschen davon abzuhalten, das Gute zu tun. Es schränkt ihre Macht darauf ein, nicht mit letzterem zusammen sein zu können. Immer ist Moral so auch eine Einschränkung der menschlichen Möglichkeiten, was sich aus ihrem Gefangensein im Gegensatz ihrer Objekte Gut und Böse ergibt.11 Sie befreit den Menschen dazu, unfrei zu sein. Die Moral hat sich selbst zur Hüterin des Abgrundes der menschlichen Freiheit erklärt, vor dem sie zugleich nicht schützen kann. Das unterschwellige Vorurteil der Moral des Zwischenwesens Mensch ist laut Alain Badious Studien zum Verstehen des Bösen: „Evil is that from which the Good is derived, not the other way round.“12 Dies ist auch das Vorurteil der politischen Theoretiker. Diese waren sich eher darin einig, was das Böse, als was das Gute ist. Mögen sie in ihren ethischen Theorien auch anders herum verfahren sein und von dem Guten aus das Böse definiert haben, so zerbricht diese moralische Hierarchie doch zumeist bei den politischen Ansichten. Hier zählt zuerst das Böse, dann das Gute, denn die Politik soll den Menschen auf seine Bescheidenheit des nosce te ipsum einschränken und ihm nicht seine tendenziell unendlichen Möglichkeiten offenbaren. Dass die Moral selbst dem Bösen eher ratlos gegenüber steht, hält sie nicht davon ab, angesichts des Bösen Ansprüche an andere menschliche Praxen zu stellen wie die Politik. Die Ohnmacht der Moral in Bezug auf die von ihr gegründete Freiheit soll auch die Politik befallen. Diese wird durch das ethisch Machbare gebannt, das das Unvernehmen in der Politik in einheitliche Werte fassen soll. Das Charakteristikum der Negation der Politik innerhalb moderner, aufgeklärter Bürgergesellschaften ist laut Benjamin „ihre unheilbare Verkuppelung von idealistischer Moral mit politischer Praxis. […] Man findet den Kult des Bösen als einen wie auch immer romantischen Desinfektions- und Isolierungsapparat der Politik gegen jeden moralischen Dilettantismus.“13 Für jede praktische Philosophie ist die Politik immer ein Graus gewesen, denn sie hat nach unregle-

11 Vgl. A. Badiou: Ethics, S. 14. 12 Vgl. ebd., S. 9. 13 Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus“, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 304.

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mentierter Freiheit gerochen. Für die Kontrolle der Freiheit lässt sich politisch auf kein den Menschen natürlich mitgegebenes Sittengesetz aufbauen. Kant bildet auch hier eine Ausnahme, wenn er für die Politik das eigenständige Gesetz annimmt, nach dem eine Politik lediglich recht sein kann, wenn durch sie die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann. Vom Kern der Politik her droht der Anarchismus des reinen Wollens. Die Moral ist daher in neuerer Zeit verstärkt zu einem System der Kontrolle der Politik geworden, welches sagt, was Recht gewesen ist und was nicht. Als System der reinen Selbstbestimmung, wie es von der Kantischen praktischen Philosophie entwickelt wird, hätte sie diese Kontrolle nicht leisten können. Moral ist als Kontrollinstanz und Abwehrformation trotz Kants Kritik Werteethik geblieben. Sie hat die Werte aufgestellt, an denen sich der Grad der Zivilisiertheit der Menschen entscheiden soll.14 Im Herunterbeten von Allgemeinplätzen wie den unveräußerlichen Menschenrechten hat sich die Moral ihres Stachels beraubt. Sie will nicht mehr die Freiheit geben, die Welt von sich aus anzufangen, und zum Bruch mit dem bestehenden Sein anleiten. Sie will wieder einfaches Gesetz sein und rechtfertigt das damit, das Böse in den Menschen aufhalten zu müssen, das politisch gesehen so viele hat mitmachen lassen beim Totalitarismus. Die Moral von Ethikkommissionen und Bereichsethiken zur Verhinderung der Totalitarismen oder des Bösen in der Biomedizin, der Ökonomie usw. kürzt die Unendlichkeit aus der Gleichung der endlich-unendlichen Freiheit von Menschen. Politik gerät so ins Abseits, Demokratie wird zur „Postdemokratie“ (Rancière).15 Durch die

14 Nur zu oft steht in den Moralphilosophien der Gegenwart ein unbedingter Universalismus der moralischen Prinzipien einem postmodernen moralischen Relativismus gegenüber, der alles in reine Differenzen ohne Prinzipien auflösen will. Die gegenwärtige Moralphilosophie scheint sich darauf verpflichtet zu haben, dass man bloß auf der einen oder der anderen Seite stehen kann. Entweder man folgt Kants universalistischer Perspektive in den ewigen Frieden oder ist mit Nietzsche fröhlich wissenschaftlich, weil alles relativ ist. Dass der Gegensatz von Partikularem und Allgemeinem der moralischen Idee der Freiheit als endlicher Unendlichkeit inhäriert, hat diese Arbeit an der Idee des Bösen zu zeigen versucht. Es nützt auch der Moral nichts, löst man diesen Gegensatz mit einer Entscheidung zu der einen oder anderen Seite auf. (Ich verweise hier auf die Studie von Gerhard Schweppenhäuser zu neueren Entwicklungen in der Moralphilosophie der Gegenwart, in der die sich fortsetzende Kontinuität der Antinomie von Partikularismus und Universalismus beschrieben wird [vgl. G. Schweppenhäuser: Universalismus]). Angesagt wäre es vielmehr, den Grund des Gegensatzes in der Abkapselung der Moral von ihrer Wirkung in der Welt aufzusuchen, wenn diese glaubt, ohne politischen Erfolg Freiheit schaffen zu können. Das Böse hat der Moral deswegen als Mysterium erscheinen müssen, weil sie nicht Politik hat sein wollen. 15 Rancière nennt das heutige Zusammensein westlicher Demokratien treffend PostDemokratie: „Die Post-Demokratie ist die Regierungspraxis und die begriffliche Legitimierung einer Demokratie nach dem Demos, einer Demokratie, die die Erscheinung, die Verrechnung und den Streit des Volkes liquidiert hat, reduzierbar al-

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Brüche mit ihrem Sein werden die Menschen zur Politik fähig, bloß als unendliche Wesen sind sie fähig, die Endlichkeit zu verändern. Weil die Moral nicht Menschen heute werteerziehend verendlichen will, führt sie nicht mehr wie bei Kant und Hegel zur Politik, sondern zur Anti-Politik.

so auf das alleinige Spiel der staatlichen Dispositive und der Bündelung von Energien und gesellschaftlichen Interessen.“ (J. Rancière: Unvernehmen, S. 111)

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5: 8: 9: 11: 12:

Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften, in: Jenaer Kritische Schriften, AA Bd. 4. System der Sittlichkeit, in: Schriften und Entwürfe (1799-1808), AA Bd. 5. Jenaer Realphilosophie (Philosophie des Geistes), in: Jenaer Systementwürfe III, AA Bd. 8. Phänomenologie des Geistes, AA Bd. 9. Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13), AA Bd. 11. Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1813), AA Bd. 12.

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20: 21:

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), AA Bd. 20. Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), AA Bd. 21.

Weitere Siglen zu Hegelschriften (im Text mit einer Buchstabenfolge zitiert): Rel3:

Rel4a:

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GP9:

GR:

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VD:

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LITERATUR | 219

der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausg., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986.

Kant, Immanuel Zitiert wird nach dem Textbestand der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften (im Text mit lateinischer Angabe der Bandnummer zitiert), Bd. I-IX, 1902-1923, den Briefbänden Bd. X-XII sowie Bd. XV und XX (Handschriftlicher Nachlass). Die vorliegende Textversion der von Pölitz erstmalig herausgegebenen Vorlesungsnachschriften hingegen orientiert sich nicht an der Akademie-Ausgabe (vgl. Bd. XXVIII.2,1.2 bzw. Bd. XXVIII.2,2), sondern an den zur Verfügung stehenden Originalausgaben der Vorlesungen über die philosophische Religionslehre (2. Aufl. ersch. 1830) bzw. der Vorlesungen über die Metaphysik (ersch. 1821). Der Text der Akademieausgabe wird unverändert, d.h. ohne Angleichung von Orthographie und Interpunktion wiedergegeben. Der Verweis erfolgt durch die Bandund Seitenangabe der Akademieausgabe. Nur die Kritik der reinen Vernunft wird in der Originalpaginierung wiedergegeben (A=1., B=2. Aufl.). A/B: I: II:

IV:

V: VI: VII: VIII:

Kritik der reinen Vernunft, erste/zweite Auflage (1781/1787). principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755). Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775). Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763). Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Kritik der praktischen Vernunft (1788). Kritik der Urtheilskraft (1790). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794). Die Metaphysik der Sitten (1797). Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Der Streit der Fakultäten (1798). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace (1785). Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche der Theodicee (1791). Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793). Zum ewigen Frieden (1795).

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IX:

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Die Titel dieser Reihe:

Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnêma Derrida zum Andenken April 2006, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-510-3

Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff April 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-443-3

Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler April 2006, 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-475-1

Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie April 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-332-1

Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida März 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-456-5

Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen Februar 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-465-4

Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen Februar 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-364-X

Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse Februar 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-427-1

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Die Titel dieser Reihe: Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutschjüdischen Emigration Januar 2006, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-441-7

Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik 2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 3-89942-367-4

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge

Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-211-2

Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie 2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-159-0

Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz 2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-75-0

2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-273-2

Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-325-9

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