Natur - Mensch - Recht: Elemente einer Theorie der Rechtsbefolgung [1 ed.] 9783428498314, 9783428098316

Vollzugsdefizite im Recht werden als Phänomen inzwischen allgemein zur Kenntnis genommen und problematisiert. "Erfu

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Natur - Mensch - Recht: Elemente einer Theorie der Rechtsbefolgung [1 ed.]
 9783428498314, 9783428098316

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ANDREAS FIS AHN

Natur - Mensch - Recht

Schriften zur Rechtstheorie Heft 190

Natur - Mensch - Recht Elemente einer Theorie der Rechtsbefolgung

Von Andreas Fisahn

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fisahn, Andreas:

Natur - Mensch - Recht : Elemente einer Theorie der Rechtsbefolgung / von Andreas Fisahn. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 190) ISBN 3-428-09831-5

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09831-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die Arbeit wurde während meiner Beschäftigung an der Forschungsstelle für Europäisches Umweltrecht an der Universität Bremen erstellt. Die motivationale Quelle für die Arbeit bildete der Zweifel, der Zweifel einerseits an den Allmachtsphantasien der Politik, die im Diskurs des Müssens zum Ausdruck kommen: „ . . . dann müssen wir dafür sorgen . . A u f der anderen Seite stand der Zweifel an der Mode des Steuerungspessimismus in der Wissenschaft, bei dem ich den Verdacht nicht los werde, dass er der Frustration der Einflusslosen oder den Berechnungen der Einflussreichen entspringt. Am Ende habe ich gestaunt, wie produktiv der Zweifel gewendet werden kann. Für die aufwendigen Korrekturarbeiten danke ich vor allem Ingrid Sommer, für die vielen Diskussionen danke ich Dr. Imke Sommer und Dr. Silke Benjes sowie für die kritische Durchsicht Prof. Dr. Alfred Rinken, Prof. Dr. Gerd Winter und Herbert Sommer. Ein Dank für die moralische Unterstützung geht an die Mensagruppe. Für das offene und zugleich ironisch-kritische (Diskussions-)Klima an der Forschungsstelle für Europäisches Umweltrecht bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar. Bremen, Februar 1999

Andreas Fisahn

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

15

1. Kapitel Konzeptionen der Rechtsbefolgung

A. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht I. Vollzugsdefizit im Wasserrecht - Querschnittsbetrachtungen 1. Mangelnde Umsetzung rechtlicher Standards

27 29 29

a) Konstanzer Wasserrecht

29

b) Industrieabwässer der Bundesrepublik

30

2. Norm - Interaktion - Bargaining

32

a) Kommunale „Gegenwehr"

32

b) Implementation in Unternehmen

33

c) Interaktion im Nordharz

35

3. Probleme des Forschungsansatzes II. Umweltnormen im Längsschnitt III. Recht und Steuerung 1. Theoretische Konsequenzen der Querschnittsbetrachtungen

35 38 41 41

a) „Dickicht der Behörden"

41

b) Politikverflechtung

42

c) Autopoetische Kommunikation

43

d) Grenzen regulativen Rechts 2. Fazit und Problemstellung

44 45

3. Theorieangebote

49

8

Inhaltsverzeichnis

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem I. Die klassische Argumentation - Hobbes II. Die ökonomische Theorie des Rechts - Rechtsbefolgung als Kosten-NutzenKalkül III. Neue politische Ökonomie - Die Kritik des Ordnungsrechts

C. Objektiver Soziologismus I. Dürkheim - Recht als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität

52 52 57 67

72 73

1. Dürkheims Fragestellung

73

2. Arbeitsteilung und gesellschaftliche Solidarität

75

3. Formen der Solidarität und Formen des Rechts II. Die Psychoanalyse und die Internalisierung von Werten III. Programmierung durch internalisierte Werte - Parsons 1. Handlung - Norm - Recht

77 85 90 90

a) Probleme der Interpretation Parsons

90

b) Orientierungsmodi

93

c) Normative Muster

94

d) Internalisierung von Werten und Normen

97

e) Die Handlungstheorie als Grundlage der Systemtheorie

98

f) Normative Integration von Handlung und Gesellschaft

100

g) Recht und Handlungstheorie

101

2. Systemtheorie und Recht

103

a) Grundlagen des Systembegriffs

103

b) Grundannahmen der späten Systemtheorie

104

c) Legitimation der normativen Ordnung durch das kulturelle System 3. Die Funktionen des Rechts

105 107

a) Recht im Kontext der Systemtheorie

107

b) Probleme des objektivistischen Verständnisses von Recht

108

D. Rechtsbefolgung und Legitimation I. Materiales Natur-und Vernunftrecht 1. Problemstellung

111 113 113

Inhaltsverzeichnis

2. Lösung - unrichtiges Recht

114

3. Konsequenzen für die Rechtsbefolgung

115

II. Legitimität durch Legalität

119

1. Max Weber: Legalitätsglauben und legitime Herrschaft

119

2. Legalitätsglaube und Rechtsbefolgung

123

a) Legalitätsglaube und Rationalisierung

124

b) Schwächung des Legalitätsglaubens aufgrund traditionaler Vorbehalte gegenüber der modernen Legalität 126 3. Legitimation durch Verfahren - Zustimmung der Rollenspieler

128

a) Integration des Verfahrensbeteiligten - Gerichtsverfahren

129

b) Ambivalenz des Verfahrens

130

c) Wahl verfahren

132

III. Demokratie - Akzeptanz durch Zustimmung? 1. Versuch einer Systematisierung

135 135

a) Die liberale Auffassung

137

b) Die republikanische Auffassung

138

c) Staatsdenken

140

d) Verfassungsdenken

141

2. Demokratiekonzeption und Rechtsbefolgung

142

a) Republikanisches Staatsdenken und Rechtsbefolgung

142

b) Liberales Verfassungsdenken und Rechtsbefolgung

143

c) Republikanisches Verfassungsdenken und Rechtsbefolgung

144

3. Resümee

148

2. Kapitel Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

A. Giddens Theorie der Strukturierung I. Dualität der Struktur - Re-Produktion und Handeln

154 156

1. Sprache - Handeln - Praxis

157

2. Intention und Handeln

160

3. Handeln und Unbewusstes

164

10

Inhaltsverzeichnis

II. Das Konzept der Alltagsroutinen - Garant der Reproduktion 1. Grundbegriffe des psychischen Apparats

166 166

a) Unbewusstes und Bewusstes

166

b) Praktisches und diskursives Bewusstsein

167

2. Fundierungen: Lebenswelt und Seinsgewissheit a) Routinisierungen in der Lebensweltanalyse

169 170

(1) Lebens weit

170

(2) Wissensvorrat

172

(3) Erfahrung und Relevanz

174

(4) Routinesituationen

175

(5) Gewohnheitswissen b) Probleme 3. Alltagsroutinen und Sicherheitsbedürfnis

176 178 181

III. Alltagsroutinen in der Interaktion

183

1. Takt und (soziale) Regeln

183

2. Rolle und soziale Regel

186

3. Sozial-und Systemintegration

188

B. Struktureller Zwang - Kreatives Handeln - Regeln I. Freiheit und struktureller Zwang

194 194

1. Beschränkung - Macht - Freiheit

197

2. Reflexive Systemreproduktion und praktisches Bewusstsein

201

Exkurs: Reflexivität der Moderne 3. Raum-Zeit-Geographie

204 205

II. Strukturreproduktion und kreatives Handeln

207

1. Wissen um die Ressourcenverteilung

208

2. Kreatives Handeln - eine andere Konzeption der Freiheit

209

3. Probleme der doppelten Hermeneutik

212

III. Regeln und Lernprozesse 1. Differenzierungen des Regel-Begriffs

215 215

a) Das Problem des Regel-Befolgens (Wittgenstein)

216

b) Implikationen der sozialen Technik

220

c) Werte und Technik

222

Inhaltsverzeichnis

2. Kritik: Recht und Regeln

223

a) Gesetz und Regellernen

223

b) Struktureller Zwang und Sanktion

226

3. Strukturen jenseits von Wissen und Routinen

C. Elemente einer „Theorie der Praxis" - Pierre Bourdieu I. Zwischen Strukturalismus und Existentialismus 1. Kritik des Objektivismus

227

229 230 230

a) Kritik der objektivistisch-strukturalistischen Linguistik

231

b) Althusser

232

c) Lévi-Strauss

234

d) Bourdieus Kritik

234

e) Soziale Praktiken und Unbewusstes

236

2. Regelbefolgung

237

3. Kritik des Subjektivismus

238

II. Struktur und Praxis - der Kontext der Habitus-Theorie 1. Ökonomie und Strategie - die Entwicklung der Begriffe 2. Die französische Gesellschaft - die drei Formen des Kapitals

241 241 244

a) Die verschiedenen Arten des Kapitals

244

b) Der Gleichklang von Kapitalverteilung und Lebensstil

247

3. Ökonomie der Felder III. Habitus 1. Unterschiedliche Dimensionen des Habitus

250 251 252

a) Geschmack - die individuelle Dimension des Habitus

252

b) Hexis - die körperliche Einübung des Habitus

253

c) Praktischer Sinn - Orientierung in der Ökonomie des Feldes

255

2. Habitus - inkorporierte Struktur

258

a) Strukturierende Struktur

258

b) Strukturierte Struktur

260

(1) Konditionierung und äußere Zwänge

260

(2) Symbolische Ordnung

262

(3) Dispositionen; Klassifikationsschemata

264

c) Die Formen der Aneignung des Habitus

266

12

Inhaltsverzeichnis

3. Kritische Würdigungen

268

a) Einordnungen

268

b) Strukturdeterminismus?

268

(1) Das epistemologische Argument

270

(2) Das Argument des oversocialized man

271

(3) Lernprozesse und die Veränderung des Habitus

273

(4) Reflexiv-rationale Steuerung

274

c) Resümee

275

3. Kapitel Theorie der Rechtsbefolgung

A. Vorbewusste Ordnung - reflexive Ordnung: Begriffsklärungen

279

I. Elemente einer Theorie der Rechtsbefolgung in den Werken von Bourdieu und Giddens 280 II. Vorbewusste Ordnung

287

1. Ordnung struktureller Zwänge

289

2. Symbolische Ordnung

291

a) Normativ-ethische Muster

292

b) Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata

292

Exkurs: Klassifikationsschemata und die Konstruktion des Gegenständlichen 293 c) Allgemeine Verfahrensschemata 3. Einheit und Dichotomie der vorbewussten Ordnung

300 303

III. Reflexive Ordnung

313

Exkurs: Rechtsbegriff der reflexiven Ordnung

316

B. Divergenz und Konvergenz - der Wirkmechanismus des Rechts I. Widersprüche zwischen den Ordnungen

324 324

1. Reflexivität: Interpretation und Überschreiten der vorbewussten Ordnung ... 325 2. Die Verarbeitung von Widersprüchen in der reflexiven Ordnung

328

Inhaltsverzeichnis

3. Widersprüche in der vorbewussten Ordnung

330

a) Nachhinken der reflexiven Ordnung

330

b) Vorauseilen der reflexiven Ordnung

331

c) Hegemonie und Abweichung

333

II. Divergenz - Konvergenz - Lernprozesse 1. Konvergenz 2. Divergenz

334 335 338

a) Steuerung abweichenden Verhaltens

339

b) Umsteuerung sozialer Praktiken

341

3. Lernprozesse III. Vorbewusste Ordnung und rationale Strategien

344 352

1. Interesse und vorbewusste Ordnung

352

2. Nebeneinander von reflexiver und vorbewusster Ordnung

360

3. Vorbewusste Ordnung und Vorverständnis

363

a) Probleme der rechtsmethodologischen Orthodoxie

363

b) Theorie der Praxis der Normanwendung

367

c) Vorbewusste Ordnung und Vorverständnis

373

C. Divergenz und Konvergenz in verschiedenen Rechtsgebieten I. Konvergenzen: Zivilrecht II. Divergenzen: Sozialstaatliche Rechte III. Divergenzen: Umweltrecht

376 377 382 388

1. Aspekte der vorbewussten Ordnung im Hinblick auf die natürliche Umwelt 390 a) Erweiterte Produktion und Stoffverbrauch

390

b) „Freier" Naturverbrauch und Natur als Feind

399

2. Durchschlagen der vorbewussten Ordnung - Beispiele aus dem Umweltrecht 405 a) Eingriffsregelung

405

b) Die Symbolik des Goldfisches

415

3. Synthese

424

Literaturverzeichnis

430

Personen- und Sachwortverzeichnis

449

Einleitung In der umweltrechtlichen Debatte ist das Vollzugsdefizit zu einem Allgemeinplatz geworden, der die Kritik des Rechts ebenso beflügelt wie dessen Rechtfertigung. Die Kritik zieht das Vollzugsdefizit als Argument heran, um Überkomplexität, Verrechtlichung und Normenflut im Umweltrecht oder im Recht der Risikoregulation zu beklagen; die Apologie schließt aus dem Vollzugsdefizit nicht auf die Schwäche des Rechts, sondern auf die Schwäche seiner Durchsetzung, auf mangelnde Kompetenzen, Neigungen oder Kapazitäten der mit dem Vollzug betrauten exekutivischen Organe. Entsprechend unterschiedlich fallen die Therapievorschläge aus: die einen setzten - idealtypisch - auf ein selbstexekutives Recht in einem schlanken Staat, die anderen setzen auf die Stärkung der Vollzugsorgane, eine höhere Kontrolldichte und -möglichkeit seitens des Staates und betroffener oder beteiligter Bürger oder Verbände. So unterschiedlich die Symptome wahrgenommen werden, so unterschiedlich fällt auch die Therapie aus. Das gibt Anlass zu der Frage, welche Steuerungsleistungen Recht denn erbringen kann, wie Recht „vollzogen" wird, von wem es unter welchen Bedingungen befolgt, missachtet oder einfach ignoriert wird. Auch hier lassen sich - idealtypisch - zwei grobe Richtungen unterscheiden: die Steuerungsskeptiker weisen auf die Grenzen der intentionalen, zielgerichteten Steuerung durch Recht hin und akzeptieren allenfalls die Möglichkeit von Steuerung unter einem veränderten Steuerungsbegriff, der der Steuerung durch die „invisible hand" des Marktes entlehnt ist, die unabhängig vom Willen und Wissen der Akteure die Verteilung von Ressourcen „steuert". Damit wird Intentionalität und Zielgerichtetheit, das zielgerichtete Ansteuern bestimmter Orte oder Zustände, gegen den allgemeinen Sprachgebrauch aus dem Steuerungsbegriff hinausdefiniert. Die Apologeten der Steuerung durch Recht, insbesondere die Praktiker der politischen Gestaltung, halten am klassischen Steuerungsbegriff fest und gehen davon aus, dass rechtliche Normen und rechtlicher Zwang das Handeln von individuellen Akteuren mehr oder weniger effektiv bestimmen und gesellschaftliche Zustände gestaltet, intentional angesteuert werden können. Weder die Skepsis der einen noch der Optimismus der anderen erschien mir am Ausgangspunkt meiner Überlegungen besonders überzeugend. Schon die Alltagserfahrung und -beobachtung lehrt, dass die Steuerung durch Recht - den klassischen Steuerungsbegriff vorausgesetzt - ζ. T. sehr erfolgreich ist, ζ. T. das Ziel zu verfehlen scheint, in vielen Fällen aber als mehr oder weniger langwierige Annäherung an das Steuerungsziel zu beschreiben ist. Oder anders herum: ein Teil der rechtlichen Vorschriften wird von den Rechtsadressaten „befolgt", andere Teile

16

Einleitung

werden offenbar nicht „befolgt" oder nur annähernd „befolgt", das Handeln wird nur über längere Zeitspannen umgestellt. Diese Alltagsbeobachtung bietet genug Veranlassung den Bedingungen der Rechtsbefolgung oder Nichtbefolgung genauer nachzugehen, zu versuchen, die unterschiedlichen Wirkungsweisen des Rechts aufzuspüren, den Wirkmechanismus des Rechts zu erklären, ohne dass einseitig nur der Steuerungserfolg oder Steuerungsmisserfolg in den Blick gerät. Möglich erscheint dies durch eine Konzeption, die zwischen Struktur- und Handlungstheorie vermittelt, was impliziert, dass die handlungstheoretischen oder subjektiven Modelle der Rechtsbefolgung ebenso unzureichend sind wie die strukturtheoretischen oder objektiven Modelle des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft. Dies macht es notwendig, zunächst diesen Erklärungsansätzen in ihrem handlungs- und strukturtheoretischen Kontext im Hinblick auf die Relevanz für eine Theorie der Rechtsbefolgung kritisch nachzuspüren. Das geschieht im ersten Kapitel. Im zweiten Kapitel werden anhand der praxistheoretischen Überlegungen von Anthony Giddens und Pierre Bourdieu Ansätze einer Vermittlung von Struktur- und Handlungstheorie oder von Subjektivismus und Objektivismus aufgezeigt und diskutiert, die im dritten Kapitel fruchtbar gemacht werden für die Konstruktion einer Theorie der Rechtsbefolgung, die versucht Steuerungsleistungen und misserfolge des Rechts im Blick zu behalten. Das wiederum führt zu dem Versuch, die theoretischen Konzeptionen an verschiedenen Regulierungsbereichen „auszuprobieren", d. h. von der Theorie der Rechtsbefolgung auf die Wirklichkeit des Rechts und auf das Recht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zurückzukommen. Dieser grobe Überblick über die Teile der Untersuchung soll hier weiter differenziert werden, so dass der Gedankengang der Untersuchung sichtbar wird. Eine genaue Betrachtung exemplarisch ausgewählter Studien zum Vollzug des Umweltrechts, konkreter zum Vollzugsdefizit im Wasserrecht zeigt, dass das Vollzugsdefizit nicht statisch verstanden werden kann. Querschnittsbetrachtungen ergeben eine Abweichung des Ist-Zustandes vom rechtlich intendierten oder gebotenen Sollzustand, führen also zu dem Ergebnis, dass ein Vollzugsdefizit existiert, die rechtlichen Normen nur unzureichend in die soziale Wirklichkeit transferiert werden. Längsschnittbetrachtungen, also Analysen der Entwicklung des Ist-Zustandes unter dem Gesichtspunkt der Durchführung umweltrechtlich gebotener Maßnahmen oder der Einhaltung vorgeschriebener Standards und Grenzwerte über einen längeren Zeitraum zeigen jedoch, dass eine Annäherung des Ist-Zustandes an den rechtlich gebotenen Soll-Zustand erfolgt. Das Umweltrecht wird über die Zeit nicht immer „gleich schlecht" befolgt und umgesetzt, sondern es sind langfristige Veränderungen im Verhalten der Rechtsadressaten mit entsprechenden positiven Wirkungen unter dem Aspekt der rechtlichen Zielvorgaben zu beobachten. Dieses Ergebnis empirischer Untersuchungen (1. Kap. A.) lässt sich durch Alltagsbeobachtungen bestätigen. Dies ist der Ausgangspunkt für die Suche nach Erklärungsmodellen für die Rechtsbefolgung oder den Wirkmechanismus des Rechts. Dabei stößt man zu-

Einleitung

nächst auf einen Erklärungsansatz, der sich durch den Begriff subjektivistischer Juridismus kennzeichnen lässt. Er dürfte die „gängige" Vorstellung von Rechtsarbeitern über den Wirkmechanismus des Rechts und die Gründe für Rechtsbefolgung sein. Dem subjektivistischen Juridismus liegt die Vorstellung einer rational-bewussten Kalkulation der Vor- und Nachteile der Rechtsbefolgung unter Einbeziehung ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit zugrunde. Dieses Modell wird unter Einbeziehung seiner handlungstheoretischen Grundlagen insbesondere im ersten Kapitel (1. Kap. B.) kritisch diskutiert, die Kritik durchzieht aber wegen der vergleichsweise großen Verbreitung dieses Erklärungsansatzes die gesamte Untersuchung. Kritisiert wird handlungstheoretisch, dass dieses Modell der Wirkmechanismen des Rechts die Rechtsadressaten weitgehend überfordert, strukturtheoretisch, dass beschränkende oder konstitutive außerrechtliche Bedingungen individueller Handlungen unzureichend berücksichtigt werden. Das bedeutet nicht, dass es nicht Handlungsbereiche oder -Situationen gibt, in denen dieses Modell zumindest vordergründig zutreffend ist, es scheint nur nicht geeignet, das alltägliche Handeln mit Rechtsbezug zu erfassen. Das Gegenmodell wird als objektivistischer Soziologismus bezeichnet. Recht wird nach diesem Modell aus objektiven Strukturen, strukturellen Zwängen, konsensualen Wertvorstellungen oder systemischen Anforderungen nur abgeleitet. Erörtert werden exemplarisch die Konzeptionen von Durkheim und Parsons (1. Kap. C.); andere objektivistische Konzeptionen wie etwa die von Althusser oder Luhmann werden im Verlauf der weiteren Untersuchung einbezogen. Zusammenfassend lässt sich der objektivistische Soziologismus dadurch charakterisieren, dass den durch objektive Strukturen determinierten Handlungsweisen der Vorrang vor „freien" Handlungsentscheidungen eingeräumt wird. Recht bekommt dann nur die Funktion, die sich aus den Strukturen ergebenden Regeln oder Erwartungshaltungen interpretierend aufzugreifen, zu fixieren und so über die Zeit zu stabilisieren. Recht verliert seinen Charakter als Steuerungsinstrument, das intentional verändernd auf die Gesellschaft einwirkt, d. h. die Bedeutung des frei gesetzten, intentional gestaltenden Rechts wird durch den objektivistischen Soziologismus vernachlässigt. In einem dritten Schritt werden Legitimationstheorien auf ihre impliziten Vorstellungen zum Wirkmechanismus des Rechts bzw. des legitimen Rechts befragt (1. Kap. D.). Dabei zeigt sich, dass die Legitimationstheorien Erklärungsansätze des Juridismus und des Soziologismus aufgreifen und spezifisch miteinander verkoppeln, ohne dadurch jedoch den Widerspruch zwischen beiden Modellen aufzuheben und ein adäquates Modell der Rechtsbefolgung zu entwickeln. Diskutiert werden die modifizierten Naturrechtstheorien, die dem subjektivistischen Juridismus einen objektiven Wertekonsens, konsensuale Vorstellungen über Gerechtigkeit und gerechtes Recht hinzufügen, anhand derer die Normimperative von den Akteuren überprüft werden sollen. Umgekehrt knüpfen Legalitätstheorien an objektive Bedingungen und Beschränkungen der Handlungsoptionen an und verlängern sie 2 Fisahn

18

Einleitung

in die subjektive Entscheidung des handelnden Akteurs, der dann legale oder verfahrenskonforme Entscheidungen als legitim anerkennt. Schließlich werden demokratische Legitimitätstheorien diskutiert, bei denen sich der Dualismus von Juridismus und Soziologismus streckenweise ebenso wiederfindet. Das liberale Verfassungsdenken, das vom republikanischen Staatsdenken und vom republikanischen Verfassungsdenken idealtypisch unterschieden wird, verlängert beispielsweise den Juridismus in Legitimitätskalküle mit Bezug auf demokratische Prozeduren und Entscheidungen. Ein erster Ansatz zur Aufhebung des Dualismus kann im republikanischen Verfassungsdenken ausgemacht werden, das über die enge Verflechtung diskursiver Prozesse in der Gesellschaft mit der administrativen Macht des Staates die Rechtsetzung und Rechtsbefolgung gleichsam als zwei Seiten derselben Medaille versteht und die Rechtsetzung in die Gesellschaft, die auch Adressat der Norm ist, zurückholt, so dass dieselben diskursiven Prozesse die Selbst-Gebung und Selbst-Befolgung der gesetzlichen Normen begleiten. Das Problem dieses normativen Modells der Demokratie ist, dass es normativ bleibt und kontrafaktisch argumentiert. Erforderlich ist über diese Grundannahmen hinaus eine Entfaltung der angenommenen Wirkung diskursiver Reflexion auf Norm und Praxis für den Vollzug bzw. die Befolgung der Norm. Die Kritik an den angesprochenen Modellen der Wirkmechanismen des Rechts gibt Anlass, nach theoretischen Ansätzen Ausschau zu halten, die den Dualismus von Handlungs- und Strukturtheorie oder von Subjektivismus und Objektivismus aufzuheben versuchen. Solche Ansätze können in der „Theorie der Strukturierung" von Anthony Giddens und der „Theorie der Praxis" von Pierre Bourdieu ausgemacht werden. Diese werden im zweiten Kapitel im Hinblick auf die für eine Theorie der Rechtsbefolgung relevanten Aspekte kritisch rezipiert. Giddens „Theorie der Strukturierung" (2. Kap. A.) lässt sich durch das Theorem der „Dualität der Struktur", das durch die Konzeption der Alltagsroutinen fundiert wird, charakterisieren. Dualität der Struktur meint, dass Strukturen durch Handeln produziert und reproduziert werden und gleichzeitig dem Handeln als Struktur vorausliegen und in das Handeln selbst eingelassen sind. Die Struktur wird re-produziert durch Handeln, das wiederum durch die Struktur re-produziert zu denken ist. Strukturen gehen als Bedingungen und Voraussetzungen in das Handeln individueller Akteure oder kollektiver Akteure ein, ohne allerdings deren Handeln zu determinieren. Sie werden durch Handeln re-produziert, das über Raum und Zeit hinweg verknüpft gedacht werden muss. Zentral für diese Verknüpfung werden bei Giddens die Alltagsroutinen. Diese werden verstanden als routinisiertes, gleichsam automatisch ablaufendes, situationsadäquates Handeln, das Probleme und Situationen alltäglicher Interaktion aufgrund verarbeiteter Erfahrungen dieser Situationen und Strukturbedingungen standardisiert bewältigt. Das Konzept der Alltagsroutinen ermöglicht es anzunehmen, dass über gleichförmige, standardisierte und routinisierte Handlungen Raum und Zeit verknüpft werden und so Strukturen produziert und reproduziert werden.

Einleitung

19

Diese Konzeptionen müssen, um recht verständlich zu werden, weiter ausgeführt werden, schon hier kann jedoch angedeutet werden, dass das Konzept der Alltagsroutinen und der Dualität der Struktur ein Trägheitsmoment im sozialen Leben zutage fördert, das geeignet scheint, Widerstände gegen politisch-rechtlich intendierte Veränderungen zu erklären, ohne in einen objektivistischen Strukturdeterminismus zu verfallen, der zu der Annahme führt, dass sich intentionale Steuerungsversuche an der Struktur brechen. Denn die Alltagsroutinen sind bei Giddens nicht endgültig festgelegt, es sind keine im Unbewussten verankerten und in der frühkindlichen Entwicklung internalisierten Verhaltensmuster, die eine festliegende Programmstruktur beinhalten und durch Barrieren und Schranken gegen das Bewusste und strukturelle Veränderungen abgeschottet sind. Alltagsroutinen werden vielmehr im praktischen Bewusstsein verankert, das Giddens vom Unbewussten ebenso unterscheidet wie vom diskursiven Bewusstsein. Die Verankerung der Alltagsroutinen im praktischen Bewusstsein zwischen verdrängtem Unbewussten und reflexiv Bewusstem ermöglicht die Annahme, dass das Wissen und die Kenntnisse des praktischen Bewusstseins rationalisiert, d. h. diskursiv verflüssigt werden können und damit diskursiv-bewussten Veränderungs- und Lernprozessen zugänglich sind. Kritisch wird anschließend (2. Kap. B.) Giddens Konzeption des Verhältnisses von Freiheit und strukturellem Zwang, sein Regel-Begriff, sowie sein „klassisches" Verständnis des Regel-Lernens diskutiert. Giddens Konzeption der Freiheit wird unter Bezugnahme auf Joas eine Konzeption des kreativen Handelns gegenübergestellt. Die Diskussion des Regelbegriffs führt zu einer genaueren Bestimmung der Regel, wobei die Unterscheidung zwischen regulativen Regeln, die mit einem normativen Gebot verbunden sind, konstitutiven Regeln, die Deutungs- und Bewertungsschemata begründen, und technischen Regeln, die situationsadäquates Handeln ohne ethische Implikationen begründen, aufgegriffen wird. In Bourdieus „Theorie der Praxis" (2. Kap. C) übernimmt der Habitus explizit die Vermittlung zwischen Handlung und Struktur. Der Habitus ist für Bourdieu strukturierende Struktur, indem er die Handlungen des Akteurs strukturiert, und strukturierte Struktur, soweit im Habitus die Strukturen der unterschiedlichen Ökonomien gesellschaftlicher Felder inkorporiert wurden. Der Habitus eines Akteurs generiert Handlungsweisen, die seiner Positionierung in dem jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsfeld angemessen sind. Über der Ökonomie eines Feldes angemessene Praxisweisen produzieren und reproduzieren die in diesem Feld agierenden Akteure dessen Kräfteparallelogramme und Strukturen, die sie sich gleichzeitig aneignen, nach Bourdieu „inkorporieren". Damit wird der körperliche Aspekt des Habitus betont, den Bourdieu gelegentlich durch den griechischen Begriff Hexis besonders kennzeichnet. In anderen Zusammenhängen werden andere Aspekte des Habitus hervorgehoben, nämlich der Geschmack, der insbesondere für die Generierung von unterschiedlichen Lebensstilen verantwortlich ist, oder der soziale Sinn, mit dem die routinisierte und „auto2*

20

Einleitung

matische" Orientierung in Interaktionen des Alltags umschrieben wird. Der Habitus kann als Oberbegriff für die verschiedenen Aspekte verstanden werden, welche die Akteure sich als Dispositionen aneignen und inkorporieren und die sich in deren Habitus und durch diesen generierte Praktiken niederschlagen. Bourdieu bezeichnet die durch den Habitus generierten Handlungsweisen als soziale Praxis oder soziale Praktiken. Im Unterschied zu Giddens betont Bourdieu die Bedeutung der strukturellen Zwänge für die Entstehung des Habitus wie für die sozialen Praktiken. Strukturelle Zwänge werden ebenso inkorporiert und angeeignet wie symbolische Wertungen, normativ-ethische Muster oder Deutungs- und Wahrnehmungsschemata, die eine Orientierung in der Interaktion ermöglichen und es erlauben, Vorgänge und Handlungen anderer Akteure richtig zu erfassen und zu bewerten. Der Habitus erscheint ebenso wie die Alltagsroutinen als Trägheitsmoment, das insbesondere die Reproduktion der Struktur gewährleistet und sich als Widerstand gegen intentional gesteuerte Veränderungen darstellt. Ebenso wie Giddens verankert Bourdieu in der Theorie der Praxis dynamische Momente, die zu evolutionären oder revolutionären Entwicklungen oder Umstrukturierungen führen können. Die soziale Praxis wird durch den Habitus oder die Struktur nicht determiniert, sondern er setzt gleichsam die Grenzen, innerhalb derer die Akteure Strategien entwickeln, um die der jeweiligen Ökonomie des Feldes entsprechende Maximierung von Profiten zu erreichen, wobei diese sehr unterschiedliche Formen annehmen können und sich keineswegs auf wirtschaftliche Profite beschränken. Der finanzielle Profit bestimmt vor allem die Ökonomie des wirtschaftlichen Feldes. Übergreifend bestimmt nach Bourdieu in modernen kapitalistischen Gesellschaften der Erwerb von Distinktionsmerkmalen die Strategien der Akteure. Die bewusste Verfolgung von Strategien in den Ökonomien der Felder schlägt sich in deren Kräfteprallelogrammen nieder, fließt in die Produktion und Reproduktion der Strukturen des gesellschaftlichen Feldes ein und wirkt letztlich auf den Habitus zurück, der als inkorporierte Struktur Wandlungs- und Lernprozessen unterliegt. Unterbelichtet bleiben bei Bourdieu jedoch reflexive Lernprozesse, die auf den Habitus zurückwirken. Eine der diskursiven Rationalisierung des praktischen Bewusstseins entsprechende Kategorie entwickelt Bourdieu nicht systematisch. Der Habitus und die Strategien werden gleichsam parallel zu den Strukturen gesellschaftlicher Felder verändert, entwickelt oder umstrukturiert. Die Bedeutung reflexiv-bewusster Handlungsentscheidungen bleibt auf die Strategiewahl beschränkt, kann die Grenzen des Habitus nicht überschreiten. Die Möglichkeit des Überschreitens dieser denkstrukturellen Zwängen und der symbolischen Ordnung entspringenden Grenzen wurde - in der Auseinandersetzung mit Giddens - als Möglichkeit kreativen Handelns eingeführt. Die Trägheitsmomente sozialer Praktiken und Chancen reflexiv-bewusster Prozesse und Lernprozesse sind im dritten Kapitel auf der Grundlage der „Theorie der Strukturierung" und der „Theorie der Praxis" unter dem Blickwinkel der Rechtsbefolgung, bzw. des Wirkmechanismus des Rechts neu zu bestimmen und weiter zu entwickeln.

Einleitung

Im abschließenden dritten Kapitel wird der Versuch der Konstruktion einer Theorie der Rechtsbefolgung unternommen, die unter Berücksichtigung der Kritik der erörterten Modelle des Wirkmechanismus des Rechts und im Anschluss an die praxistheoretischen Überlegungen von Giddens und Bourdieu Antworten auf die im Kontext der Diskussion um das Vollzugsdefizit aufgeworfenen Fragen zu geben sucht. Vorgeschlagen wird (3. Kap. A.) die Unterscheidung zwischen vorbewusster und reflexiver Ordnung, um die unterschiedliche Effizienz rechtlicher Normierungen in den Blick zu bekommen. Die Konstruktion der vorbewussten Ordnung knüpft an Bourdieus Konzept der Relation von Habitus und sozialer Praxis und an Giddens Konzept der Relation von praktischem Bewusstsein und Alltagsroutinen an. Die vorbewusste Ordnung ist gedacht gleichsam als Kondensat dieser Konzeptionen, das geeignet erscheint die Differenz zur Rechtsordnung deutlich zu machen. Vorgeschlagen wird weiter, die vorbewusste Ordnung zu unterteilen in eine Ordnung struktureller Zwänge und eine symbolisch Ordnung. Mit der Ordnung struktureller Zwänge soll die Verarbeitung, Aneignung und Inkorporierung struktureller Bedingungen des Handelns angezeigt werden, gegen die sich Akteure individuell nur unter in Kaufnahme von erheblichen Nachteilen auflehnen (können). Die Verarbeitung struktureller Zwänge in der vorbewussten Ordnung generiert soziale Praktiken, die die Existenz dieser Zwänge „automatisch" berücksichtigen ohne sie reflexiv-bewusst in das Handeln oder Handlungsentscheidungen einzustellen. Ähnliches gilt für die symbolische Ordnung als zweitem Aspekt der vorbewussten Ordnung, die wiederum nach unterschiedlichen Aspekten unterteilt werden kann, nämlich in normativ-ethische Muster, die sich als regulative Regeln beschreiben lassen, in Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die sich als konstitutive Regeln beschreiben lassen und in allgemeine Verfahrensschemata, die sich als technische Regeln beschreiben lassen. Diese Regeln fließen ebenso wie die Kenntnis der strukturellen Zwänge als unhinterfragtes, automatisch einbezogenes Wissen in die Generierung sozialer Praktiken ein, sind aber aufgrund ihres vorbewussten Status der Rationalisierung und reflexiv-diskursiven Problematisierung zugänglich. Die Verwendung des Begriffs Ordnung darf nicht missverstanden werden als geordnetes, widerspruchsfreies, in sich konsistentes Ensemble unterschiedlicher Aspekte. Die vorbewusste Ordnung muss vielmehr als mehrfach gespalten vorgestellt werden, wobei insbesondere zwischen hegemonialen und subversiven Aspekten unterschieden werden kann. Damit wird die vorbewusste Ordnung verdoppelt und von der Ebene des individuellen Akteurs auf die gesellschaftliche Ebene transportiert, womit an Giddens Verknüpfung von Raum- und Zeitdistanzen im Theorem der Dualität der Struktur angeschlossen wird. Durch den Begriff reflexive Ordnung wird die Rechtsordnung und das institutionelle Arrangement der Gesellschaft bezeichnet, das reflexiv produziert und gesetzt wird und auf das sich die Akteure reflexiv-bewusst beziehen. Die zentralen Thesen (3. Kap. B.) besagen, dass (scheinbare) Steuerungserfolge des Rechts dann konstatiert werden können, wenn vorbewusste Ordnung und reflexive Ordnung konvergieren, dass ein Steuerungsversagen oder Vollzugsdefizit des

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Einleitung

Rechts dann auftritt, wenn vorbewusste Ordnung und reflexive Ordnung divergieren. Eine langfristige Angleichung des Ist-Zustandes an den Soll-Zustand kann bei Divergenz der Ordnungen auf zwei Wegen erreicht werden, nämlich einmal durch Lernprozesse, die zu einer Umstrukturierung der vorbewussten Ordnung und der durch sie generierten Praktiken führen, was als realer Steuerungserfolg verbucht werden kann, oder durch den umgekehrten Prozess, der Umstrukturierung der reflexiven Ordnung anhand der Regeln der vorbewussten Ordnung, die als Vorverständnis in die Rechtsarbeit einfließt. Trifft das Recht auf eine divergierende subversive vorbewusste Ordnung, wird die Divergenz als abweichendes Verhalten auf mehr oder weniger segmentierter, individueller Ebene wahrgenommen, trifft es dagegen auf eine divergierende hegemoniale vorbewusste Ordnung, muss also die hegemoniale Praxis umstrukturiert werden, so hat man es mit einem verallgemeinerten „abweichenden" Verhalten zu tun, das phänomenologisch im Vollzugsdefizit oder Steuerungsversagen des Rechts sichtbar wird. Zur Begründung dieser Thesen ist in einem ersten Schritt die theoretische Möglichkeit einer Divergenz von reflexiver und vorbewusster Ordnung darzulegen. Relevant wird an dieser Stelle die Möglichkeit des kreativen Überschreitens vorhandener Strukturen und die Existenz von Widersprüchen in den Strukturen, zwischen gesellschaftlichen Feldern und innerhalb der vorbewussten Ordnung. Diese Widersprüche erlauben die Annahme, dass sich kollektive Akteure bei der Rechtsetzung über gegebene Strukturen hinwegsetzen können, dass sich die vorbewusste Ordnung des politischen Feldes von anderen gesellschaftlichen Feldern unterscheidet oder dass Widersprüche in der vorbewussten Ordnung in die eine oder andere Richtung aufgelöst werden, so dass in der Konsequenz eine große Anzahl von Akteuren sich in ihren sozialen Praktiken von den rechtlichen Anforderungen unterscheiden. Möglich ist, dass die Rechtsordnung der sozialen Praxis „hinterherhinkt" und deshalb eine Divergenz von vorbewusster und reflexiver Ordnung entsteht, oder aber, dass die Rechtsordnung der sozialen Praxis „vorauseilt" und deshalb eine Divergenz entsteht. Letzteres ist die Situation, in der Recht intentional als Steuerungsinstrument eingesetzt wird. Nach dieser Klärung der theoretischen Möglichkeit einer Divergenz der beiden Ordnungen werden die Konsequenzen von Konvergenzen und Divergenzen im Hinblick auf die Rechtsbefolgung theoretisch entfaltet. Die Ergebnisse orientieren sich an den soeben formulierten Thesen: bei einer Konvergenz von reflexiver und vorbewusster Ordnung entsprechen die sozialen Praktiken weitgehend den normativen Anforderungen. Der Rechtsapparat beschäftigt sich mit abweichendem Verhalten, das Recht stabilisiert die hegemoniale vorbewusste Ordnung. Bei einer Divergenz der Ordnungen widersprechen die sozialen Praktiken den normativen Anforderungen, der Rechtsapparat ist überfordert, das hegemoniale „abweichende" Verhalten zu kontrollieren, zu sanktionieren oder zu korrigieren. Recht übernimmt die schwierige Aufgabe die hegemoniale vorbewusste Ordnung zu destabilisieren und umzustrukturieren.

Einleitung

Eine Orientierung des Handelns am Recht, d. h. die Befolgung rechtlicher Gebote und Verbote ist dann vorstellbar als bewusst-kalkulierende Reflexion auf das Recht, wenn gleichsam kein Weg an ihm vorbei führt. Daneben existieren die „abweichenden" sozialen Praktiken dort, wo der Arm des Gesetzes zu kurz ist. Möglich sind aber auch Lernprozesse, die, durch das Recht initiiert, zu einer Umstrukturierung der vorbewussten Ordnung und der durch sie generierten Praktiken führen. Solche Lernprozesse sind vorstellbar als Verarbeitung des mit dem Recht verbundenen Zwangsmechanismus in der vorbewussten Ordnung oder durch eine Rationalisierung der sozialen Praktiken und deren reflexive Rückwirkung auf die vorbewusste Ordnung. Dieser Lernmechanismus scheint insbesondere eine Implikation demokratischer Verfahren zu sein, die damit Legitimität in Form der Rechtsfolgebereitschaft versprechen. Dabei geraten nur Lernprozesse in den Blick, von denen anzunehmen ist, dass sie durch Recht initiiert werden; außerrechtliche Lernimpulse, die erheblich stärker sein können als die rechtlichen und beispielsweise auf Erziehung, Psychotherapie, Ideologie, Religion oder ein verändertes strukturelles Arrangement rückführbar sein können, liegen hier außerhalb des Interesses, wenngleich ihre Wirkung auf das Rechts nach dem Divergenz-Konvergenzmodell gravierend sein kann. Im nächsten Schritt wird der umgekehrten Relation nachgegangen, dem Einfluss der vorbewussten Ordnung auf die reflexiv-bewusste Rechtsarbeit. Dabei wird zunächst ein naheliegender Einwand diskutiert, nämlich der, dass das Vollzugsdefizit konfligierenden Interessen geschuldet ist. Es wird gezeigt, dass der Interesse-Begriff allein wenig aussagekräftig ist, dass er aber sinnvoll mit Blick auf die vorbewusste Ordnung bestimmt werden kann. Es ist dann zu zeigen, dass die Angleichung von rechtlicher Norm und sozialer Praxis auch als Ausrichtung der Norm nach der Praxis zu denken ist, als gleichsam umgekehrter Lernprozess. Die Entfaltung dieser Möglichkeit verlangt einen Blick auf die Rechtsmethodologie. Dabei zeigt sich, dass die Rechtsarbeit keineswegs nur als Anwendung des feststehenden Norminhalts verstanden werden kann, in die Rechtsarbeit fließt vielmehr - hier wird Essers Analyse der Rechtsarbeit gefolgt - das Vorverständnis des Rechtsarbeiters ein. Dieses Vorverständnis muss nicht als individuelle Marotte, als subjektivistisches Vorurteil verstanden werden, sondern kann über den Begriff der vorbewussten Ordnung an gesellschaftliche Strukturen rückgekoppelt werden. Die Kategorie des Vorverständnisses in der Rechtsarbeit schafft einen Erklärungsansatz dafür, dass sich Recht der hegemonialen vorbewussten Ordnung und den hegemonialen sozialen Praktiken angleicht, so dass auch auf diesem Weg ein Vollzugsdefizit phänomenologisch verschwindet oder relativiert werden kann, wenngleich der bei der Normsetzung intendierte Steuerungserfolg ausbleibt. In einem abschließenden Teil (3. Kap. C.) wird versucht, die Divergenz-Konvergenz-These an unterschiedlichen rechtlichen Regelungsbereichen „auszuprobieren". Dabei wird die These verfolgt, dass in den „klassischen" Bereichen der Rechts, im nicht-interventionistischen Recht des liberalen Rechtsstaates eine weitgehende Konvergenz der Ordnungen besteht, während in den Bereichen des sozial-

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Einleitung

staatlichen und des risikoregulierenden Interventionsrecht eine Divergenz der Ordnungen wahrscheinlicher ist. Diese These wird an drei Beispielen erörtert: nämlich am Beispiel der Konvergenz von rechtlicher Regulierung und sozialer Praxis im Zivilrecht, konkret im Kaufrecht, am Beispiel der Divergenz von Recht und Praxis im Kündigungschutzrecht und schließlich am Beispiel der Divergenz im Naturschutzrecht. Im Zivilrecht liefert ein Vergleich der täglichen, routinemäßigen Praktiken, die beim Einkaufen ablaufen, mit der aufwendigen juristisch-dogmatischen Konstruktion des Vorganges einen Hinweis darauf, dass die Praxis sich nicht nach den rechtlichen Regeln richtet, sondern umgekehrt die rechtlichen Regeln weitgehend der Praxis folgen. Es findet bei den alltäglichen Geschäften eben keine bewusst-reflexive Ausrichtung des Handelns an den rechtlichen Geboten statt, sondern die rechtlichen Normen wurden umgekehrt den sozialen Praktiken abgeschaut, wofür auch die Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuches als Beleg herangezogen werden kann. Auf diese Weise muss am Ende eine weitgehende Konvergenz zwischen reflexiver und vorbewusster Ordnung entstehen, die durch die Rechtsordnung stabilisiert wird, während Korrekturen sich auf singuläres abweichendes Verhalten beziehen. Die Divergenz der Ordnungen im sozialstaatlichen Interventionsrecht wird anhand des Kündigungsschutzrechtes diskutiert, wo ebenso wie im Umweltrecht ein Vollzugsdefizit festzustellen ist. Obwohl das Kündigungsschutzrecht nach der Intention des Gesetzgebers den Arbeitnehmer vor unberechtigten Kündigungen schützen und ihnen den Arbeitsplatz erhalten sollte, ist es in der Praxis weitgehend zu einem Abfindungsrecht geworden, d. h. die unberechtigte Kündigung wird durch die Zahlung einer Abfindung „abgegolten". Versucht man die Handlungsentscheidungen zu rationalisieren, also nach den vorbewussten Beweggründen für diese Praxis zu suchen, geraten die strukturellen Zwänge der betrieblichen Hierarchie und die Symbolik des Eigentumsrechts in den Blick. Ihre Verarbeitung in der vorbewussten Ordnung kann erklären, warum sich auch die Arbeitnehmer regelmäßig mit der finanziellen Abfindung „abfinden", so dass es m.E. überzeugende Indizien gibt, dass die Divergenz von vorbewusster und reflexiver Ordnung in diesem Bereich zu einem Vollzugsdefizit des Rechts führt. Im Bereich des risikoregulierenden Interventionsrechts oder des Umweltrechts werden die Ergebnisse der Analysen zum Vollzugsdefizit zunächst vorausgesetzt und versucht, Strukturen der vorbewussten Ordnung zu analysieren, die sich gegen umweltrechtliche Regulationen sperren. Dabei gerät im Bereich der Ordnung der strukturellen Zwänge das Problem der Notwendigkeit zur erweiterten Reproduktion in einer nach dem Konkurrenzprinzip organisierten Wirtschaft in den Blick. Diskutiert wird das kontroverse Problem, inwieweit die erweiterte Reproduktion, der Zwang zum Wirtschaftswachstum notwendig mit einem Anstieg der Entropie, mit erweitertem Stoff- und Energieverbrauch" verbunden ist. Dabei ergibt sich, dass durch veränderte ethisch-normative Orientierungen oder veränderte Preis-

Einleitung

strukturen Gegentendenzen gegen eine Anstieg der Entropie entstehen können, die aber durch den Zwang zu beständigem Wachstum immer wieder aufgezehrt werden, was als struktureller Zwang gewertet werden muss, der in der vorbewussten Ordnung verarbeitet wird und zu gesellschaftlichen Praktiken führen muss, die sich gegen Gebote zum schonenden, sparsamen oder konstanten Verbrauch von Umweltressourcen sperren. Im Bereich der symbolischen Ordnung wird versucht, dekonstruktivistisch zu zeigen, dass sich das Mensch-Natur-Verhältnis in der Geschichte als Herrschaftsverhältnis oder Ausbeutungsverhältnis etabliert hat, das einen freien Naturverbrauch impliziert oder versucht den fremden und feindlichen Mächten der Natur „Herr zu werden", sie zu beherrschen. Diese entwicklungsgeschichtlich alte Symbolik und Einstellung gegenüber der Natur hinterlässt ihre Spuren auch in der symbolischen Ordnung zeitgenössischer Akteure, so dass eine Divergenz entsteht zwischen der Herrschaft über und der freien Ausbeutung der Natur und der rechtlichen Absicherung der Natur gegen willkürliche, unkontrolliert, freie Eingriffe der Menschen in die Natur. Auch hier ergibt sich ein Gesamtbild, dass eine Divergenz von vorbewusster Ordnung und rechtlicher Regulierung des Mensch-Natur-Verhältnisses zumindest nahe legt. Abschließend werden zwei Beispiele konkreter Rechtsnormen diskutiert, um zu zeigen, wie diese Strukturen der vorbewussten Ordnung sich konkret in Vollzugsdefiziten niederschlagen. Diskutiert wird zunächst die sog. Eingriffsregelung im Naturschutzrecht. Sie ist nach der Intention des Gesetzgebers darauf angelegt, den Landschafts"verbrauch" oder die Bodenversiegelung zu begrenzen bzw. sogar möglichst einzufrieren, was es prinzipiell möglich macht, infrastrukturelle oder andere Bebauungsprojekte aufgrund der Eingriffsregelung nicht zu genehmigen. Unter Rückgriff auf existierende empirische Untersuchungen zum faktischen Vollzug der Eingriffsregelung kann aber gezeigt werden, dass zum Zeitpunkt, in dem die notwendige Abwägung zwischen Naturschutz und anderen Belangen vorzunehmen ist, meist längst eine Vorentscheidung zugunsten des Projekts gefallen ist und nur noch über Ausgleich und Ersatz nachgedacht wird, die konsequenterweise zusammengezogen werden, obwohl sie dogmatisch auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind. Die konkrete Rechtsarbeit mit der Eingriffsregelung beugt sich, das kann geschlossen werden, wenn man die ebenfalls erforderlichen Überlegungen zum Bedarf hinzunimmt, dem Zwang zur erweiterten Reproduktion. Die Regelung wird zwar „angewendet" aber über das in die Rechtsarbeit einfließende Vorverständnis weitgehend im Sinne der überkommenden Praktiken „ausgelegt", so dass in der Gesamtbetrachtung eine Diskrepanz zum erklärten Ziel des Gesetzgebers entsteht. Zum Schluss wird ein Einzelfall auf die möglichen vorbewussten Strukturen, die dem Handeln der Akteure zugrunde lagen, analysiert. Es geht dabei um die Aussetzung von Goldfischen in ein Flüsschen, womit gegen ausdrückliche Bestimmungen des Tierschutz- und Fischereirechts verstoßen wurde. Interessant ist dieser Fall unter dem Gesichtspunkt der möglichen Symbolik, die die vorbewussten Ordnung strukturiert und die im Hintergrund der konkreten Entscheidungen möglicherweise mitschwang. Dabei wird die These entwickelt, dass das große In-

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teresse der Öffentlichkeit und die Entscheidung der Behörde nicht nur als uniformierte Tierliebe zu verstehen ist, sondern mit der Symbolik des Goldes verbunden ist. Auch in diesem konkreten Einzelfall spricht jedenfalls vieles dafür, dass die Nichtbefolgung des Rechts zumindest auch auf einen Konflikt zwischen vorbewusster Ordnung und den rechtlichen Geboten zurückzuführen ist. Damit konnte m.E. ein Modell der Rechtsbefolgung entwickelt werden, das über die eindimensionale Erklärung des Juridismus und des Soziologismus hinausweist, das nicht in einen radikalen Steuerungspessimismus oder einen blinden Steuerungsoptimismus mündet und das sich als taugliches Instrument zur Interpretation der unterschiedlichen empirischen Erscheinungsfomen der Rechtsbefolgung, des Vollzugsdefizits oder abweichenden Verhaltens erweist.

1. Kapitel

Konzeptionen der Rechtsbefolgung A. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht Im reformpolitischen Kontext der 60'er und 704er Jahre entstand zunächst in den USA 1 , dann in der Bundesrepublik 2 ein neues Forschungsgebiet im Grenzbereich zwischen Politologie, Sozialwissenschaften, Ökonomie sowie Rechts- und Verwaltungswissenschaften, die Evaluations- und Implementationsforschung. Den reformpolitischen Willen des Gesetzgebers unterstellend3, entwickelte sich ein Interesse der genannten Disziplinen an der Frage, inwieweit die Intentionen des Gesetzgebers, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verändern, praktisch umgesetzt werden. Bei antizipiertem oder festgestelltem Misserfolg stellte sich die Frage nach den Ursachen der „Erfolgsdefizite". 4 In den USA wurden die Sozialprogramme des New Deal durch eine staatliche nachgefragte Evaluationsforschung begleitet5, innerhalb derer die Implementationsfragestellung in dem Maße relevanter wurde, wie sich das Interesse von den letztendlichen Programmwirkungen auf den Prozessverlauf, den Durchführungsvariablen (Organisation, Personal, Instrumente) und ersten Programmergebnissen verlagerte. 6 Aufsehen erregte eine der ersten Fallstudien mit dem resümierenden Titel: „Implementation. How Great Expectations in Washington are dashed in Oakland; or: Why It's Amazing that Federal Programs Work at All, This Being a Saga of the Economic Development Administration as Told by Two Sympathetic Observers Who Seek to Build Morals on a Foundation of Ruined Hopes."7 Es entwi1

Vgl. den Überblick bei Williams, Social Policy Research and Analysis, passim. Vgl. zur Entwicklung: Wollmann, in: ders., Politik im Dickicht der Bürokratie, S. 9 ff. 3 Mayntz, in: dies. Implementation politischer Programme, S. 2. 4 An dieser Stelle trennen sich das Forschungsinteresse von Evaluation und Implementationsforschungen. Der Implementationsforschung geht es um die Erklärung des Misserfolges der Programmverwirklichung, die also mehr oder weniger vorausgesetzt wird, während die Evaluatonsforschung die Implementation politischer Programme als einen Teilschritt bei der Frage der Evaluierung betrachtet. (Vgl. Rossi, P. H./Freeman, H. E./Hofmann, G., Programm-Evaluation, S. 2 f. 5 Vgl. Hellstern / Wollmann, in: Haungs, P., Res Publica, Dolf Sternberger zum 70. Geburtstag, S. 415. 6 Wollmann, in: Politik im Dickicht der Bürokratie, S. 16. 7 Pressman / Wildavsky, Implementation, passim. 2

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

ekelte sich eine „Forschungskultur' 4, die aufzeigte, dass die Sozialprogramme der US-Bundesbürokratie sich im Dickicht bundesstaatlicher, einzelstaatlicher und kommunaler Zuständigkeiten einerseits sowie gesellschaftlichen Machtpositionen andererseits verloren, so dass sich die Auffassung durchsetzte: „Implementation was the Archilles heel of the Johnson Administration social policy." 8 In der Bundesrepublik entwickelte sich die wissenschaftliche Evaluation politischer Programme und die Implementationsforschung mit der „Politik der inneren Reformen", die die Bundesregierung nach 1968 angekündigt hatte. In den Mittelpunkt des Interesses rückte die Frage nach der Machbarkeit von Reformpolitik und deren Abhängigkeit vom organisatorischen, personellen, planungsinstrumentellen und informationellen Ausbau zentraler Planungskapazitäten.9 Umgekehrt stellte sich die Frage nach den binnenstrukturellen, gleichsam vom administrativen System selbstverschuldeten Umsetzungsdefiziten politischer Programme, die in theoretischen Konzeptionen als „negative Koordination" oder „selektive Perzeption" erfaßt wurden. 10 Zu den genannten Fragestellungen entwickelte sich ein reger Forschungsbetrieb. Erwähnt seien die Forschungen von F. Scharpf zur „Politikverflechtung", die darauf abzielten, den Handlungsverlauf und die Handlungsergebnisse einzelner Politikprogramme in ihrer Abhängigkeit von föderalen Strukturen und gesellschaftlichen Einflussnahmen herauszuarbeiten. 11 Im „Arbeitskreis lokale Politikforschung" entwickelte sich ein Forschungsschwerpunkt zum Zusammenhang zwischen gesamtstaatlicher Entwicklung und Veränderungsprozessen auf lokaler Ebene, wobei das Erkenntnisinteresse darin lag, die Abhängigkeit lokaler Handlungsspielräume, -prozesse und -ergebnisse von übergeordneten politökonomischen und juristischen Rahmenbedingungen aufzuzeigen. 12 Den „Höhepunkt" erreichte die Forschung mit dem 1976 gegründeten Projektverbund „Implementation politischer Programme" aus dem mehrere Studien zu verschiedenen Politikfeldern hervorgegangen sind. 13 Der Gegenstand der Implementationsforschung beschränkte sich dabei keineswegs auf das Umweltrecht bzw. umweltpolitische Programme, untersucht wurde vielmehr die gesamte Bandbreite der Felder reformpolitischer Projekte. Die Implementation umweltpolitischer Programme nahm innerhalb der Implementations- und Evaluationsforschung jedoch 8 Williams, W., aaO. S. 11. 9 Wollmann, aaO., S. 18. 10 Vgl. Mayntz/Scharpf, in: dies., Planungsorganisation, S. 115 ff. π Vgl. Scharpf/Mehwald/Schmitges/Schwarz, Stadtbauwelt 1974, S. 292; Scharpf/ Reissert/ Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg 1976; in diesen Kontext gehört auch: Schnabel, in: Wollmann, H. Politik im Dickicht aaO., S. 49; Garlichs, in: ebenda, S. 71. 12 Vgl. Evers / Lehmann, Politisch-ökonomische Determinanten für Planung und Politik in den Kommunen der BRD; Grauhan, Lokale Politikforschung. 13 Vgl. Anlage I; Übersicht über Projekte des Forschungsverbundes „Implementation politischer Programme" aus: Mayntz, R., Implementation politischer Programme, S. 18.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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eine prominente Stellung ein, was einerseits auf das erwachende Umweltbewusstsein Mitte der 70'er Jahre, bzw. den gestiegenen Problemdruck und andererseits auf die besondere Struktur, nämlich die hierarchische Implementationsstruktur im Umweltrecht, das weitgehend in öffentlicher Regie vollzogen wird, zurückzuführen ist. Innerhalb des erwähnten Projektverbundes wurde unter der Leitung von Renate Mayntz eine Studie zu umweltpolitischen Vollzugsproblemen erstellt 14 , deren Ergebnisse bis heute die Diskussion um Vollzugsdefizite im Umweltrecht 15 bestimmen. Für den Bereich des Umweltrechts lassen sich die vorliegenden Studien unterteilen nach den geschützten Medien, Luft, Wasser und Boden. Für die Medien Luft und Wasser gilt, dass deren Qualitätsentwicklung unter Berücksichtigung des Vollzugs gesetzlicher Vorgaben wissenschaftlich beobachtet wurde. Unter dem Medium Boden lassen sich recht unterschiedliche Problemfelder und Politikfelder, wie ζ. B. die Abfallpolitik oder die Naturschutzplanung zusammenfassen. 16 Hier sollen besonders die Studien zur Wasserreinhaltung interessieren. Differenziert werden kann auch nach Forschungsschwerpunkten. Stellte sich zunächst die Frage nach den innerstaatlichen Vollzugsschwierigkeiten und nach der Erfolgskontrolle legislatorischer Maßnahmen, rückte seit Mitte der 80' er Jahre die Frage nach der Umsetzung von EG-Normen in den Mitgliedstaaten in den Vordergrund des Forschungsinteresses, wobei der Untersuchungsgegenstand meist auf die normative Ebene beschränkt wurde. 17 Die weitaus überwiegende Zahl der empirischen Untersuchungen zur Umsetzung politischer Programme zur Wasserreinhaltung sind in der Mitte der 70'er Jahre durchgeführt worden.

I. Vollzugsdefizit im Wasserrecht - Querschnittsbetrachtungen 1. Mangelnde Umsetzung rechtlicher Standards a) Konstanzer Wasserrecht Winter 18 untersuchte die Anwendung des Wasserhaushaltsgesetzes bzw. der Behörden„politik" gegenüber drei Industriebetrieben, die im Raum Konstanz Industrieabwässer ungereinigt in umliegende Seen und den Rhein einleiteten. Das Ziel 14

Mayntz, R., Vollzugsprobleme im Umweltrecht, Stuttgart 1978. 15 Vgl. ζ. B. Lübbe-Wolff, Natur und Recht 1993, S. 217 (Fußnote 2. m.w.N.). 16 Vgl. die Übersicht bei: Übersohn, Folgerungen aus der Implementations- und Evaluationsforschung, passim. 17 Vgl. Demmke, Die Implementation von EG-Umweltpolitik in den Mitgliedstaaten, Umsetzung und Vollzug der Trinkwasserrichtlinie; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts; Dazu die Besprechung: Callies, Ch., in: ZUR 1995, S. 224. is Winter, G., Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, Berlin 1975.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

der Behörden war es, die drei Betriebe an das kommunale Kanalnetz anzuschließen und die Abwässer bei Kostentragungspflicht der Unternehmen zu reinigen. Festgestellt wurde eine zeitliche Verzögerung des beabsichtigten Anschlusses an das kommunale Kanalnetz bzw. der Reinigung der Industrieabwässer, eine letztendlich unvollständige Reinigung der Abwässer sowie eine weitgehende Sozialisierung der Kosten für die Reinigung.19 Als Grund für diese Vollzugsprobleme wurden rechtliche Defizite, d. h. ein mangelhaftes rechtliches Instrumentarium im Hinblick auf die Einflussmöglichkeiten von Umweltschützern (Beteiligungsrechte, Klagerechte) 20, verwaltungsstrukturelle Defizite (Bürokratisierungsgrad zentraler und dezentraler Behörden) 21, eine Inkongruenz rechtlicher und politischer Strukturen (rechtliche Eingriffsbefugnis bei gleichzeitiger politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit) 22 sowie eine Beschränkung der Handlungsspielräume durch ökonomische Zwänge und soziale Macht festgestellt. 23 b) Industrieabwässer der Bundesrepublik Mayntz 24 führte im Rahmen des erwähnten Projektverbundes die räumlich und quantitativ wohl umfangreichste Untersuchung zur Umsetzung politischer Programme zur Wasser- und Luftreinhaltung in den Jahren 1975 -1978 durch. In einer ersten Phase wurden Behördenleiter der mit der Abwasserbeseitigung beschäftigten Stellen in drei Bundesländern befragt. Aus dieser Befragung wurden dreizehn Fallstudien erstellt. In einer zweiten Phase der Studie sollte eine Totalerhebung bei allen Gewässerschutzbehörden der Flächenstaaten erfolgen, was aber an der Kooperation einiger Bundesländer scheiterte. Trotzdem wurde eine umfangreiche Stichprobenuntersuchung, die 66,3% der für den Gewässerschutz zuständigen Vollzugsbehörden erfasste, vorwiegend zum Problem der Direkteinleitung industrieller Abwässer durchgeführt. 25 Die Untersuchung stellte umfangreiches Material zur Einschätzung der Entwicklung der Wasserqualität durch die Behörden, zur internen Organisation der Gewässerschutzbehörden, zur personellen Ausstattung der Behörden, zu Informationsstand und Aktivitäten der obersten Wasserschutzbehörden, zur Beteiligung der Gewässerschutzbehörden bei Baugenehmigungen, Bauleitplanungen und Wirtschaftsfördermaßnahmen sowie zu Bürgerbeschwerden über mangelnde Wasserqualität zusammen. 19 Ebenda, S. 23. 20 Ebenda, S. 38 ff. 21 Ebenda, S. 34 ff., 44 ff. 22 Ebenda, S. 31 ff. 23 Ebenda, S. 48 ff. 24 Mayntz, Vollzugsprobleme der Umweltpolitik. 25 Ebenda, S. 13.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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Aufgrund der Fragen zur Überwachung, Kontrolldichte und Zielerreichung durch die Gewässerschutzbehörden konnten die Ergebnisse von Winter auf einer breiteren empirischen Basis bestätigt und ζ. T. differenziert werden. Die Kontrolldichte bei den Einleitern wurde als ausgesprochen defizitär bewertet, was die Behörden auf ihre mangelnden Überwachungskapazitäten zurückführten, die eine Konzentration auf die größten Gefährdungsfälle notwendig mache.26 Ziel der Behörden war die weitgehende Vermeidung von Direkteinleitungen und der Anschluss der Einleiter an das kommunale Abwassersystem einschließlich Kläranlage. Wiederum wurde festgestellt, dass dieses Ziel nur mit erheblicher Zeitverzögerung erreicht werden konnte.27 Das rechtliche Instrumentarium wurde gegenüber den Einleitern sehr zurückhaltend eingesetzt. Der Wert des regulativen Instrumentariums habe im wesentlichen in der Androhung seines Ansatzes bestanden.28 Ansonsten habe schon im Rahmen von Vorgesprächen zu einem Projekt wie im Genehmigungsverfahren selbst die Suche nach einem Konsens und nach informalen Absprachen dominiert, so dass oftmals zumindest praeter legem - wirtschaftliche Erwägungen in die Entscheidung einflossen. 29 Dieser Befund galt auch in Bezug auf Einleitungen ohne Genehmigungen, also illegale Einleitungen, die oftmals durch nachträgliche Genehmigungen legalisiert worden seien, sowie bei Sanierungserfordenissen für Einleiter mit zwar bestehenden aber rechtlich überholten Genehmigungen, die - ebenfalls zumindest praeter legem - selten widerrufen oder eingeschränkt worden seien.30 Aus der Sicht der Wasserschutzbehörden wurden informale Absprachen präferiert, um langwierige und arbeitsaufwendige Verfahren auf dem formalen Rechtsweg zu vermeiden. 31 Die Einleiter waren zu informalen Absprachen bereit, wenn ihre Belastung geringer ausfiel als bei einseitiger hoheitlicher Verfügung, wobei den wichtigsten Anreiz die zeitliche Streckung von Verbesserungsmaßnahmen darstellte.32 Ähnliche Schwierigkeiten bei der Durchsetzung umweltpolitischer Ziele wurden nach der Untersuchung von Mayntz u. a. von den staatlichen Gewässerschutzbehörden festgestellt, wenn es darum ging, die Kommunen mit dem wasserrechtlichen Instrumentarium zum Bau von Kläranlagen zu bewegen. Zwangsmaßnahmen seien gegenüber den Kommunen faktisch nicht durchsetzbar, in der Praxis wirksame Vollstreckungsmittel stünden den Fachbehörden im Ergebnis nicht zur Verfügung.33 Im übrigen verfügten die Kommunen über politische Kontakte zu Ministe26 Ebenda, S. 716 ff. 27 Ebenda, S. 647 ff. 28 Ebenda, S. 748. 29 Ebenda, S. 659 f. 30 Ebenda, S. 645, 750 f. 31 Ebenda, S. 755. 32 Ebenda, S. 758 f., 768. 33 Ebenda, S. 682 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

rien oder anderen gegenüber den Gewässerschutzbehörden weisungsbefugten Stellen, so dass auf diesem Wege Einfluss auf die Entscheidung der staatlichen Fachbehörden genommen worden sei. 34

2. Norm - Interaktion - Bargaining a) Kommunale „Gegenwehr" Diese Ergebnisse wurden bezüglich der kommunalen „Gegenwehr" in einer vertiefenden räumlichen Querschnittsuntersuchung in zehn Kommunen von Hucke, Müller, Wassen bestätigt.35 Ausgehend von der Frage, „warum die Gewässer weiterhin stark verschmutzt und die Landschaft durch Abfälle belastet wird" 3 6 , stellten Hucke u. a. ein unzureichendes Leistungsniveau der Kommunen bei der Abfallund Abwasserbeseitigung 37, mangelnde Planungsrationalität 38 und geringe Umweltadäquanz von Planung und Entscheidung fest. 39 Dies äußere sich in drei Merkmalen: - Die Errichtung notwendiger Einrichtungen werde oft über viele Jahre hinweg verzögert; - Einrichtungen seien teilweise bereits bei der Inbetriebnahme überlastet, - Häufig träten Nebenfolgen in Form der Belästigung von Anliegern der Einrichtungen auf. Das unzureichende Leistungsniveau und die mangelnde Planungsrationalität der Kommunen wurden von Hucke u. a. auf folgende Faktoren zurückgeführt: - Die kommunalen Verwaltungen hätten sich auf die Aufgaben, die traditionell zum kommunalen Leistungsspektrum gehören, beschränkt, während weitergehende Aktivitäten eines externen Anstoßes bedürften. Gleichzeitig würden Möglichkeiten zur Externalisierung von Problemen wahrgenommen, wenn die eigene Kommune nicht mehr sichtbar betroffen sei. 40 - Die staatlichen Instanzen beschränkten sich ihrerseits auf die grundsätzlichen und zentralen Forderungen ihres Aufgabenkreises, um angesichts der strukturellen Vollstreckungsprobleme, die Kommunen dazu zu bewegen, zumindest das Leistungsminimum zu erbringen, das als Minimalkonsens ausgehandelt werde 4 1 34 Ebenda, S. 558. Hucke/Müller/Wassen, Implementation kommunaler Umweltpolitik. 36 Ebenda, S. 336. 37 Ebenda, S. 225. 38 Ebenda. S. 141 ff. 39 Ebenda, S. 336. 40 Ebenda, S. 340. 41 Ebenda, S. 342. 35

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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Betroffene Bürger, aber auch die kommunalpolitischen Gremien nähmen im Implementationsprozess eine periphere Stellung ein, da sie gegenüber der Verwaltung informationell und technisch unterlegen seien. Kommunalpolitiker beschränkten sich in der Regel auf selektive Reaktionen in Abhängigkeit vom öffentlichen Problemdruck. 42 So entstehe eine „Aufmerksamkeitsteilung" zwischen Fachbehörden mit geringer außerordentlicher Handlungsbereitschaft einerseits und Kommunalpolitikern andererseits, die fast ausschließlich auf Anstöße aus der für sie dominanten Öffentlichkeit reagierten. 43 - Mängel wurden in der Struktur des kommunalen Entscheidungssystems ausgemacht, das aufgrund fehlender kontinuierlicher Aufmerksamkeit von Politik und Verwaltungsspitzen keine politischen Prioritäten setze und eine Tendenz zu kurzfristigen Lösungen unter Ausblendung längerfristiger Nebenfolgen besit_

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ze. - Schließlich wurde die mangelnde Duchsetzungsfähigkeit staatlicher Instanzen festgestellt, die auf ein mangelndes Instrumentarium einerseits und ein hohes „Widerstandspotential" der Behörden andererseits zurückgeführt wurde. 45

b) Implementation in Unternehmen Gleichsam aus umgekehrter Perspektive, aus der Sicht der Unternehmen wurde die Implementation wasserrechtlicher Bestimmungen von Ullmann untersucht. 46 Die Untersuchung erfolgte durch Befragung von 412 repräsentativ ausgewählten Unternehmen im gesamten Bundesgebiet, wobei sich der Berichtszeitraum auf die Jahre 1974-77 erstreckte. Arbeitshypothese der Studie war - anknüpfend an die zitierten Studien - die Vorstellung, dass „der vorherrschende Implementationsmodus einem Bargaining zwischen verschiedenen Akteuren auf verschiedenen Ebenen entspricht. Die Akteure sind mit anderen Worten bereit, an der Erreichung bestimmter Ziele Abstriche zu machen, wenn sie dafür ein Mehr an der Erreichung anderer Ziele „einheimsen" können.47 Zur Diskussion stand einerseits die Implementation der Abwasserabgabe und andererseits die Rolle und Funktion der betrieblichen Wasserbeauftragten. Dem Erkenntnisinteresse entsprechend stand die Interaktion zwischen Behörden und Betrieben beim Vollzug der Abwasserabgabe im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Ergebnisse lassen sich auf folgende Feststellungen zusammenfassen:

42 Ebenda, S. 225 ff., 343 f. 43 Ebenda, S. 346 f. 44 Ebenda, S. 350 ff. 45 Ebenda, S. 303 f. 46 Ullmann, Industrie und Umweltschutz. 47 Ebenda, S. 19. 3 Fisahn

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

- Die Betriebe schätzen die Kontrolldichte und Überwachung durch die Betriebe höher ein, als sie in Wahrheit war. Besonders bei kleinen Betrieben sei die Überwachung und Kontrolle nicht optimal. 48 - Die Kontakte zwischen Behörden und Betrieben, die nach direkten und indirekten Kontakten unterteilt wurden, nehme mit der Größe der Betriebe ab. Kontakte der größeren Betriebe zu den Behörden wurden als Mittel der Abwehrstrategie gegenüber einem „korrekten" Vollzug interpretiert. Aus diesem und jenem „Bargaining-Vorsprung", der sich aus den größeren wirtschaftlichen und Know-how Ressourcen der großen Betriebe ergebe, folge eine faktische Besserstellung der größeren Betriebe im Hinblick auf die umweltrechtlichen Anforderungen seitens der Behörden. Betriebe aus hochbelasteten Wirtschaftszweigen und Betriebe, die Meinungsverschiedenheiten mit den Umweltbehörden hatten, seien eher zur Kooperation bereit gewesen als andere. 49 - Auf übereinstimmende Ergebnisse mit der Studie von Mayntz u. a. wurde ausdrücklich für den Bereich der Einleitungssanierung verwiesen. 50 Gewährte Rechte wurden selten eingeschränkt oder widerrufen, informelle Absprachen über Sanierungsmaßnahmen bevorzugt. - Immerhin wurde auch ermittelt, dass eine nicht unbedeutende Anzahl von Betrieben im Berichtszeitraum Sanierungsmaßnahmen durchführten. Dabei sank die Bereitschaft mit abnehmender Betriebsgröße 51 Fast 90% der Betriebe hätten, nachdem sie die Rechtsvorschriften zur Abwasserabgabe zur Kenntnis genommen hatten, mit der Prüfung des Ist-Zustandes begonnen und eine Revision bzw. Überprüfung und Überarbeitung geplanter Vorhaben eingeleitet.52 Die „Eigeninitiative" der Betriebe wurde aber nur am Rande der Studie zur Kenntnis genommen, sie floss nicht in die „Theoriebildung" ein. - Von den 412 Betrieben hatten im Berichtszeitraum 59 neue Produktionsstätten gegründet, davon 34 im Inland und 25 im Ausland. Festgestellt wurde, dass die Gemeinden nach Verhandlungen über unterschiedliche umweltrechtliche Probleme bei der Neugründung (ζ. B. Emissionen, Interpretation von Stand der Technik usw.) Zugeständnisse an die Betriebe machten, die ζ. T. materiellrechtlich waren, ζ. T. in Fristverlängerungen für die Einführung erforderlicher Umwelttechniken bestanden.53

48 Ebenda, S. 47 ff. 49 Ebenda, S. 53 ff. so Ebenda, S. 68. 51 Ebenda, S. 67. 52 Ebenda, S. 42. 53 Ebenda, S. 75 ff.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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c) Interaktion im Nordharz Eine jüngere Studie von Schulz bestätigt Teile der von Ullmann gewonnenen Ergebnisse, geht aber nicht wesentlich darüber hinaus.54 Untersucht wurde durch teilnehmende Beobachtung, Befragung und ergänzendes Aktenstudium die Interaktion zwischen öffentlicher Verwaltung und Betrieben in der Region des Nordharzes und - das war eine Besonderheit - der Einfluss der Öffentlichkeit auf die Entscheidungsstrukturen, was im wesentlichen auf dem Wege der Ausweitung von Artikeln der Goslaer Zeitung geschah. Die Funktion des Umweltschutzbeauftragten, ergab die Studie erschöpfe sich weitgehend in der Spezialisierung auf den Behördenkontakt. 55 Er verstehe sich weniger als Anwalt für die Umwelt, sondern vielmehr als Vertreter der Öffentlichkeitsarbeit des eigenen Betriebes. 56 Bestätigt wurde erneut, dass Bargaining der entscheidende Faktor bei der Implementation von Umweltrecht sei. Dabei sei zu beobachten gewesen: - dass der Handlungsspielraum der Behörden mit der Größe des Unternehmens abnehme;57 - dass nicht institutionalisierte Machtverhältnisse als vielmehr die Akteurkonstellation, d. h. die Mobilisierung politischer Kräfte über das Ergebnis der Implementation entscheide;58 - dass dennoch Verhandlungen aus der Sicht der Behörden der einzige Weg seien, um überhaupt etwas im Interesse der Umwelt zu erreichen; 59 - dass die öffentliche Verwaltung personell, finanziell und fachlich zumindest den Verwaltungen größerer Betriebe unterlegen sei. 60

3. Probleme des Forschungsansatzes Es ist auffällig, dass bei den dargestellten Forschungsansätzen61 die Verfehlung des Programmziels in der Regel vorausgesetzt bzw. eine begriffliche und analyti54 Schulz, Akteure im Umweltschutz. 55 Ebenda, S. 134. 56 Ebenda, S. 207; Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt: Theissen, Betriebliche Umweltschutzbeauftragte. 57 Schulz, Ch., aaO., S. 206. 58 Ebenda, S. 207. 59 Ebenda, S. 207. 60 Ebenda, S. 207. 61 In den 80'er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Studien auf die Frage der mitgliedstaatlichen Implementation von EG-Normen. Dabei standen weniger die strukturellen Probleme der faktischen Implementation von Normen im Mittelpunkt des Interesses, leicht moralisierend wurde vielmehr die defizitäre Anpassung nationalen Rechts an EG-Standards

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

sehe Klärung vernachlässigt wurde. 62 Das ist ζ. T. aus dem reformpolitischen Kontext der Studien zu erklären: die politisch proklamierten Ziele wurden nicht vollständig und nicht in der erwarteten Zeit umgesetzt. Dann liegt es nahe nach den Defiziten des Programmvollzuges zu fragen. Umgekehrt erscheint es aber heute sinnvoll nach den positiven Wirkungen politischer und rechtlicher Programme zu fragen. Unabhängig von der Definition des Soll-Zustandes von Umweltqualität kann man im Ist-Ist Vergleich bei den Oberflächengewässern eine Verbesserung der Qualität feststellen. Daher liegt es nahe, nicht nur nach den negativen Faktoren, die ein Erreichen des Soll-Zustandes verhindern, zu fragen, sondern nach den positiven Wirkungen und damit den Steuerungserfolgen des Umweltrechts. Zweitens fällt auf, dass bei den zitierten Studien das politische Programm und das Rechtsprogramm i.d.R. als konvergent betrachtet wurden, bzw. eine genaue Analyse der Programmziele, die von unterschiedlichen Akteuren durchaus unterschiedlich verstanden werden können und i.d.R. den Kompromiss deutlich lesbar in sich tragen, nicht erfolgte. Das Programm, stellt Mayntz die Diskussion des Forschungsverbundes reflektierend fest, sei in viele Fällen „das Konstrukt des Forschers, der seine Elemente aus anderen Quellen wie politischen Absichtserklärungen, Plänen, verwaltungsinternen Anweisungen zusammensucht, wobei ein gemeinsamer Zielbezug als verbindende Klammer fungiert." 63 Konsequenterweise ist dann das Implementationsdefizit ebenso eine Konstruktion des Forschers oder der Forscherin. Betrachtet man die rechtlichen Programme, wie das bei den umweltpolitischen Forschungen nahe liegt und zumeist geschah, stellt sich das Problem analog. Zuaufgezeigt und beklagt. Besonders schwer im Magen lag den Forschern dabei offenbar die Qualität des deutschen Trinkwassers - in der Sache bezieht sich nämlich die Mehrheit der Studien auf die EG-Trinkwasserrichtlinie bzw. benachbarte (da zielkonvergente) Normensysteme wie die Gülle-VO (Teherani-Kröner, P., Implementation der Gülle-VO in NRW, II UG rep 87-4.). Mehrere Studien beschäftigten sich mit zu hohen Nitratkonzentrationen im Grundwasser (Brüggemann, B./Riehle, R., Nitrat im Wasser. Fallstudie Müllheim, II UG rep 86-12; Bruckmeier, K , Nitratpolitik vor Ort. Weinbau und Nitratbelastung des Trinkwassers an der Mosel, II UG rep 87-18,19,20; Gitschel, M., Nitratpolitik vor Ort. Gemüseanbau und Grundwassernutzung im Hessischen Ried, II UG rep 87-14; Hünemann, G., Nitratpolitik vor Ort. Trinkwasserbelastung im Raum Notorf II UG rep 87- 12), stellten die Nichteinhaltung der EG und bundesdeutschen Rechtsnormen fest und beschrieben die politischen Prozesse und Auseinandersetzungen um die Grundwasserentlastung innerhalb der jeweiligen Gemeinden und Landkreise. Für den hier interessierenden Zusammenhang bieten diese beschränkten Fallstudien ebensowenig neue Erkenntnisse wie der begrenzte Normenabgleich von EG-Recht und dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten (Vgl. Demmke, Ch., aaO.; Jarass, H.D., aaO). 62 Eine Ausnahme stellt für den Bereich des Umweltrechts die Untersuchung von Wittkämper, Nießlein und Stuckard, (Vollzugsdefizite im Naturschutz Münster 1984) dar. Die Autoren nehmen eine genaue Zielbestimmung anhand der gesetzlichen Grundlagen vor und führen mangelnden Naturschutz, gemessen am Ideal intakte Natur, zurück auf die schon mangelhaften gesetzlichen Instrumentarien. 63 Mayntz, in: dies., Implementation politischer Programme S. 4.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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mindest ist zu entschlüsseln, welche politische Kompromissbildung sich im Recht wiederfindet, an welchen Stellen die Zielbestimmung bewusst offen bleibt mit der Konsequenz, dass die Definitionsmacht vom Gesetzgeber auf andere Instanzen übertragen wurde, und an welchen Stellen sich (unbewusst) Mängel, Fehler, Widersprüche oder ähnliches in die normativen Grundlagen eingeschlichen haben. Erst dann ist eine Bewertung der Implementation und der Abgleich von rechtlichem Programmziel und Ergebnis und eine abstrahierende Aussage zu den Grenzen regulativen Rechts möglich. Weiterhin fällt auf, dass die zitierten Studien ausschließlich als Querschnittsuntersuchungen angelegt wurden, d. h. nur einen zeitlich sehr begrenzten Ausschnitt erfassten. Das musste Auswirkungen haben zunächst auf die Prämisse des Erfolgsdefizits, zweitens auf die Analyse der Adressatenreaktion. Es konnte nur die einseitige „Befehlsbefolgung" oder der Widerstand gegen „Rechtsbefehle" ins Blickfeld geraten, nicht jedoch längerfristige Formen der Akzeptanz. Schließlich konnten bei Querschnittsanalysen nur einzelne politische Programme oder rechtliche Maßnahmen untersucht werden, das Zusammenspiel bzw. die Wirkung verschiedener umweltrechtlicher Instrumentarien geriet nur ansatzweise in den Blick. Die Implementationsforschung hat die Interaktion innerhalb und zwischen verschiedenen Behörden einerseits und die Interaktion zwischen Behörden und privaten Adressaten der Politik in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt. In diesem Bereich wurden auch die weitestgehenden Erkenntnisse gewonnen. Einerseits konnte festgehalten werden, dass die Implementationsstruktur je nach Politikfeld sehr unterschiedlich beschaffen ist. Die Implementation von Anreizprogrammen, finanziellen Transfers, Dienstleistunsprogrammen sowie von Informations- und Überzeugungsprogrammen sieht anders aus als diejenige regulativer Programme, die sich auf eine scheinbar klar hierarchische Verwaltungsorganisation und deren Vollzug stützen. Innerhalb der regulativen Programme wurde unterschieden zwischen dem historisch älteren Typus, der auf die Initiative der Adressaten bzw. die Mobilisierung der Gerichte - wie im Zivil- und Strafrecht - angewiesen ist und regulativen Normen, die - wie das Umweltrecht - i.d.R. von Verwaltungsbehörden vollzogen werden müssen.64 Als Ergebnis festgehalten wurde, dass auch der Vollzug regulativer Politik durch die Verwaltung nicht in Form einer hierarchischen Anweisung und Ausführung von Normen erfolgte, sondern aufgrund der verschiedenen Aspekte, die von verschiedenen Teilen der öffentlichen Verwaltung in fachlicher oder räumlicher Hinsicht eingebracht wurden, eher als Netzwerkstruktur zu begreifen ist. Selbst das System administrativer Vollzugsinstanzen sei oft durch die Dominanz horizontaler Verbindungen und das fehlen strikter Autoritätsbeziehungen gekennzeichnet.65 Die Beziehungen innerhalb der öffentlichen Verwaltung wurden genauso wie die Beziehungen zwischen öffentlicher Verwaltung und Priva64 Ebenda, S. 5. 65 Baestlein/Konukiewitz, in: Mayntz, aaO., S. 36 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

ten als Verhandlungssystem erfasst; kennzeichnend für den Vollzugsprozess sei ein Bargaining zwischen den beteiligten Akteuren. Liegt eine solche Netzwerkstruktur und eine ausgeprägte Interaktion verschiedener Akteure auch beim „Vollzug" regulativer Politik vor, ist zwischen Zielbestimmung und Umsetzung kaum zu unterscheiden; Implementation ist dann integraler Bestandteil des Policy-Prozesses. Die Implementationsforschung müsse deshalb, folgerte Mayntz, als Beitrag zu einer Theorie politischer Steuerung gesehen und bewusst in jenen Kontext gestellt werden, was es erforderlich mache, anstelle der phänomenologischen Durchdringung staatlicher Interventionsformen deren Funktionsweise und Funktionsbedingungen zu erforschen. 66 Tatsächlich scheint das Rechtsverständnis, das den zitierten Studien zugrunde lag, rückblickend recht eindimensional angelegt gewesen zu sein. Recht wurde ausschließlich verstanden als politischer Befehl, der von oben nach unten „durchgegeben" werden kann. Anders herum: den Adressaten wurde eine rationalistische und finalistische Handlungsorientierung unterstellt. Die Untersuchung des Vollzugsdefizits baut auf einer vorausgesetzten und unterstellten Vorstellung davon auf, wie Recht einerseits angewendet und vollzogen und andererseits aus welchen Gründen und Motiven es von den Adressaten befolgt wird. Diese unproblematisierten Prämissen sind es, die im Rahmen dieser Untersuchung zur Diskussion stehen.

II. Umweltnormen im Längsschnitt Bevor mögliche oder implizite Modelle der Rechtsbefolgung betrachtet werden, ist ein Blick auf einen anderen Forschungsansatz zu werfen. Die bislang erörterten Studien untersuchten den „Vollzug" des Rechts im Querschnitt, d. h. sie verglichen Rechtsnorm und Wirklichkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt oder die Umsetzung der Norm in einem beschränkten Zeitrahmen. Möglich ist es aber auch Rechtsnormen und Rechtswirklichkeit in einer Langzeitbetrachtung zu untersuchen, um so Aufschlüsse über Vollzug und Rechtsbefolgung aus der Perspektive der langen Dauer zu erhalten. Verglichen wird dann nicht nur der Soll-Zustand mit dem IstZustand, sondern notwendig ist auch ein Vergleich des Ist-Zustandes in der Vergangenheit mit dem Ist-Zustand der Gegenwart. Es gerät die Entwicklung des Ist-Zustandes unter Berücksichtigung des normativen Soll-Zustandes in den Blick. Die Ergebnisse bei dieser Betrachtung ergeben ein anderes Bild: es lässt sich eine Annäherung des Ist-Zustandes an den Soll-Zustand beobachten. Eine Studie zur Erfolgskontrolle des Abwasserabgabengesetzes legte Jass67 im Jahre 1990 vor. Die zentralen Thesen dieser Studie lauten:

66 Mayntz, aaO., S. 15. 67 Jass, M., Erfolgskontrolle des Abwasserabgabengesetzes, Frankfurt u. a. 1990.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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1. Die wasserrechtlichen Anforderungen führten über die Jahre zu deutlichen Verbesserungen der Abwassersäuberung und Umwelttechnik der untersuchten Unternehmen. 2. Zentrales Instrument waren die ordnungsrechtlichen Vorschriften, die Abwasserabgabe führte allenfalls zu einer beschleunigten Umsetzung dieser Vorschriften. Sie war nicht eigenständiges Motiv für darüber hinausgehende Verbesserungen. Untersucht wurde die Umsetzung wasserrechtlicher Vorschriften in der deutschen Papierindustrie, als Vergleichsgruppe dienten Unternehmen der schweizerischen Papierindustrie. Die Untersuchung wurde als before-and-after Vergleich für die Jahre 1974 und 1985 angelegt. Festgestellt wurde, dass - wie von den wasserrechtlichen Regelwerken intendiert - die biologische Reinigungsstufen in der Papierindustrie erheblich ausgebaut wurden. Gleichzeitig habe sich die Reinigungsleistung beträchtlich gesteigert, der B S B - 5 Abbau wurde auf 96% der CSB-Abbau auf 82% erhöht. Der Abwasseranfall wurde erheblich reduziert und eine große Mehrheit der Unternehmen hatte Anstrengungen zur Kreislaufschließung oder zumindest Kreislaufeinengung unternommen. Bei den Unternehmen, die mit offenem Kreislauf arbeiteten wurden die Emissionen trotz gestiegener Produktion im gewichteten Mittel um 71% gesenkt.68 Die im AbwAG vorgesehene Verminderung der Abgaben, wenn die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden, wurde von 89% der Veranlagungsfälle, in denen keine Ausnahme von der Abgabenpflicht bestand, erreicht. 69 Soweit Kausalitätsbeziehungen hergestellt werden konnten, kam Jass zu dem Ergebnis, dass 88% der Unternehmen die Investitionen in Abwasserreinigungsanlagen vorgenommen hatten, um Auflagen, die die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik forderten oder darüber hinausgehende Anforderungen stellten, zu erfüllen. 52% der Betriebe reinigten nach eigener Einschätzung über die Anforderungen der Auflagen hinaus, was sie aber nicht auf den Anreiz der Verminderung der Abwasserabgabe zurückführten. Nur 8% der Betriebe hatten eine Umstellung des Produktionsprozesses vorgenommen, um die Abwasserabgabe über die Verminderung wegen Einhaltung der a.a.R.d.T. senken.70 Bedeutender für die Übererfüllung sei die Subventionierung von Reinigungsanlagen und ein „offensives Vermeidungsverhalten" gewesen, um „auf der sicheren Seite zu sein", kombiniert mit technischen Notwendigkeiten, d. h. die Reinigungsanlagen wurden für den größten Schadstoffanteil ausgelegt.71 Das Denken in Grenzkosten scheint bei den Betrieben wenig verbreitet zu sein, so dass die abgabentheoretische Wirkungshypothese, der Emittent reinige bis zu 68 Ebenda, S. 69 Ebenda, S. 70 Ebenda, S. 71 Ebenda, S.

260 f. 261 f. 262 f. 264.

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dem Vermeidungsgrad, bei dem die Grenzkosten der Vermeidungsmaßnahmen gleich dem Abgabesatz sind, nicht bestätigt werden konnte. 72 Die Abwasserabgabe habe als anreizpolitisches Instrument nur insofern gewirkt, als die Erfüllung der Auflagen beschleunigt und ihre Einhaltung unterstützt wurde. Im Bereich der Restverschmutzung trete sie jedoch als Motiv für Emissionsverminderungen in den Hintergrund. 73 Im Unterschied besonders zu den Implementationsstudien untersucht die Studie die positiven Wirkungen gesetzlicher Anforderungen und kommt im Unterschied zu den oben dargestellten Studien nicht zu einem einseitigen Vollzugsdefizit, sondern zu dem Ergebnis, dass eine langfristige Anpassung der Maßnahmen der untersuchten Betriebe an die rechtlichen Vorgaben stattfindet. Aus industriesoziologischer Sicht liegen neuere Forschungsergebnisse zur Berücksichtigung des Umweltschutzes in der Unternehmenspolitik vor. Die Industriesoziologie fragt in neueren Untersuchungen nach den spezifischen Handlungskonstellationen, die eine innovative Umweltpolitik im Betrieb ermöglichten bzw. verhinderten. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei insbesondere die innerbetrieblichen Akteure, also Management, Konzernspitze, Unternehmensverbände Betriebsrat, Gewerkschaften sowie Umweltschutzbeauftragte. 74 Externe Faktoren werden im wesentlichen als Rahmenbedingungen für innerbetriebliche Organisations- und Entscheidungsstrukturen in die Untersuchung einbezogen. Birke / Schwarz 75 entwickelten aus ihrer exemplarischen Untersuchung überwiegend reformfreudiger Betriebe eine Typologie unterschiedlicher betrieblicher Strategien im Umweltschutz. Die Skala reicht vom Verhaltenstyp des passiv-adaptiven Erfüllens gesetzlicher Auflagen 76 bis zum integrierten Umweltschutz als Ziel und Bestandteil aufgeklärten Managements und moderner Unternehmenskultur. 77 Die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen wurde also als Minimalstrategie betrieblicher Umweltpolitik ermittelt. Unterlaufende Strategien im Umgang mit den gesetzlichen Anforderungen wurden nicht thematisiert. So bleibt ein Widerspruch zu den Ergebnissen der Implementationsforschung, für die klagloses Erfüllen gesetzlicher Normen der Ausnahmefall war. Der vorgestellte industriesoziologische Befund wird von anderen bestätigt und ζ. T. erweitert. 78 Gegenüber umweltpolitischen Anforderungen existiere eine Skala von möglichen betrieblichen Strategien: 72 Ebenda, S. 267. 73 Ebenda, S. 266,261. 74 Vgl. Schmidt, WSI-Mitteilungen 1993, S. 330; Birke / Schwarz, Die Mitbestimmung 1990, S. 727. 75 Birke, M.,/Schwarz, M., Umweltschutz im Betriebsalltag. Praxis und Perspektiven ökologischer Arbeitspolitik, Opladen 1994. 76 Birke / Schwarz, Betriebliche Strategien im Umweltschutz, in: WSI-Mitteilungen 1993, S. 368 f. 77 Ebenda, S. 373.

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die aktive Opposition (Bekämpfung der Normanhebung, der Verursachung bzw. Zuständigkeit durch Gegenargumentation und -kampagnen); - die passive Opposition (Abwarten, Nichtbeachtung, unauffälliges Hinauszögern, Beschränkung auf das Mindestniveau); - die Anpassung (langsame und stille Ökologisierung entlang der gesellschaftlichen Thematisierung und Normanhebung); - die Selbstorganisation (Übernahme der Initiative durch eine umweltaktive Geschäftsleitung, zumindest partiell über das verbindliche Niveau und häufig verbunden mit starker Außendarstellung). 79 Die genannten Stufen bilden einen Lernprozess, der nur auf äußeren Druck stattfinde. Recht wurde neben der Öffentlichkeit als ein Element betrachtet, dass zu dem Lernprozess Anlass gibt. 80 Dabei stand der Wirkmechanismus rechtlicher Regelungen nicht im Mittelpunkt der Untersuchung, so lassen sich keine spezifischen Folgerungen für den Zusammenhang von Recht und Lernprozessen ableiten. Resümierend lässt sich feststellen, dass die industriesoziologische Fragestellung nach der Akteurkonstellation rechtliche Anforderungen nur als externe Rahmenbedingung behandelt und deshalb auf Fragen nach Anpassungsleistungen und Ausweichstrategien nur bedingt Auskunft geben kann.

I I I . Recht und Steuerung 1. Theoretische Konsequenzen der Querschnittsbetrachtungen a) „Dickicht der Behörden" Die Intention der Implementations- und Evaluationsforschung war, die Probleme der Umsetzung reformpolitischer Programme aufzuspüren, um so gleichsam mit Sekundärreformen (ζ. B. des Verwaltungsapparates) Umsetzungswiderstände zu beseitigen oder zu minimieren. Zuvörderst war die Implementationsforschung deshalb auf Politikberatung angelegt, wobei freilich rückblickend festzustellen ist, dass die Politik wenige der unterbreiteten Vorschläge zu notwendigen Gesetzesnovellierungen und Veränderung der Behördenstruktur aufgenommen hat, dass die Sekundärreformen ausgeblieben sind. So lässt sich resümieren, dass die Ergebnisse der Implementations- und Evaluationsforschung für die Politik in einem unmittelbar praktischen Sinne von untergeordneter Bedeutung waren. Doch ihre Rolle als Katalysator und Element für verschiedene soziologische und politikwissenschaftliche Theoriebildungen ist nicht zu unterschätzen. So gewannen ihre Ergebnisse mit7 8 Hildebrandt/Zimpelmann, WSI-Mitteilungen 1993, S. 382; vgl. auch: Zimpelmann/ Gerhardt/Hildebrandt, Die neue Umwelt der Betriebe. 79 HildebrandT/Zimpelmann, aaO., S. 384. so Zimpelmann/Gerhardt/Hildebrandt, aaO., S. 285.

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telbar über den Umweg über solche Theoriebildungen Bedeutung für die politische und gesellschaftliche Entwicklung - freilich ζ. T. hinter ihrem Rücken. Da das Forschungsinteresse in den 70'er Jahren auf die Erfolgsdefizite reformpolitischer Projekte gerichtet war, geriet mit der Untersuchung der Implementation politischer Programme die staatliche Verwaltung in das Zentrum der Untersuchungen. Um die mangelhafte „Umsetzung" politischer Programme, deren schleppende Verwirklichung zu erklären und zu analysieren, wurden im wesentlichen strukturelle Defizite der Verwaltung als Implementationsstruktur in organisatorischer, funktioneller und materieller Hinsicht thematisiert. Der schon von Weber festgestellte Eigensinn der Bürokratie wurde auf diesem Wege in seinen einzelnen Erscheinungsformen und Ausprägungen aufgespürt und gleichzeitig Webers Idealtypus der „sine ira et studio" arbeitenden Verwaltung korrigiert. Die Implementationsforschung lieferte damit einen Baustein der Bürokratiekritik, was im Titel der Leviathan-Sonderausgabe zur Implementationsforschung „Politik im Dickicht der Bürokratie" deutlich wird. 81 Eine Seitenlinie dieser Bürokratiekritik, die in ihren Einzelheiten hier nicht interessieren soll, nahm sehr früh eine steuerungstheoretische Wendung, d. h. die festgestellten Schwierigkeiten bei der Implementation politischer Programme führten zu einem Zweifel an der Steuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften durch das politische Zentrum. Dabei lassen sich unterschiedliche Richtungen ausmachen.

b) Politikverflechtung In den Theorien zur Politikverflechtung wurden die Ergebnisse der Implementationsforschung verarbeitet, ohne einem grundsätzlichen Steuerungspessimismus zu verfallen. Politikverflechtung wird von Scharpf definiert, als „eine, zwei oder mehrere Ebenen verbindende Entscheidungsstruktur, die aus ihrer institutionellen Logik heraus systematisch ... ineffiziente und problemunangemessene Entscheidungen erzeugt, und die zugleich unfähig ist, die institutionellen Bedingungen ihrer Entscheidungslogik zu verändern." 82 Der Ansatz geht davon aus, dass erstens Politik zwar grundsätzlich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit intentional einwirken kann, Gesellschaft also steuern kann und insofern gesellschaftliches Zentrum ist. Zweitens stoße die tatsächliche Durchsetzung der Politik in föderalen Systemen83 auf institutionelle und außerdem auf korporatistische 84 Blockaden, da politische Ziele nicht zentral definiert und hierarchisch durchgesetzt, sondern zwischen verschiedenen Instanzen und „Partnern" ausgehandelt würden. Zu Blockaden komme es insbesondere dann, wenn kompetive und kooperative Ausgangspositionen der si Wollmann, H., aaO. 82 Scharf, PVS 1985, 323. 83 Scharpf, F., aaO. 84 Benz/Scharpf/Zintl, Horizontale Politikverflechtung.

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Verhandlungspartner gleichzeitig beständen und/oder Sachfragen nur „im Paket" mit Verteilungsfragen zu lösen seien.85 Die Funktionsweise von Recht und dessen Wirkung bei den nicht staatlichen Adressaten wird innerhalb dieses Ansatzes i.d.R. nur en passant erörtert, da von der grundsätzlichen Tauglichkeit von Recht als Steuerungsmedium und von intentionalen und rationalen Verhaltensanpassungen ausgegangen wird. c) Autopoetische Kommunikation Radikal steuerungspessimistisch ist Luhmanns Konstruktion moderner Gesellschaften als autopoetisch geschlossene Kommunikationssysteme. Gesellschaft zerfällt nach diesem Modell bekanntlich in unterschiedliche gesellschaftliche Subsysteme wie Recht, Politik, Wirtschaft, die als operativ geschlossen und mit der Fähigkeit zur Selbstreproduktion ausgestattet gedacht werden. Kennzeichen jedes Subsystems sei ein spezifischer Kommunikationscode; im System Recht werde etwa auf der Grundlage des binären Codes Recht/Unrecht kommuniziert; Politik entwickele demnach einen funktions-spezifischen Code, der an die Differenz von Regierung und Opposition angeschlossen sei. Ist Gesellschaft erst auf Subsysteme mit spezifischen Kommunikationssystemen reduziert, ist leicht die Grenze zwischen den Systemen zu ziehen, bzw. deren selbstbezügliche Abgeschlossenheit zu begründen. Systemspezifische Kommunikationen könnten nur an Kommunikationen derselben Art anschließen, ermöglichten nur weitere Kommunikationen, die derselben Logik entsprächen. Andere Subsysteme erschienen innerhalb einer Kommunikation nur als Umwelt mit jeweils eigenem Code, mit dem eine sinnhafte Kommunikation prinzipiell ausgeschlossen sei. Die Umwelt liefere nur Informationen und Ressourcen, die aber nicht als zielgerichtete Interventionen in ein fremdes Subsystem zu verstehen seien. Die Kommunikation der Umwelt wird in der Kommunikation eines Subsystems nur als Rauschen wahrgenommen. 86 Das führt zu der Konsequenz, dass Politik nicht mit dem Rechtssystem und das Recht nicht mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen, welche sich auch immer als geschlossen konstruieren lassen, sinnhaft kommunizieren können, weshalb gesellschaftliche Subsysteme nicht durch ein anderes zu steuern sind, sich diese vielmehr selbst reproduktiv steuern. Allenfalls werden unspezifische Impulse an ein anderes System gesandt, viel Lärm um nichts! 87 Alle Ansprüche, Gesellschaft durch Recht zu steuern, müssten, meint Bechmann in einer programmatischen Wendung der systemtheoretischen Beobachtungen, aufgegeben werden, Steuerung durch Recht sei eine contradictio in adjecto. Da Systeme nur Systeme beobachteten, könne Recht weder Kontroll- noch Regulierungsinstrument für andere Systeme sein. 88 Für die natürli85 Scharpf, PVS 1988 Sonderheft 19, S. 60. 86 Luhmann, Soziale Systeme. 87 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft. 88 Bechmann, in: Brüggemeier, G./Joerges, Ch., Workshop zu Konzeptionen des postinterventionistischen Rechts, ZERP-Materialien, S. 200.

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che Umwelt hat das fatale Konsequenzen, da sie nicht in der Kommunikation anderer Systeme berücksichtigt wird, aber auch keinen funktionsspezifischen Code (hier stößt die Konstruktion von Kommunikationssystemen an ihre begrifflichen Grenzen) entwickelt hat, der die eigene autopoetische Reproduktion sichern könnte.89

d) Grenzen regulativen Rechts Diese auf hohem Abstraktionsniveau entwickelte Theorie scheint prima facie keine Beziehung zu den erörterten Vollzugsdefiziten umweltpolitischer Programme aufzuweisen, sie wird jedoch ζ. T. direkt an die Ergebnisse der Implementations- und Evaluationsforschung rückgekoppelt, um deren Ergebnisse allgemeingültig zu erklären. 90 Unter Rückgriff auf die in der Implementationsforschung erarbeiteten strukturellen Schwierigkeiten des Vollzugs politischer Programme wird behauptet, dass Steuerungserfolge eher die Ausnahme als die Regel seien, was sich systemtheoretisch erklären lasse.91 Dennoch wird versucht, den Steuerungspessimismus der Systemtheorie zu entradikalisieren, indem zwischen Bereichen differenziert wird, in denen Steuerung zwar prinzipiell Möglich sei, aber die „alten" Steuerungsmethoden regulativer Politik, d. h. Verhaltenssteuerung durch Gebote und Verbote, versagt hätten. Hier sei deshalb eine Methodenumstellung und Flexibilisierung in Form der „Entfeinerung" der Steuerung durch Rahmenregelungen oder durch den Rückgriff auf Verfahrenssteuerung bei grundsätzlicher (aber verantwortlicher) Autonomie der Betroffenen notwendig. Daneben werden Lebensbereiche ausgemacht, die sich gegenüber steuernden Eingriffen als resistent erweisen, was mit der Geschlossenheit selbstreferentieller Systeme begründet wird. 92 Für diese Lebensbereiche bleibe als Konsequenz nur der partielle Rückzug des politischen Systems aus der gesellschaftlichen Steuerung.93 Dieses Konzept ist gegenüber Luhmanns Steuerungspessimismus deutlich entradikalisiert und hält am Primat der Politik oder der Notwendigkeit politischer Steuerung fest, für die allerdings Modernisierung empfohlen wird. Modernisierung heißt 89 Luhmann, Ökologische Kommunikation. Eine scheinbare Revision des Bildes vom systemtheoretischen Steuerungspessimismus nahm Luhmann in einer der zahlreichen Debatten um seine Theorie vor (ZfRsoz 1991, 242). Nahamowitz hat jedoch zu Recht auf die Inkompatibilität mit den übrigen Konstruktionen der Theorie hingewiesen (ZfRsoz 1992, S. 271). 90 Vgl. zum Zusammenhang auch: Hoffmann-Riem in: ders./Mollnau/Rottleuthner, Rechtssoziologie in der DDR und in der Bundesrepublik, S. 126. 91 Voigt, in: ders., Recht als Instrument der Politik, S. 14. 92 Teilweise mischt sich dieser Rückgriff auf die operative Geschlossenheit selbstreferentieller Systeme allerdings mit der Konstruktion einer von systemischen Imperativen verschonten Lebenswelt, in die- gleichsam aus moralischen Gründen - nicht staatlich steuernd eingegriffen werden dürfe, weil das pathologische Effekte zeitige (Habermas, J., Kommunikatives Handeln, Bd. 2). 9 3 Voigt, R., aaO., S. 14 f.

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dabei, Verzicht auf regulatives Recht in Form von Verboten und Geboten und Entwicklung von rechtlichen Methoden des Anreizes, der Selbstregulation und -Kontrolle sowie der Normierung konflikregulierender Verfahren. Dahinter verbargen sich zunächst unterschiedliche Konzepte94, die die Einpflanzung widerständiger Kommunikation in ein Subsystem, d. h. die Beteiligung konfliktuarischer Interessen an den Entscheidungsprozessen eines gesellschaftlichen Teilbereichs genauso umfassten wie Deregulierungsvorstellungen, die letztendlich die größere Wirksamkeit entfalteten. Solange an der Vorstellung von Steuerbarkeit der Gesellschaft durch Recht festgehalten wurde, nur das regulative Recht für unmodern und ineffektiv kritisiert wurde, blieb - trotz teilweise hyperthropher systemtheoretischer Verkleidung - der Befund der Implementationsforschung, nämlich die Vollzugsschwierigkeiten und Gegenstrategie bzw. Nichtbefolgung seitens der Adressaten als Hintergrund der Kritik und der Suche nach neuen Formen der Steuerung siehtbar. 95 Das Unbehagen an dieser Diskussion ist m.E. darauf zurückzuführen, dass solange an der Steuerbarkeit von Recht und durch Recht festgehalten wird, keine explizite Aussage getroffen wird, wie diese Steuerungsleistung denn hervorgerufen wird. Im Hintergrund schweben intentionalistische, finalistische und rationalistische Annahmen über die Reaktionen der Adressaten. Diese sind jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit unzutreffend. Allgemeiner ausgedrückt scheint in beiden Fällen keine überzeugende analytische und empirisch fundierte Erklärung der Wirkung von Recht in der Gesellschaft hinter der Kritik der Nicht-Wirkung von Recht zu stehen.

2. Fazit und Problemstellung Resümierend lässt sich festhalten, dass bei einer Querschnittsbetrachtung der Rechtsumsetzung im Bereich des Umweltrechts Defizite festgestellt werden können, in dem Sinne, dass die Rechtswirklichkeit nicht dem Rechtsideal entspricht. Diese Tatsache ist unter dem Stichwort „Vollzugsdefizit" gleichsam zur stehenden Redewendung in der umweltrechtlichen und umweltpolitischen Diskussion geworden. Skeptiker reagieren darauf mit einem radikalen Steuerungspessimismus, öko94

Abstrahiert man von den unterschiedlichen Namen, die dem Kind gegeben wurden, wie etwa: Prozedurales Recht (Eder, ZfRSoz 1986, S. 1; Wiethölter, in: Brüggemeier/Joerges, aaO., S. 25); Mediales Recht (Görlitz, in: ders. Regulative Umweltpolitik, S. 231; Druwe, in: Görlitz, aaO., S. 215) reflexives Recht (Teubner, Autopoetische Systeme; Ders./Wilke, ZfRSoz 1984, S. 4; Schuppert, in: Grimm, Wachsende Staatsauf gaben - Sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 217). 95 Gut versteckt ist etwa das eigentliche Argument Teubners, nachdem er über „Interferenz" die Anschlussfähigkeit unterschiedlicher Subsysteme wiederhergestellt hat, gegen die Funktionalität „traditioneller" Ge- und Verbote. Diese führt er nämlich auf die bekannten Motivationsprobleme bei der Durchsetzung regulativen Rechts zurück. (Teubner, aaO., S. 112).

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

logische Pragmatiker mit der Suche nach „neuen" umweltrechtlichen Instrumenten und Steuerungsformen. Vergleicht man die Querschnittsanalyse jedoch mit - jüngeren und weniger zahlreichen - Längsschnittanalysen, ergibt sich ein anderes Bild. Aus der Langzeitperspektive ist festzustellen, dass Steuerungsleistungen auch des „alten" regulativen Umweltrechts erkennbar sind, wenngleich auch keine eins zu eins Übersetzung des Soll-Zustandes in den Ist-Zustand stattfindet. Über lange Zeitspannen lässt sich eine Anpassung des Ist-Zustandes an das normative Ideal beobachten. Dies scheint auf langfristige Veränderungen der Handlungsorientierungen der Akteure und Lernprozesse zurückführbar zu sein, die erst in Gang gesetzt werden müssen und folglich zu zeitlichen Verzögerungen führen müssen. Diese Feststellungen lassen sich nicht nur anhand der zitierten Studien verifizieren, die sich gerade im Falle der Längsschnittanalyse auf einige wenige Bereiche beschränken mussten, sondern sie entsprechen auch der Alltagsbeobachtung. Bekannt ist, dass sich ζ. B. die Qualität der Oberflächengewässer in Deutschland seit den frühen 1970'er Jahren deutlich verbessert hat. Im Bereich der Luftverschmutzung haben sich die Probleme verschoben: hinsichtlich der industriellen Verschmutzung sind Verbesserungen zu verzeichnen, d. h. die Schadstoffemmissionen wurden relativ zum Produktionsvolumen reduziert. Allerdings wurden qualitative Verbesserungen durch die quantitative Zunahme der Emittenten , insbesondere im Bereich der verkehrsbedingten Luftverschmutzung, ζ. T. negativ kompensiert. Dennoch findet offenbar eine staatliche Steuerung des Schadstoffausstoßes durch rechtliche Regulierungsinstrumente statt. Auch gab es durch Einführung von Abgasnormen und steuerlichen Vergünstigungen von Katalysatoren qualitative Verbesserungen, die aber durch die Quantität des Verkehrs im Ergebnis nicht zu Buche schlagen. Diese Beobachtungen können nicht zur Beruhigung dienen: Probleme gibt es bekanntlich nach wie vor in Hülle und Fülle. Aber die genannten Deutungsversuche zum Vollzugsdefizit bedürfen einer Revision oder zumindest einer Ergänzung. Zu erklären ist nicht einfach ein Vollzugsdefizit, sondern der empirische Sachverhalt, dass rechtliche Steuerung in der Querschnittsbetrachtung, in einer Momentaufnahme kurz nach Einführung der Vorschrift (im Bereich des Umweltrechts) scheinbar leerläuft, defizitär umgesetzt wird, bei einer Längsschnittbetrachtung, über einen längeren Zeitraum beobachtet, weitgehend eingehalten und die angestrebten Erfolge jedenfalls annähernd erreicht werden. Die erörterten empirischen Befunde legen es nahe, den „Mechanismus" der Rechtsverwirklichung, Bedingungen und Wahrscheinlichkeiten der Befolgung gesetzlicher Normen, die den Untersuchungen zum Vollzugsdefizit unproblematisiert vorausgesetzt werden, zu durchleuchten. Auch die theoretischen Schlussfolgerungen oder Konsequenzen, die im Anschluss an die empirischen Befunde entwickelt wurden, unterstellen mehr oder weniger implizit einen „Mechanismus" der Rechtsbefolgung. Dabei schwanken sie zwischen einem subjektivistischen Juridismus, dem eine utilitaristische und/oder rationalistische Handlungstheorie zugrunde liegt, und einem objektivistischen Soziologismus, der auf einer strukturalistischen oder funktionalistischen „Handlungstheorie" basiert. Zunächst soll der subjektivis-

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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tische Juridismus erörtert werden, da er das Arbeitsverständnis des Gesetzgebers und der Rechtsarbeiter mehr oder weniger prägt. Sie alle bauen darauf, dass rechtliche Handlungsgebote oder -verböte, eingehalten werden, weil sie mit Sanktionen bedroht sind und die Adressaten, ihre Handlungen an den normativen Erwartungen ausrichten, um die Sanktionen zu vermeiden (generalpräventive Wirkung) oder weil sie aus einer verhängten Sanktion gelernt haben (spezialpräventive Wirkung). Es sei aber zunächst gestattet, die Problemstellung besonders im Hinblick auf das Umweltrecht zu konkretisieren und dabei einige Fragen aufzuwerfen und Gedanken anzureißen, die den Gang der Untersuchung bestimmen werden. Recht soll intentional bestimmte Steuerungsleistungen erbringen. Es ist ein entscheidendes Medium, mit dem Politik zurück in die Gesellschaft transportiert wird. Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft steuert sich selbst über das Medium Recht, das als Resultat des demokratischen Willensbildungsprozesses von Wahlen und parlamentarischer Beratung erscheint. Voraussetzung für diese Form der Selbststeuerung der Gesellschaft ist jedoch, dass die normativen Gebote und Verbote rechtlicher Kodifizierung gesellschaftliche Wirkung entfalten, d. h. für die Adressaten verbindlich werden, wobei zwischen einer normativen Verbindlichkeit als Zustimmung zur legitimen Geltung der Norm und einer faktischen Verbindlichkeit, als Umsetzung der Norm in praktisches Handeln unterschieden werden muss. Es lassen sich verschiedene Modelle entwickeln, wie die Transformation des politischen Willens über die Rechtsnorm in die gesellschaftliche Wirklichkeit gedacht wurde. Mit der Aufklärung löst sich das Denken von der Vorstellung einer übernatürlichen Ordnung als Geltungsgrund der Norm, und gleichzeitig setzt ein erster Schub der Individualisierung ein, d. h. zumindest im Denken wird das Individuum nicht mehr als integrierter Bestandteil der natürlich- gottgewollten Ordnung verstanden, sondern als Subjekt, das sein Handeln und Unterlassen, da ihm ein freier Wille zugerechnet wird, weitgehend selbst bestimmen kann und bestimmt. Auf individueller Ebene hieß das: „Jeder ist seines Glückes Schmied". Auf gesellschaftlicher Ebene musste nach der Loslösung von der alten Ordnung und dem damit verbundenen Individualisierungsschub die Frage nach der Möglichkeit einer gerechten und friedlichen gesellschaftlichen Ordnung gestellt werden. Das Problem der Rechtsgeltung stellte sich auf einer individuellen Ebene als Frage danach, was ein Subjekt oder einen individuellen Akteur veranlasst gesetzlichen Normen zu gehorchen. Auf der gesellschaftlichen Ebene musste gefragt werden, wie der Kriegszustand durch einen erträglichen Zustand des Friedens abzulösen ist. Wie wird das Chaos in soziale Ordnung mit gesicherten Lebensverhältnissen überführt? Soziologisch wird die Frage zu einer nach den Faktoren der Sozialintegration erstens und der Systemintegration zweitens und drittens nach der Verbindung und geglückten Kombination. Einige der zentralen Antworten auf diese Fragestellung sollen hier erörtert werden. Dabei kommt es darauf an, die unterschiedlichen Perspektiven, die sich aus

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

der Trennung und dem Streit der Fakultäten ergaben, näher zusammenzurücken. Aus der Perspektive des Umweltrechts ergibt sich außerdem eine zusätzliche Fragestellung. Zielte die Frage nach den Faktoren von Sozial- und Systemintegration auf die Bedingung einer „Normalisierung" und Stabilisierung des Verhaltens und damit verbunden einer Stabilisierung sozialer Ordnung, muss nun umgekehrt gefragt werden, wie können eingefahrene, sozialisierte, rechtlich stabilisierte, normalisierte - wie auch immer - Verhaltensdispositionen und Handlungsstrukturen umgestellt werden. Handelt es sich dabei tatsächlich um eine neue Fragestellung für das Recht? Dem kann entgegen gehalten werden, dass Recht schon in seiner klassischen Form als Strafrecht und Zivilrecht darauf angelegt sei, Verhalten umzustellen. Das „abweichende" Verhalten des Straftäters solle „normalisiert", umgestellt werden, oder - wenn nicht möglich - durch Wegsperren nullifiziert, d. h. unschädlich gemacht werden. Das Ziel des Zivilrechts bestehe darin, einen normalen Standard des Vertrags und der Eigentumsverhältnisse bei fehlender Vereinbarung oder den Standard eines Vertragstreuen Geschäftspartners, durchzusetzen. In der Tat geht es also auch im klassischen Recht um Verhaltensänderung. Aber diese ist konzipiert als Normalisierung des Verhaltens einzelner. Die rechtliche Norm orientiert sich am „Normalen", worauf schon die semiologische Konvergenz hinweist. Von dieser Norm abweichendes Verhalten wird mit den milderen Mitteln des sanktionsbewehrten Rechts anzugleichen versucht. Die Norm, das Normale ist mehr oder weniger vorgegeben; es liegt an der Oberfläche der Struktur gesellschaftlicher Organisation. Im Idealfall wird die gesellschaftlich strukturierte Norm von gesellschaftlicher, familiärer diffuser Sanktion von Fall zu Fall auf eine raumzeitlich übergreifende Sanktion umgestellt, d. h. institutionalisiert. Das wiederum ist auf eine Umstellung des Modus der Vergesellschaftung von Interaktion in raum-zeitlicher Begrenzung, d. h. in der Regel unter Bedingungen der Kopräsenz, auf einen Vergesellschaftungsmodus, der sich raum-zeitlich geöffnet hat, geschuldet. Diese Interpretation der klassischen Kodifikationen als Folge eines veränderten Modus der Vergesellschaftung hat als Prämisse die Annahme einer Homologie von gesellschaftlichen Strukturen und rechtlichen Strukturen, zumindest soweit „Normalisierung" durch Recht erreicht bzw. insofern intendiert ist, als dem Recht genau diese Aufgabe zugeschrieben wird. Worin liegt nun die neue Qualität der Regulation, wie sie insbesondere durch das Umweltrecht zum Ausdruck kommt? Umweltrecht kann seine regulative Funktion nicht darauf beschränken, abweichendes Verhalten durch Überwachen und Sanktion zu „normalisieren". Gerade das Normale, der gesellschaftliche Standard des Verhaltens, soll durch Umweltrecht geändert werden, die gesellschaftlich Norm, das was die Akteure voneinander zu erwarten haben, soll umgestellt werden. Nicht die einzelne Abweichung ist zu normalisieren, sondern das gesellschaftliche Normale wird als Abweichung von der Norm, verstanden als erstrebter SollZustand, erkannt und soll u. a. durch Umweltrecht modifiziert werden.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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Um den Unterschied beispielhaft zu verdeutlichen: Normal war es bis vor wenigen Jahren, Luft als allgemeine und unbegrenzte Ressource zu betrachten, die deshalb unproblematisch von Einzelnen oder von Organisationseinheiten ge- und vernutzt werden konnte, Abluft wurde durch „natürliche" Reproduktion des Mediums „entsorgt". Kurz: Es war unangefochtener gesellschaftlicher Standard, dass jeder Luft beliebig verunreinigen konnte (soweit keine weitere Person zu Schaden kam). Das Umweltrecht, konkret das BImSchG, versucht nun diesen gesellschaftlichen Standard zu ändern. Die Verpflichtung, Abgase und Abluft zu reduzieren oder zu reinigen, trifft nicht nur denjenigen, der konkret Dritte schädigt, sondern hat den allgemeinen Zweck, die Luftverschmutzung zu reduzieren. Dazu ist oder war eine Änderung des gesellschaftlichen Standards, des Normalen erforderlich. Das Bild der Gesellschaft von Norm und Abweichung wurde modifiziert, wenn nicht gar umgekehrt. Die Quantität (der Individuen und) Abweichungen von dem in der Norm verkörperten Soll-Zustand schafft eine neue Qualität der Anforderungen an die Steuerungsfunktion von Recht. Das begründet die (neue) Frage nach der Kompetenz rechtlicher Regulierung, „normales" Verhalten und „normale" Verhaltenserwartungen zu destabilisieren und umzustellen. Greift man die klassische Fragestellung von Hobbes auf, muss nicht gefragt werden, wie sich soziale Ordnung herstellen lässt, sondern ob und wie sich soziale Ordnung destabilisieren und umstellen lässt. Ob Recht diese Aufgabe übernehmen kann - wenn ja - in welcher Form das geschehen kann, bedarf einer Analyse der Frage, wie Recht Steuerungsaufgaben bisher erfüllt hat, d. h. wie die rechtliche Norm zum realen Handeln gesellschaftlicher Akteure wird.

3. Theorieangebote Zunächst ist auf eine weitere Fragestellung hinzuweisen, die in der Literatur oftmals in ihrer Eigenständigkeit nicht deutlich herausgearbeitet wird: das ist die Frage nach der Rechtsgeltung, die von der Frage nach dem Mechanismus der Rechtsbefolgung zu unterscheiden ist, wenngleich sich beide Fragestellungen verbinden lassen. Unter dem Aspekt der Rechtsgeltung wird gefragt: welche Normen gelten in einer Gesellschaft als Recht, bzw. welches Recht ist in einer Gesellschaft gültig? Je nach Perspektive des Fragestellers fällt die Antwort recht unterschiedlich aus. Aus der Perspektive des Rechtsunterworfenen oder des Rechtsanwenders, ζ. B. des Richters, hat die Frage nach der Rechtsgeltung einen normativen Sinn. Die Richterin fragt ζ. B. bei der Beurteilung eines Falles, der einige Jahre zurückliegt, welches Recht anzuwenden ist, das geänderte oder die damals geltenden Vorschriften. Sie muss also normative Antworten auf die Frage haben, welches Recht für den Fall gilt. Diese Frage wird anhand höherrangigem Recht, i.d.R. unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Normen zur Gesetzgebungskompetenz und zum Gesetzgebungsverfahren beantwortet. Der Rechtspositivismus, wie ihn Kelsen oder 4 Fisahn

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Hart entwickelten, hat auf diese Normenhierarchie hingewiesen. An der Spitze der Hierarchie wurde eine Grundnorm 96 bzw. eine roule of recognition 97 gesetzt, deren Einhaltung letztendlich darüber entscheidet, ob ein normativer Satz in einer Gesellschaft als Recht gilt oder nicht. Aus der Perspektive des Rechtsunterworfenen kann die Frage aber auch anders gestellt werden. Es wird dann nicht gefragt, ob die Norm zu dem Normenbestand zählt, der von der Gesellschaft positives Recht genannt wird und entsprechend behandelt und befolgt wird. Gefragt werden kann auch, ob der Inhalt der Norm, ihr Gebot oder Verbot richtigerweise als Recht gelten soll und befolgt werden sollte. Kommt man zu einem negativen Ergebnis, folgt daraus, dass die Norm „richtigeroder gerechterweise" nicht befolgt wird, bzw. Widerstand gegen die „Durchsetzung" der Norm geleistet wird. Für die Frage der Rechtsgeltung ist diese Frage nach dem richtigen Inhalt der Norm allerdings nur dann relevant, wenn der Beurteilungsmaßstab für die Richtigkeit ein rechtlicher ist und kein moralischer. Beispielsweise kann ein Rechtsunterworfener den moralisch legitimen Standpunkt vertreten, dass das Verschuldensprinzip im Eherecht eine vollständig verfehlte Regelung ist. Daraus muss er aber noch nicht die Konsequenz ziehen, dass diese rechtliche Regelung gemessen an rechtlichen Vorstellungen nicht als Recht gelten kann oder soll. Es wird dann zwar die moralische Anerkennung verweigert, aber nicht die rechtliche. Wechselt man die Perspektive von derjenigen des Rechtsunterworfenen oder Rechtsanwenders zu derjenigen eines Historikers oder Soziologen, der das Recht einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt untersucht, tritt ein weiterer Aspekt hinzu. Aus dieser Perspektive ist es nachrangig zu fragen, welche Normen eine Gesellschaft zum Bestandteil ihres gesetzlichen Rechts zählte und ob sie diese Normen als in Übereinstimmung mit überpositivem Recht und Vorstellungen der Gerechtigkeit empfand. Um zu beurteilen, wie die Gesellschaft ihr Zusammenleben organisierte, dürfte sich der Historiker eher dafür interessieren, welche Normen insofern galten, als sie faktisch wirksam wurden, d. h. befolgt wurden und somit die Strukturen und Institutionen der Gesellschaft kennzeichneten. Geltung der Norm bedeutet aus dieser Perspektive faktische Wirksamkeit oder Akzeptanz in der Gesellschaft. Zwischen Geltung und Nicht-Geltung von Rechtsregeln besteht aus der Sicht des Soziologen oder des Historikers keine absolute Alternative, wie für den Juristen. Vielmehr bestehen flüssige Übergänge zwischen beiden Fällen 98 , da Rechtsregeln an faktischer Akzeptanz verlieren können, oder schließlich für die Gesellschaft vollständig irrelevant werden können. Diese Unterscheidung ist deshalb erforderlich, weil es nahe liegt, in der Argumentation die beiden Ebenen zu vermischen. Wenn eine Norm wegen ihres richtigen Inhalts Anerkennung verdient, so die naheliegende Schlussfolgerung, ist sie 96 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 66 ff. 97 Hart, Concept of Law, S. 99 ff. 98 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 17.

Α. Das Problem: Vollzugsdefizite im Umweltrecht

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auch automatisch Bestandteil des praktischen Handelns, d. h. es wird von der Legitimität der Norm auf die Praxis oder von der Geltung auf die Faktizität geschlossen. Das scheint aber ein Kurzschluss zu sein, da gesellschaftliche Akteure dazwischentreten und die Norm nicht nur als rechtlich geltend anerkennen, sondern sie auch zum Bestandteil ihrer Praxis machen müssen. Umgekehrt gilt: Wenn der (externe) Beobachter feststellt, dass Rechtsnormen Teil der gesellschaftlichen Faktizität sind, hat er noch keine Erkenntnis darüber, aus welchen Gründen dies der Fall ist. Der Wirkmechanismus, der dafür sorgt, dass die Norm gesellschaftliche Praxis anleitet, d. h. dass sie gesellschaftlich anerkannt wird, ist mit der Feststellung, dass jenes der Fall ist, noch nicht geklärt. Die faktische Wirksamkeit einer Norm gibt keinen Hinweis auf die normativen Voraussetzungen für die Transformation des Gehalts einer Norm in die Praxis eines Akteurs. Darauf kommt es für die Frage, ob durch Umweltrecht umweltgerechtes Verhalten hergestellt werden kann, aber an. Andererseits liegen die zitierten Positionen zur Rechtsgeltung bestimmter Auffassungen zum Wirkmechanismus rechtlicher Normen nahe. Soweit beispielsweise der Rechtspositivismus in wertrelativistische Vorstellungen eingebettet ist, wird es schwerfallen, die Wirksamkeit rechtlicher Normen in der gesellschaftlichen Praxis auf allgemein geteilte normative Anerkennung zurückzuführen - zumindest entsteht hier eine Argumentationslast, was bei der Rekonstruktion der Begründung für die Transformation der Norm in gesellschaftliche Praxis zu berücksichtigen ist, und dazu zwingt, die Geltungstheorien auf ihre impliziten Vorstellungen über den Mechanismus der Rechtsbefolgung abzuprüfen, was weiter unten geschehen soll. Zuvor werden jedoch zwei entgegengesetzte Richtungen der allgemeinen Handlungstheorien auf ihre Konsequenzen für den Mechanismus der Rechtsbefolgung befragt. Die Transformation rechtlich gesetzter Normen in gesellschaftliche Praxis läuft über ein verbindendes Glied, nämlich handelnde Akteure, individuelle oder kollektive Subjekte. Die rechtliche Norm, die einem Unternehmen gebietet, den Schadstoffausstoß in die Luft zu minimieren, indem bestimmte Grenzwerte zwingend vorgeschrieben werden, sorgt nur für bessere Luft, wenn ein handelnder Akteur ζ. B. einen Luftfilter einbaut, um so den Stickstoffausstoß zu verringern. Das klingt banal, hat aber zur Konsequenz, dass auf die „alte" Handlungstheorie zurückgegriffen werden muss. Anders ausgedrückt: Kein einziger Luftfilter wird durch die mehr oder weniger gelungene Kommunikation von Systemen oder Subsystemen eingebaut, dazu bedarf es der Arbeit menschlicher Akteure. Im Mittelpunkt des Interesses müssen deshalb die für das Handeln der Akteure leitenden Gesichtspunkte stehen, die in den klassischen Handlungstheorien bearbeitet wurden. Es lassen sich in zwei große Theorierichtungen als Antwort auf die Frage nach der Transformation von Rechtssätzen in gesellschaftliche Wirklichkeit ausmachen: Die einen setzen auf Zwang, die anderen auf Anerkennung. Dazwischen gibt es unterschiedliche Mischformen, Schattierungen und Verbindungen. Zusammengefasst behaupten die einen, Recht zeichne sich dadurch aus, dass es zwangsbewehrt ist, d. h. dass staatliche Sanktionen dafür sorgen, dass die rechtlichen Gebote und 4*

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Verbote befolgt oder eingehalten werden. Diese Grundrichtung soll als „subjektivistischer Juridismus" zusammengefasst werden. Auf der anderen Seite wird behauptet, dass rechtliche Normen im wesentlichen nicht wegen ihres Zwangscharakters befolgt werden, sondern dass sie als richtig oder gerecht anerkannt oder akzeptiert und deshalb im Verhalten befolgt werden. Diese Grundrichtung will ich als „objektivistischen Soziologismus" bezeichnen.

B. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem I. Die klassische Argumentation » Hobbes Thomas Hobbes ist mit Althusius, Spinoza, Bodin oder Pufendorf einer der ersten Staatstheoretiker, der versucht, eine rationalistische Konstruktion von Recht und Staat zu entwickeln. Als rationalistisch sind genannte Theorieansätze zu bezeichnen, weil sie es erstmals unternehmen, eine säkularisierte Theorie von Recht und Staat zu entwickeln, d. h. Staat und Recht werden nicht aus göttlichen Geboten oder einer gottgewollten Ordnung abgeleitet, sondern aus dem vernünftigen Willen der Staatsbürger bzw. der Individuen konstruiert. Hobbes, das ist bekannt, entwickelte im „Leviathan" ein rigides staatsabsolutistisches Konzept, d. h. er stattete mit seinem Entwurf den Staat - sofern er einmal gebildet ist - mit fast unumschränkter Machtbefugnis und Herrschaftsgewalt aus. Diese starke Stellung des Staates in der Staats- und Rechtstheorie macht Hobbes zu einem typischen Vertreter eines mit Zwang verbundenen Rechtsbegriffs. Recht, so scheint es auf den ersten Blick, ist bei Hobbes ausschließlich ein in einer bestimmten Form gegossener Befehl des staatlichen Souveräns, den dieser mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt durchsetzen kann und durchsetzen soll. Umgekehrt folgt aus der Zwangsbefugnis des Staates die Gehorsamspflicht der Bürger, d. h. der Bürger hat kein Gegenrecht, dem staatlichen Befehl den Gehorsam zu verweigern oder gar Widerstand zu leisten. Diese Gehorsamspflicht führt aber schon über die Konstruktion des Rechts als Zwangsmechanismus hinaus und verweist auf die Legitimität einer Staatsgewalt überhaupt.1 Dieser Dualismus hat sich theoriengeschichtlich bis heute erhalten, wenn freilich die Begründung für die Legitimität staatlicher Zwangsgewalt erheblich ausgefeilt wurde und wechselte. Hobbes Engagement für einen starken souveränen Staat wird als durch den zeitgeschichtlichen Hintergrund geprägt oder zumindest beeinflusst verstanden. Hobbes wurde am 5. April 1588 geboren. Im gleichen Jahr war die spanische Armada in britische Gewässer eingedrungen, womit der Auftakt zu kriegerischen Jahrzehnten in England erklungen war. Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts ist durch Krieg und Bürgerkrieg gekennzeichnet. In England stehen sich das Königtum mit Adel 1 Auf diese Dualität auch in der Staats- und Rechtstheorie von Th. Hobbes hat insbesondere Franz Neumann hingewiesen (Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 128 ff.).

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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und stehendem Heer verbündet und Bürgertum, das aufgrund seiner starken wirtschaftlichen Macht verfassungsmäßige Rechte und politische Beteiligung einfordert, unversöhnlich gegenüber. 1649 wurde König Charles I hingerichtet, die Monarchie war nach sieben Jahren Bürgerkrieg besiegt und wurde abgeschafft. Schon 1660, nach dem Tode Oliver Cromwells, kehrte der Sohn des hingerichteten Königs auf den Thron zurück, wenngleich seine Rechte durch parlamentarische Kompetenzen beschränkt wurden. Klarheit in den Machtverhältnissen brachte erst die „Glorious Revolution" im Jahre 1688, die den Sieg des Bürgertums bedeutete. Wilhelm von Oranien wurde König einer konstitutionellen Monarchie. Hobbes starb 1679; mit der Niederschrift des Leviathan begann er 1649, 1651 wurde das Buch in englischer Sprache veröffentlicht. Vor diesem historischen Hintergrund wird Hobbes4 Konstruktion des kriegerischen Naturzustandes und dessen Überwindung durch den Staat, dessen vornehmstes Ziel es sein soll, Frieden zu sichern und Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen. Die Argumentation Hobbes ist bekannt. Im Naturzustand herrscht Krieg aller gegen alle, weil jeder versucht, seine Wünsche auf Kosten anderer zu befriedigen, was zu gegenseitiger Gewaltanwendung, der keine Schranken gesetzt sind, führt. „Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des anderen Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den anderen entweder unterwürfig zu machen, oder ihn zu töten."2 Um diesen Zustand des Krieges aller gegen alle zu beenden, meint Hobbes, sei es notwendig, dass die Menschen in den bürgerlichen Zustand eintreten, d. h. staatlich gesicherten Frieden herstellen. Das geschieht nach Hobbes durch einen Unterwerfungsvertrag, d. h. auf folgendem Wege: „Jeder muss alle seine Macht und Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen, wodurch der Wille aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird.... Dies fasst aber noch etwas mehr in sich als Übereinstimmung und Eintracht; denn es ist eine wahre Vereinigung in einer Person und beruht auf dem Vertrag eines jeden mit einem jeden, wie wenn ein jeder zu einem jeden sagte: ,Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst.4 Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen."3 Der Staat ist bei Hobbes als absoluter Staat konzipiert, d. h. der Souverän herrscht ohne begrenzende Prinzipien der Gewaltenteilung oder vorgelagerter Menschenrechte. Nicht vorgesehen ist bei Hobbes eine demokratische Kontrolle der Staatsgewalt, oder eine über den Gründungsvertrag hinausgehende Zustimmung eines jeden zur staatlichen Willensbildung, kurz ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren.

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Hobbes, Leviathan, S. 114. 3 Leviathan, S. 155.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Die Mittel, mit denen der absolute Staat den Frieden sichert, Leben und Eigentum gewährleistet, nennt Hobbes in Abgrenzung zu natürlichen Gesetzen, deren Bedeutung noch zu erörtern ist, die bürgerlichen Gesetze. „Bürgerliches Gesetz ist eine Regel", schreibt Hobbes, „welche der Staat mündlich oder schriftlich oder sonst auf eine verständliche Weise jedem Bürger gibt, um daraus das Gute und Böse zu erkennen und danach zu handeln."4 Diese Definition macht zunächst den positivistischen Standpunkt Hobbes klar. Bürgerliches Gesetz, d. h. vom Staat gesetztes Recht, entscheidet darüber, was der Bürger als gut und böse zum Maßstab seines Handelns zu machen hat. Das Recht, wird Hobbes Auffassung resümiert, „ist ihm nichts anderes als der Inbegriff der durch die eiserne Notwendigkeit der ursprünglichen Bösartigkeit der Menschen abgezwungenen Bedingungen der Pazifikation." 5 Es gibt grundsätzlich keinen inhaltlichen Maßstab, nach dem Gesetze als richtig zu beurteilen wären und aus dem folglich Gehorsam zu leisten wäre, bzw. dieser zu verweigern wäre. Hobbes schreibt: „Das bürgerliche Gesetz (ist) der einzige Erkenntnisgrund für gute und böse Handlungen, und der Oberherr besitzt allein das Recht darüber zu urteilen." 6 Die inhaltliche Richtigkeit oder Übereinstimmung mit dem moralisch-ethischen Urteil des Bürgers kann danach nicht der Grund sein, warum dieser dem Gesetz gehorchen sollte oder nur faktisch gehorcht. Übrig bleibt für Hobbes allein der Zwang, das Strafen und Belohnen: „Strafe ist ein Übel, welches dem Übertreter eines Gesetzes von seiten des Staates in der Absicht zugefügt wird, dass die Bürger abgeschreckt und zum Gehorsam bewogen werden." 7 Zum Gehorsam bewogen werden, soll der Akteur gegenüber den Geboten und Verboten staatlicher Gesetze, abgeschreckt werden von Handlungen, die diesen Normen zuwiderlaufen. 8 Über die strafrechtliche Sanktionierung hinaus geht Hobbes auch davon aus, dass Verträge zwischen Individuen allein wegen der staatlichen Sanktionsandrohung eingehalten werden, d. h. auch die Einhaltung zivilrechtlicher Normen werden bei Hobbes allein auf staatlichen Zwang gestützt. Wer verpflichtet vertragschließende Parteien, fragt Hobbes, den Vertrag zu brechen bzw. welchen Grund haben sie, ihre Verpflichtungen einzuhalten? Ohne bürgerlichen Staat und Zwangsgewalt kann Hobbes keine solchen Gründe erkennen: Der Naturzustand wird ja gerade durch die Furcht gekennzeichnet, dass Verträge gebrochen werden. „Und solange das Recht aller auf alles dauert, kann diese Furcht keinem genommen werden. Vor der Entstehung der bürgerlichen Gewalt, durch welche die Nichterfüllung eines Abkommens bestraft und jeder in dem Besitz seines durch Verträge erlangten

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Leviathan, S. 228. Rixner, Handbuch der Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 30. 6 Leviathan, S. 232. 7 Leviathan, S. 258. 8 Schon hier findet sich augenscheinlich der Grundgedanke der bis heute dominierenden Theorie des Strafzwecks , nämlich der Gedanke der General- und Spezialprävention (vgl. dazu den Überblick bei: Jakobs, Strafrecht Rnr. 27 ff.). 5

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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Eigentums geschützt werden konnte, waren also die Wörter gerecht und ungerecht gar nicht vorhanden." 9 Das eigentliche Problem für Hobbes besteht darin zu begründen, warum die Vertragsparteien den ursprünglichen Vertrag, d. h. den Staatsgründungsvertrag, dessen Verletzung ja nicht durch die Staatsgewalt, der man bei Aufkündigung des Vertrages den Krieg erklärt, durch Sanktionen geahndet werden kann, warum also dieser Vertrag eingehalten werden sollte. Um das zu begründen, erfolgte Hobbes aufwendige Konstruktion des kriegerischen Naturzustandes, dessen Überwindung er für zwingend notwendig hält. Diese Notwendigkeit kann Hobbes nicht durch den persönlichen Vorteil der Vertragschließenden begründen, da bei nachteiligen Wirkungen die Vertragsbrüchigkeit jederzeit möglich sein müsste. Den persönlichen Vorteil fasst Hobbes deshalb als „natürliches Gesetz" (dieses grenzt er von Naturrecht ab, was das Recht meine, seine Kräfte zur Selbsterhaltung beliebig zu gebrauchen. Naturrecht begründet Freiheit. Das natürliche Gesetz eine Verbindlichkeit). Das erste natürliche Gesetz lautet bei Hobbes: „Such Frieden und jage ihm nach"; das zweite: „Sobald seine Ruhe und Selbsterhaltung gesichert ist, muss auch jeder von seinem Recht auf alles - vorausgesetzt, dass andere dazu auch bereit sind - abgehen und mit der Freiheit zufrieden sein, die er den übrigen eingeräumt wissen will." 1 0 Aus diesen Gesetzen folge das dritte natürliche Gesetz: „Vertragliche Abkommen müssen erfüllt werden". 11 Diese Gesetze nennt Hobbes natürliche, weil es sich um „Vorschriften oder allgemeine Regeln, welche die Vernunft lehrt" handelt. 12 Der anthropologischen Kriegslüsternheit wird also eine ebenso anthropologische vernünftige Friedensliebe der Menschen gegenübergestellt, um die Notwendigkeit des Übergangs in den bürgerlichen Zustand zu begründen. Das Gesetz der Vernunft ist für Hobbes, „den Privatwillen dem allgemeinen Willen zu unterwerfen; die natürlichen, besonderen Willen müssen unterworfen werden dem allgemeinen Willen, den Gesetzen der Vernunft. Dieser allgemeine Wille ist aber nicht der aller Einzelnen, sondern der Wille des Regenten, der somit den Einzelnen nicht verantwortlich, vielmehr gegen diesen Privatwillen gerichtet ist; ihm müssen alle gehorchen." 13 Die inhaltliche Stichhaltigkeit der Argumentation soll hier nicht interessieren. Entscheidend ist vielmehr, dass in der Argumentationslogik eine Begründung des allgemeinen Gesetzesgehorsams durch die Legitimation des Staates liegt. Die Bindung an den Staatsgründungsvertrag folgt bei Hobbes aus einer - wenn auch sehr niedrig gehängten - Legitimation des Staates, die aus seiner Existenz als friedensicherndes Organ folgt. Wie selbstverständlich nimmt Hobbes auch eine dem staatlichen Zwang reziproke Gehorsamspflicht gegenüber einzelnen, der 9 Leviathan, S. 130. 10 Leviathan, S. 119. 11 Leviathan, S. 129. 12 Leviathan, S. 118. 13 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 275.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Staatsgründung nachfolgenden Gesetzen an, die aber nicht begründet wird, sie folgt quasi automatisch aus der Bindung an den Staatsgründungsvertrag. Damit lässt sich als Ergebnis festhalten, dass es schon bei Hobbes einen Dualismus zur Erklärung des Wirkmechanismus staatlicher Gesetze gibt. Auf der einen Seite sorgt staatlicher Zwang für Gesetzesgehorsam, auf der anderen Seite verpflichtet aber auch die Legitimation des Staates den Bürger zum Gehorsam. Dabei bleibt die Legitimation des Staates bei Hobbes auf der allgemein abstrakten Ebene der Rechtfertigung seiner schieren Existenz. Zwischen der Legitimation des Staates und den konkreten inhaltlichen Bestimmungen einzelner Gesetze gibt es bei Hobbes kein vermittelndes Glied, das den Gehorsam der Bürger normativ substantiieren oder empirisch wahrscheinlicher machen würde. Die rationalistische Konstruktion des Staates und die positivistische des bürgerlichen Gesetzes, denen durch Zwang der nötige Nachdruck verliehen wird, setzt bestimmte Annahmen über menschliche Erkenntnis und Handlungen voraus. Im Leviathan entwickelt Hobbes seine politische Philosophie, die ihren Unterbau in den Elementa philosophiae erhält. Hobbes Elementa philosophiae umfasst drei Bände. Der 3. Teil de cive, ebenfalls staatsphilosophische Überlegungen, erschien 1642 als erster; ihm folgte 1655 die Naturphilosophie im 2. Teil de corpore; als letzter Band erschien 1658 de homine. Hobbes entwickelt in diesen Werken in erkenntnistheoretischer Hinsicht einen materialistischen Sensualismus und in ethischer Hinsicht einen rationalistischen Utilitarismus. „Philosophie ist die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt... Wirkungen aber und Erscheinungen sind Fähigkeiten und Vermögen der Körper." 14 Deshalb geht seine Philosophie von den Körpern, d. h. der Materie, und deren Wahrnehmung durch die Menschen aus. Das Denken ist bei Hobbes befreit von jeder theologischen Geistigkeit ein Akt der Körper, der sich durch Addieren und Subtrahieren von Vorstellungen charakterisieren lässt.15 Dieser materialistischen Erfahrungserkenntnis stellt Hobbes eine utilitaristische Handlungstheorie und Ethik zur Seite. Wenn der Mensch Körper ist, sein Verstand und seine Vernunft auf Sinneserfahrung beruhen, ist menschliches Handeln konsequenterweise im wesentlichen beeinflusst durch Sinneswahrnehmungen, ein Spiel von Kräften der Sinnesreize und Sinnesreaktionen. Angenehme Sinnesempfindungen werden erstrebt oder bejaht, was unangenehm ist, wird vermieden und abgelehnt.16 Hobbes Anthropologie charakterisiert den Menschen als Egoisten, der sein Handeln an Nützlichkeitsgesichtspunkten orientiert; nützlich ist, was Leiden vermeidet und Lustempfinden steigert. Gleichzeitig wird Handeln bei Hobbes als vollständig rationalistisch durchstrukturiert konzipiert, d. h. jede einzelne Handlung ist an Präferenzen orientiert, lässt sich nicht nur, sondern wird auch rational begründet. Die Konzeptionen der Implementation von Recht durch Zwang 14

Hobbes, De Corpore, Cap. 1. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, S. 175 f. 16 Hirschberger, aaO., S. 176 f.

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Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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ist aus diesem einfachen Handlungsmodell leicht zu entwickeln, sie liegt auf der Hand: Staatlicher Zwang durch Strafe als Zwangsmittel wird als Übel empfunden, das es zu vermeiden gilt, was beim rational kalkulierenden Individuum zu der Einsicht führt, dass es klüger ist, den staatlichen Gesetzen Gehorsam zu leisten. Überlegungen, die es lohnender erscheinen lassen, nicht Gehorsam zu leisten, bauen auf dem gleichen Modell auf. Konzeptionen, die die rationale Vorteilsrechnung in den Vordergrund stellen, sind als ökonomische Theorie des Rechts zu erörtern. Dieses Modell, so scheint es, liegt bis heute dem impliziten Verständnis der Juristen von der Wirkung des Rechts zugrunde. Und es scheint auch das Modell zu sein, anhand dessen das Vollzugsdefizit im Umweltrecht festgestellt wird, d. h. es wird bemängelt, dass umweltrechtliche Handlungsimperative nicht ausreichend abgesichert oder durchgesetzt durch das staatliche Zwangsinstrumentarium in tatsächliche Handlungen umgesetzt werden. Diese Kritik ist aber nur dann fruchtbar, wenn das zugrunde gelegte Modell als Erklärungsansatz für den Wirkmechanismus von Recht ausreichend ist. Bevor Gegenpositionen zur Hereinnahme des Zwanges in den Begriff des Rechts erörtert werden, sollen einige jüngere und heute einflussreichere Theorien des Zwangsrechts erörtert werden.

II. Die ökonomische Theorie des Rechts Rechtsbefolgung als Kosten-Nutzen-Kalkül Hobbes wird gemeinhin als Urvater oder zumindest als einer der ersten Vertreter des (englischen) Utilitarismus betrachtet, seine philosophischen Prämissen und Grundannahmen als Ausgangspunkt und Elemente utilitaristischer Philosophie gewertet. Als typisch für diese philosophische Grundhaltung wird Hobbes Entwicklung der Notwendigkeit staatlicher Macht aus einem (konstruierten) Naturzustand angesehen. Diese Vorgehensweise impliziert nicht nur eine fragwürdige Prämisse über die Natur des Menschen, sondern auf einer dahinter liegenden Schicht setzt diese auswechselbare Prämisse 17 die weitere Annahme voraus, dass die Konstituierung von Gesellschaft als aus dem zufälligen Zusammenwirken individueller Willen, denen vernünftiges oder zumindest egoistisch rationales Entscheiden und Handeln zugeschrieben wird, zu denken ist. Der Verweis auf gleichzeitig vernunftgeleitetes und egoistisch rationales Handeln macht die Problematik einer schematischen Zuordnung unterschiedlicher Denker zu einer philosophischen Grundrichtung deutlich. Parsons berühmte Definition des Utilitarismus wird kritisiert, weil Autoren wie David Hume, Adam Smith, John Stuart Mill oder Herbert Spencer keineswegs den ausschließlich präsozialen und egoistischen Charakter menschlicher Präferenzen behaupteten, sondern durchaus die Existenz altruistischer Motive und sozialer Handlungsweisen annahmen, gleichwohl dem Utilitarismus zugerech17 Vgl. Locke, Über die Regierung, die von der grds. Geselligkeit und Friedlichkeit des Menschen ausgeht.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

net wurden. 18 Als Utilitarismus hatte Parsons jene Theorien bezeichnet, in denen das menschliche Handeln a priori individuell, unabhängig und an klaren Präferenzen und Zielen orientiert gedacht wird. Daraus werde dann, da sich die individuellen Präferenzen gleichartig auf die Erlangung knapper Güter richten, eine Konkurrenzsituation oder ein Kampf aller gegen alle abgeleitet. Mitgedacht in diesem Konzept ist die Möglichkeit oder Fähigkeit der Individuen, bei gegebenen Zielen rational die effektivsten, am wenigsten kostspieligen, wenig Aufwand erfordernden Mittel zur Erreichung dieser Ziele auszuwählen und einzusetzen. Grundlage des utilitaristischen Konzepts, dem seine frühbürgerlichen Ursprünge auf der Stirn geschrieben stehen, ist ein homo oekonomicus, der Entscheidungen für sein Handeln auf der Grundlage rationaler Kosten-Nutzen-Analysen trifft. Dieses Modell individueller rationaler Entscheidungen liegt der weitgehend unhinterfragten Logik der juristischen Praxis von der Gesetzgebung über die Verwaltung bis zur Rechtsprechung zugrunde. Das könnte am Beispiel des der juristischen Ausbildung zugrunde liegenden Reflexionsniveaus und anhand beliebiger und insofern exemplarischer Begründungen für Gesetzesänderungen belegt werden. Weil sie den Standpunkt des Subjekts einnimmt, vom individuellen Nutzenkalkül ausgeht, wurde für die Theorierichtung die Bezeichnung subjektivistischer Juridismus gewählt. Die individuelle Kosten-Nutzen-Rechnung wurde zur Grundlage neuerer elaborierter Theorien der rational choice 19 , der neuen politischen Ökonomie 20 oder der ökonomischen Theorie des Rechts21, die versuchen, unterschiedlichste gesellschaftliche Entscheidungen22 von der Wahlentscheidung23 bis zur Hilfsbereitschaft 24 auf individuelle Interessenkalküle zurückzuführen; entsprechend wird auch die Bereitschaft zur Rechtsbefolgung auf individuelle Interessenkalküle zurückgeführt. Drei zentrale Thesen werden heute als vereinigendes Merkmal der neuen politischen Ökonomie hervorgehoben: Erstens ist die Theorie im Ansatz individualistisch, d. h. der Zugang zum Verständnis von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Recht wird auf der Ebene des Individuums gesucht. Die Makroebene wird aus einer Vielzahl von Entscheidungen auf der Mikroebene abgeleitet und konstituiert sich aus dieser. „In der Gesellschaft, im Staat, in den Parteien usw. geschieht demis Vgl. Joas, Kreatives Handeln, S. 40. ι 9 Coleman, Foundation of Social Theory (London 1990). 20 Frank, If Homo Economicus could choose his own Utility Function, would he want One with a Conscience?, in: American Economic Review 77 (1987). 2 1 Kirsch, Neue Politische Ökonomie (NPÖ). 22 Buchanan, Individual Choice in Voting and the Market, in: Journal of Political Economy 1954, S. 215. 23 Posner, Economic Analysis of Law; Gawel, Umweltallokation durch Ordnugnsrecht. 24 Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens; Frank, Die Rationalität einer ökonomischen Analyse des Rechts, in: ZfRSoz 1986, S. 191.

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nach etwas, weil sich die individuellen Mitglieder der Gesellschaft, des Staates, der Parteien usw. für dieses oder jenes entschieden haben."25 Zweitens beruhe diese Entscheidung der individuellen Mitglieder der Gesellschaft auf einem Vergleich verschiedener Alternativen, unter denen die für den Einzelnen günstigste gewählt wird. Die Alternativen sollen auf Vor- und Nachteile für die Interessen, Ziele oder Präferenzen des Individuums geprüft und angenommen oder verworfen werden. Prüfmaßstab sei die Individuelle Wohlfahrt oder der größtmögliche Nutzen. Der Nutzen richtet sich nach individuellen Präferenzen, d. h. danach, was das Individuum aus seiner Sicht individuell für nützlich hält. 26 Die Akteure können eine Antwort auf die Frage „was ist von all dem, was ich in dieser Situation tun kann, das aus meiner Sicht beste" geben.27 Die Einwände gegen einen grobschlächtigen Egoismus, wie er etwa bei J. Bentham 28 auftaucht, vorwegnehmend wird behauptet, dieses Interessen-Kalkül beinhalte nicht die These, dass die Wohlfahrt anderer zwangsläufig missachtet werde oder zumindest unberücksichtigt bleibe. Die Wohlfahrt anderer wird entweder berechnend - als gegenseitige Protektion oder bewusste Abwehr negativer Rückwirkungen (Entwicklungshilfe, um Flüchtlingsströme zu verhindern) oder als sich hinter dem Rücken der individuellen Egoisten sich von selbst einstellende allgemeine Wohlfahrt gedacht.29 Drittens wird die Rationalität der Entscheidung oder Wahlhandlung vorausgesetzt, was besagt, dass bei gegebenen Präferenzen die bekannten Vor- und Nachteile bekannter Alternativen auf irgendeine Art verglichen werden und die Entscheidung getroffen wird, die die Zielverwirklichung am ehesten verspricht. Damit ist die Rationalität der Entscheidung mindestens in drei Richtungen eingeschränkt. Zunächst wird nicht - oder nicht mehr - vertreten, dass die Präferenzbestimmung wirklich vernünftig ist, die gesetzten Präferenzen kön25 Kirsch, NPÖ, S. 5. 26 Eine besondere Note erhält die Nutzenbestimmung aus „entwicklungspsychobiologischer Sicht" (Hammer/Keller, Überlegungen zur Entstehung des Rechtsempfindens aus entwicklungspsychobiologischer Sicht). Sie wird unter einen „biogenetischen Imperativ" gestellt. Das bedeutet, „dass der Zweck auch der psychologischen Wirkmechanismen, welche Verhalten generieren, darin zu sehen ist, möglichst viele Replika der eigenen Gene an die nächste Generation weiterzugeben und diese wiederum so zu betreuen, dass deren Fortpflanzungserfolg wahrscheinlich ist." (aaO., S. 157) Diese funktional-genetische Nutzenbestimmung wird als unbewusstes Ziel der ansonsten rationalen Kalkulationen der Akteure unterlegt. Normgenerierung und Normbefolgung wird dann auf die Kosten im Hinblick auf das generelle Ziel der optimalen genetischen Reproduktion geprüft. Dieser Ansatz schwankt zwischen genetischem Determinismus und rationaler Entscheidungsfreiheit in grotesker Weise hin und her. Dieser Unentschiedenheit wird dann auch noch eine funktionalistische Bestimmung der genetischen Determination übergestülpt. Gefährlich ist ein solcher Ansatz, weil er Tür und Tor öffnet, um die genetisch funktionale Determination zu erweitern, ζ. B. um - aus der deutschen Geschichte bekannte - „rassengenetische" Imperative. 27 Kirsch, NPÖ, S. 8. 28 Bentham, Theorie der Strafen und Belohnungen, passim. 29 Vgl. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (München 1993). Über die invisible Hand des Marktes, die zur Wohlfahrt aller führt.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

nen von einem „objektiven" Standpunkt betrachtet ausgesprochen unvernünftig sein. Zweitens impliziert die rationale Wahl nicht, dass das entscheidende Individuum umfassend informiert ist. Das gilt sowohl hinsichtlich der Präferenzsetzungen, der abgewogenen Vor- und Nachteile wie hinsichtlich der möglichen Alternativen. „Es wird lediglich unterstellt, dass er (der Akteur) zwischen den ihm bekannten Alternativen die beste wählt." 30 Drittens wird nicht (mehr) verlangt, dass die rationale Wahl explizit erfolgt und langwieriges Räsonieren voraussetzt. „Auch ein Spontankauf ist in dem Sinne ein rationaler Wahlakt, dass der einzelne - diesmal eben ohne (langes) Nachdenken, das tut, was er für das Beste hält." 31 Folgt man diesen Annahmen des rational-choice-Ansatzes oder der „neuen politischen Ökonomie", lassen sich die grundsätzlichen Bedingungen für die Befolgung rechtlicher Verbote, Gebote oder Anreize recht einfach und scheinbar plausibel bestimmen. Die ökonomische Analyse des Rechts hat bisher im wesentlichen eine Theorie des Strafrechts und des Zivilrechts 32 entwickelt, während eine Theorien des Verwaltungsrechts 33, genauer des regulativen Umweltrechts 34, überwiegend neueren Datums sind 35 . Die von der ökonomischen Analyse des Strafrechts entwickelten Überlegungen zur individuellen Rechtsbefolgung lassen sich jedoch zumindest teilweise auf umweltregulatives Ordnungsrecht übertragen, jedenfalls soweit sanktionsbewehrte Verhaltensnormen statuiert werden. 36 Dabei kommt es aus der Sicht des Individuums zunächst nicht darauf an, ob die Verhaltensnorm, wie im Strafrecht regelmäßig, direkt vom Gesetz vorgegeben wird, oder ob sie erst durch die Verwaltungsbehörde konkretisiert und individualisiert wird, da jeweils staatlicher30 Kirsch, NPÖ, S. 7. 31 Kirsch, NPÖ, S. 7 f. 32 Anderson, The Economics of Crime; Bartling, Zur Ökonomik der Kriminalitätsbekämpfung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 1974, S. 313; Becker, Crime and Punishment: An Economic approach, in: Journal of Political Economics 1968 (76), S. 169; Ciaassen, Ökonomische Aspekte gesellschaftlicher Probleme, in: Bender, et al. Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, S. 119; Grohmann, Strafverfolgung und Strafvollzug. Eine ökonomische Analyse; Hellmann, Alper, Economics of Crime: Theory and Practice; Kunz, Ansätze zu einer ökonomischen Theorie individueller und organisierter Kriminalität; ders., Vor einer neuen Ökonomik der Kriminalität, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1976, S. 282; Posner, Economic Analysis of Law, Boston-Toronto 1992; Pyle, The Economics of Crime and Law Enforcement; Roger, The Economics of Crime; Rottenberg, The Economics of Crime and Punishment; Shavell, Economic Analysis of Accident Law; Thelen, Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsdelinquenz aus ökonomischer Sicht; Tullock, An Economic Approach to Crime, in: Social Science Quarterly 1969 (59) S. 59; Vanberg, Verbrechen, Strafe und Abschreckung. 33 Gawel, ZaU 1995, S. 79 ff. 34 Frey, Umweltökonomie; Gawel, Umweltallokation durch Ordnungsrecht; Gawel, ZaU 1994, S. 37; Holzinger, Umweltpolitische Instrumente aus der Sicht der staatlichen Bürokratie. Versuch einer Anwendung der ökonomischen Theorie der Bürokratie; Horbach, Neue Politische Ökonomie und Umweltpolitik. 35 Gawel, ZaU 1994, S. 47. 36 Gawel, ZaU 1994, S. 47 ff.

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seits die Einhaltung bestimmter Gebote oder Verbote eingefordert werden; deren Befolgung wird - dem Anspruch nach - kontrolliert und bei Mißachtung werden Sanktionen verhängt. Klassisch sind das Strafen oder Bußgelder, im Ordnungsrecht lässt sich aber wiederum aus der Sicht des Individuums auch die Erteilung oder Nichterteilung einer Genehmigung oder deren Entzug als Sanktion, die ζ. T. erheblich empfindlicher treffen kann als ζ. B. eine Geldstrafe, verstehen.37 Die ökonomische Theorie des Rechts hält es für methodisch abwegig, die Zuoder Abnahme von Normverstößen aus geänderten Einstellungen, Werten oder Präferenzen individueller Akteure abzuleiten. Auszugehen sei vielmehr von der Annahme, dass verändertes Verhalten nicht veränderten Präferenzen, sondern veränderten Restriktionsbedingungen, unter denen Individuen handeln, kausal zuzurechnen ist. 38 Zu den Restriktionsbedingungen gehören einerseits marktmäßig produzierte Knappheiten und andererseits institutionell produzierte Knappheiten. Wenn Individuen erstens geordnete und feststehende Präferenzen haben und zweitens ihre Ressourcen auf das von ihnen präferierte Güterbündel so verteilen, dass der aus den gegebenen Ressourcen gezogene subjektive Nutzen maximal wird, muss die Nachfrage in Abhängigkeit vom Grad der Restriktion vorhandener Güter sinken. Das heißt, die Individuen werden in Abhängigkeit von den Restriktionen ihre Ressourcen anders einsetzen, also ihr Verhalten ändern. „Jedes menschliche Verhalten", so der Glaubenssatz der neuen politischen Ökonomie, „lässt sich als eine Wahl zwischen Alternativen unter Knappheitsbedingungen rekonstruieren. Das gilt auch für die Frage, ob Individuen einer Norm folgen." 39 Rechtsnormen gehören zu den institutionellen Restriktionsbedingungen, woraus folgt, dass die Restriktionsbedingungen sich ändern, wenn das Recht sich ändert, insbesondere wenn die rechtlichen festgesetzten Sanktionen in ihrer Höhe oder Eintrittswahrscheinlichkeit verringert oder erhöht werden. Durch die Restriktionen ist ein bestimmtes Gut oder ein angestrebter Vorteil schwieriger zu erreichen, d. h., das Gut wird knapper oder die Kosten des Gutes werden höher. 40 Abzustellen ist bei der Wahl verschiedener Handlungsalternativen auf die Kosten, die durch rechtlich bestimmte Sanktionen verursacht werden.

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Im Strafrecht lässt sich dieses Verhältnis am Beispiel „Entziehung der Fahrerlaubnis" beobachten. Die zunächst ordnungsrechtlich gedachte Maßnahme, die letztlich von den Ordnungsbehörden durchgeführt und von Verwaltungsgerichten überprüft wird, ist für die Delinquenten die entscheidende Sanktion, der gegenüber die Geldstrafe deutlich in den Hintergrund tritt. Nach dem Ansatz der neuen politischen Ökonomie kommt es aber gerade auf die Sicht des Individuums bei der Bewertung von Rechtsfolgen an, so dass die rechtsdogmatisch oder aus der Perspektive des Staates problematische (man denke etwa an Art. 103 GG, das strenge Bestimmtheitsgebot für strafrechtliche Sanktionen) Gleichsetzung von Sanktionen und ordnungsrechtlicher Maßnahme für die hier interessierende Fragestellung gerechtfertigt ist. 38 Engel, Normen und Nutzen, S. 83. 3 9 Engel, aaO., S. 87. 40 Engel, aaO., S. 85.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Sanktionen führen allerdings, so argumentiert die ökonomische Analyse des Rechts, nicht zwangsläufig zu einer Anpassung des individuellen Verhaltens an die normativen Vorgaben oder Erwartungen, sondern werden von den angesprochenen Individuen in ihr Kosten-Nutzen-Kalkül eingestellt, d. h. nach diesem Modell vergleicht das Individuum die Kosten normwidrigen Verhaltens mit den Kosten normgerechten Verhaltens auf der einen Seite und den individuellen Nutzen normgerechten Verhaltens mit dem individuellen Nutzen normwidrigen Verhaltens andererseits. Stellt man nur auf die rechtlichen Sanktionen ab, d. h. lässt die gesellschaftlichen Kosten, Verlust an Ansehen und mögliche (langfristige) Rückwirkungen des normwidrigen Verhaltens als ceterus paribus unberücksichtigt, stellen sich die angedrohten Sanktionen als Kosten des normwidrigen Verhaltens dar, die mit dem Vorteil normwidrigen Verhaltens verglichen und abgewogen werden können. Nur wenn der individuelle Nachteil den individuellen Vorteil bei gegebener Präferenz überwiegt, ist dem Ansatz zufolge ein normgerechtes Verhalten zu erwarten. Je größer der Wert des Nettonutzens einer Handlung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Handlung ausgeführt wird. 41 Voraussetzungen und Bestandteile des Kostenkalküls lassen sich weiter spezifizieren, d. h. das Modell der individuellen Entscheidung wird weiter differenziert. Dabei gibt es unterschiedliche Ausprägungen und Gewichtungen der Elemente, die in den Entscheidungsprozeß eingehen; hier sollen nur die drei wesentlichen, die jeweils weiter differenzierbar sind, benannt werden. Voraussetzung, um überhaupt in Überlegungen zur Normbefolgung einzutreten, ist die Kenntnis und das Verständnis der Norm. 42 Wenn also die individuelle Kenntnis oben bei der Entwicklung des Theorieansatzes der neuen politischen Ökonomie als nicht (mehr) geforderte Bedingung der Entscheidung charakterisiert wurde, muss diese Bedingung bei einer ökonomischen Analyse der Normbefolgung zumindest in Bezug auf das von der Norm gebotene oder verbotene Verhalten wieder eingefühlt werden. Die Kenntnis der Norm ist schon deshalb notwendig, um Sanktionen erwarten zu können, d. h. Information über die Norm ist untrennbar verbunden mit der berechnenden Einbeziehung der Sanktion und insofern in der ökonomischen Theorie des Rechts kein eigenständiger Faktor der Rechtsbefolgung. 43 Die Sanktion selbst fließt nicht abstrakt in das Kalkül ein, sondern wird nach ihrer Höhe und Härte 44 einerseits und der Eintrittswahrscheinlichkeit 45 anderer41 Dieckmann, Die Befolgung von Gesetzen, S. 136; Frank, ZfRSoz 1986, S. 204 ff.; Becker, Crime and Punishment, S. 169 ff. 42 Aubert, Einige soziale Funktionen der Gesetzgebung, S. 287; Opp, Einige Bedingungen für die Befolgung von Gesetzen, S. 219; Dieckmann, Die Befolgung von Gesetzen, S. 33, 137. 43 Dieckmann, Die Befolgung, S. 89 ff. 44 Engel, Normen und Nutzen, S. 100. 45 Opp formuliert: „Der Grad der erwarteten negativen Sanktionen einer Person bei der Nichteinhaltung eines Gesetzes ist um so höher, je sicherer die Person mit negativen Sanktionen bei der Übertretung rechnet und je schwerer diese Sanktionen für die Person sind." (Einige Bedingungen für die Befolgung, S. 221).

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seits bewertet. Bei einer nach individuellen Präferenzen harten Sanktion und einer gleichzeitig hohen Eintrittswahrscheinlichkeit der Entdeckung des normwidrigen Verhaltens und einer daraus folgenden Sanktion wäre also, Kenntnis der Norm vorausgesetzt, normwidriges Verhalten nur dann zu erwarten, wenn der erwartete Nutzen dieses Verhaltens überaus groß ist. 46 Oder: bei den genannten Voraussetzungen ist bei gegebenem Nutzen des normwidrigen Verhaltens ein normgerechtes Verhalten weitaus eher zu erwarten, als bei individuell gewertet geringer Sanktion und geringer Sanktionswahrscheinlichkeit. Diesem Modell folgend kann bei gegebener Information und gegebenem Nutzen des Normverstoßes die Bereitschaft zur Normbefolgung erhöht werden, wenn Sanktionshöhe und Sanktionswahrscheinlichkeit gesteigert werden. 47 Und: mangelnde Kontrolle und damit Eintrittswahrscheinlichkeit der Sanktion müsste durch drastischere Sanktionen kompensiert werden können, was entsprechend umgekehrt gilt. Einer der zentralen Kritikpunkte an der ökonomischen Theorie der Gesellschaft betrifft die Vernachlässigung altruistischer Motive im menschlichen Handeln. Menschliches Handeln und Entscheiden, lässt sich argumentieren, basiert nicht nur auf egoistischen Überlegungen und Motiven, vielmehr nehmen altruistische Verhaltensweisen und Beweggründe einen bedeutenden Platz im menschlichen Zusammenleben ein. 48 Die neue politische Ökonomie antwortet auf diesen Vorwurf, indem sie versucht, Handlungen, die altruistisch erscheinen, als in Wahrheit egoistische, aber nur indirekt vorteilhafte darzustellen. 49 Der Egoist spendet etwa für ein Altersheim, um als großzügiger Mensch die Anerkennung seiner Umgebung zu erlangen. Vielleicht will er auch noch Bürgermeister werden oder verspricht sich die Absicherung eigener Altersgebrechlichkeit. Entsprechend wird, wenn Gewissen/Gewissensbisse als Ausdruck zumindest individueller moralischer Verhaltensmaßstäbe und damit die Möglichkeit normgeleiteten Verhaltens anerkannt wird, der theoretische Versuch unternommen, Gewissen selbst als vorteilhaft und damit als Ergebnis rationaler Kalkulation in einer ökonomischen Theorie des individuellen Gewissens zu begründen. 50 Vorteilhaft sei Gewissen, weil der Einzelne es als Entlastung empfinden könne, wenn bestimmte Handlungsalternativen „verboten" seien, es entfalle die Entscheidungslast. Zweitens wirke das Gewissen „in Richtung auf eine erhöhte Vorhersehbarkeit des eigenen Verhaltens", das wiederum notwendig zur Gewinnung einer Ich-Identität sei. Die Formierung einer Ich-Identität ist dann zwar nicht „selfmterested" aber „interested in his own self' 5 1 , womit die rational-choice-Welt wieder in Ordnung ist. Soziale Normen, d. h. gleiche Normen 46 Der Nutzen wird auch als „positive Sanktion" bezeichnet, die den negativen Sanktionen im Kalkül, das den Nettonutzen berechnet, gegenübergestellt wird (Dieckmann, Die Befolgung, S. 40; Opp, Einige Bedingungen, S2.22). 47 Engel, Normen und Nutzen, S. 100. 48 Eder, ZfRSoz 1986, S. 16. 49 Frank, ZfRSoz 1986, S195. so Kirsch, NPÖ, S. 86. 5i Kirsch, NPÖ, S. 90.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

würden internalisiert, um den reibungslosen Verkehr mit anderen zu gewährleisten. Die Kosten, den gesellschaftlichen „moral space" zu verlassen, könnten für das Individuum so hoch sein, dass es eine bewusste Entscheidung zur Aufrechterhaltung der moralischen Normen trifft. 52 Abgesehen von der Frage, ob mit den letzten Argumenten der Rahmen der neuen politischen Ökonomie gesprengt wird 5 3 , weil neben dem Nutzen eine gleichrangige Handlungsorientierung an moralischen Normen etabliert wird, stellen sich als Problem die anthropologischen Prämissen der gegensätzlichen Positionen. Wenn der Altruismus als Konstante in die Diskussion gebracht wird, ist ein „Menschenbild" Voraussetzung, das diesen als „soziales Wesen" begreift. Dem setzt die neue politische Ökonomie als anthropologische Prämisse ein Bild des Menschen als egoistische, ausschließlich verstandesgeleitete Nomade entgegen.54 Diese zentrale Prämisse des Ansatzes wird aber i.d.R. nicht begründet und stößt zumindest auf Begründungsschwierigkeiten. Koordinationsleistungen sowie Intersubjektivität und letztlich Sprache bleiben in der Konstruktion einer egoistischen rational entscheidenden Nomade unerklärbar oder sind allenfalls zufällig. Aufgrund des mangelnden Rekurses auf Intersubjektivität und Kooperationsnotwendigkeiten und -leistungen lässt sich die „Kritik der ökonomischen Theorie des Sozialen als eine 52 Kirsch, NPÖ, S. 97 ff. 53 Empirische Arbeiten zur Rechtsbefolgung haben bei der Erforschung der Gründe für die Normbefolgung und für Normabweichungen neben der Sanktionshöhe und Sanktionswahrscheinlichkeit den Grad der normativen Abweichung, d. h. die normativ-moralische Übereinstimmung des Akteurs mit den gesetzlichen Normen abgefragt (Brauer/Frey/Amelang, Kriminologisches Journal 1975, S. 70; Meier /Johnson, American Sociological Review 1977, S. 292; Schwartz / Orleans, University of Chicago Law review 1967, S. 442; Silberman, American Sociological Review 1976, S. 442; Tittie, Social Forces 1977, S. 579). Opp (Einige Bedingungen für die Befolgung, S. 221) und Dieckmann (Die Befolgung S. 41) erweitern deshalb auf der Grundlage des Kosten-Nutzen-Modells die Bedingungen der Rechtsbefolgung über die Sanktionierung hinaus um die normative Übereinstimmung des Akteurs mit den gesetzlichen Normen. Das führt sie zu folgender Annahme: „je geringer der Grad der negativen Abweichung einer Person von einem Gesetz ist, desto eher wird die Person das Gesetz einhalten." (Opp, aaO., S. 223). Während bei Opp die Bedingung gleichsam neben den Sanktionen und der Kostenkalkulation stehen bleibt, verbindet Dickmann beides, indem er die Abweichung von den individuellen moralischen Normen auf der Kostenseite verbucht (Dieckmann, aaO., S. 188). In Wahrheit wird damit aber das Kalkulationsmodell, das auf externe Sanktionen abstellt, unter dem Druck der Tatsachen aufgeweicht. Wir werden sehen, dass die moralische Übereinstimmung von Akteur und Gesetzesnorm aus einer anderen theoretischen Tradition entstammt (Unten: soziologischer Objektivismus) - auch damit wird der theoretische Rahmen der neuen politischen Ökonomie gesprengt. 54 Marx bemerkt zur Anthropologie von Jeremias Bentham und zur utilitaristischen Handlungstheorie: „Mit naivester Trockenheit unterstellt er (Bentham) den modernen Spießbürger, speziell den englischen Spießbürger, als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmenschen und seiner Welt nützlich, ist an und für sich nützlich. An diesem Maßstab beurteilt er dann Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.... Wenn ich die Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie der bürgerlichen Dummheit nennen." (Marx, Das Kapital I, S. 640). Von dieser naiven Trockenheit des J. Bentham hat sich die neue politische Ökonomie bisher nicht verabschiedet.

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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Theorie der Pathologie des Sozialen formulieren". 55 Das kollektive Handeln wird umgedeutet in private Formen des Sozialen; moralische Formen der Kooperation werden durch strategische Formen der Kooperation ersetzt, d. h. die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird „kapitalisiert". „Anstatt eine gemeinsame Welt aufzubauen bzw. zu verändern, entstehen viele subjektive Welten, die sich zueinander nur mehr ,privat 4 verhalten. 4'56 Das kollektive Gedächtnis werde durch diese Form der Weltdeutung ebenso wie der Geltungsanspruch von Normen zerstört. Das nennt Eder deshalb pathologisch, weil kollektive Lernprozesse auf diesem Wege behindert werden. 57 Die ökonomische Theorie des Rechts setzt, wie gezeigt, weitere Prämissen, die schlechterdings nicht haltbar sind. Als ceterus paribus Bedingung der Nettonutzenberechnung werden gleichbleibende Präferenzen und gleichbleibende Ressourcen vorausgesetzt. Nur unter diesen Prämissen können Normverstöße oder die Normbefolgung in Abhängigkeit von den Restriktionsbedingungen „berechnet44 werden. Gerade diese Prämissen können aber nicht gesetzt werden, da sowohl die Verfügung über Ressourcen wie die Präferenzsetzung in modernen Gesellschaften sich wandeln. Die Befolgung des berühmten, für arm und reich gleich geltenden Verbotes, „unter Brücken zu schlafen 44, das fröhliche Urständ als Verbot des „bettelnden Lagerns in Innenstädten44 feiert, hängt offenbar gerade von den verfügbaren individuellen Ressourcen und sich daraus ableitenden Präferenzen ab und höchstens zweitrangig von der Höhe und Wahrscheinlichkeit der Sanktion. Der Reichtum und die Reichtumsverteilung einer Gesellschaft beeinflusst in diesem Fall Präferenzsetzungen und individuell verfügbare Ressourcen. Der Grad der Normbefolgung hängt dann von den Verschiebungen dieser als konstant gesetzten Bedingungen ab und nicht von den rechtlichen Restriktionsbedingungen. Die veränderten subjektiven Präferenzen lassen sich natürlich wieder in eine Kosten-Nutzen-Berechnung einstellen, relevant für Rechtsbefolgung, und darauf kommt es an, bleiben aber die Ressourcen und Präferenzen, die die ökonomische Theorie des Rechts gerade nur als Randbedingung in ihre Betrachtung einstellen will und einstellt. Kehren wir auf die Ebene der Rechtsbefolgung zurück. Die Erklärung der Befolgung oder Nicht-Befolgung von rechtlichen Geboten und Verboten mit einer individuellen Kosten-Nutzen-Kalkulation ist offensichtlich zu eindimensional. Das gibt die neue politische Ökonomie implizit zu, wenn sie das Phänomen der normgesteuerten oder altruistischen Handlung und Entscheidung anerkennt. Ausgehend von der Frage nach den Gründen für die Gesetzesbefolgung erscheint es dann zweitrangig, ob das moralgesteuerte Verhalten, d. h. die moralgesteuerte Befolgung von Rechtsnormen ihrerseits theoretisch wieder auf rationale Gründe gestützt werden könnte. Damit muss die Kosten-Nutzen-Kalkulation auch in der ökonomischen 55

Eder, Geschichte als Lernprozess, S. 58. Ebenda. 57 Eder, aaO., S. 62, 30 ff. 56

5 Fisahn

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Theorie des Rechts konsequenterweise zu einem unter anderen Motiven für die Befolgung oder Nichtbefolgung von Rechtsnormen werden. Damit stößt man zum zentralen Einwand gegen das Kalkulationsmodell vor: Die Vorstellung einer ständigen Kosten-Nutzen-Analyse sämtlicher Entscheidungen und Handlungen stellt eine Überforderung dar, bzw. unterschätzt die Komplexität sowohl der Entscheidungssituationen wie der normativen Anforderungen. 58 Um überhaupt handlungsfähig zu sein, muss das Individuum sich auf einen festen Bestand „richtigen" Verhaltens stützen können. Dieser Bestand kann zwar zum Gegenstand der Reflexion und geändert werden, was i.d.R. aber nicht geschieht. Um banale alltägliche Koordinationen zu ermöglichen, müssen eine Fülle von Normen vorausgesetzt werden, die gleichsam automatisch befolgt werden, unproblematisiert bleiben. Das heißt aber ihre Befolgung oder Nichtbefolgung hängt in der konkreten Handlungssituation nicht von Kosten-Nutzen-Kalkülen ab, sondern sind Element einer unproblematisierten Alltagsroutine 59, deren Befolgung in der konkreten Situation durchaus nachteilig für das Individuum sein kann. Sie wird trotzdem nicht aufgegeben. Ein Beispiel: Noch dürfte die Befolgungsquote des Stopp-Gebotes einer Ampel annähernd 100% betragen. Selbst nachts um 3.00 Uhr halten Autofahrer, obwohl weit und breit kein Mensch oder Kfz zu sehen ist und obwohl sie sicher wissen, dass die Ampel nicht automatisch überwacht wird. Obwohl die Verletzung des Gebotes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Kosten verursachen würde, wird das Gebot eingehalten. Der einzige Grund dafür ist Gewohnheit. Mag sein - um dem möglichen Einwand der NPÖ zu begegnen - , dass der betreffende Autofahrer irgendwann einmal den rationalen Entschluss fasste, grundsätzlich vor roten Ampeln zu warten. Genauso wahrscheinlich ist aber, dass der Autofahrer hält, „weil es so üblich ist". In der konkreten Situation findet eine rationale Entscheidung jedenfalls nicht statt. Der Hinweis auf ein rationales Kalkül, die rationale Kosten-Nutzen-Rechnung ist nicht ausreichend zur Erklärung der Befolgung oder gar Befolgungsquote von rechtlichen Geboten und Verboten. Sie muss zwar in Betracht gezogen werden, ist ein mögliches Element zur Erklärung des individuellen Gesetzesgehorsams, bzw. für die Nichtbefolgung von Gesetzen, aber nicht das einzige 60 . 58 Vgl. Lautmann, Soziol Revue 1985, S. 219 ff. 59 Vgl. dazu ausführlich: 2. Kapitel, Theorie der Strukturierung. 60 Empirische Arbeiten zur Bedeutung von Sanktionshöhe und SanktionsWahrscheinlichkeit kommen denn auch zu gegensätzlichen Ergebnissen. Teilweise wurden die Annahmen zur Wirkung von Sanktionshöhe und -Wahrscheinlichkeit bestätigt (Chambliss, Crime and Delinquency, S. 99; Tullock, Does Punishment Deter Crime, S. 295 ff.); andere differenzierten und kamen zu dem Ergebnis, dass die Sanktionswahrscheinlichkeit für die individuelle Handlungsorientierung eine Bedeutung habe, während die Sanktionshöhe weitgehend unberücksichtigt bleibe (Waldo/Chiricos, Social Problems 1972, S. 522 ff.; Teevan, Journal of Research in Crime and Delinquency 1976, S. 155 ff.; Erickson/Gibbs/Jensen, American Sociological Review 1977, S. 305 ff.); schließlich wird die handlungssteuernde Wirkung von Sanktionen gänzlich bestritten (Meier/Johnson, American Sociological Review 1977, S. 292;

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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I I I . Neue politische Ökonomie - Die Kritik des Ordnungsrechts Die Erklärung normwidrigen Verhaltens als Wahlhandlung im Rahmen eines Rationalitätskalküls wird von der neuen politischen Ökonomie auch zur Kritik des regulativen Ordnungsrechts genutzt, insbesondere wird das ordnungsrechtliche Instrumentarium des Umweltrechts auf den Prüfstand gestellt. „Rechtsversagen" 61 stelle sich aus ökonomischer Sicht als ergiebiger Analysegegenstand dar. Die ökonomische Theorie des Vollzugs habe einen Teilsektor der Implementationsproblematik, nämlich die Normdurchsetzung auf subalterner Vollzugsebene62 analysiert. Ansatzpunkt sei dabei ein „bipolares Interaktionsschema zwischen zwei idealtypischen Handlungsträgern: Einer anweisungsbefugten Einheit (Vollzugsbehörde), die als Ergebnis der Programmspezifizierung eine konkrete strafbewehrte Verhaltensanordnung formuliert, deren Einhaltung überwacht sowie in Institutionalunion ggf. Sanktionen verhängt, steht eine anordnungsempfangende Einheit gegenüber, von der normentsprechendes Verhalten verlangt wird (Normaddressat)." 63 Aus den oben diskutierten Prinzipien der ökonomischen Analyse des Rechts ergebe sich, dass eine apriorische Befolgung extern gesetzter Verhaltensverbindlichkeiten nicht anzunehmen sei, vielmehr ein Auseinanderfallen von Norminhalt und Handlungsergebnis, also „Verhaltensweisen contra legem" aufgrund des KostenNutzen-Kalküls jederzeit denkbar seien.64 Diese prinzipielle Möglichkeit des Verhaltens contra legem führe zu Schwäche des regulativen Umweltrechts oder der ordnungsrechtlichen Instrumente im Umweltrecht. Diese Schwäche wird regelmäßig unter Verweis auf die Ergebnisse der Implementationsforschung 65 begründet 66. Das wird mit dem Eingeständnis verbunden, dass die neue politische Ökonomie im Bereich des öffentlichen Rechts erhebliche Lücken zu verzeichnen habe und eine „ökonomische Analyse des Ordnungsrechts" nicht einmal in Sicht sei. 67

Ross, Law and Society Review 1976, S. 403) bzw. der staatlichen Strafe wird eine geringe Wirkung beigemessen als der sozialen Stigmatisierung (Ross, Social Problems 1960, S231 ff.; Feest, Law and Society Review 1968, S. 447 ff.). Diese Forschungen und empirischen Analysen stehen im Kontext der strafrechtlichen Diskussion um die Wirkung von Strafe und Strafhöhe, so dass sie kritisch auf die Ausgangshypothese des jeweiligen Verfassers zu prüfen wären. Im hier diskutierten Zusammenhang können sie in ihrer Gesamtheit jedoch als Beleg dafür dienen, dass das Kosten-Nutzen-Modell zu kurz denkt. 61 Frank, KJ 1989, S. 46; Gawel, Umweltallokation durch Ordnungsrecht (Umweltallokation) S. 49. 62 Gawel, Ordnungsrecht, S. 41 ff. 63 Gawel, Umweltallokation, S. 50. 64 Gawel, aaO., S. 49. 65 Vgl. Oben „Das Vollzugsdefizit im Umweltrecht...". 66 Meinberg, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1988, S. 112 ff.; Terhart, Die Befolgung von Umweltschutzauflagen als betriebswirtschaftliches Entscheidungsproblem, passim. 67 Gawel, Umweltallokation, S. 86. 5*

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Das hindert die neue politische Ökonomie nicht daran, ausgehend von dem „Befund, dass ordnungsrechtliche Umweltpolitik offenbar strukturell und kaum reversibel vollzugsdefizitär angelegt"68 sei, die höhere Effektivität von marktkonformen Instrumenten und Anreizsystemen zu postulieren 69. Folgende Gründe, die aus dem theoretischen Rahmen der neuen politischen Ökonomie ableitbar sind, werden für das Versagen des umweltrechtlichen Ordnungsrechts genannt: die verschwindend geringe Eintrittswahrscheinlichkeit einer Sanktion und, damit zusammenhängend, der bewusste Verzicht auf Zwangsmittel70, sowie das vernachlässigbare Strafmaß. 71 Kritisch kann man gegen diese Argumentation zunächst einwenden, dass die Feststellung einer „völligen Irrelevanz" 72 des Ordnungsrechts vergleichende Untersuchungen voraussetzt. Es müsste erstens gefragt werden, ob andere Instrumente effektiver sind 73 . Zweitens wäre zu fragen, ob die Schwäche ein Spezifikum des Umweltrechts ist. Da die Diskussion um das Versagen des Ordnungsrechts mit der Umwelt-Gesetzgebung entstanden ist, drängt sich zumindest die Frage auf, warum die Schwäche des Ordnungsrechts in anderen Bereichen und zeitlich früher unbemerkt blieb. Offenbar handelt es sich nicht um eine Schwäche des Ordnungsrechts, sondern um eine des Umweltrechts. 74 Solche Vergleiche und Überlegungen wurden im Rahmen der neue politische Ökonomie jedoch nicht angestellt. Weiter ergibt sich bei genauerem Hinsehen aus der Annahme eines Kosten-Nutzen-Kalküls keineswegs ein Versagen des Ordnungsrechts oder eine „Effektivitätsschwäche regulativer Politik". Um diese festzustellen, sind vielmehr empirische Zusatzannahmen oder normative Vorgaben zu machen. Die Möglichkeit eines Regelverstoßes oder normwidrigen Verhaltens - auch wenn man diese auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül stützt - ist für sich genommen kein überraschendes Ergebnis. Erklärt ist damit aber keineswegs das Rechtsversagen oder die Effektivitätsschwäche regulativer Politik. Auf der Grundlage des Modells der ökonomischen Analyse des Rechts kann allenfalls festgestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit normkonformen Verhaltens gering ist, weil entweder der Norminhalt unbekannt ist oder die Sanktionshöhe so niedrig ist, dass vieles dafür spricht, dass das Kosten-Nutzen-Kalkül zugunsten der Normbefolgung ausfällt. 68 Gawel, Umweltallokation, S. 51. 69 Frank, KJ 1989, S. 42; (im politisch-gesellschaftlichen Diskurs wird dieses Postulat für eine ungeschminkte Interessenpolitik gegen staatliche Regulierung insgesamt genutzt). 70 Dietz/Gneiting, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1989, S. 190; Müller, ZaU, 1991, S. 387. Gawel, Umweltallokation, S. 92. 7 2 Gawel, Umweltallokation, S. 92. 73 Auch die marktwirtschaftlichen Instrumente sind inzwischen unter dem Gesichtspunkt der Effektivität in das Kreuzfeuer der Kritik geraten (vgl. Rose-Ackerman, Canadian Journal of Economics 1973, S. 512; Braulke, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1983, S. 122; Bonus, Jahrbuch für Sozialwissenschaften 1990, S. 343. 74 Im Rahmen dieser Untersuchung wird im 3. Kapitel dieses Problem ausführlich diskutiert werden.

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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Die empirische Feststellung oder Zusatzannahme, die also zum Ergebnis „Rechtsversagen" führen, sind dann: Die Sanktionswahrscheinlichkeit ist zu gering oder die Höhe der Sanktion ist zu niedrig, und der Nutzen des Normverstoßes ist zu hoch, als dass normgerechtes Verhalten zu erwarten wäre. Als Ergebnis bleibt keine prinzipielle Kritik des Ordnungsrechts übrig, sondern allenfalls eine Kritik des Sanktionsapparates und der Sanktionspraxis. Die „Therapie", will sagen die rechtspolitische Konsequenz dieser Überlegung, muss dann nicht sein, dass regulatives Recht aus dem Instrumentenkasten des Umweltrechts zu entfernen ist, weil es prinzipiell ineffektiv ist. Gefordert werden kann statt dessen auch eine Verbesserung der Rechtskenntnis, eine Erhöhung der Sanktionswahrscheinlichkeit oder der Sanktion selbst, was auf eine bessere personelle und sachliche Ausstattung der Behörden und damit eine höhere Kontrolldichte und -effektivität hinausläuft. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die niedrige Sanktionswahrscheinlichkeit auch ein Kapazitätsproblem seitens der Behörden ist. 75 Eine Grenze für Regulation durch Ordnungsrecht ergibt sich erst da, wo empirisch festgestellt wird, dass die Erhöhung der Sanktionswahrscheinlichkeit durch das probate Mittel der Erhöhung der Kontrolldichte nicht mehr erreichbar ist. Daneben kann eine Steigerung der Kontrolldichte oder der Sanktionshöhe normativ als unerwünscht geweitet werden, was im Kontext des - eher neoliberal orientierten - Theorieansatzes i.d.R. geschieht. Marktkonforme Anreizsysteme, behauptet die neue politische Ökonomie weiterhin, besäßen nicht nur den Vorteil des besseren Vollzugs, sondern würden darüber hinaus zu einer günstigeren Allokation und Distribution der Umweltgüter führen als durch das Ordnungsrecht. Ordnungsrechtliche Normen werden dabei regelmäßig als starre Grenzwerte und Auflagen zur Erreichung dieser Grenzwerte verstanden, wobei ordnungsrechtliche Umweltregulation paradigmatisch am Emissionsschutzrecht orientiert ist. 76 Kritisiert wird an einem so verstandenen Ordnungsrecht aus der Perspektive betriebswirtschaftlicher Effizienzkriterien: 1. Es bestehe ein Transformationsproblem, d. h. durch starre Auflagen und Grenzwerte werde die betriebliche Minimalkostenkombination verfehlt. 2. Es bestehe ein Reallokationsproblem. Starre Grenzwerte böten keinen Anreiz zu deren Unterschreitung, es liege demnach ein fehlender Mindernutzenanreiz vor. 3. Das Ordnungsrecht führe zu einem Innovationsproblem, d. h. starre Normen bieten keinen Anreiz, Übererfüllung durch technischen Fortschritt zu erreichen. Es bestehe eine mangelnde Induktion von technischem Fortschritt. 4. Schließlich führe Ordnungsrecht zu Vollzugsproblemen, weil kein Eigeninteresse an der Erfüllung der Vorgaben bestehe und eine Kostensensibilität fehle. 77 75 Vgl. dazu: Schink, ZUR 1993, S. 8 f.; Lahl, ZUR 1993, S. 252 ff.; Lübbe-Wolff, NuR 1993, S. 228 f.; Martens/Merx/Cramer, Zur 1994, 281 f. 76 Vgl. zur Kritik dieser alten ökonomischen Kritik des Ordnungsrechts: Gawel, Ökonomie und Umwelt, in: ZAU 1994, S. 37.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Es soll hier keine detaillierte Diskussion um die effektivsten Instrumentarien zur Erreichung bestimmter Umweltziele geführt werden; angemerkt sei jedoch, dass diese Kritik eher auf eine Karikatur des Ordnungsrechtes zielt als auf dieses selbst. Beispielsweise hindert die „Stand der Wissenschaft und Technik"-Klausel technische Innovationen nicht, sondern fördert sie idealtypisch. Dem betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterium können bei der Diskussion einzelner Regelungen, ihrer Ziele sowie der Nebeneffekte i.d.R. volkswirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Sekundärziele, wie die Sicherung sozialer Gerechtigkeit, gegenübergestellt werden, so dass die Kritik des Ordnungsrechts am Maßstab betriebswirtschaftlicher Effizienz allenfalls einen Aspekt beleuchtet und im Einzelfall angemessen ist; das Ordnungsrecht an sich, die Sinnhaftigkeit regulativer Verbote und Gebote ist damit nicht angegriffen, geschweige denn widerlegt. Neuere theoretische Entwicklungen sind über diese zu undifferenzierte Kritik des Ordnungsrechts denn auch hinweggegangen und stellen es neben „marktgesteuerte" Umweltallokation.78 Hier interessiert aber nicht der Vergleich ordnungsrechtlicher Instrumente mit marktwirtschaftlichen Instrumenten, sondern die spezifische Perspektive, die der Vergleich der beiden Steuerungsmechanismen auf die Vollzugsprobleme des Ordnungsrechtes wirft. In diesem Kontext wird ein Rechtsversagen sanktionsbewehrter Ge- und Verbote nicht aus der spezifischen Funktionsweise dieser Art der Verhaltenssteuerung erklärt, sondern Ordnungsrecht wird im Vergleich mit Steuerung durch Anreiz als weniger effizient bewertet. Durch Anreiz-Steuerung, so die Annahme, lasse sich ein effizienterer „Vollzug" bzw. eine effizientere Verhaltenssteuerung und letztlich eine bessere und genauere Zielerreichung gewährleisten. 79 Wendet man das Modell ökonomischer Analyse des Rechts analog zur Diskussion des Ordnungsrechts auf die Verhaltenssteuerung durch Anreize an, wird man auch dort konsequenterweise feststellen müssen, dass staatlich gesetzte Anreize keineswegs automatisch aufgenommen werden müssen und das individuelle Verhalten entsprechend umgestellt werden muss. Vielmehr werden nach dem Modell Anreize ebenso in das Kosten-Nutzen-Kalkül einfließen wie Sanktionen, nur dass sie sich auf der Nutzenseite niederschlagen, nicht auf der Kostenseite. Anreize steigern den Nutzen eines bestimmten Verhaltens, das i.d.R. aber auch mit Kosten verbunden ist, ansonsten wären zusätzliche Anreize überflüssig. Nur bei einem Positiv-Saldo kommt es zu einer Verhaltensumstellung, anders ausgedrückt: Je höher der Anreiz um so höher der Grad der Verhaltensänderung. Die Wirksamkeit und Effektivität lässt sich, immer im Rahmen des ökonomischen Modells, nur durch empirische Annahmen oder Ergebnisse der Randbedingungen bestimmen, wobei selbstverständlich die Form des Anreizes spezifiziert werden muss. Eine mögliche 77 Frank, KJ 84, S. 41 f; Gawel, Umweltallokation durch Ordnungsrecht, S. 52 ff. 78 Gawel, aaO, passim. 79 Vgl. zu dieser Diskussion: Cremer/Fisahn, Implementation und Diskussion „neuer" umweltrechtlichwer Instrumente, in: dies., Jenseits der marktregulierten Selbststeuerung, S. 45 ff. m.w.N.

Β. Subjektiver Juridismus - Das utilitaristische Theorem

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empirische Grenze der Verhaltenssteuerung durch Anreiz ist beispielsweise der Verteilungsspielraum des Staatshaushaltes, wenn der Anreiz ζ. B. die Subventionierung umweltschonender technischer Innovationen ist. Ebenso lassen sich auch normative Grenzen (Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Risiken) für die Verhaltenssteuerung durch Anreize denken. So bleibt als Ergebnis, dass die Verhaltenssteuerung durch Anreize, auch wenn man innerhalb des Modells der ökonomischen Analyse des Rechts argumentiert, der ordnungsrechtlichen Verhaltenssteuerung keineswegs prinzipiell überlegen ist. 80 Gerechtfertigt werden positive Sanktionen bzw. Anreize i.d.R. durch normative Überlegungen, d. h. es wird für die Freiheit individueller Entscheidung, positiven Sanktionen nachzukommen, und gegen die Verhaltenssteuerung durch negative Sanktionen, die Entscheidungsfreiheit erheblich einschränken, optiert. „Positive Anreize stellen ein Angebot dar, das anzunehmen oder abzulehnen dem einzelnen freisteht. Negative selektive Anreize hingegen basieren darauf, dass dem einzelnen etwas, was ihm bislang eigen war, weggenommen wird und er es nur zurückerhält, wenn er bereit ist, dafür etwas anderes herzugeben. In dem einen Fall kann er entscheiden, ob er durch die Annahme eines Angebotes seine Wohlfahrt erhöhen kann oder will. In dem anderen Fall kann er lediglich darüber befinden, in welcher Form er eine Wohlfahrtseinbuße erleiden will und welche Form die vergleichsweise geringste Beeinträchtigung seiner Wohlfahrt mit sich bringt." 81 Ausdrücklich wird in dieser Passage aus normativen Gründen, nämlich größerer individueller Freiheit, für positive selektive Anreize votiert. Dabei handelt es sich aber keineswegs um ein Effizienzargument. Implizit wird in der zitierten Textpassage deutlich, dass die leicht zynische Freiheitsannahme, die Wahlentscheidungen bei hohen Strafen postuliert, nicht durchgehalten werden kann. Die Wortwahl ist verräterisch. Bei positiven Sanktionen kann das Individuum „entscheiden", bei negativen Sanktionen „lediglich befinden". Auch wenn jedesmal ein Wahlverhalten angenommen wird, scheint doch im ersteren Fall ein höherer Grad freier Entscheidung vorzuliegen. Damit ist einerseits die normative Bewertung von Zwang und Anreiz in die Analyse hineingerutscht, gleichzeitig wird die Annahme, negative Sanktionen führen zu einer suboptimalen Zielverwirklichung, weil sie als ein Element in das KostenNutzen-Kalkül einfließen, implizite dementiert; ein niedriger Grad der Wahlfreiheit erhöht danach nämlich die Bereitschaft, dem normkonformen Verhalten den Vorzug zu geben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die neue politische Ökonomie ein unzureichendes Modell der Rechtsbefolgung entwickelt. Sie folgt einem streng subjektivistischen und einem rationalistischen Ansatz, d. h. ihr Ausgangspunkt sind die rational und bewussten Überlegungen individueller Akteure. Diese richten ihre Handlungen nach der anthropologischen Prämisse der neuen politische Ökonomie an ihrem individuellen Nutzen aus, so dass Aussagen über die Rechtsbefol80

So inzwischen auch Teile der neuen politischen Ökonomie (Gawel, ZaU 1994, S. 43). 81 Kirsch, NPÖ, S. 152.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

gung auf Aussagen über das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül der Akteure zurückgeführt werden können. Kritisch diskutiert wurden beide Prämissen der neuen politische Ökonomie, nämlich die Handlungsorientierung am individuellen Nutzen wie die Annahme, die individuellen Akteure folgen beständig rationalen Kalkulationen. Diese Kritik bedeutet nicht, dass die Entscheidung, einer gesetzlichen Norm zu folgen, nicht auch von einem rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül abhängig sein kann, bestritten wird jedoch, dass diese Rechenhaftigkeit das ausschließliche oder auch nur das zentrale Modell der Rechtsbefolgung ist. Dem subjektiv-individuellen Ansatz der neuen politische Ökonomie kann ein objektiv, strukturalistischer oder funktionalistischer Ansatz gegenübergestellt werden, der gesellschaftliche Phänomene wie die Normbefolgung nicht aus individuellen Entscheidungen ableitet, sondern umgekehrt die individuellen Entscheidungen aus gesellschaftlichen Strukturen, Normen oder Funktionsbedingungen. Welche Konsequenzen ein solcher Ansatz für eine Theorie der Rechtsbefolgung hat, wird im folgenden erörtert.

C. Objektiver Soziologismus Der Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie ist durch einen extremen Subjektivismus gekennzeichnet. Die Befolgung von Gesetzen wird ausschließlich von der Entscheidung des adressierten Subjekts abhängig gemacht. Die Entscheidung des individuellen Subjekts wird als vollständig frei, als unabhängig von den materiellen Gegebenheiten der jeweiligen historischen Gesellschaft gedacht. Demgegenüber stehen Auffassungen, die als objektivistischer Soziologismus bezeichnet werden sollen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Subjekte in einen objektiven Ideen- und Normenzusammenhang eingebettet werden. Subjektive Entscheidungen sind nicht ausschließlich Ausdruck individueller Verstandestätigkeit, sondern sie sind eingebettet und abhängig von einem gesellschaftlichen Normenbestand, auf den das Subjekt in seinen Entscheidungen rekurriert. Folgerichtig müssen die rechtlichen Gebote genauso im Zusammenhang mit diesem Normenbestand gedacht werden wie die individuelle Befolgungsbereitschaft. Rechtliche Normen, so die Grundthese dieser Auffassung bilden moralische Normen der Gesellschaft nur ab, fixieren und explizieren sie, können sich aber von diesen moralischen Normen nicht entfernen. Die Befolgung des Rechts fällt dann regelmäßig mit dem moralischen Handeln zusammen. Als Beispiel für diesen Ansatz des objektivistischen Soziologismus können die Theorien von Durkheim und Parsons herangezogen werden.

C. Objektiver Soziologismus

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I. Durkheim - Recht als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität 1. Dürkheims Fragestellung Durkheim entwickelt in seinem 1893 erschienenen Buch „Über soziale Arbeitsteilung" eine funktionalistische Evolutionstheorie der Gesellschaft, die über die Rezeption durch Parsons1 bis heute ideengeschichtlich einflussreich geblieben ist. 2 Die zentrale These Dürkheims ist, dass es eine notwendige gesellschaftliche Entwicklung von einer einfachen, primitiven Gesellschaft, die durch geringe Arbeitsteilung und eine rigide allgemeine Moral gekennzeichnet ist, zu höher entwickelten Gesellschaften mit ausdifferenzierter Arbeitsteilung und differenzierten Moralvorstellungen gibt. An Hobbes anknüpfend, lässt sich auch Durkheim von der Frage leiten: Wie ist soziale Ordnung möglich?3 Der zufällige Konsens individueller Egoisten, die vertragliche Ubereinstimmung scheint ihm als Erklärung nicht ausreichend. Denn es stellt sich die Frage, aus welchem Grund individuelle Akteure Verträge einhalten sollten. Die Überwachung durch den Staat sei keine ausreichende Erklärung, da dieser vollständig überfordert wäre, die Einhaltung der Vielzahl der Verträge durch Zwangsmittel durchzusetzen. Die Einhaltung des Rechts wäre dann abhängig von der (zufälligen) Konstanz des Machtgefälles und der zufälligen Verfügbarkeit der Machtressourcen. 4 Gegen die utilitaristische Vorstellung 5, dass „die Grundlage der Verbindung der Individuen untereinander einzig das unermessliche System privater Verträge ist", wendet Durkheim ein: „Ist das tatsächlich der Charakter der Gesellschaften, deren Einheit aus der Arbeitsteilung resultiert? Wenn dem so wäre, dann könnte man an ihrer Stabilität wirklich zweifeln. Denn wenn das Interesse die Individuen auch einander näher bringt, so doch immer nur für einige Augenblicke; es kann zwischen ihnen nur ein äußerliches Band knüpfen." 6 Durkheim dreht deshalb das aus den Vertragstheorien bekannte Verhältnis von Vertrag und Recht um, nach dem der Vertrag die primäre Bedeutung hat und gleichsam dem Recht vorausgeht. Das Vertragsrecht „ist nicht nur eine nützliche Ergänzung privater Konventionen, sondern deren Grundnorm. Es beherrscht uns mit der Autorität traditioneller Erfahrungen und stellt die Basis unserer Vertragsbeziehungen her." 7 1

Vgl. dazu ausführlich unten: Parsons - Internalisierung konsensualer Normen. Die Schrift ist einerseits gegen den Utilitarismus gerichtet, andererseits gegen philosophische Traditionen (Kant und Comte), die ethische Probleme durch Prinzipien a priori lösen wollen. Durkheim will dagegen die verschiedenen Formen der Moral empirisch analysieren. (Vgl. Giddens, Durkheim, S. 26; Joas, Kreatives Handeln, S. 83; Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, S. 335). 3 Vgl. Ellis, American Sociological Review 1971, S. 692. 4 Münch, Theorie des Handelns, S. 283. 5 Die Einhaltung der Verträge muss den utilitaristischen Grundanahmen zufolge ebenso wie die Einhaltung des Rechts von Kosten-Nutzen-Kalkülen abhängen, deren Ergebnis für den Vertragspartner unkalkulierbar ist, was trotz der Annahme gilt, dass langfristig ein wechselseitiger Nutzen eintritt, wenn Verträge gehalten werden. 6 Durkheim Soziale Arbeitsteilung (zit. SoA), S. 259. 2

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Wenn es aber nicht die in Verträgen zum Ausdruck kommende Übereinstimmung egoistischer Interessen oder Willen sind, die die Stabilität einer sozialen Ordnung gewährleisten können, was setzt Durkheim an ihre Stelle? Der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, sind für ihn gemeinsame moralische Grundüberzeugungen. Diese unterliegen nach seiner Vorstellung einem spezifischen Wandel. Mit fortschreitender gesellschaftlicher Arbeitsteilung werde die mechanische Solidarität primitiver Gesellschaften durch die organische Solidarität höher entwickelter Gesellschaften abgelöst.8 Bevor diese Wandlung der moralischen Bande verschiedener Gesellschaften und ihre rechtlichen Implikationen näher erläutert werden, soll kurz ein Blick auf Dürkheims Antwort auf die Frage nach dem Grund oder der Ursache fortschreitender Arbeitsteilung, die immerhin einen zentralen Stellenwert für die Erklärung des Wandels der normativen Grundlagen einnimmt, geworfen werden. Für eine stabile gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage mechanischer Solidarität, könnte man meinen, besteht keine Veranlassung zur Umstellung ihrer sozialen Beziehungen auf eine arbeitsteilige Ordnung und organische Solidarität. Durkheim wendet sich zur Erklärung dieser Entwicklung wiederum explizit gegen einen utilitaristischen Ansatz, der das Vorranschreiten der Arbeitsteilung mit dem „besseren Leben" für den Einzelnen begründe. Der Ursprung der Arbeitsteilung liege nicht, wie eine „weit verbreitete Meinung" besagt, „in dem Wunsch des Menschen, sein Glück ständig zu vermehren." 9 Richtig sei zwar, dass sich der Ertrag der Arbeit mit zunehmender Arbeitsteilung vermehre, ob damit aber eine Steigerung des Glücks verbunden sei, bezweifelt Durkheim, weil erstens der Maßstab nicht vorhanden sei, und zweitens die Wohlstandssteigerung durch Arbeitsteilung durchaus ambivalente Ergebnisse hat, denn die Zivilisation habe „dem Menschen die monotone und ständige Arbeit aufgezwungen." 10 Die Ursache für den Fortschritt der Arbeitsteilung 11 liegt nach Durkheim in der zunehmenden „moralischen Dichte". Die Arbeitsteilung „schreitet also um so mehr fort, je mehr Individuen es gibt, die in genügend nahem Kontakt zueinander stehen, um wechselseitig aufeinander wirken zu können. Wenn wir übereinkommen, diese Annäherung und den daraus resultierenden aktiven Verkehr dynamische oder moralische Dichte zu nennen, dann können wir sagen, dass der Fortschritt der Arbeitsteilung in direkter Beziehung zur moralischen oder dynamischen Dichte der Gesellschaft steht." 12 Die Intensivierung sozialer Beziehungen und Kommunikation führt Durkheim wiederum auf 1. das Bevölkerungswachstum, 2. die Bevölkerungskonzentration durch Städtebildung und 3. die erhöhte Zahl der Kommunikations- und Verkehrswege zurück. 13 Diese Erklärung ist offensichtlich problema7 SoA, S. 271. 8 Joas, Kreatives Handeln, S. 90. 9 SoA, S. 289. 10 SoA, S. 298. h Giddens, Durkheim, S. 32 f. 12 SoA, S. 315. 13 SoA, S. 315 ff.

C. Objektiver Soziologismus

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tisch. Man kann wiederum nach der Ursache für die Zunahme des Bevölkerungswachstums oder der moralischen Dichte fragen. Die Städtebildung ist erst möglich bei vorhandener Arbeitsteilung, kann diese also nicht erklären. Durkheim stellt in Wahrheit zwei empirische Tatsachen fest und bringt sie in ein kausales Verhältnis, ohne aber näher zu erläutern, warum das eine Ursache, das andere Wirkung ist und ohne auch nur anzudeuten, wieso Arbeitsteilung notwendige Folge einer „verdichteten" Bevölkerung ist. Würde er diese Frage stellen, gerieten ihm zwangsläufig die materiellen Voraussetzungen sowohl einer höheren Bevölkerungsdichte als auch arbeitsteiliger Produktion in den Blick. Er könnte nicht nur auf der Ebene der moralischen Erklärung bleiben. Für Durkheim wandelt sich die mechanische Solidarität aus moralischen Gründen, nämlich weil die moralische Dichte zugenommen hat. Arbeitsteilung wird damit zum Zwischenschritt, der weniger als Ursache des Veränderungsprozesses, denn als bestimmendes Formelement der neuen organischen Solidarität erscheint.

2. Arbeitsteilung

und gesellschaftliche

Solidarität

Mechanische Solidarität ist für Durkheim die Solidarität einer Gesellschaft der Gleichen, einer Gesellschaft, in der Individualität keinen Platz hat. Das Ich löst sich vollständig in der Gesellschaft auf 14 ; es gibt nur eine Anzahl von Segmenten, aber keine unterschiedlichen besonderen Individuen oder besondere Funktionen in der Gesellschaft. Das Zusammenleben der Horde deutet Durkheim als solchen ursprünglichen gesellschaftlichen Zustand. „Wenn man versuchte, sich den Idealtyp einer Gesellschaft vorzustellen, deren Zusammenhalt ausschließlich aus Ähnlichkeiten hervorgegangen wäre, dann würde man sie als eine absolut homogene Masse begreifen müssen, deren Teile sich untereinander nicht unterschieden und die folglich keine Ordnung aufweisen, mit einem Wort, keine bestimmte Form und keine Organisation besäßen. ... Wir schlagen vor, dass solcherart charakterisierte Aggregat Horde zu nennen."15 In einem solchen „Aggregat", das leuchtet ein, bestehen gemeinsame Überzeugungen, Weltbilder oder moralische Vorstellungen 16. Wenn die Gesellschaft als homogene Einheit gedacht wird, weichen auch die moralischen Vorstellungen des Einzelnen nicht ab, es existiert eben eine homogene Moral, die Durkheim mechanische Solidarität nennt. Zur Begründung für diese Namensgebung greift er auf biologische Erklärungen zurück: „Die sozialen Moleküle, die nur auf diese einzige Art zusammenhalten können, könnten sich in ihrer Gesamtheit somit nur in dem Maße bewegen, in dem sie keine Eigenbewegung haben, 14 Der Träger der Solidarität ist für Dürkheim das Kollektiv, nicht das Individuum, das er ebenso wie der Utilitarismus als egoistisch und in seinen Bedürfnisen grenzenlos denkt (Münch, Theorie des Handelns, S. 290 ff.), is SoA, S. 229. 16 Vgl. zum Problem des Kollektivbewusstseins, insbesondere zur Abgrenzung der gemeinsamen Glaubens- und Wertvorstellungen von der volonté générale im Sinne von Rousseau: König, Einleitung, S. 32 f.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

so wie es bei Molekülen der anorganischen Körper der Fall ist. Wir schlagen daher vor, diese Art der Solidarität mechanisch zu nennen."17 Mechanische Solidarität versucht nicht Brücken zwischen verschiedenen Individuen und Funktionen zu schlagen, das ist nicht notwendig, sondern überwacht ausschließlich die Beachtung und Einhaltung der homogenen Konvention.18 Organische Solidarität ist dagegen die Solidarität der arbeitsteiligen Gesellschaft, der Gesellschaft besonderer Individuen, d. h. ausdifferenzierter Persönlichkeiten 19 und differenzierter gesellschaftlicher Funktionen. Die Strukturen der arbeitsteiligen Gesellschaft „bilden sich nicht durch die Wiederholung von ähnlichen und homogenen Segmenten, sondern bestehen aus einem System von verschiedenen Organen, von denen jedes eine Sonderrolle ausübt, und die ihrerseits aus differenzierten Teilen bestehen. Da die verschiedenen Elemente nicht gleicher Natur sind, sind sie auch nicht auf die gleiche Weise angeordnet." 20 Wiederum greift Durkheim auf biologische Modelle bei der Begriffsbildung zurück. Die verschiedenen Funktionen der Gesellschaft vergleicht er mit den verschiedenen Organen eines Körpers, zwischen denen eine Abstimmung, Abhängigkeit und wechselseitige Beeinflussung herrsche. „Jedes Organ hat dort seine eigene Physiognomie und seine Anatomie, und trotzdem ist die Einheit des Organismus um so größer, je stärker die Individualisierung der Teile ausgeprägt ist. Aufgrund dieser Analogie schlagen wir vor, die Solidarität, die sich der Arbeitsteilung verdankt, organische Solidarität zu nennen."21 Organische Solidarität basiert nicht auf homogenen Grundüberzeugungen, sondern auf der gegenseitigen Abhängigkeit, sie baut Brükken und schafft Ausgleich zwischen verschiedenen Funktionen und Individuen. 22 Sie entsteht gleichsam aus der Anpassung der Individuen an die funktionalen Bedingungen und Erfordernisse der Kooperation in der arbeitsteiligen Gesellschaft. 23 Da empirische Angaben über das moralische Bewusstsein besonders vergangener, „primitiver" Gesellschaften kaum zu treffen sind, meint Durkheim, rechtliche Normierungen gleichsam als Widerspiegelung des moralischen Bewusstseins, der

π SoA, S. 182. 18 Kon, Der Positivismus, S. 84 f. 19 Kon, Der Positivismus, S. 85. 20 SoA, S. 237. 21 SoA, S. 183. 22 Joas versteht organische Solidarität als einen Typus von Moralität, der in den Beteiligten über einen Akt der Reflexion auf die universellen Bedingungen ihres Zusammenwirkens entsteht (Kreatives Handeln, S. 91). M.E. wird Durkheim damit modern überzeichnet, da es schwerfällt die Entstehung der organischen Solidarität auf einen reflexiven Akt zurückzuführen, sie setzt sich vielmehr ebenso wie die Arbeitsteilung hinter dem Rücken der Individuen durch. 23 Durkheim wendet sich mit dieser funktionalistischen Erklärung der Moralentstehung in der arbeitsteiligen Gesellschaft insbesondere gegen Spencer, der annahm, dass sich Solidarität automatisch aus der Verfolgung individueller Interessen ergibt (Spencer, System der synthetischen Philosophie).

C. Objektiver Soziologismus

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Solidaritätsformen einer Gesellschaft heranziehen zu können. Die historische Wandlung von der mechanischen Solidarität zur organischen Solidarität soll an der Entwicklung des Rechts ablesbar sein, weil das Recht Ausdruck der moralischen Überzeugung in einer Gesellschaft sei. 24 Der mechanischen Solidarität entspreche das repressive Recht, der organischen Solidarität, meint Durkheim, das restitutive Recht. Mit der Entwicklung der Gesellschaft von der „primitiven", homogenen, nicht-arbeitsteiligen Horde zur „zivilisierten", arbeitsteiligen und individualisierten Gesellschaft entwickele sich, so seine zentrale These, die Moral von der mechanischen zur organischen Solidarität, was daran ablesbar sei, dass das repressive Recht zugunsten des restitutiven Rechts verdrängt werde bzw. die Bedeutung des letzteren beständig gewachsen und umgekehrt die des ersteren gesunken sei. 25 Empirisch belegt Durkheim diese These an dem frühen Auftreten strafrechtlicher Kodifikationen und dem späteren zivilrechtlicher, prozessualer und staatsrechtlicher Normen. Der Rückgang oder Bedeutungsverlust der mechanischen Solidarität sei schließlich ablesbar an der Entkriminalisierung weiter gesellschaftlich-moralischer Bereiche. 26 Umgekehrt leitet er aus der Tatsache, dass der Bestand „restitutiver" Normen ständig gewachsen ist, den Bedeutungszuwachs organischer Solidarität ab. Die empirischen Belege, die Durkheim für seine Thesen anführt, sollen hier nicht interessieren.

3. Formen der Solidarität und Formen des Rechts Interessant ist in unserem Zusammenhang die Erklärung und Begründung des Verhältnisses von Recht und den verschiedenen Formen der Solidarität, weil sie Rückschlüsse auf die Vorstellung von der Wirkungsweise des Rechts, dem Grund für seine Befolgung oder Nichtbefolgung implizieren. Durkheim wendet sich gegen die utilitaristische und in der Kriminologie heute wohl noch herrschende Auffassung, die Strafe als Mittel zur General- und Spezialprävention 27 versteht. Die Strafe „dient nicht oder nur sehr zweitrangig dazu, den Schuldigen zu korrigieren oder mögliche Nachahmer einzuschüchtern. In beiderlei Hinsicht ist ihre Wirksamkeit zu Recht zweifelhaft und auf alle Fälle mäßig," meint Durkheim 28 . Die Annahme einer präventiven Funktion der Strafe impliziert die Vorstellung, dass durch Strafe die Gesellschaft vor schädlichen Handlungen geschützt wird oder geschützt werden soll. Dies könne aber schon deshalb nicht zutreffen, meint Durkheim, weil oft Handlungen kriminalisiert wurden, die keinerlei Schädigungen für die Gesellschaft beinhalteten. Durkheim hebt zur Erklärung der Funktion von Strafe deren religiösen Ursprung hervor, dessen Spuren noch immer zu finden seien. Strafe ver24 Giddens, Durkheim, S. 28. 25 SoA, S. 185. 26 Vgl. dazu verschiedene Beispiele, SoA, S. 205, 222, 228. 27 Vgl. oben: Subjektiver Juridismus. 28 SoA, S. 158 f.

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schaffe nach einem Angriff auf „etwas Transzendentes, seien es nun Wesen oder Ideen" Genugtuung für diejenigen, die die moralischen oder religiösen Vorstellungen, denen der Angriff galt, teilen. 29 In Bezug auf den Straftäter betont Durkheim deshalb nicht die präventive Funktion der Strafe, sondern die sühnende oder rächende Funktion 30 . „Wenn wir die Unterdrückung des Verbrechens verlangen, dann wollen wir uns nicht persönlich rächen, sondern etwas Heiliges, das wir mehr oder weniger undeutlich als außerhalb und über uns stehend empfinden." 31 Dieses „Heilige" 32 unterliegt gesellschaftlichen Wandlungen, es können gemeinsame religiöse 33 oder moralische Vorstellungen oder andere Ideen sein. Entscheidend ist, dass es sich um gemeinsame, konsensual geteilte Vorstellungen handelt, die im Bewusstsein und der Gefühlswelt einen so hohen Stellenwert besitzen, dass ihre Verletzung geahndet oder gesühnt werden muss. Die Schwere des Verbrechens und der Strafe richtet sich dann nicht nach dem Schaden für die Gesellschaft, sondern nach der Intensität der Verletzung des Kollektivbewusstseins34. Die Homologie zwischen Strafrecht und mechanischer Solidarität ist nun naheliegend. Die mechanische Solidarität ist die Verbindung aufgrund von Gleichheit oder Ähnlichkeit, die gemeinsame Wertvorstellungen produziert. Deren Verletzung wird durch Strafe gesühnt.35 Die Gefühle, die so empfindlich verletzt werden können, dass diese Verletzung Sanktionen verlangt, sind so intensiv, weil sie auf gemeinsamen, unbestrittenen Vorstellungen beruhen. „Die Gefühle, die daran beteiligt sind, holen ihre ganze Kraft aus der Tatsache, dass sie aller Welt gemeinsam sind; sie sind kraftvoll, weil sie unbestritten sind." 36 Der Sühne auf Seiten des Straftäters steht dann die Bestärkung der kollektiven Wertvorstellungen der übrigen Gesellschaft, der „ehrbaren Leute" 37 gegenüber. Die Funktion der Strafe ist deshalb nach Durkheim, das kollektive Bewusstsein der „ehrbaren Leute" zu stabilisieren und zu verstärken. Strafe soll die Wunden heilen, die dem kollektiven Bewusstsein beigebracht wurden, womit die Gültigkeit eben dieses Bewusstseins bestätigt wird. Strafe ist für Durkheim zusammenfassend „das Ergebnis sozialer Ähnlichkeiten, und sie hat die Wirkung, den sozialen Zusammenhalt, der aus diesen Ähnlichkeiten entspringt, aufrechtzuerhalten. Diese Kraft beschützt das Strafrecht gegen jede Schwächung, indem es von jedem von uns ein Minimum an Ähnlichkeiten verlangt, ohne die das Individuum eine Bedrohung für die Einheit des Sozialkörpers bedeuten würde, und indem es uns zugleich zum Respekt gegenüber 29 SoA, S. 150. 30 Giddens, Durkheim, S. 30. 31 SoA, S. 150. 32 Vgl. dazu ausführlich: Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. II, S. 79 ff.; Giddens, Durkheim, S. 31. 33 Vgl. dazu auch: Durkheim, Physik, S. 222 ff. 34 König, Einleitung, S. 37 ff. 35 Giddens, Durkheim, S. 29. 36 SoA, S. 153. 37 Ebenda.

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dem Symbol zwingt, das diese Ähnlichkeit ausdrückt, zusammenfasst und zugleich garantiert." 38 Strafe als „Verteuerung" des Verbrechens 39, als Instrument, um sozialschädlichen Handlungen entgegenzusteuern, ist mit dieser Interpretation der Straffunktion nicht vereinbar. Das moralisch abweichende Verhalten oder Bewusstsein interessiert Durkheim allenfalls peripher; wo er es erwähnt, bestreitet er aber entschieden die präventive Wirkung und damit auch die steuernde Wirkung der Strafe. Strafrecht steuert für Durkheim nicht das soziale Verhalten einzelner Individuen, sondern ist Widerspiegelung oder Abbild des moralischen Bewusstseins, das im sozialen Verhalten Ausdruck findet. Steuerung findet dann allenfalls sehr mittelbar als reflexive Verstärkung des moralischen Bewusstseins, kollektiver Wertvorstellungen statt. Das heißt aber auch, dass rechtliche Sanktionen nur konservativ wirken können; sie können die Lebensdauer der bestehenden Wertvorstellungen verlängern aber keine neuen, den vorhandenen Solidaritätsmustern entgegenlaufende herausbilden oder zum gesellschaftlichen Standard machen. Das gesetzte Recht unterscheidet sich inhaltlich nicht von den Sitten, es besteht vielmehr aus „besser definierten" Sitten, die ihrerseits nicht willkürlich eingerichtet werden, sondern aus sozialen Prozessen entspringen, die stattfinden, ohne dass die Akteure sich dessen bewusst sind. 40 Das Recht der arbeitsteiligen Gesellschaft kennzeichnet Durkheim durch „restitutive Sanktionen". Dieses Recht hat keinen Sühne- und damit Strafcharakter 41, es ist „nur ein Mittel, um auf das Vergangene zurückzukommen, um es möglichst in seiner normalen Form wieder herzustellen". 42 So wenig wie Durkheim Gesellschaft oder Staaten auf eine vertragliche Vereinbarung individueller Egoisten stützen will, so vehement widerspricht er utilitaristischen Vorstellungen vom Zivilrecht. Das restitutive Recht sei nicht Ergänzung privater Verträge, da seine Funktion mit der Überwachung der Einhaltung individueller Abmachungen, der Streitschlichtung und dem Interessenausgleich zwischen individuellem Willen nur unzureichend beschrieben sei. Die rechtliche Intervention der Gesellschaft erfolgt nicht, „um individuelle Interessen zum Einklang zu bringen; sie sucht nicht danach, welches die vorteilhafteste Lösung für die Gegenspieler ist, und sie bietet ihnen keinen Kompromiss an, sondern sie wendet die allgemeinen und herkömmlichen Regeln des Rechts auf den besonderen Fall an." 43 Diese Ablösung des Rechts von der zufälligen Übereinstimmung individueller Nützlichkeitserwägungen erläutert Durkheim u. a. am Familienrecht. Obwohl die Ehe 44 auf einer vertraglichen 38 SoA, S. 157. 39 Was den Ausgangspunkt des subjektivistischen Kosten-Nutzen-Kalküls darstellte, vgl. oben; subjektivistischer Juridismus. König, Einleitung, S. 26. Giddens, Durkheim, S. 34 f. 42 SoA, S. 162. 43 SoA, S. 164.

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Vereinbarung der Ehepartner beruhe, ihr Wille stimmt darin überein, die Ehe einzugehen, seien Rechte und Pflichten ausführlich durch die rechtlichen Vorgaben festgelegt und könnten auch bei Willensübereinstimmung von dem Partner nicht beliebig geändert werden. 45 Den Grund für die Unzulänglichkeit der Rechtsableitung aus privatem Willen sieht Durkheim abstrakt in dem über das egoistische Interesse hinausgehenden Postulat des Rechts, gerechte Lösungen46 zu normieren, Gerechtigkeit zu beinhalten, während Übereinkünfte kurzfristiger Interessen davon erheblich abweichen könnten. „Die Verständigung der Parteien kann eine Klausel nicht gerecht machen, die es aus sich selber nicht ist, und es gibt Rechtsnormen, deren Verletzung das soziale Recht unterbinden muss, selbst wenn die beteiligten Interessen ihnen zugestimmt haben."47 Dem restitutiven Recht subsumiert Durkheim alle Normen, die keinen strafrechtlichen Charakter haben, also vor allem das gesamte Zivilrecht, das Prozessrecht aber auch staats- und verwaltungsrechtliche Normen, soweit sie schon entwickelt waren. Diese sehr grobe Unterteilung erfährt nur eine einzige Differenzierung. „Realrechte", d. h. dingliche Rechte werden als Ausdruck negativer Solidarität von den übrigen Rechten, die Ausdruck positiver Solidarität seien, unterschieden. Realrechte, die dinglichen Rechte wie z. B. das Eigentum, sind für Durkheim Ausdruck negativer Solidarität, weil sie einzig ausschließenden Charakter haben, eine Sphäre individueller Interessen und Befugnisse schaffen, von der andere über die Realrechte ausgeschlossen werden. 48 Allerdings betont er, dass dingliche Rechte einen Zusammenhalt, positive Solidarität, d. h. die Konstitution gesellschaftlicher Verhältnisse voraussetzen. Nur wo gesellschaftliche Einheit schon besteht, ist es sinnvoll und gleichzeitig notwendig, individuelle Sphären über Ausschluss abzugrenzen. Zusammenfassend meint Durkheim zu den Realrechten, „dass die Regeln, die Realrechte und die dadurch entstandenen persönlichen Beziehungen angehen, ein bestimmtes System bilden, das nicht die Aufgabe hat, die verschiedenen Teile der Gesellschaft miteinander zu verbinden, sondern im Gegenteil, sie auseinanderzuhalten und die Barrieren deutlich zu bezeichnen, die sie trennen. ... Die negative Solidarität ist nur dort möglich, wo eine andere positive Solidarität existiert, deren Ergebnis und Voraussetzung sie zugleich ist." 4 9 Die große Masse der verbleibenden Rechtsvorschriften ist für Durkheim Ausdruck positiver Solidarität, weil sie Beziehungen zwischen den Individuen oder besser den unterschiedlichen Funktionen der Gesellschaft, die erstere wahrnehmen, herstellen. Sie schaffen Kooperation, Zusammenarbeit und Zusammenhalt dort, wo dies notwendig ist, nämlich überall dort, wo durch Arbeitsteilung einerseits Aufga44

Vgl. zum Heiratsvertrag auch: Durkeim, Physik, S. 245 ff. 45 SoA, S. 165. 46 Durkeim, Physik, S. 285. 47 S o A , S. 272. 48 S o A , S. 166 ff. 49 S o A , S. 171.

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ben getrennt sind und andererseits wechselseitige Beziehungen erforderlich sind. 50 Der Vertrag sei deshalb in „ganz besonderem Maße der rechtliche Ausdruck der Zusammenarbeit", die ihrerseits nicht ohne Arbeitsteilung entstehe.51 Das Vertragsrecht wiederum ist für ihn Ausdruck der Moral, die sich aus dieser Arbeitsteilung ergibt, eben Ausdruck organischer Solidarität. Die restitutiven Sanktionen des Vertragsrechts unterscheidet Durkheim von den repressiven Sanktionen des Strafrechts, weil erstens die Intensität der Gefühlsverletzung eine andere ist. Beim Strafrecht ist die Verletzung der Gefühle, die aus Ähnlichkeit, gleichen Wertvorstellungen entstehen, besonders intensiv. Das sei beim Vertragsrecht nicht so, weil dessen Regeln Ausdruck der Kooperation, Rechte und Pflichten der Zusammenarbeit sind, die aus der Arbeitsteilung, der Differenz entspringen. 52 Außerdem betreffen die verschiedenen Regelungsbereiche des restitutiven Rechts nicht die gesamte Gesellschaft, sondern nur Teile, nämlich diejenigen, die arbeitsteilig kooperieren. Deshalb komme in diesen Rechtsbereichen die Sanktion ohne Sühne aus und beschränke sich auf die Reparation. 53 Als Ausdruck organischer Solidarität hat das restitutive Recht die Funktion, die verschiedenen Teile der Gesellschaft zu verbinden. Der Inhalt dieser Verbindung ist nicht willkürliche Vereinbarung, das wurde schon erwähnt. Obwohl Durkheim den moralischen Grund der definierten Rechte und Pflichten betont, bleiben die Interessen nicht unberücksichtigt. Die Rechte und Pflichten des Vertragsrechts beschreiben die Mitte zwischen dem vorhandenen Gegensatz der Interessen und ihrer Solidarität. 54 Die Arbeitsteilung bringt also gleichzeitig unterschiedliche Interessen und eine solidarische Verknüpfung hervor. Die rechtlichen Regeln definieren ein Gleichgewicht zwischen Interessen und Solidarität. Dieses Gleichgewicht werde in einem mühsamen Suchprozess der Gesellschaft gefunden und bestimme als Tradition den Inhalt der rechtlichen Regelungen. Vertragliche Vereinbarungen können nicht als beständig neu ausgehandelte Kompromisslinien zwischen unterschiedlichen Interessen gedeutet werden, da ansonsten - schon wegen der Unwahrscheinlichkeit vollständiger Vereinbarungen - Handlungsunfähigkeit die Folge wäre. Die aus der organischen Solidarität entspringende Möglichkeit rechtlicher Regeln als Grundlage des Vertrages ermöglichen erst eine stabile Ordnung. Das Vertragsrecht, schreibt Durkheim, „drückt die normalen Bedingungen des Gleichgewichts aus, so wie sie sich selber und nach und nach aus dem Mittel der Fälle ergeben haben: es ist eine Zusammenfassung zahlreicher verschiedener Erfahrungen; was nicht jeder einzelne von uns voraussehen kann, ist hier vorausgesehen, 50

Das Kollektivbewusstsein wird zurückgedrängt zugunsten einer autonomen Solidarität der Individuen (Giddens, Durkheim, S. 35). 51 SoA, S. 175 f. 52 Das Kollektivbewusstsein hat sich mit der sozialen Differenzierung selbst differenziert und Regelverletzungen stoßen infolgedessen nicht mehr auf eine so strikte Zurückweisung wie bei der Verletzung des gemeisamen „Heiligen" (Kon, Der Positivismus, S. 83 f.). 53 SoA, S. 178 f. 54 SoA, S. 270. 6 Fisahn

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was wir nicht regeln können, ist hier geregelt; und diese Regelung herrscht über uns, obwohl sie nicht unser Werk ist, sondern das Werk der Gesellschaft und der Überlieferung." 55 Auf den ersten Blick scheint sich Dürkheims Vorstellung vom Funktionsmechanismus des restitutiven Rechts erheblich von dem des Strafrechts zu unterscheiden. Strafrecht sanktionierte die Abweichung von konsensualen Wertvorstellungen einer moralisch homogenen Gesellschaft, während Vertragsrecht ein mühsam gefundenes Gleichgewicht zwischen anziehenden Kräften, der organischen Solidarität infolge von Kooperation, und abstoßenden Kräften, den unterschiedlichen Interessen, normiert. Danach könnte man zu der Interpretation kommen, dass Vertragsrecht dieses Gleichgewicht erst durchsetzen muss, gegen die widerstreitenden Interessen herstellt. Anders ausgedrückt: Ein bestimmtes Gleichgewicht wird final angestrebt und insofern scheint der Gesetzgeber das Gleichgewicht erst zu definieren und über restitutive Sanktionen umzusetzen, d. h. Handlungen zu steuern. Tatsächlich aber konstruiert Durkheim das restitutive "Recht analog zum repressiven; er hat nur größere theoretische und empirische Schwierigkeiten, die Inhalte der organischen Solidarität zu beschreiben. Wie das Strafrecht ist das Vertragsrecht Abbild einer vorgängigen Moral- und Wertvorstellung. Im Strafrecht werden die aus Ähnlichkeit resultierenden Moralvorstellungen kodifiziert, im Vertragsrecht die sich aus der Kooperation entwickelnden. Empirisch musste es ihm schwerer fallen, die konsensualen Vorstellungen als Ergebnis der Arbeitsteilung aufzuspüren und hervorzuheben, da ihm am Ende des 19. Jahrhunderts - in seiner Wortwahl - die „Feindschaft zwischen Kapital und Arbeit" 56 , die eigentlich den Prototyp arbeitsteiliger Kooperation und organischer Solidarität hätten entwickeln müssen, nicht entgehen konnte. Theoretisch konnte er deshalb an den trotz wechselseitiger Abhängigkeit existenten unterschiedlichen oder gegensätzlichen Interessen verschiedener Funktionen oder Individuen nicht vorbeischauen. Dann war es nicht möglich, schlank zu behaupten, aus der Kooperation entwickele sich eine in den Wertvorstellungen homogene Gesellschaft oder zumindestens homogene Teilgesellschaften. 57 Die Moral musste er deshalb als sich entwickelndes Gleichgewicht von Interesse und Solidarität beschreiben. Es bleibt dann aber, wie beim Strafrecht, dieses Gleichgewicht, d. h. diese Moral, die die rechtlichen Kodifikationen bestimmt und individuellen Verträgen als Grundnorm vorausgesetzt ist. Auch in Bezug auf das restitutive Recht könnte man deshalb formulieren, dass es nach Dürkheims Vorstellung in erster Linie auf die „ehrbaren Leute" wirken solle. Das Handelsrecht richtet sich an die ehrbaren Kaufleute, weniger an die Wucherer und Beutelschneider. Durkheim ist damit Klassiker einer Schule soziologischer Theorien, die die Möglichkeit finaler und dezisionistischer Gesellschaftssteuerung durch Recht zumindest als sehr gering betrachten, wenn sie nicht vollständig negiert wird. Die

55 SoA, S. 271. 56 S o A , S. 422. 57 Schmid, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1989, S. 619.

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Funktion des Rechts liegt nicht in der Steuerung von Handlungen, sondern in der Stabilisierung der Werte und Erwartungshaltungen der „ehrbaren Leute". 58 Durkheim kann nur als Klassiker dieser Theorierichtung verstanden und rezipiert werden, denn die Mängel und Schwächen seiner Konzeption sind allzu offensichtlich. Ins Auge springt zunächst die „großzügige" Einteilung der Rechtsgebiete. Moderne Differenzierungen zwischen den verschiedenen Rechtsmaterien liegen zu Dürkheims Einteilung zumindest quer. Die Einteilung ist theorieimmanent der Tatsache geschuldet, dass er die Arbeitsteilung zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der Moral- und Rechtsentwicklung macht. Damit hat er einen Anstoß gegeben für eine Soziologie, die gesellschaftliche Differenzierungsprozesse in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Gleichzeitig erscheint die Homologie zwischen Rechtsentwicklung und Fortschritt der Arbeitsteilung oft reichlich zwanghaft, etwa wenn das Ehe- und Familienrecht aus der sexuellen Arbeitsteilung abgeleitet wird. Die Anlehnung seiner Begriffswahl an die Darwinsche und an die Biologie und ihre Übertragung auf gesellschaftliche Prozesse ist nach dem nationalsozialistischen Biologismus nur schwer erträglich. Für die Bewertung der zeitgenössischen Rechtstheorien im Anschluss an Durkheim ist noch einmal dessen Schwierigkeit mit der Bestimmung des moralischen Konsenses der organischen Solidarität und den dieser Solidarität entsprechenden Rechtsvorschriften hervorzuheben. Wenn das restitutive Recht als prozesshafte, suchende und Erfahrung verarbeitende Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Solidarität und Interesse gedeutet wird, ist es schwierig, gesetzgeberischen Entscheidungen für die Findung dieses Gleichgewichts eine Bedeutung beizumessen, vielmehr muss man das Recht dann geradlinig auf Überlieferung und Tradition zurückführen. Während Utilitaristen wie Hobbes Rechtsetzung vollständig als Dezision des Gesetzgebers, Rechtsbefolgung als Dezision des Adressaten betrachteten, kommt in der explizit gegen diese Vorstellungen argumentierenden Schrift Dürkheims, die Entscheidung für eine bestimmte rechtliche Regelung explizit wie theorielogisch ebenso wenig vor, wie die Entscheidung für oder gegen deren Befolgung. Nicht einmal dort, wo es naheliegt, wo rechtliche Normierung als suchende Ausbalancierung von Interessen und Solidarität interpretiert wird, erkennt Durkheim die eigenständige Bedeutung des Aktes der Recht-Setzung und damit eine mögliche, wenngleich beschränkt steuernde Wirkung dieses Aktes an. Recht bleibt auch als „restitutives" Recht wie das repressive Recht nur Interpretation, schriftliche Fixierung oder bessere Definition vorhandener (konsensualer) Moralvorstellungen und Sitten. Diese Interpretation des Rechts ist kennzeichnend für den objektivistischen Soziologismus und bestimmt die objektivistische Deutung gesetzter Normen bis in die Gegenwart. Durkheim beobachtet das empirische Phänomen gemeinsamer Moral- und Wertvorstellungen in der Gesellschaft. Abgelesen an den Rechtsvorschriften stellt er die Existenz konsensualer gesellschaftlicher Moralität einmal in Form der mecha58 Vgl. dazu Luhmanns Beschreibung der Rechtsfunktion als Stabilisierung normativer Erwartungen (Das Recht der Gesellschaft, S. 131).

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nischen, einmal in Form der organischen Solidarität fest. Die Erklärung, wie diese Solidaritäten entstehen, verharren auf einer makrosoziologischen, gesellschaftlichen Ebene. Mechanische Solidarität wird als Folge der Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Segmente, des Aufgehens des Individuums in der „Horde" erklärt. Warum und wie das Individuum sich die Moralvorstellungen der Horde aneignet, in der Zeit behält und womöglich weitervermittelt, ist nicht Gegenstand von Dürkheims Forschungsinteresse. Die individuelle Adaption der jeweiligen gesellschaftlichen Solidarität setzt Durkheim in „Über soziale Arbeitsteilung" voraus. In späteren Schriften hat sich Durkheim mit der Frage der Erziehung auseinandergesetzt. Das moralische Problem taucht dort als Problem der Erziehung auf. Durkheim geht von der anthropologischen Prämisse aus, dass dem Menschen jegliche Fähigkeit zur Mäßigung seiner Begierden und zur Selbstbeherrschung fehle, er ein von seinen Leidenschaften getriebenes egoistisches und asoziales Wesen ist. 59 Durch Erziehung werde das Kind befähigt, ein moralisches und soziales Leben zu führen, sich Mäßigung und Selbstbeherrschung aufzuerlegen und die Einstellungen und Normen der Gesellschaft zu übernehmen.60 Diesen Lernprozess betrachtet Durkheim nicht nur als empirische Tatsache, sondern auch normativ, indem er Anpassung an das vorhandene gesellschaftliche Normensystem rechtfertigt. Die psychologischen Mechanismen des Lernens von Normen, der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen bleiben aber weitgehend unklar. 61 Dürkheims Ausführungen dazu werden als „hilflos und ziemlich konfus" bezeichnet.62 Die klassische Theorie des Mechanismus der Verinnerlichung moralischer Normen wurde von Freud entwickelt, der umgekehrt gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen nicht zum zentralen Gegenstand seines Forschungsinteresses machte. Wo Gesellschaft Thema ist, wird die Gesellschaftspsychologie gleichsam analog zur Individualpsychologie konstruiert. 63 Freud hat das Normensystem des Über-Ich nicht in Beziehung zum rechtlichen Normensystem gesetzt. Seine Theorie des Über-Ich sowie des Vorbewussten und Unbewussten ist aber erstens bei einer Analyse der Wirksamkeit rechtlicher Gebote und Verbote von hohem Interesse, zweitens ist Parsons Systemtheorie, die versucht eine Brücke zwischen individueller normativer Orientierung und Gesellschaftssystem bzw. normativen Vorgaben des Rechtssystems zu bauen auf dem Hintergrund der Freudschen Analyse zu lesen. Parson hat die Theorie des Über-Ich aufgegriffen und weiterentwickelt zu einer Theorie der kulturellen Muster, die schließlich auch rechtliche Normen einbezieht.

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Durkheim Erziehung und Soziologie, Düsseldorf 1972, S. 31. 60 Durkheim, aaO. S. 35. 61 Vgl. Parsons, Das Über-Ich und die sozialen Systeme, S. 27. 62 Β lasche, Gesellschaftsbegriff und Sozialisationsprozess in den Theorien von Durkheim und Parsons, Diss. 1973, S. 115. 63 Vgl. etwa: Freud, Das Unbehagen in der Kultur, passim.

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II. Die Psychoanalyse und die Internalisierung von Werten Freud unterscheidet bekanntlich drei Instanzen und Elemente im psychischen Apparat. Das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es wird als die älteste der psychischen Provinzen bezeichnet, dessen Inhalt alles ist, was ererbt, bei Geburt mitgebracht und konstitutionell festgelegt ist. Dabei interessieren allerdings nicht physiognomische Merkmale, sondern die „aus der Körperorganisation stammenden Triebe" 64 , die sich in zwei große Unterabteilungen einteilen lassen, nämlich Eros und Thanatos, den Vereinigungs- oder Arterhaltungstrieb und den Todes- oder Destruktionstrieb. Ziel des ersteren ist es, immer größere Einheiten herzustellen und zu erhalten. Die dahinter stehende Energie nennt Freud Libido. Der Todestrieb hat als letztes Ziel, Leben in den anorganischen Zustand zu überführen. 65 Das Ich ist in der Freudschen Psychologie der große Vermittler, es vermittelt zwischen dem Es und der Außenwelt, sowie zwischen beiden und dem Über-Ich. Sein Charakteristikum ist die Aktivität, es reagiert auf verschiedene Weisen auf äußere Reize und lernt endlich, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern. „Das Ich strebt nach Lust und will der Unlust ausweichen."66 Das Über-Ich bezeichnet Freud als die Instanz, die den elterlichen Einfluss fortsetzt, es bildet sich in der Kindheitsperiode während der „werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt". 67 Das Über-Ich entspricht zum Teil dem, was in der Alltagssprache Gewissen genannt wird. Es umfasst die moralische Funktion der Persönlichkeit wie die Billigung oder Missbilligung von Handlungen und Wünschen, die kritische Selbstbeobachtung, die Selbstbestrafung oder das Selbstlob und schließlich das Verlangen nach Wiedergutmachung und Reue, wenn Unrecht getan wurde. 68 Eine Handlung des Ich bezeichnet Freud dann als korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ich und der Realität genügt.69 Die Übernahme der elterlichen Moralvorstellungen als Verinnerlichung dieser Normen und Werte im Über-Ich wird von der Psychoanalyse durch starke Gefühlsbindungen, sowohl Liebe wie Hass erklärt. Zunächst werden die moralischen Forderungen, die Eltern an das Kind richten, als Teil der Umwelt behandelt, erst später werden sie verinnerlicht. Dieser Prozess wird mit dem Wandel von Liebes- oder Todeswünschen gegenüber den Eltern, die den Ödipuskomplex bilden, zu einer Identifikation mit diesen erklärt. „Anstatt die Eltern zu lieben und zu hassen ... wird das Kind bei Verwerfung dieser Wünsche wie seine Eltern." 70 Das Über-Ich besteht im wesentlichen aus den internalisierten Bildern der moralischen Aspekte 64

Freud, Abriss der Psychoanalyse (zit. Abriss) S. 9. 65 Abriss, S. 11. 66 Abriss, S. 10. 67 Ebenda. 68 Brenner, Grundzüge der Psychoanalyse, S. 108. 69 Abriss, S. 10. 70 Brenner, aaO S. 110.

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der Eltern in der phallischen und ödipalen Phase. Die Introjektion der elterlichen Normen und Werte beginnt nach Freud im Alter von ungefähr fünf oder sechs Jahren und ist erst im Alter von zehn Jahren stabil genug, um im wesentlichen permanent zu bleiben. Mit der Stabilität der Inhalte des Über-Ichs wird ein konservativer Aspekt der Persönlichkeitsstruktur betont, der auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen wird. Freud stellt fest, dass die verinnerlichten Elternbilder, die jeweiligen Bilder des Über-Ich der Eltern sind. 71 Das bedeutet im Ergebnis, dass die Eltern i.d.R. ihre Kinder genauso erziehen, wie sie selbst von ihren Eltern erzogen worden sind. Auf die gesellschaftliche Ebene übertragen erklärt sich das zähe Weiterleben bestimmter Moralvorstellungen an moralischem Konservatismus und die Abwehr gegen Veränderungen. Dieser moralische Widerstand sollte im Hinterkopf behalten werden für die Beurteilung der Chancen, rechtlich intendierter Veränderungen und der Möglichkeit, durch rechtliche Normen gesellschaftliche Normen umzusteuern. In der Psychoanalyse wird aber nicht nur dieses konservative Moment betont. Bleibt man zunächst auf der Ebene der Bildung des Über-Ich, wird zwar angenommen, dass mit dem zehnten Lebensjahr die Verinnerlichung elterlicher Moral stabil ist, sie ist damit aber keineswegs abgeschlossen. Identifikationen mit einer anderen Person können in der Adoleszenz und auch noch bei Erwachsenen dazu führen, dass deren Werte und Normen in das Über-Ich aufgenommen werden, dieses also ausgebaut oder evtl. umgebaut wird. In der Psychoanalyse wird also die Möglichkeit eines moralischen Lernprozesses angenommen. Als Beispiele für solche Identifikationsfiguren, die zu einer Ergänzung oder Modifikation des Über-Ich führen, werden genannt: zunächst Personen, deren Rolle im Leben des Kindes der seiner Eltern ähnlich ist, wie Erzieher, Lehrer, Pfarrer; in der Präpubertät und Adoleszenz ist eine Identifikation auch mit Objekten möglich, zu denen kein persönlicher Kontakt besteht, wie bei Geschichtsfiguren, Romanhelden, kurz: großen Männern und Frauen. Die Bedeutung solcher Objekt-Besetzungen im Erwachsenenalter hat Freud insbesondere in seiner Schrift zur Massenpsychologie herausgearbeitet. Gruppenbildung erklärt er dort durch die massenhafte Identifikation mit einem charismatischen Führer. 72 Diese genannten Phänomene widersprechen der Vorstellung einer weitgehenden Stabilität und Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Moral, wie sie Durkheim und - wie zu zeigen ist - auch Parsons implizit annehmen (müssen). Insbesondere sind Sprünge in der Entwicklung kollektiver Moral Vorstellungen und damit gesellschaftliche Entwicklung denkbar, was in den sozialdarwinistischen Theorien blinder Differenzierungs- und Anpassungsprozesse ausgeschlossen ist. Die Stellung des letztlich handelnden Ichs als vermittelnde Instanz zwischen Es, Realität und Über-Ich beinhaltet ein weiteres dynamisches Moment, ermöglicht die Erklärung von Veränderungen. Das handelnde Ich bleibt neben der Moral au71 72

Freud, Das Ich und das Es, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 235. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, passim.

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ßerdem an die gegenständliche Welt rückgekoppelt. Normative Vorgaben als verinnerlichte Momente gesellschaftlicher Moral können so als integrierende Faktoren in Widerspruch geraten zu anderen Faktoren des Es und der Realität, was die theoretische Annahme von Veränderungen und Entwicklungssprüngen ermöglicht. Dynamik kommt in die gesellschaftlichen Moralvorstellungen auch, weil die Psychoanalyse keine Entsprechung der Intensität elterlicher Moral und der des Kindes annimmt. Nicht die Strenge der Eltern ist danach für die Bestimmung der Strenge des Über-Ichs maßgebend, sondern die „Intensität der aggressiven Komponente der eigenen ödipalen Wünsche des Kindes" 73 . Je höher der Betrag der aggressiven Energie in der ödipalen Phase sei, desto größer sei auch der Energiebetrag, der später dem Über-Ich zur Verfügung stehe. D.h. die Strenge des Über-Ich, die Intensität, mit der moralische Anforderungen an das Ich gestellt werden, wird nicht einfach gesellschaftlich weitergegeben, sondern ist abhängig von der aggressiven Energie ödipaler Objektbesetzungen, die wiederum von anderen - hier uninteressanten - Faktoren als der elterlichen Moral abhängig ist. 74 Die Beschreibung des Über-Ich als Gewissen, das sich bei Verstößen gegen den internalisierten Moralkodex durch Schuldgefühle oder Reue bemerkbar macht, erfasst nur den bewussten und deshalb bekannten Aspekt des Über-Ich. Die Psychoanalyse rückt das Unbewusste in den Mittelpunkt ihres Interesses. Geläufig ist die Unterscheidung zwischen bewusst und unbewusst. Bewusst hat für Freud die gleiche Bedeutung wie in der Alltagssprache und der klassischen Philosophie. Alles übrige, alle anderen psychischen Vorgänge werden dem Unbewussten zugerechnet. Innerhalb des Unbewussten zeichnet sich aber eine Region der Psyche durch besondere Nähe zum Bewussten aus, die von Freud das Vorbewusste75 genannt wird. Das Bewusste, die bewusste Wahrnehmung einer Situation ist nur ein „flüchtiger Moment", der anschließend sofort aus dem Bewusstsein gedrängt wird, ihm entfällt. Diese ehemals bewussten Vorgänge sind aber leicht erinnerbar, können ohne große Anstrengungen, was vor allem psychische Widerstände meint, ins Bewusstsein geholt oder zurückgeholt werden. Diese Grenzregion zwischen bewusst und unbewusst nennt die Psychoanalyse vorbewusst. „Alles Unbewusste, das sich so verhält, so leicht den unbewussten Zustand mit dem bewussten Vertauschen kann, heißen wir darum lieber bewusstseinsfähig oder vorbewusst". 76 Das „eigentliche Unbewusste" ist dann jene Region der Psyche, die für das Bewusstsein schwer zugänglich ist, sie kann nur durch psychologische Techniken „erschlossen, erraten und in bewussten Ausdruck übersetzt werden". 77 Vorbewusste Inhalte können zeitweilig unzugänglich durch Widerstände abgesperrt in die Region des Unbewussten 73 Brenner, aaO., S. 113. 74 Freud, Abriss, S. 60. 75 Freuds Theorie des Vorbewussten wird insbesondere im Dritten Teil relevant, indem sie für die Konstruktion der Elemente der Rechtsbefolgung fruchtbar gemacht wird. 76 Abriss, S. 20. 77 Ebenda.

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hinübergleiten. Die Qualität des Vorbewussten schreibt Freud dem „Inneren des Ichs" zu. Das Vorbewusstsein sei einerseits mit den bewussten Sinnes Wahrnehmungen verknüpft, andererseits mit „Sprachresten". Es ist danach das besondere der Sprachfunktion, dass sie Erinnerungsreste mit sinnlichen Wahrnehmungen in Verbindung bringt. Insbesondere das Über-Ich als Teil des Inneren des Ichs zählt Freud zum Vorbewussten, obwohl es zumeist unbewusst bleibe. „Der vorbewusste Zustand, einerseits durch seinen Zugang zum Bewusstsein, andererseits durch seine Verknüpfung mit den Sprachresten ausgezeichnet, ist doch etwas Besonderes, dessen Natur durch diese beiden Charaktere nicht erschöpft ist. Der Beweis hierfür ist, dass große Anteile des Ichs, vor allem das Über-Ich, dem man den Charakter des Vorbewussten nicht bestreiten kann, doch zumeist unbewusst im phänomenologischen Sinne bleiben". 78 Die internalisierten moralischen Normen, die in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind, weil sie im Konflikt mit den institutionalisierten Normen, dem Recht geraten können, bleiben also nach Freuds Analysen zumeist phänomenologisch unbewusst, d. h. sie werden befolgt, ohne dass sich der Handelnde dessen bewusst ist. Dieses unbewusste Befolgen umfasst mindestens zwei Ebenen. Erstens kann Inhalt und Existenz der Norm des Über-Ichs unbewusst bleiben, zweitens kann - trotz des grundsätzlichen Bewusstseins dieser Norm - ihre Anwendung, Einschlägigkeit oder Befolgung im konkreten Fall unbewusst bleiben. Der Handlungsakteur befolgt die Norm unbewusst, d. h. ohne den Sachverhalt unter diese Norm zu subsumieren. Die internalisierten moralischen Normen werden im psychischen Apparat, aber nicht im Unbewussten angesiedelt - die unbewusste Befolgung moralischer Normen ist nur empirisch feststellbar - sie werden vielmehr in jener Grenzregion des Vorbewussten beheimatet. Dann folgt, dass sie - abgesehen von begrenzten und befristeten Widerständen - auch zur Sache des Bewusstseins gemacht werden können, d. h. sie können reflektiert werden. Ihre Existenz und Geltung ist auch nach Freud dem Bewusstsein zugänglich. Schwieriger ist es offenbar mit der bewussten Veränderbarkeit, die aber - wie die Ausführungen zu späteren Entwicklungen des Über-Ichs gezeigt haben - nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Einmal bewusst steht die Befolgung oder Nichtbefolgung des Über-Ich-Gebotes zur Disposition des Ichs, d. h. der bewussten Entscheidung unter Einbeziehung der Möglichkeit der Realität und der Impulse des Es. Die Reflexion über die moralische Norm, d. h. ihre Beförderung vom Vorbewussten ins Bewusste, macht gleichzeitig ihre Befolgung in einer aktuellen Handlungssituation zu einem Entscheidungsprozess im Bewusstsein. Die Möglichkeit der Entscheidung gegen die Norm folgt aus der psychoanalytischen Annahme, dass eine solche Entscheidung, d. h. die Missachtung der Gebote und Verbote des Über-Ich zu den genannten Reaktionen des Gewissens führen. Schuld oder Minderwertigkeitsgefühle und Reue als Reaktion auf die Normverletzung werden motivational in den Entscheidungsprozess des Ich eingestellt. Umge78 Abriss, S. 22.

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kehrt wird die Befolgung der Norm durch das Über-Ich belohnt. „Es können Gefühle der Freude oder des Glücklichseins und der Zufriedenheit mit sich selbst daher kommen, dass das Über-Ich dem Ich Anerkennung zollt, und zwar wegen eines äußeren Verhaltens oder einer inneren Haltung des Ichs, die das Über-Ich besonders anerkennt." 79 Damit ist ein bedeutender Zug der Wirkung des Über-Ich angedeutet. Es sanktioniert, so die Ergebnisse der Psychoanalyse, Wünsche genauso wie Handlungen. 80 Die zweite Wirkungsweise des Über-Ich, die im Zusammenhang rechtlicher Sanktionen bedeutender ist, wird als Anwendung des Taillons-Gesetzes bezeichnet. Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn" der Gerechtigkeitsvorstellung wird regelmäßig älteren Gesellschaftsformationen und denen des Kindes zugerechnet. Die Psychoanalyse behauptet, dass das Über-Ich bei Verstößen gegen seine Gebote Strafen nach dem Taillonsgesetz verhängt, d. h. die empfundenen Schuldgefühle oder das unbewusste Verlangen nach Sühne oder Selbstbestrafung ist proportional abhängig von dem Gewicht des Verstoßes gegen die Gebote. „Bei der Analyse stellt sich heraus, dass die unbewussten Bußen und Strafen, die das Über-Ich auferlegt, häufig dem Gesetz der Wiedervergeltung entsprechen, obwohl der Einzelne seit langem dieser kindlichen Handlung entwachsen ist, soweit es sich um sein bewusstes psychisches Leben handelt." 81 Die psychoanalytische Theorie liefert zusammenfassend auf der Ebene individueller Reaktionen, Entscheidungen und Handlungen ein Set von Elementen, die den psychischen Apparat konstituieren und individuelles Verhalten beeinflussen. Für die Frage nach Motiven und Widerständen für die Befolgung von rechtlichen Geboten liefert sie Erklärungsansätze, die erheblich differenzierter sind als das utilitaristische Zweck-Mittel-Schema oder Dürkheims Konstruktion einer weitgehenden Kongruenz von Recht und Moral, in der Rechtsbefolgung als Ergebnis gemeinsamer gesellschaftlicher Moralvorstellungen erscheint. Festzuhalten ist in unserem Zusammenhang insbesondere die Konstruktion des Ich als Vermittler zwischen den Anforderungen der äußeren Bedingungen, der Realität und dem ÜberIch. Der äußeren Realität lassen sich rechtliche Gebote und Verbote sowie die damit verbundene Zwangsandrohung zurechnen, während die Normen des Über-Ich durchaus in Kollision mit diesen äußeren Bedingungen zu denken sind. Statt einfacher Interessenabwägung oder Kosten-Nutzen-Rechnung ist dann ein komplexer Prozess des Ausgleichs und der Vermittlung unterschiedlicher Ansprüche an das Ich in Betracht zu ziehen. Schließlich ist die Beheimatung der Normen des ÜberIch im Vorbewussten hervorzuheben. Das hat zwei Konsequenzen, erstens kann man sich der Erklärung von routinisierten, rechtswiderständigen Handlungen nähern und zweitens eröffnet sich die Chance, unbewusste Routinen in bewusste Auseinandersetzung mit Normen zu überführen, um so neue Konstellationen im 79 Brenner, aaO., S. 116. so Abriss, S. 60. 8i Brenner, aaO., S. 117.

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Akteur zu schaffen. Dazu ist die Veränderbarkeit internalisierter Normen, ihre kulturelle Überformung in Betracht zu ziehen. Freud hat die schematische Einteilung seines psychischen Apparates selbst relativiert: „Solche Allgemeinheiten können nicht leicht allgemein richtig sein. Ein Teil der kulturellen Erwerbungen hat gewiss seinen Niederschlag im Es zurückgelassen; vieles, was das Über-Ich bringt, wird seinen Widerhall im Es wecken; manches, was das Kind nun erlebt, wird eine verstärkte Wirkung erfahren, weil es uraltes phylogenetisches Erleben wiederholt." 82 Auf die Bedeutung kultureller Muster, die nicht direkt moralische Normen beinhalten, auch für kognitive Orientierungen und Prozesse hat insbesondere Parsons hingewiesen.

I I I . Programmierung durch internalisierte Werte - Parsons 1. Handlung - Norm - Recht Die moralische Fundierung individuellen Handelns und gesellschaftlicher Organisation wird von Talcott Parsons, der damit an Durkheim, Freud aber auch Weber und Kant 83 anknüpft, in eine systemtheoretische Deutung von Handeln eingebaut. Handlungen werden zu allgemeinen Handlungssystemen, Gesellschaft zum Sozialen System. Beide, das allgemeine Handlungssystem individueller Akteure wie das soziale System „Gesellschaft", werden homolog konstruiert, weisen nach Parsons parallele Eigenschaften und Funktionen auf, die er letztlich auf eine soziale Determination individueller Bedürfnisstrukturen zurückführt.

a) Probleme der Interpretation Parsons Die Verbindung der allgemeiner Handlungstheorie des frühen Parsons und der Systemtheorie des späten Parsons wird allerdings kontrovers diskutiert. Während die einen behaupten, es bestehe ein Bruch zwischen Handlungstheorie und Systemtheorie, weil die Handlungstheorie von Parsons nicht in die Systemtheorie integriert worden sei, was konstruktiv auch nicht möglich sei 84 , betonen die anderen die Kontinuität der Theorieentwicklung Parsons, auch wenn „Spannungen zwischen Idealismus und Positivismus" einerseits sowie zwischen Handlungstheorie und Systemtheorie bei Parsons konzediert werden. 85 Es wird argumentiert, dass weder der frühe Parsons eine zweckrationalistische monologische Handlungstheorie nach später eine quasi-naturalistisch funktionalistische Systemtheorie 86 vertre82 Abriss, S. 61. 83 Vgl. zu Parsons Kantianismus: Münch, Handeln, S. 17 ff., 59 ff. 84 Habermas, Kommunikatives Handeln Bd. II, S. 300 ff. 85 Münch, Handeln, S. 211; ähnlich unter Verweis auf die Konstruktion der Bedürfnisstrukturen Geulen, Subjekt, S. 71 ff.

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ten habe. Das entscheidende Kontinuum in Parsons Werk sei die Betonung des institutionalisierten und internalisierten Wertekonsens, der als Legitimationsmodus für individuelles Handeln wie für gesellschaftliche Normensysteme auftritt. Tatsächlich ist es schwierig, in Parsons Entwicklung der Systemtheorie eine mangelnde normative Integration der Gesellschaft oder der verschiedenen Subsysteme festzustellen.87 Im Gegenteil lässt sich eher behaupten - und diese Kritik wird von Kritikern an Parsons vorgebracht 88 - , dass Parsons die Bedeutung, reale Existenz und Stabilität eines Wertekonsenses für die Entwicklung (moderner) Gesellschaften erheblich überschätzt. Eine andere Frage ist, ob man eine begriffliche Homologie zwischen Handlung und Gesellschaft oder besser das Hineinzwängen von Handlungsorientierungen und Gesellschaftsorganisation in einen biologistisch-darwinistischen Begriffsapparat als gelungenes Modell für die Erklärung von individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Prozessen bezeichnen kann. Erhellend sind zur Beurteilung dieser Frage, d. h. zur Beurteilung der analytischen Schärfe des von Parsons entwickelten Instrumentariums seine Versuche, konkrete und seinerzeit aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen mit dem Instrumentarium der Systemtheorie zu begreifen oder mögliche Entwicklungsrichtungen festzustellen. Die ahistorische und schematische Theoriebildung stößt dabei - wie man sehen wird - an ihre offenkundigen Grenzen, wird entweder durch politische Vorurteile, die die Komplexität des Problems vollständig verkennen, ersetzt oder gerät zur nichtssagenden, aber systemtheoretisch orthodoxen Interpretation der Phänomene. Das Problem der Rassendiskriminierung in den USA analysiert Parsons ζ. Β. folgendermaßen: Zwar sei die USA eine tolerante Gesellschaft, die allerdings nicht alle „Volksgruppen ... voll miteinbezog. Die Neger befinden sich noch immer am Anfang des Einbeziehungsprozesses." Der aber, sagt Parsons 1972 „zuverlässig voraus", bald abgeschlossen sein werde, denn die Abspaltung der „großen Masse der Negerbevölkerung" im Süden werde durch Abwanderungsprozesse überwunden. 89 Eine desintegrierende Wirkung symbolischer Ordnung, die Rassen- und Klassenspaltungen abbildet, reproduziert oder sogar verschärft, ist im systemtheoretischen Theoriearrangement nicht vorgesehen - schon gar nicht für die - so Parsons - fortgeschrittenste moderner Gesellschaften, die USA. Rassendiskriminie86

So aber Habermas Vorwurf an Parsons, aaO. Diese mangelnde normative Intergation entdeckt aber Habermas, der seine Kritik an Parsons folgendermaßen zuspitzt: „Kurz gesagt, die Orientierung des handelnden Subjekts an Werten und Normen ist für die sozialintegrative Herstellung von Ordnung konstitutiv, nicht aber für die Systemintegration." (KH II, S. 302) Habermas braucht für seine Trennung von Systemintergation und Sozialintergation oder von System- und Lebenswelt und seine Feststellung von pathologischen Effekten einer Kolonialisierung der Lebenswelt ein moralfreies, rein adaptives System, das er Parsons unterschiebt, das bei diesem aber nicht zu finden ist. 88 Vgl. Blasche, Gesellschaftsbegriff passim; Geulen, Subjekt, S. 151 ff.; Giddens, Konstitution der Gesellschaft, S. 25 ff. S9 Parsons, Das System Moderner Gesellschaften (SMG), S. 113. 87

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rung wird darum für Parsons zu einem geographischen Problem. Ist die geographische Trennung einmal überwunden, glaubt Parsons an eine wertkonsensuale Integration, die dadurch erreicht werde, dass Wertvorstellungen verallgemeinert 90 werden. Diesen Prozess stellt Parsons so vor: „Nicht nur sprechen die Iren englisch, sondern es gibt auch viele 'angelsächsische4 Katholiken und viele protestantische Neger." 91 Dieser „Pluralismus", meint Parsons, begünstige die Integration auch der afro-amerikanischen Bevölkerung. Die heile amerikanische Welt wird für ihn noch in den 1970'er Jahren durch die Glaubensökumene hergestellt. 92 Diese naiv anmutenden Vorstellungen 93 lassen sich nicht auf einen persönlichen oder politischen Defekt Parsons reduzieren, sie gehen konsequent aus seiner Theoriebildung hervor. Die Konstruktion von Gesellschaft analog zu einem biologischen Organismus verbietet die Annahme von Widersprüchen und sozialen, geschlechtlichen oder „rassischen" Konflikten, es kann nur eine mangelnde Abstimmung und Integration unterschiedlicher, differenzierter Funktionen geben. Die „Spannungen" zwischen Handlungs- und Systemtheorie, die durch die Analogiebildung verdeckt werden, zeigten gleichzeitig die theoretischen Mängel und Grenzen beider Konstruktionen. Denn im Unterschied zur konfliktorientierten Psychologie Freuds, die sich aus seinem Erkenntnisinteresse notwendig ergab, konstruiert Parsons Gesellschaft wie Handlungssysteme harmonistisch. Seine Handlungstheorie hat Parsons 1937 in „The Structure of Social Action" explizit gegen den utilitaristischen Ansatz, die Zweck-Mittel-Rationalität einerseits und gegen eine idealistische Handlungstheorie entwickelt. Dabei geht er durchaus vom Zweck-Mittel Schema als für die Handlungsorientierung des Akteurs entscheidungserheblich aus, allerdings wird die Zweck-Mittel-Wahl in eine umfassende Handlungssituation, die von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird, integriert. Parsons konstruiert Handlungen aber letztlich so, dass die unterschiedlichen Orientierungsmodi, die Handlungen strukturieren, den Akteur beeinflussen, normativ überdeterminiert werden. Anders ausgedrückt: normative Muster gewährleisten, dass die verschiedenen Orientierungsmodi einer Handlungssituation, die prima facie zu sehr unterschiedlichen Handlungen motivieren könnten, normativ integriert werden und eine (pathologische) Zerrissenheit des Akteurs verhindern. Normative Muster, so deutet Parsons Handlungen letztlich, bilden die internalisierte 90 Vg. dazu ausführlich: Turner, The British Journal of Sociology 1993, S. 1 ff. 91 SMG, S. 113. 92 Besondere Probleme bekommt Parsons mit seinen Vorstellungen, wenn es um die Wertverallgemeinerung mit Blick auf jüdische Minderheiten oder die Assimilation der Juden geht. In einem sehr umstrittenen Aufsatz zum Nationalsozialismus verurteilt Parsons deshalb den „pathologischen" Antisemitismus der Nazis, während demgegenüber ein „gewöhnlicher" oder „normaler" Antisemitismus aus ihrer mangelnden Assimilation in die Gesellschaft entstehe. Diese Ausführungen sind - wohl zu recht - als gemäßigter Antisemitismus gedeutet worden, (vgl. dazu ausführlich: Gerhardt, Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1992, S. 253 ff.). 93 Vgl. zur Verteidigung Parsons gegen diese Vorwürfe: Nolte, Merkur 1987 (41/7), S. 579.

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Programmstruktur für spätere Entscheidungen: für Zielbestimmungen wie für die Wahl der Mittel. Der handelnde Akteur führt diese Muster nur aus, d. h. er übernimmt letztlich eine von gesellschaftlichen normativen Mustern vorgegebene Rolle. 9 4 Akteure werden zu Rollenspielern, die durch internalisierte gesellschaftliche Werte abschließend programmiert sind und weder aus der Rolle schlüpfen können, noch skeptische Distanz zu dieser entwickeln können, da es „ihre" Rolle ist. Die Rolle und ihre normativen Dispositionen stimmen unverbrüchlich überein.

b) Orientierungsmodi Parsons analysiert die Handlung des Akteurs als voluntaristische 95 Entscheidung in einer gegebenen Situation. Dabei unterscheidet er zwischen empirischen und nichtempirischen Bedingungen der Handlungssituation. Empirische Bedingungen bezeichnen die materialen Bedingungen der Situation, den Organismus des Akteurs genauso wie die äußere Realität. „Aus der Perspektive des Handlungsschemas ist der Körper des Akteurs Teil von dessen Situation, den er wesentlich in gleicher Weise behandelt wie die 'äußerliche4 Situation." 96 Allerdings löst Parsons die Bedeutung der äußeren Realität vor allem ihrer Zwänge auf, indem er sie in die normativen Muster verlagert. Realität „wirkt" nur durch die Kategorien der normativen Muster. Empirische wie nichtempirische Bedingungen können wiederum Bestandteil kognitiver wie nichtkognitiver Orientierungsmodi sein. Das Kognitive bezeichnet die Reflexion des Akteurs auf „seine Handlung als Ganzes" in kognitiven Begriffen, entspricht also weitgehend dem „Bewussten" der Freudschen Theorie. 97 Dem Unbewussten entspricht bei Parsons das Nichtkognitive, das sich in der Reflexion des Akteurs eben nicht wiederfindet, aber dennoch in seine Handlung einfließt. Sowohl der kognitive wie der nichtkognitive Bereich wird unterschieden nach teleologischen und affektuellen Orientierungsmodi. Damit wird Webers Unterscheidung zwischen affektuellem und zweckrationalem Handeln aufgegriffen. 98 Hinter diese Differenzierung unterschiedlicher Einflüsse auf die Motivbildung eines handelnden Akteurs wird man kaum zurückfallen können. Affektuelle Orientierungen umfassen emotionale Handlungsmotive wie Liebe oder Hass. Abstrakt unterscheidet Parsons zwischen positiven, negativen und neutralen Emotionen als Handlungsmotiv. 94

Vgl. zum Problem von Rolle und Freiheit bei Parsons: Halfmann / Knostmann, Sociologica Internationalis 1990, S. 3 ff. 95 Parsons Theorie wird als voluntaristische Handlungstheorie bezeichnet, weil er auf der Grundlage normativer Konsense Wahlfreiheit und Zweck-Mittel- Wahlen annimmt (Halfmann/Knostmann, Sociologica Internationalis 1990, S. 7 ff.; Nolte, Merkur 1987, S. 585). 96 Parsons, Aktor, Situation und normative Muster (ASM), 74. 97 ASM, S. 71. 98 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 12.

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In die teleologische Orientierung fließen zweckrationale Erwägungen, d. h. die rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zielen ebenso ein wie Wünsche, Bedürfnisse, Triebe und normative Orientierungen. Insofern das Individuum als konkrete Einheit von Handlungssystemen „eine teleologische Ausrichtung zeigt, sind ihre konkreten teleologischen Tendenzen ein Kompositum; sie sind einesteils - aus dem Blickwinkel der Theorie des Handelns - Modi normativer Orientierung, andernteils das Ergebnis biologisch gegebener Triebe." 99 Zwischen diesen verschiedenen Orientierungsmodi muss nun ein Prinzip der Wahl identifizierbar sein, eine kohärente Auswahl stattfinden. Die Notwendigkeit der Kohärenz ergibt sich für Parsons schon aus seinem Erkenntnisinteresse; er will die Bedingungen stabiler gesellschaftlicher Ordnung 100 erklären. 101 Dazu ist es erforderlich, dass „alter" die Handlungen von „ego" sicher erwarten kann, um seine Handlungen darauf einzustellen, während ego sich wiederum auf diese Handlungen einstellen können muss. Die Ebene der Einflüsse auf ein konkretes Individuum muss also verlassen werden, um auf der Ebene der Interaktion 102 stabile Handlungsmuster und damit letztlich gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten. In der Analyse der Handlungsorientierung des einzelnen Akteurs schlägt sich dieses „Ziel der Theoriekonstruktion" so nieder, dass Parsons ein Prinzip zur Herstellung von Handlungskohärenz finden muss. Dieses Prinzip besteht aus normativen Mustern.

c) Normative Muster Normative Muster dienen nicht nur dazu, zwischen potentiell auseinander driftenden Orientierungen eine Auswahl zu treffen, z. B. Triebe zugunsten normativer Gebote zu unterdrücken, sondern sie werden von Parsons in die scheinbar völlig unterschiedlichen Orientierungsmodi eingelassen, so dass der Prozess der nichtpathologischen Vereinheitlichung, Freuds großes Problem, als vergleichsweise unproblematisch erscheint. Auch hier geht es Parsons schon um die Konstruktion eines Gleichgewichts, nicht um Konflikte oder Widersprüche. Dazu drei Beispiele: Die Zweck-MittelWahl ist für Parsons nicht ausschließlich rationale Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern sie ist auf beiden Seiten normativ überdeterminiert. Die Zwecksetzung spiegelt nicht nur egoistische Interessen oder Bedürfnisse wider, sondern kann sich auch an normativen Geboten orientieren. Die Zwecke werden vom Akteur gesetzt oder gewählt 103 , wobei nicht nur kognitive, sondern auch nichtkognitive oder af99 ASM, S. 75. 100 Das Problem der stabilen Ordnung wird als Testfrage jeder allgemeinen Gesellschaftstheorie bezeichnet (Burger, American Journal of Sociology 1977/78, S. 320. ιοί Vgl. Wagner, Zeitschrift für Soziologie 1991, S. 115 f. 102 Parsons schließt an Mead an, der von der Betrachtung des individuellen Bewusstseins zur Interaktion vorangeschritten war, vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 107 f.; 112 ff.

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fektuelle Aspekte in den Prozess der Zwecksetzung einfließen. Die affektuellen Aspekte werden aber entscheidend durch normative Vorgaben geprägt. Der gleiche Mechanismus wirkt zweitens nach Parsons auch bei der Wahl der Mittel: „Der Akteur wird dann Fragen bezüglich der Mittel und Wege nicht nur in Hinsicht auf rationale Effizienz und Ökonomie prüfen, sondern auch über unmittellbare positive oder negative affektive Haltungen zu dem im jeweiligen Fall implizierten spezifischen Vorgehen verfügen. Das trifft für Affekte jeder Art zu. Eine Art ist jedoch besonders entscheidend. Eine der grundlegenden Modi affektiver Orientierung ist der moralische; jedes System von Zwecken steht in direktem Zusammenhang zu einem System moralischer Werte, verkörpert es größtenteils." 104 Dann wird aber nicht im Anschluss an die Zwecksetzung und Mittelwahl mühselig eine Übereinstimmung mit normativen Orientierungen hergestellt, vielmehr fließen diese direkt in den Prozess zweckrationaler Erwägungen ein. Normativ überdeterminiert sind drittens für Parsons auch die äußeren Bedingungen des Handelns wie die Bedürfnisse. Mit beiden Annahmen grenzt sich Parsons gegen Freud ab. Dieser habe die Realität als dem Bewusstsein direkt zugänglich gewertet, während sie nach Parsons in Wahrheit erst durch Normen strukturiert werden muss, damit der Akteur sich in ihr orientieren kann. Nicht nur die elterlichen Moralvorstellungen werden danach vom Kind als Über-Ich verinnerlicht, sondern auch die normativen Muster, die eine Orientierung in der Realität zu allererst ermöglichen, den Akteur in die Lage versetzen, die Dinge und Interaktionspartner in ihrer gesellschaftlichen Funktion zu verstehen und sich daran zu orientieren. „Der wesentliche Punkt dürfte sein", schreibt Parsons, „dass Freuds Ansicht zu bedeuten scheint, dass das kognitiv signifikante Objekt unabhängig von der verinnerlichten Kultur des Akteurs gegeben ist und dass die Maßstäbe des Über-Ichs dann daran angelegt werden. Dabei wird das Ausmaß vernachlässigt, in welchem die Konstitution des Objekts und seine moralische Bewertung wesentlicher Bestandteil desselben fundamentalen Kulturmusters sind." 105 Ebenso wie das Realitätsprinzip wird das Es, die Triebe und Bedürfnisse bei Parsons normativer Strukturierung unterworfen. Die Triebstruktur wird nicht als unabänderliche Konstante des psychischen Apparates bzw. des Handlungssystems begriffen, sondern im Lichte normativer und kultureller Überformungen gesehen. „Zugleich jedoch - und über diesen Punkt sind sich die psychoanalytischen Theoretiker nicht so klar - kann gezeigt werden, dass bei den am eindeutigsten »biologischen4 Bedürfnissen des Menschen, wie dem nach Nahrung und geschlechtlicher Befriedigung normative Elemente eine entscheidende Rolle spielen, welche spezifische Formen nicht nur ihrer Befriedigung, sondern dieser Bedürfnisse selbst annehmen." 106 103 ASM, S. 118. 104 ASM, S. 130. 105 Parsons, Das Über-Ich und die Theorie sozialer Systeme, in: ders. Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 33.

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Diese Überdeterminierung der äußeren Realität, der Triebstrukturen wie zweckrationaler Handlungen hat zum einen die Konsequenz, dass Parsons die Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit wie auch die Integration sozialer Systeme, die Möglichkeit der Ordnung von Gesellschaften nun verhältnismäßig leicht erklären kann. Das normative Muster, das kulturelle System durchzieht nicht nur den Akteur, steuert nicht nur das individuelle Handlungssystem, sondern über gemeinsame Normen, ein kollektiv geteiltes kulturelles System auch die sozialen Systeme, insbesondere Gesellschaften. Zum anderen schottet Parsons damit Handlungssystem und Gesellschaft weitgehend gegen Veränderungen ab. 1 0 7 Die normativen Muster, Normen und kulturellen Werte, seine Diktion verschiebt sich im Laufe der Zeit, werden ähnlich wie bei Freud im Zuge der Persönlichkeitsentwicklung internalisiert, und durch Sozialprozesse in der Interaktion mit anderen „angeeignet". „Im langen Prozess sozialer »Konditionierung4 von Geburt an", schreibt Parsons, „wird sie (die menschliche Natur) allmählich zur konkreten Persönlichkeitsstruktur des Erwachsenen geformt, die entsprechend den konditionierenden Einflüssen, denen sie ausgesetzt war, ganz unterschiedlich ausfallen kann. Welche Richtung die Entwicklung auch immer einschlägt, so besteht doch die grundlegende Tendenz darin, relativ integrierte Persönlichkeiten auszubilden, die sowohl intern als System wie auch mit den Erfordernissen und Mustern des umfassenderen sozialen Systems integriert sind." 108 Freuds Realität tritt Parsons Akteur nur noch als verinnerlichte Norm gegenüber, Spannungen zwischen Realität und Triebstruktur sind ebenfalls über beider normative Integration harmonisiert, so dass für Veränderungen, produktive Aneignungen und Gestaltungen der Realität kaum Spielraum, geschweige denn ein Anlass besteht. Parsons hebt zwar richtig hervor, dass die Orientierung in der Realität ohne kulturelle Deutungsmuster, eine symbolische Ordnung, nicht möglich ist oder zu Fehlleistungen und -Orientierungen führt - was die vielen literarischen Gedankenexperimente, in denen Personen in fremde Kulturen verpflanzt werden, veranschaulichen. Die Deutungsmuster, die ein Verstehen oder Begreifen der gegenständlichen Welt erst ermöglichen, können aber wohl nicht gleichgesetzt werden mit Freuds Sollens-Geboten des Über-Ichs oder moralischen Werten. Während moralische Werte im Unbewussten oder tiefen Schichten des Vorbewussten anzusiedeln sind und von dort Handlungsmotive beeinflussen, ist die Realität als wider-ständige äußere Bedingung, mögliches Objekt und Produkt von Arbeit und Aneignung, als produzierte und reproduzierte Entität, Objekt von Veränderungen und gleichzeitig äußerer Zwang, deren Bedingungen und Möglichkeiten im Handlungsprozess realisiert werden, wenn auch nicht immer formuliert werden. Realität kann dann aus der Perspektive des normativen Musters nicht angemessen erfasst werden.

106 ASM, S. 76. 107 Vgl. Halfmann / Knostmann, Sociologica Internationalis 1990, S. 5. los ASM, S. 180.

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Die konkrete Handlungssituation bleibt für Parsons das Herstellen eines Gleichgewichts zwischen den Impulsen und Motiven, die von den beschriebenen Orientierungsmodi ausgehen. Da die einzelnen Orientierungsmodi des Handlungssystems schon durch die normativen Muster vorstrukturiert wurden, kann die Konstruktion des Gleichgewichts als Präferenzsetzung erfolgen, die wiederum vom normativen Muster gesteuert wird und Wahlmöglichkeiten nur insofern zulässt, als die anleitenden Werte Spielräume für verschiedene Handlungen lassen. „Personale Integration erfordert demnach ein zureichendes Maß an Koordination zwischen den verschiedenen Orientierungsmodi, so dass die aus ihnen jeweils hervorgehenden Handlungstendenzen passend aufeinander abgestimmt s i n d — Aus dieser Perspektive befindet sich die individuelle Persönlichkeit in einem empfindlichen Gleichgewicht all dieser Orientierungsmodi, ein Gleichgewicht, das deren relative Integration miteinander impliziert." 109

d) Internalisierung von Werten und Normen Die verinnerlichten normativen Muster, die wie gesehen nicht nur die ZweckMittel-Wahl, sondern auch die Deutung der Realität und die Bedürfnisstrukturen normativ bestimmen, konstituieren auf der Ebene der Persönlichkeit die Rollen. Die Rollen knüpfen für Parsons direkt an die Bedürfnisstrukturen und motivationalen Dispositionen an. 1 1 0 Er nimmt an, dass die im Sozialisationsprozess entstehenden Bedürfnisdispositionen mit den später entstehenden motivationalen Bedürfnissen für die später einzunehmenden Rollen vollständig übereinstimmen, dass folglich zwischen diesen eine Art prästabile Harmonie bestehe.111 Die Rollen werden gleichsam mit den normativen Mustern internalisiert bzw. aus diesen abgeleitet, was eine gewisse Flexibilität ermöglicht, da die verschiedenen Rollen ja im voraus angelegt werden müssen. Umgekehrt kann aber niemand eine Rolle spielen, die er sich nicht im Sozialisationsprozess angeeignet hat. Das bedeutet aber auch, dass es für Parsons kein genaues Entsprechungsverhältnis zwischen sozialem System und Rolle gibt, die Rolle ist den systemischen Erfordernissen nur summarisch zugeordnet. Der Prozess der Internalisierung von Rollen ist für Parsons irreversibel 112 , was zur Konsequenz hat, dass die Welt zu einer Bühne wird, auf der die Akteure ihre fix und fertigen Rollen einnehmen und in perfekter Harmonie mit den anderen ihre Rolle spielen. Der Gesichtspunkt der Interaktion, der Abstimmung verschiedener Akteure bzw. die Abstimmung ihres Werteverständnisses und ihrer Rollenvorstellungen ist damit angesprochen.

109 ASM, S. 175 ff. no Parsons, Toward a Genearl Theory of Action, S. 92 f. m Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt, S. 75. 112 Geulen, aaO., S. 76. 7 Fisahn

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e) Die Handlungstheorie als Grundlage der Systemtheorie Bis hierher schien das Handlungssystem tatsächlich monologisch entwickelt zu sein, die normativen Muster standen in keiner Verbindung zu denjenigen anderer Akteure oder anderer Handlungssysteme. Parsons geht aber immer von einer Gesellschaft gemeinsamer normativer Muster, von einer gemeinsamen Kultur, gemeinsamen kulturellen Werten aus. Das Einfallstor für diese gemeinsamen kulturellen Werte und Normen ist die Sozialisation, der Vorgang der Verinnerlichung der normativen Muster der Gesellschaft. Dieser Prozess kann schlechterdings nicht monologisch gedacht werden, sondern rekurriert immer auf schon vorhandene, d. h. bei anderen und in der Gesellschaft vorhandene Werte und normative Vorstellungen. 113 Damit ist ein Perspektivenwechsel verbunden, da nun die Integration in ein soziales System, die Kooperation der Akteure im sozialen System zur Diskussion steht. Bevor dieser Gesichtspunkt, der das hier vor allem interessierende Verhältnis der gesellschaftlichen Normen zum Recht betrifft, erörtert wird, sei ein kurzer Blick auf Parsons späte Darstellung des allgemeinen Handlungssystems gestattet. Das AGIL-Schema, mit dem Parsons die Hauptfunktionen gesellschaftlicher Subsysteme zu erklären sucht, entwickelt er aus dem allgemeinen Handlungssystem, wobei er Gesellschaft und Handlungssystem die gleichen Funktionen zuordnet. Systeme müssen danach vier Hauptfunktionen erfüllen, Anpassung (Adaption), Zielverwirklichung (Goal-attainment), Struktur- oder Normerhaltung (pattern maintenance), Integration (integration). Das allgemeine Handlungssystem setzt Parsons aus vier Subsystemen zusammen: (1) dem Verhaltensorganismus, (2) der Persönlichkeit, (3) dem kulturellen System und (4) dem sozialen System. 114 Vergleicht man diese Aufteilung des allgemeinen Handlungssystems mit der dargestellten früheren Handlungstheorie, hat man keine großen Schwierigkeiten, strukturelle Gemeinsamkeiten festzustellen. (1) Der Verhaltensorganismus beinhaltet den „primären Mechanismus der Wechselbeziehung zur physischen Umwelt, hauptsächlich durch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen im zentralen Nervensystem sowie durch Bewegungen, die der physischen Umwelt entsprechen." 115 Den Körper als organische Grundlage des Handelns hatte Parsons als dem Akteur äußerlich, als situative Bedingung des Handelns begriffen. (2) Das Persönlichkeitssystem identifiziert Parsons als „Verhaltenssystem, das auf Lernprozessen begrün113 Diese Verankerung normativer Muster in individualpsychologischen Lern- und Sozialisationsprozessen ist im Ergebnis weitaus realistischer als Habermas Konstruktion einer Lebenswelt, die durch kommunikatives Handeln, durch rationale Geltungsansprüche in kommunikativen Prozessen entsteht. Habermas Dialog ist ein rationalistischer Dialog, in dem affektuelle, traditionale oder ästhetische Orientierungen keine Rolle spielen. Die Berücksichtigung dieser Aspekte bei Parsons ist kein Nachteil, sondern eine Stärke seiner Theorien. (So auch Münch, S. 200 f). 114 Soziale Systeme, S. 154. us SMG, S. 13.

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det ist." 1 1 6 Damit ist der Akteur der frühen Handlungstheorie gemeint. (3) Die normativen Muster werden später zu kulturellen Mustern, weil Parsons auf der Ebene sozialer Systeme eine Unterscheidung zwischen (rechtlich / sittlichen) konkreten Normen und kulturellen Weiten macht. (4) Schließlich bleibt das soziale System, das bisher nicht erörtert wurde, beim frühen wie späten Parsons, das Feld der Interaktion verschiedener Akteure oder Persönlichkeitssysteme. Auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems hat der Organismus die Funktion der Anpassung, das Persönlichkeitssystem die der Zielerreichung, das kulturelle System hat die Funktion der Struktur- oder Normerhaltung, das soziale System die der Integration. Diese vier Funktionen entdeckt Parsons analog in den Subsystemen der Gesellschaft als einer besonderen Form sozialer Systeme. Hier erbringt die Wirtschaft Anpassungsleistungen, Politik dient in der Zielbestimmung, Kultur funktioniert als Normerhaltung und Gemeinschaften haben die Funktion der Integration. Homologie und Funktionengleichheit zwischen sozialem System und allgemeinem Handlungssystem nach Parsons

Hauptfunktionen

Allgemeines Handlungssystem

Soziale Systeme

Integration

Soziales System

Gemeinschaft

Werterhaltung

Kultursystem

Kultursystem

Zielbestimmung

Persönlichkeit

Politik

Anpassung

Verhaltensorganismus

Wirtschaft

Diese Analogie zwischen Handlungssystem und sozialem System erscheint als ziemlich zwanghafte Subsumtion verschiedener gesellschaftlicher Bereiche und Handlungselemente unter ein Funktionenschema. Aber diese Vorstellung einer Analogie zwischen biologischem Organismus und Gesellschaft, die im AGILSchema zum Ausdruck kommt, ist nicht erst vom späten Parsons entwickelt worden, sondern findet sich auch in den frühen Schriften, liegt seiner gesamten Theorie zugrunde. Die Rollen- und Aufgabenspezialisierung in der Gesellschaft, schreibt Parsons schon 1939, „lenkt die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges strukturelles Prinzip. Man kann sagen, dass die primäre Grundlage für die Differenzierung von Rollen und entsprechend von Tätigkeitssystemen die Differenzierung der grundlegenden funktionalen Orientierungsmodi ist." 1 1 7

116 Soziale Systeme, S. 123. "7 ASM, S. 211. 7*

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f) Normative Integration von Handlung und Gesellschaft Wenn eine Analogie von Handlungssystem und Gesellschaft besteht, müssten konsequenterweise normative Muster, Normen oder kulturelle Werte eine entsprechend wichtige Bedeutung für die Gesellschaft wie für den einzelnen handelnden Akteur besitzen. Das nimmt Parsons in der Tat an: Normen integrieren Gesellschaften; über gemeinsame kulturelle Werte ist gesellschaftliche Ordnung erst möglich. Das Recht wird dabei ähnlich wie bei Durkheim als Ausdruck oder Konkretisierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen verstanden. In der Diktion der Handlungstheorie institutionalisiert das Recht die wichtigen normativen Muster. In der Diktion der Systemtheorie bildet die normative Ordnung, die Rechtsordnung, den Kern eines Gesellschaftssystems und enthält Werte sowie differenzierte und partikularisierte Normen und Regeln. 118 Damit kommt die normative Ordnung dem, was man allgemein unter dem Rechtsbegriff versteht, sehr nahe. 119 Wie gesellschaftliche Ordnung hergestellt wird, ist Parsons Hauptproblem. 120 Darum interessiert ihn die Steuerung von Handlungen durch normative Muster nicht hauptsächlich, sie ist gleichsam Voraussetzung für die Integration in das soziale System Gesellschaft. Das Gleichgewicht der Orientierungsmodi, das eine integrierte Persönlichkeit ermöglicht, muss nun in ein Gleichgewicht mit den Bedürfnissen, bzw. funktionalen Anforderungen des sozialen Systems gebracht werden. Das erscheint deshalb als Problem, weil das soziale System aus Interaktionen von Akteuren besteht, deren Verhalten berechenbar oder erwartbar sein muss. „Das primäre funktionale Bedürfnis eines sozialen Systems in diesem Kontext ist klar; negativ ausgedrückt liegt es darin, dass die Integration der individuellen Persönlichkeit nicht auf breiter Front zu Aktivitäten führen sollte, die desintegrierend auf die Stabilität des sozialen Systems wirken." 121 Integration durch Zwang herzustellen, ist für Parsons in Abgrenzung zu Hobbes 122 keine Lösung des Problems, da Zwang, der beständig gegen die individuellen normativen Erwartungen durchgesetzt wird, „soviel Explosionsstoff" 123 anhäufen würde, dass die Stabilität des Systems gefährdet werde. 124 Parsons Lösung liegt, wie schon erwähnt, in der Integration über gens Soziale Systeme, S. 127. "9 SMG, S. 29 120 Dazu ausführlich: Wagner, Zeitschrift für Soziologie 1991, S. 115 f. 121 ASM, S. 178. ι 2 2 Neuere Arbeiten versuchen zu beweisen, dass Parsons Einordnung von Hobbes in die utilitaristische Theorietradition unzutreffend ist. Parsons verwende einen Utilitarismusbegriff der für die Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts angemessen sei, nicht aber für Hobbes (Camic, American Journal of Sociology 1989, S. 57; dem folgend, Wagner, Zeitschrift für Soziologie 1991, S. 118 ff.). Oben wurde auf die Bedeutung der Legitimation in Hobbes Staatsbegriff hingewiesen. 123 ASM, S. 178. 124 Parsons bezeichent es als „utilitaristisches Dilemma", dass der Unterwerfungsvertrag, der den Naturzustand und den Kampf aller gegen alle beenden soll, einen geregelten Konsens

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meinsame normative Muster und deren Ausführung durch Handlungen entsprechend den erwarteten Rollen. 125 Die individuellen Persönlichkeiten sind danach „im großen und ganzen mit dem gemeinsamen moralischen Muster integriert". 126 Dabei sieht Parsons allerdings auch, dass es um die Gleichartigkeit der moralischen Normen nicht so gut bestellt ist. Differenzierungen führt er auf Rollendifferenzierungen in der Gesellschaft zurück. Für jede Rolle gibt es spezifische, differenzierte normative Erwartungen, die in der individuellen Persönlichkeit mit anderen Erwartungshaltungen und normativen Mustern in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen. Über diesen Differenzierungen schwebt aber ein gemeinsames System normativer Anforderungen. In seinen späten Schriften bezeichnet Parsons dieses System als kulturelles System, das durch fortschreitend verallgemeinerbare Werte strukturiert wird. Die ausdifferenzierten, konkreten normativen Erwartungen des Rechts werden dagegen zur normativen Ordnung, die sich am übergeordneten kulturellen System messen lassen muss. Entscheidend ist, dass die individuelle Persönlichkeit die normativen Muster nicht - wie etwa bei Kant - als äußere moralische Pflicht empfindet, die gegebenenfalls in Abwägung mit konkreten Bedürfnissen und Pflichten auch zu vernachlässigen ist. Das Individuum tendiert nach Parsons vielmehr regelmäßig dazu, das zu wollen, was die gesellschaftlichen Normen von ihm erwarten und die Rolle zu spielen, die vorgesehen ist. „Das normale Individuum neigt im großen und ganzen dazu, das zu »wollen4, was mit dem normativen speziell moralischen Muster übereinstimmt, die in die Bildung seiner Persönlichkeit eingegangen sind.44 12 7 Parsons geht also von einer Homologie zwischen den individuellen Bedürfnissen und den funktional erforderlichen Bedürfnissen der Gesellschaft aus, die sich im Handeln des Individuums ausdrücken und die es ermöglichen, dass die Rolle funktional im gesellschaftlichen Gesamtgefüge gespielt werden kann. Staatliche oder gesellschaftliche Sanktionen bei Verstößen gegen Recht oder Sitte, das lässt sich hier schon ahnen, können nur eine Residualfunktion bei der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung einnehmen, sie sind nur von Bedeutung bei abweichendem Verhalten, aber keineswegs geeignet, einmal etablierte normative Muster und spezifizierte Rollenbilder umzusteuern.

g) Recht und Handlungstheorie Die radikale Durchnormierung aller Bereiche oder Systeme muss sich - wie zu zeigen ist - auf die Konstruktion der Funktion des Rechts auswirken. Recht ist für darüber voraussetzt, dass und wie die friedliche Ordnung erreicht werden soll (Structur of Social Action, S. 64). 125 Nolte, Merkur 1987, S. 586. 126 ASM, S. 179. 127 ASM, S. 181.

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den frühen Parsons der zentrale Bestandteil normativer Muster, die in Gesellschaften institutionalisiert und formal organisiert wurden. Als Institutionen bezeichnet Parsons Regeln, die durch drei Kriterien gekennzeichnet werden können. Erstens legen sie die „legitimen Erwartungen" anderer Akteure hinsichtlich der Handlung eines Individuums fest. Zweitens wird abweichendes Verhalten in irgendeiner Form (Strafe, Empörung, Missachtung) usw. sanktioniert. Drittens sind diese Muster Teil der Sozialstruktur geworden, d. h. sie sind durch einen besonderen hohen Grad der Anerkennung, allgemeinen Verbreitung und durch eine hohe Intensität ihrer Wertschätzung gekennzeichnet. Institutionalisierung normativer Muster bedeutet für Parsons also nicht zwangsläufig, dass die Muster sich in organisationellen Strukturen niederschlagen. Wichtige Institutionen können in „primitiven" Gesellschaften vollständig in informeller Weise geltend gemacht werden. In „entwickelten" Gesellschaften werden sie jedoch regelmäßig mit einer formalen Organisation verbunden. Recht ist die formale Organisation institutionalisierter normativer Muster. „Mit formaler Organisation kommt eine dritte Ebene hinzu. Normative Muster werden zu speziellen Angelegenheiten einer funktional differenzierten Gruppierung, d. h. von jenen, die die Leitungsautorität der Gruppe ausüben. Die normativen Muster zu verkünden, zu interpretieren und zu vollstrecken, sie im Fall verweigerter Befolgung mit ihrer Autorität durch Anwendung von Sanktionen durchzusetzen, darin besteht ihre funktionale Aufgabe." 128 Sämtliche staatlichen Aufgaben, die sich um Recht gruppieren, werden damit zunächst einer Funktion zugerechnet, d. h. Recht zeichnet sich gegenüber Sitte und Moral vor allem durch die funktionale Differenzierung aus, die die Erfüllung der „Rechtsaufgaben" einem besonderen Rechtsstab zuweist. Festzuhalten ist vor allem, dass Recht als wesentlich mit vorhandenen normativen Mustern übereinstimmend verstanden wird. Ein Recht, das den bestehenden gemeinsamen normativen Mustern einer Gesellschaft widerspricht, so Parsons ausdrückliche These, könnte nicht durchgesetzt werden, würde im großen und ganzen nicht befolgt oder bei diktatorischen Zwangssystemen das gesamte gesellschaftliche System sprengen. Damit wäre die Möglichkeit, Gesellschaft über Recht zu steuern, Handlungen gegen bestehende normative Erwartungen oder Werte zu erzwingen, allenfalls in Randbereichen möglich. Parsons sieht, dass der Gesetzgeber Recht scheinbar frei setzt, was zu der Deutung Anlass gibt, dass Recht von den vorgängigen normativen Mustern abweichen kann. In seiner Interpretation werden damit aber keine neuen normativen Muster installiert, sondern der Spielraum, den abstrakt-allgemeine Werte in konkreten Situationen lassen, ausgefüllt und Erwartungen in die eine oder andere Richtung konkretisiert. „Da es in jedem Herrschaftssystem einen »Ermessensspielraum4 der ausführenden Organe gibt, schließt diese ,offizielle 4 Spezifikation des Musters immer auch das Vermögen mit ein, Regeln zu ,setzen', wenn auch fast ausnahmslos unter 128 ASM, S. 232.

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prozeduralen Einschränkungen." 129 Dieselbe Position zur Funktion bzw. Wirkungsweise des Rechts findet sich auch in der späteren systemtheoretischen Diktion wieder. Allerdings werden dort konkrete Rechtsregeln durch die übergeordneten kulturellen Werte legitimiert - der „Setzungsspielraum" wird dadurch aber nicht größer.

2. Systemtheorie und Recht a) Grundlagen des Systembegriffs Um Parsons Konstruktion des Rechtsbegriffs und die Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen zu verstehen, sei es gestattet, weitere wichtige Grundüberlegungen der systemtheoretischen Reformulierung der Handlungstheorie nachzuzeichnen. Parsons Systembegriff ist aus dem Begriff des theoretischen Modells, dem System theoretischer Aussagen abgeleitet. An theoretische Modelle wird insbesondere in den klassischen Naturwissenschaften und der klassischen Soziologie die Anforderungen gestellt, dass sie konsistent und widerspruchsfrei eine Ordnung zwischen verschiedenen Aussagen herstellen. Parsons schreibt: „Ein theoretisches System, so wie es hier verstanden wird, ist eine Gesamtheit allgemeiner Begriffe, die logisch interdependent sind und einen empirischen Bezug haben. Ein solches System ist auf »logische Geschlossenheit4 angelegt: Im idealen Fall erreicht es einen solchen Grad logischer Integration, dass jede logische Implikation aus einer beliebigen Kombination von Sätzen als System in einem anderen Satz des gleichen Systems ausdrücklich festgestellt wird." 1 3 0 Dieser Begriff des theoretischen Systems wird auf die empirische Wirklichkeit übertragen, anders ausgedrückt: Es wird anknüpfend an Kant eine Kongruenz der Ordnung des Verstandes, der geordneten Theorie und der empirischen Wirklichkeit angenommen. Theorie ist bei Kant nicht Generalisierung empirischer Erfahrungen, sondern die Kategorien des Verstandes sind Voraussetzung dieser empirischen Erfahrung, so dass die empirische Wahrnehmung schon immer der ordnenden Tätigkeit des Verstandes unterliegt. 131 Die zentrale These der Systemtheorie besagt dem folgend, dass sich überall in der Erfahrungswelt Systembildungen finden, bzw. Handeln dem Prinzip der Systematisierung folgt. 1 3 2 Diesen Neo-Kantianismus konnte man schon in Parsons Kritik der Freudschen Konstruktion der Realität erkennen. Die Auseinandersetzung, Aneignung, Bearbeitung und Orientierung in der Realität war für Parsons nur auf der Grundlage internalisierter normativer Muster möglich. ASM, S. 233. 130 Parsons, Systematische Theorie in der Soziologie in: Rüschemeyer, Beiträge zur soziologischen Theorie, S. 31. 131 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 115 ff. 132 Jensen, Einleitung zu Parsons, Soziale Systeme, S. 18; Blasche, aaO., S. 152. 129

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Folgt man dieser theoretischen Prämisse nicht, wird der Systembegriff höchst fragwürdig. Aber Parsons gerät seine Systembildung noch zu einem Überkanten Kants. Selbst wenn man annimmt, dass das Bewusstsein von der Realität die Kategorien des Verstandes passieren muss, bzw. dass es nur vorstrukturiert durch symbolische Ordnungen zu einer Auseinandersetzung mit der empirischen Realität gelangen kann, muss die Ordnung im Bewusstsein nicht zur Annahme einer widerspruchsfreien empirischen Ordnung führen. Schon die Begriffe „Widerspruch" oder „Chaos" lassen erkennen, dass das Bewusstsein die Empirie auch in diesen Dimensionen erfassen bzw. sie ein"ordnen" kann. Die empirische Realität wird in der Systemtheorie aber nicht nur eingeordnet, kategorisiert, sie wird zur Ordnung, Systeme werden in Kategorien der Stabilität 1 3 3 , des Gleichgewichts und der Integration gedacht. Parsons schreibt: „Die allgemeinste und fundamentalste Eigenschaft eines Systems ist die Interdependenz der Teile oder Variablen. Interdependenz besteht im Gegensatz zu zufälligen Veränderungen im Vorhandensein bestimmter Beziehungen zwischen den Teilen oder Variablen. Mit anderen Worten, Interdependenz bedeutet Ordnung in der Beziehung zwischen den Bestandteilen, die in ein System eingehen. Diese Ordnung muss eine Tendenz zur Selbsterhaltung haben, die ganz allgemein durch den Begriff des Gleichgewichts ausgedrückt wird." 1 3 4 Der Begriff des Systems als elementare Grundeinheit der soziologischen Systemtheorie, der als allgemeiner Begriff von Parsons offenbar ausgesprochen ungern definiert oder begründet wird, ist in der dargestellten Verwendung insgesamt höchst zweifelhaft. 135

b) Grundannahmen der späten Systemtheorie Systeme werden in der Systemtheorie 136 gegen ihre Umwelt abgegrenzt. In Parsons Version der Theorie offener Systeme, die durch Interpénétration 137 der Subsysteme und der Umwelt gekennzeichnet sind, ist Standardhebung durch Anpassung neben funktionalen Differenzierungsprozessen ein entscheidender Motor der Evolution. 138 Da diese sozialdarwinistisch gedeutet wird, findet eine Selektion je133 Vgl. Bryan, British Jounal of Sociology 1993, S. 9. 134 Parsons/Shiels, General Theory, S. 107. 135 Nicht ehrlich scheint es, den Systembegriff auf der Ebene der Theorie oder des Modells stehen zu lassen. Er dient in der Systemtheorie zur Erklärung unterschiedlichster Phänomene, die nicht nur theoretisch in ein Ordnungs- und Gleichgewichtssystem gebracht werden, sondern nur als empirisches Ordnungssystem gelesen werden können. Eine theoretische Ordnung muss z. B. keine Tendenz zur Selbsterhaltung haben - die Aussage ist schlicht unverständlich. 136 Vgl. dazu auch: Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. II, S. 295 ff.; Luhmann, Moderne Systemtheorie als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft, S. 13. 137 Vgl. dazu ausführlich: Münch, Theorie des Handelns, S. 470 ff. 138 SMG, S. 404.

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ner Organisationsformen und Subsysteme statt, die den Erfordernissen der eigenen Selbsterhaltung und Stabilität am besten gewachsen sind, die funktional am besten angepasst sind. 139 Differenzierung und Standardhebung durch Anpassung erhöht die Komplexität eines Systems, woraus sich neue Integrationsprobleme ergeben. Diese werden gelöst durch „Einbeziehung neuer Einheiten, Strukturen und Mechanismen innerhalb des normativen Rahmens der gesellschaftlichen Gemeinschaft" und durch „Prozesse der Wertverallgemeinerung". 140 Einbeziehung und Wertverallgemeinerung erscheinen als Lösung der durch strukturellen Wandel hervorgerufenen Folgeprobleme. Systeme bzw. Subsysteme sind für Parsons nicht gleichgeordnet, sondern hierarchisch i.d.S., dass Steuerung eines Systems durch ein anderes möglich wird. Das Steuerungsmodell entleiht die Systemtheorie der Kybernetik. Systeme mit einem hohen Informations-, aber niedrigem Energie-Niveau steuern Systeme mit entgegengesetzter Informations /Energie-Verteilung. 141 Gesellschaft wird als eines unter anderen sozialen Systemen, die durch Interaktionen verschiedener Akteure gekennzeichnet sind, verstanden. Die Besonderheit von Gesellschaft im Vergleich zu anderen sozialen Systemen erblickt Parsons in dem hohen Grad an Autarkie des Systems gegenüber seiner Umwelt. Das soziale System katholische Kirche ist z. B. weniger autark als die US-Gesellschaft, weil sie keine territoriale Hoheit im Hinblick auf ihre Mitglieder besitzt. 142

c) Legitimation der normativen Ordnung durch das kulturelle System Die Subsysteme der Gesellschaft, das hatten wir schon gesehen, konstruiert Parsons entlang den vier Hauptfunktionen des AGIL-Schemas, als Wirtschaftssystem, Politiksystem, Gemeinschaft oder normative Ordnung und kulturelles System. Die gesellschaftliche Gemeinschaft, die wesentlich durch ihre Integrationsfunktion gekennzeichnet ist, wird dadurch charakterisiert, dass sie ein „Normensystem mit einheitlicher und kohärenter kollektiver Organisation" hervorbringt. 143 Weil Parsons die Gemeinschaft weitgehend mit dem kohärenten Normensystem identifiziert, bezeichnet er einmal die Gemeinschaft 144, einmal das Normensystem, die normative Ordnung 145 als den Kern der Gesellschaft. 139

Dabei gerät das System der amerikanischen Gesellschaft kurzerhand zum fortgeschrittensten, funktional optimalen Modell der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. (SMG, S. 111). 140 SMG, S. 41. 141 Soziale Systeme, S. 127. 142 Es sei dahingestellt, ob die Konstruktion von Gesellschaft entlang den Nationalstaaten langfristig angemessen ist. 143 SMG, S. 21. 144 SMG, S. 22. 145 Soziale Systeme, S. 127.

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Die Bedeutung dieser normativen Ordnung ist am besten in Abgrenzung zum kulturellen System 146 verständlich. Letzteres ist im Sinne der kybernetischen Steuerung das oberste gesellschaftliche System, d. h. es steuert die übrigen Systemkomponenten.147 Die Strukturkomponenten des kulturellen Systems sind gemeinsame gesellschaftliche Wertvorstellungen, die in Beziehung zu „letzten Wirklichkeiten", für Parsons i.d.R. solcher „religiöser Art", stehen.148 Moral ist ein wichtiger Aspekt der kulturellen Werte, daneben treten aber auch „ästhetische, kognitive oder spezifisch religiöse Werte" 149 . Da der Modernisierungsprozess als Differenzierung verstanden wird, muss die „Verallgemeinerung von Wertsystemen" zu einem wichtigen Faktor dieses Prozesses werden. Das Wertesystem muss die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche umfassen 150, was es nicht kann, wenn es konkrete Gebote, Verbote oder Rollenerwartungen beinhaltet. Um die Gemeinsamkeit der Normen in einer differenzierten und segmentierten Gesellschaft zu retten, trennt Parsons die Werte von den konkreten Normen, den direkten Geboten und Verboten, und hebt sie in den Himmel der Abstraktion und Prinzipien, der gleichzeitig zum kybernetischen Steuerungszentrum wird. „Es ist allerdings nahezu unmöglich, die Legitimität von Vereinigungen abzusichern, indem man die Legitimation auf spezifisch definierte Handlungen beschränkt, denn die Handelnden benötigen einen beträchtlichen Ermessensspielraum, wenn sie ihre Werte unter unterschiedlichen Umständen in die Tat umsetzen wollen. Ein wesentlicher Faktor bei der Festsetzung ist die Allgemeinheitsebene der Legitimationswerte." 151 Damit ist der modus operandi der Beziehung zwischen kulturellen Werten und der normativen Ordnung benannt: Die kulturellen Werte legitimieren die konkreten Normen der Gesellschaft. Die normative Ordnung der Gesellschaft, die internalisierte Verhaltensanforderungen und Erwartungshaltungen umfasst, muss sich im Rahmen der durch das kulturelle System vorgegebenen Werte bewegen. In welchem Verhältnis die Internalisierung konkreter Rollenerwartungen und abstrakter 146 Das kulturelle System hat offensichtlich die vorher schon diskutierte Grundannahme zur Voraussetzung, dass eine Universalisierung konsensualer Normen und Werte stattgefunden hat. Parsons greift dabei auf Webers Religionssoziologie zurück und verbindet sie in der Systemtehorie mit der Annahme, dass die universalistischen Werte ihre Bedeutung durch die Ausdifferenzierung des kulturellen Systems und seiner Abkopplung von der Ökonomie und Politik erlangen (vgl. dazu Bryan, British Journal of Sociology, 1993 S. 3 ff.). 147 Soziale Systeme, S. 129. 148 Soziale Systeme, S. 21. 149 SMG, S. 26. 150 Die Verbindlichkeit der Moralordnung ergibt sich für Münch aus der Verankerung in der Gemeinschaft, die wiederum durch die Interpénétration der verschiedenen spezielen Gemeinschaften universalisiert sein muss. Ihre Relevanz für die verschiedenen Sphären des Handelns ergäbe sich aber erst durch die Interpénétration des Gemeinschaftshandelns mit dem politischen und ökonomischen Handeln, was gerade das Kennzeichen der modernen Moralordnung sei (Theorie des Handelns, S. 481). 1

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Werte steht, bleibt unklar. Mit der Trennung der Werte von der normativen Ordnung wird aber ein weiteres stabilisierendes Moment, pejorativ: ein Bollwerk gegen Veränderungen konstruiert. Rollenmuster müssen und können offenbar nun gelernt und internalisiert werden; der Gemüsehändler kann Senatspräsident werden. Werte dagegen bleiben dabei unangetastet und legitimieren die neue Rolle mit ihren normativen Anforderungen nur. Der „strukturelle Kern" normativer Ordnung ist in modernen Gesellschaften das Rechtssystem152, d. h. in modernen Gesellschaften spiegelt sich der Inhalt der normativen Ordnung in den normativen Regelungen des Rechts wider.

3. Die Funktionen des Rechts a) Recht im Kontext der Systemtheorie Normative Ordnungen können sich, meint Parsons in Abgrenzung zu Weber, nicht selbst legitimieren, d. h. die Legalität reicht als Legitimationsmodus genausowenig aus wie Funktionalität. 153 Die Legitimationsfunktionen übernehmen die Werte des kulturellen Systems, seine Funktion ist deshalb Werterhaltung. Die inhaltlichen Aspekte des Rechts sind bei Parsons also in der normativen Ordnung verankert. Sie bilden aber gleichwohl ein eigenes integriertes System. Parsons definiert Recht „als einen allgemeinen normativen Code, der die Handlungen der Mitgliedseinheiten der Gesellschaft regelt und die jeweilige Situation für sie definiert." 1 5 4 Die normative Ordnung umfasst allerdings mehr als die rechtlichen Regelungen, nämlich ebenso Sitte, Moral, Rollenerwartungen usw. „Das Recht umfasst die staatsbürgerliche Moralität, doch nicht unbedingt die gesamte Moral." 1 5 5 Dagegen siedelt Parsons die organisationeilen Aspekte des Rechts, Überwachung, Durchsetzung usw. im Politischen System an. Das Politische System hat die Funktion der Zielverwirklichung. Parsons definiert Politik so: „Wir behandeln eine Erscheinung insoweit als politisch, als sie die Organisation und Mobilisierung von Hilfsmitteln zur Verwirklichung der Ziele der besonderen Gesamtheit betrifft." 1 5 6 Politik ist also nicht nur ein Phänomen moderner Gesellschaft und auch nicht nur eines von Gesellschaften, auch andere soziale Systeme weisen politische Aspekte auf. In modernen Gesellschaften haben sich nach Parsons die Regierungsfunktionen als besonderes System ausdifferenziert. Die Regelungsinhalte des Rechts sind damit in der Systemtheorie des späten Parsons doppelt abgesichert: Recht bildet einen spezifischen Code oder den struk152 Soziale Systeme, S. 140. 153 Soziale Systeme, S. 28. 154 SMG, S. 30. 155 SMG, S. 30. 156 SMG, S. 27.

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turellen Kern der normativen Ordnung, muss sich also innerhalb des Rahmens dieser Ordnung bewegen und kann nicht etwa eine andere Ordnung institutionalisieren, bzw. Recht schafft nicht die normative Ordnung. Die normative Ordnung ihrerseits bewegt sich im vom kulturellen System gesetzten Legitimationsrahmen, sie kann nur konkrete Gebote und Verbote beinhalten, die durch die Werteordnung legitimierbar sind. Obwohl Parsons betont, dass Recht in modernen Gesellschaften gesetzt wird, und nicht durch Offenbarung oder Überlieferung gegeben ist 1 5 7 , muss er theorienotwendig von einer Anpassung der Rechtsetzung an die bestehende normative Ordnung ausgehen, da ansonsten die Integrationsleistungen der normativen Ordnung verloren gingen. Er betont deshalb als wesentliche „Regierungsfunktio n " 1 5 8 auch die Auslegung und Durchsetzung der normativen Ordnung. Daneben schaffe der „Prozess der Regierungsdifferenzierung Bereiche, innerhalb derer es ausdrücklich zulässig ist, neue Normen zu formulieren und zu verkünden." 159 Die normative Ordnung und ihr struktureller Kern, das Rechtssystem, werden also keinesfalls vollständig zur Disposition des Gesetzgebers gestellt. Das folgt notwendig aus der Konstruktion der normativen Ordnung in Parsons Theorie. Die normative Ordnung wird nicht durch das Rechtssystem geschaffen, sondern spiegelt die normativen Orientierungen der Akteure wieder, die durch Sozialisationsprozesse und Erlernen von Rollen angeeignet und internalisiert wurden. Das Rechtssystem institutionalisiert die normative Ordnung nur, aber allenfalls in Randbereichen und innerhalb von Spielräumen setzt Recht eine Ordnung. Die doppelte Absicherung der Stabilität des Rechtssystems wird - im Unterschied zum frühen Parsons - durch die spezifische Funktionsbestimmung der kulturellen Werte als Legitimationsmuster erreicht. Die normative Ordnung bildet sich nur, soweit sie durch abstrakte Prinzipien, die kulturellen Werte, legitimierbar ist. Auch soweit Recht gesetzt wird, kann man schlussfolgern, muss es sich im Rahmen der durch kulturelle Werte legitimierbaren Ordnung bewegen.

b) Probleme des objektivistischen Verständnisses von Recht Einen Widerspruch zwischen rechtlichen Normen, gesetzten normativen Zielen und der normativen Ordnung und den kulturellen Weiten ist für Parsons nicht denkbar. Hier soll jedoch die These entwickelt werden, dass Umweltrecht genau durch diesen Widerspruch zwischen etablierten und materiell abgesicherten Verhaltenserwartungen und -zwängen und den von der Politik gesetzten normativen Vorgaben gekennzeichnet ist. Fasst man die dargestellten konträren Positionen des Utilitarismus und der normativistischen Systemtheorie unter diesem Aspekt zu157 SMG, S. 31. 158 Verstanden als Funktion des gesamten Rechtsapparates, also Gesetzgebung, Exekutive und Jurisdiktion. 1

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sammen, ergibt sich folgendes Bild: nach dem utilitaristischen Ansatz können normative Gebote und Verbote im Widerspruch zu egoistischen Interessen treten. Die Befolgungsrate ist dann abhängig von einem Kosten-Nutzen-Kalkül, in dem voraussichtliche Nachteile der Nichtbefolgung denen der Befolgung gegenübergestellt werden. Diesem simplen rationalistischen Modell widersprechen die normativistischen Theorien von Durkheim und Parsons. Recht wird demnach im wesentlichen befolgt, weil es die normative Ordnung oder Solidarität der Gesellschaft institutionalisiert oder/und widerspiegelt. Diese Ordnung ist aber selbst Handlungsorientierung, d. h. der Akteur handelt regelmäßig in Übereinstimmung mit dieser Ordnung und will auch so handeln. Unterschiedliche oder gegensätzliche Interessen sind auf Residualbereiche reduziert, in denen die Ordnung einen Entscheidungsspielraum lässt - in wesentlichen Bereichen sind auch Interessen durch die normative Ordnung überdeterminiert und Handeln damit integriert. Rechtliche Sanktionen sind dann eine Frage von abweichendem Verhalten, nicht aber von prinzipiellen Widersprüchen zwischen Interessen oder normativen Orientierungen und rechtlichen Geboten. Recht ist dann als Medium zur Umsteuerung gesellschaftlicher Prozesse und Bedingungen grundsätzlich ungeeignet, seine Funktion muss sich auf die Stabilisierung vorgefundener Gegebenheiten beschränken. Wenn die Mensch-Natur-Beziehung in eine normative Ordnung integriert ist, die der Umstrukturierung bedarf, in der eine grundsätzliche Umsteuerung notwendig ist, scheint nach dieser Theorie Recht ein prinzipiell ungeeignetes Instrument für diese Aufgabe zu sein. Recht könnte nur eine schon entwickelte neue Ordnung der Mensch-Natur-Beziehung institutionalisieren und stabilisieren. Damit gerät die Möglichkeit von Widersprüchen zwischen normativen Orientierungen oder zwischen rechtlichen Normen und außerrechtlichen Normen oder Zwängen in den Fokus des Interesses - eine Möglichkeit die für Parsons und Durkheim nicht interessant war, da es ihnen darum ging, die Stabilität und Möglichkeit sozialer Ordnung zu konstruieren, nicht die Möglichkeit intentionaler Veränderung dieser Ordnung. Wenn sich eine neue Mensch-Natur-Beziehung entwickeln kann und in rechtlichen Normen institutionalisiert werden kann, muss offenbar die Möglichkeit bestehen, dass normative Ordnungen veralten, dass neue Ordnungen sich etablieren, neben alte Ordnungen treten oder sich in Widerspruch zu diesen setzen, ohne sie vollständig zu verdrängen. Die Harmonie- und Stabilitätsprämisse bei Durkheim und Parsons ist die eine Seite des Problems der Übereinstimmung von Norm und Handlung. Die zweite betrifft das Problem des Wandels bzw. in der darwinistischen Ausdrucksweise der Systemtheorie die Möglichkeit gesellschaftlicher Evolution. Die zentralen Mechanismen oder Motoren der Evolution sind für Parsons - das wurde schon erwähnt Differenzierung und Standardhebung (was im wesentlichen Effizienzerhöhung meint) durch Anpassung. Bei Durkheim war die Arbeitsteilung, die selbst wieder auf dichtere Siedlungsstrukturen zurückgeführt wurde, Motor des Handels von einer Form gesellschaftlicher Solidarität zu einer anderen. Die Moral folgt bei Durkheim veränderten gesellschaftlichen Lebensverhältnissen oder genauer veränderten

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Produktionsverhältnissen, nämlich fortschreitender Arbeitsteilung. 160 Die gesellschaftliche Solidarität, die Gesellschaft zusammenhält, Ordnung erst ermöglicht, ist bei Durkheim in Wahrheit abhängig von den materiellen Bedingungen dieser Solidarität. Dann ist es allerdings schwierig, soziale Ordnung allein von gesellschaftlicher Solidarität, der gesellschaftlichen Moral und ihren Rechtsbeziehungen abhängig zu machen. Anders gesagt: Es drängt sich die Frage auf, warum nur arbeitsteilige Organisation der Produktion oder nichtarbeitsteilige Organisation der Produktion Einfluss auf die Ausbildung der gesellschaftlichen Solidaritätsformen hat und nicht andere Elemente gesellschaftlicher Produktion. Ähnliches gilt für Parsons: Das Konzept der Herstellung stabiler sozialer Ordnung durch Internalisierung normativer Muster und gesellschaftlicher Rollen ist nicht integriert mit dem darwinistischen Konzept der Evolution durch Differenzierung und Anpassung - und es ist auch nicht integrierbar. Wenn das kulturelle System im kybernetischen Sinne das Steuerungszentrum ist und/oder eine wert- und strukturerhaltende Funktion hat, müssten Evolutionsprozesse entweder vom kulturellen System ausgehen, von dort gesteuert sein, oder aber sie müssten dessen Widerstand hervorrufen, nämlich spätestens dann, wenn sie die normative Ordnung so tangieren, dass sie den legitimierten Rahmen sprengt. Statt dessen behauptet Parsons, dass Differenzierungs- und Anpassungsprozesse zu einer Wertverallgemeinerung führen, was nichts anderes besagt, als dass bisher geltende Werte modifiziert und umgestellt werden, somit ein anderer, neuer Legitimationsrahmen hergestellt wird. Wo bleibt dann aber die werterhaltende Funktion des kulturellen Systems, von der steuernden ganz zu schweigen? Was bleibt von der normativen und moralischen Integration, wenn die kulturellen Werte samt normativer Ordnung den Anpassungsleistungen der Wirtschaft, der genau diese Funktion zugeschrieben wird, hinterherläuft? Dieses Problem zwischen Steuerung und Anpassung bzw. zwischen stabilem Gleichgewicht und Evolution lässt sich nicht durch den Hinweis auf Parsons Konzept der Interpénétration der Systeme beheben.161 Das gilt, da die Funktionszuweisung der Systeme selbst in Frage gestellt wird. Vor allem wird durch „Interpénétration der Systeme" nur das Problem benannt, das Ausgangspunkt dieser Überlegungen war, nicht etwa dessen Lösung. Es gilt zu klären, welche Selbständigkeit eine normative Ordnung gegenüber Wandlungsprozessen hat, wie weit sie sich gegen Wandlungen sperrt bzw. den Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, konkret das Mensch-Natur-Verhältnis initiieren und steuern kann. Ausgehend vom Problem des Verhältnisses von Evolution der Systeme und der Stabilität normativer Ordnungen wurden zwei entgegengesetzte Weiterentwicklungen oder Radikalisierungen der Systemtheorie Parsons vorgenommen. Luhmann 160 Deren Rückführung auf eine höhere moralische Dichte widerspricht zwar in der Dikition einer materialistischen Erklärung, aber moralische Dichte ist letztlich nichts anderes als dichtere Besiedlung oder verbesserte Verkehrs- und Kommunikationswege. 161 Interpénétration ist z. B. Münchs zentraler Interpretationsrahmen, um die Unwägbarkeiten der Systemtheorie zu glätten. (Münch, Theorie des Handelns, S. 470 ff.).

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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radikalisierte Parsons Theorie, indem er sie von allen normativen Ordnungsfaktoren, individuellen Handlungsorientierungen und Integrationsproblemen 162 befreite und die blinde Evolution der Systeme zum zentralen Ausgangspunkt der Überlegungen machte. Habermas verschärft den Konflikt zwischen Systemevolution und normativer Handlungsorientierung, zwischen System- und Sozialintegration zu einem Widerspruch zwischen System- und Lebenswelt, wobei er letztere gleichzeitig von allen Traditionen der affektuellen Orientierung reinigt und deren normative Geltungsansprüche rein rationalistisch konzipiert. Parsons Verdienst, das besonders angesichts dieser Radikalisierung und im Hinblick auf unser Problem festzuhalten ist, besteht gerade darin, die eigenständige Bedeutung normativer Orientierungen gegenüber dem utilitaristischen Rationalismus einerseits und blinden Entwicklungsprozessen andererseits herausgearbeitet zu haben. Dabei konstruiert er die normativen Muster nicht als Produkt rationaler Entscheidungen und Abwägungen, sondern sieht ihre Zusammensetzung aus verschiedensten kulturellen Einflüssen und Objekten und ihre im Freudschen Sinne unbewusste oder vorbewusste Dimension.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation Es wurde gezeigt, dass Parsons das kulturelle System als doppelte Absicherung einer normativen Ordnung, deren Bestand und Befolgung über Prozesse der Sozialisation und Internalisierung normativer Muster gewährleistet wird, konzipiert hatte. Die normative Ordnung, deren zentrales Element die Rechtsordnung ist, wird selbst internalisiert, trägt ihren Geltungsanspruch und ihre Rechtfertigung in sich selbst und dient so als Handlungsorientierung. Die doppelte Absicherung erfolgte über das kulturelle System, dessen Werte und kulturelle Vorstellungsweisen die normative Ordnung inklusive Rechtsordnung legitimieren. Die Legitimität der normativen Ordnung wird so zu einem Aspekt der Handlungsorientierung. Die Übereinstimmung des Rechts als Kern der normativen Ordnung mit den Werten und Prinzipien des kulturellen Systems sichern in der Konstruktion Parsons die Stabilität des sozialen Systems Gesellschaft, weil die nämlichen Werte und Prinzipien auf der Ebene der allgemeinen Handlungstheorie konsensuale, intersubjektiv geteilte Orientierungsmodi für den Akteur darstellen. Soziale Systeme sind stabil und Recht wird befolgt, weil die Befolgung der legitimen Normen vermittels gleicher Weitsysteme zum Wollen des handelnden Akteurs wird. Das Problem der Wahrscheinlichkeit von Rechtsbefolgung scheint sich aus dieser Perspektive auch als Problem der Legitimität von rechtlichen Normen und rechtssetzenden Instanzen oder als Problem der Akzeptanz rechtlicher Normen und Normsetzung in legitimen Ordnungen formulieren zu lassen. Legitimitätstheorien könnten also herangezogen werden, um Aufschluss über die Akzeptanz, Befolgungswilligkeit oder Wirksamkeit von Normen zu geben. In 162 Vgl. zur Krtik, Münch, Theorie des Handelns, S. 476 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

der Regel wird in Legitimitätstheorien das Problem allerdings umgekehrt angegangen bzw. unter einem anderen Aspekt, nämlich dem des Rechtsbegriffs oder der Geltung bzw. des „Gelten-Sollens" von Normen als Recht diskutiert. Aus der Wirksamkeit oder Akzeptanz der Normen in der Gesellschaft wird etwa auf ihre Geltung und auch auf ihr „Gelten-Sollen" als Recht geschlossen, womit ein empirisch, soziologischer Begriff des Rechts formuliert wird. 1 Das hier diskutierte Problem, die Akzeptanz oder hohe Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung, ihre „Wirksamkeit" in der Gesellschaft, in den Handlungen von Akteuren wird nicht selbst diskutiert, sondern gleichsam als empirische Prämisse vorausgesetzt, um daran anknüpfend einen Rechtsbegriff zu entwickeln, Aussagen über die Rechtsgeltung abzuleiten. Von rechtstheoretischer oder -philosophischer Seite wird gefragt, ob eine Norm legitim ist oder legitimierbar ist und damit als Recht gilt oder gelten soll.2Aus dieser Perspektive ist die Legitimität und das Gelten-Sollen einer Norm noch kein Hinweis auf die tatsächliche Befolgung und den Grund der Befolgung der Norm in der Gesellschaft. Aussagen über die Legitimität einer Norm, ihre Übereinstimmung mit Prinzipien der Gerechtigkeit oder legitimen Verfahren der Normerzeugung beziehen sich zunächst auf das Gelten-Sollen der Norm, werden regelmäßig aber nicht mit Schlussfolgerungen über die reale Befolgung der Norm verbunden. Aussagen über legitime Rechtsnormen können problemlos mit der Vorstellung von Zwang und Sanktion als Durchsetzungsmodus der rechtlichen Norm verbunden werden, was regelmäßig auch geschieht.3 Die tatsächliche Befolgung und Befolgungsbereitschaft der Norm wird in diesem Fall explizit von ihrer Bewertung als legitime Norm abgekoppelt. Die Perspektive des hier gestellten Problems, der Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung und des Vollzugsdefizits, ist gleichsam eine umgekehrte, es muss die Sichtweise der Legitimitätstheorien gewechselt werden, d. h. es ist zu überlegen, inwieweit das Gelten-Sollen einer Norm, d. h. die rechtstheoretische Rechtfertigung der Norm, ihre Bewertung als legitime Norm Aussagen über den Grad ihrer realen Akzeptanz oder gesellschaftliche Wirksamkeit erlaubt. Aufstellen ließe sich die Hypothese, dass ein Akteur eine legitime Norm eher befolgt als eine illegitime. Diese Hypothese hat aber verschiedene Voraussetzungen. Zunächst setzt sie voraus, dass Akteure überhaupt irgendwelche Vorstellungsweisen über die Legitimität einer Norm entwickeln. Zweitens müssten, um Aussagen über die Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung aus den wissenschaftlichen Legitimitätstheorien entwickeln zu können, diese Vorstellungsweisen beliebiger gesellschaftlicher Akteure, mit den wissenschaftlichen Legitimitätstheorien über1

Vgl. etwa: Geiger, Theodor, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 339; Holmes, in: ders., Collected Papers, S. 167. 2 Vgl. dazu: Dreier, Recht-Staat-Vernunft, S. 31 ff. 3 Vgl. zur Diskussion des Zwangscharakters von Recht: Somló, in: Maihofer, Begriff und Wesen des Rechts, S. 443; Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 47 f.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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einstimmen. Es stellt sich die Frage, inwieweit der staatstheoretische oder ethischmoralische Diskurs zur Legitimität Bedeutung für empirische Legitimitätsvorstellungen gesellschaftlicher Akteure hat. Schließlich muss die Frage bedacht werden, inwieweit die Legitimitäts-Überzeugung eines Akteurs auch die Befolgungsbereitschaft im Hinblick auf die Norm erhöht. Einige der unterschiedlichen Legitimitätstheorien sollen an dieser Stelle daraufhin untersucht werde, inwieweit sie Antworten auf diese Fragen geben, bzw. sich Antworten aus ihnen entwickeln lassen, um so dem Problem der Rechtsbefolgung und des Vollzugsdefizits näher zu kommen. Aus der Fülle der verschiedenen theoretischen Ansätze zur Begründung von Legitimität sollen drei systematisch grundlegende Begründungswege unterschieden werden: der materiale, natur- und vernunftrechtliche; der formal-positivistische und der demokratie- und kommunikationstheoretische.

I. Materiales Natur- und Vernunftrecht 1. Problemstellung Zeitgenössische „naturrechtliche" Theorien erlebten nach dem Ende des Nationalsozialismus4 und der Implosion der DDR 5 in Deutschland eine Renaissance6. Galt bis dahin die Verbindung von Recht und Moral, die Verknüpfung der Rechtsgeltung als überrechtliche, moralische oder naturrechtliche Maßstäbe als Reminiszenz an vormoderne Vorstellungen einer göttlichen Ordnung, die letztlich auch den Maßstab für säkulares Recht abgab7, stellte sich im Rahmen der juristischen „Aufarbeitung" des nationalsozialistischen und des staatssozialistischen Regimes die Frage, ob den Rechtsvorschriften des nationalsozialistischen Deutschlands oder der DDR aus naturrechtlichen, über-positvrechtlichen Gründen der Rechtscharakter abgesprochen werden soll und kann. Konnten Rechtsvorschriften, die die nationalsozialistische Rassenideologie umsetzten und von Diskriminierung bis zu Mord führen, diejenigen rechtfertigen, die Verbrechen unter Berufung auf Gesetze, Vorschriften oder Befehle begingen? Konnten Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen, die aufgrund der nationalsozialistischen Gesetze ergangen waren in der Bundesrepublik Geltung beanspruchen, obwohl die Gesetze offen der politischen oder „rassischen" Diskriminierung und Verfolgung dienten.8 Das politisch unbestritten proklamierte Ziel, nationalsozialistische Verbrechen zu ahnden, auch wenn sie gesetzlich gedeckt waren, stellte die Justiz der Bundesrepublik vor ein Dilemma: ent4 Vgl. die kritische Übersicht bei: Laage, KJ 89, S. 409. 5 Vgl. zu den unterschiedlichen Problemen der „Bewältigung" der DDR-Geschichte: Schätzler, NJ 1995, S. 57 ff. 6 Vgl. Kaufmann, die ontologische Begründung des Rechts, passim. 7 Vgl. zur Entwicklung des Rechts: Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Bloch, Naturrecht und menschliche Würde; Wesel, Geschichte des Rechts. s Radbruch, SJZ 1947, S. 136. 8 Fisahn

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

weder man verurteilte die ns-Verbrechen trotz ihrer Rechtfertigung durch ns-Gesetze unter klarer Missachtung des Rückwirkungsverbotes und des Grundsatzes „nulla poena sine Lege", oder aber man sprach den nationalsozialistischen Gesetzen ihre Rechtsgeltung ab, was unter Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und der Entscheidungskompetenz problematisch erschien9. Die Problemlage wiederholte sich nach dem Zusammenbruch der DDR insbesondere im Hinblick auf die juristische Bewertung ihres Grenzregimes. Die Grenzsoldaten, die auf „Republikflüchtlinge" geschossen hatte, konnten sich regelmäßig auf das Grenzgesetz der DDR und Anordnungen von Vorgesetzten berufen. 10

2. Lösung - unrichtiges Recht Der main stream 11 der Diskussion ging von der formalen Geltung des nationalsozialistischen Rechts aus, d. h. nach formalen Kriterien, Verabschiedung durch einen Gesetzgeber, formelle Verkündung im Gesetzblatt usw., waren nationalsozialistische Gesetze als Recht zu behandeln.12 Der Rechtscharakter bzw. die legitime Geltung wurde den Normen von der naturrechtlichen Schule aus inhaltlichen Gründen, wegen des Verstoßes gegen übergesetzliches Recht, Naturrecht oder moralische Prinzipien, abgesprochen. Gemessen an naturrechtlichen Maßstäben erschien das nationalsozialistische Recht als nicht legitim, es sollte keine Rechtsgeltung beanspruchen können und musste bzw. durfte von den Gesetzesadressaten, den Handlungsakteuren, nicht befolgt werden. 13 Die inhaltlichen Kriterien, Gerechtigkeitsvorstellungen oder naturrechtlichen Maßstäbe bedurften der Konkretisierung, die u. a. die rechtstheoretiche Diskussion in der Renaissance des Naturrechts nach dem zweiten Weltkrieg bestimmte.14 Von positivistischer Seite wurde der naturrechtlich-modifizierte Rechtsbegriff vehement kritisiert und für eine klare begriffliche Trennung von Recht und Moral plädiert. Das nationalsozialistische Recht sei nicht rechtlich, sondern moralisch zu verurteilen; die Justiz müsse sich eingestehen, dass die nationalsozialistischen Verbrechen unter Umgehung des nulla-poenaGebotes verfolgt und geahndet werden. 15 9

Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 116. 10 Gropp, NJ 96, 393; Krajewski, JZ 97, 1054; Dreier, JZ 97,421. u Vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, passim. ι 2 Anders hatte Franz L. Neumann argumentiert, der das nationalsozialistische Recht aufgrund der Missachtung formaler Anforderungen an Rechtsvorschriften, nämlich die Verwirklichung des Allgemeinheitspostulats, als Unrecht bezeichnete und ihm damit den Rechtscharakter absprach (Neumann, Behemoth, S. 522; vgl. dazu Fisahn Kritische Theorie des Rechts, S. 127 ff.). ι 3 Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 116 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 346; Dreier, Der Begriff des Rechts, in: ders., Recht-Staat-Vernunft, S. 99 ff. 14 Vgl. Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts, passim, darin insbesondere Maihofer, Die Natur der Sache, S. 52 ff.; Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 115 ff. 15 Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, S. 17.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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Bedeutung erlangt hat Gustav Radbruchs Vorschlag zur Prüfung der Rechtsgeltung der nationalsozialistischen Gesetze u. a. deshalb, weil er von den obersten bundesdeutschen Gerichten aufgegriffen wurde und zur Beurteilung des Rechtscharakters des nationalsozialistischen Rechts und nach 1989 auch des DDR Rechts herangezogen wurde. Der Vorschlag Radbruchs lautet: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als »unrichtiges Recht4 der Gerechtigkeit zu weichen hat." 16 Gestützt auf diese Formel wurde von Gerichten argumentiert, dass im Fall des nationalsozialistischen Rechts der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht habe, dass diese Gesetze keine Geltung beanspruchen könnten. Diese Gesetze könnten nicht zur Rechtfertigung von Straftaten herangezogen werden 17. Ähnlich wurde im Falle des Grenzgesetzes der DDR argumentiert. 18 Die Grenzsoldaten könnten sich nicht auf dessen Normen zur Rechtfertigung ihrer tödlichen Schüsse auf flüchtende Menschen berufen. 19 Das heißt in der Konsequenz, dass von den handelnden Akteuren erwartet wird, dass sie diesen Gesetzen die Gefolgschaft verweigern. Angenommen wird eine rechtliche Pflicht zur Nichtbefolgung der „unerträglich ungerechten" Gesetze, obwohl diese Nichtbefolgung möglicherweise sanktionsbewehrt ist. Von den handelnden Akteuren wird erstens verlangt und angenommen, dass sie den Unrechtsgehalt der gesetzlichen Vorschrift erkennen konnten, und zweitens dass sie sich aufgrund dieser Erkenntnis über die gesetzlichen Gebote hinwegsetzten. Diese rechtstheoretische und rechtsdogmatische Konstruktion birgt eine Fülle von Problemen 20 , die im Zusammenhang der hier aufgeworfenen Fragestellung aber nicht interessieren.

3. Konsequenzen für die Rechtsbefolgung Hier ist von Interesse, welche Folgen sich für die Handlungsorientierungen eines Akteurs ergeben. Die Legitimität der Norm soll nach der Vorstellung des natur16

Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 345. π BVerfGE 3, 58, 119; BGHSt 2, 173; 2, 234; 3, 225; 3, 357; 6, 132; 6, 389, 23, 98, 54, 53; BGHZ 3,94; 23, 175. is Amelung, JuS 93, 637; Schroeder, JR 93, 45; Alexy, VVDStRL 92, 132; Starck, VVDStRL 92, 41; Wesel, KJ 93, 202; Lüderssen, ZStW 92, 779; Adomeit, JW 1993, S. 2914 - Kritisch dagegen: Stuby, DuR 92, 422; Rittstieg, DuR 93, 18, Fisahn, Sozialist 4/93, 12; Gropp, NJ 96, 393; Krajewski, JZ 97, 1054; Dreier, JZ 97, 421. 19 BVerfG v. 24. 10. 96, JZ 1997, S. 142; BGHSt 39,1 = NJ 93, 88; 39, 199 = NJ 93, 374; 39, 353 = NJ 94, 229; 40, 48 = NJ 94, 322; 40, 117 = Nj 94, 526, BGH, NJ 95, 539. 20 Laage, KJ 1989, S. 409 ff.; Walther, Kritische Justiz 1988, S. 263; Maus, in: Dreier/ Sellert, Recht und Justiz im „Dritten Reich", S. 81. 8*

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

rechtlich-modifizierten Rechtsbegriffs für den handelnden Akteur das Kriterium sein, nach dem er entscheiden soll, ob er der Norm folgt oder nicht. Das heißt, die Tatsache, dass eine Norm als Recht erlassen wurde, gibt den ersten Orientierungspunkt; der Akteur soll der Norm regelmäßig folgen, es sei denn, dass die Norm in einen so großen Widerspruch zur Gerechtigkeit gerät, dass sie Unrecht ist oder illegitim ist. Für den handelnden Akteur wird aber auf diese Weise für seine tatsächliche Orientierung zumindest ein Dilemma aufgebaut: auf der einen Seite stellt das positiv-rechtliche Gebot einen Orientierungspunkt für den handelnden Akteur dar, da er bei Nichtbefolgung im Zweifel Sanktionen zu erwarten hat. Das Unrecht setzende Regime erwartet die Befolgung seiner Gebote, und die Nichtbefolgung ist bei gerechten wie ungerechten Rechtsnormen üblicherweise - mit Sanktionen oder zumindest Nachteilen verbunden. Gleichzeitig soll der Akteur durch die überpositiven Gebote rechtlich verpflichtet sein, der illegitimen Norm nicht zu folgen. Auch diese Verpflichtung ist letztlich sanktionsbewehrt, wenngleich die Sanktionen erst nach dem Untergang des Unrecht setzenden Regimes ausgesprochen werden können. Der rechtstheoretische Diskurs um die Legitimität und den Geltungsanspruch positiv-rechtlicher Normen beschränkt sich weitgehend auf die normative Frage, ob Normen oder Normensysteme legitim sind und ob ihnen Folge zu leisten ist. 21 Wie der Akteur das aufgezeigte Dilemma löst, interessiert allenfalls bei der strafrechtlichen Berücksichtigung der persönlichen Schuld. Der dargestellte Konflikt kann dort schuldmindernd oder schuldausschließend berücksichtigt werden. Über die tatsächliche Folgebereitschaft oder die Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung lassen sich aus diesen normativen Erwägungen zur Legitimität positiven Rechts keine Schlussfolgerungen ziehen. Dem Gebot nur legitimen Rechtsnormen zu folgen und umgekehrt illegitimen Rechtsnormen nicht zu folgen, liegen im Hintergrund Annahmen über die Orientierung an Rechtsnormen zugrunde, die den rationalistischen Juridismus entsprechen, ihn über die vorgenommene Differenzierung aber gleichsam verdoppeln. Die dargestellte Diskussion über die Legitimität von Normen oder Normensystemen macht die Fiktion des rationalistischen Juridismus implizit zur Prämisse der Argumentation. Angenommen wird, dass Akteure ihre Handlungen rational und bewusst an gesetzlichen Normen ausrichten, normative Gebote - zunächst des unrichtigen Rechts - bewusst zur Kenntnis nehmen und mit ihrer Handlung diesen normativen Geboten folgen. Verdoppelt wird die Fiktion des Juridismus dadurch, dass der Akteur nicht nur den normativen Gehalt des Rechts bewusst und rational seinen Handlungen unterlegen soll, sondern darüber hinaus die Legitimität des normativen Gebotes oder des Normensystems prüfen soll und seine Handlung an diesen Legitimitätsüberle21

Die positivistischen Einwände beziehen sich ζ. T. genau auf dieses Problem und verlangen deshalb eine moralische, aber keine rechtliche Ablehnung der Norm (vgl. Hart, Recht und Moral, S. 45).

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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gungen ausrichten soll. Die Kosten-Nutzen-Kalkulation, die die ökonomische Analyse des Rechts an die rational bewusste Aufnahme des normativen Gebotes anschließt, wird hier ersetzt durch die Forderung einer rational bewussten Legitimitätsprüfung der Norm. Dabei ist nicht zu verkennen, dass beide Theorieangebote einen unterschiedlichen Status haben. Die ökonomische Analyse des Rechts22 versteht sich selbst als empirische Theorie, die beschreibt, wie rechtliche Gebote durch den handelnden Akteur verarbeitet werden. Dagegen nimmt die Diskussion um eine naturrechtliche Modifizierung des Rechtsbegriffs einen normativen Standpunkt ein. Gleichwohl müssen die normativen Überlegungen notwendigerweise auf empirische Annahmen zum Wirkungsmechanismus von Normen zurückgreifen. Diese empirischen Annahmen, die undiskutiert und implizit den normativen Forderungen zugrunde liegen, lassen sich als rationalistischer Juridismus charakterisieren, dessen Probleme oben erörtert wurden. Da die Argumentation zum Ziel hat, Täter eines untergegangenen Regimes strafrechtlich zu verfolgen und zu verurteilen, ist davon auszugehen, dass Recht implizit als Zwangsordnung gedacht wird, die die normativen Gebote des Rechts vermittels der Sanktionierung nicht normgerechten Handelns durchsetzt. Zusätzlich wird vom handelnden Akteur eine Legitimitätsprüfung gefordert, die anhand des überpositiven Rechts erfolgen soll. Es stellt sich die Frage, wie dieses überpositive Recht oder nach der Radbruch-Formel der Gerechtigkeitsmaßstab zu gewinnen ist und im hier diskutierten Zusammenhang, welche Implikationen das für Handlungsorientierung des Akteurs hat. Die Antworten, die auf die Frage nach dem Gehalt des überpositiven Rechts gegeben werden sind unterschiedlich 23, gehen im Kern aber von der Annahme aus, dass es einen Grundbestand an normativen Postulaten in modernen Gesellschaften gibt oder ein Minimum an normativem Konsens in Gesellschaften eines bestimmten Entwicklungsniveaus existiert. Der BGH formulierte diese Annahme folgendermaßen: „Im Bewusstsein aller zivilisierten Völker besteht bei allen Unterschieden, die die nationalen Rechtsordnungen im einzelnen aufweisen, ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf. Es umfasst bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtlich verbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu missachten." Und weiter, unter Aufnahme der Radbruchschen Verleugnungsthese: „Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewusst verleugnen und die allen Kulturvölkern gemeinsamen Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und die 22

Vgl. oben: Subjektiver Juridismus. 3 Vgl. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Recht-Staat-Vernunft, S. 8 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen, deutlich missachten, schaffen kein Recht, und ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibt Unrecht." 24 Die bewusste rationale Orientierung des handelnden Akteurs an gesetzlichen Normen wird, das macht das Zitat deutlich, verbunden mit der Vorstellung von konsensual geteilten Werten zumindest in einem bestimmten Kulturkreis. 25 Hier wird Parsons Wertekonsens26 aufgenommen aber normativ umgeformt. Der Wertekonsens ist nicht die empirisch faktische Grundlage der Handlungsorientierung, die unbewusste Determinante, die für eine Übereinstimmung von Handlungsorientierungen und Rechtsnormen führt, da beiden die gleichen kulturellen Werte zugrunde liegen. Sondern der Wertekonsens wird zum normativen Gebot, dass bei der bewussten Legitimitätsprüfung von Normen herangezogen werden soll. Der Akteur soll seine Handlung nicht nur an der Norm, sondern bewusst rational an dem Wertekonsens ausrichten, was zur Folge hat, dass er die Norm als ungerecht oder illegitim verwerfen kann. Das bedeutet aber, dass der Wertekonsens, der in Parsons Konzeption der Norm wie der Handlungsorientierung zugrunde liegt, in Widerspruch zur Norm geraten kann. Wenn die Norm aufgrund der Reflexion auf den Wertekonsens als illegitim verworfen wird, heißt das, dass der Wertekonsens der Norm nicht zugrunde liegt. Die Norm weicht von dem Wertekonsens ab, was zu der Annahme berechtigt, dass der Normgeber den Wertekonsens nicht teilte. Dann handelt es sich aber auch nicht um einen Wertekonsens. Wäre die Annahme richtig, dass „allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen" existieren, müsste der Unrecht setzenden Gesetzgeber beim Rechtsetzungsakt von seinen Rechtsüberzeugungen abgewichen sein oder aber nicht zum Kreis der „Kulturvölker" gehören. Beide Annahmen überzeugen nicht recht. In Frage zu stellen ist vielmehr der Wertekonsens oder die gemeinsamen Rechtsüberzeugungen. Die Nationalsozialisten teilten diese gemeinsamen Rechtsüberzeugungen eben nicht und das staatssozialistische Rechtsverständnis entsprach nicht demjenigen der kapitalistischen Industrieländer. Das birgt für das Theorieangebot des naturrechtlich modifizierten Rechtsbegriffs hinsichtlich des impliziten Modells des Wirkmechanismus rechtlicher Normen ein weiteres Problem. Die Fiktion der rational-bewussten Normbefolgung wird nicht nur durch die rational-bewusste Legitimitätsprüfung verdoppelt, sondern außerdem angereichert um die Fiktion eines Wertekonsenses, der gleichsam durch die Problemlage, die den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete, selbst widerlegt wird. Das Problem des „unrichtigen Rechts" könnte erst gar nicht entstehen, wenn ein Wertekonsens existierte, der nicht nur den Normadressat, sondern auch den Gesetzgeber bei seinen Handlungen leitete. Die Annahme einer Verallgemeinerung der Wertvorstellungen und einer prinzipiellen Homologie zwischen kulturellen 24 BGHSt 2, 237 f. 25 Über die eurozentristische und elitäre Konnotation des Begriffs „Kulturvölker" muss hier nicht weiter diskutiert werden. 26 Vgl. oben: Programmierung durch internalisierte Werte.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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Weiten und Rechtsordnung, lässt sich rückblickend auf Parsons anführen, ist durch die dargestellte Problemlage historisch-empirisch widerlegt. Als Schlussfolgerung lässt sich festhalten, dass die mit dem naturrechtlich-modifizierten Rechtsbegriff verbundene Legitimitätstheorie keine Aussagen zulässt über die Wahrscheinlichkeit der Befolgung legitimer oder illegitimer Rechtssätze. Sie verbleibt auf der normativen Ebene, muss dieser allerdings implizite Annahmen über den Mechanismus der Rechtsbefolgung und -Wirkung zugrunde legen. Vorausgesetzt wird die rational bewusste Befolgung und Legitimitätsprüfung von Rechtsnormen, die gleichzeitig mit dem Sanktionsgedanken, bzw. mit der Vorstellung vom Recht als Zwangsordnung, und mit dem Gedanken eines Wertekonsenses verbunden wird. Jede einzelne Annahme ist schon an sich problematisch, das gilt dann erst recht für die Kombination der Annahmen - jedenfalls in der dargestellten Weise. Schließlich ist festzuhalten, dass der Ausgangspunkt der Überlegungen deutlich vor Augen führt, dass die Annahme einer Homologie zwischen Rechtsordnung und kultureller Ordnung höchst problematisch ist. Innerhalb der kulturellen Ordnung können ebenso Widersprüche auftreten wie zwischen kultureller Ordnung und Rechtsordnung.

II. Legitimität durch Legalität In Abgrenzung zur moralisch-wertorientierten Legitimation gesetzten Rechts wird insbesondere von wertrelativistischen Positionen27 geltend gemacht, dass eine Anbindung des positiven Rechts an Moralvorstellungen, die letztlich nicht wissenschaftlich zu rechtfertigen sein, modernen Rechts- und Lebensverhältnissen widerspreche. Geltung und Nichtgeltung des Rechts ist aus dieser Perspektive keine Frage des Sollens, sondern eine der Durchsetzung mittels Zwang und eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz, für die letztlich die faktische Wirksamkeit rechtlicher Normen ein Indiz ist. Die Akzeptanz selbst wird wiederum nicht moralischwertend erklärt, sondern aus der Legalität des positiven Rechts selbst.

L Max Weber: Legalitätsglauben und legitime Herrschaft Exemplarisch findet sich diese Position bei Max Weber, der die Legitimität des modernen gesetzten Rechts auf seine Legalität und einen Legalitätsglauben bei den handelnden Akteuren zurückführt. Weber charakterisiert Recht durch zwei Elemente, nämlich erstens über den Durchsetzungsmodus und zweitens über den Ordnungscharakter. Das führt ihn zu folgenden Definitionen des Rechts: „Eine Ordnung soll heißen ... Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance [des] (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung oder In27

Vgl. exemplarisch, Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 15 f.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

nehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichteten Handelns eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen."28 Diese Definition der spezifisch rechtlichen Ordnung über den äußerlichen Zwangscharakter ist nicht ungewöhnlich und kennzeichnet den Rechtsbegriff seit Kants Unterscheidung von innerlicher Moralität und äußerlicher Legalität 29 . Interessanter ist in unserem Zusammenhang Webers Begriff der Geltung einer Ordnung, der folgendermaßen entwickelt wird: „Einen Sinngehalt einer sozialen Beziehung wollen wir a) nur dann eine »Ordnung4 nennen, wenn das Handeln an angebbaren ,Maximen4 (durchschnittlich oder annähernd) orientiert wird. Wir wollen b) nur dann von einem ,Gelten4 dieser Ordnung sprechen, wenn diese tatsächliche Orientierung an jenen Maximen mindestens auch (also in einem praktisch ins Gewicht fallenden Maß) deshalb erfolgt, weil sie als irgendwie für das Handeln geltend: verbindlich oder vorbildlich, angesehen werden. 4430 Die Geltung oder Nichtgeltung von Rechtsvorschriften wird durch diesen Begriff der Ordnung nicht abhängig gemacht von normativer „Richtigkeit44, sie ist nicht an Sollens-Geboten orientiert, sondern an der faktischen Wirksamkeit, der der Ordnung zugrunde liegenden Maxime, deren faktischer Anerkennung als verbindlich. Da Weber einen allgemeinen Begriff der Ordnung entwickelt, bleibt das Orientierungsmuster, das die Verbindlichkeit der Ordnung herbeiführen soll oder kann, noch unbestimmt, sie muss zunächst nur „irgendwie für das Handeln44 gelten. Die Verbindlichkeit wird für die Ordnung des modernen Rechts nach Weber außer durch die garantierte Chance des Zwanges durch den Legalitätsglauben erzeugt. Dabei sieht er durchaus, dass rechtliche Gebote aus sehr unterschiedlichen Motiven oder Gründen befolgt werden können. Diese Gründe werden in Handlungsorientierungen verankert, die Weber entwickelte und Parsons wieder aufgegriffen hat und insofern schon oben ausführlicher dargestellt wurden. Handeln kann für Weber zweckrational, wertrational, affektuell oder traditional motiviert sein.31 Er betont, dass der Gehorsam gegenüber Gesetzen „in der Realität (durch) höchst massive Motive der Furcht und der Hoffnung - Furcht vor der Rache magischer Mächte oder des Machthabers, Hoffnung auf jenseitigen oder diesseitigen Lohn und daneben Interessen verschiedenster Art 44 hervorgerufen werden kann. 32 Für die Stabilitität einer Herrschaftsbeziehung sei ein so motivierter Rechtsgehorsam aber nicht ausreichend33. Vielmehr sind alle Herrschaftstypen darauf angewiesen, ihre Herrschaft und Rechtsetzung als legitim darzustellen und mit der Legitimität neben

28 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (WuG), S. 17. 29 Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung AB 15 ff.; vgl. dazu Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 289. 30 WuG, S. 16. 31 WuG, S. 12. 32 WuG, S. 822. 33 Das war für Parsons der Anknüpfungspunkt in The Structure of Social Action für den Nachweis, dass die soziologischen Klassiker, Weber, Marshal, Pareto und Durkheim, die utilitaristische Begründung für die Stabilität einer Ordnung und letztlich für den Rechtsgehorsam nicht als ausreichend erachteten.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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dem Zwang ein weiteres, aber zentrales Motiv für den Rechtsgehorsam zu schaffen. „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre »Legitimität4 zu erwecken und zu pflegen. Je nach Art der beanspruchten Legitimität aber ist auch der Typus des Gehorchens, des zu dessen Garantie bestimmten Verwaltungsstabes und der Charakter der Ausübung der Herrschaft grundverschieden." 34 Für Weber ist die Legitimität eines Gesetzes oder einer Rechtsordnung danach nicht nur eine Frage des Gehorchen-Sollens, sondern er konstruiert Legitimität ausdrücklich als deskriptiv reale Grundlage für den Gehorsam in einer Herrschaftsbeziehung. Er geht offenbar davon aus, dass der Grad des Gehorsams gegenüber der Herrschaft oder der Grad der Rechtsbefolgung gesteigert wird, wenn es gelingt, die Herrschaft oder die Rechtsordnung als legitim darzustellen. Das macht in unserem Zusammenhang Webers Konstruktion der Legitimität in verschiedenen Herrschaftstypen besonders interessant. Der Legitimitätsanspruch, der für jede Herrschaftsbeziehung gilt, wird in unterschiedlichen Herrschaftstypen unterschiedlich begründet. Weber unterscheidet bekanntlich idealtypisch drei 35 verschiedene Herrschaftstypen, die traditionale, die charismatische und die legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab. Traditionale Herrschaft, bei der Weber insbesondere die europäischen feudalen Herrschaftsstrukturen vor Augen hat, aber auch auf patriarchale und patrimoniale Herrschaftsstrukturen anderer Kontinente Bezug nimmt, ist gekennzeichnet durch die auf Tradition gegründete Herrschaftsgewalt und die persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen der Beherrschten. Der Herr wird kraft Tradition, traditionaler Ordnung oder überkommenen Regeln bestimmt. Der „Knecht" ist an ihn nicht durch Amtspflicht, sondern durch persönliche Diensttreue gebunden. Gehorsamspflicht besteht gegenüber dieser Person und gegenüber der überkommenen Ordnung. 36 Legitimitätsgrund dieses Herrschaftstyps ist für Weber „die Autorität des ,ewig Gestrigen': der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte" 37 . Charismatische Herrschaft hat das Charisma einer Person, eines Führers, zur zentralen Grundlage, wobei unter Charisma eine außeralltägliche Qualität verstanWuG, S. 122. 35 Breuer unterscheidet bei Weber vier Herrschaftstypen. Die demokratische Wahl erkenne Weber als vierten „Legitimitätsgedanken", der an Bedeutung gewinne. Breuer will die angedeutete Kategorie der demokratischen Legitimität als herrschaftsfremdes Prinzip weiter ausbauen (Breuer, Bürokratie und Charisma, S. 176), wenngleich Weber diese Kategorie später wieder fallen ließ (Schmidt, Demokratietheorien, S. 127). Der vierte Herrschaftstyp wird auch in „Wirtschaft und Gesellschaft" angedeutet, aber nicht in die Reihe der idealtypischen Herrschaftstypen aufgenommen, was in der Logik Webers berechtigt ist, da er die demokratische Legitimation zwischen Führer-Demokratie und legaler Herrschaft situiert (WuG, S. 156 f.). Folglich bildet sie keine idealtypische Herrschaftsform. 36 Vgl. WuG, S. 580 ff.; Weber, Politik als Beruf, S. 495. 37 Politik als Beruf, S. 495. 34

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

den wird, um derentwillen die Person „als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als 'Führer 4 gewertet wird." 3 8 Charismatische Herrschaft wird für Weber ausgeübt durch Propheten, Kriegshelden und große Demagogen, deren Herrschaft ihre Geltung durch die Anerkennung (der außeralltäglichen Qualitäten) durch die Beherrschten, Jünger und Anhänger erhält. Sie stützt sich auf den Gehorsam der Anhänger, d. h. auf eine emotionale Vergemeinschaftung. 39 Die Ausübung der Herrschaft kennzeichnet Weber durch das Fehlen jeder Orientierung an feststehenden Regeln, sie ist Willkürherrschaft im Rahmen eines sich bewährenden und beweisenden Charismas. 40 Der Legitimitätsgrund charismatischer Herrschaft lässt sich von ihrer Charakterisierung und Beschreibung kaum trennen. Er beruht auf der „Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe"41. Gehorsam gegenüber Gesetzesbefehlen wird auf die außergewöhnliche Autorität eines begnadeten Führers zurückgeführt, aus dem Gehorsam gegenüber dem charismatischen Führer abgeleitet. Die legale Herrschaft wird durch zwei wesentliche Elemente charakterisiert, nämlich durch einen bürokratischen Verwaltungsstab und durch die Existenz beliebig gesatzten Rechts.42 Den Verwaltungsstab43 stellt Weber als „kontinuierlichen regelgebundenen Betrieb von Amtsgeschäften" 44 innerhalb einer klar gegliederten Kompetenzhierarchie vor. Die bürokratische Verwaltung bezeichnet Weber als ein relativ spätes Entwicklungsprodukt, das sich gegen verschiedene Hemmnisse durchsetzen musste, was aber schließlich aufgrund ihrer „zweifellos technischen Überlegenheit" 45 bei der Bewältigung der quantitativ 46 und qualitativ ansteigenden Staatsaufgaben in komplexer werdenden Gesellschaften gelungen sei. 47 Die Herausbildung der bürokratischen Verwaltung ist nach Weber aufs engste mit derjenigen des formal-rationalen Rechts verknüpft, das Grundlage der Arbeit der Bürokratie ist. Legale Herrschaft beruht auf der Vorstellung, dass „beliebiges Recht durch formal korrekt gewillkürte Satzung geschaffen und abgeändert werden kann" 48 , dann aber für Beherrschte und Herrscher, für die unpersönliche Arbeit der staatlichen Bürokratie bindend ist, „dass also der typische legale Herr: der ,Vorgesetzte4, indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung ge38 WuG, S. 140. 39 WuG, S. 141. 40 WuG, S. 141. 41 WuG, S. 822. 42 Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, S. 100 f. 43 Vgl. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 177. 44 WuG, S. 125. 45 WuG, S. 567. 46 WuG, S. 559 f. 47 WuG, S. 561 f. 48 Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, S. 101.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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horcht, an welcher er seine Anordnungen orientiert", womit Gehorsam nur innerhalb der „rational abgegrenzten sachlichen Zuständigkeit" geboten ist. 49 Der Legitimitätsgrund legaler Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab ist für Weber der Legalitätsglaube. Legale Herrschaft 50 existiere „kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzungen und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen »Kompetenz4, also der Einstellung auf Gehorsam in der Erfüllung satzungsgemäßer Pflichten" 51 . Den Legalitätsglauben bezeichnet Weber als die „heute geläufigste Legitimitätsform", gekennzeichnet durch „die Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustande gekommenen Satzungen" 52 . Diese Herrschaftstypen konstruiert Weber als Idealtypen, die drei Legitimitätsformen als „reine" Typen, was die Annahme impliziert, dass sie empirisch selten „rein" auftreten, es vielmehr „höchst verwickelte Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser drei Typen" gibt 53 .

2. Legalitätsglaube und Rechtsbefolgung Die Fundierung der Legitimität und des Gehorsams gegenüber formal-rationalem Recht durch den Legalitätsglauben dürfte eine der schwächeren Stellen in Webers Theoriebildung sein. Parsons, der Webers Konzeption der Handlungsorientierung aufgegriffen hat, versuchte an diesem Punkt eine stichhaltigere Begründung für die Orientierung und den Gehorsam gegenüber Rechtsnormen über die Internalisierung normativer Muster zu finden, die das Unbewusste des Akteurs ebenso strukturieren wie die Rechtsordnung. Das musste aber - wie gesehen54 - zu einer Einschränkung der Steuerungskapazität und der Durchsetzbarkeit frei gesetzten Rechts führen. Weber hält am Rechtsbegriff des Positivismus, an der Möglichkeit politisch freier, d. h. inhaltlich nicht determinierter Rechtsetzung fest. Da er dem utilitaristischen Konzept rationaler Kosten-Nutzen-Kalküle als Motiv der Rechtsbefolgung nicht folgen kann, bleibt ihm für die legale Herrschaft nur die schwache Motivation zum Rechtsgehorsam via Legalitätsglauben. Eine nähere Bestimmung des Legalitätsglaubens, eine Ableitung oder Exemplifizierung seiner Erscheinung, der Form oder Genese sucht man vergebens. Obwohl der Legalitätsglaube als Legitimationsgrund an verschiedenen Stellen auftaucht, beschränkt sich Webers Erläuterung des Begriffs auf Aussagen wie die oben zitierten. Dieses Begründungsdefizit kann etwas ausgeglichen werden, wenn man den Legalitätsglauben in Webers Rationalisierungskonzept55 verankert. Das ist aber nur die eine Seite, er bleibt 49 WuG, S. 125. 50 Vgl. Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, 7 ff. 51 WuG, S. 822. 52 WuG, S. 19. 53 WuG, S. 823. 54 Vgl. oben: Programmierung durch internalisierte Werte. 55 Habermas, Kommunikatives Handeln Bd. I, S. 225 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

gegenüber den anderen Legitimationsgründen aufgrund Webers politischer Grundeinstellung, die charismatische Führerfiguren für die Politik forderte 56, ein schwaches Konzept.

a) Legalitätsglaube und Rationalisierung Zunächst ist der Legalitätsglaube in den Zusammenhang des Rationalisierungskonzeptes zu stellen. Webers zentrale These besagt, dass der Geschichtsprozess durch eine Entzauberung der Welt, durch Auflösung von Mythen 57 oder positiv formuliert durch beständige Rationalisierung gekennzeichnet ist. Dabei ist vor allem die formale Rationalität des Zweck-Mittel-Kalküls - in Webers Diktion die Zweckrationalität 58 - Ausdruck und Ergebnis des fortgeschrittenen Rationalisierungsprozesses. Weber geht davon aus, dass im Verlaufe des Rationalisierungsprozesses eine zweckrationale Handlungsorientierung in der Lebensführung der Menschen verankert wird. Diesen Prozess der Verankerung zweckrationaler Handlungsorientierungen führt Weber zentral auf Wandlungen der religiösen Lehren und Einstellungen zurück; die Rationalisierung in Ökonomie, Bürokratie und Recht erscheint demgegenüber als abgeleitet, Folge der einmal siegreichen zweckrationalen Einstellung des Akteurs in seiner Lebensführung gegenüber der Welt. 59 Innerhalb der Religionsgeschichte ist es für Weber bekanntlich der Protestantismus, der zu einer Umstellung der Handlungsorientierung und Lebensführung auf die formale Rationalität oder Zweckrationalität geführt hat, womit der Protestantismus in Europa die Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft, des formal-rationalen Rechts und der bürokratischen Herrschaft ermöglichte. 60 Der Protestantismus schafft nach Weber die Voraussetzungen für eine kapitalistische Ökonomie, weil mit ihm eine bestimmte Berufsethik sich durchsetzte, die den beruflichen Erfolg honorierte und als Zeichen des Gnadenstandes verstand, die das Gewinnstreben von den traditionalen Restriktionen löste und gleichzeitig die Gewinnmaximierung an die Stelle der Schatzbildung und des verschwenderischen Konsums treten ließ. 61 Entscheidend ist im hier diskutierten Zusammenhang, dass mit der religiösen Rationalisierung der Handlungsorientierung für Weber eine Rationalisierung der gesamten Lebensführung und eine Rationalisierung der Ökonomie und des Rechts verbunden waren, die als Fortschritt von materialer zu formaler Rationalität gekennzeichnet werden. Formale Rationalität bedeutet in der Ökonomie Rechenhaftigkeit, die optimale Kosten-Nutzen-Rechnung und die 56

Weber, Politik als Beruf, passim, insbesondere S. 514, 532. Dazu: Schluchter, Die Entwicklung ..., S. 13. 58 WuG, S. 13. 59 Bogner, Zivilisation und Rationalisierung, S. 113. 60 Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, passim, S. 105 ff.; Überblick bei Fisahn, Kritische Theorie des Rechts, S. 23 ff. 61 Bogner, Zivilisation und Rationalisierung, S. 144. 57

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technisch optimale Abstimmung der Mittel auf den vorgegeben Zweck der Gewinnmaximierung. 62 Die Rechenhaftigkeit in der Ökonomie muss mit entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine langfristig sichere Kalkulation ermöglichen, korrespondieren. Eine solche Berechenbarkeit gewährleistet für Weber das formal-rationale Recht, das im Unterschied zum material-rationalen Recht nicht durch bestimmte ethische oder religiöse Inhalte, sondern durch seine Form, die durch die regelgeleitete Satzung und die generelle, bestimmte Norm gekennzeichnet ist. Die formale Rationalität des Rechts schafft Berechenbarkeit über eine kalkulierbare, weil im Ergebnis festgelegte Anwendung der Normen auf den Einzelfall durch Rechtsanwender, die dem Bild des Subsumtionsautomaten entsprechen.63 Diese grobe Skizzierung der Homologie zwischen der Rationalisierung der Lebensführung und Handlungsorientierung einerseits und der Ökonomie und des Rechts andererseits kann hier ausreichen, den Gedanken der Legitimation legaler Herrschaft über den Legalitätsglauben etwas plausibler zu machen. Es dürfte eine zulässige Interpretation Webers sein, wenn man den Legalitätsglauben als Bestandteil oder Ausfluss der zweckrationalen Handlungsorientierung in der Lebensführung betrachtet. Weber schreibt ausdrücklich: Der Glaube „ist bei der ,legalen4 Herrschaft nie rein legal. Sondern der Legalitätsglaube ist ,eingelebt4 also selbst traditionsbedingt." 64 Diese Sentenz wird nicht weiter expliziert, deutet aber darauf hin, dass Weber den Legalitätsglauben als „eingelebten" Bestandteil der zweckrationalen Lebensführung versteht. Der Legalitätsglaube lässt sich dann - unter Rückgriff auf psychologische Kategorien - als internalisiertes der zweckrationalen Lebensführung spezifisch angemessenes Verhältnis zum formal-rationalen Recht begreifen. Internalisiert wird mit der rationalen Lebensführung die Vorstellung, dass gesetztes Recht Geltung beanspruchen kann, womit es Gehorsam verdient und befolgt wird. Der Legalitätsglaube wird damit aber unter der Hand mit einem besonderen Inhalt versehen, er wird zu einem internalisierten normativen Orientierungsmuster, das sich in Form eines moralischen Gebotes ausdrücken lässt, nämlich: formal korrekt gesetztes Recht ist unabhängig von seinem Inhalt verbindlich und muss befolgt werden. 65 So formuliert unterscheidet sich der Legalitätsglaube von anderen normativen oder moralischen Geboten nur durch den Grad seiner Abstraktion oder seiner formalen Rationalisierung.

62 WuG, S. 44 ff. 63 WuG, S. 395 ff., 503 ff., 826. 64 WuG, S. 154. 65 Ebenso lässt sich Kants Tugendpflicht im Hinblick auf das Recht formulieren; vgl. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 292.

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b) Schwächung des Legalitätsglaubens aufgrund traditionaler Vorbehalte gegenüber der modernen Legalität Ob damit Webers Intention, für formal-rationales Recht und die legale Herrschaft einen besonderen und eigenständigen Legitimationsgrund zu entwickeln, der faktisch zu einer hohen Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung führt, gelungen ist, erscheint ausgesprochen fraglich. Der Legalitätsglaube bleibt auch dann eine schwache Konstruktion zur Absicherung der „legalen Herrschaft", wenn man ihn in der Rationalisierung der Lebensführung verankert. Denn die „Anwendung" der rationalen Lebensführung auf das Verhältnis des Akteurs zum Rechtsgebot legt die utilitaristische Konzeption nahe, die Zweckrationalität in der Lebensführung müsste in der Konsequenz zu einer Kosten-Nutzen-Kalkulation auch hinsichtlich der Rechtsbefolgung führen. Diesen Gedanken scheut Weber aber, da er im äußerlichen Zwang keine ausreichende Grundlage für eine stabile Herrschaft sieht. Der Legalitätsglaube erscheint so als zusätzliche Konstruktion zur rationalen Lebensführug, die aus deren Rationalität, nämlich der Zweckrationalität nicht ableitbar ist. Zweitens bleibt der spezifische Legitimationsgrund der legalen Herrschaft auch verborgen, wenn man den Legalitätsglauben als Internalisierung eines Gehorsamsgebotes auffasst. Das oben formulierte Gebot, (Gesetzes-)Befehlen der Herrscher zu gehorchen, lässt sich nicht nur für die legale Herrschaft formulieren, sondern ebenso für alle anderen Herrschaftstypen, jene erhalten so über Tradition und Charisma eine doppelte Absicherung ihrer Legitimität oder bieten Gewähr für eine höhere Stabilität. Da die Entzauberung der Welt für Weber die Wurzeln der Tradition annagt, erhält die charismatische Herrschaft über ihren Legitimationsgrund eine erheblich stärkere Stellung als die legale Herrschaft mit dem schwachen Legalitätsglauben als Legitimitätsgrund. Die liegt ganz auf der Linie von Webers politischer, ethischer Grundeinstellung. Er stand der legalen Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab durchaus skeptisch gegenüber.66 Die Effektivität bürokratischer Organisation, prognostizierte er, führe letztlich zu deren Sieg in Staat und Ökonomie - große Unternehmen werden ebenso bürokratisch verwaltet wie staatliche Einrichtungen - und zu einer Dominanz der kalten zweckrationalen Berechnung in allen Lebensbereichen, die nicht mehr zu überwinden sei, so dass ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit" 67 geschaffen werde, aus dem es kein Entrinnen gäbe68. Die Zeitdiagnose bei Weber bleibt konservativ, traditionalistisch, vor allem weil er gleichzeitig den zunehmenden egalitären und demokratischen Tendenzen in der Gesellschaft ebenso skeptisch gegenüber steht. Sie führen für ihn zu einer Zerstörung der formalen Rationalität, da durch materiale Gerechtigkeitsforderungen das formal rationale Recht ausgehöhlt werde. 69 Gegen demokratisch, egalitäre Forde66 WuG S. 507 ff., 563 ff. 67 WuG, S. 835. 68 Vgl. zur kritischen Zeitdiagnose auch: Protestantische Ethik, aaO., S. 203 f. 69 So führe beispielsweise die Beteiligung von Laien-Richtern in Gerichtsprozessen dazu, dass sich die „Instinkte der nichtprivilegierten Klassen" durchsetzten, die „materiale Gerech-

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rungen verteidigt Weber die formale Rationalität und den Rationalisierungsprozess, deren Konsequenzen in Form der bürokratischen Herrschaft er gleichzeitig wortgewaltig beklagt. Diese konservative Haltung 70 gegenüber der Demokratie 71 versperrt Weber die Sicht auf einen auch in seiner Zeit bekannten Legitimationsgrund moderner Rechtsetzung, nämlich die demokratische Legitimation, die Legitimation über die - wie immer vermittelte Zustimmung der Rechtsunterworfenen zur Rechtsetzung: Demokratische Legitimation als vierte Form legitimer Herrschaft. Umgekehrt setzt Weber auf die charismatische Erneuerung, eine Durchbrechung der bürokratischen Herrschaft und des Parteienklüngels bürokratischer Politiker durch charismatische Führer-Politiker. 72 Deshalb gilt der Legitimation charismatischer Herrschaft explizit sein besonderes Interesse 73. Webers politische Option führt dazu, dass er die Legitimation legaler Herrschaft wenig überzeugend darlegt, während er alle Mühe darauf verwendet, die Legitimation charismatischer Herrschaft nachzuweisen. Auch das versperrt die Möglichkeit, demokratische Zustimmung als mögliche Legitimationsgrundlage und damit Grund für die Befolgung von positivem Recht in seiner Bedeutung angemessen zu gewichten. Im Zusammenhang einer elitistischen Demokratiekonzeption, die auf Bestenauslese angelegt ist, wird die demokratische Legitimation zu einer Legitimation in der „FührerDemokratie" 74 , wobei Weber dem demokratischen Element der Wahl mit offenkundiger Aversion gegenübersteht und ihm in Wahrheit keinen legitimierenden Charakter zuschreibt. 75 Resümierend lässt sich festhalten, dass Webers Rechtsbegriff - im Unterschied zu naturrechtlich orientierten Rechtstheorien - durch seinen Bezug zur tatsächlitigkeit" verlangten, was die formale Berechenbarkeit der Justiz gefährde (WuG, S. 511) schon die Diktion ist verräterisch. 70 Konservatv im Sinne des Konservatismus der Weimarer Republik, der der demokratischen Staatsform im Unterschied zum Konservatismus der Bundesrepublik skeptisch gegenüberstand. (Vgl. zu den verschiedenen Facetten des Konservatismus: Giddens, LuR, S. 47 ff.). 71 Dies ist allerdings umstritten. Es gibt Ansichten, die meinen, Weber sei überzeugter Anhänger der Demokratie gewesen. (Fetscher, Die Demokratie, S. 42) Dies wird man aber m.E. nur für die Führer-Demokratie behaupten können, die mit heutigen normativen Anforderungen an die Demokratie nicht zu vereinbaren ist. 72 Insbesondere, Politik als Beruf, aaO., passim. 7 3 WuG, S. 823. ™ WuG, S. 156. 75 Weber schreibt: Es liegt nahe, dass die Anerkennung „statt als Folge der Legitimität als Legitimitätsgrund angesehen wird (demokratische Legitimität), die (etwaige) Designation durch den Verwaltungsstab als »Vorwahl·, durch den Vorgänger als »Vorschlag4, die Anerkennung der Gemeinde selbst als ,Wahl·. Der kraft Eigencharisma legitime Herr wird dann zu einem Herrn von Gnaden der Beherrschten, den diese (formal) wählen und setzen, eventuell auch: absetzen..." (WuG, S. 156) Demokratische Legitimation ist danach im Grunde eine ideologische Verdrehung des wahren Anerkennungsgrundes, nämlich des Charismas mit der für Weber ungeheuerlichen Folge, dass in dieser Verdrehung das Herrschaftsverhältnis negiert oder zumindest durchbrochen wird.

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chen Akzeptanz und faktischen Wirksamkeit des Rechts die Diskussion über Legitimation an Aussagen über mögliche Gründe von Akteuren für die Befolgung von Recht zurückgekoppelt hat. Seine Ausgestaltung des Legitimationsgrundes für das moderne positive und frei gesetzte Recht ist mit dem Legalitätsglauben aber nicht überzeugend ausgefallen. Weber musste aufgrund seiner Skepsis gegenüber demokratischen Herrschaftsformen und demokratisch-egalitärer Beteiligung beim Legalitätsglauben stehen bleiben und konnte oder wollte Recht nicht mit demokratischer Staatsorganisation und Willensbildung vermitteln. Bevor demokratische Legitimation als Grund der Befolgung und Verbindlichkeit positiv gesetzten Rechts diskutiert werden soll, ist ein kurzer Blick auf den an Weber anschließenden Versuch, einen besonderen legalen Legitimationsgrund zu konstruieren, zu weifen, auf die Legitimation durch Verfahren.

3. Legitimation durch Verfahren

- Zustimmung der Rollenspieler

Luhmann hat versucht, den Legalitätsglauben als Grund der Legitimität auf eine überzeugendere analytische Basis zu stellen. Er findet Webers Lösung zwar grundsätzlich akzeptabel, meint aber - in Übereinstimmung mit obiger Argumentation - , dass die Konstruktion des Legalitätsglaubens nicht ausreichend erkennen lässt, wie solche Legitimität der Legalität soziologisch möglich ist. 76 Sein Ergebnis ist bekannt: Legitimität erhalten Entscheidungen von Gerichten und Parlamenten durch Verfahren, das Verfahren der Entscheidungsfindung oder das Verfahren ihrer Zusammensetzung (die Wahl). Als Versuch der Fundierung des Theorems vom Legalitätsglauben ist Luhmanns „Legitimation durch Verfahren" zu interpretieren, weil er erstens - ebenso wie Weber - auf jede inhaltliche und materielle Begründung von Legitimität verzichtet und zweitens Legitimität und Fügsamkeit gegenüber Entscheidungen abkoppelt von allen vernunftgeleiteten Erwägungen und jeder demokratischen Zustimmung autonomer Subjekte. Verfahren, so lässt sich Luhmanns zentrale These zusammenfassen, dient der Herstellung verbindlicher Entscheidungen, deren Verbindlichkeit einzig und allein durch Rollenadaption77 der Verfahrensbeteiligten, der Mitspieler erzeugt wird. Das Verfahren führt für Luhmann nicht zu einer innerlichen und inhaltlichen Zustimmung der Beteiligten, sondern einzig zur Fügsamkeit, weil aus der Perspektive der Beteiligtenrolle die Entscheidung verbindlich und weiterer Protest aussichtslos ist. Diese zentrale These will Luhmann in „Legitimation durch Verfahren" anwenden auf Gerichtsverfahren, politische Wahl und Gesetzgebung sowie auf Entscheidungsprozesse der Verwaltung. Dabei ist das Gerichtsverfahren offenbar paradigmatisch für die Legitimationsthese, weshalb die Argumentation an dieser Stelle überzeugender ist als bei den anderen Verfahrensarten.

76 77

Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren (LdV), S. 29. Bewusstes Lernen wäre für Luhmann schon eine Überbetonung des Subjekts.

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a) Integration des Verfahrensbeteiligten - Gerichtsverfahren Am Beispiel des Gerichtsverfahrens zeigt Luhmann, dass Verfahren integrativ wirken, auch wenn der Betroffene oder Verfahrensbeteiligte nicht das subjektive Gefühl hat, fair behandelt worden zu sein und deshalb das Ergebnis auch nicht akzeptiert. Nach Luhmann akzeptiert der Betroffene das Ergebnis zwar nicht, aber er fügt sich, weil er die Rolle als Verfahrensbeteiligten angenommen hat und diese Rolle gleichsam zu Ende spielt und spielen muss. Es entsteht Bindung durch Selbstdarstellung im rollenkonformen Verhalten. 78 Durch das Verfahren werde Unzufriedenheit und Protest den Spielregeln des Verfahrens unterworfen. Das zwinge dazu, sich innerhalb dieser Spielregeln zu bewegen und allein die im Verfahren akzeptierten Argumente zu verwenden. Dadurch trete eine mehrfache Isolierung ein. Der Verfahrensbeteiligte wird erstens von den Nicht-Beteiligten isoliert. Somit bleibt der Protest auf das Verfahren beschränkt und wird nicht allgemein79, weil die Einbeziehung von in der Verfahrensordnung nicht vorgesehenen Streithelfern ausgeschlossen ist. Zweitens werden die Argumente isoliert, aus ihrem Lebenszusammenhang und ihrer Geschichte herausgerissen. Nur die bezüglich der rechtlichen, regionalen und funktionalen Reichweite des Verfahrens „richtigen" Argumente zählen. Sie werden aus ihrem „Weltbild"-Kontext herausgenommen und büßen an Überzeugungskraft ein. Auch wenn der Betroffene nicht mit dem Verfahren und dessen Ergebnis, dem Urteil, einverstanden ist, wird er sich dennoch danach richten, weil er als Rollenträger einsieht, dass weiterer Protest aussichtslos ist und niemand mehr gegen die Entscheidung mobilisiert werden kann. Da Luhmann Legitimität entsprechend definiert oder umdefiniert, erfüllt die Aufgabe des Protestes und die Einstellung weiterer opponierender Handlungen deren Voraussetzungen. Legitimität wird folgendermaßen definiert: „Man kann Legitimität auffassen als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen."80 Der Verfahrensbeteiligte muss die Entscheidung des Gerichts nicht als inhaltlich richtig oder gerecht empfinden, nach dieser Definition von Legitimität wird diese schon hergestellt, wenn er die Entscheidung „hinnimmt". Dieses „Hinnehmen" interessiert Luhmann aber nicht aus der Perspektive des Betroffenen, des Verfahrensbeteiligten, sondern aus derjenigen des sozialen Systems. Entscheidend ist, dass das Verfahren sozialen Protest absorbiert, Akteure zersplittere und isoliere und auf diese Weise die Stabilität des politischen und sozialen Systems sichere. Der im Gerichtsverfahren verhandelte Fall werde seiner möglichen generellen und politischen Implikationen beraubt, bleibe auf der Ebene eines Individualkonfliktes, der keinen Zündstoff für das politische System mehr be194. 79 Dazu: Röhl, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1993, S. 19 f. so LdV, S. 28. 78 L d V , S.

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inhalte. „Natürlich »akzeptiert4 der Betroffene, wenn ihm eine Entscheidung zugestellt wird, die er weder ändern noch ignorieren kann. Dazu braucht man kein Verfahren. Das Problem liegt nicht darin, dies zu bewirken, sondern darin, das Sozialsystem gegen die Folgen der Wahl einer psychischen Lösung für die Verarbeitung dieses Faktums zu schützen. Diese Wahl darf keine soziale Resonanz mehr finden, die dafür aufgebotenen Ressentiments dürfen, wie gesagt, nicht Institution werden. Und dies ist der Grund, aus dem der einzelne durch ein Verfahren dazu gebracht werden muss, seine Position freiwillig zu individualisieren und zu isolieren." 81 Luhmann widerspricht damit Vorstellungen, es werde ein normativer Konsens erzeugt, der zur Akzeptanz der Entscheidung82 führe und er widerspricht Parsons83 Vorstellung einer normativen Systemintegration. Die Stabilität des sozialen Systems wird nicht durch normativen Konsens, sondern durch Rollenzuweisungen, die mit einer Protestabsorption und -isolierung verbunden sind, hergestellt.

b) Ambivalenz des Verfahrens Für die Befolgungswahrscheinlichkeit und -motivation gerichtlicher Entscheidungen seitens des handelnden Akteurs ist damit aber wenig gewonnen. Angenommen Gerichtsverfahren haben diese entlastende Funktion für das Gesamtsystem, weil sie Protest isolieren; aus der Perspektive des handelnden Akteurs folgt daraus noch nicht, dass er individuelle Strategien aufgibt, um die Konsequenzen der missliebigen Entscheidung zu umgehen, ihre Wirkung faktisch zu neutralisieren. Noch schwieriger wird es, was zu zeigen ist, aus der analog konstruierten Funktion des Wahlverfahrens auf einen allgemeinen Rechtsgehorsam zu schließen. Betrachtet man die oben zitierte Passage genau, fällt auf, dass Luhmann hinsichtlich der individuellen Bereitschaft, einer Gerichtsentscheidung Folge zu leisten, in Wahrheit auf das bekannte Argument mit dem äußeren staatlichen Zwang zurückgreift. Er unterstellt, dass der Betroffene eine Entscheidung akzeptiert, die er weder ändern noch ignorieren kann. Dieses Nicht-Ignorieren-Können lässt sich nur als Hinweis auf den Zwangsmechanismus verstehen, der auch bei Luhmann hinsichtlich der individuellen Folgebereitschaft die Legitimation durch Verfahren in Wahrheit wieder verdrängt hat. Letztlich sorgt auch bei Luhmann der staatliche Zwangsapparat dafür, dass die Gerichtsentscheidung nicht ignoriert werden kann und deshalb vom Adressaten befolgt wird. Auch die These, dass Verfahren dafür sorgen, Protest zu absorbieren und zu isolieren, verliert bei genauerem Hinsehen die Plausibilität des ersten Anscheins.84 si LdV, S. 120. 82 Prominent sind die Ansätze für eine prozedurale Gerechtigkeitstheorie von Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit) und Habermas (Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln; ders., Volkssouveränität als Verfahren, Merkur 1989, S. 465. 83 Vgl. oben: Programmierung durch internalisierte Werte. 84 Vgl. Fisahn, NJ 1996, S. 66 f.

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„Es scheint mithin", schreibt Luhmann, „dass eine Legitimation durch Verfahren nicht darin besteht, den Betroffenen innerlich zu binden, sondern darin, ihn als Problemquelle zu isolieren und die Sozialordnung von seiner Zustimmung oder Ablehnung unabhängig zu stellen." 85 Es sind jedoch verschiedene geschichtliche Beispiele bekannt, dass im Verfahren bewusster Regelverstoß geübt wurde, um so das Verfahren als Medium zur öffentlichen Bekanntgabe von Protest zu „missbrauchen". 86 Dem Verfahren wird damit bewusst ein anderer Sinn gegeben; ζ. B. dient das Strafverfahren bei solchen bewussten Verstößen nicht zur Feststellung der Schuld des Angeklagten, sondern zur Anklage der Ankläger. Im Ergebnis können Verfahren ebenso der Herstellung einer Öffentlichkeit und damit eines Resonanzbodens für den Protest, der ansonsten nicht nach außen dringen könnte, dienen. Neben dieser „bewussten" Nutzung des Verfahrens zur Herstellung von Öffentlichkeit, kann es hinter dem Rücken der Beteiligten als Katalysator für Protest wirken. Verfahren können erst zur Konstituierung und Formierung des Protestes führen, indem der Zwang zur Auseinandersetzung und zum Argumentieren der Entwicklung durchdachter und kohärenter Positionen und Erwartungshaltungen dient und diffuse Wertorientierungen Privater sich über das Verfahren zu präzisen Forderungen und Konzepten sozialer Gruppen, die sich ansonsten nicht als solche konstituiert hätten, entwickeln. Das Verfahren kann die Institution sein, in der sich der kommunikative Prozess der „Zivilgesellschaft" erst bildet 87 , weil die telegene Vereinzelung und das kommunikationslose Marktgeschehen durchbrochen werden. Das geht über expressive Funktionen des Verfahrens, d. h. die Nutzung des Verfahrens zur Selbstdarstellung, der wiederum eine integrative Wirkung zugeschrieben wird 8 8 , hinaus. Die Möglichkeit der Expressivität im Verfahren schafft die Bedingungen von Öffentlichkeit bzw. Gegenöffentlichkeit und zur Konstituierung von sozialem Protest. Die Wirkung des Verfahrens ist also mindestens ambivalent und schwankt zwischen Protestabsorption und Protestkonstituierung. Bei dieser Widersprüchlichkeit muss man wohl stehen bleiben, d. h. es hängt von der konkreten politisch-historischen Situation, der Ausgestaltung des Verfahrens und der Initiative der handelnden Akteure ab, ob es eher technokratisch-integrativ wirkt, oder Chancen zur Artikulation und Formierung sozialen Protestes bietet. Luhmanns spezielle Legitimationsthese ist deshalb in ihrem Ausschließlichkeitsanspruch wenig überzeugend.

85 LdV, S. 121. 86 August Bebel verstand das Parlament bekanntlich als Plattform für revolutionäre Agitation und nicht als Gesetzgebungsorgan mit den dafür vorgesehenen Verfahren. Dimitroff benutzte die Reichstagsbrandprozesse gegen ihn als Tribüne zur Anklage des Nazi-Terrors. 87 Eder, in: Grimm, Wachsende Staatsaufgaben.... S. 157. 88 Röhl, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1993, S. 17. *

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c) Wahlverfahren Luhmanns Überlegungen zur Funktion von Gerichtsverfahren beziehen sich auf die Legitimation bzw. Folgebereitschaft in einem rechtlich umstrittenen und problematisch gewordenen Fall - eben weil er vor Gericht ausgetragen wird. Was notwendig zu einer Mobilisierung des staatlichen Apparats führt und im Zweifel auch dazu führen wird, dass das Urteil vollstreckt wird. Für die Stabilität sozialer Systeme und auch für eine Theorie der Rechtsbefolgung kann aber der Verweis auf die problematisch gewordenen Fälle nicht ausreichen. Recht muss sich in der übergroßen Mehrzahl der Fälle gleichsam selbst vollziehen, es muss in der Mehrzahl der Fälle befolgt werden, ohne dass der staatliche Apparat tatsächlich zum Einsatz kommt. Das sieht auch Luhmann und er versucht deshalb, die These von der Legitimation durch Verfahren auf das Wahl- und Rechtsetzungsverfahren zu übertragen, die dann zu einer allgemeineren Legitimation des Rechts und zu einer allgemeineren Folgebereitschaft gegenüber dem korrekt gesetzten Recht führen. Die Frage nach der legitimatorischen Wirkung der Wahl und formalen Rechtsetzung formuliert Luhmann präzise als Frage nach den Gründen für die Befolgung des positiven Rechts: „Warum soll ein vernünftiger Mensch", fragt er, „deswegen zum TÜV fahren, deswegen auf einen geplanten Hausbau verzichten, deswegen sich impfen lassen, deswegen Steuern zahlen usw., weil er hin und wieder einen Stimmzettel ankreuzen darf?" 89 Auf diese Frage habe die Theoriegeschichte bisher keine Antwort gefunden. Die so gestellte Frage macht nicht nur die Gründe für die Rechtsbefolgung zum Problem, sondern hat mit dem Hinweis auf den Wahlzettel gleichzeitig demokratiekritische Implikationen. Sie deutet an, dass die demokratietheoretische Begründung von Legitimation und Rechtsfolgebereitschaft nicht überzeugend ist und deshalb ein Gegenentwurf auf der Tagesordnung stehe. Tatsächlich betreibt Luhmann denn auch viel Aufwand, um die demokratietheoretische Interpretation des Wahlund Rechtsetzungsverfahrens zu kritisieren. Die demokratietheoretische Deutung der Wahl als Verfahren zur Legitimation der gesetzgebenden Gewalt kraft Zustimmung des Volkes sei unhaltbar. Die klassischen Theorien der Demokratie seien mit ihrer „historischen Mission ... überholt und am Ende. In ihrer Blickbahn lässt sich die politische Wirklichkeit, die sie herbeizuführen halfen, nicht angemessen begreifen." 90 Nach solchen und ähnlichen Ankündigungen einer vollständigen Renovierung der Theorie der legitimierenden Kraft des Wahlverfahrens, wartet man auf Luhmanns großen Wurf, der jedoch zumindest im Hinblick auf die selbst gestellte Frage nicht weit reicht. Einerseits verweist Luhmann auf die bekannten Komplexitäts- und Unbestimmtheitsüberlegungen, um die Funktion des Wahlverfahrens zu bestimmen. Die Wahl leiste „an kritischer Stelle" (?) einen Beitrag zur Ausdifferenzierung des politisi LdV, S. 167. 90 LdV, S. 153.

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sehen Systems.91 Diesem werde hohe Komplexität und strukturelle Unbestimmtheit verschafft, was es dem System erlaube, sich den rasch verändernden Gegebenheiten der Gesellschaft anzupassen. Wahlen reduzierten die Komplexität möglicher politischer Entscheidungsalternativen und -motive, eben auf die zur Wahl stehenden Alternativen, womit das politische System von den Erwartungen, die aus anderen gesellschaftlichen Rollen / Funktionen der Wähler entspringen, entlastet werde. 92 Diese allgemeinen Paradigmen der Systemtheorie können die Frage, warum ein vernünftiger Mensch zum TÜV fahren sollte, jedoch nicht beantworten. Die Entscheidungsoffenheit und -flexibilität des politischen Systems, die Luhmanns Annahmen zufolge durch Wahlen geschaffen wird, kann einen vernünftigen Menschen kaum motivieren zum TÜV zu fahren; eher im Gegenteil: weiß der Mensch bei Entscheidungsoffenheit doch nicht, ob es nach der Wahl noch einen TÜV gibt. Als Legitimationsgrund bleibt bei Luhmann wenig: „Die politische Wahl bietet eine Gelegenheit für den Ausdruck von Unzufriedenheit ohne Strukturgefährdung, also für expressives Handeln, das entlastend wirkt. Sie gehört insofern zu den Mechanismen der Absorption von Protesten ähnlich wie die Gerichtsverfahren diese Funktion miterfüllen." 93 Trotz der Analogie zum Gerichtsverfahren überträgt Luhmann den Grundgedanken des technokratisch-integrativen Ansatzes, durch Teilnahme am Rollenspiel (Gerichts-)Verfahren akzeptiert der Akteur dessen Regeln und Ergebnisse, nicht auf das Wahlverfahren. Damit wäre er zu nahe an der klassischen demokratietheoretischen Zustimmung durch Wahl. Aufgegriffen wird nur die dahinter liegende Annahme der Absorption individuellen Protestes, der individuell bleiben soll, keine Auswirkungen auf das Gefüge des politischen und sozialen Systems insgesamt haben soll. Die wesentliche Funktion der Wahl wird damit Protestabsorption. Nun erscheint es zweifelhaft, diese Funktion als die zentrale bei der Wahl herauszustellen, wenngleich sie neben anderen eine Rolle spielen dürfte. Selbst wenn man aber dieser Funktionsbestimmung folgt, eine Antwort auf die Legitimationsfrage ist damit noch nicht gegeben. Der „vernünftige Mensch" soll nun deshalb zum TÜV fahren, weil er alle vier Jahre durch das Ankreuzen eines Stimmzettels seine politische Enttäuschung abführen kann - eine wenig überzeugende Vorstellung. Sie ist jedenfalls um nichts überzeugender als die Vermutung, durch das Ankreuzen des Wahlzettels werde der Verpflichtung zum TÜV zu fahren zugestimmt. Der Absorption von Protest stellt Luhmann eine zweite wesentliche Funktion zur Seite: „eine Art negatives Vertrauen". Jeder Wähler könne darauf vertrauen, dass beim Akt der Wahl die anderen Wähler in der gleichen Lage sind wie er, ihm gegenüber nicht begünstigt werden. „Der Wahlmechanismus vermittelt als solcher keine sozialen Ungleichheiten in das politische System." Dadurch werde „natürlich keine Demokratie" geschaffen, aber das Gleichheitsprinzip erhalte damit eine so 91 LdV, S. 173. 92 LdV, S. 168. 93 LdV, S. 171.

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prominente Position, dass ein Abweichen von diesem bei der Rechtsetzung oder Anwendung einer Rechtfertigung bedürfe. 94 Luhmann scheint mit diesem Gedankengang Legitimation an eine zumindest negative Verwirklichung des Gleichheitspostulats zu knüpfen - alle sind der Herrschaft gleichermaßen unterworfen und können sich an der Auswahl des Herrschaftspersonals gleichermaßen beteiligen. Auf welchem Wege daraus eine fundamental neue Begründung von Legitimation werden könnte, wird nicht weiter expliziert. Die gleiche Herrschaftsunterwerfung, d. h. Herrschaft vermittels des allgemeinen Gesetzes, die gesetzliche Willkür ebenso ausschließt wie Anwendungswillkür, wird in der traditionellen Theorie als Element des Rechtsstaates, nicht der Demokratie diskutiert. Der Rechtsstaat kann aber auch ohne Demokratie, d. h. ohne Wahlverfahren existieren. Legitimität wird dem Rechtsstaat im Vergleich mit der ungesetzlichen, despotischen Willkürherrschaft zugebilligt, weil er über die Berechenbarkeit der Herrschaftsgewalt ein gewisses Maß an Freiheit gewährleiste 95, nicht aber im Vergleich zur Demokratie. Sollte bei Luhmann dieser Gedanke gemeint sein, reduziert er erstens die demokratische Wahl auf die Gewährleistung oder Erzeugung eines Rechtsstaates. Zweitens bleibt er bei der Legitimation qua Zustimmung. Der Rechtsstaat kann über die Gewährleistung eines beschränkten Maßes an Freiheit passive Zustimmung erzeugen. Damit verwirklicht er gegenüber der von der Demokratie und dem Wahlverfahren geforderten aktiven Zustimmung ein Minus an Legitimation, aber keine grundsätzlich andere. Diese hatte Luhmann jedoch angekündigt. So lässt sich zusammenfassend festhalten: Luhmann knüpft in seiner Begründung von Legitimität an Webers Legalitätsglauben an, will diesen aber auf eine argumentativ solidere Basis stellen. Das gelingt ihm aber höchst unzureichend. Zwar kann er die technokratisch-integrative Funktion von Gerichtsverfahren als einen neuen Gesichtspunkt überzeugend exemplifizieren. Das reicht aber zur Begründung der allgemeinen Bereitschaft zur Rechtsbefolgung nicht aus. Die Darlegung der legitimierenden Funktion des Wahlverfahrens fällt demgegenüber erheblich schwächer aus. Die Isolierung des Wählers und der Wählerin, die Reduktion auf diese Rolle beim Wahlakt selbst und die damit verbundene Reduktion von Entscheidungsalternativen vermag nicht zu begründen, warum der Akteur in anderen Rollen die Reduktion von Entscheidungsalternativen hinnehmen sollte, seine politischen oder ethischen Vorstellungen aufgeben und sich an die Entscheidungen des politischen Systems gebunden fühlen sollte. Wenig überzeugend ist auch, den legitimierenden Charakter der Wahl in der Protestabsorption zu sehen. Das „negative Vertrauen" führt - zu Ende gedacht - auf traditionelles Terrain zurück, erreicht aber dessen Diskussionsstand nicht. Auf die selbstgestellte Legitimationsfrage findet Luhmann bei der Analyse der demokratischen Wahl kein überzeugendes Argument. „Legitimation durch Verfahren" ist eine der früheren Schriften Luhmanns, in der er sein Hauptthema „Reduktion von Komplexität" zwar schon gefunden hat, die 94 LdV, S. 172. 95 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 302 f; ders., Funktionswandel, S. 50.

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systemtheoretische Begrifflichkeit aber noch recht unausgeprägt ist. Insbesondere hat er die Systemtheorie noch nicht zur Theorie autopoetischer Systeme weiterentwickelt, die zum zentralen Erklärungsmodell in den späteren Schriften 96 werden soll. Im Rahmen der Theorie autopoetischer Systeme dürfte die zitierte Legitimationsfrage schon falsch gestellt sein, da der Mensch als Akteur im System vom Mittelpunkt des Interesses an den Randbereich rückt, er wird zur Umwelt des Systems und er wird selbst in verschiedene autopoetische Systeme zerlegt und sich somit selbst zur Umwelt, bzw. das Selbst löst sich auf. Mit seiner Theorie autopoetischer Systeme radikalisiert Luhmann die objektivistischen soziologischen Theorien und verschärft damit auch die Probleme bei der Bestimmung des frei gesetzten Rechts. Die Steuerungsleistungen des Rechts verschwinden in unbestimmten strukturellen Kopplungen und Irritationen anderer Systeme.97 Spöttisch formuliert könnte man behaupten, dass das Problem der Theorie autopoetischer Systeme nicht das Motiv ist, das einen vernünftigen Menschen veranlasst, zum TÜV zu fahren. Sondern zum Problem wird, wie es die verschiedenen autopoetischen Systeme über strukturelle Kopplungen und gegenseitige Irritationen schaffen, sich so aufeinander abzustimmen, dass der „vernünftige Mensch" schließlich beim TÜV landet und dort eine Sicherheitsuntersuchung stattfindet. Dieser einfache Vorgang erscheint aus der steuerungspessimistischen Perspektive der Theorie autopoetischer Systeme geradezu als Wunder oder - in der Diktion der Systemtheorie - als unwahrscheinliches Ereignis. Die verschiedenen Probleme, die mit Luhmanns Radikalisierung des Objektivismus auftreten, sollen hier nicht weiter interessieren, für unsere Fragestellung ist die oben erfolgte Diskussion objektivistischer Theorievarianten ausreichend.

I I I . Demokratie - Akzeptanz durch Zustimmung? 1. Versuch einer Systematisierung Demokratische Legitimationstheorien haben gegenüber den erörterten Konstruktionen der Legitimität aus Legalitätsglauben oder Verfahren den Vor- und Nachteil, dass sie Legitimität nicht unabhängig von der Staatsorganisation, der Staatsform oder Verfassung denken, sondern Legitimität notwendig an eine demokratische Verfassung des Staates oder der Gesellschaft koppeln. Dies ist deshalb ein Vorteil, weil Legitimität auf den „Willen" der im Staat organisierten Bürgerschaft zurückgeführt werden kann, sich gleichsam von selbst ergibt. Die Bindung der Legitimation an die Demokratie hat aber gleichzeitig den Nachteil, dass Kritiker die empirische Rückbeziehung staatlicher Macht auf die Gesellschaft, auf den „Willen des Staatsvolkes" bezweifeln und damit den normativen Grund der Legitimität in Fra96 Vgl. zunächst: Luhmann, Soziale Systeme; abschließend (?): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 97 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 440 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

ge stellen können. Diese Lage der demokratischen Legitimation zwischen normativer Begründung und empirischer Analyse ermöglicht zugleich die erste Unterscheidung in der Fülle der Theorieerzeugnisse, die sich unter den Titel Demokratietheorien subsumieren lassen und die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, Facetten und Nuancen hier nicht darstellbar sind und im Rahmen der Frage nach Gründen der Rechtsbefolgung auch nicht im einzelnen diskutiert werden müssen. Demokratietheorien lassen sich unterscheiden in normative und empirische Demokratietheorien. Normativen Demokratietheorien ist nach meinem Verständnis daran gelegen, demokratische Verfassungen als (mehr oder weniger 98 ) legitim zu rechtfertigen, Gründe für die demokratische Organisation der Gesellschaft zu entwickeln 99 . Empirische Demokratietheorien setzen dagegen den normativen Idealen der Demokratie deren „Wirklichkeit" in kritischer 100 und/oder reformerischer 101 Absicht oder als „wertneutrale" Deskription 102 entgegen. Diese Unterteilung kann offenkundig nur systematisierenden Zwecken dienen, tatsächlich finden sich immer Mischungen und Verbindungen der unterschiedlichen Gesichtspunkte.103 Empirische Demokratietheorien zielen nicht - oder wenn in kritischer Absicht auf die Legitimität einer demokratischen Staatsorganisation, sie orientieren sich nicht an der Frage, warum Demokratien legitim sind, bzw. welche Form der Willensbildung legitim ist, sondern halten allenfalls dem normativen Ideal der Legitimität die harte Wirklichkeit entgegen. Aus diesem Grunde können sie primär zum Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimität und Rechtsbefolgungswahrscheinlichkeit wenig beisteuern, sie bieten sich aber an als Perspektivenwechsel, der den normativ entwickelten Zusammenhang kritisch hinterfragen kann. Zunächst rücken also die normativen Demokratietheorien in den Mittelpunkt des Interesses. Auch hier muss die Fülle der angebotenen Theorievarianten zusammenfassend systematisiert werden. Aufgegriffen werden zwei Systematisierungsvorschläge, die aus unterschiedlichen Theorietraditionen und unterschiedlichen Disziplinen stammen. Michelman 104 und ihm folgend Habermas 105 unterscheiden aus der po98 Vgl. unter den klassischen Theorien: Marx, Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich" - die Pariser Kommune, MEAW Bd. IV, S. 15 ff. 99 Vgl. unter den klassischen Theorien: Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, passim; Mill, Considerations on Representative Government, passim (S. 55 ff.); ders., Democracy and Government, passim. 100 Vgl. etwa: Agnoli, Die Transformation der Demokratie, passim; Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, passim. 101 Vgl: Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, passim, (S. 63). 102 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 421 ff.; Weber, WuG, S. 851 ff. i 103 Die normative Demokratietheorie kommt z. B. selbstverständlich nicht ohne einen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit aus und versucht diese regelmäßig im normativen Modell zu berücksichtigen. 104 Michelman, Florida Law Review 1989, S. 443 ff. 105 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 324 ff.; ders., Drei normative Modelle der Demokratie, S. 277 ff.

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litologisch-sozialphilosophischen und gleichzeitig der anglo-amerikanischen Perspektive zwischen einer „liberalen" und einer „republikanischen" Auffassung der Demokratie. Rinken 106 unterscheidet aus der rechtswissenschaftlichen und kontinentaleuropäischen (oder spezifisch deutschen) Perspektive zwischen dem Staatsdenken und dem Verfassungsdenken als Ausgangspunkt der Interpretation der Demokratie. Es ist darzulegen, inwieweit diese systematischen Unterscheidungen kompatibel sind bzw. inwiefern sie verschiedene Aspekte aufgreifen und es sind die Implikationen für die Legitimität des Rechts und der Wahrscheinlichkeit seiner Befolgung herauszuarbeiten und zu diskutieren.

a) Die liberale Auffassung Die liberale Auffassung der Demokratie ist nach Michelman und Habermas dadurch gekennzeichnet, dass Staat und Gesellschaft strikt getrennt sind. Die Gesellschaft ist dem Staat vorgelagert und ihre Mitglieder sind Träger von dem politischen Prozess vorgelagerten Rechten, insbesondere Grundrechten und Grundfreiheiten 107 , auf die der Staat nur einen beschränkten Zugriff hat. Gleichzeitig sind sie mit besonderen der Vergesellschaftungsform, insbesondere der Ökonomie entspringenden individuellen Interessen ausgestattet.108 Der Staat wird konzipiert als administrative Macht, die über einen politischen Willensbildungsprozess programmiert wird. Sie tritt den besonderen Interessen als Allgemeininteresse gegenüber, der Staat ist auf die „administrative Verwendung politischer Macht für kollektive Ziele spezialisiert" 109 . Die dem Staat vorgelagerten Rechte werden als negative Rechte, als Abwehrrechte 110 gegen den Staat konzipiert. Freiheit wird als Freiheit vom Staat, als Freiheit vor staatlichen Zugriffen konzipiert. 111 Die unterschiedlichen Interessen werden im politischen Prozess vereinheitlicht, aufeinander abgestimmt oder schlicht majorisiert. 112 Die politische Willensbildung wird als Aggregation der unterschiedlichen Interessen über die demokratischen Verfahren vorgestellt. Sie wird gewährleistet durch politische Rechte, die dem Staat ebenfalls vorgelagert sind und den Staatsbürgern die Möglichkeit geben, ihre Interessen in den Prozess der politischen Willensbildung einzubringen. Die Wahl wird als rationale Wahl nach vorgenommenen Präferenzsetzungen, die den gegebenen individuellen Interessen folgen, vorgestellt. Sie legitimiert den Staat, die Präferenzen der Mehrheit als Allgemein106 Rinken, Demokratie und Hierarchie, in: KritV 1996, S. 292 ff. io? Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, S. 161. i°8 Maihofer, Prinzipien ... Rdnr.17 ff. 109 Habermas, Drei normative Modelle, S. 277. no Von Jellinek klassifiziert als status negativus (System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87). m Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 235 f. h 2 Maihofer, Prinzipien.., Rdnr.75 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

interesse durchzusetzen. Die Wahlhandlung der Akteure wird so der rationalen Zweck-Kalkulation der Marktteilnehmer nachgebildet. Der politische Prozess wird als Kampf um Machtpositionen, um Verfügungsmacht über administrative Machtressourcen konzipiert. Die in der Wahl unterlegene Minderheit wird durch die grundrechtliche Beschränkung und das System der check and balances davor geschützt, von der Mehrheit unterdrückt zu werden. 113

b) Die republikanische Auffassung Die republikanische Auffassung kennzeichnen Habermas und Michelmann durch die Konstitution des Staates in den „sittlichen" und „solidarischen" Lebenszusammenhängen der Zivilgesellschaft. Der Staat wird auf ein Fundament solidarischer Gemeinschaften in der Zivilgesellschaft aufgebaut. 114 In dieser werden Allgemeinwohlinteressen und politische Inhalte durch kommunikative Prozesse in der politischen Öffentlichkeit ermittelt und von dort in den Staat transformiert, der dann das Allgemeininteresse nicht mehr definieren, sondern nur noch vermittels administrativer Macht - gegen Abweichler - durchsetzen muss. In der etwas lyrischen Formulierung von Habermas wird Politik zum „Medium, in dem sich die Angehörigen naturwüchsiger Solidargemeinschaften ihrer Angewiesenheit aufeinander innewerden und als Staatsbürger die vorgefundenen Verhältnisse reziproker Anerkennung mit Willen und Bewusstsein zu einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen fortbilden und ausgestalten."115 Die Gesellschaft wird nicht als Konglomerat interessengeleiteter Nomaden verstanden, sondern als über die Öffentlichkeit konstituierte Zivilgesellschaft, die die Staatsbürger „sittlich" integriert und den Unterbau für den Staat bildet. Die politische und administrative Macht wird dann nicht der Gesellschaft entgegen gesetzt, sondern über die Willensbildungsprozesse in der Öffentlichkeit an die normativ entwickelten Allgemeinwohlvorstellungen der Zivilgesellschaft 116 zurückgekoppelt. Rechte werden nicht als dem Staat vorgelagerte Rechte konzipiert, sondern als sich gegenseitig zuerkannte und staatlich abgesicherte Rechte, die Rechte existieren erst mit und im Staat. Freiheit wird deshalb nicht verstanden als negative Freiheit, als Freiheit vom Staat, sondern als positive Freiheit, als Freiheit im Staat. Es ist die Freiheit zur Teilhabe an der staatlichen Willensbildung der Selbstbestimmung der Bürger als freie und gleiche in der staatlichen Gemeinschaft. Rechte schützen nicht vor dem Staat, sondern anerkennen die gleichberechtigte Teilnahme der Staatsbürger an der staatlichen Willensbildung und der selbstbestimmten Definition des Allgemeinwohls, in der diese Rechte erst „gleichursprünglich" konstitu113 Vgl. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, S. 277 ff.; ders. Faktizität und Geltung, S. 324 ff. 114 Bezugspunkt ist vor allem: Arendt, Über die Revolution, S. 277 ff. us Habermas, Drei Modelle, S. 277 f. 116 Rödel /Frankenberg, Die demokratische Frage, passim.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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iert werden. 117 Demokratische Legitimation wird nach der republikanischen Konzeption nicht auf den Wahlakt reduziert. Die Wahl wird vielmehr gleichsam symbolischer Akt der Selbstverständigung 118, der Rückbindung an den verfassungsgebenden Gründungsakt des Staates. Legitimation bezieht die administrative Macht aus ihrer Rückbindung an kommunikative Macht, an die Willensbildung in der politischen Öffentlichkeit, die vermuten lässt, dass im verständigungsorientierten, gleichberechtigten Diskurs vernünftige oder richtige Ergebnisse erzielt werden. „Darum hat der in der politischen Arena ausgetragene Meinungsstreit legitimierende Kraft nicht nur im Sinne einer Autorisierung des Zugriffs auf Machtpositionen, vielmehr hat der kontinuierlich geführte politische Diskurs auch für die Art der Ausübung politischer Herrschaft bindende Kraft." 1 1 9 Die republikanische Konzeption von Demokratie, Staat und Gesellschaft, wie sie von Habermas vorgestellt wird, ist offensichtlich normativ im „schlechten Sinne", dass sie der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht entspricht. Er kritisiert denn auch die „ethische Engführung politischer Diskurse" im republikanischen Modell, um im Anschluss an dieses Modell ein realistischeres Modell der „deliberativen Politik" zu entwickeln, das strategisches, interessengeleitetes Handeln der Akteure in die republikanischen Überlegungen einbezieht ohne diese wie im liberalen Modell absolut zu setzen. 120 Ein Blick auf die Unterscheidung von Rinken zeigt jedoch, das sehr unterschiedliche politische Vorstellungen an das republikanische Modell anknüpfen können, nämlich eine radikaldemokratische, die Habermas entwickelt, und eine staatsorientierte.

117 Hier handelt es sich offenbar um einen Zirkel. Rechte müssen vorausgesetzt werden, um gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten. Gleichzeitig müssen diese Rechte in gleichberechtigten politischen Prozessen erst bestimmt werden. Diesen Zirkel (vgl. dazu Gerstenberger, Deliberative Politik, passim) wird man durch den Begriff der deliberativen Politik und durch logische Operationen nicht auflösen können. Notwendig scheint vielmehr ein Blick in die Dialektik von Recht und Demokratie in der realen geschichtlichen Entwicklung. Zunächst wurden subjektive Rechte installiert, aber regelmäßig nicht von den Fürsten generös zugestanden, sondern politisch erkämpft, was eine vorgängige „demokratische" Verständigung über diese Rechte voraussetzte (vgl. zur philosophiegeschichtlichen Begleitung dieses Kampfes: Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, passim). us Habermas, Drei Modelle, S. 285. 119 Habermas, aaO., S. 283. 120 Der Verdacht liegt nahe, dass Habermas, das Kondensat des republikanischen Modells so konstruiert, dass seine Konzeption deliberativer Politik als vermittelnde Meinung im Glanz einer realistischen Konzeption erscheinen muss. Die Freiheit der zugespitzten Interpretation der Klassiker macht aber auch deren Schwachstellen deutlich. Als Gewährsleute für das republikanische Modell zieht Habermas, Rousseau, H. Arendt (Über die Revolution; Macht und Gewalt) und die US-amerikanischen Kommunitaristen (Taylor, Negative Freiheit) heran.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

c) Staatsdenken Diese Differenzierung der republikanischen Auffassung ergibt sich, wenn man mit Rinken 121 die staatstheoretischen Konzeptionen und die daran anschließende Konzeptionierung der Demokratie scheidet in Verfassungsdenken und Staatsdenken. Ausgangs- und Fixpunkt des Staatsdenkens122 ist nach dieser Unterscheidung die Einheit der Staatsgewalt. Sie wird vorgestellt als zentrale Willensmacht und Letztentscheidungsgewalt, die alle Äußerungen staatlichen Handelns strukturiert, bzw. aus der alle Staatstätigkeiten abgeleitet werden können, während sie selbst als unabgeleitet erscheint. Der Staat, die Staatsgewalt ist das einheitliche Prinzip, das der Verfassung vorgeordnet ist, er ist die Konstante, die Verfassung als formgebendes Element die Variable. Die Verfassung wird so zur Staatsverfassung. Entlehnt ist diese Konzeption den frühen, noch monarchischen Nationalstaaten, deren einheitlicher Wille beim Souverän, d. h. beim Monarchen angesiedelt wurde. Mit dem Übergang zur demokratischen Verfassung hat nur ein Übergang der Souveränität vom Fürsten des Obrigkeitsstaates auf das Volk stattgefunden. Der Souveränitätsbegriff und das Konstrukt eines einheitlichen Willens des Staates wurde in die demokratische Staatsverfassung perpetuiert, mit der Konsequenz, dass erstens die Demokratie sich auf den Wahlakt beschränkt und der einheitliche Wille des Staates, dann in dessen Institutionen, insbesondere der Regierung zu finden ist. Zweitens musste ein einheitliches Trägersubjekt der Souveränität konstruiert werden. „Aus dem monistischen Souveränitätsbegriff folgt zwingend ein monistischer Volksbegriff." 123 „Das Volk" wird als einheitliches Staatsvolk konstruiert. 124 Die Ableitung der Staatsgewalt aus einem einheitlichen Staatswillen verlangt eine der Verfassung vorgelagerte hierarchische Konstruktion des Staates, in der über hierarchische Weisungsketten der Staatswillen bis an die „kleinsten" ausführenden Organe weitergegeben und vermittelt wird. 1 2 5 Das demokratische Element beschränkt sich dann wiederum auf eine Ableitung, nämlich die Ableitung der einheitlichen Staatsgewalt und des staatlichen Willens aus dem Willen des einheitlichen Volkes, der in der Wahl zum Ausdruck gebracht wird, dann aber seine Schuldigkeit getan hat und auf die Staatsorgane übergeht.

121 Rinken, KritV 96, 282/292. ι 2 2 Diese Position findet sich - selbstverständlich weniger kondensiert und zugespitzt etwa bei Isensee, Handbuch des Staatsrechts, § 13, passim; Merten, VVDStRL 55, 1996, S. 7 ff.; Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 12 ff. 123 Rinken, KritV 96, S. 292. 124 Das hatte erhebliche Konsequenzen in der Entscheidung des BVerfG zum kommunalen Ausländerwahlrecht, das als verfassungswidrig verworfen wurde, weil die Staatsgewalt vom deutschen Volke ausgehe (BVerfGE 83, 37). 125 Diese Konstruktion leitete das BVerfGE bei seinen Entscheidungen zur Mitwirkung der Personalvertreter (BVerfGE 9, 268; 93, 37).

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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d) Verfassungsdenken Ausgangspunkt des Verfassungsdenkens 126 ist dagegen nicht die Einheit des Staates, sondern die Pluralität der Gesellschaft, die Pluralität in der Zivilgesellschaft. Der Staat wird dann aus der Perspektive der Zivilgesellschaft gesehen als Ergebnis eines „Vertrages", der den Staat konstituiert. Dieser Vertrag ist nicht Unterwerfungsvertrag, sondern Verständigung der Bürger über die Art und Weise ihres Zusammenlebens, Sozialvertrag. Vorausgesetz ist dann ein öffentlicher Verständigungsprozess in der Zivilgesellschaft über die Regeln und den Rahmen des Zusammenlebens, die in der Verfassung verankert werden. Der Staat basiert auf diesen konkreten Normen und Regeln der Verfassung und ist ihr nicht vorgelagert. Politische Willensbildung im Staat wird durch die Verfassungsnormen geregelt, die aber nicht dem vorgegebenen einheitlichen Prinzip Staat und Souveränität untergeordnet sind. „Die Verfassung ist nicht nur Staatsverfassung, sondern Verfassung des politischen Gemeinwesens."127 Das Verfassungsdenken setzt keinen monistischen Volksbegriff voraus, sondern geht von der politischen Willensbildung unter der Voraussetzung pluralistischer Ideen 128 und divergierender Interessen nach den Regeln der Verfassung aus. Der politische Prozess, als Prozess politischer Entscheidungsfindung vollzieht sich dann nicht nur durch den einmaligen Akt der demokratischen Wahl, sondern ist - je nach der Ausgestaltung der Verfassung - permanentes Kontinuum im Wechselspiel zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen. Die Legitimität staatlicher Entscheidungen hängt zwar zentral auch von der demokratischen Wahl ab, muss aber gleichzeitig die Möglichkeiten und Bedingungen der Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und staatlichen Institutionen berücksichtigen. Prüft man die von Michelman / Habermas vorgeschlagene Einteilung auf die Vereinbarkeit mit der staatstheoretischen Unterscheidung von Rinken, ergibt sich keine Unvereinbarkeit der Kategorien, sondern die Notwendigkeit, die Kategorien miteinander zu kombinieren, um so die unterschiedlichen Strömungen vollständig zu erfassen. Bei den Kombinationsversuchen zeigt sich schnell, dass es nur drei mögliche Kombinationen gibt: republikanisches Staatsdenken, liberales Verfassungsdenken und republikanisches Verfassungsdenken - eine Kombination, nämlich liberales Staatsdenken scheidet begriffsnotwendig aus. Diese Kombination, die zu einer Dreiteilung der Auffassungen von Staat, Demokratie und Legitimität führen, ist nicht nur kategorial möglich, sondern lässt sich mit den realen politischen Strömungen 129 und deren Staatsverständnis in Übereinstimmung bringen.

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Gewährsleute für das Verfassungsdenken sind etwa: Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess; Müller, Die Einheit der Verfassung; Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem. 127 Rinken, KritV 96, S. 294 f. 128 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 297 ff. 129 Vgl. zu deren Entwicklung und Wandlung: Eder, Geschichte als Lernprozess?, S. 123 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

2. Demokratiekonzeption

und Rechtsbefolgung

a) Republikanisches Staatsdenken und Rechtsbefolgung Im republikanischen Staatsdenken wird die vom Republikanismus geforderte gesellschaftliche Gemeinschaft als Unterbau des Staates zum Postulat der nationalen Homogenität oder nationalen Gemeinschaft. 130 Der nationalen Homogenität entspricht die Einheit des Staates und die Einheit des staatlichen Willens. In der antidemokratischen Variante ist die Akklamation ausreichend für die Bestätigung und Legitimation der politischen Führung und der staatlichen Willensbildung, weil von der Homogenität des Volkes auf die Übereinstimmung der staatlichen Willensbildung mit dem einheitlichen Volks willen geschlossen wird. 1 3 1 In der demokratischen Variante des republikanischen Staatsdenkens geht mit der Wahl die Willensbildung auf die staatlichen Institutionen über, die Wahl legitimiert für befristete Zeit alle Staatstätigkeit, die keiner weiteren Rückkoppelung an den monistischen Souverän bedarf. 132 Die Souveränität manifestiert sich im Wahlakt und die Legitimation des Staates entspringt aus dem Wahlakt und aus einer gleichsam funktionellen Selbstlegitimation. Fragt man nach den Konsequenzen dieses Legitimationskonzeptes für die Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung, für die Bereitschaft individueller Akteure staatlichen Anordnungen zu gehorchen, drängt sich Luhmanns Frage auf: Warum sollte ein vernünftiger Mensch deshalb zum TÜV fahren, weil er alle vier Jahre ein Kreuzchen auf einen Wahlzettel setzen darf? Auch wenn man sich auf den Standpunkt des Legitimationskonzeptes des republikanischen Staatsdenkens stellt, können aus diesem für die Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung keine positiven Ergebnisse abgeleitet werden. Das ändert sich auch nicht, wenn man das Postulat der nationalen Homogenität hinzunimmt: offenkundig kann die Exklusivität des Wahlvolkes, für dessen individuelle Mitglieder keinen ausreichenden motivationalen Grund abgeben, um den Anordnungen der Staatsmacht - jenseits der zwangsweisen Durchsetzung - Folge zu leisten, schon deshalb weil der Gesichtspunkt der nationalen Einheit als zufällig bzw. falsch gewähltes Kriterium für den einheitlichen Willen erscheint, das die vielfältigen Spaltungen und Segmentierungen der Gesellschaft nicht aufheben oder - ausgenommen in historischen Extremsituationen - auch nur überdecken kann. Knüpft man an die Unterscheidung zwischen objektivistischen und subjektivistischen Theorien an, neigt das republikanische Staatsdenken einem Objektivismus zu, der die Übereinstimmung von Gesetzesanordnungen und individuellen Handlungsorientierungen aus der nationalen Einheit, dem monistischen Begriff des Wahlvolkes ableitet. Damit bleibt diese Auffassung aus der Perspektive einer Theorie der Rechtsbefolgung hinter den erheblich anspruchsvolleren Konstruktio130 131 132

Schmitt, Verfassungslehre, S. 228 ff.; ders., Die geistesgeschichtliche Lage ..., S. 2 ff. So Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage ..., passim, deutlich z. B. S. 22. Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 22.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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nen des soziologischen Objektivismus zurück, da der Gesichtspunkt, der die Übereinstimmung gewährleisten soll, ideologisch gewählt ist und die Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Lebens ausblendet.

b) Liberales Verfassungsdenken und Rechtsbefolgung Das liberale Verfassungsdenken knüpft dagegen an die Pluralität unterschiedlicher Interessen und Positionen in der Gesellschaft an. Der politische Prozess wird als „marktanaloger" Wettbewerb um die Verfügungsbefugnis über die staatlichen Machtapparate interpretiert. Eine Einheit der Interessen oder Präferenzen wird weder in der Gesellschaft noch im Staat vorausgesetzt oder hergestellt. 133 Die demokratische Wahl legitimiert die Ausübung staatlicher Macht i. S. d. der mehrheitsfähigen Interessen und Präferenzen. 134 Die Minderheit wird durch eingebaute Hemmungen der staatlichen Macht, durch das System der Gewaltenteilung135 und den Föderalismus, aus der angloamerikanischen Perspektive ein System von „check and balances" sowie durch die unantastbaren dem Staat vorgelagerten Grundrechte geschützt.136 Die Verfassung bestimmt einerseits die Regeln für den Kampf um die Mehrheitsposition und andererseits die Regeln für die Beschränkung der politischen Macht. Grundlage dieser Konzeption des Staates, der demokratischen Legitimation und des politischen Prozesses ist der strategisch und rational handelnde Homo Ökonomikus, der auch Grundlage der oben diskutierten subjektivistischen Theorie und der ökonomischen Interpretation des Rechts ist. Das liberale Verfassungsdenken ist gleichsam die staatstheoretische Verlängerung der utilitaristischen Anthropologie. Die liberale Auffassung folgt konsequent diesen anthropologischen Prämissen, so dass sich aus der demokratischen Legitimation nur beschränkt zusätzliche Impulse für eine Theorie Rechtsbefolgung ergeben. Der handelnde Akteur verfolgt bei der Wahlhandlung seine rational bestimmten Interessen und folgt seinen rationalen Präferenzsetzungen und er folgt rationalen Kalkülen bei der Befolgung des mehrheitlich beschlossenen Rechts. Stimmen seine Interessen und Präferenzen mit denen der gesetzlichen Anordnungen, d. h. den Präferenzen der Mehrheit überein, folgt er diesen, ansonsten stellt er die oben erörterten Kosten-Nutzen-Rechnungen an. 133 für Fraenkel wird beispielsweise das Gemeinwohl a posteriori zur „regulativen Idee" (Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 272). 134 Maihofer, Prinzipien ..., Rdnr.77 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 5 II 1. 135 Ahnen der Theorie der Gewaltenteilung sind: Locke, Über die Regierung, insbesondere, S. 260 ff.; Montesquieu, Der Geist der Gesetze, passim, S. 212 f.; Kritisch gegenüber der liberalen Interpretation Montesquieus: Althusser, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, S. 33 ff. 136 Maihofer, Prinzipien ..., Rdnr.41 ff.

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Die demokratische Legitimation kann nur als langfristige Strategie in die Kosten-Nutzen-Kalkulation einfließen in dem Sinne, dass eine Nichtbefolgung staatlicher Anordnungen die Autorität des Staates untergräbt, was bei einem Mehrheitswechsel die Chancen vermindert, die eigenen Interessen und Präferenzen durchzusetzen. Die Nichtbefolgung des Rechts kann sich also langfristig als Kostenfaktor niederschlagen. Diese zusätzliche motivationale Quelle, die aus dem demokratischen Spiel um die Machteroberung für die Rechtsbefolgung folgt, dürfte aber eher als schwach einzustufen sein, weil erstens langfristige, unsichere Interessen aktuellen und sicheren Interessen gegenüber stehen und zweitens weil die Kalkulation eine Verallgemeinerung des individuellen Kalküls voraussetzt, für die es aber keine Anhaltspunkte gibt. Die Vorbehalte gegen das individuelle Nutzenkalkül als ausschließlicher Orientierungspunkt individueller Entscheidungen und Handlungen, die oben erörtert wurden, greifen auch an dieser Stelle und müssen nicht wiederholt werden. Die Konstruktion demokratischer Legitimität im liberalen Verfassungsdenken führt, so kann man zusammenfassend feststellen, zu keiner wesentlichen Modifikation der subjektivistisch-ökonomischen Theorie der Rechtsbefolgung. Die Legitimität der Gesetzgebung kann in deren Kontext allenfalls als zusätzlicher Faktor in die rationale Kosten-Nutzen-Kalkulation einfließen, gibt dort aber nur ein schwaches Argument ab. Für die Frage nach der Wahrscheinlichkeit und Bedingung der Rechtsbefolgung führt die liberale Legitimationstheorie nicht wesentlich über den diskutierten subjektiv-rationalistischen Ansatz hinaus.

c) Republikanisches Verfassungsdenken und Rechtsbefolgung Die Kombination der republikanischen Auffassung mit dem Verfassungsdenken scheint vor dem Problem zu stehen, dass erstere vergemeinschaftende Prozesse in der Zivilgesellschaft voraussetzt, während letzteres von der Pluralität des Volkes ausgeht, die in der Verfassung Regeln des friedlichen Zusammenlebens schaffen. Bei genauerem Hinsehen setzt jedoch die diskurstheoretische Variante der republikanischen Auffassung keine substantielle Einheit des Volkes und damit einen monistischen Volksbegriff voraus, der in der Tat zum Staatsdenken führen muss, sondern sie geht von der Pluralität des Volkes aus, das erst im politischen Prozess der Öffentlichkeit Meinungen und Übereinstimmungen herausbildet, die als kommunikative Macht, die administrative Macht legitimiert. 137 Es wird nicht auf eine vorgelagerte Substanz des Volkswillens rekurriert, sondern auf Verfahren und Prozesse, die - jedenfalls für bestimmte Punkte - zu einer vereinheitlichenden politischen Willensbildung beitragen, an die wiederum die Ausübung staatlicher Macht gekoppelt ist. Politik wird nicht als Transport des monistischen Volkswillens in die staatlichen Apparate, sondern als Prozess der politischen „vernünftigen" Willens137 Habermas, Drei Modelle ..., S. 290.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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bildung 138 , die gleichzeitig die Zivilgesellschaft und die staatlichen Institutionen durchdringt, konstruiert. Zwischen der Pluralität des Volkes und der staatlicher Machtausübung wird der intermediäre Bereich des öffentlichen politischen Diskurses angesiedelt, der als Willensbildungsprozess auf die institutionalisierte administrative Macht wirkt und gleichzeitig Regeln des politischen Prozesses und der gegenseitigen Anerkennung voraussetzt und im Prozess herausbildet. Der politische Prozess der diskursiven Willensbildung beruht auf Verfahrensregeln und Schutzmechanismen des Diskurses, die gleichzeitig in diesem Prozess herausgebildet werden. 139 Die bedeutendsten dieser Verfahrensregeln und Schutzmechanismen sind in der Verfassung normiert. Konsequenz dieser Auffassung ist eine verfahrensrechtliche Interpretation wichtiger Grundrechte, wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die Verfahrensregeln der Verfassung bestimmen vor allem die Bedingungen für das Zustandekommen allgemeinverbindlicher Entscheidungen140, sie führen eine gewisse Hierarchie in den Diskurs ein, der zur Entscheidungsfähigkeit qua Kompetenzordnung führt. Die Ausübung staatlicher Macht ist in der idealtypischen Konstruktion des republikanischen Verfassungsdenkens legitim, weil sie an die Meinungs- und Willensbildungsprozesse in der Gesellschaft angekoppelt bleibt, weil kommunikative Macht in administrative Macht transformiert wird 1 4 1 . Die Diskursprozesse der Zivilgesellschaft kontrollieren administrative Macht nicht nur, wie im liberalen Modell, sondern programmieren sie auch, über die Kanäle des politischen Prozesses und die in der Verfassung etablierten Entscheidungsverfahren. Die demokratische Wahl ist das zentrale Mittel, um die Meinungs- und Willensbildungsprozesse der Gesellschaft in den administrativen Apparat umzusetzen. Über sie bleibt die administrative Macht an die Meinungs- und Willensbildungsprozesse in der Gesellschaft rückgekoppelt, muss sich periodisch rechtfertigen und wird gleichzeitig für die Zukunft mehr oder weniger programmiert. Dabei ist die Wahl aber nicht das einzige legitimierende Verfahren, das periodisch gleichsam die zu einem festgelegten Zeitpunkt vorhandenen Meinungsbilder abfragt. Demokratie wird analog zur Gesellschaft nicht zentralistisch staatsfixiert gedacht, sondern polyzentrisch und polyarchisch 142. D.h. es ist empirisch festzuhalten, dass die Rückbindung staatlicher Machtausübung an die diskursiven Prozesse der Gesellschaft vielfältige Formen, institutionalisierte oder nicht-institutionalisierte annehmen kann und es ist normativ zu fordern, diese Rückbindung institutionell zu verstärken, um der Einlösung der „Versprechen der Demokratie" 143 näher zu kommen. Die normativen Implikationen eines so formulierten Demokratiebegriffs sind: „Die sozialintegrative 138 Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, S. 227 ff., 269 f. 139 Gerstenberger, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, passim. 140 So schon Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 117 ff. 141 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 398. 142 Vgl. dazu Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, S. 14. 143 Bobbio, aaO., S. 11. 10 Fisahn

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

Gewalt der Solidarität, die nicht mehr allein aus Quellen des kommunikativen Handelns geschöpft werden kann, soll sich über weit ausgefächerte autonome Öffentlichkeiten und rechtsstaatlich institutionalisierte Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und gegen die beiden anderen Gewalten, Geld und administrative Macht behaupten können." 144 Welche Konsequenzen folgen aus diesem idealtypischen Modell der Demokratie und der Legitimation im republikanischen Verfassungsdenken für die Wahrscheinlichkeit oder Bedingungen der Rechtsbefolgung? Offenkundig erhöht sich die Chance, dass die Adressaten staatlicher Entscheidungen und rechtlicher Befehle diesen Folge leisten, wenn erstens die staatliche Macht durch die Adressaten selbst programmiert wurde, und die Umsetzung der Programme an gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse rückgekoppelt bleibt, also eine Kopplung von gesellschaftlicher Willensbildung und administrativen Entscheidungen existiert. Die individuellen Akteure, die an dieser Meinungs- und Willensbildung teilgenommen haben, sehen sich als Adressaten administrativer Macht mit dem Ergebnis eben dieser Meinungs- und Willensbildung konfrontiert, der sie zu folgen eher bereit sein dürften 145 , weil ihr eigener „Wille" ihnen nun als staatlich gesetzte Norm gegenübertritt. Formuliert man das Ergebnis der diskursiven öffentlichen Prozesse auf diese Weise, nähert man sich der objektivistischen Auffassung, die am Beispiel von Parsons 146 diskutiert wurde. Das staatlich gesetzte Recht stimmt dann allerdings nicht mit den unbewussten konsensualen ethischen Mustern überein, sondern mit den bewusst-diskursiv in öffentlichen Verfahren gefundenen Konsensen. Die plurale polyzentrische Gesellschaft vereinheitlicht sich im Verfahren und findet Konsense, die über die staatlichen Institutionen in Recht transformiert in die Gesellschaft zurückwirken. Das Problem liegt auf der Hand: öffentliche Verfahren und politische Prozesse führen zwar in vielen Fällen aber keineswegs in allen Fällen zu einem Konsens, die verfassungsrechtlichen Verfahrensregeln sind gerade darauf angelegt, zu bestimmen, nach welchem Modus bei Konflikten und politischen Dissensen entschieden wird, welchen staatlichen Institutionen letztlich die Entscheidungskompetenz zukommt. Eine weniger anspruchsvolle Konzeption des republikanischen Verfassungsdenkens kann deshalb nicht unterstellen, dass individuelle Akteure den staatlichen formulierten Befehlen folgen, weil sie deren eigenen Willen widerspiegeln. Unterstellt werden kann wiederum nur ein generalisiertes Motiv, gesetzlichen Anordnungen deshalb Folge zu leisten, weil man an deren Entstehung - obwohl mit seiner Auffassung unterlegen - gleichberechtigt beteiligt war und die Chance hat, den 144

Habermas, Drei normative Modelle, S. 289; ders., Faktizität und Geltung, S. 363. Das gilt natürlich nicht uneingeschränkt. Selbst die unmittelbar am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, die Parlamentarier, Verstössen bekanntlich gelegentlich gegen Gesetze, denen sie persönlich zugestimmt haben. 146 Vgl. oben: Programmierung durch internalisierte Werte. 145

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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Willensbildungsprozess in der Zukunft zu verändern. Diese Überlegung bekommt im republikanischen Verfassungsdenken eine andere Qualität als im liberalen Verfassungsdenken, in dem sich die generalisierte Zustimmung nur auf die Möglichkeit bezog, seine Präferenzen bei der nächsten Wahl durch die Ablösung der Führungsmannschaft durchzusetzen. Da das republikanische Verfassungsdenken von einer beständigen Rückbindung der administrativen Macht an die kommunikative Macht der Zivilgesellschaft ausgeht, erscheint die generalisierte Zustimmung in einem anderen Licht. Weil der politische Prozess nicht als periodische Abstimmung, sondern als beständige Durchdringung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche vorgestellt wird, erhöht sich die Chance zu einer Revision getroffener Entscheidungen. Zu dem steht auch die Mehrheitsmeinung beständig unter Rechtfertigungszwang, der dazu verpflichtet, für Entscheidungen Argumente mit Geltungsanspruch ins Feld zu führen, die von der unterlegenen Minderheit nicht geteilt werden müssen, aber dennoch als vernünftige Gründe für bestimmte Entscheidungen akzeptiert werden können. Vorausgesetzt ist dabei allerdings aus normativer Sicht entweder eine beständig mobilisierte Öffentlichkeit, die Einfluss auf administrative Entscheidungen nimmt, oder eine institutionalisierte Öffentlichkeit. Die spontane, unorganisierte Mobilisierung der Öffentlichkeit kann zwar zu einzelnen wichtigen Themen stattfinden, längst nicht jedoch zu allen Entscheidungen, die als administrative Macht auf die Bürger als Adressaten dieser Macht zurückwirken. Selbst unter der idealen Bedingung einer aufgeklärten, interessierten Öffentlichkeit ist dies aus Gründen knapper Ressourcen an Zeit und Geld nicht möglich. Die Foren institutionalisierter Öffentlichkeit sind in ihrer Reichweite, Kompetenz und Ausdehnung in der Bundesrepublik zur Zeit ausgesprochen begrenzt und werden entgegen der formulierten normativen Forderung nicht ausgeweitet, sondern zurückgebaut. 147 Je weiter aber die empirische Wirklichkeit vom normativen Modell des republikanischen Verfassungsdenkens entfernt ist, um so unwahrscheinlicher wird es, dass die Adressaten staatlicher Macht sich über ihre Beteiligung am Zustandekommen der Entscheidung an diese auch gebunden fühlen und um so unwahrscheinlicher wird ein normativer Konsens über die Ausübung administrativer Macht. Zu bedenken ist außerdem, dass dieses normative Modell der Demokratie unter dem Aspekt der Rechtsbefolgung von rationalistischen Annahmen im Hinblick auf die Handlungssteuerung der Akteure ausgeht. Diese stimmen rational bewusst nor147

Vgl. die sog. Beschleunigungsgesetze (ζ. B. PIVereinfG v. 23. 11. 93, BGBl. I, S. 2123; Investitionerleichterungs- und WohnbaulandG v. 22.4. 93, BGBl. I, S. 466), die nach der Vereinigung der BRD mit der DDR verabschiedet wurden und im Zusammenspiel mit Novellierungen der VwGO (Vgl Kuhla/Hüttenbrink, BVB1. 96, S. 717; Redeker, NVwZ 1997, S. 625) die Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen der planenden Verwaltung reduzierten (dazu: Fisahn, NJ 1996, S. 93). Einschränkungen erfuhren auch die Beteiligungsrechte des Personalrates (vgl. ζ. B. PersVG-Nds. vom 22. 1. 1998, Nds. GVB1. S. 29) nachdem das BVerfG durch eine Entscheidung, die unter Berufung auf eine dem republikanischen Staatsdenken entsprechende Konzeption der Demokratie die Kompetenzen der Personalvertretung für verfassungswidrig erklärt hatte (BVerfGE 93, 37). 10*

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

mativen Konsensen, die in öffentlichen Verfahren des politischen Prozesses gefunden werden zu und transformieren diese Zustimmung in alltägliche Handlungen, oder fühlen sich über den generalisierten Einfluss auf Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse aufgrund rationaler Überlegungen an deren Ergebnisse gebunden. Und diese rationalen Erwägungen zur Legitimation staatlicher Entscheidungen oder gesetzlicher Normierungen, so muss man weiter folgern, schlagen auf alltägliche Handlungssituationen durch, steuern die Handlungsentscheidungen individueller Akteure. Gegen eine solche rationalistische Konstruktion der Handlungsorientierung wurde schon oben Skepsis angemeldet, weil sie Akteure überfordert. Die Beteiligung am politischen Prozess ist deshalb nicht als rationalistische Zustimmung und Akzeptanz der gefundenen Ergebnisse zu denken. Denkbar sind jedoch anders gelagerte Lernprozesse, die im politischen Prozess und der öffentlichen Beteiligung entstehen. Diese sind allerdings einzubetten in eine andere Konzeption der Rechtsbefolgung und der Orientierung an rechtlichen Regeln, die im folgenden zu entwickeln ist. Die mögliche Folgerung aus dem republikanischen Verfassungsdenken für die Rechtsbefolgung, die Annahme, dass Beteiligung über Lernprozesse zur Akzeptanz von Entscheidungen führt, ist an dieser Stelle zunächst als Merkposten festzuhalten, der wieder aufzugreifen ist.

3. Resümee Ausgangspunkt der Überlegungen des ersten Kapitels waren die Diskussionen um das Vollzugsdefizit im Umweltrecht. Die exemplarische Erörterung empirischer Untersuchungen zum Vollzug des Umweltrechts ergab, dass bei einer Querschnittsbetrachtung, die Rechtswirklichkeit oder den Ist-Zustand mit den normativen Anforderungen oder dem Soll-Zustand vergleicht, eine mangelhafte Umsetzung der rechtlichen Gebote und Verbote festzustellen ist. Insbesondere auf der Grundlage dieser empirischen Betrachtungen entwickelten sich theoretische Verallgemeinerungen, die tendenziell durch eine Skepsis gegenüber dem „alten" umweltrechtlichen Instrumentarium zu charakterisieren sind. In der radikalen Variante wird ein grundsätzlicher Steuerungspessimismus entwickelt, der das politische System nicht als Steuerungszentrum ausmacht, sondern als ein soziales System unter anderen, gleichbedeutenden sozialen Systemen charakterisiert. Die ökologischen Probleme werden nur insoweit berücksichtigt, wie sie in den Kommunikationen anderer Systeme relevant werden und in deren spezifischen Code übersetzt werden können, oder soweit sie sich zu einem eigenständigen Subsystem, mit eigenständigem Code ausdifferenzieren, was aber auf unüberwindliche Hindernisse stößt, da die „Natur" aus der Sicht der Gesellschaft nur Umwelt darstellt, kein soziales System. 148

148

Luhmann, Ökologische Kommunikation, passim.

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

149

Andere theoretische Verarbeitungen der empirischen Beobachtung waren weniger radikal, sie führten zu bürokratietheoretischen Positionen, polyzentrischen Konzeptionen der Politik oder - rechtspolitisch wohl am wichtigsten - zu einer Kritik des regulativen Rechts oder des Ordnungsrechts. Auf der Grundlage des zum Allgemeinplatz gewordenen umweltrechtlichen Vollzugsdefizits begab sich der rechtspolitische Diskurs auf die Suche nach „neuen" Instrumenten im Umweltrecht. Diskutiert wurden überwiegend ökonomische Instrumente, die auf Mechanismen des wirtschaftlichen Anreizes oder Nachteils setzen. Diese Vorlieben für einen Instrumentenwechsel entstammen - auf der wissenschaftlichen Ebene - insbesondere aus dem Diskurskontext der „neuen politischen Ökonomie" und wurden im Rahmen der Diskussion dieses Ansatzes kritisch erörtert. Neuere Studien zum „Vollzug" des Umweltrechts sind als Längsschnittstudien angelegt, die versuchen den Veränderungen und Entwicklungen eines ausgewählten Umweltbereiches nachzuspüren. Diese Studien zeigen erstens, dass die Bedeutung ökonomischer Instrumente im Vergleich mit dem regulativen Recht überschätzt werden. Sie zeigen zweitens, dass über die Zeit eine tendenzielle Anpassung der Rechtswirklichkeit an die normativen Anforderungen des Umweltrechts stattfindet. Das Ergebnis ist keine Kongruenz von Ist-Zustand und Soll-Zustand, aber eine langfristige Annäherung des ersteren an den letzteren. Dieser Befund ließ es angezeigt erscheinen, nach dem Wirkmechanismus rechtlicher Gebote und Verbote, den Bedingungen und Voraussetzungen der Rechtsbefolgung zu fragen, anstatt vorschnell das Versagen des regulativen Rechts bzw. die Unmöglichkeit rechtlicher Steuerung überhaupt festzustellen. Die Frage nach dem Wirkmechanismus des Rechts führte dazu, die expliziten oder impliziten Vorstellungen unterschiedlicher oder gegensätzlicher Theorieangebote über diesen Mechanismus daraufhin zu überprüfen, ob sie ein befriedigendes Modell dieses Mechanismus entwerfen, das gleichzeitig in der Lage ist, die Divergenz zwischen Querschnitts- und Längsschnittergebnissen und die Steuerungsleistung des Rechts zu erklären. Ein systematisierender Blick auf die Theorieangebote hat dazu geführt, zunächst zwei große Lager zu unterscheiden, die ich „subjektiver Juridismus" und „objektiver Soziologismus genannt habe. Die Legitimationstheorien, die anschließend auf die impliziten Vorstellungen vom Wirkmechanismus des Rechts befragt wurden, sind den beiden Lagern ζ. T. zuzuordnen, bewegen sich ζ. T. zwischen diesen Lagern oder stehen hinsichtlich bestimmter Aspekte daneben, so dass sie daraufhin zu überprüfen sind, ob sie zusätzliche Impulse für eine Theorie de Rechtsbefolgung geben können. Unter dem Begriff „subjektiver Juridismus" wurde die utilitaristische Theorietradition aufgegriffen und diskutiert, die in der „ökonomischen Analyse des Rechts" gegenwärtig eine der wenigen expliziten und in sich konsequenten Theorien der Rechtsbefolgung entwickelt hat. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist der Homo Ökonomicus, ein Mensch, der rational bewusst die Vor- und Nachteile sei-

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

ner Handlungen und ihrer Folgen gegeneinander abwägt und sich für die Handlung entscheidet, die den größten Nutzen verspricht. Konsequenz dieser Prämisse ist, dass Recht nur dann befolgt wird, wenn der Nachteil, der mit der Befolgung verbunden ist, geringer ist als derjenige, der mit einem Rechtsverstoß verbunden ist, oder umgekehrt, wenn der Vorteil der Befolgung größer ist als derjenige der Nichtbefolgung. Vollzugsdefizite entstehen dort, wo unter Einbeziehung der Entdeckungswahrscheinlichkeit das Kosten-Nutzen-Kalkül zugunsten des Rechtsverstoßes ausfällt. Bezweifelt wurde nicht die fallweise Angemessenheit des Kalkulationsmodells, bezweifelt wurde, dass dieses Modell eine abschließende Erklärung für Rechtsbefolgung und -verstoße darstellt. Die Kritik bezog sich insbesondere auf die Prämissen des Modells. Unrealistisch erscheint die Annahme, dass alle Handlungsentscheidungen rational-bewusst die rechtlichen Anforderungen in eine Kosten-Nutzen-Kalkulation einstellen, die Annahme feststehender rationaler Präferenzsetzungen und die Annahme ausschließlich egoistischer Nutzenkalküle. Auf der anderen Seite befindet sich das Modell des objektiven Soziologismus, in dem das Recht als determiniert und abgeleitet aus den gesellschaftlichen Strukturen oder Wertvorstellungen konzipiert wird. Die soziologische Sicht auf die Gesellschaft führt dazu, Recht ausschließlich als abgeleitetes Phänomen zu betrachten, das gesellschaftliche Strukturen und/oder Wertvorstellungen nur interpretierend fixiert, aber nicht steuert. Bei Durkheim folgt das Recht über die Wandlung der Solidaritätsformen den sich aus der Arbeitsteilung ergebenden strukturellen Notwendigkeiten. Bei Parsons wird das Recht zum Kern der normativen Ordnung, die mit konsensualen normativen Mustern oder - beim späten Parsons - mit dem konsensualen kulturellen System übereinstimmend diese allenfalls konkretisiert und interpretiert. Die moderne freie Rechtsetzung wird damit zur „Umsetzung" vorhandener struktureller Zwänge oder konsensualer Wertvorstellungen degradiert. Es verbleibt kein Spielraum für Steuerungsleistungen des Rechts bzw. für eine intentionale Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen durch das Recht. Entwicklungen und (gesellschaftliche) Lernprozesse liegen dem Recht voraus, können aber nicht durch dieses initialisiert werden. Dem widerspricht die Alltagsbeobachtung ebenso wie die erwähnten empirischen Längsschnittuntersuchungen, die eine Umstellung der gesellschaftlichen Praxis und eine langfristige Anpassung an rechtliche Vorgaben oder Soll-Zustände feststellen konnten. Die Legitimitätstheorien wurden systematisierend wiederum in drei große Richtungen unterteilt, nämlich in materiales Natur- und Vernunftrecht, Legalitätstheorien und die demokratische Rechtfertigung der Legitimität. Diese Legitimitätstheorien wurden auf ihre impliziten Modelle und Konsequenzen für den Wirkmechanismus des Rechts untersucht. Materiale Vernunft- und Naturrechtstheorien werden in Deutschland im wesentlichen im Kontext der Bewältigung oder justiziellen Aufarbeitung der jüngeren deutschen Regime-Wechsel diskutiert und relevant. Prüft man die „modifizierten

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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Naturrechtstheorien" auf ihr Modell der Rechtsbefolgung, ergibt sich, dass sie ähnlich wie der subjektive Juridismus - davon ausgehen, dass handelnde Akteure sich bewusst rational an rechtlichen Geboten und Verboten orientieren, normativ gefordert wird zusätzlich, dass die rechtlichen Normen auf ihre Übereinstimmung mit Prinzipien der Richtigkeit und Gerechtigkeit überprüft werden. Auch dieses Modell kann in bestimmten Situationen zutreffend sein und als normative Forderung berechtigt sein, trifft aber wohl nicht die alltägliche Praxis individueller Akteure in einer Gesellschaft, in der eine weitgehende Verrechtlichung aller Lebenssituationen stattgefunden hat. Die Implikationen des modifizierten Naturrechtsbegriffs sind deshalb für ein Modell der Rechtsbefolgung weitgehend unergiebig. Dem modifizierten Naturrechtsbegriff wird entgegen gehalten, dass Legitimität in modernen Gesellschaften nicht anhand materialer Richtigkeitsvorstellungen gemessen werden oder durch sie erzeugt werden könne. Legitimität wird danach vielmehr durch die Form des Rechts selbst erzeugt. Sie basiert für Max Weber auf dem Legalitätsglauben, für Niklas Luhmann wird sie durch spezifische Verfahren erzeugt. Der Legalitätsglaube bleibt bei Weber jedoch unspezifisch und gibt als motivationale Quelle für individuelle Akteure, rechtlichen Normen Folge zu leisten, wenig her. Stellt man ihn in den Kontext der Rationalisierungsthese bei Weber, bleibt die Entzauberung auf halbem Wege stecken, der mythische Glaube wandelt sich in den Legalitätsglauben, nimmt aber nicht - wie ansonsten - die Form berechnender Zweckrationalität an. Für (den frühen) Luhmann wird Legitimität aus der Sicht sozialer Systeme zu deren Freistellung von den destabilisierenden Implikationen des individuellen Protestes gegen rechtliche und politische Entscheidungen bzw. die Zwänge der Systeme. Auch diese Perspektive vermag aber nicht die Wirksamkeit der einen und die relative Unwirksamkeit der anderen Norm zu erklären. Zur Erklärung der Durchsetzung konkreter rechtlicher Normen greift auch Luhmann letztlich auf Sanktionen und den staatlichen Zwangsapparat zurück. Die Analyse dèmokratischer Legitimitätstheorien auf Aspekte der Rechtsbefolgung stand vor allem vor dem Problem, die unterschiedlichsten Ansätze der Demokratietheorien so zu systematisieren, dass angesichts der Fülle an Theorieangeboten die letztendlich erörterten Ansätze nicht als willkürlich gegriffen erscheinen. Zunächst wurde deshalb zwischen empirischen und normativen Demokratietheorien unterschieden, von denen nur letztere zu Legitimationstheorien werden können. Innerhalb der normativen Demokratietheorien konnten Sytematisierungsvorschläge von Michelman / Habermas einerseits und Rinken andererseits aufgegriffen werden, so dass schließlich drei große Richtungen innerhalb der Demokratietheorien herausgearbeitet werden konnten, nämlich: republikanisches Staatsdenken, liberales Verfassungsdenken und republikanisches Staatsdenken. Für die Plausibilität dieser Einteilung spricht immerhin, dass sie in Bezug zu den großen politischen Strömungen (zumindest der letzten beiden Jahrhunderte) gesetzt werden kann. Das republikanische Staatsdenken wurde dadurch gekennzeichnet, dass eine homogene Einheit Volk einem homogenen einheitlichen Gebilde, dem Staat, gegen-

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1. Kap.: Konzeptionen der Rechtsbefolgung

übergestellt wird, wobei der Staat aus der Äußerung des homogenen Volkswillens seine Verpflichtung und seine Legitimation bezieht. Befragt man diese Vorstellung auf ihre Implikationen für die Rechtsbefolgung, nähert man sich dem Ansatz des objektiven Soziologismus. Die unterstellte Homogenität des Volkes und die Konstruktion der Einheit des Staates führen zu einer Homologie zwischen Volkswillen und Staatswillen und erlauben letztlich die Annahme einer annähernden Übereinstimmung von rechtlichen Geboten und Willen der handelnden Akteure. Die Rechtsverletzung wird zu einem Problem der nicht homogene Bevölkerungsteile, politischer, ethnischer oder kultureller Randgruppen. Sowohl die Prämissen dieses Ansatzes wie dessen Konsequenzen - jedenfalls wenn man sie radikal zu Ende denkt - sind nicht akzeptabel und wenig plausibel. Die Homogenität des Volkes kann in modernen Gesellschaften nur unterstellt werden, indem von widersprüchlichen Aspekten abstrahiert wird. Die Spaltung „des" Volkes in unterschiedliche Klassen, Religionen, Ethnien, Geschlechter und evtl. Sprachgemeinschaften widerspricht der Homogenitätsannahme offenkundig. Das liberale Verfassungsdenken stellt der Homogenität des Volkes die Pluralität der Interessen gegenüber, die im politischen Prozess aufeinanderprallen. Die Verfassung liefert gleichsam die Spielregeln dafür, wie die Interessenkonflikte auszutragen sind. Befragt auf die Implikationen dieses Ansatzes für die Rechtsbefolgung, findet man eine deutliche Parallele zum subjektiven Juridismus; auch hinsichtlich der Prämissen ähneln sich die Ansätze. Das liberale Verfassungsdenken ist wie der subjektive Juridismus hinsichtlich der Rechtsdurchsetzung auf die Wirkung von Sanktionen gegenüber Akteuren mit konfligierenden Interessen und Präferenzen verwiesen. Der zusätzliche Impuls, der aus der Fairness der verfassungsrechtlichen Spielregeln über die Legitimation für die Folgebereitschaft individueller Akteure gegenüber rechtlichen Geboten gewonnen wird, ist nur schwach. Der subjektive Juridismus ist im liberalen Verfassungsdenken aufbewahrt, erlangt aber keine wirklich neue Qualität. Das republikanische Verfassungsdenken denkt nicht von der Einheit des Staates her und unterstellt nicht die Homogenität des Volkes oder Volkswillens, sondern geht von deren Pluralität und Widersprüchlichkeit aus. Es versteht die Verfassung und den demokratischen Prozess aber nicht nur als Spielregeln, die das Verfahren bestimmen, welche Interessen sich durchsetzen können. Das republikanische Verfassungsdenken postuliert vielmehr, dass der demokratische Prozess eine beständige Rückkopplung administrativer Macht an gesellschaftliche Diskurse gewährleistet und eröffnet so die Möglichkeit von Lernprozessen innerhalb des Staates, innerhalb der Gesellschaft sowie zwischen beiden. Diese Lernprozesse bieten einen Ansatzpunkt, um Übereinstimmung zu erreichen, die sich in Konsensen oder Kompromissen ausdrücken oder die majorisierten Interessen so berücksichtigen, dass diese nicht dazu übergehen, die Gefolgschaft grundsätzlich zu verweigern. Lernprozesse in der Gesellschaft bieten so die Chance, dass individuelle Handlungsorientierungen mit den administrativ gewollten übereinstimmen. Das republikanische Verfassungsdenken liefert so in Bezug auf das Problem der Rechtsbefolgung

D. Rechtsbefolgung und Legitimation

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einen Ansatz, die Fehler sowohl des Subjektivismus wie die des Objektivismus zu vermeiden. Das Problem des Ansatzes ist aber, dass er großenteils normatives Ideal bleibt. Weil die Besonderung des Staates von der Gesellschaft keineswegs überwunden ist, verbleibt das republikanische Verfassungsdenken auf der Ebene von Potentialen. Zweitens muss die Verlängerung des politischen Prozesses in die Moti vbildung für die Rechtsbefolgung zu rationalistischen Grundannahmen führen: die individuellen Akteure orientieren sich zwar nicht an rationalen Nutzenkalkulationen, lassen sich aber argumentativ überzeugen und orientieren ihre Handlungen an diskursiv rational als richtig akzeptierten Entscheidungen - auch diese Prämisse erscheint als zu idealistisch. Zudem bedarf die Vermittlung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Lernprozessen der Explikation. Es gilt deshalb im Folgenden den in der Analyse herausgearbeiteten Widerspruch zwischen den Modellen des rechtlichen Wirkmechanismus, den Widerspruch zwischen subjektivem Juridismus und objektiven Soziologismus sowie denjenigen zwischen der Analyse der individuellen Normbefolgung und der Analyse der strukturellen Normableitung aufzuheben. Der Vermittlung zwischen dem verharrenden Moment der Struktur und dem verändernden und lernenden Moment freier Entscheidungen haben sich insbesondere zwei zeitgenössische Autoren zugewandt, nämlich Anthony Giddens und Piere Bourdieu. Im folgenden Kapitel ist deshalb in einem ersten Schritt die „Theorie der Strukturierung" von Giddens zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt werden kritische Punkte dieses Ansatzes diskutiert, soweit sie für die Entwicklung einer Theorie der Rechtsbefolgung relevant sind. In einem dritten Schritt wird Bourdieus „Theorie der Praxis" rekonstruiert und auf die zuvor diskutierten Problempunkte untersucht.

2. Kapitel

Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis A. Giddens Theorie der Strukturierung Für einige Probleme, die sich aus den erörterten Handlungs- und Legitimationstheorien für eine Theorie der Rechtsbefolgung und Steuerung durch Recht ergeben, lassen sich auf der Grundlage von Giddens „Theorie der Strukturierung" und Bourdieus „Theorie der Praxis" adäquate Lösungen finden. Die „Theorie der Strukturierung" versucht Elemente der philosophischen Phänomenologie und der Hermeneutik mit einem nichtfunktionalistischen Strukturbegriff zu verbinden. Der Phänomenologie, die ausgehend von Husserl1 über Schütz2 Einzug in die soziologische Methode gefunden hat, wird das Verharren in der egologischen Perspektive3 vorgeworfen. Aus der Analyse des Alltagswissens könne kein adäquater Begriff der Gesellschaft gefunden werden.4 Die Stabilität und Existenz von Institutionen und Strukturen lasse sich nicht erklären. Giddens versucht deshalb den Subjektivismus der Phänomenologie mit der Existenz objektiver Strukturen 5 und Institutionen zu vermitteln. Die Bindeglieder, die er dazu vorschlägt, lassen sich in den Begriffen Alltagsroutinen, Serialität und einer Theorie der Raum-Zeit Geographie ausmachen. Der Funktionalismus bleibt im Unterschied zur Phänomenologie in der Objektivität der Systeme gefangen und geht von der Stabilität gesellschaftlicher Ordnung, von Institutionen oder Strukturen aus. Er kann deren Veränderung oder Veränderbarkeit allenfalls zur Kenntnis nehmen, aber nicht - oder nur wenig überzeugend erklären. 6 Dabei geraten zweckgerichtete, entworfene Veränderungen einzelner oder kollektiver Akteure vollständig aus dem Gesichtsfeld - selbst im Falle von Parsons, der eine voluntaristische Handlungstheorie entwickeln wollte, aber den funktionalistischen Ansatz nicht überwinden konnte. 1 Husserl, Ideen zu einer Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie; Peters, Edmund Husserls Versuch einer Fundierung des Gegenständlichen, S. 52 ff. 2 Vgl. dazu ausführlich unten: 2. Kap. A. II. 2. 3 Eberle, in: Hettlage/Lenz, Erving Goffman, S. 189 f. 4 Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt, S. 53 ff., 65 f. 5 Vgl. zu diesem epistemologischen oder wissenschaftstheoretischen Ansatz: Giddens, Theory and Society 1985, S. 167 f. 6 Zur Kritik des Funktionalismus vgl. exemplarisch: Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. XIII ff; Giddens, Studies in Social and Political Theory, S. 69 ff.

Α. Giddens Theorie der Strukturierung

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Giddens versucht diese Probleme, die aus der eindimensionalen Betrachtung objektiver Strukturen entstehen, zu lösen, indem er Strukturen mit den Handlungen und Handlungsmöglichkeiten konkreter Subjekte, handelnder Akteure, vermittelt. „Während interpretative Soziologien sich gleichsam auf einen Imperialismus des Subjekts gründen, implizieren Funktionalismus und Strukturalismus einen Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts. Eines meiner hauptsächlichen Ziele bei der Formulierung der Theorie der Strukturierung ist es, solchen ,imperialistischen4 Bemühungen ein Ende zu setzen."7 Der zentrale Begriff 8 dafür ist die „Dualität der Struktur", die im Handeln selbst verankert wird. Strukturen werden danach durch Handeln, das selbst strukturiert ist, produziert und reproduziert. 9 Dem Handeln ist ein strukturiertes und ein strukturierendes Moment zu eigen. Die Reproduktion der Struktur, das Verharrende der Struktur ist für Giddens eng mit dem Begriff der Alltagsroutinen verknüpft. Alltagsroutinen führen erst zur Herausbildung von Strukturen, machen Regelmäßigkeiten oder Ordnung sichtbar. Die Alltagsroutinen werden fundiert durch eine Theorie des praktischen Bewusstseins, das Giddens vom diskursiven Bewusstsein unterscheidet. Das praktische Bewusstsein steuert praktische, alltägliche Tätigkeiten, die gleichsam automatisch ablaufen, ohne dass es der Reflexion und des Nachdenkens bedürfte. Der Rekonstruktion dieser Elemente der Theorie der Strukturierung folgt eine kritische Diskussion von Giddens Versuch der Vermittlung zwischen Subjektivismus und Objektivismus oder zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Dabei wird im wesentlichen auf Giddens Ausführungen in „Die Konstitution der Gesellschaft" rekurriert. Innerhalb dieser Schrift zeichnet sich eine Wendung Giddens ab, die in nachfolgenden Werken sehr deutlich wird, eine Wendung zu einer Theorie der zweiten bzw. radikalisierten Moderne oder der institutionalisierten Reflexivität. 10 Die zentrale These in diesen Schriften läuft darauf hinaus, dass sich die westlichen Gesellschaften keineswegs auf dem Weg in die Postmoderne befinden, sondern in eine radikalisierte Moderne, die die aufklärerischen Theorien selbst in Zweifel zieht, d. h. reflexiv anwendet. „Institutionalisierte Reflexivität" wird zum zentralen Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung, die das Wissen aus unterschiedlichen Expertensystemen in den normalen Alltag, in das Vertrauen des Alltags einbauen müsse. Diese Theorie der institutionalisierten Reflexivität verbindet Giddens mit der These, dass die Akteure über Strukturen und über sich selbst reflektieren, ohne bei der Handlungsentscheidung gesellschaftlichen Zwängen folgen zu müssen. In diese Reflexionen fließt das Wissen aus den Expertensystemen ein, und ermöglicht den handelnden Akteuren eine weitgehende Autonomie und reflexive Eigenbestimmung. Diese optimistische bis euphemistische Einschätzung der Frei7

Giddens, Anthony, Die Konstitution der Gesellschaft (K G), S. 52. Giddens, Journal for the theory of social behaviour 1983, S. 79. 9 Vgl. auch: Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 55 ff. 10 Vgl. vor allem: Giddens, Konsequenzen der Moderne (KdM); ders., Jenseits von Links und Rechts (LuR); ders/Beck/Lash, Reflexive Modernisierung - eine Kontroverse. 8

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2. Kap.: Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

heit der Akteure und der reflexiv autonomen Handlungsmöglichkeiten deutet sich in „Die Konstitution der Gesellschaft" an, lässt sich aber m. E. weder mit dem Theorem der Dualität der Struktur noch mit den Überlegungen zu nicht-intentionalen Handlungen in Einklang bringen. Das macht die kritische Diskussion der Bedeutung von Zwängen bei Giddens notwendig, die über Giddens hinausführt und andere Vorstellungen der Vermittlung von Freiheit und Zwang mit einbezieht. Giddens definiert Struktur als Komplex von Regeln und Ressourcen. Der Begriff der Regel im Kontext der Theorie der Strukturierung, an den eine Theorie der Rechtsbefolgung anschließen kann, wird deshalb in einem letzten Teil mit dem Blick auf Möglichkeiten der Weiterentwicklung diskutiert. Zunächst wird also Giddens „Theorie der Strukturierung" kritisch rekonstruiert. Dabei gerät im ersten Schritt die Dualität der Struktur und der vorausgesetzte Handlungsbegriff in den Blick (unter Α. I.). Daran anschließend wird Giddens spezifische Vermittlung zwischen individuellen Handlungen und Struktur durch Alltagsroutinen individueller Akteure erörtert, die von der Lebensweltanalyse ausgeht (unter Α. II.). Die Handlungstheorie wird dann in einen sozialen Kontext gestellt, Handlungen im Prozess der Interaktion untersucht (A III). Diese ausführliche Erörterung geschieht mit Blick auf die Konstruktion einer Theorie der Rechtsbefolgung im 3. Kapitel, die an Giddens Vermittlung zwischen handlungs- und strukturtheoretischen Ansätzen, zwischen Subjektivismus und Objektivismus anknüpft, die wie oben gesehen hinsichtlich der Erklärung der Rechtsbefolgung und der Steuerungsleistungen des Rechts in die Irre führen. In einem weiteren Schritt werden spezifische Bestandteile der „Theorie der Strukturierung", insbesondere die Analyse von Freiheit und strukturellem Zwang kritisch diskutiert (unter Β. I.). Diese kritische Diskussion der Giddenschen Konzeption des strukturellen Zwanges wird verbunden mit Gegenvorschlägen, die an Joas Begriff des „kreativen Handelns" angelehnt sind (unter Β. II.) Schließlich wird ausgehend von Giddens der Regelbegriff und die Probleme des Regelbefolgens diskutiert (unter B. III.). Der Regelbegriff wird in seinen Differenzierungen im 3. Kapitel wieder aufgenommen und ist relevant für Analyse der Befolgung von Rechtsregeln.

I. Dualität der Struktur - Re-Produktion und Handeln Struktur wird bei Giddens nicht zu einer Programm-Instanz, die dem Handeln vorausliegt, sondern wird im Handeln selbst produziert und reproduziert. Gleichzeitig liegt sie dem Handeln zugrunde; sie ist die gegebene und voraussetzungsvolle Grundlage des Handelns, wodurch Handeln außerhalb der Struktur nicht möglich oder in einem bestimmten Rahmen nicht sinnvoll möglich ist. Unter Dualität von Struktur versteht Giddens, „dass gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert werden als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser Konstitution sind." 11

Α. Giddens Theorie der Strukturierung

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1. Sprache - Handeln - Praxis Diese Dualität von Handeln und Struktur veranschaulicht Giddens am Beispiel der Sprache: „Sprache existiert als syntaktische und semantische »Struktur4 nur insoweit, als es in dem, was Menschen in ihren Sprechakten sagen, nachweisbar Übereinstimmungen gibt. Bezieht man sich unter diesem Aspekt auf Syntaxregeln, so heisst das auf die Reproduktion »ähnliche Elemente4 zu verweisen; auf der anderen Seite erzeugen solche Regeln die Gesamtheit der Sprechhandlungen, die die gesprochene Sprache ausmachen."12 Damit wird erstens auf die Reproduktion der Syntaxregeln verwiesen, zweitens produzieren diese Regeln „Sprache". Beides geschieht für Giddens uno actu in Sprechakten.13 Sprache benutzt Giddens nicht nur zur Exemplifikation der „Dualität der Struktur' 4, vielmehr scheint es möglich, die Theorie der Strukturierung insgesamt anhand der Reproduktion von Sprache durch Sprachhandlungen zu erläutern. Anders ausgedrückt: Giddens scheint die Sprachhandlung als Paradigma 14 für seine Handlungstheorie herangezogen zu haben. An der Sprachhandlung lässt sich erläutern: (1) die selbstverständliche, gleichsam automatische Verwendung von Regeln in Handlungen, das praktische Bewusstsein und die Alltagsroutinen; (2) die Bedeutung des Strukturbegriffs Ermöglichung und Begrenzung durch Struktur; (3) der Handlungsbegriff und seine Einbettung in die Interaktion; (4) das Problem des Wechsels von der einzelnen Sprechhandlung zur Gesamtheit der Sprechhandlung 11

Giddens, Anthony, Interpretative Soziologie (I S), S. 148. 12 I S, S. 148; ähnlich Κ G, S. 58. 13 Die Aspekte von Produktion und Reproduktion in Sprechakten lassen sich über Giddens hinaus vervollständigen. Syntaxregeln werden in Sprechakten nicht nur reproduziert, sondern gleichzeitig möglicherweise modifiziert. Wenn ζ. B. „schlechtes Deutsch" sich verbreitet, allgemein wird, muss es schließlich als „richtiges Deutsch" anerkannt werden. Modifikationen alter Regeln bedeuten aber letztlich auch Produktion neuer Regeln. Syntaxregeln werden nicht nur reproduziert, sondern durch Verbreiten - in Raum und Zeit - auch produziert. Die Sprachregeln erzeugen also nicht nur in ihrer Anwendung, im sprechenden Handeln eine emagente Entität, die Sprache, sondern das Handeln produziert auch neue Regeln. Eine zweite Ergänzung ist möglich: Die Erzeugung von Sprache ist nicht die einzige produktive Leistung des Sprechaktes, bzw. der Gesamtheit der Sprechakte, im Gegenteil ist sie eher beiläufiges Produkt. Sprechakte sind nicht auf Erzeugung von Sprache gerichtet, sondern sie sind schon als illokutionäre Akte (Vgl. zur Unterscheidung: Austin, Theorie der Sprechakte, S. 6; ders., Perfomative Utterances, S. 235) auf einen bestimmten Sinn außerhalb der Sprache gerichtet. Der Zweck des Sprechaktes liegt - neben möglichen anderen - regelmäßig in der Kommunikation. Es wird eine Aussage erzeugt, die sich i.d.R. nicht auf Sprache bezieht, sondern auf Objekte, die Welt außerhalb der Sprache. Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass es missverständlich ist, wenn Giddens schreibt, die Regeln „erzeugen" die Gesamtheit der Sprechhandlungen (erzeugen ist im Original deshalb wohl auch kursiv gesetzt). Die Syntaxregeln produziert oder reproduziert allein zunächst einmal nichts. Sie wird als notwendiges Mittel, strukturierende Grundlage für Re-Produktionen ihrer selbst, der Sprache und der Aussage vom handelnden Subjekt eingesetzt, insofern trifft Giddens Definition der Struktur als Medium der Konstitution von Handlungen genauer (I S, S. 148). 14 Kritisch hinsichtlich der Angemessenheit: Callinicos, Theory and Society 1985, S. 138.

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2. Kap.: Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

und schließlich zur Totalität der Sprache. Auf Sprache wird deshalb zur Demonstration und Diskussion der Theorie Giddens immer wieder zurückgegriffen werden. Giddens beschränkt seine Handlungstheorie aber nicht auf Sprache, obwohl sie für soziale Interaktion eminent bedeutsam ist. Sein Handlungsbegriff ist ausdrücklich weiter. Er lehnt eine Verkürzung des Handlungsbegriffs auf Sprechakte ab und bezweifelt die Sinnhaftigkeit der logisch-begrifflichen Trennung von instrumentellem und kommunikativem Handeln. Arbeit argumentiert Giddens (gegen Habermas) ist „nicht nur von instrumenteller Vernunft erfüllt, und Interaktion ist auch nicht bloß auf gegenseitiges Verstehen und »Konsensus' ausgerichtet, sondern auch auf die Realisierung von Zielen, die sich nicht gegenseitig ausschließen."15 Giddens soziologisches Interesse liegt vor allem quer zu Habermas Versuch einer Rechtfertigung kritischer Theorie, deren Möglichkeit bekanntlich im Konsensusbegriff der Wahrheit fundiert wird. 16 Diese Stellung als Grundlage einer kritischen Theorie, die im herrschaftsfreien Diskurs formuliert werden kann, hat Habermas Diskurstheorie später verloren. Der herrschaftsfreie Diskurs wird zur real existierenden Utopie 17 , was immer auch heisst, die Utopie wird der (schlechten) Realität angepasst. Giddens bezweifelt, dass ein Modell des herrschaftsfreien Diskurses, das schwerlich mit Interessengegensätzen angesichts knapper Ressourcen verbunden werden könne, „überhaupt jemals für eine konkrete Gesellschaftsanalyse benutzt werden kann." 18 Da Giddens Forschungsinteresse nicht auf eine philosophisch-theoretische Begründung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik gerichtet ist, sondern auf Gesellschaftsanalyse, ist sein Handlungsbegriff ein weiterer, umfassenderer 19. Giddens wählt deshalb für seine Handlungskonzeption den Begriff der Praxis, womit er an Marx frühe erkenntnistheoretische Überlegungen, die über den Ansatz zu einer Theorie nicht hinausgingen, anknüpft. Marx will in Anknüpfung an Hegels philosophisches Programm die Subjekt-Objekt-Dichotomie dialektisch aufheben. Dabei versucht er bekanntlich, die Hegeische Dialektik materialistisch zu wenden20, d. h. er will den Widerspruch von Subjekt und Objekt nicht idealistisch im Absoluten, im Weltgeist vereinen, sondern auf einer materialistischen Grundlage überwinden. Zu diesem Zwecke wirft Marx in den Feuerbach-Thesen den Begriff der Praxis in die Debatte, ohne das Programm weiter auszuführen. Praxis in der schlichteren Form einer Handlungstheorie nimmt dagegen auch in anderen Schriften eine prominente Stelle ein. In der ersten Feuerbach-These formuliert Marx: „Der Hauptmangel aller bisherigen Materialismen (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, 82. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 144 ff. 17 Türcke, Habermas oder wie die kritische Theorie gesellschaftsfähig wurde, S. 23. 18 IS,S. 83. 19 Ähnlich wohl: Joas, Zeitschrift für Soziologie 1986, S. 239. 20 Hegel vom Kopf auf die Füße stellen. 15 I S, S. 16

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dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv." 21 Den erkenntnistheoretischen Streit um die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, bezeichnet Marx als eine scholastische.22 In der Praxis müsse die Diesseitigkeit, Macht und Wirklichkeit des Denkens bewiesen werden. Und schließlich denkt Marx die Veränderung gesellschaftlicher Umstände als gleichzeitige Selbstveränderung des Individuums, das er als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" 23 versteht, durch „revolutionäre Praxis", 24 Der Praxisbegriff erhält auf diese Weise zahlreiche Facetten und Nuancierungen, die aber eher ein Forschungsprogramm formulieren, als eine konsistente Theorie. 25 Der Begriff der Praxis kann auch bei Marx offenbar nicht auf „Arbeit" reduziert werden. Habermas „großzügige" Interpretation des Marxschen Handlungsbegriffs als Arbeit 26 rührt denn wohl vorwiegend aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung oder theoretischer Originalität. Aus dem Begriff der revolutionären Praxis als gleichzeitiger Selbstveränderung und Veränderung der Umstände lässt sich unschwer die Inspiration für ein Konzept der „Dualität der Struktur" entnehmen. Giddens verweist zwar nicht auf die Feuerbach-Thesen, erklärt aber ausdrücklich, dass die Dualität der Struktur als Lösung eines Problems gedacht ist, das Marx an anderer Stelle als These formulierte. „Zutreffend beschreiben könnte man mein Buch" schreibt Giddens in der Einleitung zur Konstitution der Gesellschaft, „als eine ausführliche Reflexion über den berühmten und oft zitierten Satz von Marx »Menschen (wir wollen sofort menschliche Wesen sagen) machen ihre Geschichte, aber nicht unter selbst gewählten Umständen/ So ist es. Doch welche Fülle komplexer sozialtheoretischer Probleme fördert diese scheinbar unschuldige Feststellung zutage."27 Praxis wird bei Giddens ein einzelne Handlungen übersteigender Begriff. Soziale Praktiken bezeichnen übergreifende Handlungsweisen, die über Raum und Zeit als identische reproduziert werden. Diese Reproduktion sozialer Praktiken ist eng mit Giddens Strukturbegriff verzahnt. Strukturmomente „sind dafür verantwortlich", dass soziale Praktiken reproduziert werden oder sich reproduzieren. 28 21

Marx, Karl, Feuerbachthesen in: Marx/Engels, Ausgewählte Werke Bd. I, S. 196. 2. Feuerbachthese, ebenda. 23 6. Feuerbachthese, ebenda. 24 3. Feuerbachthese, ebenda. 25 Antonio Gramsci hat in seinen Gefängnisheften den Marxismus, um der faschistischen Zensur zu entgehen, als „Philosophie der Praxis" bezeichnet, womit auch er mehr meinte als ,/evolutionäre Praxis", mehr als eine Theorie der Veränderung gesellschaftlicher Umstände (Kramer, Gramscis Interpretation des Marxismus, S. 148). 26 Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 36 ff.; ähnlich: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 32 ff. 27 Κ G, S. 35; zitiert wird Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEAW IV, S. 115. 2 * Κ G, S. 68. 22

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2. Kap.: Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

Soziale Praktiken werden damit in der Theorie der Strukturierung zwischen Handlungen und Institutionen angesiedelt. Sie sind nicht einzelne Handlungen, sondern raum-zeitlich reproduzierte, haben sich dabei aber noch nicht zu Institutionen „verfestigt". Gleichzeitig findet sich der Praxis-Begriff bei Giddens auf der Ebene des Bewusstseins wieder, nämlich im praktischen Bewusstsein. Dieses wird unterschieden vom diskursiven Bewusstsein und dem Unbewussten und fungiert als Kopplung zwischen Struktur und individuellen Alltagsroutinen. Letztere bezeichnen wiederum keine einzelnen Handlungen, sondern serielle, raum-zeitlich immer wiederkehrende Handlungsweisen oder Praktiken. Diese Begriffe sind weiter unten noch einmal aufzugreifen und systematisch zu entwickeln. Hier kommt es zunächst darauf an, sich über den Begriff der Praxis oder den der sozialen Praktiken der Besonderheit von Giddens Handlungsbegriff zu nähern, der wiederum wesentlich für das Verständnis der Dualität der Struktur ist.

2. Intention und Handeln Menschliches Handeln ist keine abgeschlossene Entität, deren Anfang und Ende objektiv festgesetzt ist. Die Begrenzungen, der Rahmen einer Handlung kann regelmäßig erst ex post und reflexiv festgestellt werden. 29 Handeln versteht Giddens deshalb als einen Prozess, als ein Kontinuum 30 in Raum und Zeit, das nur reflexiv in einzelne Bestandteile zerlegt werden kann. „Menschliches Handeln vollzieht sich ebenso wie menschliches Erkennen als eine durée, als ein kontinuierlicher Verhaltensstrom. Zweckgerichtetes Handeln ist nicht aus einem Aggregat einer Serie separater Intentionen, Gründe und Motive zusammengesetzt. Es ist vielmehr sinnvoll, Reflexivität in der ständigen Steuerung des Handelns verankert zu sehen, die menschliche Wesen entwickeln und die sie von anderen erwarten." 31 An anderer Stelle heisst es: „Ich definiere Handeln als den Strom tatsächlichen oder in Betracht gezogenen ursächlichen Eingreifens von körperlichen Wesen in den Prozess der in der Welt stattfindenden Ereignisse. Der Handlungsbegriff ist direkt mit dem Begriff der Praxis verbunden, und wenn ich von festgelegten Handlungen spreche, meine ich menschliche Praktiken als eine fortlaufende Reihe praktischer Tätigkeiten 4 ." 32

29 Während ich diese Buchstaben auf Papier bringe, kratze ich mich beispielsweise am Kopf und schaue aus dem Fenster. Begleitet das „Kopfkratzen" und „aus dem Fenster schauen", die Handlung „Schreiben", oder wird das Schreiben beendet, dann schaue ich aus dem Fenster, beende das „Schauen" und beginne das Schreiben von neuem? Die Handlungseinheit wird ex post bestimmt, wenn ich beispielsweise Rechenschaft darüber ablege, wie ich den Vormittag verbracht habe, werde ich die Handlung „Schreiben" als Einheit konstruieren. „Ich habe vier Stunden geschrieben". 30 Vgl. Müller, Sozialstruktur und Lebensstile, S. 169 f. 31 Κ G, S. 53. 32 Κ G, S. 75.

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Diese Ansiedlung des Handelns in einem kontinuierlichen Prozess hat Konsequenzen für die Begriffe Intentionalität, Reflexivität und Motivation. Handeln findet in einem Kontinuum statt, während Handlungen reflexiv bestimmte Einheiten des Handelns sind. Diese Unterscheidung zwischen Handeln und Handlungen33 wird im Hinblick auf die Bestimmung der Intentionalität relevant. Handeln kann nach Giddens ohne den Begriff der Intentionalität konzeptualisiert werden. 34 Handeln bezieht sich begrifflich nicht auf die Intention des Menschen, sondern auf das Eingriff s vermögen überhaupt, auf die Möglichkeit, eine Wirkung hervorzurufen. Einzelne Handlungen können dagegen als intentional charakterisiert werden. Eine (intentionale) Handlung liegt vor, wenn der entsprechende Akteur sein Wissen oder seine Vorstellung von der Wirkung einer Handlung einsetzt, um eben diese Wirkung zu erreichen. 35 Davon will Giddens nicht-intentionales Handeln unterscheiden. Intention verwendet Giddens gleichbedeutend mit Zweck oder Absicht. 36 Seine Erklärungsversuche und Beispiele für nicht-intentionales Handeln bleiben aber weitgehend auf der Ebene der nicht-intendierten Folgen einer intendierten Handlung. (Der Hausbewohner will das Licht anknipsen, tut dies und verscheucht damit den Dieb.) Zwar könne konzeptionell zwischen „nicht-intentionalen Taten" den „nicht intendierten Folgen von Taten" unterschieden werden. Nicht intendierte Taten sind dann ζ. B. Reflexe oder Unachtsamkeiten.37 Aber für die Beziehung von Intentionalem und Nicht-Intentionalem sei die Unterscheidung zwischen nicht-intendierten Folgen und nicht-intendierten Taten bedeutungslos.38 Dieses Argument dient Giddens als Rechtfertigung, um den Bereich nicht-intentionalen Handelns vorwiegend am Beispiel von nicht-intendierten Folgen des Handelns zu diskutieren. Der Abgrenzung von intentionalen Handlungen und nicht-intentionalem Handeln bekommt in der Theorie der Strukturierung eine zentrale Bedeutung für die Reproduktion von Strukturen und die Dualität der Struktur. 39 Giddens konstruiert die Dualität der Struktur - das liegt nahe - nicht als intendierte Reproduktion von Struktur durch Handeln. Die Reproduktion der Strukturen ist vielmehr großenteils als nicht intendierter Nebeneffekt des Handelns zu begreifen. Handlungen können gezielt auf die Reproduktion, dann besser den Erhalt oder die Stabilisierung beispielsweise einer Institution oder einer Regel gerichtet sein. Ob diese Handlung das gewünschte Ziel erreicht, ist damit aber nicht beantwortet. Regelmäßig wird die Reproduktion von Strukturen aber nicht Intention von Handlungen sein, sondern sie ist Ergebnis von nicht-intentionalem Handeln.40 Die Reproduktion der 33 Zur Unterscheidung: I S, S. 89 f. Κ G, S. 58 ff. 35 Κ G, S. 61. 36 IS, S. 91. 37 Κ G, S. 59. 38 Κ G, S. 61. 39 Vgl. Kießling, Kritik der Giddenschen Sozialtheorie, S. 102 ff. 34

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2. Kap.: Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

Strukturen findet also zum Teil hinter dem Rücken der Akteure 41 statt, die zwar bestimmte Handlungsziele anvisieren und evtl. auch erreichen können, dabei aber zwangsläufig eine Fülle von Regeln und Ressourcen als Voraussetzung der Handlung akzeptieren (müssen) und durch die Handlung re-produzieren (müssen). Strukturen definiert Giddens als Regeln und Ressourcen, was noch genauer zu beleuchten ist. 42 Die Re-Produktion gesellschaftlicher Strukturen wird mit der Dualität der Struktur im menschlichen Handeln verankert, aber sie erscheint als Ergebnis von nicht-intentionalem Handeln, das gleichwohl ex post in einzelne intentionale Handlungen unterteilt werden kann. Die Unterscheidung zwischen dem Handeln als kontinuierlichen Prozess, als Strom von Ereignissen, und reflexiv konstruierten einzelnen intentionalen Handlungen bekommt hier ihre Bedeutung. Die Re-Produktion der Strukturen ist nicht als Ergebnis einzelner Handlungen denkbar und erklärbar und kann auch nicht kausal auf einzelne Handlungen zurückgeführt werden, sondern ergibt sich aus dem kontinuierlichen Prozess Handeln. Aus dieser Perspektive erscheint die prima facie wenig überzeugende Konzeptualisierung des Handelns ohne Bezug auf Intentionalität43 als zumindest verständlich. Die Produktion und Reproduktion sozialer Strukturen ist Ergebnis von Handeln als kontinuierlichen Prozess verändernder Eingriffe, der von den Akteuren hinsichtlich dieses Ergebnisses nicht intentional 44 gesteuert wird. Giddens grenzt den Begriff der Intention oder Absicht von denen des Motivs und der reflexiven Handlungssteuerung ab. Er siedelt Motivation im Bereich des Unbewussten und dort bei den Bedürfnissen an. 45 Motive werden (unbewusst) zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung entwickelt. Daraus folgert er, dass nicht alle Handlungen ein Motiv haben müssen, die Mehrheit der alltäglichen Handlungen sei vielmehr „nicht direkt motiviert." 46 Für eine Vielzahl von alltäglichen Handlungen nimmt Giddens eine generalisierte Motivationsstruktur an. Für einzelne Handlungen können Gründe formuliert werden, d. h. ihre Intention kann begründet werden. Giddens nennt das die Rationalisierung des Handelns. Diese Begriffswahl ist in der Unterscheidung zum Motiv einleuchtend. Motive, die oft unbewusst bleiben, können im Unterschied zu Gründen, die bei Giddens freilich nicht normativ 40 Zum Verhältnis von nichtintendierten Folgen von Handlungen, Strukturen und politischem Bewusstsein vgl. schon: Binder, in: ders., Crisis and Sequences in Political Development, S. 19. 41 Giddens betont allerdings die gleichzeitige Existenz von Wissen über soziale Zusammenhänge, das nur nicht bei jeder Handlung aktualisiert wird (Central Problems in Social Theory, S. 71). 42 Vgl. Kießling, Kritik, S. 114 ff. 43 Κ G, S. 58. 44 Es bleibt als Problem, dass nichtintentionale Handlungen gleichgesetzt werden mit Handlungen, deren Folgen nicht intendiert waren, obwohl letztere durchaus intentional sein können, wenngleich die Intention eine andere war, als das letztlich produzierte Ergebnis. 45 Müller, Sozialstruktur und Lebensstile, S. 172. 46 Κ G, S. 57, 116.

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gemeint sind 47 , nicht rational formuliert oder rationalisiert werden. „Unter Rationalisierung des Handelns verstehe ich, dass Akteure - ebenfalls routinemäßig und meistens ohne viel Aufhebens davon zu machen - ein »theoretisches Verständnis4 für die Gründe ihres Handelns entwickeln/' 48 Rationalisierung ist die (nachträgliche) Begründung einer aus dem Strom des Handelns separierten Handlungseinheit, die durch diese Rationalisierung mit einer Intention versehen wird. Die Akteure sind regelmäßig in der Lage, ihre Handlungen zu erklären, wenn sie danach gefragt werden, d. h. sie können die hinter der Handlung liegende Absicht benennen. Von der Möglichkeit, Handeln zu rechtfertigen und durch Intentionen zu begründen, unterscheidet Giddens die Reflexivität im Handeln. Unter Reflexivität versteht er nicht die rekursive Begründung des Handelns oder das Selbstbewusstsein des handelnden Akteurs, sondern die steuernde Koordinierung von Handlungen.49 Reflexivität wird als „in der ständigen Steuerung des Handelns verankert" gesehen. 50 Reflexive Steuerung des Handelns ist fundamental für die Kontrolle des Körpers, die Akteure in jeder alltäglichen Handlung gewöhnlich ausüben. Reflexivität meint bei Giddens also gleichsam die Feinabstimmung zwischen Akteur und gegenständlicher Welt im Prozess des Handelns. Diese verschiedenen Begriffe lassen sich als hierarchisches Verhältnis verstehen. Auf der obersten Ebene steht das Motiv, das aus einem Bedürfnis entwickelt wird. Dieses Motiv wird zu einer Absicht rationalisiert, wobei die Rationalisierung das wirkliche Motiv wiedergeben kann oder ein anderes an die Stelle des verdrängten setzen kann. Die Absicht wird schließlich in Handlungen verwirklicht, wobei Zielerreichung und erfolgte Veränderung einer ständigen Kontrolle und Anpassung der Handlung bei Abweichungen unterliegen. Die Handlungen sind eingebettet in die Dualität der Struktur. Unerkannte bzw. nicht reflektierte 51 Handlungsbedingungen sind ermöglichende Bedingungen der Handlung, die neben den intendierten auch nicht-intendierte Folgen hervorbringt. Diese wiederum gehen in zukünftige Handlungen als Handlungsbedingungen ein.

47 κ G, S. 55. 48 Κ G, S. 56. 49 Giddens grenzt durch die Beziehung von Routinen zum reflexiven Handeln die alltagsroutinen vom traditionalen Handeln, wie Weber diesen Begriff verwendete ab. Die Re-Produktion von Strukturen ist nicht die unbewusste Tradierung vorgefundener Strukturen, sondern mit grundsätzlich intentionalem, zweckgerichtetem Handeln verbunden (Kießling, Kritik. .., S. 203 f.). 50 κ G , S. 53. 51 Der Begriff der Reflexivität und der Reflexion erhält hier eine mehrdeutige Bestimmung: er ist einerseits auf die Körperkontrolle bezogen, meint aber andererseits in diesem Zusammenhang mehr, nämlich die bewusste Reflexion der Handlungsfolgen, die offenkundig über die Körperkontrolle hinausgeht. 11*

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2. Kap.: Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

3. Handeln und Unbewusstes Diese Hierarchie erscheint auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich. Einen besonderen Akzent erhält sie und damit Giddens Handlungsbegriff, weil er erstens nichtintentionales Handeln betont und zweitens hervorhebt, dass eine Fülle von Alltagshandlungen nicht direkt motiviert sind. Beide Thesen richten sich gegen die Konstruktion eines Unbewussten, das letztlich alle Handlungen motiviert und über internalisierte (gemeinsame) Werte mehr oder weniger determiniert. Giddens Handlungsbegriff richtet sich gegen Parsons Adaption von Freud. Die Möglichkeit nicht-intentionalen Handelns - im Sinne der unbeabsichtigten Taten, nicht deren Folgen - ist in Freuds Theorie ausgeschlossen, weil Versprecher, Missgeschicke usw. ihre Ursache allesamt in Verdrängungsmechanismen des Unbewussten haben. 52 Damit unterscheiden sie sich auf der Ebene der Motivation nicht von beabsichtigten Taten. Außerdem nimmt das Unbewusste als allgegenwärtige Motivationsursache und damit letztlich Steuerungszentrum in der Tradition Freud / Parsons eine zentrale Stellung ein. Nur durch diese starke Stellung kann Parsons die Homologie zwischen internalisierten Werten und Bedürfnissen einerseits und gesellschaftlichen Systemen andererseits konstruieren. Das „Ich" wird in Freuds Konstruktion, so Giddens Polemik, zu einem „MiniAkteur" 53 , der im wesentlichen die Aufgabe hat, die spannungsreiche Beziehung zwischen Es und Über-Ich zu vermitteln. Dagegen wird die These gesetzt, dass das Unbewusste nur höchst selten direkt auf die reflexive Steuerung des Verhaltens einwirkt. Diese These ergibt sich aus dem Begriff des Handelns, der als kontinuierlicher Prozess als Strom von Ereignissen definiert wurde. Die Annahme, jeder Handlung liege ein Motiv zugrunde, entstamme aus der Untersuchung einzelner abgrenzbarer neurotischer Verhaltenssegmente, die aber den Strom des Alltagshandelns nicht in Betracht ziehe. 54 Die konkreten Handlungen ergäben sich außerdem nicht aus den psychischen Mechanismen des einzelnen Akteurs, sondern seien durch „soziale Beziehungen vermittelt, die Individuen in den Routinetätigkeiten ihres Alltagslebens aufrechterhalten." 55 Giddens Konstruktion hat zur Konsequenz, dass die alltägliche Praxis einzelner Akteure großenteils aus dem Bereich des Unbewussten, dessen Existenz nicht bestritten wird, herausgenommen wird und damit zumindest bewusstseinsfähig wird. Giddens folgt Freud in der Auffassung, dass kein direkter Zugriff des Bewusstseins auf das Unbewusste möglich ist, dort existieren bestimmte Sperren, die mühsam - beispielsweise in der Analyse überwunden werden müssen56. Bei Giddens wird diese Praxis als nicht direkt motivierte aus dem Bewusstsein ins praktische Bewusstsein57 verlagert, sie wird damit 52 Freud spricht von sog. Fehlleistungen: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 23 ff. 53 Κ G, S. 93. 54 Κ G, S. 100. 55 Κ G, S. 101. 56 Freud, Vorlesungen, S. 428 ff.

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jederzeit nicht nur der Rationalisierung, sondern auch der Reflexion und Diskussion zugänglich; in Giddens Terminologie: sie kann aus dem praktischen ins diskursive Bewusstsein überführt werden. Der als Definition eingeführte Begriff des Handelns hat so weitreichende Konsequenzen, was die Frage aufwirft, ob die Begriffsbestimmung als Argument zur Rechtfertigung der Konstruktion Giddens ausreicht. Giddens verbindet seine These zwar außerdem mit einer Kritik der Begriffsbestimmung des „Ich" bei Freud, die nicht klar erkennen lasse, ob das Ich nun handelndes Subjekt oder Mini-Akteur im handelnden Subjekt sei. 58 Ob diese Kritik aber - die ζ. T. eine der Begriffe, nicht der Konzeption ist - die Entthronung des Unbewussten begründen kann, ist problematisch. Giddens will das „Ich" angelehnt an den Strukturalismus und an Meads Überlegungen zur Intersubjektivität der Sprache 59, als nur über den „Diskurs des Anderen", durch das Erlernen der Sprache, konstituiert wissen. Das „Ich" bleibt inhaltsleerer Begriff der Sprache, weil es nur das Subjekt des Satzes, das mit dem Sprecher wechselt, bezeichnet.60 Die Implikationen der Kritik an der Freudschen Konzeption und diese sprachanalytische Fassung des „Ich" bedeuten zusammengefasst: „Das ,Ich4 ist ein wesentlicher Aspekt der reflexiven Steuerung des Handelns, doch sollte man es weder mit dem Akteur insgesamt, noch mit dem Selbst identifizieren. Unter dem »Handelnden4 oder dem ,Akteur 4 verstehe ich das menschliche Subjekt insgesamt, wie es in seinem Körper raumzeitlich wirklich Existenz gewinnt. Das ,Ich4 besitzt anders als das Selbst keine Gestalt. Das Selbst wiederum ist keine Art von Mini-Akteur innerhalb des Handelnden. Vielmehr stellt es die Summe jener Formen der Erinnerungen dar, mit denen der Handelnde in reflexiver Weise bestimmt, ,was4 seinem Handeln zugrunde liegt. Das Selbst ist der Handelnde, wie er sich selbst sieht. 4401 Dieses Gegenkonzept zum psychischen Apparat bei Freud kann schwerlich als nur aus dem Begriff des Handelns abgeleitet gerechtfertigt werden. Die linguistische Betrachtung der Verwendung des Ich wird man ebensowenig als ausreichend für die Konzeptualisierung des „psychischen Apparats44 oder des handelnden Subjekts ansehen können. Die Entthronung des Unbewussten und Aufwertung des reflexiven Selbst62 in der Theorie der Strukturierung kann denn auch nicht als Konsequenz des Begriffs des Handelns verstanden werden, sondern muss eher aus der

57 Vgl. zur Kritik: Kießling, Kritik ..., S. 205 ff. 58 Κ G, S. 92 ff. 59 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 81 ff. 60 Giddens, Social Theory and Modern Sociology, S. 87; vgl. zum Problem der Dezentrierung des Subjekts bei Giddens: Wagner, ARSP 1991, S. 233 ff. 61 Κ G, S. 101. 62 Giddens grenzt sich hier implizit auch von der poststrukturalistischen Eliminierung des Subjekts ab. Er will das „human Subjekt - as agent" retten ohne in eine Theorie unmittelbarer subjektiver Präsenz, wie sie die Aufklärung entwickelt hatte zurückzufallen (Wagner, ARSP 1991, S. 235 f.; ähnlich: Joas, Zeitschrift für Soziologie 1986, S. 239).

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2. Kap.: Re-Produktion der Struktur in der sozialen Praxis

Konzeptualisierung des Verhältnisses von Alltagsroutinen, praktischem Bewusstsein und diskursivem Bewusstsein verstanden werden.

II. Das Konzept der Alltagsroutinen Garant der Reproduktion 1. Grundbegriffe

des psychischen Apparats

Alltagsroutinen und praktisches Bewusstsein bezeichnet Giddens als „fundamental" für die Theorie der Strukturierung. „Dem im praktischen Bewusstsein fundierten Konzept der Routinisierung kommt in der Theorie der Strukturierung eine zentrale Rolle zu. Routinen sind konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstruktur der Akteure in ihrem Alltagshandeln, wie auch sozialer Institutionen."63 Alltagsroutinen und praktisches Bewusstsein sind das verbindende Glied zwischen Akteur und Praxis, zwischen Handlung und Struktur. Im Konzept der Alltagsroutinen lässt sich werkgeschichtlich der Fortschritt zwischen Giddens „Interpretativer Soziologie", in der das Problem der Vermittlung zwischen Handlung und Struktur schon aufgeworfen, aber nicht gelöst wurde, und der „Konstitution der Gesellschaft" ausmachen. Alltagsroutinen werden zum zentralen Moment, um die Dualität der Struktur sinnvoll begründen zu können. Das Konzept der Alltagsroutinen ist im praktischen Bewusstsein fundiert.

a) Unbewusstes und Bewusstes Giddens unterscheidet zwischen Unbewusstem, praktischem Bewusstsein und diskursivem Bewusstsein. Das praktische Bewusstsein meint das in „Begegnungen inkorporierte gemeinsame Wissen", das dem Bewusstsein der Akteure nicht direkt zugänglich ist. 64 Das bedeutet aber nicht, dass dieses Wissen überhaupt nicht oder nur unter Anwendung komplizierter Verfahren, wie der Psychoanalyse, zugänglich wäre. Es ist Wissen, das beständig gebraucht oder angewandt wird, aber der Inhalt ist nicht explizit formuliert. 65 „Das praktische Bewusstsein bezieht sich auf Erinnerungen, die dem Handelnden in der durée des Handelns zugänglich sind, ohne dass er jedoch sagen könnte, was er eigentlich ,weiss 4 ." 66 Das Wissen, um das es geht, ist praktischen Charakters und besteht in dem praktisch-konkreten Vermögen, sich in den Routinen und Situationen des sozialen Lebens zurechtzufinden. 67

57. Κ G, S. 55. 65 Giddens, New Rules of Sociological Methode, S. 124. 66 Κ G, S. 100. 67 Kießling nennt dieses Wissen „handlungspraktisches Wissen": Kritik ..., S. 120. 63 κ G , S. 64

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Im Unterschied dazu umfasst das diskursive Bewusstsein68 nach Giddens die Sachverhalte, die der Akteur in Worte fassen kann. 69 Diskursives Bewusstsein ist nicht nur an die Kompetenz gekoppelt, Wissen sprachlich zu formulieren. Das Wissen steht dem Bewusstsein sozusagen sprachlich formuliert zur Verfügung. „Diskursives Bewusstsein bezeichnet solche Erinnerungsformen, die der Handelnde sprachlich zum Ausdruck bringen kann." 70 Zwischen dem praktischen Bewusstsein und dem diskursiven Bewusstsein besteht, das ergibt sich aus diesen Definitionen, ein mehr oder minder fließender Übergang. Es besteht keine Sperre, Schranke oder Verdrängung, die Trennung kann durch Lernerfahrungen und diskursive Prozesse des Handelnden aufgehoben werden. Dagegen gibt es Schranken und Barrieren zwischen Unbewusstem und praktischem wie diskursivem Bewusstsein. Das Unbewusste wird - wie bei Freud 71 - als jene Form der Wahrnehmung des Antriebes konzipiert, die entweder gänzlich aus dem Bewusstsein verdrängt ist oder in verzerrter Form erscheint. „Das Unbewusste bezieht sich auf Erinnerungsweisen, auf die der Handelnde keinen direkten Zugriff hat, weil irgendeine negative »Barriere 4 ihre unvermittelte Einbeziehung in die reflexive Steuerung des Verhaltens, oder genauer: in das diskursive Bewusstsein verhindert.